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German Pages [351] Year 2021
Thomas Brechenmacher / Frank Kleinehagenbrock / Claudia Lepp / Harry Oelke (Hg.)
Kirchliche Zeitgeschichte Bilanz – Fragen – Perspektiven
Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte
Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke Reihe B: Darstellungen Band 83 Zugleich: Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte In Verbindung mit Birgit Aschmann, Wilhelm Damberg und Michael Kißener Herausgegeben von Thomas Brechenmacher Reihe B: Forschungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Thomas Brechenmacher / Frank Kleinehagenbrock / Claudia Lepp / Harry Oelke (Hg.)
Kirchliche Zeitgeschichte Bilanz – Fragen – Perspektiven
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar. 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Sch çningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Bçhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0874 ISBN 978-3-666-56866-4
Inhalt
Thomas Brechenmacher und Harry Oelke Kirchliche Zeitgeschichte – Bilanz und Perspektiven Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Großbölting Kirchliche Zeitgeschichte – Überlegungen zu Stand und Herausforderungen einer Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Periodisierungsfragen der Kirchlichen Zeitgeschichte
. . . . . 33
Florian Bock Kirchliche Zeitbögen in der Katholizismusforschung? Periodisierungsfragen der Kirchlichen Zeitgeschichte aus westdeutscher katholischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
Siegfried Hermle Periodisierungsfragen der Kirchlichen Zeitgeschichte aus evangelischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Forschungsgegenstände der Kirchlichen Zeitgeschichte . . . . 75 Harry Oelke Forschungsgegenstände der Kirchlichen Zeitgeschichte aus evangelischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Thomas Brechenmacher „Katholizismusforschung“, „Kirchliche Zeitgeschichte“, „Katholischsein“. Der Forschungsgegenstand der Kommission für Zeitgeschichte in Praxis und Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6
Inhalt
III. Akteure und Intentionen der Kirchlichen Zeitgeschichte . . . 113 Thomas Martin Schneider Akteure der Kirchlichen Zeitgeschichte – evangelisch . . . . . . . . . . 115 Mark Edward Ruff Akteure der katholischen Zeitgeschichtsforschung . . . . . . . . . . . . 137 Claudia Lepp Kirchliche Zeitgeschichte und Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . 159
IV. Quellen zur Erforschung der Kirchlichen Zeitgeschichte . . . 177 Henning Pahl Homepage – Online-Findbuch – Online-Digitalisat Digitale Informationsquellen für Benutzer evangelischer Archive
. . . 179
Christoph Schmider Analog wie digital – Archivierung und Benutzung im Spannungsfeld von Forschungsfreiheit und Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
V. Kirchliche Zeitgeschichte als interdisziplinäres Forschungsfeld
203
Maike Schult Praktische Theologie und Kirchliche Zeitgeschichte Beobachtungen zur Arbeit im ,kleinen Grenzgebiet‘ . . . . . . . . . . . 205 Marc Breuer Soziologie und Kirchliche Zeitgeschichte Wechselwirkungen auf zwei Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Antonius Liedhegener Katholizismusforschung, kirchliche Zeitgeschichte und Interdisziplinarität. Plädoyer für einen stärkeren Anschluss an die sozialwissenschaftliche Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Sebastian Schwab Vom Nutzen und Nachteil der kirchlichen Zeitgeschichte für die evangelische Kirchenrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Inhalt
7
VI. Kirchliche Zeitgeschichte als europäische und globale Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Hugh McLeod The Sixties and After: Entering the Post-Christian Era in Western Europe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Gisa Bauer Kirchliche Zeitgeschichte: Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Olaf Blaschke Kirchliche Zeitgeschichte global . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
VII. Kommentar
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
Klaus Fitschen Ein Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Mitwirkende
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Thomas Brechenmacher und Harry Oelke
Kirchliche Zeitgeschichte – Bilanz und Perspektiven Eine Einführung
Die Rahmenbedingungen für die kirchliche Zeitgeschichtsforschung unterliegen einem rasanten Wandel. Der seit der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts um sich greifende gesellschaftliche Bedeutungsverlust der beiden Großkirchen in Deutschland und die damit verbundene abnehmende Prägekraft des Christentums als Quelle individueller wie sozialer Sinnstiftung bei gleichzeitig zunehmender Intensität interreligiöser Probleme im globalen Zusammenhang stellen auch die kirchliche Historiographie vor neue Herausforderungen. Zeitgleich kommt es zu Veränderungen in der akademischen Fächerlandschaft durch inhaltliche Neudefinitionen, modifizierte Schwerpunktsetzungen und paradigmatische „Turns“ – wie den Wandel zur „neuen Kulturgeschichte“ –, die in fachwissenschaftlicher Hinsicht neue interdisziplinäre Bezüge nach sich ziehen. Das Forschungsfeld der Kirchlichen Zeitgeschichte wird jenseits von Geschichtswissenschaft und Kirchengeschichte auch für benachbarte Disziplinen zunehmend interessanter. Es erscheint an der Zeit, sich den aufdrängenden Fragen nach der zeitlichen, inhaltlichen und interdisziplinären Reichweite des Forschungsfeldes Kirchliche Zeitgeschichte neu zu stellen1. Dies ist umso mehr geboten, als die letzte überkonfessionell geführte Debatte im größeren Stil im Sinne einer fachwissenschaftlichen Bestimmung der Kirchlichen Zeitgeschichte vergleichsweise lange zurückliegt. Sie erfolgte in den 1990er Jahren und war ein Ergebnis der sich zuvor über zwei Jahrzehnte vollziehenden methodischen Neuausrichtung der allgemeinen Geschichtswissenschaft, die schließlich auch die Kirchliche Zeitgeschichte erreichte2. Bis dahin hatten die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte3 einerseits und die katholische Kommission für Zeitgeschichte4 an1 Die Einleitung verzichtet der Übersichtlichkeit halber auf umfangreiche Literaturhinweise und beschränkt Einzelnachweise auf grundlegende Literatur zu den größeren Problemzusammenhängen. Im Detail sind die angesprochenen Aspekte in den Beiträgen des Bandes erschlossen; dort finden sich auch die weiterführenden Literaturangaben. – Grundlegend, mit umfangreichen bibliographischen Angaben: Hauschild, Zeitgeschichte; Meier, Zeitgeschichte; Schneider / Seiler, Aspekte; von Hehl / Repgen, Katholizismus; Hummel, Katholizismusforschung; Damberg / Hummel, Katholizismus. 2 Vgl. besonders Doering-Manteuffel /Nowak, Zeitgeschichte. 3 Vgl. Morsey, Gründung. 4 Vgl. Kaiser, Wissenschaftspolitik.
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Thomas Brechenmacher und Harry Oelke
dererseits seit der Nachkriegszeit die kirchliche Zeitgeschichtsforschung weitgehend allein bestellt. An den Universitätsfakultäten spielte die Kirchliche Zeitgeschichte nur eine untergeordnete Rolle. Die historische wie kirchenhistorische Subdisziplin der „Kirchlichen Zeitgeschichte“ war seit den 1950er Jahren zunächst aus dem Bemühen erwachsen, das Verhalten der beiden großen christlichen Konfessionen und ihrer kirchlichen Institutionen in und gegenüber der nationalsozialistischen Diktatur wissenschaftlich zu erforschen. Auf der evangelischen Seite prägte sie sich zunächst als „Kirchenkampfforschung“ aus und spiegelte das kirchenpolitische Agieren und die auch mit theologischen Argumenten untersetzten Debatten der unterschiedlichen Bekenntnisformen des deutschen Protestantismus und seiner Landeskirchen. Insbesondere die Flügelkämpfe der NS-Zeit innerhalb der Bekennenden Kirche zwischen der Seite des Bruderrats und dem lutherischen Lager mit der jeweils unterschiedlich stark gefassten ablehnenden Haltung gegenüber den Deutschen Christen stimulierten nach 1945 eigene kirchengeschichtliche Forschungen, die auf beiden Seiten der BK den Nachweis erbringen sollten, die ,wahre‘ Kirche gewesen zu sein5. Katholischerseits etablierte sich die Kirchliche Zeitgeschichte als Katholizismusforschung, in deren Fokus zunächst die Frage nach dem Verhalten des deutschen politischen Katholizismus im Jahr 1933 stand. Breitesten Raum nahmen schließlich die Erforschung der Staat-Kirche-Auseinandersetzungen der Jahre bis zum Beginn des Weltkriegs und die Edition der Bischofsakten 1933–1945 in Anspruch. Im Maße der Bedeutung beider Konfessionen und ihrer exponierten politischen wie kirchenpolitischen Akteure für die frühe Geschichte der Bundesrepublik prägte der Blick auf die Rolle beider Kirchen und ihrer sozialpolitischen Milieus während des „Dritten Reichs“ wichtige öffentliche Auseinandersetzungen mit; indirekt etwa über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, die Integration von Vertriebenen und Flüchtlingen, die Förderung der Demokratie, seit den 1960er Jahren aber auch zunehmend direkt über „Schuld“, „Mittäterschaft“, „Schweigen“ (Böckenförde- und Hochhuth-Debatte) im Gegensatz zu zunächst behaupteten Formen von Resistenz der beiden konfessionellen Großgemeinschaften zwischen 1933 und 1945, die allerdings mit zunehmendem zeitlichen Abstand und vergrößerter Aktenkenntnis kaum noch für die Kirchen, sondern überwiegend für couragiertes Handeln einzelner Christenmenschen erkannt wurden. So entwickelte sich die kirchliche Zeitgeschichtsforschung nicht abgelöst von politischen Debatten und Interessenlagen. In ihrem wissenschaftlichen Anspruch wäre sie deshalb von Anfang an auch auf intensive methodische Selbstreflexion angewiesen gewesen. Diese unterblieb aber lange Zeit zugunsten eines vorwiegend dokumentarischen Zugriffs, dem es darum ging, Quellen und Akten zu erschließen und editorisch bereitzustellen, mit dem 5 Vgl. Oelke / Brechenmacher, Art. Kirchenkampf; Hauschild, Zeitgeschichte, 557 f.
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Ziel, einem kontextualisierten und differenzierten Begreifen der Vorgänge während der NS-Zeit Vorschub zu leisten, mitunter durchaus aber auch, um das Agieren der beiden Konfessionsgruppen und ihrer Institutionen unter dem Druck der Diktatur zu rechtfertigen6. Die wachsende Distanz zur Zeit des Nationalsozialismus führte sukzessive zu einer chronologischen Erweiterung des Forschungsfeldes über 1945 hinaus und zu neuen Fragestellungen. Der Paradigmenwechsel der 1970er Jahre innerhalb der Geschichtswissenschaft mit seiner Hinwendung zu empirischen Analysen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen brachte auch in der Kirchlichen Zeitgeschichte eine Erweiterung des Felds der Akteure und deren methodischer Verfahren mit sich. Dies zeigte sich freilich erst seit dem Ende der 1980er Jahre deutlicher7. Neben die stark institutionenbezogene Katholizismusforschung und kirchliche Historiographie, wie sie die katholische Kommission unter der Ägide von Konrad Repgen und Rudolf Morsey und die evangelische Arbeitsgemeinschaft unter ihrem Vorsitzenden Joachim Mehlhausen verkörperten, traten nunmehr zwei weitere Ansätze mit einem eigenen Deutungsanspruch gegenüber der Kirchlichen Zeitgeschichte. Der eine verdichtete sich in der 1988 neu gegründeten Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“8 und ihrem Herausgeberkreis, daneben sammelte sich ein loser Verbund von Historikern und Kirchenhistorikern um die ebenfalls neu gegründete Publikationsreihe „Konfession und Gesellschaft“9. Das bestimmende Thema der Debatte jener Jahre war die Frage, was den Gegenstand der Kirchlichen Zeitgeschichte, ihr „Wesen“10, ausmache. In diesem Zusammenhang stritt man in grundsätzlicher Weise über den Bezug der Kirchlichen Zeitgeschichte zur Institution Kirche bzw. zur gesellschaftlichen Funktion der christlichen Religion in ihren konfessionellen Manifestationsformen. Hinter der neuen Zeitschrift stand ein spezifisches Verständnis von Kirchlicher Zeitgeschichte, das ihr wissenschaftlicher Vordenker Gerhard Besier konzeptionell entfaltet hatte. Danach galt die kirchliche Zeitgeschichtsforschung im Wesentlichen als eine Einrichtung zur Überprüfung, inwieweit Kirche ihre christlich-biblischen Ansprüche gesellschaftlich um6 Einschlägig für die evangelische Kommission ist die Publikationsreihe „Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes“, vgl. die Zusammenstellung aller Titel unter: https://www.kirchliche-zeit geschichte.info/publikationen/kirchenkampf.html; für die katholische Kommission die entsprechenden Editionen und Monographien der „Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen und B: Forschungen“; die Einzeltitel unter www.kfzg.de/publi kationen. 7 Vgl. z. B. Conzemius / Greschat / Kocher, Zeit. 8 Kirchliche Zeitgeschichte (KZG) 1 (1988) – [32 (2019)]; zum Gründungsherausgeberkreis gehörten neben Gerhard Besier auch Martin Onnasch / Peter Steinbach / Heinz Hürten / Jens Holger Schørring u. a. 9 Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte. Gründungsherausgeber Anselm Doering-Manteuffel / Martin Greschat / Jochen-Christoph Kaiser / Wilfried Loth / Kurt Nowak, Stuttgart / Berlin / Köln, Bde. 1 (1988) – [53 (2018)]. 10 Hauschild, Zeitgeschichte, 558.
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Thomas Brechenmacher und Harry Oelke
setzte. Der Mitarbeiterkreis war nicht länger konfessionell gebunden, sondern umfasste alle Konfessionen inklusive der Freikirchen und agierte entsprechend ihrem historiographischen Selbstverständnis „multiperspektivisch“ und in „nationaler und ideologischer Entschränkung“11. Auf der anderen Seite stand im Wesentlichen der Herausgeberkreis von „Konfession und Gesellschaft“12, deren Mitglieder den Horizont des Forschungstableaus von einer vermeintlichen konfessionellen Engführung nunmehr unter Einbeziehung sozial- und politikwissenschaftlicher Ergebnisse zu erweitern gedachte, indem die religionssoziologisch verstandene Kategorie „Konfession“ und deren Stellenwert für die gesellschaftlichen Institutionen des Christentums und Ausprägungen christlicher Identität erforscht wurden. Rückenwind erhielt dieser Ansatz durch die deutsche Wiedervereinigung, in deren Folge die Rolle der Kirchen – v. a der evangelischen – im politischen Umsturzgeschehen mittels beträchtlicher Unterstützung durch maßgebliche Agenturen deutscher Wissenschaftsförderung zu einem wichtigen Forschungsgegenstand avancierte. Auch die bis dahin eher kircheninstitutionell ausgerichteten Forschungen der evangelischen Arbeitsgemeinschaft öffneten sich in diesem Zusammenhang für religionssoziologische und politikwissenschaftliche Fragestellungen, man integrierte sie in das eigene Forschungsprofil13. Auf der katholischen Seite stellte sich noch einmal das Diktaturthema in der Frage nach der „doppelten Diasporasituation“ von Kirche und Katholiken im sozialistisch-atheistischen Staat DDR14. Nicht zuletzt angeregt durch den Befund zunehmender „Entchristlichung“ in beiden deutschen Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, brach sich die Frage Bahn, was denn nach der Erosion des (katholischen) Milieus komme, und in welche neuen, ggf. pluralen Sozialformen sich „das Katholische“ transformiere15. Seit den Debatten der 1990er Jahre ist ein Vierteljahrhundert vergangen, und durch die eingangs angedeuteten kontextuellen Veränderungen schien eine neuerliche Vergewisserung über die zurückliegende Entwicklung und ein fachwissenschaftlicher Austausch darüber, was Kirchliche Zeitgeschichte heute im Kern ausmache, über ihre methodischen Zugriffe und inhaltlichen Ausrichtungen, ihre Fragestellungen und Ziele in Gegenwart und nächster Zukunft geboten. Gute Erfahrungen im Zusammenwirken beider Kommissionen in jüngerer Zeit16 und die Überzeugung, dass die kirchliche Zeitge11 Einführung der Herausgeber, 4, 6. 12 Vgl. wie Anm. 9. 13 Vgl. exemplarisch Hermle / Lepp / Oelke, Umbrüche; Fitschen u. a., Politisierung; und Lepp / Oelke / Pollack, Religion. 14 Vgl. rekapitulierend Kçsters, Religion, bes. 16. 15 Vgl. Damberg, Abschied; Kçsters u. a., Milieu. 16 In konfessionsübergreifendem Zusammenwirken entstanden die Dokumentationen Hummel / Kçsters, Kirchen; und Brechenmacher / Oelke, Kirchen. Seit einer gemeinsamen Arbeitssitzung im Jahr 2014 stehen beide Kommissionen in engem und regelmäßigem Austausch.
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schichtsforschung evangelischer- wie katholischerseits nicht nur vor strukturell ähnlichen Herausforderungen steht, sondern dass möglicherweise bestimmte Forschungsfragen zur Situation des Religiösen unter den Bedingungen einer stark säkularisierten Postmoderne künftig nur gemeinsam bearbeitet werden können, bekräftigten den Entschluss, dieses Nachdenken in bikonfessioneller Perspektive, in Zusammenarbeit beider Kommissionen durchzuführen. Der Band, der die gemeinsame Würzburger Tagung „Kirchliche Zeitgeschichte. Bilanz – Fragen – Perspektiven“ am 27. und 28. Februar 202017 dokumentiert, erscheint deshalb auch in den Publikationsreihen beider Kommissionen zugleich. Die Gliederung des vorliegenden Bandes richtet sich nach dem Programmplan der Tagung und teilt das Thema in sechs Sektionen, in denen jeweils die evangelische und die katholische Perspektive eingenommen wird. Kommentatoren „von außerhalb“ der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung und Diskutanten aus unterschiedlichen, nicht geschichtswissenschaftlichen oder kirchenhistorischen Disziplinen waren gebeten worden, die jeweiligen Referate kritisch zu beleuchten bzw. Impulse aus anderen fachlichen Zusammenhängen zu geben. Dies kann in der vorliegenden Publikation nicht vollständig abgebildet werden18. Hingegen eröffnet den Band – wie seinerzeit die Tagung – ein reflektierender Themenaufriss von Thomas Großbölting zu „Stand und Herausforderungen“ der Disziplin „Kirchliche Zeitgeschichte“, und es schließt ein zusammenfassender Kommentar von Klaus Fitschen die hier präsentierten Überlegungen ab. Großbölting weist darauf hin, dass die Kirchliche Zeitgeschichte sich trotz aller Kassandrarufe während der 1990er Jahre verhältnismäßig gut entwickelt habe und auch von dem „cultural turn“ profitieren konnte (anders als etwa die Wirtschaftsgeschichte). Sie habe sich von ihrer anfänglichen Funktion als Legitimationswissenschaft zur Kritikwissenschaft im Rahmen einer „Problemgeschichte der Gegenwart“ entwickelt, die Krisenzeiten und Umbrüche zu verarbeiten gelernt habe. Allerdings müsse die Kirchliche Zeitgeschichte ihren noch immer stark institutionenorientierten Fokus verschieben und angesichts von Säkularisierung und Diversifizierung das religiöse Feld in seiner Gesamtheit mehr in den Blick nehmen. Anregungen aus Nachbardisziplinen könnten dabei helfen, das Arsenal der Methoden zu erweitern. Auf dieses Monitum kommt Fitschen in seinem Fazit zurück: der an sich schon „sperrige Gegenstand“ Kirchliche Zeitgeschichte werde angesichts einer sich zunehmend individualisierenden religiösen Praxis noch schwerer erforschbar ; durch verstärktes Aufgreifen von Säkularisierungstheorien wäre diese Problematik möglicherweise aufzufangen. 17 Vgl. den Tagungsbericht Israel, Zeitgeschichte. 18 Leider konnten Christoph Cornelißen und Wolfram Pyta ihre Kommentare zu den Sektionen „Periodisierungsfragen“ (Cornelißen) und „Forschungsgegenstände“ (Pyta) nicht für den Druck ausarbeiten.
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Um Kirchliche Zeitgeschichte als Disziplin zunächst chronologisch zu verorten, bietet die erste Sektion einen Einstieg in das Tagungsthema über die Behandlung von Periodisierungsfragen an. Für die evangelische wie die katholische Seite bildete die Zeit des Nationalsozialismus lange den zentralen Fixpunkt. Rückgriffe in die Zeit der Weimarer Republik, über den Ersten Weltkrieg hinweg ins Kaiserreich und weiter ins 19. Jahrhundert hinein, fanden in beiden Kommissionen in unterschiedlichem Maße statt, abhängig vom jeweiligen Forschungsgegenstand (Sektion 2). Während diese Rückgriffe, dem stets „nachwachsenden“ Charakter der Zeitgeschichte entsprechend, weniger werden, stellt sich beiden konfessionellen Zweigen gemeinsam die Aufgabe, mehr und mehr in Richtung Gegenwart vorzustoßen. Auch der einstige Fixpunkt „Nationalsozialismus“ rückt langsam aus dem zeitgeschichtlichen Blick, je mehr die Generation der „Mitlebenden“ (Hans Rothfels) wegstirbt. Was diese Veränderungen im Periodisierungsgefüge, mit denen untrennbar auch inhaltliche und methodische Fragen verbunden sind, für die Arbeit beider Seiten bedeuten, untersuchen in ihren Beiträgen Florian Bock und Siegfried Hermle. Während man in der Kirchlichen Zeitgeschichte katholischer Provenienz dazu neigt, das Untersuchungsfeld noch bis zurück ins Jahr 1848 auszudehnen, setzt man auf evangelischer Seite einen starken initialen Akzent auf das Jahr 1918. Übereinstimmung herrscht hingegen in der Auffassung, dass als jüngste Phase Kirchlicher Zeitgeschichte in Deutschland die Zeit nach dem Ende der Zweistaatlichkeit zunehmende Aufmerksamkeit beanspruchen wird. Die folgende, zweite Sektion rückt die Forschungsgegenstände ins Blickfeld. Die Frage, welche Themen auf die Agenda der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung gesetzt werden, weist ins Zentrum der Problemstellung und ist ein Ausdruck des fachwissenschaftlichen Selbstverständnisses der kirchenhistorischen Teildisziplin. Dabei ist die Untersuchung der Forschungsgegenstände nicht von ihrem Entstehungskontext ablösbar, sondern verlangt vielmehr eine Beachtung ihrer Akteure sowie der jeweils gültigen zeithistorischen Bedingungen. Solange das konfessionelle Moment noch als sachlich begründetes Gliederungsprinzip der religiösen Landschaft einer Gesellschaft wirksam ist, ist die konfessionelle Zuordnung der Forschungsgegenstände von Belang. Harry Oelke und Thomas Brechenmacher fragen aus konfessionsbezogener Perspektive – der eine aus evangelischem Blickwinkel, der andere aus katholischem – nach den „Forschungsgegenständen der Kirchlichen Zeitgeschichte“ und zeigen auf, wie diese jeweils kontextuell eingebunden sind und in einer prozessualen Entwicklung stehen. Aus dem Nebeneinander beider Beiträge wird erkennbar, dass die Forschungsgegenstände in beiden konfessionellen Forschungszusammenhängen sich in ganz ähnliche Phasen gliedern lassen. Wenn der Periodisierung und den Forschungsgegenständen der Blick auf die Akteure und deren Intentionen folgt (Sektion 3), reflektiert dies den Umstand, dass Kirchliche Zeitgeschichte, zumal in ihren Anfängen, auf beiden
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konfessionellen Seiten von starken und auch über die Wissenschaft hinaus konfliktfähigen Einzelpersönlichkeiten geprägt war. Das Streben nach Deutungshoheit spielte dabei immer eine wichtige Rolle. Thomas Martin Schneider illustriert dies unter anderem an den Auseinandersetzungen zwischen Wilhelm Niemöller und Friedrich Baumgärtel, denen letztlich die Rivalität der jeweiligen evangelischen Bekenntnisse zugrunde lag. Mark Edward Ruff erinnert an den wissenschaftshistorisch berühmten Streit zwischen Konrad Repgen und Klaus Scholder um die Vorgeschichte des Reichskonkordats. Dass hier mit Scholder ein evangelischer Kirchenhistoriker in „katholisches Terrain“ vorstieß, bildete seinerzeit vielleicht einen Anlass zur verschärften Attacke des katholischen Kollegen. Jenseits aller Polemik drehte sich die Debatte aber um sehr avancierte hermeneutische Fragen der Auslegung von Quellen bzw. der Interpretation von Vorgängen, zu denen Quellen gerade fehlten. Der Beitrag von Claudia Lepp hingegen argumentiert mehr methodisch denn akteurszentriert, indem sie fragt, was Konzepte der „Erinnerung“ und der „Erinnerungskultur“ für die Kirchliche Zeitgeschichte leisten können und leisten sollten. Die vierte Sektion trägt dem Umstand Rechnung, dass die voranschreitende Digitalisierung insbesondere die quellengestützten historischen Wissenschaftsdisziplinen betrifft. Im Hinblick auf die Verfügbarkeit von Quellen dürfte die Kirchliche Zeitgeschichte als jüngste kirchenhistoriographische Epoche besonders dicht belegt sein. Mit Henning Pahl und Christoph Schmider zeigen zwei ausgewiesene Kenner des kirchlichen Archivwesens aus jeweils verschiedenen Perspektiven, wie die Archivierung und Benutzung von jüngeren und jüngsten Quellen in besonderer Weise einerseits vor die Aufgabe des Datenschutzes gestellt ist, und andererseits durch die gleichzeitig geltende Norm von der größtmöglichen Forschungsfreiheit ein Spannungsfeld entsteht. Die Autoren machen deutlich, dass der Umgang damit von den Archiven eine tragfähige Kriteriologie und ausgewogene Vorgaben verlange. Sind die Quellen zur Kirchlichen Zeitgeschichte einmal verfügbar, dann stellen sich, wie Christoph Kösters (auf der Tagung) zeigte19, bei ihrer wissenschaftlichen Aufbereitung besondere Aufgaben. Leitquellen, wie etwa die Akten der Bischöfe oder die ,Ratsprotokolle‘ der EKD, verändern über die Jahrzehnte hinweg ihren Charakter, indem sich in ihnen der beschleunigte Wandel der Institutionen und ihrer Bürokratien abbildet. Wissenschaftliche Herausgeber zeitgeschichtlicher Quellencorpora stehen vor der Aufgabe, dem editorisch gerecht zu werden. Die digitale Technik stellt dazu einerseits fast unbegrenzte Möglichkeiten bereit, ist aber auch mit Problemen der nachhaltigen Archivierung und mit dauerhaften Unterhaltskosten verbunden, denen gegenüber das altbewährte Buchformat als ein preisgünstiger und nach wie vor unverzichtbarer Garant der Sicherheit erscheint. Insgesamt übersteigen die finanziellen Anforderungen an digitale Editionen die Ressourcen 19 Auch der Beitrag von Christoph Kösters konnte leider für den Druck nicht bereitgestellt werden.
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beider Kommissionen so weit, dass derzeit an engagierte digitale Formate nicht zu denken, ja unter den Bedingungen sich weiter reduzierender Grundfinanzierungen die Fortsetzung der Editionstätigkeit überhaupt gefährdet ist. Das würde für die Kirchliche Zeitgeschichte auf Dauer einen empfindlichen Verlust an Dokumentation bedeuten. Mit Anregungen aus benachbarten Wissenschaften und möglichen disziplinären Erweiterungen der Kirchlichen Zeitgeschichte befasst sich das Kapitel Kirchliche Zeitgeschichte als interdisziplinäres Forschungsfeld. Die Beiträge, die auf Kurzreferate der während der Würzburger Tagung in Form eines Podiumsgesprächs abgehaltenen Sektion zurückgehen, beleuchten das Feld der Kirchlichen Zeitgeschichte aus dem Blickwinkel der Praktischen Theologie (Maike Schult), der Soziologie (Marc Breuer), der Politikwissenschaft (Antonius Liedhegener) und der Rechtsgeschichte (Sebastian Schwab). Gerade angesichts der Diagnose, dass Religiosität auch im angeblichen Zeitalter der Säkularisierung nicht „verschwindet“, sondern sich auf vielfältige und mitunter diffuse Weise transformiert, können Fachdisziplinen mit anderen methodischen Zugriffen als die klassischen geschichtswissenschaftlichen oder kirchenhistorischen (von einer psychologischen Biographieforschung bis hin zu „big data“) zu adäquaterer Abbildung dieser Prozesse fruchtbar beitragen. Das zweckmäßige Verhältnis zwischen einer Schein-Interdisziplinarität (Liedhegener) und fruchtbarem interdisziplinären „Patchwork“ (Schult) bleibt im Einzelfall sorgfältig auszuloten. Die abschließende sechste Sektion weitet den Untersuchungshorizont über die deutschen Grenzen in europäische und globale Untersuchungslandschaften hinein. Die Kirchliche Zeitgeschichte ist durch ihre Entstehung im Kontext der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Verhältnisses von Kirchen und Nationalsozialismus von Anfang an von einer dezidiert deutschen Forschungsperspektive gekennzeichnet. In der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts hat die deutsche Kirchengeschichte insgesamt allmählich gelernt, ihre Forschungen in einen weiteren, europäischen Kontext zu stellen. Insbesondere in der Kirchlichen Zeitgeschichte haben sich erste komparatistische Studien etwa zu deutschen kirchenhistorischen Wandlungsprozessen der 1960er und 70er Jahre mit analogen westeuropäischen Vorgängen als äußerst aufschlussreich erwiesen. Davon weiß auch Hugh McLeod zu berichten, der zugespitzt fragt, ob man in Westeuropa mit den 1960er und folgenden Jahren in eine „Post-Christian-Era“ eintrete? Seine Antwort fällt erheblich differenzierter aus als es die eingängige Frage zunächst vermuten lässt. Ähnliche Studien zur Situation von Kirchen und Christentum in Osteuropa mit einem kirchlichen Erkenntnisinteresse sind, abgesehen von einigen Beiträgen aus der Osteuropakunde und der historisch-politischen Osteuropageschichte, bis heute weitgehend immer noch ein Desiderat der Forschung. Insofern ist die umsichtige Bestandsaufnahme von Gisa Bauer zur thematischen Bedeutung von Osteuropa in der gegenwärtigen Kirchlichen Zeitgeschichte besonders wertvoll. Durch eine seit zwei Jahrzehnten an Bedeutung
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gewinnende Geschichte des globalen Christentums20 hätte die Kirchliche Zeitgeschichte einen erheblichen Zuwachs an Forschungsgegenständen und -perspektiven zu verzeichnen, sofern sie sich dafür öffnete. Olaf Blaschke zeigt, wie diese Erweiterung des Forschungspanoramas die Kirchliche Zeitgeschichte vor neue Fragen stellt, wenn sie die globale kirchengeschichtliche Landkarte zukünftig verstärkt auch als ihr Aufgabengebiet begreift. Im Schritt von der Bilanzierung zur Perspektive wird festzuhalten sein, dass konfessionelle Spezifika die Forschungsgegenstände und -fragen auf beiden Seiten weiterhin bestimmen werden. Strukturen, Institutionen und Debatten unterscheiden sich auf beiden konfessionellen Seiten so stark, dass eine ad intra gerichtete evangelische wie katholische Kirchliche Zeitgeschichte auch künftig als solche betrieben werden muss und soll. Themenstellungen hingegen, die sich auf die Wirkung von Konfessionen, Kirchen und religiös geprägten Sozialformen nach außen, in die Gesellschaft hinein, richten, werden von der bikonfessionellen Perspektive profitieren21, ja vielleicht ohne diese Perspektive nur unzureichend bearbeitet werden können. Freilich wird auch hier jeweils von einer konfessionsbezogenen Bestandsaufnahme auszugehen sein. Die beiden DFG-Forschungsgruppen „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989“ und „Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland. Semantiken, Praktiken und Emotionen in der westdeutschen Gesellschaft, 1965–1989/90“, fragen genau nach dieser Relevanz des Protestantischen und des Katholischen für die Gesellschaft der (alten) Bundesrepublik und sind dabei, solche konfessionsbezogenen Bestandsaufnahmen zu erarbeiten22. Für einen zweiten Schritt, der nach der Bedeutung des Christlichen insgesamt in einer westlichen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fragt, nach gesellschaftlichen Reflexen und Applikationen von christlichen Mentalitäten und Einstellungsdispositionen im Bereich von Lebensformen und Diskurskultur, wird das Identifizieren übergreifender Gegenstände und deren gemeinsames Erforschen unabdingbar sein. Die Rahmenbedingungen sind für beide Konfessionen jedenfalls identisch: eine Gesellschaft, deren „religiöse Imprägnierung“ (Großbölting) schwindet. Autoritätsverlust der kirchlichen Institutionen und erodierende Bindungen der Gläubigen betreffen beide Seiten. Dem scheinen sich aber neue Formen des „Evangelisch-“ bzw. „Katholischseins“ gegenüberzustellen, die sich ihrerseits in Gesellschaft und Politik artikulieren (sei es in Fragen des Umweltschutzes, der Friedenspolitik, der sozialen Gerechtigkeit und des Minderheitenschutzes o. ä.). Daraus ergeben sich ungeahnte neue Koalitionen quer durch die Gesellschaft oder neue Initiativen im zivilgesellschaftlichen Bereich, die, wenn auch manchmal auf den ersten Blick nicht 20 Vgl. dazu bes. Schjørring / Hjelm / Ward, Geschichte. 21 Vgl. modellhaft Brechenmacher / Oelke, Kirchen. 22 Vgl. zum Konzept und Programm der beiden Forschungsgruppen: https://wiki.de.dariah.eu/dis play/F1P/Startseite; sowie https://www.katholischsein-for2973.de.
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Thomas Brechenmacher und Harry Oelke
gleich ersichtlich, auf christliche Sinngebungs- und Deutungsmuster rekurrieren (Schöpfung, „christliches Menschenbild“). Erinnerungskultur und öffentliche Aushandlung der Erinnerung, aus der wiederum Sinnstiftung für die jeweilige Gegenwart floss und fließt, wären dann Themen einer überkonfessionellen Kirchlichen Zeitgeschichte, Themen, in deren Bearbeitung die Kirchliche Zeitgeschichte alte Engführungen überwinden und ihre anhaltende Notwendigkeit und Bedeutung für die „Problemgeschichte der Gegenwart“ unter Beweis stellen könnte. Ein besonderer Dank gilt unseren beiden Mitherausgebern Claudia Lepp und Frank Kleinehagenbrock. Sie trugen die Last der Organisations- und Koordinierungsarbeiten sowohl für die Würzburger Tagung als auch für diesen Band. Ohne ihren Einsatz – und den der hinter ihnen stehenden Forschungsstellen für Kirchliche Zeitgeschichte in München und Bonn – wäre beides in dieser Form und mit so zügigem Publikationsabschluss nicht möglich gewesen.
I. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Brechenmacher, Thomas / Oelke, Harry (Hg.): Die Kirchen und die Verbrechen im nationalsozialistischen Staat. Göttingen 2011. Conzemius, Victor / Greschat, Martin / Kocher, Hermann (Hg.): Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte. Göttingen 1988. Damberg, Wilhelm: Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980 (VKfZG B 79). Paderborn u. a. 1997. – / Hummel, Karl-Joseph: Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart (VKfZG B 130). Paderborn u. a. 2015. Doering-Manteuffel, Anselm / Nowak, Kurt (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden. Stuttgart / Berlin / Köln 1996. Hauschild, Wolf-Dieter : Art. Zeitgeschichte, Kirchliche. In: TRE 30 (2004/2006), 554–561. Einfehrung der Herausgeber. In: KZG 1 (1988), 4–6. Fitschen, Klaus u. a. (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 1970er Jahre (AKIZ B 52). Göttingen 2011. Hehl, Ulrich von / Repgen, Konrad (Hg.): Der deutsche Katholizismus in der zeitgeschichtlichen Forschung. Mainz 1988. Hermle, Siegfried / Lepp, Claudia / Oelke, Harry (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren. Göttingen 22012 (12007). Hummel, Karl-Joseph (Hg.): Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz (VKfZG B 100). Paderborn u. a. 2004.
Kirchliche Zeitgeschichte – Bilanz und Perspektiven
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– / Kçsters, Christoph (Hg.): Kirchen im Krieg. Europa 1939–1945. Paderborn u. a. 2007. Israel, Carlotta: [Tagungsbericht] Kirchliche Zeitgeschichte. Bilanz – Fragen – Perspektiven, in: [27. 9. 2020] = MKiZ 14 (2020), 153–162. Kaiser, Jochen-Christoph: Wissenschaftspolitik in der Kirche. Zur Entstehung der ,Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit‘. In: Doering-Manteuffel / Nowak, Zeitgeschichte, 125–163. Kçsters, Christoph: Zwischen Religion und Politik. Katholisches Christentum in der SBZ und DDR. In: ZKG 131 (2020), 223–252. – / Kullmann, Claudio / Liedhegener, Antonius / Tischner, Wolfgang: Was kommt nach dem katholischen Milieu? Forschungsbericht zur Geschichte des Katholizismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), 485–526 (auch unter https://www.fes.de/in dex.php?eID=dumpFile&t=f&f=46857&token=b397bf0ec01bd81 f16e171a96d361f3c5efad766 [22. 9. 2020]). Lepp, Claudia / Oelke, Harry / Pollack, Detlef (Hg.): Religion und Lebensführung im Umbruch der langen 1960er Jahre (AKIZ B 65). Göttingen 2016. Meier, Kurt: Kirchliche Zeitgeschichte. In: ThR 54 (1989), 113–168, 380–414; ThR 55 (1990), 89–106 (Nachtrag). Morsey, Rudolf: Gründung und Gründer der Kommission für Zeitgeschichte 1960–1962. In: HJb 115 (1995), 453–485. Oelke, Harry / Brechenmacher, Thomas: Art. Kirchenkampf. In: Staatslexikon, 8. Aufl., Bd. 3 (2019), Sp. 772–780. Schjørring, Jens Holger / Hjelm, Norman A. / Ward, Kevin (Hg.): Geschichte des globalen Christentums. Teil 3: 20. Jahrhundert. Stuttgart 2018. Schneider, Thomas Martin / Seiler, Jörg: Aspekte zur Erforschung der kirchlichen Zeitgeschichte nach 1989. In: ThLZ 138 (2013), 761–788.
II. Internetquellen https://wiki.de.dariah.eu/display/F1P/Startseite [27. 9. 2020]. www.katholischsein-for2973.de [27. 10. 2020]. www.kfzg.de/publikationen [27. 9. 2020]. www.kirchliche-zeitgeschichte.info/publikationen/kirchenkampf.html [27. 9. 2020].
Thomas Großbölting
Kirchliche Zeitgeschichte – Überlegungen zu Stand und Herausforderungen einer Disziplin*
Noch vor wenigen Jahrzehnten gingen diejenigen Historikerinnen und Historiker, die sich mit religiösen Phänomenen und deren institutionellen Verdichtungen beschäftigten, in Sack und Asche. Zumindest gefühlt befand man sich ganz am Rande des wissenschaftlichen Geschäfts wie auch des öffentlichen Interesses. Zusammenhänge aus dem engeren Bereich der Kirchengeschichte, des Protestantismus wie des Katholizismus, waren wenig im Blick der Wissenschaft und galten überdies als nicht trendy1. „Die Beschäftigung mit der Geschichte des Christentums überließ man der theologischen Kirchengeschichtsschreibung, die je nach konfessionellem Standpunkt die profane Geschichte der eigenen religiösen Institutionen mit der theologisch-heilsgeschichtlichen Bedeutung derselben zu vermitteln versuchte. Selbst nach der Verabschiedung des ,heilsgeschichtlichen Paradigmas‘ im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts blieb die Erforschung des europäischen Christentums ein Unternehmen, das bis heute im Wesentlichen von den an den theologischen Fakultäten beheimateten kirchengeschichtlichen Lehrstühlen betrieben wird.“2
Insbesondere mit Blick auf die große Disziplin der Geschichtswissenschaft arbeiteten sich an Religion interessierte Vergangenheitsdeutende vor allem in den 1980er Jahren an dem harschen Urteil Bielefelder Provenienz ab, dass Religion vor allem ein Faktor der Vormoderne sei3. Die Ablehnungen aus dem Bereich der Allgemeingeschichte rührten daher, dass von einigen Vertreterinnen und Vertretern auf der Folie einer kruden Säkularisierungstheorie Religion insgesamt als ein Residualphänomen betrachtet wurde, dessen Analyse nicht mehr lohne. Und selbst in der Theologie als akademischer Heimat der bekenntnisgebundenen Forscherinnen und Forscher mit historischem Interesse galt die Kirchengeschichte als ein Nebenfach, welches beispielsweise die dialektische Theologie um Karl Barth insgesamt zu einer Hilfsdisziplin der eigentlichen Theologie erklärt hatte4. Mit Mark Edward Ruff verwies noch 2009 einer der aufmerksamsten internationalen Beobachter der * 1 2 3 4
Im folgenden Text wurde die Vortragsform nur moderat angepasst. Vgl. die luzide Übersicht bei Grosse Kracht, Religionsgeschichte. Ebd. Vgl. dazu O’Sullivan, Religion. Vgl. zur durchaus kritischen Diskussion der Position der dialektischen Theologie Beutel, Nutzen.
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deutschen historiographischen Szene darauf, wie dringend nötig es sei, die vielfältigen Forschungen zur Religion in den historiographischen Mainstream zu integrieren5. Diese Zeiten scheinen vorbei. Abgesehen davon, dass die Behauptung von Marginalisierung im Wissenschaftsgeschäft auch immer ein strategisches Moment hatte und hat, mit dem Aufmerksamkeit eingefordert wird, ist die Religion als Thema auch der Zeitgeschichte wieder stärker in den Fokus gerückt. Die Renaissance des Interesses am Gegenstand hat zunächst und vorrangig außerwissenschaftliche Gründe und hängt vor allem damit zusammen, dass Transzendenzbezüge wieder stärker ins Zentrum der internationalen und der nationalen Politik gerückt sind: Vom polnischen Papst und Solidarnos´c´, der iranischen Revolution gegen das Regime des Schahs über die vor allem afghanischen Taliban und die islamistisch motivierten Anschläge des 11. Septembers 2001 auf die New Yorker Twin Towers bis hin zur Bedeutung der Evangelikalen in den amerikanischen Präsidentschaftswahlen – Religion ist in all ihrer Ambivalenz zurück auf dem Parkett. Innerwissenschaftlich trifft dieses Publikumsinteresse auf eine Teildisziplin, deren Organisationsdichte relativ hoch ist: „Kirchliche Zeitgeschichte“ steht nicht nur mit Blick auf Einzelforschende, sondern auch als wissenschaftliche Disziplin vergleichsweise gut da. Folgt man mit Rudolf Stichweh einem der führenden Wissenschafts- und Universitätssoziologen der vergangenen Jahrzehnte, dann konstituiert sich eine Wissenschaftsdisziplin anhand von wenigen Kriterien: Grundlage ist ein gemeinsamer Kommunikationsraum, in dem Konsens herrscht über leitende Fragestellungen, anerkannte Methoden und Paradigmen. Die Würzburger Tagung vom Februar 2020 diente genau dazu: Themen und Zugriffe zu diskutieren, über die Akteurinnen und Akteure ebenso nachzudenken wie über Adressatinnen und Adressaten unserer Forschung. Die Kirchliche Zeitgeschichte hat verschiedene In-Groups, vielleicht gar Zitationskartelle ausgebildet. „Disziplinäre Gemeinschaften”, so definiert Stichweh weiter, „sind angewiesen auf wissenschaftliche Institutionen, die als organisatorische Infrastruktur der disziplinär restrukturierten Wissenschaft fungieren können.”6 Eine solche Institutionalisierung realisiert sich dann in erkennbaren Forschungsverbünden und -instituten, Publikationsorganen und Lehrbüchern, über die wissenschaftliches Wissen in der Lehre weitervermittelt wird. Mit der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte ebenso wie mit der Kommission für Zeitgeschichte existieren zwei Organisationen, die jeweils die Anstrengungen ihrer Mitglieder bündeln – und ihrerseits schon wieder eine Metabetrachtung in Form einer Geschichte zweiter Ordnung erfahren haben7. Forschungsgruppen zum Sozialprotestantismus in der Bundesrepublik 5 Vgl. Ruff, Religion. 6 Stichweh, Entstehung, 62. Zur Zeitgeschichte als Disziplin vgl. vor allem Metzler, Zeitgeschichte. 7 Vgl. dazu die entsprechenden Tagungsbeiträge in diesem Band.
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wie auch zum Katholischsein seit den 1970er Jahren, ein Exzellenzcluster Religion und Politik, Zeitschriften und diverse Reihen – die blaue, die orangefarbene, die Mitteilungen, die Quellen, die Darstellungen und viele mehr. Es fehlt nicht an Publikationsorganen zum Thema. Die Kassandrarufe noch aus den 1990er Jahren haben sich angesichts dessen lange erledigt. Nicht nur in der Vormodernehistoriographie, sondern auch in der Neueren und Neuesten Geschichte ist mit dem cultural turn eine Sensibilität für die gesellschaftliche Gestaltungskraft von Religion und davon abgeleitet auch den Kirchen als Träger dieser Art der Weltdeutung gewachsen, die sich in zahlreichen wissenschaftlichen Diskussionen und Publikationen niederschlägt. Wie stark diese Ausprägung ist, zeigt sich rasch im Vergleich zu anderen historischen Teildisziplinen: Obwohl wir seit der Banken- und Währungskrise der Jahre 2008 fortfolgende alle mit Händen greifen können, wie stark der globale Finanzkapitalismus unsere Gesellschaften durcheinanderschüttelt, ist die Wirtschaftsgeschichte als Element der Zeitgeschichte nur unzureichend berücksichtigt. Auch an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten sind die ihr gewidmeten Professuren oftmals prekär gestellt. Für die Religions- und Kirchengeschichte gilt meiner Beobachtung nach das Gegenteil: Die kirchenhistorischen Lehrstühle sind momentan (noch) durch Konkordats- oder Kirchenverträge abgesichert. Auch wenn die meisten Professuren breiter orientiert sind, ist damit die Zeitgeschichte des Religiösen mindestens mit bedacht. Fragen wir nach den Ursachen dieser starken Institutionalisierung, dann zeigt sich rasch, dass die Antwort darauf nur wenig Anlass zur Selbstzufriedenheit gibt: Die Disziplin profitiert vor allem von der Kirchenspaltung und der damit gegebenen Bikonfessionalität. Das, was Christinnen und Christen in den Kirchen selbst immer wieder als überkommen beklagen, gereicht der disziplinären Verfasstheit der kirchlichen Zeitgeschichte zum Vorteil. Das mag etwas zynisch klingen, trifft aber doch den Punkt: Wir Forschenden animieren uns gegenseitig durch Konkurrenz zwischen katholisch und evangelisch wie auch seit einigen Jahren durch Kooperation. Und nicht zuletzt: Wir bekommen eben auch von zwei Seiten Geld: von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wie von der Bischofskonferenz. Ob das ewig so bleibt? Wir mögen auf die schon von Max Weber beschworene Beharrungskraft von Institutionen hoffen – in der Alltagspraxis vieler Akteurinnen und Akteure des religiösen Feldes spielen diese konfessionellen Unterscheidungen in der Breite immer weniger eine Rolle, allenfalls am Rand des Feldes verdichten sich konfessionelle Unterschiede zu demonstrativ gepflegten Distinktionsmarkern. Es lässt sich erahnen, dass diese Differenzen damit auch wissenschaftsorganisatorisch immer mehr an Plausibilität verlieren. Inwieweit diese Entwicklung in Zeiten wegbrechender Kirchensteuereinnahmen wie auch der wackelnden Position der Theologien an staatlichen Universitäten zu einer Schwächung der historischen Fächer und ihrer Organisationsstrukturen führen wird, ist heute noch nicht absehbar.
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Damit ist die Kehrtwende in der Argumentation gemacht: Wenn führende Vertreterinnen und Vertreter der Disziplin unter dem Thema „Was ist Kirchliche Zeitgeschichte?“ zusammentreffen, dann dient das ja weniger der Selbstbestätigung, sondern ist zugleich und vor allem eine Problemanzeige: Wer nach Periodisierungen, Gegenständen, Quellen, Akteurinnen und Akteuren fragt, so die Sektionsüberschriften des folgenden Bandes, signalisiert damit, sich seiner Sache keinesfalls sicher zu sein, sondern entsprechenden Diskussionsbedarf zu haben. Bemerkenswert und typisch scheint mir, dass wir nach zwei Punkten nicht fragen: erstens nach Methoden und Zugriffen – Aspekte, deren Diskussion in der „Profangeschichte“ lange Zeit so viel Energie mobilisierte – wie auch zweitens nach allem, was mit den Adressatinnen und Adressaten unserer Veröffentlichungen, deren Rezeption und „Nutzung“ unserer Ergebnisse sowie den Rückwirkungen dieser Resonanz in unsere wissenschaftliche Arbeit zu tun hat. Ich möchte im Folgenden nicht nur diese zwei, sondern auch einige weitere Punkte entwickeln, an denen ich die Disziplin Kirchliche Zeitgeschichte herausgefordert sehe. Ich leite diese ab aus der Diskussion in unseren Nachbar- oder auch Herkunftsfächern, versuche diese aber so zu modifizieren, dass die damit angerissenen Fragen für unsere Teildisziplin scharf gestellt werden: Kirchliche Zeitgeschichte ist wie die allgemeine Zeitgeschichte immer „Hybridgeschichte“. Im Kern dieser Feststellung steht die Einsicht, dass wir als Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker Teil dessen sind, was wir ergründen wollen. Der Zeithistorikerin, dem Zeithistoriker ist die Doppelrolle der Zeitzeugin und der distanzierten Beobachterin eingeschrieben. Wir haben keinen „Sehepunkt“ außerhalb unseres Untersuchungsgegenstandes, wie ihn der Theologe und Historiker Chladenius als Idealbild der Historiographie beschreibt. Wir sind mindestens Zeitzeuginnen und Zeitzeugen dessen, was wir untersuchen, wenn nicht gar in so manchem Fall auch Aktivistin oder Aktivist. Diese Nähe bringt nicht nur den Vorteil genauer Kenntnis des Untersuchungsgegenstandes, sondern vor allem das Problem der Parteilichkeit oder zumindest einer biographisch beeinflussten, mithin verengten Perspektive mit sich. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen geschichtlichem Ergründen, geschichtspolitischem oder politischem Gestalten wie auch kirchenpolitischer Instrumentalisierung – wenn nicht in den politischen Zusammenhängen selbst, dann doch mindestens in den geschichtspolitischen Aktualisierungen der Vergangenheit. Sind wir eigentlich methodisch kontrollierter Gegenpart zu oder doch genuiner Teil der Erinnerungskultur? Auch in der allgemeinen Zeitgeschichte bleibt diese Frage erkenntnistheoretisch offen, disziplinär hat man dieses Problem mit der Ausgründung einer public history eher institutionell verschoben als sachlich gelöst8. Wo die allgemeine Zeitgeschichte erst in den vergangenen Jahrzehnten 8 Vgl. dazu Grossbçlting, Wiedervereinigungsgesellschaft, 30–40 („Zeitgeschichte als Problemgeschichte der Gegenwart“).
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stärker begonnen hat, ihren wissenschaftlichen Status wie auch ihre Zugriffe und Methoden zu reflektieren, da hat sich die Kirchliche Zeitgeschichte dieser Diskussion noch zaghafter geöffnet9. Die Methodendebatten sind überschaubar, wenngleich ungemein wichtig, da sie wegen der Bekenntnisgebundenheit zumindest der in den Theologien beheimateten Fachvertreterinnen und Fachvertreter noch drängender sind: Das „sentire cum ecclesia“, welches vom katholischen Lehramt noch in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten als Forderung an die Wissenschaft aufrechterhalten wurde, ließ sich nur noch mit der dialektischen Schleife der Legitimation durch Kritik praktizieren oder, so die am meisten zu beobachtende Praxis, wurde als Anspruch zwar nicht explizit, wohl aber in der Praxis fallengelassen – das hierarchische Schisma lässt grüßen! Auf der evangelischen Seite ist diese Frage nach der Gebundenheit von Kirchengeschichte in einer Diskussion Mitte der 2000er Jahre noch einmal grundsätzlich aufgeworfen worden: Lässt sich „Konfession“, so fragte der Theologe Wolf-Dieter Hauschild, nur im Rahmen einer (letztlich bekenntnisgebundenen) Ekklesiologie diskutieren, aus der heraus dann das Wesen und die Zielsetzung der Kirchengeschichte zu bestimmen sei? Anderenfalls spreche man von Religions-, aber nicht von Kirchengeschichte, so Hauschild 2004 auf einem Münsteraner Symposion10. Der Kirchenhistoriker Martin Greschat hielt dem überzeugend entgegen, dass Konfession natürlich auch theologisch-ekklesiologisch rückgebunden sei, aber in ihrer sozialhistorischen Bedeutung weit darüber hinausreiche. Generalisierend führte er dann aus: „Ein dogmatisch-konfessionelles Verständnis der […] Kirchlichen Zeitgeschichte kann im wissenschaftlichen Gespräch doch immer nur die Formulierung des eigenen Standpunkts sein“, müsse sich aber in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung dann „dem rationalen Diskurs“ aussetzen11. Praktisch-politisch hat sich die allgemeine Zeitgeschichte als Nutzgeschichte etabliert – und die Kirchliche Zeitgeschichte ging diesen Weg ungebremst mit: Die moderne Zeitgeschichte als Politikgeschichte ist geprägt von der Entstehung der Nationalstaaten und ihrer Bedürfnisse nach historischer Absicherung und Legitimation, das gilt insbesondere für Deutschland. Ein Beispiel illustriert das ganz handgreiflich: Als die deutsche Delegation sich 1918 in der Verhandlung mit den Siegern des Ersten Weltkriegs mit Forderungen nach Grenzverschiebungen und Bevölkerungsbewegungen konfrontiert sah, da fehlte auf der deutschen Seite jegliches Argument12. Hektisch rief man bei Professor Meinecke in Berlin an, der dann nach längerer Verzögerung 9 Zur allgemeinen Zeitgeschichte vgl. Bçsch / Danyel, Zeitgeschichte. Für die Kirchengeschichte, aber auch für die kirchliche Zeitgeschichte nach wie vor Maßstäbe setzend: Holzem, Gesslerhüte. 10 Vgl. auch Hauschild, Grundprobleme, 36. 11 Greschat, Anmerkungen, 270. 12 Das Beispiel ist entnommen aus Herbert, Katastrophen.
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einige handgezeichnete Skizzen über den historischen Siedlungsraum der Deutschen vorlegen konnte, mit denen die Delegation dann gegenüber den alliierten Kontraparts auf historische Siedlungsstrukturen verweisen konnte. Zeithistoriker wurden in den 1920er Jahren in Stellung gebracht, um nach dem Ersten Weltkrieg die politisch so bedeutsame Kriegsschuldfrage intellektuell mit durchzukämpfen. In den 1930er und 40er Jahren setzte sich das fort, indem methodisch innovative Volksforscher den politischen Kategorien und Optionen der NS-Regierung zuarbeiteten. Hatte es vor diesem Hintergrund nicht eine gewisse Berechtigung, wenn von den vermeintlich echten Historikerinnen und Historikern, also den Nicht-Zeithistorikerinnen und -historikern, die sich mit weiter zurückliegenden Epochen der Vergangenheit beschäftigten, bis weit in die Nachkriegszeit diese Disziplin immer als nicht satisfaktionsfähig angesehen, gelegentlich sogar als bloßer Journalismus abgetan wurde? Die Lage wendete sich grundlegend, als sich in den Jahrzehnten der Bundesrepublik die Legitimationswissenschaft Zeitgeschichte zur Kritikwissenschaft entwickelte. „Die westdeutsche Gesellschaft hielt sich eine wissenschaftliche Zeitgeschichte, die die Vorgeschichte der Bundesrepublik und ihrer Bevölkerung durch die Erforschung der NS-Zeit ja tatsächlich delegitimierte, auf diese Weise aber die Identität der Bundesrepublik als offene Gesellschaft mit konstituierte“, so der Zeithistoriker Ulrich Herbert13. In der Kirchlichen Zeitgeschichte folgten und folgen wir mehr oder weniger diesem Modus. Vielfach haben wir auch den Duktus der Kritikwissenschaft übernommen und zwar sowohl in unserer Themenwahl wie auch in unserer Distanz zu Methodenfragen. Damit prägte nicht der selbstreflexive methodische Diskurs die Forschungspraxis der Kirchlichen Zeitgeschichte, sondern eine pragmatisch-praktische Herangehensweise: Wir sind nützlich und nutzbar. Wir stiften Tradition und vermitteln Dignität, indem wir die Geschichte von Landeskirchen und Bistümern schreiben. Wir prüfen Biografien in Selig- und Heiligsprechungsprozessen. Wo die Geschichte noch qualmte – und das tut sie angesichts der politischen Umbrüche in Deutschland eben oft –, da stellte man selbstreflexiv methodische Diskurse hinten an, fragte nicht lang, sondern erforschte und arbeitete auf: die Kirchen nach dem Ersten, nach dem Zweiten Weltkrieg, die Kirchen und der Nationalsozialismus, die Kirchen und der Holocaust und vieles mehr. Genau wie in der Zeitgeschichte allgemein hat die mit der Katastrophenorientierung verbundene Forschungspraxis einerseits vorzeigbare Ergebnisse produziert und tut dieses weiterhin. Es gibt auch in diesem Paradigma der Katastrophengeschichte und des „Danachs“ erstaunlich offene Fragen, die erst aktuell aufgegriffen werden: Wie orientierten sich eigentlich ehemalige Deutsche Christinnen und Christen in der dann freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik wie auch in der volkskirchlichen Renaissance der Landeskirchen? Der Historiker Marvin Becker greift anhand 13 Ebd.
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neuen Quellenmaterials diese Frage auf und wird zeigen, wie stark kirchenpolitisch rechtes Denken sich auch in der frühen Bundesrepublik fortsetzte und organisierte14. Wie gingen eigentlich die junge Bundesrepublik, die staatliche Verwaltung, aber auch die katholische Kirche praktisch mit den weiter geltenden Konkordatsbestimmungen um, die in Verhandlungen mit der NS-Regierung zustande gekommen waren? Der Historiker Jan Wille schreibt dazu und arbeitet heraus, wie stark das Dispositiv Konkordat das staatlichkirchliche Interagieren über die politische Zäsur hinaus prägte15. Alles in allem aber stößt der katastropheninduzierte Zugriff andererseits immer stärker an seine Grenzen, wenn es um die Erforschung der Spät-, Nachoder Postmoderne geht: Zeitgeschichte orientiert sich aktuell zunehmend weniger an der Nachgeschichte der Katastrophen, sondern verstärkt an der Problemgeschichte der Gegenwart, so eine beliebte und zunächst einmal sehr offene Formulierung. Für unseren Zusammenhang der Kirchlichen Zeitgeschichte lässt sich das leicht ausbuchstabieren: Angesichts der mit Händen zu greifenden Säkularisierung und des Bedeutungsverlustes der Institution Kirche verstehen wir Kirchliche Zeitgeschichte – jetzt mit der Betonung auf dem Adjektiv kirchlich – zu sehr institutionenorientiert. Ohne Beachtung des religiösen Feldes insgesamt flüchten wir uns dann allzu oft in die Ergebnisse von Statistikerinnen und Demoskopen, die uns die Säkularisierung über kirchliche Kennziffern herleiten und übernehmen deren Ergebnisse als Fakt – und tun dabei so, als hätten wir die letztlich auch erkenntnistheoretische Warnung des Historikers Lutz Raphael von der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ nie gehört16. Überzeugend hat der auf dem Feld der Religionsgeschichte arbeitende Historiker Benjamin Ziemann am Beispiel katholischer Pastoralplanungsinstanzen und deren Wirken hergeleitet, wie stark die Prägekraft sozialwissenschaftlicher Konzepte und Begriffsbildung im Feld der jeweils damit in Verbindung stehenden Praxis ist17. Die jeweils binnenkirchliche Selbstbeschreibung der Säkularisierung von innen zu entschlüsseln und deren Binnendynamiken nachzugehen, das eigene Methodenarsenal zu erweitern durch die reflektierte und behutsame Nutzung der Nachbardisziplinen, indem wir deren Begriffe und Methoden historisieren – das böte uns an dieser Stelle einen „Sehepunkt“ von außen, von dem aus uns eine distanziertere Analyse gelingen kann. Dieser Verweis auf eine im weitesten Sinne religionswissenschaftliche, ethnologische oder sozialwissenschaftliche Erweiterung unseres Blicks und 14 Vgl. https://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/NZ-G/L2/Mitarbeiter/Assoziierte/mar vinbecker.html. 15 Vgl. https://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/NZ-G/L2/Mitarbeiter/Wiss/mitarbei ter-janhorstwille.html#Wille_Publikationen. Demnächst vgl. auch Wille, Verwaltungspraktiken. 16 Raphael, Verwissenschaftlichung. 17 Vgl. Ziemann, Kirche.
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Thomas Großbölting
unseres Zugriffs ist allerdings kein Plädoyer dafür, jetzt ausschließlich die „vagierende“ oder „populäre“ Religiosität am Rande stärker wahrzunehmen – ganz im Gegenteil: Der im engeren Sinne theologisch-konfessionelle Faktor, wie ihn auch Hauschild in der Debatte mit Greschat eingefordert hatte, bleibt von entscheidender Bedeutung, findet sich aber über die Statistik hinaus erstaunlich wenig in den Ergebnissen unserer Forschung. Seit dem Versiegen der Gemeindesoziologie in den 1970er Jahren wissen wir wenig über das Binnenleben von Pfarrgemeinden und anderen kirchlichen Zusammenschlüssen, der dort praktizierten Weltdeutung und der daraus abgeleiteten Praxis: Wie Menschen beten, welche Lieder sie singen, welche Rituale und symbolische Formen sie nutzen, um sich ins Verhältnis zu setzen zu der ihnen wichtigen Transzendenz; wie sie mit und außerhalb der vorgegebenen Formen und Deutungsmuster mit Schuldfragen, Kontinenz- oder auch Leiderfahrungen umgehen; wie der neue „Markt der Möglichkeiten“ von Meditationstechniken, Lifestylebehandlungen bis hin zum Bachblütentee Verbindungen eingeht mit anderen Formen privater und kirchlich gebundener Frömmigkeit und wie sich das alles in den vergangenen fünfzig bis hundert Jahren wandelte – darüber sind wir wenig informiert. Wir haben in der Zeitgeschichte, um nur ein prägnantes Beispiel herauszugreifen, noch keinen zweiten Band der „Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland“, wie ihn der Historiker Lucian Hölscher im Schwerpunkt für das 19. und für den Beginn des 20. Jahrhunderts vorgelegt hat18. Dabei wäre es besonders interessant, im 20. Jahrhundert den Wandel von religiösen Praktiken abzugleichen mit Entwicklungen auf der konzeptionellen Ebene: Wie griffen theologischer Wandel, die Veränderung in der pastoralen Vermittlungspraxis und das alltägliche Tun der Gläubigen ineinander, so ließe sich mit Blick auf das Christentum fragen. Wie veränderte sich das religiöse Feld angesichts einer steigenden Diversität, seien es nun politische Religionen und ihr Heilsangebot, Weltreligionen und ihre stärkere Verbreitung, oder auch die vielen populären Religions- und Spiritualitätsformen, die vor allem infolge einer dichteren Globalisierung bekannt und praktiziert wurden?19 Ohne Zweifel bleibt die Kirchliche Zeitgeschichte eine Disziplin, die der Entwicklung der Religionsgruppen insgesamt, aber auch der Entwicklung der christlichen Kirchen kritisch folgt. Eine besondere Herausforderung besteht seit einigen Jahren darin, einen eigenen Beitrag zu leisten zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in kirchlichen Zusammenhängen. In der Diskussion stehen seit der Aufdeckung systematischen Missbrauchs am Canisius-Kolleg in Berlin 2010 insbesondere katholische Geistliche als Missbrauchstäter wie auch die Bistumshierarchie als Vertuscher. Seit Herbst 2020 lässt auch die Evangelische Kirche in Deutschland untersuchen, inwieweit sexueller Miss18 Vgl. Hçlscher, Geschichte. In diese Richtung weisen Studien wie die von Kienzle, Mentalitätsprägung; und Owetschkin, Suche. 19 Vgl. Knoblauch, Religion.
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brauch in ihren Landeskirchen ein Thema war und ist. Schrittmachend für das katholische Beispiel war die MHG-Studie, die von einem interdisziplinären Forschungsverbund zwischen 2013 und 2018 ausgearbeitet wurde20. Mit allem sozialwissenschaftlichen, -medizinischen und rechtlich-kriminalwissenschaftlichen Knowhow ausgestattet, gelang es dieser Studie erstmals, das zu dem Zeitpunkt bekannte „Hellfeld“ des Missbrauchs quantitativ zu beschreiben. Aber auch diese Zahlen sind nur vorläufig, da eine direkte Aktenrecherche in diesem Projekt ausblieb und die Erhebung der Daten vonseiten der jeweiligen Bistümer vorgenommen wurde. An dieser Stelle sind Historikerinnen und Historiker gefragt – nicht nur wegen ihrer quellenkritischen Kompetenzen, sondern auch, um die zu beobachtenden Missbrauchsfälle und den Umgang der Hierarchie damit einzuordnen in die kulturellen, religiösen und theologischen Kontexte. Erst mittels einer historisch dichten Rekonstruktion von Fällen, des Wissens darüber und des Umgangs damit in den Nachbarschaften und Gemeinden, den Bistümern und in der Justiz kann Aufarbeitung auch im Sinne einer Präventionsförderung gelingen. Speziell in diesem Zusammenhang ist die Expertise mit Blick auf kirchlichtheologische Weltdeutung und organisatorische Strukturen auch an aktuelle Fragestellungen heranzutragen. Zugleich drängt dieses Beispiel danach, über unsere Adressatenorientierung nachzudenken. In welche Richtung zielt unser kritisches Ausleuchten von theologischen Denk- und Lebenswelten? In den aktuellen Forschungen zum sexuellen Missbrauch in religiösen Kontexten ist diese spezifische Kompetenz gelegentlich enorm hilfreich: Wenn in Personalkonferenzen und damit dem inner circle der Bistumsleitung in der katholisch verdrucksten Weise die Rede auf sexuellen Missbrauch von Minderjährigen kam, dann dominierte in der Behandlung dieses Falls ein Motiv : nämlich das der bischöflichen Fürsorge. Objekt dieser Fürsorge war aber nicht der Betroffene, das Opfer, sondern der Beschuldigte beziehungsweise der Täter. Man sah sich verpflichtet, diesem Kleriker und Mitbruder einen Weg zu eröffnen, weiter Priester zu sein. Oberste Priorität hatte eines: dass das Sakrament der Priesterweihe weiter Geltung habe. Also galt es, den Missbrauch als Zölibatsbruch zu „reparieren“ und auf diese Weise die Situation zu „heilen“ – das ist nicht meine Deutung, sondern basiert auf Selbstaussagen von Verantwortungsträgern. Um das aus der Binnenlogik der Beteiligten nachvollziehen zu können, braucht es viel Theologie und spezielles Wissen darum, was ein Sakrament ausmacht und welche Bedeutung diesem im Katholischen zukommt. Um das auf der Basis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu verstehen 20 Die Studie der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen (MHG) „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ ist abzurufen unter https://www.dbk.de/fileadmin/ redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf.
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und um vergleichbare Mechanismen und Logiken ausmachen zu können, braucht es viel Phantasie und historischen Weitblick. Wer darüber nachdenkt, wann es solche Parallelgesellschaften bereits gab, der landet rasch bei Machtund Herrschaftsstrukturen der Vormoderne, die dann ihre Fortsetzung fanden in den Clan- und Ehrvorstellungen der Mafia und anderer internationaler Verbrecherorganisationen. Wenn wir uns als Kritikwissenschaft auch im Sinne einer „Problemgeschichte der Gegenwart“ verstehen, dann wäre genau diese gegenwärtige Diskussion um sexualisierte Gewalt in religiösen Kontexten der Anlass dazu, nach Herrschaftsstrukturen und Gewaltpraktiken in den Kirchenzusammenhängen überhaupt zu fragen. Und zugleich wäre das auch der Ansporn dazu, diese Praktiken des Machtmissbrauchs und der Gewalt nicht allein in den Kirchen zu skandalisieren, sondern auf der Folie gesellschaftlicher Macht und Gewalt zu analysieren. Nur so ließe sich dann das katholische Proprium des Missbrauchsgeschehens erarbeiten. Besonders spannend wird dabei sein, wie sich die Ende 2020 gestartete Aufarbeitung von Missbrauch im Kontext der evangelischen Landes- und Freikirchen entwickeln wird. So wie die religiöse Imprägnierung der Gesellschaft als unser Forschungsgegenstand sich verändert, wird sich auch unsere Disziplin Kirchliche Zeitgeschichte verändern – das lassen die angestellten Überlegungen als sehr allgemeines Zwischenresümee und vage Zukunftsprognose zu: - Wo die institutionelle Prägekraft der Kirchen hintergründiger und das religiöse Feld ebenso kleiner wie auch bunter wird, da werden wir andere Fragen stellen und uns dafür disziplinär verbreitern müssen. - Wenn Religion und Transzendenzorientierung immer stärker und wieder neu auch aus anderen Regionen dieser Welt inspiriert ist, dann werden wir uns inter- und transnationaler orientieren. - Wenn wir uns trauen, unsere Disziplin als „Problemgeschichte der Gegenwart“ zu profilieren, und damit sowohl eine stärkere binnenkirchlichproblembewusste wie auch eine gesamtgesellschaftliche Publikumsorientierung suchen, dann werden wir uns intensiver der Frage nach unserem Selbstverständnis stellen müssen. Dabei gilt es wohl, uns nicht nur gegen einen Zugang der Identitätsstiftung zugunsten einer kritisch-methodisch kontrollierten Forschung, sondern auch entschieden gegen eine Instrumentalisierung unserer Ergebnisse durch die Kirchenleitungen oder durch die Gesellschaft zu positionieren.
Kirchliche Zeitgeschichte – Überlegungen zu Stand und Herausforderungen 31
I. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Beutel, Albrecht: Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte: Begriff und Funktion einer theologischen Kerndisziplin. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 94 (1997), 84–110. Bçsch, Frank / Danyel, Jürgen (Hg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden. Göttingen 2012. Greschat, Martin: Anmerkungen zur Standortbestimmung der Kirchlichen Zeitgeschichte. In: Jochen-Christoph Kaiser (Hg.): Vom Ertrag der neueren Kirchengeschichte für Kirche und Gesellschaft. Marburg 2008, 263–281. Grossbçlting, Thomas: Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989/90 (bpb Schriftenreihe 10610). Bonn 2020. Grosse Kracht, Klaus: Religionsgeschichte, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 26. 4. 2018 (http://docupedia.de/zg/Grosse_Kracht_religionsgeschich te_v1_de_2018 [12. 10. 2020]). Hauschild, Wolf-Dieter : Grundprobleme der Kirchlichen Zeitgeschichte. In: Ders.: Konfliktgemeinschaft Kirche. Aufsätze zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKIZ. B 40). Göttingen 2004, 15–72. Herbert, Ulrich: Nach den Katastrophen. Entwicklungsstand und Perspektiven der deutschen Zeitgeschichtsforschung (http://herbert.geschichte.uni-freiburg.de/ herbert/beitraege/2004/12_nachdenkatastrophen.pdf [12. 10. 2020]). Holzem, Andreas: Gesslerhüte der Theorie? Zu Stand und Relevanz des Theoretischen in der Katholizismusforschung. In: Anselm Doering-Manteuffel / Kurt Nowak (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden. Stuttgart 1996, 180–202. Hçlscher, Lucian: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland. München 2005. Kienzle, Claudius: Mentalitätsprägung im gesellschaftlichen Wandel. Evangelische Pfarrer in einer württembergischen Wachstumsregion der frühen Bundesrepublik. Stuttgart 2012. Knoblauch, Hubert: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2009. Metzler, Gabriele: Zeitgeschichte: Begriff – Disziplin – Problem, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 7. 4. 2014 (http://docupedia.de/zg/metzler_zeitge schichte_v1_de_2014 [12. 10. 2020]). O’Sullivan, Michael E.: Religion, Modernity, and Democracy in Central Europe: Toward a Gendered History of Twentieth-Century Catholicism. In: Central European History 52 (2019), H. 4, 713–730. Owetschkin, Dimitrij: Die Suche nach dem Eigentlichen. Studien zu evangelischen Pfarrern und religiöser Sozialisation in der Bundesrepublik der 1950er bis 1970er Jahre. Essen 2011.
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I. Periodisierungsfragen der Kirchlichen Zeitgeschichte
Florian Bock
Kirchliche Zeitbögen in der Katholizismusforschung? Periodisierungsfragen der Kirchlichen Zeitgeschichte aus westdeutscher katholischer Perspektive* Die Aufgabenstellung, die diesem Beitrag zugrunde liegt, ist eine durchaus sportliche. Auf den folgenden Seiten sollen Periodisierungsfragen des 20. Jahrhunderts aus katholischer Perspektive behandelt werden, unter besonderer Berücksichtigung der Signaturen 1918, 1933, 1945, der 1960er Jahre, schließlich 1989 und der Gegenwart. Wie beim Nennen dieser Jahresziffern sofort ersichtlich, orientieren sich solche Periodisierungen, vielleicht mit Ausnahme der Vorgabe der 1960er Jahre, an dem Forschungszusammenhang von deutschem Staat und katholischer Kirche. Fokussiert werden politische Ereignisse, weniger längerfristige mentale Umbrüche und kulturelle Prozesse. Mit dem folgenden Abriss sei dieser wertvolle vorwiegend politikhistorische Zugriff keinesfalls aufgegeben, aber doch kulturhistorisch geweitet. Andernfalls besteht die Gefahr, dass gerade die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu stark in gegeneinander abgeschotteten Blöcken gedacht wird1. Schon 2011 hielten Marcus Böick und Angela Siebold in diesem Sinne fest: „Gerade HistorikerInnen der jüngeren Generationen könnten mit dazu beitragen, die Geschichten der jüngsten Vergangenheit jenseits ,altbekannter Fragen‘, eingeschliffener Dichotomien und liebgewonnener Erklärungsmuster neu zu erkunden“2 – diesem Anliegen fühlt sich auch der vorliegende Artikel verpflichtet. Anschließen möchte ich mich dabei dem jüngst von Antonius Liedhegener, Christoph Kösters und Thomas Brechenmacher vorgetragenen analytischen Verständnis von Katholizismus als in steter Wechselbeziehung mit anderen gesellschaftlichen Subsystemen stehend. Katholizismus bezieht sich – so verstanden – nicht nur auf die Institution katholische Kirche, sondern meint „die sozial verfasste, in der Gesellschaft wirksame Dimension der katholischen Kirche insgesamt in ihren unterschiedlichen Bezügen zu und in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Umwelt einschließlich der aus diesen Bezügen resultierenden Wirkungen.“3 Dazu bedient sich der vorliegende Beitrag des von Anselm Doering-Manteuffel vor nur wenigen Jahren kreierten Konzeptes der * Für viele anregende, weiterführende Gespräche zum Thema seit dem Jahr 2006 danke ich meinem Lehrer Wilhelm Damberg. 1 Vgl. Bçick / Siebold, Jüngste, 4. 2 Ebd., 3. 3 Vgl. Liedhegener / Kçsters / Brechenmacher, Katholizismus, 616–618, Zitat 616 f.
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sogenannten Zeitbögen und versucht, diese auf die katholische Zeitgeschichte zu übertragen4.
1. Das Konzept der „Zeitbögen“ Anselm Doering-Manteuffel etablierte 2014 erstmals eine „deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts“5, um von der wilhelminischen Epoche bis 1990 als dem Enddatum der Zweistaatlichkeit Kontinuitäten sowie strukturelle und generationelle Verflechtungen sichtbar zu machen6. Kulturelle Dynamiken und die damit verflochtenen strukturellen Prozesse sollten so stärker als zuvor betont7, fluktuierende, längerfristige Übergänge apostrophiert und politische Zäsuren im Sinne abrupter Brüche vernachlässigt werden8. Zeitbögen sind zu verstehen „als Zeitspannen von jeweils mehreren Jahrzehnten, die sich überlappen können, aber durch markant unterschiedliche Vorstellungen von der Ordnung in Gesellschaft und Staat gekennzeichnet sind.“9 Dafür wählt der Tübinger Zeithistoriker vor allem eine Perspektive, die die Denkfigur des Liberalismus historisiert10. Doering-Manteuffel macht in concreto drei Zeitbögen aus, die er wie folgt betitelt: 1. „Fortschrittsskepsis und der ,Untergang des liberalen Individuums‘: Die Kulturrevolution des Antiliberalismus, 1890 bis zum Zweiten Weltkrieg“, 2. „Gemeinschaft, Gleichheit, Konsens: Vom totalitären Zwang zu freiheitlicher Integration, 1930 bis 1970/75“ und schließlich 3. „Vom Kollektiv zum Individuum: Der Neoliberalismus als konservatives Projekt, 1975/80 bis zur Gegenwart“. Hochindustrialisierung, Weltwirtschaftskrise und das Ende des ökonomischen Booms in den 1970ern sind hier die bestimmenden Marker. Zeitbögen überragen damit gleichsam die Zäsuren des 20. Jahrhunderts wie 1918, 1933 usw. und stellen sinnstiftende Bezüge zwischen den einzelnen Zäsuren, also vor wie nach jedem Einschnitt, dar11. Der Zugewinn dieses Konzeptes liegt in der Sichtbarmachung der „Mehrdimensionalität des historischen Geschehens“. Die Zäsuren der Politik- und Staatsgeschichte werden damit keinesfalls un4 Vgl. Doering-Manteuffel, Europas; ders., Geschichte; ders., Wand. Zur Kritik an dem Konzept vgl. Hoeres, Westernisierung. Ausgleichend vgl. Leendertz, Zeitbögen. 5 Wenngleich Doering-Manteuffel erste, abstrakt-heuristische Überlegungen zu einer neuen Periodisierung des 20. Jahrhunderts bereits 2009 anstellte und damals in Anlehnung an Koselleck noch von „Zeitschichten“ redete. Vgl. Leendertz, Zeitbögen, 195; Doering-Manteuffel, Konturen. 6 Vgl. Doering-Manteuffel, Geschichte, 322. 7 Vgl. ders., Wand, 10. 8 Vgl. ebd., 11. 9 Doering-Manteuffel, Geschichte, 324. 10 Einen primär ökonomiehistorischen Zugang kennzeichnet auch Doering-Manteuffels gemeinsam mit Lutz Raphael publiziertes Buch. Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Boom. 11 Vgl. Doering-Manteuffel, Geschichte, 322.
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terlaufen, wohl aber in ihrer alleinigen Deutungshoheit hinterfragt12. Stattdessen wird eine „Gesellschaftsgeschichte handlungssteuernder Ideen“13 präferiert. Bedeutsam erscheint dabei, dass immer Entwicklung und Gegenentwicklung, also beispielsweise „progressiv“ und „konservativ“, mitgedacht werden. Ad experimentum soll im Folgenden ausgehend von diesem Modell ein Vorschlag unterbreitet werden, welche drei Zeitbögen die Zeitgeschichte des deutschen Katholizismus von 1848 bis in die Gegenwart – querlaufend zu den gängigen Zäsuren – strukturieren könnten.
2. Zeitbogen eins: Katholisches Milieu und die Rechristianisierung der Nachkriegsgesellschaft (ca. 1848 bis 1960)14 Konkret sind damit die Herausbildung einer katholischen Sondergesellschaft als Konsequenz der 1848er Revolution als Anfangspunkt15, der Beschluss des Infallibilitätsdogmas auf dem Ersten Vatikanischen Konzil16 als Hochwassermarke und die in vielem ja noch restaurativen 1950er Jahre als Endpunkt gemeint17. Mittlerweile ist es die gängige Position, fast schon ein Allgemeinplatz innerhalb der Katholizismusforschung, das gesamte 19. Jahrhundert als Zeit der Verarbeitung der revolutionären Umwälzungen in Frankreich zu begreifen. Es folgte – quasi in einer antimodernen Gegenreaktion – der Beschluss der Unfehlbarkeit des Papstes, dem bereits 1864 mit dem „Syllabus errorum“18 eine Verurteilung von 80 modernen Zeitirrtümern, Freiheitsrechten jedweder Art, vorausgegangen war. Der Ultramontanismus19 war als auf Rom ausgerichtete Volksbewegung auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark. Auf akademischer Ebene begann unter Papst Pius IX. die Zeit des Antimodernismus20, das heißt der Verurteilung u. a. der historisch-kritischen Methode in Exegese und Kirchengeschichte. In Deutschland hatten sich die in der Minderheit befindlichen Katholikinnen und Katholiken gegen die Kulturkampfgesetze21 zu behaupten. 12 Vgl. ebd., 325. 13 Ebd., 324. 14 Zum Vorschlag des Historikers Klaus Große Kracht, einen eigenen Zeitbogen zwischen dem Ende des 19. / Beginn des 20. Jahrhunderts und seinem hochaktiven Verbandskatholizismus sowie den 1960ern (intensive Entkirchlichung) zu spannen, biete ich damit eine Alternative an. Vgl. Grosse Kracht, Stunde, 398. 15 Vgl. Schneider, Katholiken. 16 Vgl. dazu neuerdings Schmidt, Geschichte. 17 Vgl. für eine neuere Synthese des Milieu-Ansatzes Henkelmann, Milieu. 18 Vgl. Wolf, „Syllabus“. 19 Für eine transnationale Perspektive vgl. Blaschke, Aufstieg. 20 Vgl. Arnold, Antimodernismus. 21 Vgl. Borutta, Antikatholizismus.
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Dieser erste Zeitbogen lässt sich auch unter politikgeschichtlichen Aspekten in seiner Kontinuität bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein bestätigen. Wohl nicht zuletzt aufgrund der papstzentrierten Ausrichtung „ultra montes“ ist festzuhalten, dass 1918 keinen großen Einschnitt in dem Denken vieler Katholikinnen und Katholiken bedeutete22 : Der Bruch des Bündnisses von Thron und Altar wirkte sich im Protestantismus viel stärker aus. Der ersten demokratischen Staatsform in Deutschland, der Weimarer Republik, standen Katholikinnen und Katholiken mehrheitlich reserviert gegenüber23. Sie wurden „Vernunftrepublikaner“ und blieben der Weimarer Reichsverfassung gegenüber kritisch, weil in dieser neuen Verfassung Gott nicht mehr angerufen wurde. Jedoch: Als verlängerter politischer Arm des Milieus war das Zentrum während der Weimarer Republik sehr erfolgreich und stellte mehrere Kanzler. Ad intra blieben „progressive“ lebensreformerische Ausrichtungen im Katholizismus oder die „Hochland“-Intellektualität24, auf die noch einzugehen ist, gegenüber dem stabilen Milieu mit seinen fein verästelten Vereinen und Organisationen in der deutlichen Minderheit. Der Nationalsozialismus schließlich diente als Beschleuniger für einen allmählich erkennbar werdenden „Abschied vom (Vereins-)Milieu“25. Die Selbstauflösung des Zentrums kurze Zeit nach der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, das Reichskonkordat im Juli 1933, das darauffolgende Verbot katholischer Jugendvereine und vieles mehr erzwangen den Rückzug auf ein „Sakristeichristentum“26. Nach dem Kriegsende sollte eine umfassende Rechristianisierung des deutschen Volkes eingeläutet und eine nochmalige Unterwerfung unter „Baal“, wie es die deutschen Bischöfe im August-Hirtenbrief von 1945 ausdrückten, verhindert werden27. Dies geschah nun jedoch unter veränderten Vorzeichen: Mit der Unterstützung von CDU/CSU als einer großen überkonfessionellen Volkspartei anstelle des katholischen Zentrums erhoffte man sich, einer Wiederholung der Katastrophe von 1933 vorzubeugen. Vor diesem Hintergrund kamen die Katholikinnen und Katholiken als „Entdecker“ der Bundesrepublik28 mit mentaler Verspätung29 in der demokratischen Staatsform an, griffen dann aber umso beherzter die sich in ihr bietenden Chancen der Mitbestimmung auf. Dies zeigt sich im katholischen Engagement in der Familien-30, Schul- und Sozialgesetzgebung. Die wieder gegründeten Vereine und Verbände hingegen konnten nicht mehr an die Erfolge von vor 1933 anknüpfen. Auch soziologische Indikatoren wie die Ab22 23 24 25 26 27 28 29 30
Vgl. Herten, Katholiken, 49. Vgl. Gerber, Pragmatismus. Vgl. Pittrof, Muth. Vgl. Damberg, Abschied. Dies zeigt eindeutig die Quellensammlung von Gruber, Kirche. Vgl. Hirtenwort des deutschen Episkopats vom 23. August 1945, 689. Vgl. Schmidtchen, Protestanten, 245. Vgl. Damberg, Jugendbewegung, 491 Vgl. Rçlli-Alkemper, Familie.
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nahme des sonntäglichen Kirchgangs sprachen eine eindeutige Sprache: Das katholische Milieu erodierte spätestens zu Beginn der 1960er Jahre31.
3. Zeitbogen zwei: Reformbewegungen und Diskussionsbereitschaft (ca. 1920 bis 1980) Ein zweiter Zeitbogen setzt etwas früher als das am Ende Geschilderte, nämlich um 1920, ein. Katholikinnen und Katholiken nicht nur, aber vor allem einer jüngeren Generation begannen, Kirche neu zu erfahren. Die Liturgische Bewegung32 nahm bereits viele Elemente, wie die Zelebration in der Volkssprache, vorweg, die offiziell erst mit dem Zweiten Vatikanum über 40 Jahre später Eingang in die lehramtliche Liturgie finden sollten. Die Katholische Aktion33, die ihre Genese ebenfalls in den 1920ern hat, erfuhr nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Idee, über eine Laienelite eine Verchristlichung der Gesellschaft zu erreichen, ebenfalls eine Renaissance. Schließlich: Die reformerisch-elitäre Abgrenzung vom Milieu und das Ideal des Überzeugungschristen, der in die Gesellschaft hineinwirkt, kennzeichnete auch die Jugendbewegung, die nach 1945 reüssieren sollte. Dabei zeigen die 1950er Jahre zunehmend ein Janusgesicht. Die vom Sozialethiker Karl Gabriel als „andere Moderne“34 beschriebene Zeit war einerseits, wie bereits dargelegt, von einem Bewahren und Anknüpfen am Alten geprägt. Andererseits bedeuteten die 1950er eine „Sattelzeit“35, die auf die so dynamischen 1960er Jahre vorbereitete. Ein kurzes biografisches Beispiel aus eigener Studie: Der Referent beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) und spätere Gründer der Wochenzeitung „Publik“, Hans Suttner, war zweifellos geprägt von der Katholischen Aktion36. Niemals aber wäre Suttner auf die Idee gekommen, die erwähnte, von den Bischöfen 1968 finanzierte „Publik“, die auf Meinungspluralismus bedacht war, dem Gebot der acies bene ordinata, wie sie in den 1920ern für die Katholische Aktion kennzeichnend war, unterzuordnen. Im Gegenteil, „Publik“-Redakteure verstanden sich zwar durchaus als katholische Laienelite, die als Multiplikator in die Gesellschaft hineinwirken wollte, die dortigen Journalisten gaben sich im selben Atemzug jedoch dezidiert kritisch gegenüber der Amtskirche – ein Umstand, der
31 32 33 34 35
Vgl. Damberg, Pfarrgemeinden, 9 f. Vgl. Haunerland, Bewegung. Vgl. Grosse Kracht, Stunde. Gabriel, Christentum, 121. Vgl. Damberg, Konzil. Der Begriff „,Sattelzeit‘ des Umbruchs“ ist in diesem Zusammenhang geprägt worden von Gabriel, Christentum, 104. 36 Vgl. Bock, Fall, 60–62.
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schließlich nach nur dreijährigem Bestehen im Jahr 1971 die Einstellung der Wochenzeitung bedeuten sollte.37 Im Kern des zweiten Zeitbogens steht das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65). Die Gretchenfrage hierfür lautet: Kam es zu spät, zu früh oder zwar rechtzeitig, weswegen allerdings sein Anliegen, da es dem Zeitgeist unterworfen war, recht schnell wieder verflog38 ? Bei der Beantwortung dieser Frage ist zwischen dem „Ereignis“ Konzil39 und seiner unmittelbaren Rezeption sowie seiner weiteren Rezeptionsphase bis heute zu unterscheiden. Viele durchaus reformfreudige jüngere Theologen wie der jugendbewegte Erwin Iserloh oder Joseph Ratzinger dürften die Einberufung des Konzils und seine Beschlüsse zunächst begrüßt haben40. Fungierte doch Ratzinger während seiner Bonner Tätigkeit als Professor für Fundamentaltheologie (1959–63) als eine Art Ghostwriter für den Kölner Kardinal Josef Frings, als dieser im Jahre 1961 eine Rede im konservativen italienischen Institut „Columbarium“ in Genua zu halten hatte. Das Thema des Vortrages: die sozial-kulturelle Umwelt des Ersten im Vergleich zu jener des Zweiten Vatikanischen Konzils. Als wichtige Ziele des Konzils formulierte Ratzinger für Frings am Ende der Rede laut Elio Guerriero: „Die Bischofsversammlung solle sich von obsoleten Firmen der Ausübung des Lehramts, wie dem Index der verbotenen Bücher, befreien und darauf verzichten, neue Dogmen und neue Anathema zu verkündigen. Vielmehr solle es [sie, Anm. FB] sich in den Dienst der Vitalität der Kirchen stellen und auf die Förderung neuer Formen der christlichen Frömmigkeit abzielen, der biblisch-liturgischen Erneuerung entsprechend.“41
Das gesellschaftliche Umfeld der 1960er Jahre beinhalte nicht nur Gefahren für die Glaubensverkündigung, sondern stelle auch Chancen bereit, Christus neu zu verkünden42. Der Inhalt des Vortrages drang gar bis zu Papst Johannes XXIII. vor, der zu Kardinal Frings sagte, dass die in Genua getätigten Aussagen genau seinen Anliegen bei der Einberufung des Konzils entsprächen43. Für Iserloh indes kam das Konzil ohnehin fast zu spät, weil der spätere Kirchenhistoriker aus seiner Zeit beim Bund Neudeutschland schon viele Inhalte der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ bereits verinnerlicht haben dürfte. Andere, sozusagen die letzte Generation des Milieukatholizismus, mussten sich an das konziliare „Aggiornamento“ und sein Anliegen, die 37 38 39 40
Vgl. Edb., 301–369. Vgl. Damberg, Pfarrgemeinden, 11. Vgl. Wassilowsky, Kontinuum. Vgl. Guerriero, Benedikt, 123–158; Damberg, Iserloh, 687–690 und https://www.bbkl.de/pu blic/index.php/frontend/lexicon/I/Is-Iz/iserloh-erwin-58936. 41 Guerriero, Benedikt, 127. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd., 128.
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„Zeichen der Zeit“ (Mt 16,3) anzuerkennen, erst gewöhnen. Sie schienen zunächst überfordert oder taten das Konzil vielleicht als Erscheinung des Zeitgeistes ab. Ganz entscheidend ist aber festzuhalten: Das Konzil selbst fand theologische Kompromissformeln, die die unterschiedlichen theologischen Hermeneutiken der Konzilsväter und ihrer Periti überdeckten. Noch gelang es, fast alle kirchlichen Flügel zu integrieren. Die Bischöfe, aber auch das Kirchenvolk einte der unbedingte Wille, an einem für alle akzeptablen katholischen Nukleus festzuhalten – das bezeugen die wochenlangen medial ausgetragenen Debatten um die „Pillen“-Enzyklika „Humanae vitae“44. Die allseits beliebte Chiffre „1968“ mit dem Essener Katholikentag wäre dann eingebettet in einen viel größeren, langwierigen Zeitbogen, der sich im Dialogwillen des westdeutschen Katholizismus ausdrückt. Der Bochumer Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg machte bereits 1997 auf das von Johannes XXIII. als großen „Sprung nach vorwärts“ beschriebene Konzilsmotto zu Beginn der 1960er aufmerksam. Nahezu parallel dazu, so Damberg, prägte der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy seine Politik der „new frontiers“ und entwickelte die SPD ihr Godesberger Programm (1959), in dem sie eine Abkehr von der kommunistischen Ideologie propagierte und sich so einer westdeutschen Gesellschaft als gesprächsbereiter denn zuvor präsentierte45. Von diesem Bemühen, gemeinsam nach dem Einenden zu suchen, kündet auch noch die Würzburger Synode als „deutsches Konzil“46. Aus heutiger Sicht überraschen die sofort nach dem Essener Katholikentag im September 1968 einsetzenden Bemühungen, den in Essen stattgefundenen Aufbruch innerkirchlich zu „verarbeiten“. Bereits im November 1968 fand ein Treffen zwischen Laienfunktionären und Bischöfen statt. Die teilweise schon vorhergehende Beschäftigung verschiedener Gremien (neben der Deutschen Bischofskonferenz [DBK] auch die Christliche Arbeiterjugend [CAJ] und der Bund der Deutschen Katholischen Jugend [BDKJ]) mit einer möglichen Nationalsynode zeigt, wie drängend diese Idee den Katholizismus in den ausgehenden 1960ern beherrschte47. Als Mitarbeiter bei der Ausarbeitung eines synodalen Statuts wurde auch der eher als „Konservativer“ bekannte Bonner Kirchenhistoriker Hubert Jedin tätig48, was insofern überraschend ist, als dass er in einer Eingabe an die Bischofskonferenz kurze Zeit zuvor noch ein wesentlich härteres Durchgreifen gegen die katholischen „1968er“ im Anschluss an den Essener Katholikentag gefordert hatte49. Auch jenseits der großen, bundesweiten Debatten spiegelte sich eine solche Bereitschaft zur Verständigung. Im gemeinsamen Programm der Evangeli44 Vgl. Aschmann / Damberg, Liebe. 45 Vgl. Damberg, Konzil, Zitat 254. 46 Vgl. Plate, Konzil. Dazu auch unverzichtbar Voges, Konzil und neuerdings Knops, Priestertum. 47 Vgl. Voges, Konzil, 159–171. 48 Vgl. ebd., 174–176. 49 Vgl. Eingabe an die Deutsche Bischofskonferenz.
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schen Studenten- und Katholischen Hochschulgemeinde Tübingen für das Wintersemester 1968/69, aufgemacht mit einem psychedelischen Cover, findet sich bereits eine Vorankündigung der zunächst so genannten Synode 1972. Eingeladen zu den montäglichen Diskussionsabenden waren u. a. Friedrich Kronenberg als Vertreter des ZdK, aber auch der Historiker Ernst Walter Zeeden oder Erwin Kleine, der über das „holländische Pastoral-Konzil“ Auskunft gab. Im Begleittext heißt es: „Ob Zusammensetzung und Kompetenz der für 1972 geplanten ,Gemeinsamen Synode‘ den Kirchen der Bundesrepublik überhaupt weiterhelfen kann, ist fraglich. Die vorgeschlagenen Themen sind weit und reden von allem und jedem. Synodale Strukturen verlangen Fragen und Anregungen von der Basis. Das Glaubensgespräch in diesem Semester soll in die grundsätzliche Problematik einführen.“50
Zeittypische Arbeitskreise zur vertiefenden Diskussion sollten dazu gegründet werden. Doch diese unmittelbar postkonziliare Phase gelangte spätestens mit den 1970ern an ihr Ende. Eine Lust zur gemeinsamen Diskussion51, die noch während und unmittelbar nach dem Konzil erkennbar war, schwand zusehends. Die mit Verve geführten Debatten um die Legitimität künstlicher Empfängnisverhütung und die Autorität des päpstlichen Lehramtes nach der Publikation von „Humanae vitae“; das engagierte, aber auch aggressiv aufgeladene Klima auf dem Essener Katholikentag wie auch in der Gesamtgesellschaft (etwa durch den Erlass der Notstandsgesetze) hatten offenbar ihre nicht selten verletzenden Spuren hinterlassen. Die verschiedenen Lager des Katholizismus, also „progressive“ wie „konservative“ Kräfte gleichermaßen, konnten immer weniger zusammengehalten werden. Hubert Jedin, wie erwähnt noch an der Ausarbeitung des Statuts der Würzburger Synode beteiligt gewesen, sah im Herbst 1969 von einer Berufung in die Vorbereitungskommission ab. Als Grund gab er u. a. in einem Schreiben an den Sekretär der DBK und späteren Synodensekretär Karl Forster an, „daß ich mich in den letzten Monaten davon überzeugt habe, daß meine Vorstellungen von der Struktur und den Aufgaben der Synode nicht denen eines großen Teils des deutschen Episkopates entsprechen. Ich würde, wenn ich die Wahl annähme, die mir noch verbliebene Zeit und Kraft für eine verlorene Sache einsetzen.“52
Waren Jedin nicht nur viele jüngere Katholikinnen und Katholiken, sondern auch ein Teil der deutschen Bischöfe als zu reformorientiert in den vorhergehenden Wochen des Jahres 1969 aufgefallen? Einen Hinweis darauf liefern 50 Evangelische Studenten- und Katholische Hochschulgemeinde Tübingen, Wintersemester 1968/69 (UAT Tebingen, S 3/154,1). 51 Vgl. Verheyen, Diskussionslust. 52 Zitiert nach Voges, Konzil, 251.
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ein paar kurze Zeilen in Jedins „Lebensbericht“. Der Kirchenhistoriker konnte sich immer weniger mit der zunehmenden „Verwässerung“ des Synodenstatuts arrangieren. Aus seiner Sicht hatten die Bischöfe ihn und den Kirchenrechtler Heinrich Flatten als die eigentlichen Verteidiger der episkopalen Rechte kläglich im Stich gelassen, indem sie u. a. Karl Rahner folgten und das Synodenstatut immer weiter „demokratisierten“53. Auch die erwähnten Erwin Iserloh und Joseph Ratzinger entwickelten sich zu großen Kritikern der westdeutschen konziliaren Umsetzung. Fiel der vorkonziliare Iserloh, geprägt von der Jugendbewegung, durch ein kritisches Potential gegenüber der Amtskirche auf, bestand der postkonziliare Iserloh auf der stärkeren Durchsetzung hierarchischer Autorität gegenüber „progressiven“ Gefahren54. Damit stand er nicht alleine da. Eine breitere Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahren in diesem Zusammenhang für die Biografie Joseph Ratzingers/Benedikts XVI. interessiert. Ratzinger selbst beschrieb bereits 1999 seine Konfrontation mit einem oftmals als aggressiv empfundenen nachkonziliaren Klima während seiner Zeit als Dogmatikprofessor in Tübingen (1966–69) wie folgt: „Ich habe das grausame Antlitz dieser atheistischen Frömmigkeit unverhüllt gesehen, den Psycho-Terror, die Hemmungslosigkeit, mit der man jede moralische Überlegung als bürgerlichen Rest preisgeben konnte, wo es um das ideologische Ziel ging. Das alles ist an sich aufregend genug, aber zur unerbittlichen Herausforderung wird es dann, wenn die Ideologie namens des Glaubens vorgetragen und die Kirche als ihr Instrument benützt wird. Die blasphemische Art, in der nun das Kreuz als Sadomasochismus55 verhöhnt wurde, die Heuchelei, mit der man sich – wenn nützlich – weiterhin als gläubig ausgab, um die Instrumente für die eigenen Ziele nicht zu gefährden, das alles konnte und durfte man nicht verniedlichen oder wie irgendeine akademische Auseinandersetzung ansehen. Da ich auf der Höhe der Auseinandersetzungen Dekan meiner Fakultät, Mitglied des Großen und Kleinen Senats und Mitglied der Grundordnungsversammlung war, habe ich dies alles hautnah erlebt.“56
Auch Hans Küng schreibt in seinen Memoiren über den ehemaligen Kollegen: „Bei einer gewaltsamen Invasion von Studenten in den Großen Senat packt er seine Sachen in die Aktentasche und verläßt den Raum“57. Die jüngst erschienene voluminöse Biografie Peter Seewalds bestreitet hingegen eine Interpretation in Richtung eines theologischen und kirchenpolitischen Wandels 53 Vgl. Repgen, Jedin, 223. 54 Vgl. Damberg, Iserloh, 690. 55 „Es kursierten Flugblätter mit dem Slogan ,Verflucht sei Jesus!‘, während das Kreuz als ,Ausdruck sadomasochistischer Schmerzverherrlichung‘ verunglimpft wird.“ Guerriero, Benedikt, 181. 56 Ratzinger, Leben, 150. 57 Keng, Wahrheit, Kapitel III, „Demokratisierungsversuche der Studentengemeinde“, Abs. 4./ Pos. 3295 (E-Book-Ausgabe).
