Bibelautorität und Geist der Moderne: Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung 9783666551352, 3525551355, 9783525551356


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Bibelautorität und Geist der Moderne: Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung
 9783666551352, 3525551355, 9783525551356

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HENNING

GRAF

REVENTLOW

Bibelautorität und Geist der Moderne

Hermann Schüßler (1929-1975) in memoriam

H E N N I N G GRAF

REVENTLOW

Bibelautorität und Geist der Moderne Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung

V A N D E N H O E C K & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Band 3 0

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Reventlow, Henning Graf: Bibelautorität und Geist der Moderne : d. Bedeutung d. Bibelverständnisses für d. geistesgeschichtl. u. polit. Entwicklung in England von d. Reformation bis zur Aufklärung / Henning Graf Reventlow. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1980 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte ; Bd. 30) ISBN 3-525-55135-5

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk ©Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1980. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Das Thema der folgenden Arbeit hat den Verfasser schon über zehn Jahre beschäftigt. Die Vorbereitungen wären jedoch wohl nie zur Fertigstellung eines Manuskriptes gediehen, wenn nicht die Stiftung Volkswagenwerk durch die Bereitstellung eines Akademie-Stipendiums mir in der Zeit vom 1. Oktober 1973 bis 30. September 1974 die Freistellung von meinen Lehrverpflichtungen und dadurch ein Jahr relativer Ruhe für die Arbeit verschafft hätte. Mit meinem Dank für dieses Entgegenkommen verbinde ich einen weiteren für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, der nun auch die Drucklegung des Werkes ermöglichte. In den vielen Jahren der Vorbereitung haben mir zahlreiche Mitarbeiter geholfen, ohne die es mir kaum gelungen wäre, die verarbeitete Literatur zu bewältigen: Frau Beate Balzer; Herr Gerrit Funke, Herr Bernhard Gräfe und Frau Gräfe, Herr Pfarrer Hans-Joachim Hustadt, Frau Gudrun Müller, Herr Hartmut Neumann, Herr Gerhard Otto und Frau Elke Otto-Sanio, Herr Pfarrer Dr. Jean-Marcel Vincent, Herr Pfarrer Matthias Weissinger. Das Manuskript hat Frau Ute Portmann mit großer Sorgfalt geschrieben. Bochum, den 29. Oktober 1979

Henning Graf Reventlow

Abkürzungsverzeichnis

Die Abkürzungen richten sich nach: Theologische Realenzyklopädie, Abkürzungsverzeichnis zusammengestellt von S. Schwertner, 1976. Folgende Abkürzungen sind dort nicht erfaßt: RRAL CJEPS APSR JELH RELit AJPh AntfPh

Rendiconti della Reale Accademia dei Lincei Classe di Scienze Morali, Storiche e Filologiche Canadian J o u r n a l of Economic and Political Science American Political Science Review J o u r n a l of English Literary History Review of English Literature Australasian J o u r n a l of Philosophy The American J o u r n a l of Physics

Inhalt

Vorwort

5

Abkürzungsverzeichnis

6

Einleitung: Die Aufgabe

9

I. Teil: Vorbereitende Entwicklungen

16

Kap. 1: Die Herausbildung der geistigen Ausgangssituation in den Jahrhunderten vor der Reformation a) Das Problem von Renaissance und Humanismus b) Der spätmittelalterliche Spiritualismus c) J o h n Wyclif

16 16 37 55

Kap. 2: Erasmus

68

Kap. 3: Der „linke Flügel der Reformation"

89

Kap. 4: Martin Bucer

134

II. Teil: Die Krise der Bibelautorität in England

161

Kap. 1: Das Zeitalter der Puritaner

161

a) Probleme der Puritanismusforschung b) Zur Geschichte der puritanischen Kämpfe c) Das Bibelverständnis der Puritaner und Konformisten bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts d) Das J a h r h u n d e r t des Übergangs

161 176 186 249

Kap. 2: Herbert von Cherbury, seine Erkenntnislehre und Religionsphilosophie.

313

Kap. 3: Thomas Hobbes: Die philosophischen Voraussetzungen seiner Bibelkritik

328

Kap. 4: Die Latitudinarier a) Prediger und theologische Schrifsteller von der Restauration bis zur Glorious Revolution ( 1 6 6 0 - 1 6 8 9 ) b) J o h n Locke

370 370 401

III. Teil: Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

. . . 470

Kap. 1: Das Einsetzen der deistischen Debatte a) Charles Blount b) J o h n Toland c) Shaftesbury d) Matthew Tindal, The Rights of the Christian Church Asserted

470 471 480 503 . . . 525

8

Inhalt e) Parteipolitik u n d Bibelautorität um die Wende des 18. J a h r h u n d e r t s

535

Kap. 2: Formen der Apologetik 546 a) Isaac Newton und seine Schule 546 b) Die rationalistische Apologetik: Samuel Clarke und J o s e p h Butler . . 558 c) Der Außenseiter J o n a t h a n Swift 575 Kap. 3: Die Hochblüte des Deismus a) A n t h o n y Collins b) William Lyons c) A n t h o n y Collins u n d die Whiston-Debatte d) Woolston und Annet e) Tindal, Christianity as old as the Creation

582 582 593 596 607 616

Kap. 4: Die Spätphase a) Thomas Chubb b) Thomas Morgan c) Antideistische Apologetik

631 631 649 664

Schlußbetrachtung

672

Register

677

Einleitung: Die Aufgabe Jeder aufmerksame Beobachter wird feststellen, daß die Bedeutung der biblischen Wissenschaften im Gesamtgefüge der evangelischen Theologie, wie sie an den Hochschulen und kirchlichen Ausbildungsstätten getrieben wird und in der gemeindlichen Praxis wirksam ist, gegenüber der Zeit unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, als durch die Einwirkung der dialektischen Theologie die Bibel im Mittelpunkt des Interesses von Lehrenden und Studierenden stand, erheblich zurückgegangen ist. Angesichts der vorherrschenden Beschäftigung mit der Gegenwart und ihren scheinbar drängenden praktischen Problemen, die fast alle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sind die historischen und exegetischen Fächer stark in den Hintergrund getreten. Zur gleichen Zeit ist die Einheit der Theologie, wie sie sich noch äußerlich darstellt in ihren klassischen Disziplinen, mehr und mehr aus dem Blick geraten; nicht nur, weil die zunehmende Spezialisierung den einzelnen immer mehr daran hindert, über die Grenzen seines Spezialgebietes hinauszublicken, sondern vor allem deshalb, weil die innere Mitte, um die herum sich Auslegung der Bibel, kirchengeschichtliche Forschung, systematisch-theologisches Denken und praktisch-kirchliches Handeln gliederten, so gut wie verschwunden zu sein scheint. Will man dieser Situation begegnen, wird man sich zuerst darüber Rechenschaft geben müssen, welche Anstöße zu ihr geführt haben. Die äußere Lage ist, wie immer in der Geistesgeschichte, ja nichts anderes als Ausdruck und Folge innerer Entwicklungen, die schon lange, ehe ihre Wirkungen offen sichtbar wurden, eingesetzt und das scheinbar sichere Gefüge der theologischen Wissenschaften untergraben haben. Dann aber erkennt man, daß eine der wichtigsten Ursachen für die schwindende Rolle der Bibelwissenschaften im Ganzen der Theologie in einer ungenügenden Selbstreflexion der Exegese über ihre eigenen weltanschaulichen und methodischen Voraussetzungen zu suchen ist. Das mag erstaunlich klingen angesichts einer ausgebreiteten Diskussion über hermeneutische Fragen, wie sie bis in die jüngste Zeit intensiv geführt wurde. 1 Aber diese 1 Zum Alten Testament vgl. bes. den Sammelband „Probleme alttestamentlicher Hermeneutik",hrg. von C. Westermann, 1960 sowie Α. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments, 1977. Außerdem ganz allgemein die Sammelbände: Hermeneutik als Weg heutiger Wissenschaft, hrg. von V. Warnach, 1971; Die hermeneutische Frage in

10

Einleitung: Die Aufgabe

Diskussion bewegte sich meist in der Zone esoterischer theologischer Reflexionen, gewissermaßen als „Überbau" über der stillschweigend vorausgesetzten Grundlage einer als „historisch-kritisch" und damit als wissenschaftlich eingestuften Exegese. Nur ausnahmsweise wurden deren Voraussetzungen ausdrücklich reflektiert, wie in dem bekannten Aufsatz von G. Ebeling: „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche." 2 Dann aber wurde sofort deutlich, daß diese Methode nicht losgelöst von einem ganz bestimmten Welt- und Wirklichkeitsverständnis zu sehen ist. 3 Noch vor wenigen Jahren war es möglich, die so definierte Weltanschauung schlechthin mit neuzeitlichem Denken gleichzusetzen. 4 Heute, wo die innere Brüchigkeit dieser Voraussetzungen sichtbar wird und der Theologie gerade von diesen Aporien her neue Aufgaben zuwachsen könnten, ist es erforderlich, tiefer zu graben und die ideologischen und gesellschaftlichen Wurzeln aufzudecken, denen die neuere Bibelkritik ihre Entstehung, ihre tieferen Antriebe und die Richtung ihrer Antworten verdankt. Wenn sich die folgende Untersuchung die Aufgabe stellt, den Blick zu den Anfängen der Kritik an der Bibel zurückzulenken (wobei das Alte Testament eine wichtige Rolle spielte) und die Motive, geistigen Voraussetzungen und philosophischen Hintergründe, nicht zuletzt aber auch die kirchenpolitischen Ursachen, die zu diesen Urteilen geführt haben, offenzulegen, verfolgt sie zugleich eine interdisziplinäre Forschungsabsicht. Die Bibelkritik war in ihren frühesten Stadien keineswegs ein esoterisches Geschäft, auf Fachwissenschaftler in stillen Studierstuben beschränkt, sondern wenn sie von Theologen, Philosophen und einer Gruppe von Autoren betrieben wurder Theologie, hrg. von O. Loretz und W. Stolz, 1968. Im übrigen ist die Literatur sehr umfangreich. 2 ZThK 47, 1950, S. Iff. = Wort und Glaube, 1960, S. Iff. - Vgl. auch E. Käsemann, Vom theologischen Recht historisch-kritischer Exegese, in: ZThK 64, 1967, S. 259—281. 3 Vgl. Ebeling, aaO., S. 29: „Sie kann bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit und bei der Interpretation von deren Quellen nicht einfach das Wirklichkeitsverständnis beiseite setzen, wie es der Geist der Neuzeit gewonnen hat." Kritisch gegen Ebeling neuerdings O. Bayer, Was ist Theologie? Eine Skizze, 1973, S. 103f. Entscheidend wichtig ist demgegenüber die Erkenntnis der neuesten Hermeneutik, daß das erkennende Subjekt selbst in den geschichtlichen Überlieferungsprozeß hineingenommen und in seinen Maßstäben von den jeweiligen weltanschaulichen Voraussetzungen seiner Zeit geprägt ist. Vgl. dazu u.a. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 2 1 9 6 5 ; K. Lehmann, Der hermeneutische Horizont der historischen Exegese, in: Einführung in die Methoden der biblischen Exegese, hrg. v. / . Schreiner, 1971, S. 4 0 - 8 0 , bes. S. 61f.; F. Hahn, Probleme historischer Kritik, in: ZNW 63, 1972, S. 1 - 1 7 , bes. S. 12ff. 4 So Ebeling, aaO.; vgl. auch H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 1966; und u.a. T. Rendtorff, Historische Bibelwissenschaft und Theologie, in: Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, Festschr. W. Trillhaas, 1968, S. 72—90.

Einleitung: Die Aufgabe

11

de, die wir heutzutage als politische Journalisten bezeichnen würden, fand sie ein breites Interesse in der Öffentlichkeit, hatte allgemeinpolitische Wirkungen und erhob den Anspruch, das öffentliche Leben in allen Bereichen entscheidend zu bestimmen. In der Gegenwart lassen aber die außertheologischen Wissenschaften wie philosophiegeschichtliche Forschung, Profanund Verfassungsgeschichte, Politikwissenschaft, ja, teilweise selbst die Kirchengeschichte diesen wichtigen Bereich des Denkens aller bedeutenden, in den geistigen Auseinandersetzungen und dem staats- und kirchenpolitischen Ringen in den Jahrhunderten zwischen Humanismus und Aufklärung Mitwirkenden meist weitgehend außer acht. Gerade dies bewirkt aber in vielen Fällen die offensichtlichen Schwierigkeiten, zu einer allseits befriedigenden Lösung der mannigfachen Verständnisprobleme zu gelangen. Man würde das Anliegen dieser Arbeit mißverstehen, wenn man sie einfach als einen neuen Versuch in der Reihe der Auslegungsgeschichten der Bibel ansehen würde. Es gibt z.B. für das Alte Testament eine Anzahl solcher Auslegungsgeschichten; am bekanntesten unter deutschen Lesern sind wahrscheinlich L. Diestels „Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche", 1869, und die „Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments", von H. J. Kraus, 2 1969. 5 Aber diese Auslegungsgeschichten sind in erster Linie an den Ergebnissen der jeweiligen kritischen Beobachtungen früherer Generationen am Alten Testament interessiert, an einer Art exegetisch-historischer Bestandsaufnahme, während sie die theologie- und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, die zu diesen Ergebnissen geführt haben, nur insoweit in den Blick nehmen, als sie unmittelbar für die Art, wie sie gewonnen wurden, von Bedeutung zu sein schienen. 6 Die einzige Arbeit, die methodisch ein anderes Ziel verfolgt, ist die Untersuchung von K. Scholder: „Ursprünge und Probleme der Bibel-

5

Außerdem wären zu nennen: Τ. K. Cheyne, Founders of Old Testament Criticism, 1893, Neudruck 1971; A. D u f f , History of Old Testament Criticism, 1910; J. Coppens, De Geschiedkundige Ontwikkelingsgang van de Oudtestamentische Exegese vanaf de Renaissance tot en met de Aufklärung, 1943; Ε. Μ. Gray, Old Testament Criticism, its Rise and Progress, 1923; H. F. Hahn, The Old Testament in Modern Research, 1954, 3 1966; E. G. Kraeling, The Old Testament since the Reformation, 1955. Teilweise behandeln diese Werke nur bestimmte Perioden (Cheyne; Hahn) oder haben spezielle Blickpunkte (Kraeling)·, manche (Coppens) sind zu skizzenhaft zu einem tieferen Eindringen in die Gesamtproblematik. 6 Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, 2 1969, S. 1, wirft der stoffreichen Arbeit Diestels diese Schwäche mit Recht vor: „sie zeichnet die geistesgeschichtlichen und theologie-geschichtlichen Zusammenhänge nicht klar und tief genug." Der stoffgeschichtliche Ausgangspunkt verleiht seinem eigenen Werk jedoch einen ähnlichen Charakter.

12

Einleitung: Die Aufgabe

kritik im 18. J a h r h u n d e r t " , 1966. 7 Dem „deduktiven" Ansatz seines Lehrers G. Ebeling folgend 8 , sucht er von vornherein ,jenen geistigen Prozeß" in den Griff zu bekommen, „an dessen Ende die Entthronung der Bibel als der autoritativen Quelle aller menschlichen Kenntnis und Erkenntnis steht" 9 , und er stellt scharfsichtig fest, daß „die Anfänge der Bibelkritik zunächst sehr viel mehr ein philosophisches als ein theologisches Problem darstellen", ihre kirchengeschichtliche Untersuchung also auf dem Grenzgebiet zwischen Theologie und Philosophie erfolgen muß. 1 0 Aber das Wesen dieser philosophisch-theologischen Bewegung hat Scholder unzutreffend definiert, indem er sie einerseits mit dem modernen naturwissenschaftlichen (kopernikanischen) Weltbild (S. 56ff.), andererseits mit dem Cartesianismus (S. 131 ff.) gleichsetzt. 11 In Wirklichkeit sind die wahren Antriebe für die Bibelkritik an anderer Stelle zu suchen; sie reichen zugleich weiter in die Vergangenheit zurück wie tiefer in theologiegeschichtliche Zusammenhänge hinein. Auf der Suche nach den eigentlichen Wurzeln jener Denkanstöße, in deren Gefolge es zu einer kritischen Beschäftigung mit der Bibel gekommen ist, stößt man auf eine großangelegte geistesgeschichtliche Bewegung in ganz Europa, die man neben der Reformation als die mächtigste Kraft der Moderne erkennen muß. Dabei ergibt sich eindeutig eine theologiegeschichtliche Entwicklungslinie, deren Etappen im spätmittelalterlichen Spiritualismus, den rational-moralistischen Strömungen innerhalb von Humanismus und Täufertum, schließlich in den beiden beherrschenden kirchenpolitischen Richtungen von Puritanismus und rationalem Liberalismus (Latitudinarismus und eigentlichem Deismus) in England in Erscheinung treten. Man hat zutreffend von den „zwei Reformationen" gesprochen, die im 16. Jahrhundert nebeneinanderstanden 1 2 und die weitere Entwicklung maßgeblich bestimmten. Diese zweite Linie, die man auch pauschal als „Humanismus" im Gegenüber zur reformatorischen Botschaft bezeichnet hat 1 3 , ist in ih-

7

Vgl. dazu die Besprechung von Th. Mahlmann in ThLZ 94, 1969, Sp. 1 9 3 - 1 9 7 . Vgl. o. S. 10, Anm. 2 - 4 . 9 AaO., S. 14. 10 AaO., S. 12. 11 Hier ist er dem inzwischen zweifelhaft gewordenen Selbstverständnis der frühen 60er Jahre (vgl. o. S. 10, Anm. 4) verhaftet. 12 Η. Α. E. van Gelder, The Two Reformations in the 16th Century, 1964. 13 Ε. Wolf, Reformatorische Botschaft und Humanismus, in: Studien zur Geschichte und Theologie der Reformation, Festschr. E. Bizer, 1969, S. 97ff. Die Verwendung des Begriffes ,.Humanismus" ist jedoch nur mit Einschränkungen zu empfehlen, da es sich zugleich um eine umfassende wie nicht klar abgrenzbare Erscheinung handelt. Vgl. dazu u. Kap. 1, a), u. S. 24f. 8

Einleitung: Die Aufgabe

13

ren Auswirkungen ungleich einflußreicher auf die Entwicklung der Geistesgeschichte der Neuzeit gewesen. 14 Sie, und nicht die eigentliche Reformation, hat auch das Verhältnis der neueren wissenschaftlichen evangelischen Theologie zur Bibel bestimmt; ihre Grundhaltungen sind auch für die alttestamentliche Exegese weithin maßgebend gewesen. Allerdings läßt sich diese Linie nur in mehrfach gebrochener Form verfolgen. Das liegt teilweise an den Dunkelheiten, die noch immer wesentliche Abschnitte der geistesgeschichtlichen Vergangenheit Europas umhüllen. Dunkel sind oft gerade die Übergänge zwischen den Epochen, die entscheidenden Zusammenhänge, die das Weiterwirken früherer Anstöße auf spätere Entwicklungen erklären könnten. Worin liegt jeweils das Neue einer Periode, wo kehren nur alte Gedanken wieder? Vorherrschend ist der Eindruck, daß das Weiterwirken typischer Einstellungen und Auffassungen stärker ist als die Neueinsätze, daß gerade auch bei scheinbar antithetischen Bewegungen (wie im Verhältnis zwischen Puritanismus und Liberalismus in England) die Gemeinsamkeiten größer sind als zunächst zu vermuten. Das ganze gleicht mehr einem Fluß, der nur streckenweise zwischen dichten Bäumen hervorleuchtet, dann auch wieder durch dickes Gestrüpp verdeckt wird, im allgemeinen jedoch eine feste Richtung einschlägt, deren Gesamtverlauf sich trotz aller Unterbrechungen deutlich genug verfolgen läßt. Die Hauptlinie dieses Zusammenhanges wird im folgenden in einer Bewegung nachgezeichnet, die sich vom Kontinent hinüber nach England und von da erst zu einem späten Zeitpunkt zurück auf den Kontinent zieht. Wenn am Zielpunkt der dargestellten Entwicklung England und die Periode des englischen Deismus steht, so deshalb, weil sich in diesem Land und seiner charakteristischen philosophie- und theologiegeschichtlichen, nicht zuletzt aber auch kirchenpolitischen Lage die typischen Einstellungen weltanschaulicher Art herausgebildet haben, die in ihren Nachwirkungen auch für die geheimen Verstehensvoraussetzungen im Bereich der alttestamentlichen und gesamtbiblischen Exegese neuerer Zeit bedeutsam geblieben sind. Für die Geschichte der Auslegung der Bibel kann gerade England einen hervorragenden Platz beanspruchen. Deutschland ist, wie schon Scholder erkannt hat, bis ins späte 18. Jahrhundert hinein nicht Träger dieser Entwicklung. In Frankreich hat es in mancher Hinsicht parallele Strömungen gegeben, aber sie entfalteten sich in einer anderen geistigen Situation (der Vorherrschaft der katholischen Kirche) und konnten sich außerdem bis in 14

Eine das Wesentliche andeutende Skizze dieser Bewegung bietet H. Liebing, Die Ausgänge des europäischen Humanismus. In: Geist und Geschichte der Reformation, Festg. H. Rückert, 1 9 6 6 , S. 3 5 7 f f .

14

Einleitung: Die Aufgabe

die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein wegen der strengen staatlichen und kirchlichen Zensur nur in Form einer handschriftlich zirkulierenden Untergrund-Literatur verbreiten. 15 Entscheidender ist, daß ihnen der Hintergrund des protestantischen Schriftverständnisses fehlt und sie gerade deshalb zu den Grundsätzen der späteren Bibelauslegung keine grundlegenden Erkenntnisse beisteuern konnten. 1 6 Die spätere französische Aufklärung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet dann in einen generellen Gegensatz zur Kirche überhaupt bis hin zu einem offenen Materialismus. In England ist demgegenüber trotz aller Gegensätze das Gefühl einer Zugehörigkeit zum Christentum auch bei den extremsten Vertretern des Deismus nie erloschen. Hier blieb die Bibel der entscheidende Gesprächspartner, auch wenn man seine eigenen, aus ganz anderen Quellen stammenden Auffassungen nicht ohne Zwang in sie hineindeutete. Deshalb wurden gerade hier die charakteristischsten Auslegungsmaßstäbe auch für das Alte Testament herausgebildet. Daß ein von den bisherigen Auslegungsgeschichten grundsätzlich unterschiedenes Ziel verfolgt wird, wird an der Wahl des Arbeitsgebietes deutlich. So widmet Kraus dem englischen Deismus nur ein paar beiläufige Bemerkungen. 17 Tatsächlich muß der kritische Ertrag an Einzelergebnissen, den diese Epoche für die Exegese des Alten Testaments erbracht hat, für eine stoffgeschichtlich orientierte Rückschau bescheiden wirken. Aber auch Scholder klammert gerade die englische Entwicklung bewußt aus, wie auch den gesamten politisch-gesellschaftlichen Bereich, obwohl er beides als eine Lücke in einer Gesamtdarstellung empfindet. 1 8 Auf der anderen Seite könnte man fragen, weshalb in der folgenden Darstellung nicht auf bestimmte berühmte Ausleger des Alten Testaments in Holland, wie H. Grotius, J. Clericus und B. de Spinoza näher eingegangen wird. Soweit die beiden ersteren durch ihre philologische und historische Arbeit für die Geschichte der Exegese bedeutsam wurden (weshalb sie in einer Stoffgeschichte nicht fehlen dürfen), gehören sie gerade deshalb nicht hierher. Wichtiger könnte ihre 1 5 Vgl. I. O. Wade, The Clandestine Organization and Diffusion of Philosophie Ideas in France from 1 7 0 0 - 1 7 5 0 , 1 9 3 8 , Reprint 1 9 6 7 . 1 6 Einzelgänger wie I. de la Peyrere und / . Astruc gehören nicht in denselben geistesgeschichtlichen Zusammenhang; bei R. Simon ist gerade sein Traditionsprinzip und die dadurch bedingte zweitrangige Rolle der Schrift typisch für seine andersartigen Voraussetzungen, vgl. dazu Kraus, Geschichte, S. 68f.

Geschichte, S. 5 6 - 5 8 . AaO., S. 14. Die falsche Gewichtung wird darin sichtbar, daß er die englische Entwicklung als einen „Sonderfall" ansieht. Dabei wirft er Hirschs Theologiegeschichte mit Recht vor, daß dort „die wirkliche Verteilung der geistigen Gewichte im Europa des 17. Jahrhunderts nicht ganz deutlich zu werden" scheine — trotz stärkerer Berücksichtigung der westeuropäischen Entwicklungen, aaO., S. 10. 17

18

Einleitung: Die Aufgabe

15

Zugehörigkeit zur Sonderkirche der Arminianer sein, einer ebenfalls von Gedanken der „zweiten Reformation" mitbeeinflußten Gemeinschaft. Aber gerade diese theologische Richtung gehört zu den auch in der niederländischen neueren Forschung stark vernachlässigten Gebieten, wie auch zu den Einzelpersonen moderne Untersuchungen weithin fehlen. Deutlich ist jedenfalls, daß sich in den Niederlanden dem Verlauf in England vielfach parallele Entwicklungen abgespielt haben, wie überhaupt die Einflüsse von dort auf das Inselreich — das kann man an mehreren Einzellebensläufen sehen — weitreichend und vielfältig gewesen sind. Spinoza und die Hintergründe seiner Bibelkritik erfordern eine eigene Darstellung, die auch die umfangreiche Spinozaliteratur berücksichtigen müßte. Als Apostat vom Judentum und konsequenter Denker im Rahmen eines streng rationalistischen Systems hatte er eigene Voraussetzungen; seine Wirkungen blieben durch die alsbald einsetzende Verketzerung seiner Werke gering und wurden erst in einer späten Zeit in gebrochener Form sichtbar. 19 Der unmittelbare Ertrag einer solchen theologiegeschichtlichen Rückschau könnte darin liegen, daß sich die alttestamentliche Exegese ihrer eigenen Prämissen deutlicher bewußt würde. Charakteristische Voreingenommenheiten, die ein unbefangenes Urteil über ihren Gegenstand, die Bibel, bisher verhindert haben, könnten zutage treten. Stärker, als sie es sich bewußt ist, ist die Auslegung des Alten Testaments nach wie vor ein später geistiger Erbe ihrer Gründer. Diese Offenlegung ihrer Beschränktheiten würde der Wissenschaft vom Alten Testament zugleich die Möglichkeit geben, ihre Rolle im Ganzen der Theologie neu zu bestimmen, gerade auch angesichts der Anforderungen, die eine veränderte geistige Situation der Gegenwart an sie als theologisches Fach stellt. Letztlich ergibt sich auch für sie die Alternative, die auf dem Gebiet der Systematik und Theologiegeschichte bei der Betrachtung der Reformation und ihrer Botschaft schon längst sichtbar geworden ist: zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze des Menschen- und Weltverständnisses sind angeboten, zwischen denen sie ihren geistigen Ort wählen kann. Das Ergebnis dieser Wahl wird wesentlich auch über ihre Aussichten entscheiden, auf die theologischen Fragen der Zeit eine angemessene Antwort geben zu können. Entweder bleibt sie ein Produkt des Späthumanismus: dann wird sie in der neuen geistigen Auseinandersetzung um die Sinnfragen des Lebens kein Gehör mehr finden. Oder sie bahnt sich den Weg aus ihrer Vergangenheit heraus; dann stehen ihr neue Möglichkeiten offen. Nur eine sorgfältige Rückschau auf den Weg, den sie bisher gegangen ist, kann diese ihre bisherigen inneren Voraussetzungen klären und, indem sie bewußt werden, sie zu überwinden helfen. 19

Vgl. den Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn Les sings.

um den angeblichen Spinozismus

I. Teil: Vorbereitende Entwicklungen Kapitel 1: Die Herausbildung der geistigen Ausgangssituation in den Jahrhunderten vor der Reformation a) Das Problem von Renaissance und

Humanismus

Innerhalb der geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas nehmen Renaissance und Humanismus einen wichtigen Platz ein als eine Epoche, in der gewöhnlich der entscheidende Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit gesehen wird. Es ist von vornherein deutlich, daß dieser Zeitabschnitt für die im Rahmen unserer Untersuchung zu skizzierende Entwicklung eine bedeutende Rolle spielen muß. Dennoch scheint es angebracht, zunächst die Frage sorgfältig zu prüfen, welche Erscheinungen innerhalb des mit diesen Bezeichnungen gemeinten zeitlichen und geistigen Raumes für die Vorgeschichte der hier zu behandelnden Zusammenhänge ernsthaft in Betracht kommen. Seit Jakob Burckhardt vor über hundert Jahren sein grundlegendes Werk über „Die Kultur der Renaissance in Italien" 1 veröffentlichte, ist die Diskussion über das Wesen dieser Epoche nicht zur Ruhe gekommen. 2 Mit Burckhardts Namen ist noch immer eine Grundauffassung von der Bedeutung der Renaissance verknüpft, die er strenggenommen nicht selbst er1 Zuerst erschienen 1860; 2. Auflage 1869. Benutzt wurde die Ausgabe in den Gesammelten Werken, Bd. III, Basel 1955. 2 Zur Forschungsgeschichte vgl. vor allem: W. K. Ferguson, The Renaissance in Historical Thought, 1948. Frz. Übers.: La Renaissance dans la pensee historique, 1950. Vgl. auch den kurzen Abriß in ders., The Reinterpretation of the Renaissance, in: Facets of the Renaissance (1959), Torchbook Ed. 1963, S. 1—18. Dazu die ergänzenden Beiträge in der Rezension des Werkes durch H. Baron, in: J H I 11, 1950, S. 493— 510. — H. Schulte Nordholt, Het beeld der Renaissance, 1948. Außerdem H. liaron, Renaissance in Italien, in: AKG 21, 1931, S. 9 5 - 1 2 8 ; 2 1 5 - 2 3 9 ; 3 4 0 - 3 5 6 ; A. Buck, Italienischer Humanismus, in: AKG 37, 1955, S. 1 0 5 - 1 2 2 ; 41, 1959, S. 1 0 7 - 1 3 2 , u n d den Sammelband: Zu Begriff und Problem der Renaissance, hrg. von A. Buck, 1969, mit der gleichnamigen Einleitung des Herausgebers, S. 1—36. Aus der ungeheuer verzweigten Literatur zu dem Gesamtgebiet k o n n t e n nur die für das Thema unmittelbar relevanten Arbeiten berücksichtigt werden. Hierzu vgl. speziell die Bestandsaufnahme durch C. Angeleri, II problema religioso del rinascimento. Storia della critica e bibliographia, 1952.

Die Herausbildung der geistigen Ausgangssituation

17

funden 3 , der er aber durch die Kraft seiner Schau und die Vollendung seiner Darstellung weitreichende Popularität verliehen hat: danach stellt die Renaissance eine entscheidende Etappe in der Geistesgeschichte der Menschheit dar: in ihr vollzieht sich der bedeutsame Umbruch vom Mittelalter zur Moderne, indem das sich frei entfaltende Individuum sich selbst entdeckt. 4 Das enge Bündnis zwischen dem italienischen Volksgeist und der Wiederentdeckung der A n t i k e 5 eröffnet eine neue Weltsicht, in der der Mensch, und zwar das Individuum, zum erstenmal einen zentralen Platz einnimmt. 6 Burckhardt stellt anschaulich dar, wie dieser neue Geist in allen Bereichen des Lebens hervortrete; sein ursprünglich aus dem Erlebnis der italienischen Renaissancekunst gewonnenes Bild 7 weitet er zu einem umfassenden Kulturgemälde aus. Zahlreiche Nachfolger Burckhardts haben seine Auffassung eines grundsätzlichen Neuanfangs in der geistigen Grundhaltung der Renaissance gegenüber dem Mittelalter wiederholt; sie hat einen weitreichenden Einfluß auf die idealistische Sicht im weiteren Verlauf des 1 9 . und teilweise im 2 0 . Jahrhundert gehabt. Unter den bedeutendsten Vertretern dieser Anschauung sind W. Dilthey8 und E. Cassirer9 zu nennen. 1 0 Für Burckhardt ist die Renaissance ein einzigartiger, unwiederholbarer Höhepunkt in der Geschichte des menschlichen Geistes: überall, in Politik, Kunst, Erziehung entfalten sich, von der wiederentdeckten Antike belebt, die Kräfte eines neuen Individualismus, in dem aesthetische Begeisterung, Unabhängigkeit des Denkens, sittlicher Ernst und ungezügelte Leidenschaft, blutige Rachsucht und das Streben nach R u h m , Genußfreude und AskeSie geht auf ]. Michelets Histoire de la France, Bd. 7: Histoire de France au seizieme siecle. Renaissance, 1855, zurück. 4 Der Satz steht bei Michelet, aaO., S. 6: „L'homme s'y est retrouvc lui-meme." 5 Eine berühmte Gestalt für die Ausformung des italienischen Nationalbewußtseins ist der römische Volkstribun Cola di Rienzo, mit dem sich vor allem K. Burdach beschäftigt hat. Vgl. u.a. K. Burdach, Rienzo und die geistige Wandlung seiner Zeit, in: Vom Mittelalter zur Reformation, Teil I, 1913—28; Briefwechsel des Cola di Rienzo, ds., Bd. II; Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation. In: Reformation - Renaissance - Humanismus ( 2 1 9 2 6 ) , Neudruck 1 9 6 7 , S. 1 - 8 4 , S. lOff. Auch: K. Brandl, Cola di Rienzo und sein Verhältnis zu Renaissance und Humanismus, 1928. 3

Schon Michelet, aaO., S. 6, spricht von „la decouverte du monde, la decouverte de l'homme". Bei Burckhardt wird daraus die Überschrift eines Hauptabschnittes seines Werkes (Ges. Werke III, S. 190ff.). 7 Vgl. seinen „Cicerone", 1855 (Neudruck 1 9 3 9 ) ; auch: Die Renaissance in Italien, in: Geschichte der Baukunst, ed. F. Kugler, 1867. 8 Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert ( 1 8 9 1 ) , in: Gesammelte Schriften, Bd. II, 3 1 9 2 3 ( s 1 9 5 7 ) , S. Iff. 9 Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 1 9 2 7 . 1 0 Vgl. auch die Darstellung bei Angeleri, Problema, S. 33ff. 6

2

Reventlow, Bibelautorität

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Vorbereitende Entwicklungen

tentum in unnachahmlichem Miteinander zu finden sind. Nach Burckhardts Auffassung liegt in dieser Haltung auch der Keim zu einer tiefgreifenden Entfremdung von der überlieferten Religion 11 ; viele seiner Nachfolger haben, indem der rationale Liberalismus um die Jahrhundertwende die Renaissance als Kronzeugen seiner eigenen Weltanschauung in Anspruch zu nehmen suchte, diesen Gedanken noch vergröbert und über seine Intention hinaus in den Vordergrund gerückt. 12 Die Ansicht Burckhardts und seiner Schule ist nicht ohne heftigen Widerspruch geblieben. Eine Reihe von Forschern, besonders solche katholischer Herkunft, haben sich bemüht, im Gegensatz zu der liberal-rationalistischen Interpretation, den religiösen Charakter des Denkens gerade auch in der Renaissance hervorzuheben. Etwas oberflächlich wirkt noch die Darstellung von L. Pastor in seiner vielbändigen „Geschichte der Päpste" 1 3 , der zwischen Denkern wie Valla, Panormita und Poggio auf der einen Seite, die sich vom klassischen Ideal her dem antiken Heidentum voll in die Arme werfen, und der großen Zahl anderer, die klassisches und christliches Ideal in einer noblen Harmonie vereinen, zu unterscheiden suchte. 1 4 Die Renaissance stellt sich so als die Periode zweier gegenläufiger Bewegungen dar, von denen die eine dem philosophischen Naturalismus folgte, während die andere weiterhin im Glauben die Wurzel menschlicher Existenz und menschlicher Tugend fand. Einheitlicher ist die Sicht K. Burdachs15, der das Wesen der Renaissance aus dem zunächst politischen Gedanken einer 11

Vgl. z.B. aaO., S. 382: „Es ist gar nicht zu verkennen, daß solche Ansichten vom Zustande nach dem Tode das Aufhören der wesentlichsten christlichen Dogmen teils voraussetzen, teils verursachen. Die Begriffe von Sünde und Erlösung müssen fast völlig verduftet gewesen sein." — Zur Rolle der Religion bei Jacob Burckhardt vgl. A. v. Martin, Die Religion in Jacob Burckhardts Leben und Denken, 1942; W. K. Ferguson, Jacob Burckhardt's Interpretation of the Religion, in: The Quarterly Bulletin of the Polish Institute of Arts and Sciences in America, 1943. 12 Eine plastische Formulierung dieser Ansicht findet man z.B. bei P. Wemle, Renaissance und Reformation. Sechs Vorträge, 1912, S. 14f.: ,,Es ist nicht nur das gänzliche Fehlen der christlichen Werte, was für den neuen Menschentypus bezeichnend ist das volle Stehen des Menschen auf sich selbst und seiner Kraft . . . , sondern es ist die Abwesenheit jedes moralischen und religiösen Ideals überhaupt, die Beschränkung auf die gegebene Realität und Individualität im Guten und Bösen." Zu dem seit Burckhardt entstandenen populären Renaissancebild und literarischen Renaissancekult um 1900 vgl. W. Kaegi, in: E. Walser, Gesammelte Studien zur Geistesgeschichte der Renaissance, 1932, S. XXVIIIff., und schon W. Rehm, Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung. In: ZDP 1929, S. 2 9 6 - 3 2 8 . 13 22 Bände, 1 8 8 6 - 1 9 3 3 . 14 Andere Vertreter dieser Auffasung sind G. Guiraud; H. Bremond; R. Arnold; E. Göller; D. Bonomo; vgl. Angeleri, Problema, S. 8 I f f . 15 Vgl. die genannten Werke.

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Wiedererweckung der alten, niemals ganz untergegangenen römischen Kultur in Italien, dem Erwachen eines italienischen Nationalbewußtseins 16 erklärt, aus dem sich dann die Wendung ins Ethische, zugleich aber die nie abgerissene Verwurzelung im religiösen Urgrund entfaltet. Der tiefste Antrieb der Renaissance ist der Gedanke der Erneuerung der christlichen Religion, wobei die Elemente aus der Antike ebenfalls religiösen Charakter tragen, aber im Gegensatz zu den alten, dogmatisch erstarrten Formen die Hoffnung eines neuen, freieren Glaubens lebendig werden lassen. Im Gegensatz zu Burckhardt und seinen Nachfolgern sieht Burdach dabei keinen Bruch zwischen Renaissance und Mittelalter, sondern einen breiten Strom der Kontinuität schon von den Kirchenvätern her, denn bereits für Augustin ist die Synthese zwischen der antiken Lebenswelt, der er noch ganz angehört, und den Lehren des Christentums das entscheidende Problem. Die Frage der humanitas bleibt dann der Grundtenor, der sich auch durch das ganze Mittelalter hindurchzieht. Wohl aber erwacht in der Renaissance ein ganz neues Gefühl für die Persönlichkeit, die Sehnsucht nach einer Wiedergeburt und tiefgreifenden Erneuerung des ganzen Lebens aus den Tiefen der Religion, für die er als ersten Anstoß die Erweckungsgedanken der mystischen Spiritualen des 13. Jahrhunderts, verbunden mit dem Einströmen neuplatonischer Stimmungen, verantwortlich macht. 1 7 Auch E. Walser16, der das durch Burckhardt und Pastor gestellte Problem von christlichem und heidnischem Denken in der Renaissance zuerst an der Gestalt des Poggio Bracciolini untersuchte 1 9 , findet bei aller Verschiedenheit der individuellen Standpunkte, die sich bei den charakteristischen Denkern der Renaissance zeigen 2 0 , auch in Skeptizismus, Sensualismus und scheinbarer Irreligiosität ein tiefes Verhaftetsein an den Urgrund des alten Glaubens; das Neue wurzelt im Alten und vereinigt sich in allen Gegensätzen zu einer Harmonie, vor der die äußeren Antithesen nur als ein auf der Oberfläche bleibendes rhetorisches Feuerwerk erscheinen. 21 Eine interessante Variante der katholischen Sicht der Renaissance ist das Lebenswerk von G. Toffanin, der die Renaissance mit ihrer Verschmelzung von antikem und christlichem Gedankengut gerade als die Periode einer Reaktion und Rückbesinnung auf die christlichen Lebenswerte im Gegensatz zu den sek-

Deshalb seine Beschäftigung mit Cola di Rtenzo. Vgl. u.a. Reformation — Renaissance — Humanismus, S. 3 I f f . ; lOOff. 1 8 Vgl. über ihn W. Kaegi in: E. Walser, Gesammelte Studien, S. Xlff.; A ngeleri, Problema, S. 86ff. 1 9 Poggius Florentinus, Leben und Werke, 1 9 1 4 . 2 0 Vgl. z.B. die Studie Walsers: Die Religion des Luigi Pulci, 1 9 2 6 . 2 1 Außer den Gesammelten Studien Walsers sind besonders seine Studien zur Weltanschauung der Renaissance, 1 9 2 0 , zu nennen. 16

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tiererischen Aufbrüchen im 13. und dann wieder im 16. Jahrhundert betrachtet. 2 2 In vielfältiger Weise wird das bis heute grundsätzlich nicht entschiedene Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance beurteilt. Zu nennen sind einmal die nun meist schon länger zurückliegenden Versuche, den Beginn der Renaissance mit dem ersten Auftreten der für diese Periode charakteristischen Menschen- und Naturauffassung wesentlich früher anzusetzen, etwa im 12./13. J a h r h u n d e r t 2 3 , gelegentlich auch in Frankreich statt in Italien. 2 4 Wichtiger für unsere Thematik ist die von E. Gilson25 und J. Huizinga26 vertretene These, die Hauptelemente neuzeitlichen Lebensbewußtseins, wie vor allem der Individualismus, aber auch die Beschäftigung mit der klassischen Antike, der Gegensatz zwischen Natur und Gnade, sei schon seit dem 13. Jahrhundert in ganz Europa lebendig und eine klare Periodisierung zwischen spätem Mittelalter und Renaissance gar nicht denkbar. Zu diesem Urteil haben die zahlreichen neuen Erkenntnisse über das früher pauschal abgewertete „Mittelalter", das in Wirklichkeit einen ungeheuer vielfältigen Lebensbereich darstellt, ganz wesentlich beigetragen. Insofern ist der „Aufstand der Mediävisten" nichts weiter als das logische Resultat ihrer umfangreichen eigenen Forschungsergebnisse. Will man gleichwohl die Eigenart bestimmter Perioden wie der Renaissance oder des Spätmittelalters definieren, wird dies nur durch eine genaue Einzelbeobachtung der vielfältigen Phänomene innerhalb eines jeden Lebensbereiches möglich sein. 22

Hauptwerke: La fine dell' Umanesimo, 1920; Che cosa fu Γ Umanesimo, 1929; Storia dell' Umanesimo del XIII al XVI seculo (1933 (21964)), (deutsch: Geschichte des Humanismus, 1941); La religione degli Humanisti, 1950. 23 H. Thode, Franz von Assisi und die Anfänge der Renaissance in Italien, 1885, leitete diese Bewegung ein, indem er die Ursprünge der nach seiner Ansicht für die Renaissance charakteristischen individualistischen Spiritualität in der asketisch-mystischen Bewegung des 13. Jahrhunderts, speziell im Kreise der Franziskaner-Spiritualen suchte. Ähnliche Gedanken finden sich auch in den Arbeiten von E. Gebhardt, Les origines de la Renaissance in Italie, 1879; La Renaissance italienne et la philosophie de l'histoire, 1887; L'Italie mystique, histoire de la Renaissance religieuse au Moyen Age, 1890. Uber die in diesen Arbeiten zu beobachtende allmähliche Rückwendung zu Burckhardts Grundauffassung vgl. Angeleri, Problema, S. 79. Programmatisch ist der Titel von C. H. Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, 1927. — Eine umfangreiche Bibliographie dieser Richtung in: La Renaissance du Xllieme siecle, ed. G. Pare, A. Brunet, P. Tremblay, 1933. 24 J. Boulanger, Le vrai siecle de la Renaissance, in: HeR 1, 1934, S. 9—30; J. Nordström, Medeltid och Renässans, 1929 (= Moyen Age et Renaissance, 1933). 25 Humanisme medieval et Renaissance, in: Les idees et les lettres, 1932, S. 171—196; ders., Heloi'se et Abelard. Etudes sur le Moyen-Age et la Renaissance, 1938; u.a. 26 Herfstijd des Middeleuwen, 1929; dt. Ubersetzung: Herbst des Mittelalters, 2 1928.

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Denn auch die Renaissance ist eine vielschichtige Erscheinung 2 7 , die nicht mit einem einzigen Schlagwort eingefangen werden kann. 2 8 Die neueste Forschung hat dem dadurch.Rechnung getragen, daß sie nach der Überspitzung von Burckhardts Sicht und der scharfen Gegenbewegung gegen sie nun einen Ausgleich zwischen der Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung vom Mittelalter her und der Behauptung der Eigenständigkeit der Renaissance als einer geistesgeschichtlichen Periode anstrebt. 2 9 Nicht selten beruft man sich dabei in der neueren Diskussion auf das eigene Selbstverständnis der Renaissance, in der Begriff und Gedanke der Wiedergeburt schon früh literarisch auftauchen. 3 0 Schon das 14. Jahrhundert ist von dem Gefühl bewegt, am Anfang einer neuen Zeit zu stehen; dieses Bewußtsein konnte sich in dem Augenblick herausbilden, als man den historischen Abstand zur Antike empfand, und man so das Ziel seiner eigenen Beschäftigung mit ihren literarischen Zeugnissen in einer Wiedergeburt der Antike finden konnte. 3 1 Gleichwohl bleibt im einzelnen zu fragen, welche Wirklichkeit diesem Anspruch gegenüberstand. Auf der anderen Seite ist mehrfach betont worden, in wie starkem Maße auch die mittelalterlichen philosophischen Schultraditionen in der Zeit der Renaissance weiter wirkten, trotz der heftigen Kritik, die von bestimmten Humanisten an der Scholastik geübt wurde; dies gilt besonders für den Aristotelismus, der, im 13. Jahrhundert aus Paris importiert, an vielen italienischen Universitäten und vor allem in Padua eine blei-

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Schon J. Huizinga hat geäußert, Das Problem der Renaissance, in: Wege der Geschichte, 1930, S. 138, „nur eine pluralistische Behandlung" sei dem Wesen der Renaissance angemessen; wer sie im Netz eines Einheitsschemas einfangen wolle, „werde nur sich selbst in den Maschen verstricken". Vgl. dazu auch A. Buck, Begriff, S. 28. Ähnlich auch Äußerungen E. Walsers, vgl. W. Kaegi, in: Walser, Gesammelte Studien, S. XXXIII. 28 Nicht zufällig hat sich die Renaissance-Forschung zu einer regelrechten eigenen Wissenschaft entwickelt, vgl. A. Buck, Begriff, S. 31. 29 So z.B. die Stellung von H. Schulte Nordholt, Het beeld. Der neueste Überblick von A. Buck, Begriff, S. 17ff., sieht hierin die dritte Periode der Renaissanceforschung. Vgl. dazu auch Angeleri, Problema, S. 125ff. 30 Als erster verwies darauf K. Burdach, vgl. Reformation, S. 3ff. Weitere Literatur über diese Frage bei P. O. Kristeller, Renaissance Thought, The classic, scholastic and humanist strains, 1961, Anm. 3 auf S. 15Of. Außerdem B. L. Ullman, Renaissance — the Word and the Underlying Concept, in: Studies in the Italian Renaissance, 1955, S. 11—25. 31 Zu diesem neuen Geschichtsbewußtsein vgl. Ε. Garin, II concetto della storia nel pensiero di Rinascimento, in: RCSF 6, 1951, S. 1 0 8 - 1 1 8 = Der Begriff der Geschichte in der Philosophie der Renaissance, in: A. Buck, Begriff, S. 245—262; Μ. P. Gilmore, The Renaissance Conception of the Lessons of History, in: Facets of the Renaissance ed. W. K. Werkmeister, u.a., 1963, S. 7 3 - 1 0 1 ; A. Buck, Das Geschichtsdenken der Renaissance, 1957; ders., Begriff (im gleichnamigen Sammelband), S. 19f.

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bende Heimstätte fand. 3 2 Aber auch der Piatonismus war im Mittelalter lebendig geblieben, auch wenn in dieser Richtung erst mit dem Einfluß Plethons33 eine starke neue Bewegung nach Italien getragen wurde. Im Zusammenhang unseres Themas wird es vor allem darauf ankommen zu prüfen, in welchem Sinne die These Burckhardts von der „Wiederentdeckung der Welt und des Menschen" in der Renaissance diese Periode zutreffend charakterisiert in dem Sinne, daß Individualismus und Moralismus, die für die Folgezeit bestimmenden Grundhaltungen, in dieser Zeit ihren Ausgang nehmen. A. Buck bemerkt: „Nur wer zwischen verschiedenen Spielarten des Individualismus zu unterscheiden weiß, wird den Individualismus der Renaissance in seiner Eigenart verstehen." 3 4 Einfach den modernen Begriff des Individualismus auf die Renaissance anzuwenden, verbietet sich, wenn man die Quellen im Hinblick auf das berühmte Thema von der „Würde des Menschen" näher in Augenschein nimmt. 3 5 Hierzu muß zunächst bemerkt werden, daß dieses Thema keineswegs erst in der Renaissance aufgekommen ist; vielmehr konnte sie schon auf die biblische Tradition zurückgreifen, indem Gen. 1,26 das Stichwort von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und etwa Ps. 8 den Preis seiner besonderen, ihm von Gott verliehenen Würde enthielt. Ähnliche Gedanken finden sich auch in der antiken Dichtung und Philosophie, etwa in der Prometheus-Sage. Cicero feiert die einzigartige Stellung des Menschen als das einzige mit Vernunft begabte Wesen: „sunt enim ex terra homines non ut incolae atque habitatores sed quasi spectatores superarum rerum atque caelestium, quarum spectaculum ad nullum aliud genus animantium pertinet." 3 6 In der patristischen Literatur werden biblische und antike Motive miteinander vereint: die in der Schöpfung dem Menschen verliehene Würde, die also seiner Natur eigen ist, ist nichts anderes als der Glanz der imago Dei, der 32 Vor allem P. O. Kristeller hat wiederholt darauf hingewiesen; vgl. u.a. The Aristotelian Tradition, in: Renaissance Thought, Bd. I, S. 24—47; Humanism and Scholasticism in the Italian Renaissance, dorts., S. 92—119, bes. S. l l O f f . (auch in: Studies in Renaissance Thought and Letters, 1956 (Nachdruck 1969), S. 5 5 3 - 5 8 3 ) ; ders., La tradizione aristotelica nel Rinascimento, 1962. Kristeller bemerkt einmal: „The Renaissance is still in many respects an Artistotelian age which in part continued the trends of Mediaeval Aristotelism, and in part gave it a new direction under the influence of classical humanism and other different ideas." The Classics and Renaissance Thought, 1955, S. 47. 33 S. U.S. 29. 34 Begriff, S. 23. Zum Problem vgl. bes. Ν. Nelson, Individualism as a Criterion of the Renaissance, in: JEGP 32, 1933, S. 3 1 6 - 3 3 4 . 35 Vgl. hierzu neuerdings bes. G. di Napoli, „Contemptus mundi" e „dignitas hominis" nel Rinascimento, in: RFNS 48, 1956, S. 9 - 4 1 ; A. Buch, Die Rangstellung des Menschen in der Renaissance: dignitas et miseria hominis. In: AKuG 4 2 , 1960, S. 61—75. 36 De natura deorum 11,56; zitiert von Buck, aaO., S. 64.

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durch die Menschwerdung Christi erneuert wird. Solche Gedanken finden wir bei Lactam wie bei Augustin, bei Gregor von Nyssa wie bei Nemesios von Emesa31, aber auch bei den mittelalterlichen Theologen bis zu Wilhelm von Saint-Thierry 38 und Thomas von Aquin39 Zu beachten ist, daß letzterer die persönliche spirituelle Würde des Menschen in antiaverroistischer Tendenz unterstreicht; was den Menschen unter allen Geschöpfen hervorhebt, ist die ihm allein eigene Verbindung zu Gott. Es ist gar nicht einfach, gegenüber dieser mittelalterlich-christlichen Tradition die Eigenart der Behandlung des Themas in der Literatur der Renaissance abzugrenzen. Ein radikaler Bruch ist auf keinen Fall festzustellen, wie man auch an der Tatsache erkennt, daß das Thema der miseria conditionis humanae oder des contemptus mundi (ebenfalls ein traditioneller Vorwurf, der sowohl biblische — Ecclesiastes — wie antike Vorbilder hat) neben dem der dignitas hominis bestehen bleibt; wie eng beide miteinander verknüpft sind und eigentlich nur zwei Seiten eines Gedankensystems darstellen, hat di Napoli einleuchtend dargestellt. 40 Diese Doppelseitigkeit tritt schon bei Innozenz III (Lothar von Segni) hervor, der direkt in der Widmung seines Werkes De contemptu mundi sive de miseria conditionis humanae auf den Plan eines zweiten über die dignitas humanae naturae hinweisen kann. 4 1 Derselbe Gegensatz zwischen Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens, zwischen seinem Elend und seiner Würde, findet sich auch bei Petrarca, der selbst ein De contemptu mundi schreibt. Ein Bartolomeo Fazio kann noch um 1450 in ganz traditionell christlichem Sinne einen Traktat: De excellentia et praestantia hominis abfassen 4 2 , in dem die Größe des Menschen als die des Ebenbildes Gottes gefeiert wird. Und doch sieht es so aus, als ob mit dem Beginn der Renaissance die Behandlung des Themas eine andere inhaltliche Färbung erhält. Am deutlichsten sieht man das an dem Beitrag von G. Manetti: „De dignitate et excellentia hominis", in dem neben den traditionellen Motiven aus antiker und christlicher Überlieferung: über die Schönheit und die zweckmäßigen Funktionen von Körper und Seele und ihr Zusammenspiel, über das ewige

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Vgl. E. Garin, La „dignitas hominis" et la letteratura patristica, in: Rin. 1, 1938, S. 1 0 2 - 1 4 6 . 38 „O imago Dei, recognosce dignitatem tuam; refulgeat in te auctoris effigies." In: Cantica Canticorum, cap. I. Migne, P. L. 180, col. 494 C. 39 Summa theol. I, 29,3: ,.Persona significat id quod est perfectissimum in tota natura." «ο AaO. 41 Vgl. das Zitat bei di Napoli, aaO., S. 11. 42 Gedruckt in: F. Sandeus, De regibus Siciliae et Apuliae . . . epitome, 1611.

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Leben der Seele und die Gottesebenbildlichkeit als höchste Würde des Menschen 4 3 auch die schöpferischen Taten in der Geschichte des menschlichen Geistes als Beweise seiner Vortrefflichkeit aufgezählt werden. 4 4 Diese zusätzlichen Motive (sie verdrängen die traditionellen nicht völlig) hängen o h n e Zweifel mit den Besonderheiten der politischen Situation zusammen, denen H. Baron seine Aufmerksamkeit gewidmet h a t 4 5 : er sieht in der „Krise" der italienischen Frührenaissance u m 1400 in Florenz, in dem die in verantwortlichen politischen Stellungen befindlichen Humanisten (des „Bürgerhumanismus") 4 6 bei der Verteidigung der republikanischen Freiheiten der Stadt gegen die Mailänder Hegemonie unter der Tyrannis der Visconti eine aktive Rolle spielen, eine der entscheidenden Wurzeln für die veränderte Haltung der Florentiner Humanisten zur Geschichte und ihren neuen Klassizismus auf allen Gebieten 4 7 , zu denen auch im religiösen Bereich die Verteidigung der antiken polytheistischen Mythologie in der Poesie durch Salutati in seinem Werk „De Laboribus Herculis" gehört. 4 8 Die Auswirkungen dieses politischen Denkens haben sich nach den Forschungen R. von Albertis49 noch bis tief ins 16. J a h r h u n d e r t hinein fortgesetzt. Eine andere, noch tiefgreifendere geistige Macht, die das veränderte Klima mit verursacht, ist der Humanismus. Bei der Verwendung dieses Begriffes m u ß man gegenüber seinem vielfach konfusen, unpräzisen Gebrauch — zeitweilig wurde er geradezu synonym mit „Renaissance" verwendet — an

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Kurzer Inhaltsüberblick bei di Napoli, aaO., S. 19ff. Vgl. A. Buck, Rangstellung, S. 66. — Zum Ganzen vgl. auch A. Auer, G. Manetti und Pico della Mirandola, De dignitate hominis. In: Festg. K. Adam, 1956, S. 83—102. — Zu vergleichen wäre auch die zentrale Stellung des Menschen in der Philosophie des Nicolaus Cusanus, von der die Humanisten trotz starker Ubereinstimmungen nur wenig Notiz genommen haben. Auch bei dem Cusaner sind neuplatonische Einflüsse unverkennbar. Vgl. dazu neuerdings auch K. Flasch, Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues, 1973, bes. S. 122. 45 Vgl. bes. seine Werke: Humanistic and Political Literature in Florence and Venice at the Beginning of the Quattrocento, 1955; The Crisis of the Early Italian Renaissance (1955), 21966. 46 Vgl. auch L. Martines, The Social World of the Florentine Humanists, 1 3 9 0 - 1 4 6 0 , 1963. 47 A. Buck, Italienischer Humanismus (Forschungsbericht) in: AKuG 41, 1959, S. 107— 132, S. 123: „Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß für viele italienische Humanisten die Anteilnahme an der Politik eine existentielle Bedeutung gehabt hat und nicht nur ästhetischer oder literarischer Natur war." 48 Vgl. Baron, The Crisis, S. 295ff. 49 Das florentinische Staatsbewußtsein im Ubergang von der Republik zum Prinzipat, 1955. 44

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seine eigentliche, recht speziell technische Bedeutung erinnern 5 0 , welche an die schon in der Renaissance selbst geprägte Berufsbezeichnung „humanista" anknüpft, die wiederum im Sinne der studia humanitatis als der literarischen Erziehung in den artes liberales zu verstehen ist. 5 1 Es geht also im wesentlichen um Pädagogik, und zwar um eine grammatische, rhetorische, historische Erziehung aus den Klassikern. 5 2 V o m Gedanken der Erziehung her eröffnet sich aber eine neue Perspektive: Erziehung hat ein bewußtes Ziel, das in der Übernahme vor allem stoischen Gedankenguts aus der A n t i k e 5 3 in der Bildung des Menschen zum Guten, in der Moral seine Spitze h a t . 5 4 Der moralische Zug, der den Humanismus von da an auszeichnet und ihn im Unterschied zu der Verwendung antiker Literatur im Spätmittelalter charakterisiert 5 5 , entfaltet sich also auf weite Strecken im Ductus praktisch-pädagogischer Arbeit und ist keineswegs ein im Gegensatz zu herrschenden theologischen Anschauungen angestrebtes Ziel.

s o Er wurde im frühen 19. Jahrhundert durch F. J. Niethammer geprägt, Der Streit des Philanthropismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit, 1808; vgl. W. Rüegg, Cicero und der Humanismus, 1946, S. Iff. 51 Vgl. dazu P. O. Kristeller, The Humanist Movement, in: Renaissance Thought, S. 9t.; vgl. auch ders., Humanism and Scholasticism, in: Studies. 52 Η. W. Eppelsheimer kann mit Huizinga sogar formulieren: „Der Humanismus (in seiner zeitlichen Erscheinung) hat mit Humanität nichts zu tun . . . ; er meint mit humanitas Bildung und nicht ein höheres Menschen-, sondern eine Art Virtuosentum." In: A. Buck, Begriff, S. 116. 53 Cicero, der ursprünglich vor allem seines Stils wegen gelesen wurde, dann aber wegen des Inhalts seiner Werke, besonders De natura deorum, geschätzt wurde (vgl. die Äußerung Polizianos bei E. Garin, Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik II, Humanismus, 1966 (= L'educazione in Europa, Ί 9 5 7 ) , S. 12f.), spielt als Übermittler antiken Guts eine wichtige Rolle. Vgl. Th. Zielinski, Cicero im Wandel der Jahrhunderte (1897), 4 1929; Rüegg, Cicero. 54 Charakteristisch ist die Äußerung von Poggio Bracciolini: „Tempus esset jam de somno surgere ac danda opera, ut aliquid mihi prodessent ad vitam et mores illi, quos habemus, et quos quotidie legimus." Epistolae, ed. T. Tonelli, 1832, I, 62. Für E. Garin ist „die humanistische Lebensanschauung im bürgerlichen Leben" die Mitte seiner Darstellung des italienischen Humanismus: Der italienische Humanismus, 1947, S. 9. Vgl. dazu auch E. Kessler, in: E. Garin, Geschichte, S. 298f. In L'educazione, S. 78, geht Garin in ausdrücklicher Aufnahme der Formel Burckhardts von der „Entdeckung der Welt und des Menschen" jedoch einen entscheidenden Schritt weiter: „Perciö, anche se non necessariamente in polemica dichiarata con Ia tradizione religiosa, l'educazione umanistica si presenta come una riconsacrazione dell'uomo, della sua mondanitä, della sua vita nella cittä terrena, delle sue passioni, di quanto e piü terrestre, corporoso, naturale." 5 5 Für die Traditionspflege antiker Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance vgl. die bei A. Buck, Begriff, S. 19f., Anm. 69 und 70, genannte Literatur sowie ders., Gab es einen Humanismus im Mittelalter? In: RomF 75, 1963, S. 2 1 3 - 2 3 9 .

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Man berief sich für diese Linie ja vor allem auf Augustin und damit auf die patristische Tradition! 56 Die Grundzüge dieser Haltung sind schon bei dem allgemein als „Vater des Humanismus" angesehenen Francesco Petrarca zu finden. Das Urteil über diesen Dichter-Philosophen, glühenden Verehrer der klassischen Antike und „ersten modernen Menschen", nach innen gekehrten Grübler und das aktive Handeln verkündigenden Propheten hat in der Geschichte der Petrarcaforschung stark geschwankt. 57 Dieses Schwanken erklärt sich ohne Frage aus dem dialektischen Charakter des Denkens Petrarcas, in dem Übernommenes und Eigenes im Rahmen einer ausgeprägten Individualität miteinander vereint sind. Berühmt geworden ist jene Szene aus dem Brief des Dichters an Francesco Dionysius von Borgo San Sepolcro nach seiner Besteigung des Mont Ventoux, wo er den Augenblick schildert, als er, von der Schönheit des sich ihm bietenden Panoramas überwältigt, Augustins „Confessiones" aus der Tasche zieht und dort den Satz liest: „Da gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge, die mächtigen Wogen der See, den Lauf der Flüsse, die Weite des Ozeans, den Lauf der Sterne und verlieren sich selbst." 58 Petrarca erzählt, wie er das Buch geschlossen und sich gescholten habe, daß er noch irdische Dinge bewundere, wo er doch schon von heidnischen Philosophen 59 habe lernen können, daß nichts groß sei außer der menschlichen Seele. 60 Patristische und antik56 Augustin, De doctrina Christiana II, 41, 62. Vgl. E. Kessler, Geschichtsdenken und Geschichtsschreibung bei Francesco Petrarca, in: AKuG 51, 1969, S. 109—136, und P. O. Kristeller, Augustine and the Early Renaissance, in: Studies, S. 355—372. 57 Uber Petrarca gibt es eine ausgebreitete Literatur. Die ältere Beurteilung des Dichters von den Zeitgenossen bis zu Voigt u n d Burckhardt schildert W. Handschin, Francesco Petrarca als Gestalt der Historiographie, 1964. Zur neueren Petrarcaforschung vgl. vor allem Β. T. Sozzi, Petrarca, Storia della critica, 1963. Als neueste größere Arbeit über Petrarca wurde benutzt: A. Tripet, Petrarque ou la connaissance de soi, 1967. Dorts. S. 1 9 I f f . eine Bibliographie der Petrarca-Editionen. — Eine einfühlende Beurteilung auch bei M. Seidlmayer, Petrarca, das Urbild des Humanisten. In: Wege und Wandlungen des Humanismus, 1965, S. 125 — 173, sowie bei H. Baron, Petrarch: His inner struggles and the humanistic discovery of man's nature, in: Florilegium Historiale, Festschr. W. K. Ferguson, 1971, S. 1 8 - 5 1 . 58 Augustin, Confessiones X, 8. 59 Gemeint ist Seneca, Epistulae 8, 5. Vgl. G. A. Levi, Pensiero classico e pensiero cristiano nel Petrarca. In: AeR 39, 195 7, S. 7 7 - 1 0 1 , S. 86. 60 F. Petrarca, Le Familiari, ed. V. Rossi, Vol I., 1933 (Edizione Nazionale, Vol. X), S. 159. Historisch-kritisch betrachtet, kann dieser Brief, wie vor allem G. Billanovich nachgewiesen hat (Petrarca Letterato, I: L o Scrittoio del Petrarca, 1947, S. 192ff.; ders., Petrarca e il Ventoso, in: IMU IX, 1966, S. 3 8 9 - 4 0 1 ) , nicht als „ e c h t " gelten, sondern stellt eine spätere literarische Fiktion Petrarcas dar; gleichwohl behält er als inneres Zeugnis und als Widerhall eines echten Erlebnisses des Dichters seinen Wert,

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heidnische Tradition wird aufgenommen, und doch beginnt in einer Art Bekehrungserlebnis 61 etwas ganz Neues, in dem sich ein persönliches Lebensziel andeutet. Schwer aber ist es, den Inhalt der Lebensaussage Petrarcas mit einem Satz zu umschreiben. Für G. Voigt ist Petrarca der erste „Individualmensch" und als solcher der „Ahnherr der modernen Welt." „Die Individualität und ihr Recht treten in ihm zum ersten Male kühn und frei mit dem Anspruch auf hohe Bedeutung hervor." 6 2 Zugleich tadelt er an ihm die überall begegnende grenzenlose Eitelkeit; „ . . . alles bezieht er auf seine Person." 6 3 Neuere Forscher haben dieses Urteil eingeschränkt und revidiert: so betont E. Garin den „sozialen Charakter einer echten Humanität", wie ihn Petrarca empfunden habe: „die Nächstenliebe, dies ist nach Petrarcas Ansicht die Triebfeder und das Ziel der ,studia humanitatis'." 6 4 „Sich in die Einsamkeit zurückzuziehen bedeutete für Petrarca, den ganzen Reichtum der eigenen Innerlichkeit wiederfinden, die Berührung mit Gott wiederherstellen und sich den Weg zu einem wirksamen Kontakt mit den Mitmenschen ebnen." 6 5 Allerdings ist diese Sozialität wiederum ganz elitär gemeint: nur ein enger Kreis von Freunden, nicht die multi, das vulgus, nur die litterati sind in der Lage, dem Ideal der virtus zu entsprechen, das in der imitatio der Alten angestrebt wird. 6 6 Dem dient auch die Betrachtung der Geschichte: „Apud me nisi ea requiruntur, que ad virtutes vel virtutum contraria trahi possunt." 6 7 Der ethische Zug, aus der vgl. H. Baron, From Petrarch to Leonardi Bruni, 1 9 6 8 , S. 15—23; ders., Petrarch, S. 2 2 f f . 61 Wie es ähnlich n o c h mehrere „moderne" Philosophen erlebten, u.a. Herbert von Cherbury, vgl. u. S. 320f., Anm. 38f. 62 G. Voigt, Die Wiederbelebung des classischen Alterthums, I. Band, S. 12—101: „Francesco Petrarca, die Genialität und ihre zündende Kraft", Zitat auf S. 81. — Vgl. auch A. Buck, Das Problem des christlichen Humanismus in der italienischen Renaissance, in: Sodalitas Erasmiana I. II Valore universale dell' umanesimo, Napoli o. J . ( 1 9 5 0 ) , S. 181 — 192, S. 183: „Für Petrarca ist bereits der Mensch Ausgangspunkt und Ziel aller seiner Gedanken u n d Gefühle." — H. Baron, Petrarch, zeigt auf, wie sich bei Petrarca gegen seine Lebensmitte vor allem unter dem Einfluß Augustins eine stärkere Rückkehr zu den christlich-mittelalterlichen Anschauungen durchsetzt, ohne daß er j e d o c h die humanistischen Ideale seiner Jugend je ganz aufgegeben hätte. Das Miteinander beider erklärt die Zwiespältigkeit seiner Äußerungen, zumal er später ältere Zeugnisse entsprechend überarbeitete. 63 Ebenda. Vgl. dazu auch die Darstellung bei H. W. Eppelsheimer, Petrarca ( 1 9 2 6 ) , Neudruck 1 9 7 1 , S. 1 5 9 f f . 64 Humanismus, S. 13. « AaO., S. 14. 66 Zum Begriff der „Virtu" als leitendes Motiv bei Petrarca vgl. H. Baron, Das Erwachen des historischen Denkens im Humanismus. In: HZ 147, 1 9 3 3 , S. 5—20. 67 De viris illustribus, ed. C. Martellotti, 1964, S. 4 , 3 4 f f . Zum Thema vgl. E. Kessler, Geschichtsdenken.

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Antike übernommen, ist bei Petrarca ganz deutlich; weniger deutlich ist der Individualismus, der philosophisch jedenfalls mehr im Sinne der platonischen Gesellschaftsphilosophie gemeint ist. 68 Nicht zu vergessen ist die polemische Zielrichtung dieser den Menschen und seine Stellung im platonisierenden Sinne reflektierenden Sicht gegen den Averroismus, der Petrarca in einem Briefe an Luigi Marsiii Ausdruck gibt, in dem er zugleich Lactam und Augustin als Führer auf dem Wege einer pia philosophia empfiehlt, die studia humanitatis und studia divinitatis vereint. 69 Der Averroismus, wie er auf den Universitäten Italiens seit nicht allzu langer Zeit 7 0 gelehrt wurde, wurde von seinen Gegnern als antichristlich empfunden, weil er den Menschen in seiner natürlichen Geschöpflichkeit und allein durch seinen rationalen Intellekt ausgezeichnet betrachtete und auch die Unsterblichkeit der Seele zu leugnen geneigt war. Die antiaverroistische Sicht, die manchmal auf den gesamten Aristotelismus ausgedehnt wurde, d.h. die in rein formale Syllogismen abgesunkene scholastische Schulphilosophie, von der sich die Humanisten abgrenzten 7 1 , trug nicht wenig zur Ausformung der Humanphilosophie bei, wobei die gelegentliche Bemerkung E. Garins nicht unbeachtlich ist, daß die Sicht, „wonach als wesentlich für den Menschen sein Werden, sein Tun erscheinen" „eine im Grunde christliche Anschauung sei". 72 Auch bei den späteren berühmten Renaissance-Philosophen, bei M. Ficino und G. Pico della Mirandola muß dieser Hintergrund für ein nüchternes Urteil über ihr Menschenbild im Auge behalten werden. P. O. Kristeller hat bemerkt 7 3 , daß die ausdrückliche Beschäftigung mit philosophischen Themen, die bei Männern wie Ficino und Pico zu dem allgemeinen humanistischen Bildungshintergrund hinzukomme, als ein zusätzliches Element abzuheben sei, das auch inhaltlich durchaus eigenständig geprägt sei. Wenn diese Auffassung auch mit dem etwas zu engen Verständnis des Be-

68 Vgl. dazu auch E. Garin, Humanismus, S. 18f. — Etwas anderes ist die Bedeutung seiner eigenen Subjektivität, die als ausgesprochenes Ich-Bewußtsein tatsächlich etwas Neuartiges in der Geistesgeschichte darstellt. Vgl. dazu M. Seidlmayer, Wege, S. 163ff. 69 Rerum senilium libri, Opera omnia, 1581, XV, 6—7. 70 Vgl. P. O. Kristeller, The Aristotelian Tradition, in: Renaissance Thought, Bd. I, S. 2 4 - 4 7 , S. 42f. 71 Zum begrenzten Ausmaß dieser Antithese vgl. jedoch Kristeller, aaO., S. 42ff. 72 Humanismus, S. 32. Man kann hinter der gesamten Diskussion auch den philosophischen Gegensatz zwischen Nominalismus und Realismus erkennen, wie er auch bei dem wenig jüngeren Wyclif auf einer etwas anderen Ebene sichtbar wird, s.u. S. 62, Anm. 256. π The Humanist Movement, in: Renaissance Thought, Bd. I, S. 3 - 2 3 , S. 19f.; ders., Eight Philosophers of the Christian Renaissance, 1964, S. 38.

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griffshumanismus, der schon seit Petrarca auch weltanschauliche Züge enthält, bei Kristeller zusammenhängt 7 4 , ist doch an ihr die Erkenntnis richtig, daß es sich bei dem späteren Renaissance-Platonismus um eine besondere Erscheinung handelt, die sich in einem eng begrenzten Kreis entwikkelte und auch inhaltlich durchaus eigenständig geprägt ist. 75 Auch hierbei haben die politischen Umstände der Zeit eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Eine frühe Phase der Beschäftigung mit Plato in der italienischen Renaissance 7 6 , in der dessen „Politeia" im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, ordnet seine Gedankengänge durchaus in die allgemeinen ethischpolitischen Interessen des florentinischen „Bürgerhumanismus" ein. 7 7 Die mit der Herrschaft der Medici in Florenz eingetretene Krise der republikanischen Staatsform 7 8 brachte dagegen 7 9 eine Umkehr in der Blickrichtung der Humanisten, die sich jetzt den abstrakten Spekulationen über die Stellung des Menschen im Universum im System des religiösen Neuplatonismus zuwenden. Bedeutsam für diese neue Phase des Piatonismus war der Einfluß Plethonsso und anderer Byzantiner seit dem Konzil von Florenz und dem Untergang Konstantinopels, die einen starken neuen Impuls in die Beschäftigung mit den Gedankengängen des Meisters hineinbrachten. 81

74 Kristeller bemerkt jedoch, daß der Humanismus, indem er die Schriften aller antiken Philosophen allgemein zugänglich machte, den Weg zum Studium auch der verschiedenen philosophischen Systeme eröffnete, Changing Views of the Intellectual History of the Renaissance, in: The Renaissance, ed. T. Helton, 1961, S. 27—52, S. 34. 75 Vgl. auch P. Ο. Kristeller, Renaissance Platonism, in: Facets, S. 103—123. 76 Vgl. dazu Ε. Garin, Ricerche sulla traditioni di Piatone nella prima metä del seculo XV, in: Mediaevo e Rinascimento, Studi in onore di B. Nardt, 1955, S. 339—374. 77 In diese Phase gehören die Plato-Übersetzungen von Umberto und Pier Candido Decembrio und Leonardi Bruni. — Bei Petrarca kann man dagegen noch nicht von einem echten Piatonismus sprechen, vgl. E. Garin, Humanismus, S. 18f. 78 Vgl. F. Adorno, La crisi dell' umanesimo civile fiorentino da Alemanno Rinucci al MachiaveUi, in: RCSF 31, 1952, S. 1 9 - 4 0 . 79 Mit Einschränkungen: vgl. V. Alberti, Staatsbewußtsein. 80 Zu Plethon und dem Piatonismus von Mistra vgl. B. Knös, Gemiste Plethon et son souvenir, in: BAGB.S: Lettres d'humanite 9, 1950, S. 97—184; ders., Encore Gemiste Plethon, BAGB, 4. ser., No. 3, 1954, S. 6 0 - 6 5 ; F. Masai, Le probleme des influences byzantines sur le platonisme italien de la Renaissance, in: BAGB.S: Lettres d'humanite 12, 1953, S. 8 2 - 9 0 ; ders., Plethon et le platonisme de Mistra, 1956. - Nach Ficinos Bericht (im Prooemium seiner In Plotini Epitomae, Opera omnia, 1572 (Neudruck 1962, Vol. II, fol. 1537)) veranlaßten Plethons Vorlesungen in Florenz 1438 Cosimo dei Medici zur Gründung der platonischen Akademie. 81 Neben Plethon ist hier vor allem der Kardinal Bessarion zu nennen, vgl. L. Möhler, Kardinal Bessarion als Theologe, Humanist und Staatsmann, 2 Bde., 1923—27. — Es ist jedoch zu beachten, daß Plethon den Piatonismus für politische Reformpläne verwenden wollte, während es Ficino um eine Harmonie zwischen Piatonismus und der christlichen

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Doch ist die Wiederaufnahme speziell der Grundelemente des neuplatonischen Systems: der Ideenlehre, der emanativen Sphärengliederung in der Rangordnung des Seins und der Vorstellungen von der Seele und ihrem Aufstieg zu Gott das persönliche Werk Marsilio Ficinos, der als Haupt der florentinischen Akademie hier an erster Stelle zu nennen ist. 82 Will man Ficino (1433—1499) für die Entwicklung des m o d e r n e n anthropozentrischen Weltbildes heranziehen, kann man es nur mit großen Vorbehalten t u n . 8 3 Es ist richtig, daß sich bei ihm Äußerungen finden, die die menschliche Seele als den Mittelpunkt der Welt, das Z e n t r u m aller Dinge hinstellen 8 4 — aber man m u ß diese Äußerungen in das Gesamtsystem des Philosophen hineinstellen, in das neben einer aristotelischen Onto logie 8 5 und der neuplatonischen Sphärenlehre, die das Schema der Rangordnung des Seins hergab, eine starke augustinische u n d mystische Tradition hineinwirkt. Aus antikem Erbe stammt die Betonung der Kontemplation als der eigentlich die Glückseligkeit wirkenden, eines Philosophen allein würdigen Haltung 8 6 wie auch das Ideal der Erhebung aus der sinnlichen, niederen Welt in eine höhere Sphäre des Geistes, aus der Mystik der christliche Gedanke der Einung mit G o t t , in der die Seele erst zu ihrem eigentlichen Wesen gelangt. 8 7 Wenn also dem Menschen eine gegenüber dem neuplatonischen System erhöhte, ja zentrale Stellung in der Welt z u k o m m t , so doch nicht wegen einer anthropozentrischen Sicht, sondern weil hier ein starker Zug christlich-mittelalterlicher Spiritualität in das zutiefst synkretistische Denken des Renaissance-Philosophen einströmt. Die Stellung des Menschen gilt als herausgehoben nicht an sich, sondern weil sich in ihr — wieder nur eine Abwandlung der imago-Dei-Lehre — der Bezug auf

Tradition ging. Infolgedessen entwickelte er vor allem das spekulative Element in der neuplatonischen Form. 82 Zur Biographie Ficinos vgl. vor allem A. della Torre, Storia dell' Academica Platonica di Firence, 1902, und R. Marcel, Marsile Ficin ( 1 4 3 3 - 1 4 9 8 ) , 1958. Das Standardwerk über die Philosophie Ficinos ist P. O. Kristeller, The Philosophy of Marsilio Ficino, 1943 (Reprint 1964); benutzt wurde der Neudruck. Dt.: Die Philosophie des Marsilio Ficino, 1972. Vgl. auch ders., Eight Philosophers, S. 3 7 - 5 3 . 83 Vgl. zum folgenden auch P. O. Kristeller, The Philosophy of Man in the Italian Renaissance, in: Renaissance Thought I, S. 120—139. 84 Vgl. das Zitat bei Kristeller, The Philosophy of Man, in: Renaissance Thought, S. 129. « Vgl. Kristeller, The Philosophy of Marsilio Ficino, S. 35ff; dt.: S. 21ff. 86 Vgl. Kristeller, The Philosophy of Man, in: Renaissance Thought, S. 127f. 87 Vgl. Kristeller, The Philosophy of Marsilio Ficino, S. 289ff. dt.: S. 271ff.; vgl. S. 262f. — dt.: S. 244ff. — Hierhinein gehört auch die Theorie der „platonischen" Liebe als der Freude an dem Guten und Schönen, die alles Sinnliche transzendiert. Vgl. dorts., S. 263ff., dt.: S. 246ff., und zum Thema der Liebesmetaphysik im Renaissance-Platonismus E. Garin, Humanismus, S. 137ff.

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die Quelle alles Seins, auf G o t t verkörpert. Allerdings zeigt sich schon hier ein Zug, der uns im weiteren Verlauf noch wichtig sein wird: die entschiedene Stelle, die das innere Gottesverhältnis einnimmt im Vergleich mit allen äußeren F o r m e n der Religion. 8 8 Diese sind zwar nichts anderes als ein Ausdruck für das innere Verhältnis zu G o t t 8 9 , insofern ist keine direkte Ablehnung der äußeren F o r m e n sichtbar — aber immerhin ist der Gegensatz außen-innen schon da, aus den beiden Quellen des antiken Dualismus und der verinnerlichenden Mystik gespeist. Auch das Miteinander von Rationalismus und Mystizismus, das für spätere Entwicklungen charakteristisch sein wird, ist bei Ficino schon zu beobachten. Ein ähnliches Bild wie bei Ficino gewinnen wir auch, wenn wir die Auffassung von der Rangstellung des Menschen bei seinem berühmten Schüler Giovanni Pico della Mirandola (1463—1494) untersuchen. Seit Burckhardt die Rede Picos: „Über die Würde des M e n s c h e n " 9 0 mit ihren Spitzenaussagen als „eines der edelsten Vermächtnisse jener K u l t u r e p o c h e " bezeichnet h a t 9 1 , ist es weithin üblich geworden, die Renaissance gerade in diesen Aussagen kulminieren zu lassen. Aber auch bei Pico wäre es abwegig, ihn als einen Idealisten im Sinne des 19. J a h r h u n d e r t s zu verstehen. Vielmehr kann nur eine sorgfältige Prüfung seiner reichen literarischen Hinterlassenschaft seine vielfältige Abhängigkeit von verschiedenartigen Traditionen gegenüber dem Gewicht seines eigenständigen Beitrages zur Anthropologie der Renaissance abwägen. 9 2 Dabei ist auch innerhalb der Werke Picos zu unterscheiden, denn die Oratio (1486) ist als ein Frühwerk des jungen Philosophen (er war damals noch nicht 24 J a h r e alt) von den späteren, nach der Zurechtweisung durch die Kurie entstandenen Arbeiten, z.B. dem Heptaplus und vor allem dem Spätwerk De ente et uno, durch eine tiefe 88 Deshalb auch die Betonung des Gebetes als des Weges zu einer Einung der Seele mit Gott, vgl. Kristeller, ebenda, S. 315f. - dt.: S. 2 9 8 - 3 0 0 . Vgl. Kristeller, ebenda, S. 317; dt.: S. 300. 90 Vgl. die Ausgabe von E. Garin·. Pico della Mirandola, De dignitate hominis. Lateinisch und deutsch, 1968, mit einer wertvollen Einleitung des Herausgebers. — Als kritische Ausgaben sind zu nennen: De hominis dignitate. Heptaplus, De ente et uno e scritti vari. A cura di E. Garin, 1942; De hominis dignitate . . . A cura di B. Ctcognani, 1942. 91 Kultur, in: Werke, Bd. III, S. 241. 92 Als wichtigste neuere Arbeiten über Pico sind zu nennen (außer der erwähnten Einleitung E. Garins zu der von ihm besorgten Ausgabe von De dignitate hominis): G. Semprini, La filosofia di Pico della Mirandola, 1936; E. Anagnine, Giovanni Pico della Mirandola. Vita e dottrina, 1937; P. M. Cordier, Jean Pic de Mirandole ou la plus pure figure de la Renaissance, 1957, und vor allem die gründliche Darstellung seiner Theologie durch E. Monnerjahn, Giovanni Pico della Mirandola, 1960. Dorts. S. 231ff. weitere Sekundärliteratur.

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Krise getrennt 9 3 , in denen eine stärkere Zuwendung zur christlichen Tradition und eine auch im persönlichen Leben hervortretende Hinneigung zum Glauben sichtbar wird. Trotzdem zieht sich durch das gesamte Werk ein einheitlicher Grundcharakter hindurch, der auch eine systematische Darstellung der Gedankenwelt Picos, wie sie bei Monnerjahn vorliegt, möglich macht. Vor allem eins ist für diese Gedankenwelt charakteristisch: daß sie das augenfälligste Beispiel für eine konsequent synkretistische Haltung ist. Philosophie ist für Pico kein Gegensatz zur Theologie, sondern er will die eine durch die Mittel der anderen darstellen. Harmonie des Gegensätzlichen ist aber überhaupt sein Grundprogramm: Plato und Aristoteles, Hermetik, neuplatonische Spekulation und jüdische Kabbala, averroistische Mystik und stoische Schau des Mikrokosmos im Menschen, all das verbindet sich ihm zu der großen Einheit alles Wirklichen, des Menschlichen und des Göttlichen, in der pax philosophica geeint, und hier, in diesem umfassenden System, hat auch der Mensch seinen hymnisch gepriesenen Platz. Für die Auffassung vom Menschen bei Pico ist zunächst wichtig, daß er seine Stellung vor dem Hintergrund des gesamten Kosmos betrachtet. Deshalb setzt er in der „Oratio" mit dem Werk der Schöpfung ein 9 4 ; im „Heptaplus" gibt er eine ausführliche Kosmologie, während der „Commento alla canzone d'amore" (des G. Benivieni) eine neuplatonisch gefärbte Kosmologie enthält. 9 5 Der Mensch, als Mikrokosmos die bunte Fülle des Alls in sich enthaltend 9 6 , wird in den Mittelpunkt der Welt gestellt, er ist „terrestium et caelestium vinculum et nodus". 9 7 Dieser kosmologische Hintergrund, dem antiken, spezieller dem neuplatonischen Weltbild entsprechend, ist für das rechte Verständnis von Picos Anthropologie entscheidend: die entsprechenden Aussagen „gelten in erster Linie dem Menschen an sich, dem ,ewigen' Menschen, wie er als Idee von Gott gedacht ist, nicht aber unmittelbar dem konkreten Menschen in der Vereinzelung seiner irdischen, gebrechlichen Existenz". 9 8 Die platonische Urbild-Vorstellung darf keineswegs mit modernen Auffassungen verwechselt werden. Mit der Beschreibung der Zwischenstellung des Menschen zwischen Himmel und Erde wird

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Vgl. Garin, Einleitung zu „De dignitate hominis", S. 7ff. * Lat.-dt. Ausgabe, Garin, S. 2 6 / 2 7 - 2 8 / 2 9 . 95 Vgl. Monnerjahn, Pico, S. 18ff. 96 Die „Oratio" berichtet in mythischem Stil, Gott habe bei der Schöpfung für den Menschen kein ,Archetyp mehr zur Verfügung gestanden, deshalb habe er ihm nichts eingrenzend Eigenes gegeben, sondern die Möglichkeit, zwischen dem Höchsten und dem Tiefsten in der Welt zu wählen"; lat.-dt. Ausgabe, S. 28/9. 97 Heptaplus V 7; 7b. Commento I 11; 737. 98 Monnerjahn, Pico, S. 31.

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auch nichts anderes als ein altes, viel behandeltes Thema a u f g e n o m m e n . " Auf der anderen Seite findet sich vorher in der Literatur nirgends die Fortsetzung, die Pico in der „Oratio" seinem Mythos gibt: dem Menschen wird keine besondere Natur von Gott verliehen, die ihn von vornherein determiniert: er erhält die Freiheit, sich selbst zu bestimmen — wie es in der Ansprache des Schöpfers an Adam heißt: „ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tute formam effingas." 1 0 0 Gegenüber Deutungen, die diese und ähnliche Aussagen im Sinne eines Fichteschen Idealismus ausdeuten, als ob dem Menschen hier eine absolute Schöpferkraft zugeschrieben werde 1 0 1 , muß jedoch einmal darauf hingewiesen werden, daß die Oratio in einem rhetorisch-enthusiastischen Ton gehalten ist und dadurch das Lob des Menschen den hymnischen Klang der Begeisterung erhält. 102 Wichtiger ist, daß wenn von der Göttlichkeit des Menschen die Rede ist, Pico diese im Sinne der traditionellen imago-Dei-Lehre 1 0 3 als dialektisches Miteinander von Gleichheit und Unterschiedenheit zwischen Gott und Mensch interpretiert. 1 0 4 Entscheidend ist aber die Erkenntnis, daß Pico die Würde des Menschen in den Rahmen seines gesamten, neuplatonisch gefärbten und mit emanatistischen Motiven gesättigten Weltbildes hineinstellt: die Stellung des Menschen im Kosmos ist in der Weise dynamisch angelegt, daß in ihr die Möglichkeiten von Aufstieg oder Abstieg in der Hierarchie der Wesenheiten beschlossen liegen. So schließt die Rede Gottschöpfers an Adam in der Oratio bezeichnenderweise mit dem Satz: „Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare; poteris in superiora

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Vgl. bes. H. Baker, The Image of Man. Α Study of the Idea of Human Dignity in Classical Antiquity, the Middle Ages and the Renaissance, 1961. Auch ο. S. 22f. 100 Oratio, lat.-dt. Ausgabe Garin, S. 28. 101 Monnerjahn, Pico, S. 30, zitiert einige Äußerungen Ε. Carins, die diesen Eindruck erwecken. 102 Vgl. E. Monnerjahn, Pico, S. 30: „Die Ansprache ist keine sachlich-nüchterne Darlegung, sondern eine strömende und sich von Gedanke zu Gedanke steigernde hymnische Preisung, die das Bild vom Menschen mehr aus visionärer Schau als aus rationalphilosophischer Betrachtung umreißt." 103 Die Quinta expositia im „Heptaplus" kommentiert Gen. 1,26. 104 Vgl Heptaplus, ed. Garin, S. 302: „Est autem diversitas inter Deum et hominem, quod Deus in se omnia continet ut omnium principium, homo autem in se omnia continet ut omnium medium." Vgl. zum Problem auch G. di Napoli, „Contemptus mundi", S. 24ff. Monnerjahn betont: .Jedoch hat Pico in ihr bestimmte Grenzen, vor allem die wesentliche Grenze zwischen Mensch und Gott, nicht außer Acht gelassen, und zwar gerade in dem Punkte, wo der Mensch am meisten .göttlich' ist, in seinem Wesen als .vinculum et nodus mundi'. Das Prädikat .divinus' kommt dem Menschen nur in analogem Sinne, durch abbildliche Teilhabe zu. Es besagt keine Identifizierung des Menschen mit Gott." S Reventlow, Bibelautorität

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quae sunt divina ex tui animi sententia regenerari." 1 0 5 Die Wahlfreiheit des Menschen bezieht sich also nicht darauf, daß es ihm möglich wäre, von sich aus eine Rangordnung der Werte festzulegen; er hat vielmehr die Alternative, in der vorhandenen Ordnung der Welt auf- oder abzusteigen . Das Ziel des Aufstieges ist aber eindeutig festgelegt, und hierin sieht Pico die eigentliche Aufgabe des Menschen: wenn der Mensch „vinculum et nodus m u n d i " werden soll, wird er es durch die Kontemplation. 1 0 6 Gegenstand der Kontemplation aber ist der göttliche Geist, auf den sich der menschliche Geist in der reinen, intellektuellen Erkenntnis richtet, kraft der göttlichen Erleuchtung, die dem menschlichen Intellekt von dem göttlichen Intellekt her zuteil wird. 107 Diese Schau des Göttlichen, auf dem Wege über die Selbstschau, die intuitive Selbsterkenntnis des Menschen gewonnen, führt den Menschen schließlich zur dritten Stufe, der Vollendung der Schau in der Liebe. 108 Hinsichtlich der Anthropologie Picos kann man feststellen, daß sie eindeutig dualistisch ist: er betont stark den Unterschied zwischen dem minderwertigen Leib und dem allein wesentlichen Geist. 109 Seine Erkenntnislehre aber ist mystisch-intuitiv, sie ist „nicht einseitig ein Denkvorgang, sondern zugleich Gotteserlebnis, Gotteserfahrung". 1 1 0 Monnerjahn betont mit Recht, daß Pico damit ,,im Lager der mystischen Denker (steht), die in Dionysius ihren Vater erblicken". 1 1 1 Auch der dritte Grad der Schau, in der Liebe, in der sich der Friede, d.h. die letzte universale Einheit der Welt vollzieht 1 1 2 , ist in dieser dualistischmystischen Weise im Sinne eines Aufstieges der Seele durch die Sphären durch Ablösung von der sinnlichen zur Teilhabe an der idealen Schönheit zu verstehen. 1 1 3 Von dem Gesagten her ist es verständlich, daß Pico gerade auch in der jüdischen Kabbala ein dem seinen verwandtes System wiederfand. 1 1 4 Er hat daneben aber auch traditionell-christliche Dogmen, wie die

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Oratio, dt.-lat. Ausgabe Garin, S. 28. 106 Vgl. Oratio, dt.-lat. Ausgabe, S. 33: „Si purum contemplatorem (videris) . . . hic augustius est numen humana carne circumvestitum." 107 „Intellectum, qui est in nobis, illustrat maior atque adeo divinus intellectus, sive sit Deus (ut quidam volunt) sive proxima et cognata mens." Hept. IV, 2; 5b. 108 Vgi_ z u m Gesamten E. Monnerjahn, Pico, I. Teil, Kap. 3—5, S. 35ff. 109 „Nichts ist groß im Menschen außer dem Geist", schreibt Pico in den „Disputationes adversus astrologos" (Ausgabe Garin, 1946), III, 27; 109a. Vgl. dazu auch Monnerjahn, aaO., S. 33f. 1,0 Monnerjahn, aaO., S. 41. i » AaO. 112 Das ist die zweite Aussage der „Oratio". 113 Pico schildert diesen Aufstieg im „Commento"; vgl. dazu Monnerjahn, aaO., S. 66ff. 114 Vgl. dazu Anagnine, Pico, S. 75ff.

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Erbsündenlehre 1 1 5 , Christologie 116 , auch die Schöpfungslehre, wenn auch vermischt mit Vorstellungen der neuplatonischen Emanationslehre 1 1 7 , übernommen. Das Gesagte genügt, um festzustellen, daß auch Pico nicht als moderner Denker in dem oft gemeinten Sinne zu verstehen ist. Die Art seines Denkens ist vielmehr in vielfältiger Weise von ihm vorgegebenen Traditionen bestimmt. Seine eigentliche Leistung besteht in dem Versuch, aus diesen so verschiedenen Welten ein einheitliches System zu bauen, eine Versöhnung von vorwiegend platonischer Philosophie mit vorwiegend mystischer Theologie zu erreichen. Höhepunkt der Renaissance können seine Aussagen insofern genannt werden, als sie den mit Petrarca begonnenen Weg fortsetzen und aus ihm die letzte philosophisch-systematische Konsequenz ziehen, den Menschen zum Mittelpunkt der Betrachtung zu machen, in ihm den Angelpunkt des Weltgeschehens zu sehen. 118 Aber dieser Mensch wird nicht individualistisch verstanden, eher ideal-typisch, seine Stellung ist eingebettet in ein Weltgeschehen, das seine Dynamik von der aus Gott her kommenden Kraft erhält. Immerhin liegen in diesem Anthropozentrismus wichtige Anstöße, die von Pico her weitergewirkt haben. Auch die zweite Komponente, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richteten, die moralistische, ist weder bei Ficino noch bei Pico besonders betont. Das Ideal der „virtus" vertritt auch Pico, aber es bedeutet bei ihm Einordnung auch des Tuns des Menschen in die Harmonie des Alls, eines Tuns, das im Denken seine Spitze findet, in der Weisheit zu Harmonie und Frieden führt. „Pie philosophari" 1 1 9 ist ein Stichwort, das die ethische Intention Picos in nuce enthält. 1 2 0 Hierin liegt allerdings auch der verborgene Dualismus, die spiritualistische Sicht beschlossen, die im Neuplatonismus und der Mystik ihre Geistesverwandten sieht. Daneben findet sich vor allem bei dem späten Pico, vielleicht unter dem Einfluß Savonarolas, eine Betonung der guten Werke, der Nächstenliebe, die auf ihren Lohn h o f f t . Hier dann auch die gelegentliche Aussage, daß es in der eigenen Hand des Menschen liegt, ob er durch sein Tun den Sieg erringt. 121 Die ethische

115 Vgl. dazu Monnerjahn, Pico, S. 7Iff. 116 Monnerjahn, aaO., S. 116ff. i· 7 Monnerjahn, aaO., S. 19ff. i· 8 Sein Weltbild ist im übrigen traditionell-platonisch; vgl. dazu A. Dulles, Princeps Concordiae. Pico della Mirandola and the scholastic tradition, 1941. 119 Briefe, ed. L. Dorez: Lettres inedites de Jean Pic de Mirandole (1482—1492), in: GSLI 25, 1895, S. 352ff.; Brief Nr. 66b. 120 v g i . z u m Ganzen Monnerjahn, Pico, S. 154ff. 121 Briefe, ed. Dorez, Nr. 59b. Zum Ganzen vgl. Monnerjahn, aaO., S. 162f.

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Komponente wird aber durch die ästhetisch-intellektuelle weitgehend überdeckt. Unklar bleibt weitgehend Picos Stellung zur sichtbaren Kirche, ihren Zeremonien und Sakramenten. Man wird für seine oft ausweichenden Formulierungen nicht zuletzt seine gefährdete Situation, die Verfolgung durch die Kurie, verantwortlich machen. Auf der anderen Seite hat sich Pico durchaus als treuer Sohn der katholischen Kirche gefühlt. 1 2 2 Es ist aber richtig gesehen, daß sein spiritualistischer Intellektualismus für die Sakramente und äußeren Formen kein echtes Verständnis haben konnte. Er hat sie folgerichtig ebenfalls spiritualisiert. 123 Blicken wir am Schluß dieser Überlegungen auf die Periode der italienischen Renaissance zurück, müssen wir feststellen, daß das in ihren bekanntesten Vertretern gewonnene Bild dieser Epoche anders aussieht, als es nach den populären, noch immer von Burckhardt und seinen Nachfolgern ausgehenden Vorstellungen zu erwarten war. Die kritische Untersuchung der Quellen in den letzten Jahrzehnten hat auch hier eine Komplexität zutagetreten lassen, die es verbietet, ein Urteil über diese Zeit mit wenigen Worten abzugeben. Im Hinblick auf die uns beschäftigende Thematik wird man eher von einem bescheidenen Ergebnis sprechen können. Α. E. van Gelder, der die Formel von den „beiden Reformationen" geprägt h a t 1 2 4 , findet in der „humanistischen Religion" einen dritten Weg zwischen Katholizismus und Protestantismus, wie er meint, eine radikalere Reformation, für die Rationalismus, Ansatz des Denkens beim Menschen und moralische Zielsetzung charakteristisch sind. 125 In der Renaissance kann man das zweite schon betont, das dritte in der „aktiven" Periode praktisch bereits stark, weniger jedoch als theoretischen Denkansatz antreffen. Der Rationalismus trägt, soweit man von ihm sprechen kann, jedenfalls ein ganz anderes Gesicht, als es für den Rationalismus der Aufklärung typisch ist. Die antischolastische Haltung eines Petrarca, der Antiaverroismus der Platoniker zeigen das zur Genüge. Betrachtet man die Systeme eines Ficino oder Pico della Mirandola, werden einen die „mittelalterlichen" Züge in ihnen stärker beeindrucken als die Ansätze zu einem „modernen" Denken. Um mehr als Ansätze kann es sich allerdings nicht handeln; in der Tat wurden jedoch hier Weichen für eine Entwicklung gestellt, deren eigentliche Folgen erst sehr viel später sichtbar wurden. In der Aufstellung van Gel-

122 Vgl. Anagnine, Pico, S. 287. 123 Vgl. Monnerjahn, Pico, S. 147ff. Für das Gesamturteil Monnerjahns über Pico ist allerdings zu berücksichtigen, daß der Verf. von einem römisch-katholischen Standort aus schreibt. 124 Vgl. o. S. 12, Anm. 12. 125 Reformations, S. 8 - 1 0 .

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ders ist ein Punkt vergessen, der als Merkmal der dargestellten Geisteshaltung ebenfalls sehr gewichtig ist: Anthropozentrismus und Moralismus sind oft mit einem spiritualistisch-mystischen Subjektivismus verbunden. Diese spiritualistische Haltung ist für die Folgezeit sehr bedeutsam. Gerade sie findet sich schon bei Ficino 126 und Pico stark ausgeprägt und brachte ihre starke Affinität zu den neuplatonischen Denkformen mit sich. Diese Ausdrucksformen weisen nach rückwärts, nicht nach voraus; das sollte jedoch nicht daran hindern, das Weiterwirken gerade des spiritualistischen Ansatzes für die Folgezeit zu beachten. b) Der spätmittelalterliche

Spiritualismus

Wenn also die italienische Renaissance nur in beschränktem Maße für die Vorgeschichte der geistigen Entwicklungen herangezogen werden kann, die uns im folgenden beschäftigen werden, werden wir auf andere Bereiche geführt, die in ungleich stärkerem Umfang die für sie typischen Merkmale aufweisen. In diesem Zusammenhang ist vor allem der spätmittelalterliche Spiritualismus zu nennen. 1 2 7 Mit diesem Begriff kann eine weitgefächerte geistige Bewegung bezeichnet werden, die teils innerhalb, teils außerhalb der katholischen Kirche im Abendland seit dem 11. Jahrhundert zu beobachten ist und im 14. Jahrhundert einen Höhepunkt erreicht. 128 Der Charakter der Quellen (von den Schriften der häretischen Gruppen wissen wir meist nur durch die Widerlegungen ihrer kirchlichen Gegner, und auch von den Aktivitäten der im Raum der Kirche verbliebenen Spiritualen ist nur sporadische Kenntnis zu gewinnen) und die vielfach noch an den Anfängen stehende wissenschaftliche Erforschung der Zusammenhänge machen es schwierig, einen genauen Einblick in die einzelnen Erscheinungen dieser spiritualistischen Strömung zu gewinnen. Doch lassen die vorhandenen Nachrichten bestimmte gemeinsame Züge erkennen, deren häufige Wiederkehr bei den verschiedenen Gruppen auf einen gemeinsamen geistigen Hintergrund schließen läßt. 1 2 9 Wichtig ist zunächst festzustellen, 126 Vgl. w. Dress, Die Mystik des Marsilio Ficino, 1929. 127 In gewissem Sinne kehren wir damit zu der Fragestellung Gebhardts und Thodes (vgl. o. S. 20, Anm. 23) zurück, allerdings mit einem gänzlich anderen Blickpunkt. 128 Vgl hierzu vor allem H. Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, mit Anhang: Neue Beiträge zur Geschichte der religiösen Bewegungen im Mittelalter (Neudruck), 1961 (auch: 1972); ders., Ketzergeschichte des Mittelalters (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 2. Liefg. G, 1. Teil), 1963; A. Borst, Die Katharer, 1953, bes. S. 7 1 - 1 2 0 . Von den älteren Ketzergeschichten ist C. U. Hahn, Geschichte der Ketzer im Mittelalter, (1845) 1968 im Neudruck erschienen. 129 Vgl. H. Grundmann, Bewegungen, Anhang, S. 504: „Andererseits ist es auffällig und kann nicht zufällig sein, daß dabei manche Thesen, Motive und Tendenzen immer

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Vorbereitende Entwicklungen

daß es sich bei dem Auftreten dieser spiritualistischen Bewegung um eine eigenständige abendländische Erscheinung handelt 13°; im Unterschied zu den Katharern, deren Entstehung auf eine direkte bogomilische Missionstätigkeit aus dem Osten zurückgeht 1 3 1 , fehlt in ihr auch in ihren sektiererischen Formen das charakteristische manichäisch-dualistische Weltbild 1 3 2 , wie umgekehrt die Katharer viele der für den Spiritualismus typischen Züge nicht aufweisen. 1 3 3 Auch der Spiritualismus lebt jedoch von einem dualistischen Ansatz alles Denkens und Fühlens her: der Gegensatz zwischen Geist und Materie, zwischen Äußerlich und Innerlich, zwischen Institution und persönlichem Glauben, zwischen Vermittlung des Heils und Gottunmittelbarkeit durchzieht alle Äußerungen und Handlungen seiner Vertreter. H. Grundmann ist geneigt, den wichtigsten Anstoß für das Aufkommen einer sich kritisch mit der Kirche und ihrem priesterlich-hierarchischen Gefüge auseinandersetzenden Ketzerbewegung im Investiturstreit und den sich gegen die Simonie wendenden propagandistischen Bemühungen Gregors VII zu sehen. 134 Gegen diese Deutung spricht einmal die Tatsache, daß auch schon in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts ähnliche häretische Bewegungen auftauchen, zum anderen aber auch innere Beobachtungen, die vielmehr in den räumlich und zeitlich getrennten, inhaltlich sich so ähnelnden häretischen Programmen und Aktionen das Hervorbrechen eines der Zeit gemeinsamen Antriebes erkennen lassen, auf dessen Hintergründigkeit Grundmann selbst vielfältig aufmerksam gemacht hat: „Die Ketzereien sind deshalb geschichtlich nur zu verstehen im Zusammenhang mit den allgemeinen religiösen Bewegungen ihrer Zeit, aus der auch die neuen Orden hervorgingen, und in der Auseinandersetzung mit der kirchlich-theologi-

wiederkehren, wenn auch mit verschiedenen Begründungen und Konsequenzen, und daß sie oft ähnlich wie bei den Ketzern auch in den rechtgläubigen Kreisen der religiösen Bewegung auftauchen. Bei aller Verschiedenheit der Antworten sind es doch vielfach dieselben Fragen und Probleme, die die religiösen Geister dieser Zeit beunruhigen, bewegen und entzweien." 130 A. Borst, Katharer, S. 72: „Ihr Anliegen ist abendländisch." J. Fearns, Peter von Bruis und die religiöse Bewegung des 12. Jahrhunderts, in: AKuG 48, 1966, S. 311 — 335, S. 335, S. 312 und Anm. 3—6, führt die gegensätzlichen Meinungen über den Ursprung der ketzerischen Ideen im Westen und deren Vertreter auf. Die Frage nach der Rolle der Bogomilen entscheidet sich nach dem Auftreten der für sie typischen dualistisch-kosmologischen Spekulation in den Programmen westlicher Sektierer. 131 Vgl. dazu Borst, aaO., S. 89ff. 132 Vgi_ Grundmann, Bewegungen, S. 479f. 133 So war ihre spätere Verkirchlichung mit der Übernahme von hierarchischen und sakramentalen Formen möglich, die von den Spiritualisten gerade scharf bekämpft wurden; vgl. dazu Borst, aaO., bes. S. 121. 134 Grundmann, Bewegungen, S. 13ff., 508. Vgl. auch Borst, aaO., S. 81f.

Die Herausbildung der geistigen Ausgangssituation sehen E n t w i c k l u n g . " 1 3 5 Papst Gregor

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VII t a t , indem er sich zeitweise mit

der „ k e t z e r i s c h e n " Bewegung verbündete, nichts anderes als diese seinen Herrschaftszielen dienstbar zu m a c h e n , eine Politik, die nicht o h n e R i s i k o war, wie man an den folgenden Entwicklungen sieht. Bereits aus der 1. Hälfte des 1 1 . J a h r h u n d e r t s haben wir Nachrichten über das A u f t r e t e n von K e t z e r n , deren Lehren schon die für die gesamte spiritualistische Bewegung typischen Züge enthalten. Wenn der Bauer Leuthard aus der Champagne ( f 1 0 0 4 ) E h e und Kreuzeszeichen verwirft und das Alte T e s t a m e n t a b l e h n t 1 3 6 , scheinen bogomilische Einflüsse mitzusprechen; nicht so sicher in der Wendung gegen den Klerus, dem er den Z e h n t e n verweigert. Deutlicher ist die Eigenständigkeit bei den spiritualistischen Klerikern, die in Orleans in der Umgebung König Roberts I ( 9 9 6 — 1 0 3 1 ) wirken 1 3 7 : n e b e n der Ablehnung alles Materiellen, die außer E h e und Fleischgenuß auch die S a k r a m e n t e T a u f e , Eucharistie und B e i c h t e u m f a ß t , und der Wendung gegen die Hierarchie findet sich bei ihnen die Lehre von der durch Handauflegung bewirkten Geistesverleihung an den einzelnen Gläubigen, die ihm Entsühnung, aber auch eine die S c h r i f t aufschließende persönliche Erleuchtung und Erkenntnis b r i n g t . 1 3 8 Ähnlich gestimmt ist der Adelskreis, der sich um 1 0 2 8 auf der Burg M o n t e f o r t e bei Turin samm e l t . 1 3 9 Dagegen zeigt sich bei den Ketzern von Arras 1 0 2 5 eine andere, ebenfalls zukunftsträchtige Grundhaltung: alles Äußerliche, die Sakramente, die Kirche und ihre Zeremonien, Gotteshäuser und Priestertum werden als für das Heil des Menschen unnütz b e z e i c h n e t , allein auf das Handeln k o m m t es an, nach einer radikalen, das einfache L e b e n b e t o n e n d e n asketischen Moral. Alle dogmatische L e h r e , auch etwa die der B o g o m i l e n , interessiert n i c h t . 1 4 0 Der Moralismus und eine b e s t i m m t e rationalistische Haltung, die sich gegen alles S a k r a m e n t a l e wendet, ist dem Spiritualismus keineswegs fremd, wie man zunächst vermuten m ö c h t e ; vielmehr ist die

135 Grundmann, Bewegungen, S. 519. 136 Vgl. über ihn G. Ilarino, Le eresie popolari del seculo XI nell' Europa occidentale, in: SGSG, Bd. 2, 1947, S. 4 3 - 8 9 , S. 46f.; Borst, Katharer, S. 73. - Die zeitgenössische Darstellung Rudolfs des Kahlen neuerdings bei J. Fearns, Ketzer und Ketzerbekämpfung im Hochmittelalter, 1968, S. 9ff. •37 Borst, aaO., S. 74ff.; Grundmann, Bewegungen, S. 477, und Anm. 6; ders., Ketzergesch., S. 9, und die Quelle bei Fearns, aaO. 1 38 Grundmann, Bewegungen, S. 479, verweist darauf, daß es sich bei der Handauflegung um den einzigen bezeugten häretischen Ritus handelt, mit der gleichen inhaltlichen Füllung wie bei den alten Manichäern, während jede Spur von dualistischer Spekulation und Mythologie fehle. 139 Vgl dazu Borst, aaO., S. 77, und Anm. 18 (dort weitere Literatur). 140 Vgl. Ilarino, aaO., S. 63ff.; Borst, aaO., S. 76f.

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Verbindung spiritualistischer und rational-moralistischer Einstellungen geradezu typisch für die gesamte Bewegung. Einen neuen Anstoß erhalten die innerhalb und außerhalb der Kirche wirkenden Kräfte in der zweiten Hälfte des 11. J a h r h u n d e r t s durch den Investiturstreit und die Stellungnahme Gregors VII, der gegen die Simonie das doppelte Prinzip der rechtmäßigen Ordination und sittlichen Würdigkeit der Priester ins Feld führt. 1 4 1 Daß er damit nur bestimmten auch sonst vorhandenen Strömungen seine Autorität verleiht, erkennt m a n an seiner Verbindung mit der in der Lombardei beheimateten, sich gegen den unkeuschen Klerus richtenden revolutionären Patarener-Bewegung 1 4 2 , aber auch an der Verbrennung des Priesters Ramihrdus in Cambrai 1077, der sich geweigert hat, von irgendeinem Abt oder Bischof das Sakrament zu empfangen, weil es ein Unwürdiger sein könnte. Gregor beklagt aufs schärfste seine Hinrichtung, als er von ihr erfährt. 1 4 3 Seit dem Beginn des 12. J a h r h u n d e r t s brechen dann die Ideale der vita apostolica und der christlichen A r m u t in dem A u f t r e t e n von Wanderpredigern, besonders in Frankreich, hervor, die ihre Anhänger aus der Welt heraus u n d in eine klösterliche Existenz rufen und damit die erste Welle der Ordensgründungen bewirken, in denen sich ein Arrangement mit den kirchlichen Ordnungen erreichen läßt. 1 4 4 H. Grundmann hat darauf hingewiesen 14S , wie sich in dem Schlagwort des apostolischen bzw. evangelischen Lebens seit dem Beginn des 12. J a h r h u n d e r t s das ursprünglich nur dem M ö n c h t u m geltende Lebensideal auch unter Wanderpredigern, Laien, Ketzern ausbreitete und dadurch zu einem schweren Problem für die kirchliche Ordnung wurde, besonders seit die neuen Orden, sich bald in sich selbst abschließend, die volkstümlichen Bewegungen nicht mehr kanalisierten.

141 Vgl. Grundmann, Bewegungen, S. 13ff.; Borst, aaO., S. 80f. - Ausführlich A. Nitschke, Die Welt Gregors VII. Studien zum Reformpapsttum. Diss. phil. (masch.), Göttingen 1950. 142 Vgl, Borst, aaO., S. 81f., und Anm. 4 (Literatur); Grundmann, Bewegungen, S. 508f. 143 Vgl. Borst, aaO., S. 82, und Anm. 6 (Literatur); Grundmann, Bewegungen, S. 514, Anm. 47; ders., Ketzergesch., S. 13. 144 Vgl. dazu Grundmann, Bewegungen, S. 38ff.; Ketzergesch., S. 15ff. 145 Bewegungen (Anhang), S. 504ff.; vgl. auch M. D. Chenu, Moines, clers, laics au carrefour de la vie evangelique (Xlle siecle), in: RHE 49, 1954, S. 59—89. Vgl. zum Folgenden auch H. Wolter, Aufbruch und Tragik der apostolischen Laienbewegung im Mittelalter, in: GuL 30, 1957, S. 3 5 7 - 3 6 9 . Wolter sieht in der Beteiligung der Laien an den Kreuzzügen eine wesentliche Ursache ihres Aufbruches zum mönchischen Ideal der vita apostolica.

