Beziehungsreiches Leben: Studien zu einer inklusiven theologischen Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung 9783666624100, 9783525624104, 9783647624105


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Beziehungsreiches Leben: Studien zu einer inklusiven theologischen Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung
 9783666624100, 9783525624104, 9783647624105

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624104 — ISBN E-Book: 9783647624105

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier

Band 59

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624104 — ISBN E-Book: 9783647624105

Ulf Liedke

Beziehungsreiches Leben Studien zu einer inklusiven theologischen Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62410-4

© 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: Ç Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Inhalt Inhalt Vorwort ...................................................................................................

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Einleitung ................................................................................................

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Teil A: „Charisma“ oder „Gestalt des Nichtigen“? Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie............................... 23 1. „Der behinderte Mensch als Thema der Theologie“. Historische Vergewisserungen und theologische Herausforderungen............................................ 25 1.1 „Vergeßt den Elenden nicht, wenn ihr nach dem Wesen des Menschen fragt“ – Johannes Klevinghaus ................................................ 30 1.2 „Die wahre Gott-Ebenbildlichkeit im leidenden Menschen erkennen“ – Julius Jensen ......................... 33 1.3 „Der Schwerstbehinderte ist eine exemplarische Gestalt der Schwachheit des Menschen“ – Ludwig Schlaich ......................................................... 37 1.4 „Personsein bedeutet ... Du-sagen-Können“? Ein Dialog zwischen Walter Neidhart und Heinrich Ott ......................................................... 42 2. „Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist“. Ulrich Bachs Befreiungstheologie für Menschen mit und ohne Behinderung ........................................................... 46 2.1 „Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist“ ............ 47 2.2 „Das Wort Gottes als Grund unseres Glaubens“ ........ 48 2.3 „An der christozentrischen Schaltstelle meines Denkens“ ........................................................ 50 2.4 „Das Defizitäre gehört für mich in die Definition des Humanum“. Anthropologie .................................. 54 2.5 Diakonie als Zwillingsschwester des Gottesdienstes....................................................... 58 2.6 „Hauptsache gesund“. Über Gesundheitsideologie und Euthanasiementalität in Gesellschaft und Kirche. ................................................................. 62 2.7 „Kontextuelle Theologie“ als „Theologie der Befreiung“ für behinderte und nichtbehinderte Menschen ........... 70

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6

Inhalt

2.8

4.

5.

6.

7.

„Aufrechter Gang an zwei Gehstöcken“. Kritische Würdigung .................................................. 72 3. „Das Charisma des behinderten Lebens“. Trinitätstheologie und Behinderung bei Jürgen Moltmann .................................................. 76 3.1 Der Mensch als Bild des dreieinigen Gottes .............. 76 3.2 „Jede ‚Behinderung‘ ist auch eine Begabung“ ........... 82 3.3 Behinderung als Charisma? Kritische Würdigung ..... 88 Der behinderte Gott und die Befreiung der Behinderten. Die Diakonie Gottes als Grundlage befreiender Praxis bei Ottmar Fuchs .................................................................... 92 4.1 Inkarnationstheologie oder: in Jesus wird Gott ebenerdig....................................... 93 4.2 „Behinderung als ‚Begabung‘ zum Leben“................ 96 4.3 Diakonische Theologie oder: ebenerdige Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung ....... 100 4.4 Anthropologischer Wahrheitswert für andere? Kritische Würdigung .................................................. 105 Würde als kommunikative Freiheit. Christof Bäumlers Überlegungen zur Menschenwürde ....................................... 109 5.1 Menschenwürde als Bildungsprozess ......................... 110 5.2 Würde und Subjektivität ............................................. 112 5.3 Wechselseitige Begegnungen in der kirchlichen Praxis. Kritische Würdigung ................... 114 „Alle Menschen leben mit Beeinträchtigungen“. Hans Grewels Anthropologie des zerbrechlichen Lebens ..... 117 6.1 „Leben inmitten von Leben“. Grundzüge der Anthropologie Hans Grewels ..................................... 118 6.2 Normal ist der imperfekte Mensch ............................. 121 6.3 Theologische Vergewisserung. „Schöpfungssymbol“ und „Gotteskindschaft“ ........... 123 6.4 Anthropologie des zerbrechlichen Lebens. Kritische Würdigung .................................................. 126 „Begrenztheit gehört zur Grundbestimmung des Menschen“. Michael Schibilskys christologische Anthropologie ............. 129 7.1 „Anthropologie ist im Kern Christologie“.................. 129 7.2 „Schwäche ist kein Makel und Stärke keine Grundlage für ein ganzes Leben“ ............................... 131 7.3 „Schwäche ist kein Makel und Stärke keine Grundlage“ Kritische Würdigung .................................................. 134

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Inhalt

8.

9.

10.

11.

Verletzliches Menschsein, beschädigte Schöpfung. Jürgen Seims Notizen zu einer Anthropologie des Verletzlichen.................................................................... 8.1 Gottes Ebenbild in Schwachheit und Begrenztheit. Anthropologische Notizen .......................................... 8.2 Beschädigte Schöpfung. Behinderung als Sonderfall menschlichen Lebens.................................................. 8.3 Solidarität und Hinfälligkeit. Konsequenzen und Ambivalenzen ............................................................. Behinderung als „besondere Erscheinungsform menschlicher Möglichkeiten“. Anna-Katharina Szaguns Skizze einer integrativen Pädagogik ...................................... 9.1 Soziologische Aufklärung. Hermeneutische Grundlegung .................................... 9.2 Behinderung als Gesellschaftsprodukt. Zum Verständnis von Behinderung ............................ 9.3 Vergeltung und Protest. Zur Ambivalenz der biblisch-christlichen Tradition.............................. 9.4 Verdankte Möglichkeiten. Eine theologisch-anthropologische Skizze ................. 9.5 Besonderheit im Plural. Über die vielen Gesichter menschlichen Lebens........ „Gott verursacht nicht das Leiden, sondern geht darauf ein“. Gunda Schneider-Flumes Anthropologie des „Lebens in Geschichten“ ................................................. 10.1 Geschichten sind der Stoff, aus dem das Leben besteht........................................................ 10.2 Die Geschichte Gottes in den Geschichten des Lebens.............................................. 10.3 „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen“. Menschsein in Gottes Geschichte............................... 10.4 Widerfahrnis, Klage und Befreiung. Zur Deutung von Krankheit und Behinderung .......... 10.5 Behinderung als Widerfahrnis. Kritische Würdigung ..................................................

7

136 137 139 141

144 145 146 148 150 153

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„Behinderung als Bewährungsfall des Lebens“. Behinderung in Reinhard Turres ganzheitlicher Diakonik .... 168 11.1 „Von Gott her ist der Mensch, was er ist“. Anthropologische Vergewisserungen......................... 168 11.2 Behinderung als Bewährung, Aufgabe und Prüfung ................................................................ 172

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8

Inhalt

11.3 12.

13.

14.

15.

Stärken der Schwachen? Kritische Würdigung .......... 176

Behinderung als „auferlegte Last“ und „Herausforderung zum Kampf“. Karl Hermann Kandlers „Behindertenethik“ .. 12.1 Geschaffen, geliebt, erlösungsbedürftig. Anthropologische Grundannahmen ............................ 12.2 Behinderung: Würde und Last.................................... 12.3 „Gott will den Behinderten, aber nicht seine Behinderung“. Kritische Würdigung ......................... Behinderung als „Gestalt des Nichtigen“. Ulrich Eibachs theologische Anthropologie im Kontext der Medizinethik ... 13.1 Der Mensch: beseelt und leibhaftig ............................ 13.2 Anthropologische Notizen zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit .......................................... 13.3 Behinderung als Ausdruck der Macht des Nichtigen . 13.4 Behinderung als Gestalt des Nichtigen? Kritische Würdigung .................................................. Behinderung als Ausdruck einer widergöttlichen Wirklichkeit. Georg-Hinrich Hammers Unterscheidung von Person und Behinderung ................................................ 14.1 Der Mensch: Ebenbild Gottes und Rebell .................. 14.2 Behinderung als Manifestation der Gegenmacht Gottes..................................................... 14.3 Der Mensch im Schnittpunkt der Gewalten? Kritische Würdigung ..................................................

178 179 181 183 187 188 193 199 202

208 208 212 215

Begabungen und Begrenzungen. Zusammenfassende Thesen.................................................... 220

Teil B: Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven theologischen Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung ............................................................................. 230 1.

Gottebenbildlichkeit oder: Ich bin „nach dem besten Bild gebild’t“.................................................................................. 1.1 Der Mensch: eine Plastik Gottes ................................ 1.2 Bild Gottes im Glauben. Neutestamentliche Aspekte der Gottebenbildlichkeit ............................................. 1.3 Anspruch – Widerspruch – Entsprechung. Theologische Interpretationen der Gottebenbildlichkeit ............................................. 1.3.1 Gottebenbildlichkeit zwischen Schöpfung, Erlösung und Vollendung ...........................................

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234 235 240 244 244

Inhalt

2.

3.

1.3.2 Ontologie oder Relation. Der Diskurs über den materialen Gehalt der Gottebenbildlichkeit................ 1.4 Weil die Bilder laufen lernen ... Gottebenbildlichkeit in trinitarischer Perspektive ........................................ 1.4.1 Drei Seinsweisen des einen Gottes. Kurzer Exkurs zur Trinitätslehre (1) .......................... 1.4.2 Der Mensch als Bild des dreieinigen Gottes .............. Personalität oder: „als Person bin ich, was ich bin“ (Edmund Husserl) .................................................................. 2.1 Handeln hinter Masken. Die persona in der vorchristlichen Antike ................................................ 2.2 Von der Maske zum Antlitz. Aspekte der christlichen Rezeption ................................................ 2.3 „Mit Christus eine Person werden“. Luthers christologisches Personenverständnis ........... 2.4 Von der Seele zum Selbstbewusstsein. Vom Gestaltwandel der Person in der Neuzeit........... 2.5 Mensch oder Person. Unterscheidungen in der angewandten Ethik...................................................... 2.6 Personalität als Vorschein, Angesprochensein und Selbsterschlossenheit. Die Person im Spiegel gegenwärtiger Theologie ............................................ 2.7 Personalität als Sein in Beziehung. Anmerkungen zum Personenbegriff ........................... 2.8 Ebenbild Gottes und menschliches Antlitz. Zur theologischen Präzisierung des Personenbegriffs ......................................................... 2.9 Substanz, Relation oder Postulat? Der Personenbegriff im Diskurs der Behindertenpädagogik ................................................ Subjektivität oder: „Ich fühle mich! Ich bin!“ (J.G. Herder) . 3.1 Der Einzelne und sein Gewissen. Biblische Impulse ....................................................... 3.2 Das Ich und sein Grund. Stationen einer SelbstVerständigung............................................................. 3.3 Umstrittenes Ich. Subjektivität im Diskurs der Theologie der Gegenwart ..................................... 3.4 Tragende Gewissheit. Selbstbewusstsein und Glaube.................................................................. 3.5 Subjektivität und geistige Behinderung. Plädoyer für eine verstärkte Aufmerksamkeit auf selbstbewusstes Leben ................................................

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10

Inhalt

3.6 4.

5.

Zur „Entdeckung des Ich“ in der Behindertenpädagogik. Ein vorläufiger Überblick..... 359

Leiblichkeit oder: „ich bin mein Leib“ (Maurice Merleau-Ponty)....................................................... 4.1 Gottebenbildlichkeit und Leiblichkeit. Aspekte des biblischen Zeugnisses ................................................. 4.2 Zwischen Hochschätzung und Verachtung. Der Blick auf den Leib in der Theologie- und Philosophiegeschichte................................................. 4.3 Leibgewissheit und Leibvergessenheit. Das Phänomen des Leibes in exemplarischen Entwürfen der Theologie ............................................ 4.4 Als Leib existieren und einen Körper haben. Leiblichkeit in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners ...................................................... 4.5 Selbstbewusstsein als Leibbewusstsein. Zur Leibhaftigkeit der menschlichen Existenz........... 4.6 Leibliche Beziehung und Kommunikation. Konzepte und Reflexionen einer leiborientierten Pädagogik ................................................................... 4.6.1 Leibvermittelte Förderung. Das Konzept der „basalen Stimulation“ ................................................. 4.6.2 Elementare Beziehung und leiblicher Dialog............. Sozialität oder: die „Gewißheit … daß der Andere für mich immer anwesend ist“ (Jean-Paul Sartre) ................. 5.1 „Corporate personality“ – Notizen zur sozialen Anthropologie in den biblischen Schriften ................. 5.2 Geselligkeit, Ungeselligkeit, Vergesellschaftung. Konzepte der Sozialität zwischen Naturzustand und Gesellschaftsvertrag.................................................... 5.3 Das Ich und sein Verhältnis. Sozialität in den Entwürfen von Fichte, Hegel und Schleiermacher..... 5.4 Zwischen „Ich“ und „Selbst“. Theologische Konzepte der Intersubjektivität................................................... 5.5 Wechselwirkungen. Versuche, Intersubjektivität zu verstehen ..................................................................... 5.5.1 Stigma und Identität (1): Über die Entstehung „beschädigter Identität“ .............................................. 5.5.2 „Me“ und „I“: George Herbert Meads Sozialpsychologie .......................................................

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Inhalt

11

5.5.3 Die „subjektivierenden Blicke der Anderen“. Intersubjektivität und Kommunikation bei Jürgen Habermas .................................................................... 425 5.5.4 Intersubjektivität und Zwischenleiblichkeit. Dimensionen der Sozialität........................................ 429 5.6 Trinität und menschliche Gemeinschaft. Theologische Präzisierungen einer sozialen Anthropologie ............. 438 5.7 Entstigmatisierung und die Gemeinschaft der Verschiedenen. Pädagogische und politische Notizen ....................................................... 442 5.7.1 Stigma und Identität (2): Identitätsbildung und Entstigmatisierung................... 442 5.7.2 „Es ist normal, verschieden zu sein“. „Inklusion“ und „Community Care“ als Leitbilder eines gesellschaftlichen Zusammenlebens........................... 446 6.

7.

Glaube oder: „der Glaube schafft die Person“ (Martin Luther)....................................................................... 6.1 Leben im Glauben. Biblische Perspektiven der Gottesbeziehung ......................................................... 6.2 Das Gottesverhältnis als „religio“ und „fides“ ........... 6.3 „Der Glaube schafft die Person“. Luthers Glaubens- und Religionsverständnis ............. 6.4 Von der „religio“ zum „religiösen Apriori“. Bedeutungsverschiebungen in der Neuzeit................. 6.5 Gottoffenheit. Unterbrechungen. Gottesgewissheit. Aspekte von „Religion“ und „Glaube“ in aktuellen systematisch-theologischen Entwürfen ...................... 6.6 Lebensgewissheit. Grundgewissheit. Strukturen des Glaubens ............................................. 6.7 Glaube in der Lebensgeschichte ................................. 6.8 Den eigenen Glauben finden. Religions- und behindertenpädagogische Reflexionen ....................... Bildung oder: „Wann werd ich satt und froh mit Lachen, O Herr! nach deinem Bild erwachen?“ (BWV 492) .............. 7.1 Künstler, Pflanze, Tat. Metaphern und Paradigmen von Bildung ................................................................ 7.2 Protestantismus und Bildung. Theologische Entwürfe............................................... 7.3 Relationalität und Bildung.......................................... 7.4 Kompetenz, Emanzipation, Selbstbestimmung. Pädagogische Ziele .....................................................

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12

Inhalt

7.5

8.

9.

Ebenbild und Bildung. Theologische Erwägungen zur Bildungstheorie..................................................... 7.6 „Alle Menschen alles gründlich lehren“..................... 7.7 Sonderpädagogik oder Allgemeine Bildungstheorie? Pädagogische Konzepte .............................................. 7.8 Kein Tabu für Goethe. Bildung für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung ................................. Fragmentarität oder: ich bin „sowohl ein Fragment aus Vergangenheit als auch ein Fragment aus Zukunft“ (Henning Luther).................................................................... 8.1 „Meine Zeit steht in deinen Händen“. Dimensionen des fragmentarischen Lebens im biblischen Zeugnis . 8.2 Auf der Suche nach Perfektion. Vollkommenheit in der griechischen Philosophie .................................. 8.3 Fragment und Vollendung. Luthers Anthropologie des gerechtfertigten Sünders ............. 8.4 Verwandlungen. Von der ontologischen zur relationalen Vollkommenheitsidee ............................. 8.5 „Grenzen des Menschseins“ zwischen Geschöpflichkeit und Sünde. Aspekte des aktuellen theologischen Diskurses ......... 8.6 Befristung. Einräumung. Leiblichkeit. Fragmentarität als Grunderfahrung ............................ 8.7 Gottes Sein in Beziehung. Kurzer Exkurs zur Trinitätslehre (2) .......................... 8.8 Fragmentarität und Gottebenbildlichkeit.................... 8.9 Fragmentarität und Leiden.......................................... 8.10 Behinderung und Fragmentarität ................................ 8.11 Fragmentarität und Empowerment ............................. Inklusion oder: „wir gehören zusammen“ (Ulrich Bach) ...... 9.1 Beziehungsweise. Leben mit Behinderung in Beziehungen ........................................................... 9.2 Von der „Behinderung“ zum „Menschsein“ oder: Was bedeutet „Leben mit einer Behinderung?“ ......... 9.3 „Wer bin ich?“ Identitätsbildung in Beziehungen...... 9.4 „Wer bin ich?“ Und als Mensch mit einer Behinderung?.....................................................

532 538 540 545

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Literatur................................................................................................... 626

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Vorwort Vorwort Vorwort In die ersten Monate meines Theologiestudiums in Leipzig fällt die Bekanntschaft mit Margot, einer Frau mit einem erfrischenden Humor und lebenserfahrenem Realismus. Sie lebte mit ihrer inzwischen betagten Mutter in einer kleinen Wohnung. Margot saß im Rollstuhl. Von Kindesbeinen an. Nein: in ihrer Wohnung lief sie – in einem speziell für sie angefertigten Gehgestell. Wir waren drei Studierende, die Margot kennen und schätzen lernten. Eine Freundschaft entwickelte sich. Bei einer Rüstzeit lernte Margot Klaus kennen. Er kam aus Rostock und wohnte ebenfalls in der elterlichen Wohnung. Auch Klaus saß im Rollstuhl. Er besuchte Margot. Mit dem Zug. Da die Waggons nicht barrierefrei und für Rollstühle völlig ungeeignet waren, fuhr er im Bretterverschlag des Postwaggons. Für die Zeit, in der Klaus da war, organisierten wir Freunde einen Assistenzdienst. Irgendwann erwuchs aus Margots und Klaus’ Liebe der Wunsch, heiraten und gemeinsam wohnen zu wollen. Doch dem stand damals, Mitte der 1980er Jahre, ein Hindernis entgegen: Klaus brauchte kontinuierliche Assistenz. Täglich mehrfach. Professionelle Unterstützung existierte faktisch nicht. Margots Mutter starb in dieser Zeit – und mit ihrem Tod erhielt die Angst Nahrung, dass Margot in ein Heim werde umziehen müssen. Inmitten einer Umwelt mit wenig Unterstützungsressourcen und viel Vorurteilen kämpften Margot und Klaus in dieser Situation um ihr selbstbestimmtes Leben. Sie übten unablässig und bis zur Erschöpfung, um sich gegenseitig Assistenz leisten zu können und weniger externe Hilfen zu benötigen. Sie schafften es, eine der ganz wenigen barrierefreien Wohnungen in Leipzig zu mieten. Sie organisierten sich so, dass sie mit einer kontinuierlichen Assistenz durch ihre Kirchgemeinde selbstständig leben konnten. Wir Freunde waren in diesem Prozess lediglich Unterstützer im Hintergrund. Im Sommer 1989 ließen sich Margot und Klaus schließlich trauen und bezogen ihre Wohnung. Selbstbestimmte Schritte im Rollstuhl. Von Margot und Klaus habe ich, lange bevor mir Selbstbestimmung, Inklusion und Empowerment konzeptionell vertraut waren, gelernt, was diese Begriffe beinhalten und welche Kraft mit ihnen verbunden ist. Die Freundschaft mit ihnen und die Erfahrungen dieser Jahre waren für mich ein wichtiges Motiv dafür, das Leben mit einer Behinderung auch im Zusammenhang meiner wissenschaftlichen Tätigkeit aufzugreifen.

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2008 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck habe ich sie geringfügig überarbeitet. Die Studie ist eine systematisch-theologische Untersuchung, die zugleich die Brücke zur Diakoniewissenschaft und zur Behindertenpädagogik schlägt. Im Zentrum stehen die Rekonstruktion des theologischen Diskurses zum Thema „Behinderung“ sowie die systematisch-theologische Entfaltung einer inklusiven Anthropologie, die für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen gilt. Mein Dank gilt Prof. Dr. Matthias G. Petzoldt, der mich immer wieder ermutigt hat, die begonnene Untersuchung weiter zu verfolgen und fertig zu stellen. Seinen Hinweisen und seinem Gutachten bin ich zu großem Dank verpflichtet. Ebenso danke ich Prof. Dr. Martin Petzoldt (Leipzig) und Prof. Dr. Heinz Schmidt (Heidelberg) für ihre Gutachten. Meine Frau hat mit ihrem Verständnis und ihrer Unterstützung viel dazu beigetragen, dass die vorliegende Studie entstehen konnte. Ihr und meiner Tochter danke ich herzlich für ihre Ermutigung, Begleitung und Hilfe. Ich freue mich, dass meine Untersuchung im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erscheinen kann und danke Herrn Jörg Persch für sein Entgegenkommen und seine Unterstützung. Dieser Dank gilt auch den Herausgeberinnen der „Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie“, die meine Studie in ihre Reihe aufgenommen haben. Nicht zuletzt bin ich auch für die gesamte verlegerische Betreuung seitens des Verlages sehr dankbar. Die Drucklegung meiner Untersuchung ist von verschiedener Seite großzügig unterstützt worden. Mein herzlicher Dank gilt dem Diakonischen Werk Sachsen, dem Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, dem Diakonischen Werk der EKD sowie der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden (FH). Ich habe eingangs von Margot und Klaus erzählt. Ihre Geschichte gibt mir auch in anderer Hinsicht viel zu denken. Nur etwa zwei Jahre nach ihrer Hochzeit erkrankte Margot schwer und starb wenig später. Nicht allein die erstaunliche Lebenskraft des Empowerment sondern auch die schmerzliche Endlichkeit des menschlichen Lebens sind mir so vor Augen getreten. Das Lob und die Klage, die mir angesichts der menschlichen Fragmentarität mit ihren Potenzialen und ihren Begrenzungen auf den Lippen liegen, verbinde ich mit dem Gebet von Ps 31,15f: „Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen“. Margot und Klaus sei dieses Buch gewidmet. Weinböhla, Pfingsten 2009

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Ulf Liedke

Einleitung Einleitung Einleitung In einem Aphorismus seiner „Minima Moralia“ hat Theodor W. Adorno der Politik den Rat gegeben, „den besseren Zustand“ als einen solchen zu denken, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann“. Eine emanzipierte Gesellschaft, so sein Plädoyer, „wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen“.1 Adorno hat mit diesem Diktum das Leitbild einer lebendigen Demokratie formuliert: einer Gesellschaft, in der die freien und gleich berechtigen Bürgerinnen partizipatorische soziale und politische Strukturen entwickeln und sich als Individuen, genauer: als Verschiedene achten. Die Erfahrung, die Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft machen, ist demgegenüber vielfach die, lediglich als Verschiedene, nicht aber als Geachtete, Beteiligte und Zugehörige angesehen zu werden. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner viel beachteten Rede von 1993 davon gesprochen, Behinderung sei „in der Wirklichkeit […] nach wie vor die Art von Verschiedenheit, die benachteiligt, ja die bestraft wird“.2 Dieser Erfahrung stellte Weizsäcker den normativen Indikativ gegenüber: „Es ist normal, verschieden zu sein“.3 Eine Formulierung, in der Adornos Diktum nachklingt. Wie lässt sich diese angstfreie Normalität der Verschiedenen verwirklichen? Die Politik für Menschen mit Behinderung trägt seit vielen Jahren das Prinzip der Integration in ihrem Wappen. Diese ist über lange Zeit als „Integration der Behinderten in die Gesellschaft“,4 in der neueren Rechtsentwicklung als „gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ (§ 1, SGB IX) aufgefasst worden. Sowohl Menschen mit Behinderung selbst als auch die Behindertenpädagogik beurteilen das Leitbild der Integration inzwischen vielfach als ambivalent. Setzt es nicht, indem es einen Zustand erneuern, wiederherstellen oder wieder zurechtbringen5 will, begrifflich eine Situation sozialer Trennung voraus? Geht von ihm deshalb nicht die verschwiegene Botschaft aus, dass Menschen mit Behinderung doch nicht ungeteilt zur Gesellschaft gehören und dieser Zustand erst hergestellt werden muss? Und ————— 1

Adorno, Minima Moralia, GS 4, 114. Weizsäcker, Es ist normal, verschieden zu sein, 258. 3 Ebd., 267. 4 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), Vierter Bericht, 4. 5 Das Verb „integro“ bedeutet so viel wie wiederherstellen, wieder zurechtbringen, ergänzen, erneuern (Georges, Handwörterbuch, Bd. 2, 343f); das Substantiv „integratio“ bedeutet Wiederherstellung oder Erneuerung (ebd., 343). 2

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Einleitung

inwiefern muss er wieder hergestellt werden? War er unter den Voraussetzungen dieses Denkparadigmas jemals verwirklicht? In der aktuellen Diskussion wird daher das Leitbild der Integration immer häufiger durch das der Inklusion abgelöst. Inklusion wird gern als „Nicht-Aussonderung“ oder „unmittelbare Zugehörigkeit“ übersetzt.6 Damit stellt sie das normative Prinzip vom Kopf auf die Füße: Menschen mit Behinderung müssen nicht erst in die Gesellschaft integriert werden. Sie sind bereits zur Gesellschaft gehörig. Mit gleichen Rechten und Pflichten. Wie jeder andere Bürgerin auch. Das Inklusionsparadigma kehrt gegenüber dem Integrationsmodell die Begründungspflicht um. Nicht länger müssen Integrationsbemühungen gerechtfertigt werden – unter Rechtfertigungsdruck geraten vielmehr Strukturen und Praxis von Aussonderung, Nichtbeteiligung und Exklusion. Mit dem Titel eines europäischen Projektes könnte man Inklusion auch wiedergeben mit „Bürger, uneingeschränkt und unbehindert“.7 Das Inklusionsleitbild wertet den bürgerrechtlichen Status von Menschen mit Behinderung auf und entwickelt alle Aktivitäten auf der Grundlage ungeteilter Zugehörigkeit. Gerade in Bezug auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung ergänzt es die Rede von der Normalität der Verschiedenen. Es ist normal, verschieden zu sein und zugleich unmittelbar zuzugehören. Verschieden sind nach wie vor aber auch die gesellschaftlichen Erfahrungen, die Menschen mit Behinderung machen. Erfahrungen der Zugehörigkeit oder der Exklusion, der Anerkennung oder der Diskriminierung. Ein Blick auf einige Ereignisse der letzten Jahre mag diese Vielfältigkeit und Uneindeutigkeit belegen – nicht repräsentativ aber vielleicht doch exemplarisch … 21. April 2006: In den Medien wird bekannt, dass der niederösterreichische Pfarrer Benedikt Triebl Menschen mit einer geistigen Behinderung, die in einem neu eröffneten Caritas-Wohnheim in seiner Gemeinde wohnen, die Kommunion verweigert hat. Im Fernseh-Interview verteidigt Triebl am gleichen Tag seine Entscheidung: Für Personen wie sie, die geistig einen „beträchtlichen Schaden genommen haben“, seien Sonderliturgien vorgesehen. Das sei „keine Diskriminierung, sondern die ‚Erkenntnis, dass nicht alle Personen alle Sakramente empfangen könnten‘“.8 11. September 2006: Der britische „Independent“ veröffentlicht eine Leserinnen-Diskussion mit Peter Singer unter dem Titel „You Ask The Questions“. Auf die Frage „Would you kill a disabled baby?“ antwortet Singer, „Yes, if that was in the best interests of the baby and of the family as a whole.“ Anschließend wiederholt Singer noch einmal seine Grundposi————— 6 7 8

Vgl. Theunissen, Inklusion, in: Theunissen/Schirbort (Hg.), Inklusion, 13. Maas, Community Care in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, 145. Vgl. ORF Radio Niederösterreich, Keine Kommunion, 22.04.2006.

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tion, die auf einem rationalistisch gefassten Personenbegriff beruht. „There is no sharp distinction between the foetus and the newborn baby“,9 führt er aus. Deshalb dürften behinderte Babys in analoger Weise getötet werden, wie andererseits auch die Abtreibung erlaubt sei. 6. – 17. September 2008: In Peking finden die 13. Sommer-Paralympics statt. 4.124 Athleten aus 148 Ländern kämpfen in 20 Sportarten um beste Platzierungen. Die Spiele werden als „großer Schritt zur Professionalisierung des Behindertensports“10 gewürdigt. Die deutsche Mannschaft muss sich mit 59 errungenen Medaillen mit Platz elf des Medaillenspiegels zufrieden geben. 29. September 2008: Im Hannoveraner GOP Varieté-Theater findet zum fünften Mal das Finale von „beauty in motion“ statt. Acht Frauen mit Behinderung sind dafür aus einer größeren Zahl von Bewerberinnen ausgesucht worden. Im Rahmen der Gala wird die 24-jährige Marina Maurer zur Miss „beauty in motion 2008“ gewählt. Während allerdings der deutsche Schönheitswettbewerb anschließend auf Grund fehlender Sponsorengelder eingestellt werden muss,11 meldet der „Tagesanzeiger“, dass in der Schweiz 2009 zum ersten Mal ein analoger Wettbewerb stattfinden soll: „Die erste Wahl der Miss Handicap in der Schweiz soll zeigen, dass junge Frauen mit – und nicht trotz – einer Behinderung attraktiv sein können“,12 wird aus einer Medienmitteilung des Projektmanagements zitiert. 1. Januar 2009: In Deutschland tritt die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft. Sie zählt in Artikel 3 u.a. „die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ zu ihren Grundsätzen. Der englische Text spricht – deutlicher – von „participation“ und „inclusion“. In Artikel 19 wird das Inklusionsprinzip dahingehend konkretisiert, dass „Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“13 Die Konvention markiert einen Paradigmenwechsel: mit ihr werden Menschen mit Behinderung „erstmals im internationalen Recht nicht als Objekte von Fürsorge, sondern als Personen mit eigenen Menschenrechten wahrgenommen, die aufgrund dieser Rechte Ansprüche gegen den Staat, in dem sie leben, erheben können“.14 ————— 9

Singer, You Ask The Questions, 2. Paralympics 2008: „Das waren Superspiele“. 11 Vgl. Hirschbek, Mut zum Makel. 12 Erste Miss-Wahl für Behinderte in der Schweiz. 13 Vereinte Nationen (Hg.): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Art. 3, Buchst. c); Art. 19, Buchst. a). Vgl. auch: Vereinte Nationen (Hg.): Convention on the Rights of Persons with Disabilities, ebd. 14 Welke, Das Internationale Übereinkommen, 60. 10

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In all den eben genannten Ereignissen kommen nicht nur jeweils konkrete individuelle, kirchliche, ethische, politische oder soziale Sachverhalte zum Ausdruck. Durchgängig kommt in ihnen auch ein Menschenbild zur Geltung. Menschen mit Behinderung: als sportliche, schöne, selbstbestimmte oder als geschädigte, leidende und bemitleidenswürdige Personen. Offenbar bestehen rege Wechselverhältnisse zwischen Menschenbildern auf der einen Seite und sozialen, politischen und ethischen Zusammenhängen auf der anderen. Das Gleichbehandlungsgesetz bringt gegenüber Diskriminierungen das Menschenwürdegebot des Grundgesetzes zur Geltung. Modefotografen setzen die Schönheit ins Bild. Ein Pfarrer schließt Menschen mit geistiger Behinderung von der Kommunion aus und macht für sie eine Sonderliturgie geltend – immer sind Menschenbilder im Spiel. Vielfach werden sogar in der Anthropologie die Vorentscheidungen getroffen, die dann zu Konsequenzen in anderen Bereichen führen. Selbst Peter Singer hat die Weichen für die ethische Infragestellung des Lebensrechtes für Menschen mit geistiger Behinderung bereits in seiner Anthropologie gestellt, indem er dieser einen Personenbegriff zu Grund legt, der mit den Eigenschaften „Rationalität, Autonomie und Selbstbewußtsein“15 verbunden ist. Menschenbilder grundieren offenbar unseren Alltag und orientieren unser Handeln. Umgekehrt wirken individuelle Lebenserfahrungen und gesellschaftliche Lebenszusammenhänge auf anthropologische Konzepte zurück und konturieren sie mit. Menschenbilder tragen daher in erheblichem Maße mit dazu bei, ob es normal ist, verschieden zu sein und zugleich uneingeschränkt zuzugehören. In welcher Weise aber wird das Menschsein mit einer Behinderung in der Theologie reflektiert? Ist Verschiedenheit anthropologisch normal? Sind Menschen mit einer Behinderung innerhalb theologischer Anthropologien unmittelbar zugehörig oder werden für sie besondere Begriffe bereitgehalten? Werden sie überhaupt wahrgenommen? „Der behinderte Mensch als Thema der Theologie“16 – dieses Interesse und die damit verbundenen Fragen standen am zeitlichen Beginn der vorliegenden Untersuchung. Sie ist motiviert worden durch die oben formulierten Beobachtungen, durch eigene Erfahrungen im privaten und beruflichen Leben sowie durch theologische Anregungen wie denen von Ulrich Bach. In der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen theologischen Konzeptionen ist Bach zu der Auffassung gelangt, Menschen mit Behinderung nicht länger „als Problemfall, als unlösbares Rätsel am Rande unserer flotten theologischen Systeme“ stehen zu lassen, sondern als Wahrheitskriterium theologischer Anthropologie in ————— 15 16

Singer, Praktische Ethik, 233. So der Titel eines Aufsatzes von Ulrich Bach, in: ders., Dem Traum entsagen, 123–136.