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Ratzingers vom „Progressiven“ zum „Konservativen“58. So heißt es bei Seewald, dass sich Ratzinger auch in den ausgehenden 1960er Jahren noch als progressiv verstanden habe. Jedoch, so Ratzinger selbst rückblickend: „Damals war progressiv aber noch nicht, dass man aus dem Glauben ausbricht, sondern dass man ihn besser verstehen lernt und ihn richtiger, von den Ursprüngen her, lebt.“59 Nach der Einschätzung Ratzingers, der später zwischen einer von ihm abgelehnten Konzilshermeneutik des Bruches und einer von ihm bevorzugten Konzilshermeneutik der Reform unterscheiden wird60, sei das Grundanliegen des Zweiten Vatikanums völlig falsch in der Öffentlichkeit angekommen: „Zwischen dem, was die Väter wollten, und dem, was der Öffentlichkeit vermittelt worden ist und was dann das allgemeine Bewusstsein geprägt hat“61, habe eine große Kluft bestanden. Erstere „wollten den Glauben aggionieren – aber ihn gerade auch dadurch in seiner ganzen Wucht anbieten.“ Eine solche Glaubensreform bedeute aber nicht, „dass wir einfach Ballast abwerfen; dass wir es uns leichter machen, sodass eigentlich Reform nun nicht in einer Radikalisierung des Glaubens, sondern in irgendeiner Art von Verdünnung des Glaubens zu bestehen schien.“62 Für „linke“ Katholikinnen und Katholiken wiederum übte eine feststrukturierte Mitgliedschaft in Sozialverbänden wie dem Kolpingwerk nicht im Entferntesten so viel Reiz aus wie eine Podiumsdiskussion mit Hans Küng63 oder eine Mitmach-Aktion für das vom Hunger bedrohte Biafra jenseits amtskirchlicher Vorgaben64. Auch christlich-sozialistische Gesprächskreise interessierten innerhalb dieses sogenannten Linkskatholizismus. In einer Vorankündigung der Katholischen Hochschulgemeinde Tübingen zu einem Pfingstseminar mit dem italienischen Befreiungstheologen Giulio Girardi im Juni 1976 heißt es etwa: „Mit diesem Seminar wollen wir : – zeigen, daß der Sozialismus eine mögliche Dimension der Praxis für Christen eröffnet – erklären, daß man ohne Gewissensbisse zugleich Sozialist und Christ sein kann – bezeugen, daß auch Christen sich auf die Seite der Ausgebeuteten und der ausgebeuteten Klassen schlagen – nach dem Klassenkampf und seinen Perspektiven fragen.“65
Bereits das Selbstverständnis des Gemeinderates der Tübinger Hochschulgemeinde im Sommersemester 1975 deutete in Richtung einer solchen politisierten Auffassung von Theologie:
58 59 60 61 62 63 64 65
Vgl. Seewald, Benedikt, 517–521. Zitiert nach ebd., 497. Vgl. Ansprache von Papst Benedikt XVI. Zitiert nach Seewald, Benedikt, 498. Ebd. Vgl. Schmidtmann, Studierende, 493. Vgl. Stollhof, Biafra. Katholische Hochschulgemeinde / Girardi Arbeitskreis Flugblatt 2 (UAT Tebingen, S 4/382).
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„Jesus Christus will nicht nur den einzelnen mit Gott versöhnen, er will auch ein neues Miteinander aller Menschen, in dem Armut, Hunger, Elend, Unfreiheit und Ungerechtigkeit so weit wie möglich überwunden werden […] Er lebt die radikale Abwehr von Reichtum (vor). Seine Parteilichkeit ist seine Weise, für alle da zu sein. Er hat sich für die Randgruppen seiner Zeit eingesetzt und hat mit ihnen verkehrt. […] Christliche Solidarität […] kämpft für die Beseitigung der Ursachen von Not und Leid in ihrer gesellschaftlichen Vermittlung und in ihrer individuellen Ausprägung.“66
4. Zeitbogen drei: Katholischsein in der Bundesrepublik (ca. 1965 bis in die Gegenwart) Ein Wille zu einer gemeinsamen Diskussion ist in diesem Zeitbogen kein dominantes Element mehr, eher die Auflösung des Katholizismus in Richtung diversifizierter Sozialformen. Diese Sozialformen sind mit dem Begriff „Katholischsein“ zu umschreiben, so der Ansatz einer Forschungsgruppe, angesiedelt bei der Kommission für Zeitgeschichte67. Wohl stärkstes Kennzeichen dieses Prozesses ist eine gesteigerte Subjektivierung des Glaubensverständnisses. Während sich ein Teil der Katholikinnen und Katholiken in den Neuen Sozialen Bewegungen, also beispielsweise der Umwelt- und der Frauenbewegung, mit Verve einbrachte, zogen sich dieselben Katholikinnen und Katholiken möglicherweise gleichzeitig, enttäuscht z. B. über die mit „Humanae vitae“ und der Königsteiner Erklärung letztlich nicht ausdiskutierte Frage nach der Erlaubtheit der „Pille“, in ein großes „Schweigen“ gegenüber ihrer Amtskirche zurück68. Ein Paradebeispiel aus eigener Forschung für ein solches verändertes Katholischsein scheint die GrünenPolitikerin und frühere Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer zu sein69. Die in katholischen Jugendorganisationen engagierte Fischer beschreibt ihren Ablösungsprozess von der Kirche in den 1970ern dabei nicht als abrupten Bruch, sondern als ein peu / peu: „Gleichwohl blieb die katholische Kirche zunächst mein Zuhause, ich leitete Mädchengruppen und engagierte mich in einer entwicklungspolitischen Gruppe;
66 Katholische Hochschulgemeinde Tübingen: Selbstverständnis des Gemeinderats der KHG, SS 1975 (UAT Tebingen, S 4a/11,28). 67 Vgl. Forschungsgruppe 2973, Katholischsein. 68 Vgl. Aschmann, Leiden, 47. 69 Im Rahmen der bereits erwähnten Forschungsgruppe 2973 führe ich gemeinsam mit Wilhelm Damberg und Maria Schubert das Teilprojekt „Katholischsein in den 1970er und 1980er Jahren: Mit den Grünen oder gegen die Grünen?“ durch. Vgl. für das Folgende teilweise auch Forschungsgruppe 2973, Katholischsein, 174–191.
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Florian Bock auch meinen Freundeskreis traf ich nicht zuletzt jeden Sonntag beim Kirchgang. Aber meine Kirche und ich entfremdeten uns immer mehr voneinander.“70
Als wichtige Horte ihrer anfänglichen politischen Sozialisation nennt Fischer dabei christliche Jugendorganisationen: „Manchmal, wenn [West-]Grüne sich ihre Geschichten erzählen, könnte man den Eindruck bekommen, die katholischen und evangelischen Jugendorganisationen seien so etwas wie eine ,Vorfeld-Organisation‘ der Grünen.“71 Als Schlüsselerlebnisse für ihre wachsende Entfremdung gegenüber der Amtskirche nennt die zunächst ausgetretene, später wieder in die katholische Kirche eingetretene Fischer die Diskussion um den Paragraphen 218 und die damit einhergehende Auseinandersetzung um die Abtreibung: „Die Haltung der Kirche drückte für mich nicht nur Sorge um das ungeborene Leben aus, sondern auch den Willen zur Herrschaft über Frauen.“72 In der Rückschau gibt die frühere Bundesministerin aber zu, dass auch ihre „grüne“ Politik von der Verpflichtung zur Nächstenliebe und der katholischen Soziallehre, hier insbesondere von dem Prinzip der Subsidiarität, geprägt war. Diese biografische Prägung aus dem Elternhaus sei aber eher „unprätentiös“ und „alltagspraktisch“ verlaufen und habe nicht auf theoretischer Ebene angesetzt73. Der kirchlichen Hierarchie, dem ZdK sowie einem Großteil der CDU/CSU, den vom Selbstanspruch her einzig wählbaren Parteien für katholische Gläubige, galten grüne Politiker und Politikerinnen wie Fischer aber lange als unkatholisch, da die divergierenden Positionen zwischen ihnen und den Grünen bei Themen wie dem Paragraphen 218 unübersehbar waren. Der DBK-Vorsitzende und Kölner Kardinal Joseph Höffner spitzte wohl gewollt provokant zu, wenn er 1986 folgende Aussage tätigte: „Man kann doch nicht verlangen, daß jemand bestraft wird, wenn er Tannen im Schwarzwald schädigt, aber nicht bestraft wird, wenn er Kinder umbringt“74. Vor diesem Hintergrund argumentierte Höffner nur konsequent, wenn er konstatierte, dass die Grünen für Katholiken eine unwählbare Partei seien75. Erst neuerdings ist eine Annäherung der Eliten von damals, stellvertretend sei hier der frühere CSU-Kultusminister und ZdK-Präsident Hans Maier genannt, an die grüne Partei zu beobachten76. Mit dem Pontifikat Johannes Pauls II. von 1978 bis 2005 setzte schließlich institutionell eine „konservative“ Wende ein, die um 1980 allenthalben, etwa im Iran, wenig später auch in Großbritannien, den USA und der Bundesrepublik Deutschland zu beobachten war77: Der Schah von Persien wurde 1979 70 71 72 73 74 75 76
Fischer, Gott, 27 f. Ebd., 27. Ebd. Ebd., 29. Zitiert nach Otterbach, Partei, 66. Vgl. Seeber, Kirche, 224, 243. Vgl. https://www.katholisch.de/artikel/22469-die-katholische-kirche-die-gruenen-und-ein-un vergessenes-zitat. 77 Vgl. Damberg, Jahrhundertwende; ders., Pontifikate.
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ins Exil geschickt und die Islamische Republik Iran ausgerufen, mit den konservativen Regierungschefs Margret Thatcher, Ronald Reagan und Helmut Kohl gestalteten nun gänzlich andere Kräfte die Politik ihrer Länder als zuvor. In der Folge begannen zahlreiche Zentralisierungstendenzen Roms, etwa der Entzug der Lehrerlaubnis von Hans Küng sowie eine Verschärfung der Nihil obstat-Erfordernisse. Diese Maßnahmen zogen ihrerseits wieder entsprechende Gegenbewegungen nach sich, wie etwa die „Kölner Erklärung“ vom Frühjahr 1989, zunächst unterzeichnet von gut 160 Theologen, die die römische Art und Weise, Bischofsernennungen vorzunehmen und mit der kirchlichen Lehrerlaubnis umzugehen, missbilligten78. Sebastian Holzbrecher hat in seiner Dissertation – bei aller Unterschiedlichkeit der beiden deutschen Staaten – auf gewisse Analogien zum DDR-Katholizismus aufmerksam gemacht. Auch hier lag zweifelsohne eine drastische Polarisierung vor, wenn der „linkskatholische“ Aktionskreis Halle von SED-Staat und Amtskirche gleichermaßen zum Schweigen gebracht werden sollte79. Wer die Kontroversen verfolgt, die bundesdeutsche Katholikinnen und Katholiken in den vergangenen Jahren miteinander ausfochten, ist vielleicht geneigt, der Tübinger Dogmatikerin Johanna Rahner recht zu geben, die vor kurzem die Meinung vertrat, dass eine katholische Spaltung längst Realität sei – nur traue sich keiner, offen darüber zu reden80. Jüngste Versuche des ZdKPräsidenten Thomas Sternberg, sowohl „Wir sind Kirche“ als auch das „Forum Deutscher Katholiken“ in das ZdK zu holen, gestalten sich als schwierig81. Stellvertretend für ein „konservatives“ Katholischsein dürfte der Titel der posthum erschienenen Lebenserinnerungen des 2017 verstorbenen, langjährigen Kölner Kardinals Joachim Meisner gelten: „Wer sich anpasst, kann gleich einpacken.“82 Meisner beschreibt darin seine Schwierigkeit damit, u. a. die seit 1999 bestehende Einrichtung „donum vitae“ zu akzeptieren, deren Gründung aus dem Umfeld des ZdK er als nicht-evangeliumsgemäße Anbiederung an den von den Medien dominierten Zeitgeist empfindet83. Neben die Streitigkeiten um die Frage, wo ein „Aggiornamento“ aufhört und wo ein Anpassen an den Zeitgeist beginnt, tritt ein weiteres Moment: In diesem letzten, bis in die Gegenwart hineinragenden Zeitbogen wird man sicher noch einmal zwischen einem „Vor“ und einem „Nach“ hinsichtlich des seit 2010 keimenden Missbrauchsskandals zu differenzieren haben, der einen noch kaum abschätzbaren, internationalen Ansehensverlust für die katholische Kirche mit sich brachte. 78 Vgl. Knops / Bock, Amtsverständnis, 129–136. 79 Vgl. Holzbrecher, Aktionskreis. 80 Vgl. https://www.katholisch.de/artikel/22426-theologin-rahner-katholische-kirche-ist-laengstgespalten. 81 Vgl. https://www.katholisch.de/artikel/15046-tradition-bis-revolution-fuer-wen-spricht-daszdk. 82 Vgl. Meisner, Wer sich anpasst. 83 Vgl. ebd., 206.
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5. Fazit In der Regel läuft ein historiografisches Phasenmodell so ab, dass bestimmte Zäsuren (1918, 1933, 1945, die 1960er Jahre, 1989 …) und Kontinuitäten berücksichtigt, andere dafür ausgeschlossen werden. Mit dem Modell der „Zeitbögen“ wurde versucht, so sei hier nochmals betont, dieser Problematik auszuweichen, indem quer zu den gängigen Periodisierungen aus der sogenannten „Profangeschichte“ ein übergreifendes Konzept für die katholische Zeitgeschichte des 19. und dann vor allem 20. Jahrhunderts vorgestellt wurde. So können, um nur ein Beispiel zu nennen, Verläufe individueller Biografien katholischer Persönlichkeiten wie Hubert Jedin, Erwin Iserloh oder Joseph Ratzinger in ihren zeitgenössischen Kontexten konkreter verortet werden. Das von Thomas Großbölting konstatierte Manko der Kirchlichen Zeitgeschichte, nämlich, dass die Disziplin insbesondere auf Katastrophen und Brüche schaue, erfährt auf diesem Weg einen Ausgleich und auch die von ihm als Desiderat angemahnten frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklungen, hier aufgezeigt am Beispiel der Grünen-Politikerin Andrea Fischer, können so möglicherweise besser eruiert werden84. Der vorliegende Beitrag versteht sich dabei in der Einteilung der Zeitbögen ausdrücklich als streitbarer Vorschlag, um für alternative Modelle der Kirchengeschichtsschreibung zu werben. Gerade Zeitgeschichte als jüngste historische Epoche unterliegt immer einer gewissen Dynamik, und die künftige Dynamik wird zeigen, als wie tragfähig sich die vorgestellten Zeitbögen, gerade der noch im Fluss befindliche Zeitbogen drei, erweisen. Würde damit eine Diskussion über die Relativität von Periodisierungsfragen angestoßen, hätte der Beitrag seinen Sinn und Zweck mehr als erfüllt.
I. Unveröffentlichte Quellen Universitätsarchiv Tübingen (UAT) S 3/154,1. S 4/382. S 4a/11,28.
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Ansprache von Papst Benedikt XVI. an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Rçmischen Kurie beim Weihnachtsempfang 22. Dezember 2005 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 172). Bonn 2006. 84 Vgl. Israel, Zeitgeschichte.
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Periodisierungsfragen der Kirchlichen Zeitgeschichte aus evangelischer Perspektive
1. Vorbemerkungen In diesem Beitrag wird – wie die Überschrift zum Ausdruck bringt – ausschließlich die evangelische Perspektive betrachtet. Zudem sei angemerkt, dass der Blick auf Deutschland gerichtet wird; eine Periodisierung in europäischer oder gar internationaler Perspektive wird hier nicht geboten1.
2. Periodisierungsfragen – ein Abriss Die Bezeichnung „Kirchliche Zeitgeschichte“ begegnet in institutioneller Form im Bereich der Evangelischen Kirche erstmals 1971, als die 1955 gegründete „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit“ in „Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte“ umbenannt wurde2. Zugleich wurde die Schriftenreihe „Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes“ durch die ab 1975 publizierte – bis heute 77 Bände umfassende – Reihe „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ abgelöst. In Band 1 erläuterten die beiden Herausgeber Georg Kretschmar und Klaus Scholder die Beweggründe für diesen Neuansatz: Weder „die zeitliche Beschränkung auf die Jahre von 1933 bis 1945 noch die sachliche Beschränkung auf die Bekennende Kirche“ könnten den „Fragestellungen auf die Dauer“ genügen3. Erhellend für Periodisierungsfragen war die Feststellung, dass die Kirchliche Zeitgeschichte „heute nicht mehr nur eine Geschichte des Kirchenkampfes und allenfalls seiner Vor- und Nachgeschichte“ sein könne, vielmehr verstehe sich Kirchliche Zeitgeschichte „als Geschichte der Kirche im zwanzigsten Jahrhundert, in welcher der ,Kirchenkampf‘ in Deutschland und in den benachbarten Ländern nur einen […] Abschnitt darstellt.“4 Innerhalb dieser Aufweitung des zeitlichen Rahmens wurde weder ein genauer
1 2 3 4
Vgl. Greschat, Zeitgeschichte, 11 f. und Gause, Zeitgeschichte, 18 f. Vgl. Kaiser, Wissenschaftspolitik. Kretschmar / Scholder, Vorwort, XI. Ebd., XIf.
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Siegfried Hermle
Beginn noch eine weitere Untergliederung aufgezeigt; lediglich die Zeit des Nationalsozialismus wird als ein besonderer Zeitabschnitt qualifiziert. Der 1988 neu gewählte Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte“ Joachim Mehlhausen suchte mit einem Aufsatz „Zur Methode kirchlicher Zeitgeschichtsforschung“ einen Impuls zu geben, dem im protestantischen Bereich signifikanten Defizit an methodologischer Reflexion im Blick auf die Kirchliche Zeitgeschichte zu begegnen. Seine Ausführungen sollen hier nur insofern betrachtet werden, als er hinsichtlich der Periodisierung ohne weitere Begründung feststellte, dass „in der Literatur weitgehend Einverständnis darüber [bestehe], auf welchen konkreten Zeitraum sich die Zeitgeschichtsforschung zu beziehen habe“5. In Anlehnung an den Historiker Hans Rothfels6 – den er überraschenderweise nicht nennt – führte Mehlhausen aus, dass Zeitgeschichte sich jenen Jahrzehnten widme, „die von einer je heute noch lebenden Generation von Zeitzeugen bewußt miterlebt und mitgestaltet worden sind.“7 Dass die Frage nach der Periodisierung für die in der Kirchlichen Zeitgeschichte aktiven Historiker keine zentrale Rolle spielte, zeigen zwei weitere 1988 publizierte programmatische Ausführungen: Die „Einführung der Herausgeber“ der in diesem Jahr erstmals erschienenen Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“ bot keine nähere Klärung im Blick auf die zeitliche Dimension. Zwar forderten Gerhard Besier, Martin Onnasch und Manfred Stolpe, die „Vergangenheit multiperspektivisch darzustellen“, keine „parteiliche Geschichtsschreibung“ im Dienste „gesellschaftliche[r] Interessen“ zu betreiben und die „gesellschaftlichen Entwicklungen“ ebenso wie die sozialwissenschaftliche Methodik in der Kirchlichen Zeitgeschichte zur Geltung zu bringen8, aber der zeitliche Rahmen wird schlicht als neueste Kirchengeschichte benannt: Damit sei „die Geschichte der Kirche in diesem – und soweit notwendig auch im vorigen – Jahrhundert“ gemeint9. Dem Raum zu gebenden Zeitabschnitt gehöre „im Bewußtsein des Erzählers zwar unstreitig der Vergangenheit an, nicht aber schon der Geschichte“. Etwas blumig wurde mit Verweis auf „Kaiserzeit, Weimar, dem Dritten Reich und erst recht der Nachkriegszeit“ hinzugefügt, dass „diese Epochen noch zu den dunklen Anfängen unserer Lebenszeit“ gehörten, „als hätten wir emotionale Verfügungsgewalt über sie“10.
5 Mehlhausen, Methode, 322. 6 Rothfels verstand Zeitgeschichte „als Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“ (Zeitgeschichte, 2). 7 Mehlhausen, Methode, 322. 8 Besier / Onnasch / Stolpe, Einführung, 4 f. 9 Ebd., 3. 10 Ebd. Im Übrigen war dann das Heft 1 des 5. Jahrgangs ganz dem Thema „Zur Historik Kirchlicher Zeitgeschichte“ gewidmet, doch finden sich hier keine weiterführenden Überlegungen zur zeitlichen Periodisierung, sondern allein zu Notwendigkeit und Grenzen der Ein-
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In ihrem Vorwort zu Band 1 der ebenfalls 1988 einsetzenden Reihe „Konfession und Gesellschaft“ konstatierten die Herausgeber Jochen-Christoph Kaiser, Martin Greschat, Anselm Doering-Manteuffel und Kurt Nowak zwar, sie wollten „einen Beitrag zur historischen Ortsbestimmung des Christentums und der Zeitgeschichte leisten“ und hoben hervor, dass „die kirchliche Zeitgeschichte durch die allmähliche Erweiterung ihres Blickwinkels und die programmatische Forderung, Kirchengeschichte als Sozial- und Gesellschaftsgeschichte zu bearbeiten, engere Kontakte zur Allgemeingeschichte geknüpft“ habe, doch welche Zeitspanne die von ihnen thematisierte Zeitgeschichte umfasste, wird nicht erörtert11. Zwei Jahre später, 1990, stellte Nowak in einer kritischen Stellungnahme zu einem Arbeitspapier Mehlhausens über die Aufgaben Kirchlicher Zeitgeschichte im Blick auf die Periodisierung heraus, dass – so schon Greschat eher beiläufig 197912 – „die entscheidende Zäsur für den deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert die sechziger Jahre“ seien, da sich in jenen Jahren „grundlegend neue Orientierungs- und Handlungsmuster ergeben“ hätten13. Der „eigentliche Epocheneinschnitt für den Protestantismus [sei] nicht 1945, sondern zwanzig Jahre später“14. Zudem verwies Nowak darauf, dass in „der älteren Kirchenkampfforschung […] der methodische Fehler gemacht worden“ sei, „die Jahre 1933–1945 aus dem historischen Entwicklungsbogen des 19./20. Jahrhunderts herauszunehmen und allenfalls die Weimarer Republik als Prolegomena hinzu[zu]fügen“15. Besier und Hans Günter Ulrich konstatierten in ihrem 1991 publizierten Aufsatz über die „Aufgabe kirchlicher Zeitgeschichte“ recht allgemein, dass der Begriff „Zeitgeschichte“ „ein ,Anschlussbegriff‘ [sei], der nur das Konstrukt der Periodisierung – die Geschichte der neuesten Zeit – meint“16. So bleibt zu resümieren, dass die in den 1980er Jahren geführten Debatten um die Kirchliche Zeitgeschichte zwar kontroverse Auseinandersetzungen über die zu nutzenden Methoden, deren Ziele und Einbindung in die Allgemein- wie Kirchengeschichte brachten, doch Fragen der Periodisierung spielten lediglich am Rande eine Rolle.
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bindung von Sozial-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte in die kirchliche Zeitgeschichte (vgl. KIZ 5 [1992] Heft 1). Kaiser / Greschat, Holocaust, IXf. Vgl. Greschat, Kirche, 124. Nowak, Gesprächsbeitrag, 24. Ebd., 25. Ebd. Letzteres ist besonders in dem ambitionierten Werk von Klaus Scholder greifbar, der den ersten Band seiner auf mehrere Bände angelegten Monographie über „Die Kirchen und das Dritte Reich“ mit dem Untertitel „Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934“ versah; damit war die Geschichte der Kirche in der Weimarer Republik als „Vorgeschichte“ qualifiziert, der letztlich nur insoweit Bedeutung zukam, als sie für das Verständnis der Jahre ab 1933 von Belang war. Besier / Ulrich, Aufgabe, 170.
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Erst Greschat widmete sich 2002 in einem in „Verkündigung und Forschung“ erschienenen Beitrag den „Epochengrenzen der Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert“. Er stellte heraus, dass der Erste Weltkrieg „ein epochales Ereignis“ gewesen sei17, da der Krieg „auch in Deutschland wesentliche geistige und materielle, politische, technische sowie religiös-kulturelle Gegebenheiten und Faktoren“ gebündelt habe18 Bei diesem Datum könne es sich zwar „lediglich um künstliche Markierungen handeln“, doch bilde 1914 unzweifelhaft „eine epochale Zäsur“. Die von Wolfgang Schieder als Wendepunkte genannten Daten „1918, 1933, 1945 und 1989“ bildeten – so Greschats Resümee nach der Vorstellung einiger seinerzeit aktuell erschienener Darstellungen zur Geschichte des Protestantismus – auch „den Rahmen […] für die jüngsten kirchenhistorischen Darstellungen“19. Nach einem Blick auf die europäische Ebene kam Greschat zu der Feststellung, dass es „ziemlich unumstritten [… sei], dass der Erste Weltkrieg eine gravierende Zäsur“ markiere und auch „die Qualifizierung des Zusammenbruchs der Sowjetunion“ finde als Epochengrenze allgemeine Akzeptanz. Für das kurze 20. Jahrhundert (Eric Hobsbawm) sah Greschat ansonsten nur noch in den späten 1960er Jahren mit ihrer „umfassenden sozialen und kulturellen Revolution“ einen tiefen Einschnitt; 1968 könne „dafür als Signal stehen“20. Spannend an diesem Konzept Greschats ist, dass es nur sehr allgemein danach fragt, ob die von ihm identifizierten Wendedaten auch für Kirche und Christentum von Relevanz waren. Er beschränkte sich auf den Hinweis, sie markierten auch religiös-kulturelle Umbrüche. In einer Vorstudie für den Artikel „Zeitgeschichte, Kirchliche“ für die TRE21 entfaltete Wolf-Dieter Hauschild 2004 nicht allein „Grundprobleme der Kirchlichen Zeitgeschichte“, wie deren theologischer Anspruch, Bezug zur Kirche und Kirchenpolitik oder die „Kooperationswissenschaften“, sondern auch die zeitliche Dimension22. Hauschild machte darauf aufmerksam, dass „der Begriff ,Neueste Kirchengeschichte‘ seit ca. 1850 als Vorlesungstitel“ vorkomme, und „der Begriff ,kirchliche Zeitgeschichte‘ erst seit dem Jahre 1900 ziemlich marginal aufgekommen“ sei23. Mit dem 1949/50 in München gegründeten „Institut für Zeitgeschichte“ sei „Zeitgeschichte“ zu einer „Teildisziplin der Geschichtswissenschaft“ geworden, deren Beginn Hans Rothfels, der erste Leiter des Instituts, mit der „Epochenschwelle 1917/18 fixierte“24. Folge man dem Vorschlag Rothfels‘, dass die Zeitgeschichte als „Epoche der Mitlebenden“ zu verstehen sei, dann müsste die „Logik des Verfahrens […] sukzessive eine Ausscheidung“ zunächst der Zeit der Weimarer Republik, 17 18 19 20 21 22 23 24
Greschat, Epochengrenzen, 82. Ebd., 83. Ebd., 84. Ebd., 91. Vgl. Hauschild, Zeitgeschichte. Ders., Grundprobleme, 49. Ebd., 49, 61. Ebd., 18.
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dann der NS-Zeit und so weiter nach sich ziehen25. Zeitgeschichte könne zudem weder durch die „einzigartige, bleibende Relevanz [der 1930er und 40er Jahre] für uns Deutsche“ noch durch ein „existenzielles Betroffensein“ definiert werden26. Gebe „man ,Zeitgeschichte‘ generell als Perioden- oder Epochenbegriff für das 20. Jahrhundert“ aus, so ergäben „sich neue Aporien“, und auch eine Differenzierung „zwischen einer älteren Zeitgeschichte“, die die Jahre 1918 bis 1945 umfasse, und einer „jüngeren“ für die Jahre nach 1945 könne nicht befriedigen27. Hauschild schlug daher vor, „den bei der Entstehung der Teildisziplin Zeitgeschichte vorausgesetzten chronologischen Rahmen (mit dem Beginn 1917/18) beizubehalten und mit jenem Begriff generell die gesamte seitdem geschehene Geschichte zu bezeichnen“28. Das „für den Begriff konstitutive Element der Gleichzeitigkeit“ bleibe „trotz des permanenten, sukzessiven Ablebens der ,Mitlebenden‘ […] insofern gültig, als die seit Beginn des 20. Jahrhunderts aufblühenden neuen Medien […] eine gleichsam permanente Präsenz wesentlicher Personen der jeweiligen Geschichtsepoche ermöglichen.“ Hauschild resümierte: Für „die heute ,Mitlebenden‘ gibt es aufgrund jener Vergegenwärtigungsmöglichkeit ein qualitativ anderes Miterleben einer Geschichte“, als dies zuvor möglich gewesen sei; daher könne man Zeitgeschichte als „Epoche der Mitlebenden“ verstehen, für die eine „chronologische Variabilität“ konstitutiv sei29. Eine Binnendifferenzierung dieses Zeitabschnittes bot Hauschild in seinem 2004 erschienenen TRE-Artikel, in dem die Perioden 1918 bis 1933 und 1933 bis 1945 sowie für die Nachkriegszeit die Jahre 1945 bis 1955 bzw. 1970 benannt werden. Zudem verwies Hauschild auf 1989, als mit dem „Ende des Kalten Krieges“ ein „nochmalige[r] Aktualitätswechsel“ eingetreten sei30. Hauschilds Vorschlag, „Zeitgeschichte“ als einen 1917/18 beginnenden, dynamischen Zeitraum zu verstehen, für den das „Element der Gleichzeitigkeit“ konstitutiv ist, wobei dieses jedoch nicht an der Lebensspanne von Akteuren festgemacht wird, sondern an einer durch Filme und die Möglichkeit von Tonaufnahmen sich eröffnenden neuen Art von medialer Gleichzeitigkeit, ist bedenkenswert: In der Tat ergibt sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein signifikanter Einschnitt, der von einer Koinzidenz von historisch-politischen Umbrüchen und der Entwicklung moderner Technologien gekennzeichnet ist. Auffällig ist, dass Hauschild zwar hinsichtlich der Aufgaben Kirchlicher Zeitgeschichte deren theologie- und kirchengeschichtliche Dimension erörtert, im Blick auf die zeitliche Periodisierung fehlen jedoch sämtliche Bezüge auf den kirchlich-theologischen Bereich. Die Kriterien für die festgemachten Einschnitte werden allenfalls angedeutet und beziehen sich auf allgemein 25 26 27 28 29 30
Ebd., 21. Ebd., 22 f. Ebd., 23. Ebd., 24. Ebd., 25. Hauschild, Zeitgeschichte, 555.
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politisch-gesellschaftliche Umbrüche – inwieweit diese auch für Kirche und Theologie Relevanz hatten, wird nicht eigens bedacht. Martin Greschat legte 2005 eine Monografie vor, die einer Orientierung zur Kirchlichen Zeitgeschichte dienen sollte. Von den drei gebotenen Abschnitten interessiert in unserem Zusammenhang Kapitel 1: „Wann beginnt und wann endet die Kirchliche Zeitgeschichte?“31 Hans Rothfels aufnehmend weist Greschat darauf hin, dass – insbesondere aufgrund sozialpsychologischer und kulturanthropologischer Faktoren – auf das Jahr 1917 der „Beginn einer neuen historischen Epoche“ zu datieren sei32. Um „eine Engführung“ zu vermeiden, sei allerdings, so Greschat, der Erste Weltkrieg „als Ausgangspunkt zu wählen“, habe er doch „jene tiefgreifenden sozialen, ökonomischen und humanen Veränderungen“ gebracht, die weltweit zu einer „permanenten Umgestaltung sämtlicher überkommener Lebensgewohnheiten und Traditionen“ führten33. Signifikant sei zudem ein „Missbrauch der Theologie“, die eine „verhängnisvolle Vermischung und Verschmelzung eines nationalistischen Gottes mit christlichen Elementen“ vollzogen habe34. Greschat konstatiert für die Folgezeit einerseits eine „Tradition der Militanz“, die bis über die NS-Zeit hinaus fortgedauert habe. Andererseits habe es neben dieser „dominanten politischtheologischen Linie“35 noch eine ihr radikal gegenüberstehende, von dem Theologen Karl Barth beförderte Strömung gegeben, die sich ganz auf die „weltüberlegene Botschaft“ der Kirche konzentriert habe. Erst in den 1960er Jahren habe für die Kirchliche Zeitgeschichte ein neues Kapitel begonnen, wurden doch nun traditionelle „theologische Einsichten und Grundsätze […] regelrecht hinweggeschwemmt“36, von dogmatischen Lehraussagen der Kirche fand eine breite Abkehr statt und ein Pluralismus der Sinnangebote war allenthalben präsent. Den „Abschluss der Kirchlichen Zeitgeschichte“ sah Greschat „in der unmittelbaren Gegenwart“, jedoch gebe es „in der Geschichte […] kein Ende, das nicht gleichzeitig einen neuen Anfang bildet“37. Die vorgeschlagene „Zäsur 1989/90 als den Beginn der ,neuesten Zeitgeschichte‘“ müsse sich noch erweisen, jedenfalls markiere dieses Datum eine vorläufige Begrenzung, da sich wissenschaftliche Arbeit „nun einmal nicht in Windeseile erledigen“ lasse, sie bedürfe „offenbar einer gewissen Inkubationszeit“38. Greschats Überlegungen machen für die Kirchliche Zeitgeschichte zwei Einschnitte fest: den 1. Weltkrieg als „grundstürzendes Ereignis“39, mit dem er 31 Greschat, Zeitgeschichte, 11–38; die anderen Kapitel sind mit „Was umfasst die Kirchliche Zeitgeschichte?“ und „Wie kirchlich ist diese Zeitgeschichte?“ überschrieben. 32 Ebd., 13. 33 Ebd., 17 f. 34 Ebd., 22. 35 Ebd., 25. 36 Ebd., 31. 37 Ebd., 37. 38 Ebd., 38. 39 Ebd., 15.
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diese Epoche beginnen lässt, und die 1960er Jahre; sie böten in vergleichbarer Weise tiefgreifende Umbrüche. Abgesehen von einem vorläufigen Endpunkt 1989/90 nahm Greschat keine weiteren zeitlichen Untergliederungen vor. Seine Begründungen für die Einschnitte waren primär politisch sowie sozialund mentalitätsgeschichtlich; so betonte er ausdrücklich, dass die Kirchliche Zeitgeschichte im Blick auf die Umbrüche in den 1960er Jahren „wieder den Erkenntnissen der allgemeinen Zeitgeschichte“ folge40. Allerdings verwies Greschat auch auf kirchen- und theologiegeschichtliche Faktoren für seinen Periodisierungsvorschlag. Einen nur auf Westdeutschland und die Jahre nach 1945 ausgerichteten Periodisierungsvorschlag bot der Münchner Kirchenhistoriker Harry Oelke auf einer in Sandbjerg im August 2008 veranstalteten Tagung. Betont wurde von ihm eingangs, dass „ein Konsens über die exzeptionelle Bedeutung [bestehe], die insbesondere den 1960er Jahren für die Religion beizumessen“ sei41, dies sei für eine „periodisierende Struktur […] zu verrechnen“42. Im Folgenden benannte Oelke nach einem Überblick über die zentralen Problemkonstellationen – „Politische Verantwortung“, „Schuldfrage“, „Entkirchlichung“ und „Nationalismus“43 – drei Phasen: 1. „Demokratie und Diktatur (1945–1961)“, 2. „Gesellschaftlicher Wandel und protestantische Transformationen (1962–1978)“ und 3. „Ernüchterung und Verfestigung (1978–1989)“44. Beigegeben waren den jeweiligen Phasen ausführliche Charakterisierungen der jeweils in den Zeitabschnitten im Zentrum stehenden kirchen- und theologiegeschichtlichen Probleme: So machte Oelke auf Entwicklungen beispielsweise bei den Deutschen Evangelischen Kirchentagen aufmerksam, verwies auf die wachsende Politisierung des Protestantismus sowie auf dessen zunehmende Pluralisierung. Rückgekoppelt wurden die angeführten kirchlich-theologischen Faktoren jeweils an die politisch-gesellschaftlichen Wandlungsprozesse. Der Ansatz Oelkes kann hinsichtlich der klaren Periodisierung sowie der eingehenden Begründung der jeweiligen Zeitabschnitte überzeugen. Die Beschränkung auf Westdeutschland und die Zeit nach 1945 sind im Blick auf die gesamte Epoche der Kirchlichen Zeitgeschichte nur bedingt hilfreich. Ebenso ist eine Prämisse zu hinterfragen, die für einen Einschnitt 1961 ins Feld geführt wird: „Das Jahr 1968 wird in der gängigen Interpretation als ,Kulturrevolution‘ immer noch überschätzt, sofern man sie als Epochengrenze interpretiert.“45 Da die Reformprozesse einen Vorlauf hätten, „der signifikant zu Beginn der 1960er Jahre anzusetzen ist“, markiere 1961 eine Zäsur. Doch so selbstverständlich die Betonung eines „Vorlaufs“ ist, bleibt doch zu fragen, wann die 40 41 42 43 44 45
Ebd., 30. Oelke, Kirchengeschichte, 173. Ebd., 174. Ebd., 175–177. Ebd., 178, 184, 192. Ebd., 187.
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epochalen Umbrüche einsetzten. Letztlich wäre der Beginn eines Zeitabschnitts da zu setzen, wo es Veränderungen tatsächlich gab. Zuletzt ist auf einen Beitrag der Bochumer Kirchenhistorikerin Ute Gause zu verweisen, die 2013 in der Festschrift für Jochen-Christoph Kaiser kritisch zu Greschats Periodisierungsvorschlag Stellung bezog. Zum einen habe er die von ihm formulierte „Forderung nach Internationalität“ nicht umgesetzt, zum anderen – wie Oelke – nicht berücksichtigt, „dass die kirchengeschichtlichen Entwicklungen in beiden deutschen Staaten untrennbar“ seien46. Greschat wollte durch seine Vorschläge „bewusst geschichtswissenschaftlich anschlussfähig sein“, doch sei für die Kirchliche Zeitgeschichte auch eine „theologisch begründete Gliederung“ unabdingbar47. So sollte der Beginn nicht auf 1914, sondern aus evangelischer Perspektive auf 1917/18, das Ende der „Allianz von Thron und Altar“, fixiert werden, und im Blick auf das Ende – 1989/90 – sollte nicht allein auf Sperrfristen verwiesen werden oder darauf, dass „Ereignisse noch nicht weit genug weg“ lägen, sondern vor allem auf „die friedliche Revolution in Deutschland“. Als weitere Zäsuren schlug Gause die Jahre 1933 – „Versuch der Gleichschaltung von Staat und Kirche“ –, 1945 – „Kapitulation und Schulderklärung“ – sowie die 1960er Jahre vor, die sie als „Dynamische Zeiten“ charakterisierte48. Diese hätten einerseits Umbrüche und einen „klaren[n] Traditionsabbruch“ gebracht, andererseits könnten die „langen sechziger Jahre“ aber auch als eine „Erfolgsgeschichte gelungener Veränderungen“ angesehen werden, hätten sie doch „die Ordination von Pfarrerinnen“, „Veränderungen innerhalb der evangelischen Sozialethik“ oder auch einen „Dialog mit dem Judentum“ gebracht – um nur einige Punkte zu nennen, die Gause anführte49. Sie schlug in Abwandlung von Bezeichnungen Nowaks und Greschats vor, „von einem ,Zeitalter der Pluralisierung und der Säkularisierung‘ oder präziser noch vom ,Christentum in der Liberalisierung und der Demokratisierung‘ [zu] sprechen“50 – ohne freilich auf die Problematik des Begriffs „Säkularisierung“51 einzugehen oder zu klären, was mit Liberalisierung gemeint sein soll. Gause nahm zwar weitgehend die von Greschat gebotenen Zäsuren auf, doch suchte sie diese nicht nur allgemeingeschichtlich, sondern auch im kirchlich-theologischen Bereich zu verorten. Überlegungen, inwieweit die Jahre ab 1917/18 als Zeitgeschichte bezeichnet werden können, bot sie nicht, und der von ihr konstatierte Einschnitt in den 1960er Jahren wurde nicht genauer fixiert.
46 47 48 49 50 51
Gause, Kirchengeschichte, 18 f. Ebd., 21. Ebd., 22 f. Ebd., 24 f. Ebd., 28. Vgl. hierzu Pollack, Wandel, 33, 58.
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3. Periodisierung aus evangelischer Perspektive 3.1 Prämissen 1. Kirchliche Zeitgeschichte hat die Kirchengeschichte ab 1918 zum Thema, wobei die von Rothfels gegebene Definition – „Epoche der Mitlebenden“ – im Sinne von Hauschilds dynamischem Verständnis einer medial vermittelten Gleichzeitigkeit – die heute im Zeitalter des Internets ganz neue Dimensionen erreicht – zu modifizieren wäre. 2. Zentral erscheint im Blick auf die Periodisierung der Kirchlichen Zeitgeschichte, dass kirchen- und theologiegeschichtliche Faktoren bei der Festlegung von Epochen eine zentrale Rolle spielen. Gewiss sind allgemeingeschichtliche Einschnitte auch für die kirchliche Periodisierung zu bedenken und geben ein Raster vor; doch ist jeweils zu klären, inwieweit diese mit kirchlich-theologischen Ereignissen korrespondieren. 3. Die Darstellung der Kirchlichen Zeitgeschichte in der Zeit der deutschen Doppelstaatlichkeit muss integrativ angelegt sein: Die Entwicklungen in beiden deutschen Teilstaaten kann und darf nicht getrennt betrachtet werden. Insbesondere die Kirchen bleiben in der „,asymetrisch verflochtenen Beziehungsgeschichte‘ zwischen dem größeren demokratischen und dem kleineren, diktatorischen Teil“ Deutschlands eine Klammer, auch über die Verselbstständigung der DDR-Kirchen 1969 hinaus52. Angefügt sei noch, dass ein sachgemäßer Zugang zur Kirchlichen Zeitgeschichte immer multiperspektivisch angelegt sein wird: sozial-, kultur-, mentalitäts-, theologie-, frömmigkeits- und organisationsgeschichtliche Zugehensweisen haben sich zu ergänzen und vermögen erst in ihrer Zusammenschau Vorgänge und Entwicklungen sachgemäß zu beschreiben. Zudem ist für die evangelischen Kirchen festzuhalten, dass diese nicht allein im Blick auf ihre institutionelle Verfasstheit und ihre leitenden Organe hin untersucht werden dürfen, sondern auch auf jene Werke, Vereinigungen, Verbände und Gruppen, die sich ihr zuordnen und mit ihr in Beziehung stehen. Mit einzubeziehen sind zudem Einzelpersonen, die durch ihre Initiativen Impulse für andere, ja für die ganze Kirche, zu geben vermögen. 3.2 Beginn von Phase 1: November 1918 Geht man von kirchengeschichtlich relevanten Ereignissen aus, so lässt sich der Beginn der ersten Phase der Kirchlichen Zeitgeschichte recht genau fi-
52 Klessmann / Misselwitz / Wichert, Vorwort, 12.
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xieren53. Im November 1918 ergab sich durch die Rücktritte der Landesherren in Deutschland ein Umbruch, der für die protestantischen Kirchen eine nahezu vierhundertjährige Epoche beendete: Die – trotz aller Verselbstständigungsansätze im ausgehenden 19. Jahrhundert – nach wie vor gegebene enge Einbindung der evangelischen Kirche in den Staatsapparat fand ebenso ein Ende wie das landesherrliche Kirchenregiment. Beginnend mit dem erzwungenen Rücktritt des bayrischen Königs Ludwig II. am 7. November und endend mit dem offiziellen Thronverzicht des württembergischen Königs Wilhelm II. am 30. November waren alle Regenten der deutschen Staaten zurückgetreten. Nunmehr hatten sich die Kirchen selbst Ordnungen zu geben, über ihre Struktur zu entscheiden, mussten ihr Führungspersonal selbst wählen, Gesetze erlassen und vor allem auch den Haushalt eigenverantwortlich führen. Dieser Einschnitt wurde zeitgenössisch ganz unterschiedlich bewertet: Während der Berliner Oberkirchenrat am 10. November 1918 klagte, dass nunmehr „Kaiser und Reich“, die uns „in einer Geschichte ohnegleichen […] teuer und wert geworden“ waren, „dahin“ seien54, jubilierte Otto Dibelius wenige Jahre später, dass ein „Jahrhundert der Kirche […] im Anbrechen“ sei und man „vor einer Wendung“ stehe: „Ecclesiam habemus“55. Es ist hier nicht der Ort, die Probleme näher zu entfalten, die sich im Zusammenhang der kirchlichen Neustrukturierung ergaben56, deutlich ist jedoch, dass der 9. November 1918 – um ein symbolträchtiges Datum zu nennen57 – für die evangelischen Kirchen Deutschlands einen epochalen Umbruch brachte, der sie in bislang nicht vorstellbarer Weise verselbstständigte und zu einem Akteur machte, der in der Öffentlichkeit seine Stimme erheben konnte. Zugleich setzte eine theologische Neuorientierung ein, die durch die beiden Römerbriefkommentare des Safenwiler Pfarrers Karl Barth maßgeblich befördert wurde. Blieb die erste Ausgabe von 1918 noch im Rahmen der gängigen theologischen Kategorien, so setzte die zweite von 1921 völlig neue Maßstäbe: Sie vollzog eine radikale Absage an die gesamte Liberale Theologie mit ihrem Versuch, an menschlichen Erfahrungen anknüpfend über Gott reden zu können, und stellte ihr die Unmöglichkeit menschlicher Rede von Gott gegenüber : Gott sei der ganz andere. Man müsse, so Barth, ganz neu mit der Rede von Gott ansetzen. Die von ihm und anderen initiierte „Wort-Gottes-
53 Vgl. Schieder für die politische Geschichte: „Erst das Kriegsende 1918 bzw. 1945 bewirkte jeweils einen entscheidenden Umbruch.“ (Ders., Umbrüche, 4). 54 Hermle / Thierfelder, Herausgefordert, 17. 55 Dibelius, Jahrhundert, 139, 77. 56 Vgl. die einschlägigen Beiträge im BWKG 108/109 (2008/2009): Hermle und Kampmann zu Württemberg, Winter zu Baden, Seehase zu Anhalt, Kuessner zu Braunschweig und Lütcke zu Preußen (115–264). 57 Vgl. hierzu Schieder, der betonte, „daß solche Tage jeweils nur symbolische Daten“ seien, da es sich in Wirklichkeit „selbstverständlich jeweils um längere historische Prozesse“ handele (Ders., Umbrüche, 4).
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Theologie“ bildete gleichsam die zweite Wendemarke der Geschichte der evangelischen Kirche nach 1918. 3.3 Beginn von Phase 2: 1968 Mit Martin Greschat sehe ich einen zweiten tiefen Einschnitt erst in den 1960er Jahren. Eindrücklich stellte Detlef Pollack 2013 diesen Umbruch heraus, der trotz aller „gleitenden Übergänge“ in den 1960er Jahren einen „Kulminationspunkt“ erreichte58. Der religiöse Wandel sei in der Mitte der 1960er Jahre offenkundig: „Die Kirchenaustrittszahlen [schnellten] quasi ,über Nacht‘ nach oben“59, die religiöse Praxis habe einen signifikanten Einbruch erfahren und die religiösen Vorstellungen und Überzeugungen waren rückläufig. Zurückzuführen sei diese Entwicklung auf einen „Wandel der Familienstrukturen“, einen tiefen „Wertewandel“ sowie durch gravierende ökonomische Veränderungen60. Pollack resümierte, dass „sich der Traditionsabbruch [möglicherweise] bereits in den 1950er Jahren“ anbahnt habe, doch habe sich die tiefe „Kluft erst im Laufe der 1960er Jahre“ ausgebildet und sich Ende des Jahrzehnts einschneidend vertieft61. Hinzuweisen ist weiter darauf, dass in den 1960er Jahren auch ein Umbruch in der Systematischen Theologie zu verzeichnen war. Hatte – wie schon dargelegt – die Dialektische Theologie nach 1918 die bis dahin dominierende Liberale Theologie abgelöst und war nach dem Ende des 2. Weltkrieges zur vorherrschenden theologischen Richtung geworden, so brachten die 1960er Jahre eine stärkere Ausdifferenzierung. Die von Jürgen Moltmann 1964 vorgelegte „Theologie der Hoffnung“ hatte beispielsweise auch politische Implikationen, und mit der 1967 in Kiel gegründeten Schleiermacher-Forschungsstelle und der Berufung von Trutz Rendtorff 1968 nach München setzte eine Erneuerung der liberaltheologischen Traditionen sowie eine Neubewertung des Kulturprotestantismus ein62. Zudem sei noch an den Gärungsprozess innerhalb der evangelischen Kirchen erinnert: Ab 1961 machte sich ein massiver Protest gegen eine vorgeblich ,moderne Theologie‘ Luft, die von ,bibeltreuen‘ Kreisen getragen war. Diese hatten bereits in den 1950er Jahren das von Rudolf Bultmann propagierte Entmythologisierungsprogramm kritisiert und ein „Betheler Kreis“ warnte im Juli 1961 in einem Schreiben an den Rat der EKD und die Landeskirchenleitungen eindringlich vor einer „Zersetzung und Aushöhlung des Glaubens“ sowie vor „subjektiver Uminterpretation des Wortes und des Be58 59 60 61 62
Lepp / Oelke / Pollack, Religion, 12. Pollack, Wandel, 37. Vgl. ebd., 44–55. Ebd., 57, 56. Sichtbares Zeichen hierfür war die 1981 erfolgte Gründung einer Ernst-Troeltsch-Gesellschaft (vgl. www.http://ernsttroeltsch.de/ [4. 2. 2020]).
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kenntnisses“63. 1966 formierte sich aus dem „Bethel-Kreis“ die „Bekenntnisbewegung ,Kein anderes Evangelium‘“, die am 6. März in der Dortmunder Westfalenhalle eine öffentlichkeitswirksame Protestveranstaltung organisierte, die gegen die sich in den Gemeinden aufgrund der ,modernen Theologie‘ einschleichenden „Skepsis gegen die Glaubwürdigkeit der Bibel“64 gerichtet war. Die evangelikale Bewegung, wie sie bald genannt wurde, zielte im Folgenden mit ihrem Protest vor allem auf den Deutschen Evangelischen Kirchentag, der sich in den 1960er Jahren von einem eher traditionellen Glaubenstreffen zu einer die aktuellen gesellschaftlichen und theologischen Herausforderungen aufnehmenden Veranstaltung gewandelt hatte65. Die Bekenntnisbewegung warnte ihre Anhänger dezidiert vor einer Teilnahme am Kirchentag 1967. Nachdem eine von ,Modernisten‘ wie ,Bekennern‘ beschickte Veranstaltung auf dem Stuttgarter Kirchentag 1969 gescheitert war, wurde 1973 mit dem „Gemeindetag unter dem Wort“ eine konkurrierende Großveranstaltung ins Leben gerufen66. Im Übrigen ergab sich Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre auch ein generationeller Umbruch: Noch in der Zeit der Weimarer Republik – oder gar davor – ausgebildete und in der Bekennenden Kirche exponierte Persönlichkeiten traten aus kirchenleitenden Funktionen zurück: Otto Dibelius, 1945 bis 1966 Bischof, Moritz Mitzenheim, 1945 bis 1970 Landesbischof, Hanns Lilje, 1947 bis 1971 Landesbischof, Niklot Beste, 1946 bis 1971 Landesbischof, Ernst Wilm, 1949 bis 1968 Präses, Gottfried Noth, 1953 bis 1971 Landesbischof, und Joachim Beckmann, 1958 bis 1971 Präses. In Aufnahme der Ergebnisse Pollacks, der den Einschnitt in „der zweiten Hälfte der 1960er Jahre“67 als besonders nachhaltig herausstellte, könnte für die evangelischen Kirchen 1968 zumindest als symbolische Zäsur festgehalten werden. Gegen Oelke, der für einen Wendepunkt 1961 plädierte68, ist herauszustellen, dass im Raum der Kirche gerade 1968 umstürzende Ereignisse kulminierten. Natürlich haben die Umwälzungen im gesellschaftlich-politischen Bereich – auf die hier nicht eingegangen werden muss – einen Vorlauf, doch erst ab 1968 ergaben sich im kirchlichen Bereich in relativ kurzer Zeit massive Änderungen: - Aufgrund der 1968 erlassenen, ,sozialistischen‘ Verfassung der DDR musste im Oktober 1968 die Synode der EKD erstmals getrennt tagen: in einer Regionalsynode West und Ost. 1969 wurde der Einheit der EKD durch die Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR ein Ende gesetzt. 63 64 65 66 67 68
Kirchliches Jahrbuch 99 (1961), 63 f. B-umer / Beyerhaus / Grenzweig, Weg, 38. Vgl. ebd., 274–286. Vgl. Hermle, Die Evangelikalen, 338–341. Pollack, Wandel, 37, 43, 56. Vgl. oben.
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- Im Osten minderte die neue Verfassung von 1968 die Rechte der Kirchen und fixierte die kirchenfeindliche Haltung des SED-Regimes, die durch die Sprengung der Leipziger Universitätskirche am 30. Mai 1968 ein beredtes Symbol erhielt. - Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR im August 1968 stellte die auf dem Boden der DDR ansässigen evangelischen Landeskirchen vor große Herausforderungen; es gelang aufgrund der Blockade des Thüringischen Bischofs Mitzenheim nicht, eine gemeinsame Erklärung zu verabschieden. Vier Landeskirchen äußerten sich daraufhin „auf unterschiedliche Weise gegen den Einmarsch“69. - Im Westen entwickelten sich die Austrittszahlen ab 1968 dramatisch: Traten 1967 noch ca. 44.000 Personen aus den evangelischen Kirchen aus, so schnellte diese Zahl 1968 auf 61.000, 1969 gar auf 112.000 und stieg 1970 nochmals sprunghaft auf 203.000 an70. - Epochal war auch die 1968 in Württemberg durch die Synode beschlossene völlige Gleichstellung von Frauen und Männern im Pfarramt; in den nächsten Jahren wurden entsprechende Bestimmungen in allen Landeskirchen umgesetzt und 1975 verabschiedete die EKD ein nicht mehr geschlechterspezifisches Pfarrgesetz. - Ebenfalls schon vorbereitet, nun aber mit großer Intensität, spielte ab 1968 die Ökumene eine neue, wichtige Rolle in den evangelischen Kirchen. Zum einen mobilisierte die Notlage im Bürgerkrieg um Biafra viele Christinnen und Christen – Landesbischof Lilje bat beispielsweise 1968 die Pfarrer seiner Landeskirche, „sich für eine besondere Hilfsaktion für Biafra einzusetzen“71 –, zum anderen gingen von der in Uppsala tagenden 4. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) wichtige Anregungen für eine Weltzugewandtheit der Kirchen aus. - Die protestantisch-katholischen Beziehungen erfuhren in jenen Jahren signifikante Neuerungen, so wurde zum 1. Advent 1968 ein gemeinsames Vater-Unser eingeführt und eine gegenseitige Anerkennung der Taufe ausgesprochen72. - Auch die gesellschaftlichen Umbrüche jener Jahre spiegelten sich in den evangelischen Kirchen: Eine 1968 gegründete Celler Konferenz wollte „mit Hilfe des kirchlichen Machtapparats“ auf die „Zerschlagung des Kapitalismus“ hinwirken73, in Köln führte ein ökumenischer Arbeitskreis die weit über die Stadt hinaus beachteten Politischen Nachtgebete durch74, und in Synoden oder Gottesdiensten ergriff die rebellierende Jugend das Wort, so Ruthendorf-Przewoski, Frühling, 206; vgl. zum Sachverhalt ebd., bes. 203–212. Vgl. hierzu Hermle, Herausforderungen, 91. Nach ebd., 94. Vgl. Hermle, Herausforderungen, 97 f. – 1971 dann wurde eine ökumenische Fassung des Glaubensbekenntnisses verabschiedet. 73 Ebd., 103 f. 74 Vgl. Cornehl, Sölle.
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beispielsweise bei Synodalsitzungen oder nach dem Attentat auf Rudi Dutschke in Karfreitagsgottesdiensten75. - Die sich im Bereich der Systematischen Theologie vollziehende Ablösung der Dominanz der Wort-Gottes-Theologie zugunsten differierender theologischer Ansätze wurde schon erwähnt; nachgetragen sei noch, dass der Spiritus rector der Dialektischen Theologie, Karl Barth, im Dezember 1968 verstarb.
3.4 Forschungsfelder in Phase 1: 1918 bis 1968 Obwohl sich zwischen 1918 und 1968 keine „grundlegend neue[n] Orientierungs- und Handlungsmuster“ ergaben76, empfiehlt sich – auch aus arbeitsökonomischen Gründen – eine dreifache Untergliederung, wobei die Jahre 1933 und 1945 nicht nur im politisch-gesellschaftlichen Bereich Einschnitte markieren, sondern auch kirchengeschichtlich relevant sind. Die sich in den drei Zeitabschnitten – 1918 bis 1933, 1933 bis 1945 sowie 1945 bis 1968 – ergebenden Forschungsfelder sollen im Folgenden in aller Kürze und im Bewusstsein der damit gegebenen Lückenhaftigkeit umrissen werden. 1. In der Zeit der Weimarer Republik hatten sich die evangelischen Landeskirchen neu zu konstituieren, ihre gewonnene Freiheit musste entfaltet und ihre Position in einem religionsneutralen Staat gesucht werden. Die Konfrontation mit kirchenkritischen, ja zum Teil kirchenfeindlichen Strömungen machte es den Kirchen schwer, sich auf die Bedingungen in einem pluralen Staat einzulassen, zumal viele ihrer Funktionsträger der Monarchie nachtrauerten und einem nationalprotestantischen Denken verhaftet blieben. Die Herausforderung, sich in den demokratischen Strukturen einzufinden und auch theologisch auf die neue Situation zu reagieren, machte es erforderlich, die Zeit der Weimarer Republik nicht nur als eine Vorgeschichte zum Nationalsozialismus zu sehen, sondern als eigenständige Phase zu würdigen. 2. Dass die Jahre 1933 bis 1945 einen besonderen Forschungsgegenstand bilden, steht außer Frage: Erstmals in der deutschen Geschichte versuchte ein Staat, die Kirchen nicht nur gleichzuschalten, sondern sie letztlich zu marginalisieren, ja zu eliminieren. Zudem hatten sich die evangelischen Kirchen der Frage zu stellen, welche Bedeutung das Bekenntnis in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen haben sollte. Mit der Barmer Theologischen Erklärung fanden die drei protestantischen Kirchentypen – lutherisch, reformiert und uniert – erstmals zu einem gemeinsamen Wort. Der von Barth inspirierte, streng christologisch orientierte Text enthielt eine klare Zurückweisung der deutschchristlichen Theologie, die auf eine enge Verzahnung von 75 Vgl. die eindrücklichen Bilder in Kirche aktuell 1968, 34, 43, 70, 72. 76 Nowak, Gesprächsbeitrag, 24.
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Nationalsozialismus und Kirche setzt. Trotz der Sensibilität einiger Weniger versagten die Kirchen, als Juden und Christen jüdischer Herkunft zunächst diffamiert, dann ausgegrenzt, verfolgt und schlussendlich systematisch ermordet wurden; auch im Blick auf die theologische Positionierung gegenüber Israel hatten die Kirchen keine zureichende Orientierung. Im Übrigen ist mit Gause herauszustellen, dass es „die Singularität des gezielten, industriell durchorganisierten Massenmordes“ unmöglich mache, „die kirchliche deutsche Zeitgeschichte als eine unter europäischen und interreligiösen Aspekten mit anderen Ländern völlig vergleichbare zu schreiben“77. 3. Unmittelbar nach Kriegsende – 1945 bis 1968 – hatten sich die evangelischen Kirchen zunächst neu zu organisieren78. Ein zwölfköpfiger Rat sollte die gesamtdeutsch konzipierte EKD leiten. Ihm kam die Aufgabe zu, sich der Schuldfrage zu stellen, da ein Akt der Buße für einen Neubeginn in Deutschland und im Blick auf die Ökumene unerlässlich war. Allerdings unterblieb eine konsequente „Aufarbeitung des Gesamtzusammenhangs von Nationalismus und Kirche sowie Antisemitismus und Kirche“79 in der nötigen systematischen Durchdringung. Zwar markierte die „Stuttgarter Schulderklärung“ einen ersten Schritt, doch das vom Bruderrat der EKD 1947 vorgelegte „Darmstädter Wort“, das konkrete Irrwege der Kirche und deren Verwicklung in den Nationalismus benannte, wurde vielfach zurückgewiesen. Ein „Wort zur Judenfrage“ der Synode der EKD von 1950, das eine Mitschuld der Kirchen „an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist“, bekannte, fand zunächst keine Weiterführung80. Die doppelte Staatsgründung 1949 stellte die EKD, der nach dem Zusammenbruch neben moralisch-ethischen Aufgaben auch solche im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich zugefallen waren, bald vor nicht unerhebliche organisatorische und strukturelle Probleme, da die Konfrontationen des Kalten Krieges auch vor den Kirchen nicht Halt machten. Vor allem hatten sich die in der DDR liegenden Kirchen bald einem enormen Druck des Staates zu erwehren: Ab 1947 wurden Christen aus politisch verantwortlichen Positionen entfernt und die kirchliche Jugendarbeit sollte ausgeschaltet werden; zudem wurden kirchliche Einrichtungen geschlossen und die Kirchen zunehmend aus der Öffentlichkeit gedrängt81. Während im Osten die finanzielle Situation ab den 1950er Jahren immer angespannter wurde, strömten im Westen durch die ,Wirtschaftswunderjahre‘ die Finanzmittel, sodass die Kirchen in Gebäude investieren und ihre Dienste professionalisieren und ausweiten konnten. Durch den Transfer von Mitteln an die Kirchen in der DDR konnten diese trotz 77 Gause, Zeitgeschichte, 23. 78 Vgl. eine ausführliche Ausbreitung zu den in dieser Epoche relevanten Themen in: Oelke, Kirchengeschichte, 178–184. 79 Ebd., 23. 80 Rendtorff / Henrix, Kirchen, 549. 81 Vgl. Albrecht-Birkner, Freiheit.
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der bedrängten Lage ihre Arbeit weitgehend aufrechterhalten82. Die ab 1949 durchgeführten großen Laientreffen, die „Deutschen Evangelischen Kirchentage“, waren bis Anfang der 1960er Jahre eine gesamtdeutsche Veranstaltung, die vor allem glaubensstärkend wirken wollte. Nach dem Mauerbau und mit dem neuen, seit 1964 amtierenden Präsidenten Richard von Weizsäcker änderte sich das Profil grundlegend hin zu einem Forum neuer gottesdienstlicher Modelle und vor allem zu einer Plattform für eine intensive Auseinandersetzung über aktuelle gesellschaftliche Themen, wie z. B. Friedens- oder Ökologiefragen. Vor eine Zerreißprobe sah sich die EKD durch die Debatte um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die Gründung der Nationalen Volksarmee 1956 sowie die Auseinandersetzungen um eine Atombewaffnung der Bundeswehr gestellt. Die EKD-Synode 1958 konnte lediglich festhalten: „Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen und mühen uns um die Überwindung dieser Gegensätze.“83 Der Öffnung hin zur ,„Welt“‘ dienten programmatisch die Evangelischen Akademien, die unmittelbar nach Kriegsende – die Akademie Bad Boll nahm ihren Betrieb am 25. September 1945 auf – eine Stätte des Diskurses bieten und eine Brücke zwischen Kirchen und den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen schlagen wollten. Impulse für aktuelle gesellschaftliche Fragen suchten auch die kirchliche Publizistik sowie die ab 1962 von der EKD erarbeiteten Denkschriften zu geben, wobei die „Ostdenkschrift“ von 1965 herauszuheben wäre. 3.5 Forschungsfelder in Phase 2: 1968 bis (zunächst) 1991 Mit Greschat kann aus pragmatischen Gründen eine „vorläufige Begrenzung auf das Jahr 1989/90“84 – ich würde die Zäsur allerdings 1991 mit der Wiederzusammenführung der Kirchen der EKD und des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) sehen85 – festgelegt werden. Nimmt man den Zeitabschnitt 1968 bis 1991 als eine eigene Phase, so sind eine Reihe von Querschnittsthemen evident: der allmähliche Akzeptanzverlust der Kirchen in der Öffentlichkeit, die sich mehr und mehr ergebende Konkurrenzsituation von Christentum und einem weiten Spektrum anderer Weltanschauungen sowie ein – sich angesichts zunehmend manifestierender Individualisierungstendenzen – eklatanter Verlust an Präge- und Bindekraft des institutionell verfassten Christentums. Der tiefe Wandel wird in verschiedenen Bereichen greifbar: 82 83 84 85
Vgl. Hauschild, Kirche, 64–66. Nach Greschat, Protestantismus, 70. Ders., Zeitgeschichte, 38. Am 24. Februar 1991 wurde ein „Kirchengesetz der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Regelung von Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland“ von beiden Synoden mit großer Mehrheit verabschiedet (Amtsblatt der EKD 1991, 89).
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1. Die Kirchen stellten sich der Diskussion um die Friedenspolitik: Die Einführung des Pflichtfaches „Wehrerziehung“ an DDR-Schulen 1978 und der sogenannte NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 stießen in weiten kirchlichen Kreisen auf Widerstand. Großdemonstrationen im Westen unter maßgeblicher Beteiligung von Christinnen und Christen sowie Aktivitäten unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ im Osten beförderten friedensethische Diskussionen und waren Teil eines Politisierungsschubs86, der die Kirchen nachhaltig prägte. Auch die Kirchentage nahmen sich der friedenspolitischen Frage an und schufen mit dem ,lila Tuch‘, das den 20. Kirchentag in Hannover 1983 bestimmte, ein markantes Symbol für diese Öffnung zu gesellschaftlich-politisch drängenden Problemen. 2. Anspruchsvoll gestaltete sich das Miteinander der evangelischen Kirchen in Ost und West. Kirchenpartnerschaften suchten die Spaltung zu überwinden und speziellen Gremien der „besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland“ Raum zu geben87. Währenddessen sahen sich die Kirchen auf dem Gebiet der DDR vor die Frage gestellt, wie sie sich einem sozialistischen Staat gegenüber positionieren sollten. Die viel diskutierte Formel von der „Kirche im Sozialismus“ wurde 1971 in Anlehnung an das Diktum der „Kirche für andere“ des Theologen Dietrich Bonhoeffer von der Bundessynode formuliert. 3. Massive Auseinandersetzungen bewirkte in den Kirchen der Bundesrepublik ein im Sommer 1968 vom ÖRK beschlossenes Programm zur Bekämpfung des Rassismus, das in einem Sonderfonds auch Mittel für Gruppen bewilligen wollte, die Gewalt nicht ausschlossen88. Durch die Diskussion, ob Kirchensteuermittel für den Sonderfonds verwendet werden dürften, wurde in den westdeutschen Landeskirchen die Polarisierung zwischen konservativen und progressiven Kirchenmitgliedern befördert. 4. Die Ablehnung einer als vorgeblich unbiblisch und politisch linksstehenden Ökumene verhinderte letztlich 1974 die Annahme einer neuen EKDGrundordnung89. Überhaupt brachten die 1970er und 80er Jahre neben einer Pluralisierung im gesamtgesellschaftlichen Horizont auch eine breite Auffächerung innerhalb des Protestantismus: Evangelikale Organisationen beispielsweise schufen in zahlreichen kirchlichen Arbeitsfeldern Parallelorganisationen. 5. Die europäische Dimension Kirchlicher Zeitgeschichte rückt durch die 1973 verabschiedete Leuenberger Konkordie neu ins Blickfeld. In ihr stellten lutherische, reformierte und aus ihnen hervorgegangene unierte Kirchen ihre gemeinsamen Bekenntnisgrundlagen fest; besonders folgewirksam war die 86 Vgl. die Beiträge in Fitschen, Politisierung. 87 So die für den SED-Staat durchaus provokante Formulierung in Art. 4,4 der Ordnung des Bundes der evangelischen Kirche in der DDR (Kirchliches Jahrbuch 96 [1969], 257). 88 Vgl. Beckmann, Anti-Rassismus Programm. 89 Vgl. Hermle, Herausforderungen, 99.
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Erklärung, dass die gegenseitigen, in den reformatorischen Bekenntnisschriften beispielsweise im Blick auf das Verständnis des Abendmahls vorgenommenen Verwerfungen heute nicht mehr zutreffen. Nach der Adaption dieses Textes durch die Landeskirchen wurde 1984 die Grundordnung der EKD dahingehend geändert, dass nunmehr – so Art. 4.3 – formuliert werden konnte: „Es besteht Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft.“90 6. Auch im organisatorischen Bereich ergaben sich Veränderungen: 1977 wurde die Nordkirche gegründet, ein Zusammenschluss von bislang vier selbständigen Kirchen, nämlich Lübeck, Hamburg, Eutin und SchleswigHolstein. 7. Einen Paradigmenwechsel brachte der vermehrte Einzug von Frauen ins Pfarramt und das sich wandelnde Selbstverständnis der Pfarrfamilien mit sich91. 8. Ab Mitte der 1970er Jahre wurden – endlich – Konsequenzen aus dem totalen Versagen der Kirchen angesichts der Judenverfolgung und -vernichtung in der NS-Zeit mit neuer Dynamik diskutiert. Durch einen Beschluss der Rheinischen Landessynode von 1965 angeregt, richtete die EKD zwei Jahre später eine Studienkommission ein, deren 1975 vorgelegte Studie „Christen und Juden I“ den Christen in Deutschland „eine Orientierungshilfe für die Besinnung über ihr Verhältnis zu den Juden geben“ wollte92. Unter den zahlreichen Landeskirchen, die diesen Impuls aufnahmen, ist die Rheinische Landeskirche hervorzuheben, die in einem Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ vom 11. Januar 1980 ganz konkrete theologische und praktische Folgerungen formulierte. 9. Auf den öffentlichen Diskurs suchte die Evangelische Kirche durch eine Reihe von Denkschriften einzuwirken. So wurde 1985 durch „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ ein eindeutiges Bekenntnis zum demokratischen Staat abgegeben, 1988 bemühte sich die Schrift „Das Leben achten“, Maßstäbe für Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin zu formulieren, und 1991 bot die Denkschrift „Verantwortung für ein soziales Europa“ Impulse in der Debatte um eine verantwortliche soziale Ordnung im Horizont des europäischen Einigungsprozesses. 3.6 Ein Ende der Kirchlichen Zeitgeschichte? Die Kirchliche Zeitgeschichte ist bis in die unmittelbare Gegenwart hinein offen, da sich Geschichte immer weiterentwickelt und entfaltet. Die von Greschat aus pragmatischen Gründen vorgeschlagene „vorläufige Begrenzung auf 90 Nach: https://www.kirchenrecht-ekd.de/document/3435#s1.100007 [13. 3. 2020]; vgl. auch Hauschild, Kirche, 56 f. 91 Vgl. ebd., 66–68. 92 Vgl. Christen und Juden, 15–52; Zitat: ebd., 12.
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das Jahr 1989/90“ ist angesichts der nach dieser Zäsur greifbaren, äußerst dynamischen und umwälzenden Entwicklung zu relativieren. Die Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Ende der Sowjetunion sind für die Kirchliche Zeitgeschichte wie ein offenes Fenster, brachten diese doch nicht – wie kurzzeitig erhofft – eine Stabilisierung und Befriedung der politischen und gesellschaftlichen Lage, sondern zahllose Konflikte, in denen die Kategorie „Religion“ eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte – und spielt. Aber auch innerhalb der Kirchen ergaben sich völlig neue Herausforderungen – wie die Missbrauchsskandale –, die intensive kirchenhistorische Forschungen auch nach dem von Greschat markierten Einschnitt jetzt schon unabdingbar machen. So bleibt es bis in die Gegenwart hinein Aufgabe der Kirchlichen Zeitgeschichte, den Ursachen und Folgen des ab den 1960er Jahren zunehmend greifbareren „umfassende[n] Traditionsabbruch[s]“93 nachzugehen und zu klären, ob, inwieweit und ab wann dieser in den verfassten Kirchen Auswirkungen zeigte. Es ist danach zu fragen, was verloren ging, aber auch, welche neuen Chancen eröffnet wurden.
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II. Forschungsgegenstände der Kirchlichen Zeitgeschichte
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Forschungsgegenstände der Kirchlichen Zeitgeschichte aus evangelischer Perspektive
„Zeitgeschichte ist ein schönes Wort, aber ein schwieriger Begriff“, so hat der Historiker Reinhart Koselleck einmal das definitorische Problem des historiographischen Leitbegriffs „Zeitgeschichte“ auf den Punkt gebracht1. Noch schwieriger liegt der Fall, wenn man der Zeitgeschichte das vieldeutige Attribut „kirchlich“ voranstellt, das seinerseits eine begriffliche Bestimmung verlangt. Insbesondere wenn man in Rechnung stellt, dass der Begriff „kirchlich“ unter konfessionellen Gesichtspunkten eine mindestens zweifache Perspektive auf die Kirchliche Zeitgeschichte ermöglicht. Bei der im Folgenden angestrebten Bestimmung der Forschungsgegenstände wird auftragsgemäß eine evangelische Sicht eingenommen und versucht, das entsprechend spezifische „kirchliche“ Forschungsprofil in seiner Genese und Entwicklung thematisch zu beschreiben. Auch das evangelische Verständnis der Kirchlichen Zeitgeschichte ist ungeachtet aller protestantischen Entkirchlichungstendenzen mit dem verknüpft, was als Kirche verstanden werden soll. Die Agenda der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung ist insofern immer auch das Ergebnis der Aufgaben und Herausforderungen, denen sich die evangelische Kirche, deren Christenmenschen oder – semantisch weiträumiger – der Protestantismus jeweils zu einer bestimmten Zeit zu stellen hat. Daraus ergibt sich, dass die Forschungsgegenstände kontextuell eingebunden in einer prozessualen Entwicklung stehen. Das überrascht für sich genommen kaum, gleichwohl verlangt es in der methodischen Umsetzung ein zeitlich differenziertes Vorgehen. Dem soll nachfolgend Rechnung getragen werden, indem die Forschungsgegenstände als Entwicklung in drei Phasen erfasst und dargestellt werden sollen. Dabei werden drei Aspekte zu beachten sein: 1. Der historische Kontext, d. h. die jeweilige Präsentationsform der evangelischen Kirche sowie deren protestantischen Umfeldes und die zeitbedingten Herausforderungen, denen sie sich zu stellen hatten und die auch das Erkenntnisinteresse der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung bedingen, muss jeweils zumindest mitbedacht werden. 2. Zumindest kurz müssen auch die Akteure kirchlicher Zeitgeschichtsforschung berücksichtigt werden, denn ihre Interessen, Perspektiven und Methoden bestimmen die Auswahl der Forschungsgegenstände. 1 Koselleck, Anmerkungen, 25.
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3. Schließlich sind die Forschungsgegenstände selbst zu betrachten und hinsichtlich ihres Aufschlusses über die Kirchliche Zeitgeschichte analytisch zu befragen2.
1. Der Kirchenkampf als Forschungsgegenstand der ,Kirchenkampfkommission‘ (1955–1970) Die Etablierung der historischen Disziplin Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die Gründung des „Deutschen Instituts für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit“ (heute Institut für Zeitgeschichte/ IfZ)3 im Jahr 1949, bildet den kontextuellen Rahmen, in den hinein auch die Anfänge der evangelischen kirchlichen Zeitgeschichtsforschung gehören. Nach ersten vergangenheitsbedingt erschwerten Versuchen nahm diese 1955 mit der Gründung der „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes“ im Protestantismus Gestalt an. Zwei Motive verbinden sich mit diesen Anfängen, ein kirchliches und ein politisches: Zu den Erblasten aus der NS-Zeit gehörte nach 1945 für die sich neu formierende evangelische Kirche das disparate Auftreten des Protestantismus in den Jahren der NS-Herrschaft. Die unterschiedlichen Lager der Bekennenden Kirche (BK) – kompromisslosere Bruderräte versus pragmatischere Lutheraner – belasteten auch die frühen evangelischen Bemühungen um die historische Aufarbeitung der NS-Zeit. Der in evangelischen Kreisen schon lange vor 1945 angedachten Einrichtung einer historischen Arbeitsgemeinschaft unter dem Dach der Kirche kam die Idee aus dem Kirchenamt der EKD, eine sogenannte Kirchenkampfkommission einzusetzen, sehr entgegen4. Bewegung kam aber erst in die Angelegenheit, als aus der CDU-Fraktion des Bundestags Interesse an deren Umsetzung gezeigt wurde und dann aus dem Bundesinnenministerium Geld zur Finanzierung einer Mitarbeiterposition bereitgestellt wurde5. 2 Als Grundlage der Untersuchung gelten neben Archivmaterial drei einschlägige Publikationsreihen sowie eine Fachzeitschrift, vgl. dazu die Nachweise in den folgenden Abschnitten 1.–3. 3 Vgl. Institut fer Zeitgeschichte, 25 Jahre, 30–34 (https://www.ifz-muenchen.de/no_cache/ das-institut/ueber-das institut/geschichte/print/ja/print.html, 1f.). 4 Kaiser, Wissenschaftspolitik, 134–140. 5 Vgl. Schreiben Heinz Brunotte an Kurt-Dietrich Schmidt vom 21. 4. 1955, es handelte sich danach um jährlich 15.000 DM (ArchEvAKiZ Menchen, C 2.1). Kaiser weist daraufhin, dass eigentlich für beide Konfessionen jeweils ein Mitarbeiter angedacht war, die beide unter dem Dach des IfZ in anderthalb bis zwei Jahren jeweils eine überinstitutionelle Geschichte der Kirche in der NS-Zeit verfassen sollten. Als das IfZ erkannte, wie schwierig die kirchenpolitischen Zusammenhänge in der NS-Zeit sich im Einzelnen gestalteten, nahm es Abstand von dem Projekt und die Kirchen waren jeweils auf sich allein gestellt. Als die katholische Seite dann mit dem Leiter des Katholischen Bildungswerks in Berlin Bernhard Stasiewski einen profunden Kirchenhistoriker für die Aufgabe in den Blick nahm, setzte das scheinbar die evangelische Seite unter Druck, nachzuziehen, und der Vorgang geriet in Bewegung, vgl. Kaiser, Wissenschaftspolitik, 142, 146 f.
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Auf politischer Seite versprach man sich von einer Aufarbeitung der Geschichte der Kirche in totalitärer Herrschaft inklusive mutmaßlich resistenter kirchlicher Verhaltensweisen einen wirkungsvollen Beitrag für die politische Bildung im jungen demokratischen Deutschland6. Nicht nur das IfZ in München7, sondern auch die neue Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes folgte damit u. a. politischen Interessen. Diese im genauen Wortlaut heißende „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit“ war unter dieser programmatischen Bezeichnung bis 1971 tätig. Sie agierte unter ihrem Vorsitzenden Kurt-Dietrich Schmidt, später Ernst Wolf, als eine vom Rat der EKD eingesetzte rechtlich unselbständige Kommission; soweit das die Protokolle zu erkennen geben tat sie dies trotz der satzungsgemäßen Vertretung der EKD durch den Präsidenten des Kirchenamtes (Heinz Brunotte) sowie eines Vertreters der Kirchenkanzlei in wissenschaftlicher Selbstständigkeit. Gleichwohl waren auf diese Weise die Anfänge der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung fortan von der vital agierenden Kommission bestimmt und damit zumindest indirekt kirchlich-institutionell mitgeprägt. An den Universitätsfakultäten indes entwickelte sich die kirchengeschichtliche Teildisziplin – anders als in der allgemeinen Zeitgeschichtsforschung – nur zögerlich und insgesamt uneinheitlich8. Für die Kirche war die Aufarbeitung ihrer Geschichte in der NS-Zeit, die schon vor 1945 explizit als „Kirchenkampf“ verstanden wurde, herausfordernd. Das lag an der Komplexität des Kirchenkampfbegriffs, denn er hatte während der NS-Zeit eine dreifache Bedeutung gewonnen9. Der Kirchenkampf bezog sich einmal auf die innerprotestantische Auseinandersetzung zwischen BK und Deutschen Christen (DC), zum zweiten ging es um die kritische Haltung der BK gegenüber der zunehmend antichristlichen Religionspolitik des NS-Staates und drittens meinte der Begriff die kirchliche Zurückweisung des sogenannten Neuheidentums. Diese drei Aspekte des Kirchenkampfgeschehens markierten nach 1945 auch die Gegenstände der evangelischen kirchengeschichtlichen Forschung zu dieser Phase. Dabei war wichtig, dass die traditionell landeskirchlich organisierte evangelische Kirche stets ein starkes territorialkirchengeschichtliches Interesse hatte. Die Forschungsobjekte der Kirchengeschichtsschreibung dieser Zeit waren entsprechend häufig
6 Vgl. ebd., 140–144. 7 Vgl. dazu die Beiträge in: Institut fer Zeitgeschichte, 25 Jahre; zudem Mçller / Wengst, 60 Jahre. 8 Den Anfang machte Kurt-Dietrich Schmidt in Hamburg; in Berlin war Günter Harder und in Leipzig Kurt Meier tätig. Seit 1980 wirkte Klaus Scholder in Tübingen, gefolgt von Joachim Mehlhausen; in Gießen wirkte Martin Greschat, nach 1992/94 in Heidelberg neben Jörg Thierfelder auch Gerhard Besier sowie Jochen-Christoph Kaiser in Marburg, vgl. dazu Hauschild, Zeitgeschichte, 557. 9 Vgl. Oelke / Brechenmacher, Kirchenkampf, 772–774.
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landeskirchlich motiviert und ausgerichtet, dabei getragen von kirchenpolitischen Intentionen, die theologisch gesichert wurden. Einvernehmen herrschte in der Kommission über die Ziele dieser Forschungsbemühungen: die bibliografische Erfassung der Literatur und der Archivalien aus dem Kirchenkampf10, die Erarbeitung landeskirchlicher Darstellungen und schließlich die Sicherung von Zeitzeugenaussagen. Auf dieser Grundlage strebte man als „Endziel“ eine „umfassende Darstellung der Geschichte des Kirchenkampfes“ an11. Bezeichnend für diese frühen Bemühungen um die Kirchliche Zeitgeschichte in Gestalt der Kirchenkampfforschung war eine gewisse konzeptionelle Sorglosigkeit, auch methodische Überlegungen spielten keine bedeutende Rolle; die Protokolle und Unterlagen der Kommission geben dazu so gut wie gar nichts zu erkennen12. In der ,Kirchenkampfkommission‘ liefen die diversen wissenschaftlichen evangelischen kirchenhistorischen Arbeiten zum Kirchenkampfgeschehen zusammen. Mit der wissenschaftlichen Reihe „Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes“ (AGK) hatte man sich eine einflussreiche Publikationsmöglichkeit geschaffen. Unter forschungsstrategischen Gesichtspunkten erwies sich die Reihe als ein wirkmächtiges Medium, das der Kommission eine steuernde Funktion verschaffte. Indem die Kommission über die Aufnahme von – teilweise erbetenen – Manuskripten in die Reihe befand, beeinflusste sie die Agenda der Forschungsgegenstände der Kirchengeschichte im deutschen Sprachraum maßgeblich. In dem Zeitraum von 1955 bis zur Umbenennung der Kommission 1971 erschienen in der AGK-Reihe mitsamt Ergänzungsreihe 30 Bände13, überwiegend Monographien. Sie teilen sich inhaltlich wie folgt auf: - zwölf Bände (40 %) haben den innerprotestantischen Kirchenkampf mit einem landeskirchlichen Bezug zum Thema, - elf Bände (37 %) behandeln allgemeine Themen des Kirchenkampfes (überregional), - sieben Bände (23 %) beziehen sich auf Bekenntnissynoden der BK. Der hohe Anteil der Publikationen mit lokalen Bezügen spiegelt das starke Interesse der einzelnen Landeskirchen an einer Selbstvergewisserung über die 10 Vgl. Diehn, Bibliographie. 11 Protokoll der Kommissionssitzung vom 13. 10. 1955 (ArchEvAKiZ, C 2.1). 12 Vgl. die Protokolle der ersten Sitzungen (ArchEvAKiZ Menchen, C 2.1); ähnlich Hauschild, Zeitgeschichte, 558. 13 In der AGK-Reihe erschienen bis 1970 insgesamt 24 Bände, davon eine Bibliographie, die nachfolgend nicht mit in die Berechnungen einbezogen wird. Seit 1964 wurde wegen der Fülle bei der Kommission eingehender Manuskripte eine Ergänzungsreihe zur AGK eingerichtet, deren bis 1970 erschienene 7 Bände nachfolgend mitberechnet werden, sodass hier insgesamt 30 Bände beider Reihen zugrunde gelegt werden, vgl. die Zusammenstellungen auf https://www. kirchliche-zeitgeschichte.info/publikationen/kirchenkampf.html und https://www.kirchlichezeitgeschichte.info/publikationen/kirchenkampf_ergaenzungsreihe.html.
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eigene Identität in der NS-Zeit, vielfach geht es um die historiographische Legitimierung der eigenen Landeskirche als Repräsentantin der ,wahren‘ Kirche im Nationalsozialismus14. Ein Blick auf die im Einzelnen verhandelten Themen zum Kirchenkampf zeigt, dass der in der NS-Zeit umstrittene Begriff der „Kirche“ und die ihm immanenten kirchenpolitischen, kirchenrechtlichen sowie theologischen Fragen zur Gültigkeit der BK und des Pfarrereids im Mittelpunkt standen15. Diese Arbeiten markieren die im Nachkriegsprotestantismus als dringend empfundene Aufgabe einer nachträglichen Legitimation der Bekennenden Kirche. Die starke Thematisierung der Bekenntnissynoden kennzeichnet schließlich deren herausragende identitätsstiftende Bedeutung im Kirchenkampf, vornehmlich für die Unionskirchen. Für diese erste Phase der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung lässt sich festhalten, dass sie als Kirchenkampfforschung gestaltet wurde, wobei beide Begriffe sich als Synonym verwenden ließen. Die Kirchenkampfkommission war deren institutioneller Akteur, mehr oder weniger mit einem Alleinvertretungsanspruch.
2. Aufbruch zu neuen Ufern: Kirchliche Zeitgeschichtsforschung und die erweiterte thematische Perspektive (1970–1987) Der gesellschaftliche Umbruch, der in den 1960er Jahren das politische und gesellschaftliche Leben in Deutschland gravierend veränderte, berührte schnell auch den Bereich der evangelischen Kirche. Für den Protestantismus hat man den eintretenden Wandel als einen kirchlichen Reflex auf den gesellschaftlichen Umbruch mit der triadischen Formel von der Politisierung – Polarisierung – Pluralisierung signifikant zum Ausdruck gebracht16. Der gesellschaftliche Umbruch setzte einen historiographischen Paradigmenwechsel frei, der spätestens 1970 auch die evangelische kirchliche Zeitgeschichtsforschung erreichte, deren Forschungsgegenstände bis dahin immer noch überwiegend von einer Kirchenkampf-Agenda gekennzeichnet waren. Die allgemeinhistorische Zeitgeschichtsforschung veränderte ihre Fragestellungen und Methoden, man öffnete sich gegenüber neuen wissenschaftlichen Kooperationen. Empirische Analysen und sozialwissenschaftliche Fragestellungen sowie die Mentalitäts- und Alltagsgeschichte bedingten eine Neuorientierung in der zeitgeschichtlichen Forschung17. Auch die Kirchenkampf14 15 16 17
Vgl. dazu auch Hauschild, Zeitgeschichte, 558. Vgl. beispielsweise Gerlach-Praetorius, Kirche; Luther, Notrecht. Vgl. Oelke, Kirchengeschichte, 188–191. Martin Broszats Arbeiten historisierten den Nationalsozialismus und rückten schließlich in den 1970er Jahren die Alltagsgeschichte der NS-Zeit in den Fokus der Forschung, vgl. dessen Bei-
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kommission wurde von diesen Wandlungsprozessen erreicht. Das Kirchenkampfgeschehen war unter territorialen und thematischen Gesichtspunkten inzwischen ausgiebig beforscht. Die angestrebte Gesamtdarstellung zum Kirchenkampf war innerhalb der Kommission zwar nicht zustande gekommen, aber extern wurde eigeninitiativ von den Kirchenhistorikern Klaus Scholder in Tübingen und Kurt Meier in Leipzig intensiv daran gearbeitet und Mitte der 1970er Jahre dann jeweils publiziert18. Mit diesen profunden Darstellungen konnte die Kirchenkampfforschung als weitgehend abgeschlossen gelten. Die Kirchenkampfkommission registrierte den Wandel und reagierte schnell. Bereits in der Kommissionssitzung im November 1969 beschloss man, ohne dass dazu eine grundlegende Debatte in den Protokollen erkennbar wäre, den Rat der EKD zu ersuchen, die Kirchenkampfkommission in „Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte“ (EvAKiZ) umzubenennen19. Als Grund für die Umbenennung wurde in schlichter Weise ein zeitliches und ein generationelles Argument geltend gemacht: Die Kommissionsarbeit habe gezeigt, dass die Forschung sich in angemessener Weise inzwischen über den Kirchenkampf hinaus auch auf die Zeit vor und nach der NS-Herrschaft beziehen müsse; aus diesem Grund sei es auch angebracht, die Kommission „durch jüngere Mitglieder zu ergänzen“20. Konkret erweiterte sich der Untersuchungszeitraum auf die Jahre der Weimarer Republik21 sowie auf die Phase nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In der gewählten Begrifflichkeit folgte man scheinbar dem allgemeinhistorischen Vorbild („Zeitgeschichte“), möglicherweise fühlte man sich auch durch die adäquate Nomenklatur der katholischen Kommission inspiriert22. Bereits in der folgenden Sitzung der Kommission im Dezember 1970 berichtete der Vorsitzende Ernst Wolf, dass der Rat der EKD der Umbenennung zugestimmt (ab 1971 rechtsgültig) und zunächst den Kirchenhistoriker Klaus Scholder als neues Mitglied in die Arbeitsgemeinschaft berufen habe; später
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träge aus den 1960er Jahren, insbesondere Broszat, Nationalsozialismus; zur Alltagsgeschichte v. a. ders., Bayern. Vgl. Scholder, Kirchen; Meier, Kirchenkampf. Protokoll der Kommissionssitzung vom 1./2. November 1969, 1 f. (ArchEvAKiZ Menchen, C 2.1). Ebd. Der neue Name war kein Zufallsprodukt: „Arbeitsgemeinschaft“ orientierte sich an der bereits bestehenden Arbeitsgemeinschaft der Archive und Bibliotheken, „Zeitgeschichte“ folgte scheinbar einer Benennung des Kirchlichen Jahrbuchs, in dem im Gegensatz zur Kirchenkunde der Gegenwart („kirchliche Zeitlage“) die Überschrift „kirchliche Zeitgeschichte“ für jene Beiträge gesetzt war, die sich auf die Vorgeschichte der im Kirchlichen Jahrbuch behandelten Gegenwart bezogen, vgl. Hauschild, Zeitgeschichte, 557. Für die bis heute im evangelischen Forschungskontext weithin geltende zeitliche Fixierung (mit H. Rothfels) der unteren periodologischen Grenze Kirchlicher Zeitgeschichte mit dem Ende des Ersten Weltkriegs kam dieser, mit dem Periodisierungskonzept Scholders kongruenten Ausweitung des Forschungsfeldes eine nachhaltige Bedeutung zu. Vgl. Hauschild, Zeitgeschichte, 558.
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sollten u. a. noch der Theologe Eberhard Bethge, der Systematische Theologe Trutz Rendtorff und der Historiker Rudolf von Thadden folgen. Die mit Zeitzeugen und inzwischen in die Jahre gekommenen Kirchenhistorikern besetzte Kirchenkampfkommission hatte sich damit in eine Arbeitsgemeinschaft gewandelt, in der nunmehr eine jüngere professorale Generation mit ihrer frischen Expertise die Themen und das methodische Arbeiten bestimmte23. Die Änderung des Namens hatte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zur Folge, dass auch die Publikationsreihe der einstigen Kirchenkampfkommission eine neue Bezeichnung benötigte. 1975 erschien der erste Band der „Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte“ (AKIZ), in der mehrheitlich Monographien, gelegentlich auch Aufsatzsammlungen erschienen (B-Reihe). Dazu gesellte sich seit 1985 eine A-Reihe mit zeitgeschichtlichen Quellen. Die gewichtige Publikationsreihe der EvAKiZ blieb in dieser Phase der maßgebliche wissenschaftspublizistische Indikator für die Agenda kirchlich-zeitgeschichtlicher Forschungstätigkeit. Die sich vollziehende Perspektivöffnung in der Kirchengeschichtsschreibung zur jüngsten Zeit zeigt ein Blick auf die behandelten Themen der neuen Reihe. Das Thema „Kirchenkampf“ fand hier nur noch im ersten Band einen Platz, danach hatte sich der neue Kurs durchgesetzt24. Das Forschungsprofil der AKIZ-Reihe zeigte im Vergleich mit den Publikationen der Vorgängerreihe (AGK) umgehend neue, innovative Züge: Gleich mit dem zweiten Band, mit Jonathan R. C. Wrights Buch „Über den Parteien“ ging erstmals ein Titel in den Druck, der sich auf die Zeit der Weimarer Republik bezog. Das Buch bot eine weitere Neuerung: es war der erste ausländische Titel, der in deutscher Übersetzung der Leserschaft vorgelegt wurde25. Der Titel markiert damit die Öffnung der Periodisierungsgrenze der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung und lässt eine erste, wenngleich noch zaghafte Öffnung der deutschen Forschungslandschaft zur internationalen zeitgeschichtlichen Community erkennen. 23 Das Protokoll der Sitzung macht den frischen Wind in dem Gremium praktisch spürbar, wenn z. B. vermerkt wird, dass Rudolf von Thadden und Trutz Rendtorff sogleich über Seminarerfahrungen mit zeitgeschichtlichen Fragestellungen berichten, die beiden so dann der Kommission die Funktion der Zeitgeschichtsforschung erläutern und auf die Möglichkeit verweisen, diese „mit religions- und wissenschaftssoziologischen Fragestellungen zu verbinden“, vgl. das Protokoll der Kommissionssitzung vom 16. 12. 1972 (ArchEvAKiZ Menchen, C 2.1). Der vollzogene Generationswechsel wird auch daran deutlich, dass in der Sitzung der EvAKiZ am 18./29. 3. 1973 der Vorsitzende Kretschmar feststellt, dass Mitglieder, die altersbedingt nicht mehr zu den Sitzungen kommen können, weiterhin eingeladen und mit Informationen versehen werden, vgl. das Protokoll der Kommissionssitzung vom 18./19. 3. 1973 (ArchEvAKiZ Menchen, C 2.1). 24 Vgl. Thierfelder, Einigungswerk. Das Buch verfolgt bereits einen neuen, institutionsgeschichtlichen Ansatz und unterscheidet sich signifikant von der territorialgeschichtlichen Rekonstruktion des Kirchenkampfgeschehens früherer Jahre, noch stärker ausgeprägt bei einzelnen später folgenden Veröffentlichungen der AKIZ-Reihe, vgl. v. a. Melzer, Vertrauensrat; Siegele-Wenschkewitz / Nicolaisen, Fakultäten. 25 Vgl. Wright, Parteien.
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Dem Buch folgte noch im gleichen Jahr 1977 ein Aufsatzband vom vormaligen Präsidenten des Kirchenamtes Heinz Brunotte, der gemäß Untertitel „Aufsätze zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ bot und damit erstmals den Terminus „Kirchliche Zeitgeschichte“ als Periodisierungsattribut im Titel einer Reihenpublikation der Arbeitsgemeinschaft trug26. Es folgte im direkten Anschluss 1978 Johanna Vogels Band „Kirche und Wiederbewaffnung“. Dabei handelte sich um den ersten Titel, der sich explizit auf ein Thema jenseits der Epochengrenze von 1945 bezog. Damit war das für die Kirchliche Zeitgeschichte geltende Zeitraster der EvAKiZ zur Nachkriegszeit hin geöffnet. Nach 20 Jahren Publikationsgeschichte der Kommission bzw. Arbeitsgemeinschaft lag zudem erstmals ein Buch von einer Wissenschaftlerin vor27. Im Folgenden befasste sich mit Martin N. Drehers Studie „Kirche und Deutschtum in der Entwicklung der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien“ erstmals ein Buch der AKIZ-Reihe mit einer kirchlichen Problematik außerhalb Deutschlands. Der Band markierte die Öffnung der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung zur globalen Christentumsgeschichte, wenngleich noch aus dem verengten Blickwinkel einer nationalen, deutschen Kirchengeschichtsschreibung28. Insgesamt war die neue Reihe von Anfang an ein Ausdruck des veränderten Anspruchs der Arbeitsgemeinschaft, nicht weiter den Kirchenkampf zu bearbeiten, sondern kirchliche Zeitgeschichtsforschung betreiben zu wollen. Der zeitliche Horizont der Forschungsgegenstände öffnete sich in die Weimarer Jahre einerseits und in die Nachkriegszeit anderseits, und erste Ansätze einer internationalen Öffnung bei Themen und Autor*innen zeichneten sich ab. In der A-Reihe mit Quellenpublikationen blieb die NS-Zeit allerdings weiter präsent. Das Hauptaugenmerk lag auf der Publikation der „Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches“. Es war ein die Forschungsepochen übergreifendes Projekt, der abschließende Band VI erschien schließlich 201729. Nach wie vor liefen in dieser Phase in der Arbeitsgemeinschaft die Fäden der evangelischen kirchlichen Zeitgeschichtsforschung zusammen. Viele der wissenschaftlichen Protagonist*innen waren Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft oder publizierten zumindest ihre Studien in der AKIZ-Reihe. Die Forschungsgegenstände änderten sich mit dem sich öffnenden zeitlichen Horizont der Allgemeinhistoriographie. Die ursprüngliche Intention der Aufarbeitung der evangelischen Kirchengeschichte in der NS-Zeit wurde zeitlich nach unten und vor allem oben transzendiert, ohne dass scheinbar ein 26 27 28 29
Vgl. Brunotte, Bekenntnis. Vgl. Vogel, Kirche. Vgl. Dreher, Kirche. Vgl. Grenzinger, Dokumente. Die insgesamt sechs Bände erschienen im Zeitraum von 1971 bis 2017, vgl. unter https://www.kirchliche-zeitgeschichte.info/publikationen/andere.html.
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ausgeprägtes wissenschaftstheoretisches Problembewusstsein für diesen Wandlungsvorgang erkennbar gewesen wäre. Die beschriebene inhaltliche und zeitliche Öffnung vollzog sich mit großer Dynamik, aber wie schon in der vorausgegangenen Kirchenkampfforschung ohne ein konzeptionelles Programm; es waren vielfach publizistische Einzelinitiativen, die als Ergebnisse ohne einen programmatischen Zusammenhang vorgelegt wurden30.
3. Pluralisierung von Akteuren und Themen (1988–2000) Die 1980er Jahre führten dazu, dass junge Theolog*innen, die in den bewegten 1960er und 70er Jahren studiert hatten, in die Pfarrämter einzogen und auch an den Universitäten leitende Positionen übernahmen31. Jetzt verfestigte sich der seit den 1960er Jahren eingeleitete Transformationsprozess im Protestantismus zu kirchlichen und akademischen Strukturen. Der vormals euphorisch vorgetragene Weltveränderungsoptimismus der 1968er Generation erhielt einen pragmatischen Zug, der auch im Bereich der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung Wirkung zeigte. Es setzte eine diskursive Phase der fachwissenschaftlichen Reflexion über die vor allem evangelisch verantwortete kirchliche Zeitgeschichtsschreibung ein. Bis zum Ende der 1990er Jahre32 nahm die Zahl der Akteure erheblich zu und es kam zu einer methodischen und mehr noch inhaltlichen Differenzierung der Kirchlichen Zeitgeschichte, von der nun die Rede sein soll. Es überrascht kaum, dass der sich ändernde gesellschaftliche Stellenwert der Kirchen einen Reflex in dem Diskurs über den Gegenstand kirchlicher Zeitgeschichtsschreibung nach sich zog. Er war der Ausdruck eines wissenschaftlichen Pluralisierungsprozesses, in dem nunmehr nicht länger die Arbeitsgemeinschaft allein, sondern besonders seit 1988 verschiedene Akteure die Deutungshoheit über Themen und methodisches Vorgehen der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung beanspruchten. Dieser Diskurs wurde zusätzlich inspiriert durch die von der deutschdeutschen Wiedervereinigung ausgelösten Dynamik. Der politische Umsturz 30 Zur Forschungslage am Ende der 1990er Jahre vgl. den mächtigen Forschungsbericht Meier, Literatur. Neben einem methodischen Block teilt Meier das Forschungsfeld in fünf Inhaltsbereiche: (1) Weimarer Republik, (2) Drittes Reich, (3) Theologische Fakultäten, (4) DDR, (5) Diktaturen und Systemvergleich; vgl. auch den wertvollen bikonfessionellen Literaturbericht Schneider / Seiler, Aspekte. 31 Vgl. Hauschild, Kirche, 62 u. ö.; Oelke, Kirchengeschichte, 188–191. 32 Die Zäsur um das Jahr 2000 scheint evident: die durch die deutsch-deutsche Wiedervereinigung zuvor neu formierte Forschungslandschaft der Kirchlichen Zeitgeschichte hatte sich etabliert, die bis dahin publizistisch ausgetragene Diskussion über das fachwissenschaftliche Selbstverständnis der Kirchlichen Zeitgeschichte ließ rapide nach. Die Untersuchung der Periodica wurde entsprechend auf das Jahr 2000 ausgerichtet. Wichtige Beiträge der Diskussion finden sich zusammengestellt bei Schneider / Seiler, Aspekte, 761, Fußnote 1.