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Wir werden im Folgenden das Armutsideal als eine gesonderte, ethisch bestimmte Haltung von den spiritualistischen Strömungen abheben müssen. Zugleich aber ist deutlich, daß beide eng miteinander verknüpft sind, vom gleichen Geist und vielfach denselben Bewegungen getragen werden. Beide richten ihre S t o ß k r a f t gegen die institutionelle Kirche in ihrer bestehenden Form; beiden ist auch die gleiche Selbstgewißheit, im Besitz der wahren Erkenntnis zu sein, gemeinsam. 1 4 6 Eine verschiedenartige Entwicklung ist jedoch schon dadurch gegeben, daß die Kirche die Armutsbewegung großenteils in ihren Rahmen einzuordnen verstanden hat, während die krasseren Formen des Spiritualismus als sektiererisch ausgeschieden wurden. Das hängt ohne Frage auch damit zusammen, daß der gemein-katholischen Frömmigkeit noch von der alten Kirche her ein weltverneinend-dualistischer und zugleich werkgerechter Zug innewohnte, der sich im monastischen Ideal konzentrierte. Man wird im übrigen damit rechnen müssen, daß eine spiritualistische Grundhaltung vielfach unter der Oberfläche dogmatischer Anpassung erhalten blieb, deren Wirkungen dann erst o f t viel später o f f e n zutage traten. Auch im 12. J a h r h u n d e r t sprechen die Ketzer wieder nur in krasser Form aus, was den Zeitgeist insgesamt bewegt. Eine der charakteristischen Figuren ist Peter von Bruis147, der Gründer der Sekte der Petrobrusianer, der ca. 1119—1139 wirkte. 1 4 8 Sein kirchlicher Gegner Petrus Venerabiiis schildert nicht nur anschaulich die Gewaltsamkeit des Auftretens dieser Sektierer gegen Kirchen, Kreuze, Priester, sondern erlaubt auch einen guten Überblick über die von Peter vertretene Lehre. 1 4 ^ Charakteristisch ist vor allem die ausschließliche Hinwendung zum Neuen Testament, speziell den Evangelien, unter Verwerfung des Alten und der kirchlichen Tradition. Die Sakramente, aber auch Messe, Beten, gute Werke, hält er für unnütz und Betrug der Priester; Kirchengebäude müssen zerstört werden, da G o t t überall verehrt werden kann; widersinnig ist die Verehrung des Kreu146

Ein deutliches Zeichen dafür ist, daß zu den Forderungen der Armutsbewegung auch das Verbot des Bücherbesitzes gehörte, da man der theologischen Wissenschaft Anpassung an die Kirche vorwarf und selbst eine unmittelbare Kenntnis der in der Bibel verborgenen Wahrheit zu besitzen glaubte. 147 Vgl. R. Manselli, Studi sulle eresie del seculo XII, Istituto Storico Italian ο per il Medio Evo, Studi storici 5, 1953, S. 1—24;/. Fearns, von Bruis;/. Leclerq, Pierre le Venerable, 1946, S. 3 5 7 - 3 6 7 . 148 Zur Datierung vgl. Fearns, von Bruis, S. 313ff. Hauptquelle für Peter ist die Schrift des Abtes Petrus Venerabiiis von Cluny, Epistola contra Petrobrusianos Hereticos, in: CChr.CM X, 1968, e d . / . Fearns; Auszug auch in Fearns, Ketzer, S. 18ff.; vgl. auch P. Abälard, Introductio in Theologiam II, c. 4. MPL 178, Sp. 1056 Α Β. Zu Peter vgl. Leclerq, aaO. 149 Zu ihr ausführlich Fearns, von Bruis, S. 318ff.

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zes. Aber auch der Kirchengesang wird als Verspottung Gottes betrachtet, der sich nicht durch schöne Klänge beeinflussen läßt. Damit wird die ganze äußere Gestalt der Kirche und jeder formale Kultus abgelehnt; an ihre Stelle tritt die Vision einer rein spirituellen Kirche, mit der Betonung des persönlichen Glaubens des einzelnen und seiner unmittelbaren Beziehung zu Gott. Die spezielle Polemik gegen Kreuzesverehrung und die ausdrückliche Ablehnung des Alten Testaments sind bei Peter von Bruis vermutlich Einflüsse der Bogomilen; im übrigen sind seine Lehren typisch für die spirituellen Häretiker seiner Zeit. Es ist gewiß nicht zufällig, daß der zweite Führer der Petrobrusianer, Heinrich von Lausanne (f ca. 1145) 1 S 0 , gerade die beiden Sonderlehren Peters nicht übernahm, während er andererseits die Angriffe auf die kirchliche Hierarchie erheblich verschärfte. Zu den für die Spirituellen typischen Lehren gehört z.B. die von Peter von Bruis wie von Heinrich von Lausanne, aber auch von anderen Gruppen bis zu den Waldensern geteilte Ablehnung der Kindertaufe 1 S 1 , weil die Kinder noch keinen persönlichen Glauben besitzen, der zur Voraussetzung der Taufe gemacht wird. Dem entspricht die Hochschätzung des Menschen, wie sie bei dem lombardischen Juristen Hugo Speroni152 in doppelter Weise hervortritt: als kritischer Maßstab des meritum vitae gegen die Priester, die unwürdig sind, weil sie nicht spirituales et mundi et perfecti sind, als positives Dogma, indem die „innere Reinheit", das Gutsein des echten Christen auf eine persönliche Prädestination zurückgeführt wird. 153 In ähnlicher Weise hatte schon am Anfang des Jahrhunderts der Flame Tanchelm 154 die persönliche Reinheit der verderbten Priesterkirche und ihren Sakramenten entgegengesetzt; er endet in verblendeter Selbstapotheose. Die gleiche Ver-

150 Ygi_ z u ihm R. Manselli, II monaco Enrico e la sua eresia. In: BISI 65, 1953, S. 1 — 63. Auch Borst, Katharer, S. 85f. und Änm. 15 (Literatur). Borst führt jedoch manches im radikalen Auftreten der Sekte auf Heinrich zurück, was bereits durch Peter bewirkt wurde, während Heinrich z.B. offensichtlich das Kreuz wieder als Symbol verwendete. 151

Vgl. dazu Fearns, von Bruis, S. 320ff. 152 Über ihn Ilarino da Milano, L'eresia di Ugo Speroni nella Confutazione del maestro Vacario, 1945. 153 Grundmann, Bewegungen, S. 516, meint gegen Ilarino, der Prädestinationsglaube Speronis sei erst durch seine Wendung gegen die Schlechtigkeit der Priester ausgelöst worden, nicht umgekehrt. Im Grunde ist diese Lehre nur eine Weiterentwicklung seines anthropozentrischen Denkansatzes. 154 Vgl, / / . Pirenne, Tanchelin et le projet de demembrement du diocese d' Utrecht vers 1100, in: BAB.L, 13. ser. 5, 1927, S. 1 1 2 - 1 1 9 ; L.J.M. Philippen, De hl. Norbertus en de strijd tegen het Tanchelisme te Antwerpen, in: BG 25, 1934, S. 251—288. — Der Brief des Utrechter Domkapitels an Erzbischof Friedrich I von Köln über Tanchelm bei Fearns, Ketzer, S. 15ff. — Vgl. auch Grundmann, Ketzergesch., S. 17f.

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irrung findet sich vermutlich bei dem Geisteskranken Eon von Stella, der u m 1145 in der Bretagne a u f t r i t t und sich selbst für G o t t hält. 1 5 5 Man muß aber erkennen, daß es sich bei diesen Extremen nur um Übersteigerungen eines Prinzips handelt, das weit verbreitet ist und den Geist der Zeit tiefgreifend bestimmt. Die Hochschätzung des Menschen ist auch der geheime Hintergrund der Predigt der Waldenser: die nach der Buße zu fordernde vollständige Hinwendung des Menschen zur beständigen Arbeit am geistlichen Weg der vollen Erfüllung des Glaubens mit Werken in der Sorge um das ewige Heil weist den Menschen auf sich selbst zurück; sein Schicksal steht in seiner eigenen Hand. 1 5 6 Aber diese Lehre ist von in der Großkirche vertretenen Auffassungen gar nicht weit entfernt: die These von J a k . 2,26, daß der Glaube ohne die Werke tot ist, ist eine der Scholastik geläufige, auch von den Päpsten geteilte Ansicht. 1 5 7 Waldes und seine Genossen wollten ursprünglich ja durchaus im R a u m der Kirche ihre Predigttätigkeit ausüben; endgültig erst 1215 wurde das Waldensertum in die Sektenexistenz gedrängt. 1 5 8 Zur gleichen Zeit, in der einige waldensische Gruppen als „Katholische A r m e " in die Kirche zurückkehrten 1 5 9 , waren geistesverwandte Bewegungen der religiösen Armut an vielen anderen Stellen aufgebrochen, die von Papst Innozenz III mit klugem diplomatischem Geschick in die hierarchische Kirche eingefügt werden k o n n t e n 16°: die Humiliaten in Oberitalien, vor allem aber die durch die beiden Ordensgründer des frühen 13. J a h r h u n d e r t s Franciscus von Assisi und Dominicus ins Leben gerufenen Gemeinschaften, denen der Papst durch die Erlaubnis neuartiger Ordensformen einen Platz in der Kirche zu schaffen wußte. Dieser kirchenpolitische Erfolg wäre natürlich nicht möglich gewesen, wenn nicht die geistige Grundlage für die A u f n a h m e dieser Lebensformen und der hinter ihnen stehenden Ideale eines an den evangelischen Normen orientierten, die Eigenverantwortung des Menschen für sein Heil b e t o n e n d e n Glaubensbewußtseins in breiten Kreisen des katholischen Laientums längst iss Vgl 156

zu

j h m Borst, Katharer, S. 87f., und die dortgenannte Literatur.

Die Lehre der frühen Waldenser hat K.-V. Selge neuerdings aus dem Liber antiheresis des Durandus von Osca (oder Huesca) (1200) genau entwickelt, vgl. Die ersten Waldenser, Bd. I, 1967 (Bd. II enthält die Textedition des Werkes; Auszüge aus dem Liber antiheresis auch in: Wegbereiter der Reformation, hrg. von G. A. Benrath, 1967, S. 4ff.). 157 Vgl. Selge, aaO., Bd. I, S. 32f. Vgl. ds., S. 317: „Der Inhalt der waldensischen Predigt war vom Ursprung her in seinem pelagianisierenden Grundzug der Werkgerechtigkeit durchaus mittelalterlich-katholisch." 158 Zum Laterankonzil 1215 und seinen Beschlüssen gegen die Wanderprediger vgl. Grundmann, Bewegungen, S. 135ff. 159 Vgl. Grundmann, Bewegungen, S. lOOff.; Selge, aaO., Bd. I, S. 188ff. 160 Grundmann, Bewegungen, S. 70ff.

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vorhanden gewesen wäre. Die Tragweite der veränderten Haltung k o n n t e auch durchaus nicht sofort gesehen werden. So weist Grundmann w o h l mit Recht darauf h i n 1 6 1 , daß auch die häretische Polemik zunächst keinen prinzipiellen „antisacerdotalismo" 1 6 2 bedeutete; vielmehr wird die Forderung nach absoluter sittlicher Reinheit der Priester zur Ursache der Kritik. 1 6 3 Ebenso hat sich die Ablehnung der Sakramente erst nach und nach entwickelt. Aber beide Positionen sind doch nichts anderes als die logischen Konsequenzen einer dahinterstehenden Grundhaltung, die den Menschen selbst, seine spirituelle Qualität und sein ethisches Verhalten als die für das Heil entscheidende Größe ansieht. U m die Wende z u m 13. Jahrhundert gewinnt das spirituelle D e n k e n im System Joachims von Fiore ( t 1 2 0 2 ) eine neue, die eschatologische Dim e n s i o n . 1 6 4 Zugleich radikalisieren sich in diesem Denker, der charakteristischerweise ebenfalls ein Ordensgründer ist 1 6 5 , viele der in der Zeit leben161 AaO., S. 515f. 162 So Hanno, Ugo Speroni, S. 414. 163 Ethische Argumente spielen mit wirtschaftlich-politischen Hintergründen zusammen, wie man besonders deutlich am Wirken Arnolds von Brescia sieht, der im übrigen in dogmatischer Hinsicht durchaus im orthodoxen Rahmen bleibt. Vgl. zu ihm neuerdings G. Edelsbrunner, Arnold von Brescia. Diss. Graz 1965. 164 Uber Joachim vgl. vor allem: H. Grundmann, Studien über Joachim von Fiore (1927), Neudruck 1966; E. Buonaiuti, Gioacchino da Fiore. I tempi, la vita, il messagio, 1931; I. C. Huck, Joachim von Floris und die joachitische Literatur, 1938; F. Russo, Gioacchino da Fiore, 1959; A. Crocco, Gioacchino da Fiore, 1960; B. Töpfer, Das kommende Reich des Friedens, 1964, S. 48—103; Μ. Bloomfield, Joachim of Flora, in: Tr. 13, 1957, S. 249—311. Die Joachim-Literatur der letzten Jahrzehnte ist sehr reich. Bibliographien vor allem: F. Russo, Bibliografia gioacchimita, 1954; ders., Rassegna bibliografica Gioacchimita (1958-1967), in: Citeaux 19, 1968, S. 206-214; auch: B. Hirsch-Reich, Eine Bibliographie über Joachim von Fiore und dessen Nachwirkung, in: RThAM 24, 1957, S. 27—44; vgl. auch H. Grundmann, Neue Forschungen über Joachim von Fiore, 1950. — Außer dem Nachdruck der drei Venezianischen Drucke der Hauptwerke Joachims: Concordia novi ac veteris testamenti (1519); Expositio in Apocalypsim (1527) und Psalterium decern cordarum (1527), 1965/6, sowie der zweisprachigen Venezianer Ausgabe: „Vaticinia sive Prophetiae abbatis Joachim et Anselmi Episcopi Marsiani, cum praefatione et adnotationibus Paschali Regiselmi. Vita Joachim per Gabrielum Barium (Latine et Italice)", 1589, Reprint 1972, gibt es kritische Ausgaben der Schriften: Tractatus super quattuor Evangelia, hrsg. E. Buonaiuti, 1930; De articulis Fidei, hrsg. E. Buonaiuti, 1936; Adversus Judeos, ed. A. Frugoni, 1957. Das wichtige „Liber figurarum" wurde 1953 in 2. Auflage (2 Bde.) von R. Tondelli als Faksimile-Ausgabe herausgegeben. Eine deutsche Auswahlübersetzung der drei Hauptwerke bei A. Rosenberg (ed.), Joachim von Fiore, Das Reich des Heiligen Geistes, 1955. — Zur Biographie Joachims jetzt vor allem H. Grundmann, Zur Biographie Joachims von Fiore und Rainers von Ponza, in: DA 16, 1960, S. 437—564. 165 Er stiftet, nachdem er aus dem Zisterzienserkloster Corrazzo ausgezogen ist, im öden Sila-Gebirge ein eigenes Kloster San Giovanni di Fiore, das bis heute besteht

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digen Ideen. Zunächst muß freilich festgestellt werden, daß Joachim mit den Ketzern des 12. Jahrhunderts und den Vorkämpfern der vita apostolica keineswegs auf eine Stufe gestellt werden kann. 1 6 6 Es gibt im Gegenteil manche Züge in seinem System, die ihn durchaus als kirchentreuen Rechtgläubigen erscheinen lassen, und so wird seine Gestalt auch von einer ganzen Gruppe von Forschern gedeutet. 1 6 7 Diese Feststellung ist bei näherer Betrachtung jedoch keineswegs so unerwartet, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag, denn spiritualistisches Denken war in der Kirche durchaus möglich, solange es nicht mit dogmatischer Häresie verbunden war. Die scheinbare Widersprüchlichkeit der joachimitischen Vorstellungen erklärt sich am besten durch das subjektive Bemühen des Abtes im Rahmen der Rechtgläubigkeit zu bleiben, wie er auch für die bisherige Geschichte der Kirche bis hin zur Gegenwart durchaus das geltende System legitimieren kann. 1 6 8 Auch seine apokalyptische Einteilung der Weltgeschichte nach dem Schema der Trinität in 3 Status ist von ihm nicht erfunden, sondern bereits bei Rupert von Deutz vorgebildet, für den allerdings das 3. Stadium, das Zeitalter des Geistes, mit dem Zeitalter der Kirche seit Christus zusammenfällt I69 , und bei Anselm von Havelberg, für den die drei Stadien eine in Übergängen verlaufende innere Entwicklung innerhalb des heilsgeschichtlichen Prozesses darstellen. 170 Berufen konnte sich dieses Denken auf niemand geringeren als Augustin mit seinem Schema der 6 aetates für den Weltverlauf und der gelegentlich auftretenden Trias ante legem — sub lege — sub gratia 1 7 1 — obwohl bei Augustin das apokalyptische Denken gerade zurückgedrängt ist. 172 Trotzdem ist das System Joachims von einem grundsätzlich anderen Charakter als seine äußeren Vorbilder. Wichtig ist dafür zunächst das Motiv, in dem Grundmann überhaupt den entscheidenden Ausgangspunkt Joachims sieht 1 7 3 : es geht ihm um eine (sein Florenser-Orden nur bis 1570). Zu den Daten der Klostergründung Joachims (zwischen 1189—1194) vgl. H. Grundmann, Biographie. — Vgl. auch ders., Forschungen, S. 4 7 f f . 166 Das betont mit Recht B. Töpfer, aaO., S. 78f., 95. 167 Zu den zwei Richtungen der modernen Joachim-Forschung, von denen eine seine Rechtgläubigkeit betont, während die andere das Revolutionäre seines Denkens hervorhebt, vgl. Grundmann, Forschungen, S. 64f. 168 Töpfer, aaO., S. 79f., und Anm. 161, verweist u.a. auf die Tatsache, daß bei Joachim jede Kritik an der Konstantinischen Schenkung fehle, er sogar die kirchliche Zweigewaltenlehre unterstützt; auch seine scharfe Ablehnung der zeitgenössischen Ketzerbewegungen ist zu nennen, vgl. Töpfer, aaO., S. 95, und Anm. 250. 169 Vgl. Grundmann, Studien, S. 91. f » Vgl. Grundmann, Studien, S. 92ff. 171 Vgl. Grundmann, Studien, S. 85ff. 172 Töpfer, Reich, S. 8Iff., verweist darauf, wie Joachim in seinen späteren Schriften um einen vorsichtigen Ausgleich mit Augustin bemüht ist. 173 Studien, S. 19ff.

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vollkommene Erkenntnis, die er aus der Heiligen Schrift heraus und inhaltlich in voller Übereinstimmung mit ihr 1 7 4 , aber durch eine neue, vollkommene Schau der göttlichen Wahrheit in einer spirituellen Offenbarung, die er für den 3. Status der Heilsgeschichte erwartet, zu gewinnen hofft. Im Anschluß an Apok. J o h . 14,6 bezeichnet Joachim diese neue Form der Erkenntnis als das „evangelium aeternum", das durch eine unmittelbare Erleuchtung des Menschen durch den Heiligen Geist in einer intelligentia spiritualis gewonnen wird und durch die Hülle des Buchstabens, wie sie in der schriftlichen Form des Alten und Neuen Testaments vorliegt, hindurchbricht. 175 Die Berufung auf eine solche innere Erleuchtung ist das Schibbolet der Spiritualisten; sie kann überraschend leicht auch rationalistische Züge aufnehmen (vgl. das Stichwort „Aufklärung", illuminatio), auch wenn sie sich bei Joachim gegen das scholastische Wissen wendet. 1 7 6 Joachim nimmt offensichtlich diese Geisteserleuchtung schon unmittelbar für sich und sein Schriftverständnis in Anspruch; eine Hauptschwierigkeit für frühere Betrachter 1 7 7 , daß Joachim diese Gabe doch erst für den 3. Status erwartete, während er selbst noch im zweiten lebt, fällt durch den Nachweis Töpfers dahin, daß Joachim mit sich selbst und seinem eigenen Orden schon die beiden Übergangsgenerationen (die 41. und 42. Generation) beginnen läßt, in denen sich der 3. Status bereits ankündigt. 178 Die Konsequenzen, die sich aus dieser spirituellen Erkenntnislehre ergeben, werden schon bei Joachim umfassend deutlich. Zunächst, daß die Töpfer, aaO., S. 5 6 , zitiert verschiedene Aussagen Joachims, aus denen hervorgeht, „daß das evangelium aeternum bzw. die ihm funktionell entsprechende intelligentia spiritualis den Menschen keinerlei Wahrheiten eröffnen wird, die sich grundsätzlich vom Evangelium Christi unterscheiden . . . " 174

1 7 5 Uber das Verhältnis des evangelium aeternum zur Schrift hat Töpfer, aaO., S. 55ff., nach längerem Schwanken in der Forschung über dieses Problem ein abgewogenes Urteil gegeben: es handelt sich nicht nur um einen symbolischen sensus spiritualis der Schrift, sondern um eine neue, höhere Form der Erkenntnis, die den Buchstaben, d.h. die schriftliche Offenbarung, auf die Dauer selbst überflüssig macht. Vgl. dazu auch E. Benz, Ecclesia spiritualis, 1934, S. 245f. — Zur intelligentia spiritualis vgl. auch Grundmann, Studien, S. 149ff. 1 7 6 Insofern ist Töpfer, aaO., S. 5 6 , Anm. 4 7 , zu korrigieren. 1 7 7 Z.B. Grundmann, Studien, S. 149ff.; vgl. auch E. Benz, Ecclesia, S. 2 5 : „Bei Joachim verhindert sein eigenes Geschichtsschema, nach dem er sich willig der zweiten Zeit und ihrer Kirche einordnet, den Ausbruch der revolutionären Ideen; ein Recht, die revolutionäre Konsequenz aus seiner Geschichtsmetaphysik zu ziehen, hatten erst die Spiritualen der nächsten Generation." 1 7 8 Die Festlegung auf das J a h r 1 2 6 0 für den Ausbruch des 3. Zeitalters erfolgt nach Töpfer erst bei den späteren Schülern Joachims-, die Schwierigkeit der Erwähnung der Jahreszahl im Liber figurarum, Taf. 3 / 4 , macht für ihn allerdings die Annahme, daß dieses Werk erst nach Joachim vollendet wurde, erforderlich, aaO., S. 5 0 , Anm. 11.

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Heilige Schrift, auch wenn die inhaltliche Übereinstimmung des evangelium aeternum mit ihr noch so stark betont wird, in der Geistperiode, deren Anbruch als unmittelbar bevorstehend erwartet wird, überflüssig und jede Exegese unnötig wird 1 7 9 , weil eine offene und unverhüllte Erkenntnis aller ihrer mysteria in der Zeit der abundantia spiritus gegeben sein wird. Als äußere Zeichen 1 8 0 , die den spirituellen Sinn verhüllten, werden nicht nur die Buchstaben der Schrift abgetan sein, sondern auch die Sakramente als symbolisches Zeichen aufhören, weil ihr eigentlicher Sinngehalt unmittelbar zugänglich sein wird. 181 Diese unmittelbare Erleuchtung aller im 3. Status hat aber auch die logische Folge, daß die Rolle des Klerus, der für den 2. Status konstitutiv war, dann ausgespielt sein wird. Über die Frage, ob der ordo clericorum (worunter die Weltpriester im Unterschied zum ordo monachorum zu verstehen sind — über dessen Stellung im 3. Status s.u.) im 3. Status weiterbestehen soll, hat es in der Forschung längere Diskussion gegeben, da die Aussagen Joachims gerade in diesem Punkt besonders undeutlich sind. Neben klaren Aussagen über das bevorstehende Ende des Klerus 1 8 2 steht die 12. Tafel des Liber Figurarum, in der im Rahmen einer idealen Ordensverfassung neben fünf das eigentliche Kloster bildenden Oratorien j e ein Oratorium für die „sacerdotes et clerici" und die Verheirateten mit ihren Kindern vorgesehen ist, so daß also beide Stände ihren legitimen, wenn auch untergeordneten Platz behaupten. Umstritten ist, ob hiermit eine Ordnung für den 3. Status gemeint ist, wodurch ein unüberbrückbarer Widerspruch zu den anderslautenden Äußerungen Joachims entstände. Töpfer, der die für die Lösung des Problems einschlägigen Stellen

l » Vgl. Concordia, V , 1X7, f. 133 ra: „huiuscemodi studia et labores cessabunt"; Expositio f. 123 r: „quia tempus exponendarum scripturarum consumatum erit . . . " . An die Stelle des Schriftstudiums wird im 3. Status die Kontemplation treten. Vgl. zum Verhältnis des evangelium aeternum zur Bibel Töpfer, aaO., S. 55ff. Crocco, G. da Fiore, S. 9 9 , hat zwar recht, daß das „evangelium aeternum" keine neue Schrift darstellt, aber seine Schlußfolgerung, „ma il piü sublime e spirituale senso del Vangelo di Cristo, anzi di entrambi i Testamenti" erweckt den falschen Eindruck, als ob die Bibel im bisherigen Sinne für die Geistperiode noch irgend eine Bedeutung haben wird. „Oportet ex toto evacuari figuras", Concordia IV, 37f. 58 rb. Vgl. Tractatus, Ausgabe Buonaiuti, S. 86 (Korrektur nach Töpfer, aaO., S. 5 8 , Aran. 5 2 ) : „ . . . quantum ad ipsa sacramenta transitorium est et temporale, quod autem per ea significatur etemum." Concordia V, 74f. 103 r a / b : „Nam neque usus panis et camis neque potus vini et aque neque unctio olei eterna est, est autem etemum id quod designatur in ipsis." — Daß bei Joachim die Sakramente im 3. Status aufhören, haben Grundmann, Studien, S. 1 1 4 ; E. Benz, Creator Spiritus. Die Geisteslehre des Joachim von Fiore, in: E r j b 25, 1 9 5 6 , S. 2 8 5 - 3 5 5 , S. 3 2 0 ; Töpfer, aaO., 180 181

S. 5 8 , richtig gesehen; es liegt in der Konsequenz seines Systems. 182 Vgl. Töpfer, aaO., S. 62.

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aus verschiedenen anderen Schriften Joachims eingehend prüft 1 8 3 , entscheidet sich schließlich mit einem Rest von Unsicherheit für die schon durch Grundmann184 vorgeschlagene Antwort, daß diese Ordnung nur eine Übergangsregelung darstellt, während am Ende alle Stände in die Ehelosigkeit und die reine Kontemplation übergehen. Auch in dem Punkte der Ehelosigkeit setzt sich also bei Joachim das dualistische, im Mönchtum vertretene Grundprinzip durch. Die ecclesia spiritualis, seine Idealvorstellung von der Kirche, deren Verwirklichung er für die nahe bevorstehende Endzeit erwartet, entspricht in ihrem inneren und bildhaft dargestellten System genau diesen Forderungen. Damit ist aber das Schicksal auch für das Priestertum besiegelt, dessen Mittlerfunktion für die spiritualistische Gottunmittelbarkeit nicht mehr vonnöten ist. Übrigbleiben allein die Mönche, die schließlich die gesamte Menschheit inkorporieren. 185 Eine ganze Reihe von Forschern haben die Herkunft Joachims aus dem Zisterziensertum hervorgehoben 1 8 6 ; darüber hinaus ist ein Einfluß des byzantinischen Mönchtums vermutet worden. 1 8 7 Eremitische Ideale sind der eigentliche Antrieb seines Denkens. Manche der charakteristischen Züge bei Joachim erscheinen eher rückwärts gewandt; doch sollte gerade das Mönchtum im 13./14. Jahrhundert noch eine neue Blüte erleben. Zugleich wird aber bei ihm eine Weltauffassung aufs neue virulent, die schon immer im Abendland latent vorhanden war: ein materiefeindlicher Spiritualismus, dessen Wirkungen durch und seit Joachim in neuer Form lebendig wurden. Theoretisch sind bei ihm schon die meisten Frontstellungen vorhanden, die angesichts seiner persönlichen kontemplativen Haltung und vorsichtigen Lebensführung bei ihm selbst noch verdeckt blieben, aber bei seinen Erben, den Spiritualen, eine brisantere Sprengkraft gewannen. Überflüssigwerden der Sakramente, Entbehrlichkeit des Priestertums, faktische Aushöhlung der Bedeutung der Heiligen Schrift, auch wenn das evangelium aeternum diese gerade in ihrem geheimsten Sinn erfüllen soll: die beiden erstgenannten Themen stehen in einem versteckten Zusammenhang mit dem zuletzt genannten, der sich aber folgerichtig aus dem zugrundeliegenden Denkansatz ergibt. Als sich bei seiAaO., S. 63ff. Forschungen, S. 102ff. 185 2u den beiden Mönchsorden, die in Joachims System im 3. Status die beiden Aufgaben der Predigt und der (noch höher gewerteten) Meditation übernehmen sollen (er bezeichnet sie als viri spirituales — später werden sie mit den beiden Bcttclorden identifiziert) vgl. Töpfer, aaO., S. 66ff.; M. Reeves, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism, 1969, S. 141ff. 186 Vgl. die Hinweise bei Töpfer, aaO., S. 96. 187 Bloomfield, J . of Flora, S. 182ff.; Töpfer, aaO., S. 96f. 183

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nen Nachfolgern das bei anderen Gruppen im 12. J a h r h u n d e r t bereits lebendig gewesene Ideal der vita apostolica hinzugesellte, fügten sich alle K o m p o n e n t e n zusammen, die für die k o m m e n d e n Entwicklungen bedeutsam werden sollten. Wie nahe spiritueller Illuminismus kontemplativer Art, wie wir ihn bei Joachim finden, und eine rationale Grundhaltung, die sich auf eine höhere Form der Erkenntnis b e r u f t , einander berühren können, sieht man an der Ketzerei der Amalrikaner von Paris, 1210 188 , bei denen sich gelehrter neuplatonischer Pantheismus mit dem Selbstbewußtsein einer geistgewirkten Erkenntnis verbindet; auch hier werden alle Sakramente entwertet — im Unterschied zu der vita apostolica-Bewegung oder der monastischen Askese führt der pantheistische Denkansatz aber zu einem schrankenlosen Libertinismus auf moralischem Gebiet, der sich in verschiedenen Formen in „freigeistigen" Sektenbewegungen, u.a. in bestimmten Strömungen im Behinen- und Beghardentum, noch durch mehrere J a h r h u n d e r t e hindurch beobachten läßt. 1 8 9 In unserem Zusammenhang brauchen wir uns mit diesen Phänomenen nicht weiter zu beschäftigen. Es kann auch nicht unsere Aufgabe sein, die inneren Entwicklungen im Franziskanerorden in den ersten J a h r h u n derten seines Bestehens im einzelnen zu verfolgen. 1 9 0 Von seinem Stifter her war dem Franziskanerorden das Prinzip der apostolischen A r m u t mit auf den Weg gegeben, aber dieses war zunächst nicht in einen unüberbrückbaren Gegensatz zur bestehenden Kirche getreten, da einmal Franz selbst in seiner Frömmigkeit an die konkrete Heilsordnung der katholischen Kirche in Wort und Sakrament gebunden war 1 9 1 , in die er seine persönliche Sendung einordnete, zum anderen die offizielle Kirche durch eine kluge Politik den Heiligen und seine Gruppe in die bestehenden Formen einzufügen w u ß t e , zunächst durch persönliche Fühlungnahmen von Seiten der Päpste und bestimmter Kardinäle 1 9 2 , später durch offizielle D o k u m e n t e bis hin zur Kanonisationsbulle Gregors IX von 1228. 1 9 3 Aber was schon 188 Vgl. dazu Grundmann, Bewegungen, S. 355ff.; auch schon ders., Studien, S. 164ff. 189 Dazu Grundmann, Bewegungen; vgl. auch aaO. (Anhang), S. 530ff. 190 Außer den älteren Darstellungen von K. Balthasar, Geschichte des Armutsstreites im Franziskanerorden bis zum Konzil von Vienne, 1911; und R. de Nantes, Histoire des Spirituales dans l'Ordre de Saint Franqois, 1909; vgl. bes. M. D. Lambert, Franciscan Poverty, 1961, und Ε. Benz, Ecclesia spiritualis — letzteres Werk leider ohne wissenschaftlichen Apparat. >91 Vgl. Benz, aaO., S. 145ff.; 59f. 192 Vor allem des Kardinals Hugo von Ostia; vgl. zu diesen Vorgängen Benz, aaO., S. 150ff., und Grundmann, Bewegungen, S. 127ff. i » Vgl. Benz, aaO., S. 85ff. 4 Reventlow, Bibelautorität

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Franz selbst als eine besondere an ihn ergangene Gottesoffenbarung gewertet h a t t e 1 9 4 , seine eigene Geschichte und die Gestaltung seines Ordens, wurde in den späteren Franz-Legenden im Sinne einer speziellen Geistbegabung gedeutet, die den Orden im Sinne einer Geistkirche versteht und auch solche Züge enthält wie den, daß wer als Mitglied des Ordens im Besitz der intelligentia spiritualis ist, wie schon Franz selbst gewesen sei, schon die volle Erkenntnis des Evangeliums besitzt, wofür es der Bücher nicht bedarf. 1 9 5 Die Spaltung des Ordens in die laxere Mehrheit, die Anpassungen der Regel zuzustimmen geneigt war, und die strengen Vertreter des Armutsideals 1 9 6 hängt unmittelbar mit dieser Haltung zusammen, denn die letztere Gruppe ist zugleich Hauptträger des spiritualistischen Gedankenguts. Ein sichtbares Wiederaufleben des extremen Spiritualismus erfolgt gegen Mitte des 13. J a h r h u n d e r t s in den Erscheinungen, die einen direkten Einfluß joachitischer Gedanken aufweisen. Hier sind einmal die pseudojoachitischen Schriften zu nennen, unter ihnen vor allem der Jeremia-Kommentar. 1 9 7 Es ist umstritten, ob dieser K o m m e n t a r in Franziskanerkreisen entstanden ist oder noch unmittelbar durch Schüler Joachims im Kloster von Fiore. 1 9 8 Auf jeden Fall zeigt sich hier bei im übrigen starker Anlehnung an die Gedankenwelt Joachims eine deutliche Verschärfung der Kritik an den Zuständen der Kirche, besonders an der Hierarchie und auch dem Papsttum, die für ihren Niedergang verantwortlich gemacht werden 1 9 9 , sowie die lebhafte Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Reinigung dieser Kirche, bei der das in Friedrich II verkörperte Reich in der Rolle des Bedrängers erscheint, der die alte korrupte Ordnung überwindet, während die eigentliche Z u k u n f t bei den zwei Mönchsorden des 3. Status (die hier offensichtlich mit den Dominikanern und Franziskanern gleichgesetzt werden) liegt. 2 0 0 Gegenüber Joachim ist der kontemplativ-mystische Zug zurückgedrängt, die politische Aktualität hineingenommen, aber auch das Idealbild der Z u k u n f t verändert, indem das bei Joachim selbst sekundäre Armutsideal hinzugetreten ist. Etwa u m die gleiche Zeit ist der Einfluß joachitischer Gedanken im FranziskanerI»4 Vgl. Benz, aaO., S. 58f. « s Vgl. Benz, aaO., S. 128f. 196 y g i . dazu Balthasar. 197 Abbatis Joachim in Jereraiam prophetum interpretatio, Druck 15 77. Zur Entstehungszeit (ca. 1243) vgl. Töpfer, Reich, S. 108ff.; Reeves, Influence, S. 56. 198 Vgl. auf der einen Seite Töpfer, aaO., S. 108ff., auf der anderen M. Reeves, zuletzt aaO., S. 15 Iff., Anm. 2. 199 Vgl. Töpfer, aaO., S. 112f., und die dort aufgeführten Belege. 200 Vgl. dazu Töpfer, aaO., S. 118ff.; 113ff.

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orden eindeutig bezeugt: vor allem die Chronik Salimbenes von Parma201 gibt hierfür einen vielbeachteten Augenzeugenbericht. 202 Etwas abenteuerlich, aber der aufgewühlten Erwartungshaltung joachitischer Kreise durchaus entsprechend ist die Erzählung Salimbenes203, wonach ein Abt aus einem Kloster des Fioreordens zwischen Lucca und Pisa beim Herannahen Friedrich II (1241) die Flucht ergreift und dabei alle Schriften Joachims in den Franziskanerkonvent nach Pisa rettet. Von Pisa aus scheint sich der Joachimismus rasch unter den Franziskanern ausgebreitet zu haben. 1247/8 ist er von italienischen Brüdern schon nach Frankreich getragen: in der Provence trifft Salimbene zwei joachitisch gesinnte Brüder, von denen der eine, Gerhardus von Borgo San Donnino, uns gleich noch begegnen wird. 2 0 4 Aber auch ein berühmter Bruder Hugo (von Bayola, oder: von Montpellier), der in der gleichen Gegend wirkt, ist „einer der bedeutendsten Kleriker der Welt, ein berühmter Prediger" 2 0 5 — er ist zugleich „ein gewaltiger Joachite". 2 0 6 Er wieder steht in Verbindung zu dem Generalmeister des Ordens, Johann von Parma. Offensichtlich hat sich der Joachimismus in kurzer Zeit schon weit unter den Franziskanern verbreitet. Ein unübersehbares Zeichen dafür ist die Veröffentlichung des „Introductorius ad evangelium aeternum", einer einleitenden Schrift, mit der Gerhardus von Borgo San Donnino eine Ausgabe der drei Hauptwerke Joachims begleitete, die 1254 in Paris bekannt wurde. 2 0 7 Leider ist diese Einleitung selbst nicht erhalten 2 0 8 , aber wir erhalten Einblick in ihren Inhalt einmal durch die Exzerpte, welche die Professoren der Pariser Universität, welche 201

Kritische Ausgabe der Chronik von D. Holder-Egger, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, Bd. XXXII, 1 9 0 5 - 1 9 1 3 , mit einer Einleitung von B. Schmeidler, S. VII—XXXII; dt. Übersetzung von A. Dören, 2 Bde., 1914. Zu Salimbene de Adam oder von Parma O. F. M. vgl. vor allem M. Scivoletto, Fra Salimbene da Parma, 1950; außerdem Benz, Ecclesia, S. 205ff. 202 Vgl. zum Folgenden Benz, aaO., S. 175ff.; Töpfer, aaO., S. 124ff.; P. G. Bondatti, Gioachinismo e Francescanesimo nel Dugento, 1924, S. 35ff. 2 °3 Chronik, dt. Übersetzung, Bd. I, S. 218. 2 chichte ist, gibt es hierüber eine fast unübersehbare Literatur. Die Beurteilungen von Luthers Schrift „De servo arbitrio" hat K. Schwarzwäller, Sibboleth, 1969, referiert. Uber den Streit selbst ist am objektivsten: H. Bornkamm, Erasmus und Luther, in: LvJ 25, 1958, S. 1—20 = ders., Das J a h r h u n d e r t der Reformation, 2 1 9 6 6 , S. 36—55. Vgl. auch H. Dörries, Erasmus oder Luther, in: Kerygma und Melos, Festschrift C. Mahrenholz, 1970, S. 533—570, sowie Kuss,aaO.; ds. Anm. 26 weitere Literatur. — Zur Vorgeschichte des Streites und den grundsätzlichen Gegenpositionen vgl. neuerdings auch Kohls, Erasmus u n d Luther. — Die Streitschriften des Erasmus in dieser Auseinandersetzung „De libero arbitrio" und „Hyperaspistes" sind neu herausgegeben in W IV, eingeleitet von W. Leskowsky. 50 Noch allgemeiner gilt das für die propädeutische Funktion, die Erasmus schon in den „Antibarbari" der Philosophie zuweist; vgl. dazu Kohls, Theologie, S. 35ff. Text der Antibarbari jetzt auch in Κ I, S. I f f . In der Paraklesis finden sich unmißverständliche Aussagen in dieser Richtung: Wenn Erasmus auch zunächst mit Nachdruck das Ansinnen zurückweist, Christus mit Zenon oder Aristoteles vergleichen zu wollen („Certe solus hie e coelo profectus est doctor, solus certa docere p o t u i t " , LB V , col. 139 D; W III, S. 10), kann er doch bald darauf fortfahren: „Quid autem aliud est Christi philosophia, quam ipse renascentiam vocat, quam instauratio bene conditae n a t u r a e ? " (LB V, col. 141 F; W III, S. 22) und darauf hinweisen, daß sich vieles davon auch in den Büchern der Heiden finde. Hier werden dann an erster Stelle die Stoiker genannt, aber auch Sokrates, Aristoteles, Epicur, Diogenes, Epictet. Dies alles führt ihn am Schluß dann wieder problemlos zur Lehre Christi zurück (LB V, col. 142; W III, S. 24). Noch deutlicher erklärt sich Erasmus in dem (erst 1522 in die Colloquia eingefügten!) Convivium religiosum: nach einem Zitat aus Cicero, der Cato sprechen läßt, heißt es: „Hactenus Cato. Quid ab homine Christiano dici potuit

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tur angebracht, daß auch die aequitas naturae bei Erasmus als hermeneutisches Prinzip eine große Rolle spielt 51 ; charakteristisch ist, daß sie auch unter den Argumenten für die Autorität der Schrift an betonter Stelle auftaucht. 52 Erasmus glaubt durchaus, daß von der Schöpfung her noch Reste der gut geschaffenen Natur im Menschen vorhanden sind, an die Erlösung und Wiedergeburt im Geiste anknüpfen können. Von daher gestaltet sich die erasmianische Paränese: es geht um die Nachfolge Christi, der in seinem Leben und seiner Lehre (der lex Christi) uns vor Augen gestellt hat, was es nun im eigenen Leben zu verwirklichen gilt; was in der Erlösung begonnen hat, wird in der imitatio vollendet. 53 Gewiß ist dies kein reiner Moralismus, sondern Frömmigkeit 54 , — aber der Abstand zu Luther ist deutlich. sanctius?" (LB I, col. 682 C; W VI, S. 80 - den entscheidenden Satz läßt die dt. Übersetzung, S. 81, aus; Κ I, 3, S. 252). Und später, zu den letzten Worten des platonischen Sokrates: „Proinde q u u m huiusmodi quaedam lego de talibus viris, vix mihi tempero, quin dicam: sancte Socrates, ora p r o nobis" (LB I, col. 683 D—Ε; W VI, S. 86; Κ I, 3, S. 254). Man darf jedoch den rhetorisch-künstlerischen Charakter dieser Anrufung nicht übersehen. Vgl. auch C. Augustijn, Ecclesiology, S. 148—151, zu Ausmaß und Grenzen dieser Betrachtungsweise. 51 Rez. zu Kohls, Theologie, in: A R G 1967, S. 253ff.; vgl. auch Payne, aaO., S. 30f.; Hoffmann, Erkenntnis, bes. S. 120ff.; ferner auch G. Kisch, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit, 1960. — Interessant in ihrer Treffsicherheit ist eine Bemerkung Luthers aus seiner Tischrede: „Erasmus nil facit cum sua theologia, quam quod Christum iuristam f a c i t " (WA, T R 2, Nr. 1605). 52 Vgl. Enchiridion, Kap. VIII, Can. I (LB V, col. 21 F - 2 2 A; W I, S. 152); Symbolum (LB V, col. 1135 E - 1 1 3 6 C); Eccles. (LB V, Col. 1 0 7 8 B - D ) . Über die Rolle, die der Begriff der Natur im stoischen Sinne vor allem in den Erziehungsschriften des Erasmus spielt, handelt neuerdings ausführlich J.-C. Margolin, L'idee de nature dans la pensee d'Erasme, 1967; ders., Erasmus, Declaratio de pueris statim ac liberaliter instituendis. Etude critique, 1966. — Vgl. auch O. Schottenloher, Lex naturae und Lex Christi, in: SCRINIUM II, S. 2 5 3 - 2 9 9 . 53 Belege bei Auer, Frömmigkeit, S. 103ff., der hierin die Übereinstimmung mit der gemeinkatholischen Lehre feststellt und sich damit identifiziert. — Kohls, Theologie I, S. 69f. deutet die schon in der „Epistola de contemptu m u n d i " und dann in den „Antibarbari" vorliegende Gesetzes- und Gnadenauffassung als Paraklese, in der die Verantwortlichkeit des Menschen schon in die ,.heilsgeschichtlich bestimmte Sicht" hineingenommen, die Entscheidungsfreiheit als „von der Gnade befreiter Wille" verstanden werde. Das scheint eine fast genau zutreffende Beschreibung des Zusammenhangs von Gabe und Aufgabe zu sein, aber ist um eine entscheidende Nuance zu reformatorisch formuliert. Schottenloher, Lex naturae, S. 278: ,.Dieses Anliegen war für Erasmus nicht das Gesetz, sondern die Herrschaft des Geistes, die n u n das Gesetz in sich hineinnahm." 54 Auer, aaO., S. 118f. Der Einfluß der Mystik im Sinne Bernhards ist deutlich; vgl. dazu Winkler, Einleitung zu W III, S. XXIII; dazu auch de Vogel, aaO., S. 123: „It has two aspects: the one is in man's moral character, in his actions and his mentality;

Erasmus

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Diesem humanistisch-devoten Frömmigkeitsideal entspricht auch die Hermeneutik des Erasmus. Nicht nur, daß von den beiden spirituellen sensus der Schrift, die Erasmus unterscheidet, er das Hauptgewicht auf den tropologischen legt 5 5 ; er beschäftigt sich auch vorwiegend mit den Evangelien und in ihnen mit den Reden und Lehren Jesu. 5 6 An Paulus sieht er, wie wir bemerkt haben, vor allem das dichotomische Menschenbild, das er als dualistisch fehldeutet, bemüht ihn als wichtigste Autorität gegen „Aberglaube" und „Gesetz", faßt ihn im übrigen vor allem ethisch auf. 5 7 Diese the other is a kind of mysticism — if .mystic' is: having an inner experience of the Presence of G o d . " Dem entspricht auch das Verständnis des Begriffes „lex". O. Schottenloher formuliert: „Die Erasmische Konzeption war theologisch, nicht naturrechtlich gedacht. Die lex Christi war ungesetzlich . . . " Lex naturae und lex Christi, in: SCRINIUM II, S. 289. ss Payne, aaO., S. 48, A n m . 193, zitiert in diesem Zusammenhang zwei Auffassungen aus der Psalmenexegese: 1. Zu Ps. 1: vel quod ea melius quadret, vel quod magis conducat ad vitae correctionem, quam praecipue spectamus" (LB V, col. 174 A—B), 2. zu Ps. 14: „Nos tarnen in praesentia maluimus tractare sensum moralem, qui, licet videatur humilior, est tarnen, meo iudicio, utilior." (LB V, col. 301 B). — Vgl. weiter Rabil, Erasmus, S. lOOff. * Vgl. Enchiridion, Kap. VII, can. IV (LB V, 25 Β; W I, S. 168; Η, S. 63): „Christum vero esse p u t a non vocem inanem, sed nihil aliud quam caritatem, simplicitatem, patientiam, puritatem, breviter quicquid ille docuit . . . Ad Christum tendit, qui ad solam virtutem f e r t u r . " Bereits Schlingensiepen hat die Bevorzugung der Evangelien und in ihnen der Reden J e s u anhand der Matthäus-Paraphrase festgestellt: er zitiert aus der Vorrede der Paraphrase, wo Erasmus sagt, wenn er sich mit den Briefen der Apostel abgebe, habe er es immer noch mit Menschen zu tun, dort aber mit der Majestät Christi; aaO., S. 24, und Anm. 3. Vgl. auch Ratio (LB V, 84 A ; H, S. 193; W III, S. 170): „Illud mea sententia magis ad rem pertinuerit, ut tirunculo nostro dogmata tradantur in summam ac compendium redacta, idque potissimum ex euangelicis fontibus, mox apostolorum litteris." Oder an anderer Stelle (LB V, col. 105 D; H, S. 236f.; W III, S. 294: „conveniet ad omnes vitae actiones exemplum ac formam e divinis libris venari, praecipue vero ex euangeliis, e quibus potissimum nostra ducuntur officia." 57 In der „Ratio" erscheint z.B. ein längerer Abschnitt (1520 eingefügt), in dem Erasmus prüft, „ q u e m a d m o d u m ad magistri formam apostolorum vita doctrinaque respondeat" und dabei an vorderster Stelle Paulus behandelt, der, durch seine Anpassungsfähigkeit an die Brüder, seine Milde, aber auch in seiner Haltung gegenüber Riten und „Aberglaube" als Muster des von Erasmus vertretenen Frömmigkeitsideals erscheint (LB V, col. 98 F; H, S. 223ff.; W III, S. 258). Das Enchiridion ist wesentlich aus der Beschäftigung mit Paulus heraus entstanden, die durch Colets Paulus-Vorlesungen angeregt wurde. Vgl. dazu den Widmungsbrief (ep. 164, Allen I, S. 374f.), und M. Bataillon, Erasme et l'Espagne, 1937, S. 221, der auf die Bedeutung des paulinischen Gleichnisses vom einen Leib und den vielen Gliedern hinweist. Zu den paulinischen Briefen bemerkt Erasmus: ,.Paulus autem Apostolus post Christum fontes quosdam aperuit allegoriarum, quem secutus Origenes, in hac parte theologiae facile primatum obtinet." Vgl. H. de Lubac, Exegese, II, 2, S. 439, Anm. 3 (leider ohne Fundstellenangabe). — Zur Bedeutung der Evangelien und apostolischen Schriften für Erasmus

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Konzentration auf die lex evangelica (oder lex spiritus) 5 8 bedingt zugleich (darin liegt Erasmus wieder auf der Linie der älteren Spiritualen und unterscheidet sich wesentlich von Wyclif) ein relatives Zurücktreten des Alten Testaments. Allerdings wird man auch in diesem Punkt abwägend urteilen müssen. Grundsätzlich mag an der Bemerkung etwas Richtiges sein: ,,11 lui manquait un sens de l'autorite de l'Ancien Testament" 5 9 , aber£Va5mus ist doch auch darin wieder von der kirchlichen Tradition bestimmt, die von einer Einheit des Kanons ausgeht, daß er die Kontinuität der lex evangelica (das zeigt sich schon an der Wahl des Begriffes!) bis in das mosaische Gesetz hinein zurückverlegt, allerdings nur in eine seiner beiden Seiten: „ . . . in una Mosi Lege, que sunt duae Leges, altera crassis et carnalis, altera spiritualis." 6 0 In der lex Christi findet er die spirituelle Erfüllung dessen, was schon in der lex Mosaica als Wille Gottes angelegt war. 6 1 Abgetan ist das mosaische Gesetz, insofern es Zeremonialgesetz war. Von bleibendem Wert — und hier spielt nun die technische Verwendung des Begriffes „ L e x " für das Alte Testament hinein — ist es dagegen als Weissagung auf Christus. 62 Dieser Grundeinstellung entspricht die Verwendung der allegorischen Methode für die Auslegung des Alten Testaments 6 3 , die Erasmus grundsätzlich empfiehlt (er befindet sich damit in Übereinstimmung mit der mittelalterlichen Auslegungstradition), entsprechend seinem allgemeinen Grundsatz: „necubi in rebus temporariis restitemus, sed inde veluti gradu facto ac amorem . . . assurgamus aut prae his, quae sunt invisibilia, id quod est visibile contemnere incipiamus." 6 4 Er fährt fort: ,,Idem observandum in omnibus litteris, quae ex simplici sensu et mysterio tamquam wegen der in ihnen enthaltenen philosophia Christi als Grundmotiv in der „Paraclesis", vgl. J. Etienne, Spiritualisme, S. 18ff. 58 Vgl. Kohls, Theologie I, S. 145. 59 J. Savignac in: „Le Monde", 2.8.1969, S. V, zitiert von ]. Coppens, Oü en est le portrait d' Erasme?, in: SCRINIUM II, S. 5 6 9 - 5 8 7 , S. 583, Anm. 72. 60 Paraphr. in Rom 8,3; LB VII, col. 556 B. 61 Vgl. dazu Krüger, Bucer und Erasmus, 1970, S. 69ff. 62 „Irao adeo non abolemus Legem aut labefactamus, ut earn etiam confirmemus, stabiliamusque, id praedicantes factum, quod Lex futurum promiserat, eumque nuntiantes, in quem ceu scopum Legis spectabat." Paraphr. in Rom 3,31; LB VII, col. 787 E. - Vgl. dazu auch Krüger, aaO., S. 70f. 63 Uber die Behandlung des Alten Testaments bei Erasmus gibt es noch keine genauere Untersuchung; vgl. vorläufig Lubac, aaO., S. 427—453. AaO., S. 164. 141 Doctrinal Treatises, S. 449.

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tism, and first professing the laws of God . . , " 1 4 2 Ganz ähnlich wie wir dies bei Erasmus gesehen haben, wird das Gesetz verinnerlicht; deutliche Aussagen dafür begegnen auch in der Fassung des Prologs zum Neuen Testament von 1534: „The gospell is glad tydynges of mercie and grace and that oure corrupt nature shalbe healed agayne for Christes sake and for the merites of his deseruinges onlye: Yet on the condicion that we will turne to God, to learne to kepe his lawes spiritually, that is to saye, of loue for his sake, and wyll also soffre the curynge of oure infirmyties." 143 Oder im Prolog zum Römerbrief 1 4 4 : „To fulfill the lawe is, to do the workes therof and what soeuer the lawe c o m m a u n d e t h , with loue, lust and inward affeccion and delectacion: and to lyue godly and well, frely, willingly, and with oute compulcion of the lawe, euen as though therewere no lawe at all." 1 4 5 Dazu ist der Heilige Geist nötig, der durch den Glauben gegeben wird. Clebsch spricht von einer „bifocal theology of gospel and law" 146 , die sich in diesen Äußerungen ausdrückt, denn die zentrale lutherische Botschaft von Gesetz und Evangelium behält Tyndale bei; der Glaube an das Evangelium wird zur Voraussetzung, das Gesetz in einer neuen Weise zu erfüllen. Im Prinzip behält es seine Verbindlichkeit; geändert hat sich ihm gegenüber nur die Motivation. Clebsch kann die Grundgedanken des „Pathw a y " , den er, weil sich in ihm die Haltung des späteren Puritanismus in einer selten klaren Form vorabbildet, als dessen magna charta bezeichnet, in wenigen Sätzen zusammenfassen 1 4 7 : zwei reformatorische Gedanken sind in sie eingeschlossen: die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben, nicht durch Werke; die Schrift ist Besitz des Christen. Im übrigen wird in eine durchweg moralische Richtung gelenkt: „the Christian life consisted in adhering to a moral system that looked to the Bible for a sufficient guide to all ethical decisions; the true Christian society was a commonwealth of saints living singly and together according to scripture." Bedeutsam ist auch, daß für Tyndale von seiner Gesetzesauffassung her das Alte Testament und das Neue auf eine Ebene zu stehen k o m m e n . Tyndales Vorwort zum Neuen Testament enthält bemerkenswerte Sätze über das Ver142

AaO., S. 27. The New Testament. Translated by William Tyndale, 1534, Reprint ed. by Ν. Ν. Wallis, 1938, S. 9. 144 AaO., S. 293ff. ">5 AaO., S. 296f. 146 AaO., S. 155. — Nach Clebsch hat sich der Schwerpunkt später noch eindeutiger in Richtung auf das Gesetz hin verschoben, vgl. aaO., S. 173. — Williams, aaO., S. 133, äußert gegen Clebsch Bedenken wegen seiner zu starken Trennung der theologischen Perioden bei Tyndale. 147 AaO., S. 167f. 143

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hältnis zwischen dem Gesetz im Alten Testament und dem Evangelium im Neuen: „And because the lawe (which is a doctryne thorow teachynge euery man his dutye, doth vtter oure corrupt nature) is sufficiently described by Moses, therfore is lytle mencion made therof in the new testament, save of love only wherin all the lawe is included." 1 4 8 Selbstverständlich sind die Zeremonialvorschriften vor allem im Buch Leviticus auch nach Tyndales Auffassung nicht mehr gültig; dagegen sind die moralischen Gebote unverändert in Kraft. Nach dem Prolog zum Buche Exodus ist Mose „an ensample vnto all princes and to all that are in authorite, how to rule vnto goddes pleasure and vnto their neyghbours profette". 1 4 9 Das Neue Testament hat vor allem darin seine Bedeutung, daß es die Motivation für das Halten der materiell im Alten Testament vorliegenden Gebote liefert. 150 Daß das Alte Testament — als Gesetz — weiterhin in seinem wörtlichen Verständnis in Geltung steht, ist zugleich ein Einwand gegen das typologische Verständnis von Mose und Aaron als Figuren Christi. 151 Tyndales Gesamturteil über den Nutzen der ganzen Schrift kann man deshalb in seinem bereits erwähnten frühen Satz zusammenfassen: „So now the scripture is a light and sheweth vs the true waye, both what to do, and what to hope." 1 5 2 Mit dieser Entwicklung hin zur faktischen Gleichstellung des Alten Testaments mit dem Neuen in einem gesetzlichen Verständnis werden die Weichen in eine Richtung gestellt, die für die spätere Entwicklung des englischen Protestantismus in vielfacher Hinsicht bedeutsam werden sollte. Für die letzte Periode in Tyndales Wirken ist die Aufnahme des Bundesgedankens in die dargestellte Gesamtauffassung charakteristisch. 153 Der Bundesgedanke bildet die Klammer, durch die es ihm schließlich gelingt, die beiden Gedankenreihen: die Erlösung durch Christus im Glauben ohne das Gesetz und die Gültigkeit der moralischen Verpflichtungen für den Christen, von deren Erfüllung das Heil doch abhängt, miteinander zu verknüpfen. In den revidierten Prolog der Ausgabe der „Five Books of Mose" von 148 New Testament, ed. Wallis, S. 9. Die Fortsetzung des Zitats, s.o. S. 189, Anm. 143. 149

Pentateuch, ed. Mombert, S. 162 (Work, ed. Duffield, S. 50). - Vgl. auch „A Pathway", Doctrinal Treatises, S. 8 (Work, ed. Duffield, S. 4): „The Old Testament is a book, wherein is written the law of God, and the deeds of them which fulfil them, and of them also which fulfil them not. The New Testament is a book, wherein are contained the promises of God; and the deeds of them which believe them, or believe them not." iso Vgl. Clebsch, aaO., S. 158. 151 Vgl. dazu Clebsch, aaO., S. 157, u. Anm. 5. 152 Pentateuch, ed. Mombert, S. 8 (Work, ed. Duffield, S. 37). 153 Darauf haben bereits L. J. Trinterud, Origins, S. 39, und J. G. Miller, aaO., S. 55ff., aufmerksam gemacht. Vgl. vor allem Clebsch, aaO., S. 18Iff.

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1534 fügt Tyndale eine Bemerkung ein: , , . . . all the promyses thorow out the hole scripture do include a couenant. That is: god byndeth him selfe to fulfil that mercie vnto the, onlye if thou wilt endeuore thy selfe to kepe his lawes." 1 5 4 Auch das Vorwort zu seiner Neuausgabe des Neuen Testaments vom November 1534 kommt sogleich auf den Bund zu sprechen: „The generali covenaunt wherin all other are comprehended and included, is this. If we meke oure selves to god, to kepe all his lawes, after the ensample of Christ: then God hath bounde him selfe vnto vs to kepe and make good all the mercies promysed in Christ, thorowout all the scripture." 155 Gegenüber Luthers Lehre von Gottes freier Gnade und der Rechtfertigung des Sünders ohne des Gesetzes Werke ist in dieser letzten Periode Tyndales sozusagen eine Umkehrung erfolgt: zwar ist von der Gnade in Christus nach wie vor die Rede, aber die Bindung Gottes an die Verheißung ist eindeutig konditioniert und von der Gesetzeserfüllung abhängig gemacht. Infolgedessen wird das Geschick derjenigen, die den Bund ablehnen oder der anfangs Gläubigen, die den geforderten Gehorsam nicht durchhalten, mit aus den alttestamentlichen Fluchworten entlehnten Farben drastisch ausgemalt. 156 Die Neubearbeitung mit Randglossen und Prologen zu verschiedenen Einzelschriften ist, wie Tyndale schon im Vorwort erklärt, durchweg auf den Bundesgedanken in diesem Verständnis ausgerichtet: „For all the promyses of the mercie and grace . . . are made vpon the condicion that we kepe the Iawe." 1 5 7 Eine zweite Linie, die ebenfalls bei Tyndale zu beobachten ist, ist seine offene Feindschaft gegen das zeremonielle und institutionelle Erbe der mittelalterlichen Kirche. Ein Zeichen dafür ist seine ständige Wiedergabe des neutestamentlichen πρεσβύτερος durch „senior" (1531 geändert in: „eider") 1 5 8 statt des von More geforderten „priest". Aus Tyndales Feder stammt aber auch die scharf antihierarchische Schrift: „The practyse of Prelates . . . " , 1530 1 5 9 , deren größerer Teil ein Beispiel der typisch humanistisch-spiritualistischen Geschichtsbetrachtung enthält: die Annahme einer idealen Urzeit des Christentums in der ältesten Kirche mit einem dar154

Pentateuch, ed. Mombert, S. 8, Fußnote (Work, ed. Duffield, S. 41). iss New Testament, ed. Wallis, S. 4. ls « AaO., S. 7f. Vgl. Clebsch, aaO., S. 189f. 157 AaO., S. 8. — Vgl. auch den Vergleich mit der Ausgabe von Matth 1 — 22 von 1 5 2 5 und die übrigen Zitate aus den Marginalien der NT-Ausgabe von 1 5 3 4 bei Clebsch, aaO., S. 1 8 7 f f . 158 Vgl. Dickens, Reformation, S. 71. Vgl. auch Tyndales Erklärung für seine Verwendung des Begriffes „eider" im Vorwort zum Neuen Testament, ed. Wallis, S. l l f . 159 A u c h in: Expositions and N o t e s on Sundry Portions of the Holy Scriptures etc., ed. H. Alter (Parker Society), 1849, S. 2 3 7 - 3 4 4 . Vgl. dazu auch Clebsch, aaO., S. 159ff.

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auf folgenden Abfall, der für Tyndale in dem Moment einsetzt, in dem die Priester in der Kirche die Herrschaft ergreifen. Das Papsttum als die Quelle jahrhundertelangen Götzendienstes in der Kirche ist der offene Adressat der Polemik; dahinter versteckt sich die Wendung gegen das bischöfliche System überhaupt. Daraus ergibt sich auch für Tyndale, daß er die neutestamentliche Gemeindeverfassung, die er ohne weiteres für klar und eindeutig hält 16°, als die maßgebliche Form auch für die von ihm geforderte Reform der gegenwärtigen Kirchenverfassung ansieht, wie er auch das Wort έκκλησία stets mit „congregacion" wiedergibt. Auf einem Gebiet, das für die spätere englische Theologie charakteristisch werden sollte, hat Tyndale noch in besonderer Weise bahnbrechend gewirkt: er konzipiert als erster, was man eine nationale Bundestheologie genannt hat. 1 6 1 Seine Gedanken zu diesem Thema hat er vor allem in dem bereits erwähnten JonaProlog entwickelt. Dort begegnet prononciert die Auffassung, daß auch England wie das Bundesvolk des Deuteronomiums, dem in Dt 28 neben dem Segen vor allem der Fluch für den Bruch des Bundesgesetzes vor Augen gestellt wird, seine eigenen zeitlichen nationalen Gesetze einzuhalten verpflichtet sei. Die Katastrophen in seiner eigenen nationalen Geschichte werden ihm zu Beispielen dafür, wie Völker, die ihren zeitlichen nationalen Gesetzesbund brechen, durch Krisen zur Buße gerufen worden sind, und aus ihr ergibt sich der Aufruf an die Gegenwart, durch Buße und neuen Gehorsam gegenüber den Gesetzen (so versteht Tyndale die Aufgabe der Reformation) für die unter dieser Bedingung verheißene Blüte in allen zeitlichen Dingen zu sorgen. So gewinnt das Alte Testament, insbesondere das Deuteronomium, einen unmittelbaren Vorbildcharakter auch für die politische Gegenwart Englands. Die Fernwirkung dieser Gedanken war ungeheuer und wird uns noch ausgiebig beschäftigen. Ein zweites, mit diesem ersten eng verbundenes Moment kommt hinzu: Spalding162 weist darauf hin, daß schon Erzbischof Cranmer in seiner Krönungspredigt für Eduard VI den jungen Herrscher als einen neuen Josia bezeichnet habe, der wie der alttestamentliche Reformkönig den Bilderdienst und die Tyrannei des Papstes beseitigen, dem Laster wehren, Tugend belohnen und Gerechtigkeit üben werde. 1 6 3 Dieser Gedanke ist aber schon älter als die Regierungszeit des jungen Königs, denn bereits unter Heinrich VIII hatten Theologen und Humanisten das mittelalterliche Schema von 160 Vgl. Neues Testament, ed. Wallis, S. 11. 161

]. C. Spalding, Restitution as a Normative Factor for Puritan Dissent, in: J A A R 44, 1976, S. 4 7 - 6 3 , S. 50. I M AaO., S. 52. 163 T. Cranmer, in: J. Collier, An Ecclesiastical History of Great Britain, 1840, Bd. V, S. 1 8 4 - 5 , bei Spalding, aaO., S. 52.

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der hierarchischen Ordnung der Gesellschaft im nationalen Sinne umgeformt und dabei dem König eine zentrale Rolle eingeräumt. 1 6 4 Schon damals finden wir (vermischt mit anderen Begründungen) eine aus dem Alten Testament gewonnene Autorisierung der unvergleichlichen Stellung des Königs 165 ; zugleich wird bereits in dieser Zeit die Theorie von einem dem König, auch wenn er ein Tyrann sein sollte, unbedingt geschuldeten Gehorsam entwickelt. 1 6 6 An der Entwicklung der Theologie Tyndales kann man ablesen, wie gegenüber dem reformatorischen Erbe sich schon recht bald wieder die moralischen und antizeremoniellen Tendenzen durchsetzen, die beide, wie auch das rationale Denken, aus dem Mittelalter überkommene Strömungen darstellen. Darüber darf auch nicht die heftige Polemik gegen die römische Kirche, den „Papismus", hinwegtäuschen, denn sie erfolgt, auch gerade in der Berufung auf die Schrift, in der alten humanistisch-spiritualistischen Frontstellung. Aus diesem Grunde konnte diese Polemik später, auch wenn die reformierte Lehre dogmatisch unangetastet blieb, so leicht auf die Institution der eigenen bischöflichen Kirche von England übertragen werden. Dieser Gang der Dinge ist übrigens nicht auf England beschränkt, sondern hat sich, wie man längst erkannt hat, in den reformierten Kirchen des Kontinents vielfach ganz ähnlich zugetragen. So hat man Tyndales Theologie der Zürichs verglichen, obwohl keine direkte Beziehung zwischen Tyndale und den Zürchern festzustellen ist. 167 Offensichtlich handelt es sich um parallele Entwicklungen, die sich auf die Dauer allerdings in England wesentlich stärker ausprägen. Die antikatholische Frontstellung blieb während der gesamten Blütezeit des Puritanismus der Nährboden, auf dem sich seine antizeremonielle und antihierarchische Propaganda entwickelte und ein immer bereites Ohr in der Öffentlichkeit fand. Schon zur Zeit Heinrich VIII, als von einer Reformation im evangelischen Sinne noch gar nicht die Rede sein konnte, wurde von den ersten humanistisch-reformerisch gesinnten Kämpfern die antizeremonielle Waffe geschwungen. Die Staatsmacht selbst machte sich 164 Vgl. dazu auch F. L. van Baumer, The Early Tudor Theory of Kingship, 1 9 4 0 (Reprint 1966); auch P. N. Siegel, in: JHI 1952, S. 4 6 2 f f . - Zu den historischen Vorgängen vgl. neuerdings G. R. Elton, Reform and Reformation. England 1509—1558, 1977. 165 Vgl. van Baumer, aaO., S. 86. 166 Vgl. van Baumer, aaO., S. 9 4 f f . Zum Unterschied dieser Theorie zu der erst von Jakob / und seinen Theologen entwickelten Lehre v o m göttlichen Recht der Könige vgl. aaO., S. 9 2 . 167

Miller, aaO., S. 51. — Dafür ist Tyndale offensichtlich von einer wahrscheinlich von dem St. Galler Joachim Vadian verfaßten Schrift: „ V o m alten und neuen G o t t " abhängig, vgl. Clebsch, aaO., S. 169f. 13 Revcntlow, Bibelautorität

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unter Thomas Cromwell zur Durchsetzung des königlichen Suprematsanspruches und der Aneignung von Kirchengütern für die Krone, der ein Bildersturm sehr gelegen kam, bestimmte ikonoklastische Schriften zunutze. 1 6 8 In den letzten Jahren Heinrichs, als dessen Politik wieder in eindeutig katholische Richtung umgeschlagen war und eine Reihe prominenter Protestanten auf das Festland flüchtete, ertönte aus den Reihen der Exulanten eine kräftige antirömische Polemik. Die gleich zu besprechende Schrift William Turners·. „The Huntyng and Fyndyng Out of the Romish Foxe" 1 6 9 verbindet Priesterkritik und Kultkritik mit antirömischer Tendenz, indem sie Heinrich VIII nachzuweisen versucht, der verräterische Klerus verstecke den gerade aus England vertriebenen Papst und seine Werke in den Gebräuchen der englischen Kirche. Die Furcht vor einer Rekatholisierung Englands, die mit der päpstlichen Bann- und Absetzungsbulle gegen Elisabeth I vom 25. Februar 1570 einen Höhepunkt erreichte, hatte während des größeren Teils der Regierungszeit dieser Königin in der außenpolitischen Konfrontation mit Spanien und in inneren gegenreformatorischen Aktivitäten berechtigte Gründe und fand erst mit der Niederlage der Armada 1588 ihr vorläufiges Ende. 1 7 0 Ein Wiederaufleben erfolgte in kleinerem Umfang unter Karl I wegen des Verdachtes auf prokatholische Sympathien des Königs, da seine französische Frau dem römischen Glauben anhing, in breitem Maße mit dem Regierungsantritt des katholischen Jakob II und den seiner Flucht noch lange Zeit nachfolgenden Versuchen des abgesetzten Königs selbst und später seines Sohnes, des „Prätendenten", den verlorenen Thron zurückzugewinnen. Letzte Ausläufer dieser Glaubenskämpfe reichen mit der nordirischen Tragödie bis in unsere Gegenwart hinein. Die Schriften der henrizianischen Exulanten setzen die mit Tyndale eingeschlagene Linie im wesentlichen fort. Die uns schon vertraute Geschichts168 v g [ . y. McConica, 169

aaO., S. 169ff.

Pseudonym erschienen Basel 1534; vgl. Knappen, aaO., S. 59. Short-Title Catalogue, ed. A. W. Pollard, G. R. Redgrave u.a., 1926 ( S . T . C.), 2 4 , 3 5 3 . - Benutzt wurde ein Mikrofilm: University Microfilms, A n n Arbor (USA). 170 Vgl. z u d e n Vorgängen zusammenfassend J. B. Black, The Reign of Elizabeth 1 5 5 8 - 1 6 0 3 ( 1 9 3 6 ) , 2 1 9 5 9 , S. 166ff., und vor allem P. McGrath, Papists and Puritans under Elizabeth I, 1967. Zum Klima der Zeit auch J. E. Neale, The via media in Politics, in: Essays in Elizabethan History, 1958, S. 113—124. — L. Borinski, Englischer Humanismus und deutsche Reformation, 1969, S. 21 ff-, macht darauf aufmerksam, daß die antipäpstliche und antibischöfliche Polemik schon im 14. Jahrhundert innenpolitische Gründe hatte, die damit zusammenhängen, daß sich das Königtum gegen Adel und Bürgertum vor allem auf die Kirche stützte, wobei der Papst als Garant des Systems eine bedeutende Rolle spielte. Die von Heinrich VIII vollzogene Wendung gegen den Papst modifizierte diese Positionen, ohne sie j e d o c h vollständig aufzuheben.

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auffassung, welche die reine Urkirche mit den bald darauf unaufhaltsam einsetzenden Verfallszeiten kontrastiert, findet ein neues Beispiel in R. Barnes' „Vitae Romanorum pontificorum" 1 7 1 , wo die von den Päpsten in die mittelalterliche Kirche eingeführten Neuerungen immer wieder den dunklen cantus firmus in den allerlei Material zusammentragenden Lebensbeschreibungen der Päpste bilden. Wichtiger noch ist Turners erwähnte Schrift: „The Huntyng and Fyndyng Out of the Romish Foxe" 1 7 2 , denn in ihr finden sich in einer bisher noch gar nicht genügend beachteten Weise die hermeneutischen Grundsätze des späteren Puritanertums ausgesprochen. Der logische Ausgangspunkt seiner gesamten Kritik an der Kirche ist ein gesetzlicher Biblizismus. An die Stelle des kanonischen Rechts, das bisher die äußere Gestalt der Kirche geregelt hat, hat die Bibel zu treten: „for the law of Christes chirche, of whiche englöd (England) is on(e) part is the new testamet 8c the old / that is to wit the doctrine that the / Prophetes / the Apostelles 8c Christ taught . , . " 1 7 3 Die ideale Kirche war die Urkirche: „But in Christes tyme and the Apostelles tyme and in the tymes of the holy martyres was the most perfit chirch". Daraus folgt: „therfor then was the perfitest law of the chirche / then the law of Christes chirche / was in the Apostelles tyme all ready made 8c so perfit that no man could make any thing more perfit." 1 7 4 Die humanistische Auffassung von der idealen Urzeit ist mit einem legalistischen Schriftverständnis verknüpft. Es gehört hinein in den Rahmen eines Denkens, dem die zeitlich-geschichtliche Dimension noch fehlt; das wird deutlich in Turners Bemerkung: „The word of god which is the law of the chirch lasteth for euer 8c is not changed / so that the chirche of Christ at all tymes hathe no other law but Christes word." 1 7 5 Die Folgerungen, die Turner aus diesem Grundsatz zieht, sind allerdings nur in indirekter Weise mit ihm verbunden. Sein Gedankengang verläuft in einer anderen Richtung, wie man am Gesamtaufbau seiner Schrift sieht : An ihren Anfang 1 7 6 stellt er eine lange Liste von kirchlichen Sitten und Gebräuchen in England, in denen nach seiner Meinung „the popes doctrine and traditiones" noch in Geltung sind. Die Liste beginnt mit dem Kreuzes171

Wittenberg 1536, Vorwort von Luther. Deutsche Ubers. 1545, tschechische 1565. Über Barnes vgl. Clebsch, aaO., S. 4 2 f f . , über die „Vitae" ds., S. 73f.; modernisierte Auszüge aus seinen Werken in: Reformation Essays of Barnes, ed. N. S. Tjernagel (Paperback), 1 9 6 3 ; / / . C. Porter, Puritanism in Tudor England, 1970, S. 28ff. 172 AaO. 173 AaO., S. 27. 174 AaO., S. 28. >7S AaO., S. 2 8 f . 176 AaO., S. 12ff.

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zeichen (wie wir sahen, einem uralten Stein des Anstoßes 177 ), nennt Segnung von Wasser und Salz, von Kirchen und Gewändern, die traditionellen Formen des Sakraments (Priesterkelch, aber auch die Vermischung der Elemente, den Vikariatsempfang für Tote usw.), aber auch den Kanon der Messe, ihre lateinische Form, Fastenzeiten und Gelübde, die Ehelosigkeit der Priester — teilweise Dinge, deren Abschaffung die gesamte Reformation gefordert hatte, vieles aber auch darüber hinaus in einer grundsätzlichen und polemischen antizeremoniellen Haltung, wie sie auch im gesamten Tonfall der Schrift sichtbar wird. Bei jeder einzelnen besprochenen Erscheinung wird jeweils angegeben, durch welchen Papst (vereinzelt auch, durch welches Konzil), sie eingeführt worden sei; dem Verfasser k o m m t es vor allem auf den Nachweis ihres papistischen Charakters an, erst in einem späteren Teil der S c h r i f t 1 7 8 wird noch zusätzlich belegt, daß sie auch nicht schriftgemäß seien. Neben ihrem Hauptinhalt enthält die Schrift Turners noch einige weitere für die spätere puritanische Theologie charakteristische Züge. Zu erwähnen wäre die Auszugstypologie, die in der Deutung a u f t r i t t , die Turner der Suprematserklärung Heinrich VIII gibt: die Tat des Königs, der den Papst aus England trieb, „intended suche a thynge as all myghty god dyd when he delyuered the chylder of Israel f r o m the bondage of Pharao / and drove out the chanaanites of theyr lande that the true Israelites myght haue that land and succede t h e m " . 1 7 9 Unter Berufung auf Lev. 18 ( I f f . ) wird anschließend 1 8 0 erklärt: „So learned men w h o m the kyng a p o y n t e d to delyuer hys subiecties f r o m the bondage of the Romish Pharao the p o p e J ought to haue sweped the chirch & dryuen quite o u t of it all that euer any p o p e had made . . . " Der negative Typus: Pharao / der Papst wird noch direkter aufgestellt als der positive, in dem die Rolle Heinrichs bew u ß t in der Schwebe bleibt. Für die Stellung Turners zum Alten Testament wäre zu bemerken, daß unter den dicta probantia für die Prüfung der Zeremonien die alttestamentlichen Zitate in b u n t e r Mischung mit solchen aus dem Neuen Testament erscheinen. Die zentrale Schlußfolgerung gegen die Verwendung des Kreuzeszeichens (,,I haue proued n o w b y sufficient witnesses of the scripture / that to worship before an image is to worship i t " 1 8 1 ) wird mit Ex. 20 (4); Lev. 20 ( I f . ) ; Dt. 4 ( 1 5 - 1 9 ) ; 27 (15); 5 (8) belegt. 1 8 2 Auf der anderen Seite wird j e d o c h zwischen dem „Gesetz MoS. o. S. 39, Anm. 136. i·» AaO., S. 3 7 f f . iw AaO., S. 35. 180 AaO., S. 36. ι»' AaO., S. 41. i 8 2 AaO., S. 4 2 f .

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ses", das nur für die J u d e n war und dem „law of the gospel" (sic!), das für die Christen allein gültig ist, klar unterschieden. 1 8 3 In dieser Hinsicht steht Turner der Haltung der Erasmianer n o c h recht nahe. 2. Der humanistische Grundzug läßt sich auch durch die späteren Äußerungen der „Anti-Vestment P a r t y " hindurch verfolgen. Ein interessantes Dok u m e n t , das vor allem für das Verhältnis der radikalen Puritaner zur Bibel aufschlußreich ist, sind die „ N o t a e " Hoopers an den Staatsrat vom 3.10. 1550, in denen er seine Ablehnung der Gewänder begründet. 1 8 4 Hooper stellt gleich an den Anfang die Forderung: „Nihil est Ecclesiae in vsu hab e n d u m , q u o d non aut expressum Dei verbum habeat q u o se tueatur, aut alioqui res sit ex se indifferens, quae facta, et vsurpata, nihil prosit, infecta vero, et praetermissa nihil obsit." Daß die Schrift (verbum Dei) die Grundlage nicht nur der Lehre, sondern auch des kirchlichen Lebens sein müsse, war ein Postulat der gesamten Reformation. Luther und seine Anhänger hielten aber in den äußeren Formen kirchlichen Lebens alles für erlaubt, was nicht in der Schrift ausdrücklich verboten ist. Dieser S t a n d p u n k t bildet den Ausgangspunkt für die durch Melanchthon ausgebildete Adiaphora-Lehre 1 8 5 , die zwischen dem Gebiet der Dogmatik, wo allein die pura doctrina gelten darf, und dem Bereich der Zeremonien und des Kirchenregiments unterscheidet, die als neutrale Materie von der Obrigkeit geregelt werden dürfen. Hoopers einleitender Satz scheint auf den ersten Blick dieser Einteilung zwischen dem durch die Schrift Befohlenen und den Adiaphora zu folgen. Der ihn fortsetzende Syllogismus: „Priuata et pecularia vestimenta in Ministerio, non habent verbum dei q u o praecipiuntur, neque sunt res ex se Indifferentes. Ergo n o n sunt in vsu h a b e n d a " ist aber von Melanchthons Voraussetzungen her nicht verständlich. Offensichtlich hebt er dessen Unterscheidung zwischen den beiden Gebieten der Lehre und der äußeren kirchlichen Formen bewußt auf: auch diese sind nicht indifferent, sondern müssen von der Schrift als oberster Autorität her geregelt werden. Das gilt nun nicht nur im Hinblick auf die zweite Bedingung Hoopers, in der er erklärt, daß die von G o t t befohlenen oder verbotenen Dinge nicht nur diejenigen sind, für die ein ausdrückliches Gebot oder Verbot vorliegt, 183 „The law of the gospel is a mor perfit law for the Christen then the law of Moses was for the iewes. But the iewes neded no other law nor ceremonies then the law of Moses / then the Christen men nede no other law (as touching theyr soules) but the law of the gospel." AaO., S. 36. 184 Herausgegeben von C. Hopf: „Bishop Hooper's 'Notes' to the King's Council", in: JThS 4 4 , 1943, S. 1 9 4 - 1 9 9 . - Vgl. zu dem D o k u m e n t und der Antwort Bischof Ridleys (abgedruckt in: J. Bradford, Writings, ed. A. Townsend, Bd. II, 1853, S. 3 7 3 95) auch Primus, aaO., S. 1 6ff.; W. M. S. West, J o h n Hooper, BQ 16, S. 33ff. 18 5 Vgl. o. S. 178, Anm. 99.

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sondern auch solche, die aus dem Gesamtsinn der Schrift abgeleitet werden können (Beispiel: Kindertaufe oder Zulassung von Frauen zum Abendmahl). Wichtiger ist, daß seine erste Nota die Haltung Melanchthons zu den Adiaphora direkt auf den Kopf stellt: „Res Indifferentes, originem suam et fundamentum in verbo Dei habere debent. Nam quod ex verbo Dei probari non potest, non est ex fide, fides autem ex auditu verbi Dei. Rom. 10 (17)". Bei genauer Betrachtung verwickelt sich Hooper hierbei zwar nicht in einen logischen Widerspruch zu seinem einleitenden Satz, denn „expressum Dei verbum" haben die Adiaphora auch nach seiner Ansicht allerdings nicht. Aber sie haben „originem et f u n d a m e n t u m " im Wort: es gibt keinen Bereich innerhalb der Kirche, der nicht von der Norm der Schrift her zu regeln wäre. 1 8 6 Diese Bemerkung entspricht genau der Haltung, die Hooper auch sonst konsequent und mit Nachdruck eingenommen hat. Wie W. M. S. West gezeigt hat 1 8 7 , ist sie das Ergebnis seiner frühen Berührung mit den Schriften Bullingers und vor allem die Frucht seines längeren Aufenthaltes in Zürich. West zitiert aus dem zeitgenössischen Werk Lavaters über die kirchliche Praxis in Zürich: „De Ritibus et Institutis Ecclesiae Tigurinae" 1 8 8 den zentralen Satz: „Nichts wird in der Zürcher Kirche getan als das, was die Praxis der Kirche zur Zeit der Apostel war." 1 8 9 In Zürich hatte Hooper die Kirchen alles Schmucks beraubt, aller überflüssigen Zeremonien entkleidet und in eine Form des Gottesdienstes zurückgeführt erleben können, die nach Ansicht Bullingers und der anderen Zürcher den urchristlichen Bräuchen entsprach, deren Hauptmerkmal in ihren Augen die äußerste Einfachheit war. Einfachheit war für sie zugleich Reinheit, und dieses Postulat vertrat auch Hooper während seines gesamten restlichen Wirkens in England. Wie dies in Wirklichkeit ein humanistisches Ideal war, so war es auch die legalistische Auffassung des „Bundes" als der für Hooper wichtigsten theologischen Vorstellung 1 9 0 : der Bund bedeutete für Hooper zwar zunächst das Angebot der göttlichen Gnade an alle Menschen, aber verwirklicht werden konnte sie nur durch den unbedingten Gehorsam gegenüber Gottes Geboten, für welche die Sätze des Dekalogs als Grundbedingungen des Bundes maßgebend sind. 191 Vor diesem Hintergrund ist es auch 186 ,, . . . verumetiam omnis Divinae voluntatis cognitio, quae ex scripturarum inter se collatione, et comparatione, necessario deduci et colligi potest, vim habet, et Naturam Praecepti Divini, siue ad praecipiendum, siue ad prohibendum, si m o d o Naturae ac proportioni fidei ac Scripturae conveniat." West, aaO., bes. BQ 15. 188 189 1 5 5 9 (Neudruck 1702). West, aaO., BQ 15, S. 3 5 4 . 190 Vgl. dazu West, aaO., BQ 15, S. 3 5 6 f f . 191 Vgl. dazu die Einleitung zu seiner „Declaration of the Ten Commandments": „ U n t o the Christian Reader", in: Early Writings, ed. S. Carr, 1843, S. 2 5 5 - 2 7 0 ; vgl. dazu auch West, aaO., BQ 15, S. 3 5 7 f f .

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nicht verwunderlich, daß für Hooper nur ein Bund existiert und die Kirche des Alten und Neuen Testaments ein und dieselbe sind. 192 Der mit Adam nach dem Fall (Gen 3 , 1 5 ) geschlossene B u n d 1 9 3 gilt bis heute weiter; er bindet Gott in seinem Gnadenangebot aber nur soweit, als die Menschen ihm in Gehorsam gegenüber den Geboten entsprechen. Der Bereich dessen, was von der Schrift her zu regeln ist, wird also ungeheuer ausgeweitet, und so kann es zu der Haltung kommen, die der Vertreter der staatskirchlichen Seite, Cranmer, spöttisch so wiedergibt: ,,It is not commanded in the Scripture to kneel, and whatsoever is not commanded in the Scripture is against the scripture and utterly unlawful and u n g o d l y . " 1 9 4 Wie bestimmt sich aber nun das, was „originem et fundamentum" in der Heiligen Schrift hat? Offensichtlich bedarf es dafür, wenn etwas nicht „expressum Dei verbum" für sich hat, noch eines zusätzlichen Maßstabes. An dieser Stelle zeigt sich die ganze Schwäche der Position Hoopers. Er versucht einen Maßstab anzubieten in seiner dritten Forderung: „Res Indifferentes, manifestam, et apertam vtilitatem cognitam in Ecclesia habere debent, ne videantur frustra recipi, aut fraude ac dolo in Ecclesiam intrudi." Das Stichwort ist hier ,,vtilitas", der Nutzen, den etwas haben muß, wenn es, sei es auch nur eine äußere Form, in der Kirche eingeführt werden soll. 1 9 5 Aber der Begriff ist in sich verschwommen, und auch die anderen Ausdrücke, wie „fides", das in der ersten und zweiten Nota im gleichen Ductus auftaucht, oder „Wahrh e i t " in der dritten, helfen nicht weiter. Am konkretesten ist noch „aedific a t i o " in der dritten Nota: in dem Begriff der „Erbauung" kommt ein wichtiges Ziel der Puritaner in den Blick. Aber die Abwehr der Gewänder und Zeremonien ist rein negativ geladen, und daß Hooper für sie keine klaren Gründe anführen kann, auch nicht angeben, weshalb sie nicht zur „Erbauung" beitragen, ihr vielmehr direkt im Wege sein sollen, hängt damit zusammen, daß es solche einleuchtenden Gründe nicht gibt. In Wirklichkeit ist das „nicht schriftgemäß" nur das Etikett für eine Ablehnung, die sich aus ganz anderen, emotionellen Motiven herleitet. Diese verstecken sich auch hinter der Bemerkung in der zweiten Nota, daß die schriftgemäßen Dinge mit „der Natur" übereinstimmen müssen. Die Gewänder und Zeremonien werden aus dem alten antizeremoniellen Affekt heraus verworfen. Gerade dies kann Hooper aber nicht aussprechen, vermutlich weil es ihm selbst nicht deutlich bewußt ist. Vgl. Early Writings, aaO., S. 126; dazu auch West, aaO., BQ 15, S. 3 5 8 . " » Early Writings, S. 2 5 8 . 194 Cranmer an den Staatsrat, 7 . 1 0 . 1 5 5 2 , in: Lorimer, aaO., S. 104; vgl. Knappen, aaO., S. 9 6 . 1 9 5 Dies hatte Hooper in seinem oben zitierten Einführungssatz schon anklingen lassen. 192

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Die Krise der Bibelautorität in England

3. Deutlicher wird der Streitpunkt zwischen Konformisten und Puritanern in der Kontroverse, die zwar zeitlich erheblich später — insofern ist hier ein gewisser Vorgriff nötig — aber sachlich weitgehend der zwischen Hooper und Cranmer parallel im Anschluß an die puritanische „Admonition to the Parliament" 1 9 6 zwischen Whitgift und Cartwright geführt wurde. Nachdem D. J. McGinn den äußeren Ablauf geschildert und die Materialien der Kontroverse zusammengestellt hatte, hat ihr / . S. Coolidge eine scharfsinnige Untersuchung gewidmet, deren Urteil über den puritanischen Ansatz allerdings noch genauer zu prüfen sein wird. 1 9 7 Auch in der Kontroverse zwischen Whitgift und Cartwright geht es um die Rolle der Schriftautorität, und Coolidge stellt mit Recht fest, daß die Eigenart der puritanischen Haltung nicht anders begriffen werden kann als durch das Verständnis der unterschiedlichen Einstellungen der Puritaner und Konformisten zur Schrift. 1 9 8 Auch der Einsatzpunkt der Diskussion zwischen Whitgift und Cartwright ähnelt verblüffend dem Gegenüber zwischen Hooper und seinem Interpreten Cranmer: auf den Kommentar Whitgifts zu dem Satz: „those things only are to be placed in the church which the Lord himself in his word commandeth", zu dem er bemerkt: „As though they should say, nothing is to be tolerated in the church . . . except it be expressed in the word of G o d " , antwortet Cartwright empört: „Many things are both commanded and forbidden, for which there is no express mention in the word, which are as necessarily to be followed or avoided as those wherof express mention is made." 1 9 9 Es gibt also, über das ausdrücklich in der Schrift Erwähnte oder durch Vergleich aus ihr Abzuleitende (Hoopers Nota 2) hinaus, einen viel weiteren Kreis von Dingen, deren Regelung den Auswirkungen der Schriftautorität verbindlich unterworfen ist. Das entspricht genau der ersten Nota Hoopers. Whitgift kann das nicht begreifen; er meint: „there is nothing necessary to eternal life which is not both ,commanded' and ,expressed' in the scripture." Offensichtlich besitzen die Puritaner noch einen weiteren Maßstab, den sie an die Kirche anlegen und zur Grundlage ihrer Forderungen in allen konkret e Vgl. o. S. 182, Anm. 115. 197 D. J. McGinn, The Admonition Controversy, 1949; J. S. Coolidge, The Pauline Renaissance in England. Puritanism and the Bible, 1970, S. Iff. — Die Kontroverse findet sich in extenso in: The Works of John Whitgift, 3 Bde., ed. ]. Ayre (Parker Society), 1 8 5 1 - 5 3 , Bd. I. Zu Whitgift vgl. auch P. M. Dawley, John Whitgift and the Reformation, 1955. Zur Kontroverse mit Cartwright ds., S. 133ff. — Eine ähnliche „evangelische" Auffassung von den Puritanern wird auch von E. F. Kevan vertreten, vgl. u. S. 211, Anm. 263. 198 AaO., S. 2f. 199 Whitgift's Works I, S. 176. — Auszüge aus der Kontroverse auch bei McGinn, aaO., S. 374ff.

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Das Zeitalter der Puritaner

ten Punkten machen, die zwischen ihnen und ihren anglikanischen Gesprächspartnern umstritten sind. / . C. Spalding hat unlängst im Zusammenhang mit der „Admonition to the Parliament", wo dieser Hintergrund besonders offensichtlich ist, festgestellt, daß die Puritaner neben den beiden durch die Reformatoren festgelegten notae ecclesiae noch eine dritte nota der Kirche kennen, nämlich ihre nach biblischem Vorbild gestaltete Ordnung, die für sie in gleicher Weise verbindlich ist wie die rechte Verwaltung von Wort und Sakrament. 2 0 0 Aufschlußreich ist, daß sich diese dritte nota weder bei Luther noch bei Calvin (auch nicht bei Bullinger) findet, sondern, wie Spalding feststellt, zuerst bei (wie wir hinzufügen können) humanistisch beeinflußten Theologen wie Erasmus Sarcerius, Bucer und Melanchthon201 und auf dem Wege über die marianischen Exulanten den englischen Puritanismus unter Elisabeth I nachhaltig prägte. Damit wurden Einflüsse wiederaufgenommen und noch verstärkt, die bereits unter den für die Reformation zur Zeit Eduard VI verantwortlichen vom Festland herübergeholten Theologen wie Bucer und P. Martyr Vermigli eine wichtige Rolle für die Gestaltung der englischen Kirche gespielt hatten. Im Hinblick auf mögliche Einflüsse von Genf her ist es entscheidend zu sehen, daß Calvin selbst sich eindeutig auf die beiden reformatorischen notae beschränkt hat und für die unter den Genfer englischen Exulanten zur Zeit Marias in dieser Richtung entwickelten Gedanken nicht verantwortlich ist. Er folgt Melanchthons Auffassung von den Adiaphora. Cartwright stellt (wie Hooper) vier Grundregeln für die Schriftautorität dagegen, „which St. Paul gave in such cases as are not particularly mentioned of in the scripture": „I Cor. x. 32

The first, that they offend not any, especially the church of God.

I Cor. xiv. 40 The second is . . . that all be done in order and comeliness. I Cor. xiv. 26 The third, that all be done to edifying. Rom. xiv. 6 - 7 The last, that they be done to the glory of G o d . " 2 0 2 Im übrigen sind auch nach Cartwrights Meinung keineswegs alle Zeremonien genau in der Schrift festgelegt, ja, die Kirche hat Freiheit, sie je nach den Umständen wechselnd festzulegen; doch „all things in the church should be appointed according to the word of God", d.h., den obigen Regeln entsprechend. 2 0 3 Hier kommen wir offensichtlich an denselben Punkt, den 200

J. C. Spalding, Restitution, in: J A A R 1976. In der „Consultatio" des Erzbischofs von Köln, Hermann aaO., S. 55. » » Whitgift's Works I, S. 195. 203 Ebcndort. 201

von Wied·, vgl.

Spalding,

202

Die Krise der Bibelautorität in England

Hooper in seiner ersten Nota damit ansprach, daß auch die indifferenten Dinge Ursprung und Grundlage im Worte Gottes haben müßten, was in der zweiten Nota mit der Forderung der Übereinstimmung mit der proportio fidei ac Scripturae umschrieben, in der dritten auf den Begriff „Erbauung" bezogen wird, der anscheinend mit dem „Nutzen" in der Gemeinde gleichzusetzen ist. Auffällig ist, daß Cartwright in seiner dritten Regel den gleichen Begriff verwendet; offenbar wird damit das in der ersten und zweiten Regel Gesagte zusammengefaßt. Lediglich die vierte Regel trägt einen neuen, typisch calvinistischen Gesichtspunkt hinzu. Wie man sieht, gehen also die Puritaner in ihrer Forderung nach Schriftgemäßheit aller Lebensformen der Kirche einen entscheidenden Schritt über die Position der Konformisten hinaus. Deren Standpunkt wird von Whitgift in der Kontroverse mehrfach angesprochen: „In matters of order, ceremonies, and government, it is sufficient if they ,be not repugnant to the scripture'. Neither do I think any great difference to be betwixt ,not repugnant to the word of God', and ,according to the word'." 204 Für den Konformisten genügt es, wenn etwas, negativ formuliert, nicht gegen die Schrift ist; in der positiven Formulierung kann er, logisch betrachtet, keinen Unterschied feststellen. Offensichtlich gelingt es den Puritanern ja auch nicht, in einer auch für ihre Gesprächspartner verständlichen Weise auszudrücken, was den eigentlichen Hintergrund ihrer besonderen Forderungen ausmacht. Die tiefere Ursache dieses Dilemmas lag darin, daß, wie es ein moderner Beobachter ausgedrückt hat 205 , die Puritaner eben keine „Philosophie" gehabt hätten: ihre Argumente „sprang from a deep inner conviction and an attitude of mind" und ließen sich deshalb kaum rationalargumentativ vertreten. 4. Die Position der Konformisten wurde zum erstenmal in einer grundsätzlichen, nicht nur auf praktische Aspekte beschränkten Weise von Richard Hooker in seinen „Laws of Ecclesiastical Polity" 2 0 6 entfaltet. 207 Dieses 2 AaO., S. 135. 62 Vgl. o. S. 314, Anm. 4.

Herbert von Cherbury

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tiae communes Herberts, die hier die „five catholic articles" genannt werden 6 3 , als Merkmale der universalen Religion wieder 6 4 , an deren Maßstab die jeweils von einer jeweiligen positiven Religion hinzugefügten Glaubensartikel auf ihren Wahrheitsanspruch hin gemessen werden müssen; auch in ihr ist der ethische Charakter der Religion eindeutig 6 5 , und ihr Gesamtthema ähnelt stark dem von „De Religione Gentilium", indem die verschiedenen Religionen der Reihe nach erst daraufhin untersucht werden, wie weit sie die in den fünf Artikeln ausgedrückte Wahrheit in sich enthalten (S. 10—105), und danach, wie weit sie von ihr abgewichen sind (S. 106— 272). Auch die gleiche antipriesterliche Haltung wie dort tritt an vielen Stellen hervor. Im ganzen wirkt der „Dialogue" insofern radikaler als die von Herbert noch zu Lebzeiten in Druck gegebenen Werke, als hier näher an die Grenze vorgeschritten wird, wo die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der christlichen Religion selbst akut wird. Besonders der Schüler richtet seine Fragen o f t in eine solche Richtung. Aber wenn ein Problem in dieser Weise gefährlich wird, verweist der T u t o r seinen Schüler regelmäßig an die gelehrten Theologen, bei denen er eine A u s k u n f t in diesem P u n k t erhalten könne, so daß ein geheimes Einverständnis mit dem Fragesteller zu erraten dem Leser überlassen bleibt. Die Methode ist es sonst, wie schon in „De Religione Gentilium", die Priester- und Kultkritik an außerchristlichen Religionen aufzuhängen, wie z.B. gleich zu Anfang (S. 12f.) die fortschreitende Depravierung einer anfangs ethisch hochstehenden Religion durch immer weitere hinzugefügte Artikel am Beispiel des Islam dargestellt wird. Auffällig ist, daß auch das J u d e n t u m ganz b e w u ß t in den Kreis der in dieser Weise kritisch dargestellten Religionen a u f g e n o m m e n wird: nicht nur wird das höhere Alter der jüdischen Religion gegenüber verschiedenen heidnischen Religionen in Frage gestellt 6 6 und darauf verwiesen, daß sowohl der Glaube an einen G o t t wie die in Tugend und gutem Handeln bestehende religiöse Praxis den J u d e n mit den Heiden gemeinsam w a r 6 7 — der T u t o r läßt auf entsprechende Anfragen des Schülers hin auch deutlich durchblikken, daß die den jüdischen Priestern zuteil gewordenen Offenbarungen den Heiden genauso verdächtig gewesen sein müssen wie umgekehrt. 6 8 Das Alte « AaO., S. 13. 105. 258. 271; vgl. 6. 64 AaO., S. 7. 65 Vgl. aaO., S. 8, wo der Lehrer an den Schüler die Frage richtet: „Why should you require a more ample religion, when the five articles alone will give you a just exercise for your whole life, while thus you either think good thoughts, speak good words, or do good actions; and would you not think your time thus better employed, then in studying of controversy . . . ? " 66 AaO., S. 66f. AaO., S. 67f. 68 AaO., S. 96.

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Die Krise der Bibelautorität in England

Testament enthält auch allerlei Berichte, die mit dem Wesen eines Deus Optimus Maximus nach deistischer Vorstellung wenig übereinzustimmen scheinen: als Beispiel nennt der Schüler die Geschichte von Micha ben Jimla, 1. Kön. 22, wo einmal von Gott gesagt wird, daß er einen Lügengeist in die Propheten Ahabs geschickt habe 69 , zum andern die anthropomorphe Vorstellung begegnet, daß Gott auf seinem Thron sitzt und eine rechte und linke Hand hat. Auch hier wird vom Tutor einer klaren Antwort ausgewichen. 70 Ein anderes Beispiel ist die Kritik an dem Befehl Gottes an Abraham, Gen. 22, seinen Sohn als Opfer darzubringen, von dem auch der Tutor meint, „that it is not credible that the Deus, Optimus, Maximus, should be the author of such a precept". 7 1 Allgemein gilt gegenüber der Schrift der Grundsatz wie überhaupt gegenüber den Aussagen einer bestimmten Glaubenstradition, „that unless the intrinsick value bear it out, (i.e.) the wise and good precepts for living well, do in a sort authorize the narrative or historical part, the faith will be but little worth, and perchance be thought no better than as an holy legend or allegorical history". 72 In der Schrift sind viele Dinge überliefert, „which are indeed but articles founded upon reason, of which kind all pious precepts in that book are", während andere Dinge ohne die Autorität der Kirche uns niemals bekannt geworden wären. 73 Deshalb kommt bei einem Urteil alles auf die Vernunft an, die letztlich bei den fünf Artikeln zu bleiben hat, wenn sie die universal gültige Religion herausfinden will. 74 Immerhin wird die Möglichkeit einer speziellen geschichtlichen Offenbarung nicht geleugnet: „Tis true I would have you begin at the five articles, whether you find them mentioned in the holy writ, or any other good book; but with all you must take notice how perfect soever they are, that faith or belief concerning things past, may be conveniently, and in some cases ought to be annexed to them, as an excellent supplement . . . for the goodness and mercy of God is not so limitted to any one faith or country, but that it hath heretofore been, and is at this day, more conspicious and eminent in some parts of the world, than in others." 7 5 Für ein Urteil über jede vorgebliche Offenbarung, auch 69 „Upon which one might make a syllogism thus, what soever God commands is good, just, and fit to be done; but God commended a lying spirit in the manner above recited, ergo it is good, just, and fit to be done", aaO., S. 87. 70 AaO., S. 88. 71 AaO., S. 78. — Zur Thematik vgl. G. Gawlick, Abraham's Sacrifice of Isaak viewed by the English Deists, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 57, 1967, S. 5 7 7 - 6 0 0 . 72 AaO., S. 3. ™ AaO., S. 84. 74 AaO., S. 7f. 75 AaO., S. 63.

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die in der Tradition der Kirche überlieferte, verweist der Tutor den Schüler jedoch auf den Gebrauch seiner Vernunft: „I must encourage you still in the rational way you take for the discovery of truth, not doubting also, but our divines will approve the same . . . ; since even the most rigid theologaster among them, cannot but confess, that it behoves every man to give a reason of his faith." 76 Wir finden also bei Herbert bereits ein Programm entwickelt, wie es für die spätere Aufklärung und ihre Bibelkritik charakteristisch ist. Wenn man sagen kann, daß das Werk seiner Zeit beträchtlich vorauseilt 7 7 , so gilt das weniger für den theologischen Rationalismus an sich, der in verschiedenen Spielarten, wie wir sahen, um 1640 weit verbreitet war, als für das uneingeschränkte Vertrauen auf die Vernunft, in allen Fällen, wo ein Urteil über eine konkrete Offenbarung oder die Überlieferung von einer Offenbarung (wie die Bibel) nötig ist, den alleinigen Maßstab abzugeben. Auch wenn die These von den ideae innatae mit dem Piatonismus in Verbindung steht 78 , kann man die Besonderheit des Deismus doch leicht an einem Vergleich mit den Cambridge Platonists erkennen: von der Wärme religiösen Gefühls, das dort die obschon ethisch-rational gefaßte Haltung durchströmte, ist bei Herbert nichts zu spüren 79 ; er urteilt überall aus einem theoretisierenden Abstand heraus, der alle seine Schriften ebenso wie der pompöse Apparat von Lesefrüchten aller Art und die umständliche, nicht immer klar verständliche lateinische Sprache als das Werk eines gelehrten Dilettanten ausweist, der religiöse wie philosophische Themen als Felder, darauf literarischen Lorbeer und Beifall von den wirklichen Größen der Wissenschaft seiner Zeit zu ernten, ansieht. In vielen der bei ihm begegnenden Urteile, wie in der ausschließlich ethisch-dämonistischen Religionsauffassung, in der besonders im Alter stärker werdenden antiklerikalen Tendenz, ist er von humanistischen Traditionen bestimmt. In seiner durchgehenden Orientierung an der Antike verstärkt er, weil die christlichen Züge zurücktreten, einen vom Humanismus herkommenden Antrieb, der auch bei manchen seiner Zeitgenossen zu finden ist, beträchtlich. Ihm echt verwandte Geister sollte er jedoch erst gegen Ende des Jahrhunderts finden, und so bleibt er für dessen erste Hälfte eine einsame Gestalt.

•rc AaO., S. 104.

η Gawlick, aaO., S. VI. 78 19

Vgl. o. S. 291, Anm. 247. Dies gilt für sein System; zu seiner persönlichen Religiosität vgl. o. S. 320f.

328 Kapitel

Die Krise der Bibelautorität in England

3: Thomas Hobbes: Die philosophischen seiner Bibelkritik

Voraussetzungen

Thomas Hobbes, der Weise von Malmsbury ( 1 5 8 8 — 1 6 7 9 ) i s t ohne Frage eine der umstrittensten Gestalten der Philosophiegeschichte. Seine in neuester Zeit wiedergewonnene Popularität zeigt sich an der großen Zahl wissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit ihm beschäftigen. 2 Viele von ihnen stammen aus dem Grenzbereich zwischen Philosophie und Politikwissenschaft, weil das politische Denken der Gegenwart offensichtlich zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem an der Wende zur Neuzeit stehenden Denker herausfordert. Doch scheint Hobbes den Versuchen, sein staatsphilosophisches System widerspruchslos darzustellen, außergewöhnliche Schwierigkeiten in den Weg zu legen; bis heute stehen sich deshalb eine Reihe von einander widersprechenden und sich teilweise gegenseitig ausschließenden Erklärungsversuchen gegenüber.3 Sucht man die Ursache dieser Situation zu ermitteln, drängt sich eine auffällige Beobachtung in den Vordergrund, die man bei einem großen Teil der //ofeftei-Literatur antrifft: die meisten dieser Arbeiten bemühen sich, den Ansatz Hobbes' und seine Durchführung aus sich heraus, rein werkimmanent, zu verstehen; nur selten findet sich ein Ansatz dazu, die Einflüsse, die aus seiner Zeit heraus auf den Denker eingewirkt haben und das Vorkommen von Themen und Gedankengängen erklären könnten, die der immanenten Betrachtung widerspruchsvoll erscheinen müssen, mit heranzuziehen. 4 Stärker als bei anderen 1 Zu seinem Leben vgl. vor allem J. Aubray, Brief Lives 1669—1696, ed. A. Clark, 1898, Bd. I, S. 3 2 1 - 4 0 3 ; außerdem die neueren Darstellungen von G. C. Robertson, Hobbes, 1886, und vor allem F. Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Lehre, 3 1 9 2 5 , Neudruck 1971, S. Iff. 2 Man hat mit Recht von einer „Hobbes-Renaissance" gesprochen, I. Fetscher, Einleitung zu: Thomas Hobbes, Der Leviathan, 1 9 6 6 , S. LXII. — Bibliographien vor allem: H. MacDonald — M. Hargreaves, Thomas Hobbes. A Bibliography, 1 9 5 2 ; Η. Mizuta, The List of Works of and relating to Thomas Hobbes, 1 9 5 4 ; A. Pacchi, Bibliografia Hobbesiana dal 1 8 4 0 ad oggi. In: RCSF 17, 1962, S. 5 2 8 - 5 4 7 ; R. Stumpf, Hobbes im deutschen Sprachraum — Eine Bibliographie. In: Hobbes-Forschungen, hrsg. von R. Koselleck und R. Schnur, 1969, S. 287—300. 3 An Forschungsübersichten sind zu empfehlen: Carl Schmitt, Die vollendete Reformation. Bemerkungen und Hinweise zu neuen Leviathan-Interpretationen. In: Der Staat 4, 1965, S. 51—69; B. Willms, Einige Aspekte der neueren englischen Hobbes-Literatur. Ds. 1, 1 9 6 2 , S. 93—106; ders., Von der Vermessung des Leviathan. Aspekte neuerer Hobbes-Literatur. Ds. 6, 1967, S. 7 5 - 1 0 0 . 2 2 0 - 2 3 6 ; W. H. Greenleaf, Hobbes: The Problem of Interpretation. In: Koselleck-Schnur, Hobbes-Forschungen, S. 9 - 3 1 . Vgl. auch 1. Fetscher, aaO., S. IX-LXIV. 4 Im Hintergrund steht eine Auffassung, wie sie z.B. H. R. Trevor-Roper ausspricht, nach der Hobbes vollkommen „outside the main stream of English political thought"

Thomas Hobbes

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Philosophen (und das hängt offensichtlich gerade mit der aktuellen politischen Bedeutung zusammen, die man Hobbes zumißt) kann man feststellen, wie moderne Denkansätze und Begrifflichkeit in die Deutung einfließen. Dies hat unmittelbare Folgen auch für die Stoffauswahl: so ist es kein Zufall, daß bei all den Betrachtern, die eine rein säkularistische Auffassung vertreten, die umfangreichen Kapitel, in denen sich Hobbes mit theologischen und biblischen Themen beschäftigt, entweder völlig ausgeblendet 5 oder als systemfremde Alibi-Konzession an den Zeitgeist ausgeschieden werden. Aber auch die in jüngster Zeit mächtiger werdende Reaktion gegen diese Betrachtungsweise, die teils einem naturrechtlich-moralischen, teils einem ausgesprochen theologischen Blickpunkt sein Recht verschaffen will, kommt über eine gebrochene Sicht nicht hinaus. 6 Die i/o66ej-Forschung ist ein Paradebeispiel für die Notlage, in die angesichts der heute vorliegenden Erkenntnisse auf den Spezialgebieten der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen jeder Versuch geraten muß, einen Denker aus einer Zeit zu verstehen, in der Philosophie und Theologie in ihrer Einheit noch die Grundlage und Voraussetzung jeder Wissenschaft bildeten — eine Theologie, die nicht nur Anthropologie, Rechts- und Staatslehre aus sich heraussetzte (wobei die antike Tradition jeweils den komplementären Bestandteil lieferte), sondern auch ihre eigenen Konstitutiva mit einbrachte, w o z u nicht zuletzt der jeweilige Rückgang auf die biblischen

in seiner Zeit gestanden habe: „Thomas Hobbes", in: Historical Essays, 1957, S. 2 3 3 - 3 8 , S. 233. Ähnlich auch Fetscher, aaO., S. IX: „Der politische Philosoph Thomas Hobbes steht einsam in der Mitte der philosophischen Tradition des Abendlandes." In der älteren Forschungsperiode war diese Ansicht sozusagen alleinherrschend, vgl. u.a. G. P. Gooch, Political Thought in England: Bacon to Halifax. 1951, S. 23: „No man of this time occupied such a lonely position in the world of t h o u g h t . " C. Schmitt, aaO., S. 53, betont dagegen mit Recht: „Daß wir erst einmal klarlegen müssen, was Hobbes wirklich gesagt hat, versteht sich von selbst. Aber schon die nächste Frage ist, was er denn wirklich gemeint hat. Das läßt sich nicht ohne zeitgeschichtliche Erörterungen b e a n t w o r t e n . " 5 So werden die beiden letzten Bücher des Leviathan in der von P. C. Mayer-Tasch herausgegebenen Rowohlt-Klassikerausgabe, 1965, fortgelassen; sie wären „für eine moderne Ausgabe nur von äußerst beschränktem Interesse", aaO., S. 287. Vorsichtiger läßt Fetscher die Dinge in der Schwebe: „Ob Hobbes seiner ausführlichen Argumentation auf Grund seiner Darstellung der Geschichte Israels und der Lehren des Neuen Testaments selber ausschlaggebende Bedeutung zuschrieb oder nicht, wird man nur schwer entscheiden können. Die Zeitgenossen jedenfalls hielten den Denker für einen Atheisten und waren nicht bereit, seinen gegenteiligen Beteuerungen Glauben zu schenken." 6 Ein Beispiel dafür ist die gründlichste Arbeit dieser Art, die zugleich die bisherigen Versuche kritisiert und weiterführt: K.-H. Kodalle, Thomas Hobbes — Logik der Herrschaft und Vernunft des Friedens, 1972. Vgl. zu ihr u. S. 344f.

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Zeugnisse gehört. So ist das deutlichste Schibboleth, an dem man den unüberbrückbaren Abstand zwischen den modernen Deutern und ihrem Gegenstand erkennt, der gewöhnlich stillschweigende Verzicht darauf, die sich ausführlich mit Bibelexegese befassenden Abschnitte bei Hobbes in die Betrachtung einzubeziehen. 7 Dazu könnte man sagen, daß den Philosophiehistorikern und Politikwissenschaftlern die entsprechenden Fachkenntnisse nicht abverlangt werden können. Das ist subjektiv richtig, zeigt aber gerade das dem Gegenstand gegenüber objektiv bestehende Dilemma. Hier kann nur interdisziplinäre Bemühung helfen, wobei der theologische Partner ebenso seinen Informationsbedarf einzugestehen hat. Dasselbe Ungenügen gilt aber auch gegenüber der Bibelwissenschaft. Sofern sich Auslegungsgeschichten des Alten Testaments mit Hobbes beschäftigt haben, sind sie ausschließlich an den kritischen Beobachtungen hinsichtlich der historischen Entstehungsumstände der einzelnen alttestamentlichen Schriften interessiert. 8 Der Versuch, den Anlaß dieser Kritik aus Denkansatz und inneren Anliegen Hobbes' heraus zu ermitteln und dadurch auch zu seinem inhaltlichen Verständnis beizutragen, ist bisher noch nicht unternommen worden. Man kann also von daher wohl den Nichttheologen keinen Vorwurf machen, wenn sie sich nicht mit der Materie befassen wollen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, das Werk des Philosophen voll in die Denkvoraussetzungen seiner Zeit und Lebenswelt hineinzustellen und dadurch sowohl die methodischen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit vielem, was wir bisher an charakteristischen Einstellungen beobachten konnten, in den Blick zu bekommen, wie auch von daher die 7 Der Wille dazu findet sich wiederum bei Kodalle, aaO., S. 70ff., 115ff., doch fehlen dem Interpreten teilweise die Voraussetzungen für ein hinreichendes Urteil. — Dagegen erkennt Z. Lubienski, Die Grundlagen des ethisch-politischen Systems von Hobbes, 1932, sehr wohl die Bedeutung der geoffenbarten Religion für Hobbes' System, wenigstens als Mittel der Apologetik gegenüber den katholischen und protestantischen Theologen: „Wie große Wichtigkeit er den theologischen Beweisen beilegte, bezeugt die Tatsache, daß er ihnen einen so großen Raum innerhalb seiner Werke widmete." AaO., S. 208f. 8 Das gilt schon für Diestel, aaO., vgl. Register, s.v., „Hobbes", und ganz ähnlich noch für Kraus, Geschichte, S. 57ff. J. Coppens, De Geschiedkundige Ontwikkelingsgang, erwähnt Hobbes überhaupt nicht. Kraeling, The Old Testament since the Reformation, 1955, S. 44f., gibt in seinen wenigen Bemerkungen ein Muster dafür ab, was an Verzeichnung möglich ist: „He sought a secular state, emancipated from all ecclesiastical influence and held that whatever the state sanctions is good. Religion, he taught, is fear of invisible powers whose existence is invented, or just accepted on the basis of tradition." Vgl. im übrigen die Bemerkungen in der Einleitung, ο. S. 9ff.