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diese aufzunehmen: „der behinderte Mensch als Kriterium für die Richtigkeit, für die Sachgemäßheit eines theologischen Gedankenganges“.17 Bach hat damit nichts anderes als ein theologisches Inklusionskriterium bestimmt: Aussagen über das Menschsein haben sich daran zu bewähren, dass sie grundsätzlich inklusiv formuliert sind, dass sie mithin das Menschsein aller Menschen einschließen. Diese Einsicht hat auch meine Arbeit bestimmt. Nachdem ich mich des theologischen Diskurses über das Phänomen einer Behinderung vergewissert hatte, wurde mir immer klarer, dass ich meine eigenen Überlegungen nur vor dem Horizont einer ungeteilten theologischen Anthropologie entwickeln konnte. Das hat es nicht zuletzt mit sich gebracht, dass der Umfang meiner Studie weit über das hinaus gewachsen ist, was mir eingangs vor Augen stand. Die vorliegende Untersuchung besteht aus zwei Hauptteilen. Im ersten Teil widme ich mich dem deutschsprachigen theologischen Diskurs zum Thema „Behinderung“, wie er in den letzten Jahren und Jahrzehnten geführt worden ist. Ich habe mir dafür umfangreiche Bibliografien angelegt und aus ihnen diejenigen Autorinnen und Beiträge ausgewählt, die das Phänomen einer Behinderung theologisch reflektieren bzw. das Menschsein mit einer Behinderung bedenken. Wie meine Ausführungen zeigen, beginnt der universitäre theologische Diskurs zu diesen Themen erst ab den 1980er Jahren. Zuvor sind entsprechende Diskussionen selbstverständlich auch geführt worden – allerdings weniger im universitären Kontext sondern viel häufiger im Rahmen der theologischen Reflexion diakonischer Praxis. Drei Positionen aus diesem Diskussionszusammenhang beziehe ich exemplarisch in meine Untersuchung ein. Nicht auf alle theologischen Texte, in denen Menschen mit einer Behinderung angesprochen oder thematisiert werden, kann ich eingehen. Vor dem Hintergrund meiner Themenstellung habe ich mich vielmehr auf solche theologischen Entwürfe konzentriert, die auf das Thema „Behinderung“ ausführlicher eingehen und es dabei anthropologisch und theologisch bedenken. Biblische Interpretationen greife ich innerhalb der einzelnen Kapitel auf, die sich mit den zentralen anthropologischen Dimensionen beschäftigen. Meine Überlegungen heben hier meist mit einer biblischen Orientierung an. Eine von der anthropologischen Fokussierung unterschiedene, eigenständige Thematisierung der – sehr unterschiedlichen – biblischen Deutungen von Krankheit oder Behinderung selbst scheint mir dagegen nicht erforderlich zu sein.18 Nicht möglich erscheint es mir darüber hinaus, ————— 17

Bach, Der behinderte Mensch – ein Geschöpf Gottes, in: ders., Kraft, 115. Ich verweise in Auswahl auf Studien, die sich speziell mit der biblischen Interpretation von Krankheit und Behinderung beschäftigen: Schmidt (Hg.), In der Schwäche ist Kraft; Sey18

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die zahlreichen religionspädagogischen, seelsorgerlichen und homiletischen Hinweise aufnehmen.19 Dies gilt gleichermaßen für Erfahrungsberichte oder Gelegenheitsschriften. Die inzwischen erhebliche Fülle an Texten wäre ohne solche Beschränkungen nicht mehr zu bewältigen gewesen. Vor allem aber: die meisten von ihnen haben einen anderen thematischen Fokus als derjenige der vorliegenden Arbeit. Bei den von mir ausgewählten theologischen Konzepten werde ich nicht nur die Interpretation von Behinderung im engeren Sinn darstellen. Vielmehr scheint es mir sinnvoll zu sein, auch den theologischen Kontext und die theologischen Grundentscheidungen mit einzubeziehen, die jeweils für die Reflexion des Themas „Behinderung“ von Belang sind. In einem abschließenden Kapitel versuche ich, eine Typologie der dabei zu Tage getretenen Deutungsversuche zu geben. Eine weitere Einschränkung soll genannt sein: ich beschränke mich auf deutschsprachige und vor allem evangelische theologische Entwürfe. Lediglich mit Ottmar Fuchs habe ich an einer Stelle einen katholischen Theologen berücksichtigt, weil von ihm ein differenziert ausgearbeitetes und einflussreiches Konzept vorliegt. Im Übrigen konzentriere ich mich mit meinen Aussagen und Ergebnissen aber allein auf die protestantische Theologie. Der zweite, größere Hauptteil meiner Studie gilt der Skizze einer inklusiven Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung. Ich orientiere mich dabei an zentralen anthropologischen Dimensionen wie Personalität, Subjektivität, Leiblichkeit, Intersubjektivität, Glaube, Bildung und Fragmentarität. Diese Kategorien beanspruchen keine Vollständigkeit. Selbstverständlich hätten sie durch Kommunikation und Sprache, Kreativität und Spiel, Sterben und Tod – um nur einige weitere zu nennen – ergänzt werden können. Manche Aspekte der zuletzt genannten Dimensionen habe ————— bold/Müller, Krankheit und Heilung; Herbst, Behinderte Menschen in Kirche und Gesellschaft; Szagun, Behinderung, 44–120; Emlein, Menschen mit Behinderungen; Krahe, Sonderanfertigung oder Montagsmodell? Behinderte Menschen in der Bibel; Eurich, Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung, 310-346. 19 Ich verweise im Bereich der Religionspädagogik bspw. auf: Pithan [u.a.] (Hg.), Handbuch Integrative Religionspädagogik, auf die Dokumentationsbände der „Würzburger Religionspädagogischen Symposien“ (u.a. Adam/Pithan [Hg.], Integration als Aufgabe religionspädagogischen und pastoraltheologischen Handelns“ sowie Adam/Pithan [Hg.], Wege religiöser Kommunikation) sowie des daraus hervorgegangenen „Forums für Heil- und Religionspädagogik“ (z.B. Leimgruber [Hg.], Differenz als Chance). Vgl. weiterhin u.a. Heimbrock, Behinderte; ders., Religiöse Erziehung behinderter Kinder; Nipkow, Menschen mit Behinderung nicht ausgrenzen! Gerade für den Bereich der Religionspädagogik ließen sich diese Hinweise umfangreich vermehren. Auf einzelne Autorinnen bzw. Konzepte komme ich im zweiten Teil dieser Arbeit zurück. In Bezug auf Seelsorge verweise ich auf: Heimbrock, Seelsorge – Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung?; Schmalfuß, Sich im anderen wiederfinden; Hoffmann, Behindertenschicksal und Seelsorge; Bezüglich homiletischer Fragen: Rupp, Leiden und Behinderung als Themen der Verkündigung.

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ich auch in einzelnen Kapiteln mitthematisiert. Dennoch bin ich mir darüber im Klaren, dass meine Skizze sachlich ergänzungsfähig ist. Gleichwohl glaube ich, besonders zentrale Aspekte aufgegriffen und reflektiert zu haben. Dies scheint sich mir allein dadurch nahe zu legen, dass sich meine Auswahl daran orientiert, dass das Menschsein in der gegenwärtigen protestantischen Theologie vielfach als ein Menschsein in Beziehung beschrieben wird. Die von mir gewählten anthropologischen Dimensionen orientieren sich an einer solchen relationalen Anthropologie und greifen die für sie grundlegenden Beziehungsdimensionen, die Gottes-, Selbst- und Umweltbeziehung des Menschen auf. Sie werden in meiner Studie als Dimensionen einer Anthropologie entwickelt, die den Menschen theologisch als Bild Gottes, genauer: als Bild des trinitarischen Gottes versteht. Die Kapitel des zweiten Hauptteiles sind jeweils so aufgebaut, dass ich in der Regel von einem Praxisbeispiel aus der Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung ausgehe und daran anschließend in die anthropologische Reflexion eintrete. Meinen eigenen Gedanken stelle ich zunächst eine ausführliche theoriegeschichtliche Vergewisserung voran. Auch hier muss es freilich bei Schwerpunktsetzungen bleiben. Die anschließenden anthropologischen Überlegungen ruhen auf dem theoriegeschichtlichen Überblick auf und setzen sich mit dort entwickelten Argumenten auseinander. Mein Ziel besteht darin, einer inklusiven Anthropologie Konturen zu geben, die sich – wie gesagt – an der Gottebenbildlichkeit des Menschen und deren lebenstragenden Beziehungsdimensionen orientiert. Das Thema „Behinderung“ wird in diesen Passagen teilweise über weite Strecken nicht explizit benannt. Dennoch wird es konsequent mitgedacht. Das scheint mir für eine inklusive Anthropologie angemessen zu sein, weil es in ihr nicht darum gehen kann, fortwährend zu begründen, dass die entsprechende anthropologische Dimension „auch“ für Menschen mit Behinderung Geltung besitzt.20 Vielmehr setze ich die anthropologische Inklusion voraus und entwickle meine Überlegungen durchgängig auf dieser Grundlage. Im Anschluss an die theologische Vertiefung der entsprechenden anthropologischen Dimension beziehe ich regelmäßig den Diskurs der Behindertenpädagogik ein. Dabei konzentriere ich mich durchgängig auf die Geistigbehindertenpädagogik. Ich versuche zu zeigen, wie die entsprechende anthropologische Dimension in der pädagogischen Diskussion reflektiert wird und welche Relevanz ihre Berücksichtigung für eine subjekt-, lebenswelt- und selbstbestimmungsorientierte Förderung von Menschen mit geis—————

20 Zur Auseinandersetzung mit diesem diskriminierenden „auch“: Bach, Bausteine für ein theologisches Nachdenken über Menschenbild und Menschenwürde, in: ders., „Gesunde“ und „Behinderte“, 58–60.

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tiger Behinderung hat. Aus einem solchen interdisziplinären Gespräch zwischen der Theologie und der Geistigbehindertenpädagogik ergeben sich nach meinem Dafürhalten wichtige Impulse für beide Dialogpartner. Dieser theologisch-pädagogische Brückenschlag verlangt auf der anderen Seite aber auch Berücksichtigung im Aufbau meiner Untersuchung. Die Abschnitte des zweiten Hauptteiles habe ich durchgängig so gestaltet, dass ich die anthropologischen Dimensionen einerseits theologisch präzisiere und vertiefe. In der pädagogischen Reflexion andererseits kann es nicht um die Umsetzung theologischer Erkenntnisse sondern vielmehr darum gehen, deren Impulse und Einsichten aufzunehmen und innerhalb der Pädagogik zu rekonstruieren. Weil es sich hier um eine nicht an die Anerkennung des christlichen Glaubens gebundene pädagogische Reflexion handelt, bietet sich eine konsequente theologische Orientierung an der Zwei-Reiche-Lehre an. Sie erlaubt es, die Bildung der für die menschliche Lebensführung relevanten Handlungskompetenzen von der Erneuerung der Selbst-, Welt- und Gottesgewissheit im Glauben an Jesus Christus zu unterscheiden und in ihrer jeweiligen Eigenart zur Entfaltung zu bringen.21 An dieser theologischen Unterscheidung orientieren sich in der vorliegenden Untersuchung die dogmatische Reflexion auf der einen Seite und die pädagogische auf der anderen. „Es ist normal, verschieden zu sein“. Längst ist dieser Satz zum Motto in der Behindertenpädagogik und zahlreicher Träger geworden. Um aber angstfrei verschieden sein zu können, kommt es zugleich auf ungeteilte Zugehörigkeit an. Inklusion. Strukturen, interpersonale Beziehungen und Einstellungen bestimmen das konkrete Maß solcher Zugehörigkeit. Menschenbilder konturieren die Gestalt, unter der uns andere Menschen erscheinen. Einstellungen, soziale Beziehungen und die Gestaltung von Strukturen werden von ihnen gefärbt und geprägt. Die theologische Anthropologie macht mit dem Begriff der Gottebenbildlichkeit geltend, dass Menschen ungeachtet ihrer Verschiedenheit Achtung vor Gott genießen. Und zur Achtsamkeit aufgefordert sind. In die Diskussion um Inklusion trägt die Theologie ein konsequent inklusives Menschenbild ein. „Es lebe der Unterschied“. Gewiss. Es lebe aber auch die unterschiedslose Zugehörigkeit. Vor allem aber lebe der Mensch, der von Gott ohne Unterschied gewürdigt wird: als sein Bild.

————— 21

Vgl. hierzu auch die Ausführungen im Abschnitt „Bildung“ (Teil B, Kap. 7.5).

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Teil A: „Charisma“ oder „Gestalt des Nichtigen“? Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

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1. „Der behinderte Mensch als Thema der Theologie“. Historische Vergewisserungen und theologische Herausforderungen

Historische Vergewisserungen und theologische Herausforderungen Fredi Saal beschließt seinen autobiografischen Essay „Warum sollte ich ein anderer sein wollen?“ mit einer Betrachtung über die Jahreslosung anno 1979: „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde. Und Gott sah, daß es gut war“. Er frage sich, so setzt Saal fort, „wieviele Christen […] sich wohl in Verbindung mit der Existenz von Behinderten des Sprengstoffes in diesem Bibelwort bewußt“1 seien. Denn noch immer gelte es „in weiten Kreisen als unumstößliche Ansicht, der behinderte Mensch verdiene wegen seines Schicksals in besonders hohem Maße das Mitgefühl seiner Umwelt. […] Da ist vom ‚schrecklichen‘, ja ‚grausamen‘ Schicksal die Rede, von ‚schwerer Last‘ – und natürlich von Krankheit und Leid. Ohne im Geringsten auf die begleitenden Umstände zu achten, gilt der Behinderte von vornherein als mitleidens- und bedauernswert.“2 Dieser Umstand sei erstaunlich. Denn angesichts der Einschätzung, dass die Schöpfung des Menschen gut war grenze die genannte Ansicht an eine Gotteslästerung. Die Auffassung jedenfalls, „Behinderung müsse a priori mit Leid verbunden sein“, sei „ausschließlich in der Phantasie der Unbetroffenen angesiedelt“.3 Er jedenfalls leide trotz seiner Bewegungseinschränkungen und seines gehemmten Sprachvermögens nicht mehr als andere Menschen. Erst recht sehe er keinen Anlass für die Sehnsucht, ein anderer zu sein. „Und wie sollte ich auch?! Um nicht behindert zu sein, müßte ich ja jemand anders sein wollen. Nicht dieser Fredi Saal. Eine reichlich absurde Idee! Zu meiner Existenz, die ich mit niemandem teile, gehört notwendigerweise meine Behinderung. Sonst wäre ich nicht dieser eine bestimmte Mensch, der ich bin, sondern ein x-beliebiger anderer.“4 Das Leiden jedenfalls „liegt nicht an der Behinderung; es wird von dem verursacht, der mich wegen der Behinderung in die Leidensecke stellt und eifrig darüber wacht, daß ich sie nicht verlasse“.5 Die ————— 1 2 3 4 5

Saal, Warum sollte ich ein anderer sein wollen?, 231. Ebd., 231f. Ebd., 232. Ebd., 233. Ebd., 236.

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Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

Pointe des ersten Schöpfungsberichtes jedenfalls weise in eine ganz andere Richtung: sie ermutigt Menschen mit Behinderung, sich nicht so sehr als leidgeprüft und genauso wenig als Schöpfungspanne zu verstehen. „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde? – Ich jedenfalls fühle mich als Spastiker als eine Schöpfung Gottes – und zumindest die Christen sollten es auch tun!“6 Fredi Saal legt mit diesen Betrachtungen seinen Finger in eine offene Wunde der Theologie. Denn auch die Theologie steht in der Gefahr, Behinderungen in die Leidensecke zu stellen. Wie die folgenden Studien zeigen werden, gehört es zu den noch immer geläufigen Interpretationsmotiven, Behinderung in einen sprachlichen Assoziationsraum mit Schwachheit, Krankheit und Leid zu bringen. Fredi Saal führt mit seiner Betrachtung eine erste Deutungsalternative vor Augen: sind Behinderungen theologisch als Formen menschlichen Leidens zu verstehen oder aber als Teil der guten Schöpfung Gottes? Die Frage mag zu schnell Polaritäten in einem Bereich aufbauen, in dem Eindeutigkeit schwer herzustellen ist. Immerhin sind die Antworten, die Menschen mit Behinderung selbst auf diese Frage geben, zugleich subjektive Lebensdeutungen, Zeugnisse ihrer eigenen reflektierten Biografie. Andererseits verlangt die mit Fredi Saals Betrachtungen aufgestellte Alternative über die persönliche Auseinandersetzung hinaus auch theologisches Nachdenken. Und wiederum: beides hängt voneinander ab. Die Antwort der Theologie wird möglicherweise die individuelle Auseinandersetzung beeinflussen. In die Deutung der Theologinnen werden umgekehrt auch – möglicherweise sogar unbewusste – subjektive Einstellungen eingehen. In jedem Falle: die theologische Anthropologie ist gefragt. Angefragt. Ist für sie der Mensch mit Behinderung ein Thema? Wie nimmt sie ihn wahr? Wie deutet sie das Phänomen der Behinderung? Und um noch einmal Fredi Saal zu zitieren: Lässt sie „auch dem Behinderten die Chance des Wachsens und Reifens?“7 Der folgende erste Hauptteil meiner Arbeit ist eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen theologischen Diskussion. Nach einer Einleitung, in der ich in die Entwicklung der theologischen Beschäftigung mit dem Thema Behinderung skizziere, möchte ich die wesentlichen inhaltlichen Positionen vorstellen und diskutieren. Mir liegt dabei daran, einen Überblick über theologisch-anthropologische Deutungsmodelle innerhalb der deutschsprachigen Theologie zu geben und aus ihrer Reflexion Einsichten für die Fortführung und Intensivierung der Debatte zu gewinnen.

————— 6 7

Ebd. Ebd.

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Anna-Katharina Szagun hat in ihrer Studie von 1983 konstatiert, dass „Behinderung“ für die Theologie weithin kein Thema ist.8 Hans R. Herbst und Karl Hermann Kandler kommen zu analogen Ergebnissen.9 Diese Diagnose ist korrekt und bedarf doch zugleich der Differenzierung. Zunächst: sie trifft zu. Die meisten Entwürfe theologischer Anthropologie im protestantischen Bereich gehen auf das Thema Behinderung nicht ein. Weder Wolfhart Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ beschäftigt sich mit ihm. Noch wird das Thema von Eberhard Jüngel, Eilert Herms oder Martin Honecker aufgegriffen und behandelt. Die Liste ließe sich fortsetzen: Christoph Schwöbel, Ingolf U. Dalferth, Ulrich Körtner usw. Allenfalls Benennungen. Nirgends finden sich eingehende Reflexionen. Doch gilt es zugleich die andere Seite zu ergänzen: Unter den Systematischen Theologen haben Jürgen Moltmann und Ulrich Bach bereits ab Ende der 1970er Jahre wichtige, impulsgebende Beiträge verfasst. Andere Autorinnen lassen sich ergänzen. Meine Darstellung macht dies deutlich. Die theologischen Lexika lassen sowohl Kontinuität als auch Veränderungen im Umgang mit dem Thema „Behinderung“ erkennen. „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ enthält in ihrer dritten Auflage (1957–62) Artikel zur „Blindenfürsorge“, „Körperbehindertenfürsorge“, „Schwachsinnigenfürsorge“ und zur „Rehabilitation“.10 Die so fokussierte Thematisierung geht klar von den geschichtlich gewachsenen Handlungsfeldern der kirchlich-diakonischen Arbeit mit behinderten Menschen aus. Eine eigene theologisch-anthropologische Reflexion des Themas „Behinderung“ wird noch nicht intendiert. Analog ist auch die zweite Auflage des „Lexikons für Theologie und Kirche“ (1957–65) aufgebaut.11 Die seit Mitte der 1980er Jahre erschienen Lexika orientieren sich zwar überwiegend weiterhin an den diakonischen Handlungsfeldern. Zugleich reflektieren sie aber auch das Phänomen „Behinderung“ als solches und beziehen dabei anthropologische, praktisch-theologische, sozialwissenschaftliche, pädagogische und gesellschaftspolitische Aspekte ein. Die dritte Auflage des „Evangelischen Kirchenlexikons“ (1986–1997) verzeichnet das Stichwort „Behinderte“ ebenso wie die dritte Auflage des „Lexikons für Theologie und Kirche“ (1993– 2001) und vierte Auflage der „RGG“ (1998–2007).12 In allen neueren Lexi————— 8

Szagun, Behinderung, 10. Vgl. Herbst, Behinderte Menschen, 51f; Kandler, Behindertenethik, 7. 10 Vgl. Janssen, Art. Blindenfürsorge; Dicke, Art. Körperbehindertenfürsorge; Janssen, Art., Schwachsinnigenfürsorge; Dicke, Art. Rehabilitation. 11 Vgl. hier: Svoboda, Art. Blindenfürsorge; ders., Art. Blindenseelsorge; Briefs, Art. Gebrechlichenfürsorge, ders., Art. Gebrechlichenseelsorge; Rüther, Art. Schwachsinnigenfürsorge; Emminghaus, Art. Rehabilitation. 12 Vgl. Klee, Art. Behinderte (EKL3); Schmal [u.a.], Art. Behinderte (LThK3); Heimbrock, Art. Behinderte Menschen (RGG4). 9

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Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

ka existieren darüber hinaus Einträge zu weiteren bzw. speziellen behindertenpädagogischen Themen.13 Die „Theologische Realenzyklopädie“ ist das einzige Lexikon, das dem Phänomen vergleichsweise wenig Raum gibt. Außer einem Artikel „Heilpädagogik“14 werden weitere thematische Aspekte lediglich knapp innerhalb der Artikel „Diakonie“ und „Seelsorge“ angerissen. Innerhalb der universitären Theologie ist – das hat meine Darstellung bereits anklingen lassen – in den letzten zwei Jahrzehnten das Interesse am Thema „Behinderung“ gewachsen. Auf dem zehnten Europäischen Theologenkongress im Jahre 2000 zum Thema „Menschenbild und Menschenwürde“ haben zwei Plenarvorträge dem Thema der „Würde des behinderten Menschen“ gegolten.15 Auch im Zusammenhang der breiten bioethischen Diskussion haben zahlreiche Theologen – meist im Zusammenhang von Fragen zu „Menschenwürde“, „Lebensschutz“ oder „Perfektion“ – das Thema berührt. Wilfried Härle und Ulrich H.J. Körtner mögen beispielhaft dafür genannt sein.16 Allerdings haben diese ethischen Diskurse kaum eine ausführlichere anthropologische Reflexion mit sich gebracht. Deshalb ist es trotz einer spürbar intensiveren Beschäftigung immer noch zu früh, um die Diagnose zu korrigieren, dass in den Entwürfen theologischer Anthropologie eine Beschäftigung mit Behinderung bislang weitgehend ausgeblieben ist. Von den eben genannten Diskussionsorten muss das Thema nunmehr auch bis in die Entwürfe theologischer Anthropologie vordringen. Das Forum theologischer Reflexion umfasst allerdings mehr als nur den Hörsaal Theologischer Fakultäten. So haben einerseits Betroffene selbst bereits vor geraumer Zeit damit begonnen, Behinderung zum Thema der Theologie zu machen.17 Mittlerweile hat der theologische Diskurs zahlreiche weitere Impulse aus der Perspektive von Menschen mit Behinderung erhal—————

13 Besondere Erwähnung verdient die RGG4: Neben dem Artikel „Behinderte Menschen“ von Heimbrock werden hier folgende weitere Themen aufgegriffen: Blindenarbeit (Jochheim), Geistig behinderte Menschen (Theunissen/Danielowski); Heilpädagogik (Klein); Integration (Meyer-Blanck); Integrationspädagogik (Preuss-Lausitz), Körperbehindertenfürsorge (Kollmann); Rehabilitation (Nagel/Adam), Schwerhörigenpädagogik/Gehörlosenpädagogik (Gewalt); Schwerhörigenseelsorge/Gehörlosenseelsorge (Gewalt), Sonderpädagogik (Bleidick). Trotz der bleibenden Unausgeglichenheit zwischen einer Personenorientierung (z.B. geistig behinderte Menschen) auf der einen Seite und einer Handlungsfeldorientierung (z.B. Blindenarbeit) auf der anderen Seite berücksichtigt die RGG4 das Thema „Behinderung“ am ausführlichsten. 14 Vgl. Speck, Art. Heilpädagogik. 15 Vgl. Krebs, Die Würde des behinderten Menschen – aus medizinischer Sicht; Adam, Die Würde des behinderten Menschen – aus religionspädagogischer Sicht. 16 Vgl. Härle, Was ist der Mensch?; ders., Menschsein in Gesundheit und Krankheit, in: ders., Menschsein in Beziehungen, 429–432; Körtner, „Lasset uns Menschen machen“, 119–130. 17 Vgl. bspw. die einflussreichen Texte Ulrich Bachs, exemplarisch: Der behinderte Mensch als Thema der Theologie, in: ders., Dem Traum entsagen, 123–136; vgl. Teil A, Abschn. 2.

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Historische Vergewisserungen und theologische Herausforderungen

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ten.18 Andererseits ist das Thema stets auch im Zusammenhang diakonischer Theologie aufgegriffen und reflektiert worden. Bereits Pioniere in der Arbeit mit geistig behinderten Menschen wie Heinrich Matthias Sengelmann (1821–1899) entwarfen ihr Konzept von Hilfen vor dem Hintergrund einer differenzierten theologischen Anthropologie. Gottebenbildlichkeit, Unsterblichkeit der Seele, die Anerkennung eines schwachen vernünftigen Willens und einer prinzipiellen Fähigkeit zu Entwicklung und Bildung gehören beispielsweise für Sengelmann zum Grundverständnis des Menschen mit einer geistigen Behinderung.19 Allerdings würde es den Rahmen dessen übersteigen, was ich in dieser Arbeit leisten kann, wollte ich meine Studien theoriegeschichtlich so weit nach vorn ausdehnen. Mein knapper Hinweis soll lediglich deutlich machen, dass der neueren anthropologischen Diskussion über Behinderung eine vielfältige Reflexion im Rahmen diakonischer Praxistheorien voraus liegt. Von der Gründerzeit der institutionellen Diakonie an bis heute hat hier eine theologische Selbstverständigung über den anthropologischen Hintergrund der Behindertenpädagogik stattgefunden. Das belegen im Übrigen auch die anthropologischen Entwürfe aus den ersten Jahrzehnten der universitären heilpädagogischen Wissenschaft. So sind die pädagogischen Konzepte von Heinrich Hanselmann, Paul Moor oder Eduard Montalta20 ausdrücklich auch theologisch orientiert und geben darin Zeugnis von der langen Geschichte einer christlich motivierten Arbeit mit behinderten Menschen. An diese Tradition der theologischen Reflexion der behindertenpädagogischen Praxis schließt auch die Diskussion in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges an. Um, wie gesagt, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, die spätere Diskussion sei ohne Vorläufer gewesen, möchte ich drei Vertreter dieses diakonisch-theologischen Diskurses vorstellen. Bei meiner Auswahl habe ich keinerlei Vollständigkeit angestrebt. Ich habe drei prägende Persönlichkeiten der diakonischen Behindertenarbeit ausgewählt, die jeweils viele Jahre großen stationären Behinderteneinrichtungen vorgestanden haben: Johannes Klevinghaus, Julius Jensen und Ludwig Schlaich. In meiner Darstellung konzentriere ich mich auf das theologischanthropologische Verständnis des Menschseins mit einer Behinderung.

————— 18

Vgl. Lutz (Hg.), Berufen wie Mose; Lutz/Zippert (Hg.), Grenzen in einem weiten Raum. Vgl. dazu: Bodo Schümann, Heinrich Matthias Sengelmann, 94–210, besonders 118–132. 20 Vgl. Hanselmann, Was ist Heilpädagogik?, 42f; ders., Andragogik, 34f; Moor, Heilpädagogische Psychologie, Bd. 1, 253, 304 u.ö., zu Moor: Siegenthaler, Die anthropologische Fragestellung, 40–47; Montalta, Grundlagen und systematische Ansätze, 10–13. 19

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1.1 „Vergeßt den Elenden nicht, wenn ihr nach dem Wesen des Menschen fragt“ – Johannes Klevinghaus Als 1949 der Wittekindshof nach siebenjähriger Fremdnutzung seine diakonische Arbeit voll wieder aufnahm, hielt Johannes Klevinghaus den Eröffnungsvortrag zum Thema „Evangelische Schwachsinnigenfürsorge als Beitrag zur gegenwärtigen Frage nach dem Menschen“. Klevinghaus (1911–1970), der im Mai 1937 als Pfarrer der Bekennenden Kirche ordiniert worden war, stand seit Juni 1945 dem Wittekindshof vor. Im Bewusstsein, dass auch die nationalsozialistische Tötung geistig behinderter und psychisch kranker Menschen in einem bestimmten Menschenbild wurzelte, schloss er seinen Vortrag mit der Mahnung: „Vergeßt den Elenden nicht, wenn ihr nach dem Wesen des Menschen fragt“.21 Wer die Elenden dennoch übersehe, der verstoße Jesus Christus und sinke „in die Tiefen der Unmenschlichkeit“22 ab. Die Elenden sind für Klevinghaus ein Paradigma des Menschseins. Inwiefern? Der Grund dafür ist für ihn christologisch zu bestimmen, im Glauben zu ergreifen und im Handeln zur Geltung zu bringen. Die Kondeszendenz Gottes in Jesus Christus23 bildet für ihn den Ausgangspunkt einer theologischen Erkenntnislehre in anthropologischer Absicht. Gott neigt sich zu uns Menschen herab. In Jesus wendet er sich den geringsten Brüdern zu: den Armen und Elenden. Ja, er wurde selbst ein Armer, ein Verachteter, Entrechteter, Verlassener und Verfluchter so wie diejenigen, denen er vergeben hatte. „So gehörte er nun durch die Hand der Menschen, aber nach Gottes ewigem Rat für immer zu den Elenden, und die Elenden gehören zu ihm.“ Er „war ihnen der Mitmensch geworden, der Nächste, der Bruder Mensch“.24 Deshalb, weil Gott sich zu den geringsten Brüdern hingeneigt hat, ja weil er selbst einer der Geringsten geworden ist, deshalb hat die Begegnung mit den Elenden unvergleichliche anthropologische Relevanz. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen liegt ebenso in diesem Geschehen begründet wie seine Würde. „Diese Elenden tragen Gottes Ebenbild um Jesu, ihres Heilandes willen. In dieser ihrer Ehre und Würde, ihrer Freiheit und ihrem Recht vor Gott sind sie unantastbar.“25 ————— 21

Klevinghaus, Evangelische Schwachsinnigenfürsorge, 240. Ebd. 23 Vgl. zur Kondeszendenz: Klevinghaus, in: Brinkmann (Hg.), Heil und Heilung, 61, 96. 24 Klevinghaus, Evangelische Schwachsinnigenfürsorge, 236. 25 Ebd., 237. Vgl. auch ders., Die Aufgabe der Seelsorge am geistig behinderten Kind und seinen Eltern, in: Brinkmann (Hg.), 119: „Jedes Kind […] wie immer es äußerlich oder innerlich gestaltet ist, ist Gottes gutes Geschöpf, hat teil an der höchsten Menschenwürde: Gottes Ebenbild ist wie in uns allen auch in ihm geglaubte Wirklichkeit. Für jeden der uns Anbefohlenen ist wie für uns Christus der Bruder im Elend und im Tode geworden, um uns in sein Leben hineinzunehmen.“ 22

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Für die Menschen wird durch die Kondeszendenz Gottes einerseits erfahrbar, dass sie Gottes Geschöpfe sind, andererseits, dass sie in Jesus Christus Erlösung erfahren. Gottes schaffendes und erlösendes Handeln konstituiert das Menschsein. „Wie sollte man in unsern Kranken, aber gewiß gilt das von jedem Menschen, Gottes Ebenbild sehen können, ohne von der Erlösung zu wissen. Und was wäre Jesu Gnadenwort über ihnen, wie über uns allen, wenn es nicht das Wort des allmächtigen Gottes wäre, des Schöpfers Himmels und der Erde?“26 Menschen mit Behinderung gehören zu den „geringsten Brüdern“ Jesu. In ihnen begegnen Menschen ohne Behinderung zugleich auch Jesus selbst. Für jeden von ihnen ist „Christus der Bruder im Elend und im Tode geworden, um uns in sein Leben hineinzunehmen“.27 Das Schicksal der behinderten kann deshalb die nichtbehinderten Menschen keinesfalls kalt lassen. Die nichtbehinderten sollen ihrerseits den behinderten Menschen zum Bruder werden, ja sie haben ihn als Bruder nötig.28 Mehr noch: an den behinderten und schwachen Menschen kann man in exemplarischer Weise erkennen, was Menschsein bedeutet: „Wer nach dem Wesen des Menschen fragt, muß nicht nach den Phänomenen des Menschlichen fragen, sondern sich von dem Bruder Mensch, von Jesus, den Bruder zeigen lassen und ihm in „metaphysischer Solidarität“ (V.v.Weizsäcker) begegnen.“29 Das Geheimnis Gottes in den Schwachen ist das Geheimnis des Menschseins. Klevinghaus kommt es nicht darauf an, seine stark christologisch akzentuierte Anthropologie mit Vernunftargumenten plausibel zu machen. Das Wesen des Menschseins wird vielmehr im Glauben gewiss. In ihm erschließt sich, dass wir alle „Kranke im gleichen Spital“ sind, „Gebundene unter Mitgebundenen“,30 dass wir an der Not und dem Elend teilnehmen und des göttlichen Erbarmens bedürfen. Der Sinn des Lebens der Allerschwächsten, seine Würde, sein Lebensrecht lassen sich mithin nicht für jedermann einsichtig machen. Klevinghaus geht vielmehr davon aus, „daß sich der verborgene Sinn auch des schwächsten Menschenlebens dem erschließen kann, der ihm dient und also mit der Tat das ihm von seinem Schöpfer verliehene Lebensrecht anerkennt und der ihm in Christus geschenkten Verheißung traut“.31 Nur im Glauben finde daher auch Sinnerfah————— 26

Klevinghaus, Evangelische Schwachsinnigenfürsorge, 234. Vgl. auch ders., Der geistig behinderte Mensch in der heutigen Gesellschaft, in: Brinkmann (Hg.), 91, wo Klevinghaus von der „durch Gottes Schöpfer- und Erlöserwort verliehenen Menschenwürde“ spricht. 27 Klevinghaus, Die Aufgabe der Seelsorge, 119. 28 Vgl. Klevinghaus, Evangelische Schwachsinnigenfürsorge, 236. 29 Ebd., 237. 30 Klevinghaus, Diakonie der Kirche heute, in: Brinkmann (Hg.), 62. 31 Klevinghaus, Grenzen des Dienstes, in: Brinkmann (Hg.), 74. Vgl. ders., Evangelische Schwachsinnigenfürsorge, 237, wo er davon spricht, die Würde, die Freiheit und das Recht der Elenden könne „dem gottlosen Verstand nicht einleuchtend gemacht werden“.