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und die bedeutende Rolle, die den Kirchen in diesem Prozess schnell zugeschrieben wurde, schärften den Blick der evangelisch verantworteten zeitgeschichtlichen Forschung für gesellschaftspolitische Aspekte. Die Kirchen im sozialistischen Kontext der ehemaligen DDR und in Osteuropa wurden in den 1990er Jahren mit starkem Rückenwind aus der EKD und den Agenturen deutscher Wissenschaftsförderung zum prioritären Forschungsgegenstand in der Arbeitsgemeinschaft und darüber hinaus33. Die Etablierung der Kirchlichen Zeitgeschichte als kirchenhistoriographische Phase, die damit vollzogene Erweiterung des Untersuchungszeitraums sowie die deutsche Wiedervereinigung machten eine konzeptionelle Grundlegung mitsamt einer entsprechend ausgerichteten Festlegung der Forschungsagenda unausweichlich. Auch in der EvAKiZ kam es zu vitalen Debatten. Im April 1990 legte deren Vorsitzender, der Tübinger Kirchenhistoriker Joachim Mehlhausen, unter dem Titel „Evangelische Kirche nach 1945“ ein umfassendes Forschungsprogramm vor. Er wollte mit einem verbindlichen Programmrahmen einer vor allem allzu legeren Projektbewilligung und -finanzierung entgegenwirken. Mehlhausen meinte, in der Vergabepraxis der Arbeitsgemeinschaft einen uneinsichtigen „,Individualismus-Pluralismus‘“ auszumachen, der, so seine Befürchtung, nach außen hin kein gutes Bild abgeben konnte34. Das Forschungsprogramm setzte die gewohnten inhaltlichen Standards der Arbeitsgemeinschaft jetzt im gesamtdeutschen Rahmen weiter fort: es fokussierte als Forschungsgegenstand fast ausschließlich die evangelische Kirche, dies in allen ihren institutionellen Präsentationsformen (EKD, Landeskirchen, konfessionelle Vereinigungen, Ökumene, innerkirchliche Aufgaben, Öffentlichkeit, Theologie). Für Mehlhausen stand längst fest, dass die Kirchliche Zeitgeschichte unter Anwendung historisch kritischer Methodik die Aufgabe zu erfüllen hatte, „heuristisch-kritische Fragen für Theologie und Kirche heute“ aufzudecken35. Mehlhausen blieb dabei der kirchlichen Orientierung der Kirchenkampfforschung treu und prolongierte das Forschungsfeld der EvAKiZ in den komplexen Bereich der institutionellen evangelischen Kirche. Doch dieses Konzept des Vorsitzenden deckte inzwischen längst nicht mehr die gesamten evangelischen Bemühungen um die Kirchliche Zeitgeschichte ab. Selbst innerhalb der EvAKiZ wurden abweichende Stimmen laut. Widerspruch zu Mehlhausens Überlegungen kam aus dem Kreis der Arbeitsgemeinschaft vor allem vom Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak. Er publizierte ein Gegenpapier und kritisierte darin das seiner Auffassung nach verkirchlichte Verständnis von Protestantismus. Die Ausführungen seien, so Nowak, Ausdruck des verbreiteten Irrtums, „wer heute von Protestantismus“ 33 Vgl. Mehlhausen / Siegele-Wenschkewitz, Staaten; und Schneider / Seiler, Aspekte, 761–769. 34 Mehlhausen, Forschungsprogramm, 3. 35 So Mehlhausen bereits 1988, ders., Methode, 518 f.
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spreche, meine „automatisch evangelische Kirche“36. Nowak erkannte darin einen der NS-Zeit geschuldeten unzulässigen Reduktionismus, denn nach seiner Überzeugung hatte sich Kirchliche Zeitgeschichte neben der Institution Kirche unter der Hinzuziehung der Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte auch mit den privaten und öffentlichen Aspekten der Religion zu befassen37. In dem Disput von 1990 trafen zwei disparate Ansätze aufeinander, wobei Nowaks Anliegen durch eine Reihe prominenter Kollegen, auch von allgemeingeschichtlicher Seite, unterstützt wurde. Das kritisierte Forschungsprogramm Mehlhausens galt fortan als geschwächt, als konzeptioneller Orientierungspunkt konnte es sich nicht mehr vollumfänglich durchsetzen. Der Leipziger Nowak war einerseits Mitglied der EvAKiZ, zugleich gehörte er neben Anselm Doering-Manteuffel, Martin Greschat, Jochen-Christoph Kaiser, Wilfried Loth jenem Kreis von Kirchen- und Allgemeinhistorikern an, die 1988 die neue Monographiereihe „Konfession und Gesellschaft“ (KuG) herausgaben.38. Hier wurde Kirchengeschichte aus einer gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive gesehen. Der Fokus richtete sich auf die Religion als Konfession im gesellschaftlichen Kontext, die nach Ansicht der Herausgeber unter Hinzuziehung der Mentalitäts- und Alltagsgeschichte untersucht werden müsse. Der Herausgeberkreis von KuG verstand sich im Diskurs der 1990er Jahre als Gegengewicht zum Forschungskurs der EvAKiZ39. Wie sollte das konkret umgesetzt werden? Ein Blick auf die bis 2000 erschienenen 21 Bände der Reihe KuG kann darüber Aufschluss geben40 : Nur noch gerade ein Viertel der Bücher hatte die NS-Zeit zum Gegenstand; sie bedienten die Kernzeit der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung, indem im Einzelnen Themen wie Kirchen und Holocaust, Diakonie sowie die Widerstandsproblematik bearbeitet wurden. Der größte Anteil, neun Bände, bezog sich auf das 20. und teilweise auch auf das 19. Jahrhundert, wodurch die inzwischen etablierte Periodisierung der Kirchlichen Zeitgeschichte erheblich erweitert wurde. Diese Bände bedienten das Forschungsfeld „Konfession und Gesellschaft“, worunter so verschiedene Bereiche wie die Moderne, Frauen, Sozialpolitik oder Arbeiterkatholizismus fielen. Ein Drittel der Bände schließlich bezog sich auf den Themenbereich „Politik und Kirche (seit 1945)“, hier wurden thematische Komplexe wie politische Verantwortung, 36 Nowak, Gesprächsbeitrag, 27. 37 Vgl. ebd.; so Nowak und die anderen Herausgeber von KuG in einer programmatischen Grundlegung zu ihrer Reihe, vgl. auch Doering-Manteuffel, Konfession. 38 Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte. Hg. von Anselm Doering-Manteuffel u. a. Stuttgart / Berlin / Köln, Bde. 1 (1988) – [53 (2018)]; Untersuchungsgrundlage hier Bde. 1 (1988) – 21 (2000). 39 Eine Verhältnisbestimmung vgl. bei Hauschild, Zeitgeschichte, 558 f. Den Zweck ihrer Zeitschrift sahen die Herausgeber von KuG darin, der Allgemeingeschichte zu helfen, „die „christentumsgeschichtliche und religionswissenschaftliche Signatur der Moderne“ nicht „aus dem Blick“ zu verlieren (Doering-Manteuffel, Konfession, XX). 40 Vgl. die Zusammenstellung des Verlags http://www.theologische-buchhandlung.de/konfessi. htm.
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Europäische Gemeinschaft, Apologetische Zentrale oder auch die KSZE verhandelt. Dieses Reihenprogramm zeigte sich mit seinem weiter gefassten zeitlichen Untersuchungsrahmen sowie durch die starke Einbeziehung gesellschaftlicher und politischer Aspekte erheblich breiter aufgestellt, als Mehlhausen das für die EvAKiZ entworfen hatte. Im Kreis um die Herausgeber von KuG entwickelte sich ein neues Verständnis von kirchlicher Zeitgeschichtsforschung. Die Forschungsgegenstände waren das Ergebnis eines offeneren Verständnisses von Kirche, das neben der Institution auch private und öffentliche Räume gelebter Religion mit in den Forschungszusammenhang einbezog und auf diese Weise der veränderten gesellschaftlichen Bedeutung der Kirchen Rechnung trug. Die Wirksamkeit dieses Ansatzes war wegen einer vergleichsweise schwachen Vernetzung seiner Protagonisten allerdings stark an das Engagement der einzelnen Mitglieder gebunden. Als Sprachrohr konnte im Wesentlichen nur die Reihe KuG fungieren, eine darüber hinausgehende institutionelle Verbindung – wie es auf Seiten der Arbeitsgemeinschaft mit der Kommission und Forschungsstelle der Fall war41 – fehlte hier42. Das schränkte die Ausstrahlung des Ansatzes zwar ein, gleichwohl gehört es zu den Verdiensten der Reihe und seiner Herausgeber, mittelfristig das Grundverständnis auch von der evangelisch verantworteten kirchlichen Zeitgeschichtsforschung konzeptionell und thematisch erweitert zu haben. Ein dritter Player, der die Agenda der Forschungsgegenstände der Kirchlichen Zeitgeschichte in dieser Zeit zu beeinflussen begann, war der Kreis um Gerhard Besier, der sich 1988 zum Zweck der Herausgabe der Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“ (KZG) zusammenfand43. Für die Zeitschrift standen von Anfang an Marker wie multiperspektivisch, transnational und 41 Die EvAKiZ hat satzungsgemäß mit der wissenschaftlichen Kommission und der Forschungsstelle zwei aufeinander bezogene Organe, vgl. dazu §§ 4, 5, der Ordnung der EvAKiZ: https:// www.kirchliche-zeitgeschichte.info/ordnung.html (3. 1. 2021). 42 Der 2003 gegründete Arbeitskreis für Protestantismusforschung fungierte nicht als Netzwerk des Herausgeberkreises, konnte allerdings mit seinem Initiator Jochen-Christoph Kaiser temporär Impulse für eine auf die „Erforschung der christlichen Konfessionen“ fokussierte Kirchliche Zeitgeschichtsforschung setzen, indem neben der „Stellung der Kirche“ zugleich die „theologischen, diakoniegeschichtlichen und kirchenpolitischen Strömungen und Tendenzen seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts“ zu den Untersuchungsgegenständen gezählt wurden (https://www.hsozkult.de/project/id/fp-832). 43 Die Zeitschrift war zunächst eine unter Besiers federführenden Ägide durch seine Herausgeber, den Theologen Jörg Ohlemacher (Praktische Theologie) und Martin Onnasch (Kirchengeschichte), dem Allgemeinhistoriker Peter Steinbach (Geschichte), und den Polit- und Kirchenfunktionären Manfred Stolpe und Horstdieter Wildner ein zunächst evangelisch ausgerichtetes Organ, bald überkonfessionell agierend. Der Herausgeberkreis wollte Kirchliche Zeitgeschichte „multiperspektivisch“ erfassen, weg von klischeehaften Verurteilungen von Kirche und Christentum hin zu einer begründeten Offenlegung historischer Strukturen (Konzentration auf „das Warum“). Man bekannte sich dazu, „Geschichte als Ereignis erzählen zu wollen“, und nicht in „rein quantitative und strukturalistische Beschreibungen“ aufzulösen (Besier, Einführung, 3–5).
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ideologisch entschränkt (einschließlich marxistisch-leninistischer Geschichtsschreibung)44. Dahinter verbarg sich ein nicht ganz unproblematisches Verständnis Besiers von kirchlicher Zeitgeschichtsforschung, die ihm gewissermaßen als eine Einrichtung zur Überprüfung galt, inwieweit Kirche, verstanden als eigene Größe jenseits der Gesellschaft, ihre christlich-biblischen Ansprüche gesellschaftlich umsetzte45. Ein Blick auf die Themenschwerpunkte der Zeitschrift ebenfalls bis ins Jahr 2000, also auf die 13 Jahrgänge seit der Gründung 1988, gibt zu erkennen: Der überwiegende Teil der behandelten Aspekte fokussierte die Zeit nach 1945 oder das gesamte 20. Jahrhundert; der Anteil der Hefte, die sich allein auf die NS-Zeit bezogen, war entsprechend gering, er betrug nur noch 17 % der gesamten Themen. Etwa die Hälfte der hier schwerpunktmäßig behandelten Aspekte berührten die Institution Kirche, darunter etliche Hefte, die auf die Kirche in der DDR ausgerichtet waren – ein Zusammenhang, dem die Zeitschrift verstärkt nachging. Die restlichen Hefte bezogen sich auf das Christentum in Europa (34 %) oder den Katholizismus (10 %). Insgesamt setzte der schnell anwachsende Herausgeber*innenkreis mit der Zeitschrift seinen Vorsatz, Kirchliche Zeitgeschichte multiperspektivisch zu betreiben, durchaus um. Gesellschaftspolitische Aspekte und transkonfessionelle Perspektiven fanden sich ähnlich wie in der KuG-Reihe auch hier ; mit der verstärkten Einbeziehung von Kirche und Christentum in der DDR und Osteuropa wurde ein eigener Akzent gesetzt. Das theoretische Verständnis Besiers von Kirchlicher Zeitgeschichte als wissenschaftlicher Instanz zur kirchlichen Kontrolle lässt sich dabei kaum wiederfinden. Die durch die Auswertung der repräsentativen Publikationsreihen bzw. einer Zeitschrift ausgemachten drei Phasen der evangelisch ausgerichteten Zeitgeschichtsforschung mit ihren spezifischen Forschungsgegenständen hat zunächst eine relativ lange Zeit der Fixierung auf die evangelische Kirche als Institution zu erkennen gegeben. Dies geschah anfangs mit dem Fokus auf den evangelischen Kirchenkampf in der NS-Zeit, sodann mit Blick auf die komplexe Gestalt der EKD nach deren Gründung 1948. Maßgeblicher kirchlichzeithistorischer Akteur dieses Zeitraums war die ,Kirchenkampfkommission‘. Die deutsche Wiedervereinigung hat durch die exponierte Rolle der Kirchen eine gesellschaftspolitische Dimension in die traditionell binnenkirchlich orientierte Forschung hineingetragen. Zeitgleich vollzog sich unter dem Einfluss des Kreises um die Publikationsreihe KuG in der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung eine Hinwendung zur Leitkategorie „Konfession“ mit 44 Man verfolge, so die Herausgeber, einen dezidiert transnationalen Ansatz: Kirchliche Zeitgeschichte wolle man in „ideologischer und nationaler Entschränkung“ betreiben. Daher solle eben auch die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung berücksichtigt werden (Besier, Einführung, 6). Wie und in welchem Umfang das von den Beiträgen der Zeitschrift bis 2000 tatsächlich umgesetzt wurde, ist kaum zu erkennen. 45 Vgl. Besier / Ulrich, Aufgabe, bes. 176–181; ein Symposion sollte helfen, die Thematik wissenschaftlicher zu grundieren, dokumentiert in KZG 5 (1992) H. 1.
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gesellschaftsgeschichtlichen Bezügen. Durch den Kreis um Besier und der Zeitschrift KZG erfolgte in der gleichen Zeitspanne eine multiperspektivische Öffnung der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung, die mittels einer methodischen und thematischen Vielfalt eine spezifische Forschungsperspektive ermöglichen wollte. Durch eine nationale Entschränkung der Untersuchungsgegenstände ist das ansatzweise umgesetzt worden. Die seit den 1990er Jahren eingeleitete Öffnung der Kirchlichen Zeitgeschichte gewann auch innerhalb der EvAKiZ zunehmend an Einfluss. Neben den traditionellen Forschungsgebieten zur NS-Zeit, die weiterhin auf der Agenda der Arbeitsgemeinschaft standen, rückten Themen einer sozialgeschichtlich und gesellschaftspolitisch verstandenen Zeitgeschichtsforschung zu den 1960er und 70er Jahren in den Vordergrund. Diese Perspektiverweiterung ist konkret datierbar : Es war die Jubiläumstagung zum 50. Geburtstag der EvAKiZ im Jahr 2005, die motiviert durch ein zwischenzeitlich turnusgemäß vorgenommenes Revirements in der personellen Zusammensetzung der Kommission das Verhältnis des Protestantismus zu den sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren zum Thema machte und damit eine nachhaltige Erweiterung des Forschungsprogramms heraufführte46. Die Tagung markierte eine inhaltliche Zäsur, denn die gesellschaftsbezogene Perspektive setzte sich durch und ist für die Forschungsgegenstände der EvAKiZ seither leitend geblieben. Prolongiert man die beobachtete Entwicklung und aktuelle Tendenzen in einen zukünftigen Forschungshorizont, dann drängen sich im Hinblick auf die Themenagenda der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung Fragen auf. Auf drei sei hier verwiesen: 1. Was wird aus den Forschungsgegenständen einer „kirchlichen“ Zeitgeschichte, wenn die Tendenz zu einer fortschreitenden Entkirchlichung der deutschen Gesellschaft weiter anhält und sich das protestantische Milieu in immer kirchenfernere Kreise und soziale Gruppen verlagert? Gibt es eine Stufe institutioneller Entkirchlichung, mit der Kirchliche Zeitgeschichte aufhört, eine kirchliche Zeitgeschichte zu sein? 2. Welche Wirkungen haben globale Prozesse wie die Migrationsbewegungen, Religionskonflikte oder der Klimawandel auf eine „herkunftsmäßig“ auf deutsche Kirchengeschichte (NS-Zeit) fokussierte kirchliche Zeitgeschichtsforschung? Ist hier eine radikale Globalisierung der Untersuchungsperspektive überfällig? 3. Wie lässt sich das Problem des nach oben offenen Zeithorizonts in Bezug auf die Themenagenda der Kirchlichen Zeitgeschichte lösen? Erweitern sich deren Forschungsgegenstände in einem Prozess stetiger Historisierung der voranschreitenden Jetztzeit? Die Kirchliche Zeitgeschichte wird sich aber nicht auf Dauer zur letztgültigen Epoche der Kirchengeschichte perpetuieren 46 Vgl. den Tagungsband Hermle / Lepp / Oelke, Umbrüche.
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lassen. Setzt man, und wenn ja, wann und mit welchen Gründen eine periodologische Zäsur47 ? Die Kirchliche Zeitgeschichte bleibt nicht nur ein „schönes Wort“, sondern auch ein „schwieriger Begriff“, das betrifft auch zwangsläufig ihre zukünftigen Forschungsgegenstände. Alle drei zuletzt genannten Fragehorizonte werden sich von der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung, schon gar nicht von nur einer der zwei konfessionellen Varianten, und auch nicht isoliert von der allgemeinen Zeitgeschichte lösen lassen. Die Forschungssegmente und die sie tragende kirchenhistoriographische Arbeit sind heute zwischen beiden Konfessionen und jeweils auch mit der allgemeingeschichtlichen Forschung eng verbunden. Eine Verständigung über gemeinsame thematische Schnittfelder scheint nicht nur dringend geboten, sondern verheißt auch ein spannendes, zukunftsweisendes Unternehmen, sofern die Bereitschaft dazu existiert.
I. Unveröffentlichte Quellen Archiv der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, Forschungsstelle LMU München (ArchEvAKiZ) C 2.1 Protokolle Vollsitzungen 1955–1980.
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Harry Oelke
Brunotte, Heinz: Bekenntnis und Kirchenverfassung. Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte (AKIZ B 3). Göttingen 1977. Diehn, Otto: Bibliographie zur Geschichte des Kirchenkampfes 1933–1945 (AGK 1). Göttingen 1958. Doering-Manteuffel, Anselm u. a. (Hg.): Konfession und Gesellschaft: Das Programm. In: Ders. / Nowak, Zeitgeschichte, 3. – / Nowak, Kurt (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden (KuG 8). Stuttgart /Berlin / Köln 1996. Dreher, Martin Norberto: Kirche und Deutschtum in der Entwicklung der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses (AKIZ B 6). Göttingen 1978. Gerlach-Praetorius, Angelika: Die Kirche vor der Eidesfrage. Die Diskussion um den Pfarrereid im „Dritten Reich“. Göttingen 1967. Grenzinger, Gertrud (Bearb.): Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Bd. VI/1–2: 1938–1945: Die Kirchenpolitik in den ein- und angegliederten Gebieten (März 1938–März 1945). Gütersloh 2017. Hauschild, Wolf-Dieter : Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979: In: Hermle / Lepp / Oelke, Umbrüche, 51–90. –: Art. Zeitgeschichte, Kirchliche. In: TRE 30 (2004 / 2006), 554–561. Hermle, Siegfried / Lepp, Claudia / Oelke, Harry (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren (AKIZ B 47). Göttingen 22012 (12007). Hockerts, Hans Günter : Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder. In: Historisches Jahrbuch 113 (1993), 98–127. Institut fer Zeitgeschichte (Hg.): 25 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Statt einer Festschrift. Stuttgart 1975. Kaiser, Jochen-Christoph: Wissenschaftspolitik in der Kirche. Zur Entstehung der ,Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit‘. In: Doering-Manteuffel / Nowak, Zeitgeschichte, 125–163. Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zur ,Zeitgeschichte‘. In: Victor Conzemius / Martin Greschat / Hermann Koecher (Hg.): Die Zeit nach 1945 als Thema der Zeitgeschichte (KuG 1). Göttingen 1988, 17–31. Luther, Christian: Das kirchliche Notrecht, seine Theorie und seine Anwendung im Kirchenkampf 1933–1937. Göttingen 1969. Mehlhausen, Joachim: Forschungsprogramm „Evangelische Kirche nach 1945“. In: Mitteilungen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, April 1990, 1–20. –: Zur Methode kirchlicher Zeitgeschichtsforschung. In: EvTh 48 (1988), 508–521. – / Siegele-Wenschkewitz, Leonore (Hg.): Zwei Staaten – zwei Kirchen? Evangelische Kirche im geteilten Deutschland. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung. Leipzig 2000. Meier, Kurt: Der evangelische Kirchenkampf. Gesamtdarstellung in drei Bänden. Bd. 1: Der Kampf um die „Reichskirche“. Bd. 2: Gescheiterte Neuordnungsversuche im Zeichen staatlicher „Rechtshilfe“. Bd. 3: Im Zeichen des Zweiten Weltkriegs. Göttingen 1984 (Bd. 1–2: 11976).
Forschungsgegenstände der Kirchlichen Zeitgeschichte
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–: Literatur zur kirchlichen Zeitgeschichte. In: ThR 54 (1989), 113–168; 380–414; und ThR 55 (1990), 89–106 (Nachtrag). Melzer, Karl-Heinrich: Der Geistliche Vertrauensrat. Geistliche Leitung für die Deutsche Evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg (AKIZ B 17). Göttingen 1991. Mçller, Horst / Wengst, Udo (Hg.): 60 Jahre Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Geschichte – Veröffentlichungen – Personalien. München 2009. Oelke, Harry : Westdeutsche Kirchengeschichte 1945–1989. Erwägungen zu ihrer Periodisierung aus evangelischer Sicht. In: Katharina Kunter / Jens Holger Schjørring (Hg.): Europäisches und Globales Christentum. Herausforderungen und Transformationen im 20. Jahrhundert (AKIZ B 54). Göttingen 2011. – / Brechenmacher, Thomas: Art. Kirchenkampf. In: Görres-Gesellschaft (Hg.): Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, Bd. 3. Freiburg i. Br. / Basel / Wien 82019, Sp. 772–780. Schneider, Thomas Martin / Seiler, Jörg: Aspekte zur Erforschung der Kirchlichen Zeitgeschichte nach 1989. In: ThLZ 138 (2013), 761–788. Scholder, Klaus: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934. Bd. 2: Das Jahr der Ernüchterung 1934, Barmen und Rom. Berlin 1977 / 1985. Siegele-Wenschkewitz, Leonore / Nicolaisen, Carsten (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKIZ B 18). Göttingen 1993. Thierfelder, Jörg: Das Kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm (AKIZ B 1). Göttingen 1975. Vogel, Johanna: Kirche und Wiederbewaffnung. Die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland in den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1949–1956 (AKIZ B 4). Göttingen 1978. Wright, Jonathan R. C.: Über den Parteien. Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918–1933 (AKIZ B 2). Göttingen 1977 [engl. Original: Above Parties, 11974].
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Thomas Brechenmacher
„Katholizismusforschung“, „Kirchliche Zeitgeschichte“, „Katholischsein“. Der Forschungsgegenstand der Kommission für Zeitgeschichte in Praxis und Reflexion Die im September 1962 in München gegründete „Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie in Bayern“ bezeichnete als ihren Forschungsgegenstand die „Anregung, Förderung, Durchführung und Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten über die Geschichte des deutschen Katholizismus im 20. Jahrhundert mit ihren Wurzeln im 19. Jahrhundert“1. „Zeitgeschichte“ wurde dabei nicht gemäß der engeren, von Hans Rothfels 1953 klassisch formulierten Definition – „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“ – begriffen (wobei Rothfels die Zeit von 1917 bis 1945 meinte)2, sondern in einem „allgemeineren Sinne“ als „unser gegenwärtiges Säkulum mitsamt seinen Wurzeln im neunzehnten Jahrhundert“3. In der Titulatur der Kommission war weder von „Katholizismus“ noch gar von „Kirche“ die Rede (und ist es auch heute noch nicht). Die hier notwendig erscheinende Ergänzung mochte im damaligen Zusatz „bei der Katholischen Akademie in Bayern“ impliziert gewesen sein. Nach der Auflösung der anfänglichen Verbindung mit der Münchner Akademie und seit der sukzessiven Einrichtung der Forschungsstelle in Bonn zwischen 1968 und 1972 blieb dann „Kommission für Zeitgeschichte“ übrig, ohne weitere Titelspezifikation des Forschungsgegenstandes4. Natürlich gab es eine zeithistorisch interessierte Katholizismusforschung in der Bundesrepublik auch bereits vor der Gründung der Kommission für 1 Satzung der Kommission für Zeitgeschichte vom 11. 12. 1972, § 2, Abs. 1, heute mit dem Zusatz „im 20. und 21. Jahrhundert“ (https://www.kfzg.de/organisation/satzung/ [2. 8. 2020]). 2 Rothfels, Zeitgeschichte, 2; allg. zum Begriff „Zeitgeschichte“ vgl. Hockerts, „Zeitgeschichte“. 3 Repgen, Vorwort, VIII. 4 Zur Namensgebung vgl. Morsey, Gründung, 483; außerdem E-Mail Rudolf Morsey an den Verf. vom 31. 1. 2020: „Im Antrag Forsters vom 6. August 1962 an die Bischofskonferenz ist von der ,K für Zg. bei …‘ die Rede, auch in der Einladung zur Sitzung des Wiss. Vorstands am 3. Dezember 1962. Dort wurde ,über den endgültigen Namen keine Einigung erzielt. Vorgeschlagen wurden: 1. Anknüpfung an eine historische Persönlichkeit (Brüning, Hertling, Kaas), 2. K. zur Erforschung der Geschichte des dt. Katholizismus im 20. Jh., 3. K für kirchl. Zg. Da gegen alle bisherigen Vorschläge ernsthafte Bedenken erhoben wurden, wurde dieser Punkt […] vertagt‘. – In der Sitzung vom 4. März 1963 wurde ,nach eingehender Diskussion, bei der alle bisher gemachten Vorschläge nochmals geprüft wurden und die Entscheidung sich schließlich auf K für kirchl. Zg. (Jedin), Hist. K (Spindler), Zeitgeschichtl. K (H. Buchheim) konzentrierte, schließlich einstimmig der Name K für Zg. bei … angenommen‘.“
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Thomas Brechenmacher
Zeitgeschichte. Wesentliche Impulse aus dieser Forschung flossen in der Kommission zusammen. Ernst Deuerleins Buch über das Reichskonkordat war 1956 erschienen5, Rudolf Morseys Studie über das Ende der Zentrumspartei 19606. Zeitzeugen, wie die ehemaligen Zentrumspolitiker Johannes Schauff und Heinrich Krone, waren an einer Erforschung der jüngeren Geschichte des politischen Katholizismus ebenso interessiert wie kirchliche Akteure an der Schnittstelle zur Politik, etwa der Leiter des Katholischen Büros in Bonn, Prälat Wilhelm Böhler7. Die engere Vorgeschichte der Kommission als eines freien Zusammenschlusses katholischer Wissenschaftler – vor allem Historiker – und einiger Repräsentanten des Katholizismus (wie Otto B. Roegele und Paul Mikat) begann im Mai 1961 mit einer Zeitzeugentagung der Katholischen Akademie in Bayern unter dem Titel „Die deutschen Katholiken und das Schicksal der Weimarer Republik“ im Burkardushaus in Würzburg, in der es im Wesentlichen um die Rolle der Zentrumspartei 1932/33 ging. Noch lebende Akteure jener Zeit sollten befragt, „die Wahrheit ans Licht“ gebracht werden8 – wie der damals junge Historiker und Privatdozent Konrad Repgen forderte, der dann zusammen mit Rudolf Morsey und Dieter Albrecht zu den Gründern der Kommission zählte. Diese Bemühungen um eine systematische, vor allem empirisch fundierte und quellengestützte wissenschaftliche Aufarbeitung der noch unmittelbar „zeithistorischen“ Vergangenheit des Jahres 1933 und seiner Folgen fielen in eine Situation wachsender öffentlich wirksamer Kritik am Katholizismus gegen Ende der „Ära Adenauer“, einem Kulminationspunkt des von Mark Edward Ruff so genannten „Kampfs um die katholische Vergangenheit in Deutschland“9. Ernst-Ludwig Böckenförde hatte in seinem Hochland-Aufsatz von 1961 den „deutschen Katholizismus im Jahre 1933“ einer „kritischen Betrachtung unterzogen“, Carl Amery legte 1963 seine vielverkaufte Analyse des „deutschen Katholizismus heute“ unter dem Schlagwort „Die Kapitulation“ vor, und im gleichen Jahr entfachte Rolf Hochhuth mit seinem Drama „Der Stellvertreter“ einen Sturm, der zwar vor allem Papst Pius XII. vor sich hertrieb, aber nicht ohne Rückwirkung auf die Beurteilung der Rolle von Kirche und Katholizismus in Deutschland gegenüber dem Nationalsozialismus blieb10. Der wissenschaftliche Impetus der Kommissionsgründer korrespondierte dieser Situation, war jedoch keine direkte Reaktion auf sie. Vor
5 6 7 8 9 10
Vgl. Deuerlein, Reichskonkordat. Vgl. Morsey, Zentrumspartei. Dies im Detail dargestellt bei Morsey, Gründung. Krone, Tagebücher, 492 (8./9. 5. 1961). Ruff, Battle; Zit.: Buchtitel. Vgl. dazu Hummel, Umgang.
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allem aber war die Gründung der Kommission für Zeitgeschichte keine Antwort auf Hochhuth11. Im Unterschied zur evangelischen Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes, auf deren Vorbild sich die katholische von Anfang an bezog12, visierte letztere das Kernstück der Zeit zwischen 1918 und 1945, zunächst mit der Achse 1933, aus dem Blickwinkel einer langen, weit ins 19. Jahrhundert zurückreichenden „Vorgeschichte“ an (ohne die „kein befriedigendes Verständnis der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts erwartet“ werden könne) und „fixierte […] auch nach vorn hin […] keine zeitliche Grenze“, indem sie „die Periode nach 1945 prinzipiell in ihren Arbeitsbereich“ einschloss. Repgen sprach 1965 in seinem Vorwort zum ersten Band der Reihe A vom „katholischen Kirchenkampf“, der sich in Voraussetzungen, Entstehung, Verlauf und Auswirkungen vom „evangelischen“ stark unterscheide und daher anders als dieser „nicht vornehmlich kirchenhistorisch“, sondern eben mit Blick auf seine „politische und soziale Seite“ erforscht werden müsse13. Damit war als Zentrum der Forschungstätigkeit der Kommission definiert: der deutsche Katholizismus in dem vom NS-Regime aufgezwungenen „Kirchenkampf“14, und zwar zunächst in drei Richtungen: 1. bezogen auf das Verhältnis Staat (Regime) – Kirche, 1933–1945, 2. bezogen auf das Verhalten des „Katholizismus als Ganzes“ – also der „katholischen Bevölkerung insgesamt und besonders der katholischen Organisationen“ – gegenüber dem Nationalsozialismus, und 3. bezogen auf die katholische Emigration während der NS-Zeit15. Während sich der erste Komplex am besten im Rahmen der Edition und klassisch-hermeneutischen Interpretation politischer und diplomatischer Archivquellen abbilden ließ, und sich deshalb auch zum eindeutigen Schwerpunkt der Arbeit der Kommission in ihren ersten Jahrzehnten auswuchs – hier seien nur die großen Editionen zur Geschichte des Reichskonkordats, zum Notenwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl und der deutschen Reichsregierung, sowie der Akten deutscher Bischöfe 1933–1945 und die Einzeleditionen (Faulhaber, Galen) genannt –16, fiel die Arbeit für den „Katholizismus als Ganzes“ schon schwerer : der „katholischen Bevölkerung“ versuchte die Kommission vor allem durch die Herausgabe umfangreicher 11 Vgl. auch E-mail Rudolf Morsey an den Verf. vom 8. 5. 2020: „Unsere sehr frühen Editionen sind m. E. vor allem durch die anhaltenden Hochhuth-Diskussionen überlagert worden.“ 12 Vgl. Repgen, Vorwort, VII; Morsey, Gründung, 476. 13 Repgen, Vorwort, VII. 14 Zur Problematik dieses in der frühen Arbeit der Kommission häufig gebrauchten Diagnosebegriffs vgl. Oelke / Brechenmacher, Kirchenkampf, 777–779. 15 Repgen, Vorwort, VIII/IX. 16 Ich verzichte darauf, alle genannten Publikationen der Reihen A (Quellen) und B (Forschungen) in bibliographischer Vollständigkeit aufzuführen und verweise auf die Zusammenstellung der Publikationen der Kommission für Zeitgeschichte (https://www.kfzg.de/publikationen/quellen [5. 8. 2020]).
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Reihen berichtender Quellen auf die Spur zu kommen (SD- und GestapoBerichte, Regierungspräsidentenberichte aus Bayern); daneben entstanden zahlreiche Arbeiten zu organisationsgeschichtlichen Fragen des Katholizismus während der NS-Zeit. Am geringsten fiel der Ertrag für den Emigrationsaspekt aus, ungeachtet der Bedeutung der jeweils einzelnen Studien (etwa Heinz Hürtens monumentaler Edition der „Deutschen Briefe“). Diesen Kern übergreifend kamen im ersten Vierteljahrhundert der Kommission hinzu: Quellenpublikationen und Forschungsarbeiten über die „partei- und sozialgeschichtliche Wirksamkeit des deutschen Katholizismus von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933“ (z. B. Heitzer, Volksverein; Hçmig, Zentrum; Denk, Arbeiterbewegung) sowie Forschungen, jedoch noch keine Quelleneditionen, zur Geschichte von Katholizismus, Katholiken und Kirche nach 1945, vorwiegend in der Bundesrepublik, teils aber auch bereits in der DDR (Hçllen, Wienken; Hackel, Katholische Publizistik in der DDR)17. Das weitaus größte Gewicht blieb aber auf Arbeiten zum Staat-KircheVerhältnis und zu organisationsgeschichtlichen Themen. Für die Zeit nach dem Ende des „politischen Katholizismus“ durch die Auflösung von Zentrum und Bayerischer Volkspartei (BVP) rückte die institutionalisierte Kirche, besonders auch die zentrale Kirchenleitung, nämlich der Heilige Stuhl als völkerrechtliches Gegenüber der Reichsregierung, in den Mittelpunkt, obgleich „Kirche“, je nach Radikalität des Begriffsverständnisses, zu diesem Katholizismus gar nicht gehört oder allenfalls nur als Teil davon aufgefasst wird. Ein wichtiger Grund für diese Akzentverschiebung lag – neben der viel diskutierten Frage nach der „katholischen“ oder „kirchlichen“ (Mit-)Schuld am Nationalsozialismus – in der diagnostizierten Entwicklung des Katholizismus18 selbst. Diese Diagnose lautete: Dem seit dem Kaiserreich und über die Weimarer Republik hinweg etablierten Katholizismus als einer politisch und institutionell reich ausgeformten, „oft aus wilder Wurzel, ohne kirchliche Weisung und Leitung entstandenen“19 Substruktur mit ihrem Kosmos von Verbänden, Vereinen, Organisationen, Institutionen, Repräsentanten sei einerseits durch die in der „pianischen Epoche“ von Rom ausgehende Tendenz zur Zentralisierung und Hierarchisierung, andererseits durch den Nationalsozialismus der Boden entzogen worden. Das Ende des parteipolitischen Katholizismus, und im Gefolge des NS-Terrors sowie der Bestimmungen des Reichskonkordats der organisationellen Vielfalt habe die „Verkirchlichung“20 des katholischen Lebens in Deutschland beschleunigt – eine Begrifflichkeit, mit der be17 18 19 20
Vgl. Repgen, 25 Jahre, 17. Zur Begriffsgeschichte vgl. Liedhegener / Kçsters / Brechenmacher, Katholizismus. Herten, Einleitung, 8. Zum Begriff vgl. auch Liedhegener / Kçsters / Brechenmacher, Katholizismus, 602 f., 605, 608.
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sonders Heinz Hürten immer wieder gearbeitet hat. Die versprengten und wichtiger ihrer formativen Adhäsionselemente entkleideten Fragmente des Katholizismus suchten demzufolge – durchaus auch im „Widerstand“ gegen das Regime – Schutz unter dem Dach der „Mutter Kirche“, die diesen Prozess ihrerseits begünstigte. Im katholischen Begriff der „kirchlichen Zeitgeschichte“ erscheint diese „Verkirchlichung“ mit reflektiert. Hürten zufolge war dieser Prozess nach 1945 keineswegs zu Ende. Zwar setzte die Kommission mit ihren frühen Bänden der „Adenauer-Studien“ (1971/1972) eine Marke, der implizit die Annahme zugrunde lag, in der Adenauer-CDU habe noch ein Relikt des früheren, unabhängigen politischen Katholizismus weitergelebt. Faktisch ließ aber die Bundesrepublik, von der DDR ganz zu schweigen, niemals wieder Raum für die Re-Etablierung eines Katholizismus, der dem der Weimarer Republik auch nur in Ansätzen vergleichbar gewesen wäre21. Fast zwangsläufig und ungeachtet unterschiedlicher Bewertungen führte die „Verkirchlichungs“-Diagnose die Gründergeneration der Kommission für Zeitgeschichte wieder und wieder auf das Feld einer kirchlichen Zeitgeschichte im Sinne einer Befassung nicht (wie bei der evangelischen KirchenkampfKommission) mit innerkirchlich-theologischen Fragestellungen, sondern mit den kirchlichen Akteuren auf dem Feld des Staat-Kirche-Verhältnisses, das der ursprünglichen Programmatik zufolge aus dem umfassenderen Blickwinkel des „Katholizismus“ hätte erforscht werden sollen. Dies schlägt sich auch quantitativ nieder: fast die Hälfte aller bisher von der Kommission für Zeitgeschichte edierten Quellen sind Dokumente zum Kirche-Staat-Verhältnis zwischen 1933 und 1945 (s. Graphik auf der nächsten Seite). Böckenförde-Kontroverse, Amery-Thesen, besonders aber die Herausforderung durch das Hochhuth-Drama22 ließen die Kommission nach außen – und durchaus inkorrekt – oftmals im Lichte einer eher defensiv agierenden geschichtswissenschaftlichen Verteidigungsgemeinschaft der deutschen Bi21 Hürten sah schließlich in der Zeit um 1960 „das Ende einer kirchengeschichtlichen Epoche in Deutschland“ gekommen. In diesen Jahren sei der „Höhepunkt der von Papst Pius XII. geforderten Koordinierung des deutschen Katholizismus unter der Leitung des Episkopats“ erreicht gewesen. Unter „Verkirchlichung“ verstand Hürten „die seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts festzustellende Tendenz, das […] katholische Vereinswesen unter die Kontrolle der Oberhirten zu bringen“ (Herten, Einleitung, 8); vgl. auch ders., Verkirchlichung. – Hürten neigte im Pessimismus seiner späten Jahre dazu, auch die Katholizismusforschung mit dem Jahr 1960 wegen Wegfalls ihres Gegenstandes an ihrem Ende angekommen zu sehen. Für ihn war zuletzt die Einsicht zu bitter, daß die Verkirchlichung auf ihrem Höhepunkt in Entkirchlichung (im Sinne von Autoritätsverlust der kirchlichen Institutionen) umschlug, und damit nicht nur der Katholizismus endgültig beseitigt war, sondern auch das Katholische selbst als religiöse Sinnstiftung von einiger Bedeutung und Akzeptanz (in Deutschland) offenbar unaufhaltsam verblasste. – Dagegen findet sich ein Plädoyer für eine fortgesetzte Katholizismusforschung „nach dem Ende des ,Katholizismus’“ in: Hummel, Relevanz. 22 So war beispielsweise die deutschsprachige, in der Reihe A der Kommission erschienene Ausgabe der Briefe Pius’ XII. an die deutschen Bischöfe, 1939–1944, eine klare Reaktion auf Hochhuth, vgl. Schneider, Briefe.
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schofskonferenz erscheinen. In der Kontroverse zwischen Konrad Repgen und dem evangelischen Theologen und stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes Klaus Scholder über die Interpretation des Reichskonkordats setzte sich 1977/78 dieser Eindruck fort23. Abgesehen von seinen diskussionsbedürftigen Vermutungen zur Geschichte des Reichskonkordats war der evangelische Kirchenhistoriker gewissermaßen „übergriffig“ geworden, indem er sich das „katholische Thema“ im Rahmen des ehrgeizigen Formats einer überkonfessionellen Gesamtdarstellung der Geschichte der Kirchen im Dritten Reich aneignete. Von derart globalen Ansätzen – die durch „Außenseiter“ vorangetrieben wurden (neben Scholder auch durch den in der DDR lehrenden Kirchenhistoriker Kurt Meier, wenngleich auf die evangelische Perspektive beschränkt)24 – blieb die Kommission für Zeitgeschichte (wie übrigens auch die evangelische Kirchenkampfkommission) weit entfernt; noch 1987, zum 25-jährigen Jubiläum, vermisste der Kommissionsvorsitzende Repgen die „große zusammenfassende Darstellung“ zur Geschichte von Kirche und Katholizismus zwischen 1918 und 1945 23 Zur Scholder-Repgen-Kontroverse vgl. Ruff, Battle, 217–242; außerdem Kretschmann, Partie. 24 Vgl. Scholder, Kirchen; Meier, Kirchenkampf.
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schmerzlich25. Der für diese Aufgabe prädestinierte Autor aus dem Kreis der frühen Kommissionsmitglieder und -mitarbeiter, Pater Ludwig Volk, war Ende 1984 im Alter von erst 58 Jahren verstorben (wenige Monate vor Scholder, dessen Werk Torso blieb)26. Den Anspruch auf eine Gesamtdarstellung löste katholischerseits dann Hürten ein, dessen umfassende, bezeichnenderweise „Deutsche Katholiken“ betitelte Studie 1992 erschien27. Während sich die Kommission am Katholizismus in der Periode seiner Verkirchlichung abarbeitete, blieben der durch das Zweite Vatikanum angestoßene innerkirchliche wie der allgemeine gesellschaftliche, seit den späten 1960er Jahren (Stichwort „68“) beschleunigte Wandel nicht ohne tiefgreifende Folgen für Kirche und Katholiken in Deutschland. Parallel dazu stand die Geschichtswissenschaft seit dem Beginn der 1970er Jahre unter dem Zeichen des Paradigmenwechsels hin zur historischen Sozialwissenschaft. Für Selbstverständnis und Arbeitsweise der Kommission waren mit all dem Herausforderungen verbunden, die freilich nur langsam reflektiert und noch langsamer angenommen wurden. Die starke Fokussierung auf die Publikation der umfangreichen Aktenbände, aber auch die spezifische Netzwerk-Struktur der Kommission einschließlich ihrer Kooptierungspolitik28 dürfte dazu beigetragen haben, methodisch innovative Ansätze der allgemeinen Geschichtswissenschaft wie anderer Disziplinen zunächst wenig oder eher nur ablehnend zu rezipieren. Hürten blickte 1987 anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Kommission nicht ohne Besorgnis auf den „Wandel des Gegenstandsfeldes“, den er als einschneidende „Formveränderung“ charakterisiert wissen wollte. Die alte Katholizismusforschung sah er von zwei Seiten her in Bedrängnis: durch eine „theologisierte“ Wissenschaft, welche „,Katholizismus‘ als jeweilige (unvermeidlich akzidentelle) Konkretion der ,Substanz‘ der Kirche definiert“, wie durch eine „freischwebende“ Sozialwissenschaft, für die „religiöse Phänomene nur deshalb einen Untersuchungsgegenstand abgeben, weil diese nun einmal zum Erscheinungsbild einer Gesellschaft gehören.“29 Aber er war dafür offen, die Positiva aus beiden Welten zu übernehmen, um sie in einer künftigen Arbeit am formgewandelten Forschungsgegenstand zu verbinden, die er erst jetzt als „kirchliche Zeitgeschichte“ – im Gegensatz zur „Katholizismusforschung“ – verstanden wissen wollte. Hürten erkannte den Formwandel auf drei Ebenen: in der nun vollendeten „Verkirchlichung“, nämlich als Einbin25 Repgen, 25 Jahre, 17. – Das 1980 zuerst und dann in mehreren überarbeiteten Auflagen erschienene Bändchen Gotto/Repgen (Hg.), Die Katholiken und das Dritte Reich, war ein nachgefragter Überblick, konnte aber eine Gesamtdarstellung aus einem Guss nicht ersetzen. 26 Repgen, ebd. – Zur Erinnerung an Ludwig Volk veröffentlichte die Kommission 1987 einen Band mit dessen wichtigsten einschlägigen Aufsätzen, vgl. Volk, Kirche; hier Albrechts Vorwort, IX. 27 Vgl. Herten, Katholiken. 28 Vgl. dazu Blaschke, Verlagsfeldforschung. 29 Herten, Zukunftsperspektiven, 98 f.
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dung der „organisierten Aktivität der Gläubigen […] vom Zentralkomitee bis zum Pfarrgemeinderat in die kirchenamtliche Struktur“, in der größer gewordenen zeitlichen Distanz zum Nationalsozialismus wie schließlich in den durch das Zweite Vatikanum bewirkten Veränderungen „im Leben der Amtskirche wie in dem der schlichten Gläubigen“30. Keineswegs folge aus dieser Veränderung des Gegenstandes jedoch, seine zeitgeschichtliche Erforschung sei nun zu einer „kirchenhistorischen Spezialdisziplin“ geworden. Da „nach wie vor Raum bleibt für eine Geschichte der Kirche als Faktor der Gesellschaftsgeschichte“31, sei „kirchliche Zeitgeschichte“ das Feld profaner Historiker, zu dessen Bestellung die Mitwirkung von Theologen und Kirchenhistorikern willkommen und die Impulse aus der Sozialgeschichte unabdingbar seien. Denn gerade um die „Basis“ des katholischen Lebens, die Veränderungen des katholischen Sozialmilieus zu erforschen, reiche die bisherige Arbeit mit „noch so großen Aktenmassen bedeutender Akteure“ nicht mehr aus und müsse das „technische Instrumentarium der Sozialgeschichte stärker benutzt“ werden32. Hürtens Überlegungen von 1987 bilden eine Art Scharnier im Übergang zur jüngeren Phase der Geschichte der Kommission. Sie forderten Konsequenzen, die die Kommission irgendwann ziehen musste, wollte sie sich innerhalb der Geschichtswissenschaft in Deutschland nicht marginalisieren, und sie nahmen Problemstellungen vorweg, die noch heute im Zentrum der Arbeit stehen. Die Frage nach den Sozialformen des Milieus stand spätestens seit der impulsgebenden Arbeit von M. Rainer Lepsius von 196633 auf der Agenda und wurde von religionssoziologischer, sozialhistorischer und theologischer Seite nach verschiedenen Richtungen hin untersucht und erweitert, um zu erklären, in welchem Verhältnis Katholizität und Moderne im Zeichen der Säkularisierungsannahme denn eigentlich stünden (Franz-Xaver Kaufmann, Karl Gabriel)34 ; über die Rezeption der französischen Annales-Schule (z. B. durch Arnold Angenendt) drangen auch mentalitätshistorische Fragestellungen hier vor. Von den damals jüngeren Mitgliedern der Kommission für Zeitgeschichte mahnte 1987 Urs Altermatt eine stärkere Befassung mit der „religiösen Sozial- und Mentalitätsgeschichte“ im Sinne einer Alltagsgeschichte des Katholischen an und rückte auch bereits das neue kulturgeschichtliche Paradigma in den Blick: 30 Ebd., 100–103. 31 Ebd., 103. 32 Ebd., 106. – Mehr als ein Zufall mag es sein, daß Hürtens Beitrag zur 25-Jahr-Feier als einziger die Begrifflichkeit „kirchliche Zeitgeschichtsforschung“ im Titel trug. Alle anderen sprachen vom „Katholizismus heute“ (Hans Maier, Walter Kasper), „in der neueren historischen Forschung“ (Rudolf Lill) oder „in der zeitgeschichtlichen Forschung“ (Gesamttitel). Mehr über „kirchliche Zeitgeschichte“ als über „Katholizismusforschung“ sprachen neben Hürten Urs Altermatt und der evangelische Kommentator Martin Greschat. 33 Vgl. Lepsius, Parteiensystem. 34 Vgl. rekapitulierend Kaufmann, Wandel; und Gabriel, Anmerkungen.
„Katholizismusforschung“, „Kirchliche Zeitgeschichte“, „Katholischsein“ 103 „Wenn zur Kultur alles gehört, was dem Menschen erlaubt, sich gegenüber der Welt und der Gesellschaft zurechtzufinden und seine eigene Lebenslage besser zu verstehen, erhalten religiöse Deutungsmuster zu allen Zeiten enorme Bedeutung. Die katholische Kultur verbindet dann eine Gruppe von Individuen zu einer Gemeinschaft von Mentalitäten und Sensibilitäten.“35
Auch der evangelische Gast Martin Greschat plädierte 1987 für eine massive Einbeziehung der Sozialgeschichte in die kirchliche Zeitgeschichte. Diese müsse die Gefahr abwenden, „zu einem Anhängsel einer konfessionellen Kirchengeschichte“ zu werden; als Gesellschaftsgeschichte müsse sie vielmehr ihrerseits in die allgemeine Erforschung der Zeitgeschichte eingreifen. „Die Zukunftsperspektiven für die Erforschung der kirchlichen Zeitgeschichte müssen […] so umrissen werden: auf die gesamte Breite dieses Jahrhunderts konzentriert, am interkonfessionellen und internationalen Vergleich orientiert und dabei durchgängig bestrebt, die Relevanz des Religiösen im weitesten Sinn für das Werden wie auch das Selbstverständnis der modernen Gesellschaft herauszuarbeiten, also bemüht, die Realität von Christentum und Kirche in der Geschichte dieses Jahrhunderts grundsätzlich, aber mehr noch in ihren vielfältigen konkreten Bezügen und Zusammenhängen zum Ausdruck zu bringen.“36
Die Berufung auf Interkonfessionalität, Internationalität und Intervention in die (damals) religionsvergessene Disziplin der allgemeinen Zeitgeschichte nahm bereits die Prinzipien der 1988 gegründeten, überkonfessionellen Initiative „Konfession und Gesellschaft“ vorweg, für die Greschat neben Wilfried Loth, Anselm Doering-Manteuffel, Jochen-Christoph Kaiser und Kurt Nowak federführend zeichnete37. Doch bevor die programmatische Neuorientierung nachdrücklich vorangetrieben werden konnte und sich auch die Kommission, wie Repgen im Schlusswort 1987 ankündigte, den „gravierenden Veränderungen im deutschen Katholizismus der 60er und frühen 70er Jahre“ als neuem „zentralen Thema“ zuwandte38, fiel die Berliner Mauer, und fast über Nacht rückte die DDR zu einem neuen Gegenstandsbereich (auch) katholisch-kirchlicher Zeitgeschichtsforschung auf. In struktureller Analogie zur NS-Thematik stellte sich hier erneut die Frage nach Situation und Spielräumen von Kirche und Katholiken unter einem von einer religionsfeindlichen Ideologie geprägten diktatorischen Regime, zusätzlich gekennzeichnet durch die Minderheitensituation der Katholiken in der DDR (doppelte Diaspora). Reiche neue Quellenbestände wurden zugänglich, Vertreter des Katholizismus aus den neuen Bundesländern in die Gremien der Kommission aufgenommen, 35 Altermatt, Bemerkungen, 67. 36 Greschat, Bemerkungen, 109 f. 37 Doering-Manteuffel / Nowak, Zeitgeschichte; hier 4: Konfession und Gesellschaft: Das Programm. 38 Von Hehl / Repgen, Katholizismus, 116.
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und DDR-Themen wurden in unterschiedlichen Formaten und Zusammenhängen verhandelt39. Die Editionsreihe „Akten deutscher Bischöfe“ wurde zweigleisig (Ost / West) über 1945 hinaus (derzeit bis 1960/61) verlängert. Bereits Anfang 1987 war mit der Bischofskonferenz vereinbart worden, künftig die Bischofsakten aus der Gründungs- und Frühphase der Bundesrepublik zu edieren40 ; jetzt kamen diejenigen aus der DDR hinzu. Auf dieser Doppelreihe lag seither der Schwerpunkt der Editionstätigkeit der Kommission41. In der Reihe „Forschungen“ erschienen seit 1990 bisher fünf Bände zu DDR-Themen, zuzüglich der außerhalb der Reihe veröffentlichten Studie von Christoph Kösters über „Staatssicherheit und Caritas“ (2002)42. Demgegenüber stehen unter den 87 zwischen 1990 und 2019 erschienenen Bänden der Reihe B zehn zu bundesrepublikanischen Themen und immer noch elf zum 19. Jahrhundert. Der eindeutige Schwerpunkt verblieb aber, wie bereits in der ersten Phase der Kommissionsgeschichte, auf den 12 Jahren der NS-Diktatur (17 Bände) und auf organisationsgeschichtlichen bzw. biographiehistorischen Arbeiten aus dem Bereich der „klassischen“ Forschung zum – im Sinne Hürtens – noch gar nicht oder nur wenig „verkirchlichten“ Vereins- und Verbändekatholizismus43. Ob nun das neue Thema DDR mehr oder weniger retardierend wirkte, mag dahingestellt bleiben; als weiteres „retardierendes Moment“ wäre seit der wiederaufgewärmten Hochhuth-Debatte44 und den vatikanischen Archivöffnungen von 2003/2006 auch eine Renaissance der Befassung mit der Konfrontation von Kirche und NS-Regime – vom Reichskonkordat über die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ bis hin zu Himmlers „Klostersturm“ – zu nennen45. Jedenfalls schritt die 1987 angemahnte thematische Ausdehnung wie methodische Erneuerung der Kommissionsarbeit nur sehr langsam voran. Seit ebenfalls 1987 erwuchs der Kommission für Zeitgeschichte mit dem Schwerter Arbeitskreis Katholizismusforschung eine agile Konkurrenz. Inspiriert von der Bielefelder Geschichtswissenschaft etablierte sich in der ka39 Für die Dokumentation der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ erarbeiteten Ulrich von Hehl und Wolfgang Tischner den Beitrag über die katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945–1989. – Vgl. auch die Tagungsdokumentationen: Von Hehl / Hockerts, Katholizismus; Hummel, Ostpolitik; Kçsters / Tischner, Kirche. – Kein Kommissionsprojekt war die große Quellensammlung Hçllen, Distanz; Verbindungen des Editors Martin Höllen zur Kommission und zum damaligen Verlag der Kommission (Grünewald) bestanden aber gleichwohl. 40 Vgl. die mündliche Auskunft Dr. Christoph Kösters, KfZg, Jan. 2020. 41 Der dritte Bischofsakten-Band „Ost“ (SBZ/DDR 1945–1950) steht vor dem Abschluss (Stand: Sommer 2020). 42 Hinzu kommen diverse Einzelstudien dieses Autors, vgl. u. a. Kçsters, Bischöfe; ders., Revolution. 43 Vgl. Anm. 16. 44 Vgl. Cornwell, Pius XII; und Goldhagen, Kirche. 45 Als debattenorientiertes Ergebnis dieser Renaissance kann die 2009 erschienene, völlig überarbeitete Neuauflage des Gotto/Repgen-Bandes gelten: Hummel / Kissener, Die Katholiken und das Dritte Reich.
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tholischen Akademie in Schwerte seit diesem Jahr ein interdisziplinäres Forum jüngerer Wissenschaftler, das sich mit „kritischem“ Anspruch der „zahlreichen Forschungsdefizite auf dem Gebiet der Katholizismusforschung“ und insbesondere der „gravierenden Desiderate bei der Erforschung des jüngeren Katholizismus“ annehmen wollte. Nicht nur der „kritische“ Habitus richtete sich unverkennbar gegen das Establishment der Kommission und deren mehrheitlich von einem „sentire cum ecclesia“ geprägten Netzwerk46. Auch die debattenzentrierte, offenere Arbeitsweise unterschied sich von der eher traditionalistischen des Ordinariengremiums. Als Desiderata wurden vor der ersten Tagung in Schwerte unter anderem genannt: fehlende Theoriebildung, „deshalb [bisher] Konzentration auf ideengeschichtl. Fragestellungen“, hingegen „Fehlen von sozial-, mentalitäts-, ideologiegeschichtl. Ansätzen.“ Katholizismus als Doktrin werde erfasst, Katholizismus als Lebenswelt nicht. Gerade diese Dualität mache aber „das Spezifische am Katholizismus aus“. Angemahnt wurden Studien zur „sog. Frauenfrage im modernen Katholizismus“ sowie zum „immer breiter werdenden Spektrum“ des Katholizismus „im Vergleich zur früheren Geschlossenheit“47. „Hinsichtlich des Erkenntnisinteresses“ sollte „der ,Katholizismus‘ immer auch paradigmatischen Charakter für die Frage nach der Bedeutung religiöser Ideen und Praktiken in politischsozialen Prozessen haben“48. Die von den Gründern August Hermann Leugers, Wilfried Loth und Josef Mooser via Schwerte gesetzten Impulse drangen nur langsam und über verschiedene Umwege, wissenschaftsgeographisch von Bielefeld/Schwerte über Münster und Bochum in Richtung der Bonner Kommission vor. Neben den methodisch innovativen Dissertationen von Andreas Holzem, Antonius Liedhegener und Christoph Kösters bildet die Habilitationsschrift von Wilhelm Damberg „Abschied vom Milieu?“ (1997) innerhalb der sogenannten Blauen Reihe das eigentliche Manifest der Gegenstandserweiterung in der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung. Sie stößt inhaltlich bis an den Beginn der 1980er Jahre vor und erörtert exemplarisch anhand des Bistums Münster und der Niederlande die bereits zehn Jahre zuvor von Hürten und Altermatt angerissene Frage des „tiefgreifenden“ Strukturwandels des deutschen Katholizismus vor dem Hintergrund der Wirkungsgeschichte des Konzils49. Damit war implizit auch bereits die große Zukunftsfrage nach dem Gegenstand einer kirchlichen Zeitgeschichte „nach dem Milieu“ verbunden. 46 August H. Leugers / Wilfried Loth / Josef Mooser : Einladungsschreiben, 21. 6. 1987, zit. nach Leugers, 20 Jahre, 353. 47 Arbeitstagung am 29./30. September 1987 in der Akademie Schwerte, 6 f.: Zusammenstellung der geäußerten Desiderate (http://www.katholizismusforschung.de/uploads/SAK%20Pro gramm%201987.pdf [16. 8. 2020]). 48 Leugers / Loth / Mooser, Einladungsschreiben (wie Anm. 46). 49 https://www.kfzg.de/publikationen/forschungen/publikation/abschied-vom-milieu-katholizis mus-im-bistum-muenster-und-in-den-niederlanden-1945-1980-paderborn-u-a-1997 [2. 9. 2020].
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Was erforschen wir eigentlich nach dem Umschlag des „verkirchlichten Katholizismus“ in einen „entkirchlichten“ (Stichwort: Autoritätsverlust) und nach der Erosion des (vermeintlich) homogenen katholischen Milieus50 ? Und wie erforschen wir es? Sozialgestalt(en) und Wandel des Katholizismus rückten durch die Studien Jüngerer verstärkt in den Fokus der katholisch-kirchlichen Zeitgeschichte. Im Wechsel der Generationen drangen auch neue Arbeitsweisen und Diskurstechniken vor, so etwa in dem informellen „Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte, Münster“ um Wilhelm Damberg. Hier versammelte sich Anfang der 1990er Jahre eine Gruppe von Theologen, Politologen und Historikern, die, Anregungen Loths und Altermatts aufgreifend, mit sozial- und auch bereits kulturwissenschaftlichen Zugriffen versuchten, den Milieubegriff für die Katholizismusforschung endlich zu systematisieren und auch durch Theoriebemühungen operationalisierbar zu machen. Die Ergebnisse wurden in einigen, kollektiv verfassten Grundsatzstudien veröffentlicht, zu denen Wissenschaftler beitrugen, die dann für die bisher jüngste Phase der Kommissionsgeschichte Bedeutung gewinnen sollten (Damberg, Kösters, Liedhegener, Joachim Schmiedl u. a.)51. Seit der Jahrtausendwende zeigt eine erhöhte Schlagzahl selbstreflektierender Bemühungen der Kommission für Zeitgeschichte an, wie intensiv sie damit befasst ist, ihren Forschungsgegenstand zu erweitern und neu zu bestimmen52. Das hängt essentiell mit dem „Nachwachsen“ der Zeitgeschichte zusammen: ist der Begriff „Katholizismus“ (von „Milieu“ ganz zu schweigen) für die Periode seit etwa 1960 überhaupt noch brauchbar53 ? Die Zahl der in die 1970er und 80er Jahre vorstoßenden Arbeiten in der Reihe B nimmt in den 2000er Jahren deutlich zu; im Themenspektrum beginnen sich Konjunkturen der allgemeinen Geschichtswissenschaft aktueller zu spiegeln als früher: Medien und Medialisierung (Kino, Presse, Öffentlichkeit), Geschlechtergeschichte und Frauenbewegung, Konsum und Konsumkritik54. Die „kirchliche Zeitgeschichte“ ist im Gravitationsfeld des kulturgeschichtlichen Paradigmas angekommen. Bereits die „Anregungen für die zeitgeschichtliche Katholizismusforschung“ auf der Tagung 2003 anlässlich des 75. bzw. 80. Geburtstages der beiden Kommissionsgründer Morsey und Repgen gehen allesamt in die kulturgeschichtliche Richtung. Im Sinne einer modernen Kulturgeschichte als einer – wie es wiederum Altermatt 2003 formuliert – „Verbindung von Sozialgeschichte auf der einen und von Ideen- und Mentalitätsgeschichte auf der anderen Seite“ – befasse sich die „Kulturge50 Vgl. Kçsters / Kullmann / Liedhegener / Tischner, Forschungsbericht, bes. 485–487. 51 Vgl. Arbeitskreis fer kirchliche Zeitgeschichte Menster, Katholiken; Ders.: Konfession; Kçsters / Liedhegener, Milieus. 52 Vgl. Hummel, Katholizismusforschung, hier bes. von Hehl, Katholizismusforschung; und Damberg / Hummel, Katholizismus, hier bes. Damberg, Einführung. 53 Vgl. auch Hummel, Relevanz. 54 Vgl. Anm. 16.
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schichte des Katholizismus nicht nur mit organisatorischen Strukturen wie Vereinen und Parteien und deren Akteuren, sondern auch mit der Produktion und Verbreitung von Wissen und Ideen, von kulturellen Codes, Symbolen und Riten“55. Unter den Befunden von Entkirchlichung, Pluralisierung, Erosion der Milieus, also der dominanten Kennzeichen des Strukturwandels seit den 1960er Jahren, versuchen die kulturwissenschaftlichen Ansätze dazu beizutragen, zu erklären und zu verstehen, was mit dem „Katholischen“ seither geschehen ist. In den jüngsten Überlegungen der Kommission für Zeitgeschichte zur Erforschung ihres Gegenstandes in der post- und vielleicht schon post-postmodernen Welt löst der Begriff des „Katholischseins“ denjenigen des „Katholizismus“ ab. Dieser Begriff – hier nehme ich Formulierungen von Holzem, Damberg und Florian Bock auf – folgt der These, dass aus der Sozialform des katholischen Milieus diversifizierte Sozialformen des Katholischen hervorgehen und dass diese ihrerseits während der beiden letzten Drittel der „alten“ Bundesrepublik (also etwa 1960–1990) erheblichen mitgestaltenden Anteil an der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung haben. Das Ende des Milieus wird nicht als „Ende des Katholischen“ begriffen, sondern als Transformation, die Neues hervorbringt. Dieses Neue kennzeichnet sich (wiederum hypothetisch) durch drei signifikante Entwicklungen: 1. durch eine Subjektivierung der Glaubensüberzeugungen (theologisch auch durchaus re-fundiert in einer Neubewertung der Quellen religiöser Autorität, zu Lasten des kirchlichen Lehramts); damit geht eine autonomere Handhabung religiös-moralischer Standards des Alltagslebens einher ; 2. durch eine kollektive Praxis der Sinnstiftung, die die gewandelten Überzeugungen sozial legitimiert und neue Gruppenbildungen und Rollenbilder des Katholischen hervorbringt; 3. durch eine Vernetzung katholischer Akteure und Gruppen mit anderen, um gemeinsam an der Lösung spezifischer politischer wie gesellschaftlicher Problemlagen zu arbeiten56. Zusammen mit diesen analytischen Neuansätzen erprobt die Kommission derzeit auch veränderte Arbeitsweisen. Ein diskursives Forschungsnetzwerk mit der Bonner Forschungsstelle als Organisationszentrum soll Stil und Habitus des älteren Honoratiorengremiums ablösen und in die an den Universitäten verankerten zeithistorischen Disziplinen hineinwirken. Gleichzeitig lässt die knapper werdende finanzielle und personelle Grundausstattung eine stärkere Annäherung an den drittmittelorientierten Wissenschaftsbetrieb ratsam erscheinen57. 55 Altermatt, Plädoyer, 175. 56 Vgl. DFG-Forschungsgruppenantrag (2973) „Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland. Semantiken, Praktiken, Emotionen in der westdeutschen Gesellschaft 1965–1989/90“; www.katholischsein-for2973.de [27. 10. 2020]. 57 Der o. g. DFG-Forschungsgruppenantrag wurde im Frühjahr 2020 bewilligt. Die Forschungsgruppe nahm ihre Arbeit im Oktober 2020 auf.
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Formen und Transformationen des „Katholischseins“ in den Jahrzehnten zwischen Konzil, Mauerbau und Mauerfall werden in den kommenden Jahren im Mittelpunkt der Arbeit der Kommission für Zeitgeschichte stehen, zunächst mit Konzentration auf die Bundesrepublik, ohne deshalb aber den vergleichenden Blick auf den anderen deutschen Staat zu vernachlässigen. Mit diesem Arbeitsschwerpunkt sind Fragen von hoher und unbequemer Aktualität verbunden: über den Wandel der katholischen Sexualmoral hat die Kommission auf einer Tagung 2018 zur Enzyklika „Humanae vitae“ diskutiert58, das Thema „Die Kirche und der sexuelle Missbrauch“59 stand im Herbst 2020 auf der Tagungsordnung. Auch wenn die zeitliche Distanz wächst, verbleibt die nationalsozialistische Periode als ehemaliges Kernthema im Gegenstandsbereich der katholischkirchlichen „Zeitgeschichte“, schon aufgrund der anhaltenden öffentlichen Aufmerksamkeit, die durch die erneute vatikanische Archivöffnung (2020), das gesamte Pontifikat Pius’ XII. betreffend (1939–1958), wieder steigen wird. In Verbindung damit werden Themen der Aufarbeitung der Rolle von Kirche und Katholiken während der NS-Zeit in den ersten Nachkriegsjahrzehnten stärker in den Fokus rücken, desgleichen die Frage nach Kirche und Katholizismus im Rahmen der Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges. Schließlich darf auch die alte Aufgabe der Grundlagenforschung, sprich: Aktenedition, nicht aufgegeben werden. Hier ist die Suche nach neuen (digitalen), praktikablen und finanzierbaren Lösungen für die Fortsetzung der Bischofsaktenedition noch nicht abgeschlossen. Dies alles sollte möglichst im Rahmen größerer Kontexte erfolgen: mit Blick auf das globale Phänomen „Katholizismus“ (oder : „Katholischsein“) – Stichwort: transnationaler Katholizismus60 – und nicht zuletzt, evangelische Kollegen haben wiederholt darauf hingewiesen61, in der überkonfessionellen Zusammenarbeit62.
I. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Altermatt, Urs: Bemerkungen zum Thema. In: von Hehl / Repgen, Katholizismus, 65–77. –: Plädoyer für eine Kulturgeschichte des Katholizismus. In: Hummel (Hg.), Katholizismusforschung, 169–187. 58 Vgl. Aschmann / Damberg, Humanae Vitae. 59 Vgl. https://www.kfzg.de/fileadmin/user_upload/downloads/flyer-tg-missbr-2020_394x210_ 200827_web.pdf [2. 9. 2020]. 60 Der Ansatz dazu vgl. Henkelmann / Kçsters / Oehmen-Vieregge / Ruff, Katholizismus. 61 Vgl. z. B. Greschat, Vergleich, 195. 62 Den Versuch einer bikonfessionellen Perspektive auf die kirchliche Zeitgeschichte der NS-Zeit in Zusammenarbeit beider Kommissionen unternahm Brechenmacher / Oelke, Kirchen.
„Katholizismusforschung“, „Kirchliche Zeitgeschichte“, „Katholischsein“ 109 Arbeitskreis fer kirchliche Zeitgeschichte Menster : Katholiken zwischen Tradition und Moderne. Das katholische Milieu als Forschungsaufgabe. In: Westfälische Forschungen 43 (1993), 588–654. –: Konfession und Cleavages im 19. Jahrhundert. Ein Erklärungsmodell zur regionalen Entstehung des katholischen Milieus in Deutschland. In: HJb 120 (2000), 358–395. Aschmann, Birgit / Damberg, Wilhelm (Hg.): Liebe und tu, was du willst? Die „Pillenenzyklika“ Humanae vitae von 1968 und ihre Folgen (VKfZG C 3). Paderborn 2020. Blaschke, Olaf: Verlagsfeldforschung und datenbasierte Netzwerkanalyse. Das Beispiel der Kommission für Zeitgeschichte. In: Jürgen Elvert (Hg.): Netzwerke und Organisationen in der frühen Bundesrepublik. Frankfurt a. M. 2016, 71–86. Brechenmacher, Thomas / Oelke, Harry (Hg.): Die Kirchen und die Verbrechen im nationalsozialistischen Staat. Göttingen 2011. Cornwell, John: Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat. München 1999. Damberg, Wilhelm: Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980 (VKfZG B 79). Paderborn u. a. 1997. –: Zur Einführung: Katholizismusforschung heute. In: Ders. / Hummel, Katholizismus, 9–21. – / Hummel, Karl-Joseph (Hg.): Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart (VKfZG B 130). Paderborn u. a. 2015. Denk, Hans Dieter: Die christliche Arbeiterbewegung in Bayern bis zum Ersten Weltkrieg (VKfZG B 29). Mainz 1980. Deuerlein, Ernst: Das Reichskonkordat. Beiträge zu Vorgeschichte, Abschluß und Vollzug des Konkordates zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933. Düsseldorf 1956. Doering-Manteuffel, Anselm / Nowak, Kurt (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden. Stuttgart / Berlin / Köln 1996. Gabriel, Karl: Soziologische Anmerkungen zur widersprüchlichen Lage des Katholizismus heute. In: HJb 136 (2016), 125–141. Goldhagen, Daniel J.: Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne. Berlin 2002. Gotto, Klaus / Repgen, Konrad (Hg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Mainz 3 1990 [zuerst 1980]. Greschat, Martin: Bemerkungen zum Thema. In: von Hehl / Repgen, Katholizismus, 107–110. –: Konfessioneller Vergleich. In: Hummel (Hg.), Katholizismusforschung, 189–195. Hackel, Renate: Katholische Publizistik in der DDR 1945–1984 (VKfZG B 45). Mainz 1987. Hehl, Ulrich von: Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Versuch einer Standortbestimmung. In: Hummel (Hg.), Katholizismusforschung, 15–28. – / Hockerts, Hans Günter (Hg.): Der Katholizismus – gesamtdeutsche Klammer in den Jahrzehnten der Teilung? Erinnerungen und Berichte. Paderborn u. a. 1996.
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III. Akteure und Intentionen der Kirchlichen Zeitgeschichte
Thomas Martin Schneider
Akteure der Kirchlichen Zeitgeschichte – evangelisch
1. Die Anfänge – am Beispiel Wilhelm Niemöller contra Friedrich Baumgärtel Die erste Phase der evangelischen kirchlichen Zeitgeschichte von 1945 bis zum Ende der 1960er Jahre war geprägt durch „Deutungskämpfe der Erlebnisgeneration“1. Die Akteure waren ganz überwiegend männliche Theologen, die sich in der Bekennenden Kirche (BK) engagiert hatten. Längst nicht alle waren Wissenschaftler oder (Kirchen-)Historiker. Sie implementierten erfolgreich und nachhaltig das Narrativ, dass die dem christlichen Glauben treu gebliebene Bekennende Kirche dem heidnisch-antichristlichen NS-Staat und seinen Gleichschaltungsbestrebungen trotz allen Repressionen widerstanden habe. Diese Akteure gehörten meist entweder dem radikalen uniert-reformierten und von Karl Barth geprägten oder dem gemäßigteren lutherischen Flügel der Bekennenden Kirche an und versuchten nicht nur, das historische Recht ihrer Haltung und ihres Verhaltens im „Dritten Reich“ nachträglich zu erweisen, sondern auch Einfluss auf den schwierigen und sich über mehrere Jahre hinziehenden Neuformierungsprozess der evangelischen Kirche zu nehmen und deren künftigen Kurs mitzubestimmen. Vor allem ein Name sticht unter den Akteuren der evangelischen kirchlichen Zeitgeschichte der ersten Phase hervor: Wilhelm Niemöller, der jüngere Bruder Martin Niemöllers. Neben seinem Bielefelder Gemeindepfarramt, das er von 1930 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1963 innehatte, widmete er sich mit enormem Fleiß der Dokumentation und Aufarbeitung des „Kirchenkampfes“. Seine Sammlung, die er 1963 dem Landeskirchlichen Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen verkaufte, umfasst ca. 48 laufende Meter2. Hinzu kommen Dutzende von veröffentlichten Dokumentationen und Darstellungen. Der US-amerikanische Historiker Robert Ericksen etwa bezeichnete Wilhelm Niemöller als „arguably the most important creator of Kirchenkampf historiography in the postwar world, at least for the first generation“3. Bereits Niemöllers erste kleine, nur 15 Seiten umfassende 1 Kuller / Mittmann, Kirchenkampf. 2 Vgl. Katalog der Deutschen Nationalbibliothek, Sammlung Wilhelm Niemöller (http://d-nb.info/ gnd/1022412590 [zuletzt aufgerufen am 17. 3. 2020]). 3 Ericksen, Niemöller, 433.
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Druckschrift zum „Kirchenkampf im Dritten Reich“ aus dem Jahre 1946 wurde 30.000 Mal verkauft4. Etliche Wissenschaftler haben mittlerweile auf die Fragwürdigkeit der Arbeiten Wilhelm Niemöllers hingewiesen. Die aus heutiger Sicht zweifellos sehr berechtigten wissenschaftlichen Einwände lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Niemöllers Sicht beschränkte sich fast ausschließlich auf die Bekennende Kirche und mehr noch auf deren radikalen Flügel, während er andere Gruppierungen in der evangelischen Kirche nahezu vollkommen ausblendete bzw. lediglich als Negativfolie benutzte. Nach Ericksen repräsentierte er damit nicht nur „a minority position“, sondern vielmehr „a minority within a minority“5. 2. Niemöller pflegte, wie die Erfurter Historikerin Christiane Kuller es formuliert hat, „eine familiennahe Hagiografie“6. Er trug in familiärer, brüderlicher Treue maßgeblich dazu bei, dass sein Bruder Martin „geradezu als Inkarnation der BK gilt“, so der Historiker Norbert Friedrich, Vorstand der Fliedner-Kulturstiftung Düsseldorf-Kaiserswerth7. 3. Niemöller machte keinen Hehl daraus, dass er parteiisch war und sich ganz der Theologie Karl Barths verschrieben hatte. Er wollte eigentlich auch gar kein Historiker sein, sondern Glaubenszeuge. Kuller sprach in diesem Zusammenhang von einer „heilsgeschichtlichen Grundperspektive“8. Bei Niemöller selbst las sich das etwa im Vorwort seines seinem Bruder gewidmeten Buches „Kampf und Zeugnis der Bekennenden Kirche“ aus dem Jahre 1947 so: „Als ich dieses Buch zu schreiben begann, gedachte ich nicht unter die Historiker zu gehen. Ich wollte weder den ,Aufbruch‘ einer ,Bekenntnisgemeinschaft‘ schildern noch den Streit einer ,Bekenntnisfront‘ darstellen. Ich wollte vielmehr bezeugen, daß Gott heute noch Wunder tut, und daß Er durch seine Wundermacht eine müde und satte, kampfentwöhnte und leidensscheue Kirche gezwungen hat, eine bekennende Kirche zu werden.“9
4. Niemöller blendete nicht nur die nationalsozialistischen Staatsverbrechen wie die Ermordung von mehr als sechs Millionen jüdischen Menschen, die durchaus auch kritische Fragen an die Repräsentanten der radikalen Bekennenden Kirche aufwarfen, nahezu völlig aus, sondern auch sein eigenes Engagement für den Nationalsozialismus. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, dazu Stellung zu nehmen, dann relativierte er zumindest stark. So behauptete er etwa bei einem Vortrag in den USA, dass er als amerikanischer Kriegsge4 5 6 7 8 9
Niemçller, Kirchenkampf; vgl. Friedrich, Entwicklung, 276. Ericksen, Niemöller, 448. Kuller / Mittmann, Kirchenkampf. Friedrich, Entwicklung, 273. Vgl. auch Ziemann, Niemöller, 15. Kuller / Mittmann, Kirchenkampf. Niemçller, Kampf, 9 (zitiert nach Ericksen, Niemöller, 441).
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fangener zeitweise auch mit nur 452 Kalorien am Tag hätte auskommen müssen und verglich damit sein eigenes Schicksal mit dem von hungerleidenden Gefangenen in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten10. Seine eigene Mitgliedschaft in der NSDAP schon seit 1923 und seine erfolgreiche Intervention gegen seinen Parteiausschluss 1933/34 rechtfertigte er als eine Art Jugendsünde und als bloß formale, passive Zugehörigkeit11. Friedrich hat gezeigt, wie stark aktuelle kirchenpolitische Interessen vor allem in Westfalen sich mit Wilhelm Niemöllers Vergangenheitsbewältigung verbanden. Niemöller unterstützte die Bemühungen um eine Verselbständigung der westfälischen Provinzialkirche, die ja nur Teil der altpreußischen Landeskirche war. Das war, wie Friedrich zu Recht anmerkte, „letztlich ein revolutionärer, ungesetzlicher Akt, der erst nachträglich legitimiert wurde“12. Rechtfertigen ließ sich dieser Akt aus der von Niemöller eingenommenen Perspektive der radikalen BK, die sich per Notrecht von den ,offiziellen‘, von den „Deutschen Christen“ (DC) dominierten Kirchenstrukturen gelöst hatte. Das ursprünglich gegen die DC-Herrschaft gerichtete Notrecht wurde gewissermaßen über 1945 hinaus verlängert und jetzt auch gegen Strukturen verwandt, die bereits lange vor 1933 existiert hatten. Das war genau das Gegenteil von dem Kurs, den der lutherische Teil der BK mit den sogenannten intakten Landeskirchen verfolgte, für die das Legalitätsprinzip stets eine große Rolle gespielt hatte. Als in dem traditionell überwiegend lutherischen Westfalen starke Tendenzen sichtbar wurden, die neue Landeskirche wieder deutlicher auf eine lutherische Bekenntnisgrundlage zu stellen, positionierte sich Niemöller als Vertreter des uniert-reformierten Flügels der BK dagegen und berief sich auf die Barmer Theologische Erklärung, die dann auch als eine Art Unionsbekenntnis in die Ordinationsverpflichtung der westfälischen Pfarrer aufgenommen wurde13. In diesem Zusammenhang war Niemöller offenbar auch daran beteiligt, zu verhindern, dass der erklärte Lutheraner Hermann Kunst das oberste geistliche Amt in der neuen westfälischen Landeskirche übernehmen konnte14. Nach Ericksen spielte Wilhelm Niemöller ferner eine wichtige Rolle bei der aus Ericksens Sicht überraschend erfolgreichen Karriere seines Bruders Martin. Schließlich bewahrte die geschickte Art seiner Vergangenheitsbewältigung Wilhelm Niemöller offensichtlich davor, dass die Alliierten oder die eigene Kirchenleitung ein Entnazifizierungs- bzw. Selbstreinigungsverfahren gegen ihn einleiteten – trotz seiner langjährigen NSDAP-Mitgliedschaft mit niedriger Nummer15 und trotz seines goldenen Parteiabzeichens16. 10 11 12 13 14 15
Ähnlich äußerte sich auch der Bruder Martin, vgl. Ziemann, Niemöller, 374. Vgl. Friedrich, Entwicklung, 274. Ebd., 266. Vgl. ebd., 266 f. Vgl. ebd., 278. Wilhelm Niemöller hatte die NSDAP-Mitgliedsnummer: 26.850, vgl. Aktenvermerk zum Schreiben Else Niemöllers an Hitler vom 18. 4. 1939 (BArch Berlin, R 43-II/155, Bl. 208).
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Es ist bemerkenswert, dass viele Einwände gegen Wilhelm Niemöllers Geschichtsdeutung bzw. -politik von Zeitgenossen bereits unmittelbar nach dem Erscheinen seiner Publikationen erhoben wurden. Diese veranlassten schon 1958 den Erlanger Alttestamentler Friedrich Baumgärtel zur Abfassung einer scharfen Kritik mit dem Titel „Wider die Kirchenkampflegenden“. Mit Hilfe von zahlreichen Quellenzitaten wies Baumgärtel auf „die anfängliche Verstricktheit [auch] bedeutsamer Führer der Bekennenden Kirche in das nationalsozialistische Gedankengut und ihre teilweise erhebliche, bis weit ins Jahr 1933 reichende Aktivität für Hitlers Sache“ hin17. Hierbei war ihm wichtig herauszustellen, dass prinzipiell nicht zwischen den beiden Flügeln der BK unterschieden werden könne, wobei er bemerkenswerterweise die Terminologie Niemöllers übernahm und eigentlich nur den radikalen Flügel als „Bekennende Kirche“ bezeichnete18. Den langen Anmarschweg von der „eigene[n] jahrelange[n] Aufgeschlossenheit der Hitlerbotschaft gegenüber“ hin zu einem „Abwehrkampf[…] gegen die nationalsozialistische Überfremdung“ hätten „[Hans] Meiser und [Theophil] Wurm und zahlreiche andere“ – gemeint waren die Repräsentanten des lutherischen Flügels der BK – „ebenso gut“ zurückgelegt wie „die Brüder Niemöller“ und ihre Weggefährten19. Ja, mehr noch, die lutherischen Bischöfe Meiser (Bayern) und Wurm (Württemberg) hätten entgegen Niemöllers Vorwurf die Nazis nicht erst „zu spät“ durchschaut, sondern „durchaus noch ihren Mann gestanden“ und sich „[z]um Teil […] niemals zu Hitler bekannt und dadurch mitgeholfen […], das Dritte Reich heraufzuführen, wie das […] die Brüder Niemöller und andere Führer der Bekennenden Kirche (sicher in idealer Gesinnung und besten Glaubens) getan“ hätten20. Auch die Vertreter der sogenannten neutralen Mitte nahm Baumgärtel mit dem Hinweis auf die „Vielschichtigkeit“ der Geschichte, die notwendige Differenzierung21 und die Schuldverstrickung aller in Schutz22. Ganz im Gegensatz zu Wilhelm Niemöller verstand sich Baumgärtel als Historiker, der sine ira et studio nach dem fragt, „was geschehen ist und nach den inneren Zusammenhängen dieses Geschehens“. Es gehe, so Baumgärtel, „um historische Feststellung des abgelaufenen Geschehens, nicht um moralische, ethische, religiöse Qualifizierungen!“23 So nachvollziehbar Baumgärtels Ansatz grundsätzlich und seine Kritik an den Brüdern Niemöller im Einzelnen auch sind, vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie hatten insbesondere seine relativierenden Hinweise und 16 Vgl. Rahe, Rahe, 19. 17 Baumg-rtel, Kirchenkampflegenden, 59. 18 Dem Selbstverständnis des „Lutherrats“ entsprechend wird dieser hier ebenfalls als „Bekennende Kirche“ bzw. als deren lutherischer Teil oder Flügel bezeichnet. 19 Baumg-rtel, Kirchenkampflegenden, 59. 20 Ebd., 30. 21 Vgl. ebd., 58 f. 22 Vgl. ebd., 67. 23 Ebd., 22.
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seine Polemik gegen Wilhelm Niemöller deutlich apologetische Züge. Baumgärtel selbst gehörte im „Dritten Reich“ wohl zur „Mitte“ und war mit Unterstützung des stark belasteten Dekans Emanuel Hirsch 1937 in Göttingen auf eine Professur für Altes Testament berufen und dabei sogar als Nicht-Parteigenosse einem Parteigenossen vorgezogen worden24. Es spricht für Baumgärtel, dass er das Problem seiner eigenen Befangenheit, das ja zugleich ein allgemeines Problem der Zeitgeschichtsforschung ist, zumindest ansatzweise selbst reflektierte. „[D]ie Relativität des Ergebnisses“ seiner zeithistorischen Bemühungen stehe, so Baumgärtel, „[v]on vornherein […] fest – eine letzte gültige Aussage ist ja überhaupt nicht möglich, bei der geringen zeitlichen Distanz, in der wir uns zu den damaligen Ereignissen noch befinden, schon gar nicht.“25 Bemerkenswert ist der theologische Hintergrund der heftigen Auseinandersetzung zwischen Baumgärtel und Niemöller. Baumgärtel lehnte die für den radikalen Flügel der BK so einflussreiche Theologie Karl Barths ab. Entgegen dem Anspruch Barths sah Baumgärtel in dieser Theologie auch ein Phänomen des – von den Barthianern so viel gescholtenen – „Zeitgeist[es]“ mit „totalitäre[m] Anspruch“26. Konkret warf Baumgärtel den Anhängern Barths u. a. vor: „das Führungsprinzip machte sich breit, Unduldsamkeit gewann Raum; religiös-theologische Hoffart gegenüber Andersdenkenden wurde schon bei den Studenten […] geweckt […] Machtstreben verdrängte brüderliche Haltung“27. Mit dieser Kritik, die sich durchaus mit der späteren Barth-Kritik der sogenannten Münchner Schule um Trutz Rendtorff und Friedrich-Wilhelm Graf berührte28, traf Baumgärtel bei Niemöller offenkundig einen Nerv. „Wer ist Professor Baumgärtel, daß er Karl Barth attackiert“29, schleuderte Niemöller seinem Kritiker entgegen – und bestätigte damit ja in gewisser Weise dessen Anwürfe. Dabei war sich Niemöller offenbar sicher, dass die Zukunft ihm bzw. der Barthschen Theologie unzweifelhaft Recht geben werde: „Ich meine, so etwas [gemeint waren Baumgärtels Attacken auf Barth, T. M. S.] sollten wir uns sparen, weil es, wenn nicht heute, so doch sicher morgen lächerlich wirken wird.“30 Baumgärtel zahlte mit gleicher Münze heim:
24 Vgl. Below, Weber, 193 f. Joachim Mehlhausen (vgl. Mehlhausen, Methode, 511, Anm. 10) wies auf eine problematische – antijudaistische – Streitschrift Baumgärtels gegen Dietrich Bonhoeffer aus dem Jahre 1936 hin (Baumg-rtel, Kirche), die wohl ein weiterer Beleg für die – auch – apologetische Intention des Buches Baumg-rtel, Kirchenkampflegenden ist. 25 Baumg-rtel, Kirchenkampflegenden, 45. 26 Ebd., 57. 27 Ebd. 28 Vgl. Rendtorff, Barth; Graf, Götze. 29 Schreiben Wilhelm Niemöllers an den Herausgeber des Deutschen Pfarrerblattes, abgedruckt in: Baumg-rtel, Kirchenkampflegenden, 17–21, hier: 18. 30 Ebd.
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„Wer ist Wilhelm Niemöller, daß er seinem Mitbruder zu sagen wagt: Schweig und beuge dich, wenn Karl Barth gesprochen hat! […] (Roma locuta, causa finita! – ist das wirklich der Bekennenden Kirche letzter Schluß und Halt bei der Suche nach der geschichtlichen Wahrheit?) – ich begegne solcher unbrüderlichen Zumutung mit Wilhelm Niemöllers eigenen Worten: ,Ich meine, so etwas sollten wir uns sparen, weil es, wenn nicht heute, so doch sicher morgen lächerlich wirken wird‘“.31
Die wechselseitige Polemik zeigt sehr deutlich, dass es nicht nur um Vergangenheitsbewältigung, sondern auch um Positionierungen in der Gegenwart und um Zukunftsgestaltung ging. Bezeichnend war, dass Baumgärtel sich genötigt fühlte, zu dementieren, dass seine Schrift etwas „[m]it dem durch das Atomwaffenproblem innerhalb der evangelischen Kirche aufgebrochenen Zwiespalt“ zu tun haben könnte32. Damit reagierte er auf entsprechende Vorwürfe, dass es ihm weniger um die Geschichte von 1933 bis 1945, als vielmehr um die aktuelle politische Debatte um Wiederbewaffnung und Atomrüstung in den 1950er Jahren ging. Hier hatten sich die sogenannten Linksbarthianer, allen voran Martin Niemöller, klar positioniert, und dieser Linksbarthianismus bzw. Linksprotestantismus sollte ab den 1960er Jahren in der evangelischen Kirche noch stark an Einfluss gewinnen. Es fragt sich, ob das von Wilhelm Niemöller so vehement verfochtene Narrativ von der heldenhaften radikalen BK nicht auch deswegen so nachhaltig erfolgreich sein konnte, weil es sich als besonders anschlussfähig erwies für theologische und politische Optionen, die in der evangelischen Kirche im Zusammenhang der gesellschaftlichen Auf- und Umbrüche der 1960er bis 80er Jahre wirkmächtig wurden. Dabei ist zu beachten, dass viele Akteure aus der Zeit des „Kirchenkampfes“ in hohem Lebensalter auch die Debatten dieser Jahrzehnte – gewissermaßen als ,graue Eminenzen‘ – noch maßgeblich mitbestimmten.
2. Die Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes bzw. die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte 1955 berief der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit“. Die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte dieser Kommission ist mehrfach ausführlich dargestellt worden33 ; ich beschränke mich 31 Ebd., 61. 32 Ebd., 63; vgl. auch 65. 33 Vgl. u. a.: Nicolaisen, Theologie; Kaiser, Wissenschaftspolitik; ders., Forschungsaufgaben; Hauschild, Grundprobleme; ders., Zeitgeschichte; Schjørring, Jahre; und Kuller / Mittmann, Kirchenkampf. Auf Forschungen außerhalb der Kommission bzw. der Arbeitsgemeinschaft wird hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen. Zu nennen wären insbeson-
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auf einige mir wesentlich erscheinende Aspekte. Der entscheidende Anstoß für die Gründung der Kommission ging offenbar von staatlicher Seite aus. 1949 war in München bereits das Deutsche Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit gegründet worden, das 1952 in Institut für Zeitgeschichte umbenannt wurde. Das Bundesinnenministerium stellte eigens zwei Mitarbeiterstellen zur Verfügung, um auch die Rolle der beiden großen Kirchen im Nationalsozialismus zu erforschen. Die Stellen sollten von den Kirchen selbst besetzt werden, vermutlich auch wegen der „theologischen Implikationen“ der Materie, die für Allgemeinhistoriker „als schwer hantierbar“ erschienen34. Evangelischerseits scheiterte die Stellenbesetzung offenbar daran, dass man sich wegen der eben dargestellten erinnerungspolitischen Konflikte nicht auf eine Person einigen konnte. Mit finanzieller Unterstützung des Staates nahm dann die EKD die Erforschung ihrer jüngsten Geschichte in eigene Regie. Bei der personellen Besetzung der Kommission war man um Ausgewogenheit bemüht. Ursprünglich sollten drei Lutheraner drei Unierten – unter ihnen Wilhelm Niemöller – gegenüberstehen. Für den Vorsitz einigte man sich auf den auf Ausgleich bedachten Hamburger Kirchenhistoriker Kurt Dietrich Schmidt, der als BK-Mitglied bereits 1934 bis 1936 Dokumente „zur Kirchenfrage“ publiziert hatte35 und eng mit dem Präsidenten der EKD-Kirchenkanzlei in Hannover, Heinz Brunotte, zusammenarbeitete36. Da ein lutherischer Kandidat aus persönlichen Gründen auf seine Mitarbeit in der Kommission verzichtete und stattdessen der Göttinger Kirchenhistoriker und Systematiker Ernst Wolf, ein entschiedener Vertreter des radikalen BK-Flügels, nachberufen wurde, verschoben sich die Gewichte zugunsten dieser Richtung, vor allem, als Wolf nach dem Tode Schmidts 1964 den Kommissionsvorsitz übernahm. Die Leistungen der Kommission in ihrer Anfangsphase sind – insbesondere vor dem Hintergrund ihrer sehr begrenzten Mittel – durchaus beachtlich. Der erste Kommissionsvorsitzende Schmidt hatte eine breit angelegte Konzeption vorgelegt, die sukzessive abgearbeitet wurde. Diese Konzeption umfasste: dere die unvollständig gebliebene Gesamtdarstellung des Tübinger Kirchenhistorikers Klaus Scholder (Scholder, Kirchen) und die dreibändige Gesamtdarstellung des Leipziger Kirchenhistorikers Kurt Meier (Meier, Kirchenkampf). Scholder war allerdings von 1975 bis zu seinem frühen Tod 1985 stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft (vgl. die Homepage der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft: https://www.kirchliche-zeitgeschich te.info [zuletzt aufgerufen am 17. 3. 2020], Personen / Vorsitz), und Carsten Nicolaisen wies darauf hin, dass Meier der von Kurt-Dietrich Schmidt entwickelten Konzeption (vgl. dazu unten im Text) verpflichtet gewesen sei, „besonders hinsichtlich der breit angelegten Exkurse über die Entwicklung in den einzelnen Landeskirchen“ (Nicolaisen, Theologie, 45). 34 Ebd., 43. 35 Vgl. Schmidt, Bekenntnisse. 36 Vgl. Kaiser, Wissenschaftspolitik, 153 f. Kaiser bezeichnete Schmidt offenbar irrtümlich als „Historiker der Alten Kirche“. So auch Christiane Kuller, die zudem fälschlich behauptete, Schmidt sei „nicht Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen“ (Kuller / Mittmann, Kirchenkampf). Vgl. dagegen aber u. a. Nicolaisen, Schmidt, 204.
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- die Zusammenstellung einer möglichst vollständigen Bibliografie zur Erfassung sämtlicher bereits vorliegender Veröffentlichungen, und zwar sowohl des zeitgenössischen Schrifttums als auch der bereits vorliegenden Sekundärliteratur; - die Erfassung des einschlägigen Archivmaterials, einschließlich des in Privatbesitz befindlichen Materials; - die Befragung von Zeitzeugen und deren Dokumentation; - die Anregung von landes- und territorialgeschichtlichen Dokumentationen und Darstellungen; - die repräsentative Edition kirchlicher Quellen von überregionaler Relevanz und eine breite Dokumentation zur nationalsozialistischen Kirchenpolitik37. Sichtbares Ergebnis dieser Konzeption waren die 45 Bände der Publikationsreihe „Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes“ (AGK 1–30) einschließlich ihrer Ergänzungsreihe (AGK.E 1–15). Ex post sind die ersten anderthalb Jahrzehnte der Kommissionsarbeit freilich auch scharf kritisiert worden. Kuller etwa urteilte im Anschluss an den Marburger Kirchenhistoriker Jochen-Christoph Kaiser: „Der Kirchenkampfkommission ging es um die öffentlichkeitswirksame Implementierung eines bestimmten Geschichtsbildes im kulturellen Gedächtnis des Nachkriegsdeutschlands. Eine wissenschaftlich-kritische Aufarbeitung hat sie in dieser ersten Phase nicht initiiert.“38 So zutreffend dieses Urteil auch ist, so ist doch zu konzedieren, dass die Kommission die heftigen Deutungskämpfe einerseits moderierte und andererseits durch ihre Publikationen einen gewissen Deutungspluralismus abbildete, der spätere Forschungen anstoßen oder befruchten konnte. Kaiser etwa urteilte: „Es ist schon ein kleines Wunder, dass die Kommission […] im Streit über die ,richtige‘ Deutung […] nicht zerbrochen ist. Im Gegenteil, sie produzierte einen Band nach dem anderen und ließ hier unterschiedliche Positionen zu Wort kommen […] So wirkte die Kommission wie ein ,Puffer‘ und konterkarierte durch ihre Arbeit letztlich die Intention ihrer Mitgliedsfraktionen, dem eigenen Geschichtsbild Allgemeingültigkeit zu verleihen.“39
Eine Zäsur in ihrer Geschichte erlebte die Kommission 1970, als sie in Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte umbenannt wurde. Hinter dieser Umbenennung stand zunächst kein ausdrückliches Konzept. Man folgte vielmehr der allgemeinhistorischen Begrifflichkeit sowie der Bezeichnung der entsprechenden Kommission der katholischen Kirche und intendierte eine Ausweitung des Forschungsgegenstandes auf die Zeit vor 37 Vgl. Nicolaisen, Theologie, 44. Vgl. auch das Vorwort der Herausgeber in: Diehn, Bibliographie, 5 f. 38 Kuller / Mittmann, Kirchenkampf. 39 Kaiser, Forschungsaufgaben, 37. Vgl. auch Kuller / Mittmann, Kirchenkampf, Abschnitt 3.
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1933 und nach 1945. Gleichwohl kam es im Laufe der folgenden Jahre zu einigen einschneidenden Änderungen und Neuerungen. Nach dem Tode von Ernst Wolf 1971 übernahm der Münchner Kirchenhistoriker und Neutestamentler Georg Kretschmar den Vorsitz. Kretschmar gehörte einer jüngeren Generation an, die selbst nicht mehr unmittelbar in den „Kirchenkampf“ involviert war. Auch sonst fand, wie Jens Holger Schjørring, Kirchenhistoriker an der Universität Aarhus (Dänemark), es treffend analysierte, ein „behutsam durchgeführter Generationswechsel“ statt, jedoch „ohne jeden scharfen Traditionsbruch“, da einzelne Vertreter der Zeitzeugengeneration, so auch Wilhelm Niemöller, weiterhin aktiv waren und sogar neue Mitglieder dieser älteren Generation wie Hermann Kunst und Eberhard Bethge in die größer gewordene Kommission aufgenommen wurden40. Die Aufnahme von Allgemeinhistorikern wie des Göttinger Neuzeithistorikers Rudolf von Thadden (der allerdings auch Evangelische Theologie studiert hatte) und des Archivars am Koblenzer Bundesarchiv Heinz Boberach „ermöglichte nicht nur den Anschluss der Kirchlichen Zeitgeschichte an die inhaltlichen und methodischen Diskussionen der modernen Geschichtswissenschaft, sondern bekräftigte auch ihren Anspruch, interdisziplinär die konfessionellen Prägungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu beleuchten“41. Inzwischen ist es selbstverständlich, dass etwa auch eine Religionspädagogin, eine Kunsthistorikerin und eine Soziologin in der Arbeitsgemeinschaft mitarbeiten, ebenso ein Diakoniehistoriker und ein Kirchenhistoriker aus dem Ausland42. Auch die Arbeitsgemeinschaft war ausgesprochen produktiv. Zu nennen sind neben dem fortgeführten „Kirchlichen Jahrbuch“ (KJ) und den zahlreichen, teilweise in Kooperation mit anderen Institutionen veranstalteten wissenschaftlichen Tagungen43 u. a.: - die seit 1975 erscheinende Publikationsreihe „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ (AKIZ bzw. AKZG) mit bislang 21 Bänden der Reihe A: Quellen (einschließlich zweier Handbücher zu den kirchlichen Institutionen und Leitungsorganen und eines Personenlexikons) und bislang 81 Bänden der Reihe B: Darstellungen; - die seit 2017 hinzugekommene, für ein breiteres Publikum bestimmte Taschenbuchreihe „Christentum und Zeitgeschichte“ (CuZ), bislang sieben Bände; - die sechs Bände umfassende Edition der „Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches“ (DKPDR), erschienen 1971 bis 2017;
40 Schjørring, Jahre, 16. 41 Zitiert nach der Homepage der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft: https://www.kirchli che-zeitgeschichte.info [zuletzt aufgerufen am 17. 3. 2020], Geschichte. 42 Zu den aktuellen Mitgliedern der Kommission vgl. ebd., Personen / Kommission. 43 Vgl. ebd., Tagungen.
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- die seit 1978 in der Regel jährlich erscheinende Zeitschrift „Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ (MKiZ)44 ; - die von zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erarbeitete und seit November 2011 freigeschaltete Online-Ausstellung „Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“45, ebenfalls für einen breiteren Interessentenkreis gedacht. Maßgeblichen Anteil an den genannten Publikationen und weiteren Aktivitäten hatte die an der Ludwig-Maximilians-Universität München angesiedelte und sukzessive erweiterte Forschungsstelle der Arbeitsgemeinschaft, deren langjähriger Leiter Carsten Nicolaisen das Ideal unbestechlicher und präziser „historiographische[r] Wissenschaftlichkeit mit ihrer methodisch abgesicherten objektiven Tatsachenfeststellung“ geradezu personifizierte46. Nach einer schwierigen Übergangsphase war Nicolaisen dann von 2000 bis 2003 auch Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft. 1988 hatte der Tübinger Kirchenhistoriker Joachim Mehlhausen den Vorsitz der Arbeitsgemeinschaft von Georg Kretschmar übernommen. Formal war Mehlhausen bis zu seinem Tode im Jahre 2000 Vorsitzender, konnte seine Aufgaben aber nach einer plötzlichen schweren Erkrankung im Jahre 1998 nicht mehr wahrnehmen. Gleich zu Beginn der Amtszeit Mehlhausens entbrannte ein bislang versäumter, dafür jetzt umso leidenschaftlicher ausgefochtener Theoriediskurs über die angemessene Methodik kirchlicher Zeitgeschichtsforschung. Der Kreis um den Heidelberger Kirchenhistoriker Gerhard Besier und die 1988 gegründete Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“ (KZG) verfolgte einen dezidiert theologischen Ansatz: „Ein volles Verstehen geht – jenseits und getrennt von der bloßen historischen Deskription – davon aus, daß es eine Moral in der Geschichte gibt. […] Hierin liegt eine der Besonderheiten Kirchlicher Zeitgeschichte: das Gespräch mit den Christen vergangener Generationen als Christen in ihrem Selbstverständnis und ihrer Auslegung des christlichen Glaubens zu führen.“47
Demgegenüber forderte der Kreis um den Tübinger Historiker Anselm Doering-Manteuffel und die Kirchenhistoriker Martin Greschat (Gießen), JochenChristoph Kaiser (Marburg) und Kurt Nowak (Leipzig), die ebenfalls 1988 die Schriftenreihe „Konfession und Gesellschaft“ (KoGe) gründeten, einen interdisziplinären Anschluss an die sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen 44 Zu den bisher genannten und weiteren Publikationen vgl. ebd., Publikationen. 45 Vgl. die Online-Ausstellung: Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus [auch als englische Version] (http://evangelischer-widerstand.de [zuletzt aufgerufen am 17. 3. 2020]). 46 Oelke, Gedenken, 144. Vgl. auch das Schriftenverzeichnis Carsten Nicolaisen, in: Mehlhausen, Barmen, 635–639 sowie Fix, Bibliographie. 47 Besier u. a., Einführung, 5.