Thomas Hobbes

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speziellen Anliegen Hobbes', die spezifische Eigenart seines Denkens klarer herauszustellen. Im Gegensatz zu den bisher vorliegenden Darstellungen (die selbstverständlich durch die sorgfältigen werkimmanenten Analysen, die sie von den verschiedensten Gesichtspunkten her bieten, eine unentbehrliche Voraussetzung für eine derartige Weiterführung bilden 9 ) soll dabei die Rolle der Bibel für die Begründung des staatspolitischen Entwurfes Hobbes' und die Zusammenhänge, die sich zwischen seinen kritischen Beobachtungen am Alten Testament und seinem philosophischen Denken feststellen lassen, der Gesamtthematik dieser Arbeit entsprechend, den Zielpunkt darstellen. Die bisher vorliegenden //ofcbes-Deutungen (beschränkt auf sein staatsphilosophisches System 10 ) lassen sich etwa in folgender Weise systematisch gliedern 11 : 1. Das traditionelle Verständnis, das der Aufnahme entspricht, die Hobbes von dem Gros seiner Zeitgenossen erfahren hat 1 2 , sieht in ihm einen Materialisten, der, von den Methoden der modernen Naturwissenschaften begeistert, deren Lehre von den Körpern in Bewegung, die mechanisch aufeinander einwirken, auf den Menschen und den von diesem geschaffenen Staat anwenden und die Entstehung ethischer Verpflichtung, die zur Begründung des Staates führt, aus einer egoistischen Psychologie im Sinne einer rein vernünftigen Abwägung des Selbstinteresses des im Naturzustand des Kampfes aller gegen alle in seinem Überleben bedrohten Menschen herleiten will 13 : die Angst vor dem Tode ist der Grundantrieb alles Handelns, 9

Dem Hobbes-Rätsel ist ein bewundernswertes Maß an Akribie und Scharfsinn von seinen Interpreten gewidmet worden. 10 Ein wenig beachtetes Gebiet stellt demgegenüber seine Naturphilosophie dar, die außerhalb unseres Themas liegt. Vgl. dazu u.a. F. Brandt, Thomas Hobbes' Mechanical Conception of Nature, 1928; A. Pacchi, Convenzione e ipotesi nella formazione della filosofia naturale di Thomas Hobbes, 1965. Zum Übergang von der Natur- zur Gesellschaftsphilosophie auch M. Diesselhorst, Ursprünge des modernen Systemdenkens bei Hobbes, 1968. 11 Den Ansatz zu einer solchen Gliederung bietet u.a. Greenleaf, aaO., S. 9ff. — Im übrigen kann Vollständigkeit in der Literaturverarbeitung hier nicht erstrebt werden. F. S. McNeilly, The Anatomy of Leviathan, 1968, S. 5, bemerkt: „One has to decide whether one is writing a book about Hobbes or a book about books about Hobbes." 12 Vgl. dazu vor allem S. I. Mintz, The Hunting of Leviathan, 1962; eingeschränkter a u c h / . Bowle, Hobbes and his Critics, 1951 (Reprint 1962), sowie als allgemeinere Darstellung des geistigen Klimas der Zeit ]. Redwood, Reason, Ridicule and Religion. The Age of Enlightenment in England, 1 6 6 0 - 1 7 5 0 , 1976, S. 70ff. 13 Methodisch gesehen, kann man dies auch als den psychologischen Ansatz bezeichnen, vgl. dazu Morris, Gauthier on Hobbes' Moral and Political Philosophy, in: PPR 33, 1972/3, S. 3 8 7 - 9 2 .

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das Bestreben, einen vorzeitigen gewaltsamen Tod zu verhindern, führt zu der Erkenntnis, daß nur der Friede die Voraussetzung zum Überleben bietet, dieser wird nur dadurch gesichert, daß alle Menschen ihre natürlichen Rechte und ihre Macht auf einen Souverän übertragen. Diese Auffassung muß Hobbes in seinem Menschenbild als einen radikalen Skeptiker, in seiner Weltauffassung geradezu als einen Atheisten ansehen. 1 4 Das war auch das Urteil vieler Zeitgenossen, die ihn etwa, wie Kortholt, mit Herbert und Spinoza unter die „drei Betrüger" rechneten. 1 5 Er hatte aber auch, wie vor allem Q. Skinner gezeigt hat, eine ganze Anzahl von Anhängern vor allem auf dem Kontinent, die ihn gerade in diesem Sinne bewunderten. 1 6 Für diese Charakterisierung des Philosophen scheint zunächst zu sprechen, daß sie weitgehend der inneren Logik der Entwicklung der Staatslehre aus der Anthropologie und dieser aus der Lehre von den Körpern bei Hobbes selbst zu folgen scheint (tatsächlich hatte Hobbes von Anfang an seine „Elementa Philosophiae" in den drei Teilen De corpore, De homine, De cive geplant und schon recht früh erste Manuskripte von ihnen entworfen 1 7 ; lediglich die politische Situation bewegte ihn, den dritten Teil seines Systems, De cive, 1642 zuerst in Druck zu geben 1 8 ), und überhaupt am strengsten „werkimmanent" auf der am ersten zutagetretenden methodischen Ebene analysieren will. Diese Betrachtungsweise hat bis heute ihre Anhänger. 1 9 In neuerer Zeit hat sich jedoch mehr und mehr herausgestellt, daß sie nicht mit allen Schwierigkeiten im System Hobbes' fertigzuwerden vermag. Ein solches Problem ist vor allem die Herkunft einer ethischen Verpflichtung, wenn im Naturstand nur das egoistische Interesse des Einzelnen maßgebend ist und ein davon unabhängiger moralischer Maßstab nicht besteht. Man hat gefragt, wie dann die Einhaltung des Vertrages, durch den die Menschen ihre Macht an den Souverän abtreten, gewährleistet ist — ein wahrer Frie-

14 So z.B. Bowle, aaO., S. 42: „He was a radical sceptic, with a cynical view of human nature. If he was not an atheist, he was certainly an agnostic." «s Vgl. ο. S. 314, Anm. 4. 16 Q. Skinner, The Ideological Context of Hobbes' Political Thought, in: HislJ 9, 1966, S. 286—317; ders., Thomas Hobbes and His Disciples in France and England, in: CSSH 8, 1966, S. 1 5 3 - 1 6 7 . 17 Vgl. zu diesen Fetscher, aaO., S. XHIf. 18 So Hobbes selbst im „Vorwort an die Leser" in der 2. Auflage von De cive, Opera Philosophica quae latine scripsit omnia, ed. Molesworth, Bd. II, 1839, Neudruck 1966 (= OL), S. 151; vgl. auch: Vom Menschen — Vom Bürger, hrsg. von G. Gawlick, 1959, S. 71f. 19 Umfangreiche Monographien dieser Richtung (neben zahlreichen übergreifenden Werken, in denen Hobbes nur kurz mitberücksichtigt wird) aus neuester Zeit sind die Arbeiten von R. Peters, Hobbes, 1956 (Reprint 1967) und Μ. M. Goldsmith, Hobbes' Science of Politics, 1966.

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de kann jedenfalls nur auf allgemein als verpflichtend angesehener Anerkennung seiner Grundlagen und nicht nur auf der Macht der Gewehre beruhen. 2. Geht man von der bei Hobbes vorausgesetzten so gut wie uneingeschränkten Gewalt des Souveräns aus, stellt sich Hobbes als Vorkämpfer einer totalitären Ideologie dar. Diese Sicht ist vor allem mit dem Namen von J. Vialatoux verknüpft 2 0 , hat aber nicht wenige andere Anhänger. 2 1 Carl Schmitt hat in seinen früheren Veröffentlichungen den Gedanken vom Staat als der großen Maschine ebenfalls in den Mittelpunkt gestellt 2 2 — allerdings mit der Einschränkung, daß die von Hobbes konzedierte Gedanken- und Gewissensfreiheit eine „Bruchstelle" im System, einen „Todeskeim" für den großen Leviathan darstelle. 2 3 Neuerdings ist aber deutlich geworden, daß der Vorwurf des Totalitarismus an Hobbes' Intention vorbeizielt; dieser spricht ja deutlich genug aus, daß der Staat gerade als Schutzinstrument gedacht ist, das die gesellschaftliche Entfaltung des Individuums ermöglichen soll. 24 Leider ist die Totalitarismusthese auch von einem prononciert theologischen Blickpunkt her vorgetragen worden: in der von einem Schüler Karl Barths stammenden Arbeit von D. Braun: „Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth" 2 5 , die mit Recht scharfe Kritik erfahren hat. 2 6 Ihr Hauptfehler liegt in dem Mangel an einer geistes- und theologiegeschichtlichen Einordnung Hobbes', der mit der Elle der dialektischen Theologie in einer völlig unhistorischen Weise gemessen wird. 20

]. Vialatoux, La Cite totalitaire de Hobbes. Theorie naturaliste de la civilisation, 1935 ( 1 9 5 2 2 ) . Vgl. auch J. Mourgeon, La science du pouvoir totalitaire dans le Leviathan de Hobbes, 1963. 21 Zur Vo egelin -Schule vgl. Willms, in: Der Staat 1967, S. 79, und A n m . 3 2 ; 82f. Auch die Hobbes auf das Freund-Feind-Schema einengende Dissertation des IltingSchülers F. O. Wolf, Die neue Wissenschaft des T h o m a s Hobbes, 1969, läuft auf die Totalitarismusthese hinaus, vgl. bes. S. 105. 22 Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, 1938; ders., Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes, in: ARSP 30, 1 9 3 6 / 7 , s . 6 2 2 - 6 3 2 . 23 Vgl. Leviathan, S. 84—97. Ähnlich ist die Auffassung auch n o c h bei R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 1959, bes. S. 29f. 24 ,, . . . such a c o m m o n power, as may be able to defend them from the invasion of foreigners, and the injuries of one another, and thereby to secure them in such sort, as that by their own industry . . . they may nourish themselves and live contentedly . . . " , wobei der Souverän nur zu handeln hat „in those things which concern the c o m m o n peace and safety." Leviathan, Kap. XVII, in: The English Works, ed. Molesworth, 1839, Neudruck 1966, (=EW), Bd. III, S. 157f. = Leviathan, ed. Oakeshott, 1946 ( 1 9 5 7 2 ) , S. 112 = ed. Fetscher, S. 134. 25

1963. Vgl. bes. S. 160ff. Vgl. u.a. Willms, in: Der Staat 1967, S. 2 2 6 f f . ; C. Schmitt, S. 5 1 - 6 9 , S. 5 4 f f . ; Kodalle, aaO., S. 2 1 f f . 26

in: Der Staat 4, 1965,

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Im Gegensatz zu der Totalitarismusthese, die eine adäquate Hobbes-lnterpietation längst „als Scheinproblem erkannt hat" 2 7 , wird Hobbes heute eher als Vorkämpfer des modernen Liberalismus aufgefaßt. Indem der Staat als Schutzmacht die Sicherung des Friedens übernimmt, wird die (wenn auch auf den privaten Bereich eingeschränkte) Freiheit des Individuums gerade erst ermöglicht. In dieser Weise versteht Hobbes z.B. M. Oakeshott, der unter dem Problemkreis „Individualism and Absolutism" 28 die Herkunft des Individualismus bei Hobbes aus seinem nominalistischen Denkansatz erklärt 29 ; er schließt seine Überlegungen mit dem Satz: „Indeed, Hobbes, without being himself a liberal, had in him more of the philosophy of liberalism than most of its professed defenders." 3 0 Auch F. C. Hood hat in einem Abschnitt seines gleich noch in einem für ihn zentraleren Zusammenhang zu erwähnenden Buches: „The Divine Politics of Thomas Hobbes" 31 , die Freiheit der Untertanen im Staat als wichtiges Moment hervorgehoben, wobei er zwischen der abstrakten und hypothetischen Freiheit des natürlichen Rechts und der künstlich geschaffenen, gleichwohl aber erst realen Freiheit im Staat unterscheidet: „Natural right is liberty allowed by natural law; artificial right is, for the most part, liberty allowed by civil law." 3 2 Es ließen sich weitere Beiträge in dieser Richtung nennen. 3 3 3. Die vom neomarxistischen Ansatz geprägte Untersuchung von C. B. Macpherson: „The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke" 3 4 , hat hinsichtlich einer Erkenntnis ein bedeutsames Verdienst: indem sie nachdrücklich darauf hinweist, daß Hobbes' „Naturstand" keineswegs wörtlich als eine postulierte Urstufe menschlicher Entwicklung anzusehen ist, daß Hobbes vielmehr ganz konkret die bürgerliche Gesellschaft Eng27 Willms, aaO., S. 93. 28 Introduction zu Hobbes, Leviathan, S. LVff. 29 Zum Nominalismus Hobbes' vgl. vor allem D. Krook, Thomas Hobbes' Doctrine of Meaning and Truth, in: Phil. 31, 1956, S. 3 - 2 2 . 30 AaO., S. LVII. 3 1 1964, S. 186ff., und passim. 32 AaO., S. 154. 33 Vgl. auch die Bedeutung des Themas bei Willms, in: Der Staat 1962, S. 99ff.; Der Staat 1967, S. 93ff. Schon Tönnies, Thomas Hobbes, S. 222f., verstand Hobbes als „Theoretiker des liberalen Rechtsstaats". Vgl. auch Schmitt, in: Der Staat 1965, S. 59f. Eine abstruse Form nimmt diese Deutung bei Kodalle, aaO., S. 188, an, der von der „Bewußtseinsentwicklung der Subjektivität" her die Demokratie als ideale Staatsform im Duktus des Ansatzes bei Hobbes ansiedelt. 34 1962. Jetzt auch deutsch: Die politische Theorie des Besitzindividualismus, 1967. Vgl. auch ders., Hobbes' Bourgeois Man, in: Hobbes Studies, ed. K. C. Brown, 1965, S. 1 6 9 - 1 8 3 (ursprünglich unter dem Titel „Hobbes Today", in: CJEPS 11, 1945, S. 524—534). — Vgl. zu dem Werk auch I. Berlin, Hobbes, Locke and Professor Macpherson, in: PolQ 35, 1964, S. 4 4 4 - 4 6 8 .

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lands um die Mitte des 17. Jahrhunderts beschrieben habe, deren Abgründe sich im Augenblick des Bürgerkrieges auftaten, als keine starke Staatsgewalt mehr die Gegensätze zügelte. Der Naturstand ,,is about social, not natural men"; er ist eine Hypothese, durch die Hobbes die Beziehungen der Menschen in der Gesellschaft schildern will. 35 Daß der gesamte Ansatz Hobbes' eine Fiktion ist, in der Art der klassischen Utopien als Darstellungsmittel benutzt, um zu Problemen der praktischen politischen Gegenwartsgestaltung Stellung zu nehmen, wird man bei keiner künftigen Interpretation übersehen dürfen. Auf der anderen Seite ist Macpherson durch seine eigenen ideologischen Voraussetzungen behindert, wenn er im Sinne des „possessive individualism" das Individuum allein von seiner Relation zum Eigentum und die Gesellschaft von den Funktionen des Marktes her bestimmt sein läßt und dabei die Bedeutung der geistigen und religiösen Gegensätze ebenso wie die eigenständige Funktion des Staates übersieht. Hier gilt das schon in anderem Zusammenhang zum „Weberschen Syndrom" Gesagte. 36 In einer geschützteren Weise ordnet M. Oakeshott die Ethik Hobbes' dem Typus der „morality of the individuality" zu, in der Menschen einander anerkennen, „not in the pursuit of a single common enterprise, but in an enterprise of give and take . . . : it is the morality of self and other selves". 37 4. Damit kommen wir zu dem vielverhandelten Problem der Grundlage von Hobbes'' Ethik, nach dem Sollen, das es doch an irgendeiner Stelle geben muß, wenn Hobbes überhaupt eine Morallehre hat — oder sollte er gar keine kennen, wie das die traditionelle Auffassung nahelegt? Wenn denn der Friede das Ziel ist, dem der aus dem Naturstand entfliehende Mensch durch den Abschluß des Bundes zustrebt, warum sollte er dann seinen 35 AaO., S. 16 (dt. Übers., S. 28). - Vgl. auch G. Hungerland, Hobbes' Theory of Signification, in: JHP 11, 1973, S. 4 5 9 - 4 8 2 , S. 465. Zum sozialen Ansatz vgl. auch B. Willms, Die Antwort des Leviathan, 1970, S. 43—75. 36 Vgl. o. S. 164ff. Außerdem die Kritik von Kodalle, aaO., S. 36f., an MacPherson. — Sehr viel vorsichtiger und deshalb auch wirklichkeitsgerechter B. Willms, Antwort, 5. 72: „Die Verflechtung konfessioneller Positionen mit gesellschaftlichen Interessen und politischen Herrschaftsansprüchen kann in ihrer Vieldimensionalität nicht nachgezeichnet werden." 37 The Moral Life in the Writings of Thomas Hobbes, in: Rationalism in Politics, 1962, S. 2 4 8 - 3 0 0 = Die Sittlichkeit im Werk Thomas Hobbes', in: Rationalismus in der Politik, 1966, S. 2 5 7 - 3 0 8 , S. 249 (dt. S. 258). Berühmt, wenn auch umstritten, ist gleichfalls die Deutung von L. Strauss, Natural Right and History, 1953 ( s 1965), S. 1 6 6 - 2 0 2 (= Naturrecht und Geschichte, 1956, S. 1 7 2 - 2 0 9 ) , wonach Hobbes die epikuräische Tradition im idealistischen Sinne umgeformt und ihr auf diese Weise eine politische Bedeutung gegeben habe. „He tries to instil the spirit of political idealism into the hedonistic tradition. He thus became the creator of political hedonism . . . " , aaO., S. 169 / dt. S. 175. Vgl. zu seinem entsprechenden Urteil über Locke, u. S. 409.

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naturgegebenen Egoismus zurückstellen, sein Versprechen halten? Es ist die Begründung der Pflicht, dieses „sollte" (ought), in dem wir nach Oakeshott „reach the obscure heart of Hobbes' moral theory". 38 Eine der auf diese Frage gegebenen Antworten verweist auf das Gesetz: Verpflichtung entsteht in dem Augenblick, in dem der Souverän Gesetze erläßt, die dann für alle Untertanen verbindlich sind. Ethik bezieht sich auf die durch die Gesetze gegebene Ordnung. Das ist die rechtspositivistische Lösung, der auch Oakeshott zuneigt. 39 Es ist zu bezweifeln, ob sie Hobbes wirklich gerecht wird. 40 Gegenüber allen denen, die Hobbes im wesentlichen als einen modernen Denker ansehen, hat eine einflußreiche, hauptsächlich auf Α. E. Taylor zurückgehende 41 , unter seinem Namen als Taylor-These bekannt gewordene und von H. Warrender fortgeführte 42 Deutung seine Verhaftung im Naturrechtsdenken nachzuweisen gesucht. Die wesentlichen Positionen Taylors, die Warrender nur breiter ausführt und durch zusätzliche Argumente unterstützt, sind folgende: 1. Hobbes'' ethische Doktrin ist von seiner egoistischen Psychologie strikt zu trennen. Seine wissenschaftliche Philosophie steht auf der einen, seine Moralauffassung auf der anderen Seite, und diese ruht auf der Grundlage der traditionellen Naturrechtslehre. 43 38 AaO., S. 263 (dt. S. 272). 39 Vgl. aaO., S. 266ff. (dt. S. 274ff.). - Ähnlich auch N. Bobbio, Introducione alle Opere Politiche di Thomas Hobbes, Bd. I, 1959. 40 Willms, in: Der Staat 1967, S. 222, meint, bis zur Verknüpfung der Moral mit dem Problem des Politischen sei Oakeshott nicht vorgedrungen; diese Frage werden wir noch von anderer Seite zu beleuchten versuchen. Einen scharfen Angriff auf Oakeshott hat / . M. Brown gerichtet, der diese These, die die Moral vom Souverän abhängig macht, „disastrous" nennt. J. M. Brown, A Note on Professor Oakeshott's Introduction to the Leviathan, in: PolSt 1, 1953, S. 5 3 - 6 4 ; ders., Hobbes, A Rejoinder, ds. 2, 1954, S. 168—172. Vgl. auch die Kritik von Η. Warrender, The Political Philosophy of Hobbes, 1957 (Reprint 1961, 1966), S. 7 5 - 7 8 , sowie Μ. A. Cattaneo, Alcune osservationi sul concetto di giustizia in Hobbes, in: RIFD 39, 1962, S. 8 7 - 9 3 . « A. E. Taylor, The Ethical Doctrine of Hobbes, in: Phil. 13, 1938, S. 4 0 6 - 4 2 4 = Hobbes Studies, ed. Brown, S. 35—55 (mit einer Einleitung von S. Μ. Brown, S. 31 — 34) = Hobbes' Leviathan: Interpretation and Criticism, ed. Β. H. Baumrin, 1969, S. 35—48. — Zu beachten ist aber — darauf weist vor allem Greenleaf hin — daß schon frühere Veröffentlichungen die Wurzeln von Hobbes' Denken in mittelalterlichen Vorbildern gesehen haben. „The ground was well prepared, then, when Taylor published his now well-known p a p e r . " In diesem Zusammenhang wäre vor allem F. Tönnies als eigentlicher Begründer der „Taylor-These" (37) zu nennen. Vgl. dazu Ilting, Einleitung zu Tönnies, Thomas Hobbes, S. 13. Vgl. dort bes. S. 196ff. « AaO. 43 Vgl. Warrender, aaO., S. 213: Es gibt „ t w o systems in Hobbes' theory, a system of motives, and a system of obligations. The system of motives ends with the supreme

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Sie hat auch einen ganz anderen Charakter als man es von dem wissenschaftlichen Ansatz Hobbes' her erwarten sollte: sie ist nicht teleologisch, sondern durchaus (hier vergleicht Taylor Hobbes sogar mit Kantl) deontologisch geprägt. 4 4 Zu dieser Ansicht ist Taylor angesichts einer großen Zahl von Stellen bei Hobbes (in „De cive") gelangt, die sich mit dem Ansatz bei der egoistischen Psychologie des Menschen im Naturstand nicht vereinbaren lassen. Aus ihnen ergebe sich, daß 1. die natürlichen Gesetze imperativen Charakter haben, auch im Naturzustand, wenn auch teilweise nur in f o r o interno, auf jeden Fall aber die Verpflichtung, den Bund zu halten, 2. auch der Souverän „is just as m u c h under a rigid law of moral obligation" 4 5 , nämlich bei aller Freiheit, nach seinem Belieben zu gebieten und verbieten, sich nach dem Wohl der Gemeinschaft zu richten. Dabei ist er zwar keinem Menschen, wohl aber G o t t Rechenschaft schuldig (unter Hinweis auf „De cive", Kap. 13). Zwar schafft er die Unterscheidung zwischen „gerecht" (d.h. dem Gesetz entsprechend) und „unger e c h t " (vom Gesetz verboten), aber die grundlegendere zwischen „ e q u i t y " und „ i n i q u i t y " ist auch ihm vorgegeben. 4 6 3. Das Gesetz der Natur ist ein Befehl, u n d : „I can only make Hobbes' statements consistent with one another b y supposing that he meant quite seriously what he so o f t e n says, that the ,natural law' is the command of God, and to be obeyed because it is God's c o m m a n d . " 4 7 Während nun in den „Elements of L a w " , I, 18,1 4 8 gesagt wird, daß sie diesen Rang dadurch erhalten, daß sie in Befehlen in der Schrift niedergelegt sind, bringt „De cive" 15,4—5 die Unterscheidung zwischen dem natürlichen und dem prophetischen Königreich Gottes; im natürlichen erkennen alle Menschen die göttliche Macht kraft ihrer rationalen Natur an, die allen Menschen gemeinsam ist, während im prophetischen Reich seine Herrschaft über die Erwählten auf einem speziellen Bund ber u h t . Taylor erklärt, daß er nicht imstande sei, diese widersprechenden Aussagen miteinander auszugleichen. Aber: „A certain kind of theism is absolutely necessary t o make the theory w o r k . " 4 9 principle of self-preservation . . . ; the system of obligations ends with the obligation to obey natural law regarded as the will of G o d . " 44 Vgl. den bekannten Satz Taylors: „Hobbes's ethical doctrine proper, disengaged from an egoistic psychology with which it has no logically necessary connection, is a very strict deontology, curiously suggestive, though with interesting differences, of some of the characteristic theses of Kant." Hobbes Studies, S. 37. Für eine naturrechtliche Grundlage bei Hobbes nachdrücklich auch G. Bellussi, Considerazioni sul giusnaturalismo di Thomas Hobbes, in: RIFD 39, 1962, S. 7 1 9 - 7 4 4 . 45 AaO., S. 45. 46 AaO., S. 43. AaO., S. 49. 48 Thomas Hobbes, The Elements of Law, ed. F. Tönnies, 1928, S. 74. 49 Hobbes-Studies, S. 50. 22 Reventlow, Bibelautorität

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Diese Auffassung ist nicht unwidersprochen geblieben. Zunächst haben selbstverständlich alle diejenigen Einspruch erhoben, die eine Doppelgleisigkeit des Denkens bei Hobbes, wie sie Taylor/Warrender voraussetzen 50 , für ausgeschlossen halten. So betont S. M. Brown51, Hobbes habe sich selbst wiederholt klar genug über die Begründung seiner ethischen Theorie aus der menschlichen Natur ausgesprochen, und außerdem sei die TaylorThese, aus verstreuten Äußerungen Hobbes' zusammengestückelt, in sich ganz unzusammenhängend. Fetscher52 fügt die Kritik hinzu, hier werde „durch Uberinterpretation traditioneller Momente der Hobbesschen Lehre deren politische Stoßrichtung in ihr Gegenteil verkehrt". Schwerer wiegt das Bedenken des an sich dem Grundansatz Warrenders folgenden KodalleS3, daß es nicht angehe, „in einer Hobbes-Interpretation die Rolle moralischer und politischer Verpflichtung des Individuums in extenso zu analysieren und dabei den geschichtlichen . . . Horizont Hobbes' und seiner Zeit in dem Maße auszuklammern, wie das bei Warrender geschieht". 5 4 Schließlich hat man auch gefragt, wie denn die einhellige Ablehnung Hobbes' durch seine Zeitgenossen zu erklären sei, wenn er sich im Grunde nur auf die weitverbreitete Naturrechtslehre stütze. Im Hinblick auf den folgenden Punkt ist noch eine Bemerkung zu erwähnen, die Warrender nach dem Bericht Greenleafs auf dem Bochumer Hobbes-Kolloquium 1967 gemacht haben soll: wenn er Hobbes als Vertreter der Naturrechtslehre sehe, verbinde er ihn weniger mit der mittelso Vgl. Warrender, aaO., S. 274f.: „there exists a considerable gulf between these laws and the principles upon which Hobbes' natural man is motivated to action." M. Oakeshott, The Moral Life in the Writings of Thomas Hobbes, in: Rationalism in Politics, 1962, S. 2 4 8 - 3 0 0 , S. 287f. (dt. S. 295f.), sucht den Zwiespalt durch die Annahme von zwei verschiedenen Argumentationsebenen bei Hobbes zu erklären: „an explanation . . . , which recognizes Hobbes to have two doctrines, one for the initiated . . . and the other for the ordinary man." — D. P. Gauthier, The Logic of Leviathan, 1969, sucht diesen vermeintlichen Zwiespalt durch den Hinweis auf die eminent praktische Abzweckung der Gedanken Hobbes' zu überwinden, bei der vernünftig = moralisch = praktisch ist, vgl. bes. S. 28f. Seine Schlußfolgerung lautet: „that the Hobbesian .moral' system is nothing more than a system of common, or universal, prudence", aaO., S. 90. Diese Definition ist durchaus treffend, wenn man sie in die später auszuführenden humanistischen Voraussetzungen Hobbes' einordnet. « Hobbes: The Taylor Thesis. In: PhRev 68, 1959, S. 3 0 3 - 3 2 3 = (in zwei Teilen): Hobbes Studies, ed. K. C. Brown, S. 31—34. 57—71 = Hobbes' Leviathan, ed. Baumrin, S. 4 9 - 6 6 . 52

Einleitung zu Leviathan, S. LXXII. AaO., S. 16: „Mit dieser zentralen These Warrenders und ihrer Begründung . . . stimmen wir voll überein." Vgl. auch S. 15: „Warrenders bedeutendes Buch." . 54 AaO., S. 15. Allerdings kommt Kodalle selbst ebenfalls kaum über das an Warrender Kritisierte hinaus. 53

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alterlichen christlichen Tradition als vielmehr mit Stoa und römischem Rechtsdenken. 5 5 Für die Bestimmung des Standortes des Philosophen innerhalb der Denkvoraussetzungen seiner Zeit ist damit ein wichtiger Hinweis gegeben. 5. Denn eine Reihe von Auslegern gehen noch einen Schritt weiter als die Naturrechts-Theoretiker: sie wollen in Hobbes sogar einen ausgesprochen christlich-religiösen Denker sehen. An der Spitze dieser Arbeiten steht im englischen Sprachraum F. C. Hood.56 Für Hood, ist Hobbes ein „religiöser Moralist". 5 7 Am Anfang einer durchlaufenden Exegese des „Leviathan", durch die Hood den bisherigen Interpretationen eine entschiedene Antithese gegenüberzustellen sucht, erscheint als zunächst thetisch hingestellte Ausgangsposition eine Sicht, in der Hobbes als Anhänger einer typisch protestantischen, auf die Bibel gestützten Theologie gezeichnet wird. „Scripture was the only source of Hobbes' moral convictions", lautet hier einer der Kernsätze, der in engem Bezug zu der Einschätzung der persönlichen Religion Hobbes'' als „moralistic rather than devotional" steht. 5 8 In diesen Rahmen fügt sich auch seine politische Theorie: „religion" und „ C o m m o n w e a l t h " gehören im Sinne einer „divine politics" von Anfang an zusammen, denn die natürlichen Gesetze bleiben solange privaten Rückschlüssen überlassen und insofern unverbindlich, bis sie als die in der Schrift überlieferten Gebote Gottes bestätigt werden, und dies geschieht im Bereich der zivilen Pflichten erst durch die in der Konstituierung des Staates begründeten Gesetze. Das Grundproblem der //obfeei-Interpretation: das Verhältnis zwischen seiner mechanistisch gefärbten ,,wissenschaftlich"-induktiven (aber doch fiktiven) Gesellschafts-Konstruktion und den Grundlagen seines moralischen Urteilens beantwortet Hood mit der These, daß Hobbes' auf die Schrift gegründeter Glaube an das göttliche moralische Gesetz seiner „Wissenschaft" sowohl biographisch wie logisch vorausgehe und nach wie vor sein entscheidender Gesamthorizont bleibe, während er nur bestimmte Teilbereiche seines Systems nach den Mustern damals modischer wissenschaftlicher Vorstellungsweisen f o r m t e . 5 9 Auch Hobbes' politische Philosophie ist in den religiösen Horizont hineingestellt; wie Hood aus „Leviathan", Kap. 12, vorträgt, ist im Be-

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Vgl. Greenleaf, aaO., S. 14, Anm. 24. The Divine Politics of Thomas Hobbes. An Interpretation of Leviathan, 1964. 57 AaO., S. 100. — Hobbes erklärt in einer Widmung an Karl II: „Religion is not philosophy, but law." EW VII, S. V. 58 AaO., S. 4. 59 Hood spricht von „the way of the conversion into science of the small part of his religious moral thought susceptible of such conversion", aaO., S. 41. 56

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reich christlichen Staatswesens die Politik ein Teil der Religion. 6 0 Dieses Kapitel 12 des „Leviathan" (das in „De cive" keine Entsprechung hat), ist für Hood überhaupt ein Schlüsselbereich für die enge Beziehung zwischen christlichem Commonwealth und wahrer Religion. 6 1 Für Wissenschaft und Religion gibt es eine gemeinsame Wurzel im Menschen in der Neugier; der Mensch forscht nach den Gründen der Ereignisse in den Anfängen, aber er blickt auch in die Z u k u n f t , und da diese dunkel ist, entsteht aus der Neugier die Furcht. Während die Suche nach der prima causa zu der Erkenntnis des einen Gottes führen könnte, verleitet die Furcht nur zum Aberglauben (dem Glauben an unsichtbare Geister) und Polytheismus. Eine Saat der Religion ist in allen Menschen, aber um nicht diese falschen, sondern echte Früchte hervorzubringen, bedarf sie der Kultur. Diese erfolgte in heidnischen Staaten gemäß den eigenen Erfindungen ihrer Lenker und diente dazu, ihre Untertanen gegenüber den Gesetzen der irdischen Könige gehorsam und für das Zusammenleben tauglich zu machen; insofern ist sie dort nichts weiter als „a part of human politics". Erst im christlichen Staat ist sie, da dessen Herrscher sie gemäß Gottes Gebot und Leitung kultiviert haben, „divine politics" 6 2 ; sie enthält Gebote für die, die sich selbst als Untertanen für das Reich Gottes zur Verfügung gestellt haben. Dies alles ist nichts anderes als eine Wiedergabe des Inhalts von „Leviathan", Kap. 12. Der Unterschied zwischen Hood und früheren Auslegern besteht darin, daß er in diesem Kapitel den eigentlichen Schwerpunkt des staatsphilosophischen Systems Hobbes' als einer „divine politics" findet, während jene diesen Schwerpunkt überall anders, nur nicht gerade hier vermuteten. 6 3 Die Schwierigkeit für Hood gegenüber seinen Kritikern besteht aber nun darin, daß er den Vorrang gerade dieser Lösung gegenüber anderen Lösungsversuchen nicht genügend einleuchtend machen kann, so daß er eher den Eindruck eines allzu schnell harmonisierenden apologetischen Interesses erweckt. 6 4 Kodalle wirft ihm vor, er habe „auf die Frage nach der Notwendigkeit der religiösen substantiellen Wahrheit für die politische Philosophie" und ihre Relevanz „für das immanente Funktionieren des konstruierten

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Hood, aaO., S. 70, zitiert hier insbesondere den lateinischen T e x t , OL III, S. 89: „horum politica pars religionis est." 61 Hood, aaO., S. 6 8 f f . Leviathan, ed. Oakeshott, S. 6 9 f f . ; OL III, S. 8 5 f f . ; ed. Fetscher, S. 8 2 f f . 62 Vgl. auch die vorletzte A n m . 63 Dasselbe Kapitel behandelt später Kodalle, aaO., S. 128ff., unter anderen Aussagen des gleichen Bereiches. 64 Vgl. u.a. Greenleaf, aaO., S. 16; Kodalle, aaO., S. 16ff. - Positiver Willms, in: Der Staat 1967, S. 2 3 0 f f . , und Schmitt, in: Der Staat 1965, S. 5 I f f .

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politischen Systems" keine Antwort gegeben. 6 5 Man kann zwar durchaus bezweifeln, ob diese Frage von Kodalle und anderen überhaupt richtig gestellt ist, aber Hood war auch nicht in der Lage, ihr eine andere Richtung zu geben. Der Grund dafür ist darin zu suchen, daß auch er vom Ansatz her eine werkimmanente Analyse versucht hat und nicht den Schritt getan, der angesichts des Dilemmas der //obfcesforschung allein einen Ausweg zu öffnen verspricht, einen Vergleich der Denkmodelle Hobbes' mit den um ihn herum anzutreffenden Weisen politisch-theologischen Argumentierens im Umkreis des humanistisch geprägten Anglikanismus und Puritanismus. Bestimmte Pauschalaussagen 66 deuten auf das Fehlen ausreichender Vergleichsmaßstäbe hin, die es ermöglichten, den Platz des Philosophen in den Auseinandersetzungen seiner Zeit präziser festzulegen. Andere Deutungen, die ebenfalls die theologische Seite bei Hobbes stärker in den Vordergrund rücken, sind fragmentarischer, weniger anspruchsvoll, damit aber auch im positiven Sinne offener geblieben. Dazu zählen der Aufsatz von W. B. Glover: „God and Thomas Hobbes" 6 7 , aber auch die neueren Veröffentlichungen von Carl Schmitt. 68 Viel Beachtung gefunden hat der „Hobbes-Kristall" im Neudruck des „Begriff des Politischen" 6 9 , den Schmitt selbst als „die Frucht einer lebenslangen Arbeit an dem großen Thema im ganzen und dem Werk des Thomas Hobbes im besonderen" bezeichnet und durch den er vor allem ausdrücken möchte, daß das „vielbewunderte System des Thomas Hobbes" „eine Tür zur Transzendenz o f f e n " läßt. 7 0 Doch bleibt es bei diesen Andeutungen, und das Ganze endet in einer offenen Frage. 7 1 «5 Kodalle,

aaO., S. 18f.

66

So z.B. S. 13: „Hobbes' morality is traditional and Christian. His Scriptural doctrine of civil obedience is a traditional Christian doctrine . . . " — Daß hier die methodische Schwäche der Arbeit Hoods zu suchen ist, hat Q. Skinner, Review Article, in: HistJ 7, 1964, S. 3 2 1 - 3 3 3 , S. 3 3 0 , richtig erkannt: „It can be shown that historical and exegetical consistency cannot fairly be regarded as separate issues." Er selbst denkt dabei allerdings nur an die Verbindung mit der „discussion about the more general state of ethical and political thinking of the time", aaO., S. 331, und nicht an die zeitgenössische Theologie. « ChH 29, 1960, S. 2 7 5 - 2 9 7 = Hobbes Studies, ed. Brown, S. 1 4 1 - 1 6 8 ; vgl. auch ders., Human Nature and the State in Hobbes, in: JHP 4, 1966, S. 2 9 3 - 3 1 1 . 68 Besonders: Die vollendete Reformation, ein schon durch den Titel seinen Blickpunkt verratender Literaturbericht. Zu Schmitts älterer //ofebei-Deutung vgl. M. Jänicke, Die abgründige Wissenschaft v o m Leviathan, in: ZPol NS 16, 1969, S. 4 0 1 — 415. «9 Text von 1 9 3 2 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 1963, S. 122. 70 AaO., S. 121. 71 Zur Kritik vgl. auch Kodalle, aaO., S. 19f. — Auf der anderen Seite kann Gauthier nach wie vor die Ansicht vertreten, daß „the material content of Hobbes' moral and

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Einen beachtlichen Schritt weiter 7 2 geht B. Willms in seinem Buch: „Die Antwort des Leviathan", in dem er den wichtigen Stellenwert des theologischen Bereichs im Gesamtsystem von Hobbes' politischer Philosophie klar erkennt und ihn deshalb ausführlich untersucht. 7 3 Im Rahmen seiner zentralen These, das Denken Hobbes' „als Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft in der Aktualität der Situation zu erklären" 7 4 , versteht er dessen theologische Dimension als „Aktualisierung des Christlichen als historischer Faktizität" 7 5 : im Zusammenhang seiner Absicht, eine Friedensordnung theoretisch zu begründen, löst Hobbes das systematische Grundproblem seines Ansatzes, die normative Verbindlichkeit für das ethische Fundament friedenserhaltenden Handelns in der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung nachzuweisen, mit dem Rückgriff auf das Christentum als eine aus der Geschichte heraus existierende Vorfindlichkeit. 7 6 Im Falle des Christentums war — im Unterschied zu sonstiger, nicht autorisierter Religion — eine normative Überlieferung vorhanden, die „einfach historische Realität war, deren Anerkennung nicht von der Möglichkeit rationaler Deduktion abhängig war, d.h., daß sie geglaubt wurde" und insofern „eine Dimension historischer Kontinuität" bildete, auf die Hobbes („Hobbes war Christ") zurückgreifen konnte. 7 7 Gegenüber allen Deutungen, die den theologischen Argumentationsbereich aus Hobbes eigentlichem System ausklammern wollen, kann Willms auf dessen festen Platz im Ganzen verweisen: „In dem Entwurf des christlichen Commonwealth ist das Christentum als eben diese normative Substanz der Herkunftswelt mit der abstrakten Souveränität, die die neue Zeit erforderlich machte, zusammengedacht worden: ohne die politische Theologie ist also Hobbes' Denken stets zu kurz interpretiert." 7 8 Der im Alten Testament begründete, im Christentum fortgesetzte Bund Gottes mit seinem Volk ist allerdings in seiner Vernünftigkeit nicht demonstrierbar; insofern findet Willms hier tatsächlich, mit dem „Einbruch des Geschichtlichen in der Theorie", den Ansatz für jenen „Methodendualismus" bei Hobbes, von dem in der Forschung so o f t die Rede war. 7 9 political theory is independent of any theistic suppositions" und im Grundsatz völlig säkular (Gauthier, aaO., S. 2 0 4 f . ) , wohl aber o f f e n für das Einbringen theistischer Vorstellungen, die diesen Grundcharakter nicht tangieren. Der Grund wäre dann rein apologetischer Natur: „Christianity is important for Hobbes only in so far as it must be reconciled with his views", aaO., S. 187, A n m . 1. 72

Aber auch in Abgrenzung gegen Schmitt, vgl. Antwort, S. 177. 73 AaO., S. 176, 2 1 5 . 74 AaO., S. 31. 75 AaO., S. 179. 76 „Insofern es in seiner Situation faktisch lebendig war", aaO., S. 178. 77 AaO., S. 184. 78 AaO., S. 2 0 9 . » AaO., S. 183f.

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Eben dieses Stichwort: „Methodendualismus" deutet allerdings auch die Stelle an, wo die Interpretation von Willms die Konsequenz vermissen läßt und deshalb in den früheren Interpretationsstand zurückfällt. Gegen Schmitt spricht Willms seine Überzeugung aus, ,,daß Hobbes' Denken als Ganzes nicht als das eines Theologen zu qualifizieren sei". 8 0 Trotz des „Festhaltens an der christlichen Bestimmtheit von Herkunft und Z u k u n f t " ist das eigentliche politische System Hobbes' das eines „neuzeitlichen Denkers" und von der Notwendigkeit bestimmt, „die Gegenwart als einen Zustand zu erfassen, der durch die Abwesenheit Gottes charakterisiert ist". 8 1 So erscheint denn, wie Kodalle richtig bemerkt 8 2 , die Vermittlung mit der theologisch bestimmten „Herkunftswelt" trotz allem als ein Nachtrag zu dem auch hier werkimmanent interpretierten System. Die eigentliche Ursache für diese Schwäche liegt allerdings tiefer: sie ist von dem Bild bestimmt, das Willms von Charakter und Aufgaben eines Theologen hat 8 3 : dieses Bild ist typisch von der Gegenwart her gedacht und entbehrt der historischen Perspektive. Für einen humanistischen Theologen des 17. Jahrhunderts, dem Staat und Kirche noch eine Einheit sind, gilt keineswegs eine solche professionelle Einschränkung auf einen im engeren Sinne „theologischen" Bereich; zwar ist Hobbes tatsächlich kein Berufstheologe, aber seinem Denken ist Theologie wie damals selbstverständlich inhärent. Sieht man ihn im Zusammenhang der Theologiegeschichte seiner Zeit, wird dies sehr schnell deutlich. Unter der gleichen Schwäche leidet im Grunde auch der letzte größere Versuch, Hobbes'' System vor dem Hintergrund seiner theologischen Gedankenwelt aufzuhellen, die schon erwähnte Arbeit von Kodalle. 84 Dieses Werk gibt in eingehender Exegese eine große Zahl von Äußerungen Hobbes' zur theologischen Thematik wieder und unterstreicht dadurch deren zentrale Bedeutung für sein gesamtes Denken. Dennoch ist das Verfahren irreführend, da an Hobbes Maßstäbe herangetragen werden, die von einem 80

AaO., S. 177. AaO., S. 79. 82 K.M. Kodalle, Carl Schmitt und die neueste Hobbes-Literatur, in: PhR 18, 1972, S. 1 1 6 - 1 3 0 , S. 126. 83 „Aber der Theologe befaßt sich entweder nur mit spezifischen Gegenständen, von der Exegese spezifischer Texte bis zu dem Problem pastoraler Praxis, oder er befaßt sich mit beliebigen Gegenständen spezifisch theologisch, d.h. von bestimmten theologisch-kirchlichen Zwecken her oder nur einfach als Aufbereitung beliebiger Gegenstände für die seinem Anspruch entgegenkommenden Bevölkerungsteile . . . " Hobbes' Ansatz ist dagegen „scientifisch-physikalisch in philosophischer Intention, nicht von Transzendenz her gedacht, sondern immanent", aaO., S. 177f. 1972. 81

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für ihn nicht zutreffenden Begriff von Theologie ausgehen. Kodalle will seine Analyse in der Weise ansetzen, daß an Hobbes „Fragen gestellt (werden), die er sich selbst in dieser explizierten Form nicht vorgelegt hat, vielleicht sich so nicht einmal vorlegen konnte, für die aber dennoch in seiner Philosophie die Antworten vermutet werden. Ein solcher Versuch wird notgedrungen die Akzente und Prioritäten im Hobbesschen Gedankensystem anders setzen müssen als Thomas Hobbes selbst." 8 5 Vielfach werden aber gerade traditionelle Wendungen Hobbes'*6 zu sehr beim Wort genommen und so sein Denken geradezu im reformatorischen Sinne gedeutet, was ohne Frage eine Verzeichnung ist. Der Haupteinwand muß auch hier lauten, daß Hobbes zu wenig im Zusammenhang seines „Sitzes im Leben" verstanden ist. 8 7 Seine eigenständige Position kann sich nicht anders als im Gegenüber zu den Stimmen seiner Zeitgenossen erweisen, die zu der gleichen, damals zentralen Thematik des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche Stellung genommen haben. 6. Vieles im Ansatz Hobbes' ist in einem spezifischeren Sinne traditionell, als das der werkimmanenten Interpretation bisher erkennbar geworden ist. Man kann dafür sogar biographische Anhaltspunkte finden, denn der Hinweis bei Hood auf Hobbes' Berührung mit dem Oxforder Puritanertum während seiner Zugehörigkeit zu Magdalen Hall 8 8 erinnert an manche ähnliche Lebensläufe der Zeit. Der auch im Puritanertum verbreitete moralische Rationalismus ist denn auch die für Hobbes maßgebliche Denkform; Hoods Charakterisierung des Philosophen als „religiöser Moralist" 8 9 ist durchaus zutreffend. Allerdings wäre es abwegig, Hobbes unter die Puritaner einreihen zu wollen; sucht man eine Zuordnung zu den kirchenpolitischen Parteien der Zeit, gehört er vielmehr eindeutig zu der Gruppe der „Angli-

85

AaO., S. 13. Das gilt z.B. für Leviathan, Kap. 43, Kodalle, aaO., S. 63. 87 Ein Ansatz ist der Exkurs über den Bundesgedanken, S. 70ff. — Mein früheres Urteil über Hobbes in diesem Punkt: Das Arsenal der Bibelkritik des Reimarus, in: Hermann Samuel Reimarus (1694—1768) ein „bekannter Unbekannter" der Aufklärung, 1973, S. 4 4 - 6 5 , Anm. 27, auf S. 60, muß ich zurücknehmen. 88 Hood, aaO., S. 3. Ausführlicher zu dem Aufenthalt Hobbes' in Oxford W. Förster, Thomas Hobbes und der Puritanismus, 1969, S. 30ff. 89 S.o. S. 339, Anm. 57. Glover, Human Nature, S. 294, weist mit Recht auf den doppelten Traditionshintergrund hin, dem Hobbes wie alle anglikanischen Denker verpflichtet war: „Hobbes . . . is caught between two ultimately irreconcilable traditions: the classic tradition with its emphasis on the unchanging order which is the basis for understanding all flux and change; and the Biblical tradition with its emphasis on freedom, will and the dynamic quality of a world over which a living and acting God is sovereign." 86

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kaner". 9 0 Biographisch deutet darauf schon die Tatsache, daß Hobbes unter den häufigen Besuchern auf Great Tew erscheint; außerdem ließen sich die äußeren Zeugnisse aus seinen eigenen Worten für seine Einstellung finden. So hat er z.B. in seinem eigenhändigen Lebenslauf seine Anhängerschaft an die Lehre der anglikanischen Kirche und die bischöfliche Leitung derselben ausdrücklich betont. 9 1 Eine solche Aussage könnte immerhin als bloße Schutzbehauptung abgetan werden 9 2 , wenn nicht Hobbes' zentrales Anliegen, die Notwendigkeit des absoluten königlichen Supremats über Staat und Kirche nachzuweisen 9 3 , genau mit den Interessen der Partei Lauds und seiner Anhänger in Einklang wäre. (Wir werden auch noch auf weitere ganz eindeutige anglikanische Äußerungen stoßen.) Auch das Ziel, auf diese Weise den Frieden in beiden Bereichen zu sichern, stimmt ganz mit Lauds Bestrebungen überein, nur daß Hobbes von seiner am Anfang der dreißiger Jahre in Paris gewonnenen Anteilnahme an den neuen naturwissenschaftlichen Methoden her den Versuch unternimmt, die Notwendigkeit einer absolutistischen Lenkung des Zusammenlebens der Menschen von einem anthropologischen Ansatz aus nachzuweisen. Die werkimmanente Interpretation war gewöhnlich von dieser Methodik gebannt, wie ja auch die Zeitgenossen (nicht der Periode Lauds, sondern späterer Jahrzehnte, in der sich die Situation in vielem schon gewandelt hatte) Hobbes nicht mehr verstanden haben. Tatsächlich besteht aber die größte Nähe zwischen einer Reihe von charakteristischen Denkweisen Hobbes' und dem anglikanischen Rationalismus der ersten Jahrhunderthälfte. Dies wird besonders an einem Vergleich mit Chiliingworth deutlich. 9 4 Mit Chiliingworth hat Hobbes eine ganze Anzahl gemeinsamer Grundauffassungen: Da ist einmal der Rückgriff auf die Bibel als Richtschnur der 90

In dem o. S. 249, Anm. 1, definierten Sinne. — A m klarsten gesehen hat die Zusammenhänge P. Doyle, The Contemporary Background of Hobbes' „State of Nature", in: Economica 7, 1 9 2 7 , S. 336—355, auch wenn sie mit ihrer Beschränkung auf den „Naturzustand" bei Hobbes und der Einstufung seiner Charakterisierung als „calvinistisch" nur einen Teilaspekt wahrnimmt und deshalb die anglikanische Grundstruktur seines Ansatzes nicht erkennt. 91 „ . . . cavit, ne quid scriberet, n o n m o d o contra sensum Scripturae Sacrae, sed etiam contra doctrinam Ecclesiae Anglicanae, qualis ante bellum ortum authoritate regia constituta fuerat. Nam et ipse regimen Ecclesiae per episcopos prae caeteris formis omnibus semper approbaverat." Vita, OL I, S. XVI. 92 So in der Tat Braun, aaO., S. 35. 93 Er schreibt in der gleichen Vita über den Leviathan: „In e o opere J u s Regium, tum spirituale tum temporale, ita demonstravit, tum rationibus tum authoritate Scripturae Sacrae, ut perspicuum fecerit, pacem in orbe Christiano nusquam diuturnam esse posse, nisi vel doctrina ilia sua recepta fuerit, vel satis magnus exercitus cives ad concordiam compulerit." OL I, S. X V f . *» Vgl. o. S. 2 4 9 f f .

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gottgewollten Lebensregeln, nach denen sich das ethisch orientierte Dasein der Christen zu gestalten hat. Damit ist freilich erst eine fast allen theologischen Richtungen im protestantischen Raum Englands damals selbstverständliche Anschauung genannt. Spezieller ist die Berührung zwischen beiden Denkern in der vor allen Antworten im einzelnen stehenden grundlegenden Frage nach der über die Verbindlichkeit der Lehren der Schrift entscheidenden Autorität, nach dem bei Hobbes so häufigen: „Quis interpretabitur?", „Quis j u d i c a b i t ? " 9 5 , das Chiliingworth zeitweilig in die Arme der römischen Kirche trieb, ihn dann aber die Lösung bei der Vern u n f t des kritischen Bibellesers selbst suchen ließ, während Hobbes die äußere Auslegungskompetenz über den Gotteswillen an die der römischen Lehrautorität analoge, mit ihr im frühen 17. Jahrhundert tödlich konkurrierende Entscheidungsgewalt des nationalen Souveräns verwies. Im übrigen aber glauben beide, Hobbes in eigentümlich abgestufter Weise zwischen seinen beiden Lebensbereichen des (fiktiven) Urstandes und des christlichen Commonwealth hindurchschreitend, an den rationalen Charakter und ethischen Bezug des Glaubens, zu dem auch die Entscheidung des Souveräns nicht in Widerspruch treten kann, die vielmehr eine dem Frieden dienende funktionale äußere Uniformität herstellt. Die Gemeinsamkeit geht noch weiter: wenn bei Hobbes als das Grundbekenntnis die Aussage erscheint, „that Jesus is the Christ" 9 5 — worin Schmitt den Schlußstein im gesamten inneren Aufbau seines staatspolitischen Systems sehen möchte 9 7 — so findet sich hier die gleiche Reduktion des Glaubensinhaltes auf eine Minimalaussage als Inhalt eines für alle tragbaren Konsensus, wie das auch bei Chiliingworth in einer ganz entsprechenden Äußerung sichtbar wurde. 9 8 Daß auch für Hobbes die humanistische fundamentalia — Lehre dafür den Maßstab abgibt, zeigt der am Anfang von Kap. 43 des „Leviathan" stehende Appell an „those that can distinguish between what is necessary, and what is not necessary for their reception into the kingdom of G o d " , die durch die absolutistische Entscheidungsgewalt des Souveräns 95

Vgl. dazu u.a. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 122, und in: Der Staat 1965, S. 64ff. 96 Leviathan, ed. Oaheshott, S. 388ff.; ed. Fetscher, S. 450ff., u.ö. Vgl. bes. aaO., S. 388/450: „The unum necessarium, only article of faith, which the Scripture maketh simply necessary to salvation, is this, that JESUS IS THE CHRIST. By the name of Christ is understood the king, which God had before promised by the prophets of the Old Testament, to send into the world." Das Stichwort „König" zeigt die Verbindung zum königstypologischen Gesamtansatz bei Hobbes. Vgl. auch De homine, Kap. 18, OL II, S. 422; ed. Gawlick, S. 316; De Cive, Kap. 18, OL II, S. 424ff.; ed. Gawlick, S. 320ff. 97 Der Begriff des Politischen, S. 122; vgl. auch in: Der Staat 1965, S. 62. 98 S. 254, Anm. 28.

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in allen übrigen Punkten nicht in Gewissenskonflikt geraten k ö n n e n . " Was heilsnotwendig ist, wird gleich darauf noch näher gesagt: ,,faith in Christ, and obedience to laws". Aufschlußreich für die innerste Haltung Hobbes' sind die Erläuterungen, die er an diese Doppelaussage anschließt: Eigentlich würde der Gehorsam, wenn er nur vollkommen sein könnte, allein genügen; lediglich die Erbsünde, und die Tatsache persönlicher Übertretungen, machen eine Vergebung vergangener Sünden notwendig; diese wird als Belohnung für den Glauben an Christus zuteil. 1 0 0 Wir sehen hier, wie die Aussagen der orthodoxen Dogmatik, ähnlich wie das bei anderen Vertretern des rationalen Anglikanertums der Fall ist, formal durchaus beibehalten werden, z.B. die Notwendigkeit der Sündenvergebung, und auch, daß diese um Christi willen geschieht, wie diese aber gleichzeitig in einen anderen Kontext gestellt werden: Gehorsam ist nötig „für den Rest unserer Zeit", und Vergebung ist Belohnung für den Glauben, der so ebenfalls als Verdienst erscheint. Auch in den anschließenden Ausführungen Hobbes' werden wir sofort wieder an Chiliingworth erinnert 1 0 1 : Der von Gott geforderte Gehorsam, bei dem Gott den Willen für die Tat gelten läßt, ist ein ernsthaftes Bemühen, ihm zu gehorchen. Wer immer aufrichtig wünscht, die Gebote Gottes zu erfüllen, oder seine Sünden ernsthaft bereut, hat all den Gehorsam, der für die Aufnahme in das Reich Gottes notwendig ist. 1 0 2 Nur so, in der These, daß Gott gewissermaßen ein Auge zudrückt, ist für den „religiösen Moralisten" Hobbes, 99 Leviathan, ed. Oakeshott, S. 384; ed. Fetscher, S. 446. Interessant ist, daß in der Erläuterung, die Hobbes in De homine für diesen Satz gibt, seine Entfaltung in den Aussagen des Apostolikums angedeutet wird, OL II, S. 421f., Anm.; ed. Gawlick, S. 316f., Anm., ähnlich wie auch Chillingworth das Apostolikum im Auge zu haben scheint. Das Verständnis des Satzes im Sinne einer konsequenten Eschatologie in Leviathan, Kap. 42: „that J esus was the Christ, that is to say, the king that was to save them, and reign over them eternally in the world to come", ed. Oakeshott, S. 338; ed. Fetscher, S. 393f. 100 „All that is Necessary to salvation, is contained in two virtues, faith in Christ, and obedience to laws. The latter of these, if it were perfect, were enough to us. But because we are all guilty of disobedience to God's law, not only originally in Adam, but also actually by our own transgressions, there is required at our hands now, not only obedience for the rest of our time, but also a remission of sins for the time past; which remission is the reward of our faith in Christ." 101 Vgl. ο. S. 253, Anm. 24. 102 „The obedience required at our hands by God . . . is a serious endeavour to obey him . . . Whosoever therefore unfeignedly desireth to fulfil the commandments of God, or repenteth him truly of his transgressions . . . hath all the obedience necessary to his reception into the kingdom of G o d . " Leviathan, ed. Oakeshott, S. 385; ed. Fetscher, S. 447; vgl. S. 394/457. Vgl. auch die ähnlichen Aussagen in De homine, Kap. 18; OL II, S. 416; ed. Gawlick, S. 312. Die Deutung Kodalles, aaO., S. 63, der hier eine echte Wiedergabe des „sola f i d e " der Reformation sehen will, wird dem Tenor dieser Aussage nicht gerecht.

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der mit der reformatorischen Annahme des Sünders nicht mehr rechnet, mit dem Problem fertig zu werden: „For if God should require perfect innocence, there could no flesh be saved." 1 0 3 Hobbes' Beziehungen zu den Rationalisten unter seinen Zeitgenossen lassen sich auch noch auf anderen Gebieten nachweisen. Für seine Ansichten über die Religion scheint auch seine Bekanntschaft mit Herbert von Cherbury, dessen Buch er nach eigenem Zeugnis sehr geschätzt h a t 1 0 4 , nicht ohne Bedeutung gewesen zu sein. In dem schon erwähnten Kapitel 12 des „Leviathan", in dem er sich über die Ursprünge der Religion ausspricht, und diese aus Wißbegierde nach den Ursachen der Dinge und Angst der Menschen im Naturzustand ableitet, finden sich Überlegungen über die Entstehung des Aberglaubens und des Polytheismus, wie sie Herbert in ganz ähnlicher Weise hätte formulieren können; auch die Thesen vom Priesterbetrug kehren wieder, nur hier entsprechend dem besonderen Anliegen Hobbes', die Begründung der heidnischen und christlichen Staaten zu erklären, teilweise auf die heidnischen Machthaber übertragen, in denen er die „Urheber" der heidnischen Religionen sieht, wobei gegen Ende des Kapitels die Vorwürfe sich mehr und mehr gegen die „Widerwärtigkeit der Priester" selbst richten. 1 0 5 Eine der großen Schwächen der bisherigen ifofc&esforschung besteht auch darin, daß sie den Bereich der antirömischen Polemik bei Hobbes so gut wie gar nicht beachtet, auf jeden Fall in ihrem Hinweischarakter für die Gesamttendenz des „Leviathan" nicht erkannt hat. 1 0 6 Dabei nimmt die Auseinandersetzung mit der Schrift des Kardinals Bellarmin: „De summo pontifice" (1586) im 42. Kapitel einen breiten Raum ein, das auf diese Weise sogar zu dem weitaus längsten des gesamten Buches geworden ist. Mit dieser Frontstellung reiht sich Hobbes in eine, wie wir gesehen haben, bei zahlreichen Zeitgenossen durchlaufende Thematik ein, denn die Furcht vor einer 103

Ebendort. ίο» Vg[_ dazu Tönnies, Thomas Hobbes, S. 6. 16. 105 Hobbes schließt das Kapitel mit dem Satz: „So that I may attribute all the changes of religion in the world, to one and the same cause; and that is, unpleasing priests; and those not only amongst Catholicks, but even in that church that hath presumed most of reformation." Leviathan, ed. Oakeshott, S. 79f.; ed. Fetscher, S. 93. Gemeint sind auch hier ausdrücklich nicht die Heidenpriester, sondern die christlichen, Katholiken und vor allem Presbyterianer! — Zur Polemik gegen die katholischen Kleriker vgl. auch den Schluß von Kap. 47 mit seinem vielfachen Vergleich zwischen „ecclesiastics" und den Gespenstern; ed. Oakeshott, S. 457; ed. Fetscher, S. 531ff. 106 Eine Ausnahme macht Carl Schmitt mit seinen wichtigen Notizen über das Gegenüber zwischen der Staatslehre Hobbes' und der monistischen Corpus-Lehre des Johannes von Salisbury mit dem papalistischen Anspruch auf die potestas indirecta, in: Der Staat 1965, S. 63ff.

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Rekatholisierung und die Abwehr entsprechender päpstlicher Ansprüche war ein beherrschender Gesprächsgegenstand der Zeit. Beachtlich ist allerdings der Ton dieser Diskussion, der sich von manchem Gewohnten durch seine Nüchternheit abhebt. 1 0 7 Entscheidend ist aber nicht die Sprache, sondern die Folgerichtigkeit, mit der sich die Ablehnung des päpstlichen Suprematsanspruches in das Hauptanliegen Hobbes' einfügt: den Nachweis der königlichen Souveränität über Staat und Kirche Englands. Dieses eigentliche Anliegen läßt sich tatsächlich nur vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit dem Katholizismus verstehen, im Rahmen des Kampfes der Nationalkirche gegen die Universalkirche, wie er von Heinrich VIII eröffnet und unter seinen Nachfolgern fortgeführt wurde. Eine der Hauptursachen für die vielen Mißverständnisse in der HobbesioTschung liegt darin begründet, daß die modernen Ausleger nichts mehr von der bis weit in das 17. Jahrhundert hinein fortlebenden Einheitsvorstellung von Kirche und Staat wissen, die, wie wir gesehen haben, bei den meisten Parteien der englischen Kirche unangefochten die Voraussetzung für alle noch so gegensätzlichen Bestrebungen bildete, dieser staatlich-kirchlichen Lebenswelt diese oder jene Gestalt zu geben. Bucers >rDe regno Christi" steht am Anfang dieser Entwicklung 1 0 8 , und Hobbes' Monismus an ihrem Ende. 1 0 9 Die Reformation hatte an dieser Struktur des mittelalterlichen corpus Christianum grundsätzlich nichts geändert; 1 1 0 lediglich das Territorialprinzip bedeutete eine Eingrenzung des Geltungsbereichs der jetzt dem jeweiligen Monarchen zufallenden Souveränität. Die Auseinandersetzungen zwischen der universalen Papstkirche und der englischen Nationalkirche bewegten sich insofern noch auf dem Boden einer weitgehenden Gemeinsamkeit bestimmter Grundvoraussetzungen. Eine prinzipielle Infragestellung dieser erfolgte zunächst nur von einer einzigen Seite: dem kongregationalistischen Separatismus Robert Brownes und seiner Nachfolger. Diese Position mit ihren spiritualistischen Voraussetzungen sollte allerdings im Laufe des Jahrhunderts eine immer größere Bedeutung erlangen. So ist es dann nur konsequent, daß Hobbes die Separatisten als seine Hauptgegner als „Reich der 107 Kodalle, aaO., S. 9 9 , Anm. 27, weist darauf hin, daß Hobbes es sogar für rechtmäßig erklärt, wenn christliche Souveräne die Herrschaft über ihre Untertanen in Dingen der Religion dem Papst übertragen — wobei sie dies freilich nach freien Stücken tun. Leviathan, ed. Oakeshott, S. 3 6 0 ; ed. Fetscher, S. 4 1 8 . •ο» S.o. S. 155ff. 109 De cive, Kap. 17,21, sagt Hobbes ausdrücklich: „Aus dem Bisherigen ergibt sich als notwendige Folge, daß ein Staat christlicher Menschen und eine Kirche durchaus ein und dasselbe ist, das nur aus zweifachen Ursachen zweifach benannt wird." V o m Bürger, ed. Gawlick, S. 2 9 4 ; OL II, S. 3 9 7 . 110 Vgl. dazu He ekel, Cura religionis . . .

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Finsternis" bekämpft, deren zentrale Irrlehre darin bestehe, ,,daß das in der Schrift so oft erwähnte Reich Gottes die gegenwärtige Kirche oder die Gesamtheit der nun lebenden Christen sei". 1 1 1 Das Bemühen Hobbes', die Autorität des Souveräns in allen öffentlichen Angelegenheiten von Staat und Kirche theoretisch zu begründen, ist keineswegs ein isolierter Vorgang, wie es die communis opinio ansieht, sondern steht in einer breiten Tradition insbesondere der anglikanischen Richtung innerhalb der englischen Kirche. Auch hier kommt wieder Carl Schmitt das Verdienst zu, auf die deutschen Theologen Wolfgang Musculus und Thomas Erastus hingewiesen zu haben 1 1 2 , wozu dann an die oben 1 1 3 erwähnten Schweizer Einflüsse auf die englische Theologie zu erinnern wäre. 1 1 4 Unmittelbarere Vorgänger im Räume eines anglikanischen „Erastianismus" wären aber Männer wie Overall und Bischof Andrewes.115 Damit ist nun keineswegs gesagt, daß Hobbes unbedingt und zu allen Zeiten Royalist gewesen sein muß. Auch die Independenten waren, wie wir sahen, Anhänger des Staatskirchentums, und von Hobbes ist bekannt, daß er zur Zeit der Herrschaft Cromwelh dessen System durchaus unterstützte, wie er ja bereits 1650 aus dem französischen Exil nach England zurückkehrte. 116 Bei der grundsätzlichen Übereinstimmung in den theoretischen Grundanliegen stand einer solchen Rückkehr und auch der Veröffentlichung seiner Schriften in England nichts im Wege. Konkret-politisch konnte sich Hobbes durchaus zurückhalten und meinte ja auch, in seinem System einen Weg aufgezeigt zu haben, der dem Frieden auf dem Boden eines allgemeinen Minimalkonsensus dienen könne. Nach der Restauration konnte er die konkrete Verwirklichung seiner Ziele durchaus auch von der wiedererrichteten Monarchie erhoffen, so daß bei seiner dann vorgenommenen Schwenkung 1 1 7 durchaus nicht Heuchelei vorausgesetzt werden muß. Hobbes fühlte 111

Leviathan, ed. Fetscher, S. 464; ed. Oakeshott, S. 398. 112 In: Der Staat 1965, S. 57. 113 S. 172. 114 Wichtig ist auch der Hinweis auf den „manieristischen Ordnungsversuch" der Politiques in Frankreich, der auf Hobbes eingewirkt haben kann, bei R. Schnur, Individualismus und Absolutismus, 1963, S. 56ff. us Vgl. o. S. 237ff. 245ff. - Q. Skinner, The Ideological Context, S. 308ff., hat außerdem auf Anthony Ascham als einen Vertreter typisch hobbesianischer Staatsauffassungen hingewiesen; vgl. auch ders., History and Ideology in the English Revolution, ds. 8, 1965, S. 151 — 178, bes. S. 163, u. Anm. Seine eigene Interpretation geht allerdings in die traditionelle Richtung; vgl. auch o. S. 341, Anm. 66. 116 Über Hobbes' Verhältnis zu Cromwell und zu den Independenten vgl. J. Lips, Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution, 1927 (Neudruck 1970), S. 82ff. 117 Vgl. Lips, aaO., S. 92ff.

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sich ja vor allem in dem Sinne als Philosoph, daß er sich aus dem Tagesstreit heraushalten und statt dessen ein objektives System auf „wissenschaftlicher" Grundlage entwickeln wollte, an dem sich seiner Meinung nach ein jeweiliger Souverän bei seinen Entscheidungen messen konnte. Die oben erwähnte Äußerung, daß ein christlicher Herrscher wohl auch dem Papst, wenn er es für richtig halte, die Oberhoheit in Religionsangelegenheiten über seine Untertanen übertragen könne (die dann aber diesem nicht kraft eigenen Rechts, sondern nur kraft dieser Rechtsverleihung zustehe), ist ein Zeichen für dieses Bestreben nach realitätsnaher Allgemeingültigkeit. Im übrigen gilt, was Carl Schmitt so trefflich gesagt hat: daß seine wissenschaftliche Leistung ,,ganz in die philosophia practica" gehöre 1 1 8 ; er fühlte mindestens ebenso unmittelbar wie Milton in den Auseinandersetzungen seiner Zeit mit, nahm jedoch aufgrund seines gänzlich unterschiedlichen Temperaments in einer völlig anderen, philosophisch distanzierten Weise zu ihnen Stellung. 7. Die Verwendung der Schrift bei Hobbes — und es ist bekannt, einen wie breiten Raum die Bibelexegese bei Hobbes einnimmt, ebenso groß ist aber auch die Verlegenheit der meisten modernen Hobbesdeuter gegenüber diesem Tatbestand — erklärt sich ganz von seinen Zielen und seiner Zeit entsprechenden Denkvoraussetzungen her. Um sie verstehen zu können, muß man über eine immanente Deutung, wie sie noch bei Kodalle versucht wird, einen Schritt hinausgehen und darf vor allem die hermeneutischen Prinzipien der anglikanischen Schrifttypologie, wie sie uns an einer Reihe von Beispielen begegnet sind, nicht außer acht lassen. Erst von der eusebianischen Tradition der Typologie her 1 1 9 werden die ausführlichen Schriftbeweise, die Hobbes für seine Staatstheorie liefert, sinnvoll. 120 Diese Voraussetzung muß man um so mehr im Auge behalten, als der typologische Bezug von Hobbes selbst nicht expressis verbis genannt wird; er konnte davon ausgehen, daß die Denkweise seinen Zeitgenossen (im Gegensatz zu den modernen Auslegern) geläufig war. Dies vorausgesetzt, kann man auch in den Kapiteln, in denen Hobbes seinen Schriftbeweis für die umfassenden Rechte des Souveräns in Religionsangelegenheiten führt, einen folgerichtigen Gedankengang „more geometrico" feststellen. Der Kern der Beweisführung ist dabei von „De cive" zum „Levia118

In: Der Staat 1965, S. 64. Mangelnde Vertrautheit mit dem typologischen Denken bringt Kodalle zu seiner sachfremden Kritik an Hobbes, aaO., S. 78. 120 Von dieser Voraussetzung her wird der Satz von B. Willms mißverständlich: „aus einer religiösen Überzeugung als solcher ist für Hobbes keine Herrschaft mehr legitimierbar", Antwort, S. 72. 119

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than" gleich geblieben, auch wenn das Argumentationsmaterial in letzterem Werk erheblich angeschwollen ist. In „De cive" handelt es sich um die Kapitel 16 und 17. 121 Kap. 16 gibt einen Abriß der Religionsgeschichte Israels. Mit Abraham läßt Hobbes im Unterschied zum Götzendienst der meisten Völker den wahren Gottesdienst beginnen. Durch eine übernatürliche Offenbarung (die an dieser Stelle in Hobbes' System einen festen Platz einnimmt — es ist also widersinnig, ihn als einen Atheisten anzusehen) 1 2 2 ist Gott mit Abraham in Verbindung getreten und hat mit ihm einen Vertrag (den Alten Bund) geschlossen. 123 Dieser Vertrag enthält nach Gen. 17,7. 8 auf seiten Gottes die Zusage, Abraham die Erbschaft des Landes zu geben, wogegen sich Abraham verpflichtet, Gott als seinen Herrscher anzuerkennen. 1 2 4 Hobbes erscheint es jedoch wichtig zu betonen, daß Gott dem Abraham bei diesem Vertrag keine besonderen Gesetze neben den schon vorher gültigen natürlichen Gesetzen und dem „von der Vernunft gebotenen Gottesdienst" gegeben habe; die Beschneidung war lediglich ein dem Vertrage selbst beigegebenes Zeichen. Er folgert daraus, daß Abraham der „Ausleger aller Gesetze, sowohl der heiligen wie der weltlichen" gewesen sei und seine Kinder und sein Haus zum Gehorsam gegenüber den von ihm gegebenen Geboten verpflichtet gewesen seien. So erscheint Abraham als der erste von Gott eingesetzte Herrscher mit dem vollen Gesetzgebungsrecht in weltlichen und geistlichen Dingen. Diese Aussage gibt uns einen wertvollen Hinweis, wie wir die typologischen Ausführungen Hobbes' zeitgeschichtlich einordnen können. Bisher wurde im Zusammenhang der Hobbesforschung nicht beachtet, daß Hobbes in dieser 121 OL II, S. 35Iff.; ed. Gawlick, S. 254ff. - Eine knappe, aber recht vollständige Darstellung der Gedanken Hobbes' zur Religion bietet schon R. Peters, aaO., S. 225ff. Sein Urteil: „He was patently not a religious man", aaO., S. 247, verkennt allerdings den rationalistisch-moralischen Typ humanistischer Religion. 122

Kodalle, aaO., S. 70ff., betont stark den Geschenkcharakter des Bundes als heteronomer Bestimmung im Rahmen geschichtlicher Zuwendung Gottes, die dem, an den dies Angebot ergeht, die Chance zu autonomer Freiheit eröffne. Gewiß spielt das von der nominalistischen Gottesauffassung herkommende Schema bei Hobbes eine Rolle; man sollte aber auch erkennen, daß es hier — in dem von Hobbes gewollten Begründungszusammenhang — um die Autonomie des Herrschers geht. Die Verwendung des Bundesgedankens selbst zeigt den Einfluß der Föderaltheologie auf Hobbes, wobei aber wegen deren weiterer Verbreitung an kein bestimmtes Vorbild zu denken ist. 123 Den Vertrag mit Adam und Eva schließt Hobbes als bald wieder ungültig geworden von der Begründung des Reiches Gottes aus. — Zur Bedeutung des Abrahambundes für Hobbes und der Fortführung des Bundesgedankens durch das Alte Testament hindurch vgl. auch Förster, aaO., S. 186ff. 124 Wobei Hobbes den besonderen Glauben im Unterschied zu der Gott schon von Natur geschuldeten Anerkennung dahingehend definiert, daß Abraham Gott speziell als den, der sich ihm offenbart hat, anerkennen sollte.

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Inanspruchnahme der Abrahamsfigur als Herrschergestalt keineswegs allein steht. Etwa gleichzeitig mit seinen Arbeiten ist die zwar erst 1680 von dessen Sohn veröffentlichte und von den damaligen Royalisten als Hauptstütze ihrer Anschauungen gebrauchte Schrift von Sir Robert Filmer (f bereits 1653!), „Patriarcha, or the Natural Power of Kings" 12S, entstanden, mit der sich dann Locke in seinen „Two Treatises of Government" auseinandersetzte. 1 2 6 In dieser Schrift wird die These vertreten, daß die königliche Gewalt schon seit Adam, also von der Schöpfung des Menschen her aus der väterlichen Gewalt herstamme und vor allem von den Patriarchen als Vätern der Familie und späteren Nationen, die seit den Söhnen Noahs die Welt unter sich verteilten, ausgeübt worden sei, so daß die königliche Gewalt von der patriarchalischen durch Sukzession abzuleiten und die These von der ursprünglichen Freiheit der Völker, sich ihre Herrscher selbst zu wählen, abzulehnen sei. Hobbes weicht von Filmer insofern ab, als er bei der exemplarischen Glaubensfigur Abraham einsetzt, das von Filmer gerade abgelehnte Vertragsdenken auf dem Hintergrund der föderaltheologischen Vorstellung vom AbrahamBund hineinnimmt und den typologischen Zug deutlicher durchführt. Der Rückgriff auf die alttestamentlichen Patriarchen als solche zur Begründung der Gewalt des gegenwärtigen englischen Monarchen war ein der Zeit wohlvertrauter Gedanke. Auch das folgende ist schon im Ausblick auf alle späteren Herrscher gesagt: „Hieraus folgt, daß die Untertanen Abrahams, wenn sie ihm gehorchten, nicht sündigen konnten, vorausgesetzt, daß Abraham ihnen nicht gebot, das Dasein oder die Vorsehung Gottes zu leugnen oder etwas zu tun, was ausdrücklich gegen die Ehre Gottes gegangen wäre." 127 Der Herrscher — jeder von Gott eingesetzte Herrscher — hat Vollmacht zur Einsetzung einer auch gegenüber Gott gültigen religiös-sittlichen Ordnung; in der einschränkenden Voraussetzung werden die Punkte angedeutet, die dann Gegenstand der besonderen Schlußerörterung in Kap. 18 von ,,De cive" bilden sollen. Davon abgesehen, ist die sittliche Verantwortung der Untertanen allein auf diese Gebote bezogen. Anschließend verfolgt Hobbes die Reihe der Nachfolger Abrahams, mit denen Gott den Vertrag erneuert: zunächst Isaak und Jakob, welche die gleiche Vollmacht als die „natürlichen Fürsten" der Israeliten besaßen, denen sie „den von Abraham eingerichteten Religionsdienst" schuldeten (Gott selbst dagegen schuldeten sie nur „Gehorsam und den natürlichen Gottesdienst 125 Neuausgabe: Laslett, P. (ed.), Patriarcha and other Political Works of Sir Robert Filmer, 1949. Eine ältere deutsche Ubers, auch in: J. Locke, Zwei Abhandlungen über Regierung nebst „Patriarcha" von Sir Robert Filmer. Dt. v. H. Wilmanns, 1906. Nach Laslett, aaO., S. 3, ist die Schrift vermutlich vor 1 6 4 0 entstanden. 126 S.u. S. 4 4 7 f f . 127 V o m Bürger, ed. Gawlick, S. 257; OL II, S. 3 5 5 . 23 Reventlow, Bibelautorität

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als seine Untertanen"). Mit dem am Sinai abgeschlossenen Vertrag läßt Hobbes jedoch eine ganz neue Periode beginnen: jetzt „wird die Herrschaft Gottes über sie zu einer institutiven". 1 2 8 Nun wird das Recht zu einer unmittelbaren Königsherrschaft Gottes über die Israeliten begründet. Zu dieser Königsherrschaft gehören auch die von Gott durch Mose am Sinai gegebenen Gesetze. Diese sind allerdings wieder aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt: solchen, die schon von natürlicher Verbindlichkeit sind, ,,da sie von Gott, als dem Gott der Natur, gegeben waren" 1 2 9 , andere, die von dem Vertrag mit Abraham her galten, schließlich die auf Grund des Sinai-Vertrages gültigen: „Gott hat sie als der besondere König der Israeliten gegeben." Hier folgt die schon aus der reformatorischen Tradition bekannte Einteilung der Gebote: die allgemeinen Sittengesetze im Dekalog sind natürliche Gebote, zum Abraham-Bund gehören das erste Gebot und das Sabbathgebot, weil beide sich auf das besondere Gottesverhältnis zu Israel beziehen, „zur dritten Art gehören die Gesetze zur Staats-, Gerichtsund Gottesdienstordnung, welche die J u d e n allein angehen". 1 3 0 Nach kurzer Beschreibung, was das Gesetz Gottes ursprünglich gewesen ist (nach Hobbes' Meinung wurde ursprünglich nur das Deuteronomium als solches angesehen) geht es dann um die für Hobbes' System wichtige Frage, wer denn die Vollmacht gehabt habe, die schon bestehenden Gesetze auszulegen und zu beurteilen, ob die Schriften der Propheten Wort Gottes seien, also das Problem des „Quis judicabitur? " Diese Aufgabe lag zuerst bei Mose, danach, unter Josua, bei dem Hohenpriester Eleazar, in der Richterzeit weiter formal bei dem Hohenpriester, in Wirklichkeit aber bei den Propheten, die dazu das Charisma besaßen. Aber diese Zeit der unmittelbaren Gottesherrschaft ist für Hobbes doch nur eine vorübergehende Periode gewesen. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit steht der folgende Abschnitt, der mit dem Regierungsantritt Sauls beginnt und bis zum Exil andauert. Hobbes betont sehr stark, daß in dieser Zeit die Könige allein alle Rechte, ,,auch das Recht zur Auslegung von Gottes Wort" 131 besessen hätten. Dazu gehörte aber auch das Recht, „Bücher als Gottes Wort zuzulassen", wie Hobbes aus den Maßnahmen Josias bei der Auffindung des Deuteronomiums schließt. 1 3 2 Auch die Propheten und vor allem die Priester waren von den Königen abhängig. Daß die Könige nicht im Alle Zitate aaO., S. 2 5 9 / OL II, S. 3 5 7 . 129

Hier wäre die von Taylor und seinen Nachfolgern behandelte Diskussion über das Naturrecht bei Hobbes zu führen. » ο Wie die vorigen Zitate aaO., S. 261 / OL II, S. 3 5 9 . 131 AaO., S. 268f. / OL II, S. 3 6 8 . 132 AaO., S. 2 6 9 / OL II, S. 3 6 8 .

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alle diese Rechte selbst ausgeübt haben, läßt Hobbes nicht als Einwand gelten: „Will man aber einwenden, daß die Könige wegen Mangels an Gelehrsamkeit selten zur Auslegung der alten Bücher, die das Wort Gottes enthielten, geeignet gewesen und daß es deshalb unbillig sei, daß dieses Geschäft zu ihrem Rechte gehörte . . . so sind die Könige doch sehr wohl geeignet, dergleichen Ausleger unter ihrem Vorsitz zu ernennen; und deshalb kann die Auslegung des Wortes Gottes sehr wohl zu dem Recht der Könige gehören, wenn sie es selbst auch nicht auslegen." 1 3 3 Die Könige erfüllten auch priesterliche Aufgaben; n u r das Opfer ausgenommen, „weil dies das erbliche Recht Aarons und seiner N a c h k o m m e n w a r " . Die Grundsätzlichkeit dieser Aussagen zeigt, daß es Hobbes dabei keineswegs n u r um die Könige der Israelii en geht, sondern daß er hier typologisch die gegenwärtigen Monarchen im Blick hat. Die Gehorsamspflicht der J u d e n hatte, wie Hobbes am Schluß des Kapitels noch einmal b e t o n t , nur die beiden Ausnahmen: sofern die Obrigkeit Ableugnung der Vorsehung G o t t e s oder Götzendienst befohlen hätte, denn beides ist eine Majestätsbeleidigung Gottes. Über die Zeit nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft drückt er sich sehr vorsichtig aus: es scheint, daß damals die höchste Gewalt in Händen von Priestern gelegen habe, aber ihre Autorität war zeitweilig stark zerrüttet. Wichtig ist ihm nur, „daß auch in diesen Zeiten das Recht zur Auslegung von Gottes Wort von der höchsten bürgerlichen Gewalt nicht getrennt gewesen i s t " . 1 3 4 Aufschlußreich für die Zielstrebigkeit, mit der Hobbes sein Anliegen, die Rechte des Souveräns auch in Religionsangelegenheiten zu beweisen, verfolgt, ist das folgende 17. Kapitel: „Von dem Reich Gottes durch den Neuen B u n d . " Hauptsächlich geht es ihm hier darum, durch eine Menge von Schriftbelegen aus dem Neuen Testament aufzuzeigen, daß die Königsherrschaft Christi noch nicht während seines irdischen Wirkens (damals besaß er n u r das A m t eines „Stellvertreters des Königs" 135 und hatte nur die Gewalt eines „Ratgebers und Lehrers" 1 3 6 ) und auch noch nicht in der Gegenwart angebrochen sei, sondern: „Das Reich Gottes . . . beginnt . . . erst mit seiner zweiten A n k u n f t , nämlich mit dem Tage des Gerichts, wenn er in voller Majestät in Begleitung seiner Engel k o m m e n w i r d . " Dies wird durch Aussagen wie J o h . 18,36: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt", bestätigt. 1 3 7 Wenn Hobbes' Christologie auf diese Weise als „konsequente

133 134 135 136 137

AaO., AaO., AaO., AaO., AaO.,

S. S. S. S. S.

270 271 275 279 279

/ / / / /

OL OL OL OL OL

II, II, II, II, II,

S. S. S. S. S.

369. 370. 376. 377. 378.

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Eschatologie" erscheint 1 3 8 , so läßt sich das doch nur als Konsequenz aus und Argument für die bis dahin, d.h. für die gesamte Gegenwart den irdischen Souveränen übertragene Gewalt nicht nur in irdischen, sondern auch in geistlichen Angelegenheiten recht würdigen. Eine schon in Kraft getretene unmittelbare Königsherrschaft Christi würde diesen Anspruch ausschließen. 139 Im 44. Kapitel des „Leviathan" kämpft Hobbes gegen den „größten und hauptsächlichsten Mißbrauch der Schrift", der in der Verdrehung bestehe, „to prove that the kingdom of God, mentioned so often in the Scripture, is the present Church, or multitude of Christian men now living" 1 4 0 — offensichtlich hat er hiermit die Puritaner im Blick, besonders die separatistische Richtung. Als Gegenargument führt Hobbes sogleich das Ergebnis seiner Untersuchungen (in „Leviathan" in Kap. 35) über den Verlauf der Religionsgeschichte Israels an, wonach das unmittelbare Königtum Gottes nur über die Juden, und nur seit Moses, bestanden habe, durch die Erwählung Sauls aber bereits wieder beendet worden sei. Damit wird den Gegnern die Möglichkeit bestritten, diese Königsherrschaft Gottes im Alten Testament als typologischen Beweis für ihre Auffassung über das Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu benutzen. Eine wie große Rolle für die Kirche Hobbes dem Problem der rechten Auslegung der Schrift zumißt, erkennt man in seiner längeren Ausführung zu dieser Frage, die sich schon in „De cive" findet. In Kap. 17,16ff. 1 4 1 geht Hobbes zunächst von einer Definition der Schrift aus, die er in dem Sinne als verbum Dei bezeichnet, als sie „canon et regula omnis doctrinae Evangelicae" sei. 1 4 2 Da aber nun in der Schrift auch vieles Politische, Geschichtliche, Moralische, Physische enthalten ist, muß gleich hinzugefügt werden, daß nicht diese Stellen entscheidend sein können, sondern nur das, was sich auf die „Geheimnisse des Glaubens" (oder: „der christlichen Religion") bezieht. Dabei ist aber nun die Unterscheidung nötig zwischen dem toten Wort und Buchstaben und dem Sinn: nur er kann in wahrer und echter Weise canon sein. „Denn der Geist wird nur durch die Schrift, die er versteht, geleitet." 1 4 3 Damit die Schriften Kanon werden, ist also ein Aus-

138 G. Schrenk,

Gottesreich, S. 1 8 5 f . ; vgl. auch Kodalle,

aaO., S. 9 8 .

Insofern ist die Gegnerschaft Brauns gegen Hobbes verständlich! — Schon aaO., S. 2 4 0 , hat auf dieses Ziel des Gedankenganges hingewiesen. 1 4 0 Leviathan, ed. Oakeshott, S. 3 9 8 ; ed. Fetscher, S. 4 6 4 . Mi O L II, S. 3 9 2 f f . ; ed. Gawlick, S. 2 9 0 f f . 139

Peters,

1 « O L II, S. 3 9 2 . 1 4 3 O L II, S. 3 9 3 . Die deutsche Ubersetzung von M. Frischeisen-Köhler/G. Gawlick stimmt in diesem Satz mit dem lateinischen T e x t überein, nicht aber an allen Stellen des komplizierten Satzgefüges.

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leger nötig. Entweder ist dann das Wort des Auslegers das Wort Gottes, oder der Kanon christlicher Lehre ist nicht das Wort Gottes. Es folgen nun längere Gedanken über die rechte Schriftauslegung, wobei Hobbes betont, daß zu dieser Kunst nicht die Kenntnis der Ursprachen und die Fähigkeit, sie in die jeweiligen Muttersprachen zu übersetzen, genüge, sondern große Gelehrsamkeit und Kenntnisse der Vorzeit erforderlich seien, um das, was ein unmittelbar Redender durch Zeit, Ort, Gesten usw. dem bloßen Wortlaut seiner Rede hinzufüge, im Verständnis auszugleichen. Für die Frage der Schriftautorität ausschlaggebend ist jedoch nicht dies, sondern die menschliche Irrtumsmöglichkeit, die letztlich nach einem obersten Richteramt über alle Lehren, das mit uneingeschränkter Autorität über alle Streitigkeiten entscheiden kann, verlangt. Nachdem Hobbes anschließend von dem Begriff der Kirche gehandelt hat — wobei er zwischen der Kirche der Erwählten, die noch bis zum jüngsten Tag verborgen ist, und der konkreten Kirche unterscheidet, zu der alle Getauften gehören, diese letztere aber im Gegensatz zu dem kongregationalistischen, pluralistischen Kirchenbegriff durch die „rechtmäßige Gewalt zur Berufung der Synoden und Versammlungen der Christen" konstituiert sieht, die er allein dem Souverän zubilligt 1 4 4 — kehrt er zu dem Recht der Schriftauslegung zurück. Hier geht es nicht um die private (mündliche oder schriftliche) kommentierende Deutung, sondern um die autoritative Entscheidung in ethischen oder dogmatischen Zweifelsfragen. 1 4 5 Dabei gliedert Hobbes in zwei verschiedene Arten von Streitfragen. Fragen der menschlichen Wissenschaft, etwa der Philosophie, wobei die Wahrheit von der Übereinstimmung aller Menschen abhängt, bedürfen keiner autoritativen Entscheidung. Wohl aber die das Geistliche betreffenden Fragen, „d.h. die Fragen des Glaubens, deren Wahrheit durch die natürliche Vernunft nicht festgestellt werden kann; dahin gehören die Fragen über die Natur und das Amt Christi . . . über die Auferstehung des Leibes . . . über die Sakramente, über den äußeren Gottesdienst und ähnliches". 1 4 6 Für diese gilt, daß „das Recht, alle Streitfragen zu entscheiden, von der Machtvollkommenheit des Menschen oder der Versammlung ausgeht und abhängt, welche die höchste Staatsgewalt innehat" 147 (die Hobbes sehe Definition des Souveräns). Nun folgt aber 144

Hieraus folgt die wichtige Definition, „daß ein Staat christlicher Menschen und eine Kirche durchaus ein und dasselbe ist, das nur aus zweifachen Ursachen zweifach benannt wird", die man aber nicht als extravagant, sondern dem Normalverständnis nichtseparatistischer Theologie der Zeit entsprechend ansehen muß. 145 „Darin, daß die anderen nicht berechtigt sind, seiner Auslegung zuwider zu handeln und zu lehren", ed. Gawlick, S. 3 0 5 ; OL II, S. 4 0 9 . 14 « AaO., S. 3 0 8 ; OL II, S. 4 1 2 . 147 Ebendort.

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eine überrraschende Wendung — an der plötzlich das zutiefst anglikanische Denken Hobbes' sichtbar wird: „Für die Entscheidung über Glaubensfragen, d.h. der Fragen über Gott, welche die menschliche Fassungskraft übersteigen, bedarf es aber der göttlichen Weihe . . . , welche sich durch Auflegung der Hände von Christus aus fortgepflanzt h a t . " 1 4 8 Für die Frage geistlicher Autorität wird also — scheinbar ein Bruch im System — auf die apostolische Sukzession zurückgegriffen. So schließt Hobbes mit dem Satz: „Deshalb ist der Inhaber der Staatsgewalt, soweit er ein Christ ist, verpflichtet, die Heilige Schrift in Glaubensgeheimnissen durch rite ordinierte Geistliche auslegen zu lassen." 1 4 9 Gerade diese Aussage ist aufschlußreich, weil sie zeigt, daß Hobbes keineswegs ein konsequenter „Erastianer" ist, vielmehr in der Linie der Laudianer denkt, die das Eigenrecht der Kirche, ihre Angelegenheiten auch unter dem königlichen Supremat durch den Klerus selbständig zu regeln, betonen. 1 5 0 An diesen Ausführungen wird deutlich, daß Hobbes auf verschiedenen Ebenen denkt. Er steht damit nicht allein, sondern entspricht dem humanistisch geprägten Anglikanertum, wie wir es schon an verschiedenen Beispielen kennengelernt haben. Die eine Ebene ist die der praktisch-moralischen Existenz. Auf dieser Ebene kann man sich zunächst in der Eindeutigkeit des natürlichen Gesetzes bewegen, wie es auch in den entsprechenden „zivilen" Geboten des Dekaloges ausgedrückt ist. Das „zum Eintritt in das himmlische Reich Erforderliche" („De cive", Kap. 18; „Leviathan", Kap. 43) beschränkt sich in der hierfür allein maßgeblichen Dimension auf die beiden Erfordernisse des Gehorsams gegenüber dem Willen Gottes (in diesen natürlichen Gesetzen und den bürgerlichen, die durch den Souverän verbindlich gemacht sind) und des Minimalbekenntnisses, „daß Jesus der Christus ist". Daneben wird durchaus die Möglichkeit von Glaubensgeheimnissen und eines für ihre Entscheidung notwendigen Lehramtes anerkannt, wobei die rechtliche Verankerung in der Vollmacht des Souveräns, die kirchliche im Amtscharisma im Rahmen der apostolischen Sukzession die spezifisch anglikanische Lösung des Autoritätsproblems darstellt. Allerdings geht aus anderen Äußerungen Hobbes' hervor, daß er gerade diese Dinge nicht als entscheidend ansieht. Hierfür sind die Bemerkungen über die Religion in „De homine", Kap. 14 1 5 1 , gerade weil sie so knapp gefaßt und relativ spät (1658) veröffentlicht worden sind, aufschlußreich. 148

So die Übersetzung Gawlick, aaO., S. 3 0 9 ; der lateinische T e x t sagt eigentlich: „von Christus selbst abgeleitet werden m u ß " („ab ipso Christo derivanda", OL II, S. 4 1 3 ) . "»9 OL II, S. 4 1 3 ; vgl. ed. Gawlick, S. 3 1 0 . 150 Vgl. h i e r z u / . W. Allen, English Political Thought, S. 13 Iff. 1S « OL II, S. 118ff.; ed. Gawlick, S : 4 3 f f .

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Hobbes erklärt dort, daß für Dinge, die die menschliche Fassungskraft übersteigen, wenn wir dem, der sie verkündet, Glauben schenken sollen, eine Bekräftigung durch Wunder nötig sei. 1 5 2 „Da es Wunder schon längst nicht mehr gibt", hängt die Religion jetzt von den Gesetzen des Staates ab. Im ethischen Bereich der Religion („daß man ehrerbietig von G o t t denken und ihn lieben, fürchten und verehren müsse") besteht kein Unterschied zwischen den Völkern. 1 5 3 „Strittig ist nur, worüber Menschen verschieden denken; eben deshalb gehört es nicht zum Glauben an G o t t . Während wir aber in diesen Disputationen ein Wissen suchen von Dingen, die der Wissenschaft nicht zugänglich sind, zerstören wir den Glauben an G o t t . " 1 5 4 Anschließend, unter Berufung auf 1. Kor. 13 (wenn das Reich Gottes k o m m t , bleibt nur die Liebe): „Da nun G o t t lieben dasselbe ist wie seinen Geboten gehorchen . . . entsteht die weitere Frage, woher man wisse, was Gott befohlen h a t . " Antwort: Gott hat den Menschen die Vernunft verliehen und ihnen das Gebot ins Herz gegeben, das eben in der „goldenen Regel" besteht. „Die Fragen also nach der Natur Gottes sind allzu neugierig und nicht zu den Werken der Frömmigkeit zu r e c h n e n . " 1 5 5 Wenn Hobbes auch, indem er hinzufügt, daß der Glaube durch ein unzeitiges Wissen aufgehoben würde, diesen gerade zu retten scheint, liegt sein Interesse doch ausschließlich auf dem Gebiet ethischen Handelns, wodurch er sich als typischer Humanist erweist. 8. Im „Leviathan" hat Hobbes die Überlegungen über die Grundlagen des christlichen Staates, „wobei viel von den übernatürlichen Offenbarungen des göttlichen Willens a b h ä n g t " 156 , vor allem in Teil III in breiter Weise systematisch ausgebaut. Schon am Gesamtaufbau dieses Teils erkennt man, daß hierbei die Rolle der Heiligen Schrift im Mittelpunkt steht; von ihr handeln die meisten Kapitel. Das Bemühen, „more geometrico", d.h. systematisch vorzugehen, zeigt sich auch darin, daß Hobbes nach dem kurzen grundsätzlich-hermeneutischen Kapitel 32 sofort als Kap. 33 einen Abschnitt über Kanonsfragen folgen läßt und auch in den folgenden Kapiteln Schritt für Schritt vorangeht, wobei die ihn von seinem eigentlichen Anliegen her interessierenden Fragen, deren Behandlung in „De cive" genau dem für dieses notwendigen Duktus entspricht, in einen breiten umgebenden Rahmen einge152 Zu sonstigen Aussagen Hobbes' über Wunder vgl. Kodalle, aaO., S. 141—44. Wichtige Äußerungen u.a. Leviathan, Kap. 32, ed. Oakeshott, S. 245f.; ed. Fetscher, S. 287ff. 153

Vgl. Herberts notitiae c o m m u n e s circa religionem! 'S« Ed. Gawlick, S. 4 4 ; OL II, S. 120. 155 Ebendort. — Zur Frage des Gottesproblems bei Hobbes lichen Antworten vgl. im übrigen Kodalle, aaO., S. 1 0 5 f f . 156 Leviathan, ed. Fetscher, S. 285; ed. Oakeshott, S. 2 4 2 .

und dessen widersprüch-

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spannt erscheinen. 1 5 7 Im gesamten dritten Teil sind aus diesem Grunde eine Fülle von exegetischen Einzelbemerkungen enthalten, welche die hervorragende Bibelkenntnis des Nichttheologen Hobbes zeigen, sich teilweise aber nur in losem Zusammenhang mit dem systematischen Hintergrund seines Denkens befinden. Alle diese Einzelbeobachtungen stehen aber unter dem Vorzeichen dessen, was Hobbes am Schluß des 32. Kapitels bemerkt: Nachdem nun keine Wunder mehr vorkommen (s.o.), sei die Heilige Schrift der einzige Maßstab, über irgend eine Lehre zu urteilen, von der er jetzt feststellt, daß aus ihr „durch kluge und gelehrte Auslegung und sorgfältiges Schließen alle Regeln und Vorschriften, die zur Kenntnis unserer Pflicht gegen Gott und die Menschen nötig sind, ohne Schwärmerei oder übernatürliche Eingebung leicht abgelesen werden k ö n n e n " . 1 5 8 Offensichtlich geht es also um die moralische Ebene, so daß der Widerspruch gegen die Behauptung von der Notwendigkeit der obersten Autorität des Souveräns in Streitfragen der Auslegung 159 nur ein scheinbarer ist. Auf diesem Boden werden wir wieder an den exegetischen Rationalismus eines Chiliingworth mit dem aufschlußreichen Titel seines Hauptwerkes 1 6 0 erinnert. In ganz analoger Weise beginnt Hobbes das 33. Kapitel über die Bücher der Heiligen Schrift: „Unter den Büchern der Heiligen Schrift versteht man diejenigen, die den Kanon, das heißt die Regeln des christlichen Lebens, bilden sollen. Und da alle Lebensregeln, zu deren Beachtung die Menschen durch ihr Gewissen verpflichtet sind, Gesetze darstellen, wird mit der Frage nach der Schrift zugleich gefragt 1 6 1 , was in der gesamten Christenheit Gesetz ist, sowohl natürliches wie bürgerliches." 162 Die Definition von „ K a n o n " als „Lebensregeln" entspricht exakt dem humanistisch-moralischen Bibelverständnis. In den folgenden Ausführungen wird sichtbar, wie Hobbes von diesem Ausgangspunkt zu seiner Grundthese, daß der jeweilige Souverän in seinem Herrschaftsgebiet der alleinige Gesetzgeber ist, die Brücke schlägt. Logisch scheint das nach Hobbes' Ansatz, da die in der Schrift enthaltenen Gebote den Bereich möglicher Gesetzgebung zwar

157 Kap. 40, 41 und 43 entsprechen De cive, Kap. 16, 17 und 18. Dazwischen steht, in Kap. 42, die sachlich hierher gehörige Auseinandersetzung mit Bellarmin, davor eine Reihe von Kapiteln über Einzelfragen, die in De cive nur kurz gestreift werden. Im übrigen ist der Grundansatz Hobbes' in beiden Werken gleich, was für das Verständnis des Leviathan wichtig ist. Vgl. dazu in Auseinandersetzung mit McNeilly H. J. Johnson, Bespr., in: Ethics 80, 1969/70, S. 2 4 3 - 2 4 5 . 158 Leviathan, ed. Fetscher, S. 289; ed. Oakeshott, S. 246. 159 S.o. S. 357. "» S.o. S. 250. 161 Di e englische Originalfassung ist präziser: „the question of the Scripture, is the question of what is law . . . " 162 Leviathan, ed. Fetscher, S. 290; ed. Oakeshott, S. 246.

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nicht erschöpfen, ihn aber auf jeden Fall einschränken 1 6 3 , nur so zu gehen, daß der Souverän auch über den Umfang des Kanons zu entscheiden hat. Dem entspricht auf den ersten Blick auch sein bekannter Satz: „Gemäß dieser Verpflichtung (der Untertanen zum Gehorsam) kann ich keine anderen Bücher des Alten Testaments als Bestandteile der Heiligen Schrift anerkennen als diejenigen, die auf autoritativen Befehl der Kirche von England als solche anzuerkennen sind." 164 An dieser Stelle treffen aber wiederum seine „politische Wissenschaft" und sein anglikanischer Traditionalismus zusammen, indem er nämlich gleich darauf den hl. Hieronymus erwähnt und darauf hinweist, daß dies die auch schon von Hieronymus anerkannten Bücher seien, die letztlich auf die Septuaginta zurückgingen. Praktisch läuft also der theoretische Radikalismus auf eine konservative Grundhaltung hinaus. Im weiteren Verlauf des 33. Kapitels entwickelt dann Hobbes seine bekannten Thesen über Ursprung und Verfasser der alt- und neutestamentlichen Schriften. 1 6 5 In ihnen ist wieder das gleiche Nebeneinander radikaler Infragestellung und traditioneller Schlußfolgerungen zu beobachten. Einerseits finden sich die für die Zeit unerhört avantgardistischen Feststellungen, daß der Pentateuch nicht von Mose geschrieben sein kann, sondern lange nach seinem Tod entstanden sein muß, ähnlich bei den Büchern Jos., Ri., Sam.; daß Hl. und Pred. nicht von Salomo stammen usw., auf der anderen Seite wird ausdrücklich betont, daß Mose all das im Pentateuch geschrieben habe, „wovon es darin heißt, er habe es geschrieben". 1 6 6 Und das ist nicht zufällig das „Gesetzbuch" in Dt. 11—27, von dem nicht nur zu sagen ist, daß es von Mose selbst geschrieben und den Priestern und Ältesten Israels zur Verlesung am Laubhüttenfest des je 7. Jahres übergeben worden ist, sondern vor allem auch , jenes Gesetz, das ihre Könige auf Befehl Gottes — wenn sie einmal diese Regierungsform eingeführt haben würden — in einer Abschrift . . . entgegennehmen sollten". 1 6 7 Denn gerade darum geht es Hobbes ja: um die Verbindlichkeit des alttestamentlichen Gesetzes und um seine Beziehung zu den Königen. Aus diesem Grunde ist ihm sehr willkommen, gleich die Namen Hilkia und Josia nennen zu können, welcher „den Bund des Volkes mit Gott erneuerte" (2. Kön. 23,Iff.). Nach seinen weiteren Bemerkungen über die Herkunft auch der neutestamentlichen Bücher kommt Hobbes dann auch unter der abschließenden Devise: ,,Aber nicht der Verfasser, sondern die 163 „Denn o b w o h l in der Schrift nicht festgelegt ist, welche Gesetze jeder christliche König in seinen Herrschaftsgebieten erlassen soll, so ist doch festgelegt, welche Gesetze er nicht erlassen soll", ebendort. 164 Ebendort. 165 Vgl. o. S. 330, Anm. 8. 166 Leviathan, ed. Fetscher, S. 2 9 2 ; ed. Oakeshott, S. 2 4 8 . AaO.

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Autorität der Kirche macht ein Buch kanonisch" 1 6 8 zu seiner dreiteiligen Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Autorität der Schriften, die er, wieder ganz im Sinne seines legalistischen Verständnisses, präzisiert: „Die richtig gestellte Frage lautet: ,Durch welche Autorität werden sie zu Gesetzen erhoben? ' " Der erste Teil der Antwort lautet: „Soweit sie nicht von den Gesetzen der Natur abweichen, sind sie unbezweifelbar das Gesetz Gottes und tragen ihre Autorität in sich, für alle Menschen leserlich, die Vernunft besitzen". Aber Vorschriften der Vernunft sind „keine erlassenen, sondern ewige Gesetze". 1 6 9 Die zweite Möglichkeit ist für die Gegenwart eine rein theoretische: „Werden sie von Gott selbst zu Gesetzen erhoben, so besitzen sie die Natur eines geschriebenen Gesetzes, das nur für diejenigen Gesetz ist, denen es Gott ausreichend bekannt gemacht hat . . . " Real ist dagegen die dritte, auf die Hobbes' Hauptanliegen zielt: „Derjenige, dem Gott nicht auf übernatürliche Weise offenbart hat, daß sie seine Gesetze sind . . . ist deshalb zum Gehorsam gegen sie nur durch die Autorität desjenigen verpflichtet, dessen Befehle bereits Gesetzeskraft haben, das heißt, durch keine andere Autorität als der staatlichen, die beim Souverän liegt (of the commonwealth, residing in the sovereign)." Die Begründung dafür, daß die letzte Entscheidung in der Kanonsfrage dem Souverän zusteht, liegt nach Hobbes von seinen Denkvoraussetzungen her und entsprechend der zu seiner Zeit noch weit überwiegenden Anschauung durchaus konsequent in der selbstverständlichen Einheit von Staat und Kirche: „Aber ist die Kirche eine Person, so ist sie dasselbe wie ein Staat von Christen, ein Staat genannt, weil sie aus in einer Person, in ihrem Souverän, vereinten Menschen besteht, und eine Kirche, weil sie aus Christen besteht, die in einem christlichen Souverän vereint sind." 1 7 0 Die einzig denkbare Bestreitung der nationalkirchlichen Lösung könnte nach Hobbes von einer durch den Stellvertreter Christi geleiteten Universalchristenheit ausgehen. Diese Frage meint er nur durch eine nähere Untersuchung des Begriffes „Reich Gottes" beantworten zu können. 1 7 1 Die entsprechenden Ausführungen finden sich in Kap. 35. 1 7 2 In diesem Kapitel wiederholt 168

Leviathan, ed. Fetscher, S. 297; ed. Oakeshott, S. 253. 169 Vg[. di e englische Originalfassung: „but this is no other authority, than that of all other moral doctrine consonant to reason; the dictates whereof are laws, not made, but eternal." Sachlich wäre hierzu auf die Ergebnisse von Wartender zu verweisen. 170 Alle diese Zitate und Ausführungen Leviathan, ed. Fetscher, S. 298f.; ed. Oakeshott, S. 254f. — Die Definition in De cive faßt die Argumentationseinheit noch prägnanter zusammen: „Restat ergo, in omni ecclesia Christiana, hoc est, in omni civitate Christiana, Scripturae Sacrae interpretatio . . . dependeat et derivetur ab auctoritate illius hominis vel coetus, penes quem est summum imperium civitatis." OL II, S. 41 lf. 171 Kap. 34 enthält in anderem Zusammenhang interessante Ausführungen über den Begriff „Geist", die hier übergangen werden können. 172 Vgl d a z u auch Kodalle, aaO., S. 121ff., der aber den Stellenwert dieser Aussagen im Gesamtduktus des Werkes nicht erkannt hat.

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Hobbes hauptsächlich seinen Gedankengang aus „De cive", wonach das Gottesreich in alter Zeit das irdische Reich der J u d e n bis zu Sauls Königswahl gewesen sei, während er in Kap. 38, wie in „De cive", von der Wiederaufrichtung dieses Reiches auf Erden mit dem Mittelpunkt Jerusalem bei der Wiederkunft Christi am jüngsten Tage spricht. Dazwischen stehen Kap. 36 „Vom Worte Gottes und von den P r o p h e t e n " , in dem Hobbes sich auch mit dem Problem der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Prophetie auseinandersetzt (vgl. dazu auch Kap. 32) und Kap. 37, „Von W u n d e r n " . 1 7 3 Für die Prophetie k o m m t Hobbes angesichts der Problematik, welche die notwendige Unterscheidung zwischen wahren und falschen Propheten mit sich bringt (für die er wieder eine Fülle von biblischen Belegen heranträgt) schon in Kap. 32 zu der A n t w o r t , daß es zwei Kennzeichen gebe, an denen ein wahrer Prophet erkennbar werde: „Das eine ist das Vollbringen von Wundern, und das andere ist, keine Religion als die bereits eingeführte zu lehr e n . " 1 7 4 Zu den Wundern hatte er aber am Ende des gleichen Kapitels bemerkt, daß sie heutzutage nicht mehr vorkommen und deshalb die Heilige Schrift den Platz jeder anderen Weissagung eingenommen habe 175 — die n u n wieder, wie wir sahen, ihre Autorität letztlich aus der des Souveräns gewinnt. Die Argumentation in Kap. 37 über die Wunder hat deshalb ebenso wie die über die Propheten in Kap. 36 im G r u n d e nur nachholenden Charakter: in beiden Fällen wird zwar zunächst auf die V e r n u n f t als das Werkzeug zur Prüfung zwischen wahrer und falscher Prophetie 1 7 6 , zwischen angeblichen und wirklichen Wundern 177 verwiesen, aber hinsichtlich der Wunder kann es heutzutage nur d a r u m gehen, ob die Berichte über einst geschehene Wunder wahr oder falsch sind, und: „In dieser Frage haben 173 Vg[_ dazu Kodalle, aaO., S. 1 4 I f f . Daß diese „letztlich als Prüfstein der A u t o n o m i e des einzelnen" fungierten, aaO., S. 141, kann man nur behaupten, wenn man nach wie vor die „politische Wissenschaft" als roten Faden durch das gesamte Werk hindurch ansieht und dann den unmittelbaren Zusammenhang der Kapitel, die auf die in Kap. 4 2 kontrovers verhandelte Frage der Autorität in der Kirche hinauslaufen, nicht sieht. 174 Leviathan, ed. Fetscher, S. 2 8 7 ; ed. Oakeshott, S. 244; vgl. dazu auch aaO., S. 339/290. i " AaO., S. 2 8 9 / 2 4 6 ; vgl. o. S. 359, Anm. 152. 176 ,, . . . war jedermann dazu verpflichtet und ist es auch heute noch, seine natürliche Vernunft dazu zu benützen, um auf alle Weissagungen jene Regeln anzuwenden, die uns Gott gegeben hat, um die wahren von den falschen unterscheiden zu können", aaO., S. 3 3 2 / 2 8 4 . 1 77 so müssen wir das angebliche Wunder zuerst einmal sehen und alle möglichen Mittel heranziehen, um zu untersuchen, o b es auch wirklich geschehen ist, und nicht nur dies, sondern auch, o b es so beschaffen ist, daß niemand das gleiche durch seine natürliche Macht bewirken kann, daß es vielmehr den unmittelbaren Eingriff Gottes erfordert", aaO., S. 3 3 9 / 2 9 0 .

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wir nicht unsere eigene V e r n u n f t oder unser Gewissen zum Richter zu machen, sondern die öffentliche V e r n u n f t , das heißt, die V e r n u n f t von Gottes oberstem Statthalter (dem Souverän)." 1 7 8 Entsprechendes gilt nun auch für die Propheten: wahre Propheten sind n u r diejenigen, die (nach 1. J o h . 4,2ff.) das Bekenntnis vertreten: , J e s u s ist der Christus" — der Messias ist in der Person Christi schon erschienen —, falsche, die dies bestreit e n , und von der rechten Lehre k o m m t man sogleich wieder auf den Souverän, der für diese an erster Stelle zuständig ist: , J e d e r m a n n m u ß sich daher überlegen, wer der oberste Prophet, das heißt, wer Gottes Statthalter auf Erden ist . . . und j e d e r m a n n m u ß als Regel die Lehre beachten, deren Verbreitung dieser im Namen G o t t e s befohlen h a t , und danach die Wahrheit jener Lehren untersuchen und prüfen, die angebliche Propheten zu allen Zeiten b e h a u p t e n , ob sie dabei n u n Wunder wirken oder n i c h t . " 1 7 9 Das System Hobbes' ist also an dieser Stelle auch geschlossen. Zu Kap. 40—42 ist nach dem über den Gedankengang von „De cive" Ausgeführten nicht mehr allzuviel Neues zu sagen. Kap. 40 beweist hinsichtlich des Alten Testaments, ,,daß jeder, der bei den J u d e n die Souveränität im Staate innehatte, auch die oberste Autorität in äußerlichen Fragen des Gottesdienstes b e s a ß " . 1 8 0 Es folgt d a n n , ganz parallel den Ausführungen in „De cive" 1 8 1 , die Behandlung des Abraham-Bundes. Abraham ist die für das Christentum zentrale typologische Gestalt des Alten Testaments; es geschieht deshalb nicht von ungefähr, daß Hobbes gerade Abraham zur Herrschergestalt stilisiert und dadurch seinem königstypologischen Schema einordnet. Kap. 42 b e t o n t wie „De cive" 17, daß das Königreich Christi erst mit der allgemeinen Auferstehung anhebt. Damit wird die ausführliche Auseinandersetzung mit Bellarmin in Kap. 42 für die staatskirchliche Jurisdiktionsgewalt gegen den päpstlichen Primatanspruch 1 8 2 vorbereitet, in deren Kern es um die Zurückweisung der doppelten Vorstellung geht, daß das Reich Christi doch von dieser Welt sei (dagegen führt Hobbes vor allem J o h . 18,36 an) und daß der Papst als Stellvertreter Christi die Jurisdiktionsgewalt über alle Christen der Welt h a b e . 1 8 3 Auch hier konzentriert sich Hobbes streng auf diese Grundfrage; die übliche unsachliche Polemik, etwa daß der Papst der Antichrist sei, weist er mit Schriftargumenten zurück. 1 8 4

178

AaO., S. 340/291. AaO., S. 333/284. ι«» AaO., S. 368/315. 181 Vgl. o. S. 352. 182 Vgl. o. S. 348ff. Vgl. bes. aaO., S. 392/337. IM AaO., S. 422f./364f.