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rung von Menschen mit Behinderung statt. Und nicht nur für sie. Was sich der Vernunft als Theodizeefrage stellt, könne sich dem Glauben mit dem Blick auf das Kreuz Jesu erschließen. „Der Sinn des Behindert- oder Krankseins kann nur erfahren werden in einem schlichten glaubenden und gehorsamen Ja zu Gottes Last, Gabe und Aufgabe. Dort aber gibt es wirkliche Erfahrung des Segens und des Sinnes.“32 Bei Klevinghaus verbindet sich ein leidenschaftliches und unbestechliches Engagement für seine Pfleglinge mit einer stark pointierten Anthropologie der Schwäche. Vielen Entwürfen dieser Generation ist dieser Akzent eigen. Sie sehen in der Schwäche und den Schwachen das Geheimnis des Menschseins und begründen aus dem Perspektivenwechsel vom Schein der Stärke hin zur Wahrheit der Schwäche das solidarische Engagement für die behinderten, leidenden und schwachen Menschen. Allerdings hat diese Anthropologie auch Konsequenzen für die Konzeption von Hilfen. Klevinghaus hat auch in Zeiten, in denen die großen stationären Behinderteneinrichtungen bereits kritisch hinterfragt wurden die Anstaltsdiakonie verteidigt. „Die Vorstellung ist gänzlich falsch, Anstalt bedeute in jedem Fall Einengung, Lebensminderung, Freiheitsberaubung. Das Gegenteil ist der Fall. Anstalt ist geschützter Raum und darum Freiheitsbereich, Möglichkeit zu freier Bewegung und Entfaltung. Die Anstalt ist eine Welt für sich, weil sie eine Welt für ihn, den Geistesschwachen, sein soll.“33 Freilich: Klevinghaus hat es sich in dieser Auffassung nicht bequem gemacht. Er hat gefordert, die Anstalt müsse wiederum eine Welt in der Welt sein, also auf die Welt bezogen und mit ihr verbunden. Er hat es als ein Wagnis bezeichnet, die individuell richtige Entscheidung zu treffen, unter welchen Bedingungen jemand optimal eingegliedert sei.34 Und er hat erste Schritte in Richtung auf Wohnheime unternommen. In seine Verteidigung der Anstalten werden darüber hinaus sicher auch die negativen Erfahrungen eingegangen sein, die er mit gesellschaftlichen Vorurteilen und dem Scheitern vorsichtiger Integrationsprojekte gemacht hat.35 Das alles muss in einer differenzierten Würdigung bedacht werden. Gleichwohl scheint mir aber auch die Frage nach dem Zusammenhang von Anthropologie und Hilfesystem berechtigt. Immerhin spricht Klevinghaus in einem Vortrag aus dem Jahr 1968 davon, die Geistesschwachen würden „überraschenderweise weithin selbst die Grenze des Bereichs ihrer Freiheit“ bestimmen. „Sie ist in dem Gefühl der Geborgenheit für die meisten mitgesetzt.“36 Könnte hier nicht auch ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit ————— 32

Klevinghaus, Die Aufgabe der Seelsorge, 125. Klevinghaus, Der geistig behinderte Mensch, 92. 34 Vgl. Klevinghaus, Motive und Tendenzen in der Sorge für geistig Behinderte, in: Brinkmann (Hg.), 111. 35 Vgl. Klevinghaus, Heime (Anstalten) für geistig Behinderte, in: Brinkmann (Hg.), 138f. 36 Ebd., 142. 33

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bestehen? Die Hypothese ist nicht von der Hand zu weisen: Weil die Bewohnerinnen als elend und schwach angesehen werden, wird niemand ein pädagogisches Konzept favorisieren, das der anthropologischen Basisannahme widerspricht. Eine Pädagogik der Schwäche wiederum entwickelt keine Stärken. Bei den Bewohnerinnen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit das Gefühl der Geborgenheit besonders im Mittelpunkt stehen. Daraus wiederum leiten die Mitarbeiterinnen die Bestätigung ihrer anthropologischen und pädagogischen Basisannahmen ab. Ein Kreislauf, in dem sich Schwäche an Schwäche bestätigt. Sicher: im Abstand von mehreren Jahrzehnten lässt sich Kritik leicht üben. Die eigenen blinden Flecken werden in einem entsprechenden zeitlichen Abstand vermutlich nicht minder deutlich hervortreten. Aber es geht auch nicht um die arrogante Kritik aus sicherer zeitlicher Entfernung. Es geht vielmehr um eine anthropologische und pädagogische Metareflexion. Es geht um den Zusammenhang von Menschenbild und Erziehung. Genau diesen Zusammenhang möchte ich jedenfalls mit in die Frageperspektiven aufnehmen, mit denen ich innerhalb der verschiedenen Einzelstudien die Relevanz der anthropologischen Grundentscheidungen für eine jeweilige pädagogische Praxis diskutiere.

1.2 „Die wahre Gott-Ebenbildlichkeit im leidenden Menschen erkennen“ – Julius Jensen Anfang der 1960er Jahre keimte in der Bundesrepublik eine neue Diskussion um die Euthanasie auf. Werner Catel sprach sich in seinem 1962 veröffentlichten Buch „Grenzsituationen des Lebens“ für eine „begrenzte Euthanasie“ aus und verteidigte seine Position öffentlichkeitswirksam in einem Spiegel-Gespräch.37 Bei einem Prozess in Limburg wurde eine Mutter, die ————— 37 Vgl. Catel, Grenzsituationen des Lebens. Im Gespräch mit dem „Spiegel“ erläuterte Catel seine Vorstellungen von einer „Tötungsberechtigung“ für vollidiotische Kinder. Sie sollte ausschließlich für Vollidioten gelten und am Ende eines Verfahrens ausgesprochen werden, das mit der ärztlichen Diagnose beginnt, anschließend eine Entscheidung der Eltern zum Gegenstand hat und schließlich in das Votum eines Gremiums „aus Ärzten und Laien“ (ders., Aus Menschlichkeit töten? 42) mündet. Die Tötung selbst solle der Haus- oder Amtsarzt vornehmen. An Catels Überlegungen ist erkennbar, dass sein vermeintlich objektives medizinisches Urteil in erheblichem Maße von anthropologischen Grundannahmen, Bewertungen und gesellschaftlichen Faktoren abhängt. So spricht er beispielsweise durchgängig von „seelenlosen Wesen“ (ebd., 41). Die Rede sei „nicht von Menschen, sondern von Wesen, die lediglich von Menschen gezeugt wurden, die aber selber keine mit Vernunft oder Seele begabten Menschen sind oder je werden können“ (ebd., 42). Mehrfach nennt er diese Kinder „Monster“, die ihre Umgebung demoralisieren und deren „Anblick […] zu entsetzlich“ sei (ebd., 43). Als Beispiel führt er an: „Ich wurde in eine Familie gerufen. Beide Eltern berufstätig. Das jüngere Kind lallte nur tierisch, erkannte weder Vater noch Mutter, verbrachte sein Leben auf einem Stühlchen mit untergesetztem Topf für die Entleerungen. Bestenfalls schleppte es sich um den Tisch, wobei es seine Zähne in die Tischkante

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ihre geistig schwer behinderte Tochter vorsätzlich getötet hatte, mit einer neunmonatigen Bewährungsstrafe in den Augen weiter Teile der Öffentlichkeit milde, zu milde bestraft. Aus den USA und Großbritannien gab es Berichte von straflos gebliebenen Mitleidstötungen. Das Wort vom „mercykilling“ machte die Runde. Eine Euthanasie-Diskussion entbrannte, nicht ganz so heftig aber doch vergleichbar mit der später durch Peter Singer ausgelösten. Als Julius Jensen am 27. Mai 1964 auf der Jahrestagung des „Verbandes Deutscher Evangelischer Heilerziehungs-, Heil- und Pflegeanstalten“ das Wort ergriff, sprach er mitten in eine aktuelle Diskussion hinein. Sein Thema: „Lebensrecht und Lebenssinn der Schwachen“. Julius Jensen war zu diesem Zeitpunkt Pfarrer und Direktor der Alstersdorfer Anstalten Hamburg.38 Ich lese Jensens Vortrag von hinten, von seinen theologischen Grundlagen her und kehre deshalb die Reihenfolge von Lebensrecht und Lebenssinn um. Während Jensen in der Absicherung des unbedingten Lebensrechtes der Schwachen Wert auf eine nicht nur theologische, sondern darüber hinaus auch humanitäre Begründung legt, glaubt er eine Antwort auf die Frage nach dem Lebenssinn der Schwachen nur im Rahmen einer theologischen Deutung der menschlichen Existenz geben zu können. Es ist eine trinitarische Begründung des menschlichen Lebenssinns, eine Begründung, die den Glauben an „Gott als den Schöpfer, den Erlöser und Vollender des Menschengeschlechts“39 zur Voraussetzung hat. Die drei Thesen, die der Vortragende anschließend erläutert, stehen deutlich vor diesem trinitarischen Horizont. Jensen eröffnet seine Überlegungen mit der These: „Die Schwachen sollen unter uns die Kräfte wahrhafter, selbstloser Liebe aufrufen und wachhalten.“40 Das klingt imperativisch. Allerdings steht hinter dem zweifellos ethischen Akzent eine anthropologische Einsicht. Jensen greift auf Heinrich Matthias Sengelmann, den Gründungsvater der Alsterdorfer Anstalten zurück. Der Mensch, so führt er mit einem Zitat Sengelmanns aus, existiere nicht nur um seiner selbst willen. Das reine An- und Für-sich-sein komme nur Gott zu. Der Mensch jedoch existiere auch für andere. Gerade dies werde exemplarisch an den Schwerstbehinderten deutlich: auch wenn sie selbst ————— bohrte“ (ebd., 46). Gerade dieses Beispiel zeigt, wie die Lebenssituation eines Kindes mit einem medizinischen Blick als unveränderlich wahrgenommen wird, statt sie auch als Herausforderung für eine pädagogische Begleitung zu begreifen. Statt das Fehlen oder Versagen eines professionellen pädagogischen Hilfesystems zu erkennen, wird so das Kind selbst als nicht entwicklungsfähig wahrgenommen. 38 Jensen hat dieses Amt von 1955 bis 1968 ausgeübt. 39 Jensen, Lebensrecht und Lebenssinn der Schwachen, 15. 40 Ebd., 16.

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nichts für andere tun können; sie selbst stellen als Hilfsbedürftige eine Aufgabe für andere dar. Ihr „Engelsdienst“ an den anderen bestehe genau darin, die selbstlose Liebe in ihnen hervorzurufen und wach zu halten.41 Mit seiner zweiten These tritt Jensen in den Gedankenkreis des zweiten Artikels ein. Im Zentrum steht jetzt die Erscheinung der wahren Gottebenbildlichkeit in Jesus Christus. „Wer nach der Gottesebenbildlichkeit des Menschen fragt, wird sie nur in dem in Jesus Christus erschienenem Bild und Abbild Gottes finden“.42 Allerdings findet, wer sich so auf die Suche begibt, keine Idealgestalt sondern erkennt ein dornengekröntes „Haupt voll Blut und Wunden“. Das wahre Bild Gottes wird im Gekreuzigten anschaulich. Gerade deshalb „stehen alle Leidenden, Belasteten, von Schmerzen Heimgesuchten in der wahren Gott-Ebenbildlichkeit“.43 In den Allerschwächsten offenbart sich der Gekreuzigte. In den Allerverachtetsten und Unwertesten ist Christus selbst gegenwärtig. Deshalb lautet die zweite These: Die Schwachen „lassen uns die wahre Gott-Ebenbildlichkeit im leidenden Menschen erkennen“.44 Allerdings bestehe der ernste Anschauungsunterricht, den die Schwachen erteilen, auch darin, dass in ihnen die Hinfälligkeit und eschatologische Erlösungsbedürftigkeit des Menschen erkennbar wird.45 Es sind die Schwachen selbst, in deren Herzen die Hoffnung auf die künftige Vollendung lebt. Ihr Lebenssinn an uns bestehe darin, uns genau an diese eschatologische Hoffnung zu erinnern. Jensens dritte These lautet deshalb: „Die Schwachen machen in unserer Welt das Verlangen der ganzen Schöpfung nach Freiheit, Erlösung und Herrlichkeit vernehmlich.“46 Wenn man Jensens Vortrag von hinten her liest, wird klar, dass die theologischen Bestimmungen des Lebenssinnes auch hinter der Begründung des unbedingten Lebensrechtes der Schwachen stehen. Wenn er in der ersten seiner insgesamt vier Thesen zum Lebensrecht formuliert: „Die Schwachen gehören zu uns und wir zu ihnen“,47 dann steht im Hintergrund die anthropologische These, der Mensch sei nicht nur für sich, sondern auch für andere da. Das gleiche gilt für die dritte These, in der es heißt: „Die Schwachen haben wichtige und notwendige Teilfunktionen im Gefüge und Zusammenwirken des Ganzen zu erfüllen.“48 Die vierte These wiederum nimmt den ethischen Sinn derselben anthropologischen Einsicht auf, nämlich sich ————— 41 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. ebd., 16f. Ebd., 17 („erschienenem“ im Original; U.L.) Ebd., 18. Ebd., 17. Vgl. ebd., 20. Ebd., 19. Ebd., 9. Ebd., 11.

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durch die Schwachen zu selbstloser Liebe aufrufen zu lassen. Sie lautet: „Auch die zu keiner Leistung Fähigen schließen wir mit in unsere Lebensgemeinschaft ein“.49 Wenn Jensen schließlich in der zweiten These die Illusion verwirft, „das Bild und Ziel einer […] vollkommenen Daseinsform der Menschheit“50 verwirklichen zu können, dann lässt sich im Hintergrund leicht das Bild des gekreuzigten Christus als die Korrektur solcher gesundheitstrunkener Menschenbilder ausmachen. Ähnlich wie schon bei Klevinghaus lässt sich auch bei Jensen das Bemühen erkennen, die unbedingte Menschenwürde schwerstbehinderter Menschen in einer Anthropologie der Schwäche einsichtig zu machen: weil das tiefere Wesen des Menschen in seiner Schwäche und Ohnmacht beruhe, deshalb tritt in den Schwachen das Menschsein in exemplarischer Weise gegenüber. Von der formalen Struktur des Arguments her kann man darin den Versuch erblicken, die Charakteristika des Menschseins so tief anzusetzen, dass sie grundsätzlich für alle Personen gelten: weil Schwäche, Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit im Kern die conditio humana ausmachen, deshalb haben die Schwachen ohne Abstriche an ihr teil. Nun gehören Schwäche und Leiden ohne Zweifel zum menschlichen Leben hinzu. Aber muss diese Anerkenntnis notwendig zu einer Anthropologie der Schwäche verallgemeinert werden? Muss man die Erfahrung menschlichen Leidens zu einer „ein für allemal gesetzten Bestimmtheit zum Leiden“51 erklären? Ich habe in der Auseinandersetzung mit Klevinghaus die Frage aufgeworfen, ob Mitarbeiterinnen von Behinderteneinrichtungen ihre Bewohnerinnen tatsächlich zu einer optimalen Selbstbestimmung und Unabhängigkeit hin fördern können, wenn sie in ihnen zuerst die Schwachen erblicken. Dieser Einwand trifft natürlich auch auf Jensen zu: wer in Menschen mit Behinderung vor allem die Schwachen sieht, sieht vermutlich auch vor allem ihre Schwächen. Ich möchte mit Blick auf Klevinghaus und Jensen aber noch ein weiteres Bedenken hinzufügen. Beide geben ihren Überlegungen einen starken positionellen Akzent: nur unter der Voraussetzung des Glaubens erschließe sich das von ihnen gezeichnete Bild vom Menschen. Die dahinter stehenden fundamentaltheologischen Annahmen möchte ich im Moment nicht diskutieren. Der Gesprächsfaden zwischen einer philosophischen Anthropologie und einer solcherart positionellen theologischen Anthropologie lässt sich aber auch deshalb so schwer herstellen, weil scheinbar über etwas ganz anderes gesprochen wird. Während in der philosophischen Anthropologie Kategorien wie „Weltoffenheit“ oder „exzentrische Positionalität“ im Schwange ————— 49 50 51

Ebd., 12. Ebd., 10. Ebd., 11.

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sind, sprechen Klevinghaus und Jensen von der Gottebenbildlichkeit in der Schwachheit. Wird hier nicht der umgekehrte Fehler begangen, der in früherer Zeit die Gottebenbildlichkeit in der Geistigkeit des Menschen suchen ließ? Und weiter gefragt: ist es denn bereits eine hinreichende Definition des Menschen, wenn man ihn als das schwache und leidende Wesen begreift? Der Mensch: kein animal rationale sondern ein animal patians? Es deutet sich hier eine nächste Herausforderung an, die in der methodischen Alternative besteht, entweder bei einer positionellen Anthropologie stehen zu bleiben oder aber sich um eine argumentative Klärung zu bemühen, die der vernünftigen Explikation und hinreichenden definitorischen Präzision (begrifflichen Genauigkeit) zugänglich gemacht wird. Dass das Bemühen um eine Übersetzung der theologischen Bestimmungen in die Begriffe pädagogischer und philosophischer Anthropologie möglich und sinnvoll ist, hat im Laufe seines Wirkens ein anderer Theologe gezeigt. Ein Zeitgenosse der beiden eben Genannten: Ludwig Schlaich. Gerade weil sich an ihm die Öffnung zu einer philosophischen Plausibilisierung gut zeigen lässt, lohnt es, ihn vorzustellen.

1.3 „Der Schwerstbehinderte ist eine exemplarische Gestalt der Schwachheit des Menschen“ – Ludwig Schlaich „Ich lebe wieder in einer Angst, weil die Autos wieder hier waren. […] Wenn man da nicht aufgeregt wird, dann müßte man Nerven von Stahl und Eisen haben.“52 Mit diesen Worte berichtet eine Bewohnerin der Heil- und Pflegeanstalt Stetten am 10. November 1940 ihren Eltern und Geschwistern über ihre Angst angesichts des Abtransportes geistig behinderter und psychisch kranker Mitbewohnerinnen in eine Tötungsanstalt. Veröffentlicht hat diese und andere Zeugnisse der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im Jahre 1947 der Inspektor der Stettener Anstalt Ludwig Schlaich (1899– 1977). Mit seinem Buch „Lebensunwert? Kirche und Innere Mission Württembergs im Kampfe gegen die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘“ gehörte er zu den ersten, die nach dem Krieg die Aufarbeitung der Tötungsverbrechen in Gang gebracht haben. Schlaich, in den zwanziger Jahren religiöser Sozialist, interessiert an der jungen Bewegung der dialektischen Theologie und 1927 zum Pfarrer ordiniert, leitete die Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal seit 1930.53 In den Jahren der nationalsozialistischen Tötungsverbrechen hat er selbst miterlebt, dass 330 Bewohnerinnen ————— 52 53

Schlaich, Lebensunwert?, 72. Zur Biografie Schlaichs vgl.: Kottnik, Schlaich, 15–20; Sperl, Schlaich, bes. 27–30.

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aus Stetten in Grafeneck ermordet worden sind.54 Obwohl er brieflich und telefonisch den Abtransport zu verhindern versuchte und sogar mit der Berliner T-4 Zentrale telefonierte, konnte er den Mord nicht aufhalten. Aus der Nachkriegsperspektive wird Schlaich es vermutlich bedauert haben, nicht noch entschiedener aufgetreten zu sein. Immerhin hatte er die Zwangssterilisation als „Opfer der behinderten Menschen für das Volksganze“55 befürwortet und war politisch im Ganzen anpassungsbereit.56 Wenn Schlaich also nach dem Krieg die Zwangssterilisierten als Opfer des Nationalsozialismus bezeichnete und für sie eine Wiedergutmachung forderte, so war dies auch eine Klarstellung in eigener Sache.57 Die theologisch-anthropologische Position, die Schlaich in diesem schmalen Buch vertritt, geht von der Heiligung des menschlichen Lebens durch den in Christus inkarnierten Gott aus. Auch die Allerschwächsten, auch diejenigen, „in denen alles geistige und sittliche Leben erloschen zu sein scheint […] tragen das Bild menschlichen Lebens, das Jesus Christus durch seine Menschwerdung geheiligt hat und das wir darum auch in allen seinen Gliedern heilig halten sollen.“58 Gott ist, wie das Magnifikat zum Ausdruck bringt, „ein Freund der Schwachen und Geringen. Den glimmenden Docht löscht er nicht aus. Den Blöden ist er hold.“59 In der Ehrfurcht vor der Barmherzigkeit Gottes lässt sich daher auch erkennen, dass das Leben der Schwachen nicht wertlos ist. Freilich: der Sinn des menschlichen Lebens könne letztlich nicht mit dem Verstand begriffen sondern nur im Glauben ergriffen werden. Diesem aber erschließt sich, dass Gott das Leben geheiligt hat. Deshalb gelte auch „das unbedingte Gebot, das Leben des Menschen heilig zu halten, zu schützen und zu fördern“.60 Im Übrigen werde der Sinn des menschlichen Lebens dann „völlig verfehlt, wenn es allein nach den vernünftigen Gesichtspunkten des Erfolges und der Zweckmäßigkeit gestaltet und bewertet wird“.61 Das Leben derer, die kaum geistige Regungen zeigen, sei geradezu ein Aufruf an unsere Hilfsbereitschaft. Ein Volk brauche Kranke, die es zu versorgen hat, um gesund zu bleiben. So „treffen sich christlicher Glaube und edle Humanität“ darin, „dass die selbstlose Liebe zu Gott und zum Mitmenschen und die Ehrfurcht vor dem geschaffenen Leben unseres Lebens Erfüllung bedeuten“.62 ————— 54 55 56 57 58 59 60 61 62

So Kottnik, ebd., 19. Schlaich selbst spricht von 320 Personen (ders., Lebensunwert?, 41). Ebd, 17. Vgl. ebd., 18f. Vgl. ebd., 18. Schlaich, Lebensunwert?, 12. Vgl. ebd., 13. Ebd., 10. Ebd., 12. Ebd.

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Ludwig Schlaich ist einer der wenigen Theologen, die auch in den Bereich der Heilpädagogik hinein gewirkt haben. Als er 1930 seine Arbeit in Stetten begann, stellte er fest, dass es keine spezifische Ausbildung für diesen Bereich gab. Für ihn war dies der Anstoß: „Dann machen wir eben selber eine!“63 So entwickelte er das Konzept für eine Heilerziehungspflegeausbildung, die ab Oktober 1933 angeboten wurde.64 Für „Pfleger, Erzieher und Lehrmeister“ veröffentlichte Schlaich im Jahre 1953 das Lehrbuch „Die Pflege und Erziehung Geistesschwacher und Epileptischer in Anstalten der Inneren Mission“. 1974, drei Jahre vor seinem Tod, ist es in einer revidierten Auflage unter dem Titel „Erziehung und Bildung geistig Behinderter durch Eltern und Erzieher“ neu publiziert worden. Insbesondere durch den Ausbildungszusammenhang hat Schlaich seine theologische und gleichzeitig seine heilpädagogische Fachlichkeit weiterentwickelt. Bei der Lektüre der Neuauflage seines Lehrbuches wird schnell deutlich, dass Schlaich seiner schon früher entwickelten Anthropologie treu geblieben ist, sie jedoch zugleich gegenüber der philosophischen und pädagogischen Anthropologie geöffnet hat. Nach wie vor ist seine Anthropologie christologisch akzentuiert: Christus ist das Modell des Gott entsprechenden Menschen. Die conditio humana ist zugleich von Stärke und Schwäche gekennzeichnet. Einerseits ist der Mensch von Gott geschaffen, von ihm angenommen und beauftragt, die Schöpfung zu bebauen und zu bewahren. Er ist „wenig niedriger gemacht als Gott“ (Ps 8,6). Leistungsfähigkeit und kreative Aktivität kennzeichnen ihn. Andererseits ist aber auch seine Schwäche nicht übersehbar: Tod und Krankheiten bedrohen ihn. Seinen Begierden ist er unterworfen. Durch Ungerechtigkeiten, Zwänge und Gewalttaten ist er gefährdet und gezeichnet. Beides, Stärke und Schwäche, machen den Menschen aus. Beides erschließt sich ihm auch in der Person Jesu Christi. Das „Bild des gottebenbildlichen, leistungsfähigen und ‚heiligen‘ und zugleich ohnmächtig schwachen Menschen wird in dem Gottmenschen Jesus Christus, der Wunder zum Heil der Menschen tut und doch Missachtung und den verächtlichen Kreuzestod erleiden muß, erkannt“.65 Diese anthropologische Ambiguität wird von Schlaich auch mit philosophischen Begriffen eingeholt. Das Charakteristikum der Schwäche wird durch die Kategorie des Mängelwesens zum Ausdruck gebracht. „Der Mensch kommt als physiologische Frühgeburt unreif, unfertig und hilfsbedürftig in die Welt.“66 Auf der anderen Seite ist er nicht durch Instinkte und Reflexe in seinem Verhalten konditioniert, sondern offen, um sich in wech————— 63 64 65 66

Zitiert nach: Sperl, Ludwig Schlaich, 30. Vgl. ebd. Schlaich, Erziehung und Bildung geistig Behinderter, 24. Ebd., 9.

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selnden Situationen jeweils neu und situationsangemessen zu verhalten. Der Mensch ist weltoffen. Die biblische und die philosophische Anthropologie treffen sich auch in der Betonung der Sozialität des Menschen. „Am Kreuz Jesu, der nicht gekommen ist zu herrschen, sondern bis zur Hingabe seines Leben zu dienen, […] bestätigt sich auch, daß Gott den Menschen nicht als einzelnen geschaffen hat, sondern ihm einen Gehilfen (1. Mose 2,18) für sein Schaffen und für seine Schwachheit gegeben hat, damit er seines Bruders Hüter sei (1. Mose 4,9) und seinen Nächsten liebe […] wie sich selbst.“67 Philosophisch holt Schlaich diesen sozialen Aspekt ein, indem er darauf hinweist, dass jeder als Glied einer menschlichen Gemeinschaft lebt und sich in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt sowie seiner Mitwelt entwickelt. Der Mensch kann „sein Ich-Selbst nur in der Begegnung mit seinem Du und mit seiner Gesellschaft entwickeln und behaupten“.68 Die biblische Anthropologie enthält darüber hinaus auch ein ethisches und pädagogisches Verständnis. Jeder Mensch ist dafür verantwortlich, seinem Nächsten mit den ihm von Gott geschenkten Gaben zu helfen. Er soll die für diesen Dienst verliehenen Gaben „mehren […] und zugleich suchen, sich soweit wie möglich […] von den Zwängen zu befreien, denen er unterworfen ist“.69 Die verantwortliche Hilfe für die Entwicklung des Mitmenschen und für das persönliche Wachsen in der Freiheit, der Liebe und dem Gehorsam gegen Gott markieren das Programm einer biblischen Pädagogik. Sie entsprechen dem, was die pädagogische Anthropologie als die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen bezeichnet hat. Diese betont, dass die individuelle Person die Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Lebensbewältigung in einem Auseinandersetzungs- und damit Lernprozess erwerben muss. „Da der Mensch […] als Mängelwesen, unfertig nicht nur geboren ist, sondern es sein Leben lang bleibt, ist der Mensch […] erziehungsbedürftig“.70 Das Ziel der Entwicklung und Erziehung ist biblisch gesprochen der vor Gott verantwortliche, seine Stärken und Schwächen einbekennende und seinem Nächsten dienende Mensch. Es ist derjenige, der bereit ist, seines Bruders Hüter zu sein. „Modern“ gesprochen soll der Mensch „sein Ich-Selbst im Dienst an anderen und der Gemeinschaft in der Verantwortung vor Gott zu verwirklichen streben, in dem er die ihm verliehenen Fähigkeiten und Fertigkeiten so entwickelt, daß er damit einen Dienst

————— 67 68 69 70

Ebd., 24. Ebd., 23. Ebd., 24. Ebd., 11.

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leisten kann“.71 Ausdrücklich nennt Schlaich das Ich-Selbst-Werden, an anderen Stellen auch die Ich-Stärke,72 das Ziel pädagogischer Bemühungen. Eine geistige Behinderung erscheint in Schlaichs Anthropologie als exemplarischer Ausdruck des Menschseins, insbesondere der menschlichen Schwäche. Ausdrücklich formuliert er: „So ist also der Schwerstbehinderte nicht eine abwegige Mißbildung der menschlichen Natur, sondern im Gegenteil eine exemplarische Erscheinungsform des menschlichen Seins.“73 Sie lässt sich mit medizinischen Mitteln erklären und in der Regel auf eine Fehlbildung des Gehirns bzw. eine frühkindliche Hirnschädigung zurückführen.74 Sie drückt sich abgesehen von der Intelligenzschwäche bspw. in Verhaltensstörungen, Störungen der Affektivität, der Motorik und in vegetativen Störungen aus. Dazu kommen psychogene Verhaltensstörungen, bei denen Schlaich ein gestörtes Selbstwertempfinden und damit eine IchSchwäche hervorhebt.75 Die Fehl- und Missbildungen des Gehirns sind nicht therapierbar. Das hindert aber nicht daran, dass Menschen mit geistiger Behinderung verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, sekundäre Schädigungen abbauen und Ich-Stärke gewinnen können. Besonders im Licht der biblischen Anthropologie ist ihr volles Menschsein unzweideutig gewiss. „Der geistig Behinderte ist also nicht eine Mißgestalt des Menschen, sondern auch der Schwerstbehinderte ist eine exemplarische Gestalt der Schwachheit des Menschen. Auch er ist der Menschenwürde teilhaftig; denn sie […] besteht nicht in der Leistung des Menschen, sondern darin, dass Gott sich seiner in Jesus Christus angenommen, ihn zu seinem ‚Kind‘ gemacht hat […]. Darum ist auch der Schwächste ein vollberechtigtes, der Ehre würdiges Glied der christlichen Gemeinde“.76 Für Schlaich ergibt sich aus seiner entwicklungsoffenen Anthropologie ein Ansatz institutioneller Hilfen, der nicht von der Organisationsform, sondern vom Assistenzbedarf der einzelnen Person ausgeht. Obwohl Leiter einer großen stationären Einrichtung plädiert er für ein „vielgestaltiges System ambulanter, teilstationärer und stationärer Institutionen“,77 bei denen die Anstalten erst an letzter Stelle, d.h. als letzte Hilfemöglichkeit in Betracht kommen. Sollten lediglich stationäre Hilfeformen in Betracht kommen, so sind diese nach dem Normalisierungsprinzip zu strukturieren, denn: „jeder geistig Behinderte [hat] Anspruch auf ein Leben, das dem ————— 71 72 73 74 75 76 77

Ebd., 24f. Vgl. ebd., 9f, 55. Schlaich, Rehabilitation und Menschenwürde des Behinderten, 381. Schlaich, Erziehung und Bildung geistig Behinderter, 15. Vgl. ebd., 18f. Ebd., 24. Ebd., 38.

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normalen Leben aller Bürger seines Landes so nahe ist, als es ihm möglich ist“.78 An Ludwig Schlaich zeigt sich in exemplarischer Weise, wie ein Theologe, der sich für den fachlichen Diskurs der Heilpädagogik öffnet, auch seine Anthropologie neu zu formulieren unternimmt. Während der frühe Schlaich noch davon ausging, dass sich allein dem Glauben das Wesen des Menschen erschließe, hat er sich in seinem späteren Wirken um eine plausible Entsprechung zwischen theologischer und pädagogischer Anthropologie bemüht. Nicht nur das: obwohl auch er die Schwäche des Menschen betont, übergeht er gleichwohl nicht, dass menschliches Leben auch von Stärken gekennzeichnet ist. So nimmt Schlaich die menschliche Entwicklung als einen zu fördernden Prozess ernst, eine Auseinandersetzung, in der es darum geht, dass ein Mensch zum Ich-selbst wird. Die Entwicklung von Ich-Stärke kann Schlaich als pädagogisches Ziel positiv würdigen. Darin unterscheidet er sich von Klevinghaus und Jensen. Schlaich hat sein Konzept nicht nur zur philosophischen Anthropologie hin geöffnet, sondern auch von der einseitigen Ausrichtung auf die Schwäche befreit. Darin ist sie zu würdigen.

1.4 „Personsein bedeutet ... Du-sagen-Können“? Ein Dialog zwischen Walter Neidhart und Heinrich Ott Ich habe in den zurückliegenden Abschnitten die These Szaguns, Herbsts und Kandlers differenziert, die das Thema Behinderung als blinden Fleck der Theologie behauptet haben. Mit Hinweis auf die schon seit der Gründerzeit der Diakonie geführte anthropologische Diskussion habe ich gezeigt, dass Behinderung schon viel länger ein Thema der theologischen Anthropologie gewesen ist. Freilich: zunächst im engeren Bereich der Diakonie. Dies hat sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die siebziger Jahre hinein fortgesetzt. Die exemplarischen Darstellungen zu Johannes Klevinghaus, Julius Jensen und Ludwig Schlaich sollten zeigen, welche konkreten Paradigmen theologischer Anthropologie im Bereich der diakonischen Behindertenhilfe entwickelt worden sind. Dennoch, und darin stimmt die These Szaguns, Herbsts und Kandlers dann doch wieder, gab es bis Ende der siebziger Jahre hinein kaum ein Interesse der universitären Theologie an diesem Thema. 1979 erschien das Buch „Wir brauchen einander. Behinderte in kirchlicher Verantwortung“. Im Jahr darauf publizierte Ulrich Bach seine Aufsatzsammlung „Boden unter den Füßen hat keiner“. Ein verstärktes Interesse ————— 78

Ebd., 21 [Ergänzung von mir; U.L.].