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Methoden und Interpretationsmodelle der allgemeinen Geschichtswissenschaft. Der Fokus der Kirchlichen Zeitgeschichte sollte ausgeweitet werden auch auf „Ausprägungen christlicher Identität und Sozialisation außerhalb der Kirche“. Deswegen zog man die Begriffe Christentums- oder Konfessionsgeschichte dem Begriff Kirchengeschichte vor48. Die Heftigkeit des innerhalb, aber auch außerhalb der Arbeitsgemeinschaft ausgetragenen Methodenstreits49 stand in keinem Verhältnis zu seinem tatsächlichen Ertrag. Der Münsteraner Kirchenhistoriker Wolf-Dieter Hauschild, selbst langjähriges Mitglied der Arbeitsgemeinschaft, urteilte, dass sowohl „die zeithistorischen Darstellungen Besiers und anderer“ als auch „die konkreten Untersuchungen in der Reihe ,KoGe‘“ ihre jeweils eigenen Ansprüche „nicht“ bzw. „nur selten“ berücksichtigt hätten50. Hauschild wies darüber hinaus aber auch auf die Schwächen beider methodischen Ansätze hin. Bei der Konzeption des Kreises um Besier kritisierte er u. a., dass „ein von positionellen Vorgaben abhängiger geschichtstheologischer Beurteilungsmaßstab angelegt“ werde51. Bei dem sozialgeschichtlich orientierten Programm dagegen bemängelte er, dass es „die Institution Kirche nicht adäquat erfaßt und den Begriff Konfession in einem unspezifischen Sinn verwendet, der dessen theologische Prägung (die dogmatische und ekklesiologische Orientierung an Bekenntnissen) verkennt“52. Ähnlich wie die alte Kirchenkampf-Kommission im Hinblick auf den Deutungsstreit der frühen Nachkriegszeit war die Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte ein Forum für die Austragung des Methodenstreits. Gleichzeitig hatte sie – ebenfalls vergleichbar der Kirchenkampf-Kommission – eine moderierende Funktion. Das galt insbesondere auch für den pragmatischen Kurs des Vorsitzenden Mehlhausen53, der von seinen Nachfolgern beibehalten wurde. Thematisch-inhaltlich lässt sich die Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft wie folgt skizzieren54 : Bei der Erforschung der Kirchengeschichte des „Dritten Reiches“ ergab sich ein Paradigmenwechsel, indem der mehrdeutige und deshalb missverständliche Begriff des „Kirchenkampfes“ durch neutralere Bezeichnungen wie „Nationalsozialismus und Kirchen“ ersetzt wurde55. Nachdem lange Zeit der radikale Flügel der BK im Mittelpunkt des Interesses gestanden hatte56, wurden jetzt verstärkt auch andere Aspekte in den Blick 48 Doering-Manteuffel u. a.: Vorwort, VIIf. 49 Vgl. hierzu u. a.: Ders. / Nowak, Zeitgeschichte; Besier, Kirche, 80–126; Nowak, Zeitgeschichte interdisziplinär, 433–473; Hauschild, Grundprobleme; ders., Zeitgeschichte; und Greschat, Zeitgeschichte. 50 Hauschild, Zeitgeschichte, 558 f. 51 Ebd., 558. 52 Ebd., 559. 53 Vgl. Mehlhausen, Methode. 54 Vgl. zum Folgenden insgesamt: Schneider / Seiler, Aspekte. 55 Vgl. Mehlhausen, Nationalsozialismus. 56 Vgl. auch die Einschätzung von Meier, Kirchenkampfgeschichtsschreibung, 29.
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genommen, so die DC57, das Verhältnis der Pfarrerschaft insgesamt zum Nationalsozialismus (also auch außerhalb der DC-Bewegung)58 und der lutherische BK-Flügel59. Ferner fanden jetzt etwa auch einzelne Frauen Berücksichtigung60 und schließlich die noch völlig von Männern dominierte Universitätstheologie61. Im Hinblick auf die immer noch etwas vernachlässigte Kirchengeschichte in der Zeit der Weimarer Republik war insofern ein Perspektivwechsel zu konstatieren, als diese Zeit nicht mehr nur als eine Art Inkubationszeit des „Dritten Reiches“ wahrgenommen wurde, sondern auch als eine eigenständige Epoche62. Auf Initiative des Rates der EKD begann die Arbeitsgemeinschaft im Frühjahr 1993 ein Forschungsprojekt „Kirche und Staat in der DDR“, das eine Reihe von gründlichen längs- und querschnittartigen Spezialuntersuchungen und Dokumentationen hervorbrachte, die ein differenzierteres Bild zeichneten63. Sie revidierten bzw. korrigierten damit die in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen sorgende These der kirchlichen Anpassung, Kollaboration und „Kumpanei“ mit der DDR-Diktatur, die Gerhard Besier recht pauschal und einseitig in gleich mehreren voluminösen Quellen- und Darstellungsbänden zum Verhältnis des SED-Staates bzw. der Stasi-Behörden zu den Kirchen sehr rasch nach dem Mauerfall vorgetragen hatte64. Ende 1996 erfuhr das skizzierte EKD-Forschungsprojekt eine sinnvolle Ausweitung65. Unter dem Titel „Die Rolle der Evangelischen Kirche im geteilten Deutschland“ wurde nunmehr die Geschichte des Protestantismus in Ost- und Westdeutschland vergleichend betrachtet, und insbesondere wurden die Beziehungen zwischen west- und ostdeutschen Protestanten untersucht66. Nach der zeitgeschichtlich verständlichen Fokussierung auf die Kirchengeschichte in der DDR und im geteilten Deutschland erkannte man die Notwendigkeit, auch die bundesrepublikanische Kirchengeschichte historiographisch zu erfassen bzw. historisch-kritisch aufzuarbeiten, und wandte sich
57 58 59 60 61 62 63
Vgl. Schneider, Reichsbischof; Weiling, Bewegung; und Below, Weber. Vgl. Mensing, Pfarrer. Vgl. Oelke, Lilje; Schneider, Zeitgeist. Vgl. Schneider-Ludorff, Tiling. Vgl. Siegele-Wenschkewitz / Nicolaisen, Fakultäten. Vgl. Fritz, Dibelius; Fischer, Zeugnis; und Behmann, Stunde. Vgl. Silomon, Synode; Beier, Sonderkonten; Ders., Gemeinde; Silomon, Schwerter ; Wilhelm, Diktaturen; Kehne, Protokolle; Schultze, Berichte; Bulisch, Presse; RuthendorfPrzewoski, Frühling; Pelz, Revolution. 64 Vgl. Besier / Wolf, Pfarrer ; Besier, SED-Staat. 65 Vgl. hierzu Hermle, Tendenzen, 83. 66 Vgl. Palm, Brüder; Beier, Kirchwerdung; Lepp, Tabu; Rittberger-Klas, Kirchenpartnerschaft; Silomon, Anspruch; Kunter, Hoffnungen; Schwarz, Mitöffentlichkeit; und Schramm, Kirche.
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dabei zunächst den von den neuen gesellschaftlichen Aufbrüchen und Bewegungen geprägten 1960er und 70er Jahren zu67. Schließlich ist die Rezeption der Kirchengeschichte im Nationalsozialismus nach 1945 inzwischen selbst Gegenstand der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung. Dabei ist vor allem ein Zusammenhang mit der Diskussion um die deutsche Erinnerungskultur und insbesondere um ein evangelisches Märtyrergedenken68 erkennbar. Verschiedene weitere wichtige Themenbereiche seien hier nur kurz benannt: die sukzessive Einführung der Frauenordination seit den 1960er Jahren69, die Neubestimmung des Verhältnisses zum Judentum nach dem Holocaust, um dessen Ausmaß und Gestalt theologisch heftig gerungen wurde70, die kirchlich-konfessionellen Implikationen der Eingliederung von Vertriebenen und Flüchtlingen71 und die globale Christentumsgeschichte72.
3. Auftragsforschung? Abschließend noch ein paar Bemerkungen zu einem grundsätzlichen Problem. Von Allgemeinhistorikern ist den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Umfeld der Kommission bzw. der Arbeitsgemeinschaft immer wieder mangelnde Objektivität vorgeworfen worden. Es handele sich, so der mehr oder weniger offen artikulierte Vorwurf, im Grunde um interessengeleitete Auftragsforschung mit apologetischen und ideologischen Zügen, weshalb mitunter Arbeiten aus dem Bereich der Kirchlichen Zeitgeschichte von Allgemeinhistorikern auch kaum rezipiert würden73. Das entspricht dem umgekehrten Vorwurf von Kirchenhistorikern wie Gerhard Besier, Allgemeinhistoriker begnügten sich mit der oberflächlichen „Verifizierung geschichtlicher Phänomene“, während Kirchenhistoriker tiefgründiger zusätzlich „zusammen mit der Gottesfrage die Wahrheitsfrage“ stellten74. Damit ist natürlich zugleich die weite Frage nach dem Recht der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin aufgeworfen, die hier nicht erörtert werden kann. An dieser Stelle nur einige wenige Hinweise und Überlegungen: 67 Vgl. Hermle / Lepp / Oelke, Umbrüche; Fitschen / Hermle / Kunter / Lepp / Roggenkamp-Kaufmann, Politisierung; Widmann, Wandel; Lepp / Oelke / Pollack, Religion. 68 Vgl. „Ihr Ende schaut an …“; Hamm / Oelke / Schneider-Ludorff, Spielräume; Hermle / Pçpping, Verklärung. 69 Vgl. Kuhlmann, Protestantismus. 70 Vgl. u. a. Hermle, Kirche. 71 Vgl. Rudolph, Kirche; Teuchert, Gemeinschaft. 72 Vgl. Kunter / Schjørring, Christentum; Kunter / Schilling, Globalisierung; und Schilling, Revolution. 73 Vgl. dazu etwa Kuller / Mittmann, Kirchenkampf, Abschnitt 3. 74 Zitiert nach Greschat, Zeitgeschichte, 89.
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Die neue Satzung von 2003 bestätigte ausdrücklich die „wissenschaftliche Unabhängigkeit“ der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, die auch selbstständig über Forschungsprojekte und Publikationen entscheidet75 und, wie schon erwähnt, seit etlichen Jahrzehnten neben Kirchenhistorikern Allgemeinhistoriker und andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihren Reihen hat bzw. mit diesen auf verschiedenen Gebieten zusammenarbeitet. Allerdings werden die Mitglieder der Kommission vom Rat der EKD gewählt, freilich auf Vorschlag der Kommission76, und sie sind in der Regel Angehörige einer EKD-Mitgliedskirche. Auch Allgemeinhistoriker sind nicht per se objektiv, zumal sich unter ihnen Menschen jeglicher Religions- und Weltanschauungszugehörigkeit befinden: Atheisten, Agnostiker, evangelische und katholische Christen, Menschen anderer Konfession, Religion oder Weltanschauung. Kritisch kann man bei Wissenschaftlern jeglicher Art, die sich mit Zeitgeschichte beschäftigen, fragen, welche Rolle Zeitgeistphänomene, wie etwa auch Säkularismus, antiklerikale bzw. antikirchliche Affekte, sensationsheischender Enthüllungs- und Entmythologisierungsdrang etc., spielen. Der Protestantismus zeichnet sich von jeher durch ein hohes Maß an Pluralität aus. Das ist zugleich sein Problem und seine Stärke. Dieser Umstand verhindert jedenfalls, wie selbst die ersten Versuche einer Vergangenheitsbewältigung unmittelbar nach dem Ende des „Dritten Reiches“ oder der Methodenstreit ab 1988 zeigen, eine einheitliche Geschichtsdeutung. Auch über die Institution Kirche und ihre Lehre, insbesondere auch über die Ekklesiologie, wird im Protestantismus von jeher gestritten. Kirchengeschichte als theologische Disziplin bleibt relevant, wenn es um die Analyse und Interpretation theologiegeschichtlicher Fragen geht. Um zwei aktuelle Beispiele zu nennen: 2016 erschien eine breit angelegte Studie zur Geschichte der Evangelischen Kirche der Pfalz im „Dritten Reich“77. Diese – übrigens von der Landeskirche selbst in Auftrag gegebene – Studie verfolgte erklärtermaßen das Ziel einer schonungslosen Aufklärung. Mit den alten „Kirchenkampflegenden“ sollte gebrochen werden und anschaulich und detailliert wurde die weitreichende und tiefe Verstrickung der Kirche mit dem Nationalsozialismus herausgestellt. Merkwürdigerweise blieben nun aber theologiegeschichtliche Aspekte nahezu gänzlich ausgespart, wie es schon in der Einführung eingeräumt wurde, in der man „ein eigenes Forschungsprojekt“ „über Predigtpraxis und Predigtinhalte“ postulierte78. Unterstellt man nun aber, dass besonders auch theologische Aspekte den Kurs einer Kirche, ihrer Amtsträger und Glieder maßgeblich prägen bzw. prägen sollten, so hätte man doch gerade hier ansetzen müssen. 75 76 77 78
Vgl. Ordnung, § 1 und 4. Vgl. ebd., § 4. Vgl. Picker / Steber / Bemlein / Hofmann, Protestanten. Ebd., Bd. 1, 24.
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Denn das Versagen der pfälzischen Protestantinnen und Protestanten nahezu auf der ganzen Linie zu konstatieren – und sich heute davon selbstverständlich zu distanzieren –, ist das Eine, das Andere ist, plausible und tiefergreifende Erklärungen für dieses Versagen zu suchen79. Im Übrigen ist natürlich auch das Ziel schonungsloser Aufklärung keineswegs gefeit vor dem Vorwurf, man verfolge aktuelle geschichtspolitische Interessen. In seiner 2019 erschienenen, verdienstvollen großen Biografie entmythologisierte Benjamin Ziemann, Historiker an der Universität Sheffield (Großbritannien), das heroische Bild Martin Niemöllers als „Ikone des Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime“, das nicht zuletzt dessen Bruder Wilhelm zeichnete80. Ziemann konnte sich einzelne abwertende bzw. polemische Bemerkungen über die Kirchen- und Theologiegeschichte als Disziplin nicht verkneifen. Diese sei „blutleer[…] und abstrakt[…]“81 bzw. „ohnehin langweilig“82 ; ihn interessiere „der Mensch Martin Niemöller, der im Privaten wie bei seinen vielfältigen politischen Aktivitäten vor ganz profanen und alltäglichen Problemen stand“83. Da drängt sich natürlich die Frage auf, ob man die Biografie eines Theologen und Kirchenmannes wie Niemöller tatsächlich ohne die Berücksichtigung von spezifisch kirchen- und theologiegeschichtlichen Aspekten und Reflexionen in angemessener Weise nachzeichnen kann. Auch Ziemann selbst tat das keineswegs, vielmehr kam er immer wieder auf solche Aspekte zu sprechen, und er tat dies durchaus sachkundig. Allerdings blieb manches doch eher an der Oberfläche. So bezeichnete Ziemann Niemöller etwa passim als Lutheraner, erläuterte aber, von einigen Schlagworten abgesehen, eigentlich nicht, worin denn genau sein Luthertum bestanden haben soll. Zugleich problematisierte Ziemann, dass Niemöller die Lehre vom „prophetischen Wächteramt“ immer wieder für sich beansprucht und deswegen z. B. keinen Zugang zur pluralen Demokratie gefunden habe84. Dies ist aber nun gerade eine spezifisch reformiert-barthianische und eben nicht lutherische Lehre. Die alte Frontstellung Allgemeinhistoriker/innen versus Kirchenhistoriker/ innen sollte zugunsten einer Kooperation überwunden werden bzw. längst überwunden sein. Perspektivenvielfalt und Multiperspektivität sind gefragt, und dazu gehört auch die theologiegeschichtliche Perspektive.
79 Vgl. Schneider, Rezension: Picker, 282 f. 80 Ziemann, Niemöller (Zitat: Umschlagrücken). Zum Folgenden vgl. Schneider, Rezension: Ziemann. 81 Ziemann, Niemöller, 16. 82 Ebd., 302. 83 Ebd., 16. 84 Vgl. ebd., 427 und 440.
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Akteure der Kirchlichen Zeitgeschichte – evangelisch
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Mark Edward Ruff
Akteure der katholischen Zeitgeschichtsforschung
Einer weitläufigen Vorstellung zufolge ist Zeitgeschichte Streitgeschichte1. Stärker als für die religiöse Zeitgeschichte in fast allen westlichen Ländern gilt dies für die kirchliche Zeitgeschichte in Deutschland, die bis vor kurzem in erster Linie durch persönliche Erfahrungen in der nationalsozialistischen Zeit und deren Aufarbeitung in der Nachkriegszeit geprägt wurde. Solange die persönliche Erinnerung an die damaligen Akteure und Ereignisse nicht verblasst war, sorgte die Aufarbeitung der unmittelbaren kirchlichen Vergangenheit für eine Kontroverse nach der anderen2. Die vermeintlichen Sünden der deutschen und europäischen Kirchen, die diese durch ihre Handlungen und Unterlassungen während des „Dritten Reiches“ begangen haben sollten, sowie deren Aufdeckung und die damit einhergehenden Debatten und Leugnungen brachten eine Flut von Bestsellern, provokanten Artikeln und Titelseiten, aufrührerischen Flugblättern, Sonderberichten in Rundfunk und Fernsehen sowie informationsbeladenen akademischen Werken hervor. Vergleicht man von 1945 bis heute die katholische mit der evangelischen Zeitgeschichte, so steht man nun sofort vor einer Asymmetrie. Diese war nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass Papst Pius XII. und die katholische Kirche nach 1945, nicht aber die protestantischen Bischöfe und ihre Landeskirchen wegen ihres Verhaltens während der Herrschaft der Nationalsozialisten unverhältnismäßig in den Fokus gerückt wurden. Sie war auch durch ungleiche konfessionelle Beteiligung an den öffentlichen Auseinandersetzungen über das Verhältnis zwischen den Kirchen und dem Nationalsozialismus sowie über die Rolle der katholischen Kirche in der Politik der Bundesrepublik charakterisiert. Nichtkatholische Politiker, Kirchenmänner, Journalisten, Bühnenautoren und Wissenschaftler beteiligten sich bereitwillig an öffentlichen Debatten über die politische Tätigkeit der katholischen Kirche oder lösten sie selbst aus, während ihre römisch-katholischen oder jüdischen Pendants in Presse, Kirche, gebildeten Kreisen und Wissenschaft, wenn überhaupt, dann nur selten öffentlich über die evangelische Vergangenheit sprachen. Dieses konfessionelle Strickmuster hält sich in weiten Strecken bis heute nicht nur in Deutschland, sondern auch auf der anderen Seite des Atlantiks. Die Erforschung des zeitgeschichtlichen Protestantismus wurde und wird 1 Vgl. Grosse Kracht, Zunft. 2 Vgl. Ruff, Battle.
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Mark Edward Ruff
immer noch fast ausschließlich von Protestanten vorangetrieben, während sich die katholische Zeitgeschichte im Hinblick auf die konfessionelle Zugehörigkeit ihrer Forscher auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lässt. „Katholische Themen“ werden nicht nur von Katholiken, sondern auch von Juden, Protestanten und Nichtgläubigen erforscht. Und selbst die Reihen der Historiker, Journalisten und Wissenschaftler, die sich mit der katholischen Zeitgeschichte beschäftigten und sich als katholisch identifizierten, umfassten ein breites Spektrum von sogenannten Linkskatholiken und Nonkonformisten bis hin zu CDU-nahen Konservativen und „kirchenloyalen Forschern,“ um den Terminus von Olaf Blaschke zu verwenden3. Dieses Muster gilt, und darauf haben Blaschke und andere verwiesen, nicht nur für die Erforschung des kirchlichen Verhaltens während der NS-Zeit, sondern auch für die Religionsgeschichte der Neuzeit insgesamt4. Mit wenigen Ausnahmen beschäftigen sich fast ausschließlich Protestanten mit der Geschichte des Protestantismus, während das katholische Forschungsfeld von Akademikern verschiedener Konfessionen, Religionen und religiöser Überzeugungen vorangebracht wurde. Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, einen historiographischen Blick auf die Rolle der Konfessionszugehörigkeit des Wissenschaftlers bei der Erforschung der katholischen Zeitgeschichte zu werfen. Dazu wird zunächst ein kleines Porträt der Akteure der katholischen Zeitgeschichte gemalt, um die folgenden Fragen zu beantworten: Wer hat sich mit der Erforschung der jüngsten katholischen Vergangenheit beschäftigt, und wie unterscheiden sich diese Akteure von ihrem evangelischen Gegenüber? In einem zweiten Schritt wird dann deutlich gemacht, weshalb es zu dieser konfessionellen Asymmetrie in der Geschichtsschreibung gekommen ist. Schließlich wird darauf eingegangen, wie sich dieses Ungleichgewicht auf die katholische Zeitgeschichte ausgewirkt hat. Inwiefern hat sie die Formulierungen der zentralen Fragestellungen geprägt, Forschungsstrategien und historische Methoden beeinflusst und sogar noch Forschungsergebnisse vorherbestimmt? So pointiert diese Fragen auch erscheinen, so muss man sich doch auch vor Augen halten, dass gerade die Zeitgeschichtsforschung niemals in einem Vakuum entsteht. Sie ist nicht unvoreingenommen, auch wenn viele der Akteure der katholischen Zeitgeschichte eine positivistische Herangehensweise verfolgten und sich ein wissenschaftliches Ethos der historischen Objektivität zu eigen machten, so wie das beispielsweise in den 1970er und 80er Jahren bei den meisten Historikern im Umfeld der Kommission für Zeitgeschichte der Fall war.
3 Blaschke, Geschichtsdeutung. 4 Vgl. ders., Dämon, 62–66.
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1. Die konfessionelle Asymmetrie in der Forschung Die katholische Zeitgeschichte ist bekanntlich ein historiographisch diffuses, aber auch hoch umstrittenes Forschungsfeld. Man denke nur an die Auseinandersetzungen über die Rolle des Katholizismus in der NS-Zeit, die Debatten über die Folgen des Zweiten Vatikanischen Konzils, oder an die diversen katholischen „Skandale,“ die wiederholt für öffentliches Aufsehen und Empörung gesorgt haben. Angesichts der vielfältigen Gründe für das Interesse an der jüngsten Vergangenheit erscheint es notwendig, die Aufarbeitung der katholischen Zeitgeschichte selbst zu historisieren. Versteht man Zeitgeschichte als die „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“, um auf die klassische Formulierung des Historikers Hans Rothfels zu verweisen, dann muss man den Blick auf die die Forschung prägenden Identitäten einschließlich religiöser Zugehörigkeiten lenken, die die Wahl der Themen und Forschungsfelder und die vorherrschenden Interpretationen bestimmten5. Das hervorstechendste Merkmal der kirchlichen Zeitgeschichte ist die konfessionelle Asymmetrie in der Forschung. Die katholische Zeitgeschichte erweckt bis heute ein großes Interesse unter Forschern unterschiedlicher Konfessionen, religiöser Überzeugungen, politischer Parteien und Länder. Insbesondere die Erforschung der Zeit des Nationalsozialismus stand außerdem über Jahrzehnte hinweg im Bann der Darstellungen einer Generation von Gelehrten, die unmittelbar durch Erfahrungen im „Dritten Reich“ oder im Zweiten Weltkrieg geprägt worden waren. Allerdings deuteten die verschiedenen Mitglieder dieser Generation ihre meist traumatisierenden Erfahrungen sehr unterschiedlich. Sogenannte kirchenloyale Forscher entsannen sich, was der nationalsozialistische Staat ihrer Kirche angetan und wie die Kirche den Verfolgten beigestanden hatte, während ihre „kirchenkritischen“ Gegner durch ganz andersartige Erinnerungen angetrieben wurden, nämlich daran, was ihre Kirche ihnen angetan – oder nicht für sie getan – hatte. Diese oft polarisierende Vielfalt emotionsgeladener und häufig schmerzhafter Erinnerungen verlieh der Auseinandersetzung mit dem kirchlichen Verhalten während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft einen unverkennbaren moralischen Rigorismus und politischen Aktivismus vor allem bei Forschern aus der Erlebnisgeneration und der nachfolgenden Generation, welche der Historiker Dirk Moses die „Generation von 1945“ nennt. Zur Letzteren gehörten Kirchenkritiker wie der deutsche Protestant Rolf Hochhuth, der amerikanische katholische Soziologe Gordon Zahn, der deutschstämmige jüdisch-amerikanische Politologe Guenter Lewy und schließlich Klaus Scholder, evangelischer Kirchenhistoriker und FDP-Mitglied6. Dazu passen 5 Vgl. Rothfels, Zeitgeschichte; Wirsching, Epoche. 6 Vgl. Moses, Intellectuals.
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aber auch Forscher aus dem Umfeld der Kommission für Zeitgeschichte, wie etwa der Priester und Kirchenhistoriker Bernhard Stasiewski, Alfons Kupper, Ernst Deuerlein, Konrad Repgen, Pater Ludwig Volk SJ, Rudolf Morsey, Dieter Albrecht und Heinz Hürten. Diese konfessionelle, politische und ideologische Vielfalt setzte sich in nachfolgenden Generationen fort. Auf der einen Seite wurden die von der Bischofskonferenz finanzierten Geschäfte der Kommission für Zeitgeschichte weiter von Katholiken wie etwa Ulrich von Hehl und Karl-Josef Hummel geführt. Auf der anderen verstand sich der 1987 gegründete Schwerter Arbeitskreis (SAK) für Katholizismusforschung als eine bewusste Reaktion auf das so wahrgenommene „Forschungsmonopol“ der Kommission für Zeitgeschichte7. Vor allem im Schwerter Arbeitskreis fanden sich junge zeitgeschichtliche Katholizismusforscherinnen und -forscher aus verschiedenen intellektuellen Milieus zusammen, die der in der Kommission für Zeitgeschichte vernetzten Katholizimusforschung nicht zuzuordnen waren. Dem Arbeitskreis, der auf Initiative des Kirchenhistorikers August Hermann Leugers zurückging, gelang es, den vorherrschenden katholischen Habitus an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und die von Hans-Ulrich Wehler, Reinhart Koselleck und Jürgen Kocka geprägte „intellektuelle Streitkultur“ im Historischen Seminar an der Universität in Bielefeld unter einem Dach zu vereinen. Leugers war damals Assistent am Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte von Erwin Iserloh in Münster und nahm im Wintersemester 1986/7 sowohl am sagenumwobenen Historischen Kolloquium in Bielefeld teil als auch an Seminaren von Prof. Josef Mooser, der damals Professor auf Zeit (C2) für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Kultur- und Sozialgeschichte war und zum zweiten Gründungsvater zählte. Nach der Darstellung der Kirchenhistorikerin Antonia Leugers, die an der Gründung dieses Kreises beteiligt war, war es jedoch nicht der Theologe Arnold Angenendt aus Münster, sondern der Historiker Wilfried Loth, der als dritter „Gründungsvater“ fungierte8. Es ist kaum verwunderlich, dass der Schwerter Arbeitskreis sich in seinen Mitgliedern neben einer Reihe von Einzelpersonen wie etwa Gisela Fleckenstein, Sprecherin des Kreises von 1999 bis 2006, Siegfried Weichlein und anderen, vor allem auf zwei Personengruppen stützt, die in den sonst konträren intellektuellen „Brutstationen“ von Bielefeld und Münster wissenschaftlich „formiert“ waren. Der ersten Gruppe können einige Doktoranden aus dem Umfeld von Wehler und Mooser in Bielefeld, wie etwa Olaf Blaschke, Norbert Busch und Relinde Meiwes, zugerechnet werden, während zur letzteren die Mitglieder des Münsteraner Arbeitskreises für Kirchliche Zeitgeschichte (AKKZG) zählten, der aus einem Kreis von Examenskandidaten und Promovenden am Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte von 7 Vgl. Leugers, Forschen; Blaschke, Geschichtsdeutung. 8 Vgl. Leugers, 20 Jahre.
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Professor Angenendt und insbesondere dessen wissenschaftlichem Mitarbeiter Wilhelm Damberg hervorgegangen war9. Unter Leugers’ Nachfolger als Sprecher, dem katholischen Historiker und Politikwissenschaftler Antonius Liedhegener, gewann der Schwerter Arbeitskreis seine bis heute tragende organisatorische Gestalt. Insbesondere gelang eine Öffnung für internationale Teilnehmer aus der Schweiz (insbesondere aus dem Lehrstuhl von Urs Altermatt in Fribourg), Großbritannien, Belgien (KADOC) und den Niederlanden (KDC)10. Zu den Teilnehmern der Jahrestagungen zählten seitdem auch Vertreter der evangelischen Zeitgeschichtsforschung. Jochen-Christoph Kaiser, Martin Greschat und Lucian Hölscher waren immer wieder mit eigenen Beiträgen der Kirchlichen Zeitgeschichte der evangelischen Kirchen oder auch einfach nur aus Interesse an den Jahrestagungen dabei, auch wenn der thematische Kern ganz bewusst die Geschichte des Katholizismus blieb. Getreu der Parole von Liedhegener : „Es brauchte also keine ,katholische Eintrittskarte‘ für die Mitarbeit im SAK.“11 Aber es darf an dieser Stelle auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Forscherinnen und Forscher der deutschen katholischen Zeitgeschichte keineswegs nur aus Westeuropa kamen. Die für Deutschland kennzeichnende konfessionelle und generationsspezifische Heterogenität spiegelte sich jenseits des Atlantiks in der angloamerikanischen Erforschung dieser Themen und Debatten wider, und einige dieser Forschenden identifizierten sich als protestantisch, andere als katholisch und andere als nichtgläubig12. Kurzum: Aus diesen ideologisch diversen Flügeln des Schwerter Arbeitskreises mit verschiedenen Herkünften konnte gemeinsame Forschung gemacht und betrieben werden. Im starken Gegensatz zur katholischen Zeitgeschichtsforschung ist die Erforschung des jüngeren deutschen Protestantismus fast ausschließlich in den Händen von evangelischen Kirchenhistorikern geblieben. Die Zahl der Nichtprotestanten, die sich intensiv mit der protestantischen Zeitgeschichte 9 Vgl. Horstmann / Liedhegener, Konfession. Am Münsteraner Arbeitskreis beteiligten sich Annette Drees, Meike Esser-Wagner, Thomas Großbölting, Claudia Hiepel, Markus Köster, Christoph Kösters, Bernd Langer, Antonius Liedhegener, Sabine Mecking, Frank Nienhaus, Ingrid Richter, Christian Schmidtmann, Joachim Schmiedl, Matthias Scholz, Thomas SchulteUmberg, Martin Strauß, Heiner Wirtz und Maria-Anna Zumholz. 10 An den seit 1987 stattfindenden Jahrestagungen des Schwerter Arbeitskreises nahmen auch Wissenschaftler aus den USA (Mark Edward Ruff), aus der Schweiz (Catherine BosshartPfluger, Franziska Metzger, Markus Furrer und Lukas Rölli-Alkemper), aus den Niederlanden (Jan Roes), aus Belgien (Jan de Maeyer) und aus Frankreich (Marie-Emmanuelle Reytier) teil. Das Documentatie- en Onderzoekscentrum voor Religie, Cultuur en Samenleving (KADOC) wurde 1976 gegründet, um die Zusammenhänge zwischen Religion, Kultur und Gesellschaft zu beleuchten. Das Katholiek Documentatiecentrum (KDC) wurde 1969 an der Nimwegener Universität in den Niederlanden etabliert. 11 Auskunfterteilung Antonius Liedhegener an den Autor, 7. Februar 2020. 12 Doris Bergen, Thomas Brodie, Robert P. Ericksen, Lauren Faulkner, Maria Mitchell, Michael O’Sullivan, Mark Edward Ruff, Kevin Spicer und Kimba Allie Tichenor publizierten Monographien, die auch in Deutschland besprochen wurden.
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beschäftigte (hier als für die Zeit nach 1945 verstanden), ist minimal. Mir ist ein einziges Beispiel bekannt, und zwar der amerikanische Historiker Matthew Hockenos, Professor für Geschichte am Skidmore College im Bundesstaat New York13. Selbst bei der Erforschung des Protestantismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einschließlich der NS-Zeit ist die Zahl nichtprotestantischer Wissenschaftler äußerst klein geblieben14. Auch wenn die 1988 gegründete Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“ und die von Wilfried Loth, Martin Greschat und Anselm Doering-Manteuffel gegründete Reihe „Konfession und Gesellschaft“ konfessionsübergreifende Ansätze verfolgten, gilt die Regel für fast alle Fälle: Protestanten, auch die Nichtpraktizierenden, beschäftigen sich mit der Geschichte des deutschen Protestantismus.
2. Gründe für diese Asymmetrie Diese Asymmetrie hat eine Reihe von Gründen, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Als erstes fällt der Blick auf tief verwurzelte Strukturen in der akademischen Landschaft Deutschlands, zumal auf die Theologie. Anders als bei den neugegründeten „Religious Studies Departments“ an den öffentlichen und mittlerweile auch an religiösen Universitäten in den USA wurde Kirchengeschichte in Deutschland als theologisches Fach verstanden und betrieben15. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten war die katholische Kirchengeschichtsschreibung vom heilsgeschichtlichen Denken des Kirchenhistorikers Hubert Jeding bestimmt. Demnach war „das Wachstum der von Christus gestifteten Kirche in Raum und Zeit“ Gegenstand katholischer Kirchengeschichte, während bei Protestanten Kirchengeschichte als die Geschichte der Auslegung der heiligen Schrift galt16. Dass die Inhaber der Lehrstühle, die für die Ausbildung der Pfarrer und Priester zuständig waren, mit wenigen Ausnahmen Mitglieder ihrer jeweiligen Kirche sein mussten, ist selbstverständlich. In Anbetracht dieser Regelungen und theologischer Vorstellungen war es höchst unwahrscheinlich, dass sich ein katholischer Kirchenhistoriker mit Fragen der evangelischen Zeitgeschichte beschäftigen würde. Gerhard Besier vertritt sogar die umstrittene Meinung, dass ein katholischer Kirchenhistoriker sich nie mit der Geschichte des Protestantismus befassen würde, weil „(die) Katholiken (die) Protestanten schließlich in den Rang einer wahren Kirche erheben sollten“17. Umgekehrt trifft dies für mehrere evangelische Kirchenhistoriker nicht zu. 13 Vgl. Hockenos, Church. 14 An dieser Stelle sollen die Beiträge von Antonius Liedhegener, Werner Blessing und Thomas Großbölting erwähnt werden. 15 Heim, Einführung, 15. 16 Jedin, Einleitung, 2. 17 Besier, Comment, 69.
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Klaus Scholder hat eine große historische Kontroverse mit Konrad Repgen ausgelöst, indem er in seinen Bänden über die Kirchen im „Dritten Reich“ die These eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Zustimmung der Zentrumspartei zum Ermächtigungsgesetz und der Aufnahme von Konkordatsverhandlungen aufstellte18. Scholders Interesse an der aus seiner Sicht verhängnisvollen katholischen Rolle in der Kirchenpolitik der Weimarer Zeit kann zweifellos auch auf sein politisches Engagement in der FDP zurückgeführt werden, denn ein ausgeprägter Antiklerikalismus gehörte in den 1950er und 60er Jahren noch zum Wesen dieser Partei19. Man kann sogar die These vertreten, dass Scholders kritische Analyse der katholischen „Kapitulation“ im Jahre 1933 eine Folge seiner theologischen Ziele und Überzeugungen war oder zumindest im Einklang mit seinen reformierten Bekenntnissen stand. Seine 1200 Seiten folgten einer teleologischen Anlage, die in der Erneuerung der evangelischen Kirche durch die Gründung der Bekennenden Kirche und in der Synode von Barmen im Jahr 1934 kulminierte. Dabei nahm die Dialektische Theologie Karl Barths, des großen Helden unter den Tübinger Kirchenhistorikern, die entscheidende Stelle im protestantischen Feldzug gegen den Nationalsozialismus ein. Scholders kritische Äußerungen über die Rolle des Vatikans und der Zentrumspartei dienten auch dem Zweck, die theologische, moralische und vor allem kirchenpolitische Leistung der meist reformierten Erneuerer in ein noch besseres Licht zu rücken. Scholders Ansatz, der von Besier mit allerdings weniger polemischen Tönen fortgesetzt wurde, war in gewisser Hinsicht eine Kampfansage an eine ganze Generation evangelischer Kirchenhistoriker, zu denen einige Veteranen des „Kirchenkampfes“ und führende Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche gehörten, die sich oft unkritisch und manchmal sogar hagiographisch mit ihren Forschungsgegenständen beschäftigten20. Die Mitglieder der 1955 gegründeten „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit“ und der ihr 1971 folgenden „Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte“ waren alle Protestanten21. Dies war damals selbstverständlich, weil diese Kommission beziehungsweise Arbeitsgemeinschaft immer eine unselbstständige Einrichtung der EKD war, die allerdings nach ihrer Ordnung in „wissenschaftlicher Unabhängigkeit“ arbeitete22. Nach der am 10. Juli 1981 beschlossenen Ordnung sollten außerdem ihre Mitglieder von der alten Kommission vorgeschlagen und vom Rat der EKD ernannt werden23. Ihr Vorsitzender sollte Professor an einer Evangelisch-Theologischen Fakultät oder einer kirchlichen Hochschule in Deutschland sein. In ihrer konfessionellen Homogenität unterschied sich die 18 19 20 21 22 23
Vgl. Scholder, Kirchen, 310; Wolf, Reichskonkordat. Vgl. Ruff, Battle, 220–222. Vgl. Scholder, Kirchen, VIII–IX. Vgl. Kaiser, Wissenschaftspolitik. Ordnung, 23. Januar 2003, 157. Vgl. Ordnung, 15. September 1981, 1.
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evangelische Kommission kaum von der 1962 gegründeten „Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie in Bayern“24. Für die Gründer der Kommission für Zeitgeschichte lag es auf der Hand, dass nur Katholiken dazu gehörten, so dass die ersten „Rahmenbestimmungen“ ihrer Satzung von 1973 keine Vorschriften enthielt, die eine Mitgliedschaft von Nichtkatholiken ausschlossen25. Die jungen, in der Kommission für Zeitgeschichte zusammengeschlossenen Historiker sahen nicht zuletzt die Förderung von jungen katholischen Wissenschaftlern als eine Notwendigkeit an, da sie gegen tief verwurzelte antikatholische Vorurteile und eine Grundschwäche in der akademischen Landschaft Deutschlands ankämpfen mussten. Seit dem 19. Jahrhundert war der Berufsstand der Historiker mehrheitlich durch Protestanten geprägt. Von den 85 Lehrstühlen der Geschichtswissenschaft waren in den 1950er Jahren nach dem Reichskonkordat gerade einmal sechs ausschließlich katholischen Wissenschaftlern vorbehalten26. Den katholischen Forschern war angesichts dieser „Konfessionalisierung der Geschichtsschreibung“ bewusst, dass sie zahlenmäßig unterlegen waren. Dass sich protestantische Forscher wie Scholder und Besier gelegentlich „katholischen“ Forschungsgebieten zuwandten, lässt sich aber auch dadurch erklären, dass sie in den deutschen Universitäten ohnehin übermäßig stark vertreten waren. Doch es gab noch einen weiteren, ganz praktischen Grund für den Umstand, dass katholische und jüdische Wissenschaftler zögerten, sich der Erforschung der evangelischen Zeitgeschichte anzunehmen, und Forscher aller Konfessionen und religiöser Neigungen bereitwillig die katholische Zeitgeschichte untersuchten. Die inhaltlichen Zugangsbarrieren waren im Bereich der katholischen Geschichte schlichtweg niedriger als in dem der Protestanten. Oberflächlich betrachtet war und ist die Erforschung der Geschichte des Katholizismus „einfacher“. Die katholische Kirche war eine Universalkirche. Ihre Strukturen waren streng hierarchisch und zumindest auf den ersten Blick viel einfacher zu durchschauen. Ihre Bischöfe, Kardinäle und Päpste waren jedem ein Begriff, sogar Berühmtheiten und Archetypen der Autorität. Demgegenüber erfordert die Auseinandersetzung mit der evangelischen Geschichte in der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“ und der Nachkriegszeit ein tiefes Verständnis theologischer Eigen- und Feinheiten (und der historischen Spaltungen zwischen den evangelisch-reformierten, -unierten und -lutherischen Kirchen), ein Überblicken der organisatorischen Strukturen sowohl der Landeskirchen als auch der im „Dritten Reich“ entstandenen vorläufigen Einrichtungen sowie nicht zuletzt des oftmals steinigen Wegs hin 24 Vgl. Morsey, Gründung. 25 Vgl. Akten der Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte (Bonn). Rahmenbestimmung für die Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie in Bayern, o. D. [aber sicherlich 1963]. Satzung des Vereins Kommission für Zeitgeschichte, o. D. [aber sicherlich 1972]. 26 Vgl. Weber, Priester, 54, 83–93.
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zu kirchlicher Einheit, der 1945 schließlich zur Gründung der EKD führte. Dies sind Aufgaben für Experten und es verwundert kaum, dass Kirchenhistoriker wie Klaus Scholder diese Herausforderung unter Rückgriff auf ihre ausgeprägten eigenen Erfahrungen und Kenntnisse der kirchlichen Strukturen sowie der politischen und theologischen Überzeugungen der jeweiligen Kirchen angingen. Ihrer Forschung über die evangelische Vergangenheit während der nationalsozialistischen Herrschaft kam zudem zugute, dass sie diejenigen Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche kannten, die in der Folge hochrangige Positionen innerhalb der EKD eingenommen hatten. Der Hauptgrund für die konfessionelle Asymmetrie aber lag in dem Umstand, dass für viele Akteure in der Politik die katholische Kirche eine weitaus größere Quelle für tagespolitischen Verdruss war als die evangelische Kirche27. In der Regel teilten die nonkonformistischen und kritischen Katholiken das Misstrauen der protestantischen Fachgelehrten gegenüber der angeblich herausragenden Rolle der katholischen Kirche in der Politik der Bundesrepublik. Derartige Bedenken, die sowohl emotional in den öffentlichen Attacken auf die „Klerikalisierung“ der westdeutschen Politik als auch in den minutiösen Überlegungen zur Notwendigkeit einer Neufestlegung der Grenzen zwischen Kirche und Staat ihren Ausdruck fanden, erklären mehr noch als die übrigen Faktoren, weshalb in den ersten Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik ein unverhältnismäßiger Fokus auf die vermeintlichen Sünden der katholischen Kirche gerichtet wurde. Auslöser des Ärgers für die Kirchenkritiker waren Streitpunkte, die der noch jungen Evangelischen Kirche in Deutschland unmöglich vorgeworfen werden konnten: Öffentliche Mahnungen an die Gläubigen, „christlich“ zu wählen; der Versuch, das Elternrecht zugunsten von Konfessionsschulen durch ein Bestehen auf die Fortgeltung des Reichskonkordats von 1933 unbedingt zu verteidigen; und Verkündungen von Klerikern über Krieg und Frieden, die Konrad Adenauers Westbindung während des Kalten Kriegs eins zu eins wiederzugeben schienen28. Indem diese Grundsätze und Absichtserklärungen in Form von Hirtenbriefen von den Kanzeln verlesen wurden, nahmen sie die Gestalt religiöser Pflichten und moralischer Notwendigkeit an, gelegentlich sogar unter Hinweis darauf, dass das Schicksal des abendländischen Christentums auf dem Spiel stehe. Daraus ließ sich schnell ein einfacher Schluss ziehen: Die katholische Kirche hatte ihre Grenzen innerhalb der Politik und Gesellschaft überschritten. Zwischen 1949 und 1962 erlebten diejenigen, die mit dem Kurs der regierenden Adenauer-CDU unzufrieden waren, eine Niederlage nach der anderen. Die Bundestagswahlen von 1953 und 1957 hatten das Gefälle eindeutig zugunsten der christdemokratischen Parteien verschoben, die trotz der Wählerverluste bei den Bundestagswahlen von 1961 bis 1969 an der Macht blieben. 27 Vgl. Buchna, Jahrzehnt. 28 Vgl. Ruff, Battle, 48–152.
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Der scheinbar unaufhaltbare Vorsprung der CDU Ende der 1950er Jahre, die tatsächlich ihr Wählerreservoir in der vormaligen Minderheit der Katholiken besaß, führte bei einer ungewöhnlichen Mischung aus einzelnen Oppositionspolitikern, katholischen Nonkonformisten und jungen Intellektuellen zu Frust29. Diese Kreise waren zunehmend beunruhigt ob des kirchlichen Unwillens, abweichende Ansichten zu tolerieren. Als die gerichtlichen Verhandlungen über das Reichskonkordat im Rahmen des sogenannten Reichskonkordatsprozesses 1956 den Blick erneut auf das „Dritte Reich“ richteten, begannen einige Kritiker, Kontinuitätslinien zwischen den Geisteshaltungen der Kirche in den 1920er/30er Jahren und denen der Nachkriegszeit zu erkennen. Waren die Positionen in Bezug auf Krieg und Frieden während des Kalten Krieges nicht die gleichen wie während der Zeit des Nationalsozialismus? Hatte die katholische Kirche, die nach wie vor zögerte, ein neues, säkular begründetes demokratisches Ethos anzunehmen, nicht immer eine größere Affinität zu autoritären Regimen gehabt? Die Angriffsfläche wurde dadurch unweigerlich größer. Diese bestand nicht mehr nur aus der Rolle der Kirche in der aktuellen Tagespolitik. Es kamen nun auch die Werte und Prioritäten der katholischen Kirche von Weimar bis Bonn sowie die moralische Behauptung der Christdemokratie hinzu, aus dem religiös motivierten Widerstand gegen den Nationalsozialismus entstanden zu sein. Dem katholischen Rechtswissenschaftler und promovierten Historiker Ernst-Wolfgang Böckenförde ging es dementsprechend darum, ein Umdenken der deutschen katholischen Eliten zu katalysieren, was die Aussöhnung der Kirche mit einem liberalen, säkularen und demokratischen Rechtsstaat und ebenfalls die Aufarbeitung der katholischen Vergangenheit während der NSZeit betraf30. Gordon Zahn übte öffentlich Kritik an der katholischen Presse und der Hierarchie für ihre Unterstützung von Hitlers sogenannten Raubkriegen, und seine Kritik hatte ihren Ursprung in den Stellungnahmen der CDU und der Katholischen Kirche zu den kontroversen Themen des Kalten Krieges31. Zu letzteren gehörten die Debatten zur Kriegsdienstverweigerung, Wiederbewaffnung und atomaren Aufrüstung der Bundeswehr. Aus dieser Verzahnung zwischen der Haltung der katholischen Hierarchie zur Wehrfrage im „Dritten Reich“ und zur Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren zog Zahn unausweichlich den Schluss, dass tiefgreifende Mentalitäten und nämlich die Verschmelzung der religiösen mit der nationalen Identifizierung trotz der althergebrachten katholischen Lehre zum gerechten Krieg für die Anfälligkeit deutscher Katholiken für martiale Bewegungen verantwortlich waren. Aus Sicht kritischer oder nonkonformistischer Katholiken wie Zahn oder Böckenförde waren die Schismen, Fraktionen und Kapitulation der Protestanten schlichtweg nicht relevant für ihre eigene Geschichte. Ihre Überzeu29 Vgl. Bçsch, Adenauer-CDU; Mitchell, Origins. 30 Vgl. Bçckenfçrde, Katholizismus. 31 Vgl. Zahn, Catholics; Ruff, Battle, 121–152.
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gung von der Notwendigkeit gesellschaftlicher und kirchlicher Veränderungen bedurfte keines historischen Vergleichs mit dem evangelischen Kirchenkampf und wäre durch einen solchen möglicherweise sogar abgeschwächt worden. Zumindest bei denjenigen, die die schrecklichen Jahre der Diktatur und des Kriegs miterlebt hatten, war ihr moralischer Rigorismus auf ihre traumatischen persönlichen Erinnerungen daran zurückzuführen, was ihre Kirche ihnen angetan – oder nicht für sie getan – hatte. Ihre Gegner wurden durch geradezu gegenläufige Erinnerungen daran getragen, dass die katholische Kirche ihnen in der Not der Verfolgung durch die nationalsozialistische Diktatur beigestanden hatte.
3. Die Folgen dieser konfessionellen Asymmetrie in der Geschichtsschreibung Wie wirkte sich dieses konfessionelle Ungleichgewicht auf die katholische Zeitgeschichte aus? Eine Folge war unmittelbar zu sehen. Viele katholische Historiker in der Kommission für Zeitgeschichte fanden sich nun stärker in der Defensive wieder und lehnten sowohl die kritischen Thesen ihrer Gegner als auch die damit verknüpften kirchenpolitischen Reformforderungen ab. Entsprechend kämpferisch gingen sie an die Thematik heran mit dem Bedürfnis, ihre Kirche gegenüber weltanschaulichen Gegnern zu verteidigen. Sie vermuteten daher (und zuweilen aus gutem Grund), dass in der öffentlichen Kritik an der katholischen Haltung antikatholische Vorurteile einer von Protestanten dominierten kulturellen Elite und medialen Nachrichtenwelt erneut zum Vorschein kamen. Dieser Verdacht eines abermaligen Kulturkampfs klang infolge der konfessionellen Konflikte der 1950er und 60er Jahre und vor allem infolge der Auseinandersetzungen über das Schauspiel „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth keineswegs ab – im Gegenteil32. Diese defensive Haltung haftete nicht zuletzt den „kirchenloyalen“ Historikern der Kommission für Zeitgeschichte sogar über Jahrzehnte hinweg an, weil sie in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung klar Stellung zugunsten der katholischen Kirche bezogen. Sie wurden dabei allerdings von ihrer Überzeugung getragen, dass auch das zeitgeschichtliche Handwerk der Qualitätskontrolle bedürfe. Als Reaktion auf die aus ihrer Sicht methodisch minderwertigen Arbeiten der Kirchenkritiker entwickelten sie umfassende Qualitätsstandards. Das Ethos der disziplinären Exzellenz nahm nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs der noch am Anfang stehenden allgemeinen Zeitgeschichtsforschung auf, sondern spiegelte zugleich die gesellschaftliche Tendenz zur Verwissenschaftlichung wider, wie 32 Vgl. Ruff, Battle, 153–192.
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sie etwa auch in den Versuchen hochrangiger Geistlicher zum Ausdruck kam, Elemente der modernen Sozialwissenschaften in die Seelsorge zu übernehmen33. Doch es erinnerte noch stärker an eine alte Tradition und hoch gesteckte Forschungsideale, die in der Görres-Gesellschaft bereits tief verwurzelt waren, der als loser Vereinigung katholischer Wissenschaftler auch viele Kommissionsmitglieder angehörten34. Die neue Kommission war dabei, eine Vereinigung zu schaffen, die nur nominell gesehen keine Gilde war. Sie war im Begriff, bestimmte Verfahren zu etablieren – gründliche Ausbildung, sachkundige Präzisionsarbeit, Betreuung der Lernenden und Kontrolle über die dokumentarischen Belege –, mit denen sie Historiker zur Einhaltung des Kodex und Kanons einer „objektiven“ geschichtswissenschaftlichen Forschung anhalten wollten. Die wenigen katholischen Wissenschaftler an den deutschen Universitäten standen schon während des Kaiserreiches vor der Herausforderung, sich in einer von Protestanten dominierten Disziplin von der Mehrheit abzuheben, und ihnen haftete im Rahmen einer protestantisch geprägten nationalen Leitkultur häufig ein Minderwertigkeitskomplex an35. Den katholischen Historikern war es unmöglich, eine umfassende „Gegengeschichte“ zu verfassen, die zu einem historischen Meisternarrativ avancieren und damit sowohl von Katholiken als auch von Protestanten als legitim akzeptiert werden konnte36. Martin Luther, Friedrich der Große und Otto von Bismarck von ihren privilegierten Positionen in den Geschichtsbüchern und in der Geschichtswahrnehmung zu vertreiben oder zum Allermindesten negativ zu deuten, wäre als unberechtigter Anspruch, als freche Anmaßung oder sogar als Kampfansage betrachtet worden. Die Lösung katholischer Historiker lag in der Aneignung des im liberalen Forschungs-Mainstream verankerten Positivismus, während sie gleichzeitig das Versäumnis liberaler evangelischer Wissenschaftler, den eigenen Idealen der Objektivität, Unparteilichkeit und Genauigkeit gerecht zu werden, anprangerten37. Knapp ein Jahrhundert später reagierten die Historiker der Kommission auf ganz ähnliche Weise. Sie wollten ihre eigene Darstellung der Geschichte schreiben und dabei an den strengen Wissenschaftsidealen des 19. Jahrhunderts festhalten, auch wenn die Historiker des Mainstreams sich zunehmend von positivistischen Ansätzen distanzierten. Gegenüber etablierten Historikern, die diesen Idealen nicht gerecht wurden, hatten die Kommissionsmitglieder eine abweisende Haltung. Ihr Ziel war es, kurz gesagt, eine „bessere“ Geschichte zu schreiben als ihre evangelischen und kirchenkritischen Kontrahenten. 33 34 35 36 37
Vgl. Ziemann, Kirche. Zur Görres-Gesellschaft vgl. Spael, Görres-Gesellschaft. Vgl. Maier, Entfremdung, 47. Pittrof / Schmitz, Geschichtskulturen, 26–28. Vgl. Bennette, Fighting, 135–156; Dowe, Bildungsbürger.
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Das Mantra der wissenschaftlichen Exzellenz untermauerte auch die krönende Gipfelleistung der Kommission: zwei bis heute bestehende wissenschaftliche Publikationsreihen. Die „Reihe A: Quellen“ erschließt und ediert Quellen mit einer Ausführlichkeit und Kommentierung, die üblicherweise eher mit Bibelkonkordanzen und philologischen Editionen assoziiert werden, sich aber vor allem auf Augenhöhe mit vergleichbaren zeitgeschichtlichen Editionsprojekten etwa des Instituts für Zeitgeschichte oder der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien befanden. Zwischen 1965 und 1980 gingen nicht weniger als 27 Quelleneditionen in den Druck, darunter auch sechs Bände zur Dokumentation der Kirchengeschichte im „Dritten Reich“. In der „Reihe B: Forschungen“ werden wissenschaftliche Monografien publiziert, davon 30 allein zwischen 1965 und 198038. Die Arbeiten der beiden Reihen griffen insbesondere politik- und diplomatiegeschichtliche Fragestellungen auf. Sie schrieben die Geschichte der Entscheidungen, welche die geistliche, diplomatische und politische Elite traf, wenn es im Verhältnis von Kirche und Staat zu Krisenmomenten kam. In Bezug auf das „Dritte Reich“ wurden in der Regel die Höhepunkte des NSKirchenkampfs als Forschungsthema gewählt – die Verhandlung des Reichkonkordats, die „Devisen- und Sittlichkeitsprozesse“ gegen Priester in den Jahren 1936/37, die staatliche Überwachung der Kirche, das katholisch-politische Exil und die Reaktion des Episkopats auf die Verfolgung durch das NSRegime. Das methodische Vorgehen offenbarte eine deutliche Aversion gegen Theorien, gleich ob es sich um marxistische, sozialwissenschaftliche, ökonometrische oder gesellschaftsgeschichtliche Ansätze handelte. Für die Historiker der Kommission, und dies war der Erisapfel zwischen ihnen und den Kirchenkritikern, mussten die Fakten der Theorie vorausgehen. Ein umfassendes Gesamturteil war aus ihrer Sicht erst dann möglich, wenn alle Fakten ans Licht gebracht worden waren. Dieses wissenschaftliche Selbstverständnis wurde in der Person des Bonner Historikers Konrad Repgen geradezu personifiziert. Auf seinem Weg aus einfachen sozialen Verhältnissen zu den höchsten Rängen der Wissenschaft hatte Repgen stets mehr unter Beweis zu stellen als Historiker wie z. B. sein späterer Kontrahent Klaus Scholder, der aus der gebildeten protestantischen oberen Mittelschicht stammte. Die wenigen katholischen Historiker, die in den 1960ern auf eine Professur auf Lebenszeit berufen wurden, und nicht zuletzt die Inhaber der für Katholiken rechtlich vorbehaltenen Lehrstühle, mussten stets gegen ihre Wahrnehmung als zweitklassige Wissenschaftler ankämpfen. Ihre Forschungen waren stets dem Verdacht ausgesetzt, weniger wissenschaftlich-objektiv als vielmehr katholisch-dogmatisch geleitet zu sein. Das Mittel zur Überwindung dieses Stereotyps war die Überkompensation. Repgens Lebenslauf besticht daher nicht nur durch eine überwältigende 38 Siehe dazu unter www.kfzg.de/Publikationen/publikationen.html [18. 8. 2013].
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Produktivität, die Scholders bei weitem überstieg: Repgen veröffentlichte zwischen 1950 und 1987 mehr als 160 Bücher, Quelleneditionen und Artikel39. Er verfügte außerdem über eine seltene Fachkenntnis in mehreren, chronologisch weit auseinanderliegenden Forschungsgebieten – der frühen Neuzeit, dem 19. Jahrhundert und dem 20. Jahrhundert. Repgen schrieb seine Sorgfalt einem Ethos katholischer Wissenschaftsgrundsätze zu40. Der katholische Historiker benutze laut Repgen das gleiche methodische Instrumentarium wie der nichtkatholische, besitze allerdings eine zusätzliche Motivation41. Er habe eine religiöse Verpflichtung, seine irdischen Aufgaben so gut wie möglich zu erfüllen und sei religiös gezwungen, „stets das Best-Mögliche aus sich herauszuholen“. Es sei seine Pflicht, auf die „methodischen Dinge“ noch genauer zu achten als andere, die „als Nicht-Christen“ über keine „religiöse ZusatzMotivation“ verfügen würden. Man kann nicht umhin, aus diesen Worten eine bissige Bemerkung gegenüber den Heilslehren herauszulesen, an denen der reformiert-evangelische Scholder festhielt. Dieses von Repgen verkörperte Wissenschaftsethos hatte aber auch seine Schattenseite, die vor allem durch die Publikation von Guenter Lewys „Die katholische Kirche und das Dritte Reich“ im Jahr 1964 zutage kam42. Erbost über den Umstand, dass ein amerikanischer Politikwissenschaftler durch die Verwendung von Materialien aus mehreren deutschen Bistumsarchiven eine umfassende und kritische Gesamtdarstellung vorgelegt hatte, bevor katholische Historiker aus Deutschland ihre eigenen Darstellungen fertigstellen konnten, ergriffen zunächst sowohl die Kirchenverantwortlichen als auch einzelne Historiker harte Maßnahmen. Der Münchener Domkapitular Johannes Neuhäusler schritt ein, um den Zugang zu katholischen Kirchenarchiven deutschlandweit fortan zu regulieren43. Die Befürchtung war, künftige Lewys könnten ein falsches und unvollständiges Bild der Kirche zeichnen. In der Folge blieben die Türen der Archive denjenigen, die noch nicht als verlässlich galten, oftmals verschlossen. Mehreren Forschern, darunter dem amerikanischen Historiker Stewart Stehlin und der amerikanischen Historikerin und Ordensschwester Ethel Mary Tinnemann, wurde die Benutzung kirchlicher Archivalien verwehrt44. Auf diesen Spuren ging später der Jesuit und Historiker Ludwig Volk sogar so weit, auch in den USA ebensolche Zugangsbarrieren zu errichten. Die Hüter und Deuter der katholischen Vergangenheit hatten ihre Lektion gelernt: Kirchenarchive mussten außeror39 Thiesen, Schriftenverzeichnis. Scholders Schriftenverzeichnis war ein Bruchteil dessen, was Repgen publiziert hatte, vgl. Schriftenverzeichnis von Klaus Scholder [undatiert, wahrscheinlich von 1968 oder 1969] (BArch Koblenz, NL Klaus Scholder, BArch N 1475/330). 40 Er verwendete die Bezeichnung „christliche“ Forschung, es ist jedoch offensichtlich, dass er „katholische“ Forschung meinte, vgl. Repgen, Christ. 41 Vgl. ebd., 330 f. 42 “The Catholic Church And Nazi Germany”, vgl. Lewy, Church. 43 Vgl. Ruff, Battle, 211–215. 44 Vgl. ebd.
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dentlich vorsichtig dabei sein, wem sie ihre geschätzten Dokumente anvertrauten. Auch wenn die erfolglosen Recherchen außenstehender amerikanischer Forscher wie Tinnemann und Stehlin von den meisten deutschen Historikern unbemerkt geblieben waren, verstärkte sich unter vornehmlich jungen deutschen Wissenschaftlern der unauslöschliche Eindruck, dass die Erforschung des zeitgeschichtlichen Katholizismus den Mitgliedern eines zunftartigen Kreises vorbehalten war. Es ist daher kein Wunder, dass vor allem jüngere und kritische Forscher wie August Hermann Leugers-Scherzberg auf das sogenannte Forschungsmonopol der Kommission für Zeitgeschichte negativ reagierten. Der Schwerter Arbeitskreis sollte auch aus diesem Grund zum geschützten Ort werden für „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in ihren Arbeiten mit dem Katholizismus in kritischer Absicht auseinandergesetzt haben“, damit sie sich „über ihre Schwierigkeiten mit dem Thema austauschen können, um gemeinsam nach Lösungswegen für zentrale Probleme der Katholizismusforschung zu suchen.“45 Die positivistische Herangehensweise der Historiker in der Kommission für Zeitgeschichte rief jedoch bei den jungen Wissenschaftlern darüber hinaus insbesondere methodische Kritik hervor. Die Gründung des Schwerter Arbeitskreises für Katholizismusforschung erfolgte 1987 aus der Überzeugung, dass „die traditionelle Katholizismusforschung auf den Prüfstand“ zu stellen und eine sozial- und mentalitätsgeschichtliche Erweiterung der Katholizismusforschung einzufordern sei46. In die methodischen Ansätze und inhaltlichen Schwerpunkte des Schwerter Arbeitskreises flossen unverkennbare Merkmale der einzelnen Teilnehmergruppen ein, die an der Gründung und Erweiterung des Arbeitskreises zwischen 1987 und 1995 beteiligt gewesen waren. Auf dem Programm der ersten Jahrestagung stand die Forderung, die „zahlreichen Forschungsdefizite auf dem Gebiet der Katholizismusforschung“ auch durch die Integration der Erkenntnisse aus dem Forschungsfeld der Sozialgeschichte zu beheben, wie das bei der sogenannten Bielefelder Schule längst üblich gewesen war47. „Dabei soll hinsichtlich des Erkenntnisinteresses der ,Katholizismus‘ immer auch paradigmatischen Charakter für die Frage nach der Bedeutung religiöser Ideen und Praktiken in politisch-sozialen Prozessen haben.“48 Inhaltlich standen die Debatten über die Formierung und Geschlossenheit des katholischen Milieus im Zentrum, die durch die Publikationen von Wilfried Loths Sammelband „Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne“ (1991), Urs Altermatts bahnbrechender Studie „Katholizismus und Moderne“ und dem Aufsatz des Arbeitskreises für Kirchliche Zeitgeschichte 45 46 47 48
Leugers, 20 Jahre. http://www.katholizismusforschung.de [2.7. 2020]. Leugers, 20 Jahre. Ebd.
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Münster „Katholiken zwischen Tradition und Moderne: Das Katholische Milieu als Forschungsaufgabe“ (1993) angestoßen worden waren49. Die jungen Historiker, Theologen und Politikwissenschaftler aus dem Münsteraner Arbeitskreis trugen in den 1990er Jahren dazu bei, dass sich die inhaltliche Perspektive stärker auf das 20. Jahrhundert, die NS-Zeit und die Bundesrepublik und damit auf die Frage nach dem Wandel und der Auflösung des katholischen Milieus verschob. Ebenso wurde durch die Teilnahme junger Katholizismusforscher und -forscherinnen aus den Niederlanden, Belgien und Fribourg in der Schweiz die Diskussion um die vergleichende Perspektive auf die belagerten konfessionellen Subkulturen Westeuropas im 19. und 20. Jahrhundert erweitert50. So wurde der Schwerter Arbeitskreis zum Knotenpunkt für wissenschaftliche Ergebnisse, die durch ihre tiefschürfenden sozialgeschichtlichen und transnationalen Methoden vor allem die sozialen Strukturen des katholischen Milieus in den Vordergrund rückte, ohne diese jedoch, wie bei Hans-Ulrich Wehler, für determinierend zu halten51. Entscheidend für den Arbeitskreis in den 2000er Jahren war seine Bereitschaft, die Befunde der neuen Kulturgeschichte ebenfalls aufzunehmen und zum zentralen Anliegen zu machen.
4. Schlussbemerkungen Was ist nun aus dieser kurzen Skizze der Akteure der katholischen Zeitgeschichtsforschung und dem Vergleich mit der Erforschung der evangelischen Zeitgeschichte zu folgern? Erstens: Durch den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Zugang der in den späten 1980er und frühen 90er Jahren in Arbeitskreisen organisierten und vernetzen Generation von zeitgeschichtlichen Katholizismusforscherinnen und -forschern entstand ein deutlich kritischeres Bild vom Katholizismus (und Protestantismus) in der modernen Gesellschaft des 19./20. Jahrhunderts als dies bei den seit den 1960er Jahren auf Fragen nach dem politischen Katholizismus und dem „Widerstand“ im „Dritten Reich“ konzentrierten Forschungen im Umfeld der Kommission für Zeitgeschichte der Fall war. So war die Erforschung der katholischen Zeitgeschichte bis in die 2000er Jahre von einer gewissen Konkurrenz zwischen einer älteren, noch von den Erfahrungen des Krieges geprägten, und einer deutlich jüngeren Generation bestimmt, deren katholische Linien mittelbar bis in die kirchenkritischen 1960er Jahre zurückführen. Fruchtlos war diese Konkurrenz nicht. Die aus beiden Kreisen entstandenen historischen Darstellungen und Gegendarstellungen bedeuteten letzten Endes eine Bereicherung für die 49 Vgl. Loth, Katholizismus; Altermatt, Katholizismus; Arbeitskreis, Katholiken. 50 Vgl. Fleckenstein / Schmiedl, Ultramontanismus. 51 Vgl. Horstmann / Liedhegener, Konfession.
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Katholizismusforschung insgesamt, und dies nicht nur, weil sie viele neue Fakten und Forschungsergebnisse ans Licht brachten. Die jüngere Generation erweiterte den methodischen Horizont der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung, die bis in die 1980er Jahre an überlieferten Formen von diplomatischer und politischer Geschichte festgehalten hatte. Zur gleichen Zeit sorgte die ältere Generation durch ihre Kritik an den neuen Ansätzen dafür, dass diese neuen Forschungsfelder und Methoden mit Präzision und wissenschaftlicher Gründlichkeit angegangen wurden. Im Laufe der 2010er Jahre verschwand dieses Konkurrenzverhalten fast völlig, so dass von einer Rivalität heutzutage nicht mehr die Rede sein kann52. Zweitens: Obwohl sich die Kontroversen über die katholische Vergangenheit vor allem im Hinblick auf das „Dritte Reich“ und seiner Aufarbeitung oftmals um die Legitimität der angewandten geschichtswissenschaftlichen Methoden drehten, ging es in diesen Kontroversen zwischen 1945 und 1980 auch darum, ob einzelne Forscher wegen ihrer eigenen religiösen und politischen Einstellungen und Weltanschauungen daran gehindert wurden, in ihren historischen Darstellungen unvoreingenommen zu berichten und zu beurteilen. Die umstrittenen Geschichtsbilder, die aus diesen Auseinandersetzungen entstanden waren, zeigten die Merkmale von mehreren Konfliktfeldern, darunter Generationskonflikten, persönlichen Rivalitäten, konfessionellen Spannungen, politischen und ideologischen Animositäten und sogar innerkatholischen Feindseligkeiten. Diese Geschichtsentwürfe konstruierten Bilder und „Beweismittel“, die wegen ihrer belasteten Herkunft fast automatisch angezweifelt, angegriffen oder als unzulässig zurückgewiesen wurden, nachdem die an diesen Bildern und Beweismitteln arbeitenden Historiker, Journalisten, Politiker, Schriftsteller, Politikwissenschaftler und Theologen unweigerlich in politische und ideologische Schubladen gesteckt worden waren. Bei Kenntnis dieser weltanschaulichen und konfessionellen Lage war es nahezu unausweichlich, dass diese Feindseligkeiten auch einen Sturm von persönlichen Angriffen und beleidigenden Bemerkungen entfachen würden, die ihrerseits für weitere bittere Kontroversen sorgten. Drittens: Die katholische und die evangelische Zeitgeschichte wurden mit nur wenigen Ausnahmen wie die Klaus Scholders, Gerhard Besiers bzw. Kristian Buchnas und Thomas Großböltings separat aufgearbeitet, was nicht nur zur konfessionellen Asymmetrie in der Forschung, sondern auch für angespannte Beziehungen zwischen einzelnen katholischen und evangelischen Forschern sorgte, solange die Milieus in der Bundesrepublik noch Bestand hatten. Tilman Benedowski hat es so zugespitzt: „Ein regelrechter Glaubenskrieg durchzieht unsere Vergangenheit, und er hat die Menschen in diesem Land verändert. Er hat uns geprägt.“53 Diese häufig angespannten und konfessionell getrennten Forschungsverhältnisse standen in Deutschland 52 Vgl. Leugers, 20 Jahre. 53 Bendikowski, Glaubenskrieg, 9.
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einer perspektivisch weiter ausgreifenden zeitgeschichtlichen Religionsforschung lange im Weg. Bis vor kurzem, und hier muss ausdrücklich auf Thomas Großböltings bahnbrechende Analyse „Der verlorene Himmel“ verwiesen werden, fehlte noch eine wissenschaftliche, kritische und umfassende Gesamtdarstellung der beiden Kirchen in der Nachkriegszeit, die Vergleiche anstellt und Parallelen zieht54. Was wir noch brauchen, ist eine Geschichte der komplexen konfessionellen Beziehungen, Spannungen und Zusammenarbeit in der Bundesrepublik. Der Frage, wie die Geschichte der deutschen Juden und Muslime in dieses Gefüge passt, vor allem für die Zeit nach 1945, muss ebenfalls nachgegangen werden. Denn es gilt, dieses Ungleichgewicht in der Forschung und ihre Konfessionalisierung zu überwinden und so unsere Forschungshorizonte zu erweitern.
I. Unveröffentlichte Quellen Auskunfterteilung Antonius Liedhegener. Akten der Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte (Bonn)55.
Bundesarchiv Koblenz (BArch)
NL Klaus Scholder BArch N 1475/330.
II. Veröffentlichten Quellen und Darstellungen Altermatt, Urs: Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich 1989. Arbeitskreis fer Kirchliche Zeitgeschichte Menster : Katholiken zwischen Tradition und Moderne: Das Katholische Milieu als Forschungsaufgabe. In: Westfälische Forschungen 43 (1993), 588–654. Bendikowski, Tillmann: Der Deutsche Glaubenskrieg. Martin Luther, der Papst und die Folgen. München 2016. Bennette, Rebecca Ayako: Fighting for the Soul of Germany : The Catholic Struggle for Inclusion after Unification. Cambridge, MA, 2012. Besier, Gerhard: Comment on the Papers of Mark E. Ruff, Robert P. Ericksen and Manfred Gailus. In: Kirchliche Zeitgeschichte 27/1 (2014), 69–75. Blaschke, Olaf: Der ,Dämon des Konfessionalismus’. Einführende Überlegungen. In: Ders. (Hg.): Konfessionen im Konflikt: Deutschland zwischen 1800 und 1970: Ein zweites konfessionelles Zeitalter. Göttingen 2002, 13–70. 54 Vgl. Grossbçlting, Himmel. 55 An dieser Stelle möchte ich der Kommission für die Möglichkeit zur Einsichtnahme recht herzlich danken [M.R.].
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Akteure der katholischen Zeitgeschichtsforschung
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Kirchliche Zeitgeschichte und Erinnerungskultur
Erinnerungskultur ist nicht statisch. Die Auseinandersetzung um sie gehört ihr insbesondere in einer Demokratie wesensmäßig an. Augenfällig wird dies etwa an den stets aufs Neue ausbrechenden Konflikten um Straßennamen, Kriegerdenkmäler oder Kirchenglocken mit NS-Symbolen. Vielfach nehmen auch Historiker an diesen Debatten teil, mal als Anwalt einer Seite, mal als vermeintlich objektiver Richter. Damit stellt sich auch immer wieder die Frage, ob die Geschichtswissenschaft und ihre Vertreter Teile der Erinnerungskultur sind oder nicht. Wissenschaftlich wird sowohl mit einem engeren als auch mit einem weiteren Begriff von „Erinnerungskultur“ gearbeitet. Für den Zeithistoriker Hans Günther Hockerts ist er ein „lockerer Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke“1. Davon trennt er die Zeitgeschichte als Wissenschaft deutlich ab. Der Historiker Christoph Cornelißen definiert hingegen den kulturgeschichtlichen „Leitbegriff […] Erinnerungskultur” als einen „formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse“. Er umschließe alle „Repräsentationsmodi von Geschichte“, einschließlich den geschichtswissenschaftlichen Diskurs2. Den nachfolgenden Ausführungen liegt diese weitere Begriffsdefinition zugrunde. Zunächst wird es um Erinnerungskultur als Untersuchungsobjekt kirchlicher Zeitgeschichtsforschung gehen. Im zweiten Abschnitt soll die Rolle von Vertretern der Kirchlichen Zeitgeschichte in der Erinnerungskultur anhand von Fallbeispielen untersucht werden. Zuletzt wird das Verhältnis von Zeithistorikern und christlicher Erinnerungskultur strukturell beleuchtet.
1 Hockerts, Zugänge, 41. 2 Cornelissen, Erinnerungskulturen, 1.
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1. Erinnerungskultur als Gegenstand kirchlicher Zeitgeschichtsforschung Seit den 1990er Jahren boomt das Thema Erinnerungskultur in der Geschichtswissenschaft und hat dort inzwischen zu einer gewissen Sättigungserscheinung geführt3. Auch die kirchengeschichtliche Forschung hat sich mit etwas Verzögerung diesem Forschungstrend angeschlossen und untersucht für das 20. Jahrhundert vermehrt Beispiele christlicher Erinnerungskultur als kollektive Identitätsstiftung und -sicherung4. Methodisch unterscheiden sich die Studien von Allgemein- und Kirchenhistorikern zum historischen Wandel christlicher Erinnerungskultur darin, dass der Theologe die spezifisch theologisch-ekklesiologische Dimension des Erinnerns einbeziehen und die Erinnerungskultur einer bestimmten Zeit auch theologisch beurteilen wird. Davon abgesehen sind die Methoden und Werkzeuge identisch. Dass neben den Theologen auch Allgemeinhistoriker, die zur Geschichte der christlichen Erinnerungskultur arbeiten, über Kenntnisse von traditionellen „religiöse[n] Codierungen“ und „religiöse[n] Strategien zur […] Heilssicherung“ verfügen5 bzw. sich im interdisziplinären Dialog aneignen sollten, fällt unter die allgemeinen Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens. Zu den in der Kirchlichen Zeitgeschichte am häufigsten bearbeiteten erinnerungskulturellen Themen zählen bis heute das Gedenken an christliche Personen, Institutionen und Texte der NS-Zeit6. Intensiv setzten sich die Forscher mit Phasen und Funktionen der öffentlichen Erinnerung an widerständige Theologen und Kirchenvertreter wie Dietrich Bonhoeffer7, Paul Schneider8 oder Clemens August Graf von Galen9 auseinander. Besonders starke Veränderungen in der Erinnerungskultur wurden z. B. in Bezug auf Papst Pius XII.10 oder den bayerischen Landesbischof Hans Meiser11 herausgearbeitet. Unter den Texten als Erinnerungsorte war häufig die Barmer Theologische Erklärung Untersuchungsgegenstand12. Bei den Ereignissen wurden insbesondere der „Kirchenkampf“13, der „20. Juli“14 sowie der „Zweite 3 Martin Sabrow meint, dass sich die „Neugierde auf weitere Forschungsergebnisse auf dem ad nauseam beackerten Feld des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses […] verflüchtigt“ habe (Sabrow, Krise, 96). 4 Vgl. Lorentzen, Gedächtnis, 669. 5 Tim Lorentzen zählt diese zu den Spezialkenntnissen der Kirchenhistoriker. Lorentzen, Gedächtnisforschung, 72; ders., Gedächtnis, 684. 6 Vgl. z. B. Hermle / Pçpping, Verklärung. 7 Vgl. z. B. Lorentzen, Phasen. 8 Vgl. z. B. Schneider, Verklärung. 9 Vgl. z. B. Grossbçlting, Gedenken. 10 Vgl. z. B. Brechenmacher, Pius XII.; Kçsters, NS-Vergangenheit. 11 Vgl. z. B. Schulze, Meiser ; Oelke, Erinnerungskultur. 12 Vgl. z. B. Schneider, Barmen. 13 Vgl. z. B. Strohm, Kirchen.
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Weltkrieg“15 wissenschaftlich behandelt. Anlässlich des Gedenkjahres 2018 kamen auch weitere Arbeiten zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hinzu16. Erinnerungsorte jüngeren Datums sind bislang noch seltener Gegenstand erinnerungskultureller Forschung geworden. Erst in Ansätzen ist z. B. die Erinnerung an das Zweite Vatikanische Konzil17 oder die christliche Friedensbewegung um 1980 untersucht. Viel zeithistorischer Forschungsbedarf besteht auch noch im Hinblick auf transnationale Studien zur christlichen Erinnerungskultur18. Neben den Analysen der Erinnerung an einzelne zeitgeschichtliche Personen, Texte und Ereignisse liegen auch bereits allgemeine Überlegungen zu Grundstrukturen und Modi christlicher Erinnerungskultur vor. So spricht der Kirchenhistoriker Tim Lorentzen von vier paradigmatischen Mechanismen für die gesamte christliche Erinnerungskultur, nämlich die „Lokalisierung, Periodisierung, Liturgisierung und Literarisierung“19. Der Historiker FrankMichael Kuhlemann arbeitete drei typische modi memorandi des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert heraus: die glorifizierende Erinnerung, die traumatisierte Erinnerung sowie einen kritischen, theologisch argumentierenden Erinnerungsmodus20. Bei den bisherigen erinnerungskulturellen Untersuchungen zu Einzel- oder Überblicksthemen wurde zumeist auch die Beteiligung von Kirchen- und Allgemeinhistorikern in den oft stark polarisierten erinnerungskulturellen Debatten mitbetrachtet, wenn auch selten vertieft. Eine systematische Analyse der von konfessionell gebundenen und ungebundenen Wissenschaftlern in der christlichen Erinnerungskultur bislang eingenommenen Akteursrollen könnte aber auch für eine strukturelle Verhältnisbestimmung von christlicher Erinnerungskultur und kirchlicher Zeitgeschichtsforschung fruchtbar gemacht werden.
2. Die Rolle kirchlicher Zeithistoriker in der Erinnerungskultur Das Verhältnis von Kirchlicher Zeitgeschichte und Erinnerungskultur soll im Folgenden an drei konkreten Beispielen beleuchtet werden.
14 15 16 17 18 19 20
Vgl. z. B. Lorentzen, Gedächtnisforschung. Vgl. z. B. Hummel / Kçsters, Kirche. Vgl. z. B. Fitschen, Schwinden. Vgl. Teck, Erinnerung. Als einen ersten Ansatz vgl. z. B. Kunter, Centration. Lorentzen, Gedächtnisforschung, 54. Vgl. Kuhlemann, Erinnerung, 37–43.
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2.1 Die Erinnerung an die katholische Kirche im „Dritten Reich“ Die Erinnerungskultur in Bezug auf das Verhalten der katholischen Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus ist seit den 1960er Jahren reich an öffentlichen Debatten, in denen es neben einer intellektuellen Aufarbeitung der Vergangenheit auch um kirchliche Identitätssicherung, Kirchenkritik und öffentliche Moral ging bzw. heute noch geht. Es seien hier nur Stationen und Stichworte genannt: 1961: Ernst-Wolfgang Böckenfördes kritische Analyse des Deutschen Katholizismus im Jahre 193321; 1963: Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“22 ; 1965: Guenter Lewys Studie zur „katholischen Kirche und das Dritte Reich23 ; 1999: John Cornwells Buch „Hitler’s Pope“24 ; 2000: die Zwangsarbeiterthematik25 ; 2002: Daniel J. Goldhagens Vorwurf einer massiven Mitschuld der katholischen Kirche am Holocaust26. Die katholische Zeitgeschichtsforschung übernahm in diesen Debatten eine defensive Position und klagte beständig über die Ignoranz von Öffentlichkeit und Medien gegenüber ihren geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen. Ihre Kritiker außerhalb und innerhalb der Wissenschaft warfen den kirchlich gebundenen Katholizismusforschern hingegen Apologie vor, da sie sich intensiver mit Positivbeispielen beschäftigen würden als mit kritikwürdigem Verhalten von Kirche, Priestern und Katholiken; sie würden antitotalitäre Selbstbehauptung, Milieu-Resistenz und Widerstand überbetonen und systemstabilisierende ideologische Affinitäten wie den katholischen Antisemitismus und Antibolschewismus relativieren27. Konkret sollen nun die erinnerungskulturellen Debattenpositionen anhand zweier Beispiele aus den 1980er Jahren vorgestellt werden. In beiden erinnerungskulturellen Projekten kooperierten Kirche und Wissenschaft in Gestalt der deutschen Bischofskonferenz und der katholischen Kommission für Zeitgeschichte offen miteinander. Am 24. Januar 1983 gab die Deutsche Bischofskonferenz zum fünfzigsten Jahrestag der Machtübernahme der Nationalsozialisten eine Erklärung heraus. Darin hieß es, dass es mit Blick auf die NS-Vergangenheit „nicht um Rechtfertigung, nicht um Anklage, sondern um Selbstbesinnung“ gehen müsse28. Gleichzeitig wurde jedoch selbstbewusst formuliert: „Wir dürfen aber auch erneut bezeugen, daß Kirche und Glaube eine der stärksten Kräfte im Widerspruch, ja Widerstand gegen den Nationalsozialismus waren, in 21 22 23 24 25 26 27 28
Bçckenfçrde, Katholizismus. Hochhuth, Stellvertreter. Lewy, Kirche. Cornwell, Pius XII. Vgl. Hummel / Kçsters, Zwangsarbeit. Goldhagen, Vollstrecker. Zum Gesamtkomplex vgl. Kçsters, NS-Vergangenheit. Erinnerung und Verantwortung, 7.
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mancher Hinsicht sogar die stärkste.“29 Der Veröffentlichung der Erklärung war ein Brief des Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Joseph Kardinal Höffner, vom 7. Dezember 1982 an den Vorsitzenden der Kommission für Zeitgeschichte, Konrad Repgen, beigegeben. Darin bat der kirchenleitende Theologe den Inhaber des Bonner Konkordatslehrstuhls für Mittlere und Neuere Geschichte um eine Stellungnahme, da die „Öffentlichkeit“ von den deutschen Bischöfen ein „orientierendes Wort“ erwarte, denn die Kirche wolle „nicht versäumen, aus der Geschichte zu lernen“30. In seinem Antwortbrief verstand Repgen seine Aufgabe darin, so drückte er es aus, „den Zugang zu den wesentlichen Fragen eröffnen zu können, die sich aus der zeitgeschichtlichen Erinnerung an 1933 für die heutige Lebenswelt ergeben“31. Repgens Schreiben enthielt neben historischer Rekonstruktion auch wissenschaftliche Deutung. So erklärte er, die „herausragenden Akte des weltanschaulichen Widerspruchs zum nationalsozialistischen System“ seien nicht nur „Selbstverteidigung und Selbstbewahrung“, „sondern Rekurs auf unveräußerliche Persönlichkeits- und Menschenrechte für die Allgemeinheit“32. Der Historiker argumentierte in dem Brief aber nicht vorrangig gegen differierende wissenschaftliche Deutungen, sondern in erster Linie gegen die seiner Auffassung nach „unkorrekte Berichterstattung“ einflussreicher Massenmedien33. Während den deutschen Bischöfen an einer „unvoreingenommenen Erforschung der neueren Geschichte des Katholizismus“34 liege und sie daher seit zwanzig Jahren die Arbeit der Kommission für Zeitgeschichte fördere, die zwischenzeitlich 30 Dokumentenbände und 20 Monografien vorgelegt habe, würden „wichtige Teile der Massenmedien“ die Kirche und die Kirchenleitungen „entlastend[e]“ Forschungsergebnisse ignorieren, und in kirchenkritischer Absicht „belastend[e]“ Aussagen einseitig hervorheben35. Repgen diagnostizierte eine Auseinandersetzung „um Bewahren oder Verändern der Identität der Kirche“ mit geschichtspolitischen Mitteln36. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Zeitgeschichte sah er darin, den „Mythenbildungen der Gegenwart“ entgegenzutreten37. Nach Repgens Darstellung verlief die Debattenfront zwischen Wissenschaft und Kirche auf der einen und Öffentlichkeit und Presse auf der anderen Seite. Dass es jedoch auch innerhalb der katholischen Kirche erinnerungskulturelle Differenzen gab, kommt weit subtiler im letzten Teil seines Briefes zum Ausdruck. Es betraf den von dem katholischen Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg herausgearbeiteten „theologischen Para29 30 31 32 33 34 35 36 37
Ebd. Ebd., 9. Ebd., 10. Ebd., 16. Ebd., 17. Ebd. Ebd. Ebd., 18. Ebd.
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digmenwechsel“ in der „Sichtweise des Phänomens von Sünde und Schuld in der Geschichte der katholischen Kirche“38. Hier sekundierte der Historiker Repgen dem Theologen Höffner, der hinsichtlich der Frage nach der Schuld der Kirche in der Geschichte eine historische Differenzierung anmahnte und kollektive Schuldbekenntnisse im Zuge einer theologisch begründeten religiösen Erinnerung, wie sie sich seit dem II. Vatikanischen Konzil entwickelt hatte, ablehnte. Im Jahr 1984 erschien der Band „Priester unter Hitlers Terror. Eine Biographie und statistische Erhebung“39. Im Vorwort erklärte Kardinal Höffner, die Bischofskonferenz habe 1979 den Auftrag zur Ermittlung der „noch feststellbaren religiös oder politisch bedingten Zwangsmaßnahmen“ erteilt, da den im Nationalsozialismus verfolgten Priestern und Laien „bisher nicht die gebührende Aufmerksamkeit zuteil geworden“ sei40. Dieses ehrende Gedenken galt es nun nachzuholen. „Ihr Beispiel sollte uns Vorbild und Ermutigung sein“, so formulierte der Kardinal die erinnerungskulturelle Intention41. Die Kommission für Zeitgeschichte war von der Bischofskonferenz um die überdiözesane Zusammenstellung der Umfrageergebnisse und um deren wissenschaftliche Bearbeitung gebeten worden. Ulrich von Hehl, der damalige Geschäftsführer der Kommission, trat als Bearbeiter des Bandes auf, in dem 8021 vom NS-Regime gemaßregelte Geistliche aufgeführt waren. In seiner Einführung ging der Historiker differenziert auf die Fragen von Widerstand und Resistenz ein. Konrad Repgen hatte den Band bereits in dem offenen Brief an Höffner mit dem Hinweis angekündigt, er werde „ein eindrucksvolles Zeugnis dafür bieten, wie bedrängt und verfolgt die Kirche gewesen ist“ und „wie die Kirche unter dem Kreuz gestanden hat.“ „Die Zahl der Märtyrer aus dieser Zeit“ sei „größer als aus irgendeiner anderen Epoche unserer Zeit.“42 Eine apologetische Tendenz des Unternehmens bereits durch die Wahl der Verfolgungsperspektive lässt sich somit nicht völlig negieren. Mit voller Wucht formulierte der kirchenkritische Kirchenhistoriker Georg Denzler den Apologievorwurf, als er das Werk ein „großes Exkulpationsopus“ nannte43. Die beiden Beispiele zeigen, dass erinnerungskulturelle Fronten zwischen Wissenschaft, Kirche und Öffentlichkeit sehr verschieden verlaufen können. 2.2 Die Erinnerung an die evangelische Kirche in der DDR Die erinnerungskulturellen Auseinandersetzungen über die DDR setzten bereits zeitgleich mit deren Untergang ein. Die evangelische Kirche erlebte dabei 38 39 40 41 42 43
Damberg, Schuld, 148. Hehl (Bearb.), Priester. Ebd., IX. Ebd., X. Erinnerung und Verantwortung, 16. Denzler, Widerstand, 218. Vgl. auch Blaschke, Stufen, 69 f.
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binnen kurzem eine völlige Umwertung: In der medialen Öffentlichkeit mutierte sie vom Promotor der Friedlichen Revolution zur Stasi-Kirche. Die Forderung nach einem kirchlichen Schuldbekenntnis wurde laut. Einen wesentlichen Anteil beim Wechsel dieses Geschichtsbildes hatte ein Wissenschaftler aus der alten Bundesrepublik: Der Kirchenhistoriker Gerhard Besier, damals Mitglied der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Zwischen 1991 und 1995 brachte er mehrere Bände heraus, in denen er anhand von Akten des Ministeriums für Staatssicherheit Stasi-Verstrickungen von Kirchenvertretern offenlegte und der evangelischen Kirche in der DDR eine die Identität der Kirche gefährdende Staatsnähe bescheinigte44. Auch wenn man sich zunächst schnelle zeithistorische Konter gewünscht hatte, entschloss sich die EKD im Februar 1992 dazu, auf Besiers Anwürfe mit wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema „Kirche und Staat in der DDR/SBZ“ zu reagieren45 ; ,unseriöser‘ sollte ,seriöse‘ Zeitgeschichtsforschung folgen, dem „Aufklärungskonsens“46 wurde Rechnung getragen. Eine von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte berufene Kommission, der auch Vertreter der Landeskirchen und Kirchenhistoriker der neuen Länder angehörten, beschloss sechs Forschungsthemen, „an denen sich das vielschichtige Geflecht der Beziehungen zwischen Kirche und Staat in der DDR exemplarisch und zugleich möglichst umfassend nachweisen“ lassen sollte47. Dem Rat der EKD überließ man die Entscheidung, mit welchem der Themen zu beginnen sei. Zwei junge Wissenschaftler wurden von der EKD für vier Jahre angestellt und begannen im Frühjahr 1993 unter der wissenschaftlichen Leitung des Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft, dem Tübinger Theologen Joachim Mehlhausen, mit der Arbeit. In die Begutachtung der Manuskripte wurden auch ostdeutsche Kirchenhistoriker und Kirchenvertreter einbezogen. Mehlhausen war es wichtig, in der ersten mikrohistorisch angelegten Projektstudie zu versichern, dass es zu „keinem Zeitpunkt einen Versuch der Einflußnahme auf den Gang des Forschungsprojekts durch den Auftraggeber, den Rat der EKD, gegeben“ habe48. Auftragsarbeit und wissenschaftliche Freiheit schlossen sich nicht aus. Insgesamt gingen in den Jahren 1997 und 1999 vier sehr quellennahe und detailorientierte Monografien aus dem Projekt hervor49, die in ihrer Deutung zurückhaltend waren und theologische Bewertungen unterließen. In der breiteren Öffentlichkeit wurden sie wenig wahrgenommen und konnten somit das Bild von der ,Stasi-Kirche‘ nicht korrigieren. Die medial vermittelte erinnerungskulturelle Debatte über die Rolle der evangelischen Kirche in der DDR war zu diesem Zeitpunkt längst 44 45 46 47 48 49
Vgl. Besier / Wolf, Pfarrer ; Besier, Kirche. Mehlhausen, Arbeitsgemeinschaft, 1. Sabrow, Abschied, 8. Mehlhausen, Einführung, XI. Ebd., XIII f. Vgl. Silomon, Synode; Beier, Sonderkonten; ders, Gemeinde; und Silomon, Schwerter.
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verebbt. Zeitgeschichtsforschung und öffentliche Diskurse haben divergierende Tempi. Die EKD förderte dennoch weiterhin wissenschaftliche Aufarbeitung. Ein zweites vom Rat im Dezember 1996 beschlossenes und bei der Arbeitsgemeinschaft angesiedeltes Projekt behandelte „Die Rolle der evangelischen Kirche im geteilten Deutschland“50. Erforscht wurden Konvergenzen und Divergenzen der kirchlichen Entwicklung in Ost- und Westdeutschland während der Zeit der Teilung. Begleitet wurde das auf fünf Jahre angelegte Projekt von einem fünfzehnköpfigen Wissenschaftlichen Beirat, der im Einvernehmen mit der Arbeitsgemeinschaft vom Rat der EKD berufen wurde, und dem Theologen, Historiker sowie Kirchenvertreter angehörten. Aus dem Projekt gingen drei Habilitationsschriften51, eine Dissertation52, eine Monografie53 sowie zwei Sammelbände54 hervor. In seinem Grußwort zur Abschlusstagung wertete der Ratsvorsitzende Manfred Kock die Forschungsergebnisse erinnerungspolitisch in Richtung Kirche und Gesellschaft aus: Die historischen Erkenntnisse könnten dabei helfen, die „Ungleichzeitigkeiten im deutschen Protestantismus […] besser zu verstehen“55. Und die evangelische Kirche habe durch ihre „besondere Gemeinschaft“, wie sie in den Publikationen dokumentiert werde, „für die Gestalt des neuen Deutschland einen unverzichtbaren Dienst geleistet“56. Nach dieser Phase von der EKD initiierter Forschung verlagerte sich die kirchliche und wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit im Wesentlichen nach Ostdeutschland, wo innerhalb des Protestantismus durchaus unterschiedliche Erinnerungskulturen bestehen. Vor allem in den neuen Bundesländern ansässige Kirchenhistoriker beteiligen sich bis heute durch Beratung, Stellungnahmen und Forschungsprojekte aktiv an erinnerungskulturellen Debatten und memorialen Akten, sei es bei der Vorbereitung des Bußwortes der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland von 201757, bei der staatlich finanzierten Erforschung der Benachteiligung von Christen in der DDR58 oder jüngst in der Diskussion um die Bedeutung der Kirche für die Friedliche Revolution 198959. Die erinnerungskulturelle Erregungskurve ist jedoch deutlich abgeflacht. Auch bei der Erinnerung an die Rolle der Kirche in der DDR verlaufen seit 1989 die Fronten zwischen Wissenschaft, Kirche und Öffentlichkeit nicht li50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Vgl. Lepp, Rolle. Lepp, Tabu; Silomon, Anspruch; und Kunter, Hoffnungen. Bulisch, Presse. Beier, Gemeinde. Mehlhausen / Siegele-Wenschkewitz, Staaten; Lepp / Nowak, Kirche. Kock, Grußwort, 13. Ebd., 15. So z. B. der Hallensische Kirchenhistoriker Friedemann Stengel. Vgl. Stengel, Einführung. Vgl. Lehmann, Diskriminierung. Vgl. die Beiträge in: Lepp, Forum.
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near. Hinzu kommt in diesem Fall als weitere Friktion die biografische Herkunft der Akteure und damit verbunden der Vorwurf der „unsachgemäßen Fremddeutung“60. 2.3 Das katholische und evangelische Märtyrergedenken der 1990er und 2000er Jahre Tim Lorentzen bezeichnete einmal zu Recht das Märtyrergedenken als „Paradigma christlicher Erinnerungskultur“61. Auch in der Erinnerung an das Verhalten von Kirchen und Christen in den beiden deutschen Diktaturen spielt diese Gedenkform eine wichtige Rolle und dies nicht nur in der Nachkriegszeit. Die 1990er und 2000er Jahre erlebten eine neue Blüte des Märtyrergedenkens. Einen wichtigen Impuls hierzu gab im Jahr 1994 Papst Johannes Paul II., als er von der Rückkehr der Märtyrer im 20. Jahrhundert sprach und zu deren Gedenken aufforderte. In der Folgezeit entstanden in verschiedenen katholischen Ortskirchen Märtyrerkataloge. 1999 legte die Deutsche Bischofskonferenz ein zweibändiges deutsches Martyrologium des 20. Jahrhunderts unter dem Titel „Zeugen für Christus“ vor62, das von Bischof Karl Lehmann persönlich in Rom übergeben wurde. Bei der Festlegung von drei theologischen und kanonistischen Kriterien zur Bestimmung des Martyriums orientierte sich der Herausgeber Helmut Moll, Beauftragter für Selig- und Heiligsprechungsverfahren im Erzbistum Köln, an der kirchlich-liturgischen Überlieferung und dem kirchlichen Lehramt sowie neueren Kanonisationsnormen. Die Kommission für Zeitgeschichte unterstützte das Projekt vor allem durch den Geschäftsführer der Forschungsstelle Karl-Joseph Hummel63. Nach seiner Auffassung führte die päpstliche Märtyrer-Initiative „die katholische Kirche nach 30 Jahren erstmals wieder aus der Defensive heraus und ließ sie die moralische Führungsrolle zurückgewinnen“64. Das theologisch-pastoral ausgerichtete Martyrologium wurde ein Verkaufserfolg und erlebte sieben Auflagen. Insbesondere die erste Auflage erfuhr aber auch wissenschaftliche Kritik. Quellenrecherchen, Auswahlkriterien und einige Darstellungen entsprächen nicht den Maßstäben einer historisch-kritischen Forschung65 ; einschlägige historische Forschungsergebnisse seien nicht zur Kenntnis genommen worden. Unter den wissenschaftlichen Kritikern war auch der Vorsitzende der Kommission für Zeitgeschichte, Ulrich von Hehl66, dem Moll in seiner Einführung als „Gutachter“ gedankt hatte67. 60 61 62 63 64 65 66
Albrecht-Birkner, Freiheit, 21. Lorentzen, Gedächtnis, 674. Moll, Zeugen. Karl Kardinal Lehmann dankte Hummel im Geleitwort des Bandes dafür. Vgl. ebd., XXXIII. Hummel, Glaubenszeugnis, 144. Vgl. z. B. Bleistein, Jahrhundert, 276. Vgl. Hehl, Ertragen.
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Auf Wunsch der Deutschen Bischofskonferenz und des Kirchenamts der EKD erarbeiteten die Kommission für Zeitgeschichte und die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte im Jahr 2000 gemeinsam ein kleines ökumenisches Märtyrerbuch. Der Band mit dem Titel „Zeugen einer besseren Welt“ enthielt 26 Kurzbiografien sowie eine gemeinsame Einleitung des Bochumer Kirchenhistorikers Christoph Strohm und Karl-Joseph Hummels. Darin hieß es, dass die Sammlung der Lebensbilder die „Gemeinsamkeit im christlichen Zeugnis“ illustrieren wolle68, aber nicht ignoriert werde, dass unterschiedliche konfessionelle Zugänge zur Märtyrerproblematik existierten. Der Band wurde am 1. November 2000 in der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum in Berlin-Plötzensee vom Vorsitzenden des Rates der EKD, Präses Manfred Kock, und dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, vorgestellt. Beide sahen gegenwartsbezogen in den Porträtierten „Zeugen für Glaubensstärke und Mitmenschlichkeit“, die zu Zivilcourage angesichts von Unrecht ermutigen sollten69. Der Anstoß zu einem evangelischen Gedenkbuch war eine wissenschaftlich-kirchliche Gemeinschaftsaktion. In einem Festvortrag vor der EKDSynode anlässlich des fünfzigsten Jubiläums der 1948 in Eisenach verabschiedeten Grundordnung der EKD erinnerte der Vorsitzende der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Mehlhausen an die vom damaligen Präses der EKD-Synode Gustav Heinemann 1948 initiierte erste Märtyrerliste. Mehlhausen beklagte, dass einige der dort aufgeführten Namen aus dem kollektiven Gedächtnis des Protestantismus gefallen seien und hielt es für „merkwürdig“, dass keine spätere Synode der EKD die Namensliste zu „Ende geschrieben und irgendwo ehrenvoll festgehalten“ habe70. Dieser Einschätzung schloss sich der Präses der EKD-Synode Jürgen Schmude an. Trotz kontroverser Diskussionen, in denen sich vor allem die beteiligten Allgemeinhistoriker skeptisch äußerten, übernahm es die Evangelische Arbeitsgemeinschaft unter ihrem neuen Vorsitzenden Carsten Nicolaisen im Juni 2000, dieses erinnerungskulturelle Desiderat in einer Weise zu beseitigen, die wissenschaftlichen Anforderungen standhalten sollte. Weil man auf evangelischer Seite nicht an eine traditionelle kirchliche Praxis anknüpfen konnte, mussten neue Kriterien für den Begriff des „Märtyrers“ erarbeitet werden. Dass es sich um ein erinnerungskulturelles Projekt mit Zielrichtung auf die evangelische und die politische Kultur handelte, war den Beteiligten klar. In einem Grundsatzvortrag erklärte Strohm, dass Märtyrer als „Glaubenszeugen und Vorbilder der Lebensführung“ wichtig seien und die Gesellschaft an ihre christlichen Wurzeln erinnere, von denen sie heute nichts mehr wisse71. Auch die Hamburger 67 68 69 70 71
Moll, Zeugen, L. Hummel / Strohm, Zeugen, 16. Ebd., 10. Zitiert nach Grenzinger, Bericht, 43. Vgl. ebd., 45.
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Historikerin Ursula Büttner sah in dem Projekt einen „Beitrag zur Erinnerungskultur der deutschen evangelischen Kirche“ und nicht etwa einen Zugewinn für die historische Widerstandsforschung. Die Geschichtswissenschaft sah sie dabei in einer „dienende[n] Funktion“72. Sie müsse dafür sorgen, dass bei der Erhebung der Fakten historisch-kritisch gearbeitet, die Komplexität des Themas erfasst und die „Mehrdeutigkeit (auch die moralische Mehrdeutigkeit) der Motive und Verhaltensweisen der Protagonisten“ akzeptiert werde73. Dieses Anforderungsprofil für die Projektarbeit war konsensfähig, zumal Strohm darauf hinwies, dass man nach protestantischem Verständnis auch bei Märtyrern von Ambivalenzen in den Lebensläufen ausgehe74. Der Band „Ihr Ende schaut an … Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts“ erschien im Jahr 2006 und erlebte 2008 eine zweite Auflage75. Auf seinen ersten 200 Seiten wird in zwölf systematisch-theologischen sowie zeithistorischen Beiträgen über die Märtyrerthematik reflektiert. Anschließend folgen 499 Kurzbiografien von deutschsprachigen Märtyrern aus dem Zeitraum 1917 bis 1989. Die Texte sind in einer sachlich-nüchternen Sprache verfasst und genügen wissenschaftlichen Standards. Alle Märtyrerpublikationen hatten eine positive Aufnahme vor allem in den Gemeinden, während in Wissenschaft und Öffentlichkeit auch kritische Stimmen laut wurden. Die Fokussierung auf die Opfer drohe den Blick auf christliche Mittäterschaft und historisches Versagen zu verstellen, so lautete ein häufiger Vorwurf76. Auch von einer Rückkehr der Selbstheroisierung in der kirchlichen Erinnerungskultur war die Rede.