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Kap. 43 unterstreicht noch einmal den rein moralischen Charakter des Religionsverständnisses Hobbes', indem er den zentralen Satz formuliert: „All that is Necessary to salvation, is contained in two virtues, faith in Christ, and obedience to laws."185 In Teil IV: „Vom Reich der Finsternis" 1 8 6 kehrt Hobbes seine Argumentation, daß das Reich Christi erst in der Eschatologie anbricht, nun gegen die Gruppe, die er „Reich der Finsternis" nennt und zunächst etwas dunkel als „eine Verschwörung von Betrügern, die zur Erlangung der Herrschaft über die Menschen in dieser gegenwärtigen Welt versuchen, durch dunkle und irrige Lehren das Licht der Natur und des Evangeliums auszulöschen" 1 8 7 , bezeichnet. Dabei geht es „um diese königliche Gewalt unter Christus, die für die ganze Welt vom Papst und in den einzelnen Staaten von Versammlungen der einheimischen Priester (assemblies of the pastors of the place) beansprucht wird". 1 8 8 Ihren Grundirrtum sieht er darin, „daß die gegenwärtige Kirche das Reich Christi sei" 189 , und dieser wird durch eine Verdrehung der Schrift zu beweisen gesucht, nach Hobbes' Urteil „der größte und hauptsächliche Mißbrauch der Schrift, aus dem alle übrigen Mißbräuche entweder folgen oder dem sie dienen". 1 9 0 Die Folge ist nicht nur der Machtanspruch des Papstes, sondern auch die Unterscheidung zwischen Klerus und Laien überhaupt und die von den Priestern, vor allem auf finanziellem Gebiet, beanspruchten Privilegien. 191 Wie stark auch diese Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Typologie geführt wird, erkennt man an dem Hinweis Hobbes' darauf, daß der Papst und seine untergeordneten Geistlichen den Zehnten nach dem Vorbild der Leviten iure divino lange Zeit überall gefordert haben. Auch ist sie ein weiteres Beispiel dafür, wie bei Hobbes alles, auch dieses Charakteristikum des Humanismus, seine antiklerikale Grundhaltung, im speziellen Gewand seiner Staatskirchentheorie erscheint. Die anderen in diesem Kapitel verhandelten Irrtümer: die Verkehrung der Weihe in Zauberei, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele 192 können hier übergangen werden. Aufklärerischen Geist zeigen auch Kap. 45: gegen Geisterlehre und Aberglauben und Kap. 46: gegen vermischte abergläubische Vorstellungen und Legenden. Im letzteren Kapitel findet sich auch eine heftige Polemik gegen die aristotelische Schulphilosophie. 185

AaO., S. 4 4 7 / 3 8 5 . Vgl. o. S. 346f. Vgl. zu diesem schon J. Laird, Thomas Hobbes, (1934) Reprint 1968, S. 236ff. AaO., S. 4 6 3 / 3 9 7 . AaO., S. 4 6 5 / 3 9 9 . Ebendort. AaO., S. 4 6 4 / 3 9 8 . AaO., S. 4 6 6 / 4 0 0 . 192 Hobbes' Kampf gegen diese verbreitete Ansicht der Aufklärung zeigt erneut seine große Bibelkenntnis, insbesondere des Alten Testaments. 18

« ι*" ι«» 189 κ» 191

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Die Krise der Bibelautorität in England

Kap. 47: „Von dem Vorteil aus dieser Finsternis, und wem er zugutekommt" faßt das in den vorangegangenen Kapiteln Behandelte zusammen und stellt es unter die Frage nach dem „Cui b o n o " . Hier holt Hobbes abschließend zu einem geballten Angriff auf das Priestertum aus. Von dem Irrtum, ,,that the present Church now militant on earth, is the kingdom of G o d " 1 9 3 profitierte zunächst das Papsttum mit seinem Machtanspruch. „ B u t " — nun enthüllt Hobbes einen näherliegenden Adressaten — „in those places where the presbytery took that office, though many other doctrines of the Church of Rome were forbidden to be taught; yet this doctrine, that the kingdom of Christ is already come . . . was still retained. But cui bono? What profit did they expect from it? The same which the Popes expected: to have a sovereign power over the people." 1 9 4 Er kämpft für die königlichen Ansprüche über die Kirche gegen Presbyterianer und gegen R o m , wie er in den folgenden Zielen klar ausspricht: „For what is it for men to excommunicate their lawful king, . . . and with force to resist him, when he with force endeavoureth to correct them? " Die Urheber des „Reiches der Finsternis" können deshalb klar mit Namen genannt werden: „The authors therefore of this darkness in religion, are the Roman, and the presbyterian clergy." 195 Es folgt eine Liste vorwiegend römischer Gebräuche, die Hobbes auf diesen Ursprung zurückführt. An ihrem Ende steht: „the metaphysics, ethics, and politics of Aristotle, the frivolous distinctions, barbarous terms, and obscure language of the Schoolmen, taught in the universities." 1 9 6 Die humanistische Front gegen die Schulphilosophie ist also auch bei Hobbes ungebrochen (komplementär ist seine Begeisterung für die neue Wissenschaft). Es fehlt auch nicht der (kurzgehaltene) Rückblick auf die Geschichte, in dem früheren Kaisern der Vorwurf gemacht wird, die Besitzergreifung der Macht durch 193

AaO., S. 4 5 1 / 5 2 5 . AaO., S. 4 5 2 / 5 2 6 . 195 w i e m a n ohne Berücksichtigung der kirchenpolitischen Hintergründe zu einem krassen Fehlurteil kommen kann, zeigt die Bemerkung von Κ. H. Ilting, Hobbes und die praktische Philosophie der Neuzeit, in: PhJ 72, 1964, S. 8 4 - 1 0 2 , S. 101, der meint, Hobbes habe „mit Religion und Philosophie, die er als .Reich der Finsternis' denunzierte", die geistige Existenz des Menschen dem Leviathan geopfert. Zur Kritik vgl. schon C. Schmitt, in: Der Staat 1 9 6 5 , S. 66, Anm. 6; Willms, in: Der Staat 1967, S. 2 2 4 . i 9 « AaO., S. 4 5 4 / 5 2 8 . - B. Willms bemerkt mit Recht: „ V o n Hobbes kann man nicht einmal sagen, er habe radikal mit Aristoteles gebrochen. Vielmehr bezieht sich sein Buch auf die Aristotelismen der zeitgenössischen Scholastik." In: Der Staat 1967, S. 82. Das ist aber kein individueller Schritt, sondern entspricht der traditionell antischolastischen Haltung der Humanisten. Auf der anderen Seite ist bei Hobbes hierin auch eine Wendung gegen den griechisch-metaphysischen Theismus zugunsten des fordernden Gottes zu erkennen, der das Fundament für den deontologischen Charakter seiner Ethik ist; vgl. dazu auch Glover, aaO., S. 163ff. 194

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den Klerus zuerst geduldet zu haben, und von dem Weg der Presbyter zur Macht seit der alten Kirche bis hin zum päpstlichen Primatsanspruch die Rede ist. Dazu dann die Feststellung, daß mit der Reformation in England der Weg zurück zu den reinen Anfängen begonnen habe: erst mit der Lösung von der päpstlichen Gewalt unter Elisabeth I, dann mit der Niederwerfung der Bischöfe durch die Presbyterianer, schließlich damit, daß auch den Presbyterianern vor kurzem die Macht genommen wurde — und so meint Hobbes jetzt die Möglichkeit urchristlicher Freiheit wieder offen zu sehen. Aber er fällt dann noch einmal in die Invektive gegen die Priester zurück: in einer ironischen Vergleichskette werden Kleriker und Geister einander vergleichend gegenübergestellt: die Gespenster haben nur einen König, den König Oberon, die Kleriker den Papst, die Kleriker haben ihre Kathedralen, die Gespenster ihre Schlösser usw. Scheinbar wendet sich diese Polemik nun wieder ausschließlich gegen R o m , aber am Schluß stellt Hobbes die Frage, ob nicht, nachdem Elisabeth diese Geister ausgetrieben, sie in anderer Form zurückkehren könnten? Und damit sind wir dann wieder in dem beliebten Topos, der Hobbes nicht allein bewegt. 9. Vergleicht man die Ausführungen Hobbes' in den Teilen seiner Werke, die sich mit der religiösen Thematik und dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche beschäftigen, mit den zuvor behandelten Positionen der verschiedenen Parteien in England in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, zerstreut sich mehr und mehr der durch die politikwissenschaftliche Forschung hervorgerufene Eindruck, daß es sich bei ihm um einen ganz für sich stehenden Einzelgänger handele. Gewiß ist er mit seinem Versuch, die Souveränität des Monarchen „more geometrico" aus der Denkfigur eines Naturzustandes zu begründen, ein origineller Staatsphilosoph, und die von seinem System ausgehende Faszination ist ebenso wie das in Haß umschlagende Unverständnis seiner jüngeren Zeitgenossen gut begreiflich. Wirkliche Entsprechungen zu seinen weltanschaulichen Voraussetzungen sind tatsächlich nicht bei diesen, wohl aber bei manchen Weggefährten seiner Jugend und in den Traditionen der Geistesrichtung, der er zuzuordnen ist, dem rational-ethischen Humanismus, wie er aus dem 16. Jahrhundert in das 17. hinübergewirkt hatte, zu finden. Im engeren Sinne gehört er zu der Gruppe der rationalistischen Anglikaner, die unter Karl I die absolutistische Monarchie und das staatskirchliche System unterstützten, inmitten der dadurch bedingten antirömischen Gesinnung aber auch den antipriesterlichen Affekt, der dem Humanismus eigen ist, weitertrugen. Das bedingt eine zwiespältige Haltung gegenüber dem bischöflichen Charakter der Kirche 1 9 7 und ihren 197 Vgl. dazu die zitierten etwas widersprüchlichen Äußerungen Hobbes', Anm. 9 1 , und S. 358.

o. S. 3 4 5 ,

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Die Krise der Bibelautorität in England

kultischen Formen, die beide, wie auch die dogmatischen Aussagen, als etwas Äußerliches eingestuft und dadurch relativiert werden, daß sie voll von der frei schaltenden Jurisdiktionsgewalt des Souveräns abhängig gemacht werden, während für den privaten Glauben ein unangreifbarer Schutzraum offen gehalten wird. Das bedingt aber auch die Frontstellung, neben der traditionellen gegen Rom, gegen die Presbyterianer, deren puritanische Reformvorstellungen einer presbyterialen Ordnung der Kirche zwar zunächst nicht die Staatskirche als solche, wohl aber unmittelbar den Supremat der Krone, später dann beim Übergang des Puritanertums zu den separatistischen Gruppen das gesamte Gefüge der Kirche bedrohen mußten. Von daher ist es verständlich, daß Hobbes zur Zeit Cromwelh durchaus bei den Independenten in ihrer konservativen Grundhaltung Bundesgenossen suchen konnte. Zu dieser Zeit hatte der (schon in vorgerücktem Alter stehende) Hobbes seine eigenen Voraussetzungen bereits überlebt, die in der von Erzbischof Laud, geförderten Gruppe damals junger liberaler Intellektueller zuhause waren, welche der beginnende Bürgerkrieg, wie er ihren Beschützer vernichtete, auseinander getrieben hatte. Alle theologischen Grundaussagen Hobbes' sind typisch humanistisch: die Beschränkung des heilsnotwendigen Credos auf eine Kernaussage: daß Jesus der Christus ist, wobei die nähere Erläuterung, das sei der von Gott durch die Propheten des Alten Testaments angekündigte König 1 9 8 , diese eng in die Systematik seines royalistischen Systems einbindet, die Vergleichgültigung der äußeren Formen 1 9 9 , das fast ausschließlich moralische Verständnis der Religion als Gott und seinen direkten und indirekten (durch den Souverän erlassenen) Gesetzen geschuldeten Gehorsam. Damit im Zusammenhang stehend auch das Bibelverständnis: die Bibel vor allem als Urkunde des Gesetzes, daneben aber auch als Zeugnis für eine Geschichte des in seinen Herrschern, mit Abraham angefangen, repräsentierten alten Gottesvolkes Israel, dem durch diese Herrscher die im Bund eingegangene Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber den Geboten vermittelt wird. Auch durch das Kommen Jesu Christi wird das legalistische Gottesverhältnis nicht aufgehoben, denn die durch Christus gewonnene Vergebung bezieht sich nur auf die vergangenen Sünden, während von nun an („für den Rest unserer Zeit") 198

S.o. S. 346, Anm. 96. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Hinweis auf den Syrer Naeman (2.Kön. 5), den Hobbes im Zusammenhang mit der Frage bringt, ob von dem Souverän ein falsches Lippenbekenntnis gefordert werden könne: „Lippenbekenntnis ist nur eine äußerliche Sache und nicht mehr als jede andere Geste, durch die wir unseren Gehorsam andeuten und bei der ein Christ, der in seinem Herzen am Christenglauben festhält, die gleiche Freiheit hat wie die, die der Prophet Elisa Naeman, dem Syrer, zugestand." Leviathan, ed. Fetscher, S. 381; ed. Oakeshott, S. 327. 199

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erneut der Gesetzesgehorsam auch von den Christen gefordert ist. Streng eingebunden in dieses legalistische Verständnis auch die typologische Deutung der alttestamentlichen Herrscher als Vorbild für die Rolle des Souveräns im gegenwärtigen, Staat und Kirche verbindenden Gemeinwesen: nur durch die unumstößlichen Sätze des natürlichen Rechts begrenzt, ist der Souverän bevollmächtigt, auch im Bereich der Kirche alle äußeren Formen wie auch die außerhalb des heilsnotwendigen Grundbekenntnisses liegenden dogmatischen Aussagen zu regeln. Eine mögliche Beeinträchtigung dieser Vollmacht durch die Königsherrschaft Christi wird dadurch vermieden, daß der Antritt dieser Herrschaft als streng eschatologisches Ereignis gedeutet wird. Freilich ist die kirchliche Jurisdiktionsgewalt des Herrschers in der Praxis eine repräsentative Vollmacht, denn wir sahen, wie Hobbes durchaus die Notwendigkeit einsieht, daß der König diese Aufgaben durch die sachlich zuständigen kirchlichen Organe ausführen läßt. Während Kultus und äußere Formen im Zusammenhang des Systems als für das Heil nicht notwendig, also als Adiaphora im erasmianischen Sinne behandelt werden, bricht am Rande, besonders in der Frontstellung gegen R o m , auch bei Hobbes der antikultisch-antipriesterliche Affekt mit durch, der als solcher ebenfalls ein Hinweis dafür ist, in welche geistige Tradition dieser Denker einzuordnen ist. Wenn also Hobbes auch als origineller Denker aus dem Kreis seiner intellektuellen Zeitgenossen herausragt und sein Streben nach strenger rationaler Folgerichtigkeit ein eindrucksvolles System der Begründung staatlicher und staatskirchlicher Souveränität hervorgebracht hat, ist er in seinen inneren Voraussetzungen und seinen religiösen Einstellungen, die auch bei ihm die Grundlage seines gesamten Denkens darstellen, doch durchaus ein Kind seiner Zeit. Er läßt sich klar in eine geistige Gesamtströmung: den christlichen Humanismus des 16.—17. Jahrhunderts, und in eine kirchenpolitische Richtung: das dogmatisch liberale, politisch royalistische Anglikanertum der Epoche Lauds einordnen. Insofern wird mit seiner Gestalt zwar ein neuer Stein in das geistige Mosaik des Jahrhunderts der Revolution eingefügt, dessen Bild im ganzen aber nicht grundlegend verändert. Auch das humanistisch geprägte Bibelverständnis wird durch Hobbes nicht wesentlich modifiziert, nur daß allerdings die legalistische Grundlinie durch diesen konsequenten Denker klarer und kompromißloser herausgearbeitet wird, als wir das bei seinen Zeitgenossen bisher beobachten konnten. In seiner rationalen Nüchternheit liegt auch die Wurzel für seinen Gegensatz zu den Cambridge Platonists 2 0 0 , deren Spiritualismus ihm zuwider war, mit denen ihn aber der Moralismus im Grunde verband. Ein Grundzug seiner Bibelinterpretation, 2 0 0 Unter denen ihn besonders More und Cudworth aaO., S. 8Off.

24

Reventlow, Bibelautorität

bekämpften; vgl. dazu

Mintz,

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Die Krise der Bibelautorität in England

der überhaupt das Zentrum seines Gebrauchs vor allem des Alten Testamentes darstellt, ist die bisher ganz ohne Würdigung gebliebene hermeneutische Methode der Königstypologie, die er durch ihre Ausdehnung bis hin zur Abraham-Gestalt ebenfalls mit der für ihn charakteristischen Konsequenz handhabt.

Kapitel 4: Die

Latitudinarier

a) Prediger und theologische Schriftsteller Glorious Revolution (1660—1689)

von der Restauration

bis zur

Im Jahre 1683 starb Benjamin Whichcote während eines Besuches im Hause seines befreundeten Kollegen Ralph Cudworth in Cambridge. Die Traueransprache hielt der spätere Erzbischof von Canterbury John Tillotson (1630— 1 6 9 4 ) e i n Schüler der beiden Cambridge Platonists, berühmter Prediger und bekanntester Vertreter der Richtung der sog. Latitudinarier. 2 Diese waren offensichtlich in mancherlei Hinsicht die Erben der Cambridger Schule, vor allem in ihrer rationalen und moralischen Grundhaltung und ihrer dogmatischen Weite, mit dem einen charakteristischen Unterschied allerdings, daß ihnen die neuplatonisch-spiritualisierende Grundstimmung dieser eine besondere geistesgeschichtliche Erscheinung bildenden Gruppe von Philosophen fehlte. Die Latitudinarier waren überhaupt nicht Philosophen, sondern Kirchenmänner, Leute der Praxis, die auch da, wo sie Theologie trieben, praktische Ziele: homiletische Erbauung ihrer Hörer und apologetische Verteidigung der anglikanischen Kirche, verfolgten. Es ist kein Zufall, daß die ersten Äußerungen aus latitudinarischen Kreisen unmittelbar nach der Restauration von 1660 einsetzen (als auch die Cam1

/ . Tillotson, Α Sermon Preached at the Funeral of the Reverend Benjamin Whichcot, D. D. May 24th, 1683, auch in: Sermons on Several Subjects and Occasions, 1748, Bd. II, S. 1 0 8 - 1 2 6 . 2 Der Begriff „Latitude-men" begegnet zuerst bei Simon Patrick, Α Brief Account of the new Sect of Latitude-men, 1662 (Reprint, ed. T. A. Birell, 1963), wo er ähnlich wie auch bei G. Burnet, History of His Own Time (ed. Μ. / . Routh, 1833, Repr. 1969), Bd. I, S. 342, die Cambridge Platonists meint, vgl. u.a. R. L. Colie, Light, S. 22; Cragg, From Puritanism, S. 61; Birell, aaO., Introduction, S. III. Es ist aber aus Gründen der Klarheit besser, dem sich gegen Ende des Jahrhunderts ausbildenden Sprachgebrauch zu folgen und die liberalen Theologen der folgenden Generation, die sich deutlich von den Cambridge Platonists unterscheiden, als „Latitudinarier" zu bezeichnen. So nach dem Vorgang Tullochs, Rational Theology, neuerdings wieder R. Cragg, aaO., S. 6Iff.; ders., The Church and the Age of Reason, (1960), 2 1966, S. 70f.; Birell, aaO. Vgl. auch Ν. Sykes, From Sheldon to Seeker, 1959, S. 145ff.

Die Latitudinarier

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bridge Platonists ihr Wirken noch nicht beendet haben), ihre eigentliche Breitenwirkung in der Öffentlichkeit aber erst nach der Glorious Revolution von 1688 durchdrang und dann bis weit in das 18. Jahrhundert hinein anhielt. Beide politischen Umbrüche bedeuteten auch tiefe Einschnitte in der geistigen Situation Englands, und das heißt unmittelbar auch für Kirche und Theologie. 3 Die Restauration mußte zunächst, trotz aller persönlichen Liberalität des Königs, eine Gegenbewegung gegen die vorangegangene Alleinherrschaft des Puritanertums zugunsten des anglikanischen Systems bringen. Nach dem Scheitern der historischen Chance eines Kompromisses zwischen Presbyterianern und Episkopalisten auf der Savoy Conference im Frühjahr 1661 4 zwang die „Act of U n i f o r m i t y " 5 alle Geistlichen, die im Amt bleiben wollten, zur eidlichen Unterwerfung unter die hierarchische Ordnung der Kirche von England, zur Annahme des Common Prayer Book mit seinen liturgischen Vorschriften und zum Widerruf des Solemn League and Covenant von 1643. Die Wirkung war, daß sehr viele Puritaner freiwillig oder gezwungen ihre Stellen aufgaben; die Forderung eines Nachweises bischöflicher Ordination als Einstellungsvoraussetzung für alle Pfarrer sowie die Wiedereinstellungsansprüche der unter dem Commonwealth vertriebenen Stelleninhaber erhöhten die Zahl der Neubesetzungen. 6 Vielen der abgesetzten Gemeindehirten gelang aber der Unterschlupf in anderen Positionen, teilweise durch mächtige private Gönner, andere puritanisch Gesinnte fanden einen Weg zu äußerer Anpassung und Verbleib auf ihren Posten 7 , und das Endergebnis dieser Maßnahmen war nicht die erhoffte Wiederherstellung der Einheit der Kirche („comprehension"), sondern ihre endgültige Aufspaltung 3

Vgl. dazu u.a. N. Sykes, Church and State in England in the XVIIIth Century, 1934, Kap. 1, S. 1 - 4 1 ; D. Ogg, England in the Reigns of J a m e s II and William III (1955), 2 1 9 5 7 , S. 2 2 2 f f . ; D. Bahlman, The Moral Revolution of 1688 ( 1 9 5 7 ) , Repr. 1968; C. F. Mullett, Religion, Politics, and Oaths in the Glorious Revolution, in: RP 10, 1948, S. 4 6 2 - 4 7 4 . 4 Vgl. dazu Sykes, aaO., S. 1 Of.; Η. Davies, Worship and Theology in England from Andrewes to Baxter and F o x , 1 6 0 3 - 1 6 9 0 , 1975, S. 3 6 5 f f . 5 Vgl. Burnet, History, Bd. I, S. 3 3 0 f f . ; C. E. Whiting, Studies in English Puritanism from the Restoration to the Revolution, 1 6 6 0 - 1 6 6 8 ( 1 9 3 1 ) , Reprint 1968, S. I f f . ; M. A. Thomson, A Constitutional History of England, 1 6 4 2 to 1 8 0 1 , 1938, S. 124ff.; C. F. Mullett, Toleration and Persecution in England, 1 6 6 0 - 8 9 , in: ChH 18, 1949, S. 1 8 - 4 3 ; E. Routley, English Religious Dissent, 1960, S. 103ff.; ]. T. Wilkinson, 1 6 6 2 - and After. Three Centuries of English N o n c o n f o r m i t y , 1962, S. 4 4 f f . ; C. Gould, D o c u m e n t s Relating to the Settlement of the Church of England by the Act of Uniformity of 1662, 1862. Der volle Text der Act dorts., S. 2 8 6 - 4 0 4 . 6 Zu den Einzelheiten vgl. bes. Whiting, aaO., S. 7ff. 7 Vgl. Sykes, aaO., S. 21.

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in die beiden Blöcke der Konformisten und N o n k o n f o r m i s t e n , wobei letztere in eine immer größere Zahl von Sekten auseinanderfielen. 8 Unter der Oberfläche äußerer K o n f o r m i t ä t bereitete sich ein tiefgreifender Wandel der inneren geistigen Situation vor, der n u r eines äußeren auslösenden Moments bed u r f t e (der o f f e n e n Hinwendung Jakob II zum Katholizismus), u m zu einem revolutionären U m b r u c h aller Verhältnisse, der Glorious Revolution von 1688 zu führen. 9 Charakteristisch für diesen Wandel war, daß die „dritte Partei": die rationalmoralische Richtung im Anglikanertum, z u n e h m e n d an Einfluß gewann, deren Ziel schon 1661 eine möglichst umfassende „ c o m p r e h e n s i o n " durch R e d u k t i o n der Anforderungen an die liturgische und dogmatische Einheitlichkeit war. Ihre schließliche Ausformung als eine gesonderte kirchliche und politische Partei hängt eng damit zusammen, daß sie dieses Ziel wegen der hochkirchlichen Mehrheit in der Canterbury Convocation auch 1689 nicht durchsetzen k o n n t e und sich statt dessen mit der Toleration Act zufriedengeben m u ß t e , die immerhin den freikirchlichen G r u p p e n Duldung, wenn auch ihren Gliedern noch nicht die volle bürgerliche Gleichberechtigung brachte. Ein zweiter wichtiger Grund lag in den Implikationen des Dynastiewechsels: die hochkirchliche Geistlichkeit fühlte sich zu einem großen Teil auch nach der Vertreibung Jakob II dem legitimen Königshause verpflichtet und verweigerte teilweise sogar dem neuen Herrscher den Untertaneneid (die sog. non-jurors), so daß sich Wilhelm III genötigt sah, sich hauptsächlich auf die latitudinarische Richtung in der Kirche zu stützen. Diese wurde dadurch ganz in die Rolle der Verteidiger der etablierten Kirche und (in enger Verbindung mit der jetzt zunehmend an Einfluß gewinnenden Partei der Whigs) des politischen Systems, insbesondere der protestantischen Erbfolge, gewiesen. 1 0 Daß die Whigs nach 1689 und (nach dem Zwischenspiel der Tory-Herrschaft u n t e r Königin Anna) unter den ersten Herrschern aus dem Hause Hannover jahrzehntelang zur staatlichen und kirchlichen Mehrheitspartei wurden, verdanken sie aber viel stärker als den äußeren Umständen dem schon 1661 einsetzenden Klimawechsel. 8

Diese werden von Whiting in seiner genannten Arbeit ausführlich beschrieben. Sykes, aaO., überschreibt deshalb sein 1. Kapitel: „From Restoration to Revolution: Seed Time and Harvest." 10 Vgl. Sykes, aaO., S. 33. Ob diese Rolle allerdings ganz „uncongenial" gewesen ist, wird zweifelhaft, wenn man an Hooker und die Beziehungen Chiliingworth' zu Laud denkt, vgl. o. S. 2 5 1 . In ihrer rational-moralischen Grundhaltung stimmten Latitudinarier u n d Laudianer innerhalb des Anglikanertums überein; uneinig waren sie sich in der Beurteilung der liturgischen Fragen und später des Legitimismus. Beide rechneten die Liturgie zum Bereich der Indifferentia, aber die Hochkirchler drängten auf ihre verbindliche Regelung durch die hierarchische Kirche, während die Latitudinarier auch hier zum Minimalismus neigten. 9

Die L a t i t u d i n a r i e r

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Auf der anderen Seite war auch das Puritanertum in der Restaurationsepoche nicht verschwunden. Die aufeinanderfolgenden Niederlagen der gemäßigteren puritanischen Richtungen, erst der Presbyterianer gegenüber Cromwell, dann der Independenten mit dem Scheitern des Commonwealth-Experimentes, hatten schließlich innerhalb des breiten Spektrums seiner Gruppierungen eher den linken Flügel begünstigt. Diese Entwicklung läßt sich auch im Lebenslauf verschiedener Einzelpersonen verfolgen, die von den Presbyterianern über die Independenten zu den Baptisten oder Quäkern emigrierten, bis sie schließlich manchmal bei einer allgemeinen Skepsis endeten. 1 1 Der linke Flügel des Puritanertums war durch einen extremen Spiritualismus, vielfach mit einem stark mystischen Einschlag verbunden, gekennzeichnet. Typisch hierfür ist z.B. das Werk von Sir Henry Vane, einem der prominentesten Vertreter dieser Richtung 1 2 , dessen Dunkelheiten seinen Lesern immer wieder fast unüberwindbare Schwierigkeiten bereitet haben. 1 3 Die führende Rolle, die Vane schon im langen Parlament von 1640 und dann wieder im Rumpfparlament nach dem Rücktritt Richard Cromwelh spielte, zeigt zugleich den politischen Einfluß der äußersten puritanischen Linken während der Bürgerkriegsepoche. Ein anderes Beispiel sind die Quäker, die, aus den „Seekers" hervorgegangen 14 , die Lehre vom „inneren Licht" als Quelle

11 Vgl. die innere E n t w i c k l u n g v o n Lilburne u n d Walwyn, o. S. 3 0 4 f . , A n m . 3 1 7 ; d a z u auch Nuttall, T h e H o l y Spirit, S. 13f.; W. S. Hudson, Mystical Religion in t h e Puritan C o m m o n w e a l t h , in: J R 2 8 , 1 9 4 8 , S. 5 1 - 5 6 , S. 5 4 . 12 Es gibt zahlreiche Biographien Vanes', a u ß e r der zeitgenössischen seines F r e u n d e s G. A. Sikes, Life a n d D e a t h of S. Η . V., 1 6 6 2 , vgl. u.a. C. W. Upham, Life of S. Η. V., 1 8 3 5 ; / . Forster, S. Η. V . the Y o u n g e r ( E m i n e n t British S t a t e s m e n , Vol. IV, 1838, S. I f f . ) ; / . Κ. Hosmer, Life of S. Η. V., 1 8 8 8 ; / . C. Hearnshaw, T h e Life of S. Η . V. the Y o u n g e r , Puritan Idealist, 1 9 1 0 ; W. W. Ireland, T h e Life of S. Η . V., t h e Y o u n g e r , 1905; / . Willicock, Life of S. Η. V., the Y o u n g e r , S t a t e s m a n & M y s t i c ( 1 6 1 3 - 1 6 6 2 ) , 1913, aber (nach Sikes) keine systematische Darstellung seiner t h e o l o g i s c h e n A u f f a s s u n gen. Vgl. i m m e r h i n Ireland, aaO., S. 4 3 6 f f . , M. Freund, Die Idee d e r T o l e r a n z , S. 2 7 5 f f . ; Jones, Spiritual R e f o r m e r s , S. 2 7 I f f . 13

S c h o n Burnet b e r i c h t e t über die v o n Vane a b g e h a l t e n e n p r i v a t e n E r b a u u n g s v e r s a m m lungen: „ I n these m e e t i n g s he p r e a c h e d a n d p r a y e d o f t e n h i m s e l f , b u t w i t h so peculiar a darkness, t h a t t h o u g h I have s o m e t i m e s t a k e n pains to see if I c o u l d f i n d o u t his m e a n i n g in his w o r k s , y e t I could never reach i t . " H i s t o r y , Bd. I, S. 2 9 4 f . W. Ireland b e m e r k t : ,,Ιη reading V a n e ' s theological writings, o n e grasps at t h e meaning, believes t h e r e is a meaning, y e t it escapes, or o n l y dwells in the m i n d f o r a m o m e n t , leaving n o c o n c e p t i o n b e h i n d . " A a O . , S. 4 4 7 . Diese D u n k e l h e i t ist ein c h a r a k t e r i s t i s c h e s M e r k m a l der Mystik. 14

Vgl. W. C. Braithwaite, T h e Beginnings of Q u a k e r i s m ( 1 9 1 2 ) , 2 1 9 5 5 ( R e p r . 1 9 7 0 ) , S. 2 5 f f . ; 5 8 f f . ; 8 0 f f . ; Whiting, aaO., S. 1 3 3 f f . H. Davies, Worship, S. 4 9 0 f f . , b e t o n t die Ä h n l i c h k e i t e n zwischen Q u ä k e r n u n d B a p t i s t e n u n d v e r m u t e t ihren U r s p r u n g bei d e n spirituellen P u r i t a n e r n d e r Cromwell-Ära. Vgl. bes. S. 4 9 5 .

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einer für jeden Menschen offenstehenden unmittelbaren Offenbarung in den Mittelpunkt ihres Lehrsystems stellten, das im übrigen vorwiegend durch die bekannten ethischen und z.T. äußerliche Verhaltensweisen betreffenden Vorschriften (Weigerung, den Hut zum Gruß zu lüften; Anrede aller Personen, auch der höchstgestellten, mit ,,Thou" statt „You"), die einem wörtlich genommenen Neuen Testament entsprechen, gebildet wird. Sie repräsentieren die mystische Strömung im Puritanertum in einer besonders deutlichen Weise und sind damit Zeugen eines Erbes, das auf die Spiritualisten innerhalb des „linken Flügels der Reformation", wie z.B. Sebastian Franck 1S, zurückführt. 1 6 Ebenso sind sie aber auch extreme Vertreter des für das Puritanertum typischen Legalismus, auf dessen enge Verbindung mit bestimmten Formen des Spiritualismus W. S. Hudson erneut hingewiesen hat. 1 7 Gerade bei den frühen Quäkern begegnen einige der charakteristischen Züge wieder, die schon bei den spätmittelalterlichen Spiritualen anzutreffen waren 1 8 : so vor allem die Anschauung, daß die gegenwärtige Zeit das eschatologische Zeitalter des Geistes sei, in dem die bisherigen Strukturen der Kirche abgetan seien und auch das bestehende Priestertum zugunsten eines neuen, geistgewirkten Dienstes abzudanken habe. Weil sie die existierende Kirche ablehnten, verweigerten die Quäker die Zahlung der Zehnten 1 9 ; gelegentlich kamen sogar tätliche Übergriffe von Quäkern auf Gottesdienste der Staatskirche vor. 2 0 Die Verweigerung der Eidesleistung und die allgemeine Abneigung in der Öffentlichkeit, die sie durch ihr entschlossenes, exzentrisches Betragen hervorriefen, führte trotz der Bemühungen des Königs um Milde zu einer heftigen Verfolgung der Quäker durch die Gerichte und zu zahlreichen Exzessen gegen sie seit dem Jahre

is Vgl. o. S. 103ff. 16 So auch Whiting, aaO., S. 133; Hudson, aaO., S. 54, u.a. Nuttall, The Holy Spirit, S. 15, bemerkt jedoch: „any direct influence is far to seek". — Zum frühen Enthusiasmus des Quäkertums in der Periode 1652—56 vgl. auch G. F. Nuttall, Studies in Christian Enthusiasm. Illustrated from Early Quakerism, 1948 (über Aldam, Farnworth, Holme, Nayler und die Ranters). T. Sippel, Werdendes Quäkertum, 1937, macht vor allem auf John Everard ( t 1640) aufmerksam; vgl. schon ders., Über den Ursprung des Quäkertums, in: ChW 12./ 19./26. Mai 1910; ders., Zur Vorgeschichte des Quäkertums, 1920. 17 AaO., S. 53f. Nuttall, aaO., S. VIII, meint, daß das Quäkertum „indicates the direction of the Puritan movement as a whole". — Der geistige Zusammenhang mit dem Puritanertum ist auch dann deutlich, wenn die puritanische Geistlichkeit den „Enthusiasmus" der frühen Quäker mit Entschiedenheit ablehnte. Vgl. dazu H. Brinton, Vorwort zu G. F. Nuttall, aaO., S. 7. 18 Vgl. o. S. 37ff. ι» Vgl. Whiting, aaO., S. 135. 20 Vgl. Whiting, aaO., S. 192f.

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1660 bis zu einer Reihe von Martyrien — sie waren überhaupt die am stärksten verfolgte religiöse Gruppe in der gesamten Restaurationszeit. 2 1 Ihre antikirchliche, antipriesterliche Haltung kam auch in einer Reihe ihrer frühen Schriften zum Ausdruck; unter diesen 2 2 sei auf das Werk von Edward Burrough23 hingewiesen, der als einer der ersten Märtyrer der Quäkerverfolgung 1662 im Londoner Gefängnis Newgate s t a r b . 2 4 In ihm finden wir aus dem Munde eines wenig gebildeten, aber begeisterten Mitgliedes der G e m e i n s c h a f t 2 5 ein charakteristisches Beispiel für den Enthusiasmus, mit dem das Quäkertum seinen Angriff auf die bestehende Kirche erö f f n e t e . Schon in der einleitenden ,,Epistle to the R e a d e r " 2 6 tritt das hohe Sendungsbewußtsein des Verfassers hervor, mit dem er sich im Namen des Quäkertums in der farbigen Bildhaftigkeit einer apokalyptisch getönten Sprache an die ganze Welt und alle Nationen w e n d e t 2 7 , um den Streit vorzutragen, der besteht „between the Priests, and Professors, and all Sects in these Nations, and Us, who are in scorn called Quakers, shewing that the Controversie on our part is just and equal against them all", und diese a u f f o r d e r t , „to prove according to the Scriptures, their Ministry, Church, and whole Religion, that it is in and by the Spirit and Power of God, or otherwise to renounce and deny all their Religion, and the Profession and Practice thereof". Es folgt die Selbstvorstellung der Quäker, in der sich diese (in Anlehnung an A p k j o h . 7 und Ps. 23) als das aus allen Nationen und durch viele Verfolgungen hindurch gesammelte Volk der Endzeit unter dem guten Hirten bezeichnen, gekommen „out of the World, and out of great Babylon, and out of spiritual S o d o m , and E g y p t " . Sie verachten alle Reichtümer und Kronen dieser Welt, weil ihnen ihre geistliche (Wieder-)ge21 Vgl. dazu Whiting, aaO., S. 186ff., der sich u.a. auf die zeitgenössischen Berichte von John Whiting, Persecution Exposed, 2 1 7 9 1 , bezieht. Zur Verfolgung der Puritaner allgemein: G. R. Cragg, Puritanism in the Period of the Great Persecution, 1957. 22 Zu erwähnen wären u.a. J. Aynhoe, Α Short Description of the True Ministry and the False, 1 6 7 2 ; / . Audland, The Memory of the Righteous Revived, 1689; vgl. dazu Whiting, aaO., S. 135, sowie der Sammelband von Τ. Camm und C. Marshall, The Memory of the Righteous Revived, 1689, in dem sich zahlreiche kleine Schriften von John Camm und John Audland befinden. 23 The Memorable Works of a Son of Thunder and Consolation, Namely, That True Prophet, and Faithful Servant of God, and Sufferer for the Testimony of Jesus, Edward Burroughs, 1672. 24 Vgl. zu ihm Ε. Brockbank, Edward Burrough, 1949; außerdem Braithwaite, aaO., S. 285f., und vgl. Index; Whiting, aaO., vgl. Index. 25 Vgl. das Urteil von Braithwaite, aaO., S. 286. 26 Fol. a 2 — d 2, unpaginiert. 27 „To all the World to w h o m this may c o m e to be Read", lautet der Eingang der Epistle.

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burt Anteil an einem anderen Königreich, das nicht von dieser Welt ist, gibt, sie, die der „Same J a k o b s " , von Gott gesegnet, sind. Durch sie tut der Herr sein eschatologisches Werk, „for Sion shall rise out of the Dust, her beautiful Garments shall be put on, and Mourning and Sorrow shall flee away" und so weiter, in einer von biblisch-messianischen und apokalyptischen Anspielungen gesättigten Sprache. Dann wendet sich der Bußprediger seinen eigentlichen Adressaten zu und redet sie (mit einer Kombination aus Joel 1,13; Hos. 2,10. 5 und anderen alttestamentlichen Assoziationen) an: „Hear this ye Priests, and howl, and lament for the misery that is coming upon you; the Lord hath laid you naked, and made you bare . . . " Er beschuldigt sie mit den Worten von Jer. 23,16. 28, ihre eigenen Träume und Visionen, nicht das Wort des Herrn zu verkünden und damit den Abfall der Kirchen seit der Zeit der Apostel zu repräsentieren. Hier treffen wir also die typisch spiritualistische Sicht der Kirchengeschichte; die Gegenüberstellung der Priester als der „false Apostles, which went out from the true Apostles, and run for Gifts and Rewards, and preached for filthy Lucre" mit den quäkerischen Geistpredigern als den wahren Aposteln und echten Dienern des Wortes — „for they were led by the Spirit of the Father which dwelt in them, and they preached the Gospel by the Spirit, and spake as the Spirit gave them utterance" — lädt die Schuld für diesen Abfall den Geistlichen in Vergangenheit und Gegenwart auf und identifiziert die bestehende Amtskirche pauschal mit „Babylon" (s.o.). Sie, die Priester, sind die Hauptgegner, die es zu bekämpfen gilt: „I do hereby declare unto you, in the Name and Authority of the Lord, that we have a controversie with you, and a great charge against you in all these things, in your Call, in your Practice, and in your Maintenance, and in your Doctrines." In ihrer Berufung: denn die Apostel waren durch die Gabe des Geistes berufen, in ihrer Praxis: denn sie verkündigten, was ihnen der Geist eingab, die Priester aber, „what you have studied for out of Books and old Authors you preach to people" (hier treffen wir also auch die charakteristische Feindschaft der Spiritualisten gegen das akademische Studium), in ihrem Lebensunterhalt: weil sie von Zehnten und anderen Abgaben leben, nicht wie die Apostel von freiwilligen Gaben ihrer Hörer. Sie, die Quäker, sind jetzt die Empfänger des Geistes, des „Lichtes in uns, das Christus uns gegeben h a t " , das sie über den traurigen Zustand der Kirche (des Weibes, das einst mit der Sonne bekleidet gewesen ist und den Mond unter ihren Füßen hatte [nach A p k j o h . 12,1], jetzt aber in die Wüste geflohen ist [ A p k j o h . 12,6]), informiert hat. „And we found this Light to be a sufficient Teacher, to lead us to Christ, from whence this Light came." Der Besitz des Geistes aber bedeutet die Abwendung von aller dogmatischen

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Lehre und allen bisherigen kultischen F o r m e n 2 8 , und so ziehen die Quäker als Gefolgsleute des L a m m e s in den K a m p f gegen die Mächte der Finsternis und gegen die Amtskirche, „the Beast and false Prophet, which have deceived the N a t i o n s " , gegen die große Hure ( A p k j o h . 17), aus deren Becher alle Welt den Wein der Hurerei getrunken hat. Denn ,,the Antichrist was set up in the Temple of G o d (nach Dan. 9 , 2 7 ; 11,31; 12,11; Matth. 24,15), ruling over a l l " seit den Tagen der Apostel und der Urkirche; der Klerus („the Ministry") ist dieser Antichrist, die Priester sind seither nicht Diener Christi, sondern falsche Propheten und Apostel, ,,wholy degenerated from what the true Ministry of Christ once w a s " . Auch was die wahre Aufgabe der weltlichen Obrigkeit wäre, deutet der Prophet des Geistes an: die Bösen zu strafen, die Guten zu schützen, im übrigen aber „that mens Consciences are to be left free, and to be ruled by the Lord alone, and guided by his Spirit". Über die Gewissen hat der Staat nicht zu regieren. Aber die Obrigkeit hat ihre Kompetenzen in dieser Hinsicht, durch die Verfolgung der Quäker, weit überschritten! Es folgt eine ausführliche Beschreibung aller Bedrückungen, durch welche die kurze Quäkergeschichte bisher gekennzeichnet war. Dabei hätte man doch nur einmal die Früchte der Q u ä k e r mit denen der Priester vergleichen sollen! Dann hätte man ihnen die Freiheit geben müssen, die Priester offen in allen genannten Hinsichten zu kritisieren. J a , die Anhänger der Kirchen sollen Zeit, Ort und Bedingungen eines Streitgespräches über das Thema wählen, ob sie nicht betrogen worden sind und ihrem gesamten Glauben absagen müssen, dann wollen die Quäker mit ihnen ins Verfahren eintreten! Die Protestanten wollen j a die Kirche R o m s mit Recht nicht als Kirche anerkennen — dadurch, daß sie selbst die römischen Praktiken weiter anwenden, beweisen sie, daß ihre Kirche, ihr Kultus und Klerus im Grunde genau dieselben sind wie die römische, „that the Protestant Church, and Worship, and Ministry, is of the Romish Church sprung as a branch out of her, not contrary to her, and against her". Mit der Wendung der antirömischen Polemik gegen die Kirche von England selbst erscheint noch einmal ein typischer T o p o s der spiritualistischen Position. Die „Epistle to the R e a d e r " ist eine eindrucksvolle Zusammenfassung der antikultisch-antipriesterlichen Gedanken, die noch in anderen in den „Works" enthaltenen Schriften entwickelt werden. Hierzu gehören besonders das Pamphlet von 1657: „ A J u s t and Lawful Tryal of the Teachers and professed 2 8 „ A n d so we ceased f r o m the teaching of all m e n , and their words, and their Worships, and their T e m p l e s , and all their Baptisms, and Churches, and we ceased f r o m our own Words, and Professions, and Practises in Religion . . . and we became F o o l s f o r Christ's sake . . . "

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Ministers of this Age and Generation, by a perfect proceeding against them" 2 9 , außerdem das Kap. XI: „Concerning the true Ministry of Christ and the false Ministry, and the difference between t h e m " 3 0 aus dem (1667 gedruckten) Katechismus: „A Standard lifted up, and an Ensign held forth to all Nations" 3 1 . Das ebenfalls aus dem Jahre 1657 stammende Pamphlet: „The True Christian Religion again Discovered, After a long and dark Night of A p o s t a c y " 3 2 mündet in eine von ähnlichem prophetischem Pathos getragene Aufforderung an alle Sekten und Bekenntnisse, zu einer Gerichtsverhandlung darüber zu erscheinen, wer den Anspruch erheben könne, der wahren Religion anzugehören. Der Maßstab dafür ist formal der allen Puritanern gemeinsame: „Whatsoever is professed and practised for Religion, for which there is neither command nor president (=precedent) in Scripture, is not according to the Scripture." Was die wahre Religion sei, wird anschließend aber auch inhaltlich definiert und erhält dadurch die charakteristische ethisch-spiritualistische Färbung: „The true Religion is a walking with God in purity and holiness, a performing of good to him, and not doing any evil; a belief in Christ, and receiving of him, and a living in him, and through the operation of his Spirit to be changed into his Image . . . and not a living to this vain World in any thing, but in all things to be guided by the Spirit of Christ . . , " 3 3 Genau dies ist die typische puritanische Position; von ihr aus ist die folgende Polemik gegen alle äußeren Formen der Kirche nur eine von den Quäkern noch radikaler als von den gemäßigten Puritanern gezogene Konsequenz. Im einzelnen werden gerügt: die Kindertaufe (als nicht schriftgemäß verleiht sie keine wahre Mitgliedschaft in der Kirche), der Psalmengesang (er ist nicht neutestamentlich), der Gottesdienst in „Tempeln" (er ist gegen Act 17,24), der bezahlte Dienst der Geistlichen und das Nehmen von Zehnten. Das in der ,,Epistle" Verkündigte wird auch hier gesagt: solche Geistlichen sind überhaupt keine Diener Christi; deshalb gilt auch von allen Anhängern der Kirchen und Sekten: „none of you are of the Christian Religion". 3 4 AaO., S. 223ff. AaO., S. 248f. 31 AaO., S. 2 4 I f f . 3 2 A a O . , S. 3 2 5 f f . 3 3 B e i d e Z i t a t e : a a O . , S . 3 2 6 . D a g e g e n w e r d e n s ä m t l i c h e L e h r e n d e r Q u ä k e r ausführlich als s c h r i f t g e m ä ß v e r t e i d i g t , a a O . , S . 3 3 5 f f . D e r E i d d e s P r o t e k t o r s Cromwell, die christliche R e l i g i o n , die n a c h d e n S c h r i f t e n ist, zu u n t e r s t ü t z e n , b i l d e t d e n Ank n ü p f u n g s p u n k t für d a s g e s a m t e P a m p h l e t , a a O . , S . 3 2 5 . 29

30

3 4 A a O . , S . 3 2 7 . Ä h n l i c h e A u s s a g e n g e g e n d e n K l e r u s b e g e g n e n a u c h in der S c h r i f t : A F a i t h f u l T e s t i m o n y C o n c e r n i n g the T r u e W o r s h i p o f G o d ( 1 6 5 9 ) , a a O . , S . 4 7 4 f f . ; in: A H u e - a n d - C r y a f t e r the F a l s e P r o p h e t s a n d D e c e i v e r s ( 1 6 6 1 ) , a a O . , S . 8 7 9 f f . , u n d a n d e r o r t s . Z u r A b l e h n u n g d e s Z e h n t e n als u n s c h r i f t g e m ä ß vgl. b e s . J o h n A u d l a n d ' s L e t t e r t o a Priest c o n c e r n i n g T y t h e s , in: Camm-Marshall, T h e M e m o r y , S . 176—

181.

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Z u m S e n d u n g s b e w u ß t s e i n der Q u ä k e r g e h ö r t a b e r a u c h , d a ß sie ihre e i g e n e Zeit als d i e e s c h a t o l o g i s c h e Z e i t d e r E r f ü l l u n g u n d W i e d e r k e h r der T a g e der A p o s t e l b e t r a c h t e n , w o b e i sie selbst als d i e g e i s t g e f ü h r t e n Z e u g e n der Wahrh e i t e r s c h e i n e n . 3 5 D e r spiritualistische H i n t e r g r u n d , der a u c h h i n t e r d e m L e g a l i s m u s i m S c h r i f t g e b r a u c h s t e c k t , ist s c h o n in d i e s e n A u s f ü h r u n g e n d e u t l i c h ; er tritt aber a u c h e x p l i z i t h e r v o r in d e n A u s f ü h r u n g e n über das E v a n g e l i u m Christi in ,,A S t a n d a r d " , K a p . X I I , in d e m streng z w i s c h e n „ B u c h s t a b e n " u n d E v a n g e l i u m u n t e r s c h i e d e n w i r d 3 6 , u n d in K a p . X I I I „ C o n c e r n i n g t h e Word o f G o d , and c o n c e r n i n g t h e S c r i p t u r e s " , in d e m das e w i g e W o r t , das v o r der S c h ö p f u n g w a r u n d ( n a c h d e n b i b l i s c h e n Bildern) scharf w i e e i n s c h n e i d e n d e s S c h w e r t ist, als d i e h i n t e r d e m W e r d e n der S c h r i f t s t e h e n d e K r a f t b e z e i c h n e t w i r d , d i e a u c h für das r e c h t e Vers t ä n d n i s der S c h r i f t u n e n t b e h r l i c h i s t . 3 7 W e n n a u c h die f r ü h e n Q u ä k e r d e n ä u ß e r s t e n Flügel d e s P u r i t a n e r t u m s b i l d e t e n ( u n d ihre N a c h f o l g e r b a l d in m i l d e r e n T ö n e n s p r a c h e n ) , s t e l l t e n sie d o c h k e i n e s w e g s e i n e i s o l i e r t e E r s c h e i n u n g dar, s o n d e r n g e b e n in d e n 35

Vgl. aaO., S. 341: „the Testimony of Truth it self, and the Way of the Lord it self, for many Generations hath not so clearly and purely been held forth, as it is now in this Age and Generation; f o r now the true Light hath shined, and the Way of Salvation is evidently made manifest." . . . „and the same Power of God, and the same Truth that was in the Apostles days, and the same Ministry by the Gift of the same holy Ghost, as was in the Apostles dayes, is now witnessed." — Gut illustriert wird das Sendungsbewußtsein der Quäker durch das Schreiben John Audlands an den Lordprotektor: Some Particulars concerning the Law, sent to Oliver Cromwell (in: Camm-Marshall, aaO., S. 297—319). Außer dem Protest gegen die blutige Verfolgung der Quäker durch Cromwell, die von den Priestern herrühre und Gesetze der katholischen Maria anwende (S. 298f.) und weiteren Invektiven gegen die Priester wegen des Nehmens von Zehnten (S. 304f., 307ff.), wird vor allem dem staatlichen Gesetz, das nur die Rechtsbrecher zu strafen habe (S. 309), das im Gewissen hervortretende Gesetz Gottes („that of God in the Conscience", S. 300. 302; vgl. auch: „the Light of Christ in the Conscience", S. 301) gegenübergestellt, welches für alle übrigen Angelegenheiten zuständig sei, dem sich auch der Lordprotektor zu fügen habe. Im einzelnen gebietet dieses Gesetz, die Zehnten den Armen zu geben (so daß es keine Bettler mehr gäbe in England, wie einst ebenfalls nicht in Israel!, S. 303), es verbietet zu schwören (S. 301. 304), Diebe hinzurichten (sie müssen vielmehr nach dem Gesetz Gottes Ersatz leisten oder in die Sklaverei verkauft werden — eine wörtliche Anwendung der alttestamentlichen Vorschriften —) und jeden Respekt gegen Menschen, weil dieser allein Gott gebührt (S. 305f.). Am Schluß wird Cromwell für den Fall, daß er dem Appell nicht gehorcht, die unabwendbare Strafe Gottes angekündigt (S. 312). 36 „many have the letter which know not the Gospel, nor hath received it, and this Gospel, which is everlasting, have we received from G o d . " AaO., S. 249. 37 „The Servants of the Lord handled, tasted, saw and felt the Word of Life, and f r o m it spoke the Scriptures, as they were moved by the holy Ghost . . . and none can understand it without the same Spirit that gave it f o r t h . " Ebendort.

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von ihnen ausgesprochenen Gedanken auch sonst verbreitete Stimmungen wieder. Das spiritualistische Erbe war auch in der Restaurationszeit (Burroughs Werke wurden 1672 gedruckt) offensichtlich nicht tot. Man sollte diese Tatsache aufmerksam vermerken, wenn alsbald nach der Glorious Revolution eine Polemik gegen die Staatskirche ans Licht tritt, die vieles von dem aufnimmt, was von den spiritualistischen Sekten gegen sie vorgebracht worden war. Der Ausgangspunkt ist bei den ersten Deisten scheinbar ein ganz anderer: an die Stelle des Geistes tritt die Ratio, und der ihnen in vielem nahestehende Shaftesbury 3 8 macht gegen den „Enthusiasmus" gerade Front. Dennoch bleiben auffallende Gemeinsamkeiten, die auf einen bisher wenig beachteten inneren Zusammenhang der Erscheinungen hinweisen. In Wirklichkeit liegen, wie wir immer wieder beobachten konnten, Spiritualismus und Rationalismus nahe beieinander: wenn aus dem inneren. Licht als einer charismatischen Kraft ein sicherer Besitz, wenn aus ihm das Licht der Vern u n f t wird, das jedem Menschen als Geschöpf und später als autonomes Subjekt zur Verfügung steht, ist der Übergang zur „Aufklärung" vollzogen. Ein Schritt auf dem Wege dahin ist das Programm der Latitudinarier, das in Gestalt der Schrift „Irenicum. A Weapon-Salve for the Churches Wounds, or the Divine Right of Particular Forms of Church-Government" 3 9 von Edward Stillingfleet (1635 — 1699), am Ende seines Lebens Bischof von Worcester, damals junger Pfarrer und ehemaliger Cambridge-Student 4 0 , entworfen wurde. An ihrem Grundgedanken: der Unterscheidung zwischen einer begrenzten Zahl von Vorschriften, deren Einhaltung in der christlichen Kirche verbindlich ist, und dem breiten Bereich der Indifferentia, die der freien Gestaltung nach den jeweiligen Umständen anheimgegeben und für die wahre Kirche nicht konstitutiv sind, sowie der Frontstellung gegen die Puritaner, die für die gesamte äußere Gestalt der Kirche verbindliche biblische Vorschriften behaupten, erkennt man das Erbe der Anglikaner aus der ersten Jahrhunderthälfte. Aber gegenüber den Laudianern wird nun eine erneute Wendung vollzogen, welche Stillingfleet teilweise wieder zu der Position Whitgifts41 oder auch Ushers zurückführt: sein gesamtes Werk ist dem Nachweis gewidmet, daß die äußere Organisation der Kirche bis auf bestimmte Grundgegebenheiten in keiner Weise von Jesus oder den Aposteln

38 Vgl. u. S. 503ff. 39 Zuerst erschienen 1659. Benutzt wurde die 2. Auflage 1662 (UB Tübingen). 40 Vgl. zu ihm Tulloch, Rational Theology, Bd. I, S. 41 I f f . ; / . Nankinvell, Edward Stillingfleet, in: Transactions of the Worcestershire Arch. Soc. 1946, S. 16—34; M. Schmidt, in: RGG 3 , Bd. VI, Sp. 381; und zuletzt R. Τ. Caroll, The CommonSense Philosophy of Religion of Bishop Edward Stillingfleet, 1975. Vgl. zu Whitgift und Laud ο. S. 202 und S. 259f.

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vorgeschrieben ist, sondern je nach den gegenwärtigen Umständen geordnet werden kann. Meinungsverschiedenheiten über Kirchenstrukturen brauchen künftig kein Grund mehr zu sein für Spaltung und Unfrieden, will der barocke Titel: „Irenicum oder Wund-Salbe für die Wunden der Kirche" besagen. Vielmehr ist, wenn es kein jus divinum für die äußere Gestalt der Kirche gibt, Raum für einen Kompromiß auf Grund der gegenwärtigen Situation: „For then all parties may retain their different opinions concerning the Primitive form, and yet agree and pitch upon a form compounded of all together as the most suitable to the state and condition of the Church of God among us: That so the peoples interest be secured by consent and suffrage, which is the pretence of the congregational way, the due power of Presbyteries asserted by their joynt-concurrence with the Bishop . . . and the just honour and dignity of the Bishop asserted, as a very laudable and ancient constitution for preserving the Peace and Unity of the Church of G o d . " 4 2 Es genügt aber nicht, den Geist von Frieden und Toleranz zu loben, in dem das Ideal der Kirche von Stillingfleet in seinem Vorwort geschildert wird 4 3 ; vielmehr muß man genau darauf achten, auf welchen Bahnen er den Beweis für seine Auffassung in den Kapiteln seines Werkes entfaltet. Dabei fällt auf, in wie starkem Maße er sein Gebäude auf stoischen Fundamenten aufbaut. Nach der einleitenden Feststellung in Teil I, Kap. I, daß für den Frieden der Kirche notwendige Dinge klar offenbart sein müssen, hinsichtlich des Kirchenregiments aber von Christus keine bestimmte Form als allein friedenserhaltende geplant gewesen sei, wird noch im gleichen Kapitel über die Natur des Rechts reflektiert. Zu unterscheiden ist zwischen erlaubten Dingen und solchen, die Pflicht sind. Erlaubt ist, was nicht verboten ist; für Pflicht ist ein ausdrückliches Gebot Vorbedingung. Das setzt jedoch Gesetzgebung und Promulgation voraus. Zu unterscheiden ist zwischen dem Gesetz der Natur und positiven Geboten Gottes. „The Law of Nature binds indispensably, as it depends not upon any arbitrary constitutions, but is founded upon the intrinsecal nature of good and evil in the things themselves, antecedently to any positive Declaration of God's Will." 4 4 Wenn aber nun auf Grund des Gesetzes der Natur positive Gebote Gottes erlassen werden, wie die drei ersten Gebote des Dekalogs, so ist der formale Grund für den ihnen vom Menschen entgegengebrachten Gehorsam ihre Ubereinstimmung mit der göttlichen Natur und 42

AaO., Preface to the Reader; vgl. das in der Schreibweise leicht veränderte Zitat bei Tulloch, aaO., Bd. I, S. 423. 43 Dies ist die Tendenz in Tullochs idealistischer Sicht. 44 AaO., S. 14.

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Güte, aber die causa efficiens ist Wille und Befehl Gottes, so daß dieses Recht im Hinblick auf seine Unveränderlichkeit Gesetz der Natur, im Hinblick auf seinen Erlaß und Ursprung göttliches Recht genannt werden kann. Denn die Sanktion auch für das Gesetz der Natur kommt allein von Gott, deshalb muß die Verpflichtung ihm gegenüber ebenfalls von Gott kommen. 4 5 Neben dem Gesetz der Natur sind die zweite Quelle göttlichen Rechts Gottes positive Gebote, wie sie in der Schrift enthalten sind. Der Fehler der Juden aber liegt darin, daß sie glauben, daß alle Gebote Gottes als solche unveränderlich seien; dies ist aber nur der Fall, wenn ausdrücklich gesagt ist, daß sie unveränderlich sein sollen. Es gibt Dinge, die sind gut und deshalb geboten, andere geboten, und deshalb gut. Bei allen aber erlischt die Gültigkeit, wenn der Grund zu bestehen aufhört, weshalb sie erlassen wurden. 46 Mit diesen Definitionen ist schon die Grundlage für die folgenden Erörterungen über die Art der Verbindlichkeit von positiven Geboten Gottes für die Fragen von Kirchenstruktur und Kirchenregiment gewonnen. Auch hinsichtlich der Ordnung der Kirche hat, wie in Kap. II dargelegt wird, das Gesetz der Natur absolute Autorität; weder menschliches Gesetz noch Gott selbst kann Gut und Böse und die aus ihm erwachsende moralische Verpflichtung ändern. Dinge, die mit dem Gesetz der Natur übereinstimmen, können in der Kirche praktiziert werden, soweit sie nicht durch positive göttliche Gesetze genauer festgelegt werden. Dinge, die weder von dem Gesetz der Natur noch von einem positiven göttlichen Gesetz bestimmt sind, können von der obersten Autorität in der Kirche rechtmäßig angeordnet werden. Dies ist grundsätzlich der Bereich der Indifferentia, in denen gleichwohl die Freiheit des einzelnen eingeschränkt und sein Gewissen gebunden werden kann, insofern es sich um die öffentliche Religionsausübung handelt, nicht um die Religion selbst, die allein eine innerliche Frage des Gewissens ist. Diese Gedanken werden uns nicht neu vorkommen; sie wurden von Hobbes ganz ähnlich geäußert. In den folgenden Kapiteln wird dann ausgeführt, wie weit die Formen des Kirchenregiments auf das Gesetz der Natur festgelegt sind: Dazu gehört: 1. daß es eine menschliche Gemeinschaft zur Verehrung Gottes geben muß 4 7 , 2. daß diese Gemeinschaft in der angemessensten Weise unterhalten und regiert werden muß. Dazu als Unterpunkt, daß einige Personen in der Kirche den anderen übergeordnet sein müssen, wobei aber nur die Existenz einer Ordnung an sich, nicht die Art und Weise der Herrschaft naturgesetzAaO., S. 14f. — Als seine Autoritäten hierfür nennt der Verf. Seiden, Molina und Alphonsus α Castro·, der Einfluß der spanischen Spätscholastik ist deutlich. «« AaO., S. 16f. 4 7 Vgl. dazu Cherburys zweite notitia circa religionem, o. S. 3 1 9 . 45

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lieh ist, außerdem, daß den für den Gottesdienst Bestellten eine besondere Verehrung gebührt. Weiter, 3., daß alles feierlich zugehen m u ß in Ritus und Zeremonien — wobei zugleich b e t o n t wird, daß der Dienst Gottes rational ist u n d den Gebrauch der V e r n u n f t nicht zerstört. An dieser Stelle ist das Laudsche Erbe wieder deutlicher. 4. daß es eine Möglichkeit geben m u ß , Streitigkeiten, die den Frieden der Gemeinschaft b e d r o h e n , zu beenden. Hier geht es u m die Frage, wann die Separation von der Großkirche rechtmäßig ist (nur wenn weitere Gemeinschaft mit ihr Sünde wäre, wenn Verderbnisse festzustellen sind; bloßer Verdacht auf Korruption ist kein Grund zur Errichtung neuer Kirchen), um Fundamentalartikel, Freiheit des Gewissens, u m Möglichkeiten u n d Wege, Streitigkeiten zu beenden. 5. daß alle, die in eine Gemeinschaft zugelassen sind, einverstanden sein müssen, von ihren Gesetzen und Regeln regiert zu werden. Hier wird — wieder eine auffällige Entsprechung zu Hobbes — die Consensus-Theorie ausdrücklich vom Staat auf die Kirche übertragen: weltliche Gemeinschaften werden durch gegenseitigen Konsens begründet, in ausgesprochener F o r m , wenn sie zuerst durch Eintritt konstituiert werden, implizit, wenn man in bereits bestehende hineingeboren wird. In der Kirche erfolgt impliziter Konsens durch die Taufe, expliziter durch das ausdrückliche Bekenntnis des Evangeliums durch die Erwachsenen. 6. daß jeder, der die Gesetze der Gemeinschaft verletzt, ihren Leitern Rechenschaft schuldig ist und sich den von ihnen verhängten Strafen zu unterwerfen hat. Charakteristisch ist, daß Stillingfleet die meisten dieser Naturgesetze für die Kirche mit Beispielen aus den heidnischen Religionen und teilweise aus dem J u d e n t u m belegt (im Falle des 4. und 5. Gesetzes aus Entsprechungen zwischen Staat und Kirche): sie gelten eben nicht n u r für die christliche Kirche, sondern — und dies in ganz neutralem Sinne — für alle menschlichen religiösen Gemeinschaften überhaupt. Im zweiten Teil des Buches beschäftigt sich Stillingfleet mit der anderen möglichen Quelle göttlichen Rechts für die Kirche, Gottes positiven Geboten. Hier geht es ihm vor allem um den Nachweis, daß es zwar ein Kirchenregiment geben und daß es von göttlich eingesetzten Dienern verwaltet werden m u ß , im übrigen aber, im Gegensatz zu der Auffassung der Puritaner, keine bestimmten Formen für dieses Kirchenregiment von Christus vorgeschrieben, von den Aposteln eingesetzt oder in der alten Kirche überliefert worden sind. Vielmehr sind die wenigen beständig gültigen Gesetze für das Kirchenregiment, die in der Schrift begegnen (sie regeln die Qualifikationen, die Personen für das Leitungsamt benötigen, fordern eine angemessene Ausübung ihres Amtes und legen Regeln für diese Ausübung fest 4 8 ), gleichermaßen auf «8 AaO., S. 182f.

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verschiedene konkrete Verfassungsformen anwendbar. Jeder Geistliche hat grundsätzlich das gleiche Recht in Bezug auf die Gesamtkirche, welches die Kirche nach den konkreten Notwendigkeiten festsetzen und einschränken kann. Insbesondere ist die hierarchische Ordnung der Kirche erlaubt, wenn auch nicht notwendig. Im großen und ganzen haben wir also einen Verteidiger der anglikanischen Position vor uns, mit der gewiß wichtigen, aber von den anglikanischen Voraussetzungen her keineswegs wesensfremden Nuance, daß er die Arme für die Vertreter anderer Kirchenverfassungen, insbesondere der presbyterianisch geordneten Formen 49 , weit öffnen und den Elementen ihrer Kirchenordnungen, vor allem den Synoden, Laien-Ältesten und Presbyterien innerhalb einer inklusiven Gesamtkirche neben den episkopalen Prinzipien der Diözesen und in gegenseitiger Abgrenzung ihrer jeweiligen Funktionen ihren Platz einräumen will, wobei allein das Prinzip der Zweckmäßigkeit und „Klugheit" den Ausschlag geben soll. 50 Der Latitudinarismus ist ein echtes Kind anglikanischer Theologie. Ihre Denkweisen sind in so hohem Maße von stoischem Rationalismus geprägt, daß der Schritt zum aufklärerischen Vernunftdenken nur ein sehr kleiner ist. Das stoische Erbe ist bei Stillingfleet an dem zentralen Platz, den das „Gesetz der Natur" bei ihm einnimmt, unschwer erkennbar. Er vertritt in dieser Hinsicht sogar ein geschlosseneres System als die meisten seiner Vorgänger. Die Latitudinarier selbst huldigen dem Rationalismus in einer „milden" Form; besonders gilt das für die vorwiegend in der Predigtpraxis stehenden Hauptrepräsentanten der Richtung. Bei dem Systematiker Stillingfleet kann man jedoch bereits ahnen, in welche Richtung sich eine kritisch gebärdende Vernunft in der Zukunft wenden konnte. Insbesondere wird das deutlich an der Rolle, welche der Heiligen Schrift in seinem „Irenicum" zugewiesen wird. Diese Rolle kann man nur dialektisch verstehen. Man wird zunächst berücksichtigen müssen, daß Stillingfleet wenige Jahre später mit dem großangelegten Werk „Origines Sacrae" 51 hervortrat, das infolge seiner umfassenden Beweisführung für die Zuverlässigkeit der Schrift zu einer wichtigen 49 Tulloch, aaO., S. 443f., weist mit Recht darauf hin, daß Stillingfleet die kongregationalistische Lösung de facto ausschließt, indem er an der Nationalkirche festhält. 50 „Prudence must be used in Church-Government, at last confessed by all parties." Wobei er durchaus zu dem Zugeständnis bereit ist: „That Prudence best, which comes nearest Primitive practice." Nur daß diese nicht normativ, sondern lediglich ein brauchbares Bild ist, von dem nach Bedarf abgewichen werden kann. Zitate: Inhaltsangabe zu Teil II, Kap. VIII, unpaginiert. 51 1662. 31666.

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Stütze der Apologetik gegen Jesuiten und Deisten werden sollte. 5 2 Auch im „Irenicum" wird die Wahrheit der Schrift als solche nicht in Frage gestellt. 5 3 Wohl aber wird die Bedeutung der Schrift für die Fragen der Kirchenordnung gegenüber der zentralen Stellung, die sie bei den Puritanern einnahm, in entscheidender Weise geschwächt. Vor allem die Argumente in Teil II, Kap. II, in denen es um das Problem der von den Gesprächspartnern behaupteten unveränderlichen Gültigkeit der positiven Gesetze in der Schrift geht 5 4 , und in Kap. III und IV, in denen gefragt wird, ob Christus die Form des Kirchenregiments in positiven Geboten festgesetzt habe 5 5 , und in beiden Fällen eine negative Antwort gegeben wird, tragen dazu bei. 5 6 Im Mittelpunkt steht der ausführliche Beweis, daß Christus solche Gebote hinsichtlich des Kirchenregiments nicht gegeben hat. Lediglich daß die Existenz eines fortwährenden geistlichen Amtes in der Kirche göttlichen Rechtes ist, ist unleugbar 5 7 (und wird gegen die Spiritualisten unter Berufung auf Matth. 28,20; Eph. 4,12 verteidigt). Aber weder bischöfliche noch presbyteriale Verfassung lassen sich eindeutig als verbindlich aus dem Neuen Testament erweisen. Auch das Beispiel von Timotheus und Titus kann daran nichts ändern; wohl zeigt es, daß bestimmte Amtsträger in der Urkirche Gewalt über mehr als eine Gemeinde haben konnten, aber da es unklar ist, ob es sich um in ihrem Wirken zeitlich begrenzte Evangelisten oder fest angestellte Bischöfe handelt, ist eine definitive Folgerung aus ihren Funktionen nicht möglich. Praktisch ist die Autorität des Neuen Testamentes für die kirchlichen Ordnungen auf einige wenige allgemeine Grundsätze begrenzt: „All things to be done decently and in order. All to be done for edification. Give no offence. Do all to the glory of G o d . " 5 8 52

Zu seiner späteren Haltung als „orthodoxer Anglikaner", wie sie in der Auseinandersetzung mit Locke sichtbar wird, vgl. W. Dahrendorf, Lockes Kontroverse mit Stillingfleet und ihre Bedeutung für seine Stellung zur anglikanischen Kirche, Diss, phil. Hamburg 1932. 53 Im Gegenteil heißt es ausdrücklich: „The Word of God being the only code and digest of divine laws, whatever law we look for must either be found there in express terms or at least so couched therein, that every one, by the exercise of his understanding, may, by a certain and easy collection, gather the universal obligation of the thing inquired after." AaO., S. 151. 54 AaO., S. 158ff. ss AaO., S. 17Off. 56 Nebenbei wird in Teil II, Kap. II, auch mit den „Enthusiasten" (Quäkern) abgerechnet, deren geistige Ahnherren er kenntnisreich bei den Bettelmönchen zur Zeit des Aufkommens der Waldenser findet. 57 AaO., S. 158. 58 AaO., S. 178. Auch zitiert bei Tulloch, aaO., S. 446. Zu beachten ist, wie stark der paulinische Begriff der ,.Erbauung" hier gegenüber seiner prägnanten Verwendung bei den früheren Puritanern verblaßt ist! 25 Rrventlow, Bibelautorität

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Im Umkreis dieser Argumentation wird aber auch zur Bedeutung des Alten Testaments Stellung genommen. Die Frage, ob ein alttestamentliches Gesetz auch für die Christen weiter gültig sei, wird in Teil II, Kap. III, auf das Spezialproblem zugespitzt, „whether any formal Law of God concerning a form of government for his Church, either by persons acting in an equality of Power, or subordination of one Order to another, under the Gospel, doth remain in force or no, binding Christians to the observing of i t " 5 9 , also auf die Alternative zwischen hierarchisch-episkopalem oder presbyterialem System. Der Blick auf den Stamm Levi ergibt, daß es dort in der Tat Ungleichheit gegeben hat, und zwar zwischen aaronitischen Priestern und Leviten, bei beiden außerdem zwischen ihren und den einfachen Sippenmitgliedern. Da letztere jedoch dem Stamm Levi mit den weltlichen Stämmen gemeinsam ist, kann nur aus der Überordnung der Priester über die Leviten und der herausgehobenen Stellung des Hohenpriesters etwas für die Ordnung unter dem Evangelium gefolgert werden. Aus dem ersten Punkt ließe sich ableiten, daß es eine Überordnung von Amtsträgern unter dem Gesetz gegeben hat, die auch unter dem Evangelium da sein sollte; sie ist es in der Überordnung der Priester über die Diakone. Aus dem anderen Punkt ließe sich entweder zu wenig oder zu viel schließen: zu wenig, wenn das Amt Aarons nur typisch oder zeremoniell war, weil es dann keine Sonderautorität über Menschen bedeutete (Eleazar wurde zu Aarons Lebzeiten als Sippenoberhaupt eingesetzt), zu viel, wenn die Fortdauer derselben Autorität in der Kirche verlangt wird, denn das ist das Argument der Papisten. Dies alles sind aber im Grunde müßige Überlegungen, denn Stillingfleet kommt zu dem Ergebnis: „All that can be inferred then from the Jewish pattern, cannot amount to any obligation upon Christians, it being at the best but a judicial Law, and therefore binds us not up as a positive Law, but only declares the equity of the things in use then. I conclude then, That the Jewish pattern is no standing Law for Church-Government now, either in its common or peculiar form of Government." 6 0 Lediglich daß Überund Unterordnung in der Leitung der Kirche bestehen muß, wird als in keiner Weise widerrechtlich erwiesen, da sie unter dem Gesetz auch vorhanden war. „The Jewish pattern then of Government, neither makes equality unlawfull, because their Laws do not oblige now; nor doth it make superiority unlawfull, because it was practised then. So that notwithstanding the Jewish pattern, the Church of Christ is left to its own liberty for the choyce of its form of Government, whether by an equality 59 AaO., S. 171. 60 AaO., S. 174.

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of power in some persons, or superiority and subordination of one order to another." 6 1 Im folgenden Kapitel (Teil II, Kap. IV) wird dann noch die Auffassung zurückgewiesen, wegen der typologischen Entsprechung zwischen Mose und Christus habe Christus in seiner Kirche, wie es Mose für das Volk des alten Bundes tat, eine bestimmte Form des Kirchenregiments festlegen müssen. Dies stimmt nicht, weil man zwischen einem äußeren und inneren Regiment unterscheiden muß und Christus die „internal Mediatory power over the hearts and consciences of m e n " anvertraut war. 6 2 Außerdem hätten dann auch alle rituellen Formen des jüdischen Gottesdienstes bis ins kleinste hinein übernommen werden müssen. Übertragbar sind aber nur die vier allgemeinen Grundsätze 6 3 , während im übrigen eine ganze Reihe charakteristischer Unterschiede zwischen Evangelium und ,jüdischem Staat" aufgezeigt werden können. 6 4 Die Stellungnahme Stillingfleets liegt in fast allen Punkten ganz auf der Linie der anglikanischen Tradition. Dazu gehört auch, daß die Vorbildhaftigkeit der alttestamentlichen Ordnungen für die Gestaltung des Kirchenregiments gegen die Puritaner abgelehnt wird. Dies geschieht interessanterweise auch mit Hilfe der spirituellen Form der Typologie (Mose/ Christus), die ebenfalls bei der puritanischen Linken zuhause war. Der Rückgang auf das „Gesetz der Natur" als letztgültigen Maßstab auch für die Ordnung der Kirche führt auf der anderen Seite zu der in der oben zitierten Charakterisierung der Herrschaft Christi sichtbar werdenden Spiritualisierung der Offenbarung und des Neuen Testaments. Der Zwiespalt in Hookers System, wie ihn Hillerdal konstatierte 6 5 , setzt sich bei seinen Erben fort. Das Problem, die Notwendigkeit einer besonderen Offenbarung eigens begründen zu müssen, das dann in den deistischen Kämpfen akut wurde, kündigt sich bereits an. Von der gleichen rational-moralischen Grundhaltung sind auch die Predigten und anderen Schriften der übrigen Latitudinarier bestimmt, unter denen als Prediger der spätere Erzbischof Tillotson herausragt. 6 6 G. Burnet, selbst 61 AaO., S. 175. 62 AaO., S. 177. 63 Vgl. o. S. 385, Anm. 58. 64 AaO., S. 79ff. 65 Vgl. o. S. 206, Anm. 231. 66 Tillotson war dreißig Jahre lang (von 1664 an) Prediger an der Kirche von St. Lawrence Jewry in London, mit ungeheurem Erfolg, nicht nur unter der Kaufmannschaft, sondern auch unter jungen Geistlichen, die von ihm die Predigtkunst lernen wollten. Wie populär seine Predigten waren, erkennt man aber auch an den zahlreichen Auflagen seiner Werke, die im Katalog des British Museum viele Seiten einneh-

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Latitudinarier aus Überzeugung, sagt in seiner Leichenrede, daß es Tillotsons Ansicht gewesen sei, daß „the great design of Christianity was the reforming men's natures, and governing their actions . . . and raising their minds above the interests and follies of this present world, to the hope and pursuit of endless blessedness. And he considered the whole Christian doctrine as a system of principles all tending to this". 6 7 Moralität als Hauptinhalt der christlichen Religion, gefördert durch die Aussicht auf die ewige Seligkeit, diese Ziele finden wir auch in seinen Predigten angesprochen. 6 8 Dabei taucht, ähnlich wie es schon bei Stillingfleet der Fall war, gleich wieder das Nebeneinander von „natürlicher" und „eingesetzter" (instituted) oder „offenbarter" Religion auf. Die Predigt Birch, Nr. 101 (über Mich. 6,6—8), handelt „of the great duties of natural religion, with the ways and means of knowing them" 6 9 , geradezu in Form einer Abhandlung, in welcher der Prediger in fünf Punkten entfaltet, auf welche Weise „God hath made known these duties to us, and the goodness and the obligation of them": men. Sie wurden auch in mehreren vielbändigen Sammlungen bis in die 2. Hälfte des 18. J a h r h u n d e r t s hinein ins Deutsche übersetzt (vgl. u.a. Auserlesene Predigten, mit Vorrede von Mosheim [8 Teile in 4 Bdn.], 1739, 2 1764; Neue Sammlung auserlesener Predigten [8 Bde.], 1760—1776; Predigten über wichtige Wahrheiten, hrsg. von Henry [2 Teile], 1772). Dagegen ist die moderne Sekundärliteratur über ihn spärlich: Außer dem wenig kritischen älteren Beitrag von W. G. Humphrey, Tillotson, the Practical Preacher, in: The Classical Preachers of the English Church, 2sd. ser., 1878, S. 133—165, vgl. G. L. Locke, Tillotson. A study in seventeenth-century literature, 1954 (mehr an den literarischen Fragen des Stils interessiert; das gleiche gilt für I. Simon, Three Restoration Divines: Barrow, South, Tillotson. Selected Sermons [2 Bde.], 1967); Ν. Sykes, The Sermons of Archbishop Tillotson, in: Theol 53, 1955, S. 2 9 7 - 3 0 2 ; J. O'Higgins, Archbishop Tillotson and the Religion of Nature, in: J T h S N.S. 24, 1973, S. 1 2 3 - 4 2 . - Zum Einfluß des Predigtstils Tillotsons und der anderen Latitudinarier sowie dem gesamten Predigtmilieu der Zeit vgl. auch Sykes, Church, Kap. VI, S. 2 3 I f f . , bes. S. 257ff.; W. F. Mitchell, English Pulpit Oratory f r o m Andrewes to Tillotson, 1932 (zu Tillotson, S. 333ff.); Davies, Worship, S. 133ff. 67

G. Burnet, A Sermon Preached at the Funeral of the Most Reverend Father in God, J o h n . . . Archbishop of Canterbury . . . 30. November 1694, 1695, S. 31, zitiert nach Cragg, From Puritanism, S. 77 (Orthographie dort modernisiert). Tillotson äußert sich aber auch selbst über das Ziel seiner Ansprachen: „I have made it my business, in this great presence and assembly, to plead against the impieties and wickedness of men . . . and I d o assure y o u , I had much rather persuade any one t o be a good man, than to be of any party or denomination of Christians whatever." Works, ed. Birch (s. nächste Anm.), Bd. II, S. 58. 68 Benutzt wurden die Works, ed. Birch, 1820 (mit der Lebensbeschreibung des Herausgebers — zuerst veröffentlicht in der Folio-Ausgabe von 1752), Bd. I—X, die jedoch nur einen Teil der Predigten Tillotsons enthalten; außerdem die Ausgabe von R. Barker, Bd. I—II, 21717. Vgl. auch /. Simon, aaO., Bd. II. « AaO., Bd. V, S. 273ff.

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„1. 2. 3. 4. 5.

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a kind of natural instinct. natural reason. the general vote and consent of mankind. external revelation. the inward dictates and motions of G o d ' s Spirit u p o n minds of m e n . " 7 0

Über die ersten drei Punkte ergeht sich der Prediger in langen, in sich wieder durch U n t e r p u n k t e sorgfältig gegliederten Ausführungen; hier schlägt offensichtlich sein Herz, wenn er in eindringlichen Worten seinen Hörern deutlich zu machen sucht, daß Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als die gottgewollten Pflichten gegen die Menschen, Frömmigkeit als der Inbegriff aller Pflichten gegen G o t t 7 1 etwas ganz Natürliches seien, allen Menschen schon durch einen eingeborenen Instinkt mitgegeben, aber auch einsichtig für die natürliche V e r n u n f t , da die Befolgung dieser Tugenden nur zu unserem eigenen Nutzen sei. 7 2 Der Consensus-Gedanke taucht als zusätzliches Argument a u f 7 3 , wobei der allgemeine Beifall, den die Tugend finde, die Scham nach einer bösen Tat, die den Täter das Urteil seiner Mitmenschen fürchten läßt und die Tatsache, daß überall Gesetze gegen Laster, nirgends gegen Tugenden erlassen seien, als Begründungen dienen. Hier herrscht nun allerdings schon eine ganz andere Stimmung als unter den Cambridge Platonists 7 4 ; der moralische Rationalismus hat jeden mystisch-spiritualistischen Zug verdrängt und allein das Feld b e h a u p t e t . Zugleich sieht man aber gerade bei Tillotson recht deutlich die Ursachen, die zu dieser Entwicklung geführt hatten. Es ist offensichtlich das homiletisch-pädagogische Bemühen des Erzbischofs, seine Hörer mit ihnen wie von selbst einleuchtenden Argumenten abzuho•*> AaO., Bd. V, S. 281. 71 „And this phrase may comprehend all those acts of religion which refer immediately to God; a firm belief of his being and perfections; an awful sense of him as the dread Sovereign and righteous Judge of the world; a due regard to his service, and a reverent behaviour of ourselves towards him in all acts of worship and religion, in opposition to atheism and a profane neglect and contempt of God and religion . . . " , aaO., Bd. V, S. 279f. 72 „To begin with piety towards God. Nothing can more evidently tend to our interest, than to make him our friend, upon whose favour our happiness depends. So likewise for gratitude . . . for every man is ready to place benefits there where he may hope for a thankful return" usw. AaO., Bd. V, S. 285. 73 Dies war vor Locke ein Hauptargument aller Verfechter der natürlichen Religion, vgl. schon Cherbury (o. S. 317). Auch Tillotson betont (unter Berufung auf den Satz Ciceros: „Omnium consensus naturae vox est": „And this is an argument of great Force; there being no better way to prove any thing to be natural to any Kind of being, than if it be generally Found in the whole Kind." Ausg. Birch, Bd. V, S. 453. 74 Vgl. Cragg, From Puritanism, S. 63.

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len,,deshalb sein Appell an den common sense und die, wie er meint, natürliche Präponderanz des Guten; zu diesem apologetischen Anliegen tritt aber vor allem die eigene Überzeugung, die auf dem Gebiete der Ethik den eigentlichen Inhalt der Religion sieht 75 und darüber hinaus nur sehr wenig zu sagen hat. 7 6 In der besprochenen Predigt findet sich über die Rolle der Offenbarung nur ein kurzer Abschnitt, dessen Kemsatz lautet, daß der Inhalt der durch den Sohn geschehenen Offenbarung „as to the matter of duty, is the same in substance with the law of nature", denn „the gospel teacheth us the very same things which nature dictated to men before; only it hath made a more perfect discovery of them". 7 7 Offensichtlich ist es nicht die Absicht der Latitudinarier, die christliche Religion in ihrem Wert herabzusetzen, sondern sie fühlen sich umgekehrt als ihre Verteidiger. Deutlich ist außerdem (man sieht es schon an dem gewählten Predigttext) ein 75 Cragg, aaO., S. 78, weist auf den begründeten Anlaß hin, den die moralische Situation der Restaurationszeit den Latitudinariem für ihre Sittenpredigt gegeben habe; sie entsprang aber auch ihrer grundsätzlichen Einstellung. Besonders deutlich wird diese Situation in dem Erscheinen des (anonymen) Werkes „The Whole Duty of Man" kurz vor der Restauration im J a h r e 1657, das sich allein mit den moralischen Pflichten des Christen beschäftigt u n d in dieser Zielsetzung einen ungeheuren Erfolg errang (28. Auflage 1790 — moderner Neudruck auch in: . A n c i e n t and Modern Library of Theological Literature", ο. J . ) . Vgl. zum Inhalt des Buches und seiner Rolle besonders C. J. Stranks, Anglican Devotion, 1961, S. 123—148. — Unabhängig davon gilt (Locke, aaO., S. 102) für die persönliche Einstellung Tillotsons: „His religious thought is dominated by practicality; it is the moral and n o t the doctrinal part of religion with which he is deeply at heart concerned." 76 Vgl. dazu die Angriffe gegen Tillotson wegen dessen angeblichen Sozinianismus in der Schrift: The Charge of Socinianism Against Dr. Tillotson, 1695, ein Vorwurf, dem Tillotson durch die Veröffentlichung seiner christologischen Predigten zu begegnen suchte (dazu Cragg, aaO., S. 76; vgl. auch /. Simon, Three Restoration Divines, S. 280). G. L. Loche, aaO., S. 91, kann mit einem gewissen Recht feststellen: „Today, since most churches have gradually become more and more liberal in their beliefs, the theology which he p r o p o u n d e d would be regarded as ultra-conservative." Tillotson vermag sogar Wunder anzuerkennen, indem er sie rationalistisch deutet. Seine Position wird deshalb von A. C. McGiffert, Protestant Thought Before Kant, 1913, als „supernatural rationalism" charakterisiert. O'Higgins, Tillotson, weist auf den offensichtlichen Zwiespalt in Tillotsons Haltung zwischen natürlicher Religion und übernatürlicher Offenbarung hin und erklärt ihn vor allem mit dessen apologetischen Zielen. Die Schwäche

der Latitudinarier lag gar nicht in einer häretischen Dogmatik, sondern in der alles beherrschenden Position einer stoisch geprägten Ethik. 77 AaO., Bd. V, S. 292. Die offenbarte Religion ist vor allem insofern die Ergänzung und Vervollkommnung der natürlichen Religion (obwohl diese ihre Grundlage ist), indem sie den Lohn für sittliches Handeln in der vollen Versicherung der Auferstehung der Toten und ein himmlisches Leben vor Augen stellt (Ausgabe Birch, Bd. VI, S. 19f.) und so ihre Lücken ergänzt: „the duties are still the same, only it offers us more powerful arguments, and a greater assistance to the performance of those duties."

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ausgesprochen gegen die äußeren Formen gerichteter A f f e k t , dem die entsprechenden Prophetensprüche des Alten Testaments dienstbar gemacht werden: so schließt Tillotson seine Mich. 6,6—8 gewidmete Predigt mit einem wörtlichen Zitat von Jes. 58,5—9, um zu begründen, „that which God chiefly expects f r o m us, is reformed lives". 7 8 Demgegenüber ist „external devotion" zweitrangig. Zwar drückt sich Tillotson in dieser Hinsicht sehr irenisch aus 7 9 , aber es ist doch deutlich genug sichtbar, wie er denkt. Indem der kirchliche Ritus, den man zwar m i t m a c h t , zur bloßen Formsache absinkt, wird er zugleich entwertet. Auch hier wird reformerisches Bewußtsein im Vergleich mit der j ü d i s c h e n Religion" als überwundener Stufe entwickelt: „the Christian religion hath set us free f r o m those many positive and outward observances, that the Jewish religion was encumbered withal; that we might be wholly intent upon these great duties, and mind nothing in comparison of the real and substantial virtues of a good l i f e . " 8 0 Dieser letzte Zug wird noch in anderen Predigten Tillotsons thematisiert. Zu nennen ist hier vor allem die Predigt über Matth. 9,13 [Hos. 6,6] (Birch, Nr. 102 8 1 ), die im Druck die Überschrift trägt: „Instituted Religion not Intended to Undermine Natural". Auch sie trägt lehrhaften Charakter: der Vortragende bemüht sich, zwei Grundaussagen zu entwickeln: „First, That natural religion is the foundation of all instituted and revealed religion. Secondly, That no revealed or instituted religion was ever designed to take away the obligation of natural duties, but to confirm and establish them."82 Der erste Lehrsatz entspricht dem bekannten Schema. Um den zweiten zu begründen, entwickelt Tillotson einen beachtlichen exegetischen Scharfsinn: der zitierte Ausspruch Jesu (aus Hosea 6,6 zitiert) besage, „that, in comparing the parts of religion and the obligation of duties together, those duties which are of moral and natural obligation are most valued by God, and ought to take place of those which are positive and ritual. ,1 will have mercy, and n o t sacrifice;' that is, rather than sacrifice, according to the 7

8 AaO., S. 190. 209 AaO., S. 196. 21° AaO., S. 2 0 2 ; vgl. auch S. 1 3 2 / 1 3 4 . Zu den Entsprechungen bei Thomas: aaO., S. 2 0 2 , A n m . 4 / 211 „Quandoquidem igitur omnes homines sint natura rationales, et convenientia sit inter hanc legem et naturam rationalem, quae convenientia lumine naturae cognoscibilis est, necesse est omnes rationali natura praeditos, id est o m n e s ubique homines hac lege teneri", aaO., S. 198. Die Ausnahme der Kinder und Geisteskranken wird nicht zugelassen: „etsi enim o m n e s obliget lex quibus datur, n o n tarnen eos obligat quibus non datur, nec datur iis a quibus cognosci non potest", aaO., S. 2 0 2 .

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cognitionem legis naturae pervenit. 1,212 Diese Vernunft, die auch, nach der rationalistischen Tradition, das „Licht der Natur" genannt werden kann 213 , kommt jedoch — und damit kündigt sich der Locke sehe Empirismus bereits an — zur Erkenntnis des Gesetzes der Natur, da ideae innatae und Tradition als Wege hierzu ausscheiden, allein durch die Sinne. 214 Nun allerdings nicht durch direkte Wahrnehmung, sondern durch diskursiven Schluß: hier ist die Stelle, wo der physiko-theologische Gottesbeweis seinen Platz findet. Von den Dingen, die der vernünftige Mensch mit seinen Sinnen bemerkt, schließt er aus ihrer sichtbaren Bewegung und Ordnung auf den Urheber aller dieser Dinge; da er zu der Erkenntnis kommt, daß dies ein Gott sein müsse, ergibt sich daraus zwangsläufig das Bestehen eines für die gesamte Menschheit verbindlichen Gesetzes der Natur. 2 1 5 Diese Gedankenführung wird im Essay IV: „An ratio per res a sensibus haustas pervenire potest in cognitionem legis naturae? Affirmatur" 2 1 6 noch ausführlicher entfaltet. Dieses Essay ist insofern besonders aufschlußreich, weil in ihm einerseits die später im „Essay Concerning Human Understanding" ausgebaute, auf den Prinzipien der damaligen Naturwissenschaft beruhende Erkenntnislehre Lockes schon anklingt, andererseits eine voluntaristische Auffassung des Naturrechts entwickelt wird. Durch Sinneswahrnehmung erfahren wir, daß es in der Welt erkennbare Dinge, d.h. tatsächlich existierende Körper und ihre Eigenschaften gibt, die sich alle irgendwie auf das Prinzip der Bewegung zurückführen lassen 217 ; wir erkennen die wundervolle Regelmäßigkeit der Konstruktion dieser Welt, zu der auch 212

AaO., S. 148. Locke erklärt zu Anfang seines zweiten: ,,Αη lex naturae sit lumine naturae cognoscibilis?" überschriebenen Essay: „Sed per lumen naturae aliquid esse cognoscibile nihil aliud velimus quam hujusmodi aliqua Veritas in cujus cognitionem homo recte utens iis facultatibus quibus a natura instruetus est per se et sine ope alterius devenire potest", aaO., S. 122. 214 „Tertius et ultimus qui remanet cognoscendi modus sensus est, quod prineipium constituimus legis cognoscendi", aaO., S. 130. Vgl. auch S. 146: „nihil remanet quod lumen naturae dici posset praeter rationem et sensum." 215 „Dico fundamentum omnis illius cognitionis hauriri ab iis rebus quas sensibus nostris percipimus; et quibus ratio et argumenti facultas . . . ad earum opificem progrediens, argumentis a materia, motu, et visibili hujus mundi structura et oeconomia necessario emergentibus, tandem concludit . . . Deum esse aliquem rerum omnium authorem; quo posito necessario sequitur universa lex naturae qua tenetur gens humana . . . " , aaO., S. 130/132. AaO., S. 146ff. 217 „ . . . esse in rerum natura res sensibiles, hoc est revera existere corpora et eorum affectiones, scilicet levitatem, gravitatem, calorem, frigus, colores, et caeteras qualitates sensui obvias, quae omnes aliquo modo ad motum referri possint", aaO., S. 150. Hier bezieht sich Locke auf den in der Royal Society gepflegten Atomismus, vgl. dazu Mandelbaum, aaO., sowie Viano, aaO., S. 434ff. 213

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wir selbst als ein Teil gehören. Von daher schließt der Verstand zurück auf den Hersteller eines so vorzüglichen Werkes: dies kann nur ein allmächtiger, weiser Schöpfer sein, der auch den Menschen als den vollkommensten Teil dieser Welt geschaffen hat. Daraus ergibt sich, daß dieser die Macht hat, uns zu erhalten oder zu vernichten, uns zu erheben oder niederzuwerfen, uns glücklich oder elend zu machen. Folglich kann uns die Vernunft, ausgehend von der Sinneswahrnehmung, zu der Erkenntnis eines Gesetzgebers führen, einer höchsten Macht, von der wir abhängig sind. 218 Denn, so führt Locke weiter aus, wenn wir die Existenz eines nicht nur allmächtigen, sondern auch weisen Schöpfers erkennen, können wir nicht annehmen, daß dieser die Welt ohne ein festes Ziel, für nichts und ohne Zweck geschaffen habe. Es ist offenbar, daß Gott beabsichtigt, daß der Mensch etwas tun soll. Der Wille einer übergeordneten Macht im Hinblick auf das, was wir zu tun haben, ist die zweite Voraussetzung für die Erkenntnis jedweden Gesetzes. 219 Die meisten Züge in diesem Beweisgang sind traditioneller Herkunft: sowohl der physiko-theologische Gottesbeweis wie das theologische Argument und mit ihm zusammenhängend der voluntaristische Gottesbegriff stammen aus der Scholastik. Das Moment, das am neuartigsten ist: das empiristische Erkenntnisprinzip, hat gerade nicht eine tragende Funktion, sondern ist lediglich als Ausgangspunkt einer Argumentationsstufe, eben des physikotheologischen Gottesbeweises, verwendet. Es ist außerdem festzustellen, daß Locke den physiko-theologischen Beweis später aufgegeben und durch eine Form des anthropologischen Beweises ersetzt hat. 2 2 0 Nicht hier, sondern an einer anderen Stelle liegt der Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit der Tradition: Die Bedeutung der Wendung Lockes gegen den Innatismus wird sichtbar, wenn man erkennt, daß er (ob bewußt oder unbewußt) in seinem Ansatz die Naturrechtslehre des Nominalismus in einer kompromißlosen Form erneuert und damit die auf den englischen Universitäten vorherrschende thomistische Lehre verwirft, die zur Hauptsache auf einer realistischen Metaphysik basierte: während das Gesetz der Natur in der thomistischen Natürrechtslehre eine dem Kosmos selbst und dem Menschen als einem Teil dieses Kosmos inhärente, unveränderliche und lediglich im Prinzip von dem ursprünglichen Willen eines Schöpfers abhängige Ordnung war, tritt jetzt

218 „Unde liquido apparet rationem sensu monstrante viam nos deducere posse in cognitionem legislatoris sive superioris alicujus potestatis cui necessario subjicimur, quod primum erat requisitum ad cognitionem alicujus legis", aaO., S. 154. 219 „quod secundum erat requisitum ad legis cujusvis cognitionem, scilicet voluntas superioris potestatis circa res a nobis agendas . . . " , aaO., S. 156. 220 Vgl. dazu von Leyden, aaO., S. 65, und Euchner, Naturrecht, S. 47f.

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der Wille Gottes viel stärker in den Mittelpunkt. 2 2 1 Mit der Ablehnung des Innatismus und der Consensus-Theorie verschiebt sich auch das Erkenntnisproblem im Hinblick auf die lex naturae: grundsätzlich kann sie jetzt nicht mehr bei dem im Kosmos selbst Vorfindlichen einsetzen, sondern muß auf den Herrn der Schöpfung selbst zurückgehen und dessen Ziele mit dem Menschen und seinem Tun im Auge haben. Damit wird auch dem Problem der Offenbarung, das im Bereich des naturrechtlichen Immanentismus eine fast nur formale Rolle spielen konnte, ein ganz neuer Stellenwert zugewiesen (obwohl Locke die Offenbarung in den Essays zunächst, da es um das Naturrecht geht, methodisch bewußt ausklammert). 2 2 2 Auf der Suche nach den Wurzeln dieser Position wird man nicht weit zu blicken haben: schließlich gerät man auch bei Locke, wie wir noch sehen werden, auf die Spuren des in der englischen Kirche herrschenden Biblizismus. Es ist jedoch festzuhalten — wie schon die verschiedensten Locke-Interpreten gesehen haben — daß Locke in seinem Naturrechtsverständnis in den „Essays" durchaus nicht konsequent ist: der Essay VII bewegt sich im Unterschied zu Essay II und IV größtenteils auf thomistischen Wegen. Besonders der Gedanke der rationalen Natur des Menschen und ihrer harmonischen Übereinstimmung mit dem rationalen Charakter des Gesetzes der Natur fällt aus dem in den anderen Essays gesteckten Rahmen heraus und verweist auf eine ihnen fremde Erkenntnistheorie. 2 2 3 Lockes eigener Weg zur Lösung der Naturrechtsproblematik wird erst eindeutiger, wenn wir von den „Essays on the Law of Nature" zu der Vorgeschichte des „Essay Concerning Human Understanding" übergehen, die sich durch die in Lockes Nachlaß befindlichen und inzwischen veröffentlichten frühen Entwürfe 2 2 4 bis in die Jahre 1670/1 vorgeschoben hat. Die innere

221 Zum Unterschied zwischen beiden Naturrechtssystemen vgl. knapp Euchner, Naturrecht, § 3, Anm. 86, S. 246f.; ausführlich H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 2 1955, S. 6 7 - 1 0 5 . 222 „dum inquirimus non quid homo divino spiritu afflatus scire, quid lumine e caelis delapso illuminatus conspicere valet, sed quid naturae et sua ipsius sagacitate eruere et investigare potest homo mente, ratione, et sensu instructus", aaO., S. 122. Zu beachten ist aber, daß Locke sich damit nur gegen eine unmittelbare Inspiration in der Gegenwart wendet, also, wie auch später, gegen den „Enthusiasmus". Uber das Verhältnis der Bibel als Offenbarungsquelle zum Naturrecht ist damit nichts gesagt. 223 von Leyden, aaO., S. 199, Anm. 1, nennt neben Cicero die Namen von Vasquez, Suarez, Grotius, Sanderson und Culverwel als Vertreter dieser Harmonielehre und vermutet, Locke habe sie aus Culverwel übernommen. 224 An Early Draft of Locke's Essay together with Excerpts from his Journals, ed. R. I. Aaron and J. Gibb, 1936 (gewöhnlich zitiert: Draft A ) ; / . Locke, An Essay

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Verbindung zwischen beiden Werken ist durch die nunmehr weitgehend aufgeklärten Entstehungsumstände dieser Entwürfe auch äußerlich bestätigt worden: die Zusammenkunft der fünf oder sechs Freunde, die nach Lockes eigenem, viel beachteten Bericht in der den „Essay" einleitenden „Epistle to the Reader" 2 2 5 den ersten Anstoß zu seiner Beschäftigung mit dem epistemologischen Hauptthema des „Essay" gab, begann nach einer Randnotiz seines damals anwesenden Freundes / . Tyrell in dessen jetzt im Britischen Museum befindlichen Exemplar des „Essay" 2 2 6 mit einem „discourse . . . about the principles of morality and revealed religion". Außerdem hat W. von Leyden in einem detaillierten Vergleich zwischen den Essays und den Entwürfen gezeigt, in welcher Weise Locke für diese auf jene zurückgegriffen hat. 2 2 7 In den Drafts handelt Locke aber größtenteils seine allgemeine Epistemologie ab, in Draft Α einsetzend mit seinem berühmten semi-empiristischen Grundsatz über Sinneswahrnehmung und die aus ihr gewonnenen einfachsten Ideen über die Eigenschaften körperlicher Dinge als Grundlage menschlicher Erkenntnis. 2 2 8 Die moralischen Ideen über Tugend und Laster werden hier nur kurz gestreift, wobei jedoch die interessante Unterscheidung zwischen zwei möglichen Arten, Tugend und Laster zu bestimmen, begegnet: entweder kann man sich an die Sprachregelung des jeweiligen Landes anschließen, in dem man zufälligerweise lebt, in dessen Sprache Begriffe für gute und böse Handlungen nach den dort gültigen Maßstäben enthalten sind 2 2 9 , und kommt dadurch zu einem Moralsystem — diese sind jedoch als von Menschen gemacht unsicher — daneben gibt es jedoch auch die nicht von uns, sondern für uns gemachten Regeln: „and these are the rules set to our actions by the declard will or laws of another who hath power to punish our aberrations." Schon hier deutet sich die Möglichkeit an, daß Locke für die Begründung einer absoluten Moral über die Grenzen seines engeren epistemologischen Systems hinauszugehen genötigt sein könnte. Locke bemerkt aber an dieser Stelle, da er dafür erst einen solchen Gesetzgeber bekannt machen müsse und zeigen, „how he hath declard his concerning the Understanding, Knowledge, Opinion, and Assent, ed. B. Rand, 1931 (Xerokopie 1959) (gewöhnlich zitiert: Draft Β). 225 John Locke, An Essay concerning Human Understanding, ed. / . W. Yolton (Everyman Edition), 1961 (21967), Bd. I, S. XXXII. 22 6 Vgl. Η. R. F. Bourne, The Life of J o h n Locke, 2 Bde., 1876 (Reprint 1969), Bd. I, S. 2 4 8 f . u.a. 227 Essays, ed. von Leyden, Introduction, S. 62ff. 228 Draft A § 1, S. 3ff. 229 Euchner, Naturrecht, S. 129, macht darauf aufmerksam, daß „Tugend" und „Laster" bei Locke keine naturrechtlichen Begriffe, sondern solche der gesellschaftlichen Moral sind. J e d o c h sei Lockes Sprachgebrauch nicht einheitlich (ds., Anm. 41). 27

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will and law", müsse er diese Frage auf eine günstigere Gelegenheit verschieben. 2 3 0 In Draft Β ist dieser Passus an das Ende gestellt u n d in doppelter Weise erweitert: Einmal am Schluß durch eine nähere Ausführung darüber, daß sich menschliche Handlungen auf ein Gesetz bezögen, durch das sie als gut oder schlecht qualifiziert werden — deshalb nenne er sie „moral relations", zum anderen durch den in einer eingeschobenen Bemerkung u n t e r n o m m e n e n Versuch, im Liebesgebot so etwas wie eine S u m m e dieses Gesetzes zu f i n d e n . 2 3 1 Locke hat sich einige J a h r e später wieder in verstreuten Äußerungen mit dem Problem der Moral beschäftigt. Dabei gewinnt ein im Essay VII der „Essays on the Law of N a t u r e " ziemlich isoliert stehender Gedanke ein neues Gewicht, wo Locke von der Demonstrierbarkeit der Moral gesprochen hatte, die sich ähnlich wie in der Mathematik die Winkel eines Dreiecks aus der rationalen Natur des Menschen ableiten lasse, der, wenn er Mensch sei, gehalten sei, G o t t zu lieben und zu verehren und andere der rationalen Natur gemäße Dinge zu erfüllen, d.h. das Gesetz der Natur einzuhalten. 2 3 2 Auch die Tagebuch-Eintragung vom 26. J u n i 168 1 2 3 3 hebt die Wissenschaften Mathematik und Moral als die beiden auf Kenntnis „wahrer I d e e n " beruhenden Gebiete von den n u r auf der Geschichte von Tatsachen f u ß e n d e n Physik, Politik und Lebensklugheit ab und meint, in der Moral könne man „demonstrative G e w i ß h e i t " erlangen, wenn man eine wahre Idee von G o t t , von sich selbst als seinem Geschöpf und der Beziehung, in der man zu G o t t und seinen Mitgeschöpfen stehe sowie von Gerechtigkeit, Güte, Gesetz, Glückseligkeit besitze — denn diese seien wie die Wahrheiten der Mathematik aeternae veritates u n d nicht von Geschichte u n d Tatsachen abhängig. „ F o r that the three angles of a triangle are equall to two right ones is infallibly true whether there be any such figure as a triangle existing in the world or noe and it is true that it is everymans d u t y to be just whether there be any such thing as a just m a n in the world or n o e . " 2 3 4 Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen kann sein Verhältnis zu seinem Schöpfer in Analogie zu dem einem Vater von seinem Sohn geschuldeten Gehorsam begreifen, woraus sich auch eine gesellschaftserhaltende Verpflichtung den anderen Menschen gegenüber ergibt. MO Draft A, § 25f., S. 3 7 - 3 9 . MI Draft Β, § 1 5 5 - 1 6 2 ; bes. S. 307 und 303f. 232 Essays, ed. von Leyden, S. 198. E. de Marchi, aaO., S. XXX, weist darauf hin, daß sich seit den Jahren 1660—1670 der Einfluß der neuen Wissenschaft von R. Boyle und Th. Sydenham auf Locke immer stärker bemerkbar macht. Vgl. dazu auch R. S. Westfall, Science and Religion, aaO., S. 162ff. 233 Aaron-Gibb, aaO., S. 116—118; vgl. dazu von Leyden, aaO., S. 55, Anm. 1, und Euchner, Naturrecht, S. 14 7f. 23 « Aaron-Gibb, aaO., S. 117.

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Die Naturrechtsproblematik bei Locke wird durch den Einbau des eudämonistischen (oder: neo-epikuräischen) Prinzips in die Ethik n o c h u m eine Stufe komplizierter. Die psychologischen Überlegungen über „ F r e u d e " und „Schmerz" als Antriebe des menschlichen Handelns, die zuerst in einer Tagebuch-Eintragung unter dem 16. Juli 1676 erscheinen 2 3 5 und das 21. Kapitel des 2. Buches des „Essay Concerning Human Understanding" vorwegnehm e n 2 3 6 , spielen hier mit hinein. Das früheste Zeugnis für ihr Einwirken auf die Ethik begegnet in dem Papier: „Of Ethick in General". 2 3 7 Von den psychologischen Voraussetzungen aus stellen sich Gut und Böse für den einzelnen zunächst rein relativ im Hinblick auf die unmittelbare Wirkung seiner Handlungen als Vergnügen oder Schmerz d a r . 2 3 8 Dies aber — z.B. Kopfschmerz nach Alkoholmißbrauch — ist, nach einer Unterscheidung, die Locke j e t z t , in Übereinstimmung mit einer weitverbreiteten T e n d e n z 2 3 9 einführt, n u r das natürliche Gut und Böse, während das moralische Gut und Böse durch das Eintreten einer höheren Macht bezeichnet wird, die aufgrund der von ihr erlassenen Gesetze Lohn und Strafe verteilt. 2 4 0 Und n u n wiederholt Locke wörtlich den schon in Draft Α des „Essay" enthaltenen Passus, der in dem neuen Zusammenhang noch einen anderen Stellenwert erhält: „But there is another sort of morality or rules of our actions . . . and these are the rules set to our actions by the declared will or laws of another, who has power to punish our aberrations; — these are properly and truly the rules of good and evil, because the conformity or disagreement of our actions with these, bring upon us good or evil." 2 4 1 Hier werden also aus dem Repertoire der traditionellen Bestandteile christlicher Sittenlehre Lohn und Strafe Gottes mit dem eudämonistischen Ansatz der Ethik verbunden, u m so den Sprung zur Naturrechtslehre zu schaffen. Man sieht aber schon hier, wie wenig dies Locke überzeugend gelingen kann.

235

Abgedruckt bei von Leyden, aaO., S. 263—272. Vgl. dazu auch das Blatt über „moral good" und „moral rectitude", ebendort, S. 72f. (deutsch bei Euchner, Naturrecht, S. 106). 236 Vgl. z u diesem Kapitel Euchner, aaO., S. 95ff. 237 Großenteils abgedruckt bei Lord. King, Life, Bd. II, S. 1 2 2 - 1 3 3 - die Numerierung der Abschnitte 11 und 12 fehlt bei King, vgl. von Leyden, aaO., S. 70, Anm. 1. 238 Lord King, aaO., Bd. II, S. 128. Ein Zitat aus dem weiteren Zusammenhang auch bei Euchner, Naturrecht, § 6, Anm. 216 auf S. 271. von Leyden, aaO., S. 72f., druckt einen bei King ausgelassenen, von Locke nachträglich gestrichenen Passus aus Abschnitt 7 des Papiers ,,Of Ethick in General" sowie ein weiteres Blatt ab, in denen das hedonistische Prinzip noch deutlicher ausgesprochen wird. 239 von Leyden, aaO., S. 71, nennt Pufendorf, Cumberland und Parker als ihre Vertreter, aber das darf keinesfalls exklusiv verstanden werden. 240 „Of Ethick in General", Abschn. 8 und 9, in: Lord King, aaO., Bd. II, S. 1 2 8 - 1 3 0 . AaO., S. 130f.; vgl. mit Draft A, § 26, S. 39.

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Locke fährt fort, um diese Regeln zu kennen sei es notwendig, 1. diesen Gesetzgeber für alle Menschen mit Macht und Willen zu Lohn und Strafe bekanntzumachen und 2. zu zeigen, wie er seinen Willen und Gesetz erklärt habe, d.h. zu sprechen von Gott und dem Gesetz der Natur, was er aber (wiederum) bis zu einem „geeigneten Platz" verschieben müsse. Am Schluß des Fragments setzt er noch einmal zu einem solchen Versuch an 242 , aber es bricht ab, ohne daß eine Ausführung gefolgt wäre. In dem endgültig ausgearbeiteten „Essay Concerning Human Understanding" versucht Locke die These von der Deduzierbarkeit moralischer Sätze und Normen in das Gesamtsystem der Epistemologie einzuordnen. 2 4 3 Dabei werden die Ansätze aus Essay VII der „Essays on the Law of Nature" und der Tagebuch-Eintragung vom 26. Juni 1681 wiederaufgenommen, wenn Locke mehrfach darauf hinweist, daß der Mensch von den Begriffen der Moral wie von denen der Mathematik klare und wahre Ideen gewinnen könne. 2 4 4 Die Epistemologie Lockes24s unterscheidet zwischen „einfachen" Ideen, die vom Geist durch Sensation und Reflexion der von den Sinnen vermittelten Qualitäten der Dinge „passiv" entwickelt, und „komplexen" Ideen, die „aktiv" durch Kombination mehrerer verschiedenartiger einfacher Ideen gewonnen werden. 2 4 6 Die „gemischten Modi" („mixed modes") 2 4 7 entstehen, wenn der Geist verschiedene einfache Ideen aus verschiedenen 242 ,,The n e x t thing then to show is, that there are certain rules, certain dictates, which it is his will all men should conform their actions to, and that this will of his is sufficiently promulgated and made known to all m a n k i n d " , aaO., S. 133. 243 Auch Bobbio, aaO., S. 150f., erinnert daran, daß der Aufweis einer demonstrierbaren Moral das Hauptziel der epistemologischen Untersuchungen Lockes im „Essay" war. G. A. Rauche, Die praktischen Aspekte von Lockes Philosophie. Die Bedingtheit der negativen Kritik Lockes durch den ethischen Charakter des Essay, 1958, macht die Auffassung, „daß Lockes Erkenntnistheorie und Erkenntnispsychologie in der Hauptsache auf seine zweite Wissensstufe, nämlich die ethische, hinzielen" (aaO., S. 2), zum Leitfaden seiner gesamten Untersuchung. 244 Der Ansatz bei der „ I d e e " eines höchsten Wesens und der „idea of ourselves as understanding rational beings" ist dabei in Essay, IV, 3, 18 (ed. Yolton, Bd. 2, S. 154f.) der gleiche wie in der Tagebucheintragung und schon in Essay VII der „Essays on the Law of Nature". Auch der Vergleich mit den Winkeln des Dreiecks taucht wieder auf, um anhand einiger vermeintlich selbstevidenter Sätze wie: „Where there is n o property there is n o injustice", oder: „No government allows absolute liberty" einleuchtend zu machen, daß „morality amongst the sciences capable of demonstration" einzuordnen sei und darin auf der gleichen Stufe wie die Mathematik stehe („I am as capable of being certain of the truth of this proposition as of any in mathematics"). Zu III, 11, 16; IV, 11,8, vgl. u. S. 421, Anm. 251. 245 Vgl. zum folgenden bes. Euchner, Naturrecht, S. 149ff. Essay II, 2 , 1 - 3 (ed. Yolton, Bd. 1, S. 90f.); II, 12,1 (ds„ S. 129f.). ™ Essay II, 22 (ed. Yolton, S. 238ff.).