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am Thema Behinderung und dessen anthropologischen Aspekten findet sich dann im Umfeld des von den Vereinten Nationen 1981 proklamierten „Internationalen Jahrs der Behinderten“. 1982 erschien das Buch „Nicht nur 1981: Diakonische Initiativen für Behinderte und Nichtbehinderte“. Ein Jahr darauf, 1983, veröffentlicht Anna-Katharina Szagun ihre Monographie „Behinderung: ein gesellschaftliches, theologisches und pädagogisches Problem“. Von da an erscheinen zunehmend mehr Aufsätze und Bücher, die das Thema „Behinderung“ auch anthropologisch reflektieren. Aus dieser Anfangszeit der entstehenden akademischen Diskussion stammt ein kurzer Dialog über geistige Behinderung und theologische Anthropologie, an dem sich eine weitere Herausforderung für die Reflexion des Themas herausarbeiten lässt. Im Jahre 1980 veröffentlichte die „Theologia Practica“ ein Themenheft zum Thema Behinderung, das Erfahrungsberichten gleichermaßen wie medizinischen, heilpädagogischen, religionspädagogischen und systematisch-theologischen Überlegungen Raum gab. Der Basler Praktische Theologe Walter Neidhart wies in seinem Beitrag auf „Geistigbehinderte als Anfrage an die theologische Anthropologie“ hin. Ausgehend von Texten aus der Feder von Heinrich Ott, Karl Rahner und Heinrich Vorgrimler sowie von Eberhard Jüngel wies er darauf hin, dass diese Autoren Spitzensätze über den Menschen formulierten, die stets auf „bestimmte geistige Fähigkeiten im Bereich des Hörens, des Sprechens und des Denkens“ abheben, „die beim Schwerstbehinderten nicht vorhanden sind“.79 Konsequent folgert Neidhart: „Durch die definitionsartigen Sätze entsteht also unvermeidlich eine Randzone, in der sich neben den geistig Behinderten Säuglinge, Geisteskranke und Senilgewordene befinden. Ihr Menschsein wird durch die Definitionen unausgesprochen in Frage gestellt oder nicht eindeutig ausgeschlossen.“80 Bei Heinrich Ott waren Neidhart Sätze aufgefallen, die die Personalität des Menschen in einem sprachlich aktualisierten IchDu-Verhältnis lokalisieren: „‚Der Mensch ist Person vor Gott […]‘ Der Begriff des Personseins besagt: Freiheit – im Sinn von Verantwortlichkeit. Personsein bedeutet aber zugleich – und noch ursprünglicher –: Du-sagenKönnen, das heißt die Fähigkeit, sich einer anderen Person zuzuwenden, sie anzureden und sich von ihr anreden zu lassen, ihr Wort, ihre Zuwendung zu verstehen.“81 Provozierend fragt Neidhart nun, ob „eine theologische Anthropologie im Blick auf die geringe Zahl der geistig Behinderten […] über den Menschen nachdenken darf, als ob es diese nicht gäbe?“82 Otts Antwort ————— 79 80 81 82

Neidhart, Geistigbehinderte als Anfrage an die theologische Anthropologie, 303. Ebd. Ott, Die Antwort des Glaubens, 165f. Neidhart, ebd., 305.

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ist nicht frei von der Strategie, Neidharts Anfragen zu neutralisieren, indem er dessen Anliegen für berechtigt erklärt, im konkreten Fall aber ein Missverständnis vorliegen sieht. Gottebenbildlichkeit, so Ott, sei ein Beziehungsbegriff und nur als solcher zu konzipieren. Die grundlegende Beziehung, die Gott zum Menschen herstelle, sei somit der Grund der Ebenbildlichkeit und nicht eine menschliche Fähigkeit. Man müsse zwischen primären und sekundären Aspekten des Menschseins unterscheiden. Dessen primärer Wurzelgrund bestünde „in der partnerschaftlichen Beziehung Gottes zum Menschen. Das ist der eigentliche ‚Spitzensatz‘ christlicher Anthropologie! Weil Gott sich anfänglich, nämlich mit der Konstituierung des Menschseins selbst zu des Menschen Partner gemacht hat, darum ist der Mensch ein Partner, und darum kann er je und je ein Partner werden, in Verantwortlichkeit, Sprachlichkeit und im Erleben der Sinnfrage.“83 Ott hält also durchaus daran fest, dass personale Verantwortung, Sinnerleben und Sprachlichkeit wesentliche Charakteristika der Gottebenbildlichkeit seien. Er ordnet sie allerdings als sekundäre Aspekte der primären Beziehung Gottes zum Menschen nach. „Wenn nun bei einem Menschen der sekundäre Aspekt seines Menschseins vor Gott ausfällt […], so bleibt der primäre doch bestehen“.84 Mit Walter Neidharts Anfragen und Heinrich Otts Antwort tritt die anthropologische Herausforderung auf paradigmatische Weise ins Bewusstsein der Theologie: wie formuliert sie ihre Aussagen über den Menschen? Orientiert sie sich dabei an einem Modell, hinter dem Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung unweigerlich zurückbleiben und wird dadurch – wider Willen – zu einer exklusiven Anthropologie? Oder aber: gelingt es ihr, so vom Menschen zu sprechen, dass grundsätzlich alle Menschen eingeschlossen sind, dass mithin eine inklusive Anthropologie vorliegt? Heinrich Otts Antwort bringt eine wichtige theologische Einsicht zur Geltung: Menschsein konstituiert sich durch Gottes partnerschaftliches Handeln am Menschen. In der Tat: dies ist der primäre und unhintergehbare Aspekt. Aber ist es dann plausibel, die Charakteristika, in denen sich das durch Gott konstituierte Menschsein äußert und verwirklicht, wiederum qualitativ so hoch zu hängen, dass Menschen, die nicht „Du“ sagen können, die keinen anderen anzureden vermögen, von vornherein außerhalb des Kreises der sekundären anthropologischen Kategorien liegen? Oder äußern sich hier nicht auch die Ambivalenzen einer – in diesem Fall: sprachtheoretisch angelegten – Theologie und ihrer unvermeidlichen kognitiven Implikationen? Immerhin hat die Lösung, die Ott vorschlägt, den Nachteil, dass der Zusammenhang zwischen primären und sekundären Charakteristika zu ————— 83 84

Ott, Menschsein und Menschenwürde des geistig Behinderten, 308. Ebd.

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lose ist, ja eine zu hohe Stufe einschließt. Es klafft ein zu breiter Graben zwischen den Konstitutionsmerkmalen und den Charakteristika, an denen sich das Menschsein äußert bzw. verwirklicht. Ohne an dieser Stelle schon eine alternative Möglichkeit ins Spiel zu bringen, dürfte aus dem Gespräch zwischen Neidhart und Ott die Herausforderung deutlich werden, der sich eine inklusive theologische Anthropologie zu stellen hat. Das Desiderat dieses Dialoges lautet: eine Anthropologie, die für Menschen mit und ohne geistige Behinderung gleichermaßen aussagefähig sein soll, sollte sich auch bezüglich der von Ott als sekundär bezeichneten Charakteristika um Kategorien bemühen, die für alle Menschen gleichermaßen Geltung besitzen. Gerade dafür, diese Herausforderung möglichst klar auf den Punkt zu bringen, erweist sich der Dialog zwischen Neidhart und Ott als instruktiv. Aus meiner geschichtlichen Einleitung sind nicht nur Phasen des Diskussionsverlaufs, sondern auch inhaltliche Herausforderungen deutlich geworden, die sich der Theologie stellen, wenn sie über Behinderung nachdenkt. Ich möchte die wichtigsten dieser Fragen noch einmal wiederholen: Wie deutet die Theologie Behinderung? Worauf werden Menschen mit solchen Deutungskategorien festgelegt? Was folgt aus ihnen für ein Verständnis von Hilfen für Menschen mit einer Behinderung? Werden die anthropologischen Aussagen so formuliert, dass sie für den philosophischen und pädagogischen Diskurs anschlussfähig sind? Gehen die anthropologischen Spitzenaussagen der Theologie auf die Lebenswirklichkeit geistig behinderter Personen ein oder über sie hinweg? Es ist mithin ein ganzer Strauß von Fragen, der bereits gepflückt ist. Er wird auf dem Arbeitstisch seinen Platz finden, wenn die vorliegenden Konzepte vorgestellt und diskutiert werden. Ich stelle in den folgenden Kapiteln die wichtigsten theologische Konzepte vor, die sich seit den 1970er- bzw. 80er Jahren mit dem Thema Behinderung in anthropologischer Perspektive beschäftigt haben. Da die Interpretationsformen von Behinderung quer durch die systematisch-theologischen Schulen hindurch gehen, erscheint es mir nicht angemessen, eine Orientierung an solchen theologischen Grundentscheidungen vorzunehmen. Stattdessen orientiere ich mich an der Deutung des Phänomens „Behinderung“ selbst. Die Reihenfolge der Darstellung folgt bereits bestimmten Gruppen von Interpretationen. In der auf meine Darstellung folgenden Zusammenfassung werde ich dann die Ergebnisse, Schwerpunkte und Einzelbeobachtungen meiner Untersuchung erläutern und dabei auch eine sachliche Typologie der vorgestellten Interpretationen begründen.

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2. „Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist“. Ulrich Bachs Befreiungstheologie für Menschen mit und ohne Behinderung Ulrich Bach Theodor W. Adorno hat am gesellschaftlichen Leben eine wachsende Verarmung sozialer Beziehungen wahrgenommen. Den Menschen „verkümmern jene unersetzlichen Fähigkeiten, die nicht in der Isolierzelle der reinen Innerlichkeit, sondern nur in Fühlung mit der Wärme der Dinge gedeihen können. Kälte ergreift alles, was sie tun, das freundliche Wort, das ungesprochen, die Rücksicht, die ungeübt bleibt. Solche Kälte schlägt endlich zurück auf jene, von denen sie ausgeht. Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken. Wer dazu […] unfähig wird, macht sich zum Ding und erfriert.“1 Die Erfahrungen, die Ulrich Bach in seinen Vorträgen und Aufsätzen reflektiert, sind ein beredtes Zeugnis dieser gesellschaftlichen Kälte. Sie prägt, so kann man an seinen Publikationen ablesen, nicht nur das allgemeine soziale Klima. Auch die Theologie und die Kirche sieht Bach von dieser Erstarrung erfasst. Maßgebliche theologische Zeitstimmen und kirchliche Verlautbarungen sind, das ist seine These, von einer diskriminierenden Anthropologie und einem nicht minder diskriminierenden Diakonieverständnis geprägt. Gerade in Bezug auf Menschen mit Behinderung wirke diese halbierte, selbstvergessene Theologie besonders ausgrenzend. Bach hat sich deshalb genötigt gesehen, die theologische Alarmglocke kräftig anzuschlagen. Kein abgestimmt satter Klang wird so intoniert. Eher schrille Töne klingen den Hörerinnen in den Ohren. Der Vorwurf eines „theologischen Sozialrassismus“2 liegt ebenso in der Luft wie die Kritik einer „Apartheidstheologie“.3 Ja, Bach lässt sogar so unangenehme Fragen anklingen wie: „durch Theologie barbarischer geworden?“4 oder „durch Theologie behindert?“5 ————— 1

Adorno, Minima Moralia, GS 4, 47. Bach, Die Wunderheilungen nach Markus 1 und 2 und unser ‚theologischer Sozialrassismus‘, in: ders., Getrenntes wird versöhnt, 45. 3 Bach, (Biblische) Theologie: Förderung oder Korrektur der heutigen GesundheitsVergottung?, in: ders. „Gesunde“ und „Behinderte“, 102. 4 So der Titel eines Beitrages in: Bach, „Gesunde“ und „Behinderte“, 9. 5 Bach, Durch Theologie behindert?, 335. 2

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Trotz oder vielleicht auch gerade wegen solcher schrillen Töne zählt Ulrich Bach heute zu den wichtigsten Theologen im Bereich der Diakoniewissenschaft. Günter Brakelmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass Ulrich Bachs Kritik nirgendwo „emotional oder politisch […] aus Wut und Haß“ gespeist ist. Sie ist vielmehr eine Kritik, die „bei aller Schärfe des Urteils im Detail umgriffen“ ist „von der Liebe zu denen, die […] die verkehrte Welt produzieren“.6 Eine Kritik, die aus biblischen Wurzeln gespeist wird. Ulrich Bach, der in Folge einer Kinderlähmung selbst mit einer Körperbehinderung lebt, ist im Raum der evangelischen Kirche sicher derjenige, der am ausführlichsten das Thema der Behinderung in den Mittelpunkt seiner theologischen Arbeit gestellt hat. Ich möchte im Folgenden Bachs Entwurf in seinen theologischen Grundentscheidungen, anthropologischen Reflexionen und ethisch-diakonischen Konsequenzen darstellen und ihn kritisch würdigen.

2.1 „Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist“ „Anfang der siebziger Jahre saß ich im Urlaub auf der Wiese eines Gasthauses in Kärnten, neben mir ein Offizier, dort aus dem Nachbardorf. Wir unterhielten uns über dies und das. Dann kam unvermittelt seine Frage: ‚Hochwürden, wie werden Sie denn damit fertig?‘ Und bei ‚damit‘ nickte er bedeutungsvoll in Richtung der Räder meines Rollstuhls. Als ich antwortete: Als Christ versuche ich, mir täglich neu klarzumachen, Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist, da kommt sein rascher Protest: Der will manches, aber das will er nicht.“7 Diese Episode und ihre Reflexion durchziehen Ulrich Bachs Vorträge und Aufsätze wie ein roter Faden. An ihr wird einerseits das weit verbreitete theologische Vorurteil gegenüber Behinderungen erkennbar. Andererseits lässt sich Bachs eigene theologische Deutung kaum prägnanter zusammenfassen: „Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist“. Dieser Satz wäre nur halb verstanden, wenn man aus ihm heraushörte: Gott will, dass ich mein Leben – so wie es ist – bewältige. Bach geht es um mehr: er will Behinderung nicht nur als Aufgabe, sondern als Gabe, als gleichberechtigten Aspekt der vielgestaltigen Schöpfungswirklichkeit verstanden wissen. Mit anderen Worten: Behinderung ist Teil der Schöpfung Gottes, von der es in Gen 1,31 heißt: „und siehe, es war sehr gut“. Anders ausgedrückt: „Auch der behin-

————— 6 7

Brakelmann, Ein ekklesiologischer Traum, in: Schibilsky (Hg.), Kursbuch Diakonie, 3. Bach, Der behinderte Mensch – ein Geschöpf Gottes, in: ders., Kraft, 95.

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derte Mensch ist ein so von Gott gewolltes Geschöpf“.8 Genau diese Aussage führt, das ist Bachs Erfahrung, regelmäßig zu Entgegnungen, die behaupten: „Gott will Behinderung und Rollstuhl nicht.“9 Schöpfung, so setzen seine Opponenten damit stets voraus, sei „normalerweise“ nichtbehinderte Schöpfung. Damit liegen die Karten auf dem Tisch. Ist Behinderung eine defizitäre Schöpfungswirklichkeit oder ein gleichberechtigter Aspekt einer prinzipiell vielgestaltigen Geschöpflichkeit? Die Fragen reichen weiter. Ist Gesundheit der Normal- und Behinderung ein Sonderfall? Oder sind Gesundheit und Behinderung gleichermaßen Gaben desselben gütigen Gottes? So viel dürfte bereits fest stehen. Der Satz: „Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist“ hat es in sich. Ein riskanter Satz. Ein Satz, der es nötig macht, Farbe zu bekennen. Und: ein folgenreicher Satz. Ihn ernst zu nehmen, dürfte im Haus der Theologie allerhand Staub aufwirbeln. Behinderung als gute Gabe Gottes? Dagegen hat Karl-Hermann Kandler eingewandt, es sei „kaum […] biblisch begründbar, […] Behinderung […] als Teil der ‚guten Schöpfung Gottes‘ anzusehen“. Betroffene würden „stärker, als dies Bach […] tut“, ihre „Behinderung als Last empfinden“.10 Soll die sich hier abzeichnende Auseinandersetzung mehr sein als ein Streit um Worte, so wird es nötig sein, sehr genau auf die Worte selbst zu achten. Und zwar: theologisch. Behinderung als gute Gabe Gottes? Ob es sich dabei um eine Position oder nur um eine Provokation handelt, wird vermutlich von Entscheidungen in zentralen theologischen Diskussionsfeldern abhängen: in der Gotteslehre ebenso wie in der Christologie oder in der Soteriologie. Ich will deshalb die theologischen Grundentscheidungen rekonstruieren, die Ulrich Bach zu seiner These geführt haben.

2.2 „Das Wort Gottes als Grund unseres Glaubens“ In einem fiktiven Brief an Martin Luther anlässlich von dessen 500. Geburtstag schreibt Ulrich Bach 1983: „Vor fünfundzwanzig Jahren gehörte ich zu der Studenten-Generation, die Sie kennenlernte durch Vermittlung der Brüder Barth, Iwand, Gollwitzer, Kreck, Bizer usw.“11 Die eher beiläufig wirkende Aufzählung ist so beiläufig nicht. Vielmehr lassen sich an ihr zentrale theologische Prägungen Bachs erkennen. Luther und Strömungen des Barthianismus dürften für ihn die maßgeblichen theologischen Orientie————— 8

Bach, Der behinderte Mensch als Thema der Theologie, in: ders., Dem Traum entsagen,

125.

9 10 11

Bach, Behinderung als geistige Herausforderung, in: ders., Dem Traum entsagen, 27. Kandler, Behindertenethik, 107. Bach, „Gnädig geordnet“: Auch wenn ich behindert bin?, in: ders., Traum entsagen, 44.

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rungen sein. Das bedeutet inhaltlich: Bach vertritt eine christozentrische Theologie des Wortes Gottes. Dieser Behauptung will ich im Folgenden das Wort reden. Noch bevor Bach zu den Hauptthemen seiner Theologie gekommen ist, hat er sich in seiner ersten Buchveröffentlichung mit Fragen der biblischen Hermeneutik beschäftigt.12 Dieser Essay lässt sich als barthianische ReLektüre der Bultmannschen Hermeneutik verstehen. Mit Bultmann hält der Autor fest: „Ich muß die Schrift sagen lassen, was sie sagen will. Sie will […] Kerygma sein: uns in ein Leben unter der Herrschaft Christi rufen.“13 Als solche ist sie kein „historisches Protokollbuch“.14 Daher auch der historisch-kritischen Forschung zugänglich. Deshalb ist auch das Kerygma vom Mythos zu unterscheiden und die Problemstellung der Entmythologisierung alternativlos. Das „Ja“ zum Entmythologisierungsprogramm schließt nun aber zugleich auch ein „Nein“ zu einigen seiner philosophischen Implikationen ein. Denn: dort, wo sie als „philosophisches System“15 auftritt, dort, wo es nur um die Vereinbarkeit biblischer Aussagen mit meinem Weltbild geht, dort gilt es ein Stopp-Schild aufzustellen. Mit Barthianischer Verve macht Bach an dieser Stelle das extra nos des Kerygmas geltend. Was ist damit gemeint? „Folgendes: die streng durchgehaltene Charakterisierung der biblischen Botschaft als einer Kunde, die uns von außen wie etwas Fremdes trifft.“16 Das Kerygma der Bibel knüpft keineswegs an Bekanntes und Gewohntes an. Vielmehr gilt es ernst mit der Tatsache zu machen, „daß die biblischen Schreiber den Inhalt ihrer Botschaft verstanden haben als etwas so Außer-Gewöhnliches, so Schockierendes, so allem Denken und religiösen Empfinden Widersprechendes, daß wir diesem Verständnis […] nur dann entsprechen, wenn auch wir, bei der Interpretation der biblischen Botschaft, die Nicht-Verwandtschaft zwischen dem Wirken Gottes und den Erwartungen der Menschen für ungemein radikaler ansehen als alle Unterschiede zwischen dem antiken und dem neuzeitlichen Menschen.“17 Gott ist eben nicht mit dem Erkannten und Bekannten zu identifizieren.18 Es sind die dissonanten Töne der „Theologie der Krisis“, die hier kräftig angeschlagen werden. Die biblische Botschaft stellt mithin einen Angriff19 auf unser gängiges Weltbild dar. Sie ist ein Überfall,20 ein Widerspruch.21 ————— 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. Bach, Gott und seine Theologen. Ebd., 65. Ebd. Ebd., 62. Ebd., 87. Ebd., 106. So ebd., 107. Ebd., 49. Ebd., 108. Ebd., 116.

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Gott ist keineswegs mit einem allgemeinen Göttlichen in eins zu setzen. Die biblische Botschaft niemals mit einer gängigen Weltanschauung. Vielmehr gilt das prinzipielle „extra nos“. Ich halte für einen Moment inne: Schöpfungstheologie dürfte unter solchen Vorzeichen kaum an das erhabene Gefühl einer „schönen Natur“ anknüpfen können. Eichendorffs „Hehres Glänzen, heil’ges Schauern! / Wie so weit und still die Welt!“22 ist im Sinne von Bach keine biblische Schöpfungstheologie. Vielmehr dürfte gelten: Was „gute Schöpfung Gottes“ bedeutet, lässt sich allein aus dem biblischen Kerygma bestimmen. Nur aus dem Wort Gottes ließe sich also ein theologisch angemessenes Verständnis von Geschöpflichkeit gewinnen. Wenn also der Satz „Gott wollte mich so und schuf mich so“ für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen gilt, so bedarf dieser Satz keineswegs der Fürsprache des common sense – wenn er sich nur der Unterstützung durch das biblische Kerygma sicher sein kann. Mit anderen Worten: er ist ein Glaubenssatz.

2.3 „An der christozentrischen Schaltstelle meines Denkens“ Das Wort Gottes widerspricht den alltäglichen Worten. Als solches muss es sich inmitten des allgemeinen Stimmengewirrs identifizieren lassen. An seinem Inhalt. An dem Namen, an den es gebunden ist: Jesus Christus. „In Jesus von Nazareth tritt uns Gott so entgegen, daß wir alles, was sonst göttlichen Anspruch fordert, fahrenlassen sollen. In Jesus Christus sollen wir Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“23 Bachs Theologie ist christozentrische Theologie. Darin liegt er erneut auf der Linie von Luther und Barth. Christus ist die entscheidende Offenbarung Gottes. Bach spricht von der „christozentrischen Schaltstelle meines Denkens“24 Von Christus also gewinnen alle übrigen theologischen Themen ihre Konturen. Durch ihn erhalten sie ihre spezifische Farbe. Diese Einsicht gilt es nunmehr zu konkretisieren. (1) Von Christus her zu denken, heißt inkarnatorisch zu denken. Gott wurde Mensch. Wer Gott ist, erfahren wir an der Person Jesu Christi. Wer aber ist dieser Gott? Bach legt allen Wert darauf, die Inkarnation konsequent, d.h. nicht halbherzig zu denken. Dann bedeutet sie: Gott wechselt die Seiten. Von oben nach unten. Von der Seite der Macht zur Ohnmacht. Er tauscht Stärke gegen Schwachheit ein. Krippe und Kreuz – zwischen diesen ————— 22 23 24

Joseph von Eichendorff, Gedichte, 375. Bach, Jesus der Arzt, in: ders., Dem Traum entsagen, 152. Bach, Der behinderte Mensch – ein Geschöpf Gottes, 104.

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beiden Ohnmachtszeichen spielt sich das Leben Gottes in dieser Welt ab. „In der Person Jesu wird unübersehbar klar: Gottes Kennzeichen in dieser Welt sind nicht Macht, Stärke und Reichtum, sondern […] Ohnmacht […], Hilfsbedürftigkeit […] und Armut“.25 Das heißt dann aber für Bach zugleich: Gott, dessen Stärke seine Schwachheit ist, steht auch auf der Seite der Schwachen, auf der Seite der Armen, Ausgegrenzten und Machtlosen. Dort, wo Gerechtigkeit und Gleichheit missachtet werden, wird Gott parteiisch: für die „kleinen Leute“.26 Deshalb kann „der Gott Jesu Christi einem Behinderten viel eher Kamerad sein“.27 (2) Von Christus her zu denken, heißt darüber hinaus vom Kreuz her zu denken. Auch der Auferstandene ist kein anderer als der Gekreuzigte. Folglich bleibt das Kreuz das bestimmende Signum des christlichen Glaubens. Recht verstandene Theologie muss deshalb für Bach Kreuzestheologie sein. „Das Kreuz ist also ‚Vorzeichen aller Theologie‘“.28 Es wirbelt die Wertvorstellungen des common sense gehörig durcheinander. Leistung und Schönheit sind in seiner Perspektive keine Privilegien vor Gott. Kreuzestheologie, das ist vielmehr ein „subversives Evangelium für alle ‚kleinen Leute‘ […]: Glaubt den Großen nicht, daß auch Gott in Größe verliebt ist. / Glaubt den Starken nicht, daß sie auch bei Gott besonderes Ansehen genießen. / Glaubt den Erfolgreichen nicht, auch Gott könne mit Leistungsschwachen nichts anfangen. / Glaubt den Gesunden nicht, die Gesundheit sei ein Bestandteil des göttlichen Heils“.29 Alle sind Gott gleich nahe, die Rollstuhlfahrerin und der Sprinter, der Mensch mit einer geistigen Behinderung und die Mathematikerin. Das Kreuz wird so zum Signum einer befreienden Theologie: für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen. (3) Vom Kreuz her zu denken, heißt nun aber weiterhin auch, dem unverständlichen und fremden Gott zu begegnen. Der Gott am Kreuz widerspricht allen geläufigen Gottesbildern – im doppelten Sinn des Wortes. „Gott ist nicht der verstehbare, der unsere Wünsche erfüllende Schönwetter-Gott, sondern er ist der dunkle, der jähe Wüsten-Gott, dessen Liebeswerk […] darin gipfelt, daß Jesus von Nazareth schreiend am Kreuz stirbt.“30 Nicht nur die unbedingte Liebe Gottes zu den Menschen wird auf Golgatha offenbar. Auch der Schrei Jesu „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) dringt von dort her an unser Ohr. Gott widerspricht den geläufigen Gottesbildern auch darin, dass er sich in man————— 25 26 27 28 29 30

Bach, Theologie der Diakonie, in: ders., Dem Traum entsagen, 97. Vgl. Bach, Das Lebensrecht der kleinen Leute, 194. Bach, Behinderung als geistige Herausforderung, 22. Bach, Kreuzes-Theologie und Behinderten-Hilfe, in: ders., Dem Traum entsagen, 40. Bach, „Heilende Gemeinde“? 359. Bach, Der behinderte Mensch als Thema der Theologie, 127.

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chen Situationen als schmerzlich unverstehbar zeigt. Fragen bleiben unbeantwortet. Sehnsüchte ungestillt. Zwar legt Bach Wert darauf, dass die Lebenssituation behinderter Menschen nicht von vornherein als leidvolle betrachtet wird. Gleichwohl gilt: „Wir Behinderten leben in einer Welt, die nicht aufgeht. In einer Welt voller Rätsel. Nur ein schockierender Gott könnte uns Kamerad werden. […] Nur ein unpassender Gott paßt in unser Leben, in dem es von Unpassendem nur so wimmelt.“31 Ulrich Bach hat sich immer wieder gegen das Verschweigen der unverstehbaren, der dunklen Seiten Gottes stark gemacht. Mehrfach ist er auf die Geschichte von Isaaks Opferung (Gen 22) eingegangen.32 Denjenigen, die gegen das Glaubens- und Gottesverständnis dieses Textes protestiert haben, hat er „‚fahrlässige Folter‘“ vorgeworfen. Sie versuchten eines der seltenen Denk-Angebote zu eliminieren, die „es Gehandikapten und an dieser Welt Irre-Werdenden ermöglichen, geistig zu überleben“.33 (4) Auf der Linie der Kreuzestheologie liegt es auch, wenn Bach an Luthers Rede von der Verborgenheit Gottes anknüpft. Wenn ich richtig sehe, muss sie deutlich von der ärgerlichen Fremdheit des Kreuzes unterschieden werden, von der eben die Rede war. Manche Lutherinterpreten haben diese Differenz nicht gesehen und Krankheit, Behinderung sowie Leid als opus alienum des verborgenen Gottes gedeutet. In einer ausführlichen Auseinandersetzung wirft Bach beispielsweise Wilfried Joest vor, Luthers Intentionen zu verfehlen und daher bei einem „theologischen Sozialrassismus“ zu landen.34 Identifiziere man die Erfahrung des Leides mit einem Werk des verborgenen Gottes, so diskriminiere man Menschen mit Behinderung. „Denn wenn der ‚verborgene Gott‘ zur Erklärung für das Leiden dient und nicht ausdrücklich auch zur Erklärung für das Glück, dann rutschen automatisch Glück, Gesundheit und Freude in den Bereich des ‚offenbaren Gottes‘.“35 Kranke und behinderte Menschen finden sich dagegen auf der Schattenseite Gottes wieder. Die Alternative kann für Bach nur darin bestehen, die Unterscheidung von deus absconditus und deus revelatus vom Theodizee-Thema fernzuhalten und ganz auf die Erwählungslehre zu bezie————— 31

Bach, Die Gesellschaft und die Minderheit der Behinderten, in: ders., Boden, 10. U.a. in: Bach, Predigtmeditation zu Gen 22, 1–14a; ders., Kraft, 34–52, ders., Dem Traum entsagen, 31ff; ders., Option für die Einheit des Gottes-Volkes, 89. 33 Bach, Behinderung als geistige Herausforderung, 33. 34 Bach, Die „Verborgenheit Gottes“ und unser Fragen nach dem Sinn von Krankheit und Behinderung, in: ders., Getrenntes wird versöhnt, 150–162. Bach bezieht sich in seiner Auseinandersetzung auf eine Passage aus Joests „Dogmatik“. Dieser hatte im Anschluss an ein Luther-Zitat formuliert: „Hier wird also die Unbegreiflichkeit des Weltelends eingestanden, aber zugleich die Allkausalität der Allmacht Gottes behauptet“ (Joest, Dogmatik, Bd. 1, 182, vgl. Bach, ebd., 150). 35 Bach, Diakonie – ein Sektor oder eine Dimension aller Theologie?, in: ders., Getrenntes wird versöhnt, 194f. 32

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hen.36 Der offenbare Gott wäre demnach der in Christus, dem Gekreuzigten offenbar Gewordene. Er ist der, der das gängige Normengefüge umstößt und sich zu den Armen und Ausgegrenzten hält. Zum verborgenen Gott gehören dagegen alle diejenigen Aspekte, die wir nicht verstehen, weil sie nicht zum Inhalt der Offenbarung gehören. „Auf die Seite des ‚verborgenen Gottes‘ gehört alles, was uns in der Christusoffenbarung nicht offengelegt wurde. Offengelegt wurde dort z.B., daß Gott den Sehfähigen annimmt und ebenso den Blinden, daß Sehfähigkeit keine größere Gott-Nähe bedeutet als Blindheit, daß Blindheit keine größere Gottferne bedeutet als Sehfähigkeit. Offengelegt wurde dort aber nicht, warum der eine sehen kann und der andere nicht. Das heißt aber: Auf die Seite des ‚verborgenen Gottes‘ gehört nicht nur die Blindheit des Blinden, sondern ebenso die Sehfähigkeit des anderen.“37 Daran ist Ulrich Bach gelegen: nicht nur angesichts einer Behinderung legt sich die Warum-Frage nahe, sondern ebenso angesichts der Gesundheit. Nichts ist selbstverständlich. Auch das nicht, was alle Normalität nennen. Die Frage, warum die eine in Mathematik Spitze ist, lässt sich ebenso wenig beantworten wie diejenige, warum der andere nicht bis Drei zählen kann. Der Umstand, warum der eine laufen kann, während die andere im Rollstuhl sitzt, gehört damit auf die Seite der Verborgenheit Gottes. Niemand hat hier den Durchblick. Obgleich die Antwort auf bedrängende Warum-Frage für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen verborgen bleiben muss, wird doch im Lichtkegel des Kreuzes zugleich das entscheidende offenbar: „Der sabbernde Spastiker und der angesehene Bischof sind beide gleiche nahe bei Gott und gleich weit entfernt von ihm.“38 Seine bedingungslose Annahme gilt beiden. (5) Von Gott im Sinne des biblischen Kerygmas zu sprechen, bedeutet für Ulrich Bach weiterhin, streng monotheistisch von ihm zu sprechen. Das erste Gebot ist das allererste Gebot der Theologie. Das heißt: keine gegengöttlichen Mächte haben in der christlichen Theologie Platz. „Der Dualismus beleidigt Gott“.39 Er sei vielmehr – so Bach im Anschluss an Gerhard von Rad – „ein innergöttliches Phänomen“,40 nur in einer trinitarischen Perspektive sinnvoll. Streng monotheistisch von Gott zu sprechen heißt für Bach deshalb: nicht nur Glück und Gelingen sind Werke Gottes, sondern ebenso Krank————— 36

Vgl. ebd., 194. Bach, Die „Verborgenheit Gottes“, in: ders., Getrenntes wird versöhnt, 157. 38 Bach, Gottes Gerechtigkeit – weshalb leiden Menschen?, 418. 39 Ebd., 416. 40 von Rad, Aspekte alttestamentlichen Weltverständnisses, zit. in: Bach, Der behinderte Mensch – ein Geschöpf Gottes, 102. 37

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heit und Katastrophen. „Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tut“ (Am 3,6)? Auch Behinderungen sind keineswegs Wirkungen gegengöttlicher Mächte. Genau so wenig sind sie Strafe. Vielmehr gehören beide zu Gottes guter Schöpfung: Gesundheit und Behinderung. „Biblische Rede von der Welt sieht […] die gesamte Schöpfung (das also, was wir schön und passend finden, und auch das, was wir grausam nennen) als gute Schöpfung Gottes an, so von Gott gewollt, so von ihm gewirkt.“41 Es muss noch einmal daran erinnert werden: Diese Aussage liegt nicht auf der Linie allgemeiner philosophischer Einsichtigkeit. Sie ist ein Satz des Credo. Sie ist ein Bekenntnis im Angesicht des Gottes, der sich aus der Welt heraus ans Kreuz drängen lässt. Deshalb ist es nur konsequent, wenn Bach dafür plädiert, auch die Trinität Gottes kreuzestheologisch zu verstehen. Nicht nur die Rechtfertigung im engeren Sinn, sondern auch Schöpfung und Heiligung gewinnen vom zweiten Glaubensartikel her ihr rechtes Verständnis. Bach hält es daher für geboten, „vom Kreuz her – und also auch vom Ärgernis des Kreuzes her – auch den 1. und 3. Artikel zu lesen, also etwa: So wie ich eingeladen bin zu glauben, daß der schreiende und sterbende Jesus mein Heil gewirkt hat […]; so bin ich eingeladen zu glauben, daß Gott neben kerngesunden Menschen auch Menschen schafft, die nur zwei Tage leben können, und Menschen, die vor Schmerzen viel schreien müssen.“42 Ich komme noch einmal auf den eingangs erwähnten Disput zurück, ob Behinderung als „gute Schöpfung“ angesehen werden kann. Wenn sich diese Auseinandersetzung nicht in der Weite allgemeiner Erörterungen verlieren soll, darf sie das Nächstliegende nicht aus den Augen verlieren: das Kreuz. Es gilt, die christozentrische Schaltstelle von Bachs Denken möglichst genau im Blick zu haben. Dann wird die Rede von der „guten Schöpfung“ auch das Empfinden einer Last nicht ausschließen. Dann widersprechen auch die schmerzlichen Dissonanzen nicht dem Bekenntnis „und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31).