3. Zur Rolle der Zeithistoriker in der christlichen Erinnerungskultur Aus den Beispielen wird deutlich, wie vielfach kirchliche Zeitgeschichtsforschung und Erinnerungskultur im engeren Sinne miteinander verflochten sind. Somit ist kirchliche Zeitgeschichtsforschung in ihrer öffentlichen Dimension Bestandteil der Erinnerungskultur im weiteren Sinne. Welche Rolle bzw. Rollen aber übernehmen ihre Vertreter innerhalb dieser Erinnerungskultur und was gilt es dabei zu bedenken? Zuvörderst stellen kirchliche Zeithistoriker einen „Fundus kritisch ge-
72 Bettner, Opfer, 55. 73 Peter Novick: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. Stuttgart / München 2001, 14. Zitiert nach Bettner, Opfer, 55. 74 Vgl. Grenzinger, Bericht, 45. 75 Schultze / Kurschat, Ende. 76 Vgl. Blaschke, Geschichtsdeutung, 483.
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prüften Wissens“ bereit77. Sie tun dies vornehmlich durch ihre Publikationen, aber auch durch fachkompetente Beratertätigkeit. So sitzen Historiker und Kirchenhistoriker oftmals in Beiräten größerer kirchlicher und staatlicher erinnerungskultureller Projekte und Einrichtungen, d. h. auf Vermittlung gerichteter Formen der Erinnerung. Dort nehmen sie nach eigenem Selbstverständnis oft die Rolle eines Korrektivs ein, indem sie auf kritische Historisierung bestehen und unzulässige Vereinfachungen ablehnen. Mitunter werden sie als Vertreter einer wissenschaftlich objektivierten Geschichte von anderen Akteuren der Erinnerungskultur, seien es Kirchenleitende oder Zeitzeugen, deswegen als „Störfaktor“ verstanden78 und gar nicht erst zur Beratung erinnerungskultureller Projekte herangezogen oder im Laufe der Zeit in antiakademischem Affekt entpflichtet. Der Konflikt zwischen einem rationalen Erklärungsansatz der Wissenschaft, einem moralisierenden oder religiösen Duktus der Erinnerung sowie geschichtspolitischen Intentionen lässt sich nicht immer vermitteln79. Historiker, praktische Theologen, Kirchenleitende und Zeitzeugen nehmen in der Gestaltung von Erinnerungskultur strukturell unterschiedliche Rollen ein. Christlich-kirchliche Erinnerungskultur verliert jedoch an gesellschaftlicher Akzeptanz, wenn eine dieser Rollen unbesetzt ist. Und auch dort, wo es eigens kirchliche Beauftragte für Erinnerungsarbeit gibt und eine „theologische Profilierung der Erinnerungskultur“80 angestrebt wird, darf eine Rückbindung an die zeithistorische Forschung nicht aufgegeben werden. Die insgesamt boomende Erinnerungskultur hat sich in den letzten Jahren auch zu einem kirchlichen Arbeitsfeld entwickelt. Auf ihm aber sollten kirchliche Praktiker und (Kirchen-)Historiker konstruktiv zusammenwirken. Das muss auch eine Problematisierung des Erinnerungsprozesses sowie seiner gesellschaftlichen Funktionen einschließen81. Wenn Kirche dieses Arbeitsfeld für ihre eigene Identität, ihre gesellschaftliche Relevanz sowie die politische Entwicklung für wichtig erachtet, so sollte sie aber auch weiterhin zeithistorische Forschung als wissenschaftliches Fundament ihrer Erinnerungsarbeit fördern. In den Medien übernehmen Wissenschaftler zumeist die Rolle eines kritischen Beobachters christlich-kirchlicher Erinnerung. Sie hinterfragen eine die Ergebnisse der Forschung ignorierende „gegenwartsbezogene Betroffenheitskultur“82, klären über Geschichtslegenden auf, geißeln die Verdrehung von historischen Tatsachen oder decken geschichtspolitische Intentionen auf. Ab und an wird dabei aus dem Kritiker auch ein Ankläger oder Richter. Seltener treten Zeithistoriker in den Medien als Verteidiger kirchlicher ErinAuf die allgemeine Zeitgeschichtsforschung bezogen Hockerts, Zugänge, 72. Hummel, Fakten, 554. Vgl. hierzu allgemein Jarausch, Zeitgeschichte. Erinnerungskultur, 24. Dies fordert der Historiker Konrad H. Jarausch insgesamt für einen verantwortlichen Umgang mit Gedenken in der Gesellschaft. Vgl. Jarausch, Zeitgeschichte, 35. 82 Ebd., 32.
77 78 79 80 81
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nerung auf. Gerade an kirchlich gebundene Zeithistoriker wird aber mitunter von Seiten der Kirchen diese Erwartung herangetragen und von Seiten einer kritischen Öffentlichkeit häufig genau diese Haltung unterstellt. Mit Hilfe des Apologievorwurfs wischen kirchenkritische Medienvertreter oder Erinnerungsakteure manchmal auch kirchengeschichtliche Forschungsergebnisse, die nicht in ihr Geschichtsbild von den Kirchen passen, vom Tisch. Sowohl in den Medien als auch in Beiräten können kirchliche Zeitgeschichtsforscher aber auch als Impulsgeber für die kirchliche Erinnerungsarbeit auftreten, indem sie für das Gedenken an bestimmte Personen oder die Aufarbeitung bestimmter Vorgänge werben bzw. diese einfordern. Dazu zählen auch für die Kirche brisante Themen, die einer historischen Klärung benötigen. Als Kritiker wie als Promotoren beteiligen sich kirchliche Zeithistoriker an der öffentlichen Aushandlung von Erinnerungskultur. Sie profitieren aber auch von diesen Aushandlungsprozessen, da in deren Zuge ihre Forschungsergebnisse in eine breitere Öffentlichkeit gelangen können. Dass aber insbesondere die Massenmedien vornehmlich an Neuigkeiten und Enthüllungen interessiert sind und weniger an komplexen Zusammenhängen und differenzierten Urteilen, ist ein struktureller Konflikt zwischen Wissenschaft und Medien. Öffentliche Debatten oder groß gefeierte Jahrestage beeinflussen indes auch die Themenwahl von historisch Forschenden, man denke etwa an die Zwangsarbeiterthematik oder das Gedenken anlässlich 100 Jahre Anfang bzw. Ende des Ersten Weltkrieges. In einen Rollenkonflikt können kirchliche Zeithistoriker geraten, wenn sie auf kirchliche Aufforderung hin kirchliche Erinnerungskultur aktiv mitgestalten. Bei diesen Auftragsarbeiten sollten sie sich prioritär den Methoden wissenschaftlichen Arbeitens verpflichtet fühlen und eine unabhängige Deutungshoheit beanspruchen. Klar ist aber auch, dass kirchliche Zeithistoriker wie alle Historiker „in kollektive Deutungs- und Erinnerungshorizonte sowie prägende Zeitumstände eingebunden sind“83. Von kirchlich gebundenen Zeithistorikern wird hier vermutlich noch etwas mehr Selbstreflexivität verlangt, zumal wenn es sich um Theologen handelt. Dies dürfte sie jedoch nicht davon abhalten, legitimen kirchlichen Erinnerungs- und Gedenkbedürfnissen eine wissenschaftliche Fundierung zu geben84. Sie sollten ihre Forschungsergebnisse aktiv in die Erinnerungskultur einspeisen und diese somit mitgestalten. Das bedeutet nicht, in ein „volkspädagogisches Wissenschaftsverständnis“85 zu verfallen und aus der Kirchlichen Zeitgeschichte eine reine Anwendungswissenschaft zu machen, sowenig wie die Konjunktur der public history aus der allgemeinen Zeitgeschichte eine solche gemacht hat. Es heißt aber, um den verstorbenen Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak zu zi83 Cornelissen, Erinnerungskulturen. 84 Bezogen auf die allgemeinen Gedenk- und Erinnerungsbedürfnisse in der Gesellschaft vgl. Jarausch, Zeitgeschichte, 34. 85 Sabrow, Krise, 97.
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tieren, „memoriale Verantwortung“86 zu übernehmen und heute dabei, neben der konfessionellen und nationalen, auch die ökumenische und internationale Dimension mit einzubeziehen. Die kirchliche wie die bundesdeutsche Erinnerungskultur sollte nicht allein Zeitzeugen, (Kirchen-)Politikern und den Medien überlassen werden. Das gilt gerade auch in einer Zeit, in der eine kritisch-aufgeklärte, unheroische Erinnerungs- und Gedenkkultur von Rechtspopulisten in Deutschland und anderen europäischen Ländern durch „geschichtspolitische Tabubrüche“87 attackiert wird. Es gilt aber auch in einer Zeit, in der Erinnerung – um es mit dem Historiker Martin Sabrow zu formulieren – zu einer „Pathosformel der gesellschaftlichen Selbstverständigung“88 geworden ist und Erinnerungskultur „säkulare Erlösungsversprechen“89 impliziert. Mit dieser Analyse der aktuellen Erinnerungskultur sind wir aber wieder beim ersten Gliederungspunkt dieses Beitrages, dem kirchlichen Zeithistoriker als Erforscher von Erinnerungskultur, angelangt. Der Zeithistoriker sollte eben bestenfalls immer beides sein: Akteur und Analyst der christlichen Erinnerungskultur.
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–: Verklärung – Vereinnahmung – Verdammung. Zur Rezeptionsgeschichte Pfarrer Paul Schneiders. In: Hermle / Pöpping, Verklärung, 183–196. Schultze, Harald / Kurschat, Andreas (Hg.): „Ihr Ende schaut an […]“. Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2006, 2. erw. u. verb. Aufl. 2008. Schulze, Nora Andrea: Hans Meiser. Vom Widerstandskämpfer zur persona non grata. In: Hermle / Pöpping, Verklärung, 197–209. Silomon, Anke: Anspruch und Wirklichkeit der „besonderen Gemeinschaft“. Der Ost-West-Dialog der deutschen evangelischen Kirchen 1969–1991 (AKIZ B 45). Göttingen 2006. –: ,Schwerter zu Pflugscharen‘ und die DDR. Die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR im Rahmen der Friedensdekaden 1980 bis 1982 (AKIZ B 33). Göttingen 1999. –: Synode und SED-Staat. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR in Görlitz vom 18.–22. September 1987. Unter Mitwirkung von Ulrich Bayer (AKIZ B 24). Göttingen 1997. Stengel, Friedemann: Einführung. In: Versöhnung und Aufarbeitung. Erstes Forum zum Bußwort des Landeskirchenrats der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland zum Buß- und Bettag 2017. Theologische Fakultät der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, 26. Mai 2018 (epd-Dokumentation 35). Frankfurt a. M. 2018, 13–21. Strohm, Christoph: Kirchen und Nationalsozialismus. In: Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hg.): Erinnerungsorte des Christentums. München 2010, 629–641. Teck, Jan-Heiner (Hg.): Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil. Freiburg i. Br. 22013.
IV. Quellen zur Erforschung der Kirchlichen Zeitgeschichte
Henning Pahl
Homepage – Online-Findbuch – Online-Digitalisat Digitale Informationsquellen für Benutzer evangelischer Archive*
Die Archivgesetze als Forschungsfreiheitsvoraussetzung Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass die Archivgesetze mit ihren Schutzfristen, Benutzungseinschränkungen und Benutzungsauflagen die zeitgeschichtliche Forschung behinderten. Tatsächlich ist es genau umgekehrt: Ohne die Archivgesetze wäre die zeitgeschichtliche Forschung gar nicht möglich, denn ohne den klaren gesetzlichen Rahmen wäre den Archiven ihre Arbeit überhaupt nicht erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht legte 1983 in seinem Volkszählungsurteil das informationelle Selbstbestimmungsrecht als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit als Grundrecht fest: Jeder solle über die Verarbeitung der ihn betreffenden Daten selbst entscheiden können. Die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten durch eine Behörde dürfe nur auf der Grundlage eines Gesetzes erfolgen, das den Umfang und den Zweck der Datenverarbeitung klar benenne. Seit diesem Urteil waren alle wesentlichen Tätigkeiten des Archivs – Übernahme der Daten, Aufbewahrung der Daten, Erschließung der Daten und Bereitstellung der Daten für die Benutzung – eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und damit nicht statthaft. Der Ausweg, von allen Betroffenen ihre Zustimmung zur Datenverarbeitung einzuholen, war angesichts der unzähligen personenbezogenen Daten in jedem Archiv ein Ding der Unmöglichkeit. Also waren die Gesetzgeber gefordert. Sie mussten eine gesetzliche Grundlage schaffen, damit Archivarbeit (und mit ihr die Forschung) auch künftig möglich sein würde. Die Archivgesetze der Evangelischen Kirche der Union (1988), der Evangelischen Kirche in Deutschland (1995) sowie die Archivgesetze der evangelischen Landeskirchen (überwiegend zwischen 1988 und 1992 beschlossen) schufen klare Verhältnisse1. Durch sie wurde „der natürliche Zielkonflikt zwischen den Grundrechten der Informations- und Forschungsfreiheit einerseits und des Persönlichkeitsschutzes andererseits sachgerecht gelöst“2, * Die folgende Darstellung bezieht sich insbesondere auf das Archiv der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und dessen rechtliche Grundlagen. Die Archive der evangelischen Landeskirchen werden verschiedentlich ebenfalls in den Blick genommen. Die Archive der diakonischen Einrichtungen, evangelischen Stiftungen und Werke bleiben unberücksichtigt. 1 Vgl. Sander, Archivgesetzgebung. 2 Beschlussempfehlung, 1. Hartmut Sander spricht von einem „,schonenden Ausgleich‘ zwi-
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wobei dem Persönlichkeitsschutz keineswegs per se der Vorrang eingeräumt wurde. Vielmehr stellten die Archivgesetze klar, dass die Forschungsfreiheitsverpflichtung nach Art. 5 GG Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte rechtfertigen könne und dieser Eingriff statthaft sei, wenn z. B. „das öffentliche oder kirchliche Interesse an der Durchführung des wissenschaftlichen Forschungsvorhabens die schutzwürdigen Belange erheblich überwiegt und der Zweck der Forschung auf andere Weise nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand erreicht werden kann.“3 Um die wissenschaftliche Forschung zu ermöglichen, umfasst das archivgesetzliche Konstrukt aus unterschiedlichen Schutzfristen für Personalakten und Sachakten zugleich auch die Möglichkeit der Schutzfristverkürzung. Der Archivar/die Archivarin hat, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wird, die Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen und die Benutzung entweder zu verwehren oder mit Einschränkungen, Bedingungen oder Auflagen zu genehmigen. Die Archivgesetze haben das Berufsbild und das Selbstverständnis des Archivars/der Archivarin grundsätzlich verändert: Vom Verwahrer und Kenner historischer Quellen entwickelte sich der Archivar/die Archivarin zu einem Datentreuhänder bzw. Datenschützer, der die Daten von zum Teil noch lebenden Personen schützen muss und über Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht durch wissenschaftliche Benutzungen zu entscheiden hat. Ebenso veränderte sich der Charakter der archivischen Rechtsvorschriften: Sie wurden von Vorschriften zum Schutz und zur Benutzung von Archivgut zu echten bereichsspezifischen Datenschutzgesetzen. Für den Forscher/die Forscherin, der/die auf die Nutzung zeitgenössischer Quellen angewiesen ist, brachten die Archivgesetze eine erhebliche Stärkung seiner/ihrer Position: Die Benutzung von Archivgut durch Dritte – ehemals eine Kann-Bestimmung – wurde nun zum Jedermann-Recht4. Der Archivar/ die Archivarin sollte nicht mehr nach der Reputation des Bittstellers5 und der subjektiven Beurteilung des Forschungsanliegens Zugang zu Archivgut gewähren oder verwehren dürfen. Ein Benutzungsbegehren konnte nur noch nach Maßgabe des Archivgesetzes eingeschränkt oder versagt werden. Die Entscheidung wurde zum Verwaltungsakt, bei dem der Archivar/die Archischen den Grundrechten der Forschungsfreiheit und der informationellen Selbstbestimmung“ (Sander, Archivgesetzgebung, 155). 3 Kirchengesetz, § 9 Abs. 7 Nr. 3. 4 Die EKD-Benutzungsordnungen 1963 und 1974 regelten: „Die Benutzung kirchlicher Archivalien kann genehmigt werden, wenn ein berechtigtes […] Interesse glaubhaft gemacht werden kann“. Demgegenüber legte das EKD-Archivgesetz 1995 fest: „Jede Person, die ein berechtigtes Interesse glaubhaft macht, hat das Recht, Archivgut der Evangelischen Kirche in Deutschland […] zu benutzen.“ Zitate nach Sander, Vorschriften, 47. Der Begriff des „berechtigten Interesses“ ist im archivgesetzlichen Sinne weit auszulegen. Ein tatsächliches Hindernis stellt er nicht dar. 5 Die Benutzungsordnungen der EKD von 1963 und 1974 hatten noch bestimmt, dass der Antrag auf Benutzung abzulehnen sei, wenn „der Antragsteller nicht vertrauenswürdig ist oder nicht über hinreichende Vorbildung verfügt“ (Zitiert nach ebd., 48).
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varin nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hatte. In Fällen negativer Entscheidung räumt § 11 Abs. 2 EKD-Archivgesetz dem Benutzer explizit die Beschwerdemöglichkeit beim Rat der EKD ein. „Die Benutzung des kirchlichen Archivgutes erfolgt im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Benutzungsverhältnisses.“6 Mit diesen Bestimmungen reihten sich die evangelischen Archive in die Reihe der öffentlichen Archive ein7. Es ist keine Übertreibung, wenn man konstatiert, dass die zeitgeschichtliche Forschung in Archiven durch die Archivgesetze erstmals auf ein normenklares und verlässliches Fundament gestellt wurde.
Digitale Strategie der evangelischen Archive In Zeiten digitaler Kommunikation lebt zeitgeschichtliche Forschung aber nicht nur von einem Recht auf Zugang zu den Unterlagen. Dieses Recht, die Akten einsehen zu dürfen, wird im Informations- und Internetzeitalter als selbstverständlich vorausgesetzt. Die omnipräsente Verfügbarkeit von Informationen im Internet befördert zunehmend die Erwartungshaltung, dass die Quellen im Internet auf Knopfdruck erreichbar sind und am besten via Suchschlitz / la Google durchsucht werden können. Diese Erwartungshaltung ist kaum zu befriedigen angesichts 1. der gewaltigen Mengen von Archivgut, 2. der Rechtsgüter, die einer Online-Veröffentlichung entgegenstehen (insbesondere Persönlichkeitsschutz und Urheberrecht) und 3. der Aufwände, die erforderlich sind, um Archivgut im Internet nutzbar zu machen. Denn ein Archivale ist in der Regel kein solitäres Einzelstück, kein in sich abgeschlossenes Werk, wie etwa ein Buch oder ein Gemälde, das über Verfassernamen, Titel, Entstehungsjahr, Verschlagwortung und Thesaurus leicht umfassend zu beschreiben und ebenso leicht zu finden ist. Vielmehr ist eine Akte oft aus sich heraus nicht verständlich und oft nicht einmal als Einzelstück recherchierbar. Die im Archiv häufig anzutreffenden Aktenreihen weisen manchmal im Titel keine weitere Information auf als eine Jahreszahl, z. B. „1986“. Ein solcher Aktentitel erhält erst durch seinen Kontext Bedeutung. In der Regel gibt erst die Gliederungsüberschrift oder der Titel der Aktenreihe Aufschluss darüber, um was es sich eigentlich handelt, nämlich zum Beispiel um Protokollbände des Rates oder um Sitzungsakten der Kammer für öffentliche Verantwortung. Wenn Archivare/Archivarinnen Archivgut im Internet einstellen, müssen sie diese Zusammenhänge und Hierarchien sichtbar und findbar machen. Dies erfolgt über aussagekräftige und 6 Ordnung, § 2 Abs. 1. Zum Rechtscharakter der Benutzung vgl. allgemein Strauch, Archivalieneigentum, 96–98. 7 Vgl. Manegold, Archivrecht, 183 f.
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leicht erfassbare Erschließungsangaben. Die Vorstellung, Archivgut könne mit wenig Aufwand digitalisiert, per Texterkennung durchsuchbar gemacht und die Digitalisate könnten als einfache Bildreihen online präsentiert werden, ist weder realistisch noch zielführend. Es ist nüchtern zu konstatieren, dass die evangelischen Archive beim Aufgreifen digitaler Chancen lange Zeit einen erheblichen Rückstand hatten. Bei der Beschaffung von Arbeitsplatz-PCs, dem Aufbau aussagekräftiger Internetseiten, der Einführung spezieller Fach-IT, der Nutzung der E-MailKommunikation, der Realisierung von Recherche-Plattformen im Internet und der Beteiligung an einrichtungsübergreifenden Internetportalen sind bzw. waren die staatlichen Archive den kirchlichen Archiven deutlich voraus. Erst langsam machen die evangelischen Archive Boden gut, verfolgen bei ihrem Vorgehen dieselben strategischen Ziele und halten sich an dieselben fachlichen Standards wie die staatlichen Archive. Das Vorgehen lässt sich als ein dreischichtiges Verfahren beschreiben. Die erste Schicht besteht darin, die wichtigen Informationen über das Archiv (Anschrift, Öffnungszeiten, Ansprechpartner), die Benutzungsmodalitäten sowie eine erste Orientierung über die Bestände im Internet zu präsentieren. Dadurch können Interessierte und Benutzer ihren Archivbesuch von zu Hause aus vorbereiten. Alle evangelischen Archive geben darüber hinaus praktische Tipps und Handlungsanleitungen für die Archivrecherche und für das Arbeiten im Archiv, besonders für die große Gruppe der Familienforscher/-innen, aber auch zu ausgewählten historischen Themen oder zu speziellen archivischen Techniken, z. B. dem Lesen der alten deutschen Schrift. Auch archivpädagogische Materialien werden von einigen Archiven im Internet bereitgestellt. Ein herausragendes Beispiel für das historische Informationsangebot evangelischer Archive ist das Portal „Württembergische Kirchengeschichte online“, das vom Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart realisiert wurde. In der zweiten Schicht stellen die evangelischen Archive die Beschreibungsangaben zu von ihnen verwahrten Beständen im Internet bereit. Diese Schicht beinhaltete in den ersten Jahren die bloße Benennung der Bestandsgruppen und der Charakterisierung der wichtigsten Einzelbestände und ging später nach und nach in die Präsentation von Erschließungsangaben zu den Verzeichnungseinheiten über. In vielen landeskirchlichen Archiven werden Erschließungsangaben mittels einer PDF-Textdatei im Internet zur Recherche angeboten. Diese bieten dem Forscher/der Forscherin die Möglichkeit, die Beschreibungsdaten zu den Akten eines Bestands zu lesen und nach Stichworten zu suchen. Dadurch ist es den Forschenden möglich, sich schon zu Hause über die Bestände zu informieren, einschlägige Akten auszuwählen und diese für den Besuch im Archiv vorzubestellen. Eine Recherche über mehrere Bestände mittels einer Internet-Datenbank
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Abb. 1: Startseite der Internetpräsentation des Landeskirchlichen Archivs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.
bieten zurzeit zehn landeskirchliche Archive sowie das EKD-Archiv an. Diese bestandsübergreifende Recherche erleichtert vor allem den Einstieg in die Archivbenutzung, da schnell überprüft werden kann, ob überhaupt Bestände zu einem bestimmten Suchwort vorhanden sind und ob mit der Datenbankrecherche teils auch entlegene Bestände gefunden werden können. Für die datenbankgestützte Online-Recherche nutzen einige Archive die Software kommerzieller Anbieter oder Verbundportale der Bundesländer, wie z. B. das Portal Arcinsys vom Land Niedersachsen (www.arcinsys.niedersach sen.de) oder das Portal Archive.NRW vom Land Nordrhein-Westfalen (www.archive.nrw.de). Online-Rechercheplattformen bieten verschiedene Sucheinstiege, die in Kombination miteinander den bestmöglichen Sucherfolg sicherstellen: Zuerst können über eine einfache Volltextsuche alle Bestände nach bestimmten Schlüsselwörtern durchsucht werden. Das Problem der Stichwortsuche besteht aber darin, dass Akten nicht unbedingt über das Suchwort gefunden werden, aber gleichwohl wichtige Informationen zu dem eigenen Forschungsvorhaben enthalten können. Das liegt entweder daran, dass das gesuchte Wort nicht in den Erschließungsdaten zu dieser Akte enthalten ist bzw. dass ein (vielleicht zeitgenössisches) Synonym verwandt wurde.
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Abb. 2: Das Portal „Württembergische Kirchengeschichte online“ von Landeskirchlichem Archiv / Landeskirchlicher Zentralbibliothek der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.
Die Stichwortsuche sollte deshalb unbedingt um die navigierende Recherche ergänzt werden. Dabei geht man entweder von den bei der Stichwortsuche gefundenen Treffern aus und sucht in deren Umfeld nach weiteren Akten. Diese Suchstrategie ähnelt dem Gang durch einen systematisch aufgestellten Handapparat einer Bibliothek, bei dem neben dem recherchierten Buch noch weitere einschlägige Bücher in den Blick geraten, deren Titel man bislang nicht kannte und deswegen auch nicht mit Titelstichwort recherchieren konnte. Oder man hangelt sich bei der navigierenden Recherche entlang der Behördenstruktur bzw. der Behördenzuständigkeit. Dazu wird die Beständeübersicht des Archivs genutzt, um zu einer bestimmten Organisationseinheit oder Verwaltungsstelle zu gelangen, die für diejenige Aufgabe zuständig war, die Gegenstand der Forschungsfrage ist. Diese Suchstrategie setzt eine gute Kenntnis der Behördenzuständigkeiten voraus. Hierbei kann der Archivar/die Archivarin als intimer Kenner der kirchlichen Behörden Suchhinweise und Tipps geben. Deswegen ist es auch in Zeiten von Archivportalen und OnlineDatenbanken dringend geboten, den Archivar/die Archivarin im Vorfeld des Archivbesuchs um Rat für das Vorgehen bei der Recherche zu fragen. Die dritte und bisher letzte Schicht legten evangelische Archive, indem sie
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Abb. 3: Übersicht der Bestände mit Findbuchdateien im Nürnberger Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
Abb. 4: Der Einstieg in die bestandsübergreifende Suche nach Archivgut des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche der Pfalz in Speyer im Portal eines kommerziellen Anbieters. Im linken Fensterbereich ist die Bestandsgliederung abgebildet. Sie bietet dem Forscher/der Forscherin die erforderlichen Kontextinformationen.
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Abb. 5: Verschiedene Suchmöglichkeiten in der Internet-Rechercheplattform der Archive im Kirchlichen Archivzentrum Berlin: Volltextsuche, Feldsuche, Archivplansuche, Deskriptorensuche. Das Evangelische Landeskirchliche Archiv Berlin und das Evangelische Zentralarchiv Berlin befüllen gemeinsam diese Plattform. Da auch die Archivdaten der Goßner Mission und des Berliner Missionswerkes hier integriert sind, bietet sich dem Forscher/der Forscherin eine breite Recherchebasis.
digitale Kopien ihres Archivguts im Internet bereitstellten. Auf diese Weise wurde auch das letzte Glied der Benutzungskette – von der ersten Orientierung über die Archivgutsuche bis zur Einsichtnahme – ins Internet verlegt. Diesen Schritt haben bisher nur eine Handvoll evangelischer Archive vollzogen, und der Umfang des Online-Archivguts ist noch sehr überschaubar, denn diese Aufgabe ist erst in den letzten Jahren neu dazugekommen und die Aufwände für die Verfügbarmachung im Internet sind groß. Sie entstehen zuerst für den mechanischen Vorgang der Digitalisierung, sodann für die Verknüpfung der Digitalisate mit den Erschließungsangaben im OnlineFindbuch und schließlich für die dauerhafte Speicherung und Verwaltung der Digitalisate. Letzteres wird oft übersehen und doch ist gerade dieser Arbeitsbereich mit hohen Aufwänden verbunden, da Digitalisate immer wieder in neue Programmversionen überführt und in neue Systemumgebungen eingebunden werden müssen. Für die Forschung stellt das Online-Archivgut eine enorme Arbeitserleichterung dar: Wenn Archivgut von zuhause aus und unabhängig von den Öffnungszeiten des Archivs eingesehen werden kann, können Archivaufenthalte verkürzt und Kopieraufträge gespart werden. Je mehr Archivgut online bereitsteht, desto höher fällt die Ersparnis aus. Es stellt sich die Frage, ob Forschungsprojekte zukünftig von vornherein einen Etat zur Archivgutdigitalisierung mit einkalkulieren sollten, um die einschlägigen Akten für ihr Forschungsanliegen online verfügbar zu machen. Die Investition würde sich lohnen: Forschung würde einfacher, schneller und langfristig wahrscheinlich auch billiger. Wenn die Online-Stellung im freien Internet aus rechtlichen
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Abb. 6: Detailansicht der Akte EZA 50/110 mit Gliederung und Kontext im oberen Bildschirmdrittel, die über das Suchwort „Meusel“ gefunden wurde. Im Umfeld dieser Akte finden sich „benachbarte“ Akten, die ebenfalls für das Forschungsthema relevant sind.
Gründen nicht möglich wäre, könnte man passwortgeschützte Online-Lesesäle nutzen, zu denen nur die besonders berechtigten Forschenden Zugang erhielten. Für die Archive entstünden ebenfalls Vorteile: Bei den Aufwänden für die Benutzungssteuerung vor Ort ergäbe sich eine Entlastung, und durch die Online-Nutzung würden die Originale vor Beschädigungen bei der Einsichtnahme im Lesesaal geschützt.
Digitale Archivierung als wichtigste Zukunftsherausforderung Eine solche Entlastung haben die evangelischen Archive angesichts der in den nächsten drei Jahrzehnten kleiner werdenden Finanzierungsbasis dringend nötig, wenn sie die vor ihnen liegenden Zukunftsaufgaben bewältigen wollen. Die wichtigste besteht darin, eine verlässliche und praktikable Lösung zu finden, um die flüchtigen digitalen Unterlagen, die seit einigen Jahren in den Kirchenverwaltungen entstehen, für die historische Forschung zu bewahren. Die Schwierigkeiten liegen dabei zum Ersten darin, dass diese Unterlagen sehr leicht („mit einem Mausklick“) gelöscht werden können, zum Zweiten darin,
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Abb. 7: Die Denkschrift von Marga Meusel über die Aufgaben der Bekennenden Kirche an den evangelischen Nichtariern in der Online-Präsentation des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin (Akte EZA 50/110). Der Bestand „EZA 50 Sammlung Kirchenkampf“ ist vollständig im Internet einsehbar.
dass sie oft unstrukturiert oder allenfalls nach dem persönlichen Ordnungssystem des Bearbeitenden auf den Speicherlaufwerken abgelegt werden und als derartige Datenhaufen nicht zu archivieren sind, zum Dritten darin, dass digitale Daten leicht vergessen werden können, denn sie stellen – anders als Leitz-Ordner – keine Büros und keine Keller zu, sondern sind gewissermaßen unsichtbar und geraten durch Personalwechsel leicht aus dem Blick, so dass sie auf unbestimmte Zeit auf dem Server in Vergessenheit geraten, und zum Vierten darin, dass die digitalen Unterlagen äußerst pflegeintensiv sind: Während man die Papierakte 100 oder 200 Jahre im Rollregal ruhen lassen kann und anschließend trotzdem alle Informationen wieder vorfindet – vorausgesetzt, das Papier ist alterungsbeständig –, brauchen digitale Daten alle paar Jahre ein „refreshment“: Sie müssen in neue Systemumgebungen migriert und in neue Formate konvertiert werden, wobei ständig darauf zu achten ist, dass sie ihre Authentizität und Integrität nicht verlieren und die Nullen und Einsen weiterhin in ihrer ursprünglichen Darstellungsform am Ausgabegerät angezeigt werden können. Dieses führt dazu, dass digitale Daten durch elektronische Signaturen geschützt werden müssen, die ihrerseits wiederum regelmäßig aufgefrischt und während dieses Vorgangs vor Manipulation geschützt werden müssen. Die Einführung des Digitalen Archivs ist ein Kraftakt, den auch die staatlichen Archive nicht allein stemmen konnten, weshalb sie sich zu Verbünden zum Zwecke gemeinsamer digitaler Archivierung zusammentaten. Es ist zu vermuten, dass auch die kirchlichen Archive
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nur innerhalb dieser Archivverbünde die Herausforderung „Digitales Archiv“ werden meistern können.
ARCHION als Erfolgsmodell Welche Innovationskraft die evangelischen Archive im digitalen Arbeitsumfeld haben, beweist das Internet-Portal ARCHION. ARCHION ist das evangelische Kirchenbuchportal, auf dem die 17 teilnehmenden landeskirchlichen Archive und das EKD-Archiv ihre Kirchenbücher digital zur Einsichtnahme bereitstellen. Seit dem Onlinegang im Jahr 2013 wurden mittlerweile über 100.000 Kirchenbücher im Internet zur Verfügung gestellt, über 200.000 Kirchenbücher sollen es schließlich einmal werden. Die Benutzer/Benutzerinnen kommen aus der ganzen Welt und sind bereit, für dieses komfortable Angebot ein Nutzungsentgelt zu bezahlen. Für private Nutzer kostet der Monatspass EUR 19,90, der Jahrespass EUR 178,80, professionelle Nutzer müssen ungefähr das Dreifache bezahlen. Auf diese Weise erzielt die Kirchenbuchportal GmbH inzwischen hinreichend Einnahmen, um den gesamten Geschäftsbetrieb zu finanzieren. ARCHION ist ein rentables Zukunftsprojekt auf digitalem Gebiet, das zeigt, was möglich ist, wenn sich die evangelischen Archive zusammentun. Es ist zudem das erste Verbundportal, in dem die evangelischen Archive gemeinsam Erschließungsdaten und Archivgut aus ihrem Archiv zusammenbringen, um es den Benutzern/Benutzerinnen zur Verfügung zu stellen. Der Gedanke liegt nahe, dass ARCHION zukünftig nicht auf die Quellengattung der Kirchenbücher beschränkt bleibt, sondern auch andere Archivgutarten ergänzend hinzutreten und sich ARCHION schließlich zu dem zentralen Einstiegsportal für die kirchliche Geschichtsforschung entwickeln könnte. Dies wäre ein Quantensprung für die Forschung, die derzeit noch in vielen verschiedenen evangelischen Archiven nach relevanten Quellen recherchieren muss. Ein zentraler Einstiegspunkt wäre auch deshalb dringend erforderlich, weil die verzweigten Strukturen des deutschen Protestantismus und seines Archivwesens den nachwachsenden Forschergenerationen kaum noch nachvollziehbar sind. Ein zentrales Portal zur deutschen Kirchengeschichte würde die Sichtbarkeit der evangelischen Archive im Internet deutlich erhöhen und die Forschungsvoraussetzungen erheblich verbessern.
I. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses des Deutschen Bundestags zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einem Gesetz
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eber die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes. BT-Drucksache 12/1215 vom 19. 11. 1987 (http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/11/012/ 1101215.pdf [6. 7. 2020]). Kirchengesetz eber die Sicherung und Nutzung von Archivgut der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 9. 11. 1995. In: http://ezab.de/ download/eza_ekd_archivgesetz.pdf [6. 7. 2020]. Manegold, Bartholomäus: Archivrecht. Die Archivierungspflicht öffentlicher Stellen und das Archivzugangsrecht des historischen Forschers im Licht der Forschungsfreiheitsverbürgung des Art. 5 Abs. 3 GG (Schriften zum Öffentlichen Recht 874). Berlin 2002. Ordnung fer die Benutzung des Kirchlichen Archivzentrums vom 9. Oktober 2000 (http://ezab.de/download/EZAArchivbenutzungsordnung.pdf [6. 7. 2020]). Sander, Hartmut: Die Archivgesetzgebung der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Evangelischen Kirche der Union. In: Friedrich Beck / Wolfgang Hempel / Eckart Henning (Hg.): Archivistica docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds. Potsdam 1999, 143–164. –: Die Vorschriften über die Nutzung von Archivgut und ihre Anwendung in der evangelischen Kirche. In: Bundeskonferenz der kirchlichen Archive in Deutschland (Hg.): Offen für die Zeitgeschichte? Die Kirchen und ihre Archive. Vorträge der Gemeinsamen Studientagung der Bundeskonferenz der kirchlichen Archive in Deutschland und der Arbeitsgemeinschaft der Archive und Bibliotheken in der evangelischen Kirche vom 2. bis 4. März 1994 in Waldfischbach-Burgalben. Speyer 1995, 45–62. Strauch, Dieter : Das Archivalieneigentum. Untersuchungen zum öffentlichen und privaten Sachenrecht deutscher Archive. Köln 1998.
II. Bildnachweise Abb. 1: https://archivnordkirche.de/. Abb. 2: https://www.wkgo.de/. Abb. 3: https://www.archiv-elkb.de/findmittel. Abb. 4: https://www.zentralarchiv-speyer.findbuch.net/php/main.php?ar_id=3667. Abb. 5: http://kab.scopearchiv.ch/suchinfo.aspx. Abb. 6: http://kab.scopearchiv.ch/detail.aspx?ID=334804. Abb. 7: https://ezab.de/digitalisate/0050/00100.
Christoph Schmider
Analog wie digital – Archivierung und Benutzung im Spannungsfeld von Forschungsfreiheit und Datenschutz (Kirchliche) Archive und ihr Auftrag Archive bilden das Gedächtnis der Gesellschaft insgesamt wie auch einzelner gesellschaftlicher Institutionen, seien es staatliche, kirchliche, kommunale, wirtschaftliche oder sonstige Gebilde. Dies wird in Sonntagsreden von Kirchenoberhäuptern, Politikern aller Couleur oder Wirtschaftsführern immer wieder gern beschworen, doch es entspricht durchaus auch dem Selbstverständnis der Archive. Archive verwahren zentrale Informationen aus der Arbeit der jeweiligen Institutionen und sichern somit den Erhalt wie auch die Zurverfügungstellung von oftmals einmaligen und einzigartigen Primärquellen. Als Gedächtnis und Informationsspeicher sind die Archive zwar zunächst integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Entität, von der sie unterhalten werden und für die sie zuständig sind, aber sie sind auch – und nicht selten vor allem – Partner der Geschichtsforschung und -schreibung und verfolgen letztlich dasselbe Ziel wie diese: zu dokumentieren und zu beschreiben, wer wann was wie warum gemacht hat. Somit hätte es gar nicht unbedingt des staatlichen oder kirchlichen Gesetzgebers bedurft, der den Archiven diesen Auftrag ins Stammbuch geschrieben hat – als recht aktuelle Beispiele und zugleich pars pro toto mögen die entsprechenden Passagen aus der für die katholische Kirche in Deutschland geltenden kirchlichen Archivordnung– kurz KAO – und dem Archivgesetz der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland gelten: „Die Archive der katholischen Kirche dokumentieren das Wirken der Kirche und erfüllen als Gedächtnis der Kirche sowie der Gesellschaft und als Teil ihrer Kulturgüter eine wichtige pastorale Funktion. Sie dienen der Erforschung der Geschichte der Kirche, ihrer Verwaltung und der Rechtssicherung. Im Interesse der geschichtlichen Wahrheit werden die kirchlichen Archive nach Maßgabe dieser Anordnung für eine Nutzung geöffnet.“1 „Das Archivwesen dient der Dokumentation kirchlicher Tätigkeit in der Vergangenheit und hat damit Teil an der Erfüllung des kirchlichen Auftrags. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) regelt das Archivwesen im Rahmen ihrer Mitverantwortung für das kulturelle Erbe und im 1 KAO, Präambel.
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Bewusstsein der rechtlichen Bedeutung sowie des wissenschaftlichen, geschichtlichen und künstlerischen Wertes kirchlichen Archivguts.“2
Dennoch war das Verhältnis zwischen kirchlichen Archiven und Zeitgeschichtsforschung in der Vergangenheit nicht immer ganz frei von Missverständnissen und Spannungen, war die Zusammenarbeit mitunter alles andere als reibungslos, was letztlich durchaus zu suboptimalen Ergebnissen führen konnte. Da ich, wie viele meiner Fachkolleginnen und -kollegen, von der Geschichtswissenschaft herkomme und somit die „Archivwelt“ auch aus dieser Perspektive kenne, kann und will ich in meinem Beitrag auf einige mögliche Ursachen von Verständigungsproblemen zwischen Archiv und Geschichtsschreibung aufmerksam machen. Damit kann ich hoffentlich mit dazu beitragen, dass wir in Zukunft noch besser zusammenarbeiten, im Dienst „an der Erfüllung des kirchlichen Auftrags“3 wie „im Interesse der geschichtlichen Wahrheit“4. In meinen folgenden Ausführungen werde ich mich zumeist auf das katholische Kirchenrecht beziehen. Dass sich das evangelische und das katholische Archivrecht im Grundsatz sehr ähnlich sind, folgt aus der Natur der Sache, denn in puncto Fachlichkeit sind Archive weltanschaulich und konfessionell neutral. Deshalb will ich nicht allzu viel Rücksicht auf Details nehmen, denn es geht hier um prinzipielle Fragen und nicht um ein paar Jahre hin oder her bei den Schutzfristen oder um exakte Verfahrensbeschreibungen bei der Anbietung und Übernahme von Schriftgut.
Sicherung Die wichtigsten Aufgaben von Archiven sind: Sichern, Erhalten, Verwahren. Den rechtlichen Rahmen für die Sicherung setzt im Bereich der katholischen Kirche in Deutschland – auf der Grundlage des universalen Kirchenrechts5 – die KAO, näherhin ihr § 7, den ich zunächst etwas eingehender vorstellen und kommentieren will. Dieser Paragraph beginnt mit einer unmissverständlichen Festlegung: „Archivgut ist unveräußerlich.“6 Vor dem Hintergrund dessen, dass Archive ursprünglich der Rechtssicherung dienende Herrschaftsinstrumente waren, ist es eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass Archivgut nicht verkauft oder auf andere Weise dem Archiv entfremdet werden darf. Die Zielrichtung dieser Bestimmung dürfte jedoch vor allem darin liegen, jedermann klar zu machen, dass es unmöglich ist, Archivgut legal zu erwerben, 2 3 4 5 6
Kirchengesetz, § 1. Ebd. KAO, Präambel. Vgl. CIC cann. 486–491, 535. KAO, § 7 Abs. 1 Satz 1.
Analog wie digital – Archivierung und Benutzung
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und dass es bei entsprechenden Angeboten auf „schwarzen“ oder „grauen“ Märkten kaum mit rechten Dingen zugehen kann. Zugleich gibt der Satz auch den Nutzern die Gewissheit, dass das, was einmal im Archiv war, dort in aller Regel auch bleibt. Weiter heißt es: „Archivgut ist auf Dauer zu erhalten und in jeder Hinsicht sicher zu verwahren. Die Archive haben geeignete technische und organisatorische Maßnahmen zur Sicherung zu ergreifen.“7 Diese Bestimmung richtet sich zunächst an die Archivträger, die dazu angehalten werden sollen, für funktionale und dem jeweiligen Stand der Technik entsprechende Archivgebäude oder Archivräumlichkeiten zu sorgen. Diese sollen nicht nur eine physische Sicherung gegen Diebstahl, Feuer oder Wasser bieten, sondern zugleich auch ein geeignetes Raumklima und Schutz vor Schädlingsbefall. Die unmittelbar folgende Festlegung bedarf wohl keiner weiteren Rechtfertigung oder Erklärung: „Für Unterlagen, die personenbezogene Daten enthalten oder einem besonderen gesetzlichen Geheimnisschutz unterliegen, gilt dies in besonderem Maße.“8 Ähnlich selbsterklärend ist auch der nächste Passus: „Das Archivgut ist insbesondere vor unbefugtem Zugriff zu schützen und in Räumen zu verwahren, die den fachlichen Anforderungen entsprechen.“9 Nicht ganz so allgemein- und selbstverständlich ist die anschließende Bestimmung: „Archivgut ist in seiner Entstehungsform zu erhalten, sofern dem keine archivfachlichen Belange entgegenstehen.“10 Hierdurch soll zunächst die Integrität des Archivguts – und somit sein vollständiger Informationsgehalt – gewährleistet werden, zum anderen aber wird den Archiven die Möglichkeit geboten, alternative Lagerungs- oder Speicherungsformen zu wählen, wenn diese beispielsweise sicherer oder kostengünstiger sind: Das Archiv darf also Daten, die es als DVD erhalten hat, auf einem besser und vor allem dauerhafter gesicherten Server ablegen, und ebenso darf es Papierakten, die schon beim Anschauen fast zerbröseln, mikroverfilmen, scannen oder auf sonstige Weise kopieren. In scheinbarem Widerspruch zum zentralen Auftrag der Archive steht die folgende Maßgabe: „In besonders begründeten Einzelfällen können die Archive Unterlagen, […] deren Archivwürdigkeit nicht mehr gegeben ist, vernichten, wenn kirchliche Interessen oder schutzwürdige Interessen Betroffener nicht entgegenstehen.“11 Diese Bestimmung, die in der Praxis eher selten angewandt werden dürfte, soll die Archive vor allem vor der Zumutung schützen, alles auf Dauer aufbewahren zu müssen, was einmal in die Magazine hineingelangt ist. Nicht immer war und ist es Archivarinnen und Archivaren 7 8 9 10 11
Ebd., § 7 Abs. 2 Satz 1–2. Ebd., § 7 Abs. 2 Satz 3. Ebd., § 7 Abs. 2 Satz 4. Ebd., § 7 Abs. 5 Satz 1. Ebd., § 7 Abs. 5 Satz 3.
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möglich, schon im Voraus mit Sicherheit wissen zu können, was tatsächlich archivwürdig ist und auf Dauer bleiben wird. Solche „Nachkassationen“ wurden auch früher schon bisweilen praktiziert – üblicherweise mit eher ungutem Gefühl –, aber mit dieser Bestimmung wird das Vorgehen legalisiert.
Nutzung Mindestens genauso wichtig wie das sichere Verwahren ist freilich auch das Zugänglichmachen, denn Archivgut, das nicht genutzt wird, ist letztlich nutzlos. In den jeweiligen Archivgesetzen – als Beispiel mag wiederum die KAO dienen – finden sich entsprechende Öffnungsklauseln: „Im Interesse der geschichtlichen Wahrheit werden die kirchlichen Archive […] für eine Nutzung geöffnet.“12 Die gesetzliche Regulierung des Archivwesens ist in Deutschland eine Erscheinung der jüngsten Geschichte. Das Land BadenWürttemberg 1987, der Bund 1988 und die katholische Kirche ebenfalls 1988 waren die ersten Institutionen, die sich Archivgesetze gaben. Zuvor waren die Archive zwar kein rechtsfreier Raum, aber es bestanden keine detaillierten Regelungen, sondern nur allgemeine oder analog anzuwendende Vorschriften wie im Fall der katholischen Kirche das universale Kirchenrecht. Eine Folge davon war, dass die Nutzung von Archiven nicht selten „nach Gutsherrenart“ erfolgte: Es soll Archivare gegeben haben – Archivarinnen in leitender Stellung existierten seinerzeit bei der katholischen Kirche meines Wissens nicht –, die sich über jeden Nutzer so sehr freuten, dass sie ihm alles offenlegten, was in ihrem Archiv zu finden war. Umgekehrt sollen manche Archivare aber auch den Zugang zum Archiv von der Nase des potenziellen Nutzers abhängig gemacht haben – passte ihnen diese nicht, blieben Lesesaal und Magazine verschlossen. Die Zeiten, in denen der Zugang zu und die Nutzung von Archiven auf Willkürentscheidungen des Archivpersonals beruhten, dürften mit der mittlerweile flächendeckenden Regulierung durch Archivgesetze vorbei sein. Allerdings heißt dies nicht, dass nunmehr unbegrenzte Forschungsfreiheit herrscht, sondern es gibt durchaus Einschränkungen aufgrund von Sachzwängen wie von höherwertigen Schutzbedürfnissen. Auf zwei dieser möglichen Einschränkungen will ich etwas näher eingehen, auch wenn es sich um vermeintliche Trivialitäten handelt. Damit Schriftstücke, Dokumente, Akten, Fotos oder sonstige Unterlagen in Archiven genutzt werden können, müssen sie erst einmal dorthin gelangt sein. Für Mediävisten wie auch für Historiker, die sich mit der Zeit bis etwa zum Zweiten Weltkrieg befassen, ist dies in der Regel kein Thema, auf das sie viele Gedanken verschwenden müssen, denn ihre Quellen werden größtenteils 12 Ebd., Präambel.
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schon längst in Archiven verwahrt und nicht erst, seit Archivgesetze wie die KAO dies verlangen: „Die […] Stellen haben den zuständigen kirchlichen Archiven unaufgefordert alle Unterlagen zur Übernahme anzubieten, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht mehr benötigen. […] Die Anbietung erfolgt grundsätzlich nach Ablauf der geltenden […] Aufbewahrungsfristen.“13
Für Zeitgeschichtsforscher aber kann sich durchaus die Situation ergeben, dass die Unterlagen, die sie benötigen, nicht in Archiven zu finden sind, sondern, da die entsprechenden Fristen noch nicht abgelaufen sind, in Büros oder Registraturen von Behörden oder sonstigen Institutionen verwahrt werden: „Alle Unterlagen sind spätestens 30 Jahre nach ihrer Entstehung beziehungsweise nach Schließung der Akte oder Erledigung des Geschäftsvorfalls dem zuständigen Archiv anzubieten“14. Ebenfalls möglich – und gleichermaßen misslich – ist auch, wenn die gesuchten Unterlagen zwar vorhanden, aber nicht mehr aktuell sind, was gerade bei genuin digitalen Unterlagen der Fall sein kann: „Elektronische Unterlagen, die einer laufenden Aktualisierung unterliegen“, sind zwar „in bestimmten Abständen ebenfalls zur Archivierung anzubieten“15, doch die Wahrscheinlichkeit, dass die im Archiv vorhandenen Daten nicht auf dem neuesten Stand sind, ist nicht gering. Daneben gibt es noch viel banalere Gründe dafür, dass die Geschichtsforschung nicht die Quellen findet, die sie sucht, denn den Archiven angeboten und von ihnen übernommen werden können natürlich nur Unterlagen, die überhaupt erst einmal entstanden sind: Wenn eine Institution keine oder lückenhafte Akten führt, dann sind auch die Archivalien und Archive unvollständig. Eigentlich gilt in der Verwaltung, auch in der kirchlichen, das Prinzip, dass der Stand einer Angelegenheit jederzeit aus den Akten ersichtlich sein muss – in der Praxis aber wird dies leider nicht immer umfassend und zuverlässig umgesetzt. Umgekehrt aber können in Archiven der katholischen Kirche aufgrund der heutigen Rechtslage auch Quellen zu finden sein, die noch bis vor wenigen Jahren möglicherweise nie in Archive gelangt, sondern in der jeweiligen Institution verblieben oder von ihr vernichtet worden wären: „Anzubieten und zu übergeben sind auch Unterlagen mit personenbezogenen Daten, die aufgrund datenschutzrechtlicher oder vergleichbarer Bestimmungen gelöscht werden müssten oder gelöscht werden könnten; Unterlagen mit personenbezogenen Daten, deren Speicherung bereits unzulässig war, sind besonders zu kennzeichnen. […] Anzubieten und zu übergeben sind auch Unterlagen, die im Rahmen einer seelsorglichen Tätigkeit oder Beratung entstanden sind. Anzubie13 Ebd., § 6 Abs. 1. 14 Ebd., § 6 Abs. 2. 15 Ebd., § 6 Abs. 3.
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ten und zu übergeben sind ferner Unterlagen, die als vertraulich oder geheim eingestuft sind.“16
Wenn somit auch solche Unterlagen in Archiven landen können, die aufgrund anderer Bestimmungen gelöscht werden müssten, wenn darunter auch vertrauliche oder geheime Unterlagen sein können und solche, die im Rahmen der Seelsorge oder bei Beratungstätigkeiten entstanden sind, eröffnen sich dann durch die Archivierung als „Löschungssurrogat“17 der Forschung ganz neue Perspektiven? Im Prinzip ja, aber das Löschungssurrogat hat durchaus seine Grenzen, und die Hürden, die der Gesetzgeber für den Zugang zu eigentlich gelöschtem Schriftgut aufgestellt hat, sind verständlicherweise sehr hoch: „Die ordnungsgemäße Archivierung von gemäß § 6 Absatz 5 Satz 1 anzubietenden und zu übergebenden Unterlagen ersetzt die nach der KDO18 oder anderen kirchlichen oder staatlichen Rechtsvorschriften erforderliche Löschung, wenn die Archivierung so erfolgt, dass Persönlichkeitsrechte des Betroffenen oder Dritter nicht beeinträchtigt werden.“19
Teilweise sind die Hindernisse, die der Nutzung von eigentlich zu löschendem Schriftgut entgegenstehen, sogar faktisch unüberwindlich: „Bei Unterlagen mit personenbezogenen Daten, deren Speicherung unzulässig war, ist eine Verkürzung von Schutzfristen unzulässig.“20
Nutzungsbeschränkungen Damit bin ich nun bei einem Thema angelangt, das für die Zeitgeschichtsforschung – und auch für das einvernehmliche Zusammenwirken von Forschung und Archiven – ganz wesentlich ist und obendrein immer wieder ein gewisses Konfliktpotenzial bietet: Die vom Gesetzgeber ganz bewusst gesetzten Einschränkungen, die eine Nutzung von Archivgut behindern können und die dem Archivträger – sowie dem Archiv selbst – teilweise einen erheblichen Ermessensspielraum lassen: „Die Nutzung kann an Auflagen gebunden werden. Ein Anspruch auf eine bestimmte Form der Nutzung besteht nicht.“21 16 Ebd., § 6 Abs. 5, 6. 17 Ebd., § 2. 18 „Anordnung über den kirchlichen Datenschutz (KDO)“. Diese wurde durch das seit dem 25. Mai 2018 geltende „Gesetz über den kirchlichen Datenschutz (KDG)“ abgelöst. Eine entsprechende Novellierung der KAO steht noch aus. 19 KAO, § 2 Abs. 3. 20 Ebd., § 10 Abs. 1. 21 Ebd., § 8 Abs. 2.
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Neben dieser recht allgemein gehaltenen Bestimmung – die man durchaus als „Gummiparagraphen“ bezeichnen könnte – gibt es eine ganze Reihe von kirchengesetzlich vorgeschriebenen Nutzungsbeschränkungen: „Die Nutzung ist ganz oder für Teile des Archivguts zu versagen, wenn 1. schutzwürdige Belange Betroffener oder Dritter, auch unter Berücksichtigung von § 9 Absatz 3 [i. e. Schutzfristen], beeinträchtigt werden könnten, 2. der Erhaltungszustand des Archivguts eine Nutzung nicht zulässt, 3. eine Vorschrift über Geheimhaltung verletzt würde, 4. ein nicht vertretbarer Aufwand entstehen würde oder 5. Grund zu der Annahme besteht, dass das Wohl der Kirche gefährdet würde.“22
Die ersten drei dieser Bestimmungen sind ohne weiteres plausibel – die schutzwürdigen Belange von Personen sind ein hohes Gut, mit Geheimhaltungsvorschriften ist gleichfalls nicht zu spaßen, und dass das Archivgut durch die Nutzung nicht geschädigt werden darf, ist ebenfalls unmittelbar einsichtig. Die vierte Begründung ist vor allem zum Schutz der Archivarinnen und Archivare sowie zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des Archivs gedacht. Dabei aber, mit der Vermutung operieren zu sollen, dass durch ein Nutzungsanliegen „das Wohl der Kirche gefährdet würde“23, beschleicht vermutlich nicht nur mich und nicht erst neuerdings ein ungutes Gefühl, denn mit dieser Begründung lässt sich, wenn man nur will, sehr viel Forschung verhindern und so manches unliebsame Faktum vertuschen. Einen erheblichen Teil der Nutzungseinschränkungen stellen die Schutzfristen dar, die früher – zumindest hinsichtlich ihrer Auswirkungen nicht ganz zu Unrecht – Sperrfristen genannt wurden. Dass es derartige Fristen gibt, ist, nicht zuletzt mit Blick auf die schon wiederholt bemühten schutzwürdigen Belange von Personen, evident, aber in der Gestaltung und Dauer dieser Fristen gibt es zwischen den einzelnen Archivgesetzen durchaus Unterschiede – die katholische Kirche in Deutschland ist vergleichsweise restriktiv : So beträgt die reguläre Schutzfrist 40 Jahre, gerechnet ab dem Schlussdatum der jeweiligen Archivalieneinheit ; personenbezogenes Schriftgut wird erst 30 Jahre nach dem Tod bzw. 120 Jahre nach der Geburt der betroffenen Person frei zugänglich, und bischöfliche Amtsakten und Nachlässe bleiben 60 Jahre unter Verschluss24. Wesentlich für die potenziellen Nutzer wie auch für die Archive selbst ist freilich weniger, wie lang die Schutzfristen im Einzelnen sind, sondern vielmehr, dass es dieses Instrument überhaupt gibt. Und auch wenn es in der Praxis manchmal so aussehen mag: Sinn und Zweck von Schutzfristen ist 22 Ebd., § 8 Abs. 3. 23 Ebd. 24 Vgl. ebd., § 9.
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nicht, die Forscher auszusperren, sondern die Fristen dienen dazu, die schutzwürdigen Belange Betroffener vor der Öffentlichkeit zu schützen. Manche der „katholischen“ Schutzfristen, die in Deutschland durchweg länger sind als die staatlichen, stellen für die Zeitgeschichtsforschung ein ernsthaftes Hindernis dar. So werden etwa „bischöfliche Amtsakten und Nachlässe“25 erst nach 60 Jahren regulär zugänglich, was beispielsweise bedeutet, dass wohl kaum jemand von uns, die wir hier zu dieser Tagung zusammengekommen sind, jemals erfahren wird, was ein deutscher Bischof im Jahr 2010, als der Missbrauchsskandal unversehens virulent wurde, seinen Akten anvertraut hat: Seine Amtsakten werden frühestens Ende 2070 regulär zugänglich, und eventuell vorhandene private Aufzeichnungen gar erst 60 Jahre nach seinem Tod. Schutzfristen lassen sich allerdings auch verkürzen oder aufheben – gemäß KAO „durch den Ortsordinarius“ und zwar „in besonders begründeten Fällen auf Antrag“26. Möglich ist eine solche Schutzfristverkürzung insbesondere dann, wenn „1. bei personenbezogenem Archivgut die Betroffenen schriftlich in die Nutzung eingewilligt haben, oder 2. die Nutzung zu benannten wissenschaftlichen Zwecken oder zur Wahrnehmung rechtlichen Interesses erfolgt und dabei sichergestellt ist, dass schutzwürdige Belange Betroffener nicht beeinträchtigt werden, oder 3. dies im überwiegenden kirchlichen Interesse liegt.“27
Darüber hinaus ist archivisches Schriftgut, das schon einmal zugänglich gemacht worden war, „auf begründeten Antrag unter Berücksichtigung der Voraussetzungen von Absatz 1 auch anderen Wissenschaftlern zugänglich zu machen.“28 Insofern ist es doch nicht völlig ausgeschlossen, dass wir aus einem (erz-)bischöflichen Ordinariat oder Generalvikariat spannende Interna über die Hintergründe im Umgang einzelner Bistümer oder der Deutschen Bischofskonferenz insgesamt mit dem Thema Missbrauch erfahren. Nachdem ich mich bisher fast ausschließlich mit der Darstellung der Chancen, aber auch der Beschwernisse befasst habe, die das Archivrecht für die Zusammenarbeit von Zeitgeschichtsforschung und Archiven bietet, will ich zum Abschluss einige andere Aspekte zumindest anreißen – sie näher auszuführen, würde einen eigenen Vortrag erfordern. Zunächst folgen einige Bemerkungen zum nun schon wiederholt angeklungenen Thema Datenschutz, dann zu den immer weiter steigenden, im archivischen Alltag bisweilen eher hinderlichen Anforderungen der Benutzer, und schließlich zu der 25 26 27 28
Ebd., Abs. 5. Ebd., § 10 Abs. 1. Ebd., § 10 Abs. 1. Ebd., § 10 Abs. 3.
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Frage, wie die Archive den Spagat zwischen den herkömmlichen Aufgaben – die ja durch neuere Entwicklungen nicht einfach zum Verschwinden gebracht werden – und den neuen Pflichten bewältigen können. Was das seit kurzem europaweit geltende Datenschutzrecht für die Archive und deren Nutzung bedeutet, hat – so mein Eindruck – längst noch nicht jede Archivarin, und erst recht nicht jeder Nutzer, in allen Einzelheiten verstanden. Dass wir statt der DSGVO auf katholischer Seite unser eigenes kirchliches Datenschutzgesetz (KDG) haben, das am 24. Mai 2018 in Kraft getreten ist, und auf evangelischer Seite das ebenfalls seit dem 24. Mai 2018 geltende EKDDatenschutzgesetz (DSG-EKD), ändert an der grundsätzlichen Sachlage nichts, denn die Inhalte sind im Wesentlichen gleich. Auch die bereits jetzt nahezu unüberschaubare Menge an Fachveröffentlichungen, die – vor allem, wenn sie von Seiten der Jurisprudenz kommen – nicht unbedingt leicht verständlich sind, macht die Situation nicht einfacher und die Rechtslage nicht begreiflicher. Aber vielleicht ist der Datenschutz für die (kirchlichen) Archive gar kein Problem – oder zumindest kein allzu großes? Für diejenigen Unterlagen nämlich, die bereits Archivgut sind und die wir in unseren Archiven der katholischen Kirche verwahren, scheint der Fall klar : Hier gilt die KAO mitsamt den darin festgeschriebenen Schutzfristen und Nutzungsbedingungen, die bei der praktischen Anwendung, in der wir bestens erprobt sind, die Einhaltung der Datenschutzbestimmungen gewährleistet.
Wünsche und Anforderungen Eine große, und von vielen Archiven zunehmend als Belastung empfundene Herausforderung ist die, so scheint es, stetig weiter gesteigerte Erwartungshaltung der Benutzer. Hohe Ansprüche an die Archive gab es freilich schon immer : Ich erinnere mich daran, dass bei einem Archivtag in den 1990er Jahren ein Historiker von den Archiven forderte, sie sollten alle Unterlagen sichern und zugänglich machen, die irgendwann einmal für die Geschichtsforschung interessant werden könnten – was letztlich auf die Forderung hinauslief, buchstäblich alles aufzubewahren. Aber mit solchen Wünschen können wir Archivare gut umgehen, zumal sie ohnehin nicht von allen Historikern geteilt werden. Schon aus Gründen des Selbstschutzes kann die Geschichtswissenschaft kaum an einer Totalarchivierung interessiert sein, denn gerade die Zeitgeschichtsforschung hat ja, im Gegensatz zur Mediävistik, oftmals das Problem, dass viel mehr Quellen vorhanden sind, als sich mit angemessenem Aufwand auswerten lassen. Problematisch sind eher die Ansprüche hinsichtlich der Recherche und der Benutzung – wobei die Archive selbst nicht ganz unschuldig daran sind, dass die Anforderungen steigen, kommt es doch auch hier oftmals zu einer sich
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selbst verstärkenden Rückkopplung zwischen Angebot und Nachfrage: Je verbreiteter Online-Findbücher werden, desto weniger will die zeitgemäße Benutzerin zur Recherche ein Archiv aufsuchen müssen, sondern sie erwartet, bequem vom heimischen Schreibtisch oder aus dem ICE nach den für ihre Fragestellung interessanten Archivalien forschen zu können. Und wenn der Benutzer schon dabei ist, dann will er die gefundenen Archivalien auch online bestellen können – oder noch besser gleich als Digitalisat einsehen, herunterladen und weiterbearbeiten. Wenn ein Archiv seine gesamten mittelalterlichen Urkunden als hochauflösende Scans im digitalen Lesesaal bereitstellt, wenn ein anderes die Tauf-, Ehe- und Sterbebücher samt umfassenden Registern im Internet präsentiert, dann geraten alle übrigen in Zugzwang und müssen zunehmend häufiger ihren Benutzern erklären, warum in Freiburg oder Görlitz nicht möglich sein soll, was doch in Karlsruhe, Passau, St. Pölten oder Canberra mittlerweile selbstverständlich ist29. Doch damit nicht genug. Warum eigentlich sollte man sich als Archivbenutzerin heutzutage mit einem Digitalisat – das selbstredend hochauflösend ist – zufriedengeben? Wäre es nicht recht und billig, zu erwarten, dass dieses Digitalisat mit funktionierenden Links versehen ist, die direkt zur Transkription bzw. Edition verweisen, zur Gegenüberlieferung in anderen Archiven, zur Sekundärliteratur, zu weiterführenden Quellen nach dem Motto: „Benutzer die dieses Archivale sehen wollten, interessierten sich auch für…“? Und sollte dies nicht alles gefälligst so aufbereitet sein, dass man das Digitalisat – oder zumindest die für die eigenen Forschungen relevanten Teile – gleich herunterladen und in die geplante Publikation einbauen kann? Dass dabei der erforderliche Antrag auf Reproduktionsgenehmigung – inklusive einem Antrag auf Schutzfristverkürzung und Gebührenbefreiung – automatisch generiert wird, ist selbstverständlich, ebenso wie die Möglichkeit, gleich noch ein Beratungsgespräch mit Referats- oder Archivleitung zu vereinbaren. Und weiter : Warum können wir das Ganze nicht automatisch direkt an eine spezialisierte „Künstliche Intelligenz“ weiterleiten, welche die Entwurfsfassung für einen wissenschaftlichen Aufsatz erzeugt, natürlich unter Berücksichtigung der Redaktionsrichtlinien der entsprechenden Fachzeitschrift? Verständige Archivnutzer wissen, dass die Archivarinnen selbstverständlich gern bereit sind, dies alles und noch viel mehr zu tun, getreu dem Motto, das ein früherer Hausmeister des Erzbischöflichen Ordinariats Freiburg in seinem Büro hängen hatte: „Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger ; auf Wunsch kann auch gehext werden“. Dazu brauchen die Archive nur die erforderlichen finanziellen, personellen und technischen Ressourcen; sie bereitzustellen kann aber wohl kaum Angelegenheit der die Archive nut-
29 Schon ein kurzer Blick auf die jeweiligen Homepages vermittelt einen Eindruck von der Vielzahl der Möglichkeiten – andere schildert der Beitrag von Henning Pahl.
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zenden Forschung sein, sondern dafür hat der Archivträger zu sorgen – wozu zahlen wir eigentlich Kirchensteuer? Dass vieles von den eben etwas überspitzt dargestellten Wünschen und Anforderungen heute schon Realität – oder jedenfalls nicht mehr allzu weit davon entfernt – ist, legt Henning Pahl eindrücklich in seinem Beitrag dar. Zu konstatieren ist aber auch, dass in dieser Hinsicht sehr große Unterschiede zwischen den verschiedenen Archiven bestehen und der Digitalisierungsgrad teils schon heute sehr hoch, teils aber auch noch immer kaum von Null verschieden ist. Und festgehalten sei zum Abschluss überdies, dass die Archive nicht nur dazu da sind, die Benutzung durch Erschließung und Bereitstellung des Archivguts zu ermöglichen und zu erleichtern, sondern gleichermaßen durch entsprechende Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen dafür sorgen müssen, dass die Bestände auf Dauer erhalten bleiben. Diesen Spagat müssen nicht nur die Archive aushalten, die nicht alles tun können, was sie sollen oder gern würden, sondern mit dieser Spannung muss sich auch die Forschung arrangieren, die von den Archiven nicht immer alles bekommen kann, was sie gern hätte – oder jedenfalls nicht sofort.
Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Anordnung eber die Sicherung und Nutzung der Archive der katholischen Kirche (Kirchliche Archivordnung – KAO) von 2013/2014 (http://www.ka tholische-archive.de/Portals/0/Medien/PDF/KAO/KAO_2014.pdf [4. 7. 2020]). Kirchengesetz eber das Archivwesen in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Archivgesetz – ArchG) von 2017 (https://www. kirchenrecht-nordkirche.de/document/39895 [4. 7. 2020]).
V. Kirchliche Zeitgeschichte als interdisziplinäres Forschungsfeld
Maike Schult
Praktische Theologie und Kirchliche Zeitgeschichte Beobachtungen zur Arbeit im ,kleinen Grenzgebiet‘*
Ich komme aus dem kleinen Grenzgebiet1. Denn die Hansestadt Lübeck, in der ich geboren und aufgewachsen bin, ist nicht nur: Thomas Mann und Marzipan. Mit einem Drittel ihrer Stadtgrenze lag sie fast ein halbes Jahrhundert an der Landesgrenze zur DDR und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Fluchtpunkt für viele. Dem Gefühl von Randlage und Teilung, von Schmerz und Sehnsucht konnte man hier nie ganz entkommen. Ob beim Spaziergang im Wald, beim Schlittschuhlaufen auf dem Ratzeburger See oder im Sommer am Ostseestrand – immer wieder stieß man im Alltag auf das, was präsent und unzugänglich zugleich war : die andere Seite. Vielleicht habe ich darum eine Vorliebe für Grenzgänge entwickelt und auch meinen akademischen Weg zwischen Ost und West gefunden2. Beide Qualifikationsarbeiten waren interdisziplinär angelegt3, und meine Forschungsthemen liegen fast immer auf der Grenze – zwischen Literatur und Theologie4 oder im Bereich von Querschnittsthemen wie Trauma, Empathie und Erinnerungskultur, die an der Universität und in der Öffentlichkeit verhandelt werden und Theorie und Praxis miteinander verschränken. Dabei habe ich öfter auch Arbeiten der Kirchlichen Zeitgeschichte hinzugezogen5, und wenn wir im Rahmen dieser Tagung danach fragen, wer die Adressaten der Kirchlichen Zeitgeschichte sind, kann ich getrost behaupten: ich zum Beispiel. Es war mir aber nicht bewusst, und es geschah nicht stra* Der Tagungsbeitrag wurde für den Druck erweitert und mit Literaturhinweisen versehen. 1 Das ,Grenzgebiet‘ ist eine Metapher, die auf den „kleinen Grenzverkehr“ im Zonenrandgebiet alludiert und die ich gelegentlich zur biographischen Verortung der eigenen Forschung genutzt habe, vgl. Schult, Grenze; dies., Fachbereich. 2 Nach dem Doppelstudium Evangelische Theologie und Ostslavistik an den Universitäten Hamburg, St. Petersburg, Berlin und Halle/Saale folgten die Promotion zum Dr. phil. (Slavische Philologie, Literatur- und Kulturwissenchaft) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und die Habilitation im Fach Praktische Theologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 3 Vgl. Schult, Banne. Die Habilitationsschrift und die damit verbundenen Aufsätze, Vorträge und Lehrveranstaltungen wollen Trauma als klinischen Diagnosebegriff und kulturelles Deutungsmuster an die Theologie vermitteln, vgl. dies., Hauch. 4 Vgl. Schult, Grenzgebiet. 5 Nur gelegentlich habe ich auch selbst in diese Richtung publiziert, vgl. Schult, Zeit- und Streitfragen; dies., Rezension; dies., Tod. Zeitgeschichtliche Fragen spielten aber auch in den Qualifikationsarbeiten eine Rolle, um die Dostoevskij-Rezeption zu kontextualisieren bzw. die Geschichte der Psychotraumatologie begriffs- und diskursgeschichtlich nachzuzeichnen.
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tegisch, sondern war motiviert durch ein nachforschendes Interesse an zeitgeschichtlichen Zäsuren, das biographisch und familiengeschichtlich begründet ist. Nun bin ich mit meinem Interesse an interdisziplinärer Forschung nicht allein. Im Gegenteil: Interdisziplinarität ist ein gern gesehenes Schlagwort, ein bandwagon-Begriff der Wissenschaftslandschaft, und auch die Praktische Theologie, für die ich hier spreche, sieht sich als eine Disziplin, die grundsätzlich interdisziplinär ausgerichtet ist6. In ihren Selbstentwürfen ist die Offenheit für Perspektiven, Theoreme und Methoden aus anderen Wissenschaftsbereichen ein fester Topos, und diese Öffnung ist gar nicht neu, sondern findet sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als man sich von einer rein historischen Perspektive zu verabschieden beginnt und stattdessen die Lebenswelt in den Blick nehmen will. Praktische Theologen wie Paul Drews, Otto Baumgarten und Friedrich Niebergall suchen mit empirischen Methoden auf die Herausforderungen der Moderne zu reagieren und sich den „,Tatsachen‘“7 zuzuwenden. Die beiden Weltkriege unterbrechen diese Entwicklung und verhindern, dass sich interdisziplinäre Forschungsansätze etablieren und neue Disziplinen wie Religionspsychologie und Religionssoziologie institutionell verankern können8. Als in den 1960er Jahren die sogenannte (zweite) Empirische Wende beginnt9, muss die Praktische Theologie daher auf nicht-theologische, nichtreligionsbezogene Wissenschaften zugehen, um Kontakt zur Lebenswelt herzustellen und neue Methoden zur Erforschung der Religionspraxis aufzunehmen. Den Außenbezug bilden seither vor allem die Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, Soziologie, Psychologie und Psychoanalyse, Hermeneutik, Ästhetik und Semiotik, Medien- und Kommunikationswissenschaft, seltener auch die anderen Professionswissenschaften: Medizin und Jura. Historische Fragen traten demgegenüber zurück. Die Kirchen- und die Profangeschichte waren nicht die Fächer, mit denen man sich vernetzen wollte, denn das Historische war, von der eigenen Disziplingeschichte her gedacht,
6 Das Begriffsfeld ist uneinheitlich. Interdisziplinarität kann die Verknüpfung mit den anderen theologischen Teilfächern meinen, aber auch mit den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, deren Methoden, Theoreme und Diskurse zeitverzögert importiert werden. Ein Export praktisch-theologischer Forschung in nicht-theologische Bereiche oder die Initiierung von fachübergreifenden Diskursen der Theologie in andere Fächer gelingt dagegen nur selten. 7 Grethlein / Meyer-Blanck, Geschichte, 17. Die darin versammelten Beiträge betten die jeweiligen Entwürfe biographisch und zeitgeschichtlich ein. 8 Die „Abteilung Religions- und Kirchensoziologie“ an der Theologischen Fakultät Leipzig war eine Einrichtung der DDR und besteht bis heute. Von 1999 bis 2006 hatte Monika Wohlrab-Sahr diesen in Deutschland einzigartigen Lehrstuhl inne, wechselte dann aber auf die Professur für Kultursoziologie am Institut für Kulturwissenschaften. Die Religionspsychologie hat in Deutschland keinen eigenen Lehrstuhl und auch darum keine leichte Position. Vgl. Marks, Religionspsychologie. 9 Der Begriff geht zurück auf: Wegenast, Wendung.
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das Historisierende, das Unmoderne10, das es seit der Reformbewegung um 1900 zu überwinden galt, um endlich die eigene Zeit und die „gelebte Religion“11 der Gegenwartskultur in den Blick zu nehmen, und trotz gelegentlicher Versuche, den Dialog mit der Kirchengeschichte neu zu beleben12, ist insbesondere die Zeitgeschichte bis heute keine feste Bezugsgröße der Praktischen Theologie13. Nun ist die Themenlage in der Praktischen Theologie so breit gefächert und ihre Literatur so weit gestreut, dass man sich nicht anmaßen wird, pauschal zu urteilen, und es fallen einem auch sofort Gegenbeispiele für das selbst Behauptete ein14. Dennoch: Nimmt man die gängigen praktisch-theologischen Handbücher und Lehrwerke als ersten Indikator, und berücksichtigt man deren Funktion, Studierende der Theologie im Ersten und Zweiten Examen zu orientieren und für die Reflexion von Praxisphänomenen zu sensibilisieren, so muss überraschen, dass sich im Sachregister des neuesten Entwurfs, des Lehrwerks „Praktische Theologie“ von Isolde Karle (2020), zwar ein Eintrag findet für das Zweite Vatikanische Konzil, nicht aber für den Zweiten Weltkrieg, auch nicht für den Ersten Weltkrieg oder irgendeinen anderen Krieg; zwar ein Eintrag zu Vulnerabilität und Verletzlichkeit, aber kein Eintrag zu Trauma, Flucht und Vertreibung; auch kein Eintrag zu Nationalsozialismus, Judenverfolgung, Konzentrationslager, Holocaust oder Shoah15. Auch im Lehrbuch „Praktische 10 Vgl. Grethlein, Theologie, 15: Die Praktische Theologie ist „keine historische Disziplin.“ Als Fach für die Gegenwart sei sie lange gar nicht an der historischen Dimension interessiert gewesen. Erst ab den späten 1980er Jahren begegnen disziplingeschichtliche Studien, die dann aber problemgeschichtlich ausgerichtet seien, vgl. ebd., 16. 11 So der Programmbegriff, der individuellen Wirklichkeitsbezug vor theologischen Prinzipienfragen starkmachen soll. Vgl. Grçzinger / Pfleiderer, „Gelebte Religion“ (2002). 12 Vgl. etwa das Schwerpunktheft „Kirchengeschichte und Praktische Theologie“ der Zeitschrift „Praktische Theologie“ (2018) von Kasparick / Weyel. 13 So beklagt schon Günter Brakelmann: „Zeitgeschichte hat weder in der Universitätstheologie noch im Bewußtsein von Pfarrern, kirchlichen Mitarbeitern und Gemeindegliedern einen selbstverständlichen Platz.“ (Brakelmann, Theologie, 71). Eine Diskussion über den Holocaust in der Kirche habe nicht stattgefunden, viele Gemeinden seien ohne Kontakt zur Geschichte ihrer Kirche. Geschichte passe offenbar nicht ins „Berufsgepäck“. Die Arbeit richte sich aufs „Tagewerk“ mit „,Tagesfliegentheologie‘“ (ebd., 72), evoziere einen „Aktualismus ohne Wurzel“ und verflache zu ziellosem Pragmatismus (ebd., 73). Dabei ließen sich ohne Kenntnis der Kirchlichen Zeitgeschichte die Aufgaben von Verkündigung und Diakonie gar nicht hinreichend bestimmen, „wenn Kirche mit ihrer Geschichte zugleich Kirche in der Zeit sein will“ (ebd., 72). 14 Viele davon stammen aber aus der Religionspädagogik, die zwar als Unterdisziplin der Praktischen Theologie gelten kann, mit Recht aber auch als eigenständiges Fach geführt wird. Hier lässt sich öfter eine Bezugnahme auf die Zeitgeschichte finden. Vgl. Rickerts, Religionspädagogen; Ohlemacher, Religionspädagogik; Schweitzer / Elsenbast / Scheilke, Religionspädagogik. Zur Frage der didaktischen Vermittlung des Holocaust vgl. Wermke, Gegenwart; ders., Jugendliteratur; und Wagensommer, Holocaust. 15 Vgl. Karle, Theologie. Das gilt ebenso für Meyer-Blanck / Weyel, Studien- und Arbeitsbuch.
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Theologie“ von 2017, das die einzelnen Handlungsfelder des Faches abschreitet und dabei nicht nur aktuelle Herausforderungen, sondern auch historische Entwicklungslinien aufzeigt, werden die zeitgeschichtlichen Zäsuren des 20. Jahrhunderts nur punktuell erwähnt16. Die Gründe für solche Leerstellen sind sicher vielfältig und können im Rahmen dieses Beitrags nur vermutet werden. Sie entstehen durch persönliche Vorlieben und Schwerpunktsetzungen, wie sie sich aus dem eigenen Werdegang ergeben und angesichts der ungeheuren Fülle an Material auch geboten sind. Sie entstehen, gerade in Überblicksdarstellungen, weil dort noch immer vor allem auf der Ebene von Konzepten argumentiert wird17, so dass personale Verflechtungen und Motive, Abhängigkeiten und Loyalitäten, politische Einstellung und Mentalität weniger sichtbar werden. Und sie entstehen nicht zuletzt wohl auch aus einer apologetischen Haltung heraus, weil man gerade in der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis gegen die Entkirchlichung und den Bedeutungsverlust der eigenen Zunft anschreiben muss und zur Interpretation der kirchlichen Gegenwart auch die Deutungshoheit über ihre Vergangenheit18 gern so in der Hand behalten will, dass das Lebensfördernde des christlichen Glaubens betont wird, nicht seine Verstrickung in Schuld und Gewalt19. Was auch immer die Gründe sein mögen, warum die markanten Zäsuren des 20. Jahrhunderts, Erster und Zweiter Weltkrieg, Nationalsozialismus und Genozid, doppelte Staatsgründung, Nachkriegszeit, Kalter Krieg und die Wende 1989/90 keine festen Gliederungsmarker in praktisch-theologischen Werken darstellen – und dies zu erheben, wäre wohl selbst eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung wert –; entscheidend ist, dass solche Leerstellen nicht nur Ursachen haben, sondern auch Konsequenzen. Denn sie verhindern bzw. verzögern die Einspeisung neuer Forschungsthemen, die nicht nur für die Praktische Theologie als akademische Disziplin wichtig sind, sondern auch für die Berufspraxis von Pfarramt und Lehramt, deren Vertreter 16 Vgl. Fechtner / Hermelink / Kumlehn / Wagner-Rau, Theologie. So werden etwa im Beitrag zur Diakonie „Euthanasie und Zwangssterilisation“ zwar genannt, aber nicht thematisiert, vgl. Braune-Krickau, Diakonik, 231. 17 Vgl. Ohlemacher, Einleitung, 7. Auch Schweitzer / Elsenbast / Scheilke, Religionspädagogik schlagen für die Darstellung der Religionspädagogik vor, von den Konzeptionen wegzukommen und die Entwicklung des Fachs „im Horizont geschichtlicher Epochen“ aufzuzeigen (ebd., 10). 18 Vgl. Greschat, Zeitgeschichte, 8. 19 Vgl. ebd., 85: Die Maßstäbe der historischen Kritik würden oft nur in dem Maße genutzt, wie sie die Überzeugungen der eigenen Glaubensgemeinschaft stützen. In der kirchlichen Praxis und an Evangelischen Akademien sieht das aber z. T. anders aus. Man denke an Wanderausstellungen wie „Neue Anfänge nach 1945?“ zur Geschichte der Landeskirchen Nordelbiens mit ihrer NS-Vergangenheit (2016–2019). Oder an Forschungsverbünde wie den „Arbeitskreis für historische Religionspädagogik“. Vgl. zudem die kritischen Arbeiten von Kellenbach / Krondorfer / Reck, Gott; Krondorfer / Kellenbach / Reck, Blick; und Krondorfer, Theologenautobiographien.
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und Vertreterinnen der Logik der Professionsberufe gemäß die Praktische Theologie ja mitprägen und deren Arbeit sie beeinflussen soll. Hierfür fehlen aber noch immer praktisch-theologische Untersuchungen zu den Langzeitfolgen des Krieges und den Nachwirkungen sexualisierter Gewalt, zur Verbindung von Erinnern und Vergessen im Umgang mit Demenzerkrankten, zu Antijudaismen in christlichen Predigten der Gegenwart und zur Bedeutung von Erbschaft und „Habseligkeit“ im Rahmen privater Religiosität und materieller Kultur20, und es ist mir in der Tat nicht recht einsichtig, warum solche Perspektiven nicht stärker Raum gewinnen mit Blick auf den Pfarrberuf als einem Beruf, der wie sonst keiner mehr in der Gesellschaft noch generationenübergreifend mit Familiengeschichten in Kontakt kommt (Kasualien), mit den „Kriegskindern“ wie mit den „Kriegsenkeln“, der Zugang hat zu den privaten Haushalten und Menschen begleitet, wenn sie am Ende ihres Lebens Bilanz ziehen und dann vielleicht auch eigene Schuld und Versagen zur Sprache bringen (Sterbeseelsorge). Hier wären durch Anbindung an die historischen Realitäten und durch Kenntnis individualpsychologischer wie transgenerationaler Dynamiken wohl für alle Handlungsbereiche der Praktischen Theologie Gewinne zu erwarten: für die Homiletik, Liturgik, Pastoraltheologie und (Alten-) Seelsorge. Wie Seelsorge in den Konzentrationslagern stattgefunden hat, das liest man aber nicht in den einschlägigen Lehrbüchern der Poimenik. Man liest es bei der Kirchenhistorikerin Rebecca Scherf21. Wie Pfarrer sich als Soldaten an der Ostfront verhielten, das findet man nicht in einer der gängigen Pastoraltheologien. Man findet es bei der Historikerin Dagmar Pöpping22. Und es ist für mich darum eine offene Frage, wie die Praktische Theologie die von ihr selbst postulierte „Zeitgenossenschaft“23 ausüben will, ohne die großen Katastrophen des „age of extremes“24 konsequent in ihre Arbeit einzubeziehen25. Insbesondere die nach 1933 veränderten kirchlichen und politischen Verhältnisse26 und die Unabgeschlossenheit dieser Vergangenheit scheinen mir zu 20 Wie schwer es ist, neue Zugriffe einzuspeisen, zeigt sich am Beispiel von Inken Mädler. Sie hat sich als eine der ersten in der Praktischen Theologie mit materieller Kultur befasst, fand aber zunächst keine Resonanz für ihren innovativen Zugang, vgl. M-dler, Transfigurationen; dies., Herz; dazu: Wagner-Rau, Relecture. Auch die Journalistin Sabine Bode hat mehrfach angefragt, warum die Kirchen sich kaum für die von ihr in Gang gebrachte Kriegskinderthematik geöffnet haben, und als ich das Traumathema an der Kieler Theologischen Fakultät für die Habilitation vorschlug, war die erste Reaktion: „Trauma ist kein Thema der Praktischen Theologie.“ 21 Vgl. Scherf, Kirche. Vgl. jedoch Jochheim, Seelsorge(lehre); ders., Einzelne. Seine Bibliographie bestätigt aber, wie spärlich die Beiträge in diesem Segment sind, vgl. ders., Bibliographie. 22 Vgl. Pçpping, Kriegspfarrer; dies., Passion. 23 Fechtner / Hermelink / Kumlehn / Wagner-Rau, Theologie, 15. 24 Graf, Zeitgeschichte, Sp. 1819. Der Begriff geht zurück auf Eric Hobsbawm. 25 Das heißt nicht, dass es solche Forschung gar nicht gibt. Man denke an: Drehsen, Traumata. 26 Vgl. Hertzsch, Theologie. Obwohl die Gefahr einer ideologischen Anfälligkeit für den Na-
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wenig im Bewusstsein verankert, obwohl davon auszugehen ist, dass diese Zeit noch nachwirkt und „eine unmittelbare lebensgeschichtliche Aktualität für die heute Lebenden hat“27. Eben dafür braucht die Praktische Theologie das Gespräch mit der Kirchlichen Zeitgeschichte, und es gäbe dafür auch gute Voraussetzungen, weil beide Fächer sich als interdisziplinär und auf Praxisphänomene bezogen verstehen28, und tatsächlich hat es Ansätze für solche Kooperationen ja auch bereits gegeben. Der Gewinn einer solchen Horizontöffnung wäre eine differenziertere Sicht auf die Phänomene, ein Gespür für Zusammenhänge, Zurückhaltung dem Prinzipiellen gegenüber29 sowie die Bereitschaft, die eigene Arbeit kritisch auszubalancieren zwischen Zeitgemäßheit und Aktualismus. Die Einbindung in die vielfältigen Realitäten, wie sie der Kirchlichen Zeitgeschichte eigen ist30, bedeutet aber auch, widerständige Fakten einzubeziehen, andersartige Realitäten nicht auszublenden31 und sich mithin dem zuzuwenden, was der Psychotherapeut Ralf Hillebrandt die „Pathologie der Realität“32 genannt hat. Für die Praktische Theologie hieße dies, stärker die Diskrepanz wahrzunehmen zwischen dem konstatierten guten Leben durch Glauben einerseits und der schwierigen Realität, in die jede Glaubenspraxis hineingestellt ist, andererseits, sowie die Bereitschaft aufzubringen, liebgewordene Mythen an eben dieser Realität zu überprüfen33. Die Kirchliche Zeitgeschichte übernimmt dabei, mit dem Kirchenhistoriker Martin Greschat gesagt, drei wichtige Funktionen: Sie begrenzt „die Breitenwirkung und Aussagekraft von Theologien“ durch eine ideologiekritische Haltung34. Sie bereichert sie aber auch durch neues Material35, und sie erschwert die Arbeit der Theologie:
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tionalsozialismus bei der Praktischen Theologie gelegentlich als besonders hoch eingestuft wird, wurde das Verhältnis wenig bearbeitet. Neben dem Sammelband von Raschzok, Volk, vgl. auch Klaus, Theologie; und Klieme, Diakonie. Und damit also: zeitgeschichtlich relevant ist. Hauschild, Zeitgeschichte, 556. Vgl. Wolf-Dieter Hauschild: Die Zeitgeschichte sei eine „Kooperationswissenschaft“ und „von vornherein auf Praxisbezug und Interdisziplinarität hin angelegt.“ (Hauschild, Zeitgeschichte, 560 und 555). Vgl. auch Nowak, Zeitgeschichte. Die Kooperation mit der Zeitgeschichte mache „zurückhaltend gegenüber eigener Konzeptionssicherheit“ (Lindner, Rezension, Sp. 176). Vgl. Greschat, Zeitgeschichte, 92. Vgl. ebd., 94. Eben darin liege ihre „korrigierende Kraft“, damit man nicht die Anschauungen der eigenen Kreise für das Ganze, Wahre und Wirkliche hält. Hillebrandt, Trauma, 108. Vgl. Greschat, Zeitgeschichte, 8 (mit Wilfried Loth): Der Historiker zerstöre Mythen. Und die Kirchliche Zeitgeschichte „relativiert und zerstört bisweilen sogar die bisherige Sicht auf das eigene Erleben, indem sie die Erinnerung an dieses Erleben durch die Kenntnis vieler anderer Quellen sowie durch die weiter gespannte Perspektive überwölbt.“ Ebd., 98: „Die Kirchliche Zeitgeschichte zerstört alle Identifizierungen historischer Fakten, Prozesse und Ereignisse mit dem Willen Gottes.“ Damit übe sie eine eminent kritische Funktion allen Kirchentümern und ihren Theologien gegenüber aus. Etwa durch Zeugnisse aus Grenzsituationen wie dem Krieg als Beispiele gelebter Frömmigkeit.
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„Denn sie konfrontiert mit unvorstellbaren Verbrechen, mit Gräueln und Grausamkeiten, die den Atem stocken und das Blut in den Adern gefrieren lassen. Angesichts dieser Realitäten des 20. Jahrhunderts verstummen alle religiösen und kirchlichen Schlagworte, ebenso die theologischen Harmlosigkeiten. Hier tun sich Abgründe auf, die zur Verzweiflung drängen. Diese Seite der Kirchlichen Zeitgeschichte lässt die schnellen Antworten, die großen Worte und das billige Reden von Gottes Güte, Fürsorge und Liebe zerschellen.“36
Aus dieser Konfrontation erwächst aber auch der „Tiefgang“37, an dem die Praktische Theologie in besonderer Weise interessiert sein muss und wofür ihr die Kirchliche Zeitgeschichte den Bezugsrahmen geben könnte. Wie sie dabei ihre eigenen Forschungsperspektiven so einbringen kann, dass auch die Zeitgeschichte von der gemeinsamen Arbeit im ,kleinen Grenzgebiet‘ profitiert, das wäre zu zeigen. Es könnte zum Beispiel damit beginnen, die Beteiligung der eigenen Person und den Einfluss der eigenen Biografie auf die wissenschaftliche Arbeit stärker transparent zu machen38.
I. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Brakelmann, Günter : Praktische Theologie und Zeitgeschichte. In: PTh 70 (1981), 71–73. Braune-Krickau, Tobias: Diakonik. In: Fechtner / Hermelink / Kumlehn / Wagner-Rau, Theologie, 222–242. Drehsen, Volker : Traumata und Transformationen. „Krisenerfahrung“ in der Praktischen Theologie des Protestantismus im 20. Jahrhundert. In: Wilhelm Gräb / Birgit Weyel (Hg.): Praktische Theologie und protestantische Kultur (PThK 9). Gütersloh 2002, 218–248. Fechtner, Kristian / Hermelink, Jan / Kumlehn, Martina / Wagner-Rau, Ulrike: Praktische Theologie. Ein Lehrbuch (Theologische Wissenschaft 15). Stuttgart 2017. Graf, Friedrich Wilhelm: Zeitgeschichte, Kirchliche. In: RGG4, Bd. 8, Sp. 1819–1821. Doch müssen auch kritische Bereiche in den Blick kommen wie das Thema „Zwangsarbeiter in kirchlichen Einrichtungen“ (Greschat, Zeitgeschichte, 102). 36 Ebd., 99. 37 Ebd. Nur so gewinnen Theologien sachlichen Tiefgang, Tragfähigkeit und Überzeugungskraft. 38 Vgl. Schweitzer / Elsenbast / Scheilke, Religionspädagogik: Es gehe darum, die Balance zu finden „zwischen rekonstruktiver Distanzahme und persönlicher Nähe“ (Ebd., 12). Vgl. auch Heinonen, Didaktik, 190: Es ist zu prüfen, wann die eigenen Erfahrungen eine hermeneutische Funktion ausüben und unter welchen Voraussetzungen sie dies tun. Denn eigene Erfahrungen können Interpretation erschweren, sie können aber auch eine gefühlsmäßige Bindung zur beforschten Zeit herstellen und den Zugang zum Zeitgeschehen erhellen. Hierzu hätte die Praktische Theologie m. E. durch ihre Erfahrung im Bereich von Biographieforschung und Pastoralpsychologie inhaltlich wie methodisch viel beizutragen.
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Greschat, Martin: Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung (ThLZ.F 16). Leipzig 2005. Grethlein, Christian: Praktische Theologie (De Gruyter Studium). Berlin / Boston 2012. – / Meyer-Blanck, Michael (Hg.): Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker (APrTh 12). Leipzig 1999. Grçzinger, Albrecht / Pfleiderer, Georg (Hg.): „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie (Christentum und Kultur 1). Zürich 2002. Hauschild, Wolf-Dietrich: Zeitgeschichte, Kirchliche. In: TRE, Bd. XXXVI (2004), 554–561. Heinonen, Reijo E.: Zur Didaktik der kirchlichen Zeitgeschichte. In: Ohlemacher, Religionspädagogik, 189–206. Hertzsch, Klaus-Peter : Praktische Theologie nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. In: Raschzok, Volk, 279–297. Hillebrandt, Ralf: Das Trauma in der Psychoanalyse. Eine psychologische und politische Kritik an der psychoanalytischen Traumatheorie (Forschung psychosozial). Gießen 2004. Jochheim, Martin: Bibliographie zur evangelischen Seelsorgelehre und Pastoralpsychologie. Sonderband der Zeitschrift Pastoraltheologische Information. Bochum 1997. –: Der Einzelne und das Volksganze. Seelsorge im Dritten Reich. In: Raschzok, Volk, 203–224. –: Seelsorge(lehre) im Nationalsozialismus. Annäherungen an ein schwieriges Thema. In: WzM 49 (1996), 132–146. Karle, Isolde: Praktische Theologie (LETh 7). Leipzig 2020. Kasparick, Hanna / Weyel, Birgit (Hg.): Schwerpunktheft „Kirchengeschichte und Praktische Theologie“ der Zeitschrift PrTh 53/3 (2018). Kellenbach, Katharina von / Krondorfer, Björn / Reck, Norbert (Hg.): Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoa[h] (Wissenschaftliche Buchgesellschaft). Darmstadt 2001 [neu aufgelegt 2015]. Klaus, Bernhard: Praktische Theologie im Dritten Reich. Anmerkungen eines Zeitzeugen zum Auftakt eines Forschungsvorhabens. In: ZBKG 70 (2001), 192–199. Klieme, Joachim: Diakonie im „Dritten Reich“. Auseinandersetzung mit einer unabgeschlossenen Vergangenheit. In: Michael Schibilsky (Hg.): Kursbuch Diakonie. (Ulrich Bach zum 60. Geburtstag). Neukirchen-Vluyn 1991, 65–78. Krondorfer, Björn: Protestantische Theologenautobiographien und Vergangenheitsbewältigung: Helmut Thielicke als Beispiel für einen nachkriegsdeutschen Leidensdiskurs. In: Lucia Scherzberg (Hg.): Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus. Paderborn 2008, 203–222.
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– / Kellenbach, Katharina von / Reck, Norbert (Hg.): Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945. Gütersloh 2006. Lindner, Gerhard: Rezension zu: Jörg Ohlemacher (Hg.): Religionspädagogik im Kontext kirchlicher Zeitgeschichte. Göttingen 1993. In: ThLZ 119/2 (1994), Sp. 175 f. M-dler, Inken: Woran das Herz hängt. Persönliche Gegenstände als Symbole des Selbst. In: Astrid Dinter / Hans-Günter Heimbrock / Kerstin Söderblom (Hg.): Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen. Göttingen 2007, 158–169. –: Transfigurationen. Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive (PThK 17). Gütersloh 2006. Marks, Matthias: Religionspsychologie (Kompendium Praktische Theologie 1). Stuttgart 2018. Meyer-Blanck, Michael / Weyel, Birgit: Studien- und Arbeitsbuch Praktische Theologie. Göttingen 2008. Nowak, Kurt: Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984–2001. Herausgegeben von Jochen-Christoph Kaiser (Konfession und Gesellschaft 25). Stuttgart 2002. Ohlemacher, Jörg (Hg.): Religionspädagogik im Kontext kirchlicher Zeitgeschichte (Arbeiten zur Religionspädagogik 9). Göttingen 1993. –: Einleitung. In: Ebd., 7–12. Pçpping, Dagmar : Kriegspfarrer an der Ostfront. Evangelische und katholische Wehrmachtseelsorge im Vernichtungskrieg 1941–1945. Göttingen / Bristol 2017. –: Passion und Vernichtung. Kriegspfarrer an der Ostfront 1941–1945 (AKIZ B 66). Göttingen 2019. Raschzok, Klaus (Hg.): Zwischen Volk und Bekenntnis. Praktische Theologie im Dritten Reich. Leipzig 2000. Rickerts, Folkert: Religionspädagogen zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Ein historisches Kapitel zum gesellschaftlichen Bewußtsein und zur Wahrnehmung politischer Verantwortung in der Religionspädagogik. In: JRP 3 (1986), 36–68. Scherf, Rebecca: Evangelische Kirche und Konzentrationslager (1933–1945) (AKIZ B 71). Göttingen 2019. Schult, Maike: Im Banne des Poeten. Die theologische Dostoevskij-Rezeption und ihr Literaturverständnis (FSÖTh 126). Göttingen / Oakville 2012. –: Neu am Fachbereich: Prof. Dr. Maike Schult. In: Freundeskreis Marburger Theologie. Mitglieder-Rundbrief 2018/19, Nr. 20, 10 f. –: Auf der Grenze. Gut angekommen! Kurz vorgestellt: Neue Professorinnen und Professoren an der Philipps-Universität. Aufgezeichnet von Ellen Thun. In: Marburger UniJournal (Winter 2019/20), 20. –: Im Grenzgebiet: Theologische Erkundung der Literatur. In: Dies. / Philipp David (Hg.): Wortwelten. Theologische Erkundung der Literatur (Kieler Theologische Reihe 11). Berlin 2011, 1–30. –: „Ein Hauch von Ordnung“. Traumaarbeit als Aufgabe der Seelsorge (APrTh 64). Leipzig [im Erscheinen].
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–: Rezension zu: Hansjörg Buss: „Entjudete Kirche“. Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus (1918–1950). Paderborn 2011. In: ZKG 124/1 (2014), 141–143. –: Tod und Leben mit Dostoevskij: Der Fall Schümer. Ein Beitrag zur theologischen Dostoevskij-Rezeption während des Nationalsozialismus. In: Gudrun Goes (Hg.): Die Geschichte eines Verbrechens. Über den Mord in der Romanwelt Dostojewskijs. Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft 16 (2009), 118–128. –: Anpassungsbereit und stets zu Diensten. Zeit- und Streitfragen zu Johannes Leipoldt (1880–1965). In: Felix John / Swantje Rinker (Hg.): Exegese in ihrer Zeit. Ausleger neutestamentlicher Texte. Porträts, zusammengestellt anlässlich des 350jährigen Bestehens der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (ABG 52). Leipzig 2015, 121–140. Schweitzer, Friedrich / Elsenbast, Volker / Scheilke, Christoph Th. (Hg.): Religionspädagogik und Zeitgeschichte im Spiegel der Rezeption von Karl Ernst Nipkow. Gütersloh 2008. Wagensommer, Georg: How to teach the Holocaust. Didaktische Leitlinien und empirische Forschung zur Religionspädagogik nach Auschwitz (Studien zur Ev. und Kath. Theologie / Religionspädagogik 12). Frankfurt a. M. 2009. Wagner-Rau, Ulrike: Eine Relecture zu Inken Mädlers Buch „Transfigurationen“. In: PTh 108/3 (2019), 99–106. Wegenast, Klaus: Die empirische Wendung in der Religionspädagogik. In: Der Evangelische Erzieher 20 (1968), 111–124. Wermke, Michael (Hg.): Die Gegenwart des Holocaust – „Erinnerung“ als religionspädagogische Herausforderung (Grundlegungen: Veröffentlichungen des Religionspädagogischen Instituts Loccum 1). Münster 1997. –: Jugendliteratur über den Holocaust. Eine religionspädagogische, gedächtnissoziologische und literaturtheoretische Untersuchung (Arbeiten zur Religionspädagogik 17). Göttingen 1999.