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Bereichen kombiniert. „Gemischte Modi" beziehen sich generell auf den Bereich des menschlichen Handelns, insbesondere auf Denken, Bewegung und Kraft 2 4 8 , und bilden die Begrifflichkeit für die Normen, aus denen sich die Gesetze und die Moral zusammensetzen. Im einzelnen sind sie ungeheuer differenzierbar. 2 4 9 Wichtig ist, daß die „gemischten Modi" keinen Bezug zu einer unmittelbaren Wirklichkeit haben: „Mixed modes and relations having no other reality but what they have in the minds of men, there is nothing more required to this kind of ideas to make them real, but that they be so framed that there be a possibility of existing conformable to t h e m . " 2 5 0 Gerade deshalb aber — und nun kommt Lockes Nominalismus zum Vorschein — genießt die aus derartigen Begriffen gebildete Moral den Vorzug, eine demonstrierbare Wissenschaft zu sein: „Upon this ground it is that I am bold to think that morality is capable of demonstration, as well as mathematics: since the precise real essence of the things moral words stand for may be perfectly known, and so the congruity or incongruity of the things themselves be certainly discovered, in which consists perfect knowledge." 2 5 1 Bei der konkreten Durchführung dieses Programms gerät Locke jedoch alsbald in erhebliche Schwierigkeiten. Verschiedene Ausleger haben schon darauf hinM8 Essay II, 22,10 (aaO., S. 242f.). 249 „These simple ideas, I say, of thinking, motion, and power have been those which have been most modified, and out of whose modifications have been made most complex modes with names to t h e m " , aaO., S. 243. Wollte man sie alle einzeln aufzählen, „that would be to make a dictionary of the greatest part of the words made use of in divinity, ethics, law, and politics, and several other sciences", aaO., S. 244. 250 Essay II, 30,4 (ed. Yolton, Bd. 1, S. 315f.); vgl. II, 31,3 (S. 318; dort wieder der Vergleich mit dem Dreieck, dessen Idee auch dann wahr wäre, wenn es in der Wirklichkeit kein einziges Dreieck gäbe); III, 5,3 (ed. Yolton, Bd. 2, S. 33: der dort verdruckte Text lautet: „these essences of the species of mixed modes are not only made by the mind but made very arbitrarily, made without patterns, or reference to any real existence"); IV, 4,8 (ed. Yolton, Bd. 2, S. 169: die Sicherheit von Erkenntnissen beruht auf festgelegten Ideen. Dies gilt besonders für die Mathematik und: „In the same manner, the truth and certainty of moral discourses abstracts f r o m the lives of men and the existence of those virtues in the world wherof they treat . . . " ; vgl. auch die deutsche Ubers, des Abschnittes bei Euchner, Naturrecht, S. 157f.). 251 Essay III, 11,16 (ed. Yolton, Bd. 2, S. 113); vgl. IV, 11,8 (aaO., S. 240): „For the ideas that ethics are conversant about being all real essences, and such as I imagine have a discoverable connexion and agreement one with another: so far as we can find their habitudes and relations, so far we shall be possessed of certain, real, and general truth; and I doubt not but, if a right m e t h o d were taken, a great part of morality might be made out with that clearness that could leave, to a considering man, nor more reason to d o u b t , than he could have to d o u b t of the truth of propositions in mathematics which have been demonstrated to h i m . "

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gewiesen, daß die Sätze, die Locke als Beispiel für die Demonstrierbarkeit der Moral anführt, entweder recht banal 2 5 2 oder weitgehend der traditionellen Naturrechtslehre entnommen sind. 2 5 3 Sieht man genauer hin, stammt ein großer Teil von ihnen, wie z.B. das Liebesgebot, unverkennbar aus der Schrift. 2 S 4 Damit ist freilich nicht gesagt, daß Locke sie in diesem Zusammenhang als zur Schrift gehörig empfunden hat; sie sind zunächst nichts weiter als naturrechtliche Allgemeinsätze. Die erkenntnistheoretische Problematik angesichts des Naturrechts wird jedoch in der bereits zitierten 2 5 5 Stelle aus „Of Ethick in General", Abschn. 10, erneut deutlich, wo Locke in wörtlicher Wiederaufnahme des Passus aus Draft A, § 26, die Unterscheidung zwischen dem von Menschen gemachten Moralsystem und den „nicht von uns, sondern für uns" gemachten Regeln wiederholt. 2 5 6 Darin ist dann auch der Hinweis auf den Gesetzgeber und seinen für alle Menschen bekanntgemachten Willen (mit den Stichwörtern „ G o t t " und „Naturrecht") enthalten sowie der Hinweis, daß diese Beziehung ebenso leicht wie irgend eine andere erkennbar sei. Gegenüber Draft Α hat Locke aufgrund seines erkenntnistheoretischen Ansatzes hinzugefügt, „that we have moral ideas as well as others, that we come by them the same way, and that they are nothing but collections of simple ideas". 2 5 7 Dennoch will er die Unterscheidung zwischen dem doppelten Bezug moralischer Handlungen aufrechterhalten: als „Freigiebigkeit, Bescheidenheit, Genügsamkeit" sind sie zunächst nur „modes", d.h. Begriffe, die aus einer Sammlung einfacher Ideen bestehen, im Rahmen der von Menschen selbst gemachten Moral. Erst: „As they refer to a law with which they agree or disagree, so are they good or bad, virtues or vices." 2 5 8 Es bleibt dann aber bei der vorher geäußerten Bemerkung, daß, da dieses Gesetz bekannt oder als bekannt vorausgesetzt sei, die Ubereinstimmung mit dieser Regel ebenso leicht wie irgend eine andere Beziehung zu erkennen sei, ohne die am Ende des Fragments in Aussicht gestellte nähere Ausführung dazu. Auch in dem Kapitel des „Essay", in dem 252

Dies gilt für die o. S. 420, Anm. 244, zitierten Sätze. So z.B. die meisten der von Yolton, in: PhRev 1958, S. 487f. aus den „Essays" und dem „Second Treatise" zusammengesuchten Sätze. Vgl. dazu auch Euchner, Naturrecht, S. 155f. 254 Die von Yolton, aaO., gesammelten Sätze größtenteils aus dem Dekalog; außerdem Gen. 9,6; Jes. 58,7; Eph. 6,4. 2 ss S. 419, Anm. 241. 256 Lord King, aaO., Bd. II, S. 130f. 257 Lord King, aaO., S. 132. 258 Ebendort. Vgl. auch Essay I, 3,6: „ . . . the true ground of morality; which can only be the will and law of a god, who sees men in the dark, has in his hands rewards and punishments, and power enough to call to account the proudest offender" (ed. Yolton, Bd. I, S. 28f.). 253

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sich Locke gegen die eingeborenen Ideen wendet (I, 3), setzt er zwar voraus, daß der größte Teil der Menschen die Existenz Gottes anerkenne und deshalb auch das Naturrecht 2 5 9 , aber „what d u t y is cannot be understood without a law, nor a law be k n o w n or supposed without a law-maker, or without reward and p u n i s h m e n t " ; gerade die Idee Gottes, die hierfür erforderlich ist, ist nicht eingeboren. 2 6 0 O f f e n b a r rechnet Locke weiterhin mit der Deduzierbarkeit auch dieser Moral, wie vor allem aus Essay IV, 3, 18 2 6 1 hervorgeht, der die älteren entsprechenden Äußerungen wiederholt; dabei ist bemerkenswert, daß diese Deduktion über die „ I d e e " eines allmächtigen höchsten Wesens in ihrer Korrespondenz zu der Idee des Menschen von sich selbst als eines rationalen Wesens versucht wird. Einen direkten Weg zum Naturrecht gibt es im Unterschied zu der rein menschlichen Begriffsmoral nicht. Das b e d e u t e t aber, daß von Lockes epistemologischem Ansatz her eine solche Ableitung grundsätzlich nicht möglich ist. Euchner bemerkt z u t r e f f e n d : „Lockes radikaler Nominalismus, der verhindert, daß der Verstand über die Begriffswelt hinaus zu der Realität der Dinge vorstoßen kann, verstellt ihm schon in seinem erkenntnistheoretischen Ansatz den Zugang zum Gesetz der Natur . . , " 2 6 2 Es gibt auch ein Zeugnis dafür, daß Locke selbst nach Veröffentlichung des „Essay Concerning Human Understanding" im Zweifel war, ob er einen solchen Beweis wirklich liefern könne: Locke schreibt in einem Brief an Molyneux 1692: „I thought I saw that morality might be demonstratively made o u t ; yet whether I am able so to make it o u t , is another q u e s t i o n . " 2 6 3 Nun ist die Frage, wie man diese Begrenztheit der Locke sehen Epistemologie im Hinblick auf die Wirklichkeit der Dinge (Locke ist kein echter Empirist, weil zwischen den „ I d e e n " und dem letztlich u n b e k a n n t e n eigentlichen Sein der Dinge ein Abgrund bleibt 2 6 4 ) und auf die Sätze einer Essay I, 3, 6 (aaO., S. 28). Essay I, 3,12 (aaO., S. 33). Vgl. o. S. 420, Anm. 244. Naturrecht, S. 161f. Works, Bd. IX, S. 294. 264 H. Aarsleff, Some observations, S. 262, meint mit Recht, Locke sei besser als Rationalist denn als Empirist anzusehen, da die Vernunft bei ihm die entscheidende Rolle spiele. Umgekehrt hat R. I. Aaron, The Limits of Locke's Rationalism, in: Seventeenth Century Studies, Presented to Sir Herbert Grierson, 1938, S. 292—310, darauf hingewiesen, daß Lockes Rationalismus begrenzt ist, indem die Vernunft sich nur mit Material befassen kann, das durch sinnliche Erfahrung und die sich mit dieser beschäftigende Reflexion gewonnen ist. „Thus we conclude that Locke is both a rationalist and an empiricist at one and the same time, and it is possible to argue that he is both without being inconsistent", aaO., S. 303. Vgl. auch Laslett, Introduction, S. 87: ,,a peculiar and fertile admixture of empiricism and rationalism". 2"> 261 ™ «3

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im eigentlichen Sinne verbindlichen Moral beurteilen soll. Prononciert hat ein solches Urteil D. G. James ausgesprochen, wenn er das erste der beiden Locke-Kapitel in seinem Buch: „The Life of Reason" mit: „The Humble Heart" überschreibt. 265 Er hebt die Stellen im „Essay Concerning Human Understanding" hervor, in denen Locke von der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis spricht, und formuliert zugespitzt: „His essay is an Essay concerning Human Understanding; it is also an Essay concerning Human Ignorance." 2 6 6 Von den Grenzen der Erkenntnis handelt Locke in Essay IV,3, von der Größe der Unwissenheit in IV, 3, 22ff. 2 6 7 Die Begrenztheit menschlichen Wissens ergibt sich zum einen durch die Beschränkung auf die durch die Sinne indirekt zugängliche reale Welt der Dinge; aber selbst diese werden durch unsere schwachen Sinne nur unvollkommen erfaßt, und wir dringen nur zu ihren sekundären, durch die Sinne erfaßbaren, nicht zu ihren primären Eigenschaften vor. Zum anderen reicht unsere Erkenntnis nicht einmal so weit wie unsere Ideen, da die Verbindung zwischen ihnen oft unbekannt ist. Alle Erkenntnis macht aber einerseits an den Grenzen der durch die Sinne erfaßbaren körperlichen Welt, andererseits an denen der aus den „gemischten Modi" konstruierbaren Systeme halt. An dieser Stelle wäre dann nach der Rolle der Offenbarung zu fragen. D. G. James hat auf die Bedeutung von Essay IV,16 aufmerksam gemacht 268 , wo Locke die „degrees of assent" behandelt 269 , die angesichts des häufigen Fehlens absoluter Gewißheit den Graden der Wahrscheinlichkeit einer Sache nach dem Gewicht von eigenen und fremden Erfahrungen und der Glaubwürdigkeit von Zeugnissen verschiedener Art entsprechen. Wenn nun auch hinsichtlich solcher Zeugnisse aus der Tradition gilt: „that any testimony, the further off it is from the original truth, the less force and proof it h a s " 2 7 0 , so gibt es doch einen Bereich, wo bloßes Zeugnis den höchsten Grad von Zustimmung beanspruchen kann, weil dieses Zeugnis von einer höchsten Autorität stammt, und das ist die Gottes selbst. 271 Dieses Zeug-

265 D. G. James, aaO., Kap. II, S. 63—114. In die gleiche Richtung zielen die Überlegungen von R. Ashcroft, aaO., S. 195f. 2 AaO., S. 15 Iff. 400 Locke beeilt sich zu versichern: „These holy writers, inspired from above, writ nothing but truth", aaO., S. 155. 397

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„But y e t every sentence of theirs must be taken up, and looked on as a fundamental article, necessary to salvation", ebendort. 402 „that the epistles are written u p o n several occasions", aaO., S. 152; vgl. auch S. 153f. •W3 AaO., S. 155. 404 they . . . regard the state and exigencies, and some peculiarities of those times", aaO., S. 154.

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Argumente berücksichtigen. 405 Abgesehen von seiner Verwendung in der „Reasonableness" hat Locke diesen Grundsatz auch zum Ausgangspunkt einer eigenen Auslegung der Paulusbriefe gemacht 4 0 6 , deren Bedeutung für die Auslegungsgeschichte noch nicht entfernt erkannt worden ist. In dieser gesamten Haltung ist die Ähnlichkeit zu Erasmus und dessen Verhältnis zu den beiden Testamenten nicht zu verkennen; auffällig ist, daß Locke wie Erasmus seine lex evangelica zentral auf die moralisch verstandene Lehre Jesu gründet. 407 Daneben ist die Stellung beider zum Gesetz und darin den beiden Testamenten auch wieder deutlich verschieden: der spiritualistische Grundzug des Erasmus ist bei Locke in dieser Form nicht sichtbar, obwohl der Antizeremonialismus und die Priesterschelte nicht fehlt. Dazu wäre auch noch an Chiliingworth zu erinnern, bei dem eine ähnliche Fixierung auf das Neue Testament und die moralische Lehre Jesu mit einer Locke nahe verwandten rationalen Gesamthaltung einherging. 408 Im ganzen ist erstaunlich — und gegenüber der weitverbreiteten Deutung Lockes als eines radikal-modernen Denkers hervorzuheben — in wie starkem Maße bei ihm das humanistische Erbe weiterwirkt; und von daher, nicht von seiner Erkenntnistheorie, sollten auch seine Einflüsse auf die Philosophie der englischen Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: auf die Deisten und ihre moralische Religionsauffassung, aus der dann auch eine bei Locke noch nicht sichtbare radikale Bibelkritik erwuchs, ausgehen. 409 „ . . . he that will read them as he ought, must observe what it is in them which is principally aimed at; find what is the argument in hand, and profit by them. The observing of this will best help us to the true meaning and mind of the writer", aaO., S. 152. Vgl. dazu auch seine Vorbemerkungen zu seinen Paraphrasen zu den Paulusbriefen (An Essay for the Understanding o f St. Paul's Epistles, by consulting St. Paul himself, in: Works, Bd. V I I I , S. 1 - 2 3 ) , S. 7, wo er die nachträgliche Verseinteilung beklagt, die dazu geführt habe, daß man die Verse „usually for distinct aphorism" genommen habe, wo doch der schwache Geist nötig habe, „undisturbedly the thread and coherence o f any discourse" vorgelegt zu erhalten. Zu seiner Methode einer kursorischen Exegese ds. S. 13ff. Hier ist Locke seiner Zeit im exegetischen Gespür ein gutes Stück voraus. Zu Locke's Paulusexegese vgl. noch L. Salvateorelli, From Locke to Reitzenstein: The Historical Investigation of the Origins o f Christianity. In: HThR 22, 1 9 2 9 , S. 2 6 3 - 3 6 9 . 405

Vgl. vorige Anm, Vgl. ο. S. 75ff. 408 Vgl. o. S. 2 5 5 f f . 409 P. Abrams hat vollkommen recht, wenn er im Unterschied zu der vorherrschenden Meinung von Locke sagt: „he remained committed to the ideals o f the conservative, rationalist Christian world view in which he was educated", in: Two Tracts, S. 9 7 f . Diese Zusammenhänge sind in der neueren Diskussion in der Regel verdeckt worden, weil die Alternative zwischen traditioneller scholastischer Naturrechtslehre 406

407

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Für die Beteiligung Lockes an den Diskussionen, die das Alte Testament als Stütze für eine bestimmte autoritäre Position in den aktuellen staatspolitischen Auseinandersetzungen der Zeit betrafen, wie sie uns schon in verschiedenen Beispielen begegnet waren 4 1 0 , sind seine „Two Treatises of Government" ein willkommener Beleg. Wie P. Laslett in der Einleitung zu seiner jetzt als maßgeblich betrachteten erstmals wieder vollständigen 411 Ausgabe 4 1 2 überzeugend nachgewiesen hat 4 1 3 , hat Locke die beiden Abhandlungen (und zwar die zweite zuerst 4 1 4 ) in den Jahren 1679—81 und nicht, wie aus dem Vorwort, das er dem Druck von 1690 beifügte, hervorzugehen schien 4 1 5 , im Jahre 1689 zur Rechtfertigung der Glorious Revolution geschrieben. Der Anlaß war der starke Widerhall, den die Wiederveröffentlichung der Schriften von Sir Robert Filmer, 1680 erstmals auch des bis dahin ungedruckten „Patriarcha" 416 , durch die Tory-Partei zur propagandistischen Unterstützung der männlichen Erbfolge für den katholischen Jakob II in der Öffentlichkeit hervorgerufen hatte. 4 1 7 Filmer war bereits 1653 gestorben, die Abfassung seines ,.Patriarcha" fällt in die Zeit um 1 6 4 0 4 1 8 und gehört in die Auseinandersetzungen zwischen Roy allsten und und modernen liberalen Ideen den gesamten Bereich des humanistischen Rationalismus in der englischen Geisteswelt ausklammert. 410 Vgl. o. S. 232ff., 3 5 I f f . 411 Charakteristisch für die lange Zeit herrschende LocAe-Deutung ist, daß jahrzehntelang nur der zweite Treatise nachgedruckt wurde, vgl. Laslett, Treatises, S. 47f. Zum ersten Teil bemerkt noch Mabbott, Locke, S. 141: „But it is now of purely historical interest and need not concern us further."(!) 1960 (1963). 413 AaO., S. 45ff. — vgl. auch die zusammenfassende Darstellung von Cranston, aaO., S. 205ff. 4M AaO., S. 59. 61. "is AaO., S. 155. "16 Political Discourses of S. R. F., 1681; bei Laslett, ed., Patriarcha, S. 47, Α., Nr. 2 — die auch bei Laslett, Treatises, App. B., S. 13 7, Nr. 33, erwähnte Ausgabe; vgl. dazu auch ds., S. 57. 417 Eine modernisierte, sonst aber wortgetreue Neuauflage ist die von P. Laslett, Patriarcha and Other Political Works of S. R. F., 1949. Dt. Übers, auch in Η. Willmanns (Hrsg.),/. Locke, Zwei Abhandlungen über Regierung nebst ,.Patriarcha" von Sir R. F., 1906. — Uber Filmer vgl. bereits P. Laslett, S. R. F.: The Man versus the Whig Myth, in: William and Mary Quarterly, 3. s., Bd. 5, 1948, S. 5 2 3 - 5 4 6 ; W. H. Greenleaf, Order, Empiricism and Politics. Two Traditions of English Political Thought, 1964, S. 80—94. Zum Gedankengang des , Patriarcha" vgl. auch R. Crippa, Studi sulla coscienza etica e religiosa de seicento, 1960, S. 57ff.; Dunn, Political Thought, S. 58ff.; Μ. Henningsen, „Divine Right of Kings": James I and Robert Filmer, in: Zwischen Revolution und Restauration. Politisches Denken in England im 17. Jahrhundert, hrsg. von E. Voegelin, 1968, S. 1 7 - 4 5 , bes. S. 37f. 418 Vgl. Laslett, in: William and Mary Quarterly 5, S. 531 f.; ders., in: Filmer, Patriarcha, 1949, S. 3.

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Parlamentspartei in den Jahren vor Ausbruch des Bürgerkrieges. Daß seine Gedanken in der Restaurationsepoche wieder aktuell wurden, ist nur einer der Hinweise auf das Wiederanknüpfen der geistigen und politischen Entwicklungen aus der ersten Jahrhunderthälfte über die CommonwealthPeriode hinweg. Filmers Argumente erscheinen vor dem geistigen Hintergrund des 17. Jahrhunderts viel weniger abseitig, als dies einem heutigen Betrachter vorkommen mag. Daß er die Bibel, speziell das Alte Testament, als Ausgangspunkt eines Beweises für die politische Gestaltung der Gegenwart wählt, ist nach den vielen Beispielen, die uns dafür bereits begegnet sind, durchaus die übliche Art des Vorgehens. Wie Laslett betont 4 1 9 , war die Voraussetzung, daß die Bibel Gottes wahren, einzigen und vollständigen Willen für alle Dinge enthält, so allgemein anerkannt, daß sie keiner besonderen Verteidigung bedurfte. Speziell der Rückgriff auf das Alte Testament lag Puritanern und Anglikanern gemeinsam am Herzen, und wir sahen, eine wie zentrale Rolle dabei für die hochkirchliche Partei die Herleitung der Prärogativen des Königtums direkt aus dem Alten Testament spielte. Insofern steht Filmer keineswegs allein, sondern sein Werk ist nur eines unter vielen mit ähnlicher Zielrichtung. Originell (wenn auch keineswegs ohne jedes Vorbild 4 2 0 ) ist es dagegen in seiner Methode: im Gegensatz zu der üblichen Verbindung zwischen dem Alten Testament und den Institutionen der Gegenwart auf dem Wege über die Typologie sucht Filmer eine direkte, genealogische Deszendenz des gegenwärtigen Herrschertums in aller Welt und überhaupt aller Strukturen der menschlichen Gesellschaftsordnung von den im Alten Testament berichteten Anfängen her nachzuweisen. Die menschliche Gesellschaft nimmt ihren Ausgang bei Adam, der durch seine Erschaffung zum Herrscher über seine Nachkommenschaft bestimmt wurde 4 2 1 Nach Adam hatten auch die übrigen Patriarchen vor der Flut durch ihre Vaterschaft königliche Gewalt über ihre Nachkommen. Hieraus ergibt sich für Filmer sofort eine Grundregel für das menschliche Zusammenleben: alle Kinder Adams, d.h. alle Menschen, sind von Natur her ihren Vätern unterworfen. ,,And this subordination of children is the fountain of all regal authority, by the ordination of God himself." 4 2 2 Mit dieser These, die man später „Patriarchalismus" 419

In Filmer, Patriarcha, S. 11. Zu den Vorläufern und Zeitgenossen Filmers vgl. Laslett, aaO., S. 27ff., der besonders auf Overalls „Convocation B o o k " verweist (vgl. dazu o. S. 2 3 7 , Anm. 2 1 7 , und S. 247, Anm. 4 6 3 ) . Vgl. außerdem ]. N. Figgis, The Divine Right of Kings, 1896; 2 1 9 1 4 , Repr. 1965, S. 148ff., der in dem Ansatz bei Adam einen naturrechtlichen Aspekt als Besonderheit Filmers in seiner Verwendung des Alten Testaments erblickt. Seine Folgerungen daraus sind jedoch zu weitgehend. 421 „Creation made man Prince of his posterity", aaO., S. 57. 422 Ebendort. 420

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genannt hat 4 2 3 , ergibt sich für Filmer sofort eine unumstößliche Begründung für die göttliche Autorität des Königtums, und zwar in der Form der erblichen Monarchie, wobei jeweils der älteste Sohn das Recht zur Nachfolge und den Anspruch auf absoluten Gehorsam aller seiner Familienangehörigen, d.h. seiner Untertanen, hat. Die Brücke zwischen Adam, der durch die Schöpfung die Herrschaft über die ganze Welt besaß 4 2 4 , und den Herrschaftsrechten der modernen Könige bildet die Zeit Noahs und der Flut. Den entscheidenden Schritt hierfür tat Noah, indem er die Welt unter seine drei Söhne aufteilte, und von den Söhnen und Neffen Noahs stammen alle nach der Verwirrung der Sprachen auf der Welt verstreuten Völker ab. Sie waren aber nicht ungeordnete Massen, sondern jeweils Familien, die ihren Familienvätern, d.h. ihren Herrschern Untertan waren. Von diesen ersten Königen leiten alle jetzt regierenden Könige ihre Herrschaft als Erben ab. 4 2 5 Hier ergeben sich freilich allerlei konkrete Schwierigkeiten aus der Filmer wohlbekannten Buntheit der Herrschaftsformen in den großen und kleinen Staaten seiner Gegenwart. Aber mit diesen Schwierigkeiten, die einer natürlichen Deszendenz aller Könige von den Erzvätern und über sie von Adam im Wege stehen, wie auch dem Aussterben von regierenden Häusern, ihrer Verdrängung durch Usurpatoren u.a. wird Filmer dadurch fertig, daß er behauptet, solche Herrschaftswechsel entsprächen in diesem Fall dem Willen Gottes und stellten das durch Irrtümer der Menschen verwirrte natürliche Verhältnis wieder her. 4 2 6 Diese Gehorsamspflicht der Untertanen gegenüber ihrem Herrscher begründet Filmer mit dem fünften Gebot in einer charakteristisch abgewandelten Form: „Honour thy F a t h e r " 4 2 7 — ein Manöver, an das Locke sofort seine Kritik anhängte. Aber Laslett macht deutlich, daß der Patriarchalismus, den Filmer theoretisch vertrat, genau den soziologischen Bedingungen in

423 Vgl. Laslett,

aaO., S. 22.

424

AaO., S. 58. Eingeschlossen ist auch die Herrschaft über die Frauen, da schon Eva aus einem Stück von Adam gemacht wurde; vgl. „Observations on Mr. Hobbes' Leviathan" bei Laslett, aaO., S. 2 4 1 - 2 5 0 , S. 2 4 1 ; vgl. auch: „The Anarchy of a Limited or Mixed Monarchy", ds., S. 2 7 8 - 3 1 3 , S. 283 (zu Gen. 3,16). 425

„It is true, all Kings be not the natural parents of their subjects, y e t they all either are, or are to be reputed, as the next heirs of those progenitors w h o were at first the natural parents of the whole people", Patriarcha, aaO., S. 60f.; vgl. auch The Anarchy, aaO., S. 2 8 8 f f . : „ . . . but that in the same multitude, . . . there is one man amongst them that in nature hath a right to be the King of all the rest, as being the next heir to Adam, and all the others subject unto him." « 6 AaO., S. 6 0 - 6 2 ; vgl. auch „The Anarchy", aaO., S. 288: all Kings that n o w are, or ever were, are or were either Fathers of their people, or the heirs of such Fathers, or usurpers of the right of such Fathers." 427 AaO., S. 62; vgl. auch The Anarchy, aaO., S. 289. 29 Reventlow, Bibelautorität

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den politischen und vor allem ökonomischen Verhältnissen seiner Zeit entsprach; besonders auch seinen eigenen Lebensumständen als Landedelmann und Haupt einer umfangreichen Familie und Klientel. 4 2 8 Das politische Prinzip, das er aufs schärfste b e k ä m p f t e , war die Consensus-Theorie: daß das Volk ursprünglich die Souveränität besaß und sie durch Zustimmung aller an einen Herrscher delegierte, von dem sie unter bestimmten Umständen auch wieder an es zurückfallen k o n n t e . 4 2 9 Für die wahre Gestalt eines gottgewollten Königtums war auch Filmer ganz selbstverständlich das Alte Testament maßgeblich. Durch die ganze Geschichte Israels zieht sich die Monarchie als gottgewollte Regierungsform. 4 3 0 Schon in der vorköniglichen Zeit wurden die Israeliten monarchisch regiert, denn die Ältesten der Richterzeit waren patriarchalische Familienhäupter. 4 3 1 Die unbeschränkte Rechtsgewalt der Könige wird bereits aus Samuels Beschreibung eines Königs (1. Sam. 8) deutlich; sie zeigt zugleich, was ein Untertan dulden muß, ohne das Recht zu haben, sich dagegen aufzulehnen 4 3 2 — allerdings m u ß der König daran denken, daß das Gesetz der Natur ihn nötigt, die Sicherheit und das Wohl des Ganzen über alles zu stellen — gegen Tyrannen bleibt den Untertanen n u r das Gebet zu G o t t . 4 3 3 Aus dem Neuen Testament werden die bekannten Worte vom Zinsgroschen; R o m . 13; 1. Pet. 2,13, zitiert, um die Pflicht der Christen zum Untertansein unter die Herrscher zu belegen. Außer der Bibel geht Filmer auch die Geschichte der späteren Reiche durch; insbesondere bemüht er sich zu beweisen, daß auch für die Geschichte des Römerreiches das Königs- und Kaisertum die ideale Staatsform war, zu der das Volk in Gefahren wieder zurückfand, während die Demokratie n u r eine verhältnismäßig kurze Zwischenperiode voller innerer u n d äußerer Unruhen war. 4 3 4 Überhaupt ist Unordnung das Kennzeichen jeder Demokratie; ,,such mischiefs are unavoidable and of necessity do follow all democratical regiments. The reason is given: because

42

« AaO., S. 20ff. Vgl. auch ders., in: William and Mary Quarterly.

429

AaO., S. 5 3 f f . 8 I f . Vgl. dazu auch Laslett, aaO., S. 31. Die Könige Israels stehen in der legitimen Sukzession des ursprünglichen Patriarchats Adams: „But when God gave the Israelites Kings, He reestablished the ancient and prime right of lineal succession to paternal government", aaO., S. 60. „God did always govern His o w n people by monarchy only", aaO., S. 84. 431 AaO., S. 84f. 432 „There is no nation that allows children any action or remedy for being unjustly governed", aaO., S. 96. 433 AaO., S. 9 6 f . — A u c h die Könige sind an die Gesetze gebunden, aber nur insoweit es sich nach ihrem Urteil u m gerechte Gesetze handelt, aaO., S. 104; im übrigen hat aber der Herrscher durchaus die Prärogative über die Gesetze, aaO., S. 105ff. 434 S. 86f. 430

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the nature of all people is to desire liberty without restraint". 4 3 5 Interessant ist, daß Filmer sich außer auf die Bibel an einer Stelle auch auf Aristoteles' „ E t h i k " beruft und die Sätze des Philosophen zitiert, daß die Monarchie die älteste, natürliche und göttliche Herrschaftsform sei, die beste Staatsform und Volksherrschaft die schlechteste. 4 3 6 Im übrigen betont Laslett437 mit Recht, daß Filmer keineswegs ein krasser Absolutist ist: er hat auch durchaus für das Parlament einen Platz bereit 4 3 8 und ist überhaupt durchweg an der Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse interessiert. Seine Ausführungen über das Königtum haben eine geheime Mitte in der Geschichte der eigenen Monarchie Englands; es ist ihm wichtig, zu betonen, daß England seit der normannischen Eroberung keine Tyrannen gekannt habe. 4 3 9 Außer den politischen versteht Filmer auch die wirtschaftlichen Verhältnisse Englands aus dem Alten Testament zu begründen. Gegen die These Grotius' von einem ursprünglichen Kommunismus 4 4 0 und eine verwandte Auffassung John Seidens, sucht er das ursprüngliche absolute Verfügungsrecht der Urväter Adam und Noah über alle Besitztümer zu beweisen, die aus eigenem Willen durch Schenkung und Abtretung ihren Söhnen eigene Herrschaftsgebiete zugeteilt hätten. 4 4 1 Gegen diese Thesen Filmers wendet sich Locke in seinen „Two Treatises". 4 4 2 Der Eindruck, den der moderne Leser gewinnt: „two hundred unreadable pages introducing an essay which is lively and convincing if a little laboured and repetitive" 4 4 3 und der sogar in Druckausgaben vielfach zum Fortlassen der ersten Abhandlung geführt hat, verkennt den polemischen Ausgangspunkt des « s AaO., S. 89. Vgl. auch S. 9 0 - 9 3 . 436 AaO., S. 85, vgl. schon 78ff. Zur Herkunft des Patriarchalismus von Aristoteles vgl. Laslett, aaO., S. 27. Dieses Moment hat Filmer noch in einer eigenen Schrift: Observations upon Aristotele's Politics touching Forms of Government (Ed. Laslett, aaO., S. 193—229) ausgebaut. Hier finden sich am Schluß (S. 229) auch die programmatischen sechs Punkte: „1. That there is no form of government, but monarchy only, 2. That there is no monarchy, but paternal. 3. That there is no paternal monarchy, but absolute, or arbitrary. 4. That there is no such thing as an aristocracy or democracy. 5. That there is no such form of government as a tyranny. 6. That the people are not born free by nature." AaO., S. 32. « 8 AaO., S. 113ff. AaO., S. 94f. De Jure Belli et Pacis, 1625, S. 138. 441 AaO., S. 63ff.; vgl. auch „Observations upon H. Grotius' ,De Jure Belli et Pacis' ", Ed. Laslett, S. 2 6 1 - 2 7 4 , S. 273. 442 Zum Gedankengang vgl. Viano, aaO., S. 299ff.; Laslett, in: Locke, Two Treatises, S. 92ff.; Euchner, in: Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (dt. von H.-J. Hoffmann, 1967), S. 20ff. 443 Laslett, in: Two Treatises, S. 61.

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Ganzen und übersieht den Zwang der Situation, auf die Locke mit seinen gesamten Ausführungen 4 4 4 zu reagieren hatte: die Beweiskraft der Ableitung von politischen Forderungen für die Gegenwart aus Vorbildern im Alten Testament war noch um 1680 ungebrochen, und der mit der Filmerschen Beweisführung geführte Propagandafeldzug der Tories für die katholische Erbfolge Jakobs II so gefährlich, daß der die Whig-Partei 445 und ihren Anführer, den 1. Earl of Shaftesbury, unterstützende Locke gar nicht anders gegen sie vorgehen konnte als mit dem Versuch, den Ansatz Filmers auf seinem eigenen Gebiet, dem des Alten Testaments, zu widerlegen. Dieser destruktiven Methode ist die erste der beiden Abhandlungen gewidmet; erst nachdem die Destruktion des Filmerismus gelungen war, konnte Locke in der zweiten Abhandlung seine eigenen Ansichten über Staat und Gesellschaft vortragen. 4 4 6 Die Bedeutung dieser ersten Abhandlung kann der Leser von heute auch deshalb schwer nachfühlen, weil sie in ihrer Kritik an Filmer so unmittelbar einleuchtet. Für die Zeitgenossen war dies bei weitem nicht in gleichem Maße der Fall, und tatsächlich ist die Kritik von P. Laslett447 begründet, daß Locke seinem Gegner sehr viel weniger gerecht wurde als etwa sein Freund J. Tyrell. 448 In vordergründigem Sinne hatte Locke allerdings mit seinem Gegner leichtes Spiel: Filmer hatte sich in seinen Konstruktionen so weit verstiegen, daß die Ungereimtheiten und logischen Sprünge in seiner Argumentation leicht aufzuzeigen waren. Ihm diese Absurditäten anzukreiden und ihn in vielfach ironischem Ton von dem Wortsinn der von ihm angeführten Bibelstellen her zu widerlegen, war die einer verbreiteten Form der Kontrovers- und Pamphletliteratur entsprechende Methode Lockes. So macht er aus Gen. 1,26. 28 klar, daß in Gen. 1,28 nicht die Herrschaft Adams über andere Menschen, seine Nachkommen, sondern die Unterwerfung der Tiere unter die Menschheit als ganze gemeint sei. 4 4 9 Gen. 3,16 begründet nicht eine Herrschaft Adams über Eva, d.h. von Männern über Frauen, sondern bezieht 444

Ursprünglich war es nur eine einzige Abhandlung in zwei Büchern, vgl. / . Gerritsen, bei: P. Laslett, Further Observations on Locke's Two Treatises of Government, 1690, 1954; außerdem Laslett, in: Two Treatises, S. 50. 284. 445 Die Begriffe erscheinen zwar erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts, aber die Parteien bildeten sich jetzt schon heraus. 446 Gegen Laslett, in: Two Treatises, S. 61. w AaO., S. 68f. 448 Patriarcha non Monarcha (anon.), 1681. 449 Buch I, § 30 (ed. Laslett, S. 179): „ . . . that God in this Donation, gave the World to Mankind in common, and not to Adam in particular" (d., S. 180): „Man there, as is usual, is taken for the Species, and them the individuals of that Species . . . "

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sich lediglich auf die natürliche Abhängigkeit einer Ehefrau von ihrem Ehemann. Eine solche hätte etwa auch die Königinnen Maria und Elisabeth, hätten sie einen Untertanen geheiratet, betroffen, nicht aber ihre politische Souveränität. Außerdem sei dieses Wort ein Fluch an Eva im Augenblick der Vertreibung aus dem Paradies — kein Augenblick, an dem Adam die Verleihung von Privilegien erwarten konnte. 4 5 0 Gegen die Behauptung, Adam habe durch seine Vaterschaft königliche Souveränität über seine Kinder erhalten, macht Locke erstens geltend, daß nicht der Vater durch die Zeugung, sondern Gott der Schöpfer jedes einzelnen Menschen sei 451 , zweitens, daß augenblickliche Lustbefriedigung, nicht weitschauender Plan die Ursache des Zeugungsvorganges sei 452 , schließlich, daß, wenn schon die Eltern dem Kind das Leben geben, dabei die Rolle der Mutter weit wichtiger sei, so daß ihr die Herrschaft über die Kinder zumindest zu gleichen Teilen zukommen müsse. 4S3 Hiermit hängt eng zusammen, was Locke in Abwehr der Verkürzung des 5. Gebotes durch Filmer über die beiden Eltern schuldige Ehrerbietung durch ihre Kinder sagt, wofür er eine ganze Menge von Belegen aus verschiedenen Teilen des Alten Testaments herbeibringen kann, auch hier wieder eine ausgezeichnete Bibelkenntnis verratend. 4 5 4 Auch hier hatte ihm Filmer eine leicht zu treffende Blöße gegeben. Wenn denn Kinder, solange sie schwach und klein sind, einen Anspruch auf angemessenen Unterhalt durch ihre Eltern haben, so dann auch nach deren Tode auf das Erbe, das der natürliche Verlauf der Geschlechter ihnen zukommen läßt. 4 5 5 Erst recht gilt das für die Argumentation, durch die Filmer den Übergang der ursprünglich Adam gegebenen monarchischen Gewalt auf die Könige der Gegenwart beweisen wollte. Hier ist Lockes wichtigstes Argument, daß, gesetzt den Fall, Adam sei tatsächlich ein solches Herrschaftsrecht von Gott verliehen worden, dieses Recht auf alle seine Nachkommen übergegangen sei. 456 Geht man den gesamten angenommenen Sukzessionsgang von Adam bis zu den heutigen Monarchen durch, gibt es, wie Locke überzeugend aufweist, so viele Abbrüche, so viele Sprünge, daß die Ableitung der königlichen aus der väterlichen Gewalt nicht gelingen kann. Hätte tatsächlich ein Mensch als Erbe Adams in der Primogenitur das Recht auf Herrschaft über 450

AaO. I, § 4 4 - 4 9 (ed. Laslett, S. 189ff.). « 1 AaO. I, § 52 (ed. Laslett, S. 196). « 2 AaO. I, § 5 4 (ed. Laslett, S. 197f.). « 3 AaO. I, § 55 (ed. Laslett, S. 198). 454 AaO. I, § 6Of. (ed. Laslett, S. 2 0 2 f f . ) . 455 AaO. I, § 8 8 f f . (ed. Laslett, S. 2 2 4 f f . ) . 456 „about the descent of Adam's Regal Power . . . , that the Line and Posterity of Adam is to have it, that is in plain English, any one may have it, since there is no Person living that hath not the Title of being of the Line and Posterity of Adam'*, aaO. I, § 111 (ed. Laslett, S. 2 4 0 ) .

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die ganze Welt geerbt, dann wäre zunächst die A u f g a b e , ihn herauszufinden, damit dann alle anderen K ö n i g e ihm ihre Kronen zu Füßen legen k ö n n t e n . 4 5 7 Dann aber hätten alle diese Könige keinen begründeten Herrschaftsanspruch. „ I f there b e m o r e than one Heir of A d a m , every one is his Heir, and so every one has Regal P o w e r . " 4 5 8 Gibt es ein durch die Zeugung verliehenes väterliches R e c h t , dann kann es nicht auf den ältesten S o h n als E r b e n in F o r m des Herrschaftsrecht über seine jüngeren Brüder ü b e r g e h e n 4 S 9 ; eher ließe sich (diese väterliche Autorität vorausgesetzt) b e h a u p t e n , daß jeder Vater auf Erden die gleiche väterliche Gewalt aufgrund seines durch Zeugung selbsterworbenen Rechtanspruches i n n e h a b e . 4 6 0 Das ausschließliche Recht des ältesten Erben auf den gesamten Besitz und die alleinige Herrschaft läßt sich schon bei den Patriarchen nicht n a c h w e i s e n 4 6 1 , erst recht nicht nach der Teilung der Welt unter die N a c h k o m m e n Noahs.462 A u ß e r d e m ist der Übergang von Besitzrechten zu Herrschaftsrechten ein logisch unzulässiger Sprung: das M o n o p o l über Landbesitz und damit die gesamte L e b e n s m i t t e l p r o d u k t i o n erlaubt weder, den Mitmenschen hungern zu lassen — der bedürftige Bruder hat Anspruch auf eine G a b e aus d e m Überfluß — noch ihn zu versklaven. 4 6 3 A n z u m e r k e n ist, daß dieser von Filmer gesetzte Z u s a m m e n h a n g Lockes besondere Beschäftigung mit d e m T h e m a „ E i g e n t u m " hervorruft, und nicht die „Ideologie des bürgerlichen Zeitalters"! Besonders wendet sich Locke gegen die T h e s e Filmers, daß G o t t bei Begründung der israelitischen Monarchie die unterdessen abgebrochene ursprüngliche Lineal-Erbfolge wiederhergestellt h a b e 4 6 4 — die Bedeutung gerade dieses A r g u m e n t s wird erst deutlich, wenn man sich daran erinnert, daß die Könige Israels in besonderer Weise von den Loyalisten als T y p e n der Privilegien (und Pflichten) der Könige Englands benutzt worden waren! Im Grunde sind es aber nicht diese Einzelargumente, die für uns von besonderem Interesse sind — obwohl an einigen Stellen durch sie schon die grundsätzliche Haltung Lockes hindurchscheint, vor allem, wenn er auf die Rechte aller Menschen, aller Väter, der Frauen ebenso wie der Männer an dem Erbe Adams verweist — sondern der hermeneutische A n s a t z , der in ihnen z u m Ausdruck k o m m t . Man erkennt ihn einmal an den regelmäßig «7 458 459 4«o «1 4«2 463 464

AaO. AaO. AaO. AaO. AaO. AaO. AaO. AaO.

I, I, I, I, I, I, I, I,

§ § § § § § § §

104 (ed. Laslett, S. 105 (ed. Laslett, S. 101 (ed. Laslett, S. 103 (ed. Laslett, S. 11 I f f . (ed. Laslett, 1 3 9 f f . (ed. Laslett, 4 1 - 4 3 (ed. Laslett, 1 5 9 f f . (ed. Laslett,

234f.). 236). 232f.). 233f.). S. 2 3 9 f f . ) . S. 2 6 0 f f . ) . S. 1 8 6 - 1 8 9 ) . S. 2 7 5 f f . ) .

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wiederkehrenden kleinen Zwischenbemerkungen, in denen Locke durchblicken läßt, daß die Auffassung seines Kontrahenten so sehr vom allgemeinen Menschenverstand abweiche, daß sie unmöglich ernstgenommen werden könne. Manchmal sagt er es aber auch ausdrücklich: ,,God, I believe, speaks differently from Men, because he speaks with more Truth, more Certainty; but when he vouchsafes to speak to Men, I do not think, he speaks differently f r o m them, in crossing the Rules of language in use amongst t h e m . " 4 6 5 Locke erkennt also keinen anderen als den schlichten Wortsinn an, und zwar im Sinne des common sense oder, wie man am Beispiel der Rolle der Frau bei der Zeugung sieht, von der empirisch-naturwissenschaftlichen Beobachtung her gedacht. An anderer Stellte sagt er: „The Prejudices of our own ill grounded Opinions, however by us called Probable, cannot Authorize us to understand Scripture contrary to the direct and plain meaning of the Words." 4 6 6 Auf der anderen Seite hat Locke selbst sehr wohl eigene „Prejudices". Worauf es ihm ankommt, macht er bereits in den einleitenden Paragraphen der ersten Abhandlung klar: er beschuldigt Filmer, daß er mit seiner These von der absoluten Monarchie als Schöpfungsordnung für die Sklaverei der Menschheit plädiert und diejenigen Kräfte unterstützt habe, die ihr „a Right to natural Freedom" versagten. 467 „Men are not born f r e e " („Men are not naturally free"): in diesem Satz faßt er die von ihm bekämpfte Position Filmers zusammen. 4 6 8 An anderer Stelle formuliert er seinen eigenen Standpunkt. „If all this be so . . . then Man has a Natural Freedom . . . since all that share in the same common Nature, Faculties and Powers, are in Nature equal, and ought to partake in the same common Rights and Priviledges, till the manifest appointment of God . . . can be produced to shew any particular Persons Supremacy, or a Mans own consent subjects him to a Superior. This is so plain, that . . ," 4 6 9 Das ist dann das Thema, das er in der zweiten Abhandlung zum eigentlichen Ausgangspunkt seiner vielbeachteten politischen Theorie macht. Es ist ganz offensichtlich, und L. Strauss hat in diesem Punkt mit Recht darauf hingewiesen 4 7 0 , daß der Naturzustand, den Locke als eine Art tabula rasa jeglicher Macht und damit als ein allerdings in der Realität immer schon gebrochenes Ideal postuliert, an dessen Rückgewinnung gleichwohl jegliche Politik zu messen ist, in keiner Weise auf einer biblischen Grundlage beruht. Hier steht Locke ganz auf dem Boden der modernen Naturrechtslehren, in deren Bereich 465 AaO. I, * * AaO. I, AaO. I, 468 AaO. I, AaO. I, 470 Natural

§ 46 (ed. Laslett, S. 191). § 36 (ed. Laslett, S. 183). § 3 (ed. Laslett, S. 160). § 5 und 6 (ed. Laslett, S. 161 und 162). § 67 (ed. Laslett, S. 208). Right, S. 215f. = Naturrecht und Geschichte, S. 224f.

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Die Krise der Bibelautorität in England

wie bei Hobbes, bei Locke allerdings weniger radikal geprägt 471 , der Naturzustand ein zentrales Denkmodell ist. Die Whig-Ideale der Freiheit und Gleichheit, den Postulaten der Levellers, wenn auch auf einer etwas anderen Ebene 4 7 2 , nahe verwandt, sind nun allerdings den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen des Alten Testaments ebenso fremd, wie der Gedanke der absoluten Weltmonarchie Adams bei Filmer. Sieht man von dieser Uberspitzung Filmers ab, ließe sich durchaus die Frage stellen, ob dieser in seinem patriarchalischen Denkmodell dem Alten Testament nicht erheblich näher steht als Locke — trotz dessen zutreffenden Einzelbeobachtungen wie z.B. hinsichtlich des Wortes 'ädäm als Kollektivbezeichnung für den Menschen schlechthin oder der im 5. Gebot sichtbar werdenden Würde der Frau als Mutter 4 7 3 — die ja keineswegs dieses patriarchalische System aufhebt, sondern unmittelbar aus ihm abgeleitet werden kann. Im übrigen macht P. Laslett auf den wichtigen Umstand aufmerksam 4 7 4 , daß Locke die treffende Gegenkritik Filmers, vor allem gegen die Annahme, daß ein solcher Naturzustand tatsächlich existiert habe, und gegen die Theorie eines hinter allen politischen Institutionen stehenden allgemeinen Konsensus 475 , durchweg nicht zur Kenntnis nimmt. Daß ein konsequenter Individualismus als Basis einer Demokratie, wie er bei Locke vorausgesetzt wird, zur Anarchie und als ihrer Folge zur Gewaltherrschaft führen müsse, war die Befürchtung Filmers , die er vor allem aus der Geschichte Roms zu beweisen suchte. 4 7 6 Wenn man seine Gedanken auf die Grundthese reduziert, daß jegliche politische Ordnung in Freiheit sich auf der Grundlage natürlicher Gemeinschaften entfaltet, durch die auch Autorität und Unter- und Überordnung begründet wird, kann man nicht behaupten, daß sie schon jeglichen Wahrheitsgehalt eingebüßt habe. Die von Locke mitvertretene Position zeitigte eine ungleich größere politische Wirkung — deren Folgen bis hin zur französischen Revolution jedoch kaum im Sinne Lockes gewesen sein dürften. Bei Locke ist die Freiheit im Naturzustand dadurch bestimmt, daß schon in ihm das Gesetz der Natur gilt, das den Menschen als vernunftbegabten Wesen jederzeit einsehbar ist 4 7 7 — auch wenn es in der Praxis immer wie471 Vgl Euchner, in: Locke, Zwei Abhandlungen, S. 26f. — Zum Kompromißcharakter der Locke sehen Naturstandslehre vgl. auch Bobbio, aaO., S. 204ff. 472

Hier wäre tatsächlich mit Euchner u.a. auf die Funktion des Eigentums zu verweisen. 473 Vgl. o. S. 449, Anm. 427, und S. 453, Anm. 454. 474 AaO., S. 69. 475 Vgl dazu auch Laslett, Einleitung zu Filmer, Patriarcha, S. 16f. 31. 47 8» AaO., S. 2 0 - 4 1 . AaO., S. 47f., vgl. 5 6 f .

189

502

Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

Testament stehende Schriften als verdächtig ab, weist er zurück, äußert andererseits aber den Verdacht, es könne wohl noch eine Reihe anderer, jetzt dem Kanon ferngehaltener Schriften geben (vor allem noch weitere Evangelien, für welche die Vierzahl keineswegs zwingend sei), denen die gleiche Authentizität zuzubilligen sei wie den jetzt aufgenommenen. 190 Die Autorität des Eusebius, auf die sich die Gegner berufen, findet Toland keineswegs hinreichend, denn dieser Kirchenvater habe eine Menge wichtiger Zeugnisse übersehen. Schließlich sei es auch recht schwierig, die Entscheidungen des Konzils von Laodicea abschließend zu beurteilen, auf dem über die endgültige Form des Kanons entschieden wurde, denn man sei dort auch ausschließlich auf die Überlieferungen der Väter angewiesen gewesen, die er, Toland, in gleicher Weise für die von ihm als echt verteidigten Schriften ins Feld führen könne. 1 9 1 Zum Schluß weist er als Beleg für seine Beobachtungen, wie nötig es sei, sich über den Umfang des Kanons Klarheit zu verschaffen und untrügliche Merkmale hierfür zu gewinnen 192 , darauf hin, daß eine Reihe von Sekten bis hinab zur Zeit Augustins noch einen ganz anderen Kanon als den jetzt gültigen gehabt hätten, wie etwa Manichäer, Ebjoniten und Markioniten. 193 Wenn er auch keine Einwände gegen Teile des Kanons selbst erhebt, haben die Hinweise Tolands doch ihre Wirkung, die Sicherheit, mit der sich bisher alle Parteien auf das Neue Testament als eine feste Größe berufen zu können glaubten, entscheidend in Frage zu stellen. 194 Damit wird aber die Form des Schriftglaubens, wie sie im humanistischen Protestantismus calvinistischer Prägung, vor allem bei den Puritanern, herrschend war, an einem zentralen Punkt getroffen. Auf die übrigen Schriften Tolands braucht in unserem Zusammenhang nicht näher eingegangen zu werden. Insbesondere hat seine gegen Ende seines Lebens eingetretene Hinwendung zum Pantheismus 195 keinen Einfluß auf die weitere Entwicklung des Deismus gehabt. In seinen vielseitigen Interessen spiegelt er wie kaum ein anderer Schriftsteller Englands die Umbruchsituation, aus der heraus sich die geistige Konstellation des 18. Jahrhunderts entwickelte, in der für das Bibelverständnis des modernen Protestantismus entscheidende Weichen gestellt wurden. In diesen Zusammenhang gehört auch Tolands reiches Wirken als politischer Schriftsteller, dessen Sitz im Leben ι«0 AaO., S. 49ff. 191 AaO., S. 57f. ι » AaO., S. 59.' 193 AaO., S. 6Off. 194 Darauf macht vor allem E. Hirsch, aaO., aufmerksam. 195 in der Schrift: „Pantheisticon", 1720. (Vgl. auch die deutsche Übers, von L. Fensch, 1897.) Dazu vgl. neuerdings auch M. C. Jacob, aaO., S. 328ff. Kurz auch Giuntini, Toland, S. 33ff.

Das Einsetzen der deistischen Debatte

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nicht ausreichend in den Blick kommt, wenn man es als bloßen Ausdruck extravaganter persönlicher Interessen dieses vielseitigen Mannes versteht. 196 Vielmehr wird an ihm sichtbar, in wie hohem Maße auch zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch Staatspolitik und Kirchenpolitik in England ein Ganzes sind, und wie von daher auch politische Parteien (wie sie sich jetzt zum erstenmal klar als solche herausbilden) und theologische Grundpositionen eng aufeinander einwirken. Doch auf diese Zusammenhänge wollen wir noch zurückkommen. c)

Shaftesbury

In einer Untersuchung über den Ursprung des neuzeitlichen Bibelverständnisses darf eine Beschäftigung mit dem 3. Earl of Shaftesbury nicht fehlen 1 9 7 , dessen Haltung zur Bibel, obwohl sie nur angedeutet und vielfach in der Schwebe 196

Die Freiburger phil. Dissertation von A. Seeber, J o h n Toland als politischer Schriftsteller, 1933, verfügte noch nicht über die Hintergrundinformation, die F. Heinemann teilweise und M. C. Jacob jetzt ausführlicher vor allem aus handschriftlichem Material im British Museum vorträgt. Dadurch ist deutlich geworden, daß Tolands politische Einstellung auf dem extremen Whig-Flügel und seine Zugehörigkeit zu einem republikanisch-freimaurerischen Klub (vgl. dazu schon Heinemann, aaO., S. 53f.) eng mit seiner religiösen Haltung zusammenhing, die sich mehr und mehr von einem rationalistischen Christentum zu einer zunächst noch christlichen Naturreligion u n d dann zu einem ausgesprochenen Pantheismus entwickelte, vgl. Jacob, aaO., bes. S. 325ff. Zum Thema vgl. auch Casini, aaO., S. 29ff. 197 Über Shaftesbury vgl. nach T. Fowler, Shaftesbury and Hutcheson, 1882 (xerographischer Reprint, o. J . ) und dem einseitig deutsch-idealistischen C. F. Weiser, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, 1916 (Neudruck 1969), vor allem die neueren Monographien von L. Bandini, Shaftesbury: Etica e religione, 1930; R. L. Brett, The third Earl of Shaftesbury, 1951 (beschäftigt sich jedoch hauptsächlich mit der Bedeutung Shaftesburys für die literarische Ästhetik — ein anderes, aber ebenfalls literaturwissenschaftliches Interesse auch bei E. Wolff, Shaftesbury und seine Bedeutung für die englische Literatur des 18. Jahrhunderts, 1960 [zur Kritik an Brett vgl. ds., S. 13]), und S. Grean, Shaftesbury's Philosophy of Religion and Ethics, 1967; außerdem speziell zum Thema A. O. Aldridge, Shaftesbury and the Deist Manifesto, 1951 (von Grean, aaO., Vorwort, S. XIII und Anm. 10 auf S. 265, wie mir scheint, zu Unrecht als unklar verurteilt — vgl. auch die Rez. von R. L. Brett, in: RESt N. S. IV, 1953, S. 78f.); speziell zur Ethik L. Zani, L'Etica di Lord Shaftesbury, 1954. Außerdem zahlreiche Aufsätze und Abschnitte in philosophiegeschichtlichen Gesamtdarstellungen. Die Schriften Shaftesburys liegen in der noch von ihm selbst veranstalteten Sammlung: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1. Aufl. 1711, weitere zehn Auflagen im 18. J a h r h u n d e r t [benutzt wurde die 6. Aufl. 1738, 3 Bde.] - vgl. Grean, aaO., S. 281; Neuausgabe von J. M. Robertson, 1900, Reprint 1963 und 1964) vor. Wichtige ungedruckte Materialien wurden von B. Rand, The Life, Unpublished Letters, and Philosophical Regimen of A n t h o n y , Earl of Shaftesbury, 1900 (xerographischer Reprint, o. J.) herausgegeben. Die Second Characters, or the Language of Forms (ed. B. Rand, 1914) sind ohne Belang für das Thema.

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Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

gelassen ist, den Anbruch einer ganz neuen Epoche im Umgang mit der Schrift einleitet. Umstritten ist, ob man ihn überhaupt unter die Deisten rechnen darf oder nicht. 1 9 8 Doch verliert die Antwort auf diese Frage an Gewicht, wenn man die Position Shaftesburys im weiteren Zusammenhang des humanistischen Erbes sieht, in dem eine Reihe von Hauptelementen seines Denkens, die im Verlauf dieser Untersuchung bereits immer wieder berührt wurden, vorgegeben sind. Das gilt in ähnlicher Weise für die alte Streitfrage, ob Shaftesbury auf die (neu-)platonische oder die stoische Tradition zurückgegriffen habe. Ersteres hat vor allem E. Cassirer durch die Behauptung nachzuweisen gesucht, Shaftesbury sei durch die Cambridge Platonists bestimmt gewesen 199 ; letzteres hat, nachdem B. Rand aus zwei Notizbüchern Shaftesburys dessen weithin aus den beiden stoischen Philosophen Epictet und Marc Aurel zusammengestellte Sammlung von Reflexionen über verschiedene Topoi unter dem Namen „Philosophical Regimen" 2 0 0 herausgegeben hatte 201 , 198

Schon im 18. J a h r h u n d e r t ging das Urteil über ihn weit auseinander. Während er mit Tindal auf dem Titelblatt des apologetischen „Cure of Deism", 1736, als einer der beiden „Oracles of Deism" erscheint, und das „deistische Glaubensbekenntnis" bei Skelton, Deism Revealed, 1 1749, 2 1751 (2 Bde.), stark nach Shaftesburyschen Grundsätzen gestaltet ist (aaO., Bd. I, S. 32, wird sein Name zusammen mit Collins, Toland und Tindal unter den Hauptdeisten genannt, ähnlich bei Leland, View, Bd.I, S. 77ff.); während / . Brown im gleichen J a h r e eine spezielle Gegenschrift „Essay on the Characteristics of Shaftesbury" herausbrachte, verteidigten ihn andere, wie z.B. G. W. Rabener, Antoni Comitis Shaftsburii cogitationes argutae de laude, 1750, als orthodox. Vgl. auch Leland, View, Bd. I, S. 86ff.; Trinius, Freydenker Lexikon, S. 410f. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß der Begriff „Deist" von der orthodoxen Apologetik o f t wenig präzis verwendet wurde (vgl. auch Gawlick, in: Lechler, S. VII; Reimarus, S. 18 u.ö.). Von den modernen Betrachtern sieht ihn ΑIdridge, Manifesto, S. 302 u.ö., als Deisten entscheidend wegen seines Anti-Biblizismus („the one element which conclusively separates a latitudinarian Christian from a deist is a strong current of anti-Biblicism", aaO., S. 357). Auch Bandini, aaO., S. 39, stellt fest: „Shaftesbury appartiene al movimento deista", schränkt dies jedoch im folgenden erheblich ein. Die meisten lehnen diese Einordnung eher ab, vgl. z.B. E. Wolff, aaO., S. 14; Grean, aaO., S. 59. 63: „he was a Deist with a difference", wobei Grean den Unterschied zum eigentlichen Deismus bei Shaftesbury in der Betonung des Gefühls und des visionären Moments anstelle des deistischen Rationalismus sieht, aaO., S. 35, vgl. auch S. 258. 199 Die platonische Renaissance in England, S. 11 Off. (= The Piatonic Renaissance in England, S. 157ff.). 200 Zur Wiedergabe der eigenen Uberschrift Shaftesburys: ΑΣΚΗΜΑΤΑ durch „Regim e n " vgl. Rand, aaO., S. X; kritisch E. Albee, Rez., in: PhRev 12, 1903, S. 4 5 1 - 4 5 4 , S. 452. 2 °i E. Albee, aaO., ebenso in PhRev 25, 1916, S. 182, lehnt sie als bloße Materialsammlung und deshalb für Shaftesburys eigene Philosophie unerheblich ab; W. E. Alderman, Shaftesbury and the Doctrine of Moral Sense in the Eighteenth Century, in: PMLA 46, 1931, S. 1 0 8 7 - 1 0 9 4 , S. 1094, A n m . 35, erinnert daran, daß sie, weil erst 1900 gedruckt, auf Shaftesburys zeitgenössische Wirkung ohne Einfluß bleiben mußte.

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E. A. Tiffany in einem vor allem auf diesem Material fußenden bemerkenswerten Aufsatz 2 0 2 vertreten. In Wirklichkeit haben, wie neuerdings mit Recht erkannt ist 2 0 3 , sowohl platonische wie stoische Vorstellungen ihren Einfluß auf das Gedankengut Shaftesburys ausgeübt, teilweise durch seine eigene große Belesenheit in den Werken der Antike 2 0 4 , mehr noch durch die zeitgenössischen Strömungen, die auf ihn einwirkten, wobei die rational-moralisch gestimmten Latitudinarier 205 ebenso wie die spirituell gestimmten Cambridge Platonists 206 zu erwähnen sind. Innerhalb des geistigen Klimas seiner Zeit ist Shaftesbury dann doch ein ganz eigenständiger Denker, wobei seine Eigenart als die eines „Moralisten" 2 0 7 und philosophischen Schriftstellers 2 0 8 mit vorwiegend praktischen Intentionen die besondere literarische Form hervorgebracht hat, die in den „Characteristics" vorliegt und den breiten Widerhall und die allgemeine Popularität erklärt, welche Shaftesburys Werk im gesamten 18. Jahrhundert und weit über England hinaus 2 0 9 genossen hat. Zu seinem zentralen Interesse an der Ethik, das er mit den übrigen Humanisten teilt, kommt ein charakteristischer gefühlsbetonter Zug in Weltauffassung und literarischer Darstellungsweise hinzu, den man mit den Stichworten „Enthusiasmus" 2 1 0 oder auch „Irrationalismus" 211 zu kennzeichnen versucht hat, um damit eine bewußte 202

E. A. Tiffany, Shaftesbury as Stoic, in: PMLA 38, 1923, S. 6 4 2 - 6 8 4 (zustimmend dazu Aldridge, Manifesto, S. 332, und passim). Auch Rand selbst meinte: „He ist the greatest Stoic of modern times", aaO., S. XII. Vgl. auch V. Schönfeld, Die Ethik Shaftesburys, Diss. phil. Gießen 1920, bes. S. 65ff. 203 Vgl. Wolff, aaO., S. 9ff.; Grean, aaO., S. 7: „Shaftesbury's philosophy is a complicated fusion of Stoic and Platonic thought . . . " 204 Vgl. Schönfeld, aaO., S. 65f.; Grean, aaO., S. 5f. 205 Vgl. zu ihrer ebenfalls gefühlsbetonten Predigt und ihrem Einfluß auch R. S. Crane, Suggestions toward a Genealogy of the „Man of Feeling", in: J E L H 1, 1934, S. 205— 230. 206 Die erste Veröffentlichung Shaftesburys war bekanntlich die Herausgabe von Predigten Whichcotes mit einem eigenen Vorwort: Select Sermons of Dr. Whichcot, 1698. 207 So besonders Wolff, aaO., passim. 208 Gern zitiert wird seine Bemerkung in Characteristics I, 189 (zitiert wird, wenn nicht anders angegeben, die Ausgabe von Robertson): „The most ingenious way of becoming foolish is by a system", wobei aber wieder zu bedenken ist, daß die Polemik gegen die scholastische Schulphilosophie ein Lieblingsthema der Humanisten ist, vgl. den Zusammenhang I, 188. 209 Zu seinem Einfluß auf den deutschen Idealismus vgl. Weiser, aaO., auf die französische Aufklärung D. Schlegel, Shaftesbury and the French Deists, 1956. 210 F. Η. Heinemann, The Philosopher of Enthusiasm. With material hitherto unpublished, in: RIPh 6, 1952, S. 2 9 4 - 3 2 2 . Seine Deutung des Begriffes „Enthusiasmus" bei Shaftesbury (aaO., S. 299) ist jedoch noch zu vorläufig, s. u. 211 Vgl. S. von Lempicki, Shaftesbury und der Irrationalismus, in: StPh 2, 1937, S. 19—110. Zu wahrem und falschem „Enthusiasmus" nach Shaftesbury vgl. ds., S. 53.

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Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

Unmittelbarkeit in der Auffassung der Rolle des Menschen im sittlichen Handeln und in der Hineinnahme der Natur in seine Lebenswelt zu beschreiben, in der man die Wiederaufnahme bestimmter Elemente der Renaissance und eine Vorwegnahme der späteren Romantik zu beobachten gemeint hat. Insofern ist die Aufmerksamkeit, die insbesondere Shaftesburys Bedeutung für die Geschichte der Ästhetik gefunden hat, zu verstehen, obwohl gerade dazu auch vor Fehldeutungen zu warnen ist. Hier hat der wichtige Beitrag für das Verständnis der speziellen Bedeutung Shaftesbury s für die Geschichte der englischen Aufklärung von E. Tuveson in seinem Aufsatz: „The Importance of Shaftesbury" 2 1 2 manches präzisiert. Den entscheidenden neuen Schritt Shaftesbury s in seiner ethischen Theorie sieht er gegenüber dem unbestimmten Pelagianismus, der schon in den Predigten der Latitudinarier vorherrschte und von der trotz des Falls in der menschlichen Natur doch immer noch vorhandenen Fähigkeit zu einem durch die Vernunft geleiteten guten Handeln ausging, darin, daß er die von ihm angesprochene menschliche Veranlagung zum Gutsein als Fähigkeit propagiert, gemäß der im geordneten Universum, wie es die neue Philosophie (Newtons und der Newtonier 213 ) lehrte, vorhandenen Harmonie, entsprechend den natürlichen Ordnungen des diesseitigen Daseins, zu leben. 214 Daß es für den Menschen „natürlich" ist, wenn er gut handelt, ist die entscheidende Aussage, und damit wird eine neue Stufe der Modernität insofern eingeleitet, als es jetzt weder einer göttlichen Inspiration (wie bei den christlichen Neuplatonikern) noch der Gnade und Vergebung Gottes (wie in den auch noch bei den Latitudinariern vorhandenen Elementen christlicher Lehre) bedarf, um diese Fähigkeit zu entwickeln. Von diesem Denkansatz her ist es verständlich, daß Shaftesbury gerade bei den stoischen Philosophen der Spätantike verwandte Vorstellungen fand; in der Tat trägt sein Ansatz Züge einer noch stärkeren Wiederbelebung der Antike, als dies im bisherigen humanistischen Denken angelegt gewesen war. 215 Zutreffend beobachtet ist, daß Shaftesbury für sich damit eine reformerische Aufgabe auf moralischem Gebiet gesehen hat 216 ; 212 In: JELH 20, 1953, S. 2 6 7 - 2 9 9 . 213 Diese Näherbestimmung fehlt bei Tuveson·, sie wird uns noch in der weiteren Diskussion wichtig sein. 214 Vgl. II, S. 105f.; „being thus . . . convinced the more still of my own being and of this self of mine ,that' 'tis a real self drawn out and copied from another principal and original self (the Great One of the world),' I endeavour to be really one with it as far as I am able. I consider that . . . to this body there is an order, to this order a mind; that to this general mind each particular one must have relation, as being of like substance . . . and more like still, if it co-operates with it to general good . . . " 215 Insofern ist der Hinweis von Schönfeld, aaO., S. 47, auf das stoische όμολογουμέι>ως τη φύσει ξήν (Kleantes) sachlich berechtigt. 21 « AaO., S. 276.

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hier wäre an den pädagogischen Eros Lockes zu erinnern gewesen. Tuveson verweist aber in anderer Richtung auf Locke: der berühmte „moral sense", in dem die Shaftesburyforschung seit längerer Zeit das zentrale Stichwort für seinen ethischen Ansatz erblickt hat 2 1 7 , gewinnt seine epistemologische Basis, nachdem das alte Vertrauen zu den ideae innatae durch Lockes Kritik endgültig zerstört war, durch eine Anwendung eben dieser Lockeschen Epistemologie auf den Bereich der Ethik: Gegenstand der Reflexion werden jetzt nicht nur die aus der Erfahrung der Sinne gewonnenen Ideen, sondern auch menschliche Handlungen und Affekte 2 1 8 ; die Begriffe für Tugenden (und Laster) werden in einer solchen Weise „natürlich", „instinktiv", daß Shaftesbury sie in bewußtem Gegensatz zu Locke geradezu wieder „innate" nennen kann. 219 Damit ist gegenüber dem Denken des gesamten 17. Jahrhunderts ein entscheidender Schritt getan: „with Shaftesbury we begin to see conduct in terms of what we should now call ,normal' instead of in terms of obedience to divine or natural law . . ," 2 2 0 — die Ethik ist von jeder Form normativer Offenbarung als eines von außen an den Menschen herantretenden Maßstabes, auch in der Form des Naturrechts, erst recht in Gestalt eines etwa in der Bibel mitgeteilten Gotteswillens, unabhängig geworden. Freilich ist Shaftesbury nicht areligiös 221 ; nur ist seine Form von Religion, die er als die echte Weise von „Enthusiasmus" im Gegensatz zum abergläubischen Fanatismus bezeichnet, selbst eine immanente Erscheinung 222 : sie ist die Begeisterung, die 217

Vgl. schon Fowler, aaO., S. 7 6 - 8 3 ; Schönfeld, aaO., S. 21, Anm. 2, weist darauf hin, daß der Ausdruck, der im Text nur einmal auftaucht (I, 262), in den Marginalnoten der von Shaftesbury selbst besorgten Ausgaben mehrfach vorkommt (An Inquiry, Book I, Part III, § 1. 2. 3; «1738, Bd. II, S. 40ff.), die von Robertson leider weggelassen wurden, außerdem in dem (von Robertson ebenfalls gestrichenen) Index ( 6 1738, Bd. II, fol. Ee 2); vgl. auch Grean, aaO., S. 201. - Vgl. weiter W. E. Alderman, in: PMLA 46, 1931, S. 1 0 8 7 - 1 0 9 4 . 218 Tuveson, aaO., S. 279f. 219 II, 135; vgl. dazu auch Bandini, S. Xllf.; Grean, aaO., S. 204. - Auf der anderen Seite hält Shaftesbury eine kritische Ausbildung dieser natürlichen Fähigkeiten für unbedingt erforderlich, ehe sich ein angemessener Geschmack entwickeln kann, II, 257. Vgl. auch die Unterscheidung zwischen angeborenen Ideen über die Begriffe von Gut und Böse (die er ablehnt) und der „passion or affection towards society", den angeborenen sozialen Trieben (die er verficht), Life, Letters, ed. Rand, S. 415. 220 Tuveson, aaO., S. 275. 221 Vgl. den Vorwurf von Berkeley, er sei „without one grain of religion", bei Grean, aaO., S. 98. Zu dessen eigenem Urteil vgl. aaO., S. 107f. 222 Auch die Religion ist eine angeborene Fähigkeit des Menschen: „He is not only born to virtue, friendship, honesty, and faith; but to religion, piety, adoration, and a generous surrender of his mind to whatever happens from that Supreme Cause or order of things, which he acknowledges entirely just and perfect", II, 295. Für Shaftesbury ist Gott großenteils unpersönlich und immanent, vgl. Grean, aaO., S. 26.

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in jedem menschlichen Leben ihren Platz hat in der Begegnung mit höheren Zielen in den elementaren Bewegungen des Gemütes: „all sound love and admiration is enthusiasm: The transport of poets, the sublime of orators, the rapture of musicians, the high strains of the virtuosi — all mere enthusiasm! Even learning itself, the love of arts and curiosities, the spirit of travellers and adventurers, gallantry, war, heroism — all, all enthusiasm!" 2 2 3 Grean224 hebt vor allem das Stichwort ,,love" hervor und erinnert daran, daß damit die platonisch-plotinische Eros-Lehre neu belebt werde, wie es bereits in der italienischen Renaissance durch Ficino225 und später durch die Cambridge Platonists geschehen war. Hier besteht auch eine enge Beziehung zur Ethik: Gut und Schön sind im Grunde dasselbe 2 2 6 , und so kann Shaftesbury an anderer Stelle in einer alles umfassenden philantropischen Geste eine Gemütsbewegung umschreiben, die zugleich im höchsten Maße gut und damit „göttlich" ist: „To love the public, to study universal good, and to promote the interest of the whole world, as far as lies within our power, is surely the height of goodness, and makes that temper which we call divine." 2 2 7 Hier ist nun fast die Grenze des Glaubens an einen persönlichen Gott erreicht. Grean stellt eine Auflösung des Gottesbegriffes in den geschilderten Prozeß fortschreitender enthusiastischer Selbst-Transzendenz hinein fest: „The process itself is not only the means to Deity, but is Deity." 2 2 8 „God is the symbol of man's true good or true interest." 2 2 9 Auch dies ist nichts unbedingt Neues, sondern eine Weiterentwicklung neuplatonischen Emanationsdenkens, vor dem Hintergrund des modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes mit Elementen stoischer Kosmologie verbunden. Shaftesbury kann das, was er den „devoutest p a r t " der Religion nennt, in dieser Weise auf rein innerweltliche Bezüge ausrichten, die Transzendenz mitten in der Immanenz finden: „for if there be divine excellence in things, if there be in Nature a supreme mind or Deity, we have then an object consummate and comprehensive of all which is good or excellent . . . Now that there is such a principal object as this in the world, the world alone . . . by its wise and perfect order must evince". 2 3 0 Diese Wahrheiten

22

3 II, 129. AaO., S. 32f., und Anm. 35. 225 Vgl. ο. S. 30, Anm. 87. 226 ;>So that beauty, said I, and good with you, Theocles, I perceive, are still one and the same. ,'Tis so', said he." II, 128. Vgl. auch II, 268f. 227 J 27. 228 AaO., S. 36. 229 AaO., S. 35. - Vgl. dazu auch ders., Self-interest and Public Interest in Shaftesbury's Philosophy, in: JHP 2, 1964, S. 3 7 - 4 5 . 230 II, 57. 224

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entsprechen allerdings nicht der äußeren Welt der Erfahrungen, sondern der inneren Form des Seins selbst 231 ; diesem „general b o d y " ist ein „general m i n d " zugeordnet, als dessen Teil nun wieder der „particular m i n d " des Einzelmenschen dem Ganzen eng verbunden ist; „What are you yourself but a part of nature and united by nature to other parts . . . ? " 2 3 2 Und insofern gilt, daß die Ideen von Göttlichkeit und Schönheit (beide sind ebenfalls synonym!) dem Menschen eingeboren sind, ,,or such as men were really born to and could hardly by any means avoid". 2 3 3 Für die biblische Offenbarung bleibt daneben im Grunde kein legitimer Platz. In seiner „Inquiry concerning Virtue or Merit" reflektiert Shaftesbury über das Verhältnis zwischen Moral und Gottesglauben 2 3 4 und entscheidet sich gegen die voluntaristische Lösung: Vor jeder Bekanntschaft mit der einfachsten Form von Kenntnis eines Gottes kann man schon bei einem primitiven Menschen ein Gefühl von Gut und Böse und ein von Natur freundliches Verhalten feststellen. 2 3 5 Durch die Verehrung eines grausamen oder amoralisch handelnden Gottes (offen nennt Shaftesbury Jupiter mit seinen Liebesaffären) kann er selbst zu grausamen oder unmoralischen Handlungen verleitet und in seinem natürlichen Gefühl für Gut und Böse verwirrt werden. An dieser Stelle scheint Shaftesbury direkt auf das offizielle Christentum anzuspielen 2 3 6 : „If there be a religion which teaches the adoration and love of a God whose character it is to be captious and of high resentment, subject to wrath and anger, furious, revengeful, and revenging

231 D. F. Norton, Shaftesbury and Two Scepticisms, in: Fil. 19, 1968, S. 7 1 3 - 7 2 4 , weist darauf hin, daß Shaftesbury zwischen den beiden Formen von Skeptizismus unterscheidet: den epistemologischen Skeptizismus im Sinne Bayles hält er für sachgemäß, während er den ethischen Skeptizismus im Sinne Hobbes' und Lockes strikt ablehnt. 232 Life, Letters, ed. Rand, S. 138f. - Vgl. auch o. S. 506, Anm. 214. 233 n , 178. _ Allerdings bedarf der Geschmack der weiteren Ausbildung, vgl. II, 257: dazu Aldridge, Manifesto, S. 336. M4 I, 26Iff. 235 Die hier zugrunde liegende Auffassung, daß der Mensch von Natur ein soziales Wesen ist (im Gegensatz zu der These Hobbes', daß der Urständ der des Krieges aller gegen alle war), entspricht der von L. Whitney „Primitivismus" genannten Grundhaltung, vgl. Primitivism and the Idea of Progress, 1934 (Reprint 1965), bes. S. 27ff. L. Whitney zeigt auf, daß Shaftesbury hier wenig Neues bringt, sondern nur ältere Linien aufnimmt. Vgl. auch ihren Artikel: Thomas Blackwell, A Disciple of Shaftesbury, in: PQ 5 , 1926, S. 1 9 6 - 2 1 1 . Außerdem W. E. Alderman, Shaftesbury and the Doctrine of Benevolence in the Eighteenth Century, in: Transactions of the Wisconsin Academy of Science, Arts and Letters 26, 1931, S. 137—159; Grean, aaO., S. 137ff. » e Vgl. Aldridge, Manifesto, S. 309.

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himself, when offended, on others than those who gave the offence 2 3 7 . . . favourable to a few . . . and cruel to the rest" — dann wird sie eine entsprechende Haltung ihrer Anhänger hervorrufen. 238 Mit dem Gott der Bibel kann Shaftesbury von seiner Gesamthaltung her nicht das Geringste anfangen; dessen Kontingenz ist mit seinem Ordnungsdenken unvereinbar. Umgekehrt aber: „whoever thinks there is a God, and pretends formally to believe that he is just and good, must suppose that there is independently such a thing as justice and injustice, truth and falsehood, right and wrong, according to which he pronounces that God is just, righteous, and true." 2 3 9 Ein solcher Gott ist also durch die vorgegebene, von jeglicher Offenbarung unabhängige und in sich gültige moralische Ordnung von vornherein gebunden, seine Existenz selbst nur nach diesen Maßstäben vorstellbar. Das idealistische Gottesbild nach griechischem Muster ist nichts weiter als die Kehrseite des absoluten Systems der Ethik, das von Shaftesbury zum erstenmal konsequent vertreten wird. Hieraus ergibt sich aber auch die Überflüssigkeit einer etwa zusätzliche ethische Normen enthaltenden biblischen Offenbarung: „If the mere will, decree, or law of God be said absolutely to constitute right and wrong, then are these latter words of no significancy at all." 241 Im Hinblick auf seine Ethik ist Shaftesbury, ganz im Gegensatz zu Locke, ein klarer Realist; die nominalistische Tradition, welche die Wurzel aller ethischen Normen im souveränen Willen Gottes suchte, wird von ihm entschieden abgelehnt. 242 Aber auch für die Ankündigung von Lohn und Strafen im Jenseits (bisher einer der Stützpfeiler des moralischen Christentums, auch in der Form des frühen Deismus eines Herbert von Cherbury) wird die Offenbarung nicht mehr gebraucht: konsequent in der Durchführung des von ihm geforderten ethischen Idealismus wendet sich Shaftesbury entschieden gegen die verbreitete Auffassung, die An237

Offensichtlich ein Hieb gegen die Erbsündenlehre, » β I, 263. 239 I, 264; vgl. auch Aldridge, aaO., S. 309f. 240 Vgl. Grean, aaO., S. 64. 241 I, 264. — Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die in dem Brief an Af. Ainsworth enthaltene Kritik an Locke, dem er seinen voluntaristischen Gottesbegriff vorwirft: „morality, justice, equity, depend only on law and will, and God indeed is a perfect free agent in his sense; that is, free to anything, that is however ill: for if He wills it, it will be made good; virtue may be vice, and vice virtue in its turn, if he pleases." Life, Letters, ed. Rand, S. 404. Vgl. auch S. 416. 242 Vgl. dazu Aldridge, Manifesto, S. 365. In einem Privatbrief kritisiert er scharf Lockes ethischen Ansatz, der Gott frei mache „to anything, that is however ill: for if He wills it, it will be made good; virtue may be vice, and vice virtue in its turn, if he pleases. And thus neither right nor wrong, virtue or vice, are anything in themselves". Life, Letters, S. 404.

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kündigung von zukünftigen Belohnungen oder Strafen könne ein echter Antrieb zu moralischem Handeln sein. 243 Ein solcher Eudämonismus würde gerade den ethischen Charakter des Handelns selbst aufheben. Auf der anderen Seite ist Shaftesburys Ethik keineswegs frei von Utilitarismus; er wird nicht müde zu betonen, daß ethisches Handeln Vergnügen bereitet, aber dieses Vergnügen ist ebenfalls dem Handeln immanent: Gutes zu tun, verschafft in sich selbst Befriedigung und dadurch Glück. 244 Für die Existenz eines gerechten Lenkers der Welt spricht die in ihr zu beobachtende regelmäßige Ordnung der Naturgesetze. Erst wer auf diesem Wege den ersten Glauben an einen Gott gewonnen hat, kann zu einer zweiten Stufe aufsteigen: „He can then hearken to historical revelation, and is then fitted . . . for the reception of any message or miraculous notice from above, where he knows beforehand all is just and true." 2 4 5 In praxi zeigt Shaftesbury aber wenig Neigung, auf die historische Offenbarung zu hören. Statt dessen sammelt er eine ganze Reihe von Beobachtungen, flie ein kritisches Licht auf vor allem alttestamentliche Institutionen und Vorgänge zu werfen vermögen. Ein Abschnitt in den „Miscellaneous Reflections" 246 beweist die Popularität von Spencer und Marsham bei allen Kritikern des jüdisch-christlichen Glaubens; auch Shaftesbury greift das von den beiden Forschern gebotene Material über die ägyptische Herkunft der meisten kultischen Institutionen und ihre Nachweise, daß die Israeliten vieles von ihnen übernommen hätten 2 4 7 , begierig auf. In diesem Zusammenhang nennt er die von Abraham eingeführte Beschneidung, eine aus Ägypten übernommene Sitte 248 , verweist auf die servile Abhängigkeit der Israeliten von ihren Bedrückern, die sie selbst nach dem (keineswegs freiwillig erfolgten 249 ) Auszug um ein Haar wieder in die alte Abhängigkeit hätte zurückkehren lassen, und spricht, mit ausführlichen Zitaten aus Spencer, von „stubborn habit and stupid humour of this people" 250 , das von den abergläubischen Sitten 243

I, 266ff.; vgl. schon 247. Zu der derzeit verbreiteten Diskussion über dieses Problem und anderen Vertretern der Auffassung Shaftesburys, besonders B. Hoadly, vgl. Aldridge, aaO., S. 304ff. Zum Gesamtproblem Grean, aaO., S. 184ff. 244 Vgl. dazu Grean, aaO., Kap. XIII, S. 229ff., und die dort zitierten Stellen. ™ II, 92. Μβ II, 1 8 1 - 1 9 4 . S.o. S. 475, Anm. 31. 248 II, 189. 249 Shaftesbury behauptet, sie seien wegen Aussatzes vertrieben worden (!): „It can scarce be said in reality, from what appears in Holy Writ, that their retreat was voluntary." Für seine These beruft sich Shaftesbury auf Tacitus, Justin, und (anhand von Marsham) auf Manetho; II, 190, Anm. 1. 250 II, 191; vgl. Anm. 2. Hier auch der (wahrscheinlich von Tindal übernommene, s.u. S. 534) Hinweis auf Ez. 20,25 und die von Gott gegebenen, seinem wahren Wil-

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und Riten der Ägypter nachhaltig bestimmt worden sei. Der Auszug wird außerdem als „the retreat of a Moses by the assistance of an Egyptian l o n e " moralisch anrüchig 2 5 1 , wie auch das Betragen Josephs in Ägypten, der sich mit der Priesterkaste verbündete und dadurch in den Besitz des ganzen Landes gelangte, Anlaß zu kritischen Bemerkungen gibt. 2 5 2 Beiläufig werden auch die von Mose veranlaßten Massaker (Ex. 32,27ff.; N u m . 16,41) erw ä h n t , die aber durch ebendiese Halsstarrigkeit des Volkes veranlaßt waren, denn sonst war er „the meekest man o n e a r t h " (Num. 12,3). 2 5 3 In dieser Art moralischer Kritik an Gestalten des Alten Testaments ähnelt Shaftesbury dem ihm seit seinem Holland-Aufenthalt 1698/9 auch persönlich vertrauten Bayle; sie richtet sich aber nicht n u r gegen einzelne Personen, sondern ist grundsätzlich gemeint, wie aus einem Abschnitt in „Advice to an A u t h o r " 2 5 4 hervorgeht, in dem Shaftesbury biblische Themen und Charaktere als Vorwürfe schriftstellerischer Darstellung ablehnt. Er meint, als Helden in der Poesie kämen Gestalten wie Mose und Josua nach den allgemeingültigen Maßstäben von Heldentum und G r o ß m u t nicht in Frage, weil trotz allen Verständnisses für die Situation des erwählten Volkes inmitten von heidnischen Nationen uns mitmenschliches Gefühl daran hindern müsse, die von Menschenhand gegen solche Fremden und Götzendiener vollzogenen Strafen mit Befriedigung zu b e t r a c h t e n . 2 5 5 Die im Alten Testament dargestellte kriegerische Unbarmherzigkeit Israels läßt sich mit den normalen sittlichen und idealistischen Grundsätzen nicht vereinen. Dies stimmt genau mit der

len widersprechenden Gesetze, vgl. o. S. 510, Anm. 241. An anderer Stelle schreibt Shaftesbury: „That they had certainly in religion, as in everything else, the least goodhumour of any people in the world is apparent", II, 227; vgl. I, 22. An einer dritten Stelle (I, 184) nennt er die Juden ,,a people who of all human kind were the most grossly selfish, crooked, and perverse." Hier schlägt die aus dem Mittelalter stammende antisemitische Tradition wieder stark durch, die aber nicht völkisch, sondern religiös motiviert ist. ,,Good-humour" und Fröhlichkeit sollte nach Shaftesbury gerade eines der wichtigsten positiven Merkmale wahrer Religion sein, vgl. I, 17. 24; II, 217 und dazu Grean, aaO., S. 30f. Während mit dem Vorwurf von ,,ill-humour" oder Melancholie, die geradezu synonym mit „Enthusiasmus" ist (I, 17), die Juden als Volk (wie aus I, 22f. hervorgeht, besonders in neutestamentlicher Zeit) abgeurteilt werden, werden die ersten Könige Israels, insbesondere David wegen seines Tanzes vor der Lade, 1. Sam. 6, als Beispiele tatsächlicher kultischer Fröhlichkeit erwähnt, II, 227f., wobei aber die Anmerkung (228, Anm. 6) den exhibitionistischen Charakter dieses Tanzes hervorhebt und einen zwiespältigen Eindruck zurückläßt. Vgl. dazu auch Aldridge, Manifesto, S. 360. « ι I, 230. 252 n ( 193. 253 II, 227. 254 I, 229ff. 255 I, 230.

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Maxime überein, die Shaftesbury vorher 2 5 6 als die „Philosophie" oder „Wissenschaft" bezeichnet hatte, durch die „religion itself is judged, spirits are searched, prophecies proved, miracles distinguished: the sole measure and standard being taken from moral rectitude, and from the discernment of what is sound and just in the affections". Es ist interessant, daß Shaftesbury von diesen Grundsätzen aus auch zu einer kritischen Bemerkung gegenüber dem sonst so verehrten Milton kommt, dessen berühmtes Epos „Paradise Lost" er zwar mit Vorbehalten gelten lassen will, da diese Stoffe aus der Genesis „(are) so abstrusely revealed, and with such a resemblance of mythology, that they can more easily bear what figurative construction or fantastic turn the poet may think fit to give t h e m " . 2 5 7 Wenn auch diese Art von Dichtkunst schon nicht nach seinem Geschmack ist, wäre es nach seiner Meinung für einen Dichter verhängnisvoll, „should he venture farther into the lives and characters of the patriarchs, the holy matrons, heroes and heroines of the chosen seed; should he employ the sacred machine, the exhibitions and interventions of divinity according to Holy Writ to support the actions of his piece . . ," 2 5 8 Alles, was christliche Theologie ist, im engeren Sinne, was das persönliche Werden und Wesen der Gottheit betrifft, will er den Ordinierten überlassen, „to whom the State has assigned the guardianship and promulgation of the divine oracles", die offizielle Schriftauslegung. Es ist darüber gerätselt worden, wie diese hobbistisch klingende Bemerkung gemeint sein könne, der sich andere an die Seite stellen lassen, nach denen sich Shaftesbury der christlichen Religion, „as by law established" willig unterzuordnen gelobt. 2 5 9 Doch wird die Widersprüchlichkeit verständlich, die ein moderner Betrachter an solchen Stellen zu sehen meint, wenn man die Situation eines intellektuellen Anglikaners der Zeit zugrundelegt, der sehr wohl in einer Schicht seines Bewußtseins und Handelns den offiziellen Bräuchen der Staatskirche folgen kann 2 6 0 , während er auf einer anderen Ebene seiner eli-

I, 193. I, 231. 258

Ebendort. 259 Während er in dem „Advice to an A u t h o r " der „Religion, as b y law established" nur einen Freiraum wie der Heraldik einräumen will, in dem die normalen natürlichen Maßstäbe nicht gelten (I, 2 3 3 ) , was man nach Shaftesburys Prinzipien v o n Witz und Humor (vgl. dazu Grean, aaO., S. 120ff.) zu seiner beliebten Art v o n Ironie zählen könnte, sagt er in den „Miscellaneous Reflections" offensichtlich ganz emsthaft, er unterwerfe sich mit vollem Vertrauen den gesetzlich etablierten Ansichten (II, 2 0 1 ) . Zweifel daran schon bei Stephen, History, Bd. II, S. 19. 260 Ganz wie es auch Hobbes theoretisch forderte, s.o. S. 368f. u n d A n m . 199. In diesem Sinne kann Shaftesbury aufrichtig erklären, er habe sich „as just conformists to the lawful church" verhalten und geäußert, II, 352; vgl. auch II, 18. Schon Leland, View, Bd. I, S. 100, hat auf die genaue Übereinstimmung mit Hobbes in diesem Punkt hin-

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Rcventlow, Bibelautorität

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tären schriftstellerischen Skepsis Ausdruck verleiht. 261 Wie wir noch sehen werden, hat diese Stellungnahme aber auch eine eminent politische Seite: in den Jahren literarischen Wirkens Shaftesburys war es die offizielle Linie der Whig-Partei, der Shaftesbury folgte, den Erastianismus gegen die hochkirchlichen Ansprüche der Selbstregierung der Kirche zu vertreten; eine Linie, die sich mit dem anglikanischen liberalen Erbe jedoch durchaus vertrug, denn eine Trennung von Staat und Kirche hatten auch die liberalen Anglikaner, wie wir sahen, nie für nötig gehalten. Indem man die äußere Form der Kirche

gewiesen, danach weitere Beobachter, vgl. Aldridge, Manifesto, S. 346f. Eine spezielle Abhängigkeit liegt sicherlich nicht vor. Zum Thema vgl. auch Grean, aaO., S. 114f. 261 Deshalb weist Aldridge, Manifesto, S. 367, wohl mit Recht auf eine Aussage in dem „Philosophical Regimen" hin (Life, Letters, ed. Rand, S. 29), wo er rät, die Meinungen und religiösen Riten des einfachen Volkes nicht zu stören: „How should they know? . . . Wilt thou teach them? If n o t , what dost thou teach them in this other way, b u t impiety and a t h e i s m ? " In I, 14 schließt sich Shaftesbury ganz entsprechend J. Harrington in der Meinung an: „ ' t i s necessary a people should have a public leading in religion. For to deny the magistrate a worship, or take away a national church, is as mere enthusiasm as the notion which sets up persecution." Ganz hobbistisch klingt die Formulierung II, 365, daß, wenn es denn eine Art von göttlicher Gesandtschaft (die Geistlichkeit — hier n i m m t Shaftesbury einen von seinen kirchlichen Gegnern in Anspruch genommenen hochtrabend-modischen Titel für ihr geistliches Amt ironisch auf, vgl. II, 364f.) gebe, dann nicht anders, „ b u t through the magistrate and by the prince or sovereign power here on earth, that these gentlemen agents are appointed, distinguished, and set over us". Die Locke sehe Demut in der „Reasonableness" ist hier allerdings durch aristokratisches Selbstbewußtsein ersetzt. Am ausführlichsten hat er sich II, 219ff., zu dem Problem geäußert. Im Anschluß an eine Parabel, die zeigen soll, wie leicht eine Gesellschaft auch zu der Wirklichkeit direkt widersprechenden Meinungen überredet werden kann, spricht er von den Mitteln, die jeder Obrigkeit zur Verfügung stehen, einen beliebigen Glauben ihren Untertanen aufzuzwingen, so daß zufällige Geburt über die Zugehörigkeit zu Christentum, Islam oder J u d e n t u m entscheiden kann. Deshalb gilt: „there can be n o rational belief b u t where comparison is allowed, examination permitted, and a sincere toleration established" (II, 220). Trotzdem r ä u m t Shaftesbury dem von der Obrigkeit angeordneten Glauben einen Vorrang ein: , Jf the belief be in any measure consonant to truth and reason, it will find as much favour in the eyes of mankind as truth and reason need desire." Vgl. auch 1,14: „ F o r to deny the magistrate a worship, or take away a national church, is a mere enthusiasm as the notion which sets up persecution." Trotz einiger Schwierigkeiten im Hinblick auf in ihm enthaltene „speculations or mysteries" werden vernünftige Leute „conform the better with what their interest, in conjunction with their good-humour, inclines them to receive as credible, and observe as their religious duty and devotional task", vor allem „in order to be more sociable"! Die typische Maxime eines aufgeklärten Anglikaners der Oberschicht! Aldridge, Manifesto, S. 367f., urteilt in diesem Punkt im wesentlichen richtig. Nach I, 19f. kann diese Anpassung freilich (unter muslimischer oder römischer Herrschaft) eine rein äußerliche sein.

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dem Staat zu ordnen überließ, wurde gerade Raum für den persönlichen Bereich der Religion geschaffen. 2 6 2 Skeptisch muß sich z.B. jeder kritisch denkende Christ gegenüber der biblischen Überlieferung verhalten. Shaftesbury ist der erste, der diesen Grundsatz als theoretisch formuliertes methodisches Postulat entwickelt. Der Skeptizismus, zu dem sich Shaftesbury ganz allgemein bekennt 2 6 3 , ist besonders gegenüber der Offenbarung angebracht, denn wer niemals persönlich einen göttlichen Offenbarungsempfang erlebt hat oder Zeuge eines Wunders gewesen ist „being destitute of the means of certainty depends only on history and tradition for his belief in these particulars" und ist deshalb „at best but a sceptic Christian. He has no more than a nicely critical historical faith, subject to various speculations, and a thousand different criticisms of languages and literature". 2 6 4 Mit dem Stichwort „historischer Glaube" wird zum erstenmal das Dilemma offen ausgesprochen, welches das geschichtliche Christentum für die gesamte Aufklärung bis hin zu Lessing darstellen sollte. Damit zusammen hängt auch die Debatte über die Wunder, in der Shaftesburys Stellungnahme noch eine Übergangshaltung repräsentiert. Für die Latitudinarier waren die Wunder im Alten und Neuen Testament noch eine der Hauptstützen für die Göttlichkeit Jesu Christi und überhaupt der christlichen Religion; in diesem Rahmen hielt sich auch noch die Stellungnahme Lockes zu dem Problem. 2 6 5 Shaftesbury geht da einen Schritt weiter: In einer Diskussion in „The Moralists" über Geister, Erscheinungen usw. 2 6 6 drückt er seinen Zweifel darüber aus, ob der Glaube an derartige Dinge 2 6 7 nicht eher auf Selbsttäuschung als auf bewußtem Betrug beruhe. Die dadurch hervorgerufene Frage des fiktiven Gesprächspartners, ob er dann überhaupt an irgendwelche Wunder glauben könne, beantwortet er ganz im Sinne seiner soeben skizzierten anglikanischen Grundhaltung: „No matter, said I, how incredulous I am of modern miracles, if I have a right faith in those of former times by paying the deference due to sacred w r i t . " 2 6 8 Dies ist aber doch eine Umkehr der bisher üblichen Argumentation, denn während bis dahin in der Apologetik die Wunder als der kräftigste Beweis für die Göttlichkeit der Sendung Jesu und damit für die Autorität der Schrift dienten, ist es jetzt umgekehrt diese „gesetzlich" vorgegebene Autori262 Der Ausdruck „religion, as by law established" ist der offizielle Begriff der WhigPropaganda! II, 1 7 - 2 0 . 34. 53. 85. 103. 105. 238. * * II, 201. 2«s S.o. S. 4 2 8 . 4 4 3 . 2 « II, 84ff. 267 Nach der „Letter concerning Enthusiasm" handelt es sich dabei um das Auftreten der „französischen Propheten"; vgl. auch II, 200, Anm. 3. II, 87.

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tät, welche die Glaubwürdigkeit der Wunder stützen muß. Shaftesbury fährt fort, die angenehmste Haltung für einen orthodoxen Christen (für den er sich mit größerem Recht als die modernen Wundergläubigen hält) sei es, keine weiteren Wunder zu erwarten, denn die beste Maxime sei die übliche: „That miracles are ceased." 2 6 9 Nach dieser durchaus orthodoxen Bemerkung 2 7 0 läuft die Diskussion jedoch noch ein Stück weiter, und nun wird, aus dem Munde der Gesprächspartner, die Feststellung angedeutet, daß Wunder eigentlich gar nichts zur Begründung des Glaubens beitragen könnten, denn, vorausgesetzt, daß nur gegenwärtige Wunder die Existenz Gottes schlüssig beweisen könnten, nicht solche, von denen nur menschliche Tradition berichtet 2 7 1 , ist doch allein richtig anzunehmen, daß Gott sich der Vernunft offenbart und sich ihrem Urteil unterwirft. Das aber geschieht auf dem Wege der natürlichen Theologie: ,,The contemplation of the universe, its laws and government, was . . . the only means which could establish the sound belief of a Deity." 2 7 2 Die Einführung von Wundern durch die orthodoxen Theologen stört demgegenüber direkt den Ablauf der Natur, bringt Unordnung in die Welt und führt deshalb bei der kritischen Jugend gerade zum Atheismus, wenn diese umgekehrt lauter Ordnung in der Natur entdeckt und Gott nur in den Störungen dieser Ordnung zu suchen gelehrt ist. Erst auf die Erkenntnis des göttlichen Ursprungs dieser Ordnung ließe sich dann (wie oben festgestellt 2 7 3 ) der Glaube an eine überlieferte (biblische) Offenbarung aufbauen. Shaftesbury scheint der Bibel in weiten Bereichen, ähnlich wie anderen Gegenständen seines Witzes, mit mildem Humor entgegenzutreten. Sein wahres Urteil — ob Zustimmung, ob verborgene Ablehnung — bleibt dabei angesichts seines Eintretens für „good-humour" als wünschenswerte Lebenseinstellung auch in der Religion in der Schwebe. So vor allem in dem Abschnitt in den „Miscellaneous Reflections" 2 7 4 , wo er seiner Bemerkung aus dem „Letter concerning Enthusiasm", die J u d e n seien „naturally a very cloudy people" gewesen 2 7 5 , einschränkend allerlei Beispiele für Humor und witzige Darstellung im Alten Testament anfügt, wie er sagt, um zu zeigen, „how readily the inspired authors had recourse to humour and diversion as a proper means to promote religion and strengthen the established faith". 2 7 6 Außer Davids Tanz vor der Lade nennt er Jona als das Beispiel eines Schula » Ii, 89. 270 Vgl. Aldridge, Manifesto, S. 361. 271 „ . . . ,God witnessing for himself', not ,men for God' ", II, 90. 272 II, 91. 273 S.o. S. 511. II, 227ff. Vgl. ο. S. 511, Anm. 250. 27 6 II, 228.

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jungen, der seinem Schulmeister vergeblich zu entwischen trachtet, und der von diesem auch in seinen Anfällen schlechter Laune mit humorvoller Nachsicht behandelt wird, aber auch den „popular pleasant intercourse and manner o f dialogue between God and m a n " (Gen 3,9), zwischen Mensch und Tier (Num. 2 2 , 2 8 ) oder gar zwischen Gott und Satan (Hi. 1; 2 usw.) sowie den scharfen, humorvollen und witzigen Stil J e s u in seinen verschiedenartigen Worten, Erzählungen und Gleichnissen, j a sogar in seinen Wundern, von denen er besonders das Weinwunder (Joh. 2 , 1 1 ) hervorhebt. 2 7 7 Ob Aldridge recht h a t 2 7 8 , Shaftesbury habe mit diesen Bemerkungen die Bibel nur lächerlich machen wollen, muß angesichts ihrer apologetischen Funktion gegenüber seinem angegriffenen Urteil über die Juden fraglich bleiben, auch wenn gleich darauf 2 7 9 Gen. 22 und Ri. l l , 3 0 f f . als Beispiele für den damals herrschenden finsteren Aberglauben angeführt werden. Eine kritische Haltung nimmt Shaftesbury auch gegenüber den textkritischen Problemen und Auslegungsschwierigkeiten der biblischen Überlieferung ein. Als Antwort auf die Maxime, „that the Scripture, the Scripture was the religion of P r o t e s t a n t s " 2 8 0 läßt er seinen würdigen Gesprächspartner („our g e n t l e m a n " 2 8 1 ) zunächst mit der Frage nach dem Umfang des Kanons antworten: „whether it were the apocryphal Scripture or the more canonical? The full or the half-authorised? The doubtful or the c e r t a i n ? " , und diese Frage geht unmittelbar in die damit verbundene nach der Textüberlieferung über: „The singly-read or that of various reading? The text of these manuscripts or of t h o s e ? " Angesichts der Parteilichkeit der Kirchenväter, die man auch an der Unterdrückung aller häretischen Schriften sehen könne, die sie bekämpften, könne man kein großes Zutrauen zu ihrer Treue gegenüber der ihnen anvertrauten biblischen Überlieferung h a b e n . 2 8 2 Shaftesbury vertritt den Grundsatz, daß gegenüber jeder historischen, schriftlich überlieferten Wahrheit (im Unterschied zur moralischen — oder, fast gleichbedeutend — ästhetischen Wahrheit, die als common sense unmittelbar evident wird) zunächst eine gründliche Prüfung des Charakters und Genius ihres Urhebers und der Urteilsfähigkeit und Unvoreingenommenheit des Historikers, der sie überlieferte, notwendig ist, ehe man etwas auf ihre Autorität hin übernehmen kann. Dazu kommt die methodische Prüfung des Textes, die er „critical 277 π , 23Of. Manifesto, S. 3 6 0 . II, 2 3 2 und Anm. 2. 2 8 0 Sein Urheber Chiliingworth wird hier als „a famed controversial divine of our C h u r c h " eingeführt, II, 3 5 4 . 2 8 1 Unschwer erkennt man in dieser Gestalt einen Sprecher für Shaftesburys eigene Ansichten, die er gegen hochkirchliche Eiferer verteidigt, vgl. Aldridge, Manifesto, S. 3 4 6 . 2 8 2 II, 3 5 5 . 278

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truth" nennt, „or the judgement and determination of what commentators, translators, paraphrasts, grammarians and others have, on this occasion, delivered to us; in the midst of such variety of style, such different readings, such interpolations and corruptions in the originals; such mistakes of copyists, transcribers, editors, and a hundred such accidents to which ancient books are subject." 2 8 3 Shaftesbury ist auf der Höhe der literarischen Wissenschaft seiner Zeit, die besonders von den ihm vertrauten holländischen Gelehrten wie Jean Leclerc vertreten wurde, und er ist bereit, diese methodischen Grundsätze, für die der kritische Leser nicht nur ein „able linguist" sein, sondern sich auch anderer Wissenschaften bedienen muß, wie der Chronologie, Naturphilosophie, Geographie 284 , nicht nur bei antiken Profantexten, sondern auch bei der Bibel selbst anzuwenden. 285 „'Tis indeed no small absurdity to assert a work or treatise, written in human language, to be above human criticism or censure . . . there can be no scripture but what must of necessity be subject to the reader's narrow scrutiny and strict judgement, unless a language and grammar, different from any of human structure, were delivered down from heaven, and miraculously accomodated to human service and capacity." 286 Shaftesbury vergleicht die Bibel mit gewissen alten Kirchenbildern, von denen behauptet wird, sie seien von einer übernatürlichen Hand ausgeführt und mit heiligem Griffel gemalt: er wage zu behaupten, „that if the pencil had been heaven-guided it could never have been so lame in its performance". 2 8 7 Auch hier wieder zieht sich Shaftesbury zunächst auf seine anglikanische Loyalität zurück, daß, wenn die Obrigkeit eine bestimmte heilige Schrift ausdrücklich autorisiere, „it becomes immoral and profane in any one to deny absolutely or dispute the sacred authority of the least line or syllable contained in it". Aber falls (wie es bei der Bibel der Fall ist), diese Schrift „multifarious, voluminous, and of the most difficult interpretation" ist, ist eine solche Anordnung undurchführbar und gegen mannigfaltige wohlfundierte Kritik und die öffentliche Meinung nicht durchzusetzen. Erst recht gilt dies von dem wiederholt übersetzten Text der Bibel in der Landessprache, den nur Enthusiasten und Fanatiker als hinreichend behaupten, während besonnene Geistliche der etablierten Kirchen weit davon entfernt sind, ihren Glauben auf den Vulgärtext zu stützen, noch selbst den Urtext als literarisches Meisterstück zu bezeichnen. Sie suchen nur die Substanz der Erzählung 283 i ( 97. 284

285

Ebendort.

Aldridge, Manifesto, S. 363, macht darauf aufmerksam, 97 in Shaftesburys Register unter „Scripture, Judgement

I, cellaneous Reflections" handelt Shaftesbury 2 86 II, 297. M7 II, 298.

daß auch der zitierte Passus of" notiert ist. In den „Misoffen von der Bibel.

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und die Haupttatsachen als Bestätigung der Autorität der Offenbarung zu verteidigen. 288 Hier gilt ebenso wie bei profanen Texten die Notwendigkeit historisch-kritischer Prüfung. 2 8 9 Für das Recht des Lesers zur Kritik gegenüber den Verfassern auch der biblischen Schriften führt Shaftesbury auch an, daß weder Jesus selbst, noch auch Mose, dem der Pentateuch zugeschrieben wird, Verfasser dieser Berichte gewesen seien, in denen z.B. auch Moses Tod vorkommt (Dt. 34,5ff.) 2 9 0 — eine schon von Karlstadt gemachte, o f t wiederholte Beobachtung. 2 9 1 292 Wie entscheidend sich die Situation bei Shaftesbury gegenüber der Geltung der Schrift im 17. Jahrhundert bis hin zu Locke geändert hat, erkennt man an der Art, wie er Abschnitte aus Schriften der beiden liberalen Anglikaner Jeremy Taylor und J. Tillotson zitiert. 2 9 3 A. O. Aldridge hat darauf aufmerksam gemacht 2 9 4 , daß er dabei mit seinen Zeugen recht willkürlich umspringt und nur seine eigene Ansicht zu stützen sucht, wobei er gerade in Taylors Ausführungen über die Dunkelheiten der Schrift die am Anfang von dessen Überlegungen stehenden Kernaussagen, daß alle Fundamentalia in der Schrift klar und deutlich ausgedrückt seien, übergeht und nur die anschließenden Nebenbemerkungen, allerdings seien auch recht zahlreiche andere loci in dunkle Bilder eingehüllt, für seine Zwecke aufgreift. Dieses Vorgehen ist kein Zufall, sondern beweist, daß Shaftesbury echte Autoritäten für sein Verhältnis zur Bibel fehlten. Abgesehen von dem Außenseiter Blount und auch im Gegensatz zu Tolands „Christianity not Mysterious", der ja auf seine Weise die Autorität der Bibel gerade zu stärken suchte, ist er der erste, der sein Christentum (wenn man davon sprechen kann; er selbst zog wohl trotz der häufigen Inanspruchnahme legalen Christseins die Bezeichnung „Theist" vor 2 9 5 ) im Kern auf die natürliche Religion gründet. Die eingetretene Entwicklung wird besonders in der Gegenüberstellung zu Chillingworth deutlich, der das ganze 17. Jahrhundert hindurch der Kronzeuge der liberalen Angli288

II, 3 0 2 . „'Tis true, indeed, that as to critical learning and the examination of originals, texts, glosses, various readings, styles, compositions, manuscripts, compilements, editions, publications, and other circumstances such as are c o m m o n to the sacred books with all other writings and literature, this we have confidently asserted to be a just and lawful study." II, 3 5 2 . 290 π , 3 0 7 f . 289

» ι Vgl. Kraus, Geschichte, S. 29f. Als Beispiel solcher auf den Inhalt einwirkender textkritischer Beobachtungen fuhrt Shaftesbury Luk. 1,1—4 an (offensichtlich in Anlehnung an Leclerc, vgl. Aldridge, Manifesto, S. 363); II, 3 0 7 , A n m . 2. 2 »3 II, 3 5 8 f f . 294 Manifesto, S. 3 6 4 . 295 Vgl. bes. I, 240. 2 7 7 ; II, 19. 292

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kaner gewesen war; diejenigen, die sich noch immer auf ihn berufen, werden jetzt als „Enthusiasten" eingestuft und einer blinden Bibliolatrie bezichtigt. Damit ist — und die Wirkungen Shaftesburys in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England und in seiner zweiten in Deutschland waren groß 2 9 6 — für die englische und außerenglische Aufklärung ein neues Verhältnis zur Bibel gesetzt und der Charakter des neueren Protestantismus entscheidend verändert. In dem Grundansatz bei der Ethik ist Shaftesbury der humanistischen Tradition treu geblieben; indem er ihre nominalistische Verwurzelung im Willen Gottes und damit in der Bibel aufgab sowie die ebenfalls schon aus der Scholastik herkommende realistische Linie des Naturrechts mit den allgemein gültigen Maßstäben von Gut und Böse verabsolutierte und in die Natur des Menschen selbst verlagerte, leitete er eine unter veränderten Vorzeichen stehende Epoche des Verhältnisses zur Heiligen Schrift ein. Auch für die humanistisch geprägte liberale Theologie des 17. Jahrhunderts und sogar für die Puritaner war die Bibel hauptsächlich eine formale Autorität; formal insofern, als sie in Wirklichkeit ihre jeweils vorgegebenen Anschauungen in sie hineinlegten und sie nach ihren Maßstäben entweder in Fundamentales und Peripheres schieden oder sie gerade total für sich in Anspruch nahmen. Aber gerade an der Art und Weise, wie dabei die Bibel vergewaltigt wurde, erkennt man, wie ungebrochen ihre Autorität war, und daß jede Partei (bis zu dem Deisten Toland) ihrer Doktrin nur durch einen Nachweis, daß sie mit der Bibel übereinstimme, anerkannte Autorität verschaffen konnte. Bei Shaftesbury wird dies grundsätzlich anders. Indem er die von den Cambridge Platonists zuerst postulierte Autonomie der Ethik von allen bisher beibehaltenen Kompromissen löste und emotionell mit dem durch Newton begründeten weltimmanenten Harmoniegedanken verband, machte er die durch historische Tradition mitgeteilte, in der Bibel enthaltene Offenbarung sachlich entbehrlich. Konsequenterweise findet sich bei ihm auch nicht der Ansatz eines Versuches, die dem Menschen aus der Natur heraus evidente Ethik in der Bibel nachzuweisen; diesen Weg lehnt er sogar implizit ausdrücklich ab, indem er die nominalistische Ableitung der Ethik aus dem Willen Gottes verwirft. Bei Shaftesbury findet sich auch die charakteristische spiritualistische Depravationstheorie im Hinblick auf die Geschichte der alten Kirche. 2 9 7 Mit großer Hochachtung spricht er von dem Apostel Paulus: besonders rühmt er an ihm, daß er, obwohl er selbst äußere Wunder und innere Mitteilungen

Vgl. o. S. 5 0 5 , A n m . 2 0 9 . w

II, 2 0 2 f f .

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erfahren habe, sich doch skeptisch und mit Vorbehalt hinsichtlich der Sicherheit solcher göttlichen Kundgaben geäußert habe. Das älteste Christentum war ,,set so far apart f r o m all philosophy or refined speculation, that it seemed in a manner diametrically opposed t o i t " . 2 9 8 Wie die dogmatische Theologie mit ihrem Absolutheitsanspruch erst später in die Kirche eindrang, so auch der Aberglaube. Das hängt nach Shaftesbury unmittelbar mit der Übernahme der einstmals heidnischen Tempelgüter durch den christlichen Klerus nach der konstantinischen Wende zusammen, der dadurch korrumpiert wurde, zugleich mit der Auflösung der antiken Philosophenschulen, deren ehemalige sophistische Lehrer nun unmittelbar zu Kirchenlehrern wurd e n 2 9 9 und hierdurch Parteigeist und Bigotterie in die Theologie hineintrugen, mitsamt allen möglichen heidnischen und jüdischen Mysterientraditionen und Spekulationen. Und als ob ihm Blounts Werk gut bekannt sei, führt er als Beispiel für den Eigennutz des Priestertums, der an dem allen schuld ist, die Geschichte von der Diana der Epheser aus Act. 19,23ff. an. Als Fortsetzung des begonnenen Abfalls der Kirche in den abergläubischen Zeremoniendienst fehlt auch nicht das Beispiel der römischen Kirche, die sich Aberglauben und Enthusiasmus des Volkes zunutze machte, um zugunsten ihrer wachsenden Hierarchie mit vielfältigem P o m p den Pöbel in ihren Bann zu schlagen, der am ehesten durch Schau und Zeremonie, durch Kelche und Kerzen zu betören ist. 3 0 0 Den gleichen Hintersinn hat aber auch der Abschnitt über Ägypten, II, 1 8 I f f . , den wir schon für das Urteil über die ägyptische H e r k u n f t jüdischer Gebräuche herangezogen h a t t e n . 3 0 1 Sein Hauptzweck ist aber, die Rolle der Priester „in this motherland of superstition" 302 herauszustellen u n d insbesondere auf den überreichen Landbesitz hinzuweisen, den sie sich im Laufe der Zeit zusammenraffen k o n n t e n . 3 0 3 Shaftesbury weiß außer Ägypten noch andere Beispiele aufzuführen, wo das Priestertum durch seinen Besitz den gesamten Staat aufzuschlucken drohte. Er zieht daraus den

298

II, 2 0 3 . Ein letzter Rest des Versuchs, die eigene Auffassung („sceptic") doch n o c h im N e u e n Testament zu verankern, ist hier zu erkennen. Eigenwillig ist allerdings die Art, wie dafür Paulus als Kronzeuge bemüht wird, der in der Aufklärung sonst meist umgekehrt als erster Theologaster kritisiert wird! 299 Gedacht ist hier wohl vor allem an den Einfluß des Aristotelismus auf die Universitätstheologie des 17. Jahrhunderts — ein gewisser anachronistischer Aktualitätsbezug (vgl. dazu II, 2 0 7 : „being fallen thus from remote antiquity to later periods"!), und, wie wir sahen, ein Lieblingsthema der humanistischen Polemik gegen die zeitgenössische Scholastik. a«» II, 2 1 2 f f . 301 S. o. S. 5 1 1 . 302 II, 181 f. 303 II, I83f.

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allgemeingültigen Schluß: „Nor is it possible . . . for any state or monarchy to withstand the encroachments of a growing hierarchy . . ," 3 0 4 Offensichtlich sind diese versteckten Bemerkungen, die vorsichtshalber auf eine so entfernte Kultur wie das heidnische alte Ägypten abheben, in Wirklichkeit aus einem unmittelbaren gegenwärtigen Interesse heraus gesprochen. Wie schon in den früheren Epochen der theologischen Auseinandersetzungen haben diese auch in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts einen engen Bezug zur kirchen- und staatspolitischen Situation. A. O. Aldridge hat das Verdienst, auf diese Zusammenhänge für Shaftesbury eindrücklich aufmerksam gemacht zu haben. 305 Er verweist auf die Auseinandersetzungen zwischen High Church und Low Church, die sich vor allem in den Jahren zwischen 1700 und 1711 auf einen Höhepunkt zubewegten, deren Ursprung aber in der „Glorious Revolution" von 1688 306 und ihren lang anhaltenden Folgen zu suchen ist. Das Jahr 1688 brachte mit der die Auseinandersetzungen um seine prorömische Religionspolitik beendenden, durch das Eingreifen Wilhelm von Oraniens bewirkten Flucht Jakobs II und der Thronbesteigung des Oraniers eine schwere Legitimitätskrise: der Erzbischof von Canterbury, William Sancroft, Haupt der Kirche Englands, und fünf Bischöfe verweigerten zusammen mit ungefähr 400 anderen Geistlichen den Eid auf den neuen Herrscher, da er nicht durch das göttliche Erbrecht auf den Thron gekommen sei (die sog. „nonjurors"). 3 0 7 Schwerwiegender noch als diese Sezession selbst waren ihre mittelbaren Folgen für die Gesamtkirche: in der von der niederen Geistlichkeit beschickten Synode, der unteren Kammer der Canterbury Convocation, welche das Zustimmungsrecht zu der kirchlichen Gesetzgebung der Krone besaß (das Oberhaus der Synode bestand aus den Bischöfen), herrschte eine orthodoxe, jedem Kompromiß mit den Nonkonformisten abgeneigte Haltung vor. Sie zeigte sich bereits bei der Ablehnung der vorgeschlagenen Reformen des Common Prayer Book und des kanonischen Rechts im Jahre 1689, die eine Rückkehr der Dissenter in den Schoß der Kirche ermöglichen sollten (der sog. Comprehension Bill), im Unterhaus des noch die Tory-Mitglieder aus der Zeit Karl II umfassenden Parlamentes, sowie des Toleration Act, der bereits das Parlament passiert hatte, durch die Synode, die daraufhin für 304

II, 186. 305 Manifesto, S. 345ff. 306 Vgl. C. Mullett, Religion, S. 4 6 2 - 4 7 4 ; G. L. Cherry, The Legal and Philosophical Position of the Jacobites, in: JMH 22, 1950, S. 3 0 9 - 3 2 1 ; D. Bahlman, The Moral Revolution; G. M. Trevelyan, The English Revolution 1 6 8 8 - 1 6 8 9 (Reprint 1963), bes. S. 175ff. 307 Vgl. auch L. M. Hawkins, Allegiance in Church and State: The Problem of the Non-Jurors in the English Revolution, 1928.