2.4 „Das Defizitäre gehört für mich in die Definition des Humanum“. Anthropologie Christozentrische Theologie ist für Ulrich Bach trinitarische Theologie. Der Gott, der sich in Christus offenbar macht, ist ein Gott der Beziehung. In sich und zur Welt. Die „Diakonie Gottes“, das „freiwillige und verbindliche

————— 41 42

Bach, Der behinderte Mensch – ein Geschöpf Gottes, 99. Ebd., 103.

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(verläßliche) Miteinander von Ungleichen“43 ist für Bach der Ausgangspunkt und Realgrund aller Theologie. Deshalb erhalten alle theologischen Themen erst in einer trinitarischen Perspektive ihre spezifische Farbe: Schöpfungslehre, Anthropologie, Ekklesiologie, Diakoniewissenschaft etc. „Jede Theologie muß verarmen, die nicht dem Sein und dem Tun des dreieinigen Gottes nachzudenken versucht, sondern sich eingrenzt und entweder nur von Gott-Vater, dem Schöpfer, redet oder nur von Gott, dem Sohn, unserem Versöhner, oder nur vom Heiligen Geist und unserer Erlösung.“44 Dabei gilt für Bach freilich: nur über das Kreuz lassen sich die Werke der Personeneinheit Gottes angemessen erfassen. Vom zweiten Artikel aus fällt das Licht auf den ersten und dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses. Ich möchte deshalb im Folgenden an den Themenbereichen Anthropologie, Ekklesiologie und Diakoniewissenschaft Bachs trinitarische Interpretationen herausarbeiten. (1) „Was ist der Mensch?“ – mit diesen Worten ist in Psalm 8 die anthropologische Grundfrage auf den Punkt gebracht worden. Häufig wird sie mit dem Hinweis auf bestimmte Merkmale des Menschseins beantwortet: Vernunft, Entscheidungsfähigkeit, aufrechter Gang etc. Aber, so fragt Bach: „Was werden wir sagen, wenn diese wichtige Sache einmal fehlt? Etwa: ‚Der Mensch hat einen aufrechten Gang‘ – der Rollstuhlfahrer wäre also höchstens ein halber Mensch? Oder: ‚Ich denke, also bin ich‘ – und der schwer Geistigbehinderte?“45 Ein anthropologisches Denken, das sich an dem orientiert, was der Mensch hat, kommt also spätestens dann in Schwierigkeiten, wenn genau diese Merkmale einmal fehlen. Den anthropologischen Knoten kann deshalb nur lösen, wer ihn von der anderen Seite her aufknüpft. Im Anschluss an Heinrich Ott formuliert Bach: „Nicht irgend etwas an uns Aufweisbares qualifiziert uns als Menschen. […] Nein, was uns überhaupt erst zu Menschen macht, ist Gottes Zuwendung zu uns allen.“46 —————

43 Bach, Diakonie – ein Sektor oder eine Dimension aller Theologie, in: ders., Getrenntes wird versöhnt, 184. 44 Bach, Die „Verborgenheit Gottes“, 157. 45 Bach, Bausteine für ein theologisches Nachdenken über Menschenbild und Menschenwürde, in: ders., „Gesunde“ und „Behinderte“, 61 46 Bach, Der behinderte Mensch – ein Geschöpf Gottes, 114. Bach führt damit eine Überlegung Heinrich Otts christologisch weiter, in der dieser dafür plädiert hatte, die „Gottebenbildlichkeit als Grundbegriff theologischer Anthropologie relational zu denken: als eine Relation zwischen Gott und Mensch, als etwas, was sich zwischen Gott und Mensch begibt, und nicht als etwas, was als besondere Qualifikation im Menschen allein residiert“ (Ott, Menschsein und Menschenwürde des Geistig Behinderten, 308). Deshalb sei „das wesenhafte Sein des Menschen coram Deo […] keine abstrakte Fähigkeit, die der Mensch hat, sondern das, was er ist: ein stets vor dem Angesicht seines Gottes Existierender“ (ebd., 307).

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Diese Zuwendung Gottes hat einen Namen: Jesus Christus. Theologische Anthropologie müsste sich demnach ebenfalls christozentrisch verstehen. Auch Gottebenbildlichkeit und Würde werden christologisch qualifiziert; sie werden durch die Gnade Gottes in Jesus Christus konkret. Die Anthropologie ist von der Rechtfertigungslehre her zu konzipieren. So wie der Mensch durch ein von außen auf ihn zukommendes Wort gerecht gesprochen wird, so kommt ihm auch die Lebensbasis von außen zu: „sie ist eine fremde, uns von außen geschenkte Lebensbasis. Also: Ich bin Mensch, weil Gott […]! Ich bin wer, weil Gott mich will; ich bin wer, denn er gedenkt meiner. Das Geheimnis und Wunder der menschlichen Existenz liegt nicht in dem, was ich aufzuweisen hätte […], sondern darin, daß Gott meiner gedenkt, daß er mich seinen Partner sein läßt.“47 Die Bedeutung einer solchen Anthropologie ist für Menschen mit Behinderung beträchtlich: sie sind anerkannt. Bedingungslos. Ohne wenn und aber. Die alltäglichen Diskriminierungen haben keinen anthropologischen Bestand. Gott spricht sein gerecht machendes Wort jeder und jedem ins Gesicht. „Wer […] den Sinn seines Lebens im ‚Ja‘ Gottes zu uns allen verankert sieht, der kann es wagen, den Schwerstbehinderten als gleichwertigen, gleichberechtigten und gleich wichtigen Mitmenschen zu sehen.“48 Aber auch für nichtbehinderte Menschen sind die Konsequenzen befreiend. Niemand muss sich mehr über die eigene Leistung definieren. Niemand sich krampfhaft an seine Gesundheit, Schönheit, Sportlichkeit oder Intelligenz klammern. Der Götze der Gesundheits- und Leistungsideologie wackelt. Behinderten und nichtbehinderten Menschen wird die Lebensbasis gleichermaßen von außen geschenkt. Folglich gilt: „Ich kann sehen, aber auch die Blindheit gilt als eine mögliche Lebensbedingung. Sie können gehen, aber auch der Rollstuhl gilt als mögliche menschliche Lebensbedingung.“49 (2) Von diesem Ja-Wort Gottes aus nimmt Ulrich Bach nun auch den ersten Glaubensartikel in den Blick. Sein Bekenntnis „Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat“ gilt für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen. Krankheiten und Behinderungen sind keine Schöpfungspannen.50 Behinderte wie nichtbehinderte Menschen sind gleichermaßen gute Geschöpfe Gottes.51 „Der behinderte Mensch kommt (wie im 2. Artikel) auch im 1. und im 3. Artikel unseres Bekenntnisses genauso vor wie der —————

47 Bach, Bausteine für ein theologisches Nachdenken, 62. Bach nennt diese These das Wagnis, „die anthropologische Ansage der Rechtfertigungslehre zur Sprache zu bringen“ (ebd.). 48 Bach, ... und wenn einer schwerstbehindert ist? in: ders., Dem Traum entsagen, 40f. 49 Bach, Gesundheit aus der Sicht behinderter Menschen, in: ders., Boden, 37. 50 Vgl. u.a. Bach, Option für die Einheit des Gottes-Volkes, 88. 51 Vgl. Bach, Gottes Gerechtigkeit – weshalb leiden Menschen?, 420f: „der Behinderte ist wie der Nichtbehinderte ein gutes Geschöpf Gottes ohne Punkte-Abzug“.

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Nichtbehinderte. Menschen mit und ohne Behinderung: beide jeweils so von Gott geschaffen; beide in der gefallenen Schöpfung lebend; beide […] auf die Heilstat Christi angewiesen; beide durch Christus mit Gott versöhnt; beide Glieder am Leibe Christi; beide defizitär und auf andere angewiesen; beide mit göttlichen Gaben begabt; beide auf die Erlösung wartend.“52 Gesundheit und Leistungsfähigkeit einerseits, Krankheit und Behinderung andererseits sind also jeweils gleich-berechtigte und gleich-wertige Lebensformen. Nicht nur Stärke gehört zum Menschsein hinzu, sondern auch Schwäche. Dem halbierten, einseitig auf das Kraftpotential setzenden Menschenbild der Leistungsgesellschaft hält Bach entgegen: „‚Das Defizitäre gehört für mich in die Definition des Humanum‘“.53 Bach macht mit solchen Überlegungen eine paulinische Perspektive anthropologisch fruchtbar: „Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluß haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht“ (Phil 4,12f). Behinderung als Bestandteil der guten Schöpfung Gottes. Ebenso wie Gesundheit oder auch Krankheit, ebenso wie alle anderen Begabungen und Einschränkungen ist die Behinderung eine anthropologische Normalität. Alle Menschen sind Gott gleich nahe oder gleich fern. „Behindert-Sein und Nicht-Behindert-Sein werden jetzt zwei nebeneinander stehende Möglichkeiten für jedes menschliche Leben“.54 (3) Wird vom Menschen aus der Perspektive des dreieinigen Gottes gesprochen, so darf auch die Wirklichkeit des Heiligen Geistes nicht außen vor bleiben. Die Anthropologie wird dadurch noch einmal durch die Aspekte der Beziehungshaftigkeit und der Gemeinschaftlichkeit weitergeführt. Menschliches Dasein ist in keiner Hinsicht eine isolierte Existenz. Niemand ist sich selbst genug. Jede und jeder ist auf die anderen angewiesen. Menschsein ist ein gemeinschaftliches Projekt. Ulrich Bach bricht mit dem anthropologischen Leitbild des Robinson. „Keiner von uns stellt etwas für sich dar: einen Starken oder ein Schwachen, einen Nichtbehinderten oder einen Behinderten, denn wir gehören zusammen. Wir müssen uns lösen von dem Menschenbild des immer schon allein zurechtkommenden Robinson.“55 Verlässliche Beziehungen, Vertrauen und Solidarität können aber nur in einer Gemeinschaft der Gleichen wachsen. In ihr müssen die Kategorien „oben“ und „unten“ als perdu gelten. Stärken und Schwächen lassen sich nicht auf verschiedene Menschengruppen verteilen, sondern sind Aspekte ————— 52 53 54 55

Bach, Der behinderte Mensch als Thema der Theologie, 134. Ebd., 127. Bach, Wer hat Angst vor Frau N.?, 200. Bach, Die Gemeinde Jesu Christi, 136.

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jedweden individuellen Menschseins. „Jeder braucht Hilfe, jeder kann in irgendeiner Weise mittun.“56 Das Fragment ist kein Manko. Der imperfekte Mensch ist kein halber Mensch. Vielmehr betont Bach die Wechselseitigkeit der Unvollkommenen als Ausdruck verwirklichten Menschseins. Nur in einer solchen Gemeinschaft ist die Integration von Menschen mit Behinderung kein Lippenbekenntnis. Nur dort, wo sich behinderte und nichtbehinderte Menschen gegenseitig brauchen, ist Solidarität kein Wort für Sonntagsreden. Eine theologische Anthropologie im Horizont des Heiligen Geistes stiftet deshalb dazu an, vom Menschen im Plural und von seinem Miteinander als einer „Ergänzungsgemeinschaft“57 zu sprechen. Deshalb gilt für Bach: „Wer realistisch und verantwortlich von Menschenwürde redet, spricht damit nie von einem einzelnen, sondern sofort von der Gruppe.“ Denn diese Würde gibt es „niemals bei mir, bei ihm, bei ihr, sondern sie gibt es bei uns, oder sie gibt es nicht.“58

2.5 Diakonie als Zwillingsschwester des Gottesdienstes In der lutherischen Theologie ist es üblich, zwischen Kirche und Diakonie zu unterscheiden. Während die Kirche auf die Seite des Wortes gehört, repräsentiert die Diakonie die Seite der Tat. Glaube und Liebe werden einander nachgeordnet. Während der Glaube aus der Predigt kommt (vgl. Röm 10,17) gilt die Liebe aus Frucht des Glaubens. „Mit anderen Worten […], zuerst kommt der Glaube, die Diakonie steht erst im zweiten Glied“.59 Ulrich Bach bricht mit dieser Auffassung. Unter Bezug auf Gal 5,22 kontert er: „Glaube und Liebe sind in gleicher Weise Früchte des göttlichen Geistes. Die Liebe ist […] genauso unmittelbar zu Gott wie der Glaube.“60 Predigt und Diakonie erweisen sich in dieser Perspektive als Schwestern. Während die Predigt die Wortseite des Glaubens repräsentiert, stellt die Diakonie seine Tatseite dar. Die Folge: das diakonische Handeln erfährt eine erhebliche Aufwertung. „Es wird endlich klar, daß Diakonie kein Zwillingsbruder von kirchlicher Denkmalspflege ist. […] Vielmehr ist Diakonie Zwillingsbruder von Gottesdienst, so typisch für Kirche, so nicht wegzudenken von Kirche wie Predigt, Taufe und Abendmahl.“61 ————— 56 57 58 59 60 61

Bach, Der behinderte Mensch als Thema der Theologie, 128. Bach, Der Behinderte als Partner, in: ders., Boden unter den Füßen hat keiner, 30. Bach, Bausteine für ein theologisches Nachdenken, 57. Bach, Das annehmen, was Gott will, in: ders., Kraft in leeren Händen, 26. Ebd. Ebd., 27.

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Der Blickwechsel, den Bach damit vornimmt, scheint es mir notwendig zu machen, Kirche und Diakonie innerhalb eines Kapitels, gewissermaßen „in einem Atemzug“ zu behandeln. (1) Es versteht sich mittlerweile beinahe von selbst, dass Ulrich Bachs Überlegungen zu einer diakonischen Kirche erneut vom Kreuz Christi ihren Anfang nehmen. Die „Kirche Jesu“ kann „selbstverständlich nicht Gottes triumphierender Brückenkopf hienieden sein“.62 Sie hat vielmehr mit der Niedrigkeit Gottes ernst zu machen und von der Seite der Starken auf die Seite der Schwachen zu wechseln. Kirche „kann nur Kirche im Unten sein“.63 Sie ist ecclesia crucis. Krippe und Kreuz, die Erkennungszeichen Gottes in dieser Welt, werden so auch zu Insignien der Kirche. Das gilt für die Strukturen der Kirche ebenso wie für ihre Verkündigung und ihre eigene Lebenspraxis. Diese diakonische Kirche lebt aber nicht aus sich selbst, sondern verdankt sich der vorgängigen „Diakonie Gottes“. Sie lebt vom Heilshandeln des dreieinigen Gottes und bekennt ihn als Schöpfer, Erlöser und Versöhner. Sie bekennt damit Gott als den Schöpfer aller Dinge. Ohne sein „gutes Schöpfer-Wort ‚ist nichts gemacht, was gemacht ist‘ (Joh. 1,3)“.64 Das gilt für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen. Sie lebt ebenso von der Gnade des Sohnes, die allen Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit unterschiedslos gilt. Sie existiert darüber hinaus als der „Geschwisterkreis Jesu Christi, in den wir durch Taufe eingefügt sind, in dem wir durch Wort und Abendmahl erhalten werden, zu dem Gott uns alle befähigt und den zu gestalten uns allen aufgegeben ist.“65 Für Bach ist das paulinische Modell des Leibes Christi das bestimmende ekklesiologische Konzept. Die Gemeinde Christi ist eine Gemeinschaft der Gleichen, in der zugleich die Unterschiede nicht nivelliert werden. Die Verschiedenheit der Menschen ist jedoch theologisch ohne Belang. Vielmehr gilt: hier „ist nicht Jude noch Grieche, […] nicht Mann und Frau […] nicht Behinderter und Nichtbehinderter […], ihr seid allzumal einer in Christus Jesus (Gal 3,28; 6,15)“.66 Jede und jeder ist auf Hilfe angewiesen. Zugleich wird jedem und jeder das Helfen zugetraut. Das Defizitäre gehört in eine Definition der Gemeinde. Bach spricht deshalb gern von der Gemeinde als einer Ergänzungsgemeinschaft.67 „Kirche ist die Gemeinschaft

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Ebd., 32. Bach, Die diakonische Kirche als Freiraum für uns alle, in: ders., Boden, 205. Ebd., 201. Ebd., 202. Bach, Gemeinsam unterwegs, in: ders., Dem Traum entsagen, 173. Vgl. Bach, Der Behinderte als Partner, 30.

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derer, die sich gegenseitig brauchen, jeder kann etwas einbringen ins Ganze, jeder ist auf Hilfe anderer angewiesen, Kirche als Patienten-Kollektiv“.68 In einer solchen Gemeinschaft wären Menschen mit Behinderung nicht länger die Objekte diakonischer Hilfe. Sie wären keine Sondergruppe, sondern selbst Subjekte. Ihre Erfahrungen wären gefragt. Ihre Fragen, Perspektiven und Anregungen wären willkommen. Ohne sie würde der Gemeinschaft etwas fehlen. Ulrich Bach zitiert häufig aus dem Memorandum einer ökumenischen europäischen Konsultation in Bad Saarow 1978: „Eine Gemeinde ohne Behinderte gibt es nicht. Wo die Behinderten fehlen, ist eine Gemeinde behindert.“69 Wenn christliche Gemeinden diesen Worten die Wirklichkeit folgen ließen, wären sie buchstäblich der Lebensort für Menschen mit und ohne Behinderung. Theodor W. Adorno hatte davon gesprochen, der bessere Zustand sei einer, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann“.70 In Ulrich Bachs Realutopie der Kirche würde diese Vision ergänzt: Gemeinde verwirklicht sich als eine Gemeinschaft der je Verschiedenen, die sich mit ihren Gaben und Einschränkungen gleich achten und brauchen. (2) Diakonie ist deshalb kein beiläufiger Aspekt von Kirche, sondern ihre eigentliche Daseinsform. „Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat“ (1Petr 4,10) ist ihr Lebensmotto.71 Deshalb ist Diakonie noch vor der Etablierung Diakonischer Werke, Dienste und Ämter „ein Wesensmerkmal jedes Christenlebens“.72 Das „Priestertum aller Gläubigen“ umfasst nicht nur die Mündigkeit zum Wort, sondern ebenso die Anstiftung zur Tat.73 Die Kirche lebt im und aus dem Wort. Zugleich gilt aber auch: „Diakonie ist die Lebensweise der Kirche“.74 Es kann nicht überraschen, dass Bach einer Auffassung opponiert, nach der Diakonie eine Sozialarbeit in kirchlicher Trägerschaft ist.75 Dienen in der Nachfolge Christi muss für ihn radikaler ansetzen: bei Christus selbst.76 Sie hat sich deshalb als diaconia crucis77 zu verstehen; als christozentrische Diakonie.78 Sie hat ernst zu machen mit dem Ja-Wort Gottes in Jesus Chris————— 68

Bach, Das annehmen, was Gott will, 32. Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde, vgl. Bach, Getrenntes wird versöhnt, 31. 70 Adorno, Minima Moralia, GS 4, 114. 71 Vgl. Bach, Die diakonische Kirche als Freiraum für uns alle, 203. 72 So der Titel der Auseinandersetzung mit Paul Philippi: Diakonie – ein Wesensmerkmal jedes Christenlebens, in: Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein, 64. 73 Vgl. dazu ebd., 65. 74 Bach, Das annehmen, was Gott will, 28. 75 Bach, Der behinderte Mensch als Thema der Theologie, 124. 76 Vgl. Bach, Hinwendung zu den Schwachen ist nicht Schwächlichkeit, in: ders., Kraft, 59: „Worauf es ankommen wird: daß unsere Diakonie bei Jesus in die Schule geht.“ 77 Bach, „Gnädig geordnet“: Auch wenn ich behindert bin?, 44. 78 Bach, Das annehmen, was Gott will, 30 69

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tus, das allen gilt. Deshalb darf es in ihr kein „oben“ und kein „unten“ geben, keine Trennung in „Therapeuten“ und „Patienten“, keine Unterscheidung von starken Helfern und schwachen Hilfsbedürftigen. „Typisch für Diakonie ist nicht das ‚Für‘ – ich tu was für den anderen, der eine ist Subjekt, der andere Objekt (Diakonie als Einbahnstraße). Typisch für Diakonie ist vielmehr das ‚Mit‘ – wir schlagen uns miteinander durch (Diakonie der Wechselseitigkeit).“79 Eine Diakonie in der Nachfolge Christi sähe sich nicht länger als Gegenüber zu den Notleidenden, den Behinderten, Kranken oder Hungrigen. Die „geringsten Brüder“ im Sinne der magna charta der Diakonie (Mt 25,40) sind die Christinnen selbst, nicht die anderen. „Von Hause sind wir Christen arm und hungrig, frierend, krank und gefangen.“80 Nur diejenigen, die sich selbst als imperfekte Menschen annehmen, verkennen sich nicht als die starken Helfer und können sich auch von anderen bereichern lassen. Diakonie als Patienten-Kollektiv. Nur in einer solchen Gemeinschaft von Menschen, die gegenseitig halten, ist die Integration von Menschen mit Behinderung mehr als eine Anpassung an die nichtbehinderte Majorität. In ihr wäre es möglich, wechselseitig voneinander zu lernen. In ihr würden Menschen mit Behinderung merken: „Hier packen Menschen die gleiche Aufgabe an, vor die ich mich täglich gestellt sehe“.81 Zu einer christozentrischen Diakonie gehört für Bach schließlich auch, dass sie sich nicht selbst soteriologisch verkennt. „‚Das‘ Diakonische entsteht nicht dadurch, daß wir uns ‚Jesu Hände‘ nennen (lassen) oder Operation und Training in die Nähe des Reiches Gottes rücken.“82 Die diakonische Kirche ist für Bach keine „heilende Gemeinde“, ausgestattet mit einem Heilungsauftrag. Vielmehr plädiert er für eine „Diakonie ohne religiösen Mehrwert“,83 d.h. ohne soteriologische Konnotationen der diakonischen Praxis. Da Mt 25 als klassische „magna charta“ der Diakonie mit dem Missverständnis der starken Helfer belastet sei, bevorzugt Bach die „Goldene Regel“ als Grundtext der Diakonie: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Mt 7,12). Gefordert wäre demnach nichts anderes als ein Perspektivenwechsel. Gefordert wäre, gedanklich die Rollen zu tauschen: was würde ich wollen, wäre ich an der Stelle des anderen: der blinden Frau, des Rollstuhlfahrers, des geistig behinderten Kindes? Diakonie sollte nicht länger das Signum der Stärke im Wappen führen. Wo sie stattdessen den Mut findet, sich selbst als behinder————— 79

Ebd., 28. Bach, Die Kirche Jesu Christi als die Kirche der geringsten Brüder, in: ders., Dem Traum entsagen, 83. 81 Bach, Die diakonische Kirche als Freiraum für uns alle, 204. 82 Bach, Plädoyer für eine Diakonie ohne religiösen Mehrwert, 164. 83 Ebd., 159. 80

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te Diakonie84 zu bekennen, dort entsteht etwas Zentrales: „ein nüchternes Miteinander von Solidarität, Bescheidenheit und mutiger Ungesichertheit, in welchem wir mit unseren ‚Klienten‘ gemeinsam zu Bittstellern werden“.85

2.6 „Hauptsache gesund“. Über Gesundheitsideologie und Euthanasiementalität in Gesellschaft und Kirche. Das Anliegen der Theologie besteht nach Karl Barth darin, „sich durch die Bibel belehren zu lassen“ und „den unversöhnlichen Gegensatz des ‚Christentums‘ […] zu aller menschlichen Kultur und Unkultur“86 aufzudecken. Barths theologischem Einspruch gegen das Bestehende steht noch der Schrecken des Ersten Weltkriegs ins Gesicht geschrieben. Aber er erschöpft sich nicht in diesem Zeitbezug. Barth hat der Theologie das Gewissen geschärft. Seine Warnung vor einem religiösen Schulterschluss mit der Gesellschaft hat Krieg und Katastrophen, Totalitarismus und Diktaturen überdauert. Bei Ulrich Bach ist diese Warnung angekommen. Sein theologisches Denken lebt aus der Auseinandersetzung mit den aktuellen Götzen; sein Einspruch gilt den gegenwärtigen Ideologien. Aber ihr Grundakkord bleibt der gleiche: die Theologie darf sich kein „möglichst passendes Reden von Gott zurechtbasteln, sondern muß vom Gott der Bibel her denken und reden“.87 Die Theologie muss also das gedanklich nachvollziehen, was sich ihr im Offenbarungshandeln Gottes erschlossen hat. Deshalb gilt es für sie, Farbe zu bekennen und sich nicht dem Zeitgeist anzubiedern. Wer zuerst vom Gott der Bibel her denkt, wird möglicherweise nicht allzu gut über die aktuellen Trends denken. Bachs Theologie des Wortes Gottes sieht sich genötigt, der allgemeinen Konversation ins Wort zu fallen. (1) Im gesellschaftlichen Gespräch, so Bachs Diagnose, haben Menschen mit Behinderung kaum eine Stimme. Über ihre Köpfe wird hinweggeredet. Tendenziell werden sie sogar mundtot gemacht. Mehr oder weniger bewusst. Behinderung scheint viele Menschen an etwas zu erinnern, was sie nicht an sich heranlassen können und deshalb zwanghaft verdrängen. Sie müssten sich sonst der Einsicht öffnen, dass zentrale Inhalte der public ————— 84

Vgl. Bach, Mut zu einer behinderten Diakonie, in: ders., Ich bin einmalig – du auch, 130. Ebd., 143. 86 Barth, Der Römerbrief, 433. 87 Bach, „Christus macht aus unglücklichen und stolzen Göttern wahre Menschen“, in, ders., Dem Traum entsagen, 97; vgl. auch ebd., 167: „Theologie muß zuerst von Gott reden, dann erst von uns und unserem Verhalten. Wir kennen alle die halbherzige Theologie, die es andersherum versucht.“ 85

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opinion haltlos und diskriminierend sind: das Besitz-, das Schönheits- und das Gesundheitsdenken. Diese Leitbilder stehen im Hintergrund des gesellschaftlichen Dialogs. Alle drei falsch und fatal. In unserer Gesellschaft sei, so Bach, der Besitz, weit über das grundgesetzlich geschützte Eigentum hinaus, zur zentralen Kategorie geworden. In ihr gelte auf universale Weise: „Hast du was, bist du was“.88 Das, was vorund nachgewiesen werden kann, trägt entscheidend zur Wertschätzung von Personen bei: Besitz, Ansehen, Zeugnisse, Leistungen. Für Menschen mit Behinderung ist dieses Besitzaxiom diskriminierend. Denn dort, wo es vorausgesetzt wird, „muß natürlich derjenige den kürzeren ziehen, der jeden Morgen eineinhalb Stunden zum Aufstehen benötigt; ebenso der, aus dessen Zeugnissen hervorgeht, daß er nach acht Jahren Schulbesuch aus der vierten Klasse einer Sonderschule entlassen wurde […]; ebenso derjenige, der jetzt endlich auch einen Zweitwagen hat, nämlich einen zweiten Rollstuhl“.89 Das Besitzaxiom ist allerdings nicht nur – wie Bach im Anschluss an Heinrich Böll formuliert – eine „Sozialzote“.90 Es ist auch ein anthropologischer Kalauer. Denn auch am Menschenbild wird dasjenige schärfer konturiert, was der Mensch hat: Rationalität, aufrechter Gang, Entscheidungsfähigkeit usw. „Ich denke, also bin ich“ – und wenn jemand nicht bis drei zählen kann? Zum Menschsein gehört der aufrechte Gang – und wenn jemand dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen ist? Stets, so konstatiert Bach, orientieren sich die Beschreibungen an dem, was der Mensch hat, an seinem anthropologischen Besitz. Wer sich in seinem Reden vom Menschen aber nur auf das konzentriert, „was man bei ihm feststellen kann“ und „wessen man bei ihm hab-haft werden kann“, der „redet nur von einem Teil der Menschen, nur von den Stärkeren“. „Die Habenichtse bleiben wieder einmal außen vor“. Wer so spricht, „redet […] asozial“.91 Neben dem Besitz- steht das Schönheitsaxiom. Es drückt sich in alltäglichen Redewendungen aus. „Die Welt ist schön“ lautet ein populäres Bekenntnis. Und wer hier noch zögert, kann sich vielleicht zum Futur bekennen: „Die Welt wird schön“.92 Was aber, wenn nicht alles schön ist? Was wird mit den Dissonanzen in den großen harmonischen Melodiebögen? Auch hier gilt für Bach erneut: wessen Credo allein die ungetrübte Schönheit der Welt – ihre gegenwärtige oder künftige – ist, der wird kaum Defizi—————

88 Bach, Drängen wir die Behinderten geistig ins Getto?, in: ders., Boden unter den Füßen hat keiner, 104. 89 Ebd. 90 Ebd. [Hervorhebung von mir; U.L.]. 91 Bach, Bausteine für ein theologisches Nachdenken über Menschenbild und Menschenwürde, 62. 92 Bach, Drängen wir die Behinderten geistig ins Getto?, 106.

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te und Gefährdungen, Krankheiten und Behinderungen sehen und annehmen. Erneut wird über die Köpfe, über die Lebenssituation gehandicapter Menschen hinweg gesprochen. Erneut bleiben sie außen vor. Bleibt der dritte glamouröse Irrtum: das Gesundheitsaxiom. Sein Schibboleth ist der Satz „Hauptsache gesund“. Und wenn diese Hauptsache einmal fehlt? Wenn dauerhaft keine Heilung in Sicht ist? Auch dieses Credo des common sense reißt Gräben auf. Mehr noch: es verführt zu gefährlichen anthropologischen Mutmaßungen. „Denn wenn wirklich die Gesundheit die Hauptsache ist, dann ist ein Mensch, dem die Gesundheit fehlt, ein Mensch, dem die Hauptsache fehlt: ist er eigentlich noch ein Mensch?“93 Das Gesundheitscredo bringt damit die Anthropologie ins Schlingern. Denn dort, wo die Gesundheit das Selbstverständliche ist, dort gelten Krankheit und Behinderung als Ausnahme und deren Repräsentanten werden schnell „herausgenommen“, anders gesagt: abgeschoben. Im Windschatten des Gesundheitsaxioms fährt die soziale Desintegration. Was wunder, dass sich dies auch in den Köpfen, in den Menschenbildern niederschlägt. Ohne die „Hauptsache“, so legt das Gesundheitsaxiom nahe, verfehlt das Menschsein seine Eigentlichkeit. Ist es dann überhaupt noch lebens-wert? Ulrich Bachs Befürchtung lautet: Der „Spruch ‚Hauptsache gesund!‘ bahnt […] der Euthanasie den Weg“. In ihm „kultivieren wir […] eine Euthanasie-Mentalität“,94 die einer Praxis der Tötung kaum noch Widerstand entgegensetzen könnte. Die Gesellschaft ist demnach im Begriff, eine „schöne neue Welt“ zu schaffen, eine Oligarchie der Leistungsstarken und Gesunden. Schwache, kranke und behinderte Menschen haben in dieser civitas der Makellosen nur ein eingeschränktes Bürgerrecht. Diese „brave new world“ ist in Wirklichkeit ein System der Apartheid, eine Diktatur des Gesundheitswahns. (2) Dieser Geist der Gesellschaft hat nach Ulrich Bachs Einschätzung mittlerweile selbst auf Christinnen übergegriffen. Auch Kirche und Theologie seien ebenso gesundheitstrunken wie behinderungsvergessen. Bach konstatiert ein Versagen der allermeisten theologischen Entwürfe vor der Aufgabe, für Menschen mit Behinderung Brücken statt Stufen zu bauen. Seit etwa 1983 spricht er deshalb pointiert von „theologischem Sozialrassismus“,95 später von „Apartheidtheologie“.96 Ich will Bachs theologische Theologiekritik an den zentralen dogmatischen Themenfeldern erläutern. In der Schöpfungslehre wird häufig nur das Makellose der guten Schöpfung Gottes zugerechnet. Gesundheit und Nichtbehinderung gilt als der ————— 93 94 95 96

Bach, Hauptsache gesund?, 5. Ebd., 6. Vgl. Bach, Durch Theologie behindert?, 335. Bach, Die Wunderheilungen nach Markus 1 u. 2, in: ders., Getrenntes wird versöhnt, 54.