Marc Breuer
Soziologie und Kirchliche Zeitgeschichte Wechselwirkungen auf zwei Ebenen
In welchem Verhältnis stehen Kirchliche Zeitgeschichte und Soziologie? Hinsichtlich der Gegenstände gibt es eine breite Schnittmenge. Als Soziologe interessiert mich die Kirchliche Zeitgeschichte zunächst als Objektbereich, der sich mithilfe soziologischer Theorien und Begriffe analysieren lässt. Dabei begegnen mir die Arbeiten von Historikerinnen und Historikern, die ihrerseits gelegentlich auf soziologische Theorien und Begriffe zurückgreifen. Es wäre aber zu einfach, nur auf diese gegenwärtigen Verknüpfungsmöglichkeiten zu schauen. Soziologie und Kirchliche Zeitgeschichte blicken bereits auf mehr als ein Jahrhundert gemeinsamer Geschichte zurück, in dem sich die Wechselverhältnisse vielfach änderten, woraus sich wiederum heterogene Einflüsse auf die Gegenwart ergeben. Diese Relationen lassen sich, um etwas Systematik zu schaffen, zwei Ebenen zuordnen: Wir treffen im gemeinsamen Gegenstandsbereich seit dem frühen 20. Jahrhundert auf Relationen zwischen der Soziologie (als akademischer Disziplin) und den intellektuellen Diskursen im Katholizismus und Protestantismus. Daneben interagieren gegenwärtig akademische Disziplinen, hier die Soziologie, d. h. vorrangig die Subdisziplin der Religionssoziologie, aber z. B. auch soziologische Theorien, Soziologie der Sozialpolitik oder Organisationssoziologie, und dort die Kirchliche Zeitgeschichte, weil sich ihre Gegenstände teilweise überschneiden und sie sich hinsichtlich der Quellen, Begriffe, Methoden und Theorien ergänzen. Völlig trennscharf ist diese Ebenenunterscheidung nicht, denn auch die interdisziplinären Relationen lassen sich über einige Jahrzehnte zurückverfolgen und sind damit selbst wiederum Teil des gemeinsamen Objektbereichs. Zudem stellt sich die Frage, was aus den früheren Vermittlungsversuchen für das gegenwärtige interdisziplinäre Gespräch zu lernen ist. Im Folgenden werde ich mich zunächst der Ebene der Interdisziplinarität widmen (Abschnitt 1), dann jener der Wechselwirkungen im Gegenstandsbereich (Abschnitt 2), um abschließend einige Folgerungen zu formulieren (Abschnitt 3). Als Soziologe spreche ich aus der Perspektive meiner eigenen Disziplin. Hinsichtlich der Kirchlichen Zeitgeschichte konzentriere ich mich vorrangig auf den Katholizismus, der mir als Forschungsfeld vertrauter ist, nicht ohne jedoch gelegentlich Hinweise zum Protestantismus zu geben und zudem auf den Bedarf konfessionsüberschreitender Perspektiven aufmerksam zu machen.
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1. Interdisziplinäre Forschung Wenn auch in beiden Disziplinen Erkenntnisse der jeweils anderen rezipiert werden, sind die Relationen von Soziologie und Kirchlicher Zeitgeschichte doch weitgehend unbestimmt. Man kann sie in das breitere Wechselverhältnis von Zeitgeschichte und Soziologie bzw. Sozialwissenschaften einordnen, welches aus der Perspektive der Zeitgeschichte wiederholt thematisiert wurde1: In der Zeitgeschichte nähere sich der eigene Gegenstandsbereich jenem der gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften. Umso stärker griffen zeitgeschichtliche Forschungen auf sozialwissenschaftliche Theorien, Begriffe und Methoden zurück. Dabei sind neben der Soziologie z. B. auch Ökonomie, Politikwissenschaften und Sozialpsychologie im Blick. Die konkreten Formen der Zusammenarbeit sind jedoch umstritten. Gelegentlich distanzieren sich Zeithistoriker gegenüber dem Anspruch sozialwissenschaftlicher Theorien auf universale Gültigkeit oder beklagen ein zu hohes Abstraktionsniveau soziologischer Ansätze, wodurch eine angemessene Berücksichtigung individueller Akteure und historischer Aggregate verhindert werde. Aus zeithistorischer Perspektive seien sozialwissenschaftliche Theorien immer auch als Selbstbeschreibungen jener Historie zu verstehen, auf welche sich die eigene Untersuchung richtet. In der (deutschsprachigen) Soziologie hingegen wird kaum explizit über die Disziplin der Zeitgeschichte gesprochen, sondern eher über das Wechselverhältnis zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaften überhaupt2, wobei Anschlüsse an die Geschichtswissenschaft in der Soziologie insgesamt selten sind. Die „Historische Soziologie“ ist zwar in der Tradition des Faches fest verankert, etwa bei Max Weber oder Werner Sombart, ohne dass man aber von einer etablierten Teildisziplin sprechen könnte. Bezeichnend ist, dass eine mehrteilige Reflexion über das Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft im Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) vor einigen Jahren nicht aus der Soziologie heraus formuliert war, sondern von einem Zeithistoriker beigesteuert wurde3. Während die breiteren Relationen zwischen Zeitgeschichte und Sozialwissenschaften also unübersichtlich und kontrovers erscheinen, findet sich im engeren Schnittbereich von Kirchlicher Zeitgeschichte und Religionssoziologie eine seit Jahrzehnten eingespielte Zusammenarbeit, auf deren Geschichte dann auch im nächsten Abschnitt noch näher einzugehen ist. Aus soziologischer Sicht interessieren am Protestantismus und Katholizismus insbesondere die Zusammenhänge zwischen religiösen Traditionen und ihren gesellschaftlichen Umwelten. In einer differenzierungstheoretischen Perspektive, wie sie prominent in Max Webers „Zwischenbetrachtung“ oder in 1 Vgl. z. B. Graf / Priemel, Zeitgeschichte; Pleinen / Raphael, Zeithistoriker. 2 Vgl. Schetzeichel, Soziologie. 3 Vgl. Etzenmeller, Historiker.
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Niklas Luhmanns Arbeiten zu „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ zu finden ist, tritt Religion infolge von Modernisierungsprozessen in zunehmende Spannungsverhältnisse zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen. In Abgrenzung zu manchen älteren Deutungen, welche unter Säkularisierung die Auflösung religiöser Traditionen verstanden hatten, widmen sich religionssoziologische Forschungen zu Katholizismus und Protestantismus deren Dynamisierung. Dabei geht der Blick notwendig über die kirchlichen Organisationen hinaus auf alle gesellschaftlichen Phänomene, die mit der entsprechenden religiösen Identität verknüpft erscheinen. Der in der Zeitgeschichtsforschung etablierte Begriff des Katholizismus, auf den ich mich vorrangig beziehe, ist für soziologische Forschung in hohem Maße anschlussfähig4. Demnach lässt sich als Katholizismus ein plurales Gesamtphänomen verstehen, welches, weit über die kirchlichen Organisationen hinausreichend, vielfältige Lebenswelten, Organisationen, Bewegungen und Formen von Religiosität einschließt, die über eine gemeinsame konfessionelle Identität verbunden werden. Eine wegweisende Rolle für die soziologische Katholizismusforschung hatte der 1980 von Karl Gabriel und Franz-Xaver Kaufmann edierte Sammelband „Zur Soziologie des Katholizismus“5. Die Herausgeber greifen die Anregung des Bielefelder Soziologen Joachim Matthes zu einer „Soziologie des Christentums“ auf, welche auf eine Analyse der „historisch-bestimmte[n]“6 Formen von Religion zielt, diese jedoch einbettet in den größeren Zusammenhang einer soziologischen Kultur- und Gesellschaftsanalyse, um sich weder auf eine bloße Kirchensoziologie zu beschränken, noch auf eine gesellschaftstheoretische Fundierung zu verzichten. Daran anschließend widmeten sich vielfältige Untersuchungen mit einer vorrangig makrosoziologischen Perspektive den Dynamiken der katholischen Teiltradition des Christentums. Für den Dialog von Soziologie und Kirchlicher Zeitgeschichte ist der Akzent auf die historisch geprägten Sozialformen des Christentums und damit zugleich auf die Gegenstände der zuletzt genannten Disziplin zentral. Begriffe und Theorien sozialer Differenzierung und Individualisierung, des sozialen Wandels, der Organisation, Ungleichheit oder Partizipation, um nur einige zentrale Beispiele zu nennen, wurden und werden intensiv genutzt. Ohne die Vielfalt der Themen und gewonnenen Erkenntnisse hier nachzeichnen zu können7, lassen sich doch zumindest exemplarische Zusammenhänge benennen. Eine höchst produktive Verknüpfung beider Disziplinen wurde insbesondere durch den Begriff religiöser Milieus ermöglicht. Aus soziologischer Perspektive geht es um die Frage, wie sich konfessionelle Traditionen unter den Bedingungen fortschreitender Differenzierungs- und 4 5 6 7
Vgl. Liedhegener / Kçsters / Brechenmacher, Katholizismus. Gabriel / Kaufmann, Soziologie. Matthes, Religion, 116. Ausführliche Literaturhinweise bei Breuer, Wandel.
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Individualisierungsprozesse verändern. Mit der Anwendung des klassischsoziologischen Milieu-Begriffs auf die Zeit des deutschen Kaiserreichs und die Weimarer Republik gab der Heidelberger Soziologe M. Rainer Lepsius den Anstoß zu vielfältigen Forschungen8. Für die Debatten, inwiefern man trotz offenkundiger Vitalität von Religion sinnvoll über Säkularisierung sprechen kann, ermöglicht die Milieu-Perspektive reichhaltige Argumente. Im Katholizismus waren es gerade Säkularisierungsprozesse, die zur Bildung dichter Milieus führten, welche wiederum von Cleavages hervorgerufen waren. Letztere fehlten im deutschen Protestantismus, weshalb dichte Milieubildungen dort ausblieben. In der Kirchlichen Zeitgeschichte fanden die soziologischen Arbeiten nicht zuletzt insofern Interesse, als sie den Blick über kirchliche Organisationen hinaus auf vielfältige religiöse Sozialformen weiteten. Untersuchungsgegenstand zahlreicher historischer Studien wurde, inwiefern religiöse Traditionen sich im 19. und 20. Jahrhundert in der Lebenswirklichkeit ausprägten, wo solche Einflüsse zurücktraten, oder wo es, bis in die 1950er Jahre hinein, zu Revitalisierungen kam. Der seit dem 19. Jahrhundert etablierte, sich als politisch-soziale Laienbewegung verstehende Katholizismus hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sein Ende gefunden. Zudem nehmen religiöse Partizipation und Glaubenshaltungen in der Gesamtbevölkerung massiv ab. Wenn nun die Zeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts in den Fokus der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung rückt, finden sich im Gegenstandsbereich auch immer weniger jener lebensweltlich verankerte Katholizismus und ebenso wenig prägende Traditionen des Protestantismus. In jüngerer Zeit wurde daher gefragt, ob der Kirchlichen Zeitgeschichte nicht ihr Gegenstand abhandenkomme, wenn konfessionelle Traditionen ihre Dominanz in breiten Bevölkerungsgruppen verlieren und sich zunehmend auf die kirchlichen Organisationen im engeren Sinne beschränken9. Dieser Umbruch ist nun gerade für das Wechselverhältnis von Soziologie und Kirchlicher Zeitgeschichte folgenreich. Natürlich wird es auch im Blick auf die jüngere Vergangenheit weiterhin soziologische Untersuchungen geben, die sich mit den christlichen Kirchen befassen, z. B. mit ihren Strukturen, Programmen, Ritualen, Mitgliedschaftsverhältnissen oder den von ihnen angebotenen sozialen Dienstleistungen. Sofern die Untersuchungsobjekte allerdings über diesen engeren Rahmen kirchlicher Organisation hinausreichen, wird man feststellen, dass sich religiöse Phänomene zunehmend von einem konfessionell bzw. kirchlich abgrenzbaren Rahmen lösen. In der Gesamtbevölkerung zeigen sich vielfältige Elemente von Religion, die sich nicht mehr eindeutig einer bestimmten konfessionellen Tradition zuordnen lassen. Versatzstücke traditionell-kirchlicher Religiosität finden sich stattdessen kombiniert mit weiteren heterogenen Elementen, was mit 8 Vgl. Lepsius, Parteiensystem; Gabriel, Milieu. 9 Vgl. zu dieser Debatte Damberg, Einführung, 13–16; Liedhegener / Kçsters / Brechenmacher, Katholizismus.
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dem Begriff der „Dispersion“10 des Religiösen bezeichnet wird. Neuere Formen einer „populären Religion“11 haben sich außerhalb wie innerhalb der Kirchen etabliert, und deren Abgrenzungen laufen oftmals quer zu den kirchlichen Grenzen. Ein Beispiel sind massenhaft verbreitete Praktiken, religiöse Rituale mit dem Smartphone zu fotografieren. Die Kirchen, katholischerseits etwa bei Papstmessen, lassen solche Praktiken nicht nur zu. Sie schaffen vielmehr aktiv Gelegenheiten dazu; sie werden selbst zu Akteuren neuer, populärer Formen von Religion. Von den Dynamiken lebensweltlicher Religiosität bleiben die kirchlichen Organisationen also nicht unberührt, sondern sie schließen daran an und entwickeln solche Formen weiter. Eine religionssoziologisch informierte Kirchliche Zeitgeschichte steht damit vor der Alternative, sich entweder auf einen kirchlich klar abgegrenzten Rahmen zu beschränken, also den Kirchenbezug zu wahren, dabei aber im Zeitverlauf zunehmend auf die Analyse religiös geprägter Lebenswelten verzichten zu müssen. Oder sie zielt weiterhin auf religiös geprägte Lebenswelten in der Breite der Bevölkerung, stellt aber den konfessionell-kirchlichen Bezug zurück. Sie wäre dann zunehmend religiöse oder zumindest überkonfessionelle Zeitgeschichte. Auf die Konsequenzen für das Wechselverhältnis der beiden Disziplinen ist im letzten Abschnitt noch einmal einzugehen.
2. Soziologie im Gegenstandsbereich Aus der Perspektive der Zeitgeschichtsforschung sind soziologische Theorien aus ihrem Kontext zu verstehen. Eine Kontextualisierung jeder Wissenschaft ist aber auch aus soziologischer Sicht unabweisbar, wenn man wissenschaftssowie wissens- und kultursoziologische Erkenntnisse berücksichtigt12. Verbindungen zwischen Soziologie und den Gegenstandsbereichen der Kirchlichen Zeitgeschichte lassen sich bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert, also seit der Etablierung der Soziologie als akademischer Disziplin, verfolgen13. In Deutschland hatte die sich damals formierende Soziologie bekanntlich eine 10 Vgl. Ebertz, Dispersion. 11 Vgl. Knoblauch, Religion. 12 Die eigene Disziplingeschichte hat in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Soziologie deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen, vgl. nur Moebius / Ploder, Handbuch; „Zyklos. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie“ (seit 2015, hg. von Martin Endreß / Stephan Moebius) und jüngst die Gründung einer Sektion für Soziologiegeschichte in der DGS (seit 2019). Vielfach rezipiert wurde der von Krech / Tyrell herausgegebene Band „Religionssoziologie um 1900“. Kurz vor dem Erscheinen steht ein Fortsetzungsband (Krech / Tyrell, Fortsetzung), der u. a. mehrere Beiträge zu den Relationen zwischen Katholizismus und Religionssoziologie umfassen wird. 13 Der Text in diesem und im nächsten Absatz ist passagenweise identisch mit Breuer, Grenzziehungsarbeiten, i. E. Vgl. dort auch ausführlich zur Relevanz der Soziologie für den Katholizismus in Belgien und Frankreich.
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starke Nähe zum Kulturprotestantismus. Max Weber war in engem Austausch mit evangelischen Theologen wie Ernst Troeltsch sowie Otto Baumgarten und stellte die Bedeutung des Protestantismus für den okzidentalen Rationalisierungsprozess heraus14. In der katholischen Theologie grenzte man sich hingegen von allen Strömungen ab, die als spezifisch „modern“ galten, wozu neben Liberalismus und Kapitalismus auch protestantische und sozialistische Orientierungen zählten. Der „katholische ,Isolationismus‘“ versperrte „die Anschlußmöglichkeiten an die einschlägige [soziologische, MB] Universitätswissenschaft“15. Diese Distanz blieb langfristig wirksam. Noch Jahrzehnte später konstatierte Franz-Xaver Kaufmann unter katholischen Theologen eine „ausgeprägte Abwehrhaltung gegenüber soziologischen Gedankengängen“, weil ihnen „der relativierende Zugriff soziologischen Denkens verdächtig“16 erschien. Gleichwohl begannen sich katholische Theologen, vorrangig Pastoraltheologen, seit den 1950er Jahren in größerem Umfang für sozialwissenschaftliche Methoden zu interessieren, um mit deren Hilfe den Herausforderungen der sich abzeichnenden Entkirchlichung zu begegnen17. Bald darauf, seit den 1970er Jahren, wurden auch die „Beziehungen und Unterschiede zwischen theologischen und soziologischen Fragestellungen“18 zum Gegenstand katholisch-theologischer Debatten. Konflikte waren dabei allerdings kaum zwischen Soziologen und Theologen verortet, sondern vorrangig unter den katholischen Theologen selbst. So standen sich Pastoraltheologen wie Norbert Greinacher, der auf eine soziologiebasierte Erneuerung der Kirche hinwirken wollte, und der Sozialethiker Wilhelm Weber gegenüber, welcher eine Ausblendung der transzendenten Wirklichkeit infolge von ,zu viel Soziologie‘ fürchtete19. Weniger Beachtung fand bislang, dass die katholisch-theologische Distanz gegenüber der Soziologie auch ein Ausdruck von Konkurrenzkämpfen im akademischen Feld war20 : Während die Soziologie sich an den Universitäten zu etablieren begann, versuchten ältere Disziplinen wie Philosophie, Theologie und Geschichtswissenschaften ihre Deutungshoheit sowie akademische Ressourcen zu verteidigen. Entsprechend waren Abwehrreaktionen gegenüber der Soziologie auch unter nichtkatholischen Gelehrten verbreitet. Daher konnte die katholische Kulturzeitschrift „Hochland“ dem protestantischen Historiker Georg von Below Raum geben, der sich strikt gegen eine Einrichtung soziologischer Lehrstühle aussprach21. Mit professions- und wissen14 15 16 17 18 19 20 21
Vgl. F. W. Graf, Gesprächspartner. Krech / Tyrell, Jahrhundertwende, 54 f. Kaufmann, Theologie, 11. Vgl. Ziemann, Kirche. Ebd., 317. Vgl. ebd. Vgl. Breuer, Grenzziehungsarbeiten. „[Das] üble bei der Soziologie [ist, MB], daß ihr Gebiet, wenn man es ernst nimmt, unermeßlich ist. Schlechthin alles muß zu ihr gehören, falls sie die Lehre von den Gemeinschaftsbeziehungen
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schaftssoziologischen Theorien lassen sich solche Interventionen als akademisches „boundary work“22 erkennen. Dabei verdienen neben Grenzschließungen auch Grenzüberschreitungen zwischen den Disziplinen Aufmerksamkeit. Solche gingen einerseits von den genannten Pastoraltheologen der Nachkriegszeit aus, aber auch schon früher, in den 1920er Jahren, von Vertretern der katholischen Sozialethik (wie Gustav Gundlach), die sehr selektiv Bezüge zur Soziologie herstellten23. Während des Ersten Weltkriegs und in den Folgejahren erschien es einzelnen Soziologen lohnend, Verbindungen in Richtung Katholizismus aufzubauen. Der Bekannteste unter ihnen ist Max Scheler, der seine Abhandlung „Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Krieg“24 im „Hochland“ publizierte und sich dort als katholischer Religionsintellektueller profilierte25. Das nutzte ihm nicht nur persönlich (Zentrumspolitiker wie Konrad Adenauer setzten sich für Schelers Berufung auf die deutschlandweit erste Soziologieprofessur in Köln ein). Vielmehr erreichte Scheler auch eine Ausweitung soziologischer Expertise in einem Gebiet, welches zuvor von anderen Disziplinen beansprucht worden war. Die Soziologie fand in der Folgezeit ein Publikum auch im Katholizismus, was noch wenige Jahre zuvor aufgrund der vermeintlichen weltanschaulichen Distanz unwahrscheinlich (oder unmöglich) erschienen war26. In der Nachkriegszeit blieb die Beschäftigung mit dem Katholizismus in der Soziologie weiterhin auf kleine Gruppen begrenzt. Das gilt zunächst für die sogenannte Kirchensoziologie, d. h. für Arbeiten im Anschluss an den französischen Kanoniker Gabriel Le Bras, in denen es vorrangig um eine quantifizierende Messung der Kirchlichkeit ging. Davon grenzte sich bekanntlich der österreichisch-amerikanische Thomas Luckmann scharf ab, der der neueren Religionssoziologie vorwarf, auf eine theoretische Fundierung zu verzichten, Kirche und Religion gleichzusetzen und infolgedessen soziale Wandlungsprozesse der Religion auszublenden27. Für die damalige Soziologie insgesamt ist charakteristisch, dass die Beschäftigung mit religiösen Phänomenen zu einer ausgesprochen peripheren Angelegenheit wurde. Ein Indiz dafür ist, dass sich die Sektion „Religionssoziologie“ der DGS zu Beginn der 1970er Jahre mangels Interesse aufgelöst hatte, um dann erst 1995 neu begründet zu
22 23 24 25 26 27
oder auch nur von deren Formen sein soll […] Die Errichtung von Professuren für Soziologie birgt die große Gefahr in sich, daß Leute sich einzuschleichen suchen, die nirgends fachmännisch zu Hause sind, die mit einem allgemeinen Geschwätz Eindruck zu machen suchen, die die wissenschaftliche Erkenntnis nicht fördern, sondern beeinträchtigen“ (Below, Soziologie, 551, 554). Vgl. Gieryn, Boundaries. Vgl. Mette, Religionssoziologie. Scheler, Neuorientierung. Vgl. Weiss, Kulturkatholizismus, 73 f. passim. Vgl. Breuer, Grenzziehungsarbeiten, 729 ff. Vgl. Luckmann, Religion.
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werden28. Wenn das Interesse an Religion, und damit auch an den Gegenständen einer Kirchlichen Zeitgeschichte, an verschiedenen Stellen weitergeführt wurde, so gab dafür – zumindest was den Katholizismus betrifft – zunächst eine wachsende Nachfrage von theologischer Seite den Anstoß, wie Hartmann Tyrell im Blick auf die religionssoziologischen Arbeiten Kaufmanns seit den 1970er Jahren zeigt29. An dem bereits erwähnten, von Gabriel und Kaufmann herausgegebenen Band30, der sich dem überkonfessionellen Programm der „Soziologie des Christentums“ anschloss, wirkte als Soziologe auch Michael N. Ebertz mit. Von den genannten Autoren folgten seither zahlreiche Untersuchungen zur Soziologie des Katholizismus, die nicht alleine in den Disziplinen der Religionssoziologie und der Kirchlichen Zeitgeschichte vielfache Beachtung fanden, sondern auch im Feld des Katholizismus selbst. Für die damit in Gang gekommene soziologische Katholizismusforschung ist auf Seiten der Soziologie auffällig, dass Grenzüberschreitungen in Richtung Theologie und Kirche sowohl durch biographische Faktoren als auch durch Anwendungsinteressen begünstigt wurden: Erstens waren diese Forschungsinteressen offenbar dadurch befördert, dass einzelne Soziologen zugleich an kirchlichen oder theologischen Diskursen partizipierten und sich mit dem Katholizismus auch persönlich verbunden fühlten. Kaufmann beschreibt autobiographisch, wie er als Soziologe, der bis dahin noch nicht religionssoziologisch gearbeitet hatte, in den 1960er Jahren aufgrund von familiär bedingten Bekanntschaften eine Vortragseinladung zu einem theologischen Kongress erhielt. Aus solchen Kontakten hätten sich erste religionssoziologische Publikationen, eine Einladung zur Kommissionsarbeit beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), weitere Vorträge sowie eine Berufung als Berater der Würzburger Synode ergeben31. Auffällig ist zweitens die Verknüpfung soziologischer Katholizismusforschung mit Zielen angewandter Sozialwissenschaft, heute würde man sagen: eines Transfers soziologischer Erkenntnisse in Kirche und Katholizismus hinein. Bei Kaufmann findet sich diese Transferorientierung in den bereits angesprochenen Beratungs- und Vortragstätigkeiten sowie in dem expliziten Anliegen, mithilfe soziologischer Reflexion zu einem „zukunftsfähigen“32 Christentum beizutragen. Dieses müsse sich von inzwischen überholten Elementen befreien, die es erst in der Auseinandersetzung mit Modernisierungsprozessen im 19. Jahrhundert angenommen habe. Ebertz, der sich auch als Pastoralsoziologe versteht, nutzte die Soziologie, um zu einer „lebensraumorientierten Seelsorge“33 beizutragen, welche die heterogenen Sozialmilieus der Kirchenmitglieder in ihrer Pluralität adressiert. Diese jüngere soziologische Transferorientierung verdient als Ge28 29 30 31 32 33
Vgl. Tyrell, Religionssoziologie, 62 f. Vgl. ebd., 64–70. Vgl. Gabriel / Kaufmann, Soziologie. Vgl. Kaufmann, Konzil. Kaufmann, Religion, 235–237. Ebertz / Fuchs / Sattler, Menschen.
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genstand der Kirchlichen Zeitgeschichte wie der Religionssoziologie selbst nähere Beachtung. Wenn nicht alles täuscht, ist die Transferorientierung zwischen Soziologie und Katholizismus allerdings in jüngerer Zeit deutlich zurückgetreten. Einerseits haben die Pastoraltheologie und kirchliche Arbeitsstellen vielfältige Impulse aus der Soziologie übernommen, um diese nun eigenständig weiterzuführen. Andererseits finden sich zwar in der Religionssoziologie vielfältige Arbeiten, die sich auf die Kirchen beziehen, ohne dass die soziologischen Autorinnen und Autoren jedoch selbst auf einen Transfer in diese Richtung zielen würden, wie er etwa von Kaufmann oder Ebertz angestrebt worden war.
3. Folgerungen Seitdem sich die Soziologie als akademische Disziplin etabliert hatte, gab es demnach Wechselwirkungen mit der Kirchlichen Zeitgeschichte, zunächst im Objektbereich, in jüngerer Zeit zusätzlich auf der Ebene der wissenschaftlichen Disziplinen. Die soziologische Katholizismusforschung, wie sie sich seit den 1970er Jahren formierte, erwies sich als erklärungskräftig für jenen lebensweltlich verankerten Katholizismus, der in der Abgrenzung von Modernisierungsprozessen entstanden war. Darauf bezogen kam es zu einer Zusammenarbeit zwischen beiden Disziplinen, bei der es sich zugleich um eine spezifische Form des „boundary work“ handelte. Die Eigendynamiken im Gegenstandsbereich, sowohl unter den damaligen Theologen wie auch unter Soziologen, würden ebenso nähere Untersuchungen verdienen wie jene Kooperationen, die sich bald darauf zwischen Zeithistorikern und Soziologen ergaben. Innerhalb der in weiten Teilen geschichts(wissenschafts)fernen Soziologie fanden sich in der Teildisziplin der Religionssoziologie zudem nachhaltige Beiträge zu einer historischen Sozialforschung. In der Zukunft werden sich die Kooperationen zwischen Kirchlicher Zeitgeschichte und Soziologie weiter verschieben. Indem es in der Zeitgeschichte nicht mehr so zentral um kirchliche Bewältigungen von Modernisierungsprozessen geht (wenngleich Säkularisierung wohl ein zentrales Thema bleiben wird), tritt im Überschneidungsbereich auch ein soziologisches Zentralthema in den Hintergrund. In der (gegenwartsbezogenen) Soziologie wiederum wird der Anteil von Forschungen, die sich kirchlich bzw. konfessionell identifizierten Bevölkerungsgruppen widmen, eher gering bleiben, während vielfältige religiöse Dynamiken auch weiterhin Aufmerksamkeit erhalten werden.
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Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Below, Georg von: Was ist „Soziologie“? Eine Frage des Universitätsunterrichts. In: Hochland 16, 1 (1918/19), 550–555. Breuer, Marc: Grenzziehungsarbeiten in einem soziologiefernen Feld. Zur Wirkungsgeschichte der (Religions-)Soziologie im deutsch- und französischsprachigen Katholizismus nach 1900. In: Volkhard Krech / Hartmann Tyrell (Hg.): Religionssoziologie um 1900. Eine Fortsetzung. Baden-Baden 2020, 713–745. –: Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge. Differenzierungs- und Individualisierungsdiskurse im Katholizismus. Wiesbaden 2012. Damberg, Wilhelm: Zur Einführung: Katholizismusforschung heute. In: Ders. / Karl-Joseph Hummel (Hg.): Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart. Paderborn 2015, 9–21. Ebertz, Michael N.: Dispersion und Transformation. In: Detlef Pollack / Volkhard Krech / Olaf Müller / Markus Hero (Hg.): Handbuch Religionssoziologie. Wiesbaden 2018, 411–436. – / Fuchs, Ottmar / Sattler, Dorothea (Hg.): Lernen, wo die Menschen sind. Wege lebensraumorientierter Seelsorge. Mainz 2005. Etzenmeller, Thomas: Historiker und Soziologen. In: SozBlog. Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), 2014 (https://blog.soziologie.de/2014/11/histo riker-und-soziologen [18. 8. 2020]). Gabriel, Karl: Religiöses Milieu. In: Detlef Pollack / Volkhard Krech / Olaf Müller / Markus Hero (Hg.): Handbuch Religionssoziologie. Wiesbaden 2018, 611–630. – / Kaufmann, Franz-Xaver: Zur Soziologie des Katholizismus. Mainz 1980. Gieryn, Thomas F.: Boundaries of science. In: Sheila Jasanoff / Gerald Markle / James Petersen / Trevor Pinch (Hg.): Handbook of Science and Technology Studies. Thousand Oaks u. a., 1994, 393–443. Graf, Friedrich Wilhelm: Die ,kompetentesten‘ Gesprächspartner? Implizite theologische Werturteile in Max Webers ,Protestantischer Ethik‘. In: Krech / Tyrell, Religionssoziologie 1995, 209–248. Graf, Rüdiger / Priemel, Kim Christian: Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), 479–508. Kaufmann, Franz-Xaver: Vom Konzil zur Gemeinsamen Synode: Katholizismus in den 1960er Jahren. In: Wilhelm Damberg / Karl-Joseph Hummel (Hg.): Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart. Paderborn 2015, 67–76. –: Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven. Tübingen 1989. –: Theologie in soziologischer Sicht. Freiburg i. Br. 1973. Knoblauch, Hubert: Die populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt a. M. / New York 2009. Krech, Volkhard / Tyrell, Hartmann: Religionssoziologie um die Jahrhundertwende. Zu Vorgeschichte, Kontext und Beschaffenheit einer Subdisziplin der Soziologie. In: Dies., Religionssoziologie, 11–78.
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Katholizismusforschung, kirchliche Zeitgeschichte und Interdisziplinarität. Plädoyer für einen stärkeren Anschluss an die sozialwissenschaftliche Forschung Was kann man in der Kürze von fünf Minuten zu Interdisziplinarität und kirchlicher Zeitgeschichte, und dies zudem wie von den Veranstaltern gewünscht mit Blick auf Christentum, Kriegsende und Nachkriegszeit, wissenschaftlich Sinnvolles sagen?1 Worüber müsste man ausführlich sprechen? Vieles kommt in den Sinn. Die Wirkungen der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Antriebskräfte der Nachkriegsjahre auf Kirchen, Religiosität und Politik wären auszuloten. Der religiöse Frühling nach 1945 und sein jähes Umkippen in Entkirchlichung und Säkularisierung – lange vor 1968 – wären hervorzuheben. Sodann die heute meist und gerne übersehene Differenz von katholischer verfasster Kirche und dem politischen und sozialen Katholizismus. Wofür steht der eigentümliche Kontrast zwischen einer beginnenden kirchlichen Auszehrung und dem politischen Höhenflug des Katholizismus, der in der Ära Adenauer nicht nur Zugang zu den Schalthebeln der Macht hatte, sondern auch den Aufbau und die Konsolidierung der zweiten deutschen Demokratie maßgeblich voranbrachte? Der alles überschattende Ost-West-Konflikt wäre als wesentlicher Kontext der politischen Handlungsmöglichkeiten wie des kirchlichen Lebens in Deutschland zu beleuchten. War die Westbindung, mit der viele Protestanten bis in die 1960er Jahre so sehr haderten, nicht der entscheidende Durchbruch zu einem neuen, freiheitlichen Deutschland und damit weit mehr als eine außenpolitische Notwendigkeit? 1 Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um meinen geringfügig überarbeiteten, mit weiterführenden Verweisungen versehenen Kurzvortrag zum Panel „Kirchliche Zeitgeschichte als interdisziplinäres Forschungsfeld“ im Rahmen der Tagung „Kirchliche Zeitgeschichte. Bilanz – Fragen – Perspektiven“ der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte und der Kommission für Zeitgeschichte am 28. Februar 2020 im Burkadushaus am Dom in Würzburg. Zum besseren Verständnis des ursprünglich unter den Titel „Katholizismusforschung, kirchliche Zeitgeschichte und Interdisziplinarität: ein Zusammenklang?“ gehaltenen Statements zur Interdisziplinarität in der Katholizismusforschung und kirchlichen Zeitgeschichtsforschung lohnt ein Blick zurück auf die m. E. in der Praxis der Forschung bislang wenig folgenreichen Vorstöße zu mehr Interdisziplinarität in Hummel, Katholizismusforschung (2004); Kçsters / Liedhegener / Kullmann / Tischner, Milieu (2009); Damberg / Hummel, Katholizismus (2015). Für die Katholizismusforschung darf man auf die Entwicklungen gespannt sein, die von der jüngst nach Abschluss der Tagung bewilligten DFG-Forschergruppe „Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland. Semantiken, Praktiken und Emotionen in der westdeutschen Gesellschaft 1965–1989/90“ ausgehen werden.
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Und schließlich : Das Ende der konfessionellen Milieus und der Aufbau der bundesdeutschen Zivilgesellschaft müssten in den Blick geraten. Wie verhalten sich Konfessionalität und Zivilgesellschaft eigentlich zueinander ? Stehen sie in einem Ersetzungsverhältnis ? Weniger Kirche, mehr Zivilgesellschaft ? Oder war es vielleicht nach 1945 nicht gerade umgekehrt – kein zivilgesellschaftlicher Aufbruch ohne engagierte Katholiken, ohne engagierte Protestanten ? Diese und ähnliche Fragen stellt nicht jede und jeder an der Nachkriegsgeschichte interessierte Forschende in der kirchlichen Zeitgeschichte. Es sind hier vor allem die Fragen eines Politikwissenschaftlers und Zeithistorikers. Diese und ähnliche Fragestellungen verbinden die engere kirchliche Zeitgeschichte mit Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Das Wie dieser Verbindung ist aber nicht selbstverständlich. Vielmehr verbergen sich gerade in dem Wie historiographische und methodologische Grundsatzfragen, die ihrerseits dem Thema Interdisziplinarität vorausgehen bzw. zugrunde liegen. Aus meiner Perspektive lautet eine, wenn nicht gar die Gretchenfrage der gegenwärtigen kirchlichen Zeitgeschichte so: Nun sag, wie hast Du‘s mit den Sozialwissenschaften, mit der Politikwissenschaft, mit der Soziologie, und vielleicht zukünftig auch der Sozialpsychologie? Warum ist dies die entscheidende Frage? Ich sehe im Wesentlichen drei Gründe für eine akute Dringlichkeit, sich in der kirchlichen Zeitgeschichte mit den Sozialwissenschaften verstärkt zu beschäftigen. Diese Gründe sind epistemologischer, methodologischer und inhaltlicher Art. Egal ob Katholizismusforschung, Protestantismusforschung oder kirchliche Zeitgeschichte – viele Vertreterinnen und Vertreter beklagen die fehlende allgemeine Beachtung ihres Forschungsfeldes. Natürlich kann man sich trösten, dass dies der Masse der anderen historischen und theologischen Forschungsfelder und Disziplinen ähnlich geht. Die massive Steigerung der Wissenschaftsproduktion generell, die Internationalisierung – oder vielleicht besser Amerikanisierung? – der Vergleichsmaßstäbe und die Digitalisierung und damit weltweite Verbreitung wissenschaftlicher Publikationsmedien führen gemäß der dadurch freigesetzten Binnenlogik internationaler Forschung de facto sehr häufig zu mehr Disziplinarität, fast immer zu mehr Spezialisierung und damit im Ergebnis zu einer starken allgemeinen Tendenz, immer mehr Enklaven sehr punktuellen wissenschaftlichen Expertentums zu schaffen. Gleichwohl gibt es in den Geistes- und Kulturwissenschaften wie in den Sozialwissenschaften eine vergleichsweise allgemeine Voraussetzung für die Chance auf einen breiteren Einfluss von Forschung: Das Forschungsinteresse muss erkennbar auf generalisierbare Ergebnisse mit gesellschaftlichem Bezug oder gar Wert ausgerichtet sein. Diese Voraussetzung gilt auch für die Religionsforschung2. 2 Vgl. auch Gabriel / G-rtner / Pollack, Säkularisierung; Grossbçlting, Religionsgeschichte; Liedhegener / Tunger-Zanetti, Religion.
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Dazu braucht es – das ist mein erstes, epistemologisches Argument – sozialwissenschaftliche Gesellschaftstheorie. Sie muss die empirische Forschung im weiteren Sinne – und dazu zähle ich auch die zeitgeschichtliche Forschung – anleiten und dadurch interdisziplinär anschlussfähig machen. Der Blick in die Soziologie zeigt, dass es nicht wenige solcher Theorieangebote gibt. Sie reichen – um beispielhaft einige Ansätze zu nennen – von Jürgen Habermas über Pierre Bourdieu, Ulrich Beck oder Andreas Reckwitz bis Niklas Luhmann. Meine persönliche Vorliebe zur Entschlüsselung und Erklärung von komplexen Zusammenhängen gilt einer strukturell-funktionalen Systemtheorie in der Tradition des Soziologen Talcott Parsons oder der Politikwissenschaftler Gabriel Almond und David Easton3. Interdisziplinäre Religionsforschung will – so mein zweites Argument für den Anschluss an die Sozialwissenschaften – ohne Methodologie, ohne eine Reflexion auf die eingesetzten Methoden und ihre Erkenntnisweise nicht gelingen. Untersuchungsgegenstände und Methoden hängen bekanntlich zusammen. In den Sozialwissenschaften ist die Methodenentwicklung im engeren Sinne rasant4. Die Betonung der Methodenfragen in den Sozialwissenschaften hat die Maßstäbe, was als wissenschaftlicher Beweis gilt, verändert. Vielen gilt die deskriptive Fallstudie, die seit dem Historismus des 19. Jahrhunderts die Masse der geschichtswissenschaftlichen Forschung ausmacht, nicht mehr als wissenschaftlich. Der Einsatz elaborierterer Methoden wäre freilich eine Chance für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern der Sozialwissenschaften. Data Mining, qualitative Inhaltsanalyse, Process Tracing, Korrespondenzanalyse – das sind Beispiele für sozialwissenschaftliche Methoden, die auch für die Zeitgeschichte relevant sind oder es doch sein könnten5. Man muss aber noch einen Schritt weitergehen, wenn man den aktuellen methodologischen und methodischen Gesichtspunkten gerecht werden will: Auch Interdisziplinarität selbst braucht heute spezielle methodische Grundlagen. Die wichtigsten Stichworte dazu sind Mixed Method-Modelle und Triangulation6. Schließlich: Bei Methodenfragen geht es immer auch um die Grundspannung von „Verstehen“ oder „Erklären“ als Wissenschaftsprogramm7. Ich selbst neige zum 3 Vgl. mit weiterer Literatur Liedhegener, Macht. 4 Vgl. etwa Baur / Blasius, Handbuch; Bryman, Research; Creswell / Creswell, Research; Pickel / Pickel, Politikforschung. 5 Meines Erachtens müssten die Katholizismusforschung bzw. die kirchliche Zeitgeschichte dazu strukturell Kompetenzen aufbauen, die eine systematische Methodenberatung und eine Methodenschulung des eigenen akademischen Nachwuchses auf Dauer sicherstellen. Eine überregionale Summer School für Doktorierende und Postdocs könnte ein guter erster Schritt dafür sein. 6 Vgl. Creswell, Introduction; Kuckartz, Methods. 7 Hier zeichnen sich neue Brücken zwischen den Sozialwissenschaften und der Kulturforschung ab, die helfen können, die ältere erkenntnistheoretische Oppositionsstellung wenn nicht zu überwinden, so doch zu entschärfen und interdisziplinäre Kooperationen möglich zu machen. Vgl. Seale, Society.
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Verstehen und Erklären, mit einem klaren Akzent auf dem „Verstehen“ als grundlegendem Zugang zu gesellschaftlicher Komplexität8. Die Inhalte der Katholizismusforschung und vielleicht auch der kirchlichen Zeitgeschichte sind – das ist mein drittes Argument – nicht kongruent mit der Kirchen- und Theologiegeschichte. Natürlich gibt es Überschneidungen. Aber Katholizismusforschung fragt nach den gesellschaftlichen und politischen Bezügen und Wirkungen von Menschen, Organisationen und Strukturen, die sich im Christentum katholischer bzw. römisch-katholischer Provenienz und seinen zahlreichen und vielschichtigen Traditionen verorten9. Dementsprechend sind innerkirchliche Vorgänge mit gesellschaftlichen Kontexten und Wandlungen zu verbinden. Das aber ist eigentlich ein Paradefall für sozialwissenschaftliche Forschung im Kontext eines interdisziplinären, auch Kirchengeschichte und Theologie einbindenden Zusammenhangs. Ein solches interdisziplinäres, auch sozialwissenschaftlich anschlussfähiges Forschungsprogramm steckt aber nicht nur in den Kinderschuhen, es scheint mir in der Breite des Forschungsfeldes „kirchliche Zeitgeschichte“ bislang auch kaum Anklang gefunden zu haben10. Ich mag mich – aus der Distanz der Schweiz – für die gegenwärtige deutsche kirchliche Zeitgeschichtsforschung in diesem Urteil vielleicht täuschen; und ich wäre sogar froh, wenn das so wäre. Aktuell aber scheint mir Interdisziplinarität in der kirchlichen Zeitgeschichte wie auch in vielen anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsfeldern – zugespitzt formuliert – vor allem eines zu sein: ein wohlfeiles Schlagwort für Stellenausschreibungen, Forschungsanträge und wissenschaftspolitische Sonntagsreden. Wenn Katholizismusforschung, Protestantismusforschung und kirchliche Zeitgeschichte als spezielle, sich ergänzende Forschungsbereiche, die auf dem Schnittfeld von Theologie, Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften wie der Soziologie und der Politikwissenschaft angesiedelt sind bzw. sein müssten, über den Kreis ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter hinaus mehr Einfluss auf die wissenschaftliche und öffentliche Debatte um Religion, Politik und Gesellschaft nehmen wollen, braucht es eine strukturell dauerhaft institutionalisierte Antwort auf die in diesem Beitrag aufgeworfene Gretchenfrage: „Nun sag, wie hast Du‘s mit den Sozialwissenschaften, mit der Politikwissenschaft, mit der Soziologie, und vielleicht zukünftig auch der Sozialpsychologie?“
8 Vgl. Liedhegener / Thieme, Verstehen; Liedhegener, Religions. 9 Vgl. mit weiterer Literatur Liedhegener / Kçsters / Brechenmacher, Katholizismus. 10 Die Ausnahme von der Regel sind Albrecht / Anselm, Zeitgenossenschaft, und die zumindest begonnene Debatte zwischen den Sektionen für Geschichte und für Soziologie der GörresGesellschaft der Jahrestagung 2015. Die Vorträge sind als Aufsätze im 136. Jahrgang des Historischen Jahrbuchs publiziert worden. Vgl. als Einstieg dort Brechenmacher / Knoblauch, Auflösung. Im Anschluss daran folgen die einzelnen Beiträge.
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– / Kçsters, Christoph / Brechenmacher, Thomas: Katholizismus. Zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft seines modernen Begriffs. In: Historisches Jahrbuch 139 (2019), 601–618. Liedhegener, Antonius / Thieme, Daniel: Verstehen und Erklären in der empirischen politikwissenschaftlichen Religionsforschung. Plädoyer für einen begründeten methodologischen Pluralismus. In: Politische Vierteljahresschrift 56 (2015), 682–693. Liedhegener, Antonius / Tunger-Zanetti, Andreas: Religion, Wirtschaft, Politik transdisziplinär – eine Herausforderung. In: Antonius Liedhegener / Andreas Tunger-Zanetti / Stephan Wirz (Hg.): Religion – Wirtschaft – Politik. Forschungszugänge zu einem aktuellen transdisziplinären Feld (Religion – Wirtschaft – Politik 1). Baden-Baden / Zürich 2011, 11–37. Pickel, Susanne / Pickel, Gert: Empirische Politikforschung. Einführung in die Methoden der Politikwissenschaft (De Gruyter Studium). München 2018. Seale, Clive (Hg.): Researching Society and Culture. London / Thousand Oaks, CA 4 2018.
Sebastian Schwab
Vom Nutzen und Nachteil der kirchlichen Zeitgeschichte für die evangelische Kirchenrechtswissenschaft 1. Bestandsaufnahme Bevor ich nach Nutzen und Nachteil der kirchlichen Zeitgeschichte für die evangelische Kirchenrechtswissenschaft fragen kann, ist eine Bestandsaufnahme angezeigt. Es ist naheliegend, eine solche Bestandsaufnahme auf kirchliche Rechtsgeschichte zu fokussieren. Sie ist schnell durchgeführt: Eine kirchliche Rechtsgeschichte mit zeitgeschichtlichem Fokus ist allenfalls in Ansätzen erkennbar. Das gilt für die Kirchenrechtsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts freilich in unterschiedlichem Maße. Das evangelische Kirchenrecht in der DDR ist nur durch eine Arbeit wirklich umfassend historisierend bearbeitet worden1. Der Befund trifft jedenfalls dann zu, wenn man jene Arbeiten abzieht, die als präsentisch gedacht waren und mit dem Ende der DDR historisch wurden2. Ihnen fehlen die Merkmale historischer Arbeiten, insbesondere der gewisse zeitliche „Sicherheitsabstand“, der den Archivzugang ermöglicht. Auch die „Staatskirchenrechte“, soweit man davon sprechen konnte, der DDR und anderer sozialistischer Staaten sind erst in Anfängen erforscht3. Das westdeutsche Kirchenrecht der Zeitgeschichte ist – gemessen an den sich bietenden Forschungsgegenständen – unbefriedigend erschlossen. Historisierende Gesamtdarstellungen fehlen; die Anzahl der Artikel in der Kanonistischen Abteilung der Zeitschrift für Rechtsgeschichte (ZRG), die sich mit evangelischen, zeitgeschichtlichen Themen befassen, ist überschaubar. Unter der Hand wird Rechtsgeschichte von praktisch tätigen Juristen oft genug zudem auf Normgeschichte reduziert. Kirchenrechtsgeschichtliche Forschungen in diesem engen Sinne finden sich nur vereinzelt4. Man mag sie 1 Vgl. Richter, Kirchenrecht. Spezifisch zu einer Rechtsfrage der Evangelischen Kirche in BerlinBrandenburg zu DDR-Zeiten vgl. Kempfer, Entwicklung, 785–796. Zu kirchlicher Gerichtsbarkeit in der DDR vgl. Richter, Entstehung. 2 Vgl. Kremser, Rechtsstatus. 3 Vgl. Vogel, Religionsrecht; Otto, Staatskirchenrecht. Vgl. auch die Untersuchung von Boese, Entwicklung, die wie die Arbeit Kremsers (vgl. Anm. 2) noch während des Bestehens der DDR begonnen wurde. 4 So z. B. die Ausführungen von Hebner, Gemeindeleitung, 514–517, oder zu den Einflüssen der Barmer Theologischen Erklärung auf das Pfarrdienstrecht von Tiling, Bedeutung, 517. Vgl. auch Heckel, Rat, 67.
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mit Axel von Campenhausen mit einem Augenzwinkern als „etwas langweilig[,] aber richtig“5 bezeichnen. Solche Untersuchungen über Normgeschichte – auch als Fragen der Problemgeschichte6 – befinden sich aber auf dem Rückzug und bilden mittlerweile ein Desiderat der Rechtsgeschichte – nicht nur in der kirchlichen Rechtsgeschichte7. Aus Sicht von Historikern mag man bei solcher normhistorischen Arbeit ohnehin fragen, worin ihr interdisziplinäres Potential liegt. Das interdisziplinäre Verhältnis von Recht und Theologie, das die evangelische Kirchenrechtswissenschaft inniger pflegt als jenes zur Geschichtswissenschaft, kann dagegen für normhistorische Arbeiten gut gefasst werden: Theologie wird reflexiv. Die Untersuchungen können aufzeigen, wo theologische Maßgaben Einwirkung auf das Kirchenrecht erfolgreich beansprucht haben, z. B. wo und wie sich die theologische „Dienstgemeinschaft“ rechtlich niederschlug – oder wo der Reflexionszusammenhang zwischen Kirchenrecht und Theologie ins Leere lief8. Bisweilen stößt man daneben auch auf sich kirchenrechtshistorisch gebende Beiträge, die sich aber entweder gar nicht mit kirchlichem Recht befassen, oder aber kein erkennbares historisches Erkenntnisinteresse, geschweige denn eine historische Methodik entfalten. Deren Klassifikation als rechtsgeschichtlich – im Hinblick auf beide Wortbestandteile – führt vor Augen, wie umkämpft der Begriff ist. Damit reiht man sich ein in eine ganze Serie von Kämpfen um das jeweilige Proprium, die vor allem in den Grundsatzdiskussionen der Disziplinen ausgetragen werden. Diesen Grundsatzdiskussionen eignet ein interdisziplinärer Spin: Kirchenrecht findet sich in einem Spannungsverhältnis zwischen „gewöhnlicher“ Jurisprudenz und theologischen Gestaltungsansprüchen. Rechtsgeschichte muss eine Verhältnisbestimmung zu Rechtswissenschaft einerseits und Geschichtswissenschaft andererseits vornehmen. Beide Diskussionen sind denkbar unpopulär. Im Kirchenrecht wurde schon vor einiger Zeit eine gewisse „Grundlagenmüdigkeit“9 festgestellt; auch in der Rechtsgeschichte – die ja viel mehr Fachvertreter zählt – liest man von diesen grundlegenden Fragen eher wenig10. In der zeitgenössischen rechtsgeschichtlichen Diskussion kommt hinzu, dass das interdisziplinäre Band zur Juristerei nicht selten durchschnitten wird: Eine beachtliche Anzahl von Stimmen aus der Literatur vertritt mit einiger Verve, Rechtsgeschichte sei eine historische Disziplin, deren Untersuchungsgegenstand zwar normative Ordnungen seien, die aber keine spezifische juristische Zugangsweise beinhalte11. Unterlegt sind diesen Positionen 5 von Campenhausen, Vergangenheitsbewältigung, 574. 6 Vgl. Reckert, Rechtsgeschichte, 61–64. 7 Siehe für die Beschreibung zunehmenden Rückzugs Duve, Rechtsgeschichte, 108; und Picker, Rechtsdogmatik, 772. 8 Vgl. die zitierten kritischen Stimmen bei Stçssel, Auswirkungen, 610–612. 9 Von Campenhausen, Literaturbericht, 120. 10 Vgl. Oestmann, Normengeschichte, 1; und Stolleis, Rechtsgeschichte, 12 f., 16 f. 11 Siehe beispielsweise Stolleis, Rechtsgeschichte, 6; Moriya, Rechtsgeschichte, 263; vgl. aber
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damals wie heute disziplinäre Selbstbehauptungskämpfe. Man hat sich einander entfremdet12. Auch die Herausbildung einer dezidierten kirchlichen Rechtsgeschichte ist aus diesem Konflikt heraus zu verstehen. Wortstark forderte Ulrich Stutz zur Reichsgründungsfeier an der Universität Bonn im Jahr 1905 seine Kollegen auf, Kirchenrechtler sollten sich aus der Beschreibung und Darstellung von Kirchenrechtsgeschichte zurückziehen und – salopp formuliert – Geschichtsschreibung den Experten überlassen. Eine „Einleitungshistorie“13 – darin erschöpfe sich nämlich die Rezeptionsleistung praktizierender Kirchenrechtler – gebe „der Vergangenheit nicht, was der Vergangenheit gebührt, und der Gegenwart nicht, was dieser gebührt.“14
2. Die einfache Antwort: Deskription und Edukation Stellt man also die Frage nach dem Nutzen von kirchlicher Rechtsgeschichte für das Kirchenrecht als dogmatische Disziplin, dann muss man sich im Klaren darüber sein, dass es sich dabei um eine Frage handelt, die von Rechtshistorikern eher ungern gestellt und noch widerwilliger beantwortet wurde. Die Kirchenrechtler von heute haben sich eine konziliante Antwort zurechtgelegt. Pars pro toto kann hier einer ihrer berühmtesten Vertreter, Martin Heckel, stehen. Er lobt: „[Die kirchliche Rechtsgeschichte] hat das […] Bild des Kirchenrechts […] gründlich zerstört. Sie hat sich dabei ganz wesentlich auf […] die eigentlich ,historische‘ Seite des Traditionsproblems der Kirche und ihrer Ordnung beschränkt und sie hat die Traditionsidee aus der normativ generalisierten Form in die Fülle der individuellen, entwicklungsbedingten historischen Traditionen aufgelöst.“15
Worum geht es Heckel? Er würdigt, dass die kirchliche Rechtsgeschichte es vermag, die Kontingenz kirchlicher Rechtsetzung zu unterstreichen. Kirchenrecht ist nicht zeitlos. Demnach käme der Kirchenrechtsgeschichte ein allein edukativer Wert zu16. Kirchenjuristen gewinnen nach dieser Lesart
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zurückhaltender Oestmann, Normengeschichte, 1 und 8 sowie Wiggerich, Rechtsgeschichte, 274. Vgl. Picker, Rechtsdogmatik, 765 mit umfangreichen Nachweisen; aus neuerer Zeit Ehlers, Universen, 240. Stutz, Rechtsgeschichte, 13. Ebd., 26. Heckel, Tradition, 503. In diese Richtung für die Kirchenrechtsdogmatik vgl. auch de Wall / Muckel, Kirchenrecht, 276. Ähnlich Germann, Erkenntniswert, 633, welcher der Kirchenrechtsgeschichte aber in einem quasi-eschatologischen Gesamtkonzept auch eine Rechtsetzung inspirierende Funktion beigibt (659).
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durch eine kirchengeschichtliche Grundbildung an Reflexionsvermögen und Kontingenztoleranz. Der Blick in die Kirchengeschichte lehrte dann, dass nicht alles so bleiben muss, wie es ist, weil das, was ist, nicht immer schon so war. Neben dieser eher generischen Lehre leiten sich gerade aus zeitgeschichtlicher Perspektive echte praktische Erträge aus dieser Grundhaltung ab. Tief in die Institutionenmentalität eingeschriebene Animositäten zwischen Synode und kirchlicher Verwaltung werden besser verständlich; nach 1945 entstandene Organisationsformen der Landeskirchen, wie z. B. der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, die lange Zeit ein kollegial verfasstes, leitendes geistliches Amt kannte17, erscheinen nachvollziehbar ; die Kenntnis der kirchlichen Diskussionen um die Militärseelsorge ermöglicht es, ihre Struktur gut erklären zu können. Viele Idiosynkrasien – und davon gibt es im evangelischen Kirchenrecht ja nun wahrlich genug – werden vor dem Hintergrund kirchlicher Zeitgeschichte weniger abwegig. Gelungene Erforschung kirchlicher Zeitgeschichte des Rechts stellt durchaus schon jetzt normgeschichtliche Aspekte in einem interdisziplinären Zusammenspiel auch zeithistorisch anspruchsvoll und instruktiv dar. So hat die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck zum fünfzigsten Jahrestag ihrer Grundordnung eine kleine Festschrift aufgelegt, die eine Forschung des Historikers Eckart Conze enthält. Darin widmet sich dieser nicht nur den wohlbekannten, gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen in der Kirche in den 1960er Jahren, sondern rekonstruiert sehr kurz auch den Beratungsverlauf der Grundordnung selbst im Hinblick auf eine von einigen Strömungen gewünschte Demokratisierung der Kirchenverfassung18. Die Verknüpfung gesamtgesellschaftlicher und politischer Geschehnisse mit den kirchenpolitischen Beratungen über einen Rechtstext fördert ein tieferes Verständnis der Normen, indem es disziplinäre Grenzen überschreitet. An solchen Arbeiten, die Historiker wegen der juristischen Terminologie vor besondere Herausforderungen stellen und die Juristen auf unbekanntes Terrain führen, besteht großer Bedarf. Es fehlt eine Geschichte des evangelischen Kirchenrechts nach 1945, die das Kirchenrecht im Dialog mit der kirchlichen und gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit thematisiert. Auch sozialwissenschaftliche Konzepte, wie Rechtsetzungsprozesse diskursiv zwischen Öffentlichkeit, Kirchengerichten und Synoden verlaufen und die historisch-empirisch umgesetzt werden könnten, haben in die Kirchenrechtsgeschichte bislang keinen ersichtlichen Einfluss genommen. Eine Prozessgeschichte des Kirchenrechts beispielsweise wäre noch zu schreiben. Solche Geschichtsschreibung könnte für das Verständnis des evangelischen Kirchenrechts wertvolle Befunde zutage fördern. Solche Forschungsfragen
17 Siehe zur damaligen Rechtslage Barth, Elemente, 139 f., 191 f. 18 Vgl. Conze, Times, 62–64.
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fänden sich in einem richtigerweise geweiteten Begriff von Normgeschichte19 ohne Schwierigkeiten wieder. Das mag vielen Historikern als Standort- und Nutzenbestimmung genügen. Nachdem eine unmittelbare Anwendbarkeit historischer Befunde auf die Gegenwart schon seit der „Sattelzeit“20 nicht mehr infrage kam21 und deren mittelbare Anwendbarkeit seit dem Niedergang der Geschichtsphilosophie einen schweren Stand hat, ist dies immerhin die Antwort, die sich die Geschichtswissenschaft regelmäßig selbst gibt. Das ist eine einfache Antwort. Es steht aber zu befürchten, dass damit der interdisziplinären Anlage der Frage nach dem Nutzen für die Kirchenrechtswissenschaft nicht annäherungsweise Rechnung getragen ist. Die einfache Antwort könnte zu einfach sein.
3. Zu einfache Antworten: Eine Polemik Das Interesse an der Geschichte ist in den Rechtswissenschaften ungebrochen. Doch dieses Interesse ist – und das spricht gegen die „einfache“ Antwort – keineswegs nur kontemplativer22 Natur. In der dogmatischen Rechtswissenschaft kann nämlich Geschichte auch applikativ23 in Stellung gebracht werden. Geschichte erlangt dann eine operative Funktion, indem juristische Argumente mit Historizität spielen. Solche historisierenden Argumente sind bei Juristen populär. Auch Kirchenjuristen bilden da keine Ausnahme. Kirchenjuristische Argumentation benützt Invokationen von Historizität in der Praxis vor allem dann, wenn es um die Verfestigung des Status Quo geht. Überspitzt ausgedrückt: Institute des Kirchenrechts auf die frühen Christen zurückzuführen, gehört zum guten Ton; Ausführungen über die Wurzeln protestantischer Rechtsetzung in den reformatorischen und nachreformatorischen Kirchenordnungen sind Legion. Der Erkenntniswert dieser Ausführungen bleibt nicht selten dunkel. In den kirchenrechtsgeschichtlichen Ausführungen durch Juristen liegt etwas Epigonenhaftes. Man eifert im Duktus dem Historismus nach, aber ohne dessen quellenkritisch-hermeneutische Methoden zu übernehmen. Literatur aus den Geschichtswissenschaften wird selten konsultiert. 19 Vgl. dazu Mçllers, Wissen, 162. Siehe auch Sandro Wiggerich: „Alle Rechtsgeschichte ist Normgeschichte.“ (Wiggerich, Rechtsgeschichte, 274). 20 Koselleck, Einleitung, XV. 21 Vgl. ders., Historia, 38. 22 Die Betonung der „kontemplativen“ Funktion von Rechtsgeschichte findet sich bspw. bei Wieacker, Notizen, 1. In ihr sah er „eigentlich rechtshistorisches Verstehen“ (Ebd., 121). 23 Die Betonung der applikativen Funktion rechtlichen Verstehens ist untrennbar verknüpft mit Gadamer, Wahrheit, 330–335. Avenarius, Hermeneutik, 59 zeichnet nach, dass Wieackers Gegenüberstellung von Kontemplation und Applikation zu einem Gutteil auch auf einem Missverständnis beruht, das auch der intensive Briefwechsel mit Gadamer nicht beseitigen konnte.
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Über die Narrativität von Geschichte24 wird nicht reflektiert. Dass im Argumentieren mit Geschichte unterschwellig auch das Postulat mitschwingt, man könne aus der Geschichte lernen25, wird kaum kritisch hinterfragt – obwohl es wie kein Zweites in der Geschichtstheorie hochgradig umstritten ist. Diese kleine Polemik legt eine Schwachstelle historischer Argumentationen im Recht frei: Sowohl gewöhnliche als auch, wie gesehen, kirchenrechtliche Argumentationen, die auf die Geschichtlichkeit des Rechts explizit – oder häufiger implizit – rekurrieren, sind oftmals ziemlich empiriefrei und theorielos. Gleichzeitig genügt es aber nicht, theoretischen Dilettantismus zu bedauern und mehr Normengeschichte zu fordern. Denn selbst wenn – was angesichts der erheblichen Professionalisierung beider Disziplinen unwahrscheinlich ist – ausgezeichnete Kirchenrechtswissenschaftler auch noch gute Historiker wären, bliebe ein interdisziplinärer Hiatus, ein epistemischer „Gap“. Diese Lücke möchte ich nun beschreiben.
4. Ansatz zu einer neuen Antwort: Normative Anwendungsbereiche? 4.1 Bedingung für Interdisziplinarität: Anschlussfähige Prämissen Kirchenjuristische Argumentation, die mit Historizität umgeht, ist eingebettet in Legitimationsdiskurse. Darin spiegelt sich die Arbeitsweise von Juristen überhaupt, denn unter theoretischen Vorzeichen bleibt die Wahrheitsfähigkeit von rechtlichen Normen ungewiss. Schlichte Erkenntnis ist darum nicht zu haben. Es braucht Argumentation, um Gründe für die eigene Ansicht anzuführen und mangels Möglichkeit der Beweisbarkeit von normativer Wahrheit zumindest die Verantwortlichkeit26 der eigenen Ansicht zu erweisen. Das geschieht zuvörderst, indem das eigene Argument aus einem common ground hergeleitet wird. Man könnte solchen common ground sogar als konstitutiv für eine echte argumentative Auseinandersetzung halten27, weil es ansonsten nur zu einem infiniten Regress oder einer Zirkularität von Prämissen kommt28. Solche gemeinsamen argumentativen Ausgangspunkte können, abhängig auch von der pragmatischen Stoßrichtung einer Debatte, in bestimmten 24 Paradigmatisch vgl. White, Metahistory. 25 So auch Picker, Rechtsdogmatik, 767. 26 Verantwortlichkeit wird denn auch bei Dworkin, Gerechtigkeit, 195–211 als Zentrum der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile theoretisiert. 27 Vgl.: “Indeed, if we demanded the credentials of all warrants at sight and never let one pass unchallenged, argument could scarcely begin.” (Toulmin, Uses, 98). 28 Dieses Problem der Logik, dass Argumentationen entweder auf einen willkürlichen Abbruch, auf Zirkularität oder einen infiniten Regress hinauslaufen, hat Hans Albert als „MünchhausenTrilemma“ (Albert, Traktat, 13) beschrieben.
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dogmatischen Konstruktionen liegen, die man um der Debatte willen nicht hinterfragt; wenn man diese dogmatischen Konstruktionen hinterfragt, dann in der Zwecksetzung, denen diese Dogmatik dienen soll; wenn man diese Zwecksetzungen hinterfragt, dann in der Methode, durch die sie gewonnen wurden. Die Reihe ließe sich beliebig fortführen. Für extrajuridisches Wissen ist die Frage nach der argumentativen Grundlage virulent. Denn es muss, um juristisch rezipiert werden zu können, anschlussfähig sein. Anschlussfähigkeit ist gegeben, wenn – wie bei einem Dominospiel – die Prämissen zweier Disziplinen – also die jeweiligen Endstücke der Theoriebausteine – zueinander passen. Die Prämissen-Problematik muss darum an der Spitze eines Entwurfs von (zumindest rechtswissenschaftlicher) Interdisziplinaritätstheorie stehen29. Doch gerade sie wirft bei dem Verhältnis von der Rechts- zur Geschichtswissenschaft Probleme auf. Immerhin war zu sehen, dass dem Applikations- und Argumentationsbedarf der Rechtswissenschaft die Geschichtswissenschaft mehr als skeptisch gegenübersteht. Stellt man die Frage grundsätzlicher, dann ist zu eruieren, wie sich Kirchenrecht zu (seiner) Geschichtlichkeit verhält. Juristische Argumente, die mit kirchenrechtsgeschichtlichen Befunden operieren, müssen ihrerseits am Maßstab der Eigenheiten des evangelischen Kirchenrechts gemessen werden. Mithin sind an die Kirchenrechtsgeschichte innerrechtliche Maßstäbe anzulegen, damit sie in juristischen Anwendungsdiskursen Wirksamkeit entfalten darf. Man landet also wieder bei den Grundsatzfragen, denen für die Erörterung von Möglichkeiten der Interdisziplinarität auch in der allgemeinen Rechtstheorie die Stellung als „Firewall“30 zugesprochen wird. Diese Firewall führt insbesondere dazu, dass unmittelbare normative Auswirkungen von Geschichtlichkeit aus kirchenrechtstheoretischen Gründen ausscheiden müssen. Nimmt man aber einen Standpunkt ein, der Kirchenrecht affirmativ zum Positivismus platziert, besteht ein Potential für eine mittelbare normative Bedeutung. 4.2 Unmittelbare normative Rezeption? Anders als im katholischen Kirchenrecht rezipiert das evangelische Pendant Tradition nicht direkt. Tradition ist nicht normativitätsbildend für das evangelische Kirchenrecht. Das bedeutet nicht, dass Tradition a limine als irrelevant ausscheidet – vor dem Hintergrund des Bekenntnissatzes sola scriptura 29 Diese Prämissen-Problematik wird beispielsweise bei Kirste, Voraussetzungen, 66 nur am Rande gestreift. Bei Kirste stehen methodische und begriffliche Interdisziplinarität im Vordergrund. Dass ein gegenseitiger Vermittlung zugängliches Erkenntnisinteresse aber die Voraussetzung für beides ist, weil nur ein solches zu einer gegenstandsadäquaten Methode hinleiten kann, die legitim verwertbare Ergebnisse zeitigt, wird in seinem Theorieentwurf nicht abgebildet. 30 Jestaedt, Theorie, 71.
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ist sie aber selbstständig und, ohne dass ihr Alter etwas in dieser Frage präjudizieren würde, an der Schrift zu prüfen31. Auch mit „zeitlosen Wahrheiten“ kann das evangelische Kirchenrecht wohl nicht dienen. Es kennt – cum grano salis32 – kein ius divinum, das sich in der Geschichte verkörpern könnte. Evangelisches Kirchenrecht muss darum nicht ungeschichtlich betrieben werden, aber es bleibt auf eine Verhältnisbestimmung33 zwischen Evangelium und Recht angewiesen, dem weder Tradition noch Geschichte seine Unvertretbarkeit nehmen können34. Das ist der historisch emanzipierende Hintersinn von ecclesia semper reformanda. Ungeachtet dessen ist der Bestand an (langen) Traditionen, der das Kirchenrecht bis heute prägt, ohnehin gering. Der „Erfahrungsspeicher“35, den Recht bildet, und jenes einer alten und überkommenen Institution in besonderer Weise, ist im Hinblick auf das evangelische Kirchenrecht bestückt mit zahlreichen verhältnismäßig jungen Relikten. Denn obwohl sich ältere Kirchengeschichte für das Kassieren von Legitimitätsprämien in juristischen Darstellungen und Argumentationen möglicherweise besser eignet als die jüngere und jüngste Vergangenheit, so klar ist auch, dass das geltende evangelische Kirchenrecht vielmehr vom allmählichen Ende des landesherrlichen Regiments im 19. Jahrhundert36 und dem Auseinandertreten von Staat und Kirche in der Bundesrepublik geprägt ist als von seiner Geburtsstunde37. Gerade erst vergangene Gegenwart und nicht allzu fern zurückliegende Geschichte haben das Antlitz des kirchlichen Rechts besonders geprägt. Damit scheint die Stunde der kirchlichen Zeitgeschichte geschlagen zu haben. Doch auch für sie bleibt die Membran zwischen Schrift, Bekenntnis und Kirchenrecht einerseits und historischer Expertise andererseits einigermaßen impermeabel. Sicher könnte beispielsweise eine zeithistorische Studie über den kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag einigen Ertrag bieten. Immerhin hat die offen formulierte Norm durch die Praxis, z. B. in kirchlicher Atom- und Friedensbewegung, erst Gestalt erlangt. Doch was trüge das aus kirchlicher Sicht für die Auslegung des Rechtssatzes, beispielsweise in einem Prozess vor einem Kirchengericht über die Äußerungsbefugnisse eines kirchlichen Gremiums, wirklich aus? Mag die Berufung auf eine ständig geübte Praxis im 31 Vgl. Honecker, Kirchenrecht, 74. 32 Der Begriff ist mit Bedeutung(en) völlig überladen. Zudem lassen sich konfessionell unterschiedliche Theorieentwürfe beobachten. Siehe zum Ganzen Pirson, ius divinum, 328 f.; Honecker, Kirchenrecht, 83–90. Viel zitiert als vermittelnd: „[W]ir [haben] das ius divinum immer nur in der Form des ius humanum“ (Dombois, Recht, 1009). 33 Abhängig vom rechtstheologischen Entwurf fällt der Benchmark für diese Verhältnisbestimmung unterschiedlich aus. Feine Differenzen beispielsweise zwischen Munsonius, Kirchenrecht, 286, der Schrift und Bekenntnis als „Rechtserkenntnisquelle“ einordnet, und Moxter, Kirche, 135, der lediglich ein Widerspruchsverbot annimmt. 34 So auch Germann, Erkenntniswert, 650. 35 Mçllers, Wissen, 132. 36 Dazu nun Dreier, Kirche, 25–74. 37 Siehe auch Germann, Erkenntniswert, 637.
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Austausch mit einer verärgerten Landesregierung im Rahmen der in den Staatskirchenverträgen vorgesehenen freundschaftlichen Gespräche38 noch statthaft sein, genügt es innerkirchlich nicht, die Frage nach Grund und Grenze im Hinblick auf Faktizität zu beantworten. Eine normative Kraft des Geschichtlichen gibt es auch für die Zeitgeschichte nicht. Was gefordert ist, wäre eine Rückbindung an das Kirche-Sein selbst. Diese kann aber wohl nicht Destillat zeitgeschichtlicher Forschung sein. Schlösse man also Zeitgeschichte mit Legitimität kurz, entginge die Eigengeartetheit evangelischen Kirchenrechts. Zwar sagt die Bibel beispielsweise nichts über die Auslegung einer Norm des kirchlichen Liegenschaftsrechts; aber der Selbstbeschreibung der evangelischen Kirchenrechtswissenschaft entspräche es auch nicht, ihre starke profan-verwaltungsrechtliche Komponente zulasten gewisser konfessioneller Imprägnierungen zu betonen. Richtigerweise wird man vom tatsächlichen Anwendungsdiskurs, der Darstellung, den Rechtfertigungsdiskurs, die Begründung, abtrennen müssen39. So mag die Norm äußerlich spröde daherkommen (und tatsächlich auch ziemlich trockene Bereiche regeln), sie in der Darstellung ihrer Anwendung, also in der Entscheidung, nichts spezifisch Kirchliches erahnen lassen. Auf der Innenseite aber, der Rechtfertigung der Norm und ihrer Anwendung, wird man auch den sprödesten Paragraphen der trockensten Materie (zumindest in der Theorie) mit spezifisch kirchlichen Topoi in Verbindung bringen wollen. In diesem Rechtfertigungsdiskurs erweist das Diktum, dass Kirchenrecht die Form der Verständigung über die geistliche Angezeigtheit von kirchlichem Handeln ist40, erst seine volle Wirksamkeit. 4.3 Synodale Materialien: Ein Sonderfall? Der Ort eines solchen Rechtfertigungsdiskurses ist in einem zeitgeschichtlichen Kontext zuvörderst die Kirchensynode. Kirchensynoden produzieren eine Vielzahl von Dokumenten: Sie lassen ihre Debatten stenographieren. Sie dokumentieren ihre Beratungen umfassend. Anträge, Antragsbegründungen, Anlagen zu Antragsbegründungen – nichts geht verloren. Aus pragmatischer Sicht liegt es darum nahe, diese Materialien zur Auslegung von Rechtssätzen heranzuziehen. In vielen Fällen wird denn auch so verfahren. Damit dockt man an die Praxis im staatlichen Recht an, in der sich
38 Eine solche Freundschaftsklausel über die Konfliktbeilegung gehört beim Normbestand der Staatskirchenverträge zum Standard, z. B. Art. 22 des Loccumer Vertrages. 39 Jürgen Habermas übernahm dieses von Klaus Günther stammende Konzept und führte es in seiner monographischen Anwendung der Diskurstheorie auf das Recht durch, siehe Habermas, Faktizität, 140; für die grundsätzliche Hinwendung zum Konzept ebd., 266–268; und ebd., 285 f. für dessen Durchführung auf das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Gesetzanwender. 40 Vgl. Germann, Kriterien, 26.
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Gesetzesmaterialien gerichtspraktisch41 wie akademisch steigender Beliebtheit erfreuen. Gleichwohl resultiert diese Beliebtheit zumindest wissenschaftssoziologisch auch aus ihrem Charakter als „Ewigkeitsfrage“42. Insbesondere ist (und bleibt wohl auch auf absehbare Zeit) der Stellenwert von solchermaßen erhobenen Befunden umstritten. Diese Debatte wird in der rechtsmethodischen Literatur im Rahmen der sogenannten historischen Auslegung in einem unüberblickbaren Schrifttum verhandelt. Für das Kirchenrecht sind diese Befunde nicht ohne Weiteres anwendbar. Ausführungen über Kirchenrechtsmethodik43 sind als Teil der Grundlagenmüdigkeit indes dem Vergessen anheimgefallen. Längere Ausführungen finden sich in den didaktisch angelegten Monographien nicht; sie münden zudem für gewöhnlich in die Anwendbarkeitserklärung der juristischen Methode44. Zumindest für die historische Auslegung bedarf dies aber der genaueren Untersuchung. Denn jedenfalls für jene Debattenfraktion, die ihre Bedeutung betont, ist die Ausgangsannahme, dass sie jene Methode sei, die gewährleiste, der Zentralstellung des Gesetzgebers im demokratischen Legitimationskreislauf besonders Rechnung zu tragen45. Allein: Eben daran muss die Übertragung der juristischen Methodenpostulate hier scheitern. Denn das ganze Argument über die Zentralstellung des Parlamentes und die demokratiewahrende Funktion möglichst weitreichend bindender historischer Auslegung ist souveränitätstheoretisch verankert. In einem System der Volkssouveränität, in der das Parlament von diesem Souverän unmittelbare Legitimation erfährt, sind diese Auffassungen, wenn schon ganz und gar nicht unumstritten, so doch zumindest dem ersten Anschein nach einer Plausibilisierung fähig. Das trifft auf Synoden nicht zu. Auch wenn der deutsche Gremienprotestantismus zahlreiche Journalisten immer wieder dazu bringt, Synoden als „Kirchenparlamente“ zu bezeichnen: Synoden sind keine Parlamente46. Sie mögen sich an die staatlichen gesetzgebenden Körperschaften anlehnen, aber sie bleiben in Funktion, Stellung innerhalb der Gesamtinstitution und Begründung distinkt. Anders im weltlichen Recht, wo die Anrufung von Geschichtlichkeit argumentationsstrategisch als Betonung demo41 In gängiger Wahrnehmung ausgelöst durch das Sondervotum der Richterin Osterloh und der Richter Voßkuhle und Di Fabio, BVerfGE 122, 248 (282–301). 42 Fleischer, Gesetzesmaterialien, 5. 43 Lesenswert noch immer Dreier, Methodenprobleme, 345–359. 44 Vgl. Munsonius, Kirchenrecht, 42–44.; de Wall / Muckel, Kirchenrecht, 274 f. Gerhard Ebeling findet in dieser Parallelisierung staatlicher und kirchenrechtlicher Methodik eine wichtige Komponente, dass sich das (evangelische) Kirchenrecht als Disziplin breit etablieren konnte: „Der gewaltige Aufschwung, den die Kirchenrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert nahm, beruhte auf der widerspruchslosen Anerkennung der juristischen Methode im Kirchenrecht.“ (Ebeling, Kirchengeschichte, 412). 45 Vgl. als repräsentativ für diese Strömung die Erwägungen von Hillgruber, Verfassungsinterpretation, 513 im Hinblick auf das Verfassungsrecht; vgl. ders., Art. 97 Rn. 57 für das einfache Recht. 46 Vgl. dazu auch Schwab, Betrachtungen, 332 m. w. N. und passim.
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kratischer Dignität gesehen werden kann, indem man dessen vergangenen, aber jederzeit änderbaren Willen perpetuiert und aktualisiert, kann der kirchliche Gesetzgeber Souveränität nicht in Anspruch nehmen47. Er ist auf eine außerhalb seiner selbst liegende Legitimationsquelle angewiesen. Eine Prämisse, die historisch-synodale Umstände für eine juristische Rezeption leichthin öffnete, existiert nicht. 4.4 Eine Fehlstelle: Kirchenrechtsgeschichtstheorie Eine solche Prämisse bedürfte ohnedies vertiefter Begründung durch eine Kirchenrechtsgeschichtstheorie, die ihr Verhältnis zu Kirchenrecht und Theologie zu klären hätte. Indes existiert eine umfassende Kirchenrechtsgeschichtstheorie zumindest auf evangelischer Seite nicht48. Ansätze waren vom Kirchenrechtler Michael Germann aus einer Handvoll Aufsätzen und darin enthaltenen, zum Teil eher beiläufigen Äußerungen zu rekonstruieren49. Am ehesten noch findet sich eine Theoretisierung der Deutungsmöglichkeiten von Kirchenrechtsgeschichte in den Schriften der Rechtstheologie. Dort wird in die Geschichte des Kirchenrechts eine hegelianische Dialektik gelegt; Kirchenrecht erscheint dann entweder als permanente Verfallsgeschichte des Abstiegs und Abfalls von der mit Maßstäblichkeit versehenen, imaginierten Gestalt der Urkirche50 oder aber als schrittweiser, sich entfaltender Aufweis der Fülle möglicher Gestalten des Kircheseins51. Diese theoretischen Fundamente werden kaum je angegriffen. Beispielgebend sind Werke des Kirchenrechtlers und Rechtshistorikers Peter Landau: Es ist nicht so, dass er die hegelianische Dialektik in den Erzählweisen der Rechtstheologie nicht sähe52. Aber er verlegt sich darauf, ihre ohnehin eher dünne53 Faktenbasis zu wi47 Vgl. Landau, Rechtsbegriff, 29; und de Wall, Gesetzgeber, 117 f. 48 So verliert das einzige aktuelle Lehrbuch zur kirchlichen Rechtsgeschichte kein Wort über die Stellung von Kirchenrechtsgeschichte zu Kirchenrecht und Theologie. Vgl. Link, Rechtsgeschichte. 49 Vgl. Germann, Erkenntniswert, 641–659. 50 Vgl. Sohm, Kirchenrecht. Aus dem umfangreichen Schrifttum vgl. zum Sohm’schen Narrativ für den hiesigen Untersuchungsgegenstand Germann, Erkenntniswert, 644–647. Vgl. auch Gerhard Ebeling, der anmerkt, dass der Vorwurf des Hegelianismus Sohm insofern nicht zu treffen braucht, als dieser „nicht nur der positivistischen und der naturrechtlichen, sondern grundsätzlich jeder immanenten, wie auch immer begründeten Rechtsidee die Anwendbarkeit auf die Kirche [bestreitet].“ (Ebeling, Kirchengeschichte, 412). 51 Vgl. Dombois, Recht. Zu Dombois‘ Narrativ siehe Germann, Erkenntniswert, 647–649. 52 Vgl. Landau, Kirchenrecht, 143. 53 Einen ähnlichen Vorwurf formuliert Ebeling gegenüber Sohm: „Ein stark begriffliches Denken veranlaßt ihn [scil. Sohm], die spröde und oft widerspruchsvolle Mannigfaltigkeit der historischen Tatsachen derartig zu systematisieren und zu überspitzten Kontrastierungen zu vereinfachen, daß seine geschichtlichen Ableitungen eher der Stringenz lückenloser mathematischer Beweise gleichen. Verbunden mit dem künstlerischen Schwung, verleiht das seinen Werken fraglos einen faszinierenden Glanz, aber auch eine bei allem Reichtum verdächtige
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derlegen54. Gegenüber der theoretischen Grundierung bleibt Landau dagegen indifferent: Zwar wehrt er sich gegen eine Vereinnahmung der Kirchenrechtsgeschichte durch die Rechtstheologie; gleichzeitig finden sich aber (bevorzugt als Schlusssätze seiner Aufsätze zum Thema) Aussagen, die sein Sentiment, dass Kirchenrechtsgeschichte doch eine über die Deskription unverbundener Vergangenheit hinausgehende Bedeutung für die Gegenwart der Kirche hat, illustrieren. So deutet er immer wieder an, dass kirchengeschichtliche Fragen Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung haben könnten55. Damit erliegt er freilich einer der größten Versuchungen der Geschichtsphilosophie: Sie wird zwangsläufig immer dann unseriös, wenn sie versucht, aus dem Metaphysischen konkrete Schlüsse abzuleiten. Das hatte Reinhart Koselleck schon für das 19. Jahrhundert gebrandmarkt56. 4.5 Positivitätstheorie: Mittelbare normative Anwendungen Solcher theologisch imprägnierten Kirchenrechtsgeschichtsphilosophie mit dialektischem Einschlag eignet beinahe zwangsläufig ein antipositivistischer Affekt. Positivismus ist in rechtstheologischen Debatten oft bloße „Vorwurfsfigur“57. Dabei könnte gerade ein „reflektierter Rechtspositivismus“58 der Geschichte ihren Stellenwert im Kirchenrecht zuweisen. Positivismus ist keine ungeschichtliche Ordnung. Vielmehr ist er die Folie, vor der Aporien in Ordnungsvorstellungen einander vermittelt werden können: Nur die Änderbarkeit des Rechts garantiert dessen Leistungsfähigkeit59. Zur Evaluierung der Leistungsfähigkeit eines Rechtssatzes aber braucht es zweierlei: Zunächst einmal bedarf es natürlich der Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation, dann aber auch der Erfassung der Situation zum Zeitpunkt des Normerlasses und der zwischenzeitlichen Entwicklung zur Bestimmung des Einflusses der Norm auf die Wirklichkeit. In der Zusammenschau beider Aspekte kann bewertet werden, ob Änderungsbedarf hinsichtlich der Rechtslage besteht oder
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Monotonie und zuweilen sogar ein peinlich wirkendes Pathos.“ (Ebeling, Kirchengeschichte, 415). So lautet denn das von jeglicher theoretischer Auseinandersetzung gereinigte, allein auf Empirie – um die es Dombois ja in seinem Lehrbuch nur sekundär ging, war es doch zunächst ein Systementwurf des Kirchenrechts – abzielende Fazit bei Landau: „Auch wenn das Werk von D. [scil. Dombois] sich nicht in strengem Sinne als Ergebnis historischer Forschungen würdigen läßt, ergeben sich aus dem Werk […] Herausforderungen für den Rechtshistoriker des Kirchenrechts; vor allem auch Hinweise auf vernachlässigte Forschungsfelder.“ (Landau, Kirchenrecht, 154). Vgl. Landau, Sakramentalität, 94; ders., Theorie, 196. Vgl. auch ders., Bemerkungen, 131. Vgl. Koselleck, Historia, 56 f. Moxter, Kirche, 114. Ebd., 125. Vgl. zur Vermittlung von Aporien durch Recht und Politik für den staatlichen Bereich Schwab, Staat, 52–60.
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nicht. Die Gegenwartsanschauung wird dabei oft als Anstoß für kirchenpolitische Diskussion dienen. In ihr kann die Wahrnehmung von Missständen artikuliert werden. Diese Wahrnehmung ist aber nicht kommensurabel mit rechtlichem Änderungsbedarf. Der Blick in die Vergangenheit kann analytisch in jedenfalls zwei Achsen zerlegt werden. Zunächst ist die Motivation des früheren kirchlichen Gesetzgebers zum Normerlass zu ergründen. Doch diese vermag, wie oben dargelegt, jedenfalls nicht die gleiche Dignität in Anspruch zu nehmen wie die Invokation des Gesetzgebers im staatlichen Recht. Die einstmalige Motivation zu erhellen, ist aber für die zweite Achse, die Frage nach der Realisierung dieser Absichten in den Zeitläuften, eine Vorbedingung. Denn dem positiven Recht ist es ganz allgemein eigen, dass die Gesetze, die gelten, vor dem eigentlichen Anwendungsfall erlassen wurden. Positives Recht ist damit, etwas hyperbolisch gefasst, zwangsläufig die „Herrschaft des Toten über den Lebenden“60. Hans-Georg Gadamer ist es zu verdanken, auf hoher Abstraktionsebene dargelegt zu haben, dass diese Herrschaft aber selbst keine punktuelle ist. Nichts Vergangenes, auch nicht die einstmals erlassene Norm, „herrscht“ unvermittelt, sondern vermittelt durch ihre eigene Wirkungsgeschichte61. Das Verständnis einer Norm vollzieht sich nur durch ihre Wirkungs- und Anwendungsgeschichte. Wirkungsgeschichte und initiale Motivation miteinander in Abgleich zu bringen, ermöglicht eine Einschätzung darüber, ob es einem Rechtssatz gelungen ist, (nur) auf die ursprüngliche Situation zu reagieren, ob er selbst daran gescheitert ist oder ob der Rechtssatz Anwendung gefunden hat in Zusammenhängen und auf Weisen, die anfänglich noch nicht einmal absehbar waren. Es reicht nicht, eine solchermaßen aufgewiesene Entwicklungsoffenheit einfach zu konstatieren, sondern sie ist strukturell zu unterlegen. Indem die Strukturen62 von Entwicklungen nachgewiesen werden, werden „Bedingungen möglicher Zukunft“63 beschrieben. Das ist keineswegs eine Aufgabe, die allein von Kirchenrechtshistorikern erbracht werden könnte. Dafür braucht es auch die Wissenschaft von der Zeitgeschichte. Mit ihrer Hilfe werden die Gelingensbedingungen einstiger Entwicklungen ausgeleuchtet: Politische Klimawechsel in den Synoden, Diskussionen des organisierten Protestantismus in den Akademien, aber auch, das knüpft an das oben genannte rechtsgeschichtliche Desiderat an, die Dynamiken, die durch bestimmte Fälle und Prozesse in die kirchliche Öffentlichkeit eingetragen wurden. Diese Möglichkeiten von Zukunft helfen, Änderungsbedarf abzuschätzen: Liegen die Strukturen, unter denen sich eine Norm früher Entwicklungsoffenheit aus60 Ehrlich, Logik, 160. Dieser Terminus wurde bei Eugen Ehrlich in Anlehnung an eine Äußerung Herbert Spencers in die deutsche Debatte eingeführt. 61 Vgl. Gadamer, Wahrheit, 331 f., zum Prinzip der Wirkungsgeschichte allgemein 305–312. 62 Vgl. Koselleck, Historik, 13–20. Bei Koselleck weisen die Strukturen deutlich heideggerianisch-ontologischen Charakter auf; das muss freilich nicht so sein. 63 Koselleck, Darstellung, 156 f.
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bildete, heute noch vor? Besteht Anlass zu der Annahme, dass sich mittlerweile Strukturen etabliert haben, die eine festgefügte Norm zu flexibilisieren helfen? Als Frage der Gegenwartswahrnehmung: Ist die Gelegenheit günstig, eine Norm jetzt zu ändern, weil entgegenkommende und vielleicht auch abschätzbare Rezeptionsstrukturen vorliegen? Der demographische und soziokulturelle Wandel, dem die Kirchen in der Bundesrepublik unterworfen waren, sind und sein werden, ließe sich so in seinem Verhältnis zur Normativität des Kirchenrechts theoretisieren. Dabei ist die Geschichtswissenschaft freilich nicht die ehrliche Maklerin wie im Neohistorismus64 : Ihre Deutungsangebote über Strukturen sind narrativer Natur. Deutungen müssen eingeordnet und bewertet werden. Sie verlangen nach einer eigenen Positionierung. Die Frage, ob eine Entwicklung positiv oder negativ ist, übersteigt die Expertise von Rechtsgeschichtswissenschaft. Darin liegt ein wichtiges caveat und gleichzeitig eine Aussage, die sich in Positivitätstheorie gut übersetzen lässt: Wie man in Kirche über Recht redet, es wahrnimmt und bewertet, ist ein Spiegel dessen, wie Kirche über sich selbst redet, sich selbst wahrnimmt und sich bewertet. Im Zentrum des Bezugsfeldes von Narrativität, Geschichte und Kirchenrecht findet sich die Frage nach kirchlicher Identität in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort unter bestimmten Umständen. Ein kirchenrechtlicher Ansatz, der seine positivistische Verwiesenheit auf Geschichte in Form von Strukturenanalyse artikuliert, weist Geschichte damit keine unmittelbare normative Rolle für die Kirchenrechtswissenschaft zu, die ihr angesichts des Verhältnisses des Kirchenrechts zu Schrift und Bekenntnis nicht zukommen könnte. Vielmehr nimmt Kirchenrechtsgeschichte, angesichts der jungen Prägung des Kirchenrechts vor allem durch Zeitgeschichte, eine Normativität anleitende Funktion ein: Sie informiert das Kirchenrecht über die Bedingungen eigener Wirksamkeit.
5. Was bedeutet das nun? Kirchliche Zeitgeschichtswissenschaft ist als kirchliche Rechtsgeschichte der Zeitgeschichte weithin ein Desiderat (1). Dieses Defizit verweist auf ungeklärte Fragen im Herzen der Disziplinen. Die Interdisziplinaritätsbedingungen zwischen evangelischem Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und allgemeiner Kirchengeschichte sind unterreflektiert; Grundlagendiskussionen
64 Dass der Historismus dieser ehrliche Makler zu sein in Anspruch nahm, beruht freilich auf einem Missverständnis: Das Ranke‘sche Diktum, er wolle „bloß sagen, wie es eigentlich gewesen“ (Ranke, Geschichten, VI), ist eben gerade keine faktenpositivistische Aussage, sondern stark metaphysisch aufgeladen. Neuere Literatur stellt das auch immer wieder heraus, vgl. z. B. Evans, Fakten, 25; Corzillius, Geschichte, 407.
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werden hier wie dort nur phasenweise geführt, ohne dass die Leerstelle wirklich gefüllt würde. Angesichts dieser Leerstelle hat sich die dogmatische Kirchenrechtswissenschaft zwar nicht nur auf Einleitungshistorie zurückgezogen. Doch häufig nimmt sie Geschichte als bloßes „bürgerliches Ornament“65, das allenfalls helfen könne, Idiosynkrasien besser zu verstehen. Kirchenrechtsgeschichte käme danach rein deskriptiv-edukative Bedeutung zu (2). Doch eine solche Beschreibung verdunkelte, dass sich die dogmatische Kirchenrechtswissenschaft in rechtspraktischen Argumentationen auch argumentative Anwendungen von Geschichtlichkeit erschlossen hat. Darin freilich findet sie an moderne geschichtstheoretische Debatten keinen Anschluss (3). Um diesen Anschluss zu gewinnen, braucht es die Grundlagendiskussion. Erst der Blick auf die Grundlagen vermag es, interdisziplinäre Potentiale theoretisch fundiert zu erkennen (4.1). Kirchenrechtstheoretisch zeigt sich schnell, dass ein Kurzschluss von Historizität und Normativität unstatthaft ist. Von der Geschichte führt kein direkter Weg zum Kirchenrecht, weil das evangelische Kirchenrecht als an theologische Maßgaben andockend gedacht wird, denen eine gewisse Ahistorizität eignet (4.2). Auch auf weniger abstrakter Ebene, bei den praktisch besonders relevanten Gesetzesmaterialien der Synoden, ist ein unvermittelter Stellenwert historischer Argumente zum Mindesten nicht aus der Parallelisierung mit Debatten über die Rechtsmethodik des staatlichen Rechts zu gewinnen (4.3). Eine Kirchenrechtsgeschichtstheorie, die für eine Vermittlungsleistung in Frage käme, ist nicht in Sicht. Die vorhandenen, auffindbaren Ansätze zeichnen sich durch eine Überhöhung hegelianisch imprägnierten Gedankenguts aus, deren Rechtfertigung bislang nicht geglückt ist (4.4). Einen interessanten Ansatz bietet ein Zugang über die Positivitätstheorie. Positives Recht ist keine ungeschichtliche Ordnung, sondern lebt von geschichtlicher Reflexion. Kirchenrechtsgeschichte, die umfassend unter Inanspruchnahme moderner kirchengeschichtlicher Wissenschaft betrieben wird, vermag es, mittels Strukturen Möglichkeiten für Zukunft aufzuzeigen und damit Reflexionsleistungen zu stützen (4.5). Der Nutzen der kirchlichen Zeitgeschichte liegt danach nicht bloß in einer deskriptiv-edukativen Funktion. Zwar hilft sie, das geltende Recht besser zu verstehen und Kontingentes nicht für inkontingent zu nehmen. Darüber hinaus habe ich aber versucht, im Rahmen dieses kleinen Impulses auch noch eine mittelbar normative Verwendungsebene aufzuzeigen. Vor weitergehenden normativen Forderungen wird man sich jedoch hüten müssen. Einer historischen Argumentation gegenüber ist in kirchenrechtlichen Diskursen eine gewisse Vorsicht angezeigt. Denn mäße das evangelische Kirchenrecht Geschichtlichkeit unmittelbar normative Bedeutung zu, so vernachlässigte es sein Proprium, den ihm aufgegebenen Bezug zur Theologie. Eine Kurz65 Mçllers, Wissen, 143.
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schlüssigkeit von Normativität mit Geschichte, die diesem Proprium entgegensteht, wäre darum: Ein Nachteil.
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VI. Kirchliche Zeitgeschichte als europäische und globale Geschichte
Hugh McLeod
The Sixties and After: Entering the Post-Christian Era in Western Europe?
The Sixties Twenty years ago, speaking at the International Historical Congress in Oslo on the religious historiography of the 1960s, I suggested that future historians might regard the Sixties as marking a break as significant as that brought about by the Reformation1. In saying this I had two things mainly in mind: first, the breaking of the processes of Christian socialisation in the home or through such institutions as Sunday Schools or Catechism Classes; and second, the change in the ways in which west Europeans saw the religious identity of their society. After many centuries in which everyone assumed, whether they liked it or not, that they lived in a Christian country, it quickly became normal to see these societies as ‘pluralist’ or ‘secular’ – to which by the 1980s the word ‘multi-faith’ was often added. This had practical implications, as non-Christian voices gained a bigger role in public debate and more space in the media, while the churches could no longer expect that their voices would be privileged. A third point might be added: whereas in earlier periods of crisis for the churches those leaving the church were predominantly male, in the 1960s nearly as many women as men were doing so. While I do not accept the view that women were the main drivers of secularisation at this time, I would argue that the female departures were more significant than those of males because of the central role women had played in passing on the family religion to the younger generation2. Already by the 1980s historians were identifying the 1960s as a time of major religious change, and indeed the American religious historian Sydney Ahlstrom was doing this as soon as the decade ended3. At this stage, the decade was still seen only as one among several such periods and its history was integrated into a longer-term narrative. The first historian of religion to focus on the 60s as a uniquely significant period was probably the Australian scholar David Hilliard in 19974. The British historian Callum Brown, whose influential “The Death of Christian Britain” was published in 2001, did this more 1 2 3 4
See McLeod, Sixties, 36; for a detailed argument see id., Crisis. See ebd., 186 f. See Ahlstrom, History. See Hilliard, Crisis.
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explicitly. Brown‘s book was sub-titled “Understanding Secularisation”, and he presented an entirely new chronology in which “real secularisation” began in the 1960s – or even more specifically in 19635. The early historians of religion in the 60s had all lived through that decade and their writing was often highly coloured by the hopes and disappointments of those years. For example no-one can mistake the enthusiasm with which Brown, who was a teenager in the later 60s, describes the youth culture and the sexual revolution of that period, or the angst with which G8rard Cholvy and Yves-Marie Hilaire, as committed Catholics of an older generation, recorded the travails of the Catholic Church in the years after Vatican II6. These experiences often influenced the lines of interpretation which the authors advanced. Of course most historians when trying to explain major religious or social changes recognise the significance of more than one kind of factor. But there is usually a ‘lead story’ – and indeed books with a clear ‘lead story’ tend to be more widely read and perhaps make a bigger impact on most readers than these which highlight the complexity and contradictions inherent in the story. In these pioneering histories four main lines of interpretation were advanced. The first saw Christianity attacked – and defeated – by external enemies. The second saw the church undermined from within by mistaken theologies and pastoral strategies. The third more sociological approach was based on the argument that religion of all kinds was being undermined by more impersonal processes of economic and social modernisation. And the fourth focused on shifts in political power, arguing that the secularising forces were gaining political strength at the expense of those supportive of the church. Brown offers a clear example of the first approach. For him, the 60s were the great decade of emancipation, won through a mass revolt by young people and especially by women. In his oft-quoted words the decade saw “the defeminisation of piety, and the depietisation of femininity”7. The heroines of his story were the young women who rejected the moral rules and the genderroles prescribed by the churches. Initially Brown gave a central role to Second Wave Feminism, but this raised a chronological problem, since the Women‘s Liberation Movement, which reached Britain around 1970, was a result rather than a cause of the Sixties. So in later work he placed more stress on the sexual revolution, which started earlier (though its chronology is disputed) and affected many people who had little interest in feminism8. He rejected all narratives of long-term secularisation. The political and cultural power of Christianity, sustained at the individual level by the hegemony of Christian (and specifically Evangelical Protestant) discourses, remained intact until 5 6 7 8
See Brown, Death; see also Brown, Secularisation. See Cholvy / Hilaire, Histoire. Brown, Death, 192. See id., Religion Britain, 240–248.
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about 1960. Indeed it is important to his argument that the 1950s were a time of religious growth and indeed that the whole period from 1800 to 1963 was Britain’s “last puritan age”, during which it was “a highly religious nation”9. But the power of Christianity then collapsed with remarkable rapidity, as women were no longer willing to pass religious beliefs and practices on to the next generation, as they had for so long done. Cholvy and Hilaire’s religious history of France since 1800, focusing mainly but not exclusively on Catholicism, offered a very different chronology. They saw the French Church facing a series of crises in the period since the Revolution. Drawing on the rich tradition of local research by French historians of religion – to which the authors had themselves been major contributors – they gave detailed accounts of the very damaging legacy of Revolutionary ‘Dechristianisation’ especially in the rural regions close to Paris, which in the twentieth century would be designated as “mission territories”. They also highlighted the conflicts between Republican governments and the Catholic Church, culminating in the Separation of Church and State in 1905. While emphasising the severity of the threats that the church had faced, they argued that on each occasion it had found new energy in confronting these challenges and had achieved a fair measure of success – most recently in the period 1930–60. The exception was the crisis of the 1960s, and in this case they place the blame on those within the Church who responded in counter-productive ways by taking the spirit of Vatican II to extremes through ill–considered pastoral experiments, or by embracing the political radicalism of 196810. The decline suffered by the various religious confessions in the 60s had accelerated after 1970 and seemed likely to continue for some time to come. Yet, in spite of that, they ended their monumental series of books on a note of cautious hope. From the later 70s they saw signs among “a minority” “in all the confessions” of what could eventually be the seeds of a wider revival. After all previous revivals had begun in a small way before spreading more widely11. The third approach was already familiar to readers of sociologists of religion such as Peter Berger and Bryan Wilson. A pioneering work of sociologically influenced history was Alan Gilbert’s “Making of PostChristian Britain”, published as early as 1980. Gilbert took his story as far back as the twelfth century, although his main focus was on the period since the mid-nineteenth century. He saw secularisation as a very long drawn out process. His was a multi-factorial approach, and he gave considerable attention to the dechristianisation of the working class – ironically at the beginning of a decade in which most of the new research would argue that this
9 Id., Death, 9. 10 See Cholvy / Hilaire, Histoire, III, 221–352. 11 Ebd., III, 490.
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had been overstated12. In view of his stress on long-term, even very long-term factors, he could hardly attach too much importance to the 1960s. But he did nonetheless devote a few pages to attacking the best-selling work of liberal theology, “Honest to God” (1963), by John Robinson, Anglican Bishop of Woolwich. Gilbert argued that by questioning some aspects of what had been regarded as Christian orthodoxy, the book legitimated those who wanted to take their doubts very much further13. However, his central argument was that longer term processes of increasing human control over the natural and social environment had gradually eroded the need for God, and increasing social differentiation had narrowed down the role of the church, so that it was relevant to fewer and fewer areas of life. In his earlier work he had described in some detail the growing importance of religion in the early industrial period from the later eighteenth to the mid-nineteenth century, marked especially by the impressive growth of Methodism and of Calvinist Dissent in the industrial districts, but he argued that the turning-point came around 184014. Urbanisation was leading to a more loosely knit society in which the role of the church was less central; the extreme economic fluctuations that had characterised the early industrial economy were substantially reduced; improvements in medicine and public health reduced the frequency of the epidemics which had often fuelled mass religious conversions; a more class conscious and organised working class was establishing its own institutions. A fourth approach was that of the French historian Ren8 R8mond whose history of west European religion from 1789 to the 1990s placed politics at the centre. His principal theme was the battle between the secularising forces unleashed at the time of the French Revolution and those forces which sought to preserve the dominant position of the church. The book focuses principally on France, which he sees as pointing the way to the rest of the continent. By the early twentieth century he suggests, there were two opposed principles both powerfully represented in Europe: “one asserted the submission of all social activity to religion; the other worked to liberate the state and society from the domination of any religious belief.” But he adds that it was clear that secularity would triumph. “It had already begun to transform institutions and even private conduct in nearly all European countries.”15 The later part of the book details this “triumph” in the period after World War II and leading up to about 1990. This latter period was marked by a privatised ethics, a religion that no longer influenced the laws, and a state that was no longer subject to religious or even moral considerations. While R8mond’s book mainly stresses the interactions of religion and politics, in a long article written at this time he trod some of the same ground as Callum Brown, highlighting the rupture from 12 13 14 15
See a summary of the debates in McLeod, Religion and Irreligion. See Gilbert, Making, 121 f. See id., Religion, 175–203. R8mond, Religion, 155.