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absehbare Zeit vertagt wurde. Die theologischen Uberzeugungen korrespondierten größtenteils den politischen, die sich in den Parteien der Whigs und Tories formierten. Wilhelm III hatte die Plätze der zurückgetretenen oder verstorbenen jakobitischen Bischöfe mit Latitudinariern wie Tillotson oder Whigs wie Gilbert Burnet besetzt 308 , eine Politik, die auch die Königin Anna in den ersten Jahren ihrer Herrschaft, wenn auch gegen ihre persönliche Überzeugung, zumeist fortzusetzen genötigt war. Dadurch standen sich eine zumeist torygesinnte niedere Geistlichkeit orthodoxer Prägung und ein mehrheitlich den Whigs oder einer gemäßigten Tory-Richtung zuneigendes, theologisch liberales Episkopat, das eine parlamentarische Monarchie und die hannoversche Erbfolge unterstützte, gegenüber. 309 Für das Verständnis sowohl der Haltung Tolands wie der Shaftesburys ist es wichtig zu wissen, daß sie beide der Partei der Whigs angehörten, wobei letzterem seine wirtschaftliche Unabhängigkeit eine größere Prinzipientreue ermöglichte. 310 In den Jahren seit 1700 bildeten sich die Gegensätze in der Kirche zwischen der jetzt so benannten Gruppe der High Church, in der sich die radikal Orthodoxen (die ,,high-flyers"), Jakobiten und Nonjurors sammelten, und der Low Church, die für Toleranz eintrat und politisch mit den Whigs sympathisierte, durch eine Reihe von Ereignissen noch deutlicher heraus. Die Nonjurors hatten zur Rechtfertigung ihrer Haltung eine Theorie über die Kirche als societas perfecta entwickelt, die (mit der Frage des Eides nur noch in losem Zusammenhang stehend) eine vollkommene Unabhängigkeit der Kirche vom Staat und Freiheit zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten postulierte, sich somit in diesem Punkt den Forderungen der extremen Puritaner stark annäherte 311 , obwohl sie von gegensätzlichen Voraussetzungen her gedacht und mit „laudianisehen" Elementen wie der Beto308

Vgl. jedoch neuerdings G. V. Bennett, King William and the Episcopate, in: Essays in Modern English Church History, ed. G. V. Bennett 8c ]. D. Walsh, 1966, S. 1 0 4 - 1 3 1 , der vor der üblichen allzu schematischen Beurteilung der Besetzungspolitik Wilhelm III warnt. — Zu den kirchenpolitischen Vorgängen von 1689—1714 vgl. auch ders., Conflict in the Church, in: Britain after the Glorious Revolution, 1689—1714, ed. G. Holmes, 1969, S. 155—175. Er stellt mit Bedauern fest: „There is no satisfactory history of the Church for this period", aaO., S. 174. 309 Vgl. G. Burnet, History, Bd. II, S. 347, u.a.; C. Hill, The Century of Revolution, 1 6 0 3 - 1 7 1 4 , 1961 («1966), S. 291f. 310

Zu dem zwischen beiden aus Anlaß der Bewerbung Tolands um eine Anstellung unter R. Harley, dem als Whig-Apostaten verfemten Staatsmann (zu diesem vgl. A. Maclnnes, Robert Harley, Puritan Politician, 1970), im Jahre 1705 eingetretenen Zerwürfnis vgl. Heinemann, John Toland and the Age of Reason, S. 50ff. 311 Das erkannte schon sehr treffend der zeitgenössische Whig-Propagandist M. Tindal (weiteres zu ihm s.u.) in seinem gegen die Hochkirchler gerichteten Pamphlet: New High-Church Turn'd Old Presbyterian, 1709.

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nung der Liturgie und der Rechte des in apostolischer Sukzession stehenden Episkopats verbunden war. Eine eigentümliche Lage entstand dadurch, daß dieses Programm jetzt vor allem von Mitgliedern der niederen Geistlichkeit vertreten wurde, da es nach dem Abtreten der jakobitischen Bischöfe fast keine Hochkirchler auf der Bischofsbank mehr gab. Das Programm löste eine heftige Polemik aus, die dadurch verstärkt wurde, daß Wilhelm III ein erneutes Zusammentreten der Convocation immer wieder verhinderte und dadurch der niederen Geistlichkeit ihr Sprachrohr raubte. Der bekannte Hochkirchler F. Atterbury312 warnte bereits 1697 in seinem „Letter to a Convocation Man" vor der vom Staate her drohenden Gefahr für den Klerus und forderte nun erst recht für die Synode die Befugnis zu einer unabhängigen Gesetzgebung für den Bereich der Kirche, analog den Rechten des Parlaments in weltlichen Dingen. 313 Im Gegenzug fand jetzt die traditionelle Polemik gegen das Priestertum in der Hand der Low-Church-Anhänger ein neues Ziel: sie richtete sich nun gegen die hochkirchliche Richtung in der Kirche und ihre Ansprüche und war damit zugleich eine Form der Parteipropaganda der Whigs gegen die Tories. 314 Trotz ihres rationalistischen Ausgangspunktes war sie keineswegs auf die Deisten im engeren Sinne beschränkt. Andererseits erfaßte sie durchaus nicht breite Schichten des Volkes: populär wie in Frankreich und Italien ist, wie D. Ogg bemerkt 315 , der Antiklerikalismus in England nie gewesen, dafür war die Stellung des Gemeindepfarrers vor allem auf dem Lande fast überall zu angesehen. Shaftesburys antipriesterliche Passagen sind, wie Aldridge nachgewiesen hat 316 , vor allem gegen die High-Church-Partei gerichtet. Sie sind nur eines der Beispiele der in den ersten Jahren der Regierungszeit der Königin Anna aufkommenden antihochkirchlichen WhigPolemik. Bereits 1702 erschien als einer der ersten Angriffe dieser Art die Schrift von E. Hickeringill, „Priestcraft its Character and Consequences", und das im Titel dieses Pamphlets enthaltene Stichwort bildete von da an das Losungswort aller whiggistisch und deistisch gesinnten Kreise. 3 1 2 Vgl. zu ihm G. V. Bennett, The T o r y Crisis in Church and State, 1 6 8 8 - 1 7 3 0 : The Career of Francis Atterbury, Bishop of Rochester, 1975. 313 Vgl. Ν. Sykes, Church and State in England in the X V I I I th Century, 1934, S. 298. 301f. 314 J. Toland schreibt im Jahre 1710: ,,We in England are divided into Whigs and Tories. The First are Zealous Sticklers for Civil Liberty, and Sworn Enemies to Ecclesiastical Tyranny, The latter do not willingly admit of any Toleration in Matters of Religion; or of any Check upon the Will of the Sovereign", Mr. Toland's Reflections on Dr. Sacheverell's Sermon Preach'd at St. Paul's, N o v . 5, 1709, 1710, S. 3; vgl. Aldridge, Manifesto, S. 348. sis England in the Reigns of James I I and William III, (1955) ^1957, S. 529. 31« Vgl. bes. Manifesto, S. 352.

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Das Einsetzen der deistischen Debatte

d) Matthew

Tindal, The Rights of the Christian Church

Asserted

Besonderes Aufsehen auf der Seite der Whig-Propaganda erregte das (anonym veröffentlichte) Buch von Matthew Tindal, „The Rights of the Christian Church Asserted", 1706, in dem dieser später durch sein deistisches Alterswerk „Christianity as old as the Creation", 1730 317 , bekanntgewordene Schriftsteller 318 sich ausführlich mit den Ansprüchen der Hochkirchler und Nonjurors der Schule Atterburys auseinandersetzte. 319 Vor allem will er, wie er schon im Vorwort klar macht, die von den Hochkirchlern behauptete Unabhängigkeit der Kirche als einer Größe göttlichen Rechts vom Staate zurückweisen: „that the Doctrine of Two Independent Governments, one belonging to the Clergy by Divine, the other to the King and Parliament by Human Right, is inconsistent with the Constitution of the Establish'd Church." 3 2 0 Bereits im Vorwort entwickelt Tindal sein Hauptargument, das zunächst vor allem in einem nachdrücklichen Hinweis auf die bestehende Verfassungswirklichkeit gipfelt. An den gültigen Ordnungen führt für ihn kein Weg vorbei. Interessant ist, daß er sich dabei hauptsächlich auf die Konstitutionen Heinrich VIII beruft, die das verbindliche staatskirchliche System Englands geschaffen haben, das jetzt der Low-Church-Politiker gegen die Hochkirchler verteidigen will. 321 „It was to defend the Church of England against the Papists, Jacobites, and other High-fliers", erklärt er ausdrücklich 322 , und tatsächlich ist man vor allem im Vorwort über die legalistische Art der Beweisführung aus der Feder eines Whigs zunächst sehr erstaunt. Doch hängt diese Haltung offensichtlich mit der wichtigen Kursänderung in der Politik der Partei zusammen, auf die vor allem J. H. Plumb 323 aufmerksam gemacht hat: während die Whigs noch unter Karl II in der Opposition die konsti-

317

Faksimile-Neudruck, hrsg. v. G. Gawlick, 1967. 318 Vgl z u i h m die Einleitung zu „Christianity" von G. Gawlick, aaO., S. 5*—38*, sowie die ds., S. 39*—43* genannte Literatur. Außerdem C. Motzo Dentice di Accadia, La supremacia dello stato, in GCFI 17, 2. ser., vol. 4 ( 1 9 3 6 ) , S. 2 2 5 - 2 5 5 , S. 225—234. — Zu weiteren politischen Flugschriften Tindah vgl. Gawlick, aaO., Anm. 7. 12. 13. 14 auf S. 4 4 * f . 319 Benutzt wurde die 4. Aufl. 1709. Zum Inhalt vgl. auch Aldridge, Manifesto, S. 3 4 8 f . ; Motzo Dentice, aaO., S. 2 2 5 f f . 320 AaO., S. V. 321 „Nothing made so much way for the Reformation, as Henry VIII's depriving the Clergy of so great a Part of their Powers and Riches", aaO., S. 215. 322 AaO., S. 3 0 3 . 323 ]. H. Plumb, The Growth of Political Stability in England, 1 6 7 5 - 1 7 2 5 , 1967, Kap. 5: „The Rage of Party", S. 129ff., bes. S. 134ff. 152.

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tutionellen Prinzipien gegen die zum Absolutismus neigende Krone und die sie unterstützende Parlamentsmehrheit verteidigt hatten, sahen jetzt die Parteiführer einen Weg zur Macht nur durch ein Bündnis mit dem Hofe und durch den Einfluß, den sie auf diesen vor allem in finanzieller Hinsicht ausüben konnten; dagegen verkörperten die Tories mehr und mehr als Vertreter des Landadels und der kleinen Städte die Unabhängigkeit der parlamentarischen Freiheiten gegen die Exekutive und den königlichen Zentralismus. 3 2 4 Eine entsprechende Verschiebung der Fronten kann man auch in der Haltung der kirchenpolitischen Gruppen erkennen: die Hochkirchler streiten jetzt für eine auf eigenem, göttlichem Recht gegründete Kirche, zu deren Wesen es gehört, ihre Angelegenheiten unabhängig von der Aufsicht des Staates zu regeln, während die Low-Church-Anhänger, die Nachfolger der liberalen Anglikaner und Latitudinarier, für weitgehende kirchliche Befugnisse der weltlichen Instanzen eintreten. Aus der Abwehr gegen die „hochfliegende" hochkirchliche Ideologie bezieht die antipriesterliche Polemik neue Nahrung: Tindal betont ausdrücklich, mit dem von ihm in allgemeiner Form verwendeten Begriff „Klerus" meine er nicht die loyalen Geistlichen 3 2 5 , sondern „that Popish, Eastern, Presbyterian, and Jacobite Clergy (who are infinitely the Majority)". 3 2 6 Doch läßt die weitere Lektüre des Buches Tindals schnell erkennen, daß ein wirklicher Bruch mit den alten Whig-Prinzipien in der Partei auch in dieser Phase nicht eingetreten ist. 3 2 7 Auffälligerweise polemisiert er (wie auch ohne ausdrückliche Namensnennung deutlich) gleich zu Beginn in der Einleitung seines Buches, in der er auf die staatspolitischen Voraussetzungen seiner Haltung eingeht, gegen den Filmerschen Patriarchalismus 3 2 8 und betont, daß

324 Vgl. auch die grundlegende Arbeit von K. Feiling, A History of the Tory Party, 1924 (3. Reprint 1965). 325 „none can have a juster Esteem for all her Clergy, who, according to the Doctrine of the best-constituted Church, disown all Idependency", aaO., S. 303. 326 AaO., S. LXXXIV; vgl. auch S. 303. 327 Deshalb sieht J, Η. Plumb, aaO., Anm. 2, Shaftesbury wohl zu Unrecht als zur Regierungszeit der Königin Anna in seiner Haltung isoliert. 328 „that there's no Divine Commission which parcels the Farth into particular Governments, or any Family or Person that has an immediate Commission from Heaven to rule the Whole or any Part of it . . .", aaO., S. 2. „A Father is so far from acquiring such an Arbitrary Power over his Child, by being instrumental in giving him Life . . .", aaO., S. 4, und bes.: „. . . if Government of the whole Earth was given to Adam first, and after him to the eldest Son of the eldest Branch, as the Makers of this Hypothesis assert . . . ", aaO., S. 6. Filmers Thesen waren also trotz Locken Bestreitungen noch nach 1700 in bestimmten Kreisen lebendig!

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die Menschen schon im Urständ 329 nicht nur frei 330 , sondern auch gleich gewesen seien. 331 Er teilt die Consensus-Lehre für den Ursprung aller staatlichen gesetzgebenden Macht und betont, daß auch die gegenwärtige Regierung auf einem Konsensus beruhe, der grundsätzlich jederzeit widerrufbar ist. 332 Jedoch geschieht die nötige Zustimmung zur gesetzgebenden Gewalt durch die einzelnen Staatsbürger jetzt nur noch stillschweigend, öffentlich dagegen auf dem Wege über die Parteien. 333 Die ideale Staatsform ist die Parteiendemokratie, in welcher der Wille der Mehrheit regiert. 334 Die von den Whigs vertretene Staatsauffassung setzt also die zuerst von den Levellem propagierten Ideale fort. Allerdings vertritt sie wenigstens offiziell nicht mehr den Republikanismus 335 , sondern unterstützt eine, seit der Bill of Rights in ihrem Charakter jedoch wesentlich gewandelte, konstitutionell gewordene Monarchie. 336 Nicht mehr die aufgrund eines erblichen jus divinum sakrale Krone, sondern die Volksvertretung ist der eigentliche Souverän. Diese politischen Grundsätze sind die Basis auch für die Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche. Auch in dieser Hinsicht ist die Kontinuität zwischen den Auffassungen Tindals und denen des älteren liberalen Anglikanertums unverkennbar. Eine Beschränkung der Rechte der Obrigkeit (deren Auftrag in alter Weise im Amt des Schwertes gesehen wird 3 3 7 ) auf den weltlichen Bereich wird 329

State of Nature, vgl. aaO., S. 11; auch Tindal führt die ursprüngliche Freiheit des einzelnen auf das Gesetz der Natur zurück und verknüpft sie mit dem individuellen Recht auf Glücksverwirklichung, aaO., S. 10. 330 ,,Men are naturally free", aaO., S. 6. 331 AaO., S. 4 (hier wird auch der traditionelle Einwand aus der Ungleichheit der Kinder zurückgewiesen, vgl. o. S. 448.). 332 „And as the Laws derive their Authority from the present Government, so this owes its obliging Power not to any Compacts of the People in former Ages, but to the Consent of the present Generation . . . " , aaO., S. 7. 333 „So that all Government, the present as well as the past, has n o other Origin than the Consent of the Partys concerned; all expressly or tacitly, collectively or singly, agreeing to it", aaO-, S. 8. 334 ,,And consequently all Power, by the express or tacit Consent of the Partys concern'd, must be at first lodg'd in the Majority, who may . . . keep it in their own hands, or else intrust it with whom they think fit . . . " , aaO., S. 6f. 335 Die Existenz des geheimen Calves-Head-Clubs, dem Toland angehörte (vgl. dazu Heinemann, J o h n Toland, S. 52f.), zeigt freilich, daß die republikanischen Ideen der Commonwealth-Zeit im Untergrund noch fortlebten. Eine besondere Rolle spielten dabei die Gedanken Miltons, vgl. Sensabaugh, Milton. 336 ,,Α Limited Monarch", aaO., S. 275. — Auf die überwundene Gefahr des Absolutismus (unter Karl II) wird dagegen warnend hingewiesen, aaO., S. 275. 337 „to punish the Evil, the Immoral, the Vicious, and reward the Good, the Moral, the Virtuous", aaO., S. 12.

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deshalb abgelehnt, weil ihre Aufgabe, für das Wohl ihrer Untertanen zu sorgen 3 3 8 , nicht vor dem Bereich der Religion haltmachen kann. Infolgedessen hat sie z.B. sogar die Pflicht, einen Atheisten zu bestrafen, weil die Leugnung der Existenz Gottes eine moralische Grundlage der Gesellschaft untergräbt. 339 Auf der anderen Seite ist aber das Recht des Staates in kirchlichen Dingen auf die Gegenstände beschränkt, die zur Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft gehören. Vor allem darf er grundsätzlich nicht in die Freiheit des Gewissens des einzelnen eingreifen 340 , sei es hinsichtlich der äußeren Formen des Gottesdienstes, sei es im Hinblick auf dogmatische Spekulationen, solange dadurch niemand anders Unrecht geschieht, „because as to these matters Men are still in a state of Nature, without any Sovereign Representative to determine for them what they shall believe or profess". 341 Deshalb gilt, daß die Vollmacht des Staates sich auf die Indifferentia gerade nicht erstreckt, denn das würde die Freiheit des einzelnen entscheidend einschränken. Wieder tauchen ursprünglich aus dem linken Flügel des Puritanertums stammende, durch ihre Säkularisierung aber im Grundansatz veränderte Thesen auf. 342 Im Hintergrund steht ein analog der auf den Staat angewandten ConsensusTheorie vollständig individualisierter Kirchenbegriff: die Kirche entsteht in der Art eines Vereins 343 nicht durch Tradition, sondern durch freiwilligen Beitritt ihrer Mitglieder. 344 Diese Freiwilligkeit erstreckt sich aber auch auf 338 j m Eudämonismus sieht Tindal, ganz in der Art Lockes, eine naturrechtliche Voraussetzung gesellschaftlichen Lebens: „God by implanting in Man that only innate and inseparable Principle of seeking his own Happiness . . . has given him a Right, or rather has made it his Duty to do all that's necessary to that E n d " , aaO., S. 10. 339 AaO., S. 12f., vgl. 18f. — hier finden sich wohl die gleichen Grenzen der Toleranz wie bei Locke, und ebenfalls die Locke sehe Begründung. 340 „that all being under an indispensable Obligation to worship G o d after the manner they think most agreeable to his Will, and in all Religious Matters whatever to follow the Dictates of their Consciences, none cou'd make over the Right of judging for himself, since that wou'd cause his Religion to be absolutely at the disposal of another", aaO., S. 14. Vgl. auch S. 66: „ . . . a Power over the Conscience or Mind of Man, 'tis n o less than usurping upon the Prerogative of God himself." Diese Ausgrenzung des privaten Bereiches des Gewissens als durch den Staat nicht tangierbar erinnert an Hobbes; bei den Freikirchen (nicht bei der Staatskirche, s.u.!) ist das Gewissen der Kirchenmitglieder nach Tindal aber auch für die äußeren gottesdienstlichen Formen maßgeblich. 341 AaO., S. 15; vgl. S. 23. 342 Diese verdankt Tindal offenbar ebenfalls Locke, vgl. o. S. 461ff. 343 Alle Menschen haben ein Recht, „ t o f o r m what Clubs, Companys or Meetings they think fit, either f o r Business or Pleasure, which the Magistrate, as long as the Publick sustains n o Damage, cannot hinder without manifest Injustice", aaO., S. 15. 344 ;> No Man's Religion, like his Lands, descends f r o m Father to Son, b u t every one, when capable, is to chuse his own Church. And the only Motive that is to determine him is the saving of his own Soul: for as he is oblig'd . . . to join himself

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die Lehren und äußeren kultischen Formen einer Kirche, über die jeder einzelne auch nach seinem Eintritt für sich urteilen muß und sich keiner Mehrheitsentscheidung unterwerfen kann; wer abweichend urteilt, kann mit Gleichgesinnten, und seien es n u r zwei oder drei (Matth. 18,20), eine eigene Kirche gründen. 3 4 5 Es gibt nur einen einzigen G r u n d , der den Staat zum Eingreifen veranlassen kann: es ist die religiöse Verfolgung. Hier allerdings m u ß er einschreiten und diejenigen energisch bestrafen, die andere in Gewissensangelegenheiten verfolgen, in der gleichen Weise wie Räuber, Mörder oder andere Verbrecher am Gemeinwohl. Grundsätzlich gilt, daß seine Macht ,,is confin'd to such Religious Matters as are likewise Civil, that is, where the Publick has an Interest".346 Ähnlich wie bei Locke (und vielfach eindeutig in Abhängigkeit von ihm) finden wir also auch bei Tindal eine Toleranzforderung gegenüber den verschiedenen voneinander unabhängigen kirchlichen Gruppierungen. Für die Dissenters läßt er zwar, wie es für die älteste Christenheit unter einer nichtchristlichen Obrigkeit der Fall war, eine vom Staate unabhängige Existenz gelten. 3 4 7 Anders will er jedoch die Anglikanische Kirche gewertet sehen. An dieser Stelle k o m m t er naturgemäß in nicht geringe Schwierigkeiten, da es schwer einzusehen ist, daß für die Anglikaner nicht der gleiche Selbstverwaltungsanspruch gelten soll wie für die Dissenters. Für Tindal liegt der Anspruch der Hochkirchler jedoch auf einer ganz anderen Ebene. Entscheidend ist offensichtlich der Begriff der „christlichen N a t i o n " : für eine christliche Nation, ist sein Hauptargument, sei es undenkbar, daß G o t t für sie zwei voneinander unabhängige Regierungen eingesetzt habe, eine für kirchliche, die andere für weltliche Dinge, und daß beide eine Legislative und eine Exekutive besitzen. 3 4 8 Dabei k o m m t es ihm vor allem auf den Anspruch der Geistlichkeit an, ein von Christus und den Aposteln herzuleitendes unveränderliches göttliches Recht zur Gesetzgebung über Indifferentia, wie Riten und Zerewith that Church which he judges will best conduce to it; so the same Reason . . . will oblige him to leave that Church . . . " , aaO., S. 23f. 345 AaO., S. 2 4 f . 346 AaO., S. 19. — Derselbe Grundsatz wird von Β. Ibbot, The Nature and Extent of the O f f i c e of the Civil Magistrate, in: The Pillars of Priestcraft and Orthodoxy Shaken, ed. R. Baron, Bd. I, 2 1 7 6 8 , S. 2 0 4 - 2 4 4 , vertreten. 347 , A n d there can be no manner of pretence why those Christian Religious Assemblys which are not of the Magistrate's Persuasion, may not maintain themselves by that Natural Right by which all other have done it, from their first Existence to this very day", aaO., S. 29. 348 So in seiner Darstellung die hochkirchliche Position, aaO., S. 30. Sie entspricht genau der eigenen anglikanischen Rechtsinterpretation von E. Gibson in der Einleitung zu seinem Codex Juris Ecclesiae Anglicani, S. XIX, zitert von Sykes, Church and State, S. 2 9 9 . 34

Rcventlow, BibeUutorität

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monien, und Glaubensangelegenheiten zu besitzen, also mittels Synoden den Konfessionsstand für alle Glieder der Kirche verbindlich festzulegen, wie auch die Schlüsselgewalt, auf dem Wege der kirchlichen Gerichtsbarkeit bis hin zur Exkommunikation seine Einhaltung zu erzwingen. 349 An erster Stelle sucht er deshalb zu beweisen, daß es nicht zwei voneinander unabhängige Gewalten in der gleichen Gesellschaft geben könne. 3 5 0 Der wichtigste Grundsatz ist der von der Unteilbarkeit der Macht: „that all Supreme or Independent Power must be indivisible". 351 Alle Einzelgründe, die dafür genannt werden 352 , zeigen, daß die Argumentation hier plötzlich von ganz anderen Grundsätzen her geführt wird, mit denen die konkrete englische Lebenswirklichkeit weitgehend übereinstimmt, in der (wenn man die Dissenter und Katholiken ausnimmt) tatsächlich die Gewalt über beide Bereiche von der einen vorhandenen Obrigkeit ausgeübt wird, die aus Krone, Regierung und Parlament besteht und seit Heinrich VIII die Staatskirche fest im Griff hat. Insofern ist der im Vorwort entfaltete Rückverweis auf die kirchenordnenden Erlasse dieses Königs durchaus sachgemäß: das gesamte Buch ist eine einzige Rechtfertigung des Bestehenden. Der entgegengesetzte, hier bekämpfte Anspruch der Hochkirchler ist demgegenüber reine Ideologie; sie findet in der Wirklichkeit keine Entsprechung und wird von denen vertreten, die in Wahrheit die Macht gerade nicht in Händen haben. 353 Obwohl nun nach diesen Grundsätzen bei Tindal eine Form von Erastianismus zu erwarten ist 354 und wirklich im Vorwort viel vom Supremat der Krone über 349 AaO., S. 31. 350 Kap. 1: „That there cannot be two Independent Powers in the same Society", aaO., S. 33ff. 351 AaO., S. 37. 352 Eine gegen einen Bürger von der weltlichen Obrigkeit verhängte Todesstrafe beraubt die Kirche eines Gliedes, auf das sie einen unabhängigen Rechtsanspruch hat; kirchliche Exkommunikation hindert den Betroffenen umgekehrt an der Ausübung eines bürgerlichen Berufes, da er von allen Mitbürgern gemieden wird usw. (aaO., S. 37f.). 353 u n { i s ; e auch nie erhalten sollten; daran ändert auch die kurze Periode unter Harleys Tory-Ministerium 1 7 1 0 - 1 4 (vgl. Burnet, History, Bd. VI, S. 8ff.; G. M. Trevelyan, England under Queen Anne, Bd. III (1934), Reprint 1948, S. 61ff.; Feiling, History, S. 424ff.) nichts, in der Atterbury zum Bischof ernannt und die Canterbury Synode zu lebhafter Tätigkeit einberufen wurde. Ihr Streben nach einer vom Staate unabhängigen Vollmacht wurde nie erfüllt, und im Zusammenhang mit der Bangor-Kontroverse 1717 wurden ihre Sitzungen durch erzwungene Dauer-Vertagung für anderthalb Jahrhunderte gänzlich eingestellt. Vgl. zur Geschichte der beiden Synoden von York und vor allem Canterbury und dem Verhältnis von Staat und Kirche in England Sykes, Church and State, bes. Kap. VII, S. 2 8 4 - 3 3 1 . 354 Tatsächlich wird der Name des „großen" Erastus mit Hochachtung genannt, aaO., S. 107, und die Veröffentlichung seines Werkes „De Excommunicatione" in London, 1689, als fromme Tat gefeiert, aaO., S. LXII. Zur Aufnahme bestimmter Gedanken

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die Kirche und auch in geistlichen Angelegenheiten (jus in sacra) die Rede ist, ist doch deutlich, daß er in Wahrheit die Rechte des Parlaments zur kirchlichen Gesetzgebung verteidigen will; denn: ,,As her Majesty has no Power in Ecclesiasticals except by the laws of the Land, and can't divest her self of any part of it without Consent of Parliament; so both must be equally concern'd in this Charge." 3 5 5 Daraus leitet sich aber die Schlußfolgerung ab, daß eben mit diesen Rechten des Parlaments die Kirche selbst in ihren Privilegien bestätigt wird 3 5 6 , denn die Kirche, das ist nicht ihre Hierarchie, sondern das sind ihre sämtlichen Mitglieder, das ist das Volk. Da nun nicht mehr an die Freikirchen gedacht wird, die als sich jeweils separierende Vereine verstanden wurden, sondern an die Kirche von England, stellt sich eine Art von Identität zwischen englischem Volk und dieser Kirche wie von selbst ein; das Volk aber ist vertreten durch das Parlament. Wenn das weltliche Parlament und nicht die Synode das jus in sacra hat, bedeutet dies ,,the Power relating to these Things to be fundamentally lodg'd in the People". 3 5 7 Und zwar ist es das Gesetz der Natur, das dem Volk dieses Recht gibt. 3 5 8 In diesem Obergang der Autorität über die Kirche von der Krone auf das Parlament spiegelt sich exakt die Veränderung der Verfassungssituation, wie sie durch die Revolution eingetreten war; C. Garbett 359 spricht in der Tat von einer Form des Erastianismus, die jetzt triumphierte 360 , nur: „It was in the future Parliament, and not the Crown, which controlled the Church." 3 6 1 Will man diese Aussagen richtig beurteilen, darf man allerdings nicht vergessen, daß in der englischen Verfassungswirklichkeit schon immer Krone

Hobbes' und dem trotzdem fundamentalen Graben zwischen seinen Grundauffassungen und der Haltung Tindah vgl. auch Aldridge, Manifesto, S. 349, der allerdings Tindah ..Parlaments-Erastianismus" übersieht. 355 AaO., S. LXXXIII; vgl. S. 210: „But this Reason will make the Parliament, not only then but always, better Judges (als der Klerus) of Religion." 356 „as wanting none of its due Rights and Privileges", ebendort. In diesem Sinne gibt Tindal seinem Werk den Titel: „The Rights of the Christian Church asserted . . . " : er will die demokratische Kirche gegen die priesterliche Usurpation ihrer Rechte verteidigen. 357 AaO., S. 155. Vgl. auch aaO., S. 176: „ . . . in the Beginning the Government of the Holy Church had altogether a Democratical Form." 3 *8 AaO., S. 156. 35» C. Garbett, Church and State in England, 1950, S. 86ff. 360 Vgl. die Überschrift: „Erastianism Triumphant", aaO., S. 86. Vgl. auch Laski, s.u. Anm. 366; auch Β. Williams, The Whig Supremacy, 1 7 1 4 - 1 7 6 0 , 2 1962, S. 68: „But at no time in our history was the Anglican church, both in England and in Ireland, so completely Erastian and so entirely subservient to the purposes of civil government as in the eighteenth century." 361 Ebendort.

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und Parlament als eine Einheit verstanden wurden 3 6 2 ; nur die Gewichte haben sich jetzt spürbar zum Parlament hin verschoben. Im einzelnen erstrecken sich die Befugnisse der weltlichen Gewalt in kirchlichen Angelegenheiten auf die Bestimmung von Gemeinde- und Bezirksgrenzen, auf die Kirchengebäude, ihren Bau und ihre Erhaltung, auf die Festsetzung jeder Einzelheit der Liturgie 3 6 3 , vor allem aber auf das Einsetzen und Absetzen der Geistlichen 364 : „it can belong only to the People to appoint their own Ecclesiastical Officers." 3 6 5 Letztere Vollmacht hängt nach den Vorstellungen Tindals eng mit dem Charakter der Aufgaben der Kirche selbst zusammen. Die Kirche ist für ihn vor allem eine moralische Anstalt 3 6 6 , deshalb hat die Obrigkeit die Pflicht, Geistliche einzusetzen mit dem Auftrag, ,,publickly to instruct his Subjects to avoid all such things as he has a Right to restrain by preventing Force, and to practise all such as he ought to encourage by suitable Rewards". Es wäre absurd, wenn sie ausgeschlossen würde „from a Right of authorizing Persons publickly to mind him of what he owes to his Subjects, and them of those Dutys they are to render to him and one another". 3 6 7 Exkommunikation wegen Heterodoxie ist deshalb so schädlich, weil sie unter Umständen gerade einen moralisch hochstehenden Menschen aus der Gesellschaft ausschließt, während ein unmoralischer Orthodoxer hochgeehrt ist. 3 6 8 Würden die priesterlichen Machenschaften („priestcraft") beseitigt, würden die vom Christentum verbreiteten Tugendlehren die menschliche Natur zur höchsten Vollkommenheit führen können. 3 6 9 Die offensichtliche Widersprüchlichkeit der Argumentationsweise Tindals beruht darauf, daß er zwei im Grunde miteinander unvereinbare Kirchenbegriffe nebeneinander stellt. Der eine ist einesteils kongregationalistisches Erbe, andererseits vom modernen Vertragsdenken geprägt und sieht die Kirche als einen Verein, der durch den freiwilligen Zusammenschluß seiner 362

R. H. Murray, The Political Consequences of the Reformation, 1926, S. 263ff., zeigt dieses (noch aus dem Mittelalter stammende) Einheitsdenken an der Schrift von Sir Thomas Smith, De Republica Anglorum, 1583 (1584), auf. 363 AaO., S. 173. 364 Wichtig ist vor allem letzteres: „Cujus est destruere ejus est condere, and so vice versa, is a certain Maxim", aaO., S. 236. 365 AaO., S. 237, vgl. auch S. 126. Diese These wird auch von Shaftesbury übernommen, vgl. Characteristics, II, 365. 366 Vgl. H. ]. Laski, Political Thought in England. Locke to Bentham, 1920 (Reprint 1955), S. 82: „So that the Erastianism of the eighteenth century goes deep enough to make the Church no more than a moral police department of the State." Μ' AaO., S. 21. 368 AaO., S. 112f. AaO., S. 120.

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Mitglieder entsteht. Diesen Kirchenbegriff wendet Tindal aber nur auf die Dissenter an; für sie folgt im Verhältnis zum Staat aus dieser Definition innere Autonomie mit dem Recht, über ihre äußeren kultischen Formen selbst zu bestimmen, im Verhältnis zur anglikanischen Kirche u n d ihren Gliedern die Forderung auf Duldung ihrer Sonderexistenz. Diesen Autonomieanspruch lehnt er dagegen bei den Hochkirchlern für die anglikanische Großkirche entschieden ab (obwohl er ihre Entsprechung zu den presbyterianischen Forderungen klar erkennt 3 7 0 ). Hier geht er vielmehr von dem mittelalterlichen Einheitsdenken aus, welches das Corpus Christianum als ein unteilbares Ganzes sieht und eine Scheidung zwischen weltlichem und geistlichem Bereich überhaupt nicht kennt, eine Denkvoraussetzung, wie sie auch von dem von ihm so geschätzten Erastus geteilt wurde und sich auf nationaler Basis in der konkreten staatskirchlichen Wirklichkeit Englands bis in die Gegenwart erhalten hatte (formal in der Stellung der Krone sogar bis heute!). Von rechtlicher Gleichbehandlung kann also keine Rede sein; was die Freikirchler längst erreicht hatten, wird der Großkirche verweigert. Die Hochkirchler hätten leichtes Spiel haben k ö n n e n , die Widersprüche in der Argumentation der Low-Church-Vertreter aufzudecken, wenn sie nicht selbst in einem ähnlichen Dilemma gesteckt hätten: denn auch sie folgten einem Einheitsideal, das allerdings absolutistisch gefärbt war, vom göttlichen Recht der Krone ausging und ein Zusammenwirken allein von Summepiskopat und Synode als Selbstverwaltungsorgan der hierarchisch-klerikal geleiteten Kirche verlangte. Dieses Ideal stimmte aber in keiner Weise mit der Wirklichkeit überein, denn (mit wenigen Ausnahmen, wie der allein von der durch den König autorisierten Synode verabschiedeten Kanonsreform 1603/4) übte die Krone schon seit Heinrich VIII gewöhnlich ihre Rechte über die Kirche mithilfe des Parlaments aus. 3 7 1 Hier ergab sich ein logisch unauflösbarer Prinzipienkonflikt, der in allen volkskirchlichen Lebensbereichen in E u r o p a bis heute fortdauert. Theoretisch war Tindah Stellungnahme unhaltbar; pragmatisch entsprach sie den gegebenen Umständen und war deshalb auf die Dauer erfolgreich. Einer der wichtigsten Gründe gegen das von den Hochkirchlern behauptete unveränderliche Recht der Klerus, über die kirchliche Gesetzgebung zu bestimmen, ist die Erkenntnis, daß es ein solches unveränderliches Recht überhaupt nicht geben kann, da die äußeren Formen der Kirche sich den jeweiligen Zeitumständen anpassen müssen. 3 7 2 Hierfür gilt n u n , daß die Verhältnisse 370

Vgl. sein Pamphlet: N e w High Church. 3·" Vgl. Garbett, aaO., S. 5 9 f f . 372 Kap. IV, S. 122ff.; vgl. bes. S. 147. 174: „There is no particular Form of Church Government of Divine A p p o i n t m e n t , but that 'tis of a mutable nature, and ought to be chang'd according to Circumstances."

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in der Bibel in keiner Weise auf die Dauer verbindlich sein können, „The Circumstances of a few private Christians, form'd into particular Congregations, independent of one another, as at first, and those of the now National Churches, being so very different, must require a very different Polity." 3 7 3 Man kann aber auch aus dem Neuen Testament selbst lernen, daß die Urchristen ihre Kirchenordnungen je nach den Umständen änderten: die Abschaffung bestimmter heiliger Gebräuche (des Bruderkusses, der Fußwaschung); umgekehrt die Ausübung von Sakramenten wie der Taufe durch Laien 374 ; die Aufhebung von Ämtern (wie dem der Diakonissen) bzw. die Veränderung ihrer Aufgaben (wie bei den Diakonen) oder auch die Außerkraftsetzung strikter Verbote (des Blutgenusses, des Verzehrs erwürgter Tiere) zeigen ihre große Freiheit in diesen Dingen. 375 Dasselbe gilt aber auch für die Gesetze der Juden (im Alten Testament): auch diese wurden von Gott den besonderen Umständen des Judentums angepaßt und auch laufend verändert (wie etwa in der unterschiedlichen Stellung Moses und der Propheten zum Opfer oder auch in den Ez. 20,25 erwähnten „nicht guten" Gesetzen sichtbar wird), bis sie schließlich ganz außer Kraft gesetzt wurden. 3 7 6 Lediglich moralische Grundsätze sind ihrer Natur nach unveränderlich, und deshalb auf ewig bindend. 3 7 7 Diese Stellungnahme zeigt, daß im Verhältnis zur Heiligen Schrift (ähnlich wie bei Shaftesbury 378 ) ein neues Stadium erreicht ist. Wenn jede Kirchenordnung wandelbar und zeitgebunden ist, dann entfällt die Vorbildhaftigkeit der biblischen Ordnungen und die Verbindlichkeit der Schrift auch in dem eingeschränkten Sinne, den sie noch bei den liberalen Anglikanern hatte. Den letzten Schritt zur Autonomie des sittlichen Bewußtseins tut dann Shaftesbury. Wenn man das Spätwerk Tindals: „Christianity as old as the Creation" als im echten Sinne deistische Schrift begreifen will, darf man die Vorstufen dazu, die schon in der früheren kirchenpolitischen Schriftstellerei des gleichen Verfassers sichtbar werden 3 7 9 , nicht übersehen. In dem Drei-

373

AaO., S. 124. ™ AaO., S. 135ff. AaO., S. 152f. 3"» AaO., S. 149f. 377 AaO., S. 153. 378 In einem Brief an M. Ainsworth, Life, Letters, ed. Rand, S. 403, gibt Shaftesbury seine Übereinstimmung mit den Kirchenordnungsvorstellungen Tindals indirekt zu, hat ihn aber auch sonst offensichtlich oft benutzt, vgl. dazu auch Aldridge, Manifesto, S. 348ff. 379 Außer der besprochenen Arbeit wären hierfür noch zu nennen: An Essay concerning the Laws of Nations and the Rights of Sovereigns, 1693; An Essay concerning the Power of the Magistrate and the Rights of Mankind in Matters of Religion, 1697 3

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ecksverhältnis zwischen weltanschaulichen Voraussetzungen, Theorien über das Verhältnis zwischen Staat und Kirche und Schriftverständnis kann keiner der Eckpunkte weggedacht werden, ohne daß das gesamte System unverständlich wird. Unter den Zeitgenossen hat das Werk: „The Rights of the Christian Church Asserted" vor allem durch seine heftigen Angriffe auf das Priestertum Aufsehen erregt. Der Ausdruck „Priestcraft" begegnet wiederholt 380 , und trotz der ausdrücklichen Einschränkungen auf bestimmte Teile des Klerus fühlte jeder, daß der Verfasser eine grundsätzlich feindliche Haltung gegenüber jeglichem Priestertum einnimmt. „And Priestcraft is so rank a Weed, that it will not suffer a Plant of any Virtue to grow near it" 3 8 1 : dieser Satz drückt wohl am besten aus, wo für Tindal die Alternative liegt. Und so finden wir in dem Buch auch alle die üblichen Assoziationen zwischen „Priestcraft" und „Superstition" 382 , außerdem den traditionellen (die negativen Parallelen herausstellenden) Vergleich mit dem heidnischen Tempelpriestertum. 383 Selbst der Hieb auf die Juden, ihren aus Ägypten übernommenen Aberglauben und ihre Neigung zum Götzendienst fehlt nicht. 384 Dies alles ist aber wenig originell und könnte kaum die Aufmerksamkeit auf das Werk lenken, wenn es nicht in die parteipolitische Propaganda eingespannt wäre. e) Parteipolitik und Bibelautorität

um die Wende des 18.

Jahrhunderts

Offensichtlich gibt Tindal Einstellungen wieder, die für breite Kreise der Low Church charakteristisch sind. 385 Man sollte sich aber hüten zu meinen, daß sich die gesamte geistige Situation seit der Revolution schlagartig geändert habe. Die entgegengesetzte Ideologie der Hochkirchler und Jakobiten ist nur einer der Gegenbeweise, selbst letztere sollte erst allmählich an Bedeutung verlieren. Das gilt auch für den speziellen Topos des göttlichen Rechts der Könige, der dem jakobitischen Legalitätsdenken zugrunde liegt.

(beide noch in einem Sammelband: Four Discourses on the Following Subjects . . . , 1709). 380 U. a. aaO., S. 216. 255. 296. 381 AaO., S. 296. 382 Z.B. S. 270. »83 AaO., S. 96f. 3M AaO., S. 269. 385 Ganz ähnlich sind z.B. die Grundsätze B. Hoadlys in seiner gegen die Hochkirchler gerichteten Streitschrift: A Preservative against the Principles and Practices of the Non-Jurors both in Church and State, 1716 (zum Inhalt vgl. Η. J. Laski, Political Thought, S. 74ff.; N. Sykes, Church and State, S. 290ff.), die den Anlaß zu der berühmten Bangor-Kontroverse bot.

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Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

G. Straka hat aufgezeigt 3 8 6 , wie dieser Topos auch von den anglikanischen Theologen, welche die Thronbesteigung von Wilhelm III und Maria unterstützten, in ihrer Weise aufgegriffen wurde, weil sie nur so die Rechtmäßigkeit der Machtübernahme des fremden Befreiers der Masse des gläubigen Volkes plausibel machen konnten. Nach wie vor wurde der Besitz der Krone auf die unmittelbare Führung durch Gott, und sei es auf dem Wege der Eroberung, zurückgeführt, und nicht anders konnte sich auch diese Machtübernahme legitimieren. Das Kontraktdenken der Anhänger des „modernen Naturrechts" stellte einstweilen nur die Ansicht einer Minderheit dar. Unter den bei Straka aufgeführten zahlreichen Schriften und Predigten zur Unterstützung und Glorifizierung der neuen Herrschaft fällt der in den Predigten selbstverständliche, aber auch in den theoretischen Werken hervortretende biblische Bezug in die Augen: wie die Herrschaft des mit göttlichem Recht regierenden Königs von England schon traditionell, so wurde jetzt auch die Machtübernahme von 1688 vor allem aus dem Alten Testament her legitimiert. Ein besonders interessantes Beispiel für den Übergang zu den Denkformen des „Parlaments-Erastianismus" ist in diesem Zusammenhang das Werk von R. Fleming, „The Divine Right of the Revolution" 3 8 7 , in dem die Übertragung der Krone auf Wilhelm III durch Parlamentserklärung 388 mit der Wahl Davids durch die Ältesten des Volkes verglichen und dadurch als gottgewollt begründet wird; aus dem Alten Testament selbst legitimiert sich der Satz: „The voice of the people is the voice of God." 3 8 9 Es ist aber auch möglich, 386

The Final Phase of Divine Right Theory in England, 1 6 8 8 - 1 7 0 2 , in: EHR 77, 1962, S. 638—658. Vgl. dazu auch ders., Anglican Reaction to the Revolution of 1688, 1962, bes. S. 65ff. 80ff. 387 The Divine Right of the Revolution Scripturally and Rationally Evinced and Applied, 1793 (Ersterscheinung 1706). Vgl. dazu noch Straka, Final Phase, S. 657, A n m . 2; Anglican Reaction, S. 112. Exemplar in der Dr. Williams Library, London. 38« Vgl. Ogg, England, S. 227. 389 AaO., S. 29ff.; Zitat: S. 34. — Die Apologie des Bestehenden, nur jetzt mit umgekehrten Vorzeichen, ist auch hier das Motiv für die Heranziehung der alttestamentlichen Autorität (vgl. u.a. S. V: „to establish all loyal subjects in the firm belief of the just right her Majesty has to the crown"). Die Auseinandersetzung mit Filmer steht hier noch immer im Vordergrund, wobei eines der ironischen Argumente gegen die Annahme eines ius divinum der linearen Erbfolge in Primogenitur der Hinweis ist, dann müßte die Herrschaft über die Welt ja von Adam auf seinen ältesten Sohn, nämlich Kain, übergegangen sein (S. V. 16). Die Patriarchengeschichte liefert dann zahlreiche Beispiele dafür, daß gerade nicht der älteste, sondern der jüngere Sohn Erbe wurde (u.a. Isaak, Jakob, Joseph-, S. 17ff.). David, moralisch anfechtbar, aber wegen seiner Jahwetreue ein guter König, und von G o t t erwählt, kann für den jetzt legitimen Monarchen Englands in beider Hinsicht Typos sein; Fleming vertritt den Grundsatz, „that they (diese Eigenschaften) are applicable, materially considered, . . . to all rightly constituted Christian kingdoms, but especially to ours". S. 59. Dagegen wird Jerobcam. zum Typus des abgöttischen Jakob II, S. 4 4 f f .

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Vorgänge wie die nach der Absetzung der Nonjuror-Bischöfe erfolgte Wiederbesetzung der Vakanzen durch dem neuen König ergebene Nachfolger als berechtigt aus dem Alten Testament nachzuweisen; Zeuge dafür ist das Pamphlet eines gewissen Mr. Hill·. „Solomon and Abiathar: Or the Case of the Depriv'd Bishops and Clergy discuss'd" 3 9 0 , in dem die Vorgänge nach Salomos Thronbesteigung (2. Kön 2,26f.) als Typos für die gegenwärtige Kirchenpolitik dienen müssen. Erst recht berufen sich die nach wie vor mächtigen hochkirchlichen Kreise auf das Alte Testament, vor allem in den Jahren der Tory-Reaktion unter der Königin Anna. Im Jahre ihrer Thronbesteigung, 1702, als der rechte Flügel der Tories das Ende der oranischen „Fremdherrschaft" und den Regierungsantritt einer englischbürtigen und der Kirche von England treu ergebenen Herrscherin enthusiastisch feiert 3 9 1 , hält der hochkirchliche Geistliche Henry Sacheverell eine (später gedruckte) Predigt, in der er dazu aufruft, zum alten Modell der Staatskirche unter Ausschluß der Dissenter und zu einem heiligen Regiment, das den Thron auf den Altar stützt, zurückzukehren und dafür die von Gottes Ratschlägen getragene Herrschaft Davids als Modell hinstellt. 3 9 2 Wie populär diese Haltung noch immer war, zeigt die berühmte Gerichtsverhandlung gegen Sacheverell 1710 wegen einer im Vorjahre gehaltenen ebenfalls hochkirchliche Standpunkte vortragenden Predigt, die mit so gut wie einem Freispruch endete, eine Welle von Gefühlen aufwühlte und zum vorläufigen Ende der Whig-Herrschaft beitrug. 3 9 3 Der nach wie vor ungebrochene Einfluß, den die in ihrer großen Mehrheit orthodoxe und vielfach hochkirchlich gesonnene Pfarrerschaft durch ihre Predigttätigkeit auf das breite Volk, vor allem auf dem Lande, noch in der ganzen ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausübte, und die Rolle, welche dabei die Heilige Schrift, insbesondere das Alte Testament, für die damals übliche Art der Themapredigt spielte, bildet den eigentlichen Hintergrund für den Kampf um die Bibel, der von den Deisten und „Freidenkern" 3 9 4

390 In: A Collection of State Tracts, publish'd on the Occasion of the Late Revolution of 1688 and During the Reign of King William III, 1 7 0 5 - 7 , Bd. I, S. 6 4 0 - 5 6 ; vgl. dazu Straka, aaO., S. 6 4 2 , A n m . 3, zu S. 6 4 1 . 391 Vgl. Feiling, History, S. 3 6 3 . 392 H. Sacheverell, A Discourse Showing the Dependence of Government upon Religion, 1702. 393 Vgl. zu den Vorgängen u.a. Burnet, History, Bd. V, S. 4 3 5 f f . ; Feiling, History, S. 4 1 6 f . ; Holmes, G., The Trial of Dr. Sacheverell, 1973. 394 Der Name geht auf W. Molyneux in einem Brief an Locke als Bezeichnung für Toland zurück, Works of J o h n Locke, Bd. IX, S. 4 0 5 , wurde dann vor allem durch A. Collins populär, s.u. Vgl. auch G. Gawlick, Einleitung zu Toland, Christianity, S. 17, und A n m . 41—43. Den weiten Horizont der Aspekte des Auftretens der Deisten steckt

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durch mehrere Jahrzehnte hindurch geführt wurde. Dabei wirkten ihre inneren Denkvoraussetzungen (die Gleichsetzung von Religion und Moral, die These von der Suffizienz der natürlichen Religion und der Subsidiarität der Offenbarung, die aus der spiritualistischen Tradition stammende Kultfeindschaft) und die in den kirchen- und parteipolitischen Fronten der Zeit begründeten äußeren Umstände bei der Entstehung und Ausgestaltung ihrer polemischen Schriften zusammen. Die Deisten waren in den geistigen Auseinandersetzungen ihrer Zeit keineswegs eine so isolierte Erscheinung, wie die meist getrennten Darstellungen ihrer theologisch-philosophischen Gedankenwelt vermuten lassen. 395 Vielmehr waren sie in den Parteienstreit der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts unmittelbar verwickelt. Schon am Beispiel Tolands und Tindals haben wir gesehen, daß beide „Philosophen" Anhänger der Partei der Whigs waren und in recht direkter Weise sich an der Politik und Propaganda der Partei beteiligten. Das gilt aber auch für Anthony Collins, dessen Schrift: „Priestcraft in Perfection" 3 9 6 zu dem auch von Tindal behandelten hochkirchlichen Anspruch, daß die Kirche das Recht habe, selbständig über ihre inneren Angelegenheiten zu entscheiden, in ähnlich ablehnender Weise Stellung nimmt. Schon erwähnt war, daß der 3. Graf von Shaftesbury der prominenteste „deistische" WhigTheoretiker war. Um es zugespitzt zu sagen, hatte das Aufkommen der Bibelkritik in England politische Gründe: den Whig-Ideologen ging es darum, ihren Gegnern, den hochkirchlich gesonnenen Tories, ihre Stütze in der Bibel aus der Hand zu schlagen. Dadurch, daß sie ihr den Rang als die Quelle der Offenbarung absprachen und ihre menschlichen Entstehungsursachen und menschlich-allzumenschlichen Inhalte an den Pranger stellten, suchten sie die Denkweise der Tories an der Wurzel zu treffen. 397 Sie gingen damit einen entscheidenden neuerdings / . Redwood, Reason, Ridicule and Religion, ab (vgl. auch das Vorwort, S. 10), wenn auch in einem notwendigerweise recht allgemein gehaltenen Uberblick. 395 Lechler war sich übrigens des'Problems bewußt, vgl. Geschichte, S. XLIIf., wenn er auch die Mittel zu seiner adäquaten Lösung noch nicht besaß. Immerhin hat er bemerkenswerte Ansätze dafür geliefert. 3 9 6 Priestcraft in Perfection: Or, a Detection of the Fraud of Inserting and Continuing this Clause The Church hath Power to Decree Rites and Ceremonys usw., 1710 (im gleichen Jahr 2. und 3. Auflage). 3 9 7 Ihre Motive waren also keineswegs so edel, wie sie Gawlick darstellt: „Die einschneidende, zum Teil sehr schroff geäußerte Kritik, welche die Deisten am Kirchenglauben ihrer Zeit übten, entsprang aus der Empfindlichkeit ihres sittlichen Bewußtseins, das sich mit der Härte verschiedener biblischer und theologischer Lehren nicht abfinden konnte", Vorwort zu Lechler, Geschichte, S. X X . Sie hatten, wie auch ihre Gegner, sehr viel konkretere, eigensüchtigere Gründe für ihre Polemik, die man deshalb wesentlich nüchterner werten sollte. — Die politischen Hintergründe der Vorgänge, die zu der

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Schritt über die Argumentation der frühen Whig-Propagandisten aus der Zeit Wilhelm III hinaus, die selbst noch an der biblischen Grundlage einer, wenn auch gewandelten, Divine-Right-Theorie festgehalten h a t t e n . Die Art ihres Vorgehens steht übrigens in einer deutlichen Entsprechung zu den Motiven des französischen Oratorianers Richard Simon, der seine Bibelkritik ebenfalls keineswegs aus unvoreingenommenem Wissensdrang, sondern aus dem kontroverstheologischen Antrieb unternahm, den Protestanten die Grundlage ihres Glaubens, die Unfehlbarkeit der Bibel, unter den Füßen wegzuziehen. Der Zusammenhang der deistischen Bewegung mit dem Programm der WhigPartei, aber auch die in dieser durchaus möglichen Meinungsunterschiede werden n o c h deutlicher, wenn man sich mit der reichen Pamphlet-Literatur beschäftigt, die aus der Feder der schon in ihrer Selbstbezeichnung ihr Programm verkündenden Dioskuren John Trenchard und Thomas Gordon s t a m m t . 3 9 8 Besonders bekannt wurden sie durch die Wochenschrift „The Independent Whig", die 3 9 9 ursprünglich von J a n 1720 bis J a n 1721 in Form von jeweils selbständigen Abhandlungen erschien und im ganzen sieben, ständig erweiterte Auflagen erlebte. 4 0 0 Bereits in der 1. N u m m e r (vom 20.1.1720), die von Gordon verfaßt ist 4 0 1 , nennt dieser seine Grundsätze: er will k ä m p f e n gegen „Blindheit und Vorurteil", gegen „Unwissenheit", für „ V e r n u n f t " und „ C o m m o n Sense" 4 0 2 u n d sieht sein Ziel in einem Versuch ,,to reform M a n k i n d " . 4 0 3 Seine Gegner sucht er in „Priestcraft and

sich allmählich verfestigenden Whig-Herrschaft führten, hat J. H. Plumb, The Growth of Political Stability in England 1 6 7 5 - 1 7 2 5 , 1967, dargestellt. Für die Rolle der Bibel, besonders des Alten Testaments in dieser Periode ist die Beobachtung von C. ]. Sommerville. Religious Typologies and Popular Religion in Restoration England, in: ChH 45, 1976, S. 32—41, S. 34f., charakteristisch, der in der populären religiösen Literatur der Zeit die statistische Beobachtung macht, daß mit dem Wachsen der Appelle an Geschichte, Natur, Vernunft ein deutlicher Rückgang der Zitate gerade aus dem Alten Testament und eine Bewegung hin zum Neuen Testament einherging. 398 Schon wegen seiner erheblich längeren Wirkungszeit (bis zu seinem Tode 1750) ist Gordon, der das Erbe des bereits 1722 verstorbenen Trenchard antrat und sogar die Witwe seines Gönners heiratete, der wichtigere der beiden Kämpfer. Vgl. zu ihm die vor allem durch ihre reichen bibliographischen Hinweise wichtige Untersuchung von J. M. Bulloch, Thomas Gordon, The „Independent Whig", in: Aberdeen Univ. Libr. Bull. 3, 1918, No. 17, 18 (auch als Sonderdruck), außerdem zu beiden C. Robbins, The Eighteenth Century Commonwealthman, S. 115ff. 399 Nach einigen vorlaufenden Pamphleten im Jahre 1719, vgl. Bulloch, aaO., S. lOf. 400 Von 1721 bis 1747; zu den Einzelheiten vgl. Bulloch, aaO., S. 14f. Benutzt wurde die 6. Auflage (3 Bde.), 1735. 401 Seit der 5. Auflage waren die Verfasserinitialen angegeben, vgl. Bulloch, aaO., S. 14. "02 AaO., Bd. I, S. 2. « » AaO., S. 3.

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T y r a n n y " 4 0 4 , d.h. einer bestimmten Form klerikalen Herrschaftsanspruches, in der die Wurzel alles Übels und die gefährlichste Bedrohung der Freiheit als des höchsten Gutes zu erblicken ist. Aufschlußreich ist, daß Gordon in der 2. Nummer (vom 27.1.1720), ganz wie Tindal405, versichert, er wende sich nicht gegen die ehrenhaften Geistlichen, die ihrem Amte gerecht werden; sein Zweck sei es, ,,to illustrate the Beauty of Christianity, by exposing the Deformity of Priestcraft; to distinguish the good Clergy f r o m the bad "406 a n ( j e r e n Worten: das geplante Unternehmen ist eine Serie von Kampfschriften gegen die hochkirchliche Partei (so wird es auch in dem seit der 5. Auflage vermehrten Untertitel angedeutet: „A Defence of Primitive Christianity, And of our Ecclesiastical Establishment, Against the Exorbitant Claims and Encroachments of Fanatical and Disaffected Clergymen"); argumentiert werden soll in der bekannten Weise der Depravation stheorie: mit dem Nachweis, daß das ursprünglich nur durch Wunder und milde Überredung, ohne jeden Machtanspruch der Apostel, ausgebreitete Christentum („the meek Spirit of the Christian Religion") schon bald durch die Herrschsucht der Priester in eine Religion blinden Gehorsams, abergläubischer Unwissenheit und bedenkenloser Kirchenzucht gegen jeden klardenkenden, ein frommes Leben führenden und dadurch den sittenlosen Klerus beschämenden Christen verwandelt wurde. 4 0 7 Diese negative Entwicklung der Kirche reichte bis zur Reformation; die Absicht des „Independent Whig" ist es, gegen die Gefahr der Wiederkehr der gleichen Entwicklung durch die Forderungen der englischen Hochkirchler zu warnen. 4 0 8 In einer Reihe von Stücken werden die ungerechtfertigten Vorteile des Klerus, die dieser sich verschaffen konnte, angeprangert 4 0 9 , die hochkirchlichen Priester als Feinde der Reformation hingestellt 4 1 0 und als die moralisch verruchtesten aller Menschen bezeichnet. 4 1 1 Ihre Grausamkeit (in der Verfolgung Andersdenken404 AaO., S. 4. 405 Vgl. o. S. 526, Anm. 325. 406 AaO., S. 10. 407 AaO., S. 12. - In dem 1720 veröffentlichten Pamphlet: Priestianity, Or, A View of the Disparity between the Apostels and the Modern Inferior Clergy (vgl. Bulloch, aaO., S. 16f. — benutzt wurde das Original) stellt Gordon das Verhalten der Apostel der unwürdigen Aufführung der modernen Geistlichen gegenüber — der niederen Geistlichen, d.h. der vorwiegend Tory-gesinnten! 408

AaO., S. 14f. — In der Schrift von Sir Edmund Thomas, Α Short View of the Conduct of the English Clergy, So far as relates to Civil Affairs, From the Conquest to the Revolution (1737), in: The Pillars of Priestcraft, ed. Baron, Bd. II, wird dieses Programm im Hinblick auf das Machtstreben der englischen Geistlichkeit durchgeführt. 409 Nr. 11 (30.3.1720), aaO., S. 82ff. 410 Nr. 12 (6.4.1720), aaO., S. 90ff. 411 „The most Wicked of all Men", Nr. 17 (11.5.1720), aaO., S. 132ff. - Vgl. auch die Bemerkung in: The Character of an Independent Whig (ursprünglich veröffentlicht

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der) 412 , ja,ihr Atheismus 4 1 3 werden angeprangert. Priesterbetrug („Priestcraft") ist als ständiger Kampf gegen die Vernunft nicht nur an den Tempeln des antiken Heidentums und an der römischen Kurie, sondern leider auch bei den jakobitischen Hochkirchlern Englands weit verbreitet 4 1 4 ; ihr Machtanspruch ist der ärgste Feind der Religion. 4 1 5 Religion ist nichts anderes als Moral 416 , Zeremonien sind in ihr überflüssig und schädlich; sie sind auch im ursprünglichen Christentum nicht enthalten gewesen. 4 1 7 Ähnlich ist es z.B. mit dem Institut der Buße: Fasten und Kasteiungen sind abergläubische Handlungen, die der wahren Religion nur im Wege stehen. 4 1 8 Entsprechend steht in dem „Creed of an Independent Whig", einem ebenfalls 1720 erschienenen Pamphlet 4 1 9 , als oberster Glaubensartikel voran: „I believe that no Bishop nor Presbyter, Priest or Deacon . . . can remit Sins." 4 2 0 Das etablierte Staatskirchentum wird gerechtfertigt 4 2 1 : eine vom Staate unabhängige kirchliche Gewalt ist absurd und unmöglich. 4 2 2 Vielmehr sind gerade die Geistlichen „Creatures of the Civil Power"! 4 2 3 Darüber hinaus ist das Priestertum als besonderer Stand im Evangelium gar nicht vorgesehen, nachdem das jüdische Priestertum abgetan war; vielmehr ist Jesus Christus der einzige Priester. 4 2 4 Überhaupt ist priesterliche Gewalt mit dem Evangelium unvereinbar und wird von ihm zurückgewiesen. 425 Wie sehr alles dies in den aktuellen kirchenpoli1719, vgl. Bulloch, aaO., S. 11), abgedruckt u.a. in: A Collection of Tracts. By the Late J o h n Trenchard, Esq., and Thomas Gordon, Esq. Bd. I, 1751, S. 312: „The Clergy are the best or the worst of Men; and as the first cannot be too much honoured, the latter cannot be too much despised." 412 Nr. 40 (19.10.1720); aaO., Bd. II, S. 73ff.; vgl. auch Nr. 6 2 - 6 4 , aaO., Bd. Ill, S. 7 I f f . 413 Nr. 45 (23.11.1720), aaO., Bd. II, S. 124ff. 414 Nr. 18 (18.5.1720), aaO., Bd. I, S. 141ff. 415 Nr. 19 (25.5.1720), aaO., S. 149ff. 4i® Nr. 26 (13.7.1720). „Religion and Virtue consisting in doing good Actions, or in a Disposition to do t h e m " , aaO., S. 224. Vgl. auch aaO., S. 265: „Nothing is, or can be, pure Religion, but either what God commands and tells us he will accept, or what is dictated by eternal Reasons, which is the Law of Nature." 417 „Our Saviour . . . instituted . . . a Religion without one Ceremony in it. The Religion of the Gospel is as pure from Fancies and Ceremonies, as from Pride and the Spirit of Dominion", aaO., S. 274. 418 Nr. 34 (7.9.1720), aaO., Bd. II, S. 14ff.; Nr. 6 6 - 6 7 , aaO., Bd. III, S. 112ff. 419 Vgl. Bulloch, aaO., S. 16. Abgedruckt in: A Collection of Tracts, Bd. II, S. 3 7 0 385. 4M AaO., S. 384. 421 „The Church proved a Creature of the Civil Power, by Acts of Parliament, and the Oaths of the Clergy", Nr. 13 (13.4.1720), aaO., Bd. I, S. 99ff. 422 Nr. 15 (27.4.1720), aaO., S. 115ff. 423 Nr. 14 (20.4.1720), aaO., S. 108ff. 424 Nr. 47 (7.12.1720), aaO., Bd. II, S. 144ff. 425 Nr. 48 (14.12.1720), aaO., Bd. II, S. 154ff.

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tischen Kampf gehört, wird u.a. an der anonym veröffentlichten Predigt deutlich, die (am 30. Januar 1732 gehalten, dem Gedenktag der Hinrichtung Karl I, der von den hochkirchlichen Predigern in unzähligen Gedenktagspredigten als Märtyrer gefeiert wurde 4 2 6 ) der 5. Auflage des „Independent Whig" beigefügt 427 war, und gerade gegen den hochkirchlichen Anspruch Front macht, indem sie das Andenken an Laud, den zweiten berühmten Märtyrer, dadurch herabsetzt, daß sie feststellt: ,JLaud and his Adherents were notorious Persecutors" 4 2 8 und die Regierungszeit Karl I als eine „continued Series of Oppressions" bezeichnet, die „had abolished Liberty and Law, and established universal Slavery". 429 Man erkennt in dem allen aber auch ein starkes puritanisches Erbe. Am deutlichsten ist es in der Skizze: „The Character of an Independent Whig" 430 , wo die moralische Untadeligkeit, die von einem Geistlichen zu fordern sei, und der falsche Respekt, der den priesterlichen Gewändern gezollt werde, gegenübergestellt und erklärt wird: „This consecrating of Garments, and deriving Veneration from a Suit of Cloaths, is barefac'd Priestcraft. It is teaching the Practice of Idolatry to a Gown and Cassock." 4 3 1 Besonders auffällig ist daneben die Invektive gegen Glücksspiel und vor allem Maskenbälle, die als „Schule des Lasters" bezeichnet und deren Wiedereinführung in England sogar als hinterlistige Machenschaften des französischen Gesandten mit der Absicht, die Engländer zu korrumpieren und zu versklaven, verdächtigt wird. 432 Auch das Verdikt gegen die Universitäten und theologischen Seminare fehlt nicht in diesem Whig-Bekenntnis. 433 Im Hinblick auf die Bibel ist der „Independent Whig" von 1720 jedoch auf dem Standpunkt Lockes stehengeblieben. „The Scriptures are justly stiled the Revealed Will of God; they are addressed to all Mankind, and given to remain as a Rule of Faith and Manners to the End of the World", heißt es ganz in der Art des liberalen Anglikanertums des 17. Jahrhun426 Vgl. Feiling, History, S. 409. AaO., Bd. III, S. 321ff. 428

AaO., S. 341. - Der gleiche Vorwurf erscheint auch in: The Character, S. 313. AaO., S. 363. Dabei wird allerdings der König als durch die damaligen Hochkirchler verführt entschuldigt, aaO., S. 365; vgl. auch „The Character", aaO., S. 313: „Laud, who having got the Regal Power out of a weak Prince's Hand into his own." 430 Vgl. ο. S. 540, Anm. 411. •»31 AaO., S. 312. 432 AaO., S. 326f. - Bulloch, aaO., S. 23, erwähnt noch einen „Essay on Publick Sports and Diversions", 1743, in dem Gordon, offensichtlich sarkastisch, seine Forderung in ihr Gegenteil verkehrt. (Zum Verständnis dieser Vorwürfe vgl. Bahlman, aaO., S. 5). 433 AaO., S. 318. Die gleiche Polemik in ironischer Form auch in: The Creed of an Independent Whig, S. 370f. 429

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derts. 434 „To fear God, and keep his Commandments, is the Summary of the Old Testament; and to believe that Jesus Christ is come in the Flesh, is the Compendium of the New." 4 3 5 Im zweiten Teil dieses Satzes erscheint also auch das Locke sehe Minimalbekcnntnis. 436 Nachdrücklich wird betont, daß die Schrift in diesen zentralen Punkten klar und deutlich sei.437 Glaubensbekenntnisse sind deshalb überflüssig (wie vor allem gegen Rom hervorgehoben wird) 438 : „we contend that the Scripture alone is a sufficient Rule of Faith and Practice." 439 Die Vernunft ist allein befugt, die Rechtmäßigkeit des Anspruches der Offenbarung zu prüfen. 440 Aber der in der Bibel mitgeteilte Wille Gottes ist materiell kein anderer als das Gesetz der Natur: „The Decalogue, or the Law of the Ten Commandments, delivered by God himself from Mount Sinai . . . was little else but the Law of Nature reduced into Tables, and expressed in Words of God's own chusing." 441 Entsprechend gilt, daß die Vernunft, die auch schon im Stande der Natur der einzige den Menschen gegebene Führer gewesen war, den Willen Gottes herauszufinden 442 , auch über die Offenbarung urteilen muß. Denn auch die biblische Offenbarung besteht aus Worten, und der Vernunft ist es überlassen zu bestimmen, welchen Sinn diese haben, sei es in der Ursprache oder den Übersetzungen. „The Spirit of God has invented for us no new ones . . . but must infallibly be the same to every Man." 4 4 3 „To conclude, Scripture, and Reason, without which Scripture can have no Effect, are the only Tests of every Falsehood and Imposture, and every Superstition." 444 Trotzdem war in diesen Jahren die Unruhe um die Bibel schon beträchtlich, auch wenn sie noch immer nicht voll zum Ausbruch kommen konnte. Die Freiheit der Meinungsäußerung, die seit der Glorious Revolution schon 434

Nr. 4 ( 1 0 . 2 . 1 7 2 0 ) , aaO., Bd. I, S. 23. Ebendort. 436 Vgl. a u c h aaO., S. 6 8 : „To believe that Jesus Christ was the only Son of G o d , was the great Principle of the Christian Religion." 437 AaO., S. 23; „Nothing is plainer than the Law and the Gospel", aaO., S. 25. Vgl. bes. Nr. 9 ( 1 6 . 3 . 1 7 2 0 ) : „Of the Clearness of Scripture", aaO., S. 6 3 f f . 438 Nr. 6 ( 2 4 . 2 . 1 7 2 0 ) , aaO., S. 3 8 f f . 439 AaO., S. 38. 440 ,.Almighty G o d will never require of us to see in the Dark, till he has given us new Eyes; nor to believe any Article, or o b e y any Precept, till we understand him, and know what he means", aaO., S. 24. Vgl. auch Nr. 35 ( 1 4 . 9 . 1 7 2 0 ) , aaO., Bd. II, S. 2 4 f f . 441 AaO., Bd. I, S. 67. 442 AaO., Bd. II, S. 24 — „and the Means of Self-preservation": auch Gordon vertritt eine eudämonistische Ethik. 443 AaO., S. 28. 444 AaO., S. 32. 435

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Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

in einem weit höheren Maße als je bestand, war dennoch nicht groß genug, daß eine direkte kritische Arbeit an der Schrift ohne Folgen für den Urheber möglich gewesen wäre. Ein Zeugnis dafür ist die zuerst anonym erschienene, nach Ausweis ihrer zehn bei Trinius verzeichneten Auflagen 4 4 5 enorm populäre, ebenfalls in den Bereich der Whig-Propaganda zu rechnende Schrift: „The Difficulties and Discouragements which attend the Study of the Scriptures in the way of private Judgement". Hier wird, unter dem Vorwand des wohlmeinenden Rates eines Geistlichen an einen anderen, der sich ernsthaft das Schriftstudium vorgenommen hat, von diesem besser abzusehen, eine scharfe Kritik an der derzeitigen Praxis der Kirche geübt, welche die Bibel für nichts achte (so daß sich die nähere Beschäftigung mit ihr, ganz abgesehen von allen damit verbundenen technischen Schwierigkeiten, für jemanden, der sich mit der Kirche gut stellen wolle, nicht lohne). Das aufwendige Schriftstudium bringe wenig Nutzen, weil das.orthodoxe Glaubensbekenntnis auf keiner kritischen Kenntnis der Heiligen Schrift beruhe. Schon zur Zeit der ökumenischen Konzile in den ersten Jahrhunderten, auf denen die entscheidenden Weichen für die dogmatische Entwicklung gestellt wurden, war z.B. das Alte Testament den wenigsten in der Ursprache verständlich (außer dem gerade als häretisch betrachteten Origenes). Da ein kritisches Urteil über die Schrift für die Gestaltung des Credos nicht nötig war, würden entsprechende Kenntnisse des modernen Beobachters nur seine Hochachtung für die Väter beeinträchtigen. Außerdem ist für das orthodoxe Bekenntnis allein die Tradition, nicht die Schrift, auf die es sich angeblich stützt, maßgebend. Deshalb gilt: „an exact and careful study of the Scripture, is not a safe and profitable study. 'Tis a much safer, as well as more compendious way to make a man orthodox, to study the tradition of the Church". 4 4 6 In dem gleichen sarkastischen Ton, in dem diese Bemerkung gehalten ist, geht es weiter: auch das ja ebenfalls mühsame Studium der gesamten Tradition sei nicht nötig, denn ,,the established church, you will allow, is orthodox in all necessary points . . . therefore you need only her opinions to make you orthodox". 4 4 7 Hierzu müsse man nur die Liturgie und die (39) Artikel lesen, und das könne man auch als ungelehrter Mann in kurzer Zeit in der eigenen Muttersprache tun. Dann habe man Zeit für andere Studien, ohne in Gefahr zu geraten, „of falling into any dangerous opinion". 4 4 8 445

A. Trinius, Freydenker Lexicon, S. 22f. Dort wird als Ersterscheinungsjahr 1714 angegeben, in dem von mir benutzten Nachdruck in: The Pillars of Priestcraft, Bd. IV, 1768, findet man 1716. Verfasser ist nach Whiston (Trinius) und Baron übereinstimmend Francis Hare (späterer Bischof von Chichester). 446 AaO., S. 15f. 447 AaO., S. 16. 448 AaO., S. 17.

Das Einsetzen der deistischen Debatte

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Außerdem, selbst wenn es nötig sei, die Schrift zu studieren: „in the last place I say, and I am sure the world will say it with me, that they have been sufficiently studied already" — wer wolle denn, selbst wenn er etwas Neues entdecke, sein privates Urteil der Erkenntnis so bedeutender, mit der Tradition ihrer Kirche vertrauter Männer entgegensetzen, denen noch dazu eine heutzutage unter den Gelehrten nicht mehr anzutreffende Frömmigkeit und Demut dabei zustatten kam? 4 4 9 (Gemeint ist die patristische Exegese, die für die Orthodoxie noch immer maßgeblich war.) Und gar wenn das Ergebnis gleich null ist, d.h., sich in keiner Weise bezahlt macht? Vor allem aber (und das sei der entscheidende Hinderungsgrund): „That a painful, exact, impartial study of the Scriptures, will by some be thought not only to do no good, but also a great deal of hurt, both to the public and to yourself." 4 5 0 Später wird es dann noch deutlicher gesagt: es ist der Mangel an Freiheit, der trotz der besten Absichten so mancher vorzüglicher Gelehrter und guter Protestanten, sich an ein solches Studium zu wagen, sie bisher davon abgehalten hat. „They found it was dangerous to examine impartially, and speak freely", sie mußten aus Furcht um ihre Sicherheit die groben Irrtümer vertuschen, die in der überlieferten Deutung der Schrift enthalten waren. 4 5 1 Deshalb haben die vorzüglichsten Köpfe ihre Lebensarbeit lieber den heidnischen Schriftstellern zugewandt und dort mehr emendiert und erklärt, als in zweihundert Jahren im gesamten Schriftkanon. Daher der Rat: „Tum yourself to the study of the heathen historians, poets, orators, and philosophers. Spend ten or twelve years upon Horace or Terence. To illustrate a billet-doux, or a drunken-catch; to explain an obscene jest; to make a happy emendation, on a passage that a modest man would blush at . . ," 4 5 2 Eine bittere Ironie? Scheinbar Ausdruck ohnmächtiger Wut der Unterdrückten, heiligen Eifers um das protestantische Schriftideal — und gerade damit ein gekonntes Beispiel der propagandistisch so wirksamen Art des Spottes, die Shaftesbury als schärfstes Mittel gegen den „Enthusiasmus" auf seine Fahnen schrieb und Swift, auf der anderen Seite stehend, zu unnachahmlicher literarischer Vollendung brachte. 4 5 3 449

AaO., S. 18. AaO., S. 19. 451 AaO., S. 48. 452 AaO., S. 49. 453 Zu Hares vorangegangenen Taten als politischer Pamphletist vgl. N. Sykes, Church and State, S. 59. Diese Vorgeschichte hindert an einer auf den ersten Blick auch möglich erscheinenden Deutung der Kampfschrift als einer für das puritanische Schriftideal eintretenden Äußerung. 450

35 Reventlow, Bibelautorität

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Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

Kapitel 2: Formen der

Apologetik

Es bedurfte nur noch kleiner Schritte, um die Kritik an der Bibel offen ausbrechen zu lassen, wie sie dann von den nachfolgenden Deisten ins Werk gesetzt wurde. a) Isaac Newton und seine Schule Neben (und nicht ohne Zusammenhang mit 1 ) den parteipolitischen Hintergründen der deistischen Bibelkritik ist auch an den überragenden Einfluß der „Neuen Philosophie" zu erinnern, die uns in der Gestalt von John Wilkins bereits begegnet war. Seit sie in der Royal Society 2 im Jahre 1660 eine wirkungsvolle wissenschaftliche Organisation gefunden hatte, hatte sie eine immer größere Popularität gewonnen. Sie besaß in den letzten Jahrzehnten dieses und den ersten des folgenden Jahrhunderts in Isaac Newton ihren überragenden wissenschaftlichen und philosophischen Führer. 3 Wollen wir die Bedeutung Newtons für die weitere Entwicklung richtig einschätzen, müssen wir allerdings zwischen den verschiedenen Gebieten, denen er seine Aufmerksamkeit zuwandte, sorgfältig unterscheiden. Erst vor kurzem ist in vollem Umfange die intensive Beschäftigung Newtons selbst mit theologischen Themen und vor allem solchen der biblischen Exegese (mit Schwerpunkten auf der Chronologie und der alt- und neutestamentlichen Apokalyptik [Dan. und Apkjoh., von Newton als )r Prophetie" bezeichnet]) bekannt geworden. Daß sie so lange im Dunkeln lag und deshalb auch keinen direkten Einfluß auf die Auslegungsgeschichte ausüben konnte, hängt damit zusammen, daß Newton seine auf diesem Felde liegenden Untersuchungen nicht zur Veröffentlichung bestimmte und sein handschriftlicher Nachlaß erst in den letzten Jahren der Forschung voll zur Verfügung steht. 4 1

Ihr Haupt spielte selbst eine bedeutende Rolle am englischen Hofe, s.u. Vgl. u.a. T. Sprat, History of the Royal Society (1667), ed. / . I. Cope and H. W. Jones, 1958; T. Birch, History of the Royal Society of London, 4 Bde., 1756; Η. Lyons, The Royal Society 1 6 6 0 - 1 9 4 0 , 1944. Vgl. auch R. F. Jones, Ancients and Moderns, S. 170ff. 3 Die materialreichste (wenn auch eine in ihrem Blickwinkel beschränkte und nicht unvoreingenommene) Biographie ist nach wie vor die von D. Brewster, Memoirs of the Life, Writings, and Discoveries of Sir Isaac Newton, 2 Bde. (1855), Reprint, ed. R. S. Westfall, 1965. Vgl. auch L. Τ. More, Isaac Newton: A Biography, 1934; Ε. N. da C. Andrade, Sir Isaac Newton, 1954 (auch als Paperback ed.), und zuletzt F. Ε. Manuel, Α Portrait of Isaac Newton, 1968. 4 Ein bedeutender Teil des Nachlasses, fast zwei Jahrhunderte im Besitz der Familie Portsmouth, wurde 1936 durch Verkauf in alle Winde zerstreut und erst nach dem Kriege an drei Orten (Cambridge [England], Wellesley [Mass.] und hauptsächlich Jerusalem) gesammelt und für die wissenschaftliche Auswertung zugänglich gemacht. 2

Formen der Apologetik

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Daß Newton sich so intensiv mit theologischen Problemen abgab, kann allerdings, selbst wenn es den Verfassern moderner Geschichten der Naturwissenschaft anstößig erscheinen mag, kaum überraschen, da auch seine Vorgänger wie Francis Bacon, John Wilkins, Robert Boyle noch aus einer Einheit des Denkens heraus lebten, zu der theologische Aspekte ganz selbstverständlich dazu gehörten. Selbst die Schüler Newtons, wie W. Derham, IV. Whiston, Α. A. Sykes, S. Clarke setzten diese Tradition in ihrer Art noch fort (nicht zufällig waren die meisten von ihnen Geistliche der Kirche von England). Die Ansichten Newtons auf den traditionelleren Gebieten der Theologie sind keineswegs singular, sondern reihen sich durchaus in das uns bekannte Bild ein. Viel Aufmerksamkeit ist der Tatsache zuteil geworden, daß Newton eine Form des „Arianismus" verteten habe. 5 Angesichts der entsprechenden Beschuldigungen gegen Locke6 und einer auch sonst verbreiteten unitarischen Neigung in der rationalen Theologie der Zeit 7 ist dies aber ein keineswegs auffälliges Detail. Manuel ordnet es sachgemäß in eine „Corrupters Ancient and Modern" überschriebene Vorlesung seines zuletzt veröffentlichten Zyklus ein 8 , in der er Thesen Newtons über die im Verlauf der Kirchengeschichte eingetretene Verfälschung eines von ihm Eingehend mit Newtons theologischen Arbeiten beschäftigt hat sich vor allem F. E. Manuel, Isaac Newton Historian, 1963; ders., The Religion of Isaac Newton, 1974 (vgl. dazu auch R.-D. Herrmann, The Religious and Metaphysical Thought of Isaac Newton, in: J R 56, 1976, S. 2 0 4 - 2 1 9 ) ; F. E. Manuel, A Portrait, S. 117ff. Eine schmale Auswahl theologischer Manuskripte wurde veröffentlicht von H. McLachlan, Sir Isaac Newton: Theological Manuscripts, 1950. Vgl. außerdem G. S. Brett, Newton's Place in the History of Religious Thought, in: Sir Isaac Newton: A Bicentenary Evaluation of his Work, 1928, S. 259—273 (leider unbrauchbar wegen mangelnder Quellenkenntnis); Ε. W. Strong, Newton and God, in: J H I 13, 1952, S. 1 4 7 - 1 6 7 ; R. S. Westfall, Science and Religion, S. 1 9 3 - 2 2 0 ; K. D. Buchholtz, Isaac Newton als Theologe, 1965 (gut informierender Uberblick über die wichtigsten hier relevanten Grundpositionen Newtons, aber auf dem Forschungsstand der Erstfassung, 1954, stehengeblieben, ohne Berücksichtigung der neueren Sekundärliteratur). Forschungsbericht (bis zum Erscheinungsjahr, aber mit Ausblicken darüber hinaus): I. B. Cohen, Newton in the Light of Recent Scholarship, in: Isis 51, 1960, S. 489—514 (zu den theologischen Arbeiten: S. 498ff.); vgl. auch die Bibliographie in ders., Introduction to Newton's .Principia', 1971, S. 355—368, sowie die bibliographische Übersicht von P. Gay, The Enlightenment II: The Science of Freedom, 1969, S. 6 1 0 - 6 2 1 . 5 Besonders der Unitarier McLachlan, Religious Opinions, hat diese Perspektive verfolgt, der auch seine Textauswahl (vgl. vorige Anm.) dient. Zum T h e m a vgl. auch Buchholtz, aaO., S. 32ff. 36ff. 60ff.; Manuel, Religion, S. 57ff. « Vgl. o. S. 403, Anm. 1 4 6 - 1 4 8 . 7 Vor den Konsequenzen eines offenen Bekenntnisses zum Antitrinitarismus in der Art seiner Schüler Whiston und Clarke ist Newton bezeichnenderweise, wie Locke, zurückgeschreckt. 8 Manuel, Religion, S. 53ff.

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Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

angenommenen reinen, undogmatischen Urchristentums aus dessen nachgelassenen Manuskripten zitiert, wie wir sie in ähnlicher Form immer wieder bei den Vertretern des rationalen Anglikanertums gefunden haben. In der Zeit der Apostel galt nach Newton nur ein kurzes, einfaches Glaubensbekenntnis, „easy to be understood and remembered by the common people" 9 ; daß er den Papisten, den antiken Philosophen (Metaphysikern) und den Enthusiasten die Schuld an der Verderbnis des Christentums gibt, ist ebenso wenig originell wie seine These, Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten seien die zwei Grundgebote der Religion, die auch Juden und Christen gemeinsam seien. 10 Die in seinen späteren Lebensjahren noch zunehmende Intensität seines Umganges mit der Bibel, vor allem dem Alten Testament, aber auch mit den frühen Kirchenvätern (die späteren hielt er für durch den Einfluß der antiken Philosophie depraviert) entspricht den Bildungsinhalten und Idealen der Zeit und verrät sicherlich Spuren der puritanischen Erziehung, die Newton wie mancher andere bedeutende Mann seiner Generation genossen hatte. 1 1 In diesen Kontext gehören auch einige andere auffällige Züge in seinem Werk: in seinem Bemühen, vor allem das alttestamentliche Israel hochzuhalten und seine Kultur für die älteste der Welt zu erklären, von der die gesamte Antike abhängig gewesen sei, nimmt er alte puritanische Überzeugungen auf, wie sie vor allem Gale in seinem „Court of Gentiles" in breiter Weise entfaltet hatte. 1 2 Wenn er dieses Bemühen in die Form von ausführlichen chronologischen Berechnungen kleidet, die auf den Zahlenangaben der Bibel basieren 13 , entspricht er auch damit einer wissenschaftlichen Methode der Zeit, für die James Usshers „Annales Veteris Testamenti" ( 1 6 5 0 ) das bekannteste Beispiel sind. Ganz neu ist nicht einmal Newtons Methode, hierfür astronomische Berechnungen hinzuzuziehen,

9 Yahuda MS. 15.5., fol. 9 8 v, zitiert von Manuel, aaO., S. 5 5 ; wie bei Locke findet sich auch bei Newton als Inhalt dieses Bekenntnisses: „And the gospel is that Jesus is the Christ", McLachlan, Theological Manuscripts, S. 31. 10 R.-D. Herrmann, aaO., betont mit Recht, daß auch Newton eine „Metaphysik" besaß. 11 Vgl. Manuel, Isaac Newton Historian, S. 9 7 ; ders., Religion, S. 11. — Zu Newtons religiösem Rationalismus und seinem Eintreten für die natürliche Religion, die er dem Christentum gleichsetzte, vgl. bereits R. S. Westfall, Isaac Newton, Religious Rationalist, in: RR 22, 1958, S. 1 5 5 - 1 7 0 , der zugleich die alte These William Laws u.a. zurückweist, Newton sei ein Mystiker und Schüler Jakob Boehmes gewesen. 1 2 Vgl. o. S. 4 9 9 , Anra. 178. F. Manuel hat dankenswerterweise auf diese Zusammenhänge hingewiesen, vgl. das Kapitel: „Israel Vindicated" in seinem „Isaac Newton Historian", S. 88ff. Vgl. auch den Zusammenhang mit dem sog. Euhemerismus; dazu Manuel, The Eighteenth Century confronts the Gods, 1959, bes. S. 112ff. 1 3 In dem „Abstract of Chronology" ( 1 7 2 5 ) , in der „Chronology of Ancient Kingdoms Amended" ( 1 7 2 8 ) und dem „Original of Monarchies" (bei Manuel, aaO., S. 1 9 9 - 2 2 1 ) .

F o r m e n der Apologetik

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denn ähnliches hatte schon Joseph Scaliger getan. 1 4 Alles dies, und auch seine Beschäftigung mit den Voraussagen der Prophetie (Daniel und dem Apokalyptiker Johannes), in der er mit vielen Zeitgenossen dem Beispiel Joseph Medes folgt 1 5 , würde in der Tat Newton keinen besonderen Platz in der Theologiegeschichte sichern — wenn nicht seine naturwissenschaftliche Forschung und die von dieser ausgehenden umwälzenden Folgen für die gesamte Geistesgeschichte der Neuzeit wären. Für die breitere Öffentlichkeit, die seine privaten theologischen Arbeiten nicht kannte, war Newton zeitlebens ein reiner Naturwissenschaftler. Seine hervorragenden Leistungen im Bereich der exakten Wissenschaften machten ihn hier zu einer unumschränkt herrschenden Autorität 1 6 ; vor allem seine Stellung als Präsident der Royal Society (seit 1 7 0 3 ) gab ihm einen immensen Einfluß auf das gesamte geistige Leben Englands, bis hinauf zum Hofe und den politisch einflußreichen Kreisen der Aristokratie. Nicht nur, daß Newton in der Ausübung seines Amtes genau darauf achtete, Verstöße gegen die Tradition der Gesellschaft, sich ausschließlich mit naturwissenschaftlichen Themen zu befassen und keinesfalls theologischen Aspekten Raum zu geben, auf jeden Fall zu verhindern 17 — auch in seinen eigenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen beschränkte er sich zuerst streng auf die immanenten Bezüge (so kam in der 1. Auflage seiner „Principia" das Wort „ G o t t " nur ein einziges Mal beiläufig vor). 1 8 Sein auf mechanischen Kausalitäten, die sich vollständig mathematisch berechnen lassen, aufbauendes Weltbild und insbesondere seine Thesen von der Existenz eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit machen den gegen ihn erhobenen Vorwurf verständlich, sein System habe gefährliche atheistische Konsequenzen. 1 9 Erst durch diese Kritik sah sich Newton veranlaßt, der 2. Auflage der „Principia" ein ausführliches „Scholium Generale" hinzuzufügen, in dem er die Linien von seinem mechanischen Weltsystem und seinen Auffassungen von einem absoluten Raum und einer absoluten Zeit zu einer von diesen vorausge14

/ . Scaliger,

Opus novum de emendatione t e m p o r u m , 1 5 8 3 .

Vgl. dazu Manuel, Religion, S. 8 6 f f . Insbesondere ist das Manuskript: „The Language of the P r o p h e t s " zu vgl. (Auszug bei McLachlan, Sir Isaac Newton: Theological Manuscripts, S. 1 1 9 - 1 2 6 ) . 16 Vgl. dazu Manuel, Portrait, Kap. 1 3 , S. 2 6 4 f f . : „The A u t o c r a t of S c i e n c e " (auch schon in: Daed. 9 7 , 1 9 6 8 , S. 9 6 9 - 1 0 0 1 ) . 1 7 Vgl. dazu Manuel, Portrait, S. 1 1 9 f . ; Religion, S. 3 0 f . 1 8 Berühmt geworden ist Newtons These in den (zum ungedruckten Nachlaß gehörigen) „Seven Statements on Religion": „That Religion and Philosophy are to be preserved distinct. We are not to introduce divine revelations into Philosophy nor philosophical opinions into religion." ( J e t z t abgedruckt in: McLachlan, Theological Manuscripts, S. 5 8 ) . ls

19

Vgl. Buchholtz,

aaO., S. 6 6 .

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Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

setzten, für ihn persönlich stets unangefochtenen Gottesvorstellung zieht. 2 0 Tatsächlich hatte sich Newton, wie aus seinen nachgelassenen Papieren hervorgeht, seit langem mit den Zusammenhängen zwischen Naturerkenntnis und Gotteserkenntnis beschäftigt; beide Gebiete waren auch für ihn entsprechend der Tradition des „Christian Virtuoso" eng miteinander verknüpft. 21 In dem „Scholium Generale" betont Newton, daß die Ordnung der Natur nicht ohne einen intelligenten Schöpfer zustande kommen konnte: „Dieses höchst elegante System der Sonne, der Planeten und der Kometen konnte nicht ohne den Plan und die Herrschaft eines intelligenten und mächtigen Wesens entstehen. Und wenn die Fixsterne die Mittelpunkte ähnlicher Systeme sind, unterstehen alle diese, nach ähnlichem Plan aufgebaut, der Herrschaft eines Einzigen." 22 Ähnlich hatte er auch in der 2. englischen Ausgabe der „Optics", in der Query 3 1 2 3 v o n der Ordnung der materiellen Welt auf ihren Schöpfer geschlossen: „ . . . all material things seem to have been composed . . . by the councel of an intelligent Agent. For it became Him who created them, to set them in order. And if he did so, it is unphilosophical to seek for any other origin 20

I. Newton, Opera quae exstant omnia, ed. S. Horsely, 5 Bde., 1779—85 (Reprint 1964), Bd. III, S. 1 7 0 - 1 7 4 (vgl. auch I. Neuiton, Principia, tr. A. Motte, ed. F. Cajori, 1934, Bd. II [ 5 1962], S. 5 4 3 - 4 7 ; ders., Philosophiae naturalis principia mathematica, 3rd. ed. in facsimile with variant readings, ed. A. Koyre and I. Β. Cohen, 1972, Bd. II, S. 759—765). In der 3. Auflage wurde das Scholium im Wortlaut leicht verändert, vgl. dazu Koyre-Cohen, aaO., kritischer Apparat. Zur Entstehung des Scholium vgl. außerdem Cohen, Introduction, aaO., S. 240—245. Über andere handschriftliche Versionen vgl. Manuel, Religion, S. 40, A n m . 23. Weitere Aussagen über Newtons Gottesvorstellung finden sich in Clarkes lateinischer Übersetzung der „Opticks", 1706, Quaestio XX. - E. W. Strong, Newton's „Mathematical Way", in: J H I 12, 1951, S. 9 0 - 1 1 0 , S. 101f., zeigt auf, daß Newtons These von Raum und Zeit als dem „Sensorium G o t t e s " in seinem Scholium die beiden Ebenen seines naturwissenschaftlichen Systems (die empirische und die mathematische Ebene) nicht tangiert, sondern eine dritte, zusätzliche Ebene darstellt. 21 Uber die durch Bacon und Boyle begründete Tradition zurück muß man hier an das alte Erbe der „natürlichen Theologie" erinnern, die seit der Scholastik, erst recht aber in den humanistisch geprägten Formen abendländischen Christentums, wenn auch in wechselnden Gestalten, eine entscheidende Rolle behalten hatte. Diese Rolle erklärt aber auch die Folgen, welche der Einbruch der modernen Naturwissenschaft und das durch sie von Grund auf veränderte Weltbild für die weitere Entwicklung der allgemeinen geistigen Situation im 18. J a h r h u n d e r t haben mußte. 22 „Elegantissima haecce Solis, Planetarum Sc Cometarum compages non nisi consilio Sc dominio Entis intelligentis Sc potentis oriri potuit. Et si stellae fixae sint centra similium systematum, haec omnia, simili consilio constructa, suberunt Unius dominio . . . " , Opera, ed. Horsely, Bd. III, S. 171 = Principia, ed. Koyre-Cohen, Bd. II, S. 760. 23 Opera, ed. Horsely, Bd. IV, S. 2 6 l f .

Formen der Apologetik

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of the world, or to pretend that it might arise out of a chaos by the mere laws of Nature; though being once formed, it may continue by those laws for many ages." Die gesamte Schöpfung, von den exzentrischen und doch geordneten Bahnen der Kometen bis zum wundersamen Körperbau des kleinsten Tieres zeugen von der Weisheit und dem Geschick eines allmächtigen und ewigen Handelnden. 24 Wird hier eine Linie angedeutet, die bei den Schülern Newtons eine immense Nachfolge finden sollte, kann man für diesen selbst auf das berühmte, wenn auch vereinzelt stehende Zeugnis aus dem „Scholium Generale" verweisen, in dem er nachdrücklich — ausdrücklich in Abwehr des Mißverständnisses, Gott sei nichts weiter als die anima mundi, aber auch im Gegensatz zu der Auffassung, die ihm nur die Rolle des ersten Veranlassers zugesteht — das Herrsein Gottes betont 2 5 : Gott wird auch Παντοκρατωρ genannt, der Name „Gott" ist ein Verhältnisbegriff, der sich auf Diener Gottes bezieht, und wenn das Verhältnis von Menschen zu Gott mit Wortverbindungen wie „mein Gott, euer Gott, Gott Israels" usw. ausgedrückt wird, zeigt sich darin, daß es sich um einen persönlichen, nicht um einen metaphysischen Gott handelt. 26 Auch im Verhältnis zu seinen Begriffen des absoluten Raumes und der absoluten Zeit hebt Newton Abstand und Souveränität Gottes hervor. 27 24

Ähnlich auch in dem bekannten 1. Brief an R. Bentley, Opera, ed. Horsely, Bd. IV, S. 429ff. 25 Manuel legt besonderes Gewicht auf diesen Gedanken, den er auch psychologisch aus den Jugendschicksalen Newtons als „Suche nach dem V a t e r " erklären möchte, vgl. Religion, S. 17; vgl. auch Portrait, S. 32. Auch Buchholtz, aaO., S. 69, sieht mit Recht in diesem Bekenntnis eine zentrale Aussage: ob sie sich allerdings zu Newtons Abgrenzung vom Deismus eignet, der doch ebenfalls einen persönlichen Gott kannte, bleibt zu bezweifeln! 26 „Hic omnia regit, non ut Anima mundi, sed ut universorum Dominus. Et propter dominium suum, Dominus Deus Παντοκράτωρ dici solet. Nam Deus est vox relativa, & ad servos refertur . . . Deus summus est Ens a e t e m u m , infinitum, absolute perfectum: sed Ens, utcunque perfectum, sine dominio, non est Dominus Deus. Dicimus enim Deus meus, Deus vester, Deus Israelis, Deus deorum, & Dominus dominorum; sed non dicimus Aeternus meus, Aeternus vester, Aeternus Israelis . . . Hae appelationes relationem non habent ad servos." Opera, ed. Horsely, Bd. IV, S. 171 f. = Principia, ed. Koyre-Cohen, Bd. II, S. 760f. - I. Hartiii, The Faith of Newton, in: JTVI 78, 1946, S. 75—84, hebt Newtons persönlichen Glauben hervor. — Manuel, Religion, S. 75, unterstreicht seinen „anti-metaphysical bias"; F. E. L. Priestley, The ClarkeLeibniz-Controversy, in: The Methodological Heritage of Newton, ed. R. E. Butts und J. W. Davis, 1970, S. 34—56, S. 45ff., führt genauer den Gegensatz dieser Aussage zu dem System der „great chain of Being" aus. 27 „Non est aeternitas & infinitas, sed aeternus & infinitus; non est duratio & spatium, sed durat & adest." Scholium generale, Opera, ed. Horsely, Bd. III, S. 172 = Principia, ed. Koyre-Cohen, Bd. II, S. 761. Vgl. auch „Optics", Query 31, Opera, Bd. IV, S. 262: „And yet we are not to consider the world as the body of God, or the several parts

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Darüber hinaus hat er, wie H. Metzger 28 und exakter H. Guerlac 29 gezeigt haben, in seinen Briefen an Bentley 1 6 9 2 / 3 3 0 und vor allem in der lateinischen Ausgabe seiner „Optics" von 1706 in seinem atomistischen Weltbild, das damals nur Materie und leeren Raum kannte, Gott die Rolle des Bewegers (für Schwer- und Anziehungskraft) zugewiesen, wie es vor ihm R. Cudworth getan hatte. 3 1 Die von ihm später (in der 2. englischen Auflage der „Optics" von 1717) übernommene Annahme eines alle Zwischenräume ausfüllenden Äthers erlaubte dagegen eine rein mechanische Welttheorie. So ist nicht das persönliche Glaubensbekenntnis Newtons, in dem noch puritanisches Erbe mitschwingt, sondern die innere Konsequenz des von ihm ausgearbeiteten mechanisch-mathematischen Weltsystems, das er zugleich ungeheuer populär gemacht hatte 3 2 , für die weitere Entwicklung bestimmend gewesen 3 3 ; zwangsläufig führte von ihm der Weg zu der positivistischen Weltthereof as the parts of God. He is an uniform Being, void of organs, members or parts; and they are his creatures subordinate to him, and subservient to his will . . . " Hieran schließt sich dann ein Gedanke an, der in Query 28 noch weiter entfaltet wird, wonach der Raum (entsprechend wie sich Newton bei Lebewesen ein „Sensoriu m " als Ort der inneren Wahrnehmung durch die Sinne vermittelter Eindrücke vorstellt) das Sensorium Gottes sein könnte („Does it not appear f r o m phaenomena, that there is a Being incorporeal, living, intelligent, omnipresent, who, infinite space, as it were in his sensory, sees the things themselves intimately . . . " , Opera, ed. Horsely, Bd. IV, S. 238). 28 H. Metzger, Attraction universelle, S. 55ff. 29 M. Boas und R. Hall, Newton's .Mechanical Principles', in: J H I 20, 1959, S. 1 6 7 - 7 8 ; H. Guerlac, Newton et Epicure (Conference donnee au Palais de la Dicouverte le 2 Mars 1963 (Αΐεηςοη), bes. S. 26ff. 30 Faksimile der Originalausgabe (1756) bei I. Β. Cohen (Hrsg.), Isaac Newton's Papers & Letters on Natural Philosophy, 1958, S. 2 7 1 - 3 1 2 . 31 Diese Präzisierung ist eine notwendige Korrektur der noch immer verbreiteten populären Auffassung, Newton habe von Anfang an ein „Uhrwerk-Universum" konzipiert, in dem Gott nur noch die Rolle des ersten Bewegers zufiel. So z.B. H. Butterfield, Newton and his Universe, in: The History of Science. Origins and Results of the Scientific Revolution, 1951 (5. Reprint 1963), S. 7 7 - 8 6 , S. 86; vgl. auch Β. Willey, How the Scientific Revolution of the Seventeenth Century Affected other Branches of Thought, ebd., S. 87—96, S. 94. — Auf der anderen Seite hat Newton nicht einfach Cudworths Auffassung übernommen. Vielmehr ist er im Gefolge des Cambridger Neuplatonismus in selbständiger Aufarbeitung antiker Traditionen, wie seine „klassischen" Scholia zeigen, zu der Ansicht gekommen, daß seine Naturphilosophie bereits von den Alten vertreten worden sei. Vgl. dazu J. E. McGuire und P. M. Rattansi, Newton and the ,Pipes of Pan', in: Notes and Records of the Royal Society 21, 1966, S. 1 0 8 - 1 4 3 . 32 Seine Relevanz hat in klassischer Weise Ε. A. Burtt, The Metaphysical Foundations of Modern Physical Science, 2 1932 (Reprint 1967), dargestellt. 33 S. L. Bethell, The Cultural Revolution of the Seventeenth Century, 1951 (Reprint 1963), S. 57ff., weist nach, daß durch die Newton sehe Sicht des Universums Gott als Faktor wissenschaftlichen Denkens überflüssig gemacht wurde. Daß dadurch die Theo-

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auffassung der französischen Aufklärung und des 19. Jahrhunderts, die auf Gott schließlich auch als prima causa verzichten k o n n t e . 3 4 Dies geschah gewiß ganz gegen die eigenen Intentionen Newtons35, aber doch nicht ohne seine Mitschuld, denn nicht der persönliche Herr, an den er privat glaubte und dem er in seiner Beschäftigung mit der apokalyptischen Prophetie als dem auf ein Ziel dieser Welt mit den Menschen hin Handelnden begegnet war, sondern Gott, der Lenker des in vollkommener Weise geordneten Weltsystems wurde zunächst von zahllosen seiner Anhänger begeistert gefeiert 3 6 (die hier ihr Bedürfnis nach natürlicher Theologie erfüllt sahen), fiel dann aber der Kritik Humes, der Radikalen und Kants zum Opfer, so daß nichts als der bei Newton schon in seinen Grundlagen vorhandene Materialismus übrigblieb. Diese Entwicklung reicht über den hier zu behandelnden Zeitraum des englischen Deismus hinaus. Ihre erste Stufe, die sog. ) r Physico-Theologie", erreichte dagegen bereits zu Lebzeiten Newtons, von ihm offensichtlich gefördert, unter den Newtonianern eine erstaunliche Blüte. D e n Anfang dazu machte Richard Bentley31 in seinen berühmten Boyle Lectures von 169 2 3 8 , mit denen er als erster den in Boyles Testament 3 9 ausgesprochenen Auftrag

logie aus der Wissenschaft herausgedrängt wurde, „was the real revolution of the seventeenth century, a revolution f r o m which we have not yet recovered", aaO., S. 63. 34 Daß auch der Positivismus nicht ohne Metaphysik auskommt, wenn er sie auch ins Unterbewußte verdrängt, hat Burtt, aaO., S. 223ff., gezeigt. 35 Manuel, Religion, S. 49, meint, Newton habe gegen Ende seines Lebens die Verselbständigung des säkularen Newtonianismus noch selbst gespürt. 36 Uberblick über die Hauptvertreter bei H. Metzger, aaO. Vgl. auch P. Casini, L'universo. Für Newton selbst war seine voluntaristische Gottesauffassung mit seinem naturwissenschaftlichen Weltbild durch die methodische Trennung beider Bereiche noch gut vereinbar; die Eigengesetzlichkeit seines Systems konnte er noch nicht überblicken. Vgl. zu den Unterschieden zwischen Newton und Leibniz in dieser Hinsicht M. R. Perl, Physics and Metaphysics in Newton, Leibniz, and Clarke, in: J H I 30, 1969, S. 507—526, bes. S. 523ff. 37 Vgl. zu ihm / . H. Monk, Life of Richard Bentley, 2 Bde., 6 1 8 3 3 (Reprint 1969); H. Metzger, aaO., S. 79ff.; Casini, L'universo, S. 55ff. 38 Zu den Erstdrucken und weiteren Ausgaben vgl. Α. T. Bartholemew and J. W. Clark, Richard Bentley, D. D., A Bibliography, 1908; zum Inhalt A. Koyre, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum (= From the Closed World to the Infinite Universe, 1957), 1969, S. 164ff. Benutzt wurde außer dem Faksimile-Teildruck der Erstausgabe (1963) bei I. B. Cohen (Hrsg.), Isaac Newton's Papers, S. 3 1 3 - 3 9 4 , die Ausgabe in: The Works of R. B., ed. A. Dyce, 1 8 3 6 - 3 8 (Reprint 1971), Bd. III, S. 1 - 2 0 0 . 39 Genauer in einem ersten Nachtrag zu diesem Testament; vgl. den Wortlaut in: The Works of the Honourable Robert Boyle, ed. Τ. Birch, 5 Bde., 21772 (Reprint 1965), Bd. I, S. CLXVII. — Zu den Boyle Lectures und zum Folgenden vgl. auch Redwood, Reason, Ridicule and Religion, S. 103ff.

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erfüllte: „for proving the Christian Religion, against notorious Infidels, viz. Atheists, Theists, Pagans, Jews, and Mahometans . . . " Das Unternehmen verfolgte also, der Absicht des Stifters entsprechend, ein ausgesprochen apologetisches Ziel 40 , sein Hauptargument war der teleologische Gottesbeweis. Bentley führte ihn auf zwei Gebieten: anhand des wunderbaren Aufbaus des menschlichen Körpers 41 und von Ursprung und Ordnung des Kosmos her. 42 Während das erste Thema bald darauf in John Rays „Three Physico-Theological Discourses" (1693) breit entfaltet wurde, stützt sich Bentley für das zweite, besonders in den beiden letzten Predigten, weitgehend auf die Arbeitsergebnisse Newtons selbst. Infolgedessen ist die Frage viel erörtert worden, wieweit Newton persönlich nicht nur bei der Auswahl des Predigers 43 , sondern auch innerlich bei seinem teleologisch-apologetischen Anliegen beteiligt war, wofür der Anfang des ersten seiner vier Briefe an Bentley44 gern zitiert wird. Einige Betrachter zweifeln, ob die Worte: „When I wrote my treatise about our Systeme I had an eye upon such Principles as might work with considering men for the beliefe of a Deity Sc nothing can rejoyce me more than to find it useful for that purpose" ganz ernst gemeint seien, da die Erstauflage der „Principia" keine derartige Absicht verrate. 45 Doch entspricht die Tendenz der Predigten Bentleys so sehr dem, was Newton später selbst über den Hinweischarakter seiner Weltbeobachtungen auf Gott als den in der Welt planvoll Handelnden gesagt hat 4 6 , daß man doch besser mit voller Zustimmung des Meisters wird rechnen dürfen. 47 Tatsächlich hat Manuel recht, daß Newton trotz seiner partiellen Aufmerksamkeit darauf, daß die Bereiche von Naturwissenschaft 40

Zu den Einzelheiten der Vorbereitung vgl. außer Monk, aaO., Bd. 1, S. 37ff., neuerdings H. Guerlac und M. C. Jacob, Bentley, Newton, and Providence, in: JHI 30, 1969, S. 307—318; vgl. außerdem P. Miller, Bentley and Newton, in: Isaac Newton's Papers and Letters on Natural Philosophy, ed. I. B. Cohen, 1958, S. 2 7 1 - 3 9 4 . 41 Predigt I I I - V (2.5.1692; 6.6.1692; 5.9.1692). 42 Predigt VI—VIII; sie tragen den gemeinsamen Titel: ,,A Confutation of Atheism from the Origin and Frame of the World", Works, Bd. III, S. 119. 43 Vgl. dazu Guerlac-Jacob, aaO., S. 316ff. 44 Jetzt in: Correspondence of Isaac Newton, ed. H. W. Turnbull, Bd. III, 1961, S. 233. 45 So z.B. Guerlac-Jacob, aaO., S. 31 If. 46 Vgl. z.B. den zusammenfassenden Schluß Bentleys, aaO., S. 200: „For such an usefulness of things, or a fitness of means to ends, as neither proceeds from the necessity of their beings, nor can happen to them by chance, doth necessarily infer that there was an intelligent Being, which the author and contriver of that usefulness." 47 So meint Manuel, Portrait, S. 125, wohl mit Recht, Newton sei „genuinely pleased" gewesen, daß Bentley sein in den „Principia" entwickeltes System als so brauchbar zu einer mächtigen Waffe gegen den Atheismus erwiesen habe. Vgl. auch Casint, L'universo, S. 62.

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und Theologie nicht miteinander vermengt würden, zu einem großen Teil an dieser Vermischung selbst mit schuld ist. 4 8 Nach dem Vorangehen Bentleys folgten dann eine große Zahl ähnlicher, zum Teil phantastischer Physico-Theologien. Herder kannte 1774 fünfzig derartige Systeme. 4 9 Eine Reihe von ihnen wurden zuerst in den Boyle Lectures vorgetragen: dazu gehören die acht Predigten von 1704, die S. Clarke im folgenden Jahr unter dem Titel: „A Demonstration of the Being and Attributes of G o d " veröffentlichte s o , in denen er in enger Übereinstimmung mit Newton die Existenz Gottes als eines ewigen, unveränderlichen und allgegenwärtigen Wesens, das mit Freiheit, unbeschränkter Macht und grenzenloser Güte ausgestattet ist, aus dem Ursprung der Materie und ihrer Bewegung, wie auch aus der Vollkommenheit der Schöpfung erwies (insbesondere gegen Hobbes, Spinoza, wie der erweiterte Titel sagt — die notorischen Atheisten!) und zum Abschluß (als Uberleitung zu dem Thema der Predigten des folgenden Jahres, in denen es um die Ethik gehen sollte) von der moralischen Vollkommenheit dieses Gottes sprach. 51 Dazu gehört weiter W. Derhams: „Physico-Theology: or a demonstration of the Being and Attributes of God, from his works of creation", 1715 (die Boyle Lectures für 1711/2). S 2 Exemplarisch als Beispiel des Newtonianismus in der Theologie sind John Craigs „Theologiae Christianae Principia Mathematica", 1699. S 3 Eine besondere Aufmerksamkeit hat die Korrespondenz zwischen Samuel Clarke und Leibniz in den Jahren 1 7 1 5 - 6 gefunden. 5 4 Hierzu kann man bemerken, daß Clarke ein recht treuer Sach« Manuel, Religion, S. 39. 49 ]. G. Herder, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, in: Werke, ed. B. Suphan, Bd. VI, 1883 (Neudruck 1967), S. 202. so Faksimile-Neudruck 1964 (zusammen mit: A Discourse concerning the Unchangeable Obligations of Natural Religion, 1706). Vgl. dazu auch Metzger, Attraction Universelle, S. 115ff. 51 Vgl. u. S. 559, Anm. 70. 52 Das Werk erlebte 12 Auflagen bis 1754; mir lag eine deutsche Ubersetzung, hrsg. v. J. A. Fabricius, 1741, vor. — Außerdem erschien von Derham noch eine „Astro-Theology; or a demonstration of the being and attributes of God from a survey of the Heavens", 1715. — Zu Derham vgl. auch Metzger, aaO., S. 155ff; Casini, L'universo, S. 149ff. 53 Mir lag die Ausgabe von ]. D. Titius, Leipzig 1755, vor. 54 Neuausgaben: The Leibniz-Clarke-Correspondence, ed. H. G. Alexander, 1956; Correspondance Leibniz-Clarke presentee d'apres les manuscrits origineaux des bibliotheques de Hannovre et de Londres, ed. A. Robert, 1957 (außerdem existiert noch eine russische Ausgabe, 1960). Der Briefwechsel ist auch enthalten in: Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz, hrsg. v. C. J. Gerhardt, Bd. VII, 1931, S. 3 4 7 - 4 4 0 . Dazu u.a. C. D. Broad, Leibniz' Last Controversy with the Newtonians, in: Theoria, Bd. 12, 1946, S. 1 4 3 - 6 8 ; A. Koyre and I. B. Cohen, The Case of the Missing Tanquam;

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waiter der Anliegen Newtons ist, der vor allem Gottes Freiheit und seine dynamische Rolle gegenüber einem fortgehenden und auf ein Ende zulaufenden Weltgeschehen betont und sich dem rein statischen Weltbild Leibnizens widersetzt. 55 Man wird also sagen können, daß die Newtonianer durchaus im Sinne ihres Meisters den persönlichen Gott im Rahmen eines gemäßigten Voluntarismus 56 festzuhalten suchen, oder, anders gesagt, daß sie der Providentia specialis gegenüber der Providentia generalis einen gewissen Raum belassen wollen und sich deshalb — das ist wohl die wichtigste Frontstellung Clarkes in seinem Briefwechsel gegen Leibniz — gegen den konsequenten Rationalismus wehren. Auf der anderen Seite gilt aber doch: „For Clarke and Newton, undoubtedly, the created universe is ultimately and completely a manifestation of total providence." 5 7 Hier ist also doch nur eine Übergangsposition bezogen, die sich auf die Dauer nicht halten ließ. Recht deutlich kann man das z.B. an dem Rahmen der wohl bedeutendsten Darstellung der Newtonschen Physik: in dem Werk von C. Maclaurin: ,,Αη Account of Sir Isaac Newtons' Philosophical Discoveries" 5 8 , erkennen, dem es viel leichter von der Hand geht klarzumachen, wie die in allen Teilen der Welt zu beobachtende hervorragende Ordnung gleichsam von selbst auf den Veranlasser hinweist, der diese Strukturen erschaffen und diese Bewegungen in Gang gebracht hat, wie seine zweite Aussage plausibel zu machen, daß dieser Gott nach wie vor in dieser Welt handelnd eingreife. 59 Leibniz, Newton and Clarke, in: Isis 52, 1961, S. 555—566; dieselben, Newton and the Leibniz-Clarke-Correspondence, with Notes on Newton, Conti and Des Maizeaux, in: AIHS 15, 1962, S. 6 3 - 1 2 6 ; A. R. and Μ. B. Hall, Clarke and Newton, in: Isis 52, 1961, S. 5 8 3 - 5 8 5 ; M. R. Perl, aaO.; F. E. L. Priestley, aaO.; H. Erlichson, The Leibniz-CIarke-Controversy, in: AmJPh 35, 1967, S. 8 9 - 9 8 . 5 5 Vgl. hierzu bes. Priestley, aaO., sowie D. Kubrin, Newton and the Cyclical Cosmos: Providence and the Mechanical Philosophy, in: JHI 28, 1967, S. 3 2 5 - 3 4 6 . - M. R. Perl, aaO., sucht nachzuweisen, daß Clarke die mathematischen und physikalischen Lehren Newtons nicht richtig verstanden habe, aber diese Frage ist hier irrelevant. 56 Vgl. Priestley, aaO., S. 44. 57 Priestley, aaO., S. 52. 58 1 748 (Reprint 1968). 5 9 Vgl. aaO., S. 381f. Den ersten Punkt behandelt er als sofort einleuchtend: „a manifest contrivance immediately suggests a contriver". Die Schwächen dieser Argumentation sind erst viel später, letztlich erst von Kant, ans Licht gebracht worden. Der zweite wirft die Frage auf, ob denn die innersten Bewegungen in den Körpern, von denen er als Beweis für Gottes fortwährende aktive Gegenwart spricht, tatsächlich diesen Beweis liefern können, denn wenn es für diese Bewegungen physikalische Erklärungen gibt, ist ein ständiger Beweger für sie entbehrlich. Diesen Einwand hatte substantiell schon Leibniz gegen Clarke erhoben; tatsächlich war auch das Newtonsche Weltbild für den Gedanken eines von Gott durch die Geschichte hindurch gestalteten Kosmos ungeeignet. Vgl. dazu auch Priestley, aaO., S. 51f.