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Normalfall, als das Selbstverständliche. Behinderung wird unter diesen Voraussetzungen leicht als „Schöpfungspanne“97 bewertet. So hat etwa Jürgen Seim in einem Beitrag zum „Jahr der Behinderten“ 1980 davon gesprochen, die Kompetenz und Wahrheit Jesu zeige sich „in seiner Zuwendung zu denen, die die Beschädigungen oder Defizite der Schöpfung Gottes erleiden und dabei offenlegen“.98 Behinderung wird hier als beschädigte und defizitäre Schöpfung angesehen. Weniger unverblümt komme ein ähnlicher Denkzusammenhang in der Gemeinsamen Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Gott ist ein Freund des Lebens“ von 1990 zum Ausdruck. Obwohl in dieser Erklärung die „unverlierbare Würde“ auch des „durch Krankheit, Behinderung oder Tod gezeichneten Leben[s]“99 festgehalten und vieles zur Integration von Menschen mit Behinderung gesagt wird, finde sich gleichwohl eine Passage, in der sich das gleiche fatale Schöpfungsverständnis ausspricht. Im Zusammenhang der Theodizeefrage heißt es: „Gott will auch den Behinderten, er will nicht die Behinderung“.100 Ulrich Bach wendet ein: Mag es für leichter behinderte Menschen noch nachvollziehbar sein, sich selbst als Person von ihrer Behinderung zu unterscheiden. Für einen schwerstmehrfachbehinderten Menschen ist dieser Satz dagegen „eine völlig nichtssagende Abstraktion. Denn wenn Gott wirklich ‚nein‘ sagt zu seiner Behinderung, dann sagt Gott ‚nein‘ zu der Art, wie er Nahrung aufnimmt, wie er mit seinen Mitmenschen kommuniziert“ usw. „Gott sagt ständig ‚nein‘ zu den Einzelaktionen, zu (fast) sämtlichen Stücken dieser erlebten Wirklichkeit. Wer kann da noch glauben, daß Gott aber ‚ja‘ sagt zu diesem Menschen, zu seinem einmaligen Leben?“101 Auch hinter einer gut gemeinten Formulierung kann sich nach Bach also Apartheidsdenken verbergen. Wäre die Theologie eigentlich, so fragt er anderenorts, auch bereit, den komplementären Satz mitzusprechen: „Gott will auch den Gesunden, er will nicht die Gesundheit“.102 Nur gleiche Sätze über Menschen mit und ohne Behinderung könnten mit dem Sozialrassismus brechen. In der Gotteslehre wirkt sich der Denkfehler nach Bach darin aus, die Verborgenheit Gottes mit Leid, Krankheit und Behinderung, seine Offenbarung dagegen mit Gesundheit und Glück in Verbindung zu bringen. Da ich ————— 97

Bach, Option für die Einheit des Gottes-Volkes, 88. Seim, Behindertsein als Menschsein, 350; Vgl. Bachs Auseinandersetzung mit Seim in: ders., Der behinderte Mensch als Thema der Theologie, 130. 99 Kirchenamt der EKD/Sekretariat der DBK (Hg.), Gott ist ein Freund des Lebens, 46 [Hinzufügung von mir; U.L.]. 100 Ebd., 94. 101 Bach, Die Wunderheilungen nach Markus 1 und 2, 47f. 102 Bach, Mit behinderten Menschen das Evangelium neu entdecken, 118. 98

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auf die Auseinandersetzung mit Wilfried Joest bereits an früherer Stelle eingegangen bin, genügt es, an diesen Zusammenhang hier zu erinnern.103 Gravierend kommt die Behinderungsvergessenheit erneut in der Christologie und in der Soteriologie zum Tragen. In der Deutung der Person und des Werkes Jesu geht es vor allem um den Zusammenhang von Heil und Heilung. Gehören die körperlichen Heilungen in gleicher Weise zum Auftrag Jesu wie die Verkündigung des nahe kommenden Reiches Gottes? Kommen Menschen durch Heilung zum Heil? Hat Jesus in analoger Weise gegen Besessenheit wie gegen Krankheit gekämpft? Das sind die in Frage stehenden Themen. Ulrich Bach hört erneut auf prägende Stimmen aus dem Chor der Theologie. Sein Resümee: Überall ist „das gleiche Lied“ zu hören: „Jesus hat bei seinen Krankenheilungen einen Kampf gegen widergöttliche Mächte geführt; so wie er uns freimachen wollte von der Macht der Sünde, so auch von der Macht der Krankheit; die Heilung von der Krankheit bedeutet somit einen Teil der Erlösung, die er uns brachte.“104 So spricht beispielsweise Wilfried Joest davon, Jesus habe gegen das Leiden als Feind Gottes gekämpft. Sein Heilen sei von seiner Verkündigung unablösbar.105 Auch Manfed Josuttis sieht Gott als Feind der Krankheit, weil Gott ein Freund der Menschen sei und verweist auf den Arzt Jesus, der Menschen nach dem neutestamentlichen Zeugnis aus der Krankheit herausgeholt habe.106 Es ließen sich noch mehr Belege aus dieser „Wolke der Zeugen“ beibringen.107 Was aber, wenn ein Mensch dagegenhält: ich aber wurde nicht geheilt? Was, wenn Behinderung oder Krankheit die eigene und zwar dauerhafte Lebensbedingung sind? Die Botschaft für Menschen mit Behinderung, so Ulrich Bach, ist eindeutig. Sie bekommen in dem Moment, in dem sie ihre eigene Lebenssituation anzunehmen versuchen „mit der Wucht biblischer Autorität gesagt: Das, was dein Leben erschwert […] ist ‚das Ungöttliche‘“.108 Behinderung gerät in den Verdacht, etwas Dämonisches zu sein. Und Menschen mit einer Behinderung bleiben erneut anthropologisch „draußen vor der Tür“. „Es gibt zwei ‚Sorten‘ von Menschen: die einen sind so, wie Gott sie will; die anderen sind so, wie Gott sie nicht will.“109 Für diese Art einer getrennten Anthropologie reserviert Bach erneut den Begriff des Apartheidsdenkens. ————— 103

Vgl. Abschnitt 2.3 in diesem Kapitel. Bach, Die Wunderheilungen nach Markus 1 und 2, 42. 105 Vgl. Joest, Die Allmacht Gottes und das Leiden der Menschen, 150: Jesus „hat im Leiden die Macht des die Menschen knechtenden Feindes Gottes erkannt. Er ergrimmt über diese Macht. Er kämpft gegen das Leiden – sein Heilen ist von seiner Verkündigung unablösbar.“ 106 Josuttis, Der Sinn der Krankheit, 128f, vgl. Bach, Hände weg von einer „Ethik der Annahme“, in: ders., Getrenntes wird versöhnt, 136. 107 Vgl. auch Bach, „Heilende Gemeinde“? Versuch, einen Trend zu korrigieren, 25–39. 108 Bach, Die Wunderheilungen nach Markus 1 und 2, 44. 109 Bach, Hauptsache gesund?, 7. 104

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In der Christologie werden offenbar die Weichen gestellt. Ulrich Bach hat deshalb besonderes Augenmerk darauf verwandt, wie die biblischen Texte selbst die Person und Praxis Jesu beschreiben. Die Wunderberichte insbesondere. In immer wieder neuen Anläufen hat er sich mit einer Vielzahl neutestamentlicher Wundertexte auseinandergesetzt.110 Hatte Jesus wirklich einen Heilungsauftrag? Hat er in gleicher Weise gegen Krankheiten wie gegen Dämonen gekämpft? In der Perikope vom Auftreten in Kapernaum (Mk 1,21–34) erkennt Bach wichtige Differenzen. Markus erzählt zunächst von einem Vorkommnis in der Synagoge. Jesus lehrt. Die Menschen entsetzen sich über seine Lehre in Vollmacht (V. 22). Da schreit einer, der von einem unreinen Geist besessen ist: „Was willst du von uns, Jesus von Nazareth? Du bist gekommen, uns zu vernichten. Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes“ (V. 24). Was nun folgt, so schließt Ulrich Bach an, „ist ein Machtkampf […], hier stoßen zwei Mächte frontal aufeinander […]. Jesus kämpft. Jesus kämpft nieder. […] hier kann er nur siegen oder untergehen.“111 Jesus hat tatsächlich gegen die Dämonen gekämpft. Das gehört zu seiner Sendung, zu seinem Auftrag. Und gegen Krankheiten? Gleich im Anschluss an das Vorkommnis in der Synagoge erzählt Markus von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (V. 29–31). Diese Begegnung folgt einer völlig anderen Dramaturgie. Einer leisen. Keine Kampfesstimmung herrscht hier, kein Geschrei. Jesus heilt die fiebernde Frau. Aber völlig undramatisch. Eher aus „Gefälligkeit“,112 keineswegs weil hier seine Person oder sein Auftrag auf dem Spiel stünden. Keinesfalls geht es hier um einen „Etappensieg, den Jesus bei seiner Reich-Gottes-Arbeit […] erkämpfte“.113 Jesus, der Arzt und Jesus, der Exorzist sind offenbar streng zu unterscheiden. Während es bei der Besessenheit tatsächlich um das Wirken gegengöttlicher Kräfte geht, ist davon niemals im Zusammenhang von Krankheit die Rede. Während die Dämonenaustreibung tatsächlich zum Auftrag Jesu gehört, gilt dies von der Krankenheilung nicht. Von der Christologie her klärt sich deshalb auch die soteriologische Frage: Heilung und Heil sind streng zu unterscheiden. Bach macht dies an der Perikope von der Heilung des Gelähmten, Mk 2,1–12 deutlich. Als der gelähmte Mann durch das Dach des Hauses zu Jesus herabgelassen worden ist, sagt Jesus zu ihm: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben“ (V. 5). Damit, so Bach, hat sich die Hauptsache bereits ereignet. Im Grunde könnte —————

110 Vgl. die Reflexionen Bachs zu Mt 11,2–6 in: ders., Boden unter den Füßen hat keiner, 159–162; Mk 1,21–2,17 in: ders., Getrenntes wird versöhnt, 40–118, „Heilende Gemeinde“?, 355– 359, Hauptsache gesund?, 9–12; Mk 9,14–29 in: Gottes Heil und unser europäisches ApartheidsDenken, 141–157, Joh 9,1–41 in: ders., Dem Traum entsagen, 137–157. 111 Bach, Die Wunderheilungen nach Markus 1 und 2, 79. 112 Ebd., 80. 113 Ebd.

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die Erzählung hier schließen. „Das Hilfehandeln Jesu zugunsten dieses Menschen [ist] beendet“.114 Der Gelähmte hat, was er unbedingt braucht: Gottes Heil. Wenn Markus gleichwohl an dieser Stelle keinen Punkt setzt, sondern weitererzählt, so hat dies etwas mit den ungläubigen Zuhörern zu tun. Nicht der gelähmte Mann, sondern „die Schriftgelehrten haben etwas nötig“.115 Deshalb, nur deshalb heilt Jesus den Gelähmten nun auch und lässt ihn sein Bett nehmen und heimgehen (V. 11f). „Eindeutig ist […]: Bei der Heilung dieses Gelähmten ging es […] um einen Mangel der Schriftgelehrten und nicht um den des Gelähmten.“116 Heil und Heilung sind demnach nicht zu vermischen, sondern streng zu unterscheiden. Genau diese Differenz wird aber – nach Bachs Überzeugung – von der gängigen Theologie meistenteils eingezogen. Das gilt über die Christologie und Soteriologie hinaus auch von der Ekklesiologie. In ihr sei die Rede vom Heilungsauftrag der Kirche durchaus en vogue. So heißt es beispielsweise in den Orientierungshilfen der „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen“ in Baden-Württemberg über „Die Sendung der Kirche: Heil und Heilung“: „Wie Jesus geheilt hat, so hat er auch seine Jünger zum Heilen beauftragt. Somit ist der heilende Dienst in der Kraft des Heiligen Geistes auch Bestandteil des Zeugnisses der Kirchen vom Anbruch des Reiches Gottes in der Welt.“117 Diese Behauptung hält Bach für ebenso unbiblisch wie unheilvoll. Nicht Schriftgemäß sei sie, weil sich aus den biblischen Schlüsseltexten keineswegs ein solcher Auftrag ableiten lasse.118 Verhängnisvoll wirke sich die These vom Heilungsauftrag auf die Verkündigung und Praxis der Kirche aus. Sie spalte und diskriminiere. Denn: kranke und behinderte Menschen werden zu exemplarischen Repräsentanten der alten, sündigen, ungläubigen Welt. Ihre Heilung wiederum markiert – in einer Formulierung Oswald Bayers – „die Wende von der alten zur neuen Welt, von der gefallenen zur erlösten Welt, vom Unglauben zum Glauben“.119 Eine elementare theologische Diskriminierung. Für die Betroffenen legt sich die Sichtweise nahe: „ich bin so dran, wie es nach Gottes Willen nicht sein soll; die Behebung meiner Behinderung ist Gott so wichtig wie die Behebung des Unglaubens der Heiden“.120 Die Wirkung dieser diskriminierenden Zuschreibung wird verstärkt durch die Erfahrung ausbleibender Heilung. Vor dem ————— 114

Bach, Hauptsache gesund?, 11. Ebd., 12. 116 Ebd. 117 zitiert nach: Bach, Wie lange noch wollen wir fliehen? 392. 118 Vgl. Bach, Wie lange noch wollen wir fliehen?, 393 zu Mk 16,15–20; Mt 10,8, 1Kor 12,9 und Apg 3. Vgl. weiterhin zum sog. „Heilungsauftrag“ in: ders., „Heilende Gemeinde“?, 17–24; 29–35; 54–56. 119 Bayer, Tu dich auf!, 330, zit. nach: Bach, „Heilende Gemeinde“?, 38. 120 Bach, Wie lange noch wollen wir fliehen?, 395. 115

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Hintergrund dieser Erfahrung lege sich für die Betroffenen der Schluss nahe: „ich [bin] wohl ein besonders krasser Fall“.121 Eine Kirche, so resümiert Bach, die an der verhängnisvollen These vom Heilungsauftrag festhält, desavouiere ihren Predigtauftrag. Sie spalte, obwohl ihre Botschaft die der Versöhnung ist. Sie diskriminiere, obwohl ihre Predigt von der Gleichheit aller Menschen vor Gott spricht. Eine solche Kirche sei realitätsflüchtig und evangeliumsvergessen. Sie „biedert sich […] in einer gesundheitstrunkenen Welt auf Kosten der Schwächsten mühelos der überwiegenden Mehrheit an“.122 Dieses Versagen wirke sich nicht nur in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Verkündigung und der diakonischen Praxis verhängnisvoll aus. Theologie und Kirche versäumten es überdies, ihre eigene Geschichte kritisch aufzuarbeiten. Immerhin ließe es sich vielfach belegen, dass „Vertreter der Diakonie (ca. 1928–1940) sich positiv zur Sterilisierung und nicht hartnäckig gegen die Euthanasie geäußert haben“.123 Selbst ein Protestschreiben wie die Denkschrift Pfarrer Paul Gerhard Braunes sei nicht frei von diskriminierenden Gedanken.124 Darüber hinaus fehle bis dato ein umfassendes kirchliches Schuldbekenntnis im Blick auf die Euthanasie. Eine „Theologie nach Auschwitz“ existiert. Eine „Theologie nach Hadamar“ stellt noch immer ein Desiderat dar.125 Eine Theologie aber, die ihre Vergangenheit nicht kritisch in den Blick nimmt, wird schnell gegenwartsblind. Eine Kirche, die über ihr Versagen hinwegsieht, übersieht auch die Zeichen der Zeit. Genau das aber ist nach Bach die aktuelle Herausforderung: gesellschaftlichen Tendenzen entgegenzutreten, die Menschen mit Behinderung erneut in die zweite Reihe stellen. Bach nennt die Praxis der pränatalen Diagnostik, die rasante Entwicklung der Biomedizin, die sog. Bioethik-Konvention und nicht zuletzt die durch Peter Singer ausgelöste Diskussion um das Lebensrecht schwerstbehinderter Säuglinge.126 In Bezug auf diese Entwicklungen sei eine klare theologische Positionierung erforderlich. „Wenn wir im Blick auf Schwerstbehinderte die These vertreten, Gott wolle nicht, daß Menschen so leben, kann man uns doch kaum unsere Entrüstung darüber glau————— 121

Ebd. Ebd., 397. 123 Bach, Theologie nach Hadamar als Theologie der Befreiung, 169. 124 Ebd., 169f. 125 Vgl. Bach, „Heilende Gemeinde“?, 360: „Wie wir eine Theologie nach dem Holocaust, nach Auschwitz, brauchen, so ebenfalls eine Theologie nach der Euthanasie, eine Theologie nach Hadamar.“ Ebenso: ders., Theologie nach Hadamar als Theologie der Befreiung. 126 Vgl. Bach, Droht uns die totale Medizin?, 2–5, 8–15; ders., „Heilende Gemeinde“?, 360; ders., Mit behinderten Menschen das Evangelium neu entdecken, 122; ders., Mit Essen spielt man nicht, 290f; ders., Skandalöses Urteil, 200–201; ders., Das Lebensrecht der kleinen Leute, 195f; 122

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ben, daß bestimmte Gruppen sagen: und wir wollen nicht, daß so Menschen leben.“127 Bach konstatiert mithin ein weitgehendes Versagen wichtiger Teile der theologischen Theoriebildung wie der kirchlichen Praxis. Wohl gebe es gegenläufige Tendenzen. Über sie wird noch zu reden sein. Gleichwohl gilt es für Bach, die traurige Wahrheit auszusprechen: „Durch unsere Theologie sind wir teilweise sogar noch ‚barbarischer geworden‘.“128

2.7 „Kontextuelle Theologie“ als „Theologie der Befreiung“ für Menschen mit und ohne Behinderung „Was ist gute Theologie?“. Unter dieser Fragestellung haben in den „zeitzeichen“ ab 2003 zahlreiche Theologinnen das Profil eines angemessenen Selbstverständnisses von Theologie skizziert.129 Ulrich Bach hat in seiner umfangreichen Auseinandersetzung nicht nur deutlich gemacht, was für ihn „schlechte Theologie“ ist: Gesundheitstheologie, theologischer Sozialrassismus oder Apartheidtheologie. Er hat regelmäßig auch deutlich gemacht, welche Gestalt eine „gute Theologie“ – und das heißt für ihn: eine biblische und christozentrische Theologie haben müsste. Einige Aspekte sind in den zurückliegenden Abschnitten bereits angeklungen. An vier Stichworten will ich abschließend deutlich machen, was für Ulrich Bach eine „gute Theologie“ ausmachen würde: (1) Theologie hat sich als eine „Theologie nach Hadamar“130 zu verstehen und als solche ihren eigenen Anteil an der Vernichtung des sog. „lebensunwerten Lebens“ aufarbeiten. Anknüpfend an das Bemühen, im Rahmen einer „Theologie nach Auschwitz“ die Auseinandersetzung mit der fatalen Tradition des theologischen Antisemitismus zu führen, konstatiert Bach, dass ein analoges Engagement in Bezug auf die Euthanasieverbrechen weithin fehlt. Mit dem Begriff einer „Theologie nach Hadamar“ sucht Bach diese beschämende Lücke zu füllen. Im Rahmen einer solchen selbstkritischen Theologie müssten einerseits die tieferen, theologischen Wurzeln des Versagens von Kirche und Diakonie reflektiert werden. Andererseits sind zugleich auch alle Tendenzen der Gesundheitsvergottung und damit jeder Gesundheitstheologie zu kritisieren. „Die Intensität, mit der in den kommenden Jahren unsere Theologie das Thema ‚Hadamar‘ aufgreift […], ————— 127

Bach, „Heilende Gemeinde“?, 360. Bach, Theologie nach Hadamar, 180; vgl. auch ders., „Gesunde und Behinderte“, 9–13; ders., Durch Theologie behindert?, 335–338. 129 Vgl. Huber (Hg.), Was ist gute Theologie? 130 Vgl. zum Folgenden bes.: Bach, Theologie nach Hadamar als Theologie der Befreiung. 128

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ist ein Indiz dafür, ob sie wirklich dabei ist, sich vom Antijudaismus zu befreien“.131 (2) Eine „gute Theologie“ hat sich darüber hinaus auch als eine Theologie der Befreiung für Menschen mit und ohne Behinderung zu verstehen.132 Als eine Theologie, die die „Freiheit der Kinder Gottes“ reflektiert, hat sie bei den „konkreten gesellschaftlichen Bindungen, Versklavungen, Lebenserschwernissen“133 einzusetzen, von denen das jeweilige gesellschaftliche Umfeld geprägt ist. Sie nimmt dabei notwendig den Charakter einer kontextuellen Theologie an. Gefangenschaft und Knechtschaft prägen aber – in jeweils spezifischer Weise – nicht nur die Lebensverhältnisse in den sog. Ländern der Peripherie. Es gilt sie auch in unserem gesellschaftlichen Umfeld wahrzunehmen und zu bedenken. Sie gehen beispielsweise von der verbreiteten Diktatur der „Gesundheit“ und der „Leistung“ aus. Von ihnen werden Menschen mit Behinderung, sog. Leistungsschwache und Kerngesunde gleichermaßen gefangen gehalten, indem generell nur diejenigen etwas gelten, die etwas leisten können. Gegenüber diesen modernen Formen der Versklavung hat die Theologie die Botschaft des befreienden Christus auszurichten. Sie lautet: „‚Du bist unendlich wertvoll, weil Gott in Christus unwiderruflich ‚ja‘ zu dir gesagt hat‘“. Dieser befreiende Satz, so Bach, „ist aufhelfende Medizin für denjenigen, der dachte, durch Blindheit oder Anfall-Leiden habe er eigentlich keinen ‚Wert‘“. Ebenso sei er aber auch eine „Krampf-Lösende Medizin für den, der meinte, er müsse durch Gesund-Bleiben und Höchstleistungen ständig den ‚Wert‘ seines Lebens selber besorgen.“134 Eine Theologie der Befreiung hat mithin die Rechtfertigungslehre als die Freiheit und Befreiung von den modernen Formen der Versklavung zur Geltung zu bringen. (3) Die Theologie hat darüber hinaus ihren traditionellen Sitzplatz auf der „Tribüne“ zu räumen, auf der sie Platz genommen und als Zuschauer ein distanziertes Beobachtungsverhältnis zu den Geschehnissen des Lebens eingenommen hatte. Theologie hat sich stattdessen als „Arena-Theologie“ zu verstehen, d.h. sie hat sich dem Leben auszusetzen, seiner rauhen Wirklichkeit und den durch sie provozierten (Über)Lebensfragen. An den Themen „Satisfaktionslehre“ und „Theodizee“ macht Bach auf die Gefahren einer abstrahierenden Theologie aufmerksam, die sich aufmacht, die Arena zu überblicken. Eine philosophische „Theodizee“ verfälsche Gott. Weiterhelfen könne stattdessen lediglich „eine klare Option für den Arena-Gott“, der biblisch als der Gott der Inkarnation verstanden werde: „Gott wurde ————— 131 132 133 134

Bach, ebd., 172. Vgl. bes.: Bach, „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“; ders., Wer hat Angst vor Frau N.? Bach, „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, 478. Ebd., 480.

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Fleisch, er nahm Knechtsgestalt an. Auf der Tribüne mögen Jupiter und das höchste Wesen Platz genommen haben; der Gott der Bibel ist in der Arena zu finden: er wurde Mensch, lag im Futtertrog, starb am Kreuz.“135 Die Theologie hat also, statt auf der Zuschauertribüne zu sitzen, ihren Platz dort einzunehmen, wo Jesus steht: auf der Seite der Gefolterten. (4) Eine solche Theologie, die mit der Inkarnation Gottes ernst macht, muss sich nach Bach zugleich auch als eine eben-erdige Theologie begreifen. Sie setzt sich nicht nur für barrierefreies Bauen, sondern auch für eine barrierefreie Theologie ein. Erneut bringt Bach an dieser Stelle die Rechtfertigungslehre zur Geltung. An Luthers Kreuzestheologie macht Bach zentrale Aspekte einer solchen „Theologie ohne ‚Stufencharakter‘“ deutlich, einer „Theologie, die behinderten Menschen nicht Denkhindernisse in den Weg stellt“.136 Eine solche Theologie geht nicht dem „schönen Schein“ auf den Leim: den Werken und Werten, die das Ansehen am Aussehen oder am Erfolg bemessen. Stattdessen haben bei Gott auch diejenigen Wert, an denen „keine Gestalt noch Schöne“ (Jes 53,3) ist. Eine Umkehrung der anthropologischen Werte hat statt: „Ich bin wer, allerdings. Aber nicht, […] weil ich etwas aus mich gemacht habe […], sondern weil Gott etwas aus mir gemacht hat“.137 Barrieren werden eingerissen. Jede Sondertheologie muss kapitulieren. In einer eben-erdigen Theologie begegnen sich stattdessen Menschen mit und ohne Behinderung als gleichwertige, gleichberechtigte und gleich verpflichtete Subjekte.138 Aus diesem Grund ist für Bach „eine an Luthers Schriften geschulte, am Neuen Testament ausgerichtete theologia crucis […] die ‚ebenerdigste‘ Theologie, die ich mir zur Zeit vorstellen kann“.139

2.8 „Aufrechter Gang an zwei Gehstöcken“. Kritische Würdigung Ulrich Bachs Theologie schlägt eine Glocke an. Eine, die zum Wort Gottes ruft und damit zur Sache des christlichen Glaubens. Eine Glocke aber zugleich auch, die Alarm schlägt angesichts diskriminierender Mentalitäten in Gesellschaft, Kirche und Theologie. Ihr Klang ruft somit zur Einkehr und rüttelt auf. Mit diesem Anschlag hat Bach wichtige Töne in der Theologie und der Diakoniewissenschaft anklingen lassen. Welche Gestalt eine inklusive Theologie haben kann, lässt sich an seinem Entwurf studieren. Ohne Zweifel besteht dessen Bedeutung darin, dass er vom Zentrum einer inkar————— 135 136 137 138 139

Bach, Der fröhliche Abschied von Theodizee und Sinn-Frage, 264. Bach, Kreuzes-Theologie und Behinderten-Hilfe, 221. Ebd., 222. Vgl. Bach, Option für die Einheit des Gottes-Volkes, 82. Bach, Kreuzes-Theologie und Behinderten-Hilfe, 223.

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natorischen, christozentrischen und durch die Rechtfertigungslehre belehrten Theologie aus alle zentralen theologischen Themen aufgegriffen und im Focus des gemeinschaftlichen Lebens von Menschen mit und ohne Behinderung bedacht hat. An Bachs beeindruckendem theologischem Entwurf müssen sich m.E. alle weiteren Versuche messen lassen, die theologische Anthropologie mit Blick auf die Themen „Behinderung“, „Gesundheit“, „Krankheit“, „Unvollkommenheit“, „Lebenswert“ usw. zu reflektieren. Bach hat den „aufrechten Gang an zwei Gehstöcken“140 theologisch durchbuchstabiert. Die Auseinandersetzung mit Bach könnte auf zahlreiche unterschiedliche Themen Bezug nehmen und würde dadurch leicht zu umfangreich. Deshalb konzentriere ich mich auf einige wenige Fragen, bei denen mich Bachs Konzept nicht völlig überzeugt hat. (1) Bachs Theologie ist ihrem Selbstverständnis nach Inkarnationstheologie, Kreuzestheologie und Trinitätstheologie. M.E. überdeckt aber die Theologie des Kreuzes die der Dreieinigkeit. Bach gelingt es mit dieser kreuzestheologischen Zuspitzung zwar beispielsweise, die Schöpfung vom Kreuz her zu interpretieren. Vielen anderen Dimensionen des Handelns Gottes in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung gibt Bach m.E. aber nicht genug Gewicht. So muss jedes Werk des dreieinigen Gottes trinitarisch gedeutet werden. Nicht nur der erste und dritte Artikel des Glaubensbekenntnisses sind vom zweiten her zu verstehen, sondern jeder Artikel ist als solcher und zugleich durch die beiden anderen auszulegen. Bereits für das Werk der Versöhnung kann Bach in seiner kreuzestheologischen Fokussierung nicht alle wichtigen Aspekte aufnehmen. Er hebt das priesterliche Amt Christi gegenüber seinem königlichen und prophetischen Amt heraus. Ebenso hebt er Christi Stand der Entäußerung hervor und vernachlässigt seinen Stand der Erhöhung. Ein Seitenblick auf Karl Barths Versöhnungslehre kann dies deutlich machen. In Christus wird, wie Barth in seiner Interpretation der drei Ämter Christi hervorgehoben hat, ebenso „der Herr als Knecht“ wie umgekehrt „der Knecht als Herr“141 ansichtig, ebenso also „der sich selbst erniedrigende und so der versöhnende Gott“ wie gleichfalls „der von Gott erhöhte und so versöhnte Mensch“. Gerade in der Einheit beider Momente ist Christus „der Bürge und Zeuge unserer Versöhnung“.142 Wird aber das versöhnende Handeln des Sohnes in der Perspektive beider Stände und der drei Ämter verstanden, so ergeben sich daraus auch Veränderungen für die Wahrnehmung des menschlichen Lebens. Im Lichte Christi, der wahrer Mensch und wahrer Gott ist, lässt sich so auch die menschliche Existenz als eine von Niedrigkeit und Größe, von Schwachheit und ————— 140 141 142

Vgl. Bach, Wer hat Angst vor Frau N.?, 201. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/1, 148. Ebd., 83.

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Stärke gekennzeichnete, begreifen. Von Christus her erscheint wird beides plausibel: „ich kann niedrig sein und kann hoch sein; […] ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.“ (Phil 4,12f). (2) Bach wendet sich gegen die theologische Auffassung: „zuerst kommt der Glaube, die Diakonie steht erst im zweiten Glied“.143 Dagegen setzt er mit Gal 5,22 die Gleichrangigkeit von Glaube und Liebe als Früchten des Geistes. Beides: Kritik und Gegenposition scheinen mir vor allem durch die Erfahrung einer abschätzigen Nachordnung diakonischer Praxis motiviert zu sein. Es ist aber zu fragen, ob die Gleichrangigkeitsthese das theologische Problem angemessen löst. Paulus versteht Glaube als einen menschlichen Akt und als ein Werk Gottes. Es gilt „wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht“ (Röm 10,10) und zugleich: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ (Röm 9,16). Im Glauben ereignet sich die Rechtfertigung: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28). Die Liebe als zentrale Beziehungsdimension des menschlichen Sozialverhältnisses ist demgegenüber bei Paulus eine Frucht des Glaubens: „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). Die charakteristische Zuordnung von Glaube und Liebe ist also ein fester Bestandteil der paulinischen Argumentation. Aus ihr lässt sich aber keine Despektierlichkeit gegenüber der Liebe ableiten. Vielmehr gilt es, Glaube und Liebe in den jeweiligen menschlichen Beziehungsdimensionen zu verorten. Luther hat dies beispielsweise im Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ pointiert ausgearbeitet: den Glauben ordnet er hier der Gottesbeziehung zu: in ihm wird der fröhliche Wechsel und Tausch vollzogen, das Rechtfertigungsgeschehen. So wie aber der Glaube im Mittelpunkt der Gottesbeziehung steht und durch Gottes Werk konstituiert wird, so ist die Liebe das Charakteristikum der Sozialbeziehung des Menschen. „Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fähret er über sich in Gott, aus Gott fähret er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe“.144 Nimmt man diese relationale Zuordnung ernst, kann von einer allgemeinen Vor-, Nach- oder Gleichordnung nicht gesprochen werden. Stattdessen stehen Glaube und Liebe in ihrer jeweiligen humanen Relation im Mittelpunkt. Bachs These bedarf in dieser Hinsicht der Präzisierung. ————— 143

Bach, Das annehmen, was Gott will, in: ders., Kraft in leeren Händen, 26. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: Luther deutsch, Bd. 2, 273 (vgl. WA 7, 38, 6–10). 144

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Wird sie nicht konkretisiert, erweist sie sich auch für Bachs zentrale theologische Argumentation als problematisch. Immer wieder weist er darauf hin, dass der Mensch Wert und Würde nur darin habe, dass er von Gott wertgeschätzt und gewürdigt wird. „Ich bin wer, allerdings. Aber nicht, […] weil ich etwas aus mich gemacht habe […], sondern weil Gott etwas aus mir gemacht hat“.145 Genau diese zentrale anthropologische Konsequenz der Rechtfertigungslehre würde ihre Basis verlieren, wenn Wort und Tat, Glaube und Liebe in allgemeiner Weise parallelisiert würden. (3) So wie Bach die Diakonie m.E. theologisch „überfordert“, wenn er sie als Schwester des Gottesdienstes ansieht, so „unterfordert“ er sie andererseits theologisch, wenn er sie als eine weltliche Angelegenheit „ohne religiösen Mehrwert“ interpretiert: „Arzt, Krankenpfleger, Lehrer und all die anderen: wir tun, wie wir es gelernt haben, sehr ‚weltlich‘. Und darin geschieht die uns aufgetragene Diakonie!“146 Entsprechend macht Bach auch allein die Goldene Regel (Mt 7,12) zur goldenen Regel für die Diakonie. Gewiss: eine soteriologische Dimension hat das diakonische Handeln keineswegs – gerade deshalb ist es ja auch vom rechtfertigenden Glauben zu unterscheiden. Aber wird eine rein weltlich verstandene Diakonie nicht notwendig zu einer „Sozialarbeit im Raum der Kirche“, ein Verständnis, das Bach andernorts heftig kritisiert hat. Um es noch einmal zu sagen: Diakonie ist vom Glauben zu unterscheiden, aus dem sie erwächst. Als dessen Frucht aber hat Diakonie einen eigenen „Geschmack“, d.h. Charakteristika ihres konkreten Einsatzes für und mit anderen Menschen. Eine Diakonie also ohne soteriologischen „Mehrwert“ aber mit ihrem eigenen Wert.

————— 145 146

Bach, Kreuzes-Theologie und Behinderten-Hilfe, 222. Bach, Plädoyer für eine Diakonie ohne religiösen Mehrwert, 163f.

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3. „Das Charisma des behinderten Lebens“. Trinitätstheologie und Behinderung bei Jürgen Moltmann Jürgen Moltmann Im Vorwort seines Buches „Trinität und Reich Gottes“ wählt Jürgen Moltmann die Dreifaltigkeitsikone Andrej Rubljows zur Metapher für seine theologischen Intentionen. „Wer die Wahrheit dieses Bildes erkennt, der versteht, daß Menschen erst in jener Einigkeit miteinander, die aus der Hingabe des Sohnes ‚für viele‘ entspringt, dem dreieinigen Gott entsprechen. Er begreift, daß sie erst in ihren freien Zu-Neigung zueinander zu ihrer eigenen Wahrheit kommen.“1 In der Tat enthält diese knappe Deutung bereits einige zentrale Motiv für Moltmanns Theologie. Vor allem hebt es aber die Reflexion der Dreieinigkeit als die entscheidende Dimension seines theologischen Denkens hervor. Bereits Ende der 1960er Jahre beginnt seine Beschäftigung mit Fragen der Trinität.2 In „Der gekreuzigte Gott“ wird sie in Gestalt der Frage wichtig: „Was bedeutet das Kreuz des Sohnes Gottes für Gott selbst?“. Die ab 1980 erschienenen sechs Bände der „Systematischen Beiträge zur Theologie“ folgen dann ausdrücklich einer trinitarischen Logik. Die Trinitätslehre prägt deshalb auch Moltmanns Anthropologie. Wie sich zeigen wird, lassen sich auch seine Thesen über Behinderung vor diesem Hintergrund verstehen. Ich werde im Folgenden zunächst eine knappe Skizze von Moltmanns Anthropologie geben (3.1), anschließend auf die Reflexion von „Behinderung“ eingehen (3.2) und schließlich eine kritische Würdigung des Moltmannschen Konzeptes vornehmen (3.3).