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the later 1960s in the processes by which religious traditions were passed on to the younger generation. He noted that while 90 % of French children had attended Catechism Classes in 1960, only 43 % did so in 1990. He saw the biggest factor in this as being the changing role of women and character of motherhood, with women rejecting aspects of church teaching, especially on contraception, and mothers “disappearing from the home”16. Any theory of why Christendom came to an end needs a theory, either implied or explicitly stated, as to why it remained so powerful for so long. For Brown, churches and religions are principally agents of moral discipline: these disciplines were useful to the most powerful groups in society and they were effectively internalised by the mass of the population. Crucial to his argument is the strength of what he calls “discursive Christianity”. Questioning the use by other historians of statistics of church attendance and church membership as ways of measuring the strength of Christianity, he suggests that “protocols” of thought and action derived from Christianity and especially from Evangelicalism had a powerful influence even on many of those who seldom went to church. Here it should be noted that Brown’s early work focused on Scotland where Evangelicalism was the dominant form of Christianity17 – this might be less applicable to the more diverse religious landscape in England. While Cholvy and Hilaire are less explicit than Brown about some of their underlying arguments, one can detect a number of key assumptions. They believe that the resilience of the Catholic Church in the face of major challenges stemmed from its ability to maintain the core of its teaching while adapting to social and political change, and by offering the faith in a variety of packages designed to meet the needs of each section of the population, from the intelligentsia to illiterate peasants and workers. They thus see the attempts in the Sixties to ‘purify’ Catholicism of ‘superstition’, ‘idolatry’ and ‘meaningless ritual’ as a fatal error, separating the clergy from many of the most faithful members of the laity. Equally damaging, they suggest, was the fact that many French Catholics from the 1950s onwards were critical of successive popes. For historians working within a narrative of ‘modernisation’ religion flourishes in pre-modern societies but faces increasing and ultimately insurmountable challenges in modern societies. Accounts of the impact of modernisation are however often rather vague as to precisely which aspects of modernity are damaging to religion – and which, if any, are not. Gilbert is more specific. Religion is a response to human powerlessness: as more and more of humanity’s problems can be dealt with by human means, the need for God gradually dwindles, and plays a much smaller part in people’s lives, or none at all18. For R8mond the key factor is political power: he has a maximalist 16 Id., Chapitre, 382–388. 17 See Brown, Religion Scotland. 18 See Gilbert, Religion, 185 f.
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view of the power of the Church under the ancien r8gime, where it was closely allied with the state; a minimalist view of its power in the 1990s, when he was writing. Religion in the 1960s continues to be a flourishing field of research. Historians in the early 21st century, often born after the 60s ended, can manage a greater degree of detachment. But their interpretation of religious change in the 1960s still tends to follow one of the four directions mentioned above, albeit with new twists. One of the pioneers, Callum Brown, is still a prolific publisher. His recent work follows the broad lines of argument presented in 2001, while adding some refinements and developing some aspects in much greater depth. I will return to Brown at a later stage in this paper. His work has continued to stimulate enormous amounts of debate, but few historians have gone all of the way with him in his approach or his key arguments. The nearest to doing so would be Patrick Pasture19. Pasture agrees with Brown that the extent of secularisation in the period c. 1800–1960 has been greatly exaggerated, though in explaining this he gives a lot of attention to “pillarisation”, a major factor in the religious histories of such countries as Belgium, the Netherlands, Germany and Switzerland, but not in Britain. He also agrees with Brown that women had a central role in the religious life of that period and the departure from the church of large numbers of women in the 1960s marks a decisive change. The differences between Brown and Pasture arise not so much from their approach to the 1960s as in their account of what came after. Peter van Rooden accepts Brown’s chronology with its abrupt onset of secularisation around 1960, while questioning other key arguments. In his account of the “Strange Death of Dutch Christianity”, obviously prompted by Brown, he mixed the “sociological” and the “emancipation” interpretations – though with a subtle twist in that he sees what was described (often after the event) as “emancipation” frequently in reality leading to a new kind of conformity, and rather than the shackles being thrown off in the way described by Brown, these often slipped off gradually in a way scarcely perceptible at the time20. Among Brown’s critics, few are as completely unpersuaded as Clive Field, the leading British specialist in the quantitative approach to religious history, who has recently focused mainly on the twentieth century. Field represents among historians the purest example of the sociological approach to religion in the 1960s. He has, not surprisingly, won endorsements from two of the bestknown sociologists working in the field, Steve Bruce and David Voas. Field argues for a long-term process of secularisation continuing at least since the later nineteenth century. He sees it principally as an aspect of the modernisation of society, propelled by the diminishing ability of parents in each generation to pass on their religious beliefs and practices to the next 19 See Pasture, Christendom; see also Damberg / Pasture, Restoration. 20 See Van Rooden, Death.
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generation. Accordingly he has rejected Brown’s claims that there was a religious revival in the 1950s and has relativised the significance of the 1960 s21. Field aims to locate and make use of every kind of statistical evidence that is available. Drawing especially on public opinion polls and other survey evidence he has argued for a nuanced picture of religion in that decade with some indices of religiosity such as church attendance and especially attendance at Sunday Schools showing a marked decline, while others such as religious belief show only modest declines. He also says that the statistics refute Brown’s claim that the move away from the church was led by women22. Ever since the time of Vatican II, the Council and the application of the principles enunciated in its documents and decrees have been fiercely debated by Catholics. Conservatives blame the Catholic Church’s subsequent troubles on the Council or at least on the ways in which it was interpreted, while liberals put the blame on the failure of the hierarchy to apply these principles and especially on Humanae vitae. The latest participant in the debate is the British sociologist Stephen Bullivant, who belongs clearly to the former camp23, though his controversial conclusion is almost incidental to the main body of his book, which provides a meticulous analysis of the patterns of Catholic disaffiliation in the UK and USA up to 2017. However, the claim that churches in the 1960s were undermined from within by the unintended consequences of new theologies and pastoral methods is central to the book by Sam BrewittTaylor24. He is one of a group of Oxford historians who have questioned conventional assumptions about contemporary secularisation and have often come into conflict with Callum Brown25. He accepts Brown’s chronology but rejects the rest of his arguments. For Brown, Christians were victims of the 1960s; for Brewitt-Taylor, Christian radicals were among those shaping the decade, through their books, their frequent appearances on radio and television, and the respect for the clergy, especially those of the Church of England, at that time. Like Brown, he sees 1963/64 as a turning-point. They agree that in the 1950s Britain still had a strongly Christian identity, but that by the later 1960s this had gone – though Brewitt-Taylor argues that changes in actual behaviour happened more gradually. In explaining this, Brewitt-Taylor highlights the influence of intellectuals, especially Christians, such as John Robinson, whose “Honest to God” sold 350,000 copies in its first six months26. Robinson continually asserted that Britain was a secular society, and that Christians must accept this, because it was part of God’s plan for humanity – a claim based, according to Brewitt-Taylor, not on empirical evidence but on the assumptions inherent in his theology. Brewitt-Taylor also argues that 21 22 23 24 25 26
See Field, Revival; id., Secularization. See Secularization, 222. See Bullivant, Exodus. See Brewitt-Taylor, Radicalism. See, for example, Garnett / Grimley / Harris / Whyte / Williams (Eds.), Britain. See McLeod, Number, 218.
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Robinson and his colleagues made a major contribution to the sexual revolution by insisting that such a revolution was already underway and must be accepted by Christians, even though changes in sexual behaviour in the early 60s were still quite limited. Brewitt-Taylor’s argument is that Robinson played the key role in popularising and winning acceptance for the concept of “secularisation”, and that this played a major part in the radical change in national identity which took place at this time. Some historians of course mix the approaches that I have identified. Thus Louise Fuller interweaves the political and the sociological, and offers hints of the undermined-from-within and the external-attack interpretations27, and she demonstrates the interplay between more general factors and those specific to a particular country. Her main emphasis is on the political. She shows that in spite of the very high levels of religious practice in the 1960s, the formidable position of the Catholic Church in Irish society was already being undermined. As well as the more gradual impact of economic growth and urbanisation, she highlights four factors: the impact of television which came to Ireland in 1961 – providing for the first time a generally visible platform for those critical of the bishops and the power which they were accustomed to exercising; the weakening of the Church’s hold on education; the impact of Humanae vitae (on this point she takes the opposite view to Bullivant); and the relationship between the Irish Republic and Northern Ireland. Already before the onset of the “Troubles” in 1969, Irish politicians were seeking better relations with the North and these concerns were then greatly exacerbated by the growing political and sectarian violence. It became commonly accepted wisdom that the many privileges enjoyed by the Catholic Church in the South were a propaganda gift to militant Protestants in the North and an insuperable barrier to any future Irish reunification. Similarly, Guillaume Cuchet offered a new way of looking at Cholvy and Hilaire’s narrative of a “secularisation from within”, while combining this with elements of the political and the sociological interpretations28. The high levels of religious practice which had characterised France under the ancien r8gime and continued to do so in certain regions until the 1960s were made possible, he suggests, by a series of conformist pressures. First there was the political pressure which ended with the Revolution; then there was the theological pressure arising from Catholic teaching on such things as the wrath of God, mortal sin, purgatory and hell. This, however, gradually weakened from about 1850 onwards as, whatever the official doctrines of the Church, Catholic preachers and confessors placed ever more emphasis on the love of God. Then in the 1960s the onset of affluence and the trend towards a more individualist society removed the social pressure to conform.
27 See Fuller, Catholicism. 28 See Cuchet, monde.
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The Post-Christian Era? If explanations for what happened in the 1960s are inevitably strongly coloured by personal experiences and beliefs, this is even more true when historians try to determine where religious change is leading. The idea that we are entering a post-Christian society is relatively uncontroversial – accepted by those who regret the process, those who celebrate it, and those whose feelings are more mixed. It is evidently reflected in the titles of many of the books that I have mentioned. When historians define what this means in practice they diverge more, and personal hopes and beliefs clearly play a role. Some writers identify a single dominant trend. For example, Brown sees the salient factor as the rise of those with no religion. In his recent work he has tried to move on from the negative story of secularisation to the positive story of the rise of Humanism as a hegemonic world-view and the promise which it offers of personal autonomy, and specifically of control over one’s own body. In recent books he looked first at the connections between secularisation and the demographic revolution in English-speaking countries starting in the 1960s, including plunging fertility rates; rising numbers of births outside of marriage; and the increasing proportion of women going into higher education and paid employment29. In the second he presented an oral history-based account of conversions to atheism, or, more specifically, to being of no religion. Again, he identified the 1960s as a turning-point, and highlighted the different experiences of women and men, as well as those from different religious backgrounds30. In the third he looked at battles between Humanists and conservative Christians in the period from the 1950s to the 70s. Focusing especially on the British Broadcasting Corporation (BBC), and using both archival and interview evidence, he showed how the disproportionate influence of Christians in the 1950s was weakened in the 1960s, until by the 1970s it was Humanists who had a disproportionate influence. He showed that although the Humanist movement was relatively small, it was highly organised and included influential figures in the universities and the media, and had a major influence on some of the important legislative changes of the period, notably the Abortion Law Reform Act of 196731. Other scholars, such as the British sociologists of religion, Paul Heelas and Linda Woodhead, see the most significant trend as being what they call the “Spiritual Revolution”, whereby “spirituality” is growing at the expense of “religion” and as well as having relatively small numbers of committed followers has also penetrated the cultural mainstream in more subtle ways32. 29 30 31 32
See Brown, Religion and Revolution. See Brown, Atheist. See id., Battle. See Heelas / Woodhead, Revolution.
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Some scholars emphasise diversity. In somewhat similar vein to Heelas and Woodhead, Patrick Pasture while accepting the term “dechristianisation” is more sceptical of “secularisation”, arguing that the key trends are a mixture of globalisation and individualisation, as Europe has become increasingly open to ideas coming from Asia or the USA – as well of course as being home to large numbers of immigrants and refugees from other continents33. There are also writers who identify contradictory trends. At the opposite end of the religious spectrum from Brown, a school of historians and sociologists in Britain, many of them Evangelical Christians, has been analysing the growth of new Christian congregations in Britain since the 1980s. They recognise the decline of churchgoing and the closure of many churches during this period. But they also estimate that at least 5000 new congregations have been established since 198034. Many of these meet the needs of immigrants by providing services in their own language or using forms of worship previously rare in Britain. Many belong to new or relatively new denominations mostly of an Evangelical and/or Charismatic kind. Some are “plants” by existing congregations, often Baptist or Evangelical Anglican. Their most recent book, “The Desecularisation of the City”, looks at the increase in church-going (relatively modest), the rise in the numbers with no religion (also fairly modest), and the formation of new congregations (already very numerous) in London during this period – their argument being that major metropolitan centres are seeing different trends from rural and small town areas35. My own view is that the extent to which we are living in post-Christian societies needs to be seen in terms of the different dimensions of Christendom. Christendom and its hold over society and individual lives had several dimensions, those of individual belief and practice, of social and political institutions and debate, and less tangibly, a cultural dimension – including, for example, the religious aspects of popular culture, of social identities, of language, and of popular familiarity with religious ideas, rituals or personnel36. So far as the first dimension was concerned, the biggest changes in religious practice happened well before the 1960s. Regular church-going was already low in most parts of Western Europe, though there were major exceptions in Ireland and in some regions of other Catholic countries, as well as some more localised areas of mainly Protestant countries37. In France this decline can be dated back to the Revolution and to the ‘Dechristianisation’ of the 1790s, though in some regions the Catholic Church substantially recovered during 33 34 35 36 37
See Pasture, Religion. See Goodhew (Ed.), Church. See id. (Ed.), Desecularisation. See McLeod, Secularisation, 13–15, 285 f. See statistics in Mol, Religion.
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the first half of the nineteenth century, setting the pattern for the stark regional differences which continued until the 1960 s38. The dramatic drops in the 60s were in these more devout areas, most of which fell into line with their more secularised neighbours. Differences between more and much less devout regions also developed during the 19th century in other mainly Catholic countries, such as Spain and Italy39. In England and Sweden there was a fairly steady decline from about 189040. In the Netherlands there was a growth in the numbers with no religion from about the same time, though as in Scotland, church-going remained high in some Protestant, as well as Catholic regions41. The 60s and 70s had the effect of flattening out these differences, so that for example by the 1980s the traditionally more devout Flanders was hardly distinguishable in terms of church-going from the Walloon regions of Belgium with their longer history of secularisation42. While the various forms of religious practice are well-documented and in some instances statistics, going far into the 19th or even the 18th century, are available, it is very much harder to speak about trends in religious belief. For the period since World War II there are polls, but it is impossible to make comparisons with earlier periods, as evidence of this kind does not exist. Religious unbelief in Western Europe has a long history which goes back at least to the 18th century, and it was popularised and politicised in the 19th century, especially by the Socialist movement43. Meanwhile local studies of popular beliefs suggest a complex mix of ideas drawn partly from Christianity but also from a diverse range of other sources44. The main novelty in the 60s was the advocacy of atheism not only by philosophers or political radicals but by heroes of popular culture, such as John Lennon. Polls taken at various points from the 1950s to the 1990s suggests a downward trend in the numbers affirming various items of Christian belief, but a trend that is gradual and undramatic45. The biggest changes in the 60s were in the third of my dimensions of Christendom, the cultural level. Up to that time Christianity and the Christian churches had been inescapable parts of the landscape46. This was most obviously reflected in the very high observance of the rites of passage. Large numbers of people who seldom went to church at other times baptised their 38 See Cholvy / Hilaire, Histoire; see also figures for France, Germany and England in McLeod, Secularisation, 171–215. 39 See Callahan, Spain, 389 f.; Pollard, Italy, 51–65. 40 See Sidenvall, Case, 124–128; Gill, Myth. 41 See Brown, Religion Scotland, 58; Van Rooden, Secularization, 149. 42 See Voy8, Belgique, 203. 43 See McLeod, Secularisation, 147–170. 44 See, for example, Pollard, Catholicism, 11–13; Obelkevich, Religion; and Williams, Belief. 45 For Britain at various dates between 1957 and 1986 see Field, Secularization, 129–151; for Europe in the 1980s and ’90s see Lambert, Christianity, 71. 46 See McLeod, Religion and Society, 71–109; id., Crisis, 39–51.
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children and made sure they received their First Communion (if Catholic), married in church and after death had a Christian funeral. Similarly, nearly everyone was aware of being a Catholic, a Protestant or a Jew, and in some places these differences formed one of the chief lines of division in local communities. In traditionally Protestant countries, law and custom combined to make Sunday a day apart. In traditionally Catholic countries pilgrimages, processions, devotion to particular saints were parts of everyday life and could be important parts of the annual calendar47. Much of the latter have survived and continue to flourish, but by the 1960s the rest of this Christian culture was gradually eroding. There were considerable differences between countries in the speed with which this happened, and some aspects of this Christian culture proved more resilient than others. There was often a step by step process by which different rites were dropped. Typically regular attendance at services was the first to go; then church marriage; and then the baptism of infants; but Christian funerals remained normal for longer48. R8mond refers to the ‘banalisation’ of Sunday in France49, but this was even more conspicuous in predominantly Protestant countries, such as Britain, where both social and legal restraints on Sunday activity were still in force in the 1960s – in spite of the gradual decline which had been continuing since the later nineteenth century. Sport offers a good example. Only in 1960 would England’s Football Association recognise clubs that played on Sunday and the first Sunday game in the Football League came in 1974. Indeed professional sport of any kind on Sunday was rare before 1969, when a Sunday League for the elite “county” cricket clubs was introduced at the behest of commercial sponsors50. This revolution both in the sponsorship of sport and in the times when it was played unleashed a revolution, which started slowly but which by the 1990s had swept away all previous assumptions about how sport should be played and organised. The weakening of confessional identities was reflected in increasing numbers of ‘mixed’ marriages. In England, for example, interviews with several hundred Catholics found that whereas from the 1930s to the later 50s the proportion marrying a non-Catholic had been fairly stable at about 30 %, it then rose to 47 % in the 1960s and 67 % in the 1970 s51. Another sign of the weakening of religious and secularist identities was the collapse of the Catholic, Protestant, Liberal and Socialist ‘pillars’ which had been central institutions of Dutch society since the later 19th century52. The connections between Christianity and popular culture have thus remained stronger in traditionally Catholic countries than those that are 47 48 49 50 51 52
See local case-studies in Badone (Ed.), Orthodoxy. See McLeod, Crisis, 202 f. See R8mond, chapitre, 372. See Ellis, Games, 86. See McLeod, Crisis, 106. See Kennedy, Church.
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Protestant. Indeed in Spain the confraternities which carry statues of saints or representations of biblical scenes in Holy Week, far from being relics from the past, have seen new foundations in recent years. At least one pilgrimage, that to Santiago de Compostela, has seen remarkable growth, partly because of its appeal not only to Catholics, but also to Protestants, to those who define themselves as ‘spiritual’ and those who profess no religion. The popularity of the pilgrimage is partly due to the variety of meanings pilgrims can give to their journey53. At the same time pilgrimages, such as Lourdes and Fatima, which mainly attract Catholics, and where the shrine itself, rather than the journey, is all-important, have retained their popularity54. However it is when we look at my second dimension of Christendom that the picture becomes more complicated. The influence of Christianity on the laws relating to personal morality has changed very considerably since the 1960s, as legislators have tried to cater for the needs of a pluralistic society in which there are no generally agreed answers to many ethical questions. Most controversially this has included the legalisation of abortion in most countries in the 60s and 70s and later of euthanasia in a few – both of these reforms being bitterly opposed by some sections of the Christian churches, while being supported by others55. Statements by the churches or by prominent church leaders on public issues of all kinds continued to be numerous and often well publicised by the media – whether in order to praise or to deplore these interventions. Damberg and Pasture note that the familiar idea of a privatisation of religion is a misnomer : the churches have lost the ability to direct private behaviour, but remain influential actors in the public sphere – though Damberg and Pasture warn against over-estimating the impact of these interventions56. Churches or unofficial organisations of Christian activists have been most effective as part of a broader coalition, and sometime setting the wheels of such a coalition in motion. It was typical of the later 20th century that Christians allied with the Right on some issues and with the Left on others, while sometimes finding allies in followers of other religions. These interventions took many forms. A first example would be those in defence of church institutions, such as the campaign in 1981–1984 in defence of French Catholic schools which saw themselves threatened by the Socialist government’s plans to integrate them fully into the state system. This campaign succeeded mainly because of the mobilisation of large numbers of parents who saw it as an issue of “parental choice”57. A second example would be the opposition, with varying degrees of success, to such measures as the legalisation of same-sex marriage or of assisted suicide58. A third would be 53 54 55 56 57 58
See McLeod, Forms, 199. See Davie, Religion, 157–160. See Kennedy, Church, 471–473. See Damberg / Pasture, Restoration, 75. Beattie, Yeast, 200–202. See OrmiHres, Europe, 256–267.
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the numerous interventions, again with varying degrees of success, on behalf of those suffering poverty59 or of asylum-seekers and refugees60. A striking example of a successful intervention was the “Easter Appeal” on behalf of asylum-seekers by the Swedish churches in 2005, which then enlisted the support both of Muslim organisations and of non-religious humanitarian and political organisations61. A fourth would be the initiatives by unofficial Christian organisations, which played for example important roles in the “new social movements” of the 1970s and 80s in France or the Netherlands62. Since then, in spite of the fact that active involvement in the Christian churches has continued to decline, references to Europe’s Christian, or sometimes Judeo-Christian, identity have become increasingly common. The reason, of course, is the need to legitimate measures designed to limit the impact of Islam and the rights of Muslims. As Yendell and Huber point out in their study of Switzerland where the nationalist Schweizerische Volkspartei has been a major force since 1999, “virtually all right-wing populist movements refer in their Islamophobic politics to Christianity as the foundation of their culture”63. As yet these parties have won little support from the major churches in western Europe. As one typical example, Buddhist, Christian, Jewish, Muslim and Sikh leaders in Birmingham marked the European elections in 2004 with a joint statement calling on voters to “reject any political party that attempts to stir up racial and religious hatred, discrimination and fear of asylum-seekers”64. Similarly, in Switzerland the Roman Catholic, Christian Catholic and Protestant Churches have all spoken in favour of Muslim rights and have promoted inter-religious dialogue. It may even be that fear of Islam has had the paradoxical effect of strengthening a sense of awareness of collective Christian identity, while further alienating individuals from the Christian churches. In their analysis of the results of a large survey conducted in Switzerland in 2015, Yendell and Huber found higher levels of hostility to Islam among those with no religion and adherents of the small but growing Evangelical churches65. In two respects the role of church-based agencies or of voluntary organisations with a Christian inspiration has not diminished since the 1960s and may in recent years have increased. In spite of many differences between the welfare and education systems of the various European countries, the role of religion in these systems is often considerable. The large role of Catholic agencies in the welfare systems of Belgium and Italy and of both 59 60 61 62 63
See Itzen, Kirche. See Chadwick, 8tranger. See Dierckx / Vranken / Elander, Policies, 166 f. See Pelletier, Crise, 242–254; Kennedy, Church, 474 f. Yendell / Huber, Views, 82. Their article includes discussion of the literature on religion and Islamophobia in several countries. 64 McLeod, Introduction, 10. 65 See Yendell / Huber, Views, 82, 93.
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Catholic and Protestant agencies in Germany is well-known. These countries inherited from the later 19th and early 20th centuries an extensive apparatus of welfare provision with substantial state funding but under management of church-based agencies, and in the Catholic case with religious sisters making up an important part of the workforce. With the expansion of the welfare state after World War II and especially in the 1960s, these institutions also expanded. When all is said about the impact of professionalisation on the religious basis of this work, we cannot speak of a post-Christian era in the welfare world66. Indeed present indications are that even in the Nordic strongholds of state welfare, cash-strapped local authorities turn for assistance to non-state agencies, including not only profit-making businesses, but also non-profit religious agencies. The editors of a series of studies of religion and welfare in European countries between 2006 and 2009 concluded that “In almost every one of our case-studies the role of the churches in the delivery of welfare is expanding rather than contracting.”67 The main reason for this they suggested was the pressure on the state welfare system at a time when the state’s resources were contracting – although the resources of the churches were very often contracting too. This was happening in countries with very different welfare systems. Among those with the most fully developed state provision, the contribution of church-based agencies was said to be “small but important” in Norway, and in Sweden there was growing cooperation between churches and local authorities. Co-operation in those countries focused especially on certain areas, such as facilities for the homeless, youth centres and emergency counselling. In Finland, where every Lutheran parish employs at least one social worker and where church involvement in welfare provision had greatly increased during the economic crisis of the 1990s, the author identified a longer-term trend for the state to pass on some of its responsibilities either to churches or to families, and for church agencies to enter new areas of provision. There were similar trends in Germany and Italy, where the role of church-based agencies was already very considerable, though the writer on Italy noted differences caused by the varying extent of Catholic influence in local politics. The same was true in France: a lot of welfare provision is by voluntary bodies, and in the town studied, in spite of the strict la"cit8 of the French state, the majority of these were Catholic68. In education what are called in Britain ‘faith schools’ continue in many countries to have an important role, which is not diminishing – in England the word ‘faith’ denotes the fact that in addition to the many long established Anglican, Catholic and Jewish schools, there are now many Muslim schools. The issue is controversial and the reasons for the popularity of ‘faith’ schools 66 See Damberg / Pasture, Restoration, 69 f. 67 B-ckstrom / Davie (Eds.), Welfare II, 155. 68 See B-ckstrom / Davie (Eds.), Welfare I, 46 f., 75, 82 f., 103–106, 142, 150–152.
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are debated, sometimes bitterly, but many of these schools are oversubscribed69. Apart from the recognised role of religious agencies within the official welfare system in delivering services which are partly or wholly financed by central or local government, Christian voluntary activity is also increasing in areas outside the official system. These include provision for certain marginalised groups, including refugees and people who are homeless, who are inadequately supported by government and local authorities. In this respect the story is familiar across Western Europe. The financial crash of 2008 exacerbated an already bad situation. Governments fear that they will lose votes if they raise taxes or divert funds from other more popular causes to pay for the needs of these politically powerless groups, and they may even attempt to win votes by stigmatising them. Those who try to support these groups whether by campaigning or by providing food, shelter or advice do so from a variety of motives, but religious motivation is often an important factor, and many of the organisations working in this area have an explicitly religious basis. A recent collection of essays looked at the role of what the authors call “Faith Based Organisations” in assistance to marginalised groups in various countries, including the Netherlands, Germany, Spain, Turkey and the UK. They argue that this role has been increasing since the 1980s, and the editors conclude that “the increasingly prominent role played by faith-based individuals and organisations in providing care and welfare and in promoting issues of justice” is one of the major dimensions of the contemporary religious situation70. We thus have the paradoxical situation that Christian belief and active participation in Christian churches continue to decline, yet a number of important roles in society are being performed, and in some cases increasingly performed, by Christian institutions or Christian voluntary agencies. If the present decline in church membership continues, one must ask for how much longer this will be possible. Or, if not, who will take up the challenge?
Conclusion In conclusion: although the literature on religion in the 60s, as well as the years immediately before and after, is now quite extensive, two kinds of history are largely missing, but are needed. One is the micro-study which traces the changes in a specific place. As long ago as 1985 Yves Lambert provided a powerful portrait of the Breton village of Limerzel, starting at the beginning of
69 See Davie, Religion, 85–87. 70 Beaumont / Cloke (Eds.), Organisations, 267.
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the 20th century and ending in the 1970 s71. He gave extensive consideration to the 1960s, the period when “everything is changing, so why not religion too”. The dramatic social, cultural and religious changes of the century were made all the more convincingly and vividly because of the concentration on a single place – and also because of the author’s sympathetic involvement with its inhabitants, on whose memories a large part of the book was based, although he also used, for example, parish and diocesan archives. We are equally lacking studies which provide detailed comparison between individual countries. Partial exceptions are OrmiHres’ book on religious change in Catholic Europe in the later twentieth century72 and Harris’s volume of essays on the reception of Humanae Vitae in different parts of Catholic Europe73. OrmiHres’ main purpose is to emphasise the common patterns of anti-clericalism and secularisation across Catholic Europe, and he accordingly plays down national differences. In so far as there are differences, readers need to draw their own comparisons. The latter volume is more comparative, as Harris tries to pull the threads together in the Introduction. However most of the volume is focused on individual countries, and though responses to Humanae vitae are certainly a good indication of wider trends, there are many aspects of Catholicism or of religion more generally in that era which inevitably are not included. The 60s were an international phenomenon, and there are many similarities between what was happening in Germany and the United States – in spite of all claims about American exceptionalism – or between what was happening in Sweden and in Italy. At the same time each country does of course have its own unique history. No-one has yet succeeded in integrating the national and the international, the factors that shaped the 60s in many different countries, and the ways in which these common forces were modified by distinctive memories, experiences, institutions and cultures.
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Gisa Bauer
Kirchliche Zeitgeschichte: Osteuropa
Der asketisch-karge Titel dieses Beitrags kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dem Betreff „Kirchliche Zeitgeschichte: Osteuropa“ um ein Thema handelt, das opulente Erörterungen und mehrschichtige Zugänge geradezu herausfordert. Allein die Antworten auf die Fragen nach der räumlichen Begrenzung von „Osteuropa“ oder danach, was „kirchlich“ in „Kirchlicher Zeitgeschichte“ meint, könnten eigene Sammelbände füllen. Die zentrale Herausforderung besteht aber darin, dass das, was man unter einer „Kirchlichen Zeitgeschichte Osteuropas“ verstehen kann, keinen festen Platz im Fächerkanon eines universitären Fachs hat. „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ ist institutionell heimatlos und stets ein Neben- oder Zufallsprodukt anderer Forschungen und akademischer Zielsetzungen. Das macht das Feld weitgehend unüberschaubar. Im Folgenden soll versucht werden, einige Schneisen in dieses unübersichtliche Terrain zu schlagen – vom eigentlichen Kartographieren wird hier noch nicht die Rede sein können. Zunächst soll der geografische und konfessionelle Rahmen der vorliegenden Überlegungen abgeschritten werden, danach wird auf die akademischen und kirchlichen Institutionen und Organe im deutschsprachigen Raum eingegangen werden, die sich mindestens punktuell mit „Kirchlicher Zeitgeschichte Osteuropas“ beschäftigen. Schließlich werden Themen, Forschungsbereiche und ihre Voraussetzungen sowie Spannungsfelder benannt, die Relevanz hierfür haben, nicht zuletzt im Hinblick auf deren teilweise hohe gesellschaftspolitische Bedeutung. In aller gebotenen Kürze wird im Schluss thematisiert werden, inwiefern eine „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ grundsätzliche Fragestellungen der kirchlichen Zeitgeschichte neu und aus einer anderen als der (durchgängig und stillschweigend eingenommenen) westeuropäischen Perspektive spiegelt.
1. Einleitung oder Der Versuch einer Begrenzung des Themas „Osteuropa“ ist im Hinblick auf seine geografischen Grenzen nicht festgelegt1. Das allgemein gebräuchliche Europamodell unterscheidet Mitteleuropa, 1 Zu der folgenden Darstellung vgl. die „Grenzen Osteuropas“ als Thema der Osteuropaforschung
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Südosteuropa und Osteuropa mit folgenden Zuordnungen: Mitteleuropa umfasst Deutschland, die Schweiz, Österreich, Slowenien, die Slowakei, die Tschechei, Kroatien, Ungarn, Polen, die baltischen Länder, den Südwesten der Ukraine und den nördlichen Teil von Rumänien. Mit dem südlichen Teil Rumäniens beginnt Südosteuropa, das sich bis zum nördlichen Teil der Türkei erstreckt. Osteuropa schließlich besteht aus Weißrussland und dem größten Teil der Ukraine und erstreckt sich bis zum Ural im Osten und zu den kaukasischen Ländern im Süden. Es gibt allerdings auch breitere Definitionen von Osteuropa, die neben dem gesamten postsowjetischen Raum auch den östlichen Teil Mitteleuropas als Osteuropa definieren. Diese Einteilung entspricht den politischen Gegebenheiten des 20. Jahrhunderts, umreißt sie doch den ehemaligen Ostblock als ˇ SSR, Polens, Ungarns, Rumä„Osteuropa“, d. h. die Gebiete der DDR, der C niens, Bulgariens und der Sowjetunion. Ostdeutschland, d. h. die ehemalige DDR, wird in solchen Zuschreibungen allerdings inkonsequenter Weise und stillschweigend zu Mitteleuropa gerechnet. Im Übrigen weist man die Zuschreibung „osteuropäisch“ auch in Polen, der Slowakei, Litauen oder Rumänien weit von sich, wo es Orte gibt, die für sich den geografischen Mittelpunkt Europas reklamieren und die sich keineswegs als Teil Osteuropas sehen. Hier bekommt der Terminus „östliches Mitteleuropa“ oder „Ostmitteleuropa“ praktische Relevanz. Aber jenseits der Mentalitäten und Befindlichkeiten hält die geografische Festlegung von „Osteuropa“ für das hier zu erörternde Thema eine gravierende Weichenstellung bereit. Wenn die DDR historisch konsequent zu Osteuropa zählt, dann wäre die kirchliche Zeitgeschichtsforschung, die sich mit den Kirchen in Ostdeutschland beschäftigt, bereits „kirchengeschichtliche Osteuropaforschung“. Ein solcher Forschungsansatz würde die gesamtdeutsche Perspektive kirchlicher Zeitgeschichtsschreibung und ihren Zugriff erheblich tangieren, wenn nicht torpedieren. Im Folgenden soll aus schlichten pragmatischen Gründen zunächst bei der erstgenannten, konventionellen Beschreibung von Osteuropa geblieben werden. Unter „Osteuropa“ wird Weißrussland, die Ukraine, der europäische Teil Russlands, Georgien, Armenien und Aserbaidschan gefasst. Es wird sich aber im Verlauf der Darstellung zeigen, dass damit kein Schlusspunkt hinter die nach wie vor offene Debatte um die Grenzen von Osteuropa gesetzt werden kann, allzumal viele der im Folgenden vorgestellten wissenschaftlichen Einrichtungen bei der Betrachtung ihres Forschungssujets Ostmitteleuropa zu Osteuropa hinzuzählen. Das unabgeschlossene Thema, wie osteuropäisch die ostdeutsche Geschichte ist, steht auch in diesem Beitrag im Raum. Für das Forschungs- und Beobachtungsfeld „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropa“ ist weiterhin, wie eingangs erwähnt, die Klärung dessen relevant, und die entsprechende Literatur bei Beyrau, Angst, 217–219 sowie die Geschichte der geografischen Verortung Russlands und des europäischen Ostens bei Schultz, Europa.
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was eigentlich kirchliche Zeitgeschichte meint. Grundsätzlich ist mit dem Kirchenhistoriker Joachim Mehlhausen festzuhalten, dass kirchliche Zeitgeschichtsforschung „zur Selbstprüfung der Gegenwart beitragen“ müsse, „indem sie klären hilft, welche theologischen Traditionen, innerkirchlichen Handlungsmuster und Entscheidungskriterien aus der jüngsten Vergangenheit fortwirken, und wo (und warum!) es Abbrüche, Interdependenzen und Neuansätze gibt.“2 Diese Definition, die sich mit zahlreichen Feststellungen zum Fach seit dem Beginn der Methodendiskussion in den 1980er Jahren innerhalb der kirchlichen Zeitgeschichte als eigenständigem Forschungsbereich der Kirchengeschichte deckt, kann gleichermaßen für eine „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ gelten. Spannender wird es bei der Frage, was „kirchlich“ in „Kirchlicher Zeitgeschichte“ meint. Die Kirchengeschichtsschreibung und damit auch die kirchliche Zeitgeschichtsforschung hat eine konfessionelle Standortbestimmung, von der her sich im Wesentlichen die konfessionsspezifische Ausrichtung der Forschung ableitet. Für eine „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ ist das von wesentlicher Bedeutung, denn im deutschsprachigen Raum erfolgt die Konzentration kirchlicher Zeitgeschichtsschreibung auf Ereignisse und Phänomene im Zusammenhang mit Protestantismus und Katholizismus3. Dieses Feld wird im Hinblick auf Osteuropa durch die orthodoxen Kirchen nicht nur massiv geweitet und verändert, sondern erfährt eine gravierende Schwerpunktverschiebung, da sich die hiesigen Großkirchen in Osteuropa weitgehend in der Situation von Minderheitenkirchen befinden. Somit ist „kirchlich“ in „Kirchlicher Zeitgeschichte Osteuropas“ zwar – ebenso wie es in einer „Kirchlichen Zeitgeschichte Westeuropas“ der Fall wäre – überkonfessionell gemeint, bezieht sich aber praktisch vor allem auf die Erforschung der Geschichte der orthodoxen Kirchen und deren Strömungen, Wirkungsfelder und Aktionsradien in der Gesellschaft. Die Frage, ob der Gegenstand dieser Kirchengeschichtsschreibung nun die Kirche selbst ist, das „Christentum“, die „Religionsgeschichte“ oder „religiöse Mentalitäten“, ist in der Zunft der kirchlichen Zeithistorikerinnen und -historiker (und darüber hinaus auch von Systematischen Theologen, Religionswissenschaftlerinnen etc.) breit diskutiert worden. Letztendlich hängt sie ab von der Definition des Gegenstandes und dem Standort des Historikers4 – beides durchaus miteinander verzahnt –, und ist geprägt vom jeweiligen Fach und dessen methodischen Zugriffen.
2 Mehlhausen, Methode, 515. 3 Vgl. dazu Greschat, Anmerkungen, bes. 267–271. 4 Vgl. Besier / Ulrich, Aufgabe, 174.
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2. Versuch einer institutionellen Systematisierung oder : Einrichtungen, die zeithistorische Forschung zu Religion und Kirchen Osteuropas betreiben Wie eingangs bereits erwähnt: Eine eigene institutionelle Anbindung wie bei der kirchlichen Zeitgeschichte als Teil der Kirchengeschichtsschreibung gibt es für die osteuropäische kirchliche Zeitgeschichte nicht. Diese wird von verschiedenen Wissenschaftszweigen behandelt. An vorderer Stelle stehen dabei die Ostkirchenkunde5 als Teil der Theologie sowie die Osteuropaforschung6 als Teil der Geschichts- oder Politikwissenschaft. Hinzu kommen Anteile, die durch die Religionswissenschaft oder die Kulturwissenschaften abgedeckt werden. Die sich aus den disparaten methodischen Spezifika der Fächer ergebenden unterschiedlichen Zugriffe auf ein und dasselbe Sujet könnten im Sinne optimaler interdisziplinärer Forschung Synergieeffekte und weiterführende Ergebnisse hervorbringen. In der Praxis zeigt sich ein eher durchwachsenes Bild, das geprägt ist von eingeschränkter gegenseitiger Wahrnehmung und Kenntnis, z. B. über Forschungsvorhaben oder in Bearbeitung befindliche Qualifikationsarbeiten, und von lediglich peripheren Berührungspunkten. Vor dem Hintergrund eines „epistemologischen Pluralismus“, um mit Gaston Bachelard zu sprechen, fehlen nicht nur gemeinsame Strukturen interdisziplinärer Arbeit, sondern auch eine terminologische Grundlage und dadurch die Verständigungsbasis, das Erfassen der anderen jeweils in Anwendung gebrachten Methoden. Dadurch wird die Anschlussfähigkeit der Forschungen im fremden Fach schwierig7, und selbst im anderen Zweig desselben Faches ist sie nicht immer gegeben8. 5 Zum Fach Ostkirchenkunde vgl. Felmy, Ostkirchenkunde; und Pingg8ra, Jahrhundert. 6 Die Osteuropaforschung weist nicht nur ein breites Studienfeld auf, sondern ist selbst längst schon Thema der (zeit)historischen Betrachtung, da sie die jeweilige Zeitgeschichte, insbesondere die politische, hervorragend widerspiegelt. Das Bewusstsein von ihrer starken politischen Inanspruchnahme im 20. Jahrhundert hat Reflexionen über die eigene Geschichte im Fach befördert. Zur Geschichte der Osteuropaforschung vgl. aus der Fülle der Literatur die Beiträge der Zeitschrift „Osteuropa“ zum 100jährigen Jubiläum der „Deutschen Gesellschaft für Osteuropaforschung“ im Jahr 2013: Osteuropa 63 (2013), H. 2–3: Zeit im Spiegel. Das Jahrhundert der Osteuropaforschung. Darüber hinaus ist u. a. zu verweisen auf Dahlmann, Jahre; Kleindienst, Entwicklung; und Unger, Ostforschung. 7 Zur Illustration sei aus der Fülle möglicher Beispiele eines angeführt, dem die Diskrepanz der Blickwinkel auf ein und dasselbe Sujet in den wissenschaftlichen Fächern zugrunde liegt und bei dem es konkret um die divergente Verhältnisbestimmung von „Religion“ und „Kirche“ einerseits in der Osteuropawissenschaft – in diesem Fall punktuell an die Religionswissenschaft angelehnt – und andererseits in der Theologie geht. In seinem Buch „Pilger, Popen und Propheten. Eine Religionsgeschichte Osteuropas“ legt der Kölner Osteuropahistoriker Christoph Schmidt eine seine Untersuchungen bestimmende Diskrepanz von „Religion“ und „Kirche“ zugrunde: „Gerade darin liegt also die Bedeutung von Religion, dass sie zu Kirche in Opposition treten kann und
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muss. Religion ist älter als Kirche. Sie braucht Symbole, aber keinen Text, der erst mit den Kirchen entsteht.“ (Schmidt, Pilger, 8). Eine präzise Definition von Religion und Kirche erfolgt im Weiteren nicht. Lediglich der Versuch, eine „Urreligion“ mit allen Religionen gemeinsamen Elementen herauszukristallisieren, sowie der durchgehende Bezug auf religiöse Randgruppen und das Ausklammern der Geschichte der christlichen Großkirchen lassen den Standpunkt Schmidts zumindest erahnen. Hinzu kommt eine recht offensichtliche Unkenntnis der westeuropäischen religiösen Gemengelage, die nichtsdestotrotz als Vergleich zu der osteuropäischen herangezogen wird und damit ein verzerrtes Gesamtbild evoziert. Für die Kirchengeschichte ist es schwierig, hier einen konstruktiven Anschluss zu finden, der über eine Methodenkritik hinausgeht. All die von Schmidt dargestellten Phänomene fallen zu einem großen Teil in das Fach Kirchengeschichte, aber die normativ grundgelegte und in die Geschichte rückprojizierte Aversion zwischen „Religion“ und „Kirche“ beeinträchtigt die Darstellung der religiösen Erscheinungen und Phänomene, der Bewegungen und Gruppen erheblich. Eine Rezeption des Buches dürfte unter Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistorikern, die sich für die Geschichte Osteuropas interessieren, kaum stattfinden. Das ist in mehrfacher Hinsicht bedauerlich: Viele der von Schmidt benannten Phänomene osteuropäischer Religiosität sind von der Kirchengeschichtsschreibung kaum je in den Blick genommen worden. Bereits ihre Wahrnehmung würde eine Horizonterweiterung bedeuten. Aber darüber hinaus nähert sich Schmidt von seiner religionswissenschaftlich inspirierten Seite einem Feld, dem in einer zu entwickelnden „Kirchlichen Zeitgeschichte Osteuropas“ eine hohe Bedeutung zukommen muss: dem religiösen Synkretismus, der Verquickung von magischen und christlichen Vorstellungen, die in Gebieten Osteuropas in der Volksfrömmigkeit verbreitet und tief verwurzelt ist. Für die Beobachtung der Wechselwirkungen und dem gegenseitigen Generieren von Entwicklungen, auch bei grundsätzlicher Gegensätzlichkeit oder Feindschaft, ist weder das Konflikthafte noch das Gemeinsame wesenhaft, sondern das Zusammenspiel bei der Konstruktion von religiösen Identitäten. Das wiederum spiegelt sich im besten Falle auch in dem Zusammenwirken der an der Beobachtung beteiligten wissenschaftlichen Fächer wider. 8 Auch für diese Problemkonstellation sei ein Exempel herausgegriffen: In der Ostkirchenkunde, allzumal der kirchennahen, gilt die Russische Orthodoxe Kirche als diejenige mit den meisten Kirchenmitgliedern weltweit. Die Angabe, ca. 80 % der russischen Bevölkerung sei orthodox gläubig, findet sich in zahlreichen Publikationen, wird hartnäckig ventiliert und ist, als Weiterführung der Zuschreibung, die v. a. von der Kirchenleitung der Russischen Orthodoxen Kirche verbreitet wird, Russland stehe im Zeichen einer „geistlichen Wiedergeburt“, Auslöser mehr oder weniger offener Bewunderung. Wie kommt nun diese Zahl von bis zu 80 % Russen orthodoxen Glaubens zustande? Da die Russische Orthodoxe Kirche wie die meisten orthodoxen Kirchen keinen Mitgliederstatus kennt oder Kirchenmitgliedschaft nicht wie in Deutschland über die Zahlen derer angegeben werden kann, die Kirchensteuer entrichten, ist man bei der Erhebung von Zahlen zur Kirchenzugehörigkeit auf Statistik-Institute und -Institutionen angewiesen. In Umfragen werden Teilnehmer und Teilnehmerinnen um Auskunft gebeten, welcher Religion / Kirche sie sich zugehörig fühlen. Die dabei generierten Zahlen von Befragten, die sich selbst als orthodox gläubig ansehen, sind in der Tat signifikant höher als die Kirchenmitgliederzahlen der deutschen Großkirchen. Allerdings verbirgt sich hinter diesen statistischen Ergebnissen ein heuristisches Problem, das nicht benannt wird: Die Verquickung von „orthodox-Sein“ und „russisch-Sein“ und die Determination der Umfrageergebnisse zur orthodoxen Gläubigkeit durch das russische Nationalbewusstsein. Dieses Problemfeld lässt sich nur durch eine präzise zeithistorische Analyse entschlüsseln, die an dieser Stelle lediglich skizzenhaft wiedergegeben werden kann: Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes wurde die Orthodoxie zum Fundament der russischen Nationalidentität, zum „identity marker“ (Bremer, Kreuz, 200). Sie bekam dadurch eine hohe kollektive Bedeutung, und zwar durchgehend in allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen, nach dem Motto: „Wer nicht orthodox ist, ist kein Russe“ (Behrens, Kirche, 117–129, bes. 120–122). Zu welchen, besonders für die Kirchengeschichts-
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Im Folgenden soll auf beide, die „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ im Wesentlichen tangierenden Bereiche, und zwar die Ostkirchenkunde und die historische Osteuropaforschung, näher eingegangen werden, um ihre jeweilige Bedeutung für das hier behandelte Thema herauszukristallisieren. 2.1 Ostkirchenkunde Die „Ostkirchenkunde“ ist eine Disziplin der Theologie, die teils der Konfessionskunde, teils der Kirchengeschichte zugeordnet wird. Sie kann gleichermaßen „als historisches und als systematisches Fach“9 verstanden werden und beschäftigt sich mit den Charakteristika, der Gestalt, der Theologie und Frömmigkeit – zu der der Gottesdienst, d. h. die Liturgie, als grundlegender theologischer Ausdruck der Orthodoxie gehört – sowie mit der Geschichte von Kirchen des Ostens. Prinzipiell geht es dabei um den Zeitraum von etwa 2000 Jahren, allerdings gibt es eine starke Interdependenz zwischen Ostkirchenkunde und Patristik10. Dementsprechend kommt es in der Ostkirchenkunde zwar durchaus zur Bearbeitung von Aspekten kirchlicher Zeitgeschichte, allerdings in überschaubarem Umfang. In konfessioneller Hinsicht gibt es zunächst einmal keine Einschränkunschreibung, ausgesprochen paradoxen Resultaten das führt, zeigt pointiert die Aussage Gennadij Zjuganovs, des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Russlands, der verlauten ließ, ein „orthodoxer Gläubiger muss nicht unbedingt an Gott glauben, es gibt auch ,orthodoxe Atheisten‘“ (zitiert nach Donath, Bart). Bereits 1992 konstatierte der russische Soziologe und Politikwissenschaftler Juri Levada in Bezug auf Russland: „Wir haben es mit einem areligiösen Volk zu tun, das auf Religion baut.“ (zitiert nach Behrens, Kirche, 112). Diese Hintergründe werden in der Ostkirchenkunde, die sich auf die „religiöse Renaissance“ Russlands kapriziert, nicht wahrgenommen. Das verstellt sowohl die Diskussion zwischen den Fachbereichen und den Fächern als auch Vergleiche von Säkularisierungsprozessen in Ost- und Westeuropa, die für eine europäische kirchliche Zeitgeschichtsschreibung von hohem Interesse sein dürften. Betrachtet man Daten zu der Beteiligung am Gottesdienst, nähert sich Russland den frugalen westeuropäischen Verhältnissen überraschend an: Laut einer Statistik der Moskauer Religionssoziologin Olga Sibirjowa von 2009 besuchen etwa 3,3 % der russischen Bevölkerung anlässlich großer kirchlicher Feiertage wie Ostern, dem größten Fest der Orthodoxie, die Kirche, und der Anteil regelmäßiger Kirchgänger liegt bei einer Zahl zwischen 0,4 % und 4 % der Gesamtbevölkerung (Sibirjowa, Satan, 11). Für eine „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ sind hier relevante Forschungsfelder mit starker Bedeutung bis in die unmittelbare Gegenwart gegeben. Angesichts der Überlappung von Kirchlichkeit, Religiosität, Kulturalität und gesellschaftspolitischer Mentalität ist sie in Erweiterung der Ostkirchenkunde und als Zweig der Kirchengeschichte besonders herausgefordert. 9 Bremer, Ostkirchenkunde, 1023. 10 Vgl. Felmy, Ostkirchenkunde, 6 f. Felmy zählt zu weiteren starken Interdependenzen diejenigen zwischen Ostkirchenkunde und alt- und neutestamentlicher Wissenschaft sowie zwischen Ostkirchenkunde und Liturgiewissenschaft (Ebd., 7–9). Das Studium der Ostkirchen habe aber, so Felmy weiter, „auch eine politische Dimension, und es wäre sinnvoll, wenn sie in der Politik zur Kenntnis genommen würde“ (Ebd., 9). Damit befindet sich die Ostkirchenkunde in unmittelbarer Gesellschaft der kirchlichen Zeitgeschichte.
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gen, aber üblicherweise stehen im Fokus der Ostkirchenkunde orthodoxe, orientalische und griechisch-katholische bzw. unierte Kirchen. Dadurch ist auch der regionale Rahmen neben dem zeitlichen in der Ostkirchenkunde wesentlich größer als der einer „Kirchlichen Zeitgeschichte Osteuropas“ und prinzipiell, unter Einbezug der Diasporakirchen weltweit, global ausgerichtet. Schwerpunkte sind der Nahe Osten und, in der Tat, Osteuropa. Da die Ostkirchenkunde an theologische Fakultäten angebunden ist, weist sie das Spezifikum des Konfessionellen auch im Fach selbst auf. Die Anzahl der Lehrstühle für Ostkirchenkunde an evangelischen theologischen Fakultäten wurde in den letzten beiden Jahrzehnten aufgrund der allgemeinen Stellenkürzungen deutlich eingeschränkt. Seit einem knappen Jahrzehnt ist von einem im „Niedergang“ befindlichen Fach die Rede11. 2013 wiesen der Berliner Kirchenhistoriker und Ostkirchenkundler Heinz Ohme und seine Mitarbeiterin Jennifer Wasmuth in einem Aufsatz an prominenter Stelle auf die prekäre Situation der universitären orthodoxen Konfessionskunde bzw. Ostkirchenkunde hin12, die, so traditions- und erfolgreich sie auch im 20. Jahrhundert gewesen sein mag, in den letzten Jahrzehnten enormen ökonomischen Einschnitten zum Opfer fiel. Derzeit sind noch an der Humboldt-Universität Berlin, an den Universitäten in Marburg, Erlangen, Göttingen und Halle entsprechende Professuren zu finden, oder es werden durch Fachvertretungen und Lehraufträge entsprechende Studiengänge aufrechterhalten. Zu den Lehrstühlen für Ostkirchenkunde an katholischen theologischen Fakultäten zählen die Professur für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung am Ökumenischen Institut an der Universität Münster sowie die Schwerpunkte Ostkirchengeschichte an den Lehrstühlen für Alte Kirchengeschichte und Patrologie der Universitäten Erfurt und Eichstätt-Ingolstadt. Zwei Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen für orthodoxe Theologie ergänzen die Auflistung: Zum ersten die Ausbildungseinrichtung für Orthodoxe Theologie der Universität München und zum zweiten der Lehrstuhl für Kulturgeschichte des orthodoxen Christentums am Seminar für Religionswissenschaft an der Universität Erfurt. An all diesen Lehrstühlen wird, teilweise nur punktuell, teilweise auf etwas breiterer Basis, osteuropäische kirchliche Zeitgeschichte betrieben. Eine Arbeitsgemeinschaft, die „wissenschaftlich arbeitende[…] Institute und Einzelpersonen“ im deutschsprachigen Raum „zur Förderung der Er-
11 In einem Aufsatz des Marburger Ostkirchenkundlers Karl Pingg8ra von 2013 kommt das bereits im Untertitel zum Ausdruck: „Ein Jahrhundert Ostkirchenkunde. Aufstieg und Niedergang einer theologischen Disziplin“ (Pingg8ra, Jahrhundert). 12 Vgl. Ohme / Wasmuth, Lage.
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forschung des christlichen Ostens“13 vernetzt, ist die Gesellschaft zum Studium des Christlichen Ostens (GSCO). Neben der universitären Arbeit treten bei der Untersuchung zeitgeschichtlicher Phänomene Forschungsinstitute hervor, die sich mit Ostkirchenkunde beschäftigen und sich in kirchlicher Trägerschaft befinden. Die römisch-katholische Kirche ist hier signifikant engagierter als die evangelischen Kirchen. Nur summarisch seien genannt das Ostkircheninstitut der Diözese Regensburg14, das aus dem Ostkirchlichen Institut Regensburg hervorging, welches wiederum in den 1960er Jahren als Einrichtung der Deutschen Bischofskonferenz gegründet wurde, das Ostkirchliche Institut Würzburg als An-Institut der Universität Würzburg sowie das Ostkirchliche Zentrum Erlangen-Nürnberg-Bamberg. All diese Einrichtungen arbeiten eng mit kirchlichen Vereinen oder Stiftungen zusammen, z. B. mit der Wiener Stiftung Pro Oriente, dem Fribourger Institut für Ökumenische Studien, dem Osteuropa-Hilfswerk der römischkatholischen Kirche Renovabis oder dem Institut G2W – Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West in Zürich, dessen Trägerverein auch über eine deutsche Sektion verfügt. Auf evangelischer Seite sind als Arbeitswerke, die u. a. in Osteuropa wirken und sich dadurch mit zeitgeschichtlichen Fragestellungen beschäftigen, das Gustav-Adolf-Werk (GAW) und der Martin-Luther-Bund zu nennen. Wichtige Publikationsorgane, die mitunter auch Untersuchungen zur osteuropäischen kirchlichen Zeitgeschichte veröffentlichen, sind die vom Ostkirchlichen Institut Würzburg seit den 1950er Jahren verantworteten „Ostkirchlichen Studien“ oder das von der Ausbildungseinrichtung für Orthodoxe Theologie der Universität München herausgegebene „Orthodoxe Forum“ sowie die Zeitschrift „Religion und Gesellschaft in Ost und West“ des Instituts von G2W. G2W gibt darüber hinaus zusammen mit Renovabis den zweiwöchentlich erscheinenden „Nachrichtendienst östliche Kirchen“ (NÖK) heraus. Ebenso nimmt das Jahrbuch des GAW immer wieder auch zeithistorische ostkirchliche Themen auf, insbesondere der lutherischen Kirchen in Osteuropa.
13 Homepage der GSCO (http://www.gsco.info/index.php?id=2 [15. 6. 2020]). 14 Die Betreuung von Stipendiaten des Regensburger Instituts wird seit 2013 vom Johann-AdamMöhler Institut Paderborn übernommen, ein an die katholische theologische Fakultät der Universität Paderborn angeschlossenes ökumenisches Institut, das sowohl Forschungsaufgaben wahrnimmt als auch praktisch in ökumenischen Dialogen engagiert ist. Durch einen Direktor, der speziell Aufgaben im Ostkirchenbereich wahrnimmt, weist das Johann-Adam-Möhler Institut ebenfalls ein starkes Profil im Bereich der Ostkirchenkunde auf.
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2.2 Osteuropakunde „Osteuropakunde“ oder „Osteuropaforschung“ ist ein Teilbereich entweder der Geschichtswissenschaft oder der Politikwissenschaft15. Als „Ostforschung“ um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ins Leben gerufen, und mit einer bewegten Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde die Osteuropaforschung in Verbindung mit der Slawistik und durch den Ausbau in der Politikwissenschaft vorangetrieben, seit den 1950er Jahren in Westdeutschland und besonders in der Zeit des Kalten Krieges eine etablierte Fachrichtung. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90 geriet das Fach in Legitimationsnot: Gefragt waren, so der renommierte Fachbuchautor und Osteuropahistoriker an der Europa-Universität Viadrina Karl Schlögel, „eine neue Gegenstandsbestimmung und eine neue Selbstbegründung der Osteuropastudien.“16 Auch hier kam die These „vom ,Ende der osteuropäischen Geschichte‘ als eines eigenständigen Fachs“17 auf. An dieser Situation hat sich in den letzten 30 Jahren nur phasenweise etwas geändert. Die Osteuropakunde und Osteuropaforschung verzeichnete einen Rückgang des bildungspolitischen Interesses, der sich spürbar auswirkt: Auch in diesem Fach werden trotz der aktuellen und der praktischen Relevanz des Forschungsfeldes Budgets gekürzt und Lehrstühle gestrichen18. Die gesamte Lage des Forschungsfeldes Osteuropa in Deutschland bleibt nicht ohne Folgen. In einem Interview äußerte bereits 2013 Manfred Huterer, Botschafter und damaliger Referatsleiter für Russland, Belarus, Ukraine, Moldau und Östliche Partnerschaft, die „fachliche Expertise der Think Tanks zu Osteuropa“ sei für die Arbeit des Auswärtigen Amtes „sehr wichtig“. Es gebe aber „einen problematischen Befund: Das Niveau der analytischen 15 „Osteuropäische Geschichte“ als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft wird aufgrund ihrer Genese aus der deutschsprachigen historischen Osteuropaforschung und der wesentlichen inhaltlichen Übereinstimmung mit derselben an dieser Stelle unter „Osteuropakunde“ subsumiert, auch wenn sie punktuell andere institutionelle Anbindungen und ausschließlich historische Schwerpunktsetzungen aufweist (vgl. Troebst, Sonderweg). 16 Schlçgel, Spur, 11. 17 Ebd. 18 Als Beispiel für teilweise absurde Entwicklungen sei die Schilderung des Südosteuropahistorikers Holm Sundhaussen angeführt, der die Schließung des einzigartigen Magisterstudiengangs Balkanologie Mitte der 1990er Jahre am Osteuropa-Institut der FU Berlin exakt während des Bosnienkrieges beklagte, als „jedem Beobachter klar war, daß der Balkan über einen langen Zeitraum hinweg auf der Agenda der europäischen und deutschen Politik stehen würde.“ (Sundhaussen, Editorial). Wenige Jahre später, 1999, rief die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften eine „Balkan-Initiative“ ins Leben, nachdem ihr Präsident die „Abwesenheit“ der Wissenschaft in den Diskursen zu dem Jugoslawien- und dem Kosovo-Krieg gegeißelt hatte, und die Studenten als „reglos“, die Assistenten als „unsichtbar“ und die Professoren als „stumm“ bezeichnete. Der „Balkan-Initiative“ traten die Berliner Hochschulen bei, einschließlich der FU, die kurz zuvor ihren Studiengang Balkanologie abgeschafft hatte (vgl. ebd.).
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Durchdringung der Probleme im gesamten eurasischen Raum hat nachgelassen.“19 Studien- und Teilstudiengänge20 für Osteuropastudien, Osteuropakunde, osteuropäische Geschichte oder Geschichte von Regionen Osteuropas gibt es derzeit an der Humboldt-Universität und der Freien Universität Berlin sowie – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – an den Universitäten Augsburg, Bamberg, Bielefeld, Bochum, Bonn, Bremen, Düsseldorf, Eichstätt-Ingolstadt, Erlangen-Nürnberg, Frankfurt (Oder), Freiburg i. Br., Gießen, Göttingen, Greifswald, Halle-Wittenberg, Hamburg, Heidelberg, Jena, Kiel, Köln, Konstanz, Leipzig, Mainz, München, Münster, Oldenburg, Passau, Regensburg, Siegen und Tübingen. Dieses recht umfangreiche Portfolio erweckt auf den ersten Blick das Bild eines universitär gut abgesicherten Faches. Allerdings täuscht dieser Eindruck insofern, als dass diese Studiengänge in der Mehrzahl keineswegs an Professuren oder Lehrstühle angebunden sind, sondern entweder durch universitäre Kooperationen oder durch fächerübergreifende Studiengänge abgedeckt werden. Forschungsleistungen sind in solchen Fällen so gut wie nicht zu verzeichnen. Diese werden in hohem Maße im Bereich der drittmittelgeförderten Forschung erbracht, deren Bedeutung für die Osteuropakunde kaum zu überschätzen ist, die allerdings aufgrund ihrer eher kurzfristigen und keinen stringenten Forschungslinien folgenden Ausrichtung zu der Inkohärenz des gesamten Forschungsfeldes beiträgt. Angebunden ist die (drittmittelgeförderte) Osteuropaforschung inzwischen mehrheitlich an außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Diese können zwar mit universitären Einrichtungen verbunden sein, operieren aber organisatorisch, finanziell und in Bezug auf die Auswahl der Forschungsthemen eigenständig, meist auf der Grundlage von Stiftungen. Eine der jüngsten Institutsgründungen ist das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin, das 2016 als interdisziplinäres, internationales und unabhängiges Forschungszentrum ins Leben gerufen wurde. Hintergrund der Etablierung von ZOiS, so die Darstellung bei der Eröffnung des Instituts im März 2017, sei die „seit 1989 rückläufige Osteuropakompetenz in Deutschland“21. Im Fokus der Arbeit stehe „die mittelfristig angelegte gesellschaftsrelevante Forschung zu Osteuropa“, konkret die Vernetzung von Forschungseinrichtungen und anderen Organisationen mit Bezug zu Osteuropa sowie neben der Nachwuchsförderung „der Transfer von Forschungsergebnissen in Politik, Medien und Öffentlichkeit“22. Es komme nicht nur darauf an, mit den Forschungsergebnissen „an bestehende Debatten anzuschließen, sondern auch aktiv Themen zu generieren“23. Zu einem der 19 20 21 22 23
Strategie, 275. Z. B. als Baustein von Europastudiengängen, Transformationsstudien etc. Offizieller Auftakt. Ebd. Ebd.
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vier Arbeitsschwerpunkte des ZOiS gehört derzeit auch ein explizit theologisches Thema, das im Schnittbereich von kirchlicher Zeitgeschichte und Ethik angesiedelt ist. Die Forschungsstelle Osteuropa (FSO) an der Universität Bremen wurde 1982 mit dem Ziel gegründet, „die zeitgenössischen Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft der Länder Ostmittel- und Osteuropas zu erforschen“24. Heute versteht sich die FSO „als ein Ort, an dem der Ostblock und seine Gesellschaften mit ihrer spezifischen Kultur aufgearbeitet sowie die gegenwärtige Entwicklung in der post-sowjetischen Region analysiert werden“25. Die Arbeit gliedert sich in die drei Bereiche „Forschung“, „Archivierung“ und „Wissenstransfer“. Forschungsfelder sind im Wesentlichen die „geteilten Welten von Akteur/innen aus Dissens, Konsens, Staat und Partei“ sowie „Netzwerk- und Korruptionsforschung“ und die „Funktionsweise (post-)autoritärer Regime“. Darüber hinaus sammelt und archiviert die Forschungsstelle seit den 1980er Jahren zeithistorische Quellendokumente. Breite Wirkung in die interessierte Öffentlichkeit, in Politik und Gesellschaft hinein, entfaltet der von der FSO, der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO), auf die noch zu sprechen sein wird, dem ZOiS und weiteren Einrichtungen der Osteuropaforschung herausgegebene E-MailDienst „Länder-Analysen“. In Form von Länderberichten und -studien wird zu aktuellen Entwicklungen in Weißrussland, Polen, Russland, der Ukraine und auf dem Gebiet des Kaukasus und Zentralasiens Stellung genommen. In größeren Abständen kommen auch Themen der osteuropäischen kirchlichen Zeitgeschichte Osteuropas zur Sprache26. Wie die FSO sind manche der hier vorgestellten Forschungsinstitute, die organisatorisch und finanziell unabhängig operieren, als An-Institute oder in anderen Kooperationsformen mit Universitäten vernetzt. Paradigmatisch zu nennen sind das 1994 ins Leben gerufene Nordeuropa-Institut an der Humboldt-Universität Berlin und das Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien (ZIMOS) an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, das ebenfalls 1994 aus Stiftungsgeldern der Universität gegründet wurde27. Auch das Nordost-Institut – Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e. V. (IKGN e. V.) ist An-Institut einer Universität, und zwar der Universität Hamburg, wird aber aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) sowie aus Drittmitteln finanziert. Es entstand im Jahr 2002 aufgrund der von der Bundesregierung 24 Sessmuth, Geleitwort, 12. Zur Entstehungsgeschichte vgl. auch das Zeitzeugeninterview von Manfred Sapper mit Henning Scherf, Senator der Freien Hansestadt Bremen für Jugend und Soziales zur Zeit der Gründung der FOS: Scherf, Forschungsstelle. 25 So die Selbstdarstellung auf der Homepage der FSO (https://www.forschungsstelle.uni-bremen. de/de/2/20110606110855/Die_Forschungsstelle.html [16. 6. 2020]). 26 Vgl. https://www.laender-analysen.de/ [15. 6. 2020]. 27 Vgl. die Homepages der Einrichtungen (https://www.ni.hu-berlin.de/de [18. 6. 2020] und https://www.ku.de/forschungseinr/zimos/ [18. 6. 2020]).
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2000 beschlossenen „Konzeption zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa“. Im Orientierungsrahmen „Ordnungen, Aneignungen und Erfahrungen“ wird in dem Institut zu den Regionen „Baltische Staaten“, „Polen“ und „Russland/Ukraine“ sowie zu dem Thema Sozial- und Mentalitätsgeschichte geforscht. Daneben fungiert das Nordost-Institut als Herausgeber der Zeitschrift „Nordost-Archiv“28. Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg ist ebenfalls ein Forschungsinstitut mit Schwerpunkt auf der Erforschung des nördlichen Ostmittel- bzw. Osteuropa, der Wissensvermittlung sowie der Erschließung von Sammlungsbeständen. Eng verbunden ist das außeruniversitäre Leibniz-Institut mit dem Osteuropa-Lehrstuhl des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen29. Generell ist an dieser Stelle auf die Institute der Leibniz-Gemeinschaft hinzuweisen, die sich dezidiert mit der Geschichte Osteuropas beschäftigen oder die in größerem Umfang die osteuropäische Geschichte in den Blick nehmen. Ein Beispiel für ein solches Institut ist das 1995 in Leipzig auf Vereinsbasis gegründete Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), das 2003 den Status eines An-Instituts der Universität Leipzig erhielt und 2017 Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft wurde. Am GWZO wird geschichtlich in der „gesamte[n] historische[n] Tiefe vom Übergang der Antike zum Mittelalter bis in die Gegenwart“30 im Rahmen von fünf, thematisch sehr weit gespannten Tätigkeitsschwerpunkten geforscht. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit nimmt hier, wie auch an auffällig vielen Instituten der Osteuropaforschung, einen großen Raum ein. Themen der Religions- und Kirchengeschichte sind am GWZO allerdings nur marginal vertreten. Um auf ein Leibniz-Institut hinzuweisen, das mit seiner Fokussierung einen breiteren Forschungsrahmen als den osteuropäischen besitzt, diesen aber auch bedient, sei das Institut für Europäische Geschichte in Mainz (IEG) angeführt. Es beschäftigt sich mit „der Erforschung der historischen Grundlagen Europas“31. Mit der Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte neben der Abteilung für Universalgeschichte besitzt das Institut eine dezidiert kirchenhistorische Ausrichtung und initiiert und betreut zahlreiche Projekte, die sich mit der kirchlichen und religiösen Entwicklung Europas und dem-
28 Vgl. die Selbstdarstellung auf der Homepage des Instituts (https://www.ikgn.de/cms/index.php/ institut [17. 6. 2020]). 29 Vgl. die Selbstdarstellung auf der Homepage des Instituts (https://www.herder-institut.de/start seite.html [1. 6. 2020]). 30 So in der Selbstdarstellung auf der Homepage des GWZO (https://www.leibniz-gwzo.de/de/for schung/forschungsspektrum [5. 6. 2020]). 31 Vgl. Homepage der Leibniz Gemeinschaft (https://www.leibniz-gemeinschaft.de/institute/leib niz-institute-alle-listen/leibniz-institut-fuer-europaeische-geschichte-mainz.html [5. 6. 2020]).
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zufolge auch Osteuropas beschäftigen. Dazu gehören punktuell auch zeithistorische kirchengeschichtliche Themen32. Zwei Osteuropa-Institute, die beide schon in den 1950er Jahren gegründet wurden, sind seit Jahrzehnten wichtige Säulen der Osteuropaforschung in Deutschland: Zum einen handelt es sich um das Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin, das Osteuropastudien als Masterstudiengänge anbietet und u. a. seit 1954 die Publikationsreihe „Forschungen zur osteuropäischen Geschichte“ verantwortet, in der wiederum zu einem großen Teil zeitgeschichtliche Arbeiten publiziert werden33. Zum anderen ist es das heutige Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg (IOS Regensburg), das 2012 aus der Fusion des Münchener Südost-Instituts und des Münchener Osteuropa-Instituts hervorging. Als An-Institut der Universität Regensburg wurde es 2017 Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und ist eines „der größten und traditionsreichsten außeruniversitären Forschungseinrichtungen seiner Art in Deutschland“34. Neben der interdisziplinären und personell international besetzten Forschung ist das Regensburger Institut Herausgeber von zahlreichen Zeitschriften zur südosteuropäischen Forschung sowie der „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas“35. Die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO), bereits als Mitherausgeberin des E-Mail-Dienstes „Länder-Analysen“ erwähnt, ist mit knapp 900 Mitgliedern der größte deutsche Verbund von Interessentinnen und Interessenten an Osteuropathemen. Sie wurde 1913 gegründet, hat ihren Sitz in Berlin und verfügt über 20 Zweigstellen in Universitätsstädten im deutschsprachigen Raum. Neben den „Länder-Analysen“ gibt sie die interdisziplinäre Zeitschrift „Osteuropa“ und „Osteuropa-Recht“ heraus. „Osteuropa“ ist eine der renommiertesten Zeitschriften im Bereich der Osteuropaforschung, die langfristige Trends in Gesellschaft, Politik und Kultur osteuropäischer Länder analysiert. Vereinzelt kommen auch hier Themen der kirchlichen Zeitgeschichte zur Sprache36. Darüber hinaus gelten als Orte osteuropäischer Forschung auch die beiden nach 1990 gegründeten Deutschen Historischen Institute (DHI) in Warschau (seit 1993) und Moskau (seit 2005). Sie wurden neben den vier bereits existierenden Instituten in Rom, Paris, London und Washington speziell für die 32 Vgl. die Darstellung auf der Homepage des IEG (https://www.ieg-mainz.de/ [5. 6. 2020]). 33 Vgl. Stegelmann, Berliner Osteuropa-Institut sowie die Homepage des Instituts (https://www. oei.fu-berlin.de/ [15. 5. 2020]). 34 So die Darstellung auf der Homepage des Instituts (https://www.ios-regensburg.de [15. 6. 2020]). 35 Zu dieser Aufzählung kommen je nach Definition von „Osteuropa“ noch Forschungseinrichtungen hinzu, die sich dezidiert mit Polen, dem Baltikum, der Slowakei oder Ungarn beschäftigen. 36 Zur DGO vgl. die Darstellung auf der Homepage der Gesellschaft (https://www.dgo-online.org/ [15. 6. 2020]) sowie die Ausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“ zum 100jährigen Jubiläum der DGO im Jahr 2013 „Zeit im Spiegel. Das Jahrhundert der Osteuropaforschung“.
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Ausbildung osteuropäischer Expertise und den Wissenschaftsdialog mit den entsprechenden Ländern errichtet und werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert. Für die „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ ist das Fach Osteuropakunde von elementarer Bedeutung, da in der Osteuropaforschung – neben zahlreichen weiteren – mitunter auch kirchliche, konfessionelle und religiöse Phänomene der Zeitgeschichte behandelt werden. Allerdings kann die große Bandbreite der institutionellen Aufstellung der beiden Fächer Ostkirchenund Osteuropakunde nicht darüber hinwegtäuschen, dass die osteuropäische kirchliche Zeitgeschichte in beiden Bereichen jeweils nur Randthema ist. Pointiert gesagt beschäftigt sich die Ostkirchenkunde nur marginal mit der Zeitgeschichte, die Osteuropakunde nur marginal mit kirchlichen Themen innerhalb der Zeitgeschichte. Dass sich darüber hinaus beide Fächer in einer Krise oder im Niedergang befinden, verbessert die Lage und die akademische Reichweite der „Kirchlichen Zeitgeschichte Osteuropas“ selbstredend nicht. 2.3 Kirchliche Zeitgeschichte: Deutschland Zumindest punktuell wird das Thema „Osteuropa“ bzw. „osteuropäische Geschichte“ auch seitens der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung in Deutschland aufgenommen. So bearbeiten die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte in München und die Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn u. a. Aspekte osteuropäischer kirchlicher Zeitgeschichte. Exemplarisch sei auf die „Gedenkbücher“ an die Märtyrer der Diktaturen des 20. Jahrhunderts hingewiesen37, in denen nicht nur die von bolschewistischer und stalinistischer Verfolgung Betroffenen Aufnahme fanden, sondern auch die jeweiligen historischen Hintergründe recherchiert wurden und zur Darstellung kommen. Grundsätzlich aber liegt der Fokus der Forschung der kirchlichen Zeitgeschichte als Teil des Faches Kirchengeschichte vorrangig auf dem deutschen Raum. Darüber hinaus wird „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ lediglich im Rahmen individueller Schwerpunktsetzungen an kirchengeschichtlichen Lehrstühlen betrieben.
37 Auf evangelischer Seite Schultze / Kurschat, Ende. Mit der Herausgabe des mehrbändigen „Deutschen Martyrologiums des 20. Jahrhunderts“ „Zeugen für Christus“ durch Helmut Moll im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, dessen erster Band 1999 erschien und das seitdem zahlreiche Auflagen erlebte, setzte die römisch-katholische Kirche ihren Märtyrern ein Denkmal.
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3. Versuch der thematischen Systematisierung oder : Forschungsthemen einer „Kirchlichen Zeitgeschichte Osteuropas“ 3.1 Der Forschungsrahmen Wandel der Forschungsinteressen Die globale Geschichte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts prägte und prägt ihre gegenwärtigen zeitgeschichtlichen Fokussierungen und Forschungsschwerpunkte. Auch die jeweilige Geschichte der Osteuropaforschung und der Ostkirchenkunde weist Ausformungen auf, die aus der eigenen Geschichte hervorgegangen sind. Grundsätzlich lässt sich konstatieren: Sei es aus politischen Gründen, sei es motiviert durch eine dynamische ökumenische Bewegung oder bedingt durch gesellschaftliche Strömungen, die einen Ausgleich im Kalten Krieg suchten – bis Ende der 1980er Jahre herrschte in Westdeutschland und Westeuropa ein deutliches öffentliches und kirchliches Interesse an Osteuropa vor, d. h. an der Sowjetunion und den Ostblockländern. Seit spätestens Mitte der 1990er Jahre hat das in der Gesamtheit signifikant nachgelassen. Ausnahmen bilden zeitlich begrenzte öffentliche Aufmerksamkeitsschübe angesichts tagesaktueller Ereignisse. „Wenn es zu politischen, speziell zu militärischen Auseinandersetzungen in Ländern kommt, in denen Christen östlicher Prägung leben“, so der Ostkirchenkundler Karl Christian Felmy, werde die Ostkirchenkunde „plötzlich in einem Bereich gefragt […], der sonst wenig Notiz von ihr nimmt“38. Für die Ostkirchenkunde besonders im evangelischen Bereich fallen mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust sowohl der ökumenischen Bewegung bzw. der ökumenischen Bindekraft als auch des konfessionellen Bewusstseins innerhalb der Kirchen – zwei nur bei oberflächlicher Betrachtung paradoxe Erscheinungen – wichtige Stützen der Arbeit weg. Diese Entwicklung verdeckt aber ein weitaus umfassenderes Problem: Die geringere öffentliche und historiografische Aufmerksamkeit für die osteuropäische als für die westeuropäische Geschichte oder aber die aus divergenter Bewertung beider hervorgegangene unterschiedliche Wahrnehmung von Geschichte. Dieser Umstand, der sich auf verschiedenen Ebenen unterschiedlich niederschlägt, kann an dieser Stelle nur konstatiert werden, ohne dass seine vielschichtigen und aus komplexen historischen Gemengelagen entstandenen Ursachen ausgelotet werden sollen39. Nur soviel sei angemerkt: Unterschiedliche Perspektiven der 38 Felmy, Ostkirchenkunde, 9. 39 Die unterschiedliche Bewertung von West- und Osteuropa und die Berührungsängste gegenüber Osteuropa gehören ebenfalls zu diesem Problemkreis. Die Faszination, die die Ostkirchen auf kirchliche Kreise der deutschen Großkirchen ausüben, da sie als stärker „die Sinne ansprechend“, farben- und gesangsfroher, meditativer, frömmer o. ä. als die westlichen Kirchen wahrgenommen werden, spiegelt in positiver Wendung ebenfalls das Empfinden von Fremdheit.
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Betrachtung von West- und Osteuropa, insbesondere was die Transformationsprozesse seit den 1990er Jahren und die demokratische Verfasstheit von Staaten anbelangt40, bergen die Gefahr der Aufstellung verschiedener Bewertungskriterien und damit der verzerrten Wahrnehmung von (historischer) Realität in Gesamteuropa41. „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ als Teil einer gesamteuropäischen kirchlichen Zeitgeschichte Der Wiener Osteuropahistoriker Andreas Kappeler mahnte im Hinblick auf eine gesamteuropäische Geschichtsschreibung an, die Konstruktion einer Geschichte Europas sei „nicht möglich als simple Erweiterung des im Westen entworfenen Baus, sondern sollte versuchen, die beiden interdependenten und komplementären Teile zu einem neuen Ganzen zu integrieren.“42 Dasselbe gilt für die gesamteuropäische Kirchengeschichtsschreibung, allzumal für die kirchliche Zeitgeschichte, die sich, nicht zuletzt auch aufgrund fehlender Kapazitäten, vornehmlich an den deutschen Gegebenheiten abarbeitet und von einer solchen Zusammenschau weit entfernt ist. Dabei könnte sie erheblichen Gewinn für die Kirchen- und Christentumsgeschichte bieten, da konventionelle Beziehungsgeflechte und Verhältnisbestimmungen unter neuen Perspektiven nicht nur wesentliche Erweiterungen, sondern gänzlich andere Gewichtungen erhalten. Das betrifft z. B. die Verbindung von Religion / Kirche und Gesellschaft, von Religion und Staat, von Kirche und Demokratie, von Religiosität und Kultur. Die Liste ließe sich fortsetzen und kann in Antworten auf die Fragen nach dem Verhältnis von Kirche – Religion – Religiosität zulaufen, nach einem erweiterten Spektrum von Säkularisierungsund Ent-Christianisierungsprozessen, u. a. durch assimilatorische Vorgänge zwischen Kultur, Politik und Religion – hier stellen die jüngeren Forschungen zur „politischen Orthodoxie“43 oder „politischen Religion“ bemerkenswerte Ansätze seitens der osteuropäischen Forschung dar – und davon ausgehend
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Zu dem „Fremden“ als prägendes Element auch in der Osteuropaforschung vgl. Kusber, Kontinuität. Vgl. dazu den instruktiven Beitrag von Beichelt, Parallelen. Beispielhaft sei auf die Transformationsforschung hingewiesen, die seit den 1990er Jahren besonders im Blick auf Osteuropa Konjunktur hat. Sie „stellt den wichtigsten Forschungszweig dar, der sich mit der Politik im postsozialistischen Raum beschäftigt“ (Ebd., 278). Bemerkenswerterweise fehlen hier aber oft die Ansätze, die die Veränderungen in Westeuropa denen in Osteuropa (nach gleichen Parametern) komparatistisch gegenüber- oder an die Seite stellen. Das erweckt den trügerischen Eindruck, dass in Westeuropa die Verhältnisse stabiler bzw. seit 1989/90 statisch geblieben sind, während sich Osteuropa in einem permanenten Prozess des Wandels befindet. Dadurch tritt, häufig unbemerkt subkutan oder sogar im Nachgang dementiert, eine Zuschreibung von „sicher“ versus „unsicher“ ein. Kappeler, Bedeutung, 55. Vgl. Hovorun, Political Orthodoxies; ders., „Politische Orthodoxie“. Der Begriff „politische Orthodoxie“ kann durch den Terminus „kulturelle Orthodoxie“ eine Erweiterung erfahren.
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nach der Rolle der Kirche in gesellschaftlichen Transformationen – dies alles unter gesamteuropäischer oder west-östlicher Gesamtperspektive. Akteure der Forschung und ihre Zusammenarbeit Christoph Schmidt, Leiter der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Köln – eine der Einrichtungen, die aktuell abgewickelt wird44– leitet in seine bereits erwähnte, 2014 erschienene „Religionsgeschichte Osteuropas“ mit der Feststellung ein, dass in sowjetischen Zeiten „Kirchen- und Geistesgeschichte systematisch vereitelt, wenn nicht verfolgt“ wurden. „Ein Fach stand auf dem Index – und starb aus. Es hat daher seinen guten Grund, wenn Osteuropa zur Kirchengeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert kaum etwas beisteuern konnte.“45 Nach dem Ende der Sowjetunion habe die Zahl religionsgeschichtlicher Veröffentlichungen zwar deutlich zugenommen, aber bei näherem Hinsehen stelle sich heraus, „dass es den Autoren oftmals um Heimatkunde geht“. Die zahlreichen nordamerikanischen Arbeiten zur osteuropäischen Kirchengeschichte, so Schmidt weiter, würden teilweise als übergriffige Zuschreibungen empfunden. Sie seien häufig tatsächlich nicht unproblematisch, da amerikanische Wissenschafts- und Werteparadigmen auf Russland übertragen würden46. Ein etwas differenzierteres Bild der Lage der Kirchengeschichtsforschung in Russland, die an dieser Stelle paradigmatisch für Entwicklungen in ganz Osteuropa steht, welche aus westeuropäischem Blickwinkel kaum wahrgenommen werden, ergibt sich bei der Betrachtung aus russischer Perspektive selbst. So erläuterte der russische Historiker und Mitarbeiter am Zentrum für Religions- und Kirchengeschichte des Instituts für Allgemeingeschichte der Rossijskaja Akademija Nauk (RAN), der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexej Lvovicˇ Beglov in einem 2009 durchgeführten Interview, es sei beeindruckend gewesen, als in den 1980er und 90er Jahren an säkularen Forschungseinrichtungen wissenschaftliche Abteilungen gegründet wurden, die sich auf das Studium der Kirchengeschichte spezialisierten. Man solle nicht davon ausgehen, so Beglov, dass die „wissenschaftlichen Atheisten“ von gestern nur einen Hebel umgelegt und plötzlich angefangen hätten, sich der Religionswissenschaft zuzuwenden. Mit diesen Problemen beschäftigten sich bis in die Gegenwart seriöse Historiker, die sich dafür schon zur sowjetischen Zeit interessierten, aber erst jetzt die Möglichkeit hätten, offen zu sprechen47. Beglov schildert in dem Interview, dass das erste Zentrum für Religions- und Kirchengeschichte am Institut für Russische Geschichte der RAN entstanden sei, das sich eher mit landeshistorischen Themen beschäftige, und das zweite 44 45 46 47
Vgl. u. a. Hanschke, Signal. Schmidt, Pilger, 10. Ebd. Vgl. 1 . ý . 2VT\_S, GVa[_S^_V `_U`_\mV (Übersetzung Gisa Bauer).
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am Institut für Allgemeingeschichte, das eine breitere Fokussierung habe und transnationale Themen bearbeite. Als eines der wichtigsten Projekte des letztgenannten Zentrums nennt Beglov den Vergleich der Staat-Kirche-Beziehung in Russland und Europa48. Zweifelsohne ist Schmidt zuzustimmen, wenn er beklagt, dass die nordamerikanische (und es ist hinzuzufügen: mitunter auch die westeuropäische und deutsche) Osteuropaforschung mehr oder weniger stark ausgeprägte Eigeninteressen an das Sujet ihrer Untersuchungen und Analysen herantrage. Umso bedeutender ist die Zusammenarbeit mit osteuropäischen Historikern und Kirchenhistorikerinnen, selbst wenn das Fach Kirchengeschichte in den entsprechenden Ländern auf keine lange Tradition zurückblicken kann und sich, zumindest teilweise, noch immer in Formierungs- und Selbstfindungsphasen befindet. Selbstredend müssen die politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Indienstnahmen beachtet werden, denen das Fach generell oder bei bestimmten Themen ausgesetzt ist – ebenso wie in Deutschland oder Westeuropa. Arbeitskooperationen mit osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen sind aber besonders auf dem Feld der deutschen Kirchengeschichtsforschung ausgesprochen selten und stellen eher Ausnahmen dar. Für eine „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ sind sie unabdingbar. Die von Schmidt genannten Probleme der Etablierung einer Kirchengeschichtsschreibung haben einige gravierende Folgen für die Lage der Forschung. Es fehlen häufig immer noch Quelleneditionen zur Kirchengeschichte im umfassenden Stil sowie größere Institutionengeschichten. Für manche Themenbereiche wird das auch in der Forschung in Deutschland versucht, auszugleichen49. Darüber hinaus aber sind eine Fülle von differenzierten Untersuchungen renommierter osteuropäischer Historikerinnen und Historiker zu Aspekten von Religiosität und Kirche nicht zuletzt aufgrund der Sprachbarrieren in Deutschland und in Westeuropa nicht bekannt, werden nicht erschlossen und können dadurch nicht genutzt werden.
48 Vgl. ebd. 49 Exemplifizierend ist die Universitätsgeschichte, die für die Kirchengeschichtsschreibung im Hinblick auf die akademische Integration der Theologie von Bedeutung ist, zu nennen. Noch 1999 hat der renommierte Historiker und Mediävist Ferdinand Seibt auf der Tagung „Universitäten zwischen Kirche, Staat und Nation. Sozialgeschichte und politische Entwicklungen im ostmitteleuropäischen Raum“ des Marburger Herder-Instituts und des Johann-FriedrichHerder-Forschungsrates das Ausstehen einer gesamteuropäischen Universitätsgeschichte kritisiert (Vgl. Seibt, Problem), wobei in dem Sammelband zu dieser Tagung die Darstellung osteuropäischer Universitäten durchaus nicht zu kurz kommt. Im 2001 erschienenen vierten Band des „Jahrbuchs für Universitätsgeschichte“ wird das Thema „Universitätsgeschichte in Osteuropa“ schließlich vertiefend, aber nicht erschöpfend präsentiert.
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3.2 Forschungsthemen Allgemeiner Überblick Im Gegensatz zur westeuropäischen Hemisphäre war der Osten Europas im 20. Jahrhundert verheerender von Kriegen betroffen, länger und umfassender totalitären Regimes und Diktaturen ausgesetzt und sowohl am Anfang als am Ende des Jahrhunderts intensiver in Transformationsprozesse der nationalen Identitätsfindung involviert. Diese Problemkonstellationen bieten neben komparatistischen Studien ein weites Feld für kirchenhistorische Forschungen. Noch breiter fächert Karl Schlögel den Themenkatalog für zukünftige Forschungen auf, indem er „alte Themen, die auf der Höhe der Zeit neu diskutiert werden können“, aufzählt: „Zivilisationsgeschichten, die die Fixierung auf das System hinter sich gelassen haben; Modernisierungsgeschichten, die frei sind von Rückständigkeitsmodellen und Kulturträgerideologien; eine Geschichte des Judentums im östlichen Europa, die sich nicht auf die Shoah reduzieren lässt; eine Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, die den völkischen Mief hinter sich gelassen hat und deren Erforschung weit mehr ist als nur die Erforschung der Vorgeschichte deutscher Verbrechen in dieser Region.“50
Auch vor diesem Hintergrund ergeben sich für eine „Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas“ eine ganze Fülle an Themen, die neben der wissenschaftlichen Evidenz auch eine geschichts- und kirchenpolitische sowie ökumenische Bedeutung aufweisen. Darüber hinaus ist, wie bereits im Abschnitt „,Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas‘ als Teil einer gesamteuropäischen kirchlichen Zeitgeschichte“ erörtert, trotz bisheriger Untersuchungen das Bild der Konnexion von Religion und Staat nach 1989/90 nach wie vor verwaschen. So sind die Art und Funktion von Beziehungen, die Ebenen, auf der sie erfolgen, und die Frage nach gegenseitiger Instrumentalisierung versus gemeinsamer Strategieentwicklung zu bedenken. Weiterhin sind transgenerationelle Frömmigkeitsverläufe zu erheben, der Einfluss nordamerikanischer Theologie zu thematisieren und die Entwicklung der jüngeren osteuropäischen Theologie, die Innen- und Außendarstellungen von Kirchen, die Hegemonialisierung von Theologie im Zuge der Globalisierung oder durch normative Vorgaben der EU zu untersuchen. Besonders sind hier die kirchliche Elitenforschung und die theologiegeschichtliche Forschung gefragt. Auch die Zusammenstellung aus dem Spektrum der Themen, die sich für die Zeit nach 1989/90 ergeben, ließe sich weiter fortführen. Im Folgenden seien zwei Aspekte, die weitere Forschungsthemen nach sich 50 Schlçgel, Spur, 29.
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ziehen, aus der überblicksartigen Aufstellung herausgegriffen und näher erörtert. Die Kirchen unter den Bedingungen der Diktatur Bemerkenswerterweise wird der Erforschung der Geschichte von Kirchen in den Diktaturen, so naheliegend das Thema angesichts der politischen Konstellation Osteuropas im 20. Jahrhundert auch ist, im Vergleich zur Erforschung ihrer Transformationen seit den 1980er Jahren derzeit relativ wenig Raum gegeben. Es scheint, als habe dieses Thema in der Zeit des Kalten Krieges eine wesentlich größere Rolle in der Forschung gespielt als das gegenwärtig der Fall ist. In der Tat ist die nur gering ausgeprägte Bereitschaft zur Vergangenheitsaufarbeitung in Ländern des ehemaligen Ostblocks und der Sowjetunion ein retardierendes Element innerhalb der Forschung in diesem Bereich. Allerdings sind auf dem Gebiet von Totalitarismus in seiner realen Kirchen- und Religionsfeindlichkeit und der fragilen Existenz von Religionen und Kirchen in den Diktaturen, von Verfolgung, Elimination, Komplizenschaft und Unterwanderung51, von der Ausprägung und Genese spezieller kirchenpolitischer Handlungsstile sowie von der Volksfrömmigkeit in Zeiten der Repressionen und Kirchenverfolgung, von dem Verhältnis zwischen Staat und Judentum oder Islam noch derartig viele Fragen offen, dass eine historiografische Bearbeitung dringend angeraten scheint. Und auch dabei sind vor dem Hintergrund, dass die orthodoxen Kirchen „über ganz andere Erfahrungen im Verhältnis von Kirche und Staat als die Kirchen des Westens“52 verfügen, vergleichende Studien anzumahnen. Der Ostblock als historisches „Weltsystem“ versus national fokussierte Forschung Aus der Beschäftigung mit den Kirchen unter den Bedingungen der Diktatur ergibt sich zwangsläufig die Betrachtung des ehemaligen Ostblocks und der Sowjetunion als transnationale, homogene, durch die Ideologie der Machthaber und den sich daraus ergebenden gesellschaftlichen, ökonomischen, 51 In der Darstellung „Das Christentum im 20. Jahrhundert: Fragen, Probleme, Perspektiven“ konstatiert der Historiker Hartmut Lehmann, die Geschichte des Christentums im 20. Jahrhundert halte zahlreiche Modelle für die Komplizenschaft von Kirchen mit Machthabern bereit. Angesichts des Umstandes, dass „sich viele Vertreter christlicher Kirchen äußerst wohl in der Gesellschaft der Herrschenden [fühlten], auch wenn deren Herrschaft auf Gewalt beruhte“, sei die Frage aufzuwerfen, ob „die Komplizenschaft vieler Christen mit autoritären Regimen und die daraus resultierende Kontamination der christlichen Lehre […] entscheidende Charakteristika des Christentums im 20. Jahrhundert“ gewesen seien (Lehmann, Christentum, 19). Diese Frage stellt sich für Osteuropa gerade wegen der Ambivalenz angesichts der Verfolgungssituation der Kirchen unter dem kommunistischen Regime und dem „Martyrium“ vieler Christen in besonderer Dringlichkeit, und harrt der weiteren Forschung und Aufarbeitung. 52 Felmy, Ostkirchenkunde, 11.
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politischen Formierungen verbundene Einheit, als Verflechtungsraum sui generis. In globalhistoriografischer Terminologie kann der osteuropäische Raum nicht nur als „Weltregion“, sondern als ein „Weltsystem“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden53. Keineswegs sollen die russische Dominanz im Sowjetstaat oder die nationalstaatlichen Aspekte der Geschichte der Sowjetunion ignoriert werden54, aber der Nationalstaat ist ein Forschungsrahmen, der für die Zeit vor 1917/18 und nach 1989/90 seine Berechtigung hat, jedoch für die Zeit dazwischen nur bedingt gebrauchsfähig ist. Umso irritierender ist die in den letzten Jahrzehnten immer stärker zunehmende Konzentration in der Öffentlichkeit und in der Geschichts- und besonders Kirchengeschichtswissenschaft auf Russland gewissermaßen als Repräsentanz Osteuropas und die damit evozierte Revitalisierung des Nationalen. In der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung zu Osteuropa schlägt sich das deutlich nieder : Die „Sowjetunion“ und „Russland“ sind mitunter Synonyme und stehen repräsentativ für „Osteuropa“55. Abgesehen von kirchlichen Selbstbeschreibungen, die trotz hagiografischer Tendenzen einen ersten Ansatzpunkt für Forschungen liefern können, kommen die orthodoxen Kirchen der Ukraine, Georgiens oder Sowjetarmeniens in Beiträgen zur Zeit vor 1989/90 eher selten zur Sprache56. Auffälligerweise war das in den frühen 1990er Jahren nicht derartig ausgeprägt57. 53 Zu „Weltregion“ und „Weltsystem“ vgl. Komlosy, Globalgeschichte, 166–210. Von Komlosy werden allerdings „Christentum“ und „Kapitalismus“ als „Weltsysteme“ geführt, ohne dass die Definition „Weltsystem“ eng gefasst und abgeschlossen wäre. Die These vom Ostblock als „Weltsystem“ des 20. Jahrhunderts kann noch dahingehend ausgeweitet werden, dass der historische Vernetzungsraum nicht nur die gemeinsame sozialistisch-kommunistische Vergangenheit aufweist, sondern auch nach 1990 gegeben ist, z. B. in den Reaktionen auf den globalen Kapitalismus und in dem Erstarken von Autoritarismus und Autokratien. 54 Vgl. besonders Kappeler, Rußland, sowie weitere Arbeiten des Wiener Osteuropahistorikers zum Thema. 55 Auffällig ist dies bei globalgeschichtlichen Darstellungen des Christentums, z. B. Schjørring / Hjelm / Ward, Geschichte. Bereits der von Schjørring und Hjelm vorgelegte 2. Teil zum 19. Jahrhundert ist auf Russland fixiert, aber im 3. Teil erscheint Russland nahezu als Quintessenz Osteuropas. Darüber hinaus ist der Beitrag „Das Christentum in Russland und im östlichen Europa“ von Thomas Bremer, der im Wesentlichen die Russische Orthodoxe Kirche behandelt, am Schluss des Bandes nach der Darstellung „Australien, Neuseeland und Ozeanien“ platziert. Möglicherweise ist das die Position, die Russland – und damit Osteuropa – in der allgemeinen kirchengeschichtlichen Wahrnehmung innehat: sehr weit weg. 56 Ein Beispiel für die eher seltene Aufnahme weiterer Kirchen neben der russischen in kirchenhistorischen Darstellungen der Zeitgeschichte stellt das 2016 erschienene Buch von Thomas Bremer, Katharina Kunter und der ebenfalls an der RAN arbeitenden russischen Kirchenhistorikerin Nadezhda Beljakova „,Es gibt keinen Gott!‘ Kirchen und Kommunismus. Eine Konfliktgeschichte“ dar. In einem eigenen Kapitel kommen nach den Darstellungen der „Kirchenpolitik der Sowjets“ in den 1920er Jahren (auch hier nur auf dem Gebiet des ehemaligen Russland) und der „Reaktion der orthodoxen Kirche“ (gemeint ist im Wesentlichen die der Russischen Orthodoxen Kirche) auch die „übrigen christlichen Kirchen in der Sowjetunion“ zur Sprache, d. h. die orthodoxen Kirchen in der Ukraine, in Georgien und Sowjetarmenien sowie
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Für die kirchliche Zeitgeschichtsschreibung bieten sich angesichts der religionsfeindlichen Ideologie innerhalb des „Weltsystems Ostblock“, der alle Kirchen gemeinsam ausgesetzt waren, ländervergleichende Studien oder transnationale Untersuchungen unmittelbar an. Auch der Umstand, dass die Orthodoxie als beherrschende Konfession in Osteuropa und Russland eine transnationale Größe darstellt, trotz der Verflochtenheit mit „ihren“ jeweiligen Nationalstaaten, und sich dadurch per se als Untersuchungsgegenstand transnationaler Studien eignet, ist in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigen. Die Vernetzungen der Kirchen innerhalb des „Weltsystems Ostblock“ einschließlich der über Jahrzehnte generierten ähnlichen Mentalitäten sind bisher aber noch kaum in den Blick genommen worden, zumindest nicht jenseits der Untersuchungen staatsnaher transnationaler Organisationen, z. B. der Christlichen Friedenskonferenz, oder Vernetzungen auf ökumenischer Basis. Forschungsleitende Fragen können sein: Wie und an welchen Punkten interagierten und kooperierten die Kirchen innerhalb des kommunistisch-sozialistischen Regimeverbundes miteinander? Welche Besonderheiten werden dabei erkennbar, inwiefern unterschieden sich die Interaktionen der Kirchenleitungen von denen der Kirchenbasis? Welche Zusammenarbeit und welche gemeinsamen Aktivitäten von oppositionellen Bewegungen unter dem Dach der Kirchen lassen sich in den 1980er Jahren länderübergreifend ausmachen? Ein in der zeitgeschichtlichen Forschung weitgehend unterschätzter Ausgangspunkt für komparatistische Untersuchungen zu West- und Osteuropa oder für Analysen des Gesamtsystems „Ostblock“ ist die Brückenfunktion der ehemaligen DDR zwischen West- und Osteuropa. Entgegen heutiger assoziativer Vorstellungen von Deutschland als Teil Westeuropas weist Ostdeutschland signifikante Spezifika des osteuropäischen „Weltsystems“ auf, die sich mindestens in der Erinnerungskultur bis in die Gegenwart durchziehen58.
die katholische und die protestantischen Kirchen (Beljakova / Bremer / Kunter, Gott, 92–108). 57 Exemplarisch kann die 1992 erschienene „Geschichte der Kirche Osteuropas im 20. Jahrhundert“ des ungarischen Kirchenhistorikers Gabriel Adri#nyi aufgeführt werden, in der zwar knapp, aber differenziert die Kirchen der ehemaligen Ostblockstaaten zur Vorstellung kommen, von den Kirchen in der ehemaligen Sowjetunion über den polnischen römischen Katholizismus bis hin zur kirchlichen Lage in Albanien. 58 Anfang Mai 2020 diskutierten die (ostdeutsche) Historikerin Silke Satjukow und der (westdeutsche) Historiker Ulrich Herbert in einer Ausgabe der tageszeitung (taz) über die divergente Erinnerung an den 8. Mai 1945 in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie in zeitlicher Verlängerung im heutigen West- und Ostdeutschland und darüber hinaus über das deutsch-russische Verhältnis (Vgl. Pfaff, Teilung). Es zeigte sich illustrativ, welch konträre Erinnerungskulturen bei diesem Thema zum Tragen kommen, die bestätigen, dass von einer signifikant westeuropäischen und einer signifikant osteuropäischen Erinnerungskultur zum 20. Jahrhundert ausgegangen werden muss.