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Ein R ü c k z u g s g e f e c h t w a r l e t z t e n E n d e s a u c h das w e i t e r e A n l i e g e n , das Newton

u n d seine S c h u l e b e w e g t e , d e n S c h ö p f u n g s b e r i c h t der G e n e s i s m i t

d e m n e u e n naturwissenschaftlichen Weltbild zu harmonisieren. Außer Thomas Whistons

Burnets

„Telluris T h e o r i a S a c r a " 6 0 ist hier b e s o n d e r s

William

,,A N e w T h e o r y o f t h e E a r t h " z u n e n n e n 6 1 , der d i e m o s a i s c h e

D a r s t e l l u n g als b i s in alle E i n z e l h e i t e n h i n e i n i m W o r t s i n n h i s t o r i s c h z u verlässig b e h a n d e l t . Whiston

n a h m Newtonsche

Astronomie zu Hilfe, u m

zu b e w e i s e n , daß die Sündflut durch den V o r b e i z u g eines großen K o m e t e n g e n a u a m 2 7 . N o v e m b e r d e s 1 . 7 0 0 . J a h r e s n a c h der S c h ö p f u n g hervorger u f e n w u r d e . 6 2 A u c h w e n n e s u n h i s t o r i s c h g e d a c h t w ä r e , über derartige V e r s u c h e z u l ä c h e l n , k o n n t e e i n e s o l c h e F o r m der A p o l o g e t i k d o c h n i c h t lange ü b e r z e u g e n u n d trug a u f ihre Weise d a z u b e i , die Kritik der D e i s t e n an der B i b e l z u i n t e n s i v i e r e n . W o h i n d i e D i n g e l i e f e n , k a n n m a n schlagartig an e i n e r bei Whiston

berichte-

t e n E p i s o d e e r k e n n e n , d e r v o n ,,a certain C l u b o f P e r s o n s " b e r i c h t e t , „ n o t o v e r r e l i g i o u s l y d i s p o s ' d , w h o b e i n g s o b e r l y a s k e d , a f t e r D r . B e n t l e y ' s re60

Telluris Theoria Sacra: orbis nostri originem & mutationes generates, quas aut j a m subiit, aut subiturus est, complectens, 2 Bde., 1681—89. 61 Der barocke Titel gibt den gesamten Inhalt: „A New Theory of the Earth, from its Original, to the Consummation of all Things, wherein the Creation of the World in six Days, the Universal Deluge, and the Great Conflagration, as laid down in the Holy Scriptures, are shewn to be perfectly agreeable to Reason and Philosophy. With a discourse concerning the Mosaick History of the Creation", 1696. Auf S. 3 heißt es: „The Mosaick Creation is not a Nice and Philosophical account of the Origin of All Things, but an Historical and True Representation of the formation of our single Earth out of a confused Chaos, and of the successive and visible changes thereof each day, till it became the habitation of Mankind" (zitiert auch von Manuel, Religion, S. 37). Auch die spätere Arbeit Whistons'· „Astronomical Principles of Religion, Natural and Revealed", 1725, hat noch das gleiche Ziel, nicht nur die natürliche Religion nachzuweisen, sondern von den gewonnenen Kenntnissen über das System des Universums her auch die Wahrheit der biblischen Offenbarung von J u d e n und Christen („die beiden göttlichen Bücher" zu vergleichen, S. 133). Unter den Gründen, die er am Ende seines Werkes für seinen Glauben an die Wahrheit der jüdischen und christlichen Offenbarungen nennt (S. 259—261) stehen drei am Anfang: „I. T h e Reveal'd Religion of the J e w s and Christians lays the Law of Nature for its Foundation . . . II. Astronomy, and the rest of our certain Mathematick Sciences, do confirm the Accounts of Scripture . . . III. The anciest and best Historical Account now known, do generally speaking, confirm the Accounts of Scripture", S. 259. — Zu Whistons beiden Werken vgl. auch Η. Metzger, Attraction Universelle, S. 96ff.; Casini, L'universo, S. 83ff.; Redwood, Reason, Ridicule and Religion, S. 123f. Redwood, Anm. 64 auf S. 249, ist mit Recht erstaunt, daß der sehr interessante Whiston bisher noch keinen Biographen gefunden hat. 62

Statt dessen wollte John Woodward, An Essay toward a Natural History of the Earth, 1695, die Zuverlässigkeit der biblischen Flutgeschichte aus fossilen Uberresten beweisen.

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markable Sermons at Mr. Boyle's Lectures, built upon Sir Isaac Newton's Discoveries, and Ievell'd against the prevailing Atheism of the Age, What they had to say in their own Vindication against the Evidence produc'd by Dr. Bentley? The Answer was, That truly they did not well know what to say against it, upon the Head of Atheism: But what, say they, is this, to the Fable of Jesus Christ?" Whiston fügt hinzu: „And ... it may, I believe, be justly observ'd, that the present gross Deism, or the Opposition that has of late so evidently and barefacedly appear'd against Divine Revelation, and the Holy Scriptures, has taken its Date in some Measure from that Time." 6 3 Praktisch arbeiteten die Newtonianer den Deisten, die sie bekämpfen wollten, und den Atheisten (damals noch eher eine Schimäre als eine echte Gefahr, aber ihre Stunde kam in der zweiten Jahrhunderthälfte) auf die Dauer nur in die Hände. 64 Auch der unter ihnen weitverbreitete Arianismus (dem u.a. Newton selbst, Clarke, am unbekümmertsten aber Whiston anhingen 65 ), ist ein untrügliches Zeichen dafür, daß die Gottesanschauung dieser Männer sich vorwiegend an dem „Buch seiner Werke" 66 orientierte. Vor allem aber gewann die moralistische Ethik, lebendig schon als Erbe der humanistischen Theologie, in der „neuen Philosophie" eine zusätzliche Basis, die sie von der Bibel, und damit mehr und mehr von der Theologie überhaupt, immer unabhängiger machte. b) Die rationalistische Apologetik:

Samuel Clarke und Joseph

Butler

Unter den Newtonianern waren die bedeutendsten Vorkämpfer des ethischen Rationalismus Samuel Clarke 67 und — mit diesem freundschaftlich verbun63

Whiston, Astronomical Principles, S. 243. Außerhalb des engeren Kreises der Newtonianer, aber in ähnlicher Richtung einflußreich war auch die Arbeit von William Wollaston, Religion of Nature Delineated, 1724, die unter anderem von der Königin Karoline dreimal gelesen wurde, vgl. Mossner, Bishop Butler, S. 4. 65 Der deshalb 1710 aus allen Ämtern in Cambridge, auch von dem Lehrstuhl für Mathematik, den er 1701 als Nachfolger Newtons eingenommen hatte, entfernt wurde. — Vgl. dazu E. Duffy, „Whiston's Affair": The Trials of a Primitive Christian 1709— 1714, in: JEH 27, 1976, S. 1 2 9 - 1 5 1 . 66 Vgl. dazu auch Francis Bacon, The Advancement of Learning and New Atlantis, Buch I, 1.3 (Neuausgabc 1951, S. 11): „Let no man upon a weak conceit of sobriety or an illapplied moderation think or maintain, that a man can search too far, or be too well studied in the book of God's word, or in the book of God's works, divinity or philosophy . . . " Zum Thema der beiden „Bücher" vgl. auch Manuel, Religion, S. 27ff. 67 Die Literatur über Clarke ist, abgesehen von dem Thema seiner Korrespondenz mit Leibniz, leider sehr spärlich; aus neuerer Zeit sind lediglich E. Albee, Clarke's Ethical Philosophy, in: PhRev 37, 1928, S. 3 0 4 - 2 7 . 4 0 3 - 4 3 2 , und Ε. Garin, Samuel 64

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den, wenn auch schon einer jüngeren Generation angehörend und deshalb zu Newtons Einfluß schon etwas distanziert — Joseph Butler, der in seinem Werk gewissermaßen die Gesamternte des Rationalismus einbrachte. Die eigentümlichen Wirkungen des Newtonschen Denkens auf die Theologie und insbesondere die Ethik kann man am deutlichsten an Clarkes Boyle Lectures der Jahre 1704 und 1705 ablesen. Die „Demonstration" von 1704 (veröffentlicht 1705) und die Predigten von 1705 über die Grundlagen der Ethik (veröffentlicht 1706 unter dem Titel: )r A Discourse concerning . . . Natural Religion" 6 8 ) sind als ein zusammenhängendes Ganzes gedacht: Clarke wollte seine Ethik konsequent aus seiner Naturphilosophie und Gotteslehre entwickeln. Die Art, wie er dieses Unternehmen durchführt, läßt allerdings schon auf den ersten Blick das tödliche Dilemma erkennen, in das die Afetuion-Schule mit ihrem Versuch geraten mußte, das christliche und das antike Erbe auf dem Boden eines mechanisch-dynamischen Weltbildes miteinander zu versöhnen. Bereits E. Albee, der als einziger gründlich die beiden Werke Clarkes analysiert hat 6 9 , hat den tiefen Dualismus gesehen, der sich durch beide hindurchzieht. Allerdings ist ihm das Ausmaß dieses Dualismus, offensichtlich weil ihm die Theologie Newtons und deshalb auch der Grad der Abhängigkeit Clarkes von dieser noch nicht bekannt war, nicht einmal voll bewußt geworden. Albee versteht die „Demonstration" noch als im wesentlichen kohärent: sie sei in ihrem Hauptteil beherrscht von dem Gedanken der Freiheit Gottes und der These, daß die jetzige Ordnung der Welt von dessen willkürlichen Setzungen geschaffen sei und als solche von der Existenz ihres Schöpfers zeuge. Von daher muß ihm die Proposition XII, in der Clarke aus dem Grundsatz, daß Gott als suprema causa ein Wesen von unendlicher Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit sein müsse 70 , die Folgerung zieht, daß sein Handeln notwendigerweise auch immer von dem bestimmt sein muß, was jeweils diesen Maßstäben entspricht 7 1 , als eine vollkommene Kehrtwendung Clarkes in

Clarke e il razionalismo inglese del secolo XVIII, in: Sophia 2, 1934, S. 106—116. 294—304. 385—426 (vgl. auch ders., L'illuminismo inglese. I Moralisti, 1941) zu nennen. Vgl. außerdem Casini, L'universo, S. 109—148. 68 Neudruck vgl. o. S. 555, Anm. 50. » AaO. 10 „The supreme Cause and Author of all things must of necessity be a Being of infinite goodness, justice, and truth, and all other perfections, such as become the supreme Judge and Governor of the world", aaO., S. 233. 71 „From hence it follows, that though God is a most perfectly free Agent, yet he cannot but do always what is Best and Wisest in the whole." AaO., S. 247. Die Marginaliiberschrift zu dieser Unterthese lautet: „Of the Necessity of God's doing always what is Best and Fittest in the whole."

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seinem Ansatz vorkommen. 72 In Wirklichkeit handelt es sich um einen inneren Widerspruch, der in der gesamten Argumentation der Newtonianer angelegt ist. Schon vorher hatte Clarke auf der Linie des ontologischen Gottesbegriffes von der Vollkommenheit Gottes gesprochen, der nicht nur unendlich gut und gerecht, sondern auch unendlich weise ist 7 3 ; auch seine unbegrenzte Macht 7 4 und seine unbegrenzte Freiheit 75 sind als Infinitesimalvorstellungen im gedanklichen Rahmen dieses ontologischen Ansatzes geformt. Weil aber Freiheit als Möglichkeit nicht vorherbestimmbaren Handelns dieses ontologische System sprengt, entsteht eine Antinomie, der Clarke auch mittels der von ihm geprägten Formel „Fitness of Things" nicht Herr werden kann. „Fitness of Things" ist für ihn Maßstab göttlichen wie auch menschlichen Handelns; mit ihm versucht er die Ethik unmittelbar aus der Kosmologie zu entwickeln. Ein gedanklicher Umweg versucht Freiheit und Gebundenheit Gottes miteinander zu verknüpfen: Gott war keineswegs gezwungen, die Welt zu erschaffen, da er in sich unendlich glücklich und allgenugsam war; er hätte sie auch nach der Schöpfung nicht erhalten müssen. „But it was Fit, and Wise, and Good, that Infinite Wisdom should Manifest, and Infinite Goodness Communicate it self: And therefore it was Necessary . . . that Things should be made at such Time . . . " „And when and whilst Things are in Being, the same Moral Perfections make it Necessary, that they should be disposed and governed according to the exactest most unchangeable Laws of Eternal Justice, Goodness and Truth . . . " 7 6 Hier schleicht sich dann sofort das ontologische Argument ein: „Because while Things and their several Relations are, they cannot but be what they are; and an infiniteley Good Being, cannot but choose to act always according to this Knowledge of the respective Fitness of Things . . . " 7 7 Gehen wir nun zu dem „Discourse" über, in dem Clarke sein System der Ethik entwickelt, zeigt sich dieselbe Unausgeglichenheit zwischen zwei einander antinomen Grundvoraussetzungen wie in der Remonstration", nur in einem gewissermaßen spiegelbildlichen Duktus. Seine grundlegende These zur Ethik ergibt sich für Clarke zunächst unmittelbar aus den am Ende der 7 2 „Seidom does one encounter, even in the popular literature of philosophy or theology, so substantial a recantation presented as the triumphant concluding of an elaborate chain of argument", aaO., S. 324. 73 Prop. XI, Demonstration, S. 221ff. 7 4 Prop. X, aaO., S. 150ff. 7 5 Prop. IX, aaO., S. 126ff. 7 6 AaO., S. 249. Albee, aaO., S. 416, verweist darauf, daß dieses Argument, das einen Kompromiß zwischen Theologie und Philosophie zu finden versucht, ganz ähnlich auch bei Cumberland und Leibniz vorkommt. 7 7 AaO., S. 250; vgl. auch Discourse, S. 61f.

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„Demonstration" stehenden Überlegungen: „The same consequent Fitness or Unfitness . . . with regard to which, the Will of God always and necessarily does determine it self, to choose to act only what is agreeable to Justice, Equity, Goodness and Truth, in order to the Welfare of the whole Universe; ought likewise constantly to determine the Wills of all subordinate rational Beings, to govern all their Actions by the same Rules, for the good of the Publick, in their respective Stations: That is, these eternal and necessary differences of things, make it fit and reasonable for Creatures so to act." 7 8 Es ist bekannt, daß Clarke in dieser Gedankenführung von der naturrechtlichen Sicht R. Cumberlands beeinflußt ist 7 9 , der ebenfalls die rationale, mathematisch geordnete Struktur des Kosmos betont und den Gesetzen des moralischen Handelns ihren Platz in den Ordnungen des Ganzen zuweist. 8 0 Das bei Cumberland81 in Gottesbild und Ethik vorliegende antik-stoische Erbe spielt durch die Wandlungen des Newtonschen Weltbildes hindurch, das den kosmologischen Ordnungsvorstellungen in modifizierter Form eher noch größeres Gewicht verlieh, auch bei Clarke eine entscheidende Rolle. Nach diesem Beweisgang überraschend setzt Clarke aber nun zu einer weiteren Argumentationsreihe an: „Prop. III. That the same eternal Moral Obligations, which are of themselves incumbent indeed on all rational Creatures, antecedent to any respect of particular Reward or Punishment; must yet certainly and necessarily be attended with Rewards and Punishments." 8 2 Wären wir perfekte rationale Geschöpfe, wäre keine andere Form moralischer Verpflichtung nötig, aber an dieser Stelle sieht Clarke die Begrenztheit menschlicher moralischer Existenz, unser Ausgeliefertsein an zu irrationalem Verhalten verleitende Gefühle und kommt so zu seiner Unterscheidung zwischen einer „primären" und „sekundären" moralischen Verpflichtung — eine dualistische Theorie, die Albee83 mit Recht höchst problematisch findet. Die Lehre von Lohn und Strafe, die Behauptung, daß diese in einem „zukünftigen Stand" zu erwarten seien 8 4 , sind traditionell christliche Aussagen, die allerdings einen vollkommenen Bruch mit dem bisher durchgeführten Ansatz bedeuten. Die hier hineinspielende traditionell christliche Erbsündenlehre 8 5 erlaubt Clarke eine Kritik an der stoischen 78

Discourse, S. 45f. Vgl. weiter Albee, aaO., S. 404ff. R. Cumberland, De legibus naturae disquisitio philosophica, 1672. 80 Zu den Zusammenhängen vgl. Garin, Clarke, S. 394ff. 81 Der im weiteren Sinne zu dem Kreis der Cambridge Platonists gehört. 82 Discourse, Inhaltsverzeichnis, unpaginiert. 83 AaO., S. 406f. Vgl. auch Garin, aaO., S. 411. 84 Prop. IV, aaO., S. 160ff. 85 „But that now in this present World, the natural order of things is so perverted, that Vice often flourishes in great prosperity, and Virtue falls under the greatest calamities of Life." Marginaliiberschrift, aaO., S. 165, und Inhaltsverzeichnis. 79

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Reventlow, Bibelautorität

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Doktrin, daß die Tugend sich selbst belohne 8 6 , doch diese läge genau auf der Linie seiner anfänglichen Argumentation. Gegenüber Shaftesbury, der den Schritt zur autonomen Ethik entschlossen tut, bleibt Clarke ohne Frage auf halbem Wege stehen. Sein Versuch, den philosophischen und den biblischen Gottesbegriff unter einen Hut zu bringen, kann kein überzeugendes Ergebnis haben. Der Gott der Bibel wird praktisch als deus ex machina eingeführt, und von daher muß auch die ganze folgende Beweisführung als autoritär und willkürlich erscheinen. Auf dieser zweiten Argumentationsebene führt Clarke anschließend den Beweis der Notwendigkeit einer Offenbarung überhaupt, wo man stark den Locke sehen Einfluß spürt 87 , wenn Clarke behauptet, alle Verpflichtungen der natürlichen Religion seien zwar allgemein ableitbar aus der rechten Vernunft, aber angesichts des augenblicklichen verderbten Zustandes der Menschheit seien nur sehr wenige in der Lage, diese Dinge klar und deutlich für sich persönlich zu erkennen, so daß die Menschen eine gesonderte Belehrung sehr nötig hätten 8 8 ; die besten heidnischen Philosophen seien nicht in der Lage gewesen, die Menschheit wirklich zu reformieren 8 9 , und deshalb sei eine göttliche Offenbarung unbedingt erforderlich gewesen. 9 0 Hier liegt tatsächlich der schwache Punkt der apologetischen Argumentation, daß sie in einen deduktiven Gedankengang geschichtliche Setzungen einführen will, die sich in diesem Zusammenhang gerade nicht als folgerichtig nachweisen lassen. Alle übrigen Argumente, die Clarke noch bringt, können diesem entscheidenden Mangel nicht abhelfen, denn sie schließen a posteriori: daß nämlich allein die christliche Religion unter den Weltreligionen ,,has any just pretense or tolerable appearance of Reason" 9 1 , daß die von ihr gelehrten praktischen Pflichten am meisten mit unseren natürlichen Kenntnissen von Gott übereinstimmen und am stärksten imstande sind, zum Glück der Menschen beizutragen 9 2 , daß die Motive, mit denen die christliche Religion diese Pflichten einschärft 9 3

8« AaO., S. 170ff. Vgl. auch Garin, aaO., S. 115. 88 Prop. V, S. 193ff. Durch diese dritte Argumentationskette zerfällt (so auch Albee, aaO., S. 431) das Argument des Discourse in drei inkonsistente Teile. 89 Prop. VI, S. 207ff. 90 Prop. VII, S. 24Iff. 91 Prop. VIII u. IX, S. 263ff. Hier findet sich die bei den Latitudinariern beliebte Argumentation: „The necessary Marks and Proofs of a Religion coming from God, are these . . . that the Doctrines it teaches, be all such, as, though not indeed discoverable by the bare Light of Nature, yet, when discovered by Revelation, may be consistent with, and agreeable to, sound and unprejudiced Reason." AaO., S. 265. 92 Prop. X, S. 266ff. » Prop. XI, S. 277ff. 87

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und die Art, wie sie dies t u t 9 4 , den natürlichen Vorstellungen aufs engste entsprechen, schließlich, daß alle christlichen Dogmen mit der unvoreingenommenen Vernunft genau im Einklang sind und unmittelbar der Besserung der Sitten dienen. 9 5 In diesem Zusammenhang bringt Clarke auch eine Wundertheorie 9 6 , die unmittelbar aus der Newtonschen dynamischen Kosmologie abgeleitet ist: da auch die normale Weltlenkung als ständige Überwindung der inertia der Materie fortwährendes göttliches Handeln bedeutet, ist auch das Wunder nichts an sich Unmögliches, auch nicht schwerer zu vollbringen als das normale göttliche Tun, sondern lediglich ,,a work effected in a manner unusual, or different f r o m the common and regular Method of Providence, by the interposition either of God himself, or of some Intelligent Agent superiour to Man, for the Proof or Evidence of some particular Doctrine, or in attestation to the Authority of some particular Person". 9 7 Da, wie aus dieser Definition ersichtlich, in der hierarchisch gegliederten Welt nicht nur Gott selbst Wunder t u t , sondern damit auch einen Engel beauftragen oder überhaupt Macht an Geschöpfe delegieren kann 9 8 , liegt ein Wunder grundsätzlich auch nicht außerhalb der natürlichen Möglichkeiten geschaffener Wesen 99 , ja, selbst von bösen Mächten vollbrachte Wunder sind nicht bloße Täuschungen. 1 0 0 Gottgewirkte Wunder kann man von den zu Betrugszwecken von bösen Geistern vollführten deshalb nur durch die Lehre unterscheiden, zu deren Bekräftigung sie dienen: wenn diese Lehre gottlos ist oder Laster fördert, handelt es sich um den Betrug böser Geister; umgekehrt um von Gott stammende Wunder. 1 0 1 An Clarkes Boyle-Predigten kann man die Zwangslage erkennen, in welche die rationalistische Apologetik in dieser Zeit geriet. Den inneren Widerspruch zwischen dem philosophischen Ansatz, dem auch sie folgen wollte, und den traditionell christlichen Lehren, die sie zu verteidigen bestrebt war (subjektiv wird man Clarke diese Absicht keinesfalls absprechen dürften), konnte sie nicht überwinden. Da die natürliche Religion für ihr System konstitutiv war, vermochte sie der Offenbarung in ihm höchstens noch eine sekundäre Funktion einzuräumen: die eines pädagogischen Hilfsmittels, das der geschwächten Vernunft des Durchschnittsmenschen, obwohl sie grund» 95 *> 9T

Prop. XII, S. 285ff. Prop. XIII, aaO., S. 290ff. Prop. XIV, S. 346ff. AaO., S. 367. 98 AaO., S. 352. 99 AaO., S. 356. AaO., S. 361. i°i AaO., S. 362f.

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sätzlich auch von selbst diese Regeln hätte erkennen können, die Sätze der Moral erfolgreicher näherzubringen imstande w a r . 1 0 2 Man muß allerdings sagen, daß diese Problematik bei Clarke besonders deutlich sichtbar wird, vielleicht gerade deshalb, weil er als ein hervorragend klarer Denker bekannt war (weshalb Newton gerade ihm die Diskussion mit dem genialen Leibniz übertrug). Garin hat die Nähe Clarkes zum Deismus u n t e r s t r i c h e n 1 0 3 , wobei er besonders auf die Rolle der Offenbarung bei diesem v e r w i e s . 1 0 4 Tatsächlich ist Clarkes Auffassung im Hinblick auf diese derjenigen Tindah in dessen Buch „Christianity as old as the C r e a t i o n " 1 0 5 sehr ä h n l i c h 1 0 6 , und Tindal hat nicht versäumt, sich diesen Umstand ausgiebig zunutze zu m a c h e n . 1 0 7 Auf der anderen Seite hat Clarke selbst seine Sympathie für die Sorte von Deisten, „who, if they did indeed believe what they pretend, have just and right Notions of God and o f all the Divine Attributes in every r e s p e c t " nicht v e r h o h l e n 1 0 8 ; wenn man seine Auffassung nicht teilt, daß derartige Deisten folgerichtig auch zur Anerkennung der christlichen Offenbarung gelangen müßten, hat er ihnen in der Tat weithin die Wege g e e b n e t . 1 0 9 Das Dilemma, in das die rationalistische Apologetik durch ihr Denkschema der beiden „ B ü c h e r " : der natürlichen und der offenbarten Religion, geriet, begegnet in etwas anderer, aber gleichfalls sehr aufschlußreicher Weise auch in dem Werk von Joseph Butler, „ T h e Analogy o f Religion, Natural and Revealed t o the Constitution and Course o f N a t u r e " , 1 7 3 6 . 1 1 0 Chrono1 0 2 Ein Grundzug von Lessings Essay „Die Erziehung des Menschengeschlechtes" ist hier schon angelegt, wenn auch noch die geschichtliche Perspektive fehlt. 1 0 3 AaO., S. 109. 1 0 4 „Se dunque, come vuole il Tindal, il deista e tale in quanto ammette la rivelazione non perche rivelata, ma perche rationale, il Clarke lo fu pienamente", aaO., S. 116. 105 Vgl. o. S. 525, Anm. 317. Der Untertitel lautet: „ or the Gospel a Republication of the Religion of Nature". Zum Inhalt vgl. u. S. 616ff. 106 vgl. Garin, aaO., S. 112. 1 0 7 Christianity, Kap. 14, aaO., S. 353ff. κ» Discourse, S. 34. Vgl. auch Albee, aaO., S. 404. 1 0 9 Die Auffassung von M. C. Jacob, Toland, 308: „Thus the Newtonian natural philosophy, far from leading to deism, offered . . . one of the most effective systems for the refutation of atheism devised during the seventeenth century" hält nicht nur wegen der falschen Entsprechung zwischen Deismus und Atheismus einer genaueren Nachprüfung nicht stand. In dieser Hinsicht muß zwischen Toland (besonders in seiner Spätphase) und anderen Deisten, wie Tindal, deutlich unterschieden werden. 1 1 0 Forschungsberichte: A. Babolin, II pensiero etico e religioso di Joseph Butler nella critica d'oggi, in: RFNS 63, 1971, S. 470—486; ders., La Analogy of religion di Joseph Butler nella critica d'oggi, ds. 64, 1972, S. 683—680; ders., Introduzione, in: Opere (s.u.), Bd. I, S. 3 - 2 9 . Monographien: W. A. Spooner, Bishop Butler, 1900; Α . Ε. Baker, Bishop Butler, 1923; Mossner, aaO.; W. J. Norton, Bishop Butler, Moralist and Divine, 1938; A. Duncan-Jones, Butler's Moral Philosophy, 1952 (dazu auch G. Κ. Riddle, The Place of Benevolence in Butler's Ethics, in: PhQ 9, 1959,

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A r b e i t allerdings erst an das E n d e d e r v o n u n s z u b e -

h a n d e l n d e n E p o c h e , u n d seine A r g u m e n t a t i o n s e t z t d i e H o c h b l ü t e d e s Deism u s , g e g e n d e n sie sich w e n d e t , b e r e i t s v o r a u s . A b e r g e r a d e w e i l sich in der , , A n a l o g i e " k a u m ein G e d a n k e f i n d e t , der n i c h t in d e n B o y l e L e c t u r e s o d e r in d e r u n m i t t e l b a r v o r a u s g e g a n g e n e n a n t i d e i s t i s c h e n L i t e r a t u r b e r e i t s v i e l f a c h geäußert w o r d e n w ä r e 1 1 1 , kann ein Blick auf die , A n a l o g i e " beispielhaft die D e n k a r t der o f f i z i e l l e n V e r t e i d i g e r der K i r c h e b e l e u c h t e n . 1 1 2 W e n n sie a u c h d u r c h die A b w e h r der D e i s t e n h e r v o r g e r u f e n war, w e i s t d i e A p o l o g e t i k in i h r e m A n s a t z d e n n o c h m i t d e m ihrer G e g n e r so starke G e m e i n s a m k e i t e n a u f , d a ß der geringe E i n d r u c k , d e n sie auf d i e s e m a c h t e , v o l l a u f v e r s t ä n d S. 356—362); R. A. Carlsson, Butler's Ethics, 1964; Α. Jeffner, Butler and Hume. Die materialreichste Biographie ist noch immer die von T. Bartlett, Memoirs of the Life, Character, and Writings of Joseph Butler, 1839. Ältere Werkausgaben: The Works of . . . J . B., ed. S. Halifax, 2 Bde., 1884; ed. W. Ε. Gladstone, 2 Bde., 1896 (dazu auch: Studies Subsidiary to the Works of Bishop Butler, 1896); ed. / . H. Bernard, 2 Bde., 1900; The Analogy of Religion, Introduction by E. C. Mossner, 1961. (Zum Zeitpunkt der Bearbeitung des Abschnittes stand mir leider meist nur die Ausgabe von Halifax zur Verfügung.) Verzeichnis der zahlreichen Gesamt- und Teilausgaben bei Babolin, in: Opere, Bd. I, S. 125—134. Ital. Ubers.: Opere, a cura di A. Babolin·. Bd. I: Corrispondenza. Sei sermoni, Allocuzioni, 1971; Bd. II: I quindici sermoni; Bd. III: L'analogia . . . , 1969. Für die Sekundärliteratur vgl. Mossner, aaO., Bibliographie, S. 241—45; Babolin, in: Opere, Bd. I, S. 134—144. Vgl. bes. T. McPherson, T h e Development of Bishop Butler's Ethics, in: Phil. 23, 1948, S. 3 1 7 - 3 3 1 ; 24, 1949, S. 3 - 2 2 ; D. D. Raphael, Bishop Butler's View of Conscience, in: Phil. 24, 1949, S. 2 1 9 - 2 3 8 ; A. R. White, Conscience and Self-Love in Butler's Sermons, in: Phil. 27, 1952, S. 3 2 9 - 3 4 4 ; S. A. Grave, Butler's Analogy, in: C a m b r j o u r n 6, 1952/3, S. 1 6 9 - 8 0 ; ders., The Foundation of Butler's Ethics, in: AJPh 30, 1952, S. 7 3 - 8 9 ; K. Dick, Das Analogieprinzip bei J o h n Henry Newman und seine Quelle in J o s e p h Butlers „Analogy", in: Newman Studien, hrsg. von Η. Fries und W. Becker, 5. F., 1962, S. 9 - 2 2 8 . J. L. Murphy, A Rationalist Defence of Christianity, in: AEcR 148, 1963, S. 2 1 7 - 2 3 5 . 3 1 5 - 3 3 6 ; Λ Fuss, Sense and Reason in Butler's Ethics, in: Dialogue 7, 1969, S. 1 8 0 - 1 9 3 ; / . Kleinig, Butler in a Cool Hour, in: J H P 7, 1969, S. 399—411; D. Galli, L'analogia della religione secondo J . Butler, in: RSFil. 24, 1971, S. 8 8 - 1 0 9 ; £ . Garin, A proposito d i j o s e p h Butler, in: RCSF 26, 1971, S. 3 3 6 - 3 3 7 . - Zur Einwirkung auf die deutsche Neologie (über die Übersetzung von / . / . Spalding, 1756) vgl. auch R. Staats, Der theologiegeschichtliche Hintergrund des Begriffes „Tatsache", in: ZThK 70, 1973, S. 3 1 6 - 3 4 5 . - Vgl. auch die ausführliche Einleitung von A. Babolin, in: Opere, Bd. I, S. 3—122. 111 Vgl. Mossner, aaO., S. 79. Schon M. Pattison bemerkte, Tendencies of Religious Thought in England, 1 6 8 8 - 1 7 5 0 , in: Essays and Reviews, 9 1861, S. 2 5 4 - 3 2 9 (= Collection of British Authors, Vol. 613, 1862, S. 229ff.), S. 286: „It is no paradox to say that the merit of the Analogy lies in its want of originality." (Daß Butler kaum Zitate bringt, ist kein Beweis für seine Originalität, gegen Dick, Analogieprinzip, S. 29. Viele seiner Gedanken waren mehr oder weniger communis opinio). 112 Es ist deshalb möglich, die zahlreichen zwischen Clarke und Butler erschienenen apologetischen Schriften, auch die wohl bedeutendste unter ihnen: G. Berkeleys „Alciphron" (1732) zu übergehen.

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lieh ist. Ja, die vielfach geäußerte Frage, ob nicht die Apologetik durch die Brüchigkeit ihrer Argumente gerade den Niedergang der christlichen Religion, die sie verteidigen wollte, beschleunigen half, läßt sich angesichts eines Werkes wie Butlers „Analogie" nicht leicht beiseite wischen. Diese Fragwürdigkeit ist heute offensichtlich, und deshalb ist es verständlich, wenn Butler, der zu Lebzeiten und teilweise noch bis ins 19. Jahrhundert hinein 1 1 3 in hohem Ansehen stand, gegenwärtig höchstens noch ideengeschichtliches Interesse erregt. 114 Doch wird das Aufkommen der radikalen Bibelkritik bei den späteren Deisten und ihren Nachfolgern 115 überhaupt erst verständlich, wenn man den Platz in Betracht zieht, den Butler der Offenbarung zuweist, und die Argumente kennt, mit denen er ihre Rolle zu verteidigen meint. Schon eine Übersicht über den Aufbau der „Analogie" 1 1 6 zeigt den Weg, den Butler einzuschlagen gedenkt: er will die Bedeutung der offenbarten Religion (oder des Christentums) auf dem Wege über die natürliche Religion nach dem Prinzip der „Analogie" beweisen. 1 1 7 Sein Bild der natürlichen Religion, wie er es im ersten Teil des Buches entwickelt, entspricht inhaltlich weitgehend dem humanistischen Modell (so fällt u.a. die Ähnlichkeit mit den

113 Zu seinem Einfluß auf den jungen Newman vgl u.a. K. Dick, Analogieprinzip, S. 64ff., und p a s s i m ; / . L. Murphy, The Influence of Bishop Butler on Religious Thought, in: TS 24, 1963, S. 3 6 1 - 4 0 1 , S. 381ff. Der Versuch C. D. Broads, Butler as a Theologian, in: HibJ 21, 1923, S. 6 3 7 - 6 5 6 (auch in ders., Religion, Philosophy and Physical Research, 1953) ihn gleichsam zu rehabilitieren, kann heute kaum noch überzeugen. Noch der Herausgeber / . H. Bernard, bemerkte im Jahre 1900: „the Analogy is still one of the most important books which can be placed in the hands of a student; and the masterly statements of Christian doctrine in the first and f i f t h chapters of the Second Part are worthy of the deepest attention of the theologian." Editor's Introduction zu den Works, Bd. I, S. XXV. 115 In diesem Zusammenhang ist die Einteilung des rationalistischen Zeitalters in England durch M. Pattison, der das J a h r 1750 als Grenze zwischen einer früheren Periode, in der „the main endeavour was.to show that there was nothing in the contents of the revelation which was not agreeable to reason" und einer späteren, in der „the controversy was narrowed to what are usually called the .Evidences', or the historical proof of the genuineness and authenticity of the Christian records", nach wie vor hilfreich, aaO., S. 260. 116 Zum Gesamtplan vgl. Gladstone, in: Butler, Works, Bd. I (Analogy), Einleitung, S. 16, Anm. 1. Kurze Inhaltsangaben für die einzelnen Kapitel bieten Mossner, aaO., S. 83ff., und Dick, Analogieprinzip, S. 29ff. 117 Auch in der Heranziehung des Analogieprinzips ist er keineswegs ohne Vorgänger, vgl. dazu Mossner, aaO., S. 80f. Die Analogie zwischen Natur und Religion gebraucht er genau im Sinne von Berkeley. Zur Besonderheit seines Gebrauchs des Analogiebegriffs gegenüber dem Analogiedenken der älteren, noch scholastisch geprägten anglikanischen Theologie vgl. auch Bethell, Cultural Revolution, S. 66f., sowie Dick, aaO., bes. S. 55, der wegen der Allgemeinheit des Schemas lieber von „einer Art Univozität" sprechen möchte; vgl. dazu auch S. 45ff.

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Grundsätzen Cherburys in die Augen) 1 1 8 ; methodisch ist er j e d o c h durch die empiristischen Grundsätze Lockes und der Newtonianer bestimmt. Butler nimmt seinen Ausgang von dem durch Analogieschlüsse geführten Nachweis der Existenz eines ewigen Lebens (Teil I, Kap. I), das sich vor allem als ein moralisches Erfordernis erweist. 1 1 9 Denn die Herrschaft G o t t e s ist ein moralisches Regiment (Teil I, Kap. III), das durch Lohn und Strafen ausgeübt wird (Teil I, Kap. II). Da n u n — das alte Problem der Psalmisten — das Schicksal der moralisch Schlechten auf dieser Welt o f t unverdient vorteilhaft ist, während die Gerechten häufig auf den ihnen zustehenden Lohn verzichten müssen, ist ein zukünftiges Leben unbedingt nötig, um Gott die Möglichkeit zu geben, den auf Erden nicht erfolgten Ausgleich der Gerechtigkeit wiederherzustellen. Von daher stellt sich das zeitliche Dasein des Menschen als ein Prüfstand dar, in dem der Mensch im Hinblick auf seinen zukünftigen Stand in analoger Weise durch allerlei Schwierigkeiten und Gefahren auf die Probe gestellt wird, wie dies im Bereich des natürlichen Regimentes Gottes im Hinblick auf sein irdisches Schicksal geschieht (Teil I, Kap. IV). Dieser Stand der Prüfung dient der moralischen Disziplin und Verbesserung, indem der Mensch sich in analoger Weise, wie er dies für seine hiesigen Lebensumstände zu t u n in der Lage ist, im Blick auf seinen zukünftigen Stand ewiger Seligkeit vorbereiten kann (Teil I, Kap. V). In diesem Sinne kann das Leben, wie die Jugend als Erziehungsstadium für das reife Alter, als Schule für die Ewigkeit betrachtet werden. Wichtig für die Argumentationsweise im 2. Teil ist das abschließende Kapitel des ersten (Kap. V I I 1 2 0 ) , in dem Butler, wenn auch in charakteristischer Verschiebung, ein Prinzip der Erkenntnistheorie Lockes121 aufgreift, das ihn, wie schon aus der Einleitung ersichtlich ist, als Grundvoraussetzung für seine gesamte Untersuchung geleitet hat: es ist die Unterscheidung zwischen sicherer und wahrscheinlicher Erkenntnis. Während nach Locke im Bereich der abstrakten Ideen und auch auf dem Gebiet der theoretischen Ethik sichere Erkenntnis zu gewinnen ist, b e t o n t e dieser (besonders im 118

In der Einleitung zur „Analogie" zählt Butler ebenfalls fünf Punkte für die „notion of religion in general and of Christianity" auf, ed. Halifax, Bd. I, S. lOf. (ed. Gladstone, Bd. I, S. 17), die teilweise mit Herberts notitiae communes circa religionem übereinstimmen (vgl. ο. S. 319). Vgl. dazu auch Jeffner, Butler and Hume, S. 89f.; Dick, Analogieprinzip, S. 53. 119 Vgl. hierzu auch Dick, Analogieprinzip, S. 36: „ . . . daß Butler unter natürlicher Religion nichts anderes als eine natürliche Moral versteht, deren Ausprägung im tugendhaften Leben besteht und deren Sicherung in einer jenseitigausgleichenden Gerechtigkeit Gottes liegt." 120 Kap. VI, gegen den Fatalismus gerichtet, kann übergangen werden, es stellt eine Abschweifung vom Zusammenhang dar. I2 > Vgl. o.S. 420ff.

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„Essay concerning Human Understanding" IV,3 und IV,16), daß im Umkreis der experimentellen Naturwissenschaft Erkenntnis nur in dem unvollkommenen Grade der Wahrscheinlichkeit zu gewinnen sei (was er, besonders in Essay IV,19, später auch auf die „übernatürlichen" Aussagen der christlichen Dogmatik ausdehnte). 1 2 2 Butler überträgt Lockes These auf das Gebiet des praktischen Weltverhaltens des Menschen und von dort aus auf dem Wege über die „Analogie" auf die Aussagen der „natürlichen Religion". Dabei vermeidet er konsequent die theoretisch-abstrakte Argumentation; für sein Vorgehen wählt er, wie er an anderer Stelle einmal klarmacht, bewußt den praktisch-anthropologischen Ausgangspunkt. 1 2 3 Es sind praktischutilitaristische Fragen, die er bei seinen Gesprächspartnern voraussetzt: Wie kann ich mich in der Welt einrichten? Welche Grunderkenntnisse der „natürlichen Religion" muß ich berücksichtigen, um auch für meine Zukunft im ewigen Leben in der richtigen Weise vorzusorgen? Er ist in so extremer Weise Apologet, daß er in seiner Argumentation ad hominem bereit ist, in totalem Umfange auf die Grundsätze seiner Gesprächspartner einzugehen. 124 Diese Bereitschaft veranlaßt ihn, von dem Argument der Wahrscheinlichkeit in einer exzessiven Weise Gebrauch zu machen: schon in der Einleitung weist er darauf hin, daß es sich sowohl bei der (natürlichen) Religion im allgemeinen wie bei dem (offenbarten) Christentum im besonderen um Dinge handelt, zu denen man sich in der Praxis nach analogen Grundsätzen mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit verhalten kann, wie es die Menschen auch in Dingen des täglichen Lebens tun. Das Grundargument Butlers hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Pascals „Argument der Wette" 1 2 5 : er sucht seinem ungläubigen oder skeptischen Leser nachzuweisen, nicht nur die natürliche Religion, 122 Für die Abhängigkeit der Epistemologie Butlers von Locke vgl. u.a. Murphy, AEcR, S. 317ff., und vor allem Jeffner, aaO., S. 3 Iff. 123 „There are two ways in which the subject of morals may be treated. One begins from inquiring into the abstract relations of things: the other from a matter of fact, namely, what the particular nature of man is . . . " , Vorwort zu den Predigten, ed. Halifax, Bd. II, S. Vlllf. (ed. Gladstone, Bd. II, S. 5). - Vgl. auch Mossner, aaO., S. 100: „with the express aim of indicating to man his duty and of showing, not the theoretical reasonableness of religion, but its reasonableness in practice." 124 ,, . . . that in this treatise I have argued upon the principles of others, not my own: and have omitted what I think true, and of the utmost importance, because by others thought unintelligible, or not true." Analogy, Teil III, Kap. VIII, ed. Halifax, S. 303 (ed. Gladstone, S. 367). — Auf der anderen Seite ist es sicher irreführend anzunehmen, Butler habe deshalb auch eine ganz andere Gesamttheologie entwerfen können, gegen Bernard, Editor's Introduction in Works, Bd. I, S. XXIf. Sein Grundsatz entsprach durchaus dem Denken seiner Zeit. 125 Vgl (J a z u Jeffner, aaO., S. 85f., dessen Darstellung den Reiz hat, daß er die Gedankengänge Butlers (und Humes) auf logisch-mathematische Formeln bringt und dadurch sehr anschaulich macht.

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sondern auch das offenbarte Christentum besitze zumindest einen so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß es auch im Sinne einer nüchtern urteilenden Nützlichkeitserwägung sei, sich in seinem praktischen Leben und Handeln darauf einzustellen. Die ,^Analogie" hat — dies ist typisch nicht nur für Butler persönlich, sondern für die gesamte Religionsauffassung seiner Zeit — einen eminent praktisch-ethischen Zweck: „His main aim is to show that this probability is sufficient for it to be reasonable to use Christianity as a ,guide of life' ". 1 2 6 Im Bereich der „natürlichen" Religion, die Butler im ersten Teil seines Werkes (bis einschließlich Kap. V) behandelt, arbeitet er in der Weise, daß er bestimmte Lehren, wie er meint, der natürlichen Religion (in Wirklichkeit sind ja die Erwartung ewigen Lebens und von Lohn und Strafen im Jenseits christliche Aussagen, auch wenn die humanistische Tradition sie als einen Konsens der ganzen Menschheit behauptete) aus der Ähnlichkeit (Analogie) zwischen dem bekannten Ablauf der Natur 1 2 7 und dem Christentum als ganzen plausibel zu machen sucht, wobei die Newtonsche Auffassung der Welt als eines von Gott nach bestimmten Gesetzen bewegten Ganzen im Hintergrund steht 1 2 8 , dem nach Butler ebenfalls diesen analoge Gesetze in den allgemeinen Grundsätzen der natürlichen Religion, die wir auch ohne Offenbarung erkennen können, entsprechen. 129 Neben manchen anderen Einwänden, die hier übergangen werden können 1 3 0 , hat man besonders darauf hingewiesen, daß das Argument der Wahrscheinlichkeit schon aus dem Grunde ziemlich schwach sei, weil, wie Butler selbst ausdrücklich sagt 1 3 1 , hier alle Grade bis zu einer bloßen Möglichkeit hinab denkbar sind, die keineswegs ein hinreichender Grund sein muß, sein gesamtes Leben auf sie abzustellen. Allerdings wird man sagen müssen, daß Butler ja glaubt, einen höheren Grad von Wahrscheinlichkeit als den einer bloßen Möglichkeit für die „natürliche Religion" nachgewiesen zu haben. 1 3 2 126

Jeffner, aaO., S. 69. Zu beachten ist die Doppelsinnigkeit des Begriffes „Natur": er hat für Butler auch einen eminent praktischen Bezug: „not what science can disclose us of the laws of the cosmos, but a narrow observation of what men do in ordinary life", Pattison, aaO., S. 294. Pattison übersieht lediglich, daß dies keine Alternativen sind, sondern im Newtonschen Denkkreis eins aus dem anderen folgt. 128 Vgl Jeffner, aaO., S. 108ff. — Zum Einfluß Newtons auf Butler auch schon A. Baker, Bishop Butler, S. 10. 129 Zu diesem von Jeffner als „A 1" bezeichneten Argument aaO., S. 70ff. 130 Schon Humes Kritik bedeutete für Butlers System praktisch den Todesstoß, vgl. dazu Jeffner, aaO., passim. 131 „Probable evidence is essentially distinguished from demonstrative by this, that it admits of degrees; and of all variety of them, from the highest moral certainty, to the very lowest presumption", Analogy, Einleitung, ed. Halifax, S. 1 (ed. Gladstone, S. 3). 132 Vgl. auch Jeffner, aaO., S. 86. 127

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Im zweiten Teil, wo es um die offenbarte Religion geht, wird das Prinzip der Wahrscheinlichkeit, das Butler auch hier anwendet 133 , noch um eine Stufe gefährlicher. Hinsichtlich des Inhaltes dieser offenbarten Religion ist Butler in keiner Weise originell: sie ist 1. „a republication, and external institution, of natural or essential religion, adapted to the present circumstances of mankind". 1 3 4 Die fast wörtliche Übereinstimmung dieser Formulierung mit dem Untertitel des Werkes von Tindal, „Christianity as old as the Creation", fällt in die Augen: „or, the Gospel, a Republication of the Religion of Nature". In diesem Punkt ist ein Unterschied zwischen der Argumentationsweise Butlers und der Denkweise der Deisten also kaum zu erkennen. 135 Anders scheint es zunächst mit dem zweiten Punkt zu stehen: „containing an account of a dispensation of things not discoverable by reason" I 3 6 ; dazu rechnet Butler auf der Linie des üblichen rationalen Supranaturalismus vor allem die traditionellen Lehren von der Errettung der gefallenen Menschheit durch Christus als den Mittler, von seiner Menschwerdung, vom Heiligen Geist usw. (Kap. V). Für den ersten Punkt stützt er sich weiterhin auf den Nachweis von Ähnlichkeiten (,^Analogien") zwischen natürlicher und offenbarter Religion (beide betonen die gleichen Wahrheiten, wie die Existenz Gottes, ein zukünftiges Leben, Lohn und Strafen usw.). 137 Seine folgenreichste Schwäche zeigt sich erst dort, wo er zu der Begründung für den zweiten Bereich übergeht, denn hier ist er auf eine andere Form von Belegen angewiesen, die er zwar auch unter den allgemeinen Begriff der „Analogie" subsumiert, die aber in Wirklichkeit recht äußerliche Beweise darstellen, Beweise aus einer im Sinne eines Arsenals von Fakten begriffenen Historie. 138 Vor dem Hintergrund seiner allgemeinen Arbeitsgrundlage, daß es einen zwingenden Beweis für die Wahrheit des Christentums, dessen metaphysische Lehren über die Argumente der Vernunft hinausgehen, nicht geben könne 1 3 9 , sind es dann 133

Vgl. bes. Kap. IV und V. Analogy, ed. Halifax, S. 153. 135 Murphys Argumentation in diesem Punkt, AEcR, S. 222, ist wegen falscher Einschätzung des Deismus etwas schief. 13« AaO., S. 154. 137 Hier benutzt er im Prinzip das „allgemeine Analogie-Argument", vgl. Jeffner, zu diesem Sonderfall, aaO., S. 76. 138 Vgl. dazu Murphy, AEcR, S. 321ff. 139 Ein Beispiel für diese Argumentationsweise findet sich u.a. in Teil II, Kap. VI (ed. Halifax, S. 235f.), w o Butler den Fall voraussetzt, daß manche die Beweise für das Christentum im höchsten Grade zweifelhaft finden könnten: „even this doubtful evidence will, however, put them into a general state of probation in the moral and religious sense". Denn wie man, wenn man nur den geringsten Zweifel daran haben kann, ob ein anderer nicht vielleicht doch sein Wohltäter sei und man in seinem zeitlichen Vorteil nicht von ihm abhänge, sich gegenüber einer solchen Person besonders verpflichtet sehen müsse, so müsse auch, wenn die dafür vorliegenden Beweise 134

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gerade solche Dinge wie vor allem die verschiedenen Wunder und die Prophetien, die als „its direct and fundamental p r o o f s " angeführt werden müssen. 1 4 0 Die gesamte biblische Überlieferung wird auf dieser Ebene gesehen: „This revelation, whether real or supposed, may be considered as wholly historical. For prophecy is nothing but the history of events before they come to pass; doctrines also are matters of fact; and precepts come under the same notion. And the general design of Scripture, which contains in it this revelation, thus considered as historical, may be said to be, to give us an account of the world, in this one single view, as God's world." 141 Wunder und Prophetien, für die Zeugnisse in der Schrift vorliegen, zusammen mit anderen begleitenden Zeichen „amount to a much higher degree of proof, upon such a joint review, than could be supposed upon considering them separately, at different times". 1 4 2 Allerdings handelt es sich auch hier nur um „probable p r o o f s " 1 4 3 , die allein durch ihre Häufung einen höheren Grad von Wahrscheinlichkeit erreichen. Zwingend im Sinne sicherer Erkenntnis sind sie weder einzeln noch zusammengenommen, denn abschließend wagt Butler nicht mehr als einen mittleren Grad der Wahrscheinlichkeit für sie zu beanspruchen: „In the next place, with regard to Christianity, it will be observed; that there is a middle between a full satisfaction of the truth of it, and a satisfaction of the contrary. The middle state of mind between these two consists in a serious apprehension, that it may be true, joined with doubt whether it be so." 1 4 4 Im Hinblick auf die Art, wie Butler diese „historischen Beweise" 1 4 5 handhabt, würde man ihn nach heutigem Sprachgebrauch als einen Fundamentalisten bezeichnen; die „Scripture-history" 1 4 6 wird durch die zuverlässigen Zeugen, das ehrwürdige Alter der Überlieferungen usw. als eine Kette von beweisbaren Fakten angesehen. 1 4 7 Damit wird nun den Gegnern der Offendas Christentum oder die Religion im allgemeinen nur im geringsten glaubwürdig oder wahrscheinlich machten, dies ein genügender Grund sein, sich auf diese einzustellen, „because the apprehension that religion may be true does as really lay m e n under obligations, as a full conviction that it is true", i « AaO., Teil II, Kap. VII. Zitat: ed. Halifax, S. 2 5 0 . wi Ed. Halifax, S. 2 7 3 f . i « AaO., S. 2 9 0 (ed. Gladstone, S. 3 5 1 ) . 1 4 3 Ebendort. 144 Conclusion, ed. Halifax, S. 3 1 5 . 145 Zu der Art der Beweisführung für Wunder und Prophetie vgl. Jeffner, aaO., S. 1 1 2 f f . 1 4 « Teil II, Kap. VII, ed. Halifax, S. 2 8 1 (ed. Gladstone, S. 340). 1 4 7 Butler übernimmt daneben für seine Beweise der Göttlichkeit von Wundern und Prophetie die Verbalinspirationslehre für die Göttlichkeit der Schrift; zu d e m hier entstehenden Zirkelschluß vgl. Mossner, aaO., S. 9 8 f .

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barung die Richtung für ihre Beweisführung geradezu vorgezeichnet: sie brauchten nur die Hauptpfeiler dieses Gebäudes: die Wunder und die Prophetie, wegzureißen, und die Glaubwürdigkeit des gesamten Christentums, weil auf eine angeblich rational nachweisbare Faktizität gestützt, mußte zusammenbrechen. Tatsächlich war Butler als Apologet einen entscheidenden Schritt auch über Locke hinausgegangen: hatte dieser der biblischen Überlieferung gegen Ende seines Lebens ein letztlich doch wieder unbegründbares, durch Einsicht in die Grenzen menschlicher Vernunft hervorgerufenes Vertrauen geschenkt, wertet Butler, obwohl er ebenfalls von den Grenzen der Vernunft spricht, diese doch rein quantitativ. Der Akt des Glaubens ist für ihn kein existentielles Geschehen, es ist ein ausschließlich intellektueller Vorgang, auf dem Abwägen von Gründen für und wider die Zuverlässigkeit äußerer Zeugnisse von Fakten beruhend. 1 4 8 Er steht damit im wesentlichen auf gleichem Boden wie die Deisten; die aus rationaler Skepsis geborene, ihm auf eigenem Felde begegnende Widerlegung durch Hume mußte ihn deshalb vernichtend schlagen. Seine philosophischen Argumente sind in der Tat äußerst schwach; zu echt theologischen war er nicht imstande. Nun wird man bemerken, daß Butlers Arbeit ja fast am Ende der deistischen Debatte steht. Wenn nicht schon die Deisten über die von ihm repräsentierte offizielle Apologetik siegten, so deshalb, weil sie in ihren geistesgeschichtlichen Voraussetzungen von ähnlichen Schwächen behindert waren und die Konsequenz Humes vermissen ließen. Sie argumentierten nicht tiefer, sondern nur in umgekehrter Richtung: sie fochten die Glaubwürdigkeit der Wunder, die Erfüllung der Prophetie mit negativ rationalen Argumenten an, sie bezweifelten die Wahrheit supranaturalistischer Inhalte der christlichen Offenbarung und wollten nur die natürliche Religion gelten lassen, sie hielten die moralische Ordnung der Welt für prinzipiell intakt, die traditionellen Aussagen von Sündenfall, Mittlertum Christi und Erlösung deshalb für rettungslos überholt, denn sie glaubten an das Gute im Menschen und die Kraft seiner Vernunft, selbst die Gesetze seines moralischen Handelns zu erkennen. Butlers Position auf dem Gebiet der Ethik 1 4 9 ist auf der einen Seite der Einstellung der Deisten sehr ähnlich. Seinen metaethischen Standpunkt, für 148

So richtig Murphy, AEcR S. 318. 327ff. — Diese Wertung ist allerdings einzuschränken durch die Beobachtung, daß Butler auch wieder von dem Geheimnis Gottes spricht und insoweit eine religiöse Dimension bewahrt, vgl. dazu auch Jeffner, aaO., S. 191 f., und Dick, aaO., S. 42. Daß Butler allerdings „zutiefst an lebendiger Religiosität interessiert" sei, ist nur sehr eingeschränkt in seinen rational-moralischen Grenzen richtig. 149 Hier sind besonders seine „Fifteen Sermons Preached at the Rolls Chapel" (1726), jetzt in: Works, Bd. II, das Vorwort zu den Predigten und die Dissertation: „On the Nature of Virtue" (2. Anhang zu der „Analogy"), jetzt in: Works, Bd. I, (ed. Halifax, S. 328ff.) zu berücksichtigen.

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den sich bei ihm Formulierungen finden, die denen Clarkes bis in Einzelheiten fast gleichen 1 5 0 , hat man ethischen Intuitionismus oder ,,a nonnaturalistic objective analysis" genannt. 1 5 1 In dieser Hinsicht scheint er einen Platz in der Entwicklung der ethischen Theorien einzunehmen, der über die von Cumberland herkommende, bei Shaftesbury schon zu einer entscheidenden neuen Stufe vorgedrungene Entwicklung einen weiteren Schritt hinausgelangt ist. In zwei Richtungen scheint sich bei ihm eine weitgehende Autonomie der Ethik zu ergeben: einmal in der Ableitung der ethischen Normen aus einer unveränderlichen Weltordnung, der auch Gott selbst unterworfen ist (hier folgt Butler wie seine humanistischen Vorgänger der stoischen Tradition 1 5 2 ), zum anderen in der zentralen Rolle des Gewissens, unter dem eine dem Menschen innewohnende Fähigkeit rationalen Urteils über das Gut und Böse eigenen Handelns zu verstehen ist. 1 5 3 Nimmt man diese Seite seines ethischen Systems, wird man A. Duncan-Jones rechtgeben müssen, der von der charakteristisch nicht-theologischen Struktur der Butlerschcn Ethik spricht. 1 5 4 Im Mittelpunkt steht hier der idealistische Glaube an das natürliche Gutsein des Menschen. 155 Aber diesen Standpunkt vertritt Butler nicht in reiner Form, sondern daneben tut sich die Seite seiner Morallehre auf, deren Charakter von den ebenfalls durch humanistische Tradition hindurchgegangenen Inhalten spezifisch christlicher Dogmatik bestimmt ist, wie sie Butler in seiner „Analogie" zugleich als natürliche und als offenbarte Religion dargestellt hatte: von der 150 Er spricht von „the moral fitness and unfitness of actions, prior to all will whatever; which I apprehend . . . to determine the Divine conduct", Analogy, ed. Halifax, S. 303 (ed. Gladstone, S. 367) und davon, „that there is, in the nature of things, an original standard of right and wrong in actions, independent upon all will, but which unalterably determines the will of God, to exercise that moral government over the world, which religion teaches . . . " , aaO., ed. Halifax, S. 304 (ed. Gladstone, S. 368). is» Vgl. Jeffner, aaO., S. 210f. 152 Vgl. di e Zitate in der vorletzten Anm. 153 Vgl. dazu Α. Ε. Taylor, Some Features of Butler's Ethics, in: Mind 35, 1926, S. 2 7 3 - 3 0 0 (auch in ders., Philosophical Studies, 1930, S. 2 9 1 - 3 2 0 ) , S. 283, vgl. auch S. 290. Τ. McPherson, aaO., sucht nachzuweisen, daß diese beiden Aspekte in der Entwicklung von Butlers Ethik zeitlich aufcinanderfolgen: die aus der menschlichen Natur abgeleitete Ethik ist die der Predigten, die aus der Weltordnung ist die der „Analogie". In dem o. S. 568, Anm. 123, zitierten Satz aus dem Vorwort zu seinen Predigten faßt Butler aber beide als komplementäre Deduktionsmöglichkeiten zusammen. Zu Butlers psychologischer Morallehre vgl. bes. C. D. Broad, Five Types of Ethical Theory, 1930 ( 9 1967), S. 55ff.; Duncan-Jones, aaO., Kap. 2 - 4 , S. 41ff. (zum Gewissen: Kap. 3, S. 69ff.); Jeffner, Kap. 2, S. 44ff. ι*» AaO., Kap. 7, S. 142ff. ISS AaO., Kap. 7, § 3, S. 148ff.

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Annahme einer göttlichen Weltregierung und der Erwartung eines zukünftigen Lebens und von Lohn und Strafen im Jenseits. 1 5 6 An diesem Punkt treffen dann wiederum die beiden aus der Antike stammenden Linien ethischer Theorien: der Eudämonismus und der Altruismus zusammen, die in der Sekundärliteratur zu einer anhaltenden Diskussion über die Rolle von „Wohlwollen" (benevolence) und Selbstliebe in Butlers Ethik geführt haben. 1 5 7 Wenn Butler in all diesen Dingen sich zwiespältig, oft unscharf äußert und seinen modernen Auslegern Verständnisschwierigkeiten bereitet, liegt das an seinem traditionsgeschichtlichen Ort zwischen humanistisch-ethischer Tradition, Locke-Newtonscher psychologischer Erkenntnistheorie und christlich-supranaturalistischer Apologetik, die in seinem Werk ein nur aus dieser besonderen Situation verständliches Amalgam eingegangen sind. Die christliche Substanz hat sich bei ihm, wie man aus der engen Gleichsetzung der wichtigsten Inhalte von natürlicher und offenbarter Religion in der „Analogie" ersieht, schon weitgehend in die allgemeine Weltanschauung hinein entleert; die Rolle der biblischen Überlieferung wird zu der einer bloßen historischen Beglaubigungs-Urkunde abgewertet, an der nur noch eine Anzahl erst in zweiter Linie bedeutsamer Speziallehren hängen, die schon Hobbes und Locke zugunsten eines Minimal-Konsensus aufzugeben bereit waren. Die Verbindung der moralischen Gesetze mit der biblischen Ethik, genauer der Ethik des Neuen Testaments, auch wenn diese schon vor Locke nur mehr a posteriori hergestellt wurde, ist jetzt ganz abgerissen; eine solche Form der Verifizierung ethischer Normen wird nun gar nicht mehr versucht. 158 Insofern ist Butlers System ein Zeugnis von den tiefgreifenden Wandlungen, die sich in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts im Bibelverständnis auch im offiziellen anglikanischen Lager abgespielt hatten. Die Entwicklung,

156 Diesen Zusammenhang mit der Theologie betont P. A. Carlsson, aaO., trifft damit aber ebenfalls nur eine Seite des Butler sehen Denkens. 157 Vgl. zu der Thematik bes. Grave, AJPh; Riddle, aaO.; verwandt ist das Problem des Verhältnisses zwischen Eigenliebe und Gewissen, vgl. dazu L. Stephen, English Thought, Bd. II, S. 49f.; Taylor, aaO., S. 294ff.; White, aaO.; McPherson, aaO., und zuletzt Kleinig, aaO., zu der berühmten „cool-hour"-Stelle in Predigt XI, ed. Halifax, S. 150f. (ed. Gladstone, S. 206). iss e s g e ht jetzt umgekehrt nur noch um den apologetischen Nachweis, daß die Schrift in ihren Aussagen nicht der allgemein gültigen Moral widerspricht, worüber die Vernunft zu urteilen hat: „Reason can, and it ought to judge, not only of the meaning, but also of the morality and the evidence of revelation. First, It is the province of reason to judge of the morality of the Scripture; i.E. not whether it contains things different from what we should have expected from a wise, just, and good Being . . . but whether it contains things plainly contradictory to wisdom, justice, or goodness; to what the light of nature teaches us of God." Analogie, Teil II, Kap. III, ed. Halifax, S. 193.

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die Bacon, Boyle und Newton in ehrlicher Begeisterung für die Förderung des christlichen Glaubens eingeleitet hatten, indem sie die Ergebnisse ihrer naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über eine bewundernswerte physikalisch-gesetzmäßige Ordnung des Kosmos zur Stütze der Religion heranzogen, war fast schon in ihr Gegenteil umgeschlagen: ,,Natural religion was supposed to be the sure defender. Yet in the end the defender turned out to be the enemy in the gates. In theory natural religion was meant to supplement Christianity, to provide it with a rational foundation; in practice it tended to supplement it." 1 5 9 c) Der Außenseiter

Jonathan

Swift

Es bedurfte einer fast übermenschlichen Anstrengung und ungewöhnlicher Sensibilität für die Tiefen menschlicher Existenz, wenn ein Denker in diesem geistigen Klima dem herrschenden ethischen Optimismus eine aus den Grundaussagen christlicher Anthropologie gewonnene Sicht entgegenstellen wollte. Daß eine solche Haltung ihn zum Außenseiter machen und ihm die Chancen einer äußeren Karriere weitgehend schmälern mußte, war wohl fast ebenso unvermeidlich, wie daß ihm vonseiten seiner Zeitgenossen Unverständnis und Mißdeutungen entgegenschlugen. Weiter nachzugehen wäre dagegen den Gründen, die auch seinen modernen Interpreten ein angemessenes Verständnis seiner eigentlichen Intentionen bis in die jüngste Zeit hinein weitgehend verwehrten. Eine der Hauptursachen ist ohne Frage die literarische Form, in die Jonathan Swift160 die bekanntesten seiner Werke kleidete: nur in

'59 Westfall, Science and Religion, S. 106. 160 Die Sekundärliteratur über Swift ist sehr umfangreich. Vgl. als Bibliographien: D. M. Berwick, The Reputation of Jonathan Swift, 1 7 8 1 - 1 8 8 2 , 1941; L. A. Landa und ]. E. Tobin, Jonathan Swift — A List of Critical Studies Published from 1895 to 1945, to which is added, Remarks on Some Swift Manuscripts in the United States, 1 9 4 5 ; / . J. Statis, A Bibliography of Swift Studies 1 9 4 5 - 1 9 6 5 , 1967; C. Lament, A Checklist of Critical and Biographical Writings on Jonathan Swift, 1945—65, in: A. N. Jeffares, ed., Fair Liberty was All his Cry. A Tercentenary Tribute, 1967, S. 356—391. Es gibt zahlreiche Sammlungen von Aufsätzen und Buchauszügen über Swift: vgl. bes. M. P. Foster, ed., A Casebook on Gulliver among the Houyhnhnms, 1 9 6 1 ; / . Traugott, ed., Discussions of Jonathan Swift, 1962; E. Tuveson, ed., Swift, a Collection of Critical Essays, 1964; Jeffares, Fair Liberty, aaO.; ders., ed., Swift. Modern Judgements, 1968; B. Vickers, ed., The World of Jonathan Swift, 1968; K. Williams, ed., Swift: The Critical Heritage, 1970 (ältere Swift-Kritik bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts); C. J. Rawson, Focus: Swift, 1971; D. Donoghue, ed., Jonathan Swift: A Critical Anthology, 1971. Zu den Werkausgaben vgl. H. Teerinck, A Bibliography of the Writings of Jonathan Swift, 2. Aufl. ed. Α. Η. Scouten, 1963. Moderne Standardausgaben sind: The Prose Works of Jonathan Swift, ed. H. Davis u.a., 14 Bde., 1 9 3 9 - 6 8 ; Correspondence, ed. H. Williams, 5 Bde., 1 9 6 3 - 5 ; Journal

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d e r i n d i r e k t e n S p r e c h w e i s e d e r S a t i r e 1 6 1 m e i n t e e r die M i ß s t ä n d e , die er b e o b a c h t e t e , t r e f f e n d d a r s t e l l e n u n d d u r c h d a s S t i l m i t t e l d e r A l l e g o r i e seine L e s e r z u m N a c h d e n k e n über die h e r r s c h e n d e n Z u s t ä n d e in S t a a t , K i r c h e u n d G e s e l l s c h a f t z w i n g e n zu k ö n n e n . G e r a d e diese F o r m b e w i r k t e a b e r a u c h die M i ß v e r s t ä n d n i s s e , die seine B e d e u t u n g v o r a l l e m i m 1 9 . J a h r h u n d e r t v e r s c h ü t t e t e n u n d bis h e u t e n o c h k e i n e s w e g s a u s g e r ä u m t sind, a u c h w e n n sich A n s ä t z e z u e i n e m a n g e m e s s e n e r e n U r t e i l i n z w i s c h e n f e s t s t e l l e n l a s s e n . 1 6 2 A u c h für die S u i z / i a u s l e g u n g ist die u n g e n ü g e n d e B e r ü c k s i c h t i g u n g d e r t h e o l o g i e g e s c h i c h t l i c h e n P e r s p e k t i v e in vielen n e u e r e n D e u t u n g e n , die a u s d e r F e d e r von Literaturwissenschaftlern s t a m m e n und die literarischen Aspekte i s o l i e r e n , v o n N a c h t e i l g e w e s e n . E r s t in j ü n g s t e r Z e i t m e l d e n sich S t i m m e n , die d a r a u f h i n w e i s e n , d a s Swift

ein G e i s t l i c h e r d e r a n g l i k a n i s c h e n K i r c h e

w a r u n d seinen B e r u f e r n s t n a h m 1 6 3 ; es sind v o r a l l e m t h e o l o g i s c h e M o t i v e , die ihn g e r a d e in seinen b e r ü h m t e s t e n s a t i r i s c h e n W e r k e n l e i t e t e n u n d d o r t n a c h d e r D e n k w e i s e d e r Z e i t in u n t r e n n b a r e r Z u s a m m e n s c h a u m i t politischen, moralischen und literarischen Perspektiven b e g e g n e n . 1 6 4 Wenig beto Stella, ed. H. Williams, 2 Bde., 1 9 4 8 ; Poems, ed. H. Williams, 3 Bde., 2 1 9 5 8 ; Collected Poems, ed. J. Horrell, 2 Bde., 1 9 5 8 . 161 Vgl. D. Worcester, The Art of Satire, 1 9 4 0 ; E. Ley burn, Satiric Allegory: Mirror of Man, 1 9 5 6 ; N. Frye, The Anatomy of Criticism, 1 9 5 7 ; R. Poulson, T h e Fictions of Satire, 1 9 6 7 ; und speziell zu Swift: J. Μ. Bullitt, Jonathan Swift and the Anatomy o f Satire: A Study of Satiric Technique, 1 9 5 3 ; R. C. Elliott, The Power o f Satire: Magic, Ritual, Art, 1 9 6 0 ; H. Davis, T h e Satire o f J o n a t h a n Swift ( 1 9 4 7 ) , in: ders., Jonathan Swift. Essays on his Satire and Other Studies, 1 9 6 4 , S. 1 0 1 - 1 6 0 ; Ε. E. Rosenheim, J r . , Swift and the Satirist's Art, 1 9 6 3 ; C. J. Razvson, The Character of Swift's Satire, in: ders., ed. Focus: Swift, aaO., S. 17—75. Zur neueren Forschungsgeschichte vgl. Μ. Voigt, Swift and the twentieth century, 1 9 6 4 ; außerdem die Introduction von Ε. Tuveson, in: ders., ed., Swift, aaO., S. 1—14; von N. Jeffares, in: ders., ed., Swift, aaO., S. 11—25. 163 Auch sein langer Aufenthalt in England 1707—14, während dessen er als Literat Verbindungen zu den höchsten politischen Kreisen pflegte und das gesellige Leben in London in vollen Zügen genoß, stand in Zusammenhang mit einem im Interesse der irischen Kirche durchgeführten Auftrag. Vgl. die neueste Biographie von l. Ehrenpreis, Swift, The Man, His Works, And the Age, Bd. II, 1 9 6 7 , S. 1 9 5 f f . N* Vgl. u.a. E. Tuveson, The Dean as Satirist, in: U T Q 2 2 , 1 9 5 3 , S. 3 6 8 - 3 7 5 = Swift, ed. Tuveson, aaO., S. 10—110; R. M. Frye, Swift's Y a h o o and the Christian Symbols for Sin, in: J H I 15, 1 9 5 4 , S. 2 0 1 - 2 1 7 = Casebook, ed. Foster, aaO., S. 2 0 8 - 2 2 6 ; W. B. Ewald, J r . , The Masks of Jonathan Swift, 1 9 5 4 , S. 4 0 - 5 2 ; B. Hall, „An Inverted Hypocrite": Swift the Churchman, in: Vickers, ed., World, aaO., S. 38—68. — Zu Swifts amtlicher Tätigkeit als Dorfpfarrer und Dekan der St. Patrick-Kathedrale in Dublin vgl. L. A. Landa, Swift and the Church of Ireland, 1 9 5 4 ; zu seiner Staatskirchenpolitik J. C. Beckett, Swift as an Ecclesiastical Statesman, in: Essays in British and Irish History, in Honour o f J. E. Todd, 1 9 4 9 , S. 135—52 = Traugott, ed., Discussions, aaO., S. 121 — 130 = Jeffares, ed., Fair Liberty, aaO., S. 1 4 6 - 1 6 5 . 162

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kannt sind Swifts unmittelbar und ernsthaft theologische Schriften und die wenigen von ihm erhaltenen Predigten 16s , die geeignet sind, weiteres Licht auf seine wahre Einstellung, die sich auch hinter den Satiren verbirgt, zu werfen. Es ist bisher noch nicht festgestellt worden, was ein Vergleich seiner frühen Satire: „The Tale of the Tub" 1 6 6 mit seinem Spätwerk: „Gulliver's Travels" 167 lehren kann: daß Swift in den Jahrzehnten, in denen er seine Welt beobachtete, eine erhebliche geistige Entwicklung durchgemacht hat. In der Grunderzählung 168 der „Tale of the Tub", der Geschichte von den drei Brüdern, die von ihrem Vater als Vermächtnis ein je gleiches Gewand erhalten mit der Anweisung, nichts daran zu verändern, wenn sie nicht Schaden nehmen wollen, begegnet uns ein neues Beispiel der bekannten humanistisch-protestantischen Depravationstheorie für die Kirchengeschichte. 169 Swift erweist sich hier als ein treuer Schüler des gemäßigt165 Mit beiden beschäftigt sich Hall, aaO., sowie Ewald, aaO. 166 Ygi_ z u dieser E. Pons, Swift, les annees de jeunesse et le conte du Tonneau, 1932; M. Starkman, Swift's Satire on Learning in A Tale of a Tub, 1950; R. Μ. Adams, Swift and Kafka: Satiric Incongruity and the Inner Defeat of the Mind, in: Strains of Discord: Studies in Literary Openness, 1958, S. 146—179; R. Paulson, Theme and Structure in Swift's Tale of a T u b , 1960 (dazu die Besprechungen von H. Davis, in: RESt N. S. 12, 1961, S. 3 0 0 - 3 0 2 ; P. Harth, in: MPh 58, 1961, S. 2 8 2 85); P. Harth, Swift and Anglican Rationalism. The Religious Background of A Tale of a Tub, 1961; D. Ward, J o n a t h a n Swift. An Introductory Essay, 1973, S. 1 6 - 5 8 . 167 Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht hier mit Recht die vierte Reise. Dazu vgl. vor allem die bei Foster, Casebook, aaO., auszugsweise wiedergegebenen Auffassungen (die bei F. Brady, ed., Twentieth Century Interpretations of Gulliver's Travels, 1968, gebotenen Auszüge sind teilweise sehr kurz) sowie die meisten Beiträge in der Sammlung von E. Tuveson, Swift, aaO., Außerdem C. J. Rawson, Gulliver and the Gentile Reader, 1973, Kap. I, S. 1 - 3 2 (= Essays . . . in H o n o u r of / . Butt, 1968, S. 51—90). Besonders wichtig waren mir K. Williams, J o n a t h a n Swift and the Age of Compromise, 1958, Kap. VII, S. 154ff. (Auszug auch bei Tuveson, aaO., S. 115—122; vgl. auch dies., Gulliver's Voyage to the Houyhnhnms, in: ELH 18, 1951, S. 2 7 5 - 2 8 6 = Foster, ed., Casebook, S. 1 9 3 - 2 0 3 ) und Rosenheim, Swift, aaO. 168 Die Auslegung hat seit längerer Zeit (vgl. Ε. Pons, Swift; R. Quintana, The Mind and Art of J o n a t h a n Swift, 1936 [Reprint 1953, 1965], S. 8 6 - 9 6 ; Rosenheim, Swift, S. 54—66; Harth, aaO., S. 2ff.) deutlich gemacht, daß es sich in der Satire um zwei getrennte Themen handelt: die Grunderzählung beschreibt die Mißbräuche in der Religion, die ,.Abschweifungen" beschäftigen sich (bis auf Abschnitt IX, der mit VIII eng verbunden ist) mit Mißbräuchen in der Wissenschaft. Beide Teile sind auch nacheinander entstanden, vgl. A. C. Guthkelch und D. N. Smith, Introduction zu Swift, A Tale of a T u b , 2 1958; Η. Davis, Introduction, in: Prose Works, aaO., Bd. I; Harth, aaO., S. 6ff. 169 Harth, aaO., S. 56, bemerkt, dies sei eine so gewöhnliche Konvention im anglikanischen Rationalismus, daß es unmöglich sei, eine direkte Quelle für die Fabel auszumachen. Zu den Hintergründen vgl. auch D. Ward, Swift, S. 59ff. 37

Reventlow, Bibelautorität

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rationalen Anglikanertums, wobei noch auffällt, daß Jack, der Vertreter des schottischen Reformiertentums, sehr viel lächerlicher in seinem als irrational dargestellten Verhalten erscheint, denn Peter, der die römische Kirche verkörpert. 170 Im Kampf gegen den „Enthusiasmus" steht Suiift hier in einer Reihe mit Shaftesbury (besonders deutlich auch in der „Abschweifung" in Abschnitt IX). Aber auch in den „Abschweifungen", in denen er sich gegen die Verwirrungen der „Modernen" für die „Alten" 1 7 1 einsetzt, ist ebendieses humanistische Erbe, das an den klassischen Grundlagen des Denkens gegenüber den Ansprüchen der neuen Naturwissenschaft festhält, lebendig. 1 7 2 Dasselbe Thema, das auch in „The Battle of the Books" begegnet, kehrt auch in „Gulliver's Travels" noch einmal wieder: in der Reise nach Laputa, w o Swift nach wie vor seiner Sorge vor dem Totalitätsanspruch der Newtonianer in der Form der Karikatur der besessenen und mit Scheuklappen arbeitenden Astronomen Ausdruck gibt. 1 7 3 Anders in der Anthropologie: hier wächst dem unbestechlichen und immer illusionsloser werdenden Menschenbeobachter Swift eine Erfahrung zu, die er besonders in der vierten Reise Gullivers mit den Mitteln der klassischen Satire in eindrucksvoller Weise künstlerisch gestaltet. 1 7 4 Der Idealismus des 19. Jahrhunderts hat Swift gerade an dieser Stelle am wenigsten verstanden, indem es ihn mit allen Zeichen des Abscheus 1 7 5 als Menschenverächter und Sonderling hinstellte. 1 7 6 Inzwischen ist deutlich geworden, daß Swift, wie auch in 170 Harth, aaO., S. 57. 171 R. F. Jones, Ancients and Modems. 172 Adams, Swift and Kafka, aaO., S. 147, merkt an, daß diese Debatte zur Zeit der Entstehung der Satire schon fast aus der Mode gekommen war; Swifts Blickpunkte weisen in vielem in das vergangene J a h r h u n d e r t zurück. 173 Vgl, M. Nicolson und Ν. M. Möhler, The Scientific Background of Swift's Voyage to Laputa, in: Annals of Science 2, 1937, S. 3 2 5 - 3 2 7 . 17 * Rosenheim, Swift, S. 101, hat recht, wenn er darauf hinweist, es sei zu wenig, die vierte Reise lediglich als Satire zu behandeln: „It must be seen . . . as the expression of answers to the kind of universal question which are the province n o t of the satiric b u t of the philosophic m i n d . " Vgl. auch ds., S. 225. 175 Berühmt geworden ist die Äußerung W. Μ. Thackerays, The English Humourists of the Eighteenth Century, 1853, S. 38f. (vgl. die Auszüge bei Foster, ed., Casebook, aaO., S. 85f., und Traugott, ed., Discussions, S. 14—21): „As f o r the h u m o u r and conduct of this famous fable, I suppose there is no person who reads b u t must admire; as for the moral, I think it horrible, shameful, unmanly, blasphemous; and giant and great as this Dean is, I say we should h o o t him . . . The reader of the f o u r t h part of Gulliver's Travels is like the hero himself in this instance. It is Yahoo language; a monster gibbering shrieks and gnashing imprecations against mankind, — tearing down all shreds of modesty, past all sense of manliness and shame; filthy in word, filthy in thought, furious, raging, obscene." 176 Eine Nachwirkung dieser Haltung ist noch die psychoanalytische Beurteilung im Freudschen Sinne bei ]. M. Murphy, J o n a t h a n Swift, 1954, S. 4 3 2 - 4 4 8 , und vor

Formen der Apologetik

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seinen ernsthaften 177 und ironischen 178 kirchlich-theologischen Schriften in Gullivers Position zwischen den rationalen, vom Menschsein weit entfernten Fabelwesen der Houyhnhnms und den animalischen Yahoos ein Menschenbild zeichnet, das zu dem rationalen Selbstanspruch der humanistischen Tradition in einen diametralen Gegensatz tritt: die kalte stoische Rationalität der Houyhnhnms ist ebenso ein Zerrbild, das jeder echten mitmenschlichen Beziehung im Wege steht 1 7 9 180 , wie die brutale Animalität der Yahoos, die gleichwohl viel eher der Realität menschlicher Existenz entspricht. Es ist immer deutlicher geworden, daß Swift dem menschlichen Hochmut, der sich in der allem N. O. Brown, From Life against Death, 1959, S. 1 7 9 - 2 0 1 = Tuveson, ed., Swift, aaO., S. 31—54 = Traugott, ed., Discussion, S. 92—104. Dabei spielt auch das oft verhandelte Thema der sog. Schmutzgedichte Swifts eine Rolle. Ähnlich noch Ward, Swift, S. 130. 177 Wie den „Sentiments of a Church-of-England Man", der „Letter to a Young Gentleman lately entered into Holy Orders" und den Predigten (vgl. auch die „Letter from a Member of the House of Commons in Ireland concerning the Sacramental T e s t " gegen die Dissenter), vgl. dazu Hall, aaO., sowie die Introduction zu den Predigten von L. A. Landa, in: Prose Works, aaO., Bd. IX, S. 9 7 - 1 3 7 . 178 Besonders „An Argument To prove, That the Abolishing of Christianity in England, May, as Things now Stand, be attended with some Inconveniences, and perhaps, not produce those many good Effects proposed t h e r e b y " (vgl. dazu auch Rosenheim, Swift, S. 39ff.). Unsicher ist, ob auch „A project for the Advancement of Religion, and the Reformation of Manners" ironisch oder ernsthaft gemeint ist; letzteres würde eine gewisse Naivität Swifts oder die pessimistische Einstellung voraussetzen, daß eine offiziell geförderte Heuchelei der zunehmenden Bindungslosigkeit in den führenden Schichten des Staates immerhin noch vorzuziehen sei. 179 Satirisch dargestellt in der Entfremdung, die Gulliver bei seiner letzten Rückkehr gegenüber dem freundlichen portugiesischen Kapitän und vor allem gegenüber seiner Familie kundtut, indem er seine Angehörigen im wörtlichen Sinne nicht mehr „riechen" kann. Die frühere Ansicht, die Houyhnhnms verkörperten ein (utopisches) Ideal Swifts (so u.a. noch G. Sherbum, Errors Concerning the Houyhnhnms, in: MPh 56, 1958, S. 9 2 - 9 7 = Foster, ed., Casebook, S. 2 5 8 - 2 6 6 ) ist nicht haltbar; vgl. dazu vor allem Κ. M. Williams, Gulliver's Voyage to the Houyhnhnms, in: J E L H 18, 1951, S. 2 7 5 - 2 8 6 = Jeffares, ed., Swift, S. 2 4 7 - 2 5 7 = Foster, ed., Casebook, S. 1 9 3 - 2 0 3 ; S. H. Monk, The Pride of Lemuel Gulliver, in: Sewanee Rev 63, 1955, S. 4 8 - 7 1 ; Brady, ed., Interpretations, S. 70—79; Rosenheim, Swift, bes. S. 216f. Vgl. auch Rawson, Gulliver and the Gentle Reader, S. 29ff. Adams, Swift and Kafka, S. 165. 180 Überspitzt war wohl die frühere Auffassung von I. Ehrenpreis, The Origins of Gulliver's Travels, in: PMLA 62, 1957, S. 8 8 0 - 9 9 ; ders., The Personality of J o n a t h a n Swift, 1958 (Reprint 1969), S. 9 9 - 1 0 9 , der in den H o u y h n h n m s eine Satire speziell der Deisten sah (von Ehrenpreis in: The Meaning of Gulliver's Last Voyage, in: RELit 3, 1962, S. 1 8 - 3 8 = Swift, ed. Tuveson, aaO., S. 1 2 3 - 1 4 2 , ausdrücklich zurückgenommen). Zutreffender ist nach wie vor die Ansicht von T. O. Wedel, On the Philosophical Background of Gulliver's Travels, in: SP 23, 1926, S. 4 4 2 - 4 5 0 = Foster, ed., Casebook, S. 87—94 = Brady, ed., Interpretations, aaO., S. 23—34, der als Swifts Zielscheibe den allgemeinen Stoizismus der Zeit erkannte.

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allgemeinen geistigen Haltung seiner Zeit, gerade auch in der latitudinarischen Theologie, kundtut, in Gullivers vierter Reise eine Absage erteilen will. 181 Gegenüber dem allgemeinen Vertrauen auf die Rationalität des Menschen bringt er die Grundaussage christlichen Glaubens von der Sündhaftigkeit des Menschen, seinem Verfallensein an die Bedingungen seiner kreatürlichen Existenz in eindrücklicher Anschaulichkeit in Erinnerung. 182 Häufig zitiert wird Swifts Brief vom 29. September 1725 an Pope183, in dem Swift die gängige Bezeichnung des Menschen als „animal rationale" ablehnt und statt dessen nur die Definition „animal rationis capax" gelten läßt. 1 8 4 Fähig ist der Mensch eines bescheidenen Maßes von Vernunft nur dann, wenn er durch die Annahme der Vergebung einen Anfang der Erneuerung seines Lebens erfahren hat; Swift bemüht sich in der Form der Parabel, diese christliche Wahrheit seinen aufklärerisch gestimmten Lesern unter die Haut zu bringen. 185 In diesem Zusammenhang muß man auch die Episode mit den Struldbruggs sehen, deren Senilität in ihrem ewigen irdischen Leben den Kontrast selbstsüchtiger menschlicher Würde zu der nur durch Gottes Hilfe zu erlangenden jenseitigen Ewigkeit vor Augen stellt. 186 Die GlubbdubdribEpisode lehrt Gulliver, der eben noch gegenüber dem König von Brobdingnag die Vorzüglichkeit der englischen Nation, insbesondere ihres Adels, gerühmt hat, die Erkenntnis, daß auch unter den berühmten Toten kaum einer ist, der seine Stellung nicht durch unlautere Mittel erlangt hat. 1 8 7 Die gesamte Erzählung, besonders seit der dritten Reise, ist der Bericht von einer fort181 Die Bemerkung ist neuerdings oft wiederholt worden, daß er sich vor allem gegen den gänzlich unangebrachten menschlichen Stolz wendet. 182 Vgl. jig o.S. 576, Anm. 164, genannten Arbeiten; außerdem die Introduction von E. Tuveson zu ders., Swift, bes. S. 7. lOf. Correspondence, ed. Williams, Bd. III, S. 1 0 2 - 1 0 5 . 184 Der Hintergrund dieser Unterscheidung ist sehr viel deutlicher geworden, seit R. S. Crane, The Houyhnhnms, the Yahoos, and the History of Ideas, in: Reason and Imagination: Studies in the History of Ideas, 1600—1800, ed. / . A. Mazzeo, 1962, S. 2 3 1 - 5 3 = Brady, ed., Interpretations, S. 8 0 - 8 8 = ders., The Idea of the Humanities and other Essays, Bd. II, 1967, S. 261—82, nachgewiesen hat, daß Swift sich in der Ablehnung der erstgenannten Definition konkret auf die porphyrische Logik bezieht, wie sie ihm im Dubliner College während seiner Studienzeit in Gestalt der Institutio logicae des N. Marsh (1679, 2 1681) als autoritativ vorgesetzt worden war. 185 Den Vorwurf, er sei deshalb ein Misanthrop, wehrt Swift selbst ab in seinem Brief an Pope vom 26. November 1725 (Correspondence, ed. Williams, Bd. III, S. 116— 119): „I tell you after all that I do not hate Mankind, it is vous autres who hate them because you would have them reasonable Animals, and are Angry for being disappointed." 186 Vgl. J. L. Baroll, III, Gulliver and the Struldbruggs, in: PMLA 73, 1958, S. 4 3 - 5 0 . 187 Vgl. Ε. Reiss, The Importance of Swift's Glubbdubdrib Episode, in: JEGP 59, 1960, S. 2 2 3 - 2 2 8 .

581

Formen der Apologetik s c h r e i t e n d e n D e s i l l u s i o n i e r u n g . 1 8 8 In all d e m ist Swift schen Einflüsse seiner J u g e n d h i n a u s g e s c h r i t t e n

189

über d i e h u m a n i s t i -

( w e n n er a u c h w e i t e r h i n

i m Z u s a m m e n h a n g mit der T h e m a t i k seiner Zeit ein Moralist geblieben i s t ) . 1 9 0 A u c h die D e f i n i t i o n des M e n s c h e n , die eine R e i h e v o n Kritikern191 in G u l l i v e r s vierter R e i s e d a r g e s t e l l t f i n d e n : d a ß er e i n e E x i s t e n z i n der M i t t e z w i s c h e n d e m A n i m a l i s c h e n u n d d e m R a t i o n a l e n b e s i t z e , u n d e s für i h n auf A u s g e w o g e n h e i t z w i s c h e n b e i d e n K o m p o n e n t e n a n k o m m e , t r i f f t n i c h t d e n S a c h v e r h a l t . Swifts

wahre A b s i c h t — u n d dieser dient auch die Einfüh-

rung der H o u y h n h n m s als r a t i o n a l e t i e r i s c h e W e s e n 1 9 2 — ist v i e l m e h r , d i e Selbstüberhebung des M e n s c h e n zu z e r s t ö r e n 1 9 3 und ihn der Unsicherheit z u überlassen, w e l c h e d i e F r u c h t t r e f f e n d e r Satire i s t 1 9 4 u n d z u g l e i c h d e m s e e l s o r g e r l i c h e n Z w e c k e d i e n t , d e n L e s e r für e c h t e S e l b s t b e s c h e i d u n g e m p fänglich zu m a c h e n . 1 9 5

188

AaO., S. 228. Deshalb ist B. Halls Kritik an Harth, in: Vickers, ed., World, aaO., S. 53f., wegen dessen These, Swift gehöre in der Tale of a T u b in die Linie des „anglikanischen Rationalismus", nicht berechtigt, da man die Predigten und vor allem Gulliver's Travels als Zeugnisse späterer innerer Wandlungen Swifts einordnen muß. 190 Vgl. dazu M. Price, To the Palace of Wisdom, 1965, Kap. VI. Swift: Order and Obligation, S. 180—240. Zu Swifts „Letter to a Young G e n t l e m a n " vgl. auch Harth, aaO., S. 32ff. Z.B. R. Quintana, Mind, aaO., S. 320f.; K. Williams, Swift, aaO., S. 204ff. Auch der Ausdruck „harmonizing of Reason and Revelation" (Hall, aaO., S. 50) ist irreführend, weil er ein Gleichgewicht suggeriert, das für Swift in seinem, auch dem christlichen, Menschenbild nie bestand. 192 Der erste, der die traditionelle Auffassung in diesem Punkt erschütterte, war F. R. Leavis, The Irony of Swift, in: Scrutiny, Bd. II, 1934, S. 3 6 4 - 7 8 = ders., Determinations, 1934, S. 7 8 - 1 0 8 = ders., The Common Pursuit, 1952, S. 7 3 - 8 7 = Casebook, ed. Foster, S. 204—207 (Auszug) = Traugott, ed., Discussions, S. 35—43. Vgl. außerdem Rosenheim, Swift, aaO., bes. S. 216f. 219. Auch Rawson, Gulliver and the Gentle Reader, aaO., S. 30, welcher der Ansicht ist, die H o u y h n h n m s seien von Swift durchaus positiv gemeint, gibt doch zu, daß sie kein Modell seien, da es ohne Frage für uns unmöglich sei, sie nachzuahmen. „But it is more important still to say that the Houyhnhnms are n o t a statement of what man ought to be so much as a statement of what he is n o t " , aaO., S. 31. — Abgewogen Ward, Swift, S. 170ff. 193 So richtig bereits Wedel, aaO.; außerdem Κ. Williams, Gulliver's Voyage to the Houyhnhnms, aaO., S. 247 u.a. Rawson, Gulliver, aaO., S. 28f. Vgl. auch Ward, Swift, S. 128ff. (auch zur Rolle der Houyhnhnms: Gulliver wird nur die Wahl zum positiven oder negativen Menschsein gelassen; sowohl Yahoos wie Houyhnhnms sind Trugbilder, keine Realität). 195 Rosenheim, Swift, S. 214, nennt deshalb diese Form der Satire „homiletic"; vgl. auch S. 216: „And here it is vital that we remember the ultimately homiletic character of Swift's undertaking. His task . . . is to implant not affirmative conviction b u t an agonizing awareness of inadequacy and false pride within the minds of his audience." 189

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Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

Wenn wir so Swift als eine Stimme hören, die der mächtigen stoisch-rationalen Stimmung der Zeit energisch widerspricht 196 , müssen wir zugleich feststellen, daß er ein krasser Außenseiter war und das Gehör, das er, damals wie heute meist zudem noch mißverstanden, fand, hauptsächlich seiner satirischen Kunst und weniger der Sache, die er vertrat 197 , verdankt. 198 Die allgemeine Strömung ging über ihn hinweg, und daß er den Rest seines Lebens nach den wenigen Jahren indirekter Einflußmöglichkeit auch auf die große Politik während der Episode der Tory-Herrschaft unter Königin Anna199 im fernen Irland verbringen mußte, ist nur ein äußeres Zeichen für die Wirkungslosigkeit seiner tiefsinnigen Kritik in einer Zeit, die in der Weise Shaftesburys und Bolingbrokes den moralischen Optimismus auf ihre Fahnen geschrieben hatte. 2 0 0

Kapitel 3: Die Hochblüte des Deismus a) Anthony

Collins

Unterdessen nahm die deistische Bewegung ihren Fortgang mit dem Auftreten von Anthony Collins.1 Vieles im Leben und im Charakter der Schrif196 Dieser Widerspruch ließe sich auch im Verhältnis Swifts zu Bolingbroke aufweisen, wie es in verstreuten Bemerkungen in Swifts Korrespondenz zum Ausdruck k o m m t ; ein m. W. noch nicht bearbeitetes T h e m a (vgl. die Andeutungen bei Williams, Swift, S. 187ff., und Tuveson, Introduction, in: Tuveson, ed., Swift, aaO., S. 7). Vgl. den General Index bei Williams, ed., Correspondence, Bd. V, S. 299f. 197 L. A. Landa, in: Swift, Prose Works, Bd. IX, S. 101, umschreibt sie als „a conservative adherence to simple and indisputable o r t h o d o x y " . 198 Hall, aaO., S. 45, beklagt sich: „Modern literary criticism has produced many brilliant analyses of the surface of the satires, b u t is curiously silent about the assumptions behind them . . . " 199 Vgl / . Sutherland, Background for Queen Anne, 1939, S. 7 8 - 1 2 6 ; R. I. Cook, J o n a t h a n Swift as a Tory Pamphleteer, 1967. 200 Man sollte jedoch nicht verkennen, daß die konservative Form christlicher Tradition in den Gemeinden der anglikanischen Kirche nach wie vor die Herrschaft hatte; vgl. dazu auch Quintana, Swift: An Introduction, 1955 (Reprint 1962, 1966), S. 154. Mit seinen Satiren richtete sich Swift jedoch an die gebildeten Kreise, und hier sahen die Dinge ganz anders aus. 1 Vgl. zu ihm Lechler, Geschichte, S. 217—239; C. Motzo Dentice di Accadia, II Deismo Inglese del settecento, S. 2, in: GCFI 16, ser. 2, vol. 3, 1935, S. 3 2 3 - 3 4 3 ; / . H. Broome, Une Collaboration: Collins et Desmaizeaux, in: RLC 30, 1956, S. 1 6 0 - 1 7 9 ; G. Gawlick, Einleitung zu: Collins, A Discourse of Free-Thinking, 1713, Faksimile-Nachdruck 1965; Ε. Α. Bloom und L. D. Bloom, Introduction zu A Discourse concerning Ridicule and Irony in Writing (1729), Reprint 1 9 7 0 ; / . O'Higgins, Antony Collins: T h e Man and his

Die Hochblüte des Deismus

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ten Collins' bestätigt die bisher beobachteten Entwicklungslinien. Nicht zufällig gab seine Bekanntschaft mit Locke in dessen letzten Lebensjahren 2 den inneren Anstoß zu seiner Schriftstellerei und zeigt sich der Einfluß Lockes auch im Inhalt vieler seiner Schriften. Das gilt bereits für sein erstes Buch, den „Essay concerning the Use of Reason in Propositions, the Evidence whereof depends on Human Testimony", 1707. 3 Die Definition des Begriffes „Vernunft", mit der Collins einsetzt 4 : „By Reason I understand that faculty of the Mind whereby it perceives the Truth, Falshood, Probability or Improbability of Propositions" ist ebenso im Geiste Lockes gedacht wie die Näherbestimmung der Wahrheit, Falschheit, Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit von Sätzen als „the necessary or probable agreement or disagreement of the Ideas of which thfe extremes in Propositions consist." 5 Der Ausgangspunkt ist also bei Collins dem in Tolands „Christianity not Mysterious" 6 eng verwandt; ähnlich wie Toland ging auch Collins von Lockes Epistemologie im 4. Buch des „Essay concerning Human Understanding" aus, zog aber aus dessen Ansatz Konsequenzen, die Locke bewußt vermieden hatte. 7 Als Maßstab für die Unterscheidung zwischen Sätzen, denen zugestimmt werden kann oder nicht, nennt er, daß diese „are adequately divided into Propositions agreeable or contrary to Reason; and there remains no third Idea under which to rank t h e m " . 8 Insbesondere gilt dies für alle Aussagen, die als geschichtliche Tatsachen aufgrund äußerer Bezeugungen von Menschen angenommen werden sollen, vor allem für die offenbarte Religion. 9 Glaubwürdigkeit in diesem Bereich können nur Aussagen beanspruchen, von denen gilt „That the words made use of in the Relation stand for known Ideas, or Ideas that we are capable of forming". 10 Dies betrifft, wie aus den folgenden Aussagen deutlich wird 11 , Work, 1970. Verzeichnis der Werke Collins' ds., S. 2 4 3 f f . - Zu Collins' Hermeneutik, insbesondere zu seinem Verständnis der alttestamentlichen Prophetie: H. W. Frei, The Eclipse of Biblical Narrative. A Study in Eighteenth and Nineteenth Century Hermeneutics, 1974, S. 6 6 - 8 5 . 2 Vgl. Lechler, aaO., S. 2 1 7 f f . ; O'Higgins, aaO., S. 3ff. 3 Vgl. zu ihr Gawlick, Einleitung, aaO., S. 19f.; O'Higgins, aaO., S. 5 I f f . Die 2. Aufl. erschien 1709. * AaO., S. 3. 5 AaO., S. 4. 6 Auf die Entsprechung macht auch O'Higgins aufmerksam, aaO., S. 5 If. Zu den Beziehungen zwischen beiden Deisten vgl. ds., S. I 3 f f . 7 Zu dem Verhältnis von Collins zu seinem Lehrer Locke vgl. den auch von Gawlick, aaO., Anm. 6 auf S. 34, zitierten Brief an Clarke. 8 AaO., S. 24f. 9 AaO., S. 7ff. »o AaO., S. 8. » AaO., S. 9f.

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Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

speziell den Bereich der „Geheimnisse" (Mysteries), die ebenso unverständlich bleiben müssen wie einem blinden Mann die Rede von Farben. Auch Mitteilungen über eine göttliche Offenbarung müssen unseren menschlichen Verständnismöglichkeiten angepaßt sein 12 ; Glaubenssätze dürfen einander nicht widersprechen und auch nicht im Gegensatz zu Sätzen stehen, die wir durch formale Deduktion von Ideen (im Locke sehen Sinne) ableiten können. 1 3 Diese Grundsätze verlangen im Hinblick auf die Heilige Schrift nach einer besonderen Form der Anwendung. Denn Gott mußte, damit auch schlichte Gemüter des einfachen Volkes verstehen konnten, daß er sich um sie kümmere, in einer Offenbarung dargestellt werden, die sich solcher Worte bedient, „whose literal meaning is False, but whose real meaning is consistent with the justest Notions of Reason and Philosophy". 1 4 Die Schrift muß deshalb in der Weise gelesen werden, daß man untersucht, „whether the Words under any Construction bear a reasonable Sense". „It is most evident that the Authors of the Holy Scriptures had not principally in view SpeculativeInstruction." Sie paßten vielmehr ihre Ausdrücke den Verständnismöglichkeiten der überwiegenden Zahl der Menschheit an. )r No doubt, had Moses or any of the inspired Writers been t o write a Treatise of Metaphysicks wherein they had treated of God, they most certainly would have spoken of him with exactness, and have elevated their Minds above all created Beings, and put nothing to appearance into their Idea of God but what belong'd to an infinitely perfect Being." 15 Sie hatten aber in ihren Schriften eine moralische Absicht. Anthropomorphe Begriffe und Vorstellungen über Gott gehören zu dieser Form der Akkommodation. Deshalb darf man die Bibel nicht im Literalsinne verstehen, sondern muß (mit ihren anderwärts anzutreffenden spirituellen Gottesaussagen) ihren Sinn den Grundsätzen der Vernunft und Philosophie entsprechend umsetzen. In diesen Ausführungen finden wir viel vom Locke sehen Erziehungsdenken. Charakteristisch ist aber auch, daß Collins zweimal ausdrücklich Äußerungen von Tillotson zur Unterstützung seines Gedankenganges heranziehen kann 1 6 ; sein Denken ist dem der Latitudinarier in vieler Hinsicht tatsächlich nahe benachbart. 1 7 In dieser Frühschrift treffen wir sogar einige ausgesprochen 12

AaO., S. 14; vgl. auch das Zitat bei O'Higgins, aaO., S. 54. 13 AaO., S. 16. " AaO., S. 17f. «s Zitate: aaO., S. 18. 16 AaO., S. 15. 20. Zu Collins' Verhältnis zu Tillotson vgl. auch O'Higgins, aaO., S. 4 5 47. 11 Unberechtigt ist dagegen die Annahme einer speziellen Abhängigkeit Collins' von Spinoza, O'Higgins, aaO., S. 55; Collins steht hier vielmehr im breiten Strom der humanistischen Tradition.

Die Hochblüte des Deismus

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apologetische Züge an: so wenn Collins mit einigen auch D. Huet18 entn o m m e n e n Beobachtungen zu Ex. 16,35; Dt. 3,14 diese beiden Stellen als jüngere Ergänzungen im Pentateuch erklärt, auf diese Weise für ihn die mosaische H e r k u n f t rettend. 1 9 Sein Ziel dabei spricht er aber deutlich aus: es besteht darin, „to prove the necessity of the use of Reason to distinguish Falshood f r o m T r u t h in matters of Revelation", auch wenn er als erklärte apologetische Absicht hinzufügt: „in order to give all possible A u t h o r i t y t o that which can with any reason be suppos'd to be a Revelation". 2 0 Im folgenden 2 1 beschäftigt sich Collins dann mit den Begriffen „Things above, and Things contrary to Reason". In diesen (nicht immer sehr klaren) Ausführungen geht es 2 2 u n t e r anderem u m das Problem der Trinität, wobei soviel deutlich ist, daß Collins die Ansicht vertritt, niemand brauche etwas zu glauben, was „über der V e r n u n f t " , also durch diese nicht begreifbar sei. Die übliche Auffassung, es gebe auch Dinge, die für den menschlichen Verstand nur teilweise oder überhaupt nicht erreichbar seien, so daß wir für ihre Kenntnis der Offenbarung bedürfen, lehnt er entschieden ab. Auch in den scheinbar schwierigen Fällen der Ideen der Unbegrenztheit, der Ewigkeit und des Ausgleichs zwischen Vorherwissen G o t t e s und Freiheit des Menschen lassen sich die Anstöße durch klare Definitionen ausräum e n . 2 3 Für das zweite Problem k o m m t er zur Lösung des Determinismus; eine These, die er drei J a h r e später (in Auseinandersetzung mit einer Predigt des Dubliner Erzbischofs W. King) weiter ausbaute 2 4 und 1717 in dem Werk abschließend begründete, das O'Higgins als das bei weitem beste seiner rein philosophischen Werke bezeichnet 2 5 : der „Philosophical Inquiry concerning Human L i b e r t y " . 2 6 In unserem Zusammenhang brauchen wir jedoch auf diesen Gegenstand nicht näher einzugehen u n d k ö n n e n es auch hinsichtlich der von Collins mit Clarke in den J a h r e n 1707—8 geführten Debatte über die Frage, ob die Seele eine Materie hat und ob eine Materie d e n k e n könne 2 7 , bei einem Hinweis bewenden lassen. 18

19 Demonstratio Evangelica, 1690. Essay, S. 2 1 - 2 3 . AaO., S. 23. Auch O'Higgins, aaO., S. 55f., ist der Meinung, Collins habe keineswegs die Schrift als solche diskreditieren wollen. 2 J Essay, S. 23ff. 22 In Auseinandersetzung mit F. Gastreil, Considerations concerning the Trinity, 1696. » AaO., S. 42ff. 24 A Vindication of the Divine Attributes, in some Remarks o n his Grace the Archbishop of Dublin's Sermon intituled „Divine Predestination consistent with the Freedom of Man's Will", 1710. Zu den Einzelheiten vgl. O'Higgins, aaO., S. 6 I f f . 25 AaO., S. 96. 26 Dieses Werk erreichte bis 1790 insgesamt fünf Auflagen. 27 Zu den Einzelheiten vgl. O'Higgins, aaO., S. 69ff.; hierzu auch Gawlick, Einleitung, S. 2Of. 20

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Der Höhepunkt der Bibelkritik im englischen Deismus

Auch Collins' schriftstellerische Tätigkeit steht in einem engen Zusammenhang mit den kirchenpolitischen (und damit damals selbstverständlich auch allgemeinpolitischen) Tagesereignissen. Dies sieht mein besonders deutlich an dem Erscheinen eines Pamphlets aus seiner Feder im Umkreis der Sacheverell-Debatte der Jahre 1709—10 28 , in dem er sich ausführlich mit dem Satz im zwanzigsten der 39 Artikel der anglikanischen Kirche auseinandersetzt: „The Church hath power to decree rites or ceremonies, and authority in controversies of faith" und diesen als eine nachträgliche Hinzufügung zum Text nachzuweisen unternimmt. 2 9 Er sieht in der Einfügung dieser Klausel, wie schon im Untertitel der Schrift ersichtlich 30 , einen Betrug der hohen Geistlichkeit. 31 Aufschlußreich ist, daß er jedoch die Convocation von 1562 unter Erzbischof Parker, welche die 39 Artikel ursprünglich verabschiedete, und die von 1571, die sie revidierte, schon durch sein methodisches Vorgehen (in ihrer Deutung als einer Text erweit erung), mehr aber noch aus ganz bestimmter Absicht entlastet: offensichtlich will er die für die Reformation unter Elisabeth I eigentlich Verantwortlichen in einem positiven Licht erscheinen lassen und schiebt deshalb den Betrug durch den Einsatz, den er zuerst in der gedruckten lateinischen Ausgabe von 1563 entdeckt zu haben glaubt 3 2 , einem Unbekannten 3 3 in die Schuhe. Mit dieser Tendenz stimmt der Inhalt einer ausführlichen Anmerkung 3 4 überein, in der von der Königin Elisabeth eine Anekdote erzählt wird, wie sie von dem Dekan von St. Paul in das Handexemplar ihres Common Prayer Book eingeschmuggelte Heiligen- und Märtyrerlegenden entdeckt und dieses Vorgehen als einen schweren Verstoß gegen ihre erklärte Absicht gerügt habe, „all such Relicks of Popery" zu entfernen. Die Herkunft dieser Denkweise wird vollends klar, wenn wir außerdem den Gebrauch von Orgeln und Bildern in den Kirchen und ,.Placing the Communion-Table Altarwise", das Verneigen nach Osten

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Vgl. auch o. S. 537, Anm. 393. Priestcraft in Perfection, 1710 (im gleichen Jahre noch zwei weitere Auflagen, benutzt wurde die 3. Aufl.). Kurz darauf ergänzte Collins das Pamphlet noch durch ein zweites: Reflections on „Priestcraft in Perfection"; beide erschienen anonym. Zum Inhalt und den Überlieferungsproblemen des Textes der 39 Artikel ausführlich O'Higgins, aaO., S. 132ff. Im Jahre 1724 kam Collins in einem umfangreicheren Werk: An Historical and Critical Essay on the Thirty Nine Articles, noch einmal auf die Thematik zurück. 30 „Or, A Detection of the Fraud of Inserting and Continuing this Clause . . . " 31 „the Scandal of this Popish Clause", S. 9, vgl. auch S. 14, ist verursacht durch die „Forgerys of Priests", S. 46, deren Zweck es lediglich gewesen ist, „to promote the Interest of the Clergy . . . by Fraud", S. 45. 32 AaO., S. 18f. 22. 33 „some Chaplain or Corrector of the Press . . . , who has thus impos'd on his Lordship (den Erzbischof) and the World", aaO., S. 19. Auf S. 6 - 8 . 29

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hin und das Anbringen von Kerzen auf dem Kommunionstisch gebrandmarkt f i n d e n 3 S : hier werden offensichtlich die alten puritanischen Vorwürfe gegen die liturgischen Formen der Großkirche aufgenommen! Die geheime Verbindung des deistischen Ansatzes mit dem Erbe des puritanischen Antizeremonialismus ist an dieser Stelle ganz offensichtlich. 3 6 In diesen K o n t e x t gehört ebenso die Polemik gegen Erzbischof Laud, dem in ironischer Form bewußte Unwahrhaftigkeit vorgeworfen w i r d 3 7 , auf der anderen Seite aber auch die ausdrücklich hervorgehobene Wertschätzung der Bibel, für die sich Collins bezeichnenderweise auf die Tradition des anglikanischen Rationalismus in F o r m der Autorität Chiliingworth' b e r u f t . 3 8 Im J a h r e 1713 folgte dann das berühmteste Buch Collins', der „Discourse of Free-Thinking". 3 9 Wenn auch die A n n a h m e , an dem „Discourse" hätten außer Collins noch andere Verfasser mitgewirkt, sich wohl nicht aufrechterhalten l ä ß t 4 0 , ist die Arbeit doch nicht das isolierte Werk eines Einzelnen, sondern steht im Zusammenhang der (auch im Untertitel erwähnten) organisierten „Freidenker"Bewegung, die zeitweilig auch mit einer eigenen Wochenschrift „The FreeT h i n k e r " hervortrat 4 1 und in einem Londoner Kaffee-Haus in diesen Jahren einen T r e f f p u n k t besaß. 4 2 Die berühmte Definition des Begriffes „Freidenken", mit der Collins seine Ausführungen beginnt 4 3 , läßt sich nur im Gesamtzusammenhang des Ganzen in ihrer Absicht verstehen. Schon sein gewichtigster Gegner Bentley 4 4 hat as AaO., S. 6 - 8 . 36 Auch O'Higgins meint zu der Arbeit: „It could have been written by a moderate puritan member of the Church of England", aaO., S. 143. 31 „this blessed Martyr made no scruple to put a Falshood on the World", aaO., S. 37. 38 „How great a value we Protestants ought to set upon the Holy Scriptures, those inestimable Treasures of Wisdom and Knowledg . . . They have a universal Tradition to support them, infinitely beyond the Evidence of any other matter of fact, and have besides the demonstration of the Spirit and of Power. But I cannot express my sense better against the Authority of Priests, and for the Authority of the Scriptures than in the words of our incomparable Chillingworth" (folgt Zitat aus Religion of Protestants, Kap. 6,56). Zur Beziehung Collins' zu Chillingworth vgl. auch O'Higgins, aaO., S. 44. 50 u.ö. (vgl. Index, s.v.). 39 AaO. Zu den verschiedenen Ausgaben vgl. Gawlick, Einleitung, S. 29ff. «o Vgl. Gawlick, aaO., S. 27f. Vgl. Gawlick, aaO., S. 22 und Anm. 20. 42 Vgl. O'Higgins, aaO., S. 77 und Anm. 7, sowie S. 91f. 43 „By Free-Thinking then I mean, The Use of the Understanding in endeavouring to find out the Meaning of any Proposition whatsoever, in considering the nature of the Evidence for or against it, and in judging of it according to the seeming Force or Weakness of the Evidence", aaO., S. 5. 44 Remarks upon a Late Discourse of Free-Thinking . . . by Phileleutherus Lipsiensis (R. Bentley) (1713), in: Bentley, Works, Bd. III, S. 2 8 8 - 4 7 4 . Zum Inhalt vgl. schon Lechler, aaO., S. 233ff.