3.1 Der Mensch als Bild des dreieinigen Gottes In einer biografischen Erinnerung schreibt Moltmann, nach dem Studium von Barths „Kirchlicher Dogmatik“ habe er „zeitweilig den Eindruck“ gehabt, „daß es nach Barth keine neue systematische Theologie mehr geben würde, weil er alles gesagt habe“.3 Diese von ihm selbst bald korrigierte Auffassung gibt die Akzentsetzung seines theologischen Denkens zu erken————— 1 2 3

Moltmann, Trinität und Reich Gottes, 15f. Moltmann, Erfahrungen theologischen Denkens, 266. Moltmann, Umkehr zur Zukunft, 9.

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nen. Als Schüler von Ernst Wolf und Otto Weber4 sind die Prägungen der Dialektischen Theologie in Moltmanns Denken unübersehbar. Sie wirken sich nicht zuletzt auch im Ansatz der Anthropologie aus. (1) In seinem Buch „Mensch“ von 1970 entwickelt Moltmann konsequent eine theologische Kritik der modernen Anthropologie vom GanzAnderen, von Gott her. Das „Elend der modernen Anthropologie“5 wird in dem Versuch erblickt, die Theologie in Anthropologie (Feuerbach) überführen und den Menschen damit vice versa verabsolutieren zu wollen. Gegen diesen Anthropotheismus setzt Moltmann die These „Gott ist die Kritik des Menschen“.6 Denn die Vergottung des Menschen habe diesen nicht menschlicher sondern unmenschlicher gemacht.7 Angesichts ihrer totalitären und absolutistischen Gefahren käme die Anthropologie erst dann auf den Boden der Wirklichkeit, „wenn sie das Ganz-Andere respektiert, an dem alle Selbsterkenntnisse des Menschen zu endlichen Fragmenten werden“.8 Die im Gegenzug von Moltmann entwickelte theologische Anthropologie orientiert sich schöpfungstheologisch an der Gottebenbildlichkeit des Menschen9 und vor allem kreuzestheologisch an der Gestalt des gekreuzigten Menschensohnes.10 Durch ihn wird eine Versöhnungs-, Hoffnungs- und Veränderungsperspektive erkennbar. „Der Mensch kann sich annehmen trotz seiner Unannehmlichkeiten, weil er von Gott schon angenommen ist […]. Er kann trotz Auschwitz und Hiroshima und Contergankindern der Erde treu bleiben, weil auf dieser Erde das Kreuz Christi steht. Mitten in der unerträglichen Leidensgeschichte der Welt entdeckt er die versöhnende Leidensgeschichte Christi. Das gibt ihm die Kraft zu hoffen, wo nichts mehr zu hoffen ist, und zu lieben, wo man sich haßt.“11 Menschen werden menschlich, wo sie vom Zwang zur Selbstvergottung befreit sind und sich auf den gekreuzigten Christus einlassen.12 Moltmanns anthropologische Überlegungen fallen in die Zeit der Arbeit zum Buch „Der gekreuzigte Gott“, das 1972 erschienen ist. Beide orientieren sich vor allem an einer Theologie des Kreuzes. Die Anthropologie aus ————— 4

Vgl. Moltmann (Hg.), Wie ich mich geändert habe, 24. Moltmann, Mensch, 154. 6 Ebd., 152. 7 Vgl. ebd., 154. 8 Ebd., 156. 9 Vgl. ebd., 156–160. 10 Vgl. ebd., 162–164. 11 Ebd., 165. 12 Ähnlich ist auch die Perspektive in Moltmanns Buch: Wer ist der „Mensch“? aus dem Jahr 1975. Moltmann entwickelt in dieser Schrift eine messianische Anthropologie in der Nachfolge des Kreuzes (u.a. 25, 44–49). Ihr zentraler Schlusssatz lautet: „Ich glaube, das Geheimnis Gottes und das Geheimnis des Menschen gehören zusammen in der Geschichte des Menschensohns, die unsere Geschichte werden will“ (70). 5

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dem Jahre 1971 setzt bereits trinitätstheologische Aspekte voraus. Das Verständnis des Menschen wird aber noch nicht ausdrücklich trinitarisch entwickelt. Vor allem die Dimension einer Theologie des Geistes ist noch nicht berücksichtigt. Diesen Schritt von der Theologie des Kreuzes zu einer ausdifferenzierten Trinitätstheologie hat Moltmann dann im Laufe der 1970er Jahre vollzogen und seit „Trinität und Reich Gottes“ (1980) seiner weiteren theologischen Arbeit zu Grunde gelegt. (2) Innerhalb der „Systematischen Beiträge zur Theologie“ hat Moltmann 1985 unter dem Titel „Gott in der Schöpfung“ eine „ökologische Schöpfungslehre“ veröffentlicht. Ich konzentriere mich in meiner Darstellung auf ihre anthropologischen Aspekte. Gleichwohl bedarf es einiger kurzer Hinweise auf das Trinitätsverständnis Moltmanns und die Grundzüge seiner Schöpfungstheologie. Die Dreieinigkeit Gottes wird von Moltmann weder – wie bei Augustin oder Thomas von Aquin – substanzontologisch, noch – wie bei Hegel und im Idealismus – subjekttheoretisch interpretiert. Vielmehr entwickelt Moltmann „eine soziale Trinitätslehre“.13 Sie versteht die Dreieinigkeit Gottes im Sinne einer „einzigartigen Gemeinschaft der drei Personen“.14 Der Relationsbegriff löst den Substanz- und den Subjektbegriff ab. Moltmann hat sich dabei insbesondere von dem aus der orthodoxen Theologie des Johannes Damascenus stammenden Begriff der Perichoresis inspirieren lassen. Der Begriff, der das Verb „herumgehen“ substantiviert, lässt sich am besten mit „Kreislauf“ übersetzen. Moltmann spricht vom Kreislauf des ewigen göttlichen Lebens: „Der Vater existiert im Sohn, der Sohn in dem Vater und beide im Geist, so wie der Geist in beiden existiert. Sie leben so ineinander und wohnen so einander ein kraft der ewigen Liebe, daß sie eins sind.“15 Diese gleichgewichtige Beziehung und Gemeinschaft der drei göttlichen Personen wird von Moltmann als eine offene, die Schöpfung, den Menschen und die Geschichte in sich aufnehmende Dynamik verstanden. Auch für die Schöpfungslehre ist deshalb das trinitarische Denken leitend. Das perichoretische Verständnis des dreieinigen Gottes soll in ihr davor bewahren, Schöpfer und Welt deistisch zu kontrastieren oder ihre Unterscheidung pantheistisch aufzulösen. Moltmann versucht vielmehr die Schöpfung als Einwohnung Gottes zu begreifen. „Versteht man den Schöpfer, seine Schöpfung und ihr Ziel trinitarisch, dann wohnt der Schöpfer durch seinen Geist seiner Schöpfung im Ganzen und jedem einzelnen Geschöpf ein und hält sie kraft seines Geistes zusammen und am Leben.“16 ————— 13

Moltmann, Trinität und Reich Gottes, 35. Moltmann, „Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes“, 93. 15 Moltmann, Trinität und Reich Gottes, 191. 16 Moltmann, Gott in der Schöpfung, 12; vgl. dazu auch: Müller-Fahrenholz, Phantasie für das Reich Gottes, 129. 14

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Moltmanns trinitarischer Schöpfungsbegriff stellt auf diese Weise eine Verbindung zwischen der Transzendenz Gottes und seiner Immanenz her.17 Moltmanns Schöpfungslehre mündet in die Darstellung des Sabbats als des Zielpunktes und der Vollendung der Schöpfung. Die trinitarische Beziehungsgeschichte Gottes kommt im Sabbat zu ihrer Erfüllung. Der Sabbat ist deshalb das Fest der Schöpfung. „Der am Sabbat ruhende Gott ist der von seiner Schöpfung ruhende Schöpfer. Er kommt nach seiner Schöpfung wieder zu sich selbst, aber nicht ohne, sondern mit seiner Schöpfung. Darum wird seine Ruhe zugleich auch zur Ruhe seiner Schöpfung und sein Wohlgefallen an seiner Schöpfung wird zur Freude der Geschöpfe selbst.“18 Dieser Aufriss der Schöpfungslehre hat Konsequenzen für die Anthropologie. Nicht der Mensch, sondern der Sabbat ist die Krone der Schöpfung. Das Menschsein ist auf den Sabbat hingeordnet. In ihm findet das unruhige menschliche Herz, ja die gesamte von Unruhe erfüllte Schöpfung, einen Ruheort. „‚Aus nichts‘ ist die Schöpfung geschaffen, ‚für den Sabbat‘ ist sie geschaffen, darum existiert sie am Sabbat ‚in‘ Gottes Gegenwart.“19 Mit der Hinordnung der gesamten Schöpfung auf den Sabbat wird der Mensch konsequenterweise in die Schöpfung eingeordnet. Er ist das letzte Geschöpf Gottes vor dem Sabbat und enthält alle vor ihm geschaffenen Lebensformen in sich. Der Mensch ist deshalb imago mundi, Bild der Welt.20 Zugleich aber – und darin zeigt sich seine Doppelrolle – hat der Mensch innerhalb der Schöpfungsgemeinschaft eine Sonderstellung. Als einziges Geschöpf gilt von ihm: er ist imago Dei, Bild Gottes. Der Mensch repräsentiert Gott inmitten der Schöpfungsgemeinschaft. Die Menschen stehen „für die Schöpfung vor Gott und für Gott vor der Schöpfung. […] Menschen sind imago mundi und imago Dei zugleich.“21 (3) Moltmann wählt damit erneut die Idee von der Gottebenbildlichkeit zur zentralen anthropologischen Kategorie. Ein differenziertes Verständnis der imago Dei kann allerdings nur von der Dreieinigkeit her gewonnen werden. Die soziale Trinitätslehre bedarf deshalb für Moltmann einer Entsprechung und Ergänzung „in einer sozialen Lehre von der Gottebenbildlichkeit“.22 Der Mensch ist Bild des dreieinigen Gottes, er ist imago trinitatis. Die „Werke Gottes in Schöpfung, Versöhnung und Erlösung […] prägen auch die lebendigen Gestalten der geschaffenen, der versöhnten und der ————— 17 18 19 20 21 22

Vgl. Moltmann, ebd., 109. Ebd., 282. Ebd., 285. Ebd., 197. Ebd. Ebd., 240.

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erlösten Menschen.“23 Ich werde mich nacheinander diesen verschiedenen Dimensionen der trinitarischen Anthropologie zuwenden. (4) Die ursprüngliche Bestimmung des Menschseins besteht für Moltmann darin, Bild Gottes, imago Dei zu sein. Als solches Bild repräsentieren die Menschen Gott auf der Erde. Als seine Stellvertreter sind sie zugleich seine Gegenüber und wiederum auch Erscheinungen seiner Herrlichkeit auf Erden.24 Der oft gestellten Frage, worin die Gottebenbildlichkeit des Menschen bestehe, gibt Moltmann eine theologische und keine anthropologische Antwort. Statt über Eigenschaften und Entsprechungen auf Seiten des Menschen sage die Imago-Vorstellung zuerst etwas über Gott aus. „Gottebenbildlichkeit bezeichnet zuerst das Menschenverhältnis Gottes und erst dann und daraufhin das Gottesverhältnis des Menschen.“25 Darin, dass Gott in eine Beziehung zu ihm getreten sei und den Menschen zu seinem Gegenüber gemacht habe, liege die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Damit versucht Moltmann einer Anthropologie den Boden zu entziehen, die bestimmte Eigenschaften oder menschliche Teilbereiche mit dem Prädikat der imago Dei auszeichnen möchte. Vielmehr gilt: der ganze Mensch ist Gottes Bild; der lebendige Mensch aus Fleisch und Blut, mit Herz und Verstand, mit Leib und Seele. Gegen die traditionelle Hochschätzung der Seele gegenüber dem Körper hält Moltmann mit Friedrich Oetinger fest: „‚Leiblichkeit ist das Ende aller Werke Gottes‘“.26 Für die Verhältnisbestimmung von Leib und Seele wird abermals der Begriff der Perichorese bestimmend. Analog der Beziehungsgemeinschaft in Gott lasse sich auch die Relation von Seele und Leib „als ein perichoretisches Verhältnis wechselseitiger Durchdringung und differenzierter Einheit ansehen“.27 Der von Gott sich zum Bilde geschaffene Mensch sei darüber hinaus kein Robinson sondern ein Mensch in Beziehung. Ein soziales Wesen. Dazu gehört fundamental die geschlechtliche Identität, Differenz und Gemeinschaft. Der Mensch ist nach Gen 1,27 als Mann und als Frau geschaffen. Die Zweigeschlechtlichkeit bestimmt seine Existenz. Moltmann folgert daraus, dass die Gottebenbildlichkeit nur in der lebendigen menschlichen Gemeinschaft wirklich werden kann. Ist der ganze Mensch als imago zu verstehen, „dann müssen wir auch die fundamentale menschliche Gemeinschaft als imago begreifen“.28 Zu dieser Gemeinschaft gehört über die Geschlechterbeziehung hinaus aber auch noch das Generationenverhältnis. Als humanes Entsprechungsverhältnis zur göttlichen Perichorese bietet sich ————— 23 24 25 26 27 28

Ebd., 250. Vgl. ebd., 227. Ebd., 226. Ebd., 248. Ebd., 262. Ebd., 245.

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deshalb für Moltmann das „anthropologische Dreieck“29 von Eltern und Kind an. „Das Analogon der Gottebenbildlichkeit liegt in der differenzierten Beziehung, der beziehungsreichen Differenz, die […] bei Menschen das zeitliche Leben von Frauen und Männern, Eltern und Kindern bestimmt. Diese sozial offene Lebensgemeinschaft ist die gottentsprechende Lebensform.“30 (5) Allerdings leben die Menschen keineswegs gemäß ihrer Bestimmung zur imago Dei. Sie verwandeln, wie Moltmann mit Bezug auf Röm 1,23 formuliert „‚die Herrlichkeit Gottes‘ in ein menschliches oder tierisches Bild“.31 Die Menschen bleiben Bilder. In ihrer Natur spiegelt sich das, was sie über alle Dinge fürchten und lieben. Deshalb werden sie durch die Sünde aus einer imago Dei zu einer imago satanae einer imago mammonis.32 Dies ist allerdings nur die eine, die menschliche Seite: mit der Sünde wird der Mensch gottlos. Auf der anderen, göttlichen Seite wird die Beziehung jedoch nicht abgebrochen. „Die menschliche Sünde vermag wohl das Gottesverhältnis des Menschen zu verkehren, nicht aber das Menschenverhältnis Gottes zu zerstören.“33 Durch die Gegenwart Gottes bleibt der Mensch auch als gottloser Sünder Gottes Ebenbild. Der Mensch ist beides: „Ebenbild Gottes und Sünder zugleich“.34 (6) Die Verwirklichung der vollen Gottebenbildlichkeit kann deshalb nur durch Gott selbst, kann nur durch eine messianische Neuschöpfung erfolgen. Deshalb denkt Moltmann den Menschen nicht nur schöpfungstheologisch als imago Dei, sondern – zweitens – auch soteriologisch als imago Christi. Unter den Bedingungen der entfremdeten Welt ist allein Christus im Vollsinn Bild Gottes. Nur in der Gemeinschaft mit ihm können die Menschen zu dem werden, was ihre Bestimmung ist. Deshalb ereignet sich „die Neuschöpfung der Gottebenbildlichkeit […] in der Gemeinschaft der Glaubenden mit Christus“.35 Sie wird Wirklichkeit, wo und indem die Menschen dem Bild des Sohnes (vgl. Röm 8,29) gleichgestaltet werden. (7) Die messianische Wiederherstellung der imago Dei ist jedoch „ein geschichtlicher Prozeß mit eschatologischem Ausgang“.36 Sie bleibt innergeschichtlich unabgeschlossen. Das messianische Projekt der Menschwerdung des Menschen kommt erst eschatologisch zu seiner Erfüllung. Deshalb denkt Moltmann das Menschsein – drittens – auch in der Perspektive ————— 29 30 31 32 33 34 35 36

Ebd., 245. Ebd., 229. Ebd., 232. Vgl. ebd., 239. Ebd., 238. Ebd., 235. Ebd., 232. Ebd., 233.

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seiner endgültigen Verherrlichung als gloria Dei. Im Sabbat der Welt, dem Fest der Schöpfung, wenn alle Geschöpfe das Glück der Gegenwart des ewigen Gottes genießen können, wird auch das Angesicht des Menschen endgültig aufgedeckt. Dann werden Menschen wahrhaft „Gott ähnlich und seiner Erscheinung gleich werden.“37 Der Mensch als imago Dei ist demnach bei Moltmann ein beziehungsreiches Wesen, das in die Geschichte des dreieinigen Gottes hinein genommen ist und in dieser Gottesgeschichte zu sich selbst kommt. „Aus der Gottebenbildlichkeit in der anfänglichen Schöpfung wird die Gotteskindschaft in der messianischen Gemeinschaft mit dem Sohn, und aus beiden wird die Gottgleichheit der Menschen in der Herrlichkeit der neuen Schöpfung.“38

3.2 „Jede ‚Behinderung‘ ist auch eine Begabung“ Da die Trinitätstheologie das innere Strukturprinzip der Theologie Jürgen Moltmanns darstellt, liegt es nahe, auch das Thema Behinderung trinitarisch zu erschließen. Moltmann gehört zu den ganz wenigen Systematischen Theologen, die sich diesem Thema geöffnet und es an verschiedenen Stellen ihres Werkes reflektiert haben.39 In der Tat gibt es sowohl in der Schöpfungslehre, in der Christologie, in der Ekklesiologie und in der Eschatologie immer wieder, wenn auch nur kurze Ausführungen dazu. Am ausführlichsten ist diese Beschäftigung innerhalb der Pneumatologie erfolgt. Meine These besteht darin, dass nur die trinitarische Erschließung dieses Themas vor dem Missverständnis isolierter Interpretationen bewahren kann. Ich möchte deshalb an diesem Leitfaden Moltmanns Beschäftigung mit dem Thema Behinderung rekonstruieren. (1) Innerhalb der Schöpfungslehre sind die ausdrücklichen Bemerkungen selten. Moltmann lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass er von der vollen und unbedingten Gottebenbildlichkeit von Menschen mit Behinderung ausgeht. „Auch der behinderte Mensch“, heißt es an einer Stelle, ist „im vollen Sinne Ebenbild Gottes und keineswegs ein reduziertes“.40 Moltmann ist zu dieser Aussage fähig, weil er die imago Dei nicht von menschlichen ————— 37

Ebd., 234. Ebd. 39 Für diese Beschäftigung nennt Moltmann in seiner Autobiografie auch den persönlichen Grund, selbst einen Bruder mit einer Behinderung gehabt zu haben. „Er starb, als 1940 das Euthanasieprogramm der Nazis begann. […] Es wurde für mich zu einer persönlichen Frage, welche Bedeutung eine Behinderung hat und wie die Ausgrenzung Behinderter aus der Gesellschaft der Nichtbehinderten, der Tüchtigen und Erfolgreichen überwunden werden kann“ (Moltmann, Weiter Raum, 201). 40 Moltmann, Gott in der Schöpfung, 238. 38

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Eigenschaften sondern von der göttlichen Beziehung aus begründet hat: weil sich Gott in ein Verhältnis zum Menschen gesetzt hat und diese Beziehung die condition humaine begründet, gibt es keine Gottesebenbilder mit Abstrichen. Das Leben des Menschen ist stets ein von Gott angenommenes Leben, ein Leben, das von ihm bejaht und geliebt wird.41 Moltmann wehrt sich ausdrücklich gegen die Idealisierung eines konfliktlosen sowie leid- und schmerzfreien Lebens. Gegen die Definition der WHO, die Gesundheit als einen „Zustand des vollständigen, körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“42 bestimmt hat, wendet er ein, sie zeige „eine krankhafte Einstellung zur Gesundheit“.43 Menschsein bedeute stets, mit Schwierigkeiten und Störungen umgehen zu müssen. Gesundheit sei daher Kraft, mit diesen Störungen leben zu können. Mit Karl Barth bestimmt Moltmann Gesundheit deshalb als Kraft zum Menschsein.44 „Die Kraft zum Menschsein zeigt sich in der Fähigkeit des Menschen zum Glück und zum Leiden, in der Annahme der Lebensfreude und der Trauer des Todes.“45 Das geschöpfliche Dasein des Menschen ist für Moltmann stets von Stärken und Schwächen geprägt. Es ist entwicklungsoffen und doch zugleich gebrechlich. Deshalb wehrt Moltmann auch die Unterscheidung zwischen „Gesunden“ und „Behinderten“ ab. Sie entspringe einem falschen, weil idealisierenden gesellschaftlichen Gesundheitsideal. Vielmehr sei „jedes menschliche Leben […] begrenzt, verletzlich und schwach. Hilfsbedürftig werden wir geboren, und hilflos sterben wir. Also gibt es ein nichtbehindertes Leben in Wahrheit nicht.“46 (2) Der Gott der Schöpfung ist der dreieinige Gott, der die Welt in seine geschichtsoffene Gemeinschaft hinein nimmt und dadurch verändert. Dieser Gott ist kein apathischer Himmelsherrscher, sondern ein Gott, der sich anrühren lässt, der mitleidet, der Ohnmacht und Tod auf sich nimmt. Dieser Gott ist ein leidenschaftlicher Gott.47 Diese Theopathie gründet trinitarisch in der Selbstunterscheidung Gottes in sich selbst, in der liebenden Beziehung des Vaters zum Sohn, der hingebenden Liebe des Sohnes zum Vater und in der Verherrlichung beider durch den Geist. Die innertrinitarische Beziehung ist der Relation nach außen analog und entspricht den Werken der Weltschöpfung, Menschwerdung und Verklärung der Welt.48 Gottes ————— 41 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. ebd., 277. zitiert nach: Moltmann, ebd., 274. Ebd., 275. Vgl. Barth, Kirchliche Dogmatik, III/4, 406: „Gesundheit ist Kraft zum Menschsein“. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 275. Moltmann, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes, 59. Vgl. zum „Axiom der Leidenschaft Gottes“: Moltmann, Trinität und Reich Gottes, 38–40. Vgl. ebd., 113.

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schöpferische Liebe erweist sich allerdings schon in der Weltschöpfung als leidende Liebe, weil sich Gott in der Schöpfung selbst beschränkt.49 In der Menschwerdung wird sein Pathos allerdings in besonderer Weise offenbar. Die Christologie hat deshalb Gottes leidende, befreiende und erlösende Liebe zu reflektieren. Gott ist Mensch geworden. Das heißt für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen: „Er hat das ganze und wirkliche Menschsein angenommen und es zum Teil seines eigenen göttlichen Lebens gemacht. Nicht nur das begrenzte und sterbliche Menschsein hat der ewige Gott […] zum Teil seines Lebens gemacht, sondern auch das behinderte, kranke, schwache, hilflose und lebensunfähige Menschsein: Unsere Behinderungen nimmt er auf sich und macht sie zu einem Teil seines ewigen Lebens.“50 Diese Teilnahme am Leiden der Welt zeigt sich besonders in der Praxis Jesu, wie sie die Evangelien erzählen. Von den ersten bis zu den letzten Tagen seines Auftretens begleiten ihn Menschen mit allen denkbaren Krankheiten. „In Jesu Nähe finden wir das ganze Elend des Menschen. Die Besessenen, Krüppel, Lahmen, Blinden, Hungrigen, Schuldbeladenen kommen aus den dunklen Winkeln der Gesellschaft, in die sie verbannt worden waren […] zum Vorschein, weil sie das Leben merken, das Jesus durch seine Liebe um sich verbreitet.“51 In Jesu Gemeinschaft mit ihnen beginnt das Reich Gottes. Jesus behandelt sie nicht als Objekte, sondern setzt sie als Subjekte im Reich Gottes ein. „Er ‚rehabilitierte‘ die Blinden, Kranken, Behinderten, Gelähmten, Geisteskranken bei Gott und den Menschen.“52 Jesu freiwillige Annahme und Übernahme des menschlichen Leides hat verwandelnde Kraft. Krankheiten und Behinderungen werden von ihm nicht beseitigt oder abgeschafft. Sein heilendes Wirken besteht dagegen in seiner Leidübernahme. „Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5). Sein Gehorsam bis zum Tod am Kreuz stiftet Heilung und Heil für die Menschen. Das Leid wird verwandelt: „Es zerstört nicht mehr, es vereinigt. Es isoliert nicht mehr, es verbindet.“53 Der Mensch gewordene Gott lässt durch seine Hingabe alle Menschen an seinem göttlichen Leben teilnehmen. „Jeder Mensch, wie behindert er auch ist, nimmt durch sein Leben teil an dem göttlichen Leben.“54 Deshalb gibt es für Moltmann in Wahrheit kein behindertes Leben. Die Teilnahme des gebrechlichen menschlichen Lebens am Leben Gottes bedeutet darüber ————— 49 50 51 52 53 54

Vgl. ebd., 75. Moltmann, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes, 65. Ebd., 26. Ebd., 49. Ebd., 30. Ebd., 66.

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hinaus auch seine Vergöttlichung. „Gott nimmt unser Menschenleben an und macht unsere Schwächen und Behinderungen zu seinen eigenen, um uns seine Lebendigkeit und seine Freude mitzuteilen. Gott weint mit uns, damit wir einmal mit ihm lachen werden.“55 (3) Trinitarisch von Gott in seinem Wesen und in seinen Werken zu sprechen, bedeutet auch, den Geist Gottes in Schöpfung, Erlösung, Heiligung und Verherrlichung zu entdecken. Er ist der Geist des Lebens, der Wiedergeburt und der Herrlichkeit. Während Moltmann ihn schöpfungstheologisch als Geist der Schöpfung, als kosmischen Geist und als Lebenskraft thematisiert, kommt er soteriologisch als Geist der Befreiung, Rechtfertigung, Wiedergeburt und Heiligung in den Blick.56 Am ausführlichsten hat sich Moltmann hier, in der Pneumatologie, mit dem Thema Behinderung auseinandergesetzt. Er erörtert es im Zusammenhang der charismatischen Kräfte des neuen Lebens.57 Die Erfahrung des Geistes Gottes, so führt Moltmann hier aus, sei so konkret und vielfältig, wie die Menschen, die sie erfahren, konkret und vielfältig sind.58 Mit Berufung auf 1Kor 7,17 entwickelt Moltmann die These „Jeder Christ ist ein Charismatiker“.59 Gott nimmt die Menschen so an, wie sie sind und wo er sie erreicht, „als Mann oder Frau, Jude oder Heide, alt oder jung, schwarz oder weiß, behindert oder nicht-behindert usw.“60 Die individuellen Möglichkeiten werden zu Charismen, indem sie in den Dienst des Reiches Gottes und seiner befreienden Liebe gestellt werden. Für Paulus ist es aber charakteristisch, dass er die Kraft Gottes nicht nur in seinen Kräften, sondern auch in seiner Schwachheit erfahren hat (vgl. 2Kor 12,9). Auch in der Gemeinde Christi sind es zuerst die schwachen, verächtlichen, törichten und kleinen Leute, die Gott erwählt (vgl. 1Kor 1,26ff).61 Vor diesem pneumatologischen Hintergrund entwickelt Moltmann nun seine Behauptung, die er in der ersten Fassung „eine provokative und vielleicht auch ärgerliche These“ nennt: „Jede ‚Behinderung‘ ist auch ein Begabung.“62 In einer späteren Fassung sagt er leicht abgeschwächt, „daß jede Behinderung zu einem Charisma werden kann“.63 ————— 55 56 57 58 59 60 61 62 63

Ebd., 66. Vgl. dazu Müller-Fahrenholz, Phantasie für das Reich Gottes, 160–164. Vgl. Moltmann, Der Geist des Lebens, 194–210. Vgl. ebd., 194. Ebd. Moltmann, Die Quelle des Lebens, 61. Vgl. Moltmann, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes, 69. Ebd. Moltmann, Die Quelle des Lebens, 71.

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Der theologische Begründungszusammenhang dieser pneumatologischen These ist christologischer Art: Christus habe, so führt Moltmann aus, „das ganze Elend der Menschen angenommen, um es zu heilen. Jedes menschliche Leben ist von Gott in Christus angenommenes Leben und nimmt in ihm schon jetzt teil am ewigen göttlichen Leben.“64 Weil Gott es angenommen hat, ist es gerechtfertigt, ist es in seinen Augen heil, gut und schön. Aufgrund der Teilnahme Gottes am Leiden und der Schwachheit kann Moltmann schließlich formulieren: „Die Kraft Christi ist auch in der Behinderung mächtig“.65 Das Charisma des behinderten Lebens ist eine Begabung des Geistes in der Gemeinde Christi. Die Bedeutung dieser Begabung besteht nach Moltmann darin, „den Eigenwert und die Würde einer behinderten Person“ und „ihre Bedeutung für unser Zusammenleben“66 zu entdecken. Moltmann spricht von der Bedeutung von Menschen mit Behinderung für eine Familie und von dem, „was Gott durch das Charisma dieser ‚Behinderten‘ sagt und wirkt“.67 An anderer Stelle wird Moltmann konkreter, worin die Begabung behinderter Menschen besteht: „Der Behinderte gibt anderen die kostbare Einsicht in die Verletzlichkeit und die Schwachheit des menschlichen Lebens. Der Behinderte gibt anderen aber auch Einsicht in die Menschlichkeit seiner eigenen Lebenswelt. Durch Behinderte können andere Menschen den wirklichen, den leidenden, den lebendigen Gott kennenlernen, der auch sie unendlich liebt.“68 In diesen Formulierungen nähert sich Moltmann gefährlich einer Instrumentalisierung von Behinderungen zur Darstellung menschlicher Verletzlichkeit und Schwachheit. Warum sollen nicht auch Phantasie, Kreativität, Lebensannahme, Glaube oder Hoffnungsstärke zu diesen Charismen gehören? (4) Die These von der besonderen Begabung von Menschen mit Behinderung hat nicht nur pneumatologische sondern auch ekklesiologische Akzente. Denn das Charisma ist eine Gnadengabe in der Gemeinde und zum Aufbau der Gemeinde. „Der Leib Christi – das ist immer auch der Leib des schwachen, schutzlosen und gekreuzigten Menschensohns.“69 Die Glieder, die zu ihm gehören und die seine Gestalt ausmachen, strotzen, so Moltmann, keineswegs vor Gesundheit. Vielmehr gibt es schwache und dürftige Glieder an diesem Leib. Gerade darin erweist er sich als der Abglanz des leidenden Jesus Christus. ————— 64 65 66 67 68 69

Moltmann, Der Geist des Lebens, 206. Ebd. Moltmann, Quelle des Lebens, 71. Ebd. Vgl. Moltmann, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes, 70f. Ebd., 70.

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In seiner Ekklesiologie von 197570 hat Moltmann „das Verhältnis von Gesunden und Behinderten“,71 die Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, als dritten Kulturkonflikt neben Rassismus und Sexismus behandelt. Hinter all diesen desintegrativen, ausschließenden und isolierenden sozialen Tendenzen macht Moltmann einen alten, auf Aristoteles zurückgehenden Grundsatz aus: „Gleich und Gleich gesellt sich gern“.72 Wer aber nur das Gleiche achte, der verachte das Verschiedene. Deshalb ist der messianische Leib Christi ein Gegenentwurf gegen die Tyrannei der Gleichmacherei. Sie folgt vielmehr dem „Prinzip der Anerkennung des Anderen in seiner Andersartigkeit“.73 Die Kirche Jesu Christi ist eine Gemeinschaft der Ungleichen und Verschiedenen, eine Gemeinschaft der wechselseitigen Anerkennung und der Liebe.74 (5) Der Weg des leidenschaftlichen Gottes kommt aber noch nicht mit der Sendung des Sohnes und der Ausgießung des Geistes zum Abschluss. Er erfüllt sich vielmehr erst im eschatologischen Fest der ewigen Freude, in der Verklärung und Verherrlichung der Schöpfung.75 Ohne auf Einzelheiten näher einzugehen, möchte ich deshalb abschließend noch Jürgen Moltmanns Eschatologie in Bezug meine Leitfrage befragen. In einem eher persönlich gehaltenen Kapitel in seiner Eschatologie beschäftigt sich Moltmann mit der Zukunft des zerstörten Lebens. Angesichts von Versagen und Schmerzen, angesichts von Abbrüchen in der Lebensgeschichte und betrauerten Hoffnungen fragt er nach der Zukunft des Menschen in der eschatologischen Gegenwart Gottes. Den Kern aller Bilder und Vorstellungen vom Weiterleben nach dem Tod sieht Moltmann im Geschenk eines Raumes und einer Zeit, in denen das abgebrochene Leben zum Leben befreit wird. „Ich werde noch einmal auf mein Leben zurückkommen und im Lichte der Gnade Gottes und in der Kraft seiner Barmherzigkeit das Verquere zurechtrücken, das Angefangene zu Ende bringen, das Versäumte nachholen, die Schulden vergeben, die Schmerzen ausheilen und die Momente des Glücks aufsammeln und die Trauer in Freude zu verwandeln dürfen. Das heißt […], die Chance zu bekommen, die oder der zu werden, die eine oder einer nach Gottes Bestimmung sein sollte.“76 Moltmanns Formulierungen sind vorsichtig und einfühlsam. Er vermeidet vollmundige Idealisierungen. So spricht er auch nicht von der eschatologischen Aufhebung der Behinderung, von der in theologischen Entwürfen oft die Rede ist. ————— 70 71 72 73 74 75 76

Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes. Ebd., 209. Ebd., 213. Moltmann, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes, 48. Vgl. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, 212f. Vgl. Moltmann, Das Kommen Gottes, 367. Ebd., 138.