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Damit schließt sich der Kreis zu dem eingangs angesprochenen, offenen Thema „Was gehört zu Osteuropa?“.
4. Schluss Am Schluss dieser Ausführungen soll auf einen Aspekt hingewiesen werden, der die beiden Fächer „Kirchliche Zeitgeschichte“ und „Osteuropakunde“ über die gemeinsame Schnittmenge von Themen einer „Kirchlichen Zeitgeschichte Osteuropas“ hinaus phänomenologisch und methodologisch verbindet. Für die kirchliche Zeitgeschichte hat Joachim Mehlhausen einmal festgehalten, sie führe „auf ein Konfliktfeld, dessen eine Begrenzungslinie mit dem Stichwort ,Rechtfertigungszwang‘ angedeutet sei und dessen andere Begrenzung durch den stereotypen Einwand ungenügender Distanz gesetzt wird.“ Kirchliche Zeitgeschichte habe sich „zu bewähren, indem sie sich auf dieses Konfliktfeld begibt“59. Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Osteuropaforschung, deren aktive zeitgeschichtspolitische Arbeit ihr, auch in Fehldeutungen, zum Vorwurf gemacht wird60. Aber wenn es bei der zeithistorischen Forschung darum geht, „zu erkunden, was die Zeit bestimmt“61, um einmal eine pointierte Formulierung von Gerhard Besier und Hans Ulrich aufzunehmen, kann es schlicht nicht ausbleiben, dass diese Erkundungen wiederum die Zeit bestimmen. Das gilt sowohl für die kirchliche als auch die osteuropäische Zeitgeschichte. Das hier entwickelte Bild einer „Kirchlichen Zeitgeschichte Osteuropas“ ist keines, das in der wissenschaftlichen Realität verankert wäre. Dadurch erübrigt sich auch die Frage nach ihrem Bestand. Aufgrund der schon mehrfach angedeuteten finanziellen Einschränkungen sowohl in den Bereichen Ostkirchen- und Konfessionskunde als auch Osteuropakunde könnten schon in kurzer Zeit die vorliegenden Skizzen zu einem eigenständigen Forschungsfeld vollkommen obsolet sein. Aber ebenso ist vorstellbar, dass sich ein solches etabliert, da seine Bedeutung für die Geschichts- und Kirchengeschichtswis59 Mehlhausen, Methode, 510 f. Es ist allerdings ebenfalls ein Signum der protestantischen kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung, dass sie über ihr Wesen, ihre Grundlegungen und Methoden stärker reflektiert als das in der Historiografie zu anderen Epochen der Kirchengeschichte der Fall ist: „In keinem Segment der Kirchengeschichtsschreibung wurden in jüngster Zeit so viele Theorie- und Methodenbeiträge vorgelegt wie in der Neueren und Neuesten Kirchengeschichte“, konstatierte 2000 der Kirchenhistoriker Kurt Nowak, und fuhr fort, in der Geschichtsschreibung zur Alten Kirche, zum Mittelalter und zu der Frühen Neuzeit „besitzt dieser Theorieboom kaum eine Parallele“ (Nowak, Kirchengeschichte, 190). 60 So hieß es beispielsweise um die Jahrhundertwende im Rückblick, an den Osteuropa-Instituten habe „man eigentlich nur Kalten Krieg geführt. Das waren sozusagen diejenigen, die da also mit beigetragen haben.“ (Meller, Osteuropa-Forschung). 61 Besier / Ulrich, Aufgabe, 176.
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senschaft sowie sein Gegenwartsbezug, z. B. bei der Herausbildung der europäischen Identität, klarer geworden sein wird.
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Kirchliche Zeitgeschichte global
1. Globalgeschichte als das Letzte Dieser Vortrag war der letzte der Würzburger Tagung und ist auch als Beitrag der letzte des Sammelbandes. Das liegt, so hoffte der Referent und hofft der Verfasser, bestimmt nicht an ihm. Viel wahrscheinlicher hat es mit dem ihm aufgegebenen Thema selber zu tun: „kirchliche Zeitgeschichte global“. Die Platzierung am Ende des Tagungsprogramms verrät uns einiges darüber, wie das Thema eingestuft und wahrgenommen wird. Erstens: Im Vergleich zu anderen Fragen wie der Interdisziplinarität, Megathema der 1970er Jahre, als Historiker über die herkömmlichen „Hilfswissenschaften“ hinaus verstärkt Inspiration in der Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, Linguistik, später Kulturanthropologie suchten1, oder der jedes geschichtswissenschaftliche Forschungsfeld stets begleitenden Frage nach Akteuren und Periodisierungen ist die Globalgeschichte tatsächlich am jüngsten. Dann passt die Problematik der Vernetzung der Kirchen im Weltmaßstab auch ans Ende. Selbst die Vernetzung im kleineren Maßstab, die transnationale Forschung, kommt, nachdem „Geschichte und Gesellschaft“ für die deutsche Geschichtsforschung die „Eröffnungssalven“ schon 2001 abgegeben hatte2, in der Protestantismus- und Katholizismusforschung gerade als „aktuelle Trendwende“ an, wie im 2019 erschienenen Sammelband „Katholizismus transnational“ von Andreas Henkelmann, Christoph Kösters, Rosel Oehmen-Vieregge und Mark Edward Ruff nachzulesen3. Der Band findet Anerkennung als, wie Thomas Brechenmacher formuliert, „ein erster Aufschlag“4. 1 Das Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld wurde 1968, noch vor der Universität, gegründet. Zur stürmischen Phase vgl. Kocka, Interdisziplinarität. Im Prinzip ist die Geschichtswissenschaft immer schon interdisziplinär unterwegs gewesen, aber sobald sie eine Methode übernommen hat, wird sie innerdisziplinär prozessiert, so dass sich der Austausch mit Vertretern anderer Disziplinen stets als neu darstellt. 2 Vgl. Gassert, Geschichte, verweist auf Kocka, Einladung, 463 und Osterhammel, Gesellschaftsgeschichte. Vgl. ders., Nationalfixiertheit; ders., Geschichte; vgl. auch Pernau, Geschichte; Conrad, Globalgeschichte, 68–75; Patel, Nationalfixiertheit; ders., Geschichte, Green, Trials; Budde / Conrad /Janz, Geschichte; und T. Schulze, Zugriffe. 3 Zur Tendenzwende der transnationalen Geschichte vgl. Henkelmann u. a., Katholizismus, 4. 4 Brechenmacher auf der Tagung in Würzburg vom 27.–28. 2. 2020.
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Ein zweiter Grund dafür, Schlusslicht zu sein, liegt in der verbreiteten Vorstellung, dass Geschichte an sich vom Kleinen zum Großen verläuft, von der kleinräumigen Lebenswelt des Dorfes und der Stadt über frühneuzeitliche Loyalitätsverbünde und die Nationen sowie die imperialen Reiche im 19. und 20. Jahrhundert bis hin zur sich global vernetzenden Welt. Demnach kommt die Weltgesellschaft nach der Nation, das Globale also auch menschheitsgeschichtlich am Schluss. Globales scheint als Sache wie als Thema neu. Der dritte Grund hat mit dem Vorgehen in der Kirchengeschichte zu tun: Die meisten Forscher und Forscherinnen behandeln Biographien – gerne mit der Entschuldigung, dieses wohl leichteste Genre der Geschichtswissenschaft erfahre just eine „Wiederkehr“5 –, oder operieren auf nationaler Ebene, sie beschränken sich auf bestimmte Orte, Regionen, Bistümer oder Landeskirchen, einige vergleichen sogar zwei Nationen (Deutschland und die Niederlande) miteinander, andere haben Westeuropa im Blick. Aber nach all diesen Anstrengungen auch noch den ganzen Globus zu perspektivieren, das wäre zu viel verlangt. Beenden wir lieber die Tagung bzw. dieses Projekt, hören wir zuletzt kurz bei Gott und die Weltgeschichte hinein und machen es uns dann wieder in unseren Bistümern, Landeskirchen oder Heimatländern bequem. An Plädoyers für transnationale und globale Arbeiten hat es in den letzten zwanzig Jahren nicht gefehlt – für die Zeitgeschichte etwa von Christoph Kleßmann 2003, für die Katholizismusforschung von Antonius Liedhegener 2004 und für die kirchliche Zeitgeschichtsforschung von Harry Oelke 20156. An der Umsetzung hapert es aber noch, weil viele vielleicht den Aufwand scheuen, sich mehrere Sprachen anzueignen, sich in andere gesellschaftliche Kontexte einzuarbeiten oder kollaborative Projekte anzustoßen, denn Globalgeschichte ist in der Tat besser im Verbund zu schultern. Führt man sich einmal die erschienenen 140 Bände der Reihe B, Forschungen, der Kommission für Zeitgeschichte vor Augen, sieht man: 36 Bände behandeln eine Biographie, 42 sind regional beschränkt, etwa auf ein Land wie Bayern oder auf ein Bistum. 57 Bände operieren auf nationaler Ebene (knapp 41 %), hier aber oft für einen sehr spezifischen Gegenstand (z. B. das seraphische Liebeswerk). Entscheidend ist: Nur fünf Bände – keine vier Prozent – sind international angelegt, beziehen Irland, Frankreich, die Niederlande oder Rom ein. Die einen betreiben komparative Forschung, die anderen kommen an Rom nicht vorbei7. Kein einziger Band ist globalgeschichtlich. Wenn die
5 Die „Wiederkehr der Biographie“ wird immer wieder einmal gegen strukturgeschichtliche Ansätze ausgerufen, etwa 1978: vgl. Berglar, Wiederkehr ; dann wieder 2003: Bçdeker, Biographie, 15, als „Renaissance der Biographie“, 16. 6 Vgl. Klessmann, Zeitgeschichte, 244; Liedhegener, Katholizismusforschung, 226 f.; und Oelke, Thesen, 166; vgl. auch Blaschke, Thesen, 150. 7 Vgl. Huttner, Presse; Damberg, Abschied (wo es um das Vorbild der Niederlande und den Vergleich geht); Schneider, Katholiken; Schlott, Papsttod und Schulze, Universalismus. Vgl. zu den Veröffentlichungen https://www.kfzg.de/publikationen/forschungen.
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Anzeige fast also auf null steht, dann gehört kirchliche Zeitgeschichte global auch auf den hintersten Rang einer Tagung. Noch ist ja nichts passiert. Beim evangelischen Pendant „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte lassen sich unter den seit 1975 erschienenen 79 Bänden fünf Werke mit internationaler, meist europäischer Perspektive identifizieren und eines 2014 zur „Globalisierung der Kirchen“8. In der Reihe „Konfession und Gesellschaft“ im Verlag Kohlhammer – offiziell überkonfessionell, tatsächlich aber kreisen die meisten der 52 Bände um den Protestantismus9 – handelt die Hälfte (28) von Deutschland, nicht nur 41 Prozent wie bei der katholischen Kommissionsreihe. Die Nation lag Protestanten ja seit dem 19. Jahrhundert sehr am Herzen, wie sie die „Reichsfeinde“ lange haben spüren lassen. Elf Bände sind europäisch ausgerichtet, aber Globales bleibt auch hier wiederum Fehlanzeige. Es gibt also viele Gründe, den abseitigen Gast „kirchliche Zeitgeschichte global“ ganz hinten im Bus mitreisen zu lassen. Was aber, wenn der plötzlich nach vorne kommt und probeweise mal das Steuer übernehmen möchte?
2. Globalgeschichte als das Erste Stellen wir uns für einen Moment vor, Globales stünde nicht am Ende, sondern am Anfang. Drehen wir die Sache einmal um: In jeder Region10, jedem Ort11, jeder lokalen Quelle, jedem Produkt12 kann potenziell etwas Globales stecken, wie in jedem Kleidungsstück, das wir tragen. Auch in jeder Herz-Jesu-Statue, die in Mexiko oder Polen aufgestellt wurde, sowie in weltweiten Praktiken der Marienfrömmigkeit strahlt uns ein globales Muster aus dem 19. Jahrhundert als Melange zwischen Lokalem und Globalem entgegen13. Selbst generisch und entwicklungsgeschichtlich muss das Globale keineswegs am Ende stehen. 8 Vgl. Kunter / Schilling, Globalisierung. In dieser Reihe sind sogar 49 Bände (62 %) nationalgeschichtlich, dazu kommen 14 Biographien. Vgl. zu den Veröffentlichungen https://www. kirchliche-zeitgeschichte.info/publikationen/darstellungen.html. 9 Sieben Bände haben den Katholizismus zum Gegenstand, zehn beide Konfessionen. Es finden sich sechs Bände über Regionen, sieben sind Biographien. Vgl. zu den Veröffentlichungen https://www.kohlhammer.de/wms/instances/KOB/appDE/Konfession-und-Gesellschaft. 10 Vorbildlich für die transnationale Konstruktion Tirols bei gleichzeitiger Entwicklung regionaler Katholizismen vgl. Huber, Grenzkatholizismen. 11 Zentral vgl. Hopkins, History. Als weitere Beispiele vgl. Blaschke, Marpingen; Hero / Krech / Zander, Vielfalt; und Wetjen, Globale. Zur „Wiederkehr der Mikrogeschichte in lokalen Kontexten“ vgl. Epple, Größe, Zit. 417. 12 Die Globalgeschichte einzelner Konsumartikel und Waren wie Zucker, Kaffee, Gold etc. boomt. Zwei instruktive Beispiele vgl. Grewe, Gold; und Collingham, Curry. 13 Zur Spannung zwischen lokaler, nationaler und transnationaler Identität bei der Massenmobilisierung für Mutter Maria in Frankreich, Deutschland, Spanien, Portugal, der Ukraine, Nordund Südamerika im 19. und 20. Jahrhundert vgl. zuletzt di Stefano / Ramjn Solans, Devotions.
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Sebastian Conrad hat gezeigt, dass nicht zuerst die Nationen da waren und danach die Globalisierung einsetzte, in der nationales Denken überwunden wurde und nationale Grenzen verwischten. Richtig ist vielmehr die umgekehrte Stufenfolge: Nationen waren Resultate vorlaufender transnationaler Entwicklungen. Sie waren selber deren Produkt, sie entstanden nicht endogen und lassen sich nur globalgeschichtlich überhaupt verstehen14. Auch das aktuelle Thema des kirchlichen Missbrauchs Minderjähriger, das Thomas Großbölting in unserem Rahmen bereits diskutiert hat, ist kein bloß diözesan- oder nationalhistorisches, sondern es erweist sich von Anfang an als global. Nachdem „The Boston Globe“ 2002 etliche Fälle und überdies die Verstrickung des Bostoner Erzbischofs aufgedeckt hatte – ein derart spektakuläres Ergebnis des investigativen Journalismus, dass es für das Kino 2015 verfilmt wurde –, zeigte sich, dass Praktiken der Vertuschung und Versetzung pädophiler Priester auch in New York und anderen Teilen der USA gang und gäbe waren. Der doppelte Skandal – die Missbrauchsfälle sowie der systematische Täterschutz – erschütterte die katholische Kirche weltweit und führte dazu, dass dieselben Mechanismen auch in Kanada, Australien, Großbritannien, Irland, Frankreich, Deutschland und andernorts aufgedeckt werden konnten. Sowohl die Praktiken und Strukturen waren mithin global, als auch die mediale Berichterstattung darüber und die Reaktionen der Amtskirche. Der Stein, der 2002 ins Wasser geworfen wurde, zog große Kreise, global in der katholischen Kirche, aber schließlich auch in evangelischen Kirchen. Allein pragmatische Gründe lassen verstehen, warum man zunächst im eigenen Bistum darüber forscht15. In manchen Beiträgen des vorliegenden Projekts sind nationsübergreifende Perspektiven durchaus angelegt. Bei Florian Bock wurden „Zeitbögen“ diskutiert, die nicht spezifisch „deutsch“ waren, ebenso wenig wie die Milieuerosion in den 1960er Jahren, die etwa mit der Entsäulung in den Niederlanden und Belgien einher ging, aber auch mit konfessionstranszendierenden Entwicklungen in den USA, wo es 1961 erstmals möglich wurde, dass ein Katholik das Präsidentenamt der Vereinigten Staaten übernahm.16 Mark Edward Ruff konnte zeigen, wie zentrale Debatten der deutschen kirchlichen Zeitgeschichte der 1960er Jahre wichtige Impulse und Anstöße von außereuropäischen Akteuren wie Gordon W. Zahn und Guenter Lewy erhielten. Darum geht es und dafür lohnt sich der Aufwand: Untersuchungsgegenstände, mit denen man ohnehin befasst ist, in einen globalgeschichtlichen Rahmen einzuspannen und zu prüfen, ob neben den üblichen Faktoren wie Soziales, Geschlecht, regionale und politische Umstände auch globale Fakto14 Vgl. Conrad, Globalisierung. 15 2011–2012 enthob der Papst 400 Priester ihres Amtes, Kommissionen wurden eingesetzt. 2019 wurden auch in der größten Baptistenkirche der USA, der Southern Baptist Convention, Hunderte von Missbrauchsfällen gemeldet. 16 Vgl. zur Versäulung Conway, Belgium. Zum internationalen Vergleich der Konzepte Milieu, Säule, Lager und Subkultur vgl. Hellemans, Internationalization.
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ren mithelfen können, dasselbe Phänomen noch etwas besser zu erhellen und zu erklären.
3. Bisherige Themen und Erträge einer Kirchengeschichte global Wenn sich anhand der drei wohlfeilsten Reihen der Katholizismus- und Protestantismusforschung belegen ließ, dass bislang noch so gut wie nichts passiert ist, darf an dieser Stelle eingeschränkt werden: Derart düster ist der globalgeschichtliche Himmel nicht. Ich nenne sieben Felder, auf denen entsprechend geforscht wurde. 1. Für das 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert reichend lassen sich das dezidiert globalisierungsgeschichtliche Kapitel in Christopher Baylys Globalgeschichte 1780–1914 anführen und das demgegenüber eher globalgeschichtlich angelegte Kapitel in Jürgen Osterhammels „Verwandlung der Welt“, das Baylys Uniformisierungsthese skeptisch gegenübersteht und stattdessen Vernetzungen in den Vordergrund rückt17. Bayly und Osterhammel kommen nicht aus der Enge der Kirchengeschichte, sondern aus den Area Studies für Indien bzw. China, sie behandeln Religion großräumig und überhaupt alle größeren Religionen der Welt. Anders wiederum ist es mit der „Geschichte des globalen Christentums“ von Jens Holger Schjørring und seinen Mitherausgebern bei Kohlhammer. Sie bleibt auf das Christentum beschränkt. Die drei 2017/2018 erschienenen Bände reichen von der Frühneuzeit bis heute. Globalund verflechtungsgeschichtlich sind sie aber enttäuschend18. Auch im Verlag Campus findet sich in der Reihe „Religion und Moderne“ ein Buch über transnationale Perspektiven auf Katholizismus und Protestantismus im Zeitalter der Globalisierung19. Im Unterschied zu den weiträumigen Werken liegen mehr Arbeiten vor, die eher spezifisch kirchengeschichtliche Themen transnational und globalgeschichtlich perspektivieren. 2. Zu den besonders gut ausgebauten Sujets gehört die Missionsgeschichte. Gerade hier liegen verflechtungs- und globalhistorische wie transnationale Zugänge ja nahe. Verwiesen sei insbesondere auf die Forschungen von Rebekka Habermas und Richard Hölzl, auch zum 20. Jahrhundert, sowie etwa auf die Arbeiten von Reinhard Wendt, Yvonne Maria Werner und Katharina 17 Vgl. Bayly, Geburt, 400–450; und Osterhammel, Verwandlung, 1239–1278. Wenig inspirierender Aufguss vgl. Faschingeder, Religionen. Ferner die drei Bde. von Altglas, Religion. Sehr instruktiv jetzt vgl. Ramjn Solans, Historia. 18 Vgl. Schjørring u. a., Teil 1–3. Vgl. auch den Sammelband von Kunter / Schjørring, Christentum, der „Globales Christentum“ im Titel führt, aber von 15 Artikeln nur vier Aufsätze in der – wiederum letzten – Sektion „Das Christliche Europa? Globalisierung – Internationalisierung“ beinhaltet. 19 Vgl. Blaschke / Ramjn Solans, Weltreligion.
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Kunter, schließlich Albert Monshan Wu. Mission veränderte nicht nur Strukturen in der missionierten Gesellschaft, sondern in einem reziproken Prozess auch im Heimatland20. 3. Globalgeschichtlich stark aufgestellt ist die Forschung zu Erweckungsbewegungen und Evangelikalen, die sich wie die Pfingstbewegung seit Mitte des 20. Jahrhunderts rasant verbreiten, in den USA, in Brasilien und Afrika, und die überkommenen Kirchen zurückdrängen. Neben den in den 1940er Jahren geknüpften angloamerikanischen Verbindungen werden die Verflechtungen zwischen Nord- und Südamerika, Europa und Asien erkundet und fruchtbar aufgezeigt21. 4. Das Thema internationale Ökumene neigt sich besonders unter Protestantismusforschern zunehmend globalgeschichtlichen Fragen zu. Hier sei nur der Sammelband von Katharina Kunter und Annegreth Schilling über die „Globalisierung der Kirchen“ genannt, der konkret den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und die Entdeckung der „Dritten Welt“ in den 1960er und 70er Jahren behandelt und 2014 erschien. Er zeigt plausibel die „Entwestlichung“ und Politisierung des Ökumenediskurses, suggeriert aber zugleich, der Prozess sei quasi plötzlich aus dem Nichts heraus entstanden: Mit der Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Neu Delhi 1961 „begann die Globalisierung des ÖRK“22, als habe die „Globalisierung der Kirchen“ und der Ökumene nicht bereits, freilich anders gelagert, spätestens um 1900 eingesetzt. Die kirchliche Zeitgeschichte sollte die Globalisierung im Rahmen von Kirche und Religion im 19. Jahrhundert nicht ignorieren, wie ZeithistorikerInnen insgesamt nicht so tun dürfen, als sei die Globalisierung etwas Brandneues23. 5. Der Ansatz des polyzentrischen Christentums, den Klaus Koschorke für den Protestantismus entwickelt hat und der die Eurozentrik bereits für das späte 19. Jahrhundert aufhebt, ließe sich auch auf den Katholizismus übertragen. Der Wandel vom „Jahrhundert westlicher Missionare“ zum 20. Jahr20 Vgl. Habermas / Hçlzl, Mission; Hçlzl, Imperialisten; Wendt, Afrika; Werner / Kunter, Gender ; und Wu, Christ. Für den Raum Göttingen um 1900 vgl. Wetjen, Globale; zur Zwischenkriegszeit vgl. Robert, Globalization. 21 Vgl. Hutchinson / Wolfe, History ; und Suarsana, Ausbreitung; ders., Pfingstbewegung; aus evangelikaler Perspektive vgl. Lewis / Pierard, Evangelicalism. 22 Kunter / Schilling, Christ, 36. Katharina Kunter hat aber auch zum 19. Jahrhundert gearbeitet, vgl. Werner / Kunter, Gender ; vgl. ferner Schilling, Revolution. Der Band von Priesching / Otto, Jaeger, zum Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger, der sich nach 1945 besonders für die Ökumene engagierte, enthält zwar Bezüge zu anderen Religionen und zum Zweiten Vatikanischen Konzil, überlässt das Suchen nach transnationalen und globalgeschichtlichen Erkenntnissen aber den Lesenden. 23 Es wäre schon Klarheit gewonnen, wenn statt von der Globalisierung seit den 1960er Jahren von der zunehmenden oder beschleunigten Globalisierung gesprochen würde, also nicht: Die 1960er und 70er Jahre hätten im ÖRK tiefe Transformationen bewirkt, „that bore the mark of what […] could be characterized as ,globalisation‘“ (Kunter, Hopes, 342), sondern stattdessen „of accelerated globalisation“.
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hundert als „Jahrhundert der einheimischen Kirchen“, wie es schon 1901 „The Christian Patriot“ in Madras formulierte, erweist sich als Resultat außereuropäischer Globalisierungsprozesse mit eigenständigen Süd-Süd-Verbindungen und polyzentrischen Dynamiken. Sie gipfelten 1910 in der protestantischen Weltmissionskonferenz in Edinburgh und mündeten 1948 in den Weltkirchenrat, die beide zur Globalgeschichte der Ökumene vor der weiteren Globalisierung des ÖRK 1961 gehören24. 6. Was den Katholizismus angeht, liegen übergreifende Studien zu den internationalen Verflechtungen bei der Entstehung und Gestaltung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) vor sowie zu dessen Wirkungen, auch auf engagierte global vernetzte Frauen im Emanzipationsprozess25. „Das erste globale Konzil“ war es indes freilich nicht, wie in zeithistorischer Einäugigkeit schon behauptet wurde, denn bereits zum Vatikanum 1869–1870 kamen Vertreter aus der ganzen Welt angereist, insgesamt immerhin ein Drittel der Konzilsteilnehmer26. Überhaupt ist es für den Katholizismus – katholikjs bedeutet umfassend, universal – naheliegend, grenz- und nationsüberschreitend zu arbeiten27. Die großen Standardwerke wie Hubert Jedins siebenbändige Kirchengeschichte (1962–1979) oder Jean-Marie Mayeurs vierzehnbändige Geschichte des Christentums (dt.: 1991–2004) haben diese Chance verpasst, indem sie ihre Kapitel nach Kontinenten und Nationen oder nach ideengeschichtlich aufgearbeiteten Themen aufgebaut haben.28 Das geübte Auge findet darin gleichwohl globale Verflechtungen. Leider wurde auch bei den Projekten über die europäischen Kulturkämpfe Land für Land vorgegangen29. Dabei war die „Katholizismusgeschichte Europas im 19. Jahrhundert“ stets auch „eine transnationale Geschichte“, nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts30. 7. Ferner gerät das Papsttum in den globalgeschichtlichen Blick. Im Jahre 2020 erschien von Mariano Barbato und Stefan Heid der Band: „Macht und 24 Vgl. Koschorke, Internationalismen, 209; ders., Perspektiven; ders., Rückblicke; und ders., Strukturen. 25 Vgl. Damberg, Konzil; Schmiedl, Kontaktbörse; und Heyder, Vollzug; zur Befreiungsbewegung als transnationalem Produkt des Konzils vgl. Dols / Ziemann, Participation. 26 Mannion, Konzil, nennt das Vatikanum im Titel zwar „das erste globale Konzil“, unterlässt in seinem Beitrag aber jede globalgeschichtliche Reflexion und erzählt stattdessen die bekannten Anekdoten und Geschichten nach. Damit bestätigt er den enttäuschenden Eindruck vom gesamten „global“ auftrumpfenden Sammelband. Die These vom ersten globalen Konzil ist insofern Unsinn, als dass beim Ersten Vatikanum von seinen 700 Bischöfen 121 aus Amerika, 41 aus Indien und dem Fernen Osten, 18 aus Ozeanien und neun aus Afrika kamen, auch wenn viele davon ursprünglich aus Europa stammten. Trotz des europäischen, gar italienischen Übergewichts (Italiener: 35 % der Konzilsteilnehmer) kann man die globale Dimension nicht unter den Tisch fallen lassen. Zahlen vgl. Aubert, Konzil, 778 f. 27 Vgl. Pernau, Geschichte, 119. 28 Jedin, Handbuch; Mayeur, Geschichte. 29 Vgl. Kaiser / Clark, Wars, wo aber die Einleitung transnationale Schneisen und Vergleiche zieht. 30 Huber, Grenzkatholizismen, 54.
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Mobilisierung. Der politische Aufstieg des Papsttums seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts.“ Schwerpunkt ist dabei das 20. Jahrhundert, mithin die ältere, neuere und neueste Zeitgeschichte, und erstaunlich viele Beiträge sind darin globalgeschichtlich angelegt, etwa wenn es um die transnationale Massenmobilisierung für den Papst geht31. Immer wieder ist offenkundig, dass es nicht ausreicht, einfach in die jüngere Zeitgeschichte, sagen wir ab 1945, zu springen, sondern dass diese Globalisierungen tief im 19. Jahrhundert verankert sind und sich Zeitgeschichte nur aus dem größeren zeitlichen Kontext erschließt. Deutlich ist aber auch, dass die globalhistorisch betrachtete Kirchengeschichte für das lange 19. Jahrhundert stärker im Aufwind liegt als für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für obige Bestandsaufnahme aus Arbeiten zur „kirchlichen Zeitgeschichte global“ wurden hier, obwohl auch Studien mit größerer historischer Tiefenschärfe, die auch das 19. Jahrhundert betreffen, berücksichtigt wurden, nur die Rosinen herausgepickt. Der Teig, in dem sie stecken, besteht aus methodologischem Nationalismus. Das 2010 auf dem Berliner Historikertag – Motto: Über Grenzen – emphatisch ausgerufene „Ende ,national begrenzter Geschichtswissenschaften‘“ war in Wirklichkeit schon damals nicht gekommen und ist auch heute noch lange nicht in Sicht32. Überwiegend wird weiterhin regional und national geforscht. Aber das „Einsickern globalgeschichtlicher Elemente in die Produktionsstätten nationaler Geschichte ist längst zu beobachten.“33 Schon 2004 konstatierte Hans Günter Hockerts: „Transnationale und globale Prozesse haben einen religionsgeschichtlich bedeutsamen Konstellationswandel herbeigeführt, der nicht zuletzt auf die deutschen christlichen Kirchen zurückwirkt.“34 Dennoch muss man es für die Kirchengeschichte ganz klar aussprechen: Sie vernachlässigt noch immer die Globalgeschichte – und umgekehrt, die Globalgeschichte das Thema Religion, solange sie sich auf Wirtschafts- und Migrationsgeschichte fixiert35. 31 Vgl. Barbato / Heid, Macht. 32 Plumpe, Eröffnung, 15. Auf dem 48. Historikertag gab es keine einzige Sektion zur Kirchenoder Christentumsgeschichte. 33 Vgl. Raphael, Geschichte, 203. 34 Hockerts, Brennpunkte, 244. 35 Vgl. Sachsenmaier, History ; und Rosenberg, Geschichte; ihre Globalgeschichte in der Reihe bei Harvard University Press und C. H. Beck behandelt weltweite Migrationen, globale Kommunikationsnetze, Handelsströme und Konsummuster, Kolonialismus und Imperialismus, enthält aber auf über 1100 Seiten nur sechs Seiten über Religion – wogegen wir über die Produktion von Kaffee und den Kaffeehandel dreimal so viel erfahren, als sei Koffein im 19. Jahrhundert dreimal bedeutender als Religion gewesen. Auch der Nachfolgeband von Iriye, Geschichte, 624–641, für die Zeit ab 1945, ist mit seinen 17 Seiten (1,8 % des Buches), die von der Befreiungsbewegung, vom Fundamentalismus und New Age sowie der Pluralisierung der Religion handeln, unzureichend und enttäuschend. Das Lemma „Wirtschaft“ dagegen okkupiert allein im Register fast zwei Spalten. Middell / Naumann, History, 106, zweifeln zwar in ihrer Bestandsaufnahme an der ökonomischen Dominanz, erwähnen Religion aber nicht ein einziges Mal. Als eines von etlichen Beispielen zur globalgeschichtlichen Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik vgl. Dçrre, Wirtschaftswunder.
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Umso mehr und insbesondere angesichts der „wenigen transnationalen Studien in der Kirchlichen Zeitgeschichte“36 sollten wir die Herausforderung annehmen und die etablierten Fragen von Globalhistorikern auf die jüngere Kirchengeschichte anlegen. Dies entspräche unserem zeitgenössischen Bewusstsein von einer zusammengewachsenen Welt, nicht nur in ökonomischer, medialer, kultureller und ökologischer Hinsicht. Dabei sollte man immer unterscheiden, ob man Globalgeschichte betreibt oder Globalisierungsgeschichte. Diese Teilfrage der Globalgeschichte fragt nach dem Einfluss der Globalisierung, etwa auf die Kirchengeschichte, aber auch umgekehrt: Wie beeinflussten Christentum und Kirchen die Globalisierung37 ? Das Thema „kirchliche Zeitgeschichte global“ lässt die Türen für beide Seiten offen. Der Unterschied zwischen Globalgeschichte und Globalisierungsgeschichte verwischt manchmal selbst bei den Profis38. Davon sollte man sich nicht irritieren lassen. Sogar Jürgen Osterhammel, dem „Doyen der Welt- oder Globalgeschichte“39, ist es passiert, dass er an einer Stelle schreibt „,Globalgeschichte‘ […] ist die Geschichte der Globalisierung“40, an anderer Stelle jedoch: „Globalgeschichte ist nicht dasselbe wie die Geschichte der Globalisierung“41. Tatsächlich ist es hilfreich, den keineswegs linearen Prozess der Globalisierung als ein Teilproblem von Globalgeschichte anzusehen, die sich auch mit Verbindungen und Problemen beschäftigt, die vor oder neben der Globalisierung bestanden. Globalgeschichte ist niedrigschwelliger, während Globalisierungsgeschichte – die politisierter ist und bei der es auch um die Provinzialisierung Europas geht – Gefahr läuft, zu einer neuen Meistererzählung in Nachfolge der Modernisierungstheorien zu werden42. Trotz aller Mühewaltung bleiben in der Praxis die Grenzen zwischen Globalisierungs- und Globalgeschichte, reflektierter Komparatistik, Verflechtungs-, Transfer- und transkultureller Geschichte sowie histoire croise fließend. Manche sehen im Begriff Globalgeschichte einen Stellvertreter für 36 Kunter, Katholizismus, 436. Vgl. auch Hans Günter Hockerts: „Die Frage nach grenzüberschreitenden Kontakten steht bisher eher am Rande als im Zentrum der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung.“ (Hockerts, Brennpunkte, 244). 37 Vgl. der Versuch der klaren Trennung bei Blaschke, Einführung, sowie im entsprechenden Sammelband. Zu Möglichkeiten einer Globalisierungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland vgl. Raphael, Geschichte. 38 Im Sammelband von Conrad / Eckert / Freitag zur „Globalgeschichte“ sind auch Beiträge zur Globalisierung und zur transnationalen Geschichte enthalten. Auch Roland Wenzlhuemer beobachtet, Globalgeschichte werde häufig implizit als eine Geschichte von Globalisierungsprozessen verstanden (vgl. Wenzlhuemer, Globalgeschichte, 25). 39 Lçhr, Rezension. 40 Osterhammel, „Weltgeschichte“, 460 f: „Globalgeschichte bedeutet die Suche nach Beginn und früherer Entwicklung des heute durch Globalisierung gestifteten Weltzusammenhangs.“ 41 Osterhammel, Zugänge, 19. Die Geschichte der Globalisierung sei ein wichtiger „Teilaspekt“ der Globalgeschichte, „ohne mit ihr identifiziert werden zu dürfen.“ (Ders., Flughöhe, 26). Auch Conrad, Globalgeschichte, 18 f., trennt Globalgeschichte vom engeren „Teilgebiet“ Globalisierung. 42 Vgl. Epple, Globalisierung/en.
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ähnliche Zugänge wie postkoloniale, transnationale und transkulturelle Ansätze43. Die meisten Transfer- und Globalhistoriker :innen verstehen den in den 1980er Jahren fruchtbar gemachten internationalen Vergleich wohlwollend als Teil der die Nationalfixiertheit aufbrechenden Geschichtswissenschaft, auch wenn bei solchen Gegenüberstellungen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden mögliche Verbindungen, Transfers und Transformationen nicht angemessen berücksichtigt werden und die zuweilen essenzialistische Vorstellung überwiegt, Nationen stünden sich wie abgeschlossene Container gegenüber44. Entscheidend bleibt, den methodologischen Nationalismus zu überwinden, indem Phänomene in ihren transnationalen und globalen Verflechtungen und Bezügen identifiziert und interpretiert werden, nicht jedoch als Selbstzweck, sondern mit Blick auf ihre regionalen oder nationalen oder den Gegenstand selber betreffenden Wirkungen. Im Unterschied zum Vergleich analytisch voneinander unterschiedener Einheiten und im Unterschied zur Globalisierungsgeschichte geht es Globalgeschichte darum, „wie durch das Handeln von Menschen globale Verbindungen entstehen und wie diese wiederum auf das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen zurückwirken“. Aus diesen Verbindungen, dem Kern der Globalgeschichte, können verfestigte globale Strukturen entstehen, aber sie sind nicht als einziger Faktor der Geschichte zu verabsolutieren. Globalgeschichte ist eine ergänzende Methode neben anderen45.
4. Fragen, Themen und Zugriffe Transnationale und globalgeschichtliche Ansätze verlangen nicht, alle Querverbindungen eines Gegenstandes durch alle Länder zu verfolgen. Wie in der Komparatistik geht es vielmehr darum, Methoden zu finden, um bisherige Untersuchungsgegenstände besser verstehen, um ihre Genese und Spezifik klarer erkennen zu können. Nennen wir abschließend daher zehn solcher Fragen, „Denkfiguren“ und Themen aus der Global– und Globalisierungsgeschichte46 : 43 Vgl. Dejung / Lengwiler, Einleitung, 8. Hilfreich auch Hort, Vergleichen. Zur Unterscheidung von Komparatistik, Connected History, Transfergeschichte, Histoire crois8e, Verflechtungsgeschichte, Weltgeschichte vgl. Pernau, Geschichte; Conrad, Globalgeschichte; Osterhammel, „Weltgeschichte“; und Sachsenmaier, History. Die Differenzen betonend vgl. Werner / Zimmermann, Vergleich. Zur neuen Konkurrenz zwischen Weltregion- und Globalgeschichte vgl. Sch-bler, Studies. 44 Vgl. Pernau, Geschichte, 75–84; und Conrad, Globalgeschichte, 68–75. Zum Verhältnis zwischen Kulturtransfer und Vergleich vgl. Middell, Kulturtransfer; und Paulmann, Vergleich. 45 Vgl. Wenzlhuemer, Globalgeschichte, 20–23, 267. 46 Vgl. sechs „Denkfiguren“ bei Osterhammel, Flughöhe, 48–52; sieben Vorschläge für Frageansätze bei Blaschke, Parteigeschichte, 355–366.
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4.1 Organisierter Internationalismus Ein erster handhabbarer Zugriff besteht darin, sich internationalen Organisationen zuzuwenden. Der Vorteil ist evident: Es gibt feste Strukturen und meistens ein zentrales Archiv, das erlaubt, innerhalb abgesteckter Grenzen Grenzüberschreitendes zu untersuchen. Angesichts von mehr als 60.000 internationalen Organisationen, die unsere Welt transnational mitgestalten, sei die Zahl von 193 von der UNO anerkannten Staaten „lächerlich gering“, erklärte 2009 Madeleine Herren, eine Protagonistin dieses Forschungsfeldes. Das Internationale Rote Kreuz, der Völkerbund, Greenpeace, all dies ist bereits globalgeschichtlich untersucht worden47. Internationale Organisationen tauchen nicht erst in der Zeitgeschichte auf. Was das religiöse Feld angeht, sind Gesellschaften wie die von Württemberger Pietisten 1815 gegründete Basler Mission als frühe Formen des organisierten religiösen Internationalismus identifizierbar, ebenso wie die verstetigte Evangelische Allianz von 1846. Ein Maßstäbe setzender Sammelband von Abigail Green und Vincent Viaene hat die Genese und Entwicklung verschiedener religiöser Internationalen seit dem 19. Jahrhundert erhellt, ein Säkulum, das hierin besser erkundet ist als das 20. Jahrhundert. Die Zeitgeschichte betreffend ist der 1948 gegründete Ökumenische Rat der Kirchen sehr gut untersucht48. Wolfram Kaiser ging formalisierten transnationalen Netzwerken der Christdemokraten im Europa des 20. Jahrhunderts als Vorgeschichte der 1992 geschlossenen Verträge von Maastricht nach. In der Zwischenkriegszeit und trotz der ein Vierteljahrhundert andauernden Deglobalisierungsphase gab es einen „Boom“ formalisierter transnationaler Netzwerke, der zu europäischen christlichsozialen Zusammenschlüssen führte, in erster Linie dann 1926 im Secr8tariat International des Partis D8mocratiques d’ Inspiration Chr8tienne (SIPDIC). Der Initiator Don Luigi Sturzo wollte explizit gegen die kommunistische Internationale eine katholische Internationale installieren49. Insgesamt aber gilt: „Zum religiösen Internationalismus stehen die Forschungen noch am Anfang.“50 4.2 Transnationale Unterstützungsnetzwerke Informeller Art und daher schwerer greifbar sind grenzüberschreitende Unterstützungsnetzwerke. Ähnlich wie katholische Iren aus den USA im frühen 47 Herren, Organisationen, 1. Das Buch handelt nach einer instruktiven Einleitung vornehmlich vom Völkerbund und den Vereinten Nationen. 48 Vgl. Kunter / Schilling, Globalisierung. 49 Vgl. Kaiser, Democracy,70. 50 Meller-Sommerfeld, Konfession, 453.
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20. Jahrhundert den irischen Unabhängigkeitskampf finanzierten, förderten deutsche evangelische Landeskirchen den Protestantismus in Brasilien. Bei der Unterstützung des sogenannten Auslandsdeutschtums amalgamierten sich religiöse und nationalistische Motive mit antiamerikanischen Entflechtungsanstrengungen51. Auch die „Ratten-“ oder „Klosterlinie“, die nach 1945 etlichen NS-Verbrechern aus Deutschland, Österreich oder Kroatien über Südtirol, Rom und Genua zur Flucht nach Argentinien, Chile, Syrien oder andernorts verhalf, kann als solches Unterstützungsnetzwerk gelten. Neben das christliche Motiv der Barmherzigkeit gesellte sich das utilitaristische Interesse, auf die Erfahrungen der Klienten könne man im Kampf gegen den Bolschewismus noch zurückgreifen52. 4.3 Globalisierung und Bereichsglobalisierung als Expansion Globalisierungsgeschichte, wenn man bei Globalgeschichte nicht stehen bleiben will, beschäftigt sich wesentlich mit Diffusion und Expansion – von Gütern, Ideen, Menschen, bald vielleicht auch verstärkt von Religionen53. In der Missionsgeschichte, die heute mehr als die Expansionsgeschichte des Christentums, sondern vielmehr Verflechtungsgeschichte ist, wird das ja schon umgesetzt. Allerdings ist die Warnung von Jürgen Osterhammel und Angelika Epple zu beherzigen, schnurstracks auf die Suche nach „der“ Globalisierung zu gehen. Das ist eine „rhetorische Leerformel“, wenn sie von konvergenten Prozessen zunehmender Wechselwirkungen auf allen Lebensfeldern ausgeht. Vielmehr sollten spezifische Globalisierungsprozesse in unterschiedlichen Bereichen mit ihrer jeweiligen Eigenlogik erforscht werden, auf den Märkten, bei Sprachen und Migration, der Technik, Musik und auch der Religion54. Das Christentum und die Kirchen wiederum nutzten Globalisierungen in nichtreligiösen Bereichen oder reagierten auf sie, etwa im Bereich der Kommunikation und Medienrevolutionen. Innerhalb dieses spezifisch kirchengeschichtlichen Globalisierungsprozesses lassen sich nochmals verschiedene Dimensionen unterscheiden. Auch sie liefen nicht simultan ab, etwa die glo51 Vgl. F. Schulze, Selbstbewusstsein. Zu transatlantischen Austauschbeziehungen im Protestantismus des 19. Jahrhunderts vgl. Wischmeyer, Austauschprozesse. 52 Vgl. Hudal, Tagebücher; Klee, Persilscheine; Steinacher, Nazis; und Blaschke, Kirchen, 236–238. 53 Vgl. Osterhammel, Flughöhe, 49. Zur Globalisierung als Teil der Globalgeschichte vgl. ebd., 26. 54 Vgl. Osterhammel, Flughöhe, 38 f.; Epple, Globalisierung/en. Auch Turner / Holton, Handbook unterscheiden in ihrem Handbuch der Globalisierung verschiedene Globalisierungen, bieten aber zur Religion nur zwei eher präsentistische Artikel über globalization of fundamentalism (Peter Beyer) sowie über Islam and globalization (Joshua Roose u. Bryan S. Turner) seit dem 20. Jahrhundert.
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bale Verbreitung der religiösen Lehre, die Konfiguration der Frömmigkeit und die Bildung stabiler hierarchischer Strukturen. Das Ernstnehmen des Konzepts von Bereichsglobalisierungen kann davor schützen, einen entdeckten Zusammenhang derart aufzubauschen, dass er alleine als Initialzündung oder Indikator für die Globalisierung fungiert. Zwar hat Stefan Nacke überzeugend gezeigt, wie das 1965 beendete Zweite Vatikanum die katholische Kirche verändert hat von einer mit der säkularen Welt konfrontierten Gegengesellschaft zu einer Weltkirche. Das Personal auf dem Konzil war internationaler als beim Vorgängerkonzil, die Theologie universaler, und die damals benutzte Semantik von zunehmender „weltlicher Verflechtung“ und „Menschheitsfamilie“ zeugte von einem „Weltgesellschaftsbewusstsein“. Aber „die [sic] Globalisierung des Katholizismus“ erst in den 1960er Jahren anzusetzen, ist höchst irreführend55. Eine derart eng auf Zeitgeschichte und die Amtskirche eingestellte Linse blendet aus, welche Semantik schon seit dem frühen 19. Jahrhundert („Weltbürger“, „Weltliteratur“, „Weltverkehr“, „sich vergrößernde Weltgeschichte“) und etwa 1848 im Kommunistischen Manifest von dem Bewusstsein zeugt, dass an die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit ein „allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen“ tritt56. Vor allem übersieht dieser verengte Blick andere Bereichsglobalisierungen des Katholizismus im Zuge der durch transnationale und transatlantische Verflechtungen erfolgreichen Ultramontanisierung und Uniformierung der Kirche, darunter die weltweite Popularisierung von Papst Pius IX. seit der zweiten Restauration nach 1848, aber auch die Mission mit ihren Rückkoppelungseffekten auf Europa. Der Katholizismus war, wie Religionen überhaupt, an der Transformation der Globalisierung der letzten Jahrhunderte beteiligt und trug sie mit57. Nachdem verschiedene Globalisierungsebenen unterschieden wurden, wäre in einem nächsten Schritt zu prüfen, wie diese „Felder der Verflechtung“58 und religiösen Bereichsglobalisierung wiederum untereinander in Beziehung standen, und in einem letzten Schritt, welche Beziehungen sich zwischen ihnen und den auch nichtreligiösen Bereichsglobalisierungen ergaben. 4.4 Universalismus versus Partikularismus Zwischen beiden Polen zunehmender Nivellierung und Differenzierung, Universalisierung und Partikularisierung besteht ein Dauerdualismus. Des55 Nacke, Kirche, 42, 48–50. 56 Tyrell, Universalgeschichte, 2010; seine begriffsgeschichtliche Studie zeigt: Die Weltgesellschaftssemantik wurzelt im 18. Jahrhundert. Manifest zitiert nach F-ssler, Globalisierung,74. 57 Vgl. Beyer, Religions, 300; Ramjn Solans, Historia; ders., Ende; ders., Question. 58 So der Terminus bei Schneider, Formierung, 242.
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halb spricht Roland Robertson von Glocalization59. Den Balanceakt zwischen religiösem Universalismusideal und nationaler Loyalität begleitete oft ein mühsamer Aushandlungsprozess über das zulässige Maß der Verflechtung bzw. Entflechtung. Universalismus, Kosmopolitismus, Internationalismus – das waren besonders in Deutschland lange Zeit negativ konnotierte Begriffe, nicht erst unter den Nationalsozialisten. Wurden transnationale Interaktionen daher mit besonderer Vorsicht betrieben? Hier gilt es, die bisherige Nationalismusforschung mit der kaum existenten transnationalen Religionsforschung zu koppeln. Wie verändert sich Gemeinde vor Ort angesichts der drei Globalisierungsphasen, über die sich die meisten Historikerinnen und Historiker einig sind? Sie sprechen von der „ersten Phase moderner Globalisierung“, die in den 1840er Jahren begann und abrupt mit dem Weltkrieg 1914 endete. Ihr folgte eine Phase der teilweisen Deglobalisierung – ökonomisch, kulturell, technisch und in der Medienkommunikation –, bevor um 1945 eine zweite, durch den Kalten Krieg geteilte Globalisierungsphase einsetzte, schließlich um 1990 die jetzige dritte Phase60. Wehrten sich Christen dagegen? Nutzten sie die Phasen unterschiedlich? Wo gab es Entflechtungsprozesse? Diese Dreiteilung der Globalisierungsschübe stützt sich jedoch vorwiegend auf institutionelle und kommunikative Netzwerke sowie auf Daten der weltweiten ökonomischen Integration, die erst in den späten 1970er Jahren wieder dasselbe Niveau erreichte wie 191461. Für die religiöse Bereichsglobalisierung sollte daher keine daran orientierte, vor-empirische Entscheidung getroffen werden. Die Frage nach der Genese ihrer Globalisierungen kann mithin ergebnisoffen gelassen werden. Auch das Verhältnis von Homogenisierung und Heterogenisierung braucht nicht vorausgesetzt, sondern sollte überprüft werden. Besonders diese Spannung zwischen Universalismus und Nationalismus bleibt ein Dauerthema aller Globalisierungsgeschichte, sollte es aber nicht nur dort, sondern auch in der Religionsgeschichte sein, denken wir an die Zeit zwischen 1870 und 1945, wo christlicher Universalismus besonders mit dem Nationalprotestantismus und Deutschchristentum in Konflikt geriet, oder denken wir an den aktuellen Hindu-Nationalismus in Indien unter Premierminister Narenda Modi.
59 Vgl. Robertson, Glocalization. 60 Vgl. F-ssler, Globalisierung, 48–51, 74–97; ebenso Rothermund, Verortung. Osterhammel / Petersson, Geschichte, 25 f., unterscheiden mit Immanuel Wallerstein „Globalisierungsanläufe“ ab 1500, erneut ab 1750 (Industrialisierung) und ab 1880 (Politisierung). Andere sehen den Beginn oder wenigstens die „Protoglobalisierung“ schon im 16. Jahrhundert. Inzwischen herrscht sogar Konkurrenz um das Etikett der „ersten Globalisierung“. Die Varianz ist erheblich: Für manche Kapitalismusforscher wie Gunn (vgl. Gunn, Globalization) läuft sie schon 1500–1800, manche Protestantismusforscher dagegen sehen die „erste Globalisierung“ erst zwischen den Weltkriegen beginnen, vgl. Robert, Globalization. 61 Nachvollziehbar daher die „erste Globalisierung“ bei Torp, Herausforderung, 14 f.
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4.5 Standardisierung und Universalisierung Standardisierung und Universalisierung sind „Grundfiguren einer globalen Teleologie“62. In der Tat werden Prozesse der Universalisierung, Uniformierung und Standardisierung von Bayly und Osterhammel für das 19. Jahrhundert diskutiert, aber mit unterschiedlichem Ausgang. Während Bayly eine Globalisierung als Uniformierung unterstellt – der rote Faden, der sich durch das gesamte Buch zieht –, die im konkreten Fall den Religionen die Uniformierung von Autorität, Orthodoxie und Orthopraxie bescherte – überall wollte man nun verbindliche heilige Texte und Orte –, bleibt Osterhammel verhaltener, zumal er keine Globalisierungsgeschichte mit einer glatten Meistererzählung, sondern eine komplexe Weltgeschichte vorlegt63. „Wird Weltkultur homogener, oder verschärfen sich die kulturellen Unterschiede und ihre Wahrnehmungen von innen und außen?“ Solche Fragen seien, bremst Osterhammel andernorts, noch längst nicht geklärt64. Andererseits zieht sich die Standardisierung (was unterscheidet sie von Baylys Uniformierung?) von Maßen, Gewichten, Arbeitsprozessen, ja Kulturpraktiken wie ein Leitmotiv durch Osterhammels Buch65. Trifft Baylys an sich plausibler Uniformierungsbefund – etwa hinsichtlich der Ultramontanisierung66 – auch noch für die Kirchen in der zeithistorischen zweiten und dritten Globalisierung zu? Oder muss man vielmehr von einer zunehmenden Pluralisierung des religiösen Feldes selbst innerhalb der Konfessionen und Kirchen ausgehen67 ? 4.6 Verdichtung Dieser Punkt ist unter Globalhistorikern noch am wenigsten entwickelt. Robertson spricht von der Globalisierung als Verdichtung der Welt, als Intensivierung des Weltbewusstseins. Doch was bedeutet es, wenn die Welt komprimiert wird, wenn Menschen weltweit mehr voneinander wissen und Entfernungen zu schrumpfen scheinen? Und was würde das für die Kirchengeschichte in der Zeitgeschichte und besonders im digitalen Zeitalter heißen68 ?
Osterhammel, Flughöhe, 51. Vgl. Bayly, Geburt, 400–450; und Osterhammel, Verwandlung, 1239–1278. Osterhammel, Flughöhe, 38. Vgl. Osterhammel, Verwandlung, 118–121, 381, 959, 1029, 1038 f., 1120. Vgl. dazu Ramjn Solans, Ende; Blaschke, Marpingen (mit der entsprechenden Literatur); und ders., Aufstieg. 67 Dies ist die am häufigsten vertretene These. Vgl. Willems / Reuter / Gerster, Ordnungen. 68 Vgl. Robertson, Glocalization; und Osterhammel, Flughöhe, 50 f. 62 63 64 65 66
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4.7 Ideenzirkulation Viel länger schon gehört zum Kerngeschäft transnationaler und globaler Geschichte die Beobachtung des Austausches nicht nur von Waren, sondern auch von Ideen. Immerhin zeigen bisherige komparative Studien, wie in verschiedenen Ländern Phänomene unterschiedlich ausgeprägt, aber beinahe synchron erscheinen, sei es die stark mit den USA verflochtene Erweckungsbewegung, sei es der Ultramontanismus oder ein Laienkatholizismus mit emanzipativem Anspruch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, seien es diverse Fundamentalismen seit den 1970er Jahren. Ideen konnten vertikal diffundieren, durch übergeordnete Referenzen wie den Ultramontanismus oder Fundamentalismus, sie konnten am Ende aber auch in übernationale Institutionen einmünden. Ferner lässt sich eine horizontale Ideenzirkulation beobachten, indem die Entwicklungen und Diskurse anderer Länder rezipiert wurden, wobei konkret auch Akteure zu identifizieren sind, die zu personalen Verflechtungen beitrugen. Die Wirkungen dieser Verflechtungen konnten affirmativ sein, indem vom anderen gelernt oder dieser gar mit Abweichungen imitiert wurde, womit sich die Transfergeschichte beschäftigt. Sie konnten im Gegenteil aber auch distanzierende Wirkungen haben, weil das Fremde zur Profilierung des Eigenen instrumentalisiert wurde. Da sich globale und transnationale Geschichte nicht im gegenseitigen Wahrnehmen, in Ideenzirkulation, Verflechtungen und Identitätsbildungsprozessen erschöpft, bleibt es immer auch wichtig, auf Praktiken einzugehen. Wie kam es von der Wahrnehmung zur Implementierung im eigenen Land, wie transformierten sich Ideenspenden und -anleihen in der jeweiligen Kirchengeschichte vor Ort, in der Gemeinde, der Landeskirche oder im Bistum69 ? 4.8 Verflechtung durch Medien und Intermedialität Die Medienrevolution im 19. Jahrhundert beschleunigte den Transfer des Wissens über die Welt durch Broschüren, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Schon damals fand in der religiösen Medienlandschaft ein vitaler transnational-intermedialer Austausch statt, amerikanische Zeitungen zitierten französische, deutsche druckten belgische Artikel ab. Heute mag erstaunen, wie intensiv in katholischen deutschen Zeitungen und Zeitschriften über 69 Stollhof, Biafra legt eigentlich eine Wahrnehmungsgeschichte vor, auch wenn der Band häufig den Begriff „transnational“ bemüht. Die Akteure sind vorwiegend bundesdeutsche Katholiken, die Hungernden als eigenständige, gar eigensinnige Akteure kommen nicht vor, sondern bleiben primär Objekt der Fürsorge. Um eine Verflechtungsgeschichte im engeren Sinne handelt es sich mithin nicht, auch wenn Implementierungspraktiken behandelt werden.
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Belgien, Irland, Spanien, Mexiko und andere katholische Länder weltweit oder über katholische Minoritäten in Asien oder etwa Christenverfolgungen im Orient berichtet wurde. Dadurch konnte eine Art globales katholisches Solidaritätsgefühl entstehen. Aus ihm leiteten manche Katholiken bestimmte Rechte der Einmischung in andere Länder ab. Im 20. Jahrhundert kamen das Radio, seit den 1940er Jahren das Fernsehen und später das Internet hinzu. Anhand der Päpste kann man die Entwicklung ablesen. Pius IX. (1846–1878) war der erste Papst, der medial breit präsent war, auch in Form vervielfältigter Bilder, die in die Wohnstuben Eingang fanden. Pius XII. (1939–1958) nutzte die gesamte Klaviatur der Massenmedien, auch Radio und Film, um seine Botschaften weltweit zu verbreiten, und Johannes Paul II. (1978–2005) gilt überhaupt als der charismatische „Medienpapst“70. 4.9 Transnationale Akteure Ideen zirkulierten nicht nur durch die Massenmedien, sondern auch durch Akteure. Das transnationale und globalgeschichtliche Vorgehen lenkt jedoch – im Unterschied zur Internationalen Geschichte – das Augenmerk von den staatlichen Akteuren weg. Das gehört zum Ablösungsprozess von der herkömmlichen Nationalgeschichte. Akteure, die über Grenzen Ideen verbreiteten oder sonstige Wirkungen entfalteten, standen möglicherweise per Post in Kontakt mit ausländischen Kreisen oder waren reisefreudige Personen, die ihr Heimatland verließen, um persönlich im Ausland zu wirken. Hier werden oft einzelne Individuen verfolgt, die grenzüberschreitend reisten oder korrespondierten. Besonders auffällige mobile Personen werden inzwischen als „transcultural bodies“ untersucht71. Gefragt ist aber auch die Massenmigration religiös Anderer. Angesichts der starken (nach der Wirtschaft) Dominanz von Migrationsfragen in der Globalgeschichte und der täglichen Aktualität des Themas verwundert nicht, dass der Zusammenhang von Religion und Migration für das 20. Jahrhundert von Historikern, Ethnologen und Religionswissenschaftlern, insbesondere aber vonseiten der Migrationsforschung länger schon aufgegriffen worden ist72. Allein in Deutschland sind die Veränderungen frappant. Waren deutsche Städte vor 80 Jahren religiös noch sehr überschaubar, mit nur zwei verschiedenen Religionen – Juden und Christen in verschiedenen Konfessionen –, sind heute in manchen Metropolregionen mehr als 200 Religionsgemeinschaften anzutreffen73. 70 Vgl. Samerski, Popularisierung; Bçsch, „Medienpapst“; und Blaschke, Aufstieg. 71 Für die Zeit ab 1919 vgl. Herren, History, 59–63. Zu transnationalen religiösen Akteuren vgl. Haynes, Actors. 72 Vgl. Lehmann, Migration; Teuchert, Gemeinschaft; Lauser / Weisskçppel, Einleitung; und Esch / Poutrus, Zeitgeschichte. 73 Vgl. G-rtner, Pluralisierung, 560.
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4.10 Globale Momente / Ereignisse In Anlehnung an das Konzept der global moments des amerikanischen Historikers Erez Manela könnte man ähnliche globale Augenblicke auch in der Kirchengeschichte ausmachen. Manela fiel die Koinzidenz von Aufständen in Korea, China, Indien und Ägypten im Jahre 1919 auf. Wie war diese Synchronizität zu erklären ? Er führte sie auf die Versailler Friedensverhandlungen zurück und die enttäuschten Erwartungen nach dem Wilsonian Moment, dem Versprechen des Selbstbestimmungsrechts der Völker, das nicht eingelöst wurde74. Ähnliche Momente ließen sich auch in der Kirchen- und Religionsgeschichte ausmachen: - Der Fall Edgar Mortara, also die Aufdeckung einer heimlichen Taufe an einem jüdischen Knaben 1858 in Bologna, im Kirchenstaat, beschäftigte die europäische Presse jahrelang. Er befeuerte den Antiklerikalismus und führte 1860 zur Gründung der Alliance Israelite Universelle in Paris und zur transnationalen Vernetzung auch deutscher liberaler Juden. - Das Erste Vatikanum 1869/70 mobilisierte Gegner und Anhänger des Papsttums. In Deutschland führte es zur Spaltung des Katholizismus. - Die Hinrichtung des antiklerikalen Lehrers und Verlegers Francisco Ferrer in Spanien 1909, der beschuldigt worden war, den blutigen antiklerikalen Aufstand der „Spanischen Woche“ angezettelt zu haben, hat Lisa Dittrich als verdichtetes kommunikatives Ereignis in Europa beschrieben. Es führte auch die verfeindeten konfessionellen Lager in Deutschland wieder gegeneinander75. - Der Sputnik-Schock 1957 verängstigte das weiße protestantische Amerika ob des sowjetischen Vorsprungs, bevor es die Herausforderung annahm. Der Schock bewirkte im Westen erhöhte Bildungsanstrengungen und in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren die Preisgabe der Konfessionsschulen, um das katholische Bildungsdefizit zu überwinden76. Als ähnliche Schlüsselmomente für die Wirkung auf die zeitgeschichtliche Kirchengeschichte wären zu befragen: -
Der Tod von Pius XII. im Jahr 195877. Die Enzyklika Humanae vitae, ausgerechnet im Sommer 196878. Die Studentenunruhen 1967/1968. Das Zweite Vatikanische Konzil 1962–196579.
74 75 76 77 78 79
Vgl. Manela, Moment; und Conrad, Globalgeschichte, 277–280. Zu den drei genannten Schlüsselereignissen vgl. Dittrich, Antiklerikalismus, 147–288. Vgl. Grossbçlting, Himmel, 126. Vgl. Schlott, Papsttod. Vgl. Altermatt, „1968“. Vgl. Dols / Ziemann, Participation; und Nacke, Kirche.
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- Die global moments 1989 und der 11. September 200180. Insgesamt stehen die zehn für die „kirchliche Zeitgeschichte global“ vorgeschlagenen Themen und Denkfiguren unter dem Dach von drei Fragen: 1. nach Kirche und Christentum in globalgeschichtlicher Hinsicht, 2. nach Globalisierung von Kirche und Christentum sowie 3. nach Globalisierung durch Kirche und Christentum. Alle drei Fragen lassen sich auch in unseren gewohnten Maßstäben behandeln, also etwa auf biographischer, auf Diözesan- oder Nationsebene, solange das Bewusstsein davon erhalten bleibt, dass keine Religion, keine Kirche ein endogenes Phänomen ist. Keine lässt sich ohne den Kontrast zu und den Austausch mit anderen Religionen, Konfessionen und Nationen verstehen. Kirchliche Zeitgeschichte muss hier relational vorgehen, indem weiterhin sozial- und geschlechtergeschichtliche, kultur-, konfessions- und mentalitätsgeschichtliche Zugänge genutzt werden, aber ergänzend auch globalgeschichtliche Perspektiven ernst genommen und erprobt werden. Was gewinnt man am Ende? Man lernt, bei Missionen und Wallfahrten, bei Medienreflexen und Ideenzirkulationen, wie prägend außernationale Einflüsse waren oder auch die Abgrenzung von ihnen. Und wem es noch an Mut mangelt, diesen Schritt in eine faszinierende Forschungslandschaft zu wagen, dem sei Jürgen Osterhammels Charakteristik von Globalgeschichte empfohlen, wonach es schlicht um „eine Erkenntnishaltung […] die erlernt werden könne“, gehe, kurz: um eine Haltung81.
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80 Vgl. Middell, Moment. 81 Osterhammel zitiert in: Kranzer / Schumacher, Tagungsbericht.
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Olaf Blaschke
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VII. Kommentar
Klaus Fitschen
Ein Fazit
Was heißt und zu welchem Ende treibt man Kirchliche Zeitgeschichte? Am Ende der Tagung blieb eine offene Frage, die in gewisser Weise auch das Fazit darstellt. Abgesehen von allen methodischen und inhaltlichen Problemen stand eben doch immer wieder die Frage im Raum, was das Fach Kirchliche Zeitgeschichte eigentlich ausmacht. Überlagert wurden Sach- und Fachdiskussionen also von Debatten um das Selbstverständnis, auch unter der Berücksichtigung von keineswegs einhelligen Annahmen, die man über die Wahrnehmung der eigenen Disziplin hat. Gerade auf diesem Gebiet war kein wirklicher Konsens zu verzeichnen, denn der Selbstwahrnehmung, in wissenschaftlicher Hinsicht gut dazustehen, durch Publikationen sichtbar zu sein und über ein gutes Personaltableau zu verfügen, stand der Befund gegenüber, man leide unter schwindenden Ressourcen und mangelnder Beachtung. Hinzu kam das inzwischen geradezu klassische Dilemma bei der Beurteilung der Frage, ob Religion denn heute noch und vor allem in der historischen Retrospektive eine Bedeutung zugemessen werde oder nicht. Dabei kreuzten sich dann auch noch die Wahrnehmungen der Beteiligten aus den verschiedenen Konfessionen, die die jeweils anderen wechselweise als besser ausgestattet als sich selbst ansahen. In der Summe aber ließe sich doch sagen: Aus evangelischer Sicht ist die eigene Zeitgeschichtsforschung (man könnte sagen: mittelfristig) nur (noch) durch ihre universitäre Verankerung abgesichert, während die katholische Zeitgeschichtsforschung auch eine kirchliche Verankerung hat. Aus katholischer Sicht wird aber gerade die universitäre Verankerung der evangelischen Seite als stark wahrgenommen (wobei die Zahl der explizit diesem Fach gewidmeten Professuren an evangelisch-theologischen Fakultäten exakt bei einer liegt). Aufschlussreich war in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass die Kirchliche Zeitgeschichte sich, auch was die Arbeit der für die Tagung verantwortlichen Kommissionen angeht, inzwischen schon selbst historisch wahrzunehmen vermag. So gibt es bereits ausgebaute Ansätze zu einer kritischen Geschichte des eigenen Faches, dessen Anfänge wesentlich durch die Erforschung der Rolle der jeweiligen Konfession in der Zeit des Nationalsozialismus bestimmt sind und das sich nun in einer kontinuierlichen Suchbewegung im Blick auf Forschungsfelder befindet – nicht nur dem Fortgang der Geschichte folgend, sondern auch neuen Methoden und Fragestellungen.
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Klaus Fitschen
Sichtbar wurde auf der Tagung auch, dass der Untersuchungsgegenstand der Kirchlichen Zeitgeschichte insofern diffus sein kann, als dazu eben auch und nicht zuletzt Religion in ihren vielen als christlich zu verrechnenden Facetten zählt. Sie stellt darum einen sperrigen Gegenstand dar, den man nur schwer erforschen kann, zumal, wenn sich die religiöse Praxis zunehmend individualisiert. Hier wären also auch säkularisierungstheoretische Zugänge gefragt: Was macht die Säkularisierung aus und mit der Religion? Schon der Begriff „Kirchliche Zeitgeschichte“ aber ist erklärungsbedürftig, da „kirchlich“ oft im Sinne des Auftraggebers, nicht aber im Sinne des Untersuchungsgegenstands verstanden wird. Was aber sollte die Alternative sein? „Christentumsgeschichte“ oder „Religious History“? Die in der evangelischen Zeitgeschichtsforschung so virulente Debatte der 1990er Jahre, ob es um den Protestantismus oder um die Kirche als Institution gehe, könnte so vielleicht unter neuen Vorzeichen wieder aufleben. Mit neuen Begriffen wären auch neue Definitionen verbunden, die nach der institutionellen Verankerung des Forschungsfeldes an der Universität und nach Übergängen zu anderen historischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen sowie zur Religionswissenschaft fragen lassen. Interdisziplinarität ist wünschenswert, aber wie lässt sie sich unter den Bedingungen des laufenden Universitätsbetriebes verwirklichen? Alle Anregungen zu einer Entgrenzung in regionaler und methodischer Hinsicht, wie sie auf der Tagung auch im Kommentar zu den „Periodisierungsfragen der Kirchlichen Zeitgeschichte“ aus allgemeinhistorischer Sicht (Christoph Cornelißen) formuliert wurden, lassen danach fragen, wie dies mit den begrenzten Ressourcen in personeller Hinsicht geleistet werden soll. In noch größere Weiten verwies der Kommentar zu den „Forschungsgegenstände[n] der Kirchlichen Zeitgeschichte“ aus kulturwissenschaftlicher Sicht (Wolfram Pyta), der eher kaleidoskopartig vor Augen führte, wie eine Kirchliche Zeitgeschichte aussehen könnte, die verstärkt die kirchliche Praxis berücksichtigt. Was bei weiter dynamisch fortschreitender Säkularisierung und dem raschen Schwinden des Bezugsfeldes Religion und Kirche aus der Kirchlichen Zeitgeschichte als universitärem Fach werden kann und soll, musste wiederum als Frage stehen bleiben. Über diese institutionelle Verankerung hinaus aber müssten wohl die stärker in den Blick kommen, die außerhalb der Universitäten auf diesem Feld arbeiten, also vor allem diejenigen, die in Projekten tätig sind, die von Kirche und Diakonie finanziert werden. Unter denen, die an der Tagung teilnahmen, waren immerhin etliche aus solchen Projekten. Eine Anfrage an den Gegenstand und die Methode war auch die Frage der Periodisierung, für deren Neufassung es durchaus Argumente gibt, die aber den Erkenntnisgewinn nicht zwingend fördern würde. Hier zeigten sich dann auch Differenzierungen im konfessionsspezifischen Zugang, da innerkirchliche Veränderungen für den Katholizismus, Veränderungen im Verhältnis von Staat und Kirche für den Protestantismus eine größere Rolle spielten. Dies ließ sich beispielhaft an den Jahren 1918/19 (Ende des landesherrlichen Kir-
Ein Fazit
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chenregiments im Protestantismus) und 1933 (Zerstörung des katholischen Milieus) zeigen, wobei beide Daten allerdings nicht nur konfessionsspezifische Wirkungen hatten. Eine weitere Anfrage an den Gegenstand und die Methode betraf den geographischen Bezugsrahmen. Ist dieser nicht zu eng, allein auf Deutschland bezogen? Müsste er nicht auf Europa oder gar den globalen Horizont erweitert werden? Auch diese Frage blieb offen und wurde in der Diskussion problematisiert: Wird der Untersuchungsraum dann nicht zu groß, zu plural und zu diffus? Immerhin, so die pragmatischere Lösung, ließen sich wohl christliche Netzwerke (Ökumene, Mission, Verbandsprotestantismus) einbeziehen. Nicht nur technischer Natur war die Frage nach dem weiteren Umgang mit den Quellen, deren Charakter und Umfang sich mit zunehmender Elektronisierung der Kommunikation zusätzlich ändert. Will man im klassischen Sinne edieren oder Quellen im Internet dokumentieren? In den Blick kam in der Diskussion die „jüngere Generation“, deren Lese- und Verstehensmentalität eine andere ist und deren Zugang zu Informationen – zugespitzt gesagt – durch das Smartphone kanalisiert wird. In diesem Problemfeld wäre also nicht nur fachwissenschaftliche, sondern auch pädagogische Kompetenz gefragt. Quo vadis, Kirchliche Zeitgeschichte? Das wird, so zeigte sich immer wieder, auch davon abhängig sein, wen man sich als Adressaten der eigenen Forschung vorstellt. Ob die Kirchen solche Adressaten sind, erschien manchen zweifelhaft. Ein produktiver Weg könnte die verstärkte Einbeziehung der Erinnerungskultur sein, die der Kirchlichen Zeitgeschichte über das Fachpublikum hinaus einen gewissen Öffentlichkeitsraum erschließen könnte, dies aber doch eher im Sinne der „Third Mission“ neben Forschung und Lehre als in dem Sinne, dass sie sich an ihrem Nutzen für Gegenwartsfragen messen lassen muss. Hier sollte der Gefahr entgegengewirkt werden, die Erinnerungsarbeit nicht-professionellen Kräften zu überlassen und damit kirchliche und wissenschaftliche Interessen zu entkoppeln. Die Kommissionsvorsitzenden hatten in ihren Eröffnungsvorträgen das Interesse bekundet, „methodisch und inhaltlich zusammenzuarbeiten“ und „gemeinsame Projekte voranzutreiben“ (Thomas Brechenmacher) bzw. eine „sukzessive Annäherung“ zu ermöglichen, um „bikonfessionell und interdisziplinär“ das Fach „neu zu vermessen“ (Harry Oelke). Die Tagung bot dazu einen wichtigen Ansatz, und indem die vielen offenen Fragen benannt wurden, konnten auch weitere Perspektiven für eine Zusammenarbeit zwischen den konfessionell geprägten Kommissionen und Forschungskulturen eröffnet werden. Dass dies völlig ohne Reibungsverluste und mit großem Gewinn möglich ist, hat die Tagung gezeigt.
Mitwirkende
PD Dr. Gisa Bauer Privatdozentin an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig; Mitglied der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Prof. Dr. Olaf Blaschke Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. JProf. Dr. Florian Bock Juniorprofessor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum; Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission der Kommission für Zeitgeschichte e.V. Prof. Dr. Thomas Brechenmacher Professor für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Potsdam; Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission der Kommission für Zeitgeschichte e.V. Prof. Dr. Marc Breuer Professor für Soziologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abt. Paderborn, Fachbereich Sozialwesen; Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission der Kommission für Zeitgeschichte e.V. Prof. Dr. Klaus Fitschen Professor für Neuere und Neueste Kirchengeschichte an der Universität Leipzig; Mitglied der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Prof. Dr. Thomas Großbölting Professor für Zeitgeschichte an der Universität Hamburg und Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg; Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission der Kommission für Zeitgeschichte e.V.
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Mitwirkende
Prof. Dr. Siegfried Hermle Professor em. für Evangelische Theologie und ihre Didaktik / Historische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln; stellvertretender Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. PD Dr. Frank Kleinehagenbrock Geschäftsführer der Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn; Privatdozent am Institut für Geschichte der Universität Würzburg. Prof. Dr. Claudia Lepp Leiterin der Forschungsstelle der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte; apl. Professorin am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Antonius Liedhegener Professor für Politik und Religion am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP), Universität Luzern; Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission der Kommission für Zeitgeschichte e.V. Prof. Dr. Hugh McLeod Professor em. für Kirchengeschichte am Historischen Seminar der Universität Birmingham. Prof. Dr. Harry Oelke Professor für Kirchengeschichte (des Mittelalters bis zur Neuzeit) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München; Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Dr. Henning Pahl Leiter des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin; ständiger Gast der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Prof. Dr. Mark Edward Ruff Professor im Department of History an der Saint Louis University in St. Louis, Missouri; Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission der Kommission für Zeitgeschichte e.V. Dr. Christoph Schmider Leiter der Diözesanstelle Archive, Bibliotheken, Schriftgutverwaltung der Erzdiözese Freiburg; Referatsleiter Erzbischöfliches Archiv und Erzbischöfliche Bibliothek.
Mitwirkende
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Prof. Dr. Thomas Martin Schneider Geschäftsführender Leiter des Instituts für Evangelische Theologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz; apl. Professor am Institut für Evangelische Theologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz; Mitglied der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Prof. Dr. Maike Schult Professorin für Praktische Theologie am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg. Sebastian Schwab Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Staatskirchenrecht und Kirchenrecht, an der Georg-August-Universität Göttingen.
Personenregister
Adenauer, Konrad 96, 99, 145 f., 221, 227 Adri#nyi, Gabriel 296 Ahlstrom, Syndney 255 Albert, Hans 238 Albrecht, Christian 230 Albrecht, Dieter 67, 96, 101, 140, 167, 205 Albrecht-Birkner, Veronika 67, 167 Almond, Gabriel 229 Altermatt, Urs 102 f., 105–107, 141, 151 f., 320 Amery, Carl 96, 99 Angenendt, Arnold 102, 140 f. Anselm, Reiner 230 Arnold, Claus 37 Aschmann, Birgit 41, 45, 108 Aubert, Roger 109 Avenarius, Martin 237 Bachelard, Gaston 278 Bäckstrom, Anders 269 Badone, Ellen 266 Barbato, Mariano 309 f. Barth, Karl 21, 58, 62, 66, 115 f., 119 f., 143 Barth, Thomas 236 Bauer, Gisa 16, 275, 291, 337 Bäumer, Rudolf 64 Baumgärtel, Friedrich 15, 115, 118–120 Baumgarten, Otto 206, 220 Baur, Nina 229 Bayly, Christopher 307, 317
Beattie, Nicholas 267 Beaumont, Justin 270 Beck, Ulrich 229, 310 Becker, Marvin 26 Beckmann, Joachim 64, 69 Beglov, Alexej Lvovicˇ 291 f. Behrens, Kathrin 279 f. Beichelt, Timm 290 Beier, Peter 126, 165 f. Beljakova, Nadezhda 295 f. Below, Georg von 220 f. Benedikt XVI. 43 f. Bendikowski, Tillmann 153 Bennette, Rebecca Ayako 148 Bergen, Doris 141 Berger, Peter 257 Berglar, Peter 304 Besier, Gerhard 11, 54 f., 79, 88–90, 124–127, 142–144, 153, 165, 277, 297 Beste, Niklot 64 Bethge, Eberhard 83, 123 Beutel, Albrecht 21 Beyer, Peter 314 f. Beyerhaus, Peter 64 Beyrau, Dietrich 276 Bismarck, Otto von 148 Blaschke, Olaf 17, 37, 101, 138, 140, 164, 169, 303–305, 307, 311 f., 314, 317, 319, 337 Blasius, Jörg 229 Bleistein, Roman 167 Blessing, Werner 142 Boberach, Heinz 123
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Personenregister
Bock, Florian 14, 35, 39, 47, 107, 306, 337 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 10, 96, 99, 146, 162 Bode, Sabine 65, 98, 182, 209 Bödeker, Hans Erich 304 Böhler, Wilhelm 96 Böick, Marcus 35 Bonhoeffer, Dietrich 69, 119, 160 Borutta, Manuel 37 Bösch, Frank 25, 146, 319 Bosshart-Pfluger, Catherine 141 Bourdieu, Pierre 229 Bracher, Karl Dietrich 91 Brakelmann, Günter 207 Braune-Krickau, Tobias 208 Brechenmacher, Thomas 9 f., 12, 14, 17, 35, 79, 95, 97 f., 108, 160, 217 f., 230, 303, 335, 337 Bremer, Thomas 280, 295 Breuer, Marc 16, 215, 217, 219–221, 337 Brewitt-Taylor, Sam 261 f. Brodie, Thomas 141 Broszat, Martin 81 f. Brown, Callum 255 f., 258–261, 263–265 Bruce, Steve 260 Brüning, Heinrich 95 Brunotte, Heinz 78 f., 84, 121 Bryman, Alan 229 Buchheim, Hans 95 Buchna, Kristian 145, 153 Budde, Gunilla 303 Bühmann, Henning 126 Bulisch, Jens 126, 166 Bullivant, Stephen 261 f. Bülow, Vicco von 119, 126 Bultmann, Rudolf 63 Bümlein, Klaus 133 Busch, Norbert 140 Büttner, Ursula 169
Callahan, William J. 265 Campenhausen, Axel von 234 Chadwick, Kay 268 Chladenius, Johann Martin 24 Clark, Christopher 309 Cholvy, G8rard 256 f., 259, 262, 265 Cloke, Paul 270 Collingham, Lizzie 305 Conrad, Sebastian 303, 306, 311 f., 320 Conway, Martin 306 Conze, Eckart 236 Conzemius, Victor 11 Cornehl, Peter 65 Cornelißen, Christoph 13, 159, 334 Cornwell, John 104, 162 Corzillius, Martin 246 Creswell, John W. 229 Cuchet, Guillaume 262 Dahlmann, Dittmar 278 Damberg, Wilhelm 9, 12, 35, 38–41, 43, 45 f., 105–108, 141, 163 f., 218, 227, 260, 267, 269, 304, 309 Danyel, Jürgen 25 Davie, Grace 267, 269 Dejung, Christof 312 De Maeyer, Jan 141 Denzler, Georg 164 Deuerlein, Ernst 96, 140 De Wall, Heinrich 235, 242 f. Dibelius, Otto 62, 64, 126 Diehn, Otto 80, 122 Dierckx, Danielle 268 Di Fabio, Udo 242 Dittrich, Lisa 320 Doering-Manteuffel, Anselm 9, 11, 35 f., 55, 87, 103, 124 f., 142 Dols, Chris 309, 320 Dombois, Hans 240, 243 f. Donath, Klaus-Helge 280 Dörre, Steffen 310 Dowe, Christopher 148 Drees, Annette 141
Personenregister
343
Dreher, Martin N. 84 Drehsen, Volker 209 Dreier, Ralf 240, 242 Drews, Paul 206 Dutschke, Rudi 66 Duve, Thomas 234 Dworkin, Ronald 238
Friedrich, Norbert 116 f., 148, 292 Friedrich II. (der Große) 148 Frings, Josef 40 Fritz, Hartmut 126 Fuchs, Ottmar 224 Fuller, Louise 262 Furrer, Markus 141
Easton, David 229 Ebeling, Gerhard 242–244 Ebertz, Michael N. 219, 222 f. Eckert, Andreas 311 Ehlers, Caspar 235 Ehrlich, Eugen 245 Elander, Ingemar 268 Ellis, Robert 266 Elsenbast, Volker 208, 211 Endreß, Martin 219 Epple, Angelika 305, 311, 314 Ericksen, Robert P. 115–117, 141 Esch, Michael G. 319 Esser-Wagner, Meike 141 Etzenmüller, Thomas 216 Evans, Richard 246
Gabriel, Karl 39, 102, 217 f., 222, 228 Gadamer, Hans-Georg 237, 245 Galen, Clemens August Graf von 97, 160 Garnett, Jane 261 Gärtner, Christel 228, 319 Gassert, Philipp 303 Gause, Ute 53, 60, 67 Gerber, Stefan 38 Gerlach-Praetorius, Angelika 81 Germann, Michael 235, 240 f., 243 Gerster, Daniel 317 Gieryn, Thomas F. 221 Gilbert, Alan 257–259 Gill, Robin 265 Goldhagen, Daniel J. 104, 162 Goodhew, David 264 Graf, Friedrich-Wilhelm 119, 209, 220 Graf, Rüdiger 216 Green, Abigail 303, 313 Greinacher, Norbert 220 Greschat, Martin 11, 25, 28, 53, 55 f., 58–60, 63, 68, 70 f., 79, 87, 102 f., 108, 124 f., 127, 141 f., 208, 210 f., 277 Grethlein, Christian 206 f. Grewe, Bernd-Stefan 305 Grimley, Matthew 261 Großbölting, Thomas 13, 17, 21, 24, 48, 141 f., 153 f., 306, 337 Große Kracht, Klaus 21, 37, 137 Grözinger, Albrecht 207 Gruber, Hubert 38 Grünzinger, Gertraud 84, 168 Grünzweig, Fritz 64 Guerriero, Elio 40, 43
Faschingeder, Gerald 307 Fässler, Peter E. 315 f. Faulhaber, Michael von 97 Faulkner, Lauren 141 Fechtner, Kristina 208 f. Felmy, Karl Christian 278, 280, 289, 294 Ferrer, Francisco 320 Field, Clive 260 f., 265 Fischer, Andr8 126 Fischer, Andrea 45 f., 48 Fitschen, Klaus 12 f., 69, 127, 161, 333, 337 Fix, Karl-Heinz 124 Flatten, Heinrich 43 Fleckenstein, Gisela 140, 152 Fleischer, Holger 242 Forster, Karl 42, 95 Freitag, Sabine 311
344
Personenregister
Gundlach, Gustav 221 Gunn, Geoffrey C. 316 Günther, Klaus 159, 241 Habermas, Jürgen 229, 241, 308 Habermas, Rebekka 307 f. Hamm, Bernd 127 Hanschke, Kevin 291 Harder, Günter 79 Harris, Alana 261, 271 Haunerland, Winfried 39 Hauschild, Wolf-Dieter 9–11, 25, 28, 56 f., 61, 68, 70, 79–82, 85, 87, 120, 125, 210 Haynes, Jeff 319 Heckel, Martin 233, 235 Heelas, Paul 263 f. Hehl, Ulrich von 9, 103 f., 106, 116, 140, 164, 167 Heid, Stefan 309 f. Heim, Manfred 142 Heinemann, Gustav 168 Hellemans, Staf 305 f. Henkelmann, Andreas 37, 108, 303 Henrix, Hans Hermann 67 Herbert, Ulrich 25 f., 245, 296 Hermelink, Jan 208 f. Hermle, Siegfried 12, 14, 53, 62, 64 f., 69, 90, 126 f., 160, 338 Hero, Markus 305 Herren, Madeleine 313, 319 Hertling, Georg Graf von 95 Hertzsch, Klaus-Peter 209 Heyder, Regina 309 Hiepel, Claudia 141 Hilaire, Yves-Marie 256 f., 259, 262, 265 Hillebrandt, Ralf 210 Hillgruber, Christian 242 Hilliard, David 255 Himmler, Heinrich 104 Hirsch, Emanuel 119 Hitler, Adolf 117 f., 146, 164 Hjelm, Norman A. 17, 295
Hobsbawm, Eric 56, 209 Hochhuth, Rolf 10, 96 f., 99, 104, 139, 147, 162 Hockenos, Matthew 142 Hockerts, Hans Günter 91, 95, 104, 159, 170, 310 f. Hoeres, Peter 36 Höffner, Joseph 46, 163 f. Hofmann, Frank-Matthias 128 Höllen, Martin 98, 104 Hölscher, Lucian 28, 141 Holton, Robert J. 314 Holzbrecher, Sebastian 47 Holzem, Andreas 25, 105, 107 Hölzl, Richard 307 f. Honecker, Martin 240 Hopkins, Anthony 305 Horstmann, Johannes 141, 152 Hovorun, Cyril 290 Huber, Florian 305, 309 Huber, Stefan 268 Hübner, Hans-Peter 233 Hudal, Alois 314 Hummel, Karl-Josef 9, 12, 96, 99, 104, 106, 140, 161 f., 167 f., 170, 227 Hürten, Heinz 11, 38, 98 f., 101 f., 104 f., 140 Hutchinson, Mark 308 Huterer, Manfred 283 Huttner, Markus 304 Iserloh, Erwin 40, 43, 48, 140 Israel, Carlotta 13, 48 Itzen, Peter 268 Jäger, Lorenz 308 Janz, Oliver 303 Jarausch, Konrad H. 170 f. Jedin, Hubert 41–43, 48, 95, 142, 309 Jestaedt, Matthias 239 Jochheim, Martin 209 Johannes XXIII. 40 f. Johannes Paul II. 46, 167, 319
Personenregister Kaas, Ludwig 95 Kaiser, Jochen-Christoph 9, 11, 53, 55, 60, 78 f., 87 f., 103, 120–122, 124, 141, 143 Kaiser, Wolfram 309, 313 Kampmann, Jürgen 62 Kappeler, Andreas 290, 295 Karle, Isolde 207 Kasparick, Hanna 207 Kasper, Walter 102 Kaufmann, Franz-Xaver 102, 127, 217, 220, 222 f. Kellenbach, Katharina von 208 Kempfer, Jaqueline 234 Kennedy, James 266–268 Kennedy, John F. 41 Kirste, Stephan 239 Kissener, Michael 104 Klaus, Bernhard 210 Klee, Ernst 314 Kleindienst, Thekla 278 Kleine, Erwin 42 f., 304 Kleinehagenbrock, Frank 18, 338 Kleßmann, Christoph 61, 304 Klieme, Joachim 210 Knoblauch, Hubert 28, 219, 230 Knops, Stephan 41, 47 Kocher, Hermann 11 Kock, Manfred 166, 168 Kocka, Jürgen 140, 303 Kohl, Helmut 47 Komlosy, Andrea 295 Koschorke, Klaus 308 f. Koselleck, Reinhart 36, 77, 237, 244 f. Köster, Markus 141 Kösters, Christoph 12, 15, 35, 98, 104–106, 108, 141, 160–162, 217 f., 227, 230, 303 Kranzer, Jonas 321 Krech, Volkhart 219 f., 305 Kremser, Holger 233 Kretschmann, Carsten 100 Kretschmar, Georg 53, 83, 123 f. Krondorfer, Björn 208
345
Krone, Heinrich 96 Kronenberg, Friedrich 42 Kuckartz, Udo 229 Kuessner, Dietrich 62 Kuhlemann, Frank-Michael 161 Kuhlmann, Helga 127 Kühne, Michael 126 Kuller, Christiane 115 f., 120–122, 127 Kullmann, Claudio 106, 227 Kumlehn, Martina 208 f. Küng, Hans 43 f., 47 Kunst, Hermann 117, 123 Kunter, Katharina 126 f., 161, 166, 295 f., 305, 307 f., 311, 313 Kupper, Alfons 140 Kurschat, Andreas 169, 288 Lambert, Yves 265, 270 f. Landau, Peter 243 f., 339 Langer, Bernd 141 Lauser, Andrea 319 Le Bras, Gabriel 221 Leendertz, Ariane 36 Lehmann, Hartmut 294 Lehmann, Karl 167 f. Lehmann, Roland M. 166, 319 Lengwiler, Martin 312 Lepp, Claudia 12, 15, 18, 63, 90, 126 f., 159, 166, 338 Lepsius, M. Rainer 102, 218 Leugers, Antonia 105, 140 f., 151, 153 Leugers-Scherzberg, August Hermann 105, 151 Levada, Juri 280 Lewis, Donald M. 308 Lewy, Guenter 139, 150, 162, 306 Liedhegener, Antonius 16, 35, 98, 105 f., 141 f., 152, 217 f., 227–230, 304, 338 Lilje, Hanns 64 f., 126 Lill, Rudolf 102 Lindner, Gerhard 210 Link, Christoph 243
346
Personenregister
Löhr, Isabella 311 Lorentzen, Tim 160 f., 167 Loth, Wilfried 11, 87, 103, 105 f., 140, 142, 151 f., 210 Luckmann, Thomas 221 Luhmann, Niklas 217, 229 Lütcke, Karl-Heinrich 62 Luther, Christian 81 Luther, Martin 148, 205, 282 Mädler, Inken 209 Maier, Hans 46, 102, 148 Manegold, Bartholomäus 181 Manela, Erez 320 Mann, Thomas 118, 205 Mannion, Gerald 309 Marks, Matthias 206 Matthes, Joachim 217 Mayeur, Jean-Marie 309 McLeod, Hugh 16, 255, 258, 261, 264–268, 338 Mecking, Sabine 141 Mehlhausen, Joachim 11, 54 f., 79, 86–88, 119, 124 f., 165 f., 168, 277, 297 Meier, Kurt 9, 79, 82, 85, 100, 121, 125 Meinecke, Friedrich 25 Meiser, Hans 118, 160 Meisner, Joachim 47 Meiwes, Relinde 140 Melzer, Karl-Heinrich 83 Mensing, Björn 126 Mette, Norbert 221 Metzger, Franziska 141 Metzler, Gabriele 22 Meusel, Marga 9 f. Meyer-Blanck, Michael 206 Middell, Matthias 310, 312, 321 Mikat, Paul 96 Misselwitz, Hans 61 Mitchell, Maria 141, 146 Mittmann, Thomas 115 f., 120–122, 127 Mitzenheim, Moritz 64 f. Modi, Narenda 161, 316
Moebius, Stephan 219 Mol, Hans 264 Moll, Helmut 167 f., 288 Möller, Horst 79 Möllers, Christoph 235, 240, 247 Moltmann, Jürgen 63 Mooser, Josef 105, 140 Moriya, Kenichi 234 Morsey, Rudolf 9, 11, 95–97, 106, 140, 144 Mortara, Edgar 320 Moses, Dirk 139 Moxter, Michael 240, 244 Muckel, Stefan 235, 242 Müller, Tobias 297 Müller-Sommerfeld, Hannelore 313 Munsonius, Hendrik 240, 242 Nacke, Stefan 315, 320 Naumann, Katja 310 Neuhäusler, Johannes 150 Nicolaisen, Carsten 83, 120–122, 124, 126, 168 Niebergall, Friedrich 206 Niemöller, Else 117 Niemöller, Martin 115, 120, 129 Niemöller, Wilhelm 15, 115–121, 123, 129 Nienhaus, Frank 141 Noth, Gottfried 64 Novick, Peter 169 Nowak, Kurt 9, 11, 55, 60, 66, 86 f., 103, 124 f., 166, 171 f., 210, 297 Obelkevich, James 265 Oehmen-Vieregge, Rosel 108, 303 Oelke, Harry 9 f., 12, 14, 17, 59 f., 63 f., 67, 77, 79, 81, 85, 90, 97, 108, 124, 126 f., 160, 304, 335, 338 Oestmann, Peter 235 Ohlemacher, Jörg 88, 207 f. Ohme, Heinz 281 Onnasch, Martin 11, 54, 88 OrmiHres, Jean-Louis 267, 271
Personenregister Osterhammel, Jürgen 303, 307, 311 f., 314, 316 f., 321 Osterloh, Lerke 242 O’Sullivan, Michael 21, 141 Otterbach, Judith 46 Otto, Arnold 308 Otto, Martin 233 Pahl, Henning 15, 179, 200 f., 338 Palm, Dirk 126 Parsons, Talcott 229 Pasture, Patrick 260, 264, 267, 269 Patel, Kiran Klaus 303 Paulmann, Johannes 312 Pelz, Birge-Dorothea 126 Pernau, Margit 303, 312 Petersson, Nils 316 Pfaff, Jan 296 Pfleiderer, Georg 207 Pickel, Gert 229 Pickel, Susanne 29 Picker, Christoph 128 Picker, Eduard 234 f., 238 Pierard, Richard V. 308 Pingg8ra, Karl 278, 281 Pirson, Dietrich 240 Pittrof, Thomas 38, 148 Pius IX. 37, 315, 319 Pius XII. 96, 99, 137, 160, 162, 319 f. Plate, Manfred 41 Pleinen, Jenny Ploder, Andrea 219 Plumpe, Werner 310 Pollack, Detlef 12, 60, 63 f., 127, 228 Pollard, John 265 Pöpping, Dagmar 127, 160, 209 Poutrus, Patrice G. 319 Priemel, Kim Christian 216 Priesching, Nicole 308 Pyta, Wolfram 13, 334 Rahe, Hans-Wilhelm 118 Rahner, Johanna 47 Rahner, Karl 43
347
Ramjn Solans, Francisco Javier 305, 307, 315, 317 Ranke, Leopold 246 Raphael, Lutz 27, 36, 216, 310 f. Raschzok, Klaus 210 Ratzinger, Joseph 40, 43 f., 48 Reagen, Ronald 47 Reckwitz, Andreas 229 R8mond, Ren8 258 f., 266 Rendtorff, Trutz 63, 67, 83, 119 Repgen, Konrad 9, 11, 15, 43, 95–98, 100 f., 103 f., 106, 140, 143, 149 f., 163 f. Reuter, Astrid 317 Reytier, Marie-Emmanuelle 141 Richter, Ingrid 141, 159, 170, 242 Richter, Martin 233 Rickerts, Folkert 207 Rittberger-Klas, Karoline 126 Robert, Dana L. 308, 316 Robertson, Roland 316 f. Robinson, John 258, 261 f. Roegele, Otto B. 96 Roes, Jan 141 Roggenkamp-Kaufmann, Antje 127 Rölli-Alkemper, Lukas 38, 141 Roose, Joshua 314 Rosenberg, Emily S. 310 Rothermund, Dietmar 316 Rothfels, Hans 14, 54, 56, 58, 61, 82, 95, 139 Rückert, Joachim 234 Rudolph, Hartmut 127 Ruff, Mark Edward 15, 21 f., 96, 100, 108, 137, 141, 143, 145–147, 150, 303, 306, 338 Ruthendorf-Przewoski, Cornelia von 65, 126 Sabrow, Martin 160, 165, 171 f. Sachsenmaier, Dominic 310, 312 Samerski, Stefan 319 Sander, Hartmut 179 f. Sapper, Manfred 285
348
Personenregister
Satjukow, Silke 296 Sattler, Dorothea 222 Schäbler, Birgit 312 Schauff, Johannes 96 Scheilke, Christoph Th. 208, 211 Scheler, Max 221 Scherf, Henning 285 Scherf, Rebecca 209 Schieder, Wolfgang 56, 62 Schilling, Annegreth 127, 305, 308, 313 Schjørring, Jens Holger 17, 120, 123, 127, 295, 307 Schlögel, Karl 283, 293 Schlott, Ren8 304, 320 Schmider, Christoph 15, 191, 338 Schmidt, Bernward 37 Schmidt, Christoph 278 f., 291 f. Schmidt, Kurt-Dietrich 78 f., 121 Schmidtchen, Gerhard 38 Schmidtmann, Christian 44, 141 Schmiedl, Joachim 106, 141, 152, 309 Schmitz, Walter 148 Schmude, Jürgen 168 Schneider, Bernhard 37, 304, 315 Schneider, Burkhart 99 Schneider, Paul 160 Schneider, Thomas Martin 9, 15, 85 f., 115, 125 f., 129, 160, 339 Schneider-Ludorff, Gury 126 f. Scholder, Klaus 15, 53, 55, 79, 82, 100 f., 121, 139, 143–145, 149 f., 153 Scholz, Matthias 141 Schramm, Luise 126 Schubert, Maria 45 Schult, Maike 16, 205, 339 Schulte-Umberg, Thomas 141 Schultz, Hans-Dietrich 276 Schultze, Harald 126, 169, 288 Schulze, Frederic 314 Schulze, Nora Andrea 160 Schulze, Thies 303 f. Schumacher, Daniel 321 Schützeichel, Rainer 216
Schwab, Sebastian 16, 233, 242, 244, 339 Schwarz, Peter Paul 126 Schweitzer, Friedrich 208, 211 Seale, Clive 229 Seeber, David A. 52 Seehase, Hans 62 Seewald, Peter 43 f. Seibt, Ferdinand 292 Seiler, Jörg 9, 85 f., 125 Sibirjowa, Olga 280 Sidenvall, Erik 265 Siebold, Angela 35 Siegele-Wenschkewitz, Leonore 83, 86, 126, 166 Silomon, Anke 126, 165 f. Sindler, Max 95 Sohm, Rudolph 243 Sombart, Werner 216 Spael, Wilhelm 148 Spencer, Herbert 245 Stasiewski, Bernhard 78, 140 Stefano, Roberto de 305 Stegelmann, Ursula 287 Stehlin, Stewart 150 f. Steinacher, Gerald 314 Steinbach, Peter 11, 88 Stengel, Friedemann 166 Sternberg, Thomas 47 Stichweh, Rudolf 22 Stolleis, Michael 234 Stollhof, Johannes 44, 318 Stolpe, Manfred 54, 88 Stössel, Hendrik 234 Strauch, Dieter 181 Strauß, Martin 141 Strohm, Christoph 160, 168 f. Stüber, Gabriele 128 Sturzo, Don Luigi 313 Stutz, Ulrich 235 Suarsana, Yan 308 Sundhaussen, Holm 283 Süssmuth, Rita 285 Suttner, Hans 39
349
Personenregister Teuchert, Felix 127, 319 Thadden, Rudolf von 83, 123 Thatcher, Margret 47 Thieme, Daniel 230 Thierfelder, Jörg 62, 79, 83 Thiesen, Helene 150 Tichenor, Kimba Allie 141 Tiling, Peter von 233 Tinnemann, Ethel Mary 150 f. Tischner, Wolfgang 104, 106, 227 Torp, Cornelius 316 Toulmin, Stephen E. 238 Troebst, Stefan 283 Troeltsch, Ernst 63, 220 Tück, Jan-Heiner 161 Tunger-Zanetti, Andreas 228 Turner, Bryan S. 314 Tyrell, Hartmann 219 f., 222, 315 Ulrich, Hans Günter 55, 89, 277, 297 Unger, Corinna R. 278 Van Rooden, Peter 260, 265 Verheyen, Nina 42 Viaene, Vincent 313 Voas, David 260 Vogel, Johanna 84 Vogel, Viola 233 Voges, Stefan 41 f. Volk, Ludwig 38, 67, 101, 140, 150, 210, 280 Voßkuhle, Andreas 242 Voy8, Liliane 265 Vranken, Jan 268 Wagensommer, Georg 207 Wagner-Rau, Ulrike 208 f. Wallerstein, Immanuel 316 Ward, Kevin 17, 295 Wasmuth, Jennifer 281 Wassilowsky, Günther 40 Weber, Max 23, 216, 220 Weber, Wilhelm 220
Weber, Wolfgang 144 Wegenast, Klaus 206 Wehler, Hans-Ulrich 140, 152 Weichlein, Siegfried 140 Weiling, Christoph 126 Weißköppel, Cordula 319 Weizsäcker, Richard von 68 Wendt, Reinhard 307 f. Wengst, Udo 79 Wenzlhuemer, Roland 311 f. Wermke, Michael 207 Werner, Yvonne Maria 307 f., 312 Wetjen, Karolin 305, 308 Weyel, Birgit 207 White, Hayden 238 Whyte, William 261 Wichert, Günter 61 Widmann, Alexander Christian 127 Wieacker, Franz 237 Wiggerich, Sandro 235 Wildner, Horstdieter 88 Wilhelm, Georg 126 Wille, Jan 27, 41, 45 f., 210, 243 Willems, Ulrich 317 Williams, Sarah 261, 265 Wilm, Ernst 64 Wilson, Bryan 257 Winter, Jörg 62 Wirtz, Heiner 141 Wischmeyer, Johannes 314 Wohlrab-Sahr, Monika 206 Wolf, Ernst 37, 79, 82, 121, 123, 126, 143, 165, 308 Wolfe, John 308 Woodhead, Linda 263 f. Wright, Jonathan R. C. 83 Wu, Albert Monshan 308 Wurm, Theophil 118 Yendell, Alexander
268
Zahn, Gordon W. 139, 146, 306 Zander, Helmut 305 Zeeden, Ernst Walter 42
350 Ziemann, Benjamin 148, 220, 309, 320
Personenregister 27, 116 f., 129,
Zjuganov, Gennadij 280 Zumholz, Maria-Anna 141