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ihr vorgeworfen, sie spreche eigentlich nur etwas Selbstverständliches aus. 45 Es geht Collins aber offensichtlich um das Recht auf freies Denken unabhängig von jeder vorgegebenen Autorität 46 und über jedes mögliche Thema. 47 Sehr schnell kommt er dabei auf die Widersacher, die er im Visier hat, zu sprechen: die Priester 48 und auf den Gegenstand, der ihn zentral beschäftigt: die Bibel. 49 Der gesamte Aufriß des Werkes 50 ist von diesen beiden Polen her bestimmt. Das Gebiet, auf dem freies Denken am dringendsten erforderlich sei, leitet er den zweiten Abschnitt ein, sei das, auf dem den Menschen das Recht dazu verweigert werde: die religiösen Fragen. Dabei handelt es sich um die Natur und Eigenschaften Gottes und um Autorität und Sinn der für heilig gehaltenen Schriften. 51 Verweigert wird den Menschen das Recht zu denken in diesem Bereich von den „Feinden des Freidenkens": diese Feinde sind die Priester. Von den sieben Argumenten, mit denen Collins im II. Abschnitt die Pflicht zu freiem Denken begründet 52 — unter ihnen fallen das Stichwort „Aberglauben" 53 und die Berufung auf das Evangelium für die eigene Sache 5 4 besonders auf, beides unverwechselbare Bestandteile des humanistisch-puritanischen Erbes, zu dem Collins auch in diesem Werk noch eine offensichtliche Nähe zeigt 55 — ist das letzte 56 : „The Conduct of 45

„ 'Tis really no more than think and judge as you find; which every inhabitant of Bedlam practises every day . . . " , aaO., S. 297. Vgl. auch Lechler, aaO., S. 222. 46 G. Gawlick gibt dem I. Abschnitt in der deutschen Parallelübersetzung seiner Ausgabe die Unterüberschrift: „Das Recht auf freies D e n k e n " , die im Original nicht enthalten ist (Abschnitt II und III haben tatsächlich solche Unterüberschriften). 47 Bentley, aaO., S. 297, hebt aus Collins' Definition die Worte „any whatsoever" hervor; tatsächlich führt Collins gerade diesen Gedanken auf den folgenden Seiten weiter aus. 48 „The Impositions of Priests", aaO., S. 8. 49 AaO., S. 10. 50 Dessen Stringenz und innere Ordnung man vielfach mit recht guten Gründen kritisiert hat, vgl. schon Bentley, aaO., außerdem u.a. Lechler, aaO., S. 223; O'Higgtns, aaO., S. 8 I f f . 5! AaO., S. 32. 52 Der verunglückte Einsatz mit einer Definition des Freidenkens am Anfang u n d der anschließenden Erörterung der Argumente pro (Abschnitt II) und contra (Abschnitt III) folgt offensichtlich einem scholastischen Disputationsschema u n d wirkt gerade bei dieser Thematik auf einen modernen Leser so befremdlich. 53 3. Argument, S. 35ff. 54 „The Design of the Gospel was, by preaching, t o set all Men u p o n Free-Thinking" (6. Argument, aaO., S. 44). 55 Dagegen sollte man das ironisch formulierte fünfte Argument, in dem Collins fordert, Leute wie Sacheverell und Atterbury als Missionare im Ausland zwangszuverpflichten und im Interesse freien Denkens in Religionsdingen Missionare aus Siam in England aufzunehmen (aaO., S. 41ff.) nicht ernster nehmen, als es gemeint ist. 56 Im T e x t steht „6thly.", ein offensichtlicher Druckfehler (von Gawlick in der dt. Ubersetzung stillschweigend verbessert).

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the Priests . . . makes Free-Thinking on the Nature and Attributes of God, on the Authority of the Scriptures, and on the Sense of Scriptures, unavoidable" 5 7 unverhältnismäßig ausgeweitet durch nicht weniger als zehn Beispiele für ihr Verhalten. Auch hier wieder fällt auf, daß eine ganze Reihe dieser Beispiele sich mit der Schrift beschäftigen. Besonders ausführlich verbreitet sich Collins über die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Priestern der verschiedenen Religionen auf der Welt über die jeweiligen Heiligen Schriften sowie innerhalb der christlichen Kirchen und Sekten über Umfang und Art des Kanons S 8 , ferner über die unterschiedlichen Auffassungen, die zwischen den Priestern der Kirchen im Hinblick auf den Sinn der Schrift beständen, wobei sowohl auf die textkritischen Probleme wie auf die inhaltlichen Dunkelheiten und Auslegungsschwierigkeiten hingewiesen wird. 5 9 Dieselbe Thematik kehrt in Form von Vorwürfen gegen „die Priester", genauer gegen bestimmte Theologen wieder, ein Beispiel ihres Verhaltens sei, daß sie den Kanon unsicher gemacht hätten (indem sie auf seine relativ späte Ausformung hinwiesen) 6 0 und daß sie der Sache des Protestantismus gegenüber den Papisten erheblich geschadet hätten, indem sie auf die zahllosen Textvarianten des Neuen Testaments aufmerksam machten. 6 1 Die Schlußfolgerung, die Collins aus diesem Verhalten zieht, lautet: „That since the Priests, not only of different Religions and Sects, but of the same Sect, are infinitely divided in Opinion about the Nature of God, and the Authority and Meaning of Scriptures . . . since they render both the Canon and Text of Scriptures precarious and uncertain . . . : we have no way of setling our selves in a right Notion of God; in the Reception of the present Canon of Scripture, and that Sacred Greek Text of the New Testament which is commonly printed; and in the Belief of the Doctrine and Practice of the Discipline and Worship of the Church of England as founded on that pure

57

AaO., S. 46. 58 AaO., S. 5 2 - 5 6 . 59 AaO., S. 5 7—61. Hier zitiert Collins Jeremy Taylor mit einer charakteristischen Verkürzung, indem er die Einschränkung, die jener gemacht hatte, die Fundamentalia seien in der Schrift klar und deutlich überliefert, ausläßt, vgl. dazu Gawlick, aaO., Anm. zu 58,5 auf S. 194*; O'Iiiggtns, aaO., S. 86. Bentley hat in seiner Antwort die Unkorrektheit des Zitates sofort gerügt. — Vgl. zu dem Problem auch O'Higgins, aaO., S. 233. 60 Hierzu zitiert Collins, aaO., S. 8 6 f f . , / . Grabe, Spicilegium S. S. Patrum, 2 1700, Bd. I, S. 320, vgl. den Nachweis bei Gawlick, aaO., Anm. zu 86,8 auf S. 204*; J. Mill, Prolegomena zu seinem Novum Testamentum Graecum, ed. L. Kusterus, 1710, S. 22ff., vgl. ebenda, Anm. zu 87,5, sowie W. Beveridge, vgl. ebenda, Anm. zu 87,5. 61 AaO., S. 88ff. Zu diesem Punkt weist Collins erneut auf John Mills kritische Textausgabe des Neuen Testaments hin; zu dieser vgl. auch A. Fox, John Mill and Richard Bentley. Α Study of the Textual Criticism of the New Testament, 1675— 1729, 1954.

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Text . . . , but by ceasing to rely on them, and thinking freely for our selves." 62 Während das Ziel dieser Ausführungen: die Aufforderung, sapere aude, das Motto der Aufklärung, ganz klar ist, ist die Haltung Collins' zur Schrift keineswegs so einfach zu bestimmen. Wenn Lechler bemerkt, daß, sobald Beispiele angeführt würden, alles, was über das Recht und die Pflicht des Freidenkens gesagt wird, eine zweideutige Haltung bekomme 6 3 , gilt dies insbesondere von den Bemerkungen zur Schrift. Collins erweckt ja den Anschein, als ob er die Unversehrtheit „dieses reinen Textes" und die Zuverlässigkeit des Kanons retten wolle, indem er die wissenschaftlichen Untersuchungen der angeführten Theologen als bedauernswerte Folgen zweifelhaften Verhaltens der „Priester" brandmarkt und statt dessen auf das private Urteil jedes einzelnen Laien als Rettung einer echten Schriftautorität verweist. Es hat nahegelegen, und die zeitgenössische Polemik hat Collins sofort so verstanden, als ob er versteckt damit das Christentum überhaupt oder wenigstens die Offenbarung zurückweisen wolle. Aber es ist auch eine andere Deutung möglich, wenn man Collins wörtlich versteht. Dies wäre eine scharf antihochkirchliche und in diesem Sinne antiklerikale Haltung 64 , mit der die Tendenz in „Priestcraft in Perfection", die wiederum auf der Linie von Tindals „Rights of the Christian Church" und anderen Schriften aus dem Streit gegen die Hochkirchler während der Tory-Herrschaft unter Königin Anna liegt, fortgeführt würde, während man eine direkte Ablehnung der Schrift als solcher nicht herauslesen könnte. Für die Stütze dieser Auffassung, die auch mir am meisten den Umständen zu entsprechen scheint, hat O'Higgins auch einen Brief, den Collins an den Genfer Theologen B. Pictet schrieb, herangezogen 65 , in dem er sich gegen eine verkürzte Wiedergabe des eben zitierten Abschnittes durch Pictet ausdrücklich wehrt und darauf hinweist, daß wir sehr wohl eine Möglichkeit dazu hätten, den durch die Theologen verursachten Schwierigkeiten zu entgehen, nämlich das freie Denken. Wenn O'Higgins die Absicht Collins' in seinem „Essay on the Use of Reason" mit den Worten umschreibt, „that his aim was not to discredit Scripture but to produce instances that he considered requisite ,to prove the necessity of the use of reason to distinguish falsehood from truth in 62

AaO., S. 98f. Das Zitat bringt auch O'Higgins, aaO., S. 88. « Geschichte, S. 222f. 64 Auf der anderen Seite beruft sich Collins erneut auf Vertreter des rationalen Anglikanertums, wie vor allem Chiliingworth (aaO., S. 34. 75. 86. 177), Jeremy Taylor (passim, vgl. Gawlick, aaO., Namensverzeichnis, S. 231*) und Latitudinarier wie besonders Tillotson (vgl. ebend.; dazu O'Higgins, aaO., S. 94), auch wenn er ihre Auffassung teilweise bewußt vereinseitigt (vgl. o. Anm. 59). «s In: Nouvelles Litteraires, 24Apr 1717, S. 271f., vgl. bei O'Higgins, aaO., S. 20f.

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matters of Revelation'; and at the same time to throw an implied slur on the clergy" 66 , trifft dies ebenso noch auf den „Discourse of Free-Thinking" zu. Die Aufzählung der geistigen Ahnherren Collins', die er selbst gebracht hat 67 , und die Autoren, auf die er sich beruft 68 , reihen ihn in die humanistischrationale Tradition ein, die von den Puritanern auf der einen 6 9 bis zu den Deisten auf der anderen Seite reicht. 70 Offensichtlich — und das zeigt der häufige Rückgriff auf Chillingworth besonders deutlich — hält Collins persönlich durchaus an der Wertschätzung der Bibel, vor allem des Neuen Testaments, fest 7 1 , die er mit der Empfehlung freien Urteils gerade zu salvieren meint. Die von ihm erzielte Wirkung ging allerdings genau in die entgegengesetzte Richtung: seine Argumentation hinsichtlich der Unsicherheit des Kanons und der neutestamentlichen Textüberlieferung mußte die Autorität der Bibel selbst erschüttern und ließ sich nicht auf die inkriminierten Theologen abschieben, wie das wohl die eigentliche Absicht des in dieser Hinsicht „fundamentalistischen" Collins war. 72 66

AaO., S. 56. Discourse, S. 121ff. 68 Unter ihnen erscheinen in positivem Sinne außer den bereits genannten u.a. Erasmus (S. 124. 177), Henry More (S. 48. 68. 78), Cudworth (S. 48. 85, vgl. auch 62. 128), F. Bacon (S. 104. 106 und bes. S. 169: „My Lord Bacon show'd himself to be a great Free-Thinker"); zu dem günstigen Urteil sogar über Hobbes (S. 170, vgl. 96. 104) vgl. O'Higgins, Index, s. v. Besonders aufschlußreich ist die Liste aaO., S. 177, in der außer Erasmus, der am Anfang dieses humanistischen Heiligenkatalogs steht, noch Namen wie Descartes, Gassendi, Grotius, Hooker, Chillingworth, Falkland, Herbert von Cherbury, John Haies, aber auch Milton, Wilkins und am Ende Locke erscheinen. O'Higgins, aaO., S. 23ff., hat auch auf die Kataloge der privaten Bibliothek Collins' und die dort verzeichneten Titel als Zeugnisse für die von ihm benutzte vielfältige Literatur hingewiesen. 69 Nicht zufällig erinnert O'Higgins für den „Essay on the Thirty-Nine Articles" an die ganz ähnliche Haltung Lord Brookes, aaO., S. 144 (zu Brooke vgl. ο. S. 282, Anm. 204). 70 O'Higgins, aaO., S. 92, meint zu den von Collins im Discourse, S. 12Iff., genannten Ahnherren des Freidenkertums, die von Sokrates, Plato und Aristoteles über Cicero, Seneca, Salomo bis zu Bacon, Hobbes und Tillotson reichen: „It was certainly a mixed bag." Aber diese Liste ist weniger das Produkt persönlicher Unklarheit im Denken Collins' (vgl. O'Higgins, aaO., S. 92) als ein repräsentatives Zeugnis für das schillernde Spektrum der Träger der rationalistisch-moralischen Tradition, zu denen die im Humanismus wiederbelebte vor allem stoische Antike ebenso wie die modernen Puritaner und Latitudinarier (trotz ihrer internen Gegensätze) gehören. 71 ,,He still had links with what he considered to be the Protestant idea", O'Higgins, aaO., S. 84. 72 Bentley hat in seiner Antwort auf den Discourse gerade die Schwächen der Argumentation in diesem hinsichtlich der Bedeutung der textkritischen Varianten im Neuen Testament nachgewiesen, Remarks, aaO., S. 345ff. Auch sonst kann er seine mangelnde Fachkenntnis auf den verschiedenen von ihm angesprochenen Gebieten und sein 67

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Aber er war in seiner Haltung auch in dieser Richtung nicht ganz eindeutig. Besonders im 3. Abschnitt seines Buches finden sich allerlei Äußerungen, die den Eindruck erwecken mußten, als sei er grundsätzlich gegen das Christentum oder zumindest die Offenbarung eingestellt. So z.B., wenn bei ihm die Mittelpunktstellung der Moral in der humanistischen Theologie in der streng alternativ denkenden Form wiederkehrt, der gesamte Friede und die Ordnung in der Gesellschaft hänge von der Erfüllung moralischer Pflichten ab, und alles, was davon ablenke, etwa spekulative Meinungen (theologische Lehren), sei vom Übel. 73 Oder die Stelle, wo er das Vorhandensein und den Lebensunterhalt für Priester überhaupt für überflüssig hält: „For it is manifest that all Priests, except the Orthodox, are hir'd to lead Man into Mistakes." 74 Aber diese Äußerungen wird man wohl mehr im Sinne rhetorisch-polemischer Glanzlichter als mit dem Gewicht vollwertiger Bekenntnisse, wie es seine zeitgenössischen Gegner taten, bewerten müssen.75 Es ist außerdem festzustellen, daß Collins sich in seinen späteren Schriften gemäßigter äußerte 76 ; er blieb auch zeitlebens, wie auch Locke, praktizierendes Mitglied der Kirche. Im übrigen darf man auch bei Collins den Whig-Hintergrund nicht übersehen, der seine auch stark kirchenpolitisch gemeinten Schriften motiviert. Seine Korrespondenz gibt Auskunft über das Interesse, mit dem er die allgemeine Politik im Sinne dieser Partei verfolgte, und lokale Akten, wie er sie in seinem ländlichen Wirkungsbereich praktizierte. 77 Die antipriesterliche Polemik seiner früheren Schriften bis zum „Discourse" ist wie bei manchen Zeitgenossen parteipolitisch gefärbt, knüpft aber, wie das verwandte Stichwort „Aberglaube" 78 , an die alte humanistische Ideologie an. Die geistige Entwicklung ist auch in diesem Punkte konsequent, die aktuellen politischen Ereignisse sind mit ihr unlöslich verwoben und durch die sie laienhaftes Umgehen mit den Tatsachen überzeugend sichtbar machen; O'Higgins urteilt deshalb, daß Bentley im Hinblick auf seinen wissenschaftlichen Standard Collins eindeutig sein Ungenügen nachgewiesen habe. Daß er dies dagegen in Hinsicht auf die von Collins in den Mittelpunkt gestellte Frage nach der religiösen Autorität nicht einmal im Ansatz versuchte (vgl. O'Higgins, aaO., S. 83. 93), zeigt umgekehrt die Schwäche der durch Bentley repräsentierten rationalistischen Apologetik, die mit ihren deistischen Gegnern in ihren Denkvoraussetzungen viel zu viel gemeinsam hatte, als daß sie diesen hätte ernsthaft haltgebieten können. AaO., S. 115f. 74 AaO., S. 109; die ironische Spitze liegt auf dem „orthodox" und zeigt, daß seine Pauschalformel „Priester" die hochkirchliche Partei anvisiert. 75 Ähnlich auch O'Higgins, aaO., S. 91. 76 Vgl. O'Higgins, aaO., S. 143f. 77 Vgl. O'Higgins-, aaO., S. 115ff. 78 Discourse, S. 35ff.

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leitenden Motive im Widerstreit der Meinungen bedingt. Der „Discourse" zeigt erneut, daß auch in dieser Periode die Bibel noch einen wichtigen Stellenwert in diesen Auseinandersetzungen besaß, daß ein Autor, der um die Maßstäbe für ein Urteil über sie kämpfte, allgemeiner Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sicher sein konnte. 7 9 Collins hat sich auch in seinen späteren Jahren noch einmal in diese Diskussion eingeschaltet; darüber muß im folgenden gesprochen werden. b) William

Lyons

Zuvor aber soll der Blick noch auf eine Arbeit geworfen werden, in der das „Frei-Denken", die strikte Durchführung der Locke sehen Epistemologie, bis zur letzten Konsequenz zum Programm erhoben wird: es ist die im gleichen Jahr wie Collins '„Discourse" anonym aus der Feder von W. Lyons erschiedene Schrift: „The Infallibility of Human J u d g e m e n t " . 8 0 Hier wird von der Vernunft gesagt, daß sie als oberste Fähigkeit des Menschen unfehlbar ist und als alleiniger Maßstab über Wahr und Falsch auf allen Gebieten zu gelten hat: „The Reason of Man doth as infallible judge of Wisdom and Folly, Justice and Injustice, and the like, as of Colours; and any disputable Proposition, Religious, Moral, or Political, may be thus brought to the Judgement, and t r y ' d . " 8 1 Es ist verhängnisvoll, wenn unter dem Vorwand eines verehrungswürdigen Namens eine Autorität anstelle der Vernunft aufgerichtet wird, denn auch wahre Autoritäten sind Änderungen und Verfälschungen unterworfen. Deshalb ist jede Autorität zu prüfen, ob sie gut oder böse ist. 82 Das Urteil der Vernunft wird nur von ihren Gegenständen (z.B. einer Farbe) bestimmt und kann durch den Willen nicht verfälscht werden. 8 3 Besonders gefährlich ist in dieser Hinsicht eine vorgegebene Offenbarung. Wahre Gotteserkenntnis ergibt sich — hier sieht man den starken Einfluß des Newtonschen Weltbildes — aus der Betrachtung der Ordnung des Universums, von der aus wir auf die Existenz Gottes als der Verkörperung unbegrenzter Weis79 Vgl. die zahlreichen kurz aufeinander folgenden Auflagen; zu der Wirkung Collins im Ausland vgl. O'Higgins, aaO., S. 201ff. 80 The Infallibility of Human Judgement, Its Dignity and Excellency. Being a New Art of Reasoning, and Discovering Truth, by reducing all disputable Cases in Philosophy, Morals, Politicks, or Religion to general irresistible, and self-evident Truths, 1713. Benutzt wurde die 2. Auflage 1721. Nach Lechler, aaO., S. 239, Anm. 1, erschien eine 4. Aufl. 1724, nach Trinius, Freydenker Lexicon, S. 31, eine 5. 1725. Kurz erwähnt wird der Inhalt bei Lechler, aaO. 81 AaO., S. 2. 82 AaO., S. 6. 83 „This Judgement of Man is an involuntary Faculty, acted upon by Objects and Determines, without an Consent of the Will; like a Mirror, which gives a true Image of every thing that can be brought to it . ..", aaO., S. 6f.

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Reventlow, Bibelautorität

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heit, Vollendung und Macht gelangen. 84 Der Anspruch einer Offenbarung auf Glauben ohne Beweis, die mit einer extremen Strafandrohung für den Fall des Nichtglaubens verbunden ist, steht in unmittelbarem Widerspruch zu der von Gott angenommenen Weisheit und Gerechtigkeit. „Therefore when any Reveal'd Religion offers itself to our consideration, it ought to be examin'd by Reason; stedfastly asserting, That the general Reason of Mankind (that is to say, Light of Nature and Conscience) is a competent Judge of what is just and wise, good and bad; and 'tis impious and blasphemous to affirm any thing of God that is foolish or unjust." 8 5 Die Ziele der offenbarten Religion, wie die totale Unterwerfung unter den Willen Gottes, Korrektur des eigenen Verhaltens, Mißachtung aller hiesigen Ehren und Beförderungen, Warten auf die zukünftige Erfüllung, sind nicht zum Schaden der Menschheit und können deshalb gebilligt werden. Verderblich sind dagegen die Ehren und Würden, welche die Vertreter der Religion durch ihre Autorität erlangen können, wenn sie dabei die Regeln der Moral vergessen. Die größten Schwierigkeiten entstehen durch die Unklarheit der in der Offenbarung niedergelegten Regeln, wenn diese, wie häufig, dunkle Worte und Allegorien sind. Hier könnte die Vernunft helfen, aber der Anspruch ihrer Vertreter, diese seien unmittelbare göttliche Offenbarung und deshalb verdiene der, welcher es unternehme, sie durch die Vernunft zu prüfen, ewige Verdammnis, steht dem im Wege und führt zur gegenseitigen Verfolgung Andersdenkender und zu Haß und Verachtung gerade unter den Frömmsten, da diese glauben, es gehe um ihr ewiges Heil. Auch wenn jetzt eine fehlerlose, auf unbezweifelbarer Offenbarung beruhende Religion neu eingeführt würde, würde diese im Laufe der Zeit doch degenerieren, da sich in der Offenbarungsurkunde durch Abschreiben usw. Fehler einnisteten und ihre Prüfung mittels der Vernunft durch ihren Autoritätsanspruch verhindert würde. Außerdem deshalb, weil die Personen, die sie vertreten, sich der Prüfung durch die Vernunft enthoben glauben, da ihre Autorität durch die Autorität der göttlichen Offenbarung allein gestützt werde. Die Vernunft, für die es eine Reihe von gleichbedeutenden Bezeichnungen gibt 8 6 , leitet den Menschen zu nichts als Wahrheit und Güte; sie ist als Fähigkeit, über Gut und Böse zu urteilen, bei allen Menschen vorhanden, ob sie nun viel oder wenig Erfahrung besitzen. 8 7 „And all Errors, both in Opinion 84

AaO., S. 8. AaO., S. 13. 86 „This Judgement, Reason, Light of Nature, Conscience or Common Sense, is one and the same Thing . . . " , aaO., S. 25; vgl. auch S. 59. 87 AaO., S. 25; vgl. auch S. 39: „Physical and Metaphysical Opinions, as well those tending to Religion as Philosophy, are Results and Conclusions taken from the Dis85

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and Practice, are in the Will only, in n o t chusing as the J u d g m e n t dictates." 8 8 Wenn gleichwohl die verschiedensten Meinungen nebeneinanderstehen, muß das daran liegen, daß in dem Vorgang, in dem die Vorstellungen im Geiste aufeinanderfolgen, Hinzufügungen oder Abstriche v o r k o m m e n ; sie lassen sich aber vermeiden, wenn man den Denkvorgang bis zu seinem Ursprung zurückverfolgt. Glaube läßt sich nicht gegen V e r n u n f t ausspielen, denn „Believing is an Assent of the J u d g m e n t , or knowledge of a Thing being true on a due apprehending and judging i t . " 8 9 Skepsis ist nur ein Produkt von Faulheit im Denken und Feigheit. Die Sünde gegen den Heiligen Geist, die nicht vergeben werden kann (Mk. 3,29), ist die Sünde gegen das Licht der Natur, d.h. wenn jemand die Möglichkeit des Urteils nicht ergreift. Von allen Religionen kann mim etwas lernen über Unsterblichkeit der Seele, über Lohn und Strafen, die uns im Jenseits erwarten — vielleicht beziehen sich diese ja auf ein derartiges unbesonnenes Handeln o h n e Anwendung der Vernunft? Alle Menschen haben in diesem Sinne eine Neigung zur natürlichen Religion; Feinde der Religion sind Narren, Bösewichte und Feinde der Menschheit. Aber alle in dieser Weise praktische Religion ist in Gefahr, durch Mißbräuche verschüttet zu werden. Dieser ganze „ Ü b e r b a u " m u ß abgebaut u n d die praktische Religion auf ihren wahren Grund der V e r n u n f t gestellt werden. „Eine Person" (Jesus) hat diese Betrügereien kritisiert, „our Royal Moralist" 9 0 die reine Wahrheit in königlicher Weise gepredigt. Es k o m m t auf eine klare Apprehension an; wird diese angewandt, hören viele Dinge, die als geheimnisvoll erschienen, bei genauer Betrachtung auf, dies zu sein. Der Offenbarung wird also wohl ein Platz belassen, wenn auch nur im Sinne der praktischen Religion, einer ausschließlich moralischen Lehre; dem Christent u m , insbesondere der Lehre J e s u , eine hervorgehobene, wenn auch nicht eine einzigartige Stellung (auch von anderen Religionen kann man etwas lernen!) eingeräumt. Charakteristisch für Lyons ist die Verabsolutierung der V e r n u n f t im Schema der Locke sehen Epistemologie und ihre unmittelbare Indienstnahme für das praktisch-moralische Handeln 9 1 , außerdem die Becovery and Observation of certain Things seen, or Matters of Fact . . . Which Things and Matters come under the common Cognizance and Observation of all Mankind. Religion and Knowledge is not confin'd to any Persons, who have particular Faculties of perceiving, judging, and improving thereby." S. 40: „In all other Religious and Philosophical Enquiries, as well as in these of the Being of GOD, and the Immortality of the Soul, the Things seen, and Matters done, are the same to the common Senses of Mankind, to one as well as to another." 88 AaO., S. 26. 89 AaO , S. 42. «ο AaO., S. 53. 91 Vgl. bes. aaO., S. 59: „The Understanding of Mankind consists of Apprehension, otherwise called Perception; Judgement and Will, otherwise call'd Resolution." Die

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schränkung eigentlich theologischer Erkenntnis auf die natürliche Theologie. 92 Alle Autorität muß sich vor der Vernunft verantworten, was sie zur Zustimmung anbietet, muß dem Erkenntnisvorgang unterworfen werden, der Apprehension, Urteil und Wille umfaßt. Steht die Forderung im Gegensatz zu dem, was in der Apprehension gesehen wird, stellt das Urteil dies fest; sieht die Apprehension gar nichts, ist überhaupt keine Grundlage für ein Urteil da. In beiden Fällen ist zu erkennen, daß bei dem, der den Anspruch zu einem Vorschlag erhebt (der die Offenbarung vorträgt) auch kein Urteil vorausgegangen ist, entweder, weil er es selbst nicht glaubt, oder weil nur ein Wille, nicht die Vernunft bei der Sache, die er vertritt, beteiligt ist. Im Vergleich mit den meisten anderen, auch den bekannteren Werken des englischen Deismus, weist die Arbeit von Lyons eine ungleich größere Geschlossenheit der Gedankenführung auf. Sie ist ohne Frage am konsequentesten in der Verfolgung ihres Themas: der zentralen Rolle der Vernunft für die im wesentlichen praktisch-moralisch verstandene Religion. Die Fixierung auf dieses eine Thema hat allerdings dazu geführt, daß in ihr auch viele Fragen offen bleiben; so bleibt die Rolle der geschichtlichen Offenbarung bloß angedeutet. Es ist aber offensichtlich, daß Lyons in dieser Hinsicht in der für den Deismus typischen Weise geschichtslos denkt: da der Mensch über Gut und Böse nach den in seiner Vernunft selbst vorhandenen allzeit richtigen Maßstäben urteilen kann (Irrtümer nur auf Faulheit und Skeptizismus auf Mutlosigkeit, das Urteil zu wagen, beruhen), kann die Offenbarung im Grunde dieselben Dinge nur noch einmal sagen, auf welche die Vernunft auch von sich aus kommen kann. Ebendieses wurde dann ja auch tatsächlich einige Jahre später (von Tindal) ausdrücklich ausgesprochen. c) Anthony

Collins und die

Whiston-Debatte

Die traditionelle Rolle der Schrift wurde noch durch eine weitere Debatte erschüttert, in der Collins ebenfalls eine Rolle spielte. In Gang gebracht wurde sie charakteristischerweise durch das apologetische, wenn auch exzentrische Bemühen eines JVeiüion-Schülers, des später wegen seines Arianismus verstoßenen, originellen und vielseitigen W. Whiston, der uns bereits begegnet ist. 93 Auch daß er seine Gedanken zu dem Thema zuerst im RahIrrtümer der Menschheit liegen in falscher Apprehension, die einem Urteil vorausgeht, oder wenn sich der Wille zu einem Handeln entschließt ohne vorhergehendes Urteil, oder im Gegensatz zu ihm. 92 „The Knowledge of the Being of GOD is the Effect of natural Reasoning on Things obvious to our Senses, discovering the World and Things contain'd to be the Production of some one just, wise, powerful, and perfect Being or Agent; and to this irresistible Conception or Idea we give the Name of GOD", aaO., S. 61. 93 Vgl. ο. S. 558, Anm. 65.

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men der Boyle-Lectures vorbrachte 9 4 , ist bemerkenswert; sie sind anfangs durchaus im Rahmen der offiziellen Apologetik zuhause. In den Predigten von 1707 beschäftigte sich Whiston bereits mit den Weissagungen in der alttestamentlichen Prophetie und ihrer Erfüllung in Jesus Christus. Die Prophetien im Alten Testament sind nach dem M o t t o der ersten Predigt 2. Petr. 1,19 95 ein unbestrittener Beweis für die Wahrheit der christlichen Religion. Entschieden wendet sich Whiston schon hier gegen einen doppelten, vor allem typologischen Sinn der Prophetien: nur so seien sie als zwingender Beweis gegenüber den J u d e n zu verwenden, denen nachgewiesen werden m u ß , daß sich alle ihre Prophetien in dem Messias Jesus von Nazareth erfüllt h a b e n . 9 6 Außerdem würden wir, wenn Prophetien mehr als einen Sinn h ä t t e n , nicht sicher sein k ö n n e n , ob sie außer einem zweiten nicht noch weitere Sinne haben, sich auf noch mehr Ereignisse beziehen k ö n n t e n ; dann k ö n n t e n wir keine rationalen, sondern nur noch phantasievolle Erklärungen geben. Allerdings ist der Unterschied zwischen historischen Berichten und Prophetien (die einen beziehen sich auf vergangene Ereignisse, die anderen auf die Z u k u n f t ) der, daß die einen sich eines einfachen, für alle verständlichen Stils bedienen, während die anderen rätselhaft sprechen, damit sie zunächst verhüllt sind und erst aufgedeckt werden, wenn die Zeit ihrer Erfüllung gekommen ist. Auch gibt es eine Reihe von Prophetien, die sich bereits zur Zeit des Alten Testaments selbst erfüllt haben. Wenn wir Christen diese noch einmal für Jesus Christus in Anspruch n e h m e n zu k ö n n e n glauben, verlieren wir jeden Vorteil, mit ihnen als Beweis für unsere Religion zu überzeugen. Whiston, der Mathematiker, spekuliert auch gerne: diejenigen Prophetien, die sich auf die alttestamentliche Zeit selbst beziehen, sind auch in der Hinsicht o f f e n verständlich, daß sie den Begriff , J a h r " für den damit gemeinten Zeitraum verwenden, während die, welche sich auf das Christent u m , den Messias und die Kirche unter den Heiden beziehen, den änigmatischen Begriff „Tag" für ein J a h r gebrauchen. Im übrigen sind aber alle Berechnungen von Tagen, Monaten und J a h r e n in der Prophetie ganz exakt gemeint und lassen eine baldige genaue Ermittlung ihres Sinnes erwarten. Das gleiche gilt auch für die Tiere bei Daniel, die immer Weltreiche bezeich94 W. Whiston, The Accomplishment of Scripture Prophecies. Being Eight Sermons Preached at the Cathedral Church of St. Paul in the Year MDCCVII . . . 1708. 95 AaO. S. 1. 96 Bemerkenswert ist die rationalistische Begründung: >rA single and determinate sense of every Prophecy, is the only natural and obvious one; and no more can be admitted without putting a force upon plain words, and no more assented to by the Minds of inquisitive Men, without a mighty bias upon their rational faculties", aaO., S. 13f.

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nen; analog ist auch für die Heuschrecken bei Joel der gleiche Sinn anzunehmen. Das Neue Testament geht nirgendwo, wenn es sich auf alttestamentliche Prophetien bezieht, von einem doppelten Schriftsinn aus. So sagt St. Petrus in Act. 2,25ff. niemals, daß einer der genannten Psalmen, obwohl sie ursprünglich von David sprachen, sekundär auch auf Christus gedeutet werden könnten, sondern im Gegenteil, daß David von Christus sprach. Das Hauptziel der Prophetie war das Kommen des Messias. Hieran muß man gegen die modernen Ausleger festhalten, die nur die geschichtlichen Ereignisse selbst, wie Salomon mit seinem Tempel, Zerubbabel mit dem seinen usw. im Auge haben. Statt dessen sollte man sich an die Kirchenväter halten, die stets nur an den Messias dachten, sein Kommen und sein Königreich. Mit dieser Meinung steht Whiston ganz in der anglikanischen Tradition, für welche die Patristik stets eine große Bedeutung behielt. 9 7 Die Prophetien über den Messias sind von zwei Sorten: die einen, weniger zahlreich, betreffen sein erstes Kommen, mit dem Weg zum Kreuz und der Zerstörung der jüdischen Nation wegen ihrer Ablehnung des Messias. Die übrigen betreffen sein zweites Kommen, zur Aufrichtung des Reiches und der Wiederherstellung der Juden. Die Juden haben die Prophetien über das glorreiche Kommen des Messias verstanden, dabei aber die wenig zahlreichen über sein erstes Kommen zum Leiden übersehen. Umgekehrt haben die meisten neueren christlichen Ausleger die schlichten Aussagen über das Millenium, das neue Jerusalem, Ezechiels Tempel usw. mißverstanden und leugnen deshalb die Wiederkunft Christi vor dem Weltende zur Restauration der jüdischen Nation und der Aufrichtung seines Königreiches. Schon im Rahmen dieser Predigten äußert Whiston Bedenken, ob die Prophetien im jetzigen Text des Alten Testamentes immer unversehrt erhalten seien. Ihr Stil sei, wenigstens in der jetzigen Ordnung der Bücher, abrupt, kurz, gestört durch das häufige Hineinkommen von Dingen aus einem ganz anderen Zusammenhang. Aber: ,,I must be so free and fair as to confess, I cannot every where look upon the present Order either of the Histories or Propheties of the Old Testament to have been the Original o n e . " 9 8 Wo solche Unordnungen klar ersichtlich sind, könnten sie ohne weiteres beseitigt und der ursprüngliche Text wiederhergestellt werden. Hierfür nennt Whiston noch einige Beispiele, u.a. das doppelte Datum in Ez. 1, von denen das erste eigentlich vor Kap. 30 gehöre, wo kein Datum steht, und zwei

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Bezeichnenderweise beruft sich auch der genau umgekehrt argumentierende Woolston auf die Väter! »8 AaO., S. 67.

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Verse im Deuteronomium (Dt. 10,6. 7), die offensichtlich am falschen Platz eingefügt seien, wie man durch einen Vergleich mit dem samaritanischen Pentateuch sehen k ö n n e . " Sein apologetischer Eifer hat Whiston später im Anschluß an diese Überlegungen zu einer ausführlichen Untersuchung veranlaßt, die 1722 unter dem Titel: „An Essay Towards Restoring the True Text of the Old T e s t a m e n t " erschien und den Anstoß zu einer längeren Debatte über die Weissagungen gab. In ihr versuchte er nachzuweisen, daß sowohl der hebräische Text des Alten Testaments wie der jetzige Septuaginta-Text nicht in der Form erhalten sei, wie er zur Zeit J e s u und der Apostel aussah, sondern von den J u d e n zu Beginn des 2. J a h r h u n d e r t s stark geändert worden sei, und zwar sowohl in der hebräischen wie in der Septuaginta-Fassung. 1 0 0 Im Hinblick auf den Pentateuch hält er den Samaritanus für eine n o c h unverdorbene Fassung des Textes, wie er zur Zeit J e s u und der Apostel existierte. 1 0 1 Ebenso seien die Psalmen in der Septuaginta-Fassung und dem römischen Psalter ein noch unversehrter Text aus dieser Zeit. 1 0 2 Die Zitate im Neuen Testament aus dem Alten, die von dem jetzigen Wortlaut abweichen, seien eine getreue Wiedergabe des damaligen hebräischen und Septuaginta-Wortlautes. 1 0 3 Außerdem k ö n n e man auf Zitate aus dem Alten Testament bei Philo und Josephus zurückgreifen, die jeweils den zu ihrer Zeit maßgeblichen Text der Septuaginta bzw. den hebräischen Text b e n u t z t e n . 1 0 4 Wenn man den ursprünglichen Text an allen fraglichen Stellen wiederherstellte, würde man viele große Weissagungen der Propheten buchstäblich erfüllt finden und auf die Annahme eines Doppelsinns überall verzichten k ö n n e n . Diese Behauptungen Whistons wurden für Collins zum Anlaß eines eigenen Werkes über die Prophetie, des „Discourse of the Grounds and Reasons of the Christian Religion", 1724. 1 0 5 Von den verschiedenen Teilen dieses Werkes: einem elegant geschriebenen V o r w o r t , in dem Collins erneut das Recht freier Diskussion, wenn auch in bestimmten Grenzen 1 0 6 , fordert und u.a. auch

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AaO., S. 68. 70. if» AaO., S. 220ff. >oi AaO., S. 164ff. 102 AaO., S. 172ff. 103 AaO., S. 281ff. ίο« AaO., S. 176ff. los Vgl. dazu u.a. Lechler, aaO., S. 269ff.; O'Higgins, aaO., S. 155ff.; Frei, Eclipse, S. 66ff.; Redwood, Reason, Ridicule and Religion, S. 209ff. Benutzt wurde die Ausgabe 1737 (das Datum einer Auflage von 1739 ist wohl ein Irrtum von Trinius, Freydenker Lexicon, S. 150). i 0 6 AaO., S. I; Collins ist jetzt gemäßigter als in dem „Discourse of Free-Thinking".

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Whiston in diesem Sinne in Schutz n i m m t 1 0 7 , und zwei Hauptteilen, einem zweiten ausführlichen, in dem Collins eine lange Kritik der Argumente Whistons liefert, und einem ersten, in dem er seine eigene Ansicht vorträgt, ist nur dieser erste einer eingehenderen Betrachtung wert. Man kann wohl sagen, daß das Erscheinen des Werkes Whistons zwar den Anstoß für die Veröffentlichung des „Discourses" bildete, daß aber Collins offensichtlich schon länger über die in Frage stehende Problematik nachgedacht hatte. Er schaltet sich mit Bedacht in die Diskussion über die Bedeutung der alttestamentlichen Prophetie für den christlichen Glauben ein. Die abenteuerlichen Thesen Whistons zurückzuweisen, war für ihn ein verhältnismäßig leichtes Spiel. Seine Fälschungshypothese war in dieser groben Form unhaltbar; ein Betrug der J u d e n in diesem Umfang wäre von den Christen im 2. Jahrhundert nicht hingenommen worden. Wäre aber eine solche Fälschung tatsächlich erfolgt, gäbe es keine ernsthafte Möglichkeit, den ursprünglichen Text wiederzugewinnen; eine nach den Methoden Whistons wiederhergestellte Bibel wäre lediglich ein Whistonscher Text, der die ursprüngliche Form ebenso verfälschte wie jede andere Rekonstruktion. 1 0 8 Collins' eigene Auffassung baut zunächst in gewissem Sinne auf der Whistonschen Position auf. Er betont gleich am Anfang: „Christianity is founded on Judaism, or the New Testament on the Old." 1 0 9 Mit der These, das Alte Testament sei der Kanon der Christen und nicht das Neue 1 1 0 , greift Collins auf eine lange Tradition in der englischen Kirche zurück, allerdings nur in ihrem positiven Teil, nicht in der Negation. Er steuert das Ziel seiner Argumentation mit großer Konsequenz an: der einzige Prüfstein für die Wahrheit des Christentums ist nach seiner Auskunft, wenn sich die Prophetien des Alten Testaments in Jesus erfüllen. Im Neuen Testament werden die Weissagungen aus dem Alten von den Aposteln als Hauptbeweis für die Wahrheit des Christentums verwendet. Nach Collins gibt es überhaupt keine anderen schlüssigen Beweise; wenn sich diese als nicht schlüssig herausstellen sollten, ist das Christentum falsch! 1 1 1 Collins konzentriert seine Beweisführung auf fünf Schriftbeweise aus dem Alten Testament im Matthäus-Evangelium 112 107 Er lobt noch einmal am Schluß, aaO., S. 273ff., seine Gelehrsamkeit, der allerdings seine Urteilskraft, auch wegen seines Temperaments, nicht gleichkomme. 108 AaO., S. 225; auch von Lechler, aaO., S. 271, Anm. 1, zitiert. «» AaO., S. 4. »o AaO., S. 13f. 1,1 „ . . . if the Proofs for Christianity from the Old Testament be not valid; if the Arguments founded on those Books be not conclusive; and the Prophecies cited from thence be not fulfill'd; then has Christianity no just Foundation; for the Foundation, on which Jesus and his Apostles built it, is then invalid and false", aaO., S. 28. »2 Matth. l,22f.; 2,15; 2,23; 11,14; 13,14.

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und zeigt an ihnen — was er behauptet, an allen von den Aposteln zitierten Prophetien geprüft zu haben 1 1 3 — daß sie in einem typologischen („mystischen" oder „allegorischen") Sinne gebraucht seien. Für ihn gibt es aber — ähnlich wie für Whiston — legitimerweise für eine Weissagung nur eine einzige, die wörtliche Erfüllung; wenn sich zeigen läßt, daß diese schon in alttestamentlicher Zeit eingetreten ist, ist damit der Anspruch des Christentums auf eine zweite Erfüllung durch Jesus eindeutig widerlegt. So beschäftigt sich Collins z.B. eingehend mit der Ankündigung Jes. 7,14 und glaubt schlüssig nachweisen zu können, daß es sich bei dem verheißenen Kind um Jesajas eigenen Sohn handele. 1 1 4 O'Higgins hat darauf hingewiesen, daß Collins sich für derartige exegetische Ergebnisse auf die Arbeiten der niederländischen Arminianer, vor allem von Hugo Grotius stützte. 1 1 5 Tatsächlich enthält sein späteres Werk: „The Scheme of Literal Prophecy Considered" 1 1 6 ein eigenes Kapitel zur Verteidigung dieses Theologen. 1 1 7 Wahrscheinlich war er auch der Meinung, bereits Grotius habe sich ausschließlich für die durch ihn nachgewiesene unmittelbare Erfüllung der Weissagungen in der eigenen Zeit der Propheten ausgesprochen und die spirituell-typische Erfüllung in Jesus a limine abgewiesen. Dies war jedoch ein Mißverständnis, das bereits die früheren Kritiker Grotius' aufgebracht hatten. 1 1 8 In Wirklichkeit hatten sowohl Grotius selbst wie auch andere ihm folgende Ausleger für einige Prophetien eine wörtliche Erfüllung in Jesus angenommen, für andere eine erste Erfüllung in alttestamentlicher Zeit selbst, die aber eine zweite typologische in Christus nicht ausschloß. Collins war das typologische Denken, wie es noch um die Jahrhundertwende in Blüte gestanden hatte, grundsätzlich fremd. Die Locke sehe Erkenntnistheorie hatte so gründlich ihre Wirkung getan, daß es für Collins, wie für viele seiner Zeitgenossen, nur noch „klare und deutliche Ideen" im Sinne der Empirie geben konnte. 1 1 9 Das Typologisieren und Allegorisieren im Neuen AaO., S. 44. AaO., S. 43ff. AaO., S. 156ff. 1727. Kap. XII, S. 379ff. Vgl. O'Higgins, aaO., S. 157ff. n9 Frei, Eclipse, macht deutlich, daß sich Collins dabei vollständig auf die hermeneutischen Grundsätze seines Lehrers Locke stützt, die nur sensation oder reflexion als die beiden einzigen Erkenntnisgrundlagen gelten lassen. Sinnvolle Aussagen können nur in den wörtlich genommenen Prophetenworten (im Literalsinn) vorliegen; dann beziehen sich diese auf ihre eigene Zeit und nicht auf Jesus Christus. Alle anderen Verständnisse (der allegorische oder typologische Sinn) sind willkürlich oder absurd und können deshalb ebenfalls keine legitime Verbindung der alttestamentlichen Prophetien auf Jesus Christus hergeben. Die Regeln typologischer Interpretation suchte Collins an dem — •w us ι· 6 »7 "β

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Testament versteht Collins als Anpassung der Apostel an die Denkweise von Juden sowohl als Heiden zu ihrer Zeit , 2 0 ; auch die Kirchenväter haben sich eines wilden Allegorisierens schuldig gemacht. 121 Die Juden begannen mit dem Allegorisieren erst nach dem Exil. 122 Im Alten Testament selbst ist nicht die geringste Spur einer typologischen oder allegorischen Absicht zu erkennen; die Bücher des Alten Testaments sind vielmehr die einfachsten und am leichtesten verständlichen unter allen alten Schriften. Was ergibt sich nun aus der Feststellung, „that Christianity is wholly reveal'd in the Old Testament, and has its divine Authority from thence; that it is not literally, but mystically or allegorically reveal'd therein"? 123 Offensichtlich, daß wenn diese einzig mögliche Beweisführung unsachgemäß ist, es selbst nicht begründet und begründbar ist. Hieraus muß man eigentlich folgern, daß Collins zu der Zeit, als er den „Discourse" verfaßte, ein offener Gegner des Christentums war. Er blieb jedoch ein praktizierendes Glied der anglikanischen Kirche. 124 Auch muß man sagen, daß er in seinem Werk diese negative Schlußfolgerung nie ausspricht, sondern sich darauf beschränkt, festzustellen, daß die Beweisführung aus der Prophetie im Neuen Testament eben allegorisch geführt wird. 125 Das Problem ist in dieser Form wohl kaum lösbar, aber bei den Menschen dieser Zeit gab es offensichtlich ähnlich wie heutzutage verschiedene Schichten des Bewußtseins, zwischen denen Widersprüche nicht ausgeschlossen sind. Man wird jedenfalls feststellen können, daß die Wendung gegen das neutestamentliche Christentum eine extreme Auswirkung der Hochschätzung des Alten Testaments ist, wie sie bei Collins ganz deutlich hindurchscheint. Das bei ihm in eigentümlicher Weise lebendige puritanische Erbe macht sich an dieser Stelle in einer im Puritanismus durchaus angelegten, allerdings nur selten bis zur letzten Spitze wie hier durchgeführten Konsequenz bemerkbar. Das Fehlen der historischen Perspektive gründlich mißverstandenen — Beispiel von Surenhusius' Behandlung der alttestamentIichen Zitate im Neuen Testament (W. Surenhusius, Βίβλος καταλλαγης. Tractatus in quo secundum veterum Theologorum Hebraeorum, Formulas allegandi, et Modos interpretandi conciliantur Loca Ex Vetero in Novum Testamentum allegata, 1713 — Collins zitierte jedoch nicht das Original, sondern die Besprechung von M. de la Roche, in: Memoirs of Literature, Bd. VI, 1722, S. 115f.) verdächtig zu machen, aaO., S. 53f.; vgl. dazu O'Higgins, aaO., S. 167f. ι » AaO., S. 78ff. 121 AaO., S. 87. 122 Collins stützt sich für die Behauptung auf J. Clericus, Historia Ecclesiastica, 1716, S. 24f. 123 AaO., S. 82. Mit Doduiell nennt Collins das Christentum deshalb „mystical Judaism". Vgl. zu dem Problem O'Higgins, aaO., S. 17Iff. 125 Vgl. auch Lechler, Geschichte, S. 274.

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ließ grundsätzlich die Möglichkeit offen, sich entweder für das Neue Testament im Gegensatz zum Alten zu entscheiden (das war die Lösung vieler Spiritualisten) oder für das Alte im Obergewicht über das Neue. Die Puritaner blieben gewöhnlich bei diesem Übergewicht stehen; erst Collins sieht eine strikte Alternative. Es ist im einzelnen leicht nachzuweisen, wie vieler exegetischer Irrtümer er sich dabei-schuldig gemacht hat. Seine arminianischen Gewährsleute wie Grotius, Clericus, waren weit bessere Exegeten. 126 Gleichwohl hat er auf ein wichtiges Dilemma innerhalb der üblichen orthodoxen Apologetik seiner Zeit aufmerksam gemacht. Dadurch brachte er eine erhebliche Debatte über die alttestamentliche Prophetie in Gang 127 , die erst mit seinem Tode 1729 endete. Von den Erwiderungen ist die von T. Bullock128 ein Beispiel für die Fortführung der ausschließlich am Neuen Testament interessierten Linie. Bullock betont in diametralem Gegensatz zu Collins, daß das Christentum keineswegs auf das Alte Testament begründet sei. Vielmehr ist das Christentum ein neues Gesetz, welches von Jesus, dem der wahre Geist Gottes in aller Fülle gegeben war, gebracht wurde und das Gesetz der Juden im Alten Testament abgelöst hat. Dieses Gesetz Christi läßt sich durch rationale Beweise bestätigen. Die häufigen Berufungen der Apostel im Neuen Testament auf das Alte Testament haben lediglich einen apologetischen Zweck: gegenüber den Heiden wollten sie damit beweisen, daß deren Religion ein Betrug (imposture) sei und deshalb aufgegeben werden müsse; gegenüber den Juden, daß ihre Religion veränderbar sei und in den christlichen Glauben überführt werden könne. 1 2 9 Sieht man genau hin, sind auch diese Argumente keineswegs neu, sondern führen die Haltung desjenigen Flügels im Puritanertum fort, der sich von einem spiritualistischen Ausgangspunkt her ganz auf das Neue Testament stützte und von daher zu einer weitgehenden Ablehnung des Alten Testaments kam. 1 3 0 Auch die gesetzliche Auffassung von der Bedeutung des Neuen Testaments gehört ganz in diese Linie. 126

Zum einzelnen vgl. O'Higgins, aaO., S. 155ff. Lechler, aaO., S. 275, urteilte noch weit günstiger über die Qualität von Collins' Beweisführung. 127 Zu den direkten Erwiderungen vgl. Trinius, Freydenker Lexicon, S. 155ff.; Lechler, Geschichte, S. 275ff.; O'Higgins, aaO., S. 174ff. Collins selbst führt 35 Erwiderungen im Vorwort des Bandes auf, mit dem er auf die Angriffe erwiderte: The Scheme of Literal Prophecy Considered, 1726, S. Xff.( drei davon, von Woolston, sind in Wirklichkeit auf seiner Seite, vgl. O'Higgins, aaO., S. 174). 128 The Reasoning of Christ and his Apostles, in their Defence of Christianity consider'd, 2 1726. Zum Inhalt vgl. Lechler, Geschichte, S. 277ff. Von Bullock vgl. auch: Jesus Christ the Prophet whom Mose fore-told, 1724 ( 2 1725). 129 Vgl aaO., insbesondere die Vorrede. 13 « Vgl. o. S. 24Iff.

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Andere Opponenten, wie z.B. Α. A. Sykes131 und S. Chandler132, stimmten der Voraussetzung Collins' zu, daß das Christentum auf die Weissagungen des Alten Testaments gegründet sei. Sie waren allesamt insofern treue Schüler Lockes, als sie in der Aussage, daß Jesus der Messias sei, das Grundbekenntnis des Christentums (und seinen einzig fundamentalen Satz) erblickten. Mit zum Teil profunder Gelehrsamkeit suchten sie, wie z.B. Chandler, die wörtliche Erfüllung einer großen Zahl messianisch verstandener Prophetien in Jesus Christus nachzuweisen, wobei sich Chandler besonders auf die zwischentestamentliche apokryphe Literatur für seinen Beweis stützte, daß die Juden zur Zeit des Neuen Testaments eine weitverbreitete messianische Erwartung gehegt hätten. Außerdem suchten sie aber auch den Gebrauch der Typologie zu legitimieren. 133 So trägt S. Chandler eine Menge von Beweisen aus den nachexilischen Schriften des Alten Testaments und aus dem Neuen Testament zusammen, mit denen er zeigen will, daß damals die typologische Sicht weit verbreitet war. 1 3 4 Demgegenüber beharrte Whiston auf seiner Sicht, daß es eine doppelte Bedeutung der Prophetie nicht geben könne. 1 3 5 Collins antwortete in der Schrift: „The Scheme of Literal Prophecy Considered". 136 In ihrem ersten Teil folgt er genau dem Aufbau der Arbeit Chandlers und zeigt, daß bei sämtlichen zwölf Stellen für buchstäbliche und vier für typologische Weissagungen aus dem Alten Testament auf Jesus Christus, die Chandler angeführt hatte, jeweils ein Gegenstand oder eine Person in der unmittelbaren Zeitgeschichte gemeint sei. Dabei kommt er zu einigen beachtlichen Erkenntnissen. Berühmt geworden ist vor allem sein Resultat hinsichtlich der Authentic des Buches Daniel 137 , für das er zum erstenmal zu der inzwischen als zutreffend erwiesenen zeitlichen Ansetzung in die Periode Antiochus Epiphanes' gelangte. 138

131

An Essay upon the Truth of the Christian Religion: Wherein its Real Foundation upon the Old Testament is Shewn, 1725. 132 A Defence of Christianity from the Prophecies of the Old Testament . . . , 1725. 133 So vor allem J. Newcombe, A Sermon preached before the University of Cambridge at St. Mary's Church, 1724, aber auch S. Clarke, A Discourse concerning the Connexion of the Prophecies in the Old Testament and the Application of them to Christ, 1725, und S. Chandler. 134 Defence, S. 207ff. 135 Whiston, A List of Suppositions and Affections in a late Discourse of the Grounds and Reasons etc., 1724; ders., The Literal Accomplishment of Scripture Prophecies, 1724; ders., A Supplement to the Literal Accomplishment etc., 1725. 13« O. S. 601, Anm. 116. 137 Scheme, aaO., S. 147ff. 138 Vgl. dazu Lechler, aaO., S. 282f. — Man muß diese Schrift und nicht den Discourse in diesem Zusammenhang vor allem nennen, gegen H. J. Kraus, Geschichte, Anm. 6 zu § 17, aaO., S. 514.

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Im Hinblick auf die hermeneutischen Grundsätze mußte die Debatte unfruchtbar bleiben. Beide Parteien, Collins wie seine Gegner, hatten ein durchaus einseitiges Verständnis von Prophetie, welche sie fast ausnahmslos im Sinne einer Vorhersage verstanden. 139 Die Wirkung der Angriffe Collins' war jedoch, daß in der Anwendung des traditionellen Weissagungsbeweises in der Apologetik eine große Unsicherheit entstand und diese Argumentationsweise immer stärker als antiquiert erschien. 140 Daran änderten auch die vielen gelehrten Erwiderungen nichts, da die allgemeine Stimmung sehr stark in die Richtung der Haltung Collins' neigte. Auch einige der folgenden Entwicklungen deuten sich bereits bei Collins an. Mit seinen Gegnern J. Green141 und T. Lobb 142 führte er eine kurze Debatte über die Bedeutung der Wunder. 143 In diesem Buch findet sich auch eine kurze Liste von Einwänden gegen das Judentum: Gottes Befehl an Abraham, seinen Sohn zu opfern, der Tod von Jephtas Tochter, der Auftrag Gottes an Israel, beim Auszug den Schmuck der Ägypter zu stehlen usw., die bekannten moralischen Anstöße, die bei verschiedenen Deisten wiederkehren. 144 Irgendwie behielt Collins — auch dies ist ein letztes Zeichen für die puritanischen Einflüsse, die bei ihm weiterwirkten — eine Hochachtung für 139 vgl. O'Higgins, aaO., S. 176. 140 Ein Beispiel dafür ist die Schrift von S. Chandler, An Answer to a late Book entitled: A Discourse etc., in: A Vindication of the Christian Religion, 1725, Part. II., in der Chandler betont, das Christentum sei keineswegs nur auf die Prophetien aus dem AT gestützt, sondern u.a. auf Christi ausgezeichnete Lehren und Wunder. Christus selbst habe sich nie zum Beweis für seine Sendung auf die alttestamentlichen Prophetien berufen, die Apostel nur gegenüber den J u d e n . Die Applikation der alttestamentlichen Prophetien auf Christus war immer eine schwierige Aufgabe für die christlichen Theologen. Zum Verhältnis von J u d e n t u m und Christentum allgemein bemerkt Chandler, die wichtigsten Prinzipien der Religion, wie die Einheit Gottes, seine alleinige Verehrung seien zwar Christentum und J u d e n t u m gemeinsam, aber die jüdische sei eine geringere Form, nur als Vorbereitung für die größere, für eine begrenzte Zeit und ein einziges Volk gedacht, mit äußeren Zeremonien beladen und von meist rein zeitlichen Verheißungen und Drohungen gestützt. Das Christentum sei die höhere Religion, welche die Anbetung Gottes allein im Geist und in der Wahrheit gebietet und mit ewigem Lohn und Strafen gestützt ist. Die deistische Polemik gegen das

Alte Testament fiel also auch in kirchlichen Kreisen auf fruchtbaren Boden, selbst wenn man dort wenigstens formal an der ganzen Bibel festhielt. 141 J. Green, Letters to the Author of the „Grounds and Reasons of the Christian Religion", 1 7 2 6 . 142 T. Lobb, A Brief Defence of the Christian Religion, 1726. 143 A. Collins, A Letter to the A u t h o r of the Discourse of the Grounds and Reasons (1726), 1737. Collins blieb in der Anonymität und konnte sich deshalb fiktiv selbst antworten. 144 AaO., S. 32f.

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„the excellency of original primitive Christianity; Christianity as deliver'd in the Scriptures". 145 Die Frage bleibt offen, wie er diese mit der Tendenz des „Discourse" vereinen konnte, mit dem er eigentlich jeglichem Christentum die Grundlage entzogen hatte. Vielleicht brauchte er nur ein Idealbild, um es dem durch „some modern priests" 146 entstellten Christentum der Gegenwart gegenüberstellen zu können. Man mag O'Higgins rechtgeben, der von einer gewissen Inkonsistenz bei Collins angesichts dieser Diskrepanz spricht. 147 Er verweist an anderer Stelle auf die eigenen Grundsätze, die Collins in einem Abschnitt seines „Scheme of Literal Prophecy" verkündet. 148 Es sind die bekannten Grundsätze humanistischen Christentums, die uns mit leichten Abweichungen schon unzähligemal begegnet sind: eine eudämonistische Ethik, die mit dem Ziel diesseitigen und vor allem jenseitigen Glücks danach strebt, den Willen Gottes zu kennen und ihm zu gehorchen. Daß für das Forschen nach diesem Willen allgemeine Freiheit und Toleranz zu gewähren ist. Daß der Verfasser herausbekommen will, was das wahre und ursprüngliche Christentum ist, und welche Zusätze zu ihm gemacht worden sind. Daß der Staat nur das Gesetz der Natur durch zivile Sanktionen durchzusetzen hat, weil dessen Einhalten für die Gesellschaft absolut notwendig ist. Das alles ist nicht überraschend. Collins war in vieler Hinsicht keineswegs originell. Die Erkenntnis, daß der Deismus nicht von außen kam, sondern sich im Schoß des Christentums selbst entwickelte 149 , läßt sich am Beispiel Collins' gut demonstrieren. Collins äußerte sich zum letztenmal 150 in einem Disput mit / . Rogers, der sich in einem Vorwort zu acht gedruckten Predigten über die Notwendigkeit der göttlichen Offenbarung 1 5 1 mit dem „Scheme" auseinandergesetzt hatte. 152 An Rogers' Ausführungen interessierte Collins vor allem dessen Angriff auf die natürliche Religion: seine Befürchtung (auf die Erfahrungen des Commonwealth gestützt) war, daß die Vernunft, auf sich gestellt, keineswegs die ideale natürliche Religion produzieren, sondern in Willkür und Verwirrung hineinführen werde, da jeder seiner eigenen Vernunft und dem, was er für die natürliche Religion hielt, überlassen sein werde. Da14

5 AaO., S. 96. Ebendort. 147 AaO., S. 179. we Scheme, S. 4 2 5 - 4 3 3 ; vgl. O'Higgins, aaO., S. 187. »49 O'Higgins, aaO., S. 199. iso Der unlängst unter seinem Namen nachgedruckte Discourse concerning Ridicule and Irony in Writing, 1729, wird von O'Higgins, aaO., S. 196f., wohl mit Recht als ihm fälschlich zugeschrieben bezeichnet. 151 J. Rogers, The Necessity of Divine Revelation and the Truth of the Christian Religion asserted, 1727. I«2 A. Collins, A Letter to Dr. Rogers . . . , 1727. 146

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durch werde auch das Gesetz der Natur verdunkelt werden. Collins verteidigte im zweiten Teil seines kurzen Briefes die natürliche Religion gegen Rogers. Seine Antwort benutzt zu einem großen Teil die via negationis und folgt dabei verbreiteten deistischen Argumenten: die Menschheit könne nicht auf die Offenbarung angewiesen sein, da diese ursprünglich nur den Juden und sehr spät erst den übrigen Menschen gegeben worden sei. 153 Nichtchristen (z.B. in Amerika) führten aber ein ebenso moralisches Leben wie die Christen. 1 5 4 Im Gegenteil gebe es viele, die gerade dem Christentum den Vorwurf machten, es fördere eher das Laster als die Tugend. 155 Er selbst ist aber der Ansicht, daß die wahre christliche Lehre einen vorherbestimmten moralischen Standard enthält und dadurch die hervorragende Qualität des Christentums gerade deshalb beweist, weil es ,,does but republish the law of nature". 1 5 6 Damit werden wir zu einer bald folgenden weiteren Stufe der deistischen Debatte übergeleitet, an der Collins keinen Anteil mehr hatte.

d) Woolston und

Annet

Zuvor aber muß noch der Debatte über die Wunder im Neuen Testament gedacht werden, die sich in einer eigentümlichen Weise aus der Debatte über die Weissagungen entwickelte. Über die Einzelheiten dieser Diskussion hat Lechler157 in erheblicher Ausführlichkeit berichtet, und da wesentlich neue inhaltliche Erkenntnisse dazu nicht gewonnen wurden 1 5 8 , kann ich mich hier auf einige, speziell für den Zusammenhang wichtige Punkte beschränken. Die Beiträge, mit denen Thomas Woolston, der Hauptakteur auf diesem Gebiet, zuerst in die Debatte über die Weissagungen eingriff und seine Stellungnahme mit einer Erörterung über die Wunder im Neuen Testament verknüpfte, sind ein gerade in der exzentrischen Art, in der dies geschah, besonders instruktives Symptom für die geistige Haltung eines großen Teils der rationalistischen anglikanischen Theologen, denn Woolston war nicht nur in seiner äußeren Position 1 5 9 , sondern auch in seii « Letter, S. 78f. »» AaO., S. 8 2 - 8 4 . 1SS AaO., S. 105. AaO., S. 80. i " Geschichte, S. 2 8 9 f f . 158 J e d o c h hat H. J. Hillerbrand, The historicity of miracles: The early eighteenthcentury debate among Woolston, A n n e t , Sherlock, and West, in: SR 3, 1 9 7 3 / 4 , S. 132—151, die Debatte in ihrem Ablauf noch einmal präzise dargestellt und die hcrmeneutdschen Grundsätze der Beteiligten herausgearbeitet. 159 Als Fellow eines College in Cambridge (die Stelle wurde ihm 1721 als Strafe gen o m m e n ) . — Zu seinem Leben vgl. das anonyme, von einem Verehrer geschriebene

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ner anfänglich durchaus apologetischen Absicht ein typischer Vertreter dieses Standes. Nur aus der eigentümlichen Tradition der anglikanischen Geistigkeit kann man auch die beiden scheinbar gegensätzlichen Hauptbestandteile seines Denkens erklären: die Vorliebe für die allegorisch-typologische Auslegung der Bibel und den krassen Rationalismus, der vor allem bei den Urteilen Woolstons über die neutestamentlichen Wundererzählungen zutage tritt. Zu bedenken ist dabei einmal, daß die patristische Tradition in der anglikanischen Theologie ungebrochen war und eine intensive Vertrautheit mit den Schriften der Kirchenväter ähnlich wie die selbstverständliche Kenntnis der antiken Philosophie bei allen gewichtigeren Theologen anzutreffen ist. Auf der anderen Seite hatte sich der Locke sehe empirische Rationalismus in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts weithin durchgesetzt. Woolston vereint beides, und die bizarr anmutenden Konturen seines Denkens werden dadurch hervorgerufen, daß sich bei ihm zwei Welten begegnen: die in Entsprechungen getrennter Bedeutungsebenen denkende Hermeneutik der hellenistischen Spätantike und der eindimensionale Geist der Moderne, der einen streng begrenzten Kreis von Realität voraussetzt und nur das als Erfahrung Nachprüfbare und mit erfahrener Empirie Vereinbare als möglich anerkennt. In seiner ersten Schrift: „The Old Apology for the Truth of the Christian Religion", 1705 1 6 0 , folgt Woolston einem zu dieser Zeit bereits im Zurücktreten begriffenen 1 6 1 , aber wie wir sahen, im 17. Jahrhundert verbreiteten Denkmodell: der origenistischen Form der Typologie. 1 6 2 Grundgedanke ist, daß ein göttlicher Gesandter seine Autorität zuerst gegenüber dem Herrscher

Life, 1733. Nach C. C. Woog, De Vita et Scriptis Thomae Woolstonii, 1743, S. 5, ist der Verfasser Thomas Stackhouse („narratum mihi fuit a non nemini"); nach Trinius, Freydenker Lexicon, S. 520, ist es E. Curll. Woog, aaO., gibt einige Korrekturen und führt auch die Schriften Woolstons auf. Vgl. auch H. C. Lemker, Historische Nachricht von T. Woolstons Schicksal, Schriften und Streitigkeiten, 1740; A. Le Moine, Dissertation historique Sur les ecrits de Mr. Woolston, sa condemnation et les ecrits publies contre lui, 1732. Diese Schriften beweisen, daß die Auseinandersetzungen um Woolston auch auf dem Kontinent eine lebhafte Anteilnahme hervorriefen. 160 Der barocke Untertitel sagt schon fast alles über Absicht und Inhalt des Werkes: The Old Apology for the Truth of the Christian Religion revived, Wherein is shewn, Against the Jews, that Christ is the Prophet like Mose, doing all those Signs, Wonders and Judgements before and upon the Emperors and Empire of Rome which Moses wrought upon Pharao and Egypt , . . . And, Against the Gentiles, that God in Christ Jesus did manifest his Divine Authority to the Emperors and the Gentiles in the best and properest manner that can be imagined . . . 161 Wi e w j r sahen, gilt dies für England. In den amerikanischen Kolonien erlebte das typologische Denken dagegen noch eine lange Nachblüte, vgl. o. S. 186, Anm. 129. i « Vgl. o. S. 240, Anm. 434.

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des jeweiligen Landes nachweisen m u ß . 1 6 3 Das mußte deshalb auch Christus gegenüber den römischen Kaisern t u n . 1 6 4 Als Beweis dafür, daß er dies tatsächlich getan h a t , führt Woolston die typologische Entsprechung der Wundertaten Moses' vor dem Pharao an; der Auszug aus Ägypten ist die Typologie für die Erlösung der Welt durch Christus. 1 6 5 Er meint nachweisen zu können, daß die Exodusgeschichte mit allen ihren Einzelheiten eine genaue Typologie der Geschichte Christi und der alten Kirche 1 6 6 gewesen ist. 1 6 7 Die Wunder Jesu und in der Zeit der alten Kirche gegenüber den römischen Kaisern waren aber viel substantieller als die Wunder Moses', die demgegenüber n u r Schatten waren. Sie waren für die Kaiser überzeugend im Hinblick auf die Autorität der christlichen Sache. 1 6 8 Schon in dieser Frühschrift begegnet daneben ein eigentümlicher Zug zur Betonung von Faktizität: Woolston legt großes Gewicht auf den sagenhaften Brief des Pilatus an Tiberius, dessen Inhalt die Christusereignisse als wirklich geschehen bestätigen soll. 169 Daneben steht die Bemerkung, daß das Kästchen, in dem Mose auf dem Nil ausgesetzt wurde (Ex. 2), ein Typus dieses Briefes gewesen sei! 1 7 0 Um die weitverbreitete Abneigung gegen die typologisch-allegorische Methode zu e n t k r ä f t e n , weist Woolston auf die zahlreichen Anhänger dieser Auslegungsweise in der Urkirche hin und meint, es sei nicht anzunehmen, die ehrwürdigen Kirchenväter h ä t t e n in diesem Ausmaß irren können. 1 7 1 Zumal auch die alten J u d e n allegorische Ausleger waren! Am Schluß des Buches 1 7 3 wird die apologetische Absicht des Ganzen unmißverständlich ausgesprochen: Woolston wendet sich an die modernen Atheisten, Deisten und J u d e n mit der Frage, ob nicht die alten Heiden stumpfsinnig waren, daß sie trotz solcher Beweise für das Christentum so 163 AaO., S. 3. i « AaO., S. 7: 165 that deliverance of the Israelites out of Egypt, we own in General to be Typical of the Redemption of the World, and deliverance of the Church by Christ Jesus: Moses tells the Israelites, that a Prophet (meaning Christ) would the Lord their God raise unto them of their Brethren like unto him", aaO., S. 9. Bemerkenswert ist, daß mit dem Zitat aus Dt. 18,18 zugleich das (ebenfalls traditionell aufgefaßte) Motiv der Weissagung hineinspielt. 166 Auf diese beschränkt er sich auffälligerweise. i«7 AaO., S. 29f. !«8 AaO., S. 85. 169 AaO., S. 34ff. Vgl. auch den entsprechenden Hinweis auf die Pilatus-Akten, aaO., S. 265ff. — Über den Pilatus-Brief veröffentlichte er später noch gesondert eine Schrift: Dissertatio de Pontii Pilati epistola circa res Jesu Christi gestas, 1720. 110 AaO., S. 37. 171 AaO., S. 74ff. 172 AaO., S. 80f. 17 3 AaO., S. 364ff. 39 Reventlow, Bibelautorität

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lange der Götzendienerei anhingen. Auch die Juden heute haben allen Grund, wenn sie denn noch einen Messias erhoffen, sich den Christen anzuschließen, da sie doch der typologische Beweis überzeugen müßte, daß Christus seine Kirche wie Moses sein Volk aus Ägypten befreite. 1 7 4 Woolston ist überhaupt der Meinung, daß Moses und die Prophetie eine exakte Typologie für die Geschichte der Kirche durch alle Zeiten enthalten, auch wenn er Schlüsse auf zukünftige kirchengeschichtliche Ereignisse daraus nicht zu ziehen wagt. 175 Das Werk scheint ohne größere Folgen geblieben zu sein, und Woolston lebte fünfzehn Jahre lang still in seinem College, mit einem intensiven Studium der Kirchenväter beschäftigt. Dann brach er mit mehreren anonymen Pamphleten hervor, in denen er unter verschiedenen Fiktionen 176 für die allegorische Auslegung eintrat. 177 Interessant ist die Mischung der Motive, die in diesen Schriften zutagetritt: die wie ein Hobby wirkende Vorliebe für die allegorische Methode ist verbunden mit dem Ideal des Urchristentums (in dem die Allegorie zuhause war, weswegen sie auch für heute verbindlich ist), deshalb einer Apologie des Quäkertums als einer extremen Form des spiritualistisch gefärbten Puritanismus, und schließlich einer sich abzeichnenden Feindschaft gegen die anglikanischen Theologen, die schon im 2. Brief an Dr. Bennett178 als „Diener des Buchstabens" (im Gegensatz zu den spirituellen Allegoristen) gebrandmarkt werden. Diese Feindschaft steigert sich nach der bald nach Erscheinen dieser Schriften erfolgten Entlassung in einen psychopathischen Haß gegen die gesamte Geistlichkeit 179 , 174

AaO., S. 368f. « s AaO., S. 374. 176 Als der wiedererstandene Origenes, der den modernen Theologen vorwirft, die von ihm gelehrte Wahrheit im Stich gelassen zu haben, und als ein Ausländer, der in England die urchristlichen Qualitäten der verachteten Quäker entdeckt — weil sie Anhänger der allegorischen Auslegung sind. 177 Origenis Adamantii Renati epistola ad Doctores, Whitbejum, Waterlandium, Whistonum, aliosque Litteratos hüius seculi disputatores, circa fidem vere orthodoxam et scripturarum interpretationem, 1720; Origenis Adamantii Epistola secunda, 1720; Α Letter to Dr. Bennett (den schärfsten Ankläger der Quäker) upon this question, whether the People called Quackers be not the nearest of any other sect in Religion, resemble the primitive Christians in Principles and Practice? By Aristobulus, 1720; A second letter to Dr. Bennett in defence of the Apostles and primitive Fathers of the Church for their allegorical Interpretation of the Law of Moses, against the Ministers of the Letter and literal Commentators of his Age, 1721. 178 S. vorige Anm. 179 Hierzu gehören die in Serienform von insgesamt sechs Folgen erschienenen Pamphlete: Free-Gift to the Clergy, Or, The Hireling Priests of what Denomination soever, 1722 (A Second, Third, Fourth, bis 1724), in denen Woolston die Geistlichkeit herausfordert ,,to a Disputation on this Question, Whether The Hireling Preachers of this Age,

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der zwar an den Streit um die allegorische Auslegung der Bibel anknüpft, aber bald den ganzen Stand mit wütenden Beschuldigungen verunglimpft. 1 8 0 Hierbei, und bei der im Untertitel erscheinenden Frage, ob die zeitgenössische Geistlichkeit nicht Diener des apokalyptischen Tieres sei, wird man stark an die Polemik der frühen Quäker erinnert 1 8 1 (wie es auch kein Zufall ist, daß sich Woolston gerade dieser Sekte apologetisch annimmt), und überhaupt ist die Wendung gegen das Priestertum keineswegs als eine bloße persönliche Eigenart Woolstons zu erklären, sondern nimmt die Motive auf, die in breitem Strom und unter verschiedenen Gruppen in der Zeit lebendig sind. Von seinen Voraussetzungen aus war es für Woolston natürlich, sich auch in die Debatte über den Weissagungsbeweis einzumischen, wobei er sich zum Schiedsrichter 1 8 2 zwischen Collins und Whiston aufwarf. Collins ist für ihn der Ungläubige; Whiston und alle, die für den Wortsinn der Heiligen Schrift eintreten, der Abgefallene. Mit Whiston teilt Woolston die Voraussetzung, die Wahrheit des Christentums könne nur bewiesen werden, indem gezeigt wird, daß sich die alttestamentlichen Weissagungen in ihm erfüllt haben. Nur tritt er genauso fanatisch für das typologisch-allegorische Verständnis ein, wie Whiston genau umgekehrt für den Wortsinn. 1 8 3 Alle anderen Beweise für das Christentum sind ungültig, wenn der Weissagungsbeweis nicht zureicht. 1 8 4 Als solche Beweise könne weder die Lehre Jesu gelten, „who taught all in Parables, neither did he ever speak without a

who are all Ministers of the Letter, be not Worshippers of the Apocalyptical Beast, and Ministers of Anti-Christ? " 180 An vielen Stellen bricht eine Art Haßliebe zu den Standesgenossen durch, vgl. z.B. „A Second Free-Gift", S.56: „God forbid that the Clergy of this Church, whom I so dearly love, should be Antichrist's Ministers to do so great Wickedness. I had much rather do and suffer any thing for my old Friends the Clergy, so well do I still love them, than that they should perpetrate such a horrid Villany . . . " Vgl. auch etwa die Widmung zu Moderator (übernächste Anm.), S. X, wo Woolston erklärt, er sei ja unter der Geistlichkeit erzogen und habe seine Liebe für ihren Stand als unwandelbar angesehen. Um so mehr bedauere er den jetzt eingetretenen Bruch mit ihr. 181 S.o. S. 373ff. 182 The Moderator between an Infidel and an Apostate . . . , 1725. 183 AaO., S. 117f., macht Woolston Luther heftige Vorwürfe wegen seiner Parteinahme für den Wortsinn. 18« Vgl. Moderator, S. 23: „The Inference that I make from all this is, that the only way of proving against the Jews, the Messiahship of our Jesus, is from his Completion of the Prophecies that went before of him. If the Truth of his Gospel can't be demonstrated by its Harmony to the Law of Moses; and the Divine Authority of the New Testament, by its Correspondence to the Old, we must give up the Cause of Christianity to them."

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Parable" 1 8 5 , noch Wunder. 1 8 6 An dieser Stelle kann er wörtlich die Argumente Collins'187 aufnehmen, der die Gültigkeit der Wunder in Frage gestellt hatte, und ihnen voll zustimmen. 1 8 8 Und obwohl er äußert, er wolle hier nicht näher auf die Wunder Jesu eingehen, wozu er an sich durchaus in der Lage sei 1 8 9 , spricht er doch von der Auferstehung und erklärt (unter Hinweis auf die Diebstahlsthese [Matth. 28,13]) die Einwände gegen sie für völlig überzeugend — auch er selbst müßte sich von ihnen überzeugen lassen, wenn er nicht an ihrer spirituellen Bedeutung festhielte: nämlich Christi mystischen Sterbens und Auferstehens aus dem Grabe des Buchstabens von Gesetz und Propheten. 1 9 0 Es ist nun eigentümlich zu beobachten, wie Woolston in einer weiteren Reihe von Schriften 1 9 1 auf der einen Seite einer großen Zahl von Wundergeschichten der Evangelien 192 mit rationalen Beweisen dafür, daß sie unmöglich so geschehen sein können, den Boden unter den Füßen wegzieht, wie er dies aber nicht zur Bekämpfung der Bibel selbst ins Werk setzt, sondern um anschließend allen diesen Erzählungen einen mystisch-allegorischen Sinn unterzulegen (oder, wie er meint, den hinter ihrem Wortlaut verborgenen aufzudecken). 1 9 3 Für unser Gefühl sind der platte common sense 194 , der als Maßstab für das jeweils auf der Ebene der durch die wörtliche Bedeutung bezeichneten Realität Mögliche dient, und die blühende Phantasie, mit der das jeweils allegorisch „Gemeinte" erschlossen wird, schlechthin unvereinbar. Aber beides sind vorgegebene Denkweisen, eine aus der uralten spiritualistischen Tradition, die andere aus dem modernen Empirismus, !85 Moderator, S. 44. '8« Moderator, S. 44ff. 187 Discourse, S. 31. 188 „This is admirably reason'd!", Moderator, S. 46. 189 Moderator, S. 49. 190 „and was I not convinced that the whole Story, in which there is no Sense according to the Letter, was but a Type and Figure of his Spiritual and Mystical Death and Resurrection out of the Grave of the Letter of the Law and the Prophets, in which he has been buried . . . , I should believe it to be but an idle Tale", Moderator, S. 52f. 191 A Discourse on the Miracles of our Saviour, 1727 (benutzt wurde die 6. Aufl. 1729, wie auch bei Lechler)·, A Second Discourse etc., 1727 ( 4 1729); A Third Discourse, 1728 («1729); A Fourth Discourse, 1728 ( 4 1729); A Fifth Discourse, 1728 ( 3 1729); A Sixth Discourse, 1729 ( 2 1729). Außerdem erschien noch eine Defence der Discourses, in zwei Teilen, 1729/30. Zu der enormen Verbreitung dieser Schriften vgl. Lechler, Geschichte, S. 294. 192 Vgl. Lechler, Geschichte, S. 296. 193 Ein Beispiel für dieses Vorgehen: das Heilungswunder am Teich Bethesda (Joh 5), bietet Lechler, Geschichte, S. 296ff. 194 Vgl. Hillerbrand, The historicity, S. 135.

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dessen rationale Färbung aber nichts anderes als eine zeitgemäße Ausprägung des im Humanismus fast ebenso alten Rationalismus ist. Woolston ist also eine in gewissem Sinne durchaus typische Erscheinung, und sein in beiden Richtungen übersteigertes Denken läßt die charakteristischen Züge der anglikanischen Tradition in einem besonders grellen Lichte erscheinen. Auf die Dauer konnte sich eine derartig zwiespältige Argumentation selbstverständlich nicht behaupten, und so ist es nicht weiter erstaunlich, daß sich die weitere Diskussion auf die Frage zuspitzte, ob die Wunder im Neuen Testament tatsächlich geschehen seien — und deshalb als Beweis für das Christentum gelten könnten — oder nicht. Insbesondere war es das zentrale Wunder: die Auferstehung Jesu, worauf sich die Auseinandersetzung konzentrierte. Hauptkontrahenten waren auf apologetischer Seite Thomas Sherlock (späterer Erzbischof von Canterbury) mit seiner ungemein populären Schrift: „The Tryal of the Witnesses of the Resurrection of Jesus" 1 9 S , auf deistischer P. Annet mit seiner Erwiderung darauf: „The Resurrection of Jesus considered, in Answer to the Tryal of Witnesses. By a Moral Philosopher". 1 9 6 197 Bedeutsam an der Debatte sind vor allem die Erkenntnisgrundsätze, die beide Gesprächspartner (und auch andere, die sich an der Diskussion auf beiden Seiten beteiligten 1 9 8 ) als selbstverständlich voraussetzten: entscheidend für beide ist der Nachweis, daß die Wunder tatsächlich geschehen sind, es kommt allein an auf ihre Faktizität, die Sherlock durch seine „Zeugenaussagen" evident machen, Annet dagegen bestreiten will. Annet spricht sich ganz klar darüber aus: „If faith be founded on fact, let the truth of fact appear; if on reason, let reason discover the foundation." 1 9 9 In der Betonung der Vernunft als alleinigem Maßstab des Urteils ist er 195

1729. 13. Aufl. 1755, auch in frz. und dt. Übers., 1732 bzw. 1751. Erstauflage anscheinend 1744 (nach Leland, View, Bd. I, S. 270) oder 1743 (so Trinius, Freydenker Lexicon, S. 374). Wegen des Pseudonyms hielt man eine zeitlang T. Morgan für den Verfasser. Benutzt wurde ein Mikrofilm der 3. Aufl. 1744 (im Vorwort bezeichnet Annet die 2. Aufl. als einen fehlerhaften Raubdruck). 197 Zu der Debatte vgl. Leland, aaO., S. 267ff., und bes. Lechler, Geschichte, S. 31 Iff., sowie Hirsch, Geschichte, Bd. I, S. 315ff.; Redwood, Reason, Ridicule and Religion, S. 147ff. 198 Auf selten der Apologetik u.a. G. West, Observations on the History and the Evidence of the Resurrection of Jesus Christ, 1747 (3. Aufl. im gleichen Jahre, dt. Übers. 1748, frz. Übers. 1757); auf Seiten der Deisten, u.a. T. Chubb (s.u. S. 634f.) mit verschiedenen Arbeiten (u.a. A Discourse on Miracles Considered as Evidences to prove the Divine Original of a Revelation, 1741; Of Miracles, in: The Author's Farewell to his Readers, Sect. VIII, in: Posthumous Works, 1748, Bd. II, S. 1 7 7 - 2 4 9 ) . 199 Resurrection, S. 5. 196

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ähnlich konsequent wie W. Lyons200: „Reason is my only rule, and the displaying truth my only aim." 2 0 1 „Wahr" und „falsch" sind, auf diese Alternative beschränkt, die entscheidenden Maßstäbe auch für das Urteil über die Bibel: „Is it not material whether what these Evangelists say, is true or false? Whether this a true or false insinuation to countenance the history? " 2 0 2 Auch hier findet sich ein Panegyrikus auf die natürliche Religion 203 ; den Gegensatz zu ihr bildet jegliche vorgegebene Inspiration, Quelle aller denkbaren religiösen Übel und ärgster Feind von Tugend und Vernunft. 204 Wenn Glaube nicht auf Fakten oder der Vernunft beruht, sondern auf Uberlieferung, kommt es darauf an, die hinter der Überlieferung stehenden Fakten zu prüfen, um festzustellen, ob nicht die Evangelisten selbst Täuschungen unterlegen seien, Dinge von Hörensagen berichtet haben, die sich nicht beweisen lassen, ob sich nicht auch Interpolationen in die Texte eingeschlichen haben, die ohnehin kaum unverderbt in unsere Hände gelangt sein dürften. 2 0 5 Im weiteren Verlauf der Untersuchung prüft der Verfasser im einzelnen die Aussagen der Evangelien über Jesu Leidensankündigungen (von denen die Jünger später nichts wußten!), über die Vorgänge bei der Grablegung (nichts deutet auf eine Auferstehung des Leichnams) und über die vorgeblichen Erscheinungen des Auferstandenen, wobei vor allem die Widersprüche der Evangelisten untereinander die größten Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit solcher Zeugen hervorrufen. Gegen alles, was in der Bibel über diese Dinge berichtet wird, muß gelten: „God never requires men to believe things contrary to evidence, nature, and common sense" 206 ; was wir aber an Beweisen in der Bibel haben, wird nur von denen geglaubt, denen es durch ihre Erziehung eingepflanzt wurde, ehe ihr Verstand heranwuchs. 207 Der einzig mögliche Beweis ist wohl der „Beweis des Geistes" — aber da jeder davon reden kann, taugt er nur für Gläubige, nicht für diejenigen, die'nach Beweisen fragen, und hier gilt dann: „Things not known cannot be proved by things equally unknown." 2 0 8 Schließlich stellt Annet ganz klar heraus, daß für seinen (statisch-ethischen) Begriff von „Religion" eine geschichtliche Uberlieferung wie die der Bibel, 200 Vgl. o. S. 593ff. mi AaO., S. 7. 202 AaO., S. 14. 203 f> 'Tis founded on the eternal attributes of the Deity, and the invariable nature, reason, and fitness of things", aaO., S. 9. 204 AaO., S. 9f. 205 AaO., S. 14f. 206 AaO., S. 65. 207 Ebendort. 208 AaO., S. 69.

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eben weil sie historisch ist, bedeutungslos bleibt: seine Absicht sei es gewesen, ,,to convince the world that an historical faith is no part of true and pure religion, which is founded only on truth and purity. That it does not consist in the belief of any history, which whether true or false, makes no man wiser nor better". 2 0 9 Wunder als Gegenbeweis werden auch deshalb zurückgewiesen, weil sie der im Locke sehen Sinne empiristisch verstandenen Erkenntnis widersprechen 2 1 0 : „Things asserted, which are contrary to the experience, and reason of all mankind; and to what they know of the law and usual course of nature, are, to the common sense and understanding of men, utterly impossible; because such assertions contradict all men's notions of those laws, that are known by common experience." 2 1 1 Mit Annet ist die Kritik an der Bibel in eine neue Phase getreten. Sie ist grundsätzlicher und folgerichtiger geworden. An dieser Stelle vereinigen sich eine Reihe von alten und neueren Traditionen. Der Begriff von natürlicher Religion, den Annet mit vielen Vorgängern teilt, ist wohlbekannt. Auch daß er in Spannung tritt zu dem überlieferten biblisch-christlichen Glauben, ist ein immer wieder zu beobachtender Vorgang. Neu ist die Entschlossenheit und Offenheit, mit der Annet den biblischen Glauben beiseite schiebt und für überflüssig erklärt. Vorher überwogen fast immer die Versuche, ihn mit der natürlichen Religion zu harmonisieren oder deren Aussagen in der Bibel wiederzufinden. Auch Whiston und Woolston probierten dies noch, jeder in seiner Weise. Annets entschiedener Abschied von derartigen Manövern, die jedesmal eine doppelte Hermeneutik zur Folge hatten, ist auch eine Konsequenz seiner eigenen Hermeneutik, in der sich jetzt endgültig der Empirismus bahngebrochen hat: „If a stone appeared to roll up a hill of its own accord to my sight, I should think I had a reason to doubt the veracity of my eye-sight, or of the object" 2 1 2 — diese empirische Erkenntnis gilt in analoger Weise auch für die Möglichkeit der Auferstehung Jesu: ,,As we know by experience that all men die, and rise no more, therefore we conclude, for a dead man to rise to life again, is contrary to the uniform and settled course of nature." 2 1 3 Das Newtonsche Denken hat sich vollständig durchgesetzt — freilich in Schlußfolgerungen, von denen seine Urheber nicht hätten träumen mögen. Annet erklärt nun klipp und klar: „Natural powers are fit to answer all the ends of virtue

209 AaO., S. 72. 2,0 „What no man's senses ever discern'd, was never the object of any man's sense." AaO., S. 74. 211 Ebendort. 212 Ebendort. 213 AaO., S. 75.

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and religion; therefore supernatural powers are needless." 214 Ein Mann von Ehrenhaftigkeit und guten Manieren brauchte keine übernatürlichen Gaben, um die Menschheit in unbefleckter Heiligkeit von Herz und Verhalten zu instruieren und sie auf diese Weise Gott angenehm zu machen. Auch Gott wirkt nach den unveränderlichen Gesetzen der Dinge. Wunder sind da überflüssig. „If God acts towards mankind, as the moral fitness of things requires, there is no occasion for miracles; for if reasonable exhortations to virtue, and dehortations from vice; if prudent persuasion, and just laws, will not make people virtuous, nothing can." 215 Annet hatte seine Lektion bei Clarke gut gelernt! e) Tindal, Christianity as old as the

Creation

Allerdings gingen auch die meisten Deisten nicht so weit wie Annet. Überwiegend hielten sie an den Versuchen, eine Übereinstimmung zwischen der natürlichen Religion und der Bibel aufzuzeigen, fest. Am bekanntesten in dieser Hinsicht ist das 1730 erschienene (zeitlich also etwas vor Annets Äußerungen liegende) Buch von Tindal: „Christianity as old as the Creation". 2 1 6 217 Der Band, der bei seinem Erscheinen großes Aufsehen erregte 218 und eine Menge von Widerlegungen hervorrief 219 , wird gewöhnlich als ein „Hauptwerk des Deismus" bezeichnet. 220 Diesen Titel verdient er insofern 214

AaO., S. 77. AaO., S. 82. 216 Untertitel: „or, the Gospel, a Republication of the Religion of Nature." (weitere Auflagen 1730, 1731, 1732, 1733. Dt. Übers. v.J. Lorenz Schmidt, 1741, zusammen mit der Erwiderung von J. Foster, The Usefulness, T r u t h , and Excellency of the Christian Revelation . . . , 1731, die aber eigentlich keine Gegenschrift ist, da sie fast ebenso wie Tindal die natürliche Religion zum Maßstab macht [kurze Inhaltsangabe auch bei Trinius, Freydenker Lexicon, S. 283f.]). Das Werk wird auf dem Titelblatt als „Volume I " bezeichnet. Tatsächlich hatte Tindal bei seinem Tode einen zweiten Band druckfertig vorbereitet, dessen Veröffentlichung aber unterblieb, vgl. dazu Gawlick, aaO., S. 35*f. Benutzt wurde der Faksimile-Neudruck, hrsg. von G. Gawlick, 1967. 217 Gawlick, aaO., S. 39*—43*, gibt eine Bibliographie. Die neueste Untersuchung ist seine Einleitung zum Neudruck. 2 g i Daß noch 1798 in den Vereinigten Staaten eine Neuauflage erschien (vgl. Gawlick, aaO., S. 38* und Anm. 41) deutet auf die Spätwirkung des Deismus in den USA, deren Verfassungswirklichkeit und kirchliches Leben bis heute die geistigen Folgen der Aufklärung zeigt. 219 Eine Liste bei Trinius, Freydenker Lexicon, S. 465ff. Redwood, Reason, Ridicule and Religion, S. 145f., erwähnt ein von Waterland mit Randbemerkungen versehenes Exemplar in der Bodleiana, das ich nicht gesehen habe. 220 P. Skelton, Ophiomaches: or, Deism revealed, 1749, Bd. II, S. 344, nannte es „the Bible of Deism"; vgl. weiter die bei Gawlick, aaO., Anm. 1 auf S. 44*, zitierten Belege. 215

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mit Recht, als sich in dieser in antikisierender Mode (nach dem Vorbild Ciceros) als Dialog stilisierten Abhandlung fast alle die Grundauffassungen wiederfinden, die in der rationalistischen Theologie von den Latitudinariern bis zu den Deisten eine Rolle gespielt hatten. Man hat das Buch als typisches Alterswerk bezeichnet 2 2 1 und als solches stellt es eine Art von Materialsammlung dar, in welcher der Verfasser in einer bis dahin nicht erreichten Vollständigkeit 222 eine Menge von Ergebnissen der teilweise jahrzehntelang vorausgegangenen Diskussion zusammengetragen hat. Die wichtigsten Züge der deistischen Religionsauffassung finden sich auch hier: vor allem die Annahme des Bestehens einer für alle Menschen geltenden und für alle ausreichenden natürlichen Religion, die Tindal als ,,the Belief of the Existence of a God, and the Sense and Practice of those Duties, which result from the Knowledge, we, by our Reason, have of him, and his Perfections" 2 2 3 definiert. Sie beruht auf dem Gesetz der Natur, das seinerseits nichts anderes ist als „the Relations between Things, and the Fitness resulting from thence", wie Tindal in Anlehnung an Clarke formuliert 2 2 4 , und deshalb von allen Menschen erkannt werden kann, weil es ihrer eigenen rationalen Natur entspricht: denn das Gesetz der Natur, „is so call'd, as being a Law, which is common, or natural, to all rational Creatures". 2 2 5 Ausschließlicher noch als in allen vorangegangenen deistischen Äußerungen wird die Religion auf die Moral bezogen: sie ist streng legalistisch gefaßt als „the Practice of Morality in Obedience to the Will of G o d " 2 2 6 , ihr Zweck ist es, ,,to render (man) as perfect as may be in all moral Duties whatever". 2 2 7 In der Überschrift zu Kap. II heißt es, „That the Religion of Nature consists in observing those Things, which our Reason, by considering the Nature of God and Man, and the Relation we stand in to him and one another, demonstrates to be our D u t y " 2 2 8 : rationale Erkenntnis der „fitness of things" und moralisches Handeln folgen unmittelbar aufeinander. 2 2 9 Diese Moral ist außerdem, wie für die gesamte Aufklärung charakteristisch, eindeutig eudämo221

Gawlick, aaO., S. 5*. Gawlick, aaO., S. 6*. 22 3 AaO., S. 13. 224 AaO., S. 30 — ein Beispiel für zahlreiche ähnliche Formulierungen. Vgl. z.B. auch: „what is founded on the Nature of Things, and the immutable Relations they bear to one another", aaO., S. 6. 22 * AaO., S. 8. 22 * AaO., S. 298. 2 " AaO., S. 46. 22 « AaO., S. 13. 229 In Gawlicks Darstellung, aaO., S. 17*, sieht es so aus, als ob Tindal als erster das Verhältnis von Religion und Moral umgekehrt habe; diese Umkehrung war aber schon in der humanistischen Tradition angelegt und tritt etwa bei Shaftesbury klar hervor. 222

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nistisch: aus Gottes Eigenschaften als eines unendlich glücklichen, allweisen Wesens folgt, daß er seinen Geschöpfen nur zu ihrem Nutzen dienende Gebote geben konnte: „nothing can be a Part of the Divine Law, but what tends to promote the common Interest, and mutual Happiness of his rational Creatures . . . As God can require nothing of us, but what make for our Happiness; so he . . . can forbid us those Things only, which tend to our Hurt." 2 3 0 Weil diese Religion (Moral) dem Wesen Gottes entspricht (in einer metaphysischen Theologie begründet ist) 231 und zugleich dem Wesen der Dinge und der rationalen Natur des Menschen, kann sie auch unmittelbar erkannt werden: sie unterscheidet sich von der äußeren Offenbarung nur durch die Art, wie sie vermittelt wird: „The One being the Internal, as the Other the External Revelation of the same Unchangeable Will of a Being, who is alike at all Times infinitely Wise and Good." 2 3 2 Die Vernunft ist das Organ dieser inneren Offenbarung: an dieser Stelle wird noch einmal das Erbe deutlich, das den Rationalismus mit seinen spiritualistischen Ahnherren verbindet. Die Vernunft hat auch die gleiche Evidenz wie die unmittelbare Geistbegabung: „All Men, at all Times, must have had sufficient Means to discover whatever God design'd they shou'd know, and practice." 233 Auch die übrigen Pfeiler im Gedankengebäude Tindals entsprechen der rationalistisch-spiritualistischen Tradition: Da ist einmal die Lehre von der Vollkommenheit der natürlichen Religion, die alles das enthält, was überhaupt über Gottes Willen zu wissen für das Heil des Menschen notwendig ist. 234 Eine äußere Offenbarung kann höchstens das bestätigen, was die Menschen, wenn sie nur ihre Vernunft richtig gebrauchten, auch von sich aus erkennen könnten. Allerdings gibt Tindal zu (und folgt damit ebenfalls der seit Locke und Shaftesbury vertrauten Linie), daß die Menschen in der Praxis diesem Ideal nicht immer nachkommen. Hieraus begründet er seine zentrale These, an der bemerkenswert ist, daß sie ähnlich apologetisch gemeint ist wie die Ausführungen der meisten gemäßigten Deisten 235 , deren Nähe zu den latitudinarischen Apologeten hier ganz deutlich wird: das Christentum ist keine neue Religion, sondern es ist die Neuproklamation des von Anfang an gelten» o AaO., S. 14f. Vgl. auch aaO., S. 283. AaO., S. 3; vgl. auch S. 125. 233 AaO., S. 5; vgl. auch S. 197; 379f. 234 „that they who never heard of any external Revelation; yet if they knew from the Nature of Things what's fit for them to do, they know all that God will, or can require of them", aaO. S. 357; vgl. auch S. 394. 235 Vgl. dazu das Augustin-Zitat am Ende: „Errare possum, haereticus esse nolo", dazu Gawlick, aaO., S. 13*.

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den Gesetzes, das mit der menschlichen Natur selbst gegeben ist 236 , es ist die „Republication of the Religion of Nature". 2 3 7 Tindals Absicht ist es nicht, die christliche Offenbarung von vornherein als überflüssig nachzuweisen. Im Idealfall wäre sie tatsächlich entbehrlich. Inhaltlich kann sie keinerlei Neues zu dem allgemein bekannten Willen Gottes hinzufügen. Nach Tindals Überzeugung (die er allerdings mehr andeutet als klar ausspricht 238 ), erfüllte sie trotzdem eine wichtige Aufgabe, weil sie als eine „Wiederbekanntmachung" oder „Wiederherstellung" der natürlichen Religion das natürliche Gesetz den Menschen noch einmal vor Augen stellte, die es in der Realität immer wieder nicht rein befolgt haben, weil sie schon seit je, indem sie einer positiven Religion anhingen, dem Aberglauben verfallen waren. An dieser Stelle greift Tindal die alten humanistisch-puritanischen Klassifizierungen in einer selten so grundsätzlich formulierten Weise auf und baut sie kunstvoll in sein System ein: Aberglauben (superstition) sind alle äußerlichen kultischen Gebräuche 239 , die für die wahre, natürliche Religion, die allein aus ethischer Erkenntnis und moralischem Handeln besteht, entbehrlich sind und von ihr in Wirklichkeit nur ablenken. Die Offenbarung dient dazu, diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen und, indem sie rein moralische Pflichten lehrt, die natürliche Religion wiederherzustellen. An dieser Stelle wird die Verbindung mit der zweiten Komponente des Spiritualismus: seiner Kultfeindschaft, unübersehbar. Tindal erkennt an, daß auch ein öffentlicher Gottesdienst von Natur aus notwendig ist und hierfür bestimmte äußere Regelungen erforderlich sind. 240 Er leugnet aber entschieden, daß Gott in dieser Hinsicht irgendwelche Gebote gegeben haben könne. Positive Vorschriften irgendeiner Art, die womöglich nur für bestimmte Zeiten und Umstände gelten könnten, vertragen sich nicht mit der ewigen Unveränderlichkeit Gottes. 241 In der bekannten Weise macht 236

AaO., S. 4. Gawlick, aaO., S. 14*f., weist nach, daß Tindal dabei in der Tat eine Formulierung des Latitudinariers T. Sherlock aufnahm und radikalisierte. » 8 Vgl. Gawlick, aaO., S. 28*f. 239 Kap. VIII folgt mit seinen Ausführungen über heidnische und jüdische Opferpraktiken (u.a. erwähnt er auch die Beschneidung als eine abergläubische Praxis, aaO, S. 90f.) den seit Herbert von Cherbury bekannten Vorbildern, aaO., S. 85ff. 240 AaO., S. 116. 241 AaO., S. 131. Diese Begründung ist sehr interessant, weil sie auf den metaphysischurgeschichtlichen Hintergrund des gesamten Denkansatzes der Aufklärung aufmerksam macht. Vgl. auch S. 133: „If God can command some Things arbitrarily, we can't be certain, but that he may command all Things so." Kap. XI, S. 141ff., verbreitet sich noch ausführlicher über die Problematik. 237

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er die Priester dafür verantwortlich, die mit Riten, Zeremonien und papistischen Formen ihren Machtanspruch monopolisierten 242 , daß diese Dinge in der Geschichte der Kirche ein immer größeres Gewicht bekommen hätten. Tindal unterstützt für die Indifferentia die kongregationalistische Lösung und schlägt vor, alle kirchlichen Angelegenheiten durch allgemeine Übereinkunft zu regeln. 243 Auch hier ist er systematischer als seine Vorgänger: alles, was moralisch bedeutungslos ist, ist indifferent und deshalb vollständig der menschlichen Freiheit überlassen. 244 Gawlick24S weist darauf hin, Tindal habe den langanhaltenden Streit unter den Latitudinariern über die Fundamentalia, und was darunter zu verstehen sei, dadurch gelöst, daß er positive Satzungen und Vorschriften gar nicht mehr als göttlich offenbart betrachtet habe und so zu dem allein Wesentlichen, weil auf der „vernünftigen Natur der Dinge" Gegründeten gelangt sei. Wenn er sich rühmt, die so beschriebene Religion in einer Weise bewiesen zu haben, „founded upon such demonstrable Principles, as are obvious to the meanest Capacity" 2 4 6 , wird man sofort an Locke und dessen pädagogisches Anliegen erinnert. 2 4 7 Natürlich steckt hinter all dem doch eine Grundvoraussetzung, ein allgemeines Apriori: Tindal setzt einen metaphysisch geformten Begriff von Gott als dem vollkommenen Wesen voraus, in dem, auch wenn er rein praktisch bezogen bleibt 248 , ein Maßstab vorgegeben ist, an dem das, was Offenbarung inhaltlich zu sein vermag und was nicht, allgemein verbindlich gemessen werden kann. In der materialen Ausfüllung dieses Maßstabes

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Vgl. bes. aaO., S. 169ff. AaO., S. 109; vgl. auch S. 431. Daß er den Kongregationalismus für apostolisch-urchristlich hält, zeigt erneut sein puritanisches Erbe. Vgl. dazu auch Tindals frühere Äußerungen, o. S. 525ff. 244 AaO., S. 121f. 136. 149f. 245 AaO., S. 23*. 246 AaO., S. 422. Vgl. auch die Überlegungen über die Pflichten des „common people", aaO., S. 279ff., und das Kap. XIII, aaO., S. 232ff. (dazu auch vgl. u. S. 621ff.). 247 Zu den ganz ähnlichen Formulierungen bei Locke und Shaftesbury vgl. o. S. 43 Iff. und S. 514, Anm. 461. Auf S. 235 seines Werkes zitiert Tindal ausführlich eine Äußerung in diesem Zusammenhang. 248 Auf die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Gewißheit stützt sich Gawlick, aaO., S. 27*f., wenn er diesen Einwand zu entkräften meint. Aber ist die „Realität des moralischen Bewußtseins" nicht selbst eine Hypothese (des nachkantischen Idealismus), welche den Gemeinschaftsbezug und damit die Relativität aller Moralvorstellungen übersieht? (Die Konsequenz hieraus für den Christen kann nur lauten, auch die Ethik in den konkreten Lebensbezug des Glaubens und damit des offenbarten Willens Gottes einzubeziehen; sie ist ebenfalls ein Teil der geschichtlichen Wirklichkeit.) 243

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seiner Vemunftbezogenheit und seiner eudämonistischen Moral 249 übernimmt er das gleiche antik-stoische Gedankengut, das uns bei seinen humanistischen Vorgängern immer wieder begegnet war. 250 Die Bedeutung seines Werkes liegt vor allem darin, daß er die verschiedenen Gegenstände, welche ihm in den von seinen rationalistischen Zeitgenossen diskutierten 251 geläufigen Themen vorlagen, in ein logisch konsequentes und von seinen Voraussetzungen aus weitgehend zuende gedachtes System einbaute, das die offensichtlichen Brüche im Denken der Latitudinarier vermied und auch gründlicher durchdacht war als die meisten Ansätze seiner Vorgänger. Insofern ist die Aufmerksamkeit, die ihm neuerdings wieder zuteil geworden ist, durchaus berechtigt. Im übrigen ist es aber auch im Hinblick auf seine wenigstens subjektiv immer noch „christlich"-apologetische Absicht eher konservativ zu nennen. Die Konsequenzen dieses Systems werden jedoch gerade auf dem Felde des Bibelverständnisses besonders deutlich sichtbar. Der Rolle der Bibel widmet Tindal ein eigenes, sehr ausführliches Kapitel, in dem sich manche Gedanken auch mehrfach wiederholen. 252 Ausgangspunkt seines Urteils über den Wert der Bibel ist seine Definition der natürlichen Religion, die er auch in diesem Kapitel als die einzig verbindliche Form ansieht. Von Bedeutung sein kann die Heilige Schrift — das steht von vornherein fest — nur im Hinblick auf die in ihr enthaltenen göttlichen Gebote: die ausschließlich mit Moral gleich249

„Human happiness" ist nach Tindal das einzige Ziel aller Religion, aaO., S. 104; Gott verlangt nichts um seiner selbst willen, aaO., S. 44ff. Religion besteht im wesentlichen im Handeln für das Gemeinwohl: „If Men, according to the best of their Understanding, act for their c o m m o n Good, they then govern themselves by the same Rule God governs them . . . in being intirely govern'd by it, they have done all that God requires", aaO., S. 279. 250 G. Gawlick würdigt die Gedanken Tindals in sehr weitgehend positiver Weise (mit der Einschränkung, daß er auf die philosophische Bedeutung der christlichen Versöhnungslehre im Sinne Kants hinweist, aaO., S. 32*). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit seinen Voraussetzungen kann hier nicht erfolgen, ergibt sich aber aus dem Gesamtzusammenhang meiner Darstellung. Die „Realität des moralischen Bewußtseins" (aaO., S. 28*) ist jedenfalls kein zureichendes kritisches Organon zu einem Urteil über die offenbarte Religion. Vgl. aber auch Gawlicks Bemerkungen über Religion und Christentum, in: Der Deismus als Grundzug, S. 37. 251 Zu beachten sind die reichlichen Zitate, die sich durch das ganze Werk hindurchziehen, davon sind viele von latitudinarisehen Theologen. Das letzte Kapitel (aaO., S. 353ff.) ist einer ausführlichen Besprechung der Argumente Clarkes gewidmet, in der Tindal sehr scharfsinnig die Unvereinbarkeit zwischen natürlicher Religion und christlicher Offenbarung in dessen Darstellung aufweist und Clarkes Argumente geschickt dazu benutzt, seine eigene Auffassung, daß nur die natürliche Religion von Wert sein kann, zu begründen. 252 Kap. XIII, aaO., S. 232ff.

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gesetzte Definition von Religion 253 Iäßt nichts anderes zu. Solche Gebote, wie sie eventuell in der Bibel zu finden sein könnten, müßten aber von vornherein mit dem Inhalt der natürlichen Religion übereinstimmen, wenn sie Autorität haben sollten; denn: „must not our Reason tell us, that infinite Wisdom can have no Commands, but what are founded on the unalterable Reason of Things?" 254 Wille Gottes kann nur sein, was der Natur der Dinge und seiner eigenen, unveränderlichen Natur gemäß ist. 255 Nichts anderes als die menschliche Vernunft kann entscheiden, was der „eternal Reason of Things" 256 entspricht. Wenn aber nun Religion für die ganze Menschheit da ist (denn das Ziel des moralischen Handelns ist das Glück, und dies ist für alle Menschen bestimmt 2 5 7 ), müssen ihre Gebote so einfach sein, daß sie auch von den einfachsten Menschen (dem „common people") 2 5 8 verstanden werden können: „True Religion can't but be plain, simple, and natural, as design'd for all 253 In einem interessanten Abschnitt des fiktiven Gespräches zwischen seinen Personen Α und Β (wobei Α das Sprachrohr des Verfassers ist, Β durch seine milden Einwände und Fragen die entscheidenden Aussagen von Α hervorlockt) geht es um das Problem, ob Religion nicht auch Pflichten gegen Gott zum Inhalt habe (aaO., S. 278ff.). Α bringt das T h e m a auf den Tisch, indem er die rhetorische Frage stellt, o b es nicht ausgeschlossen sei, daß das eine selbst-existente Wesen, dem alle anderen Wesen ihre Existenz verdankten, etwas für sich selbst von den Menschen, die er geschaffen, verlange; ob er ihnen nicht vielmehr keine anderen Lebensregeln gebe „but to oblige them to act for their common Good? If then an Action is for their Good, is n o t that alone an infallible Text of its being approv'd by G o d ? " Daran schließt sich die Aussage, die schon bei Shaftesbury sich ankündigte, daß die Menschen, wenn sie nur nach ihrem besten Wissen für ihr Gemeinwohl handelten, alles getan hatten, was Gott verlangt (vgl. dazu auch S. 330). Β wagt dagegen den Einwand, das gemeine Volk („common people") könne wohl fähig genug sein, seine Pflichten gegen den Menschen zu kennen — aber wisse es ebenso genau, was es G o t t schulde? Hierauf antwortet Α mit einer erneuten Folge von rhetorischen Fragen, in denen er hervorhebt, welche Liebe und Verehrung die Menschen doch gegen das höchste Wesen empfinden müßten, wie aber diese Verehrung sich vor allem in den höchsten Vorstellungen ausdrücke, die sie von ihm haben müßten, „and that the highest Honour and Worship they can render him, is solemnly to own him to be what he is? " Gegenstand echten Gefühls kann der metaphysisch definierte Gott nicht sein, er ist lediglich der Projektionspunkt, in dem sich eine abstrakte Weltordnung spiegelt. 254 AaO., S. 246f. 255 AaO., S. 247. 256 Ebendort. 257 Pflicht der Menschen Gott gegenüber ist es, „ t o introduce into his Creation as much Happiness as they can", aaO., S. 280. 258 w i e e ; n Widerhall Locke scher Äußerungen klingt es, wenn Tindal „Peasants and Mechanicks, Men and Maid-Servants" als Glieder des einfachen Volkes aufzählt, aaO., S. 299.

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Mankind, adapted to every Capacity, and suited to every Condition and Circumstance of Life." 2 5 9 Hier nimmt Tindal den bekannten Gedanken Lockes auf. 2 6 0 Von der Bibel muß man aber genau das Gegenteil sagen: ihr Verständnis ist in verschiedenster Weise mit den größten Schwierigkeiten belastet. An erster Stelle nennt Tindal dabei die fremden Sprachen, in der sie abgefaßt ist und die fast allen Menschen bis auf wenige den unmittelbaren Zugang zu ihr versperren. 261 Außerdem verweist er auf die Unzahl von Auslegungsklippen, die überwunden werden müßten, ehe man Zugang zu ihr gewönne: als Beleg bringt er eine ganze Liste von exegetischen Fachausdrücken, wie sie in der zeitgenössischen Wissenschaft gebräuchlich waren. 2 6 2 Hinzu kommen die Unsicherheiten der Überlieferung, die sich in den zahllosen Textvarianten des Neuen Testaments niedergeschlagen h a b e n 2 6 3 , ganz zu schweigen von den Meinungsunterschieden in der inhaltlichen Auslegung. 264 Den Weg, den das liberale Bibelverständnis in hundert Jahren zurückgelegt hatte, erkennt man recht deutlich an einer Bemerkung Tindah über Chillingworth (,,the greatest Champion the Protestant Cause ever had"), von dem er sagt, „that he was abler at pulling down than building u p " . Aufgrund seiner eigenen Argumente sei ihm nichts weiter übrig geblieben als der bloße, vollkommen unbegründete Aufschrei: „The Bible, I say, The Bible is the Religion of Protestants." 2 6 5 An dieser Stelle bringt er dann auch den traditionellen Antiklerikalismus zur Geltung: die Hindernisse, welche den einfachen Menschen den Zugang zur Bibel verbauen, sind für die Priester das beste Mittel, ihre eigene Macht über die Laien auszuüben. In allen Religionen ist die überwiegende Mehrheit aller Menschen, die ihre religiösen Urkunden nicht in den Ursprachen 259

AaO., S. 241. Vgl. auch S. 278: the Principles, on which all Religion is founded, must be so obvious, that all Men, even of the meanest Capacity, may from thence discern their Duty both to God and Man." 260 Er bringt selbst ein ausführliches Zitat aus Locke mit dessen entsprechenden Äußerungen, aaO., S. 235. 261 AaO., S. 232. 284; vgl. S. 237f. 2 9 0 - 9 2 . 262 AaO., S. 238f. Für sein Vorgehen charakteristisch ist, daß er diese Liste aus einem Werk von Bischof Taylor entnimmt. Offensichtlich ist auch Tindal, wie man im übrigen an seinen weiteren Ausführungen und biblischen Zitaten durch das ganze Kapitel hindurch sehen kann, in Fragen der Bibelauslegung ebenso gut unterrichtet, wie das bei den meisten geistig führenden Köpfen der Zeit festzustellen ist. Die in der Liste genannten Fachausdrücke eröffnen übrigens einen interessanten Einblick in den damaligen Stand der Exegese, der sich auf einem bereits weit höheren Niveau befand als üblicherweise angenommen wird. 263 Wieder zitiert Tindal den berühmten Bentley, um einen unverdächtigen Zeugen zu haben, aaO., S. 324f. 2