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Vielmehr geht es ihm darum, je individuell zu sich selbst und zur eigenen Bestimmung zu kommen. Ausdrücklich bezieht Moltmann Behinderungen mit ein, wenn er schreibt: „Ich denke mir, daß der Geist des ewigen Lebens zuerst ein weiter Lebensraum ist, in welchem sich abgebrochenes, behindertes und zerstörtes Leben frei wird entfalten können. […] Zu jedem Lebensraum, der zur Entfaltung und Bewegung einlädt, gehört eine Lebenszeit, die zur Entwicklung und Vollendung kommen läßt.“77 Der Geist des Lebens und der Wiedergeburt eröffnet den Menschen schon heute, vor dem Tod, Räume und Zeiträume des Lebens. Mit einem Schluss a minore ad maius gilt dies nach Moltmann erst recht für die Zeit nach dem Tod: um wie viel mehr wird der Geist des ewigen Lebens dann die Menschen zu sich selbst, zum Leben und ihrer Verwirklichung kommen lassen. „Ich denke mir also, daß das ewige Leben den Zerbrochenen, Behinderten und Zerstörten Raum und Zeit und Kraft gibt, um das Leben zu leben, das ihnen bestimmt war und zu dem sie geboren wurden.“78 Das Ende der Zeiten ist deshalb bei Moltmann kein Ende, sondern eine Chance des Lebens in der Gegenwart des Geistes Gottes.

3.3 Behinderung als Charisma? Kritische Würdigung Jürgen Moltmann ist einer der ganz wenigen Systematischen Theologen, die das Thema Behinderung nicht nur en passant behandelt, sondern in der Reflexion der verschiedensten theologischen Inhalte durchgängig berücksichtigt haben. Wichtig ist insbesondere die trinitarische und heilsökonomische Verankerung: Moltmann reflektiert Behinderung sowohl aus dem Beziehungsreichtum des dreieinigen Gottes heraus als auch mit Bezug auf die Geschichte Gottes in Schöpfung, Erlösung, Heiligung und Verherrlichung. Schöpfungstheologisch erscheint Behinderung als geschaffene Lebenswirklichkeit der Gottebenbildlichkeit. Soteriologisch zeigt sich, dass der leidenschaftliche Gott gerade Behinderungen annimmt, zum Teil seines eigenen Lebens werden lässt und darin verwandelt. Pneumatologisch betont Moltmann das besondere Charisma des behinderten Lebens in der Gliedschaft am Leibe Christi. Ohne Zweifel hat Moltmann damit einen differenzierten und emanzipatorischen Verständnisraum geöffnet. Die Konsequenzen dieses Verständnisses liegen in der Subjektwerdung von Menschen mit Behinderung, ihrer Teilhabe und ganzheitlichen Integration.79 Diakonie versteht Moltmann als ————— 77 78 79

Ebd., 139. Ebd., 140. Vgl. Moltmann, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes, 42.

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„Gemeinschaft der Starken und Schwachen, der Nichtbehinderten und Behinderten“.80 Ihm ist es wichtig, dass Menschen mit Behinderung ihre Möglichkeiten entdecken und entwickeln,81 dass sie erwachsen werden können und Gehör finden.82 Er ist ein Kritiker diakonischer Entmündigung, sieht in der Anstaltsdiakonie „immer nur eine Nothilfe“, will sie „auf das Notwendige beschränken“ und Menschen mit Behinderung „zu Hause eine Heimat geben“.83 Moltmann unterstützt den Kampf von Menschen mit Behinderung gegen ihre Diskriminierung und versteht den „Protest der Behinderten gegen ihre soziale Behinderung“ als „Ausdruck der Liebe, der Selbstliebe und der Nächstenliebe“.84 So sehr mit diesen Zitaten der emanzipatorische Ansatz der Moltmannschen Theologie auch und gerade für Menschen mit Behinderung augenfällig ist, so sehr bleiben gleichwohl einige Fragen noch nicht zufrieden stellend beantwortet. (1) Karl Hermann Kandler hat Moltmann vorgeworfen, er überschreite mit der These vom Charisma des behinderten Lebens eine Grenze, „die man nicht überschreiten darf. Wenn die Theologie zu allen Zeiten sich schon davor scheute, Gott trotz seiner Allmacht als Urheber des Bösen zu bezeichnen, so geht Moltmann hier noch darüber hinaus, wenn er etwas Böses, etwas Schlimmes – und das ist eine Behinderung in jedem Falle – als ‚Gabe des Heiligen Geistes‘, also als eine Heilsgabe bezeichnet.“85 Kandlers Kritik scheint mir überpointiert zu sein. Immerhin ist Moltmanns Behauptung weder eine schöpfungstheologische noch eine soteriologische, sondern eine pneumatologische und ekklesiologische These. Das heißt: sie stellt eine Ermutigung dar, sich mit der eigenen Behinderung durch den Geist Gottes angenommen zu wissen und sich gleichzeitig als unverzichtbares Glied am Leib Christi verstehen zu können. Trotzdem ist Kandlers Reaktion nachvollziehbar, wenn er sich dagegen wehrt, die Situation des Lebens mit einer Behinderung als Charisma verstehen zu sollen. „‚Ich bin nicht versucht, Gott auf irgendeine Weise für meinen Krebs oder ein sonstiges Leiden haftbar zu machen‘“, zitiert Kandler aus einem Erfahrungsbericht, „ich sage aber auch Gott nicht Dank für mein Los als Kehlkopfloser.“86 Moltmanns pneumatologisch und ekklesiologisch begründete These – und darin besteht ihr Hauptproblem – formuliert nicht nur einen Zuspruch, sondern implizit auch einen Anspruch: die eigene Behinderung als Begabung ver————— 80 81 82 83 84 85 86

Ebd., 34. Vgl. ebd., 56f. Vgl. ebd., 50. alle Zitate: ebd., 72. Ebd., 56. Kandler, Behindertenethik, 103. Kandler, ebd., 104.

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stehen zu können. Dadurch nimmt sie Betroffenen die Möglichkeit, die eigene Lebenssituation anders zu interpretieren. Empfindungen einer Last, des Leidens, der Wut oder der Trauer scheinen gegenüber dem Anspruch des pneumatologischen Zuspruchs ins Unrecht gesetzt zu werden. Das, was vom Evangelium inspiriert ist, droht zum Gesetz zu werden. Das ist die theologische Gefahr von Moltmanns anspruchsvoller These. (2) Darüber hinaus scheint mir das Charisma selbst fatal bestimmt zu sein. Das macht die Erläuterung seiner Charismen-These deutlich: „Jede Behinderung im Sinne der Menschen ist auch eine Begabung im Sinne Gottes. Der Behinderte gibt anderen die kostbare Einsicht in die Verletzlichkeit und die Schwachheit des menschlichen Lebens. Der Behinderte gibt anderen aber auch Einsicht in die Menschlichkeit seiner eigenen Lebenswelt. Durch Behinderte können andere Menschen den wirklichen, den leidenden, den lebendigen Gott kennenlernen, der auch sie unendlich liebt.“87 Diese Bestimmung scheint mir in zweifacher Hinsicht problematisch zu sein. Erstens legt Moltmann mit ihr Menschen mit Behinderung auf Schwachheit, Verletzlichkeit und Leiden fest, wie dies in der Theologie nicht selten geschehen ist. Zweitens aber definiert er die betreffenden Menschen über ihre Behinderung. Nicht als Menschen sind sie von Gott begabt, sondern als Behinderte. Und: als Behinderte geben sie Einsicht in die Schwachheit des Lebens. In vermeintlichem Wohlwollen werden diese Formulierungen damit ungewollt zu einer theologischen Stigmatisierung. Das, was Menschen mit Behinderung als individuelle Begabungen haben, ist differenzierter und bunter als das, was Moltmann kenntlich macht. Vor allem aber: diese Begabungen haben die betreffenden Personen als Individuen und nicht als Akteure in einer sozialen Rolle. (3) Moltmann hat das Thema Behinderung tatsächlich durchgängig in seinen theologischen Schriften berücksichtigt. Dennoch fällt auf, dass es vor allem der zweite und dritte Artikel des Glaubensbekenntnisses ist, in denen sich Moltmann bewegt. Die Reflexionen zum ersten Artikel beschränken sich auf einige wenige Überlegungen, die in der These gebündelt werden, dass „auch der behinderte Mensch […] im vollen Sinne Ebenbild Gottes“88 ist. So richtig dies ist, so wenig reicht es aus. Statt mit einem „auch“ die Geltung der imago-Dei-Vorstellung einfach auszudehnen, hätte theologische Reflexion m.E. zu zeigen, wie die vielen Gesichter menschlichen Lebens allesamt Gesichter Gottes sind, Bilder Gottes, geschaffene Entsprechungen des Schöpfers. Die Trinitätstheologie verfügt dafür über eine Reihe von Deutungsmöglichkeiten. Moltmann, der Theologe der Trini————— 87 88

Moltmann, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes, 70f. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 238.

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tät, bleibt aber mit seinen schöpfungstheologischen und anthropologischen Überlegungen angesichts dieser Fragen merkwürdig zurückhaltend. (4) Schließlich scheint mir auch bei Moltmann der Hinweis angebracht, dass sich seine Anthropologie wenig an philosophischer Anschlussfähigkeit orientiert. Seine Überlegungen sind trinitarische Explikationen und Interpretationen der imago-Dei-Vorstellung. In einer frühen Formulierung heißt es: „Christliche Anthropologie macht die biologische, kulturelle und religiöse Anthropologie nicht überflüssig, aber sie läßt sich auch nicht auf jene reduzieren.“89 Diese Herabsetzung humanwissenschaftlicher Anthropologie auf die Stufe des Uneigentlichen erschwert aber, einerseits auf die Impulse von dort zu hören und andererseits in das Gespräch mit ihnen einzutreten. Leider verbleibt Moltmanns Anthropologie deshalb meistenteils im innertheologischen Raum. Ich glaube, dass es demgegenüber darauf ankäme, die theologische Anthropologie dem Gespräch mit anderen anthropologischen Diskursen zu öffnen. Das würde es aber notwendig machen, die theologischen Kategorien auch philosophisch aufzuschließen.

————— 89

Moltmann, Mensch, 37.

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4. Der behinderte Gott und die Befreiung der Behinderten: Die Diakonie Gottes als Grundlage befreiender Praxis bei Ottmar Fuchs Ottmar Fuchs An der kirchlichen und theologischen Diskussion der 1980er Jahre hat Ottmar Fuchs beobachtet, wie sich durch eine an der „Option für die Armen“ orientierte diakonische Grundperspektive zunehmend „so etwas wie ein ‚Putschversuch‘ anbahnt, der die abendländische Praxis von Kirche und Theologie umkrempelt und so manche ‚herrschenden‘ Leitthemen und Leitfiguren ‚stürzt und leer ausgehen läßt‘“.1 Diesem ‚Umsturz‘ gilt Fuchs’ theologisches Engagement: er leiht seine Stimme einer befreienden Gestalt von Kirche, in der das Reich Gottes „in Wort und Tat, in Verkündigung und Diakonie, in Symbolen der Transzendenz und im Handeln der Nächstenliebe“2 in der Geschichte ansatzhaft verwirklicht wird. Mit diesem emanzipatorischen Engagement deutet sich bereits eines der zentralen theologischen Motive an: Fuchs ist darum bemüht, die Impulse der lateinamerikanischen „Theologie der Befreiung“ aufzunehmen und zu einer befreienden „Option der Diakonie hierzulande“3 weiterzuführen. Die „Option für die Armen“ soll zu einer befreienden Interaktions- und Lebensform mit stigmatisierten und behinderten Menschen werden.4 Mit Fuchs greife ich einen katholisch geprägten Entwurf auf, der erkennbar von der Befreiungstheologie inspiriert ist. Ich stelle ihn dar, indem ich mich nach der Herausarbeitung einiger Grundmotive (4.1) auf die Reflexion von Behinderung (4.2) konzentriere, deren ekklesiologische, diakonische und soziale Konsequenzen kenntlich mache (4.3) und abschließend eine kritische Würdigung vornehme (4.4). ————— 1

Fuchs, ‚Umstürzlerische‘ Bemerkungen zur Option der Diakonie hierzulande, 19. Fuchs, Wenn die Diakonik in die Kirche einbricht, 297. 3 Fuchs, ‚Umstürzlerische‘ Bemerkungen, 18. 4 Vgl. Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 32: „Wenn in der Theologie der Befreiung […] die klare Option für die Armen gilt […], muß für europäische Verhältnisse die dementsprechende Option dahingehend konzipiert werden, dass wir Christen hierzulande mit den Stigmatisierten und Behinderten helfende und zugleich befreiende […] Interaktionen und Lebensformen verwirklichen, in denen das Wort Gottes als Erfahrung ebenerdig wird.“ 2

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4.1 Inkarnationstheologie oder: in Jesus wird Gott ebenerdig Ottmar Fuchs gibt seiner Theologie einen klaren christologischen Akzent. Von diesem Dreh- und Angelpunkt aus klären sich die grundlegenden theologischen Themen. Das Angesicht Christi gibt ihnen ihr besonderes Gesicht. Das gilt nicht zuletzt für die Gotteslehre und die Anthropologie. „Wer Gott ist und was der Mensch sein könnte und sollte, bekommt seither seinen Inhalt von den Handlungen dieses Menschen und seiner Gottes- wie Menschenbeziehung.“5 Jesus Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott. Diese Grundaussage des Konzils von Chalcedon dient Fuchs als theologischer Kompass. Von der Offenbarungslehre über Gotteslehre und Anthropologie bis hin zur Bestimmung von Kirche und politischer Existenz bringt er sie zur Geltung. (1) Die Person Jesu von Nazareth bildet demnach den offenbarungstheologischen und somit erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt aller weiteren Reflexionen. An ihr hebt Fuchs zunächst die Einheit von Verkündigung und befreiender Praxis hervor. „Jesus spricht vom Reich Gottes besonders dann, wenn er in der Begegnung mit Armen, Stigmatisierten und Schwachen seine Heilsbotschaft im Heilen tut“.6 Mithin gibt es keine Orthodoxie ohne Orthopraxie und umgekehrt. Das Reich Gottes, das Jesus verkündigt, gewinnt in seiner heilenden Praxis bereits Realität, es gewinnt ansatzhaft Gestalt. Besonders die Armen, Leidenden und Stigmatisierten erfahren sein befreiendes Handeln am eigenen Leib: Jesus heilt, treibt Dämonen aus und vergibt Sünden. Gerade in den Wundern äußere sich sein Protest gegen das Leid. Sie sind nach Fuchs Kennzeichen der jesuanischen „Praxis, Not wahrzunehmen, den Notleidenden begegnen zu wollen und ihnen soweit wie möglich zu helfen bzw. sich mit ihnen zu solidarisieren“.7 In der Begegnung mit den Stigmatisierten falle darüber hinaus Jesu ungezwungene Körperlichkeit auf: er berührt Kranke oder lässt sich von ihnen anfassen.8 Aber nicht nur dies. Jesus stellt von vornherein eine Beziehung der Wertschätzung her. „Er spricht empathisch und authentisch mit den Betroffenen“.9 Er betrachtet sie nicht als defizitär noch als Objekte seines Heilens, sondern nimmt sie als Subjekte ernst, die etwas Entscheidendes zu sagen ————— 5

Fuchs, Heilen und befreien, 3. Fuchs, Ernstfall Diakonie, 225. 7 Fuchs, Bei euch aber soll es nicht so sein!, 239. 8 Vgl. ebd., 238; hier auch das Urteil, man könne „sich die Gefühlswärme, vertrauensschenkende Vorgabe, die kommunikative und therapeutische Kraft sowie die leibliche Dimension in seinen Begegnungen kaum farbig und intensiv genug vorstellen!“ 9 Fuchs, Theologische Aspekte zur Interaktion mit psychiatrischen Patienten, 91. 6

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haben.10 Im Übrigen gehe die befreiende Praxis Jesu weit über eine individualisierte Intervention hinaus. Vielmehr scheue es Jesus nicht, sich öffentlich für die Leidenden einzusetzen. Am Samaritergleichnis zeige sich die strukturpolitische Perspektive besonders stark.11 In alledem aber bleibe die Gottesbeziehung Jesu tragender Grund. Aus ihr schöpfe er seine Kraft. Auf Gott sei darüber hinaus auch sein Sprechen und Handeln bezogen. Jesu Pro-Existenz für die Benachteiligten, Armen und Außenseiter12 sei allerdings von Anfang an so radikal, dass sie ihn auch selbst in Gefahr brachte. Er „riskiert […] im Kampf gegen Sünde und Leid, selbst dem Leiden ausgeliefert zu werden.“13 So kommt es dann auch. Jesus selbst wird an den Rand gedrängt, er wird zum Ausgegrenzten und Stigmatisierten. „Sein Nonkonformismus und sein Dissidententum kommen denen, die etwas zu sagen haben, als gefährliche Verrücktheit vor und bringen ihn schließlich ans Kreuz.“14 (2) In der Perspektive des chalcedonensischen Bekenntnisses wird in Jesu Pro-Existenz sowohl der wahre Gott als auch der wahre Mensch ansichtig. Dies gilt es zunächst in Bezug auf Gott zu reflektieren. Fuchs deutet diesen Zusammenhang mithilfe der Inkarnationslehre. Der christliche Glaube vertraue darauf, dass Gott in der Person Jesu von Nazareth Mensch geworden und ansichtig geworden ist. Dieses Credo müsse, um nicht abstrakt zu bleiben, an die konkrete Praxis und Verkündigung Jesu zurück gebunden werden. Die Spezifika des Auftretens Jesu werden so zu Attributen Gottes. Der biblische Gott werde in Jesus „ein Mensch, der sich um die Geringsten kümmert, er wird ein Diakonos, der in der Fußwaschung zeigt, was Eucharistie […] ist“.15 Er solidarisiere sich mit den Schwachen, indem er selbst einer der Geringsten wird. „In Jesus wird Gott ebenerdig.“16 Damit begebe sich Gott auf das Niveau der Leidenden und teile auch deren Perspektive auf das Leben. Mehr noch: er mache sich von ihnen abhängig, binde sich an sie. Ja, er werde selbst zum Hilfsbedürftigen. Das Kreuz wird so zum Prisma, das Gott prägnant erkennbar macht: einen Gott, der „die Niedrigkeit und Schande des gefesselten und gekreuzigten und darin bis zum äußersten abhängig gemachten und ausgelieferten Menschen am eigenen Leib“17 erfährt. ————— 10 11 12 13 14 15 16 17

Vgl. Fuchs, Bei euch aber soll es nicht so sein!, 241. Vgl. ebd., 244. Vgl. ebd., 229. Fuchs, Leben mit psychisch kranken Menschen im Horizont christlicher Theologie, 59. Fuchs, Theologische Aspekte zur Interaktion mit psychiatrischen Patienten, 94. Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 17. Ebd. Ebd., 212.

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Was hier schon anklingt, hat Fuchs in späteren Arbeiten noch deutlicher formuliert, indem er ein kreuzestheologisches Verständnis der Inkarnation entwickelt. So spricht er davon, dass Gott „in Jesus […] ein am Ende bis zum äußersten Leiden getriebenes Menschenleben buchstäblich an den eigenen Leib herangelassen hat“18 Ja, „in Christus existiert Gott selbst mit den Wundmalen der Schöpfung“19 und die Leidensgeschichte der Menschheit sei der geschundene Leib Gottes selbst. Die Inkarnation Gottes wird damit aus einer Hermeneutik des Kreuzes heraus erschlossen. „So wird die Menschwerdung Gottes auch zur Leidwerdung Gottes.“20 (3) Die Person und Praxis Jesu Christi werfen nun aber nicht nur ein Licht auf die Eigenart des biblischen Gottes. In ihnen wird andererseits auch eine Gestalt des wahren Menschseins erkennbar. Fuchs entwickelt seine Anthropologie konsequent aus der inkarnatorischen Christologie heraus. Die Bewegung Gottes auf die stigmatisierten Menschen zu stelle eine Befreiung für die Betroffenen dar. Heilende Erfahrungen, individuell und strukturell, werden für sie erlebbar. Aber damit nicht genug: weil sich Gott selbst in die unterste Schicht der menschlichen Existenz begibt, ermögliche er für diese den umgekehrten Weg von unten nach oben. Dafür steht die Auferstehung Jesu. Anthropologisch bedeute das: „Ich bin nicht wer, weil ich etwas leiste […], sondern: ich bin wer, weil ich ‚gemacht‘ und geschaffen bin, weil Gott mich am Leben erhält und mich will.“21 Fuchs gibt seiner Anthropologie damit einen starken rechtfertigungstheologischen Akzent. Mit der Annahme durch Gott löst sich für Fuchs die gesamte menschliche Anerkennungsproblematik. Weil sich der Mensch auf die Anerkennung durch Gott verlassen kann, werde er frei davon, seine Anerkennung selbst herbeiführen zu müssen.22 Aus der Annahme durch Gott ergebe sich zugleich eine Wertschätzung, die die menschliche Würde konstituiert. „Indem Jesus derart Gott auf der Seite der Kranken, der Sünder, der Schwachen, der Fremden, der Armen, der Behinderten, der Kleinen und der Außenseiter behauptet, verwirklicht er konkret die unendliche Würde, die sie bei Gott haben.“23 Diese Würde gilt unbedingt und ist mit unverlierbaren Rechten verbunden. Das Inkarnationsgeschehen prägt darüber hinaus auch die Beziehungshaftigkeit des Menschen. Weil Gott eine freie und befreiende Beziehung zum Menschen eingeht, werde der Mensch umgekehrt zu einem Beziehungsreichtum befreit. „Der biblische Mensch erfährt sich selbst, er erfährt seine Freiheit und Autonomie in der Begegnung mit Gott wie auch in entsprechenden ————— 18 19 20 21 22 23

Fuchs, Stigmatisierung, 203. Fuchs, Leben mit psychisch kranken Menschen im Horizont christlicher Theologie, 77f. Fuchs, Stigmatisierung, 203. Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 18. Vgl. ebd., 16. Fuchs, Integration – Herausforderung für die Pastoraltheologie (1993), 50.

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Beziehungen mit den Menschen.“24 Weder Autonomie noch Abhängigkeit kennzeichnen die conditio humana, wenn man sie von ihrem Pendant isoliert. Während völlige Autonomie in Autismus überginge, ließe umgekehrt Abhängigkeit allein keinerlei Selbstentfaltung zu. Deshalb gilt es für Fuchs, beide Aspekte aufeinander zu beziehen. „Autonomie des Menschen ist eine Selbstbestimmung im Zusammenhang mit einer Selbsterfahrung, die die eigenen Abhängigkeiten von Natur, von anderen und systemischen Zusammenhängen wahrnimmt […] und sich in diesen Abhängigkeiten als Freiheit entwickelt, indem das Abhängigsein grundsätzlich akzeptiert wird und indem in dieser Akzeptanz gleichzeitig heilsame Abhängigkeiten aufgebaut und entfaltet sowie unheilsame aufgearbeitet bzw. abgebaut werden“.25 Diesem Definitionsversuch ist allerdings das Entscheidende hinzuzufügen: die Menschwerdung Gottes und der von Jesus verwirklichte Beziehungsreichtum sind der Ermöglichungsgrund dafür, dass nun auch der Mensch seinerseits zu Beziehungen fähig wird, in denen er sich von anderen abhängig machen und zugleich darin seine Freiheit und Identität gewinnen kann. Indem der Mensch in der Begegnung mit dem Mensch gewordenen Gott davon befreit werde, seine Existenz aus eigenen Kräften zu sichern, werde er zugleich auch befähigt, sich als endliches und begrenztes Wesen anzuerkennen. Die biblische Anthropologie sei genau von diesem Realismus geprägt, der „weder die Vitalität der Menschen noch die Erfahrung ihrer Gebrochenheit“26 verhindert. Zugleich ermögliche der Gottesglaube ein Selbstverständnis, das es erlaubt, die eigenen Begrenzungen, die eigene Endlichkeit und Sterblichkeit getrost anzunehmen. „Wer Gott zutraut, daß er unser Leben und unsere Geschichte in seine Hand geschrieben hat, daß er uns mit seiner Versöhnung begleitet und im Tod auffängt, der ist davon erlöst, vor sich und vor anderen selber Gott spielen zu müssen. Sich als begrenzte und angewiesene Geschöpfe aus der Hand Gottes annehmen und zugleich im Vertrauen auf Gott sich in diese Hand hineinbegeben ist das ‚A und O‘ biblischer Gottesbeziehung.“27

4.2 „Behinderung als ‚Begabung‘ zum Leben“ Im Angesicht Christi erkennen wir sowohl das Gesicht Gottes als auch das wahre Gesicht des Menschen. Von dieser chalcedonensischen Epistemologie aus erschließt sich Ottmar Fuchs auch ein spezifisches theologisches ————— 24 25 26 27

Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 15. Ebd., 12. Fuchs, Integration – Herausforderung für die Pastoraltheologie (1993), 48. Fuchs, Grenzen von Hilfe und Macht im Umgang mit psychisch kranken Menschen, 142f.

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Verständnis von Behinderung. Nirgendwo entwirft er dabei eine Sonderanthropologie. Vielmehr sind die bereits genannten theologischen und anthropologischen Akzente die einzigen und entscheidenden. Deshalb kann es im Folgenden lediglich darum gehen, aus dem bereits Gesagten Konsequenzen zu ziehen. (1) Die befreiende Praxis Jesu gilt den Stigmatisierten, den Armen, den Außenseitern, den Behinderten und Besessenen. Er begegnet ihnen auf gleicher Ebene, nimmt sie in ihrer Ganzheit ernst, stellt sie in die Mitte der Kommunikation. So zeugt sein Verhalten vom „Respekt vor der inhaltlichen Kompetenz gerade derer, die die Majorität nicht für inhaltlich kompetent hält“.28 Ja, in der Begegnung mit Jesus werden die Schwachen zu Starken, die sich ihrerseits den Schwachen öffnen.29 An den exorzistischen Heilungen Jesu beobachtet Fuchs, dass die „Besessenen“ oft die wahre Identität Jesu erkennen, während die übrigen Zeitgenossen nicht verstehen, wer Jesus ist.30 „Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!“ (Mk 1,24b). Im Übrigen habe Jesus keine Erklärung für Krankheit oder Leid gegeben. Seine Antwort sei vielmehr praktisch gewesen, indem er den kranken und leidenden Menschen nahe gewesen sei und sich für sie engagiert habe.31 Genau diese Radikalität habe ihn schließlich ans Kreuz gebracht. Wenn man diese Praxis Jesu zugleich als Offenbarung des Wesens Gottes auffassen darf, dann darf man die bereits oben gegebene Charakterisierung nunmehr so radikal verstehen, dass die Rede vom behinderten Gott angemessen erscheint. Der Weg Jesu ans Kreuz offenbart das Gesicht des „christlichen Gottes als dessen, der sich um der Liebe willen nicht nur bindet, sondern auch binden und behindern läßt“.32 Der Gott am Kreuz ist der behinderte Gott. „So ist Gott in der Geschichte ein Behinderter unter Behinderten“.33 Gott begegne Menschen mit Behinderung somit auf doppelte Weise: als einer der sich mit ihnen solidarisiert und sie befreit und als einer, der sich mit ihnen und um ihrer willen behindern lässt. (2) Menschen mit Behinderung, die dem behinderten Gott begegnen, erfahren sich in dieser Begegnung angenommen und akzeptiert. Es gilt für jeden Menschen: der Gott, der den Weg nach unten nicht scheut, hebt die Menschen zugleich empor. Die Annahme durch Gott erleichtert allen die ————— 28

Fuchs, Theologische Aspekte zur Interaktion mit psychiatrischen Patienten, 90. Vgl. Fuchs, Der Wert des Lebens oder wie wertvoll ist das Leben?, 65. 30 Vgl. Fuchs, Theologische Aspekte zur Interaktion mit psychiatrischen Patienten, 89f. 31 Vgl. Fuchs, Stigmatisierung, 202. 32 Fuchs, Ein Gott der Blinden und Lahmen, 213; ähnlich auch ders., Die Autonomie des Menschen, 17: „Gott begibt sich selber in die ‚niedrigsten‘ Formen von Menschsein hinein, er wird – bis zum Extrem am Kreuz – einer der Geringsten. Angesichts der Behinderten […] sowie ihrer Rettung und Anerkennung läßt er sich selber behindern.“ 33 Fuchs, Integration (1993), 68. 29

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Selbstannahme. Sie konstituiert eine Normalität des je Individuellen. Bezogen auf Menschen mit Behinderung bedeutet das: „Behinderung ist ein Existential menschlichen Daseins.“34 Aber sie ist noch mehr: an der befreienden Begegnung Jesu mit behinderten Menschen könnten diese ihre Kompetenzen35 erkennen. Sie sind Subjekte. Sie haben etwas zu sagen. Sie sind mehr als ihre Behinderung. Deshalb könne „eine Behinderung […] zur Begabung werden“,36 ja Behinderung lasse sich als „‚Begabung‘ zum Leben“37 verstehen. Worin aber kann die Begabung der Behinderung bestehen? Für die betroffenen Personen selbst, so legt es Fuchs nahe, besteht sie in der Erfahrung der Annahme durch Gott als Behinderte.38 In einem anderen Zusammenhang formuliert er es in der Übertragung einer Seligpreisung: „selig ihr Behinderten, denn euch gehört die Anerkennung und die Hochschätzung Gottes, euch gehört sein Reich!“39 Ohne dass Fuchs den Begriff in diesen Zusammenhängen selbst nennt: seine Texte legen die Deutung nahe, dass Behinderung auch zu einer Begabung in der Beziehung zu Anderen werden kann. So spricht Fuchs beispielsweise davon, „daß die gesteigerte Angewiesenheit des behinderten Menschen auf den anderen einen prinzipiellen Wahrheitswert des Menschseins aufdeckt […]. Im Behinderten, in seiner Angewiesenheit auf und in seiner Abhängigkeit von anderen begegnet dem sogenannten modernen Menschen in einer unabweisbar handgreiflichen Erfahrung eine Dimension von Leben und Menschsein, die er weder bei den Behinderten noch bei sich selbst gerne wahrhaben will.“40 Darüber hinaus begegne bei Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Lebenserfahrung eine besonders starke Individualität, eine Einmaligkeit und Originalität, die nichtbehinderten Zeitgenossen oft abgehe. Schließlich, auch das hebt Fuchs hervor: in ihrer Spontaneität, ihrer Offenheit und in ihrem körperlichen und zärtlichen Aufeinanderzugehen überschritten Menschen mit Behinderung Grenzen der Konvention, und zeigten uns damit, um wie viel reicher unsere zwischenmenschlichen Begegnungen sein könnten.41 In der Begegnung mit behinderten Menschen könnten die so genannten ————— 34

Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 26. Auf diese Kompetenzen der leidenden, stigmatisierten und behinderten Menschen hat Fuchs vielfach hingewiesen, bspw. Fuchs, Kirche für andere, 284: „Leidende habe nicht nur Anspruch auf Hilfe, sondern haben immer auch etwas Wichtiges zu sagen“; ders., Grenzen von Hilfe und Macht im Umgang mit psychisch kranken Menschen, 136: „Auch anderweitig ist bei Jesus ein große Respekt vor der inhaltlichen Kompetenz gerade derer zu bemerken, die von der Majorität nicht für inhaltlich kompetent gehalten werden.“ 36 Fuchs, Integration (1993), 69. 37 Ebd., 67. 38 Vgl. ebd., 69: „Als behinderte Menschen sind die Menschen von Gott geliebt und nicht erst, wenn sie geheilt sind. Auch eine Behinderung kann zur Begabung werden.“ 39 Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 29. 40 Ebd., 24. 41 Vgl. ebd., 25. 35

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Nichtbehinderten Erfahrungen machen, die das eigene Menschsein vertiefen und insofern wahrer machen. Rollen könnten getauscht und in der wechselseitigen Perspektivübernahme neue Dimensionen des Menschseins erschlossen werden. Deshalb kann Fuchs sagen: „An der Begegnung mit den Schwachen und Behinderten entscheidet sich überhaupt die Möglichkeit, christliches Menschsein zu erfahren“.42 (3) Fuchs hebt in seiner Darstellung der befreienden Praxis Jesu besonders stark auf das heilende Handeln ab. Der damit berührte Zusammenhang von Heilung(swundern) und Heil bedarf der besonderen Reflexion. Sehe ich richtig, dann nimmt Fuchs im Laufe der Jahre Umbesetzungen vor. So behauptet er noch Ende der achtziger Jahre eine enge und unlösbare Verbindung von Heilung und Heil. Die Heilungswunder Jesu seien „Bestandteile seiner integralen Verkündigung der mit ihm (in Wort und Tat) anbrechenden Gottesherrschaft“.43 Um der Ganzheitlichkeit der jesuanischen Verkündigung willen müsste das Verhältnis von Heilung und Heil „reziprok aufgefaßt werden, nämlich nicht nur von der Heilung in Richtung auf die Heilsbotschaft, sondern auch umgekehrt von der Heilsbotschaft in Richtung auf die Heilung. So ist das ‚Heilen Jesu‘ nicht nur ‚in seinem Sinngehalt eng mit dem Heil verknüpft‘, sondern auch das Heil ist seinerseits in seinem materialen Wirkgehalt eng mit der Heilung verknüpft!“44 In diesen Formulierungen wird die Zueignung des Heils unmittelbar an die Heilung gebunden, die Fuchs allerdings im weiteren Fortgang von jedwedem Wundergehalt befreit. Vielmehr werden anschließend die „heilenden und helfenden Berufe“45 dem zentralen und eigentlichen Selbstvollzug der christlichen Existenz zugeordnet. Der Begriff der Heilung wird also denkbar weit ausgelegt: auch die Hilfe und die Solidarität zählen zu ihr hinzu. Angesichts der zuvor stark pointierten Reziprozität von Heil und Heilung wirkt die anschließende Ausweitung des Heilungsbegriffs wie eine nachträgliche Entflechtung. In späteren Texten hat Fuchs diese enge Verknüpfung denn auch zurückgenommen und den Zusammenhang von Heilung und Heil kreuzestheologisch gedeutet. Fuchs geht jetzt von der Beobachtung aus: „Die meisten seiner Zeitgenossen bleiben ungeheilt.“46 Die Herausforderung für die Theologie bestehe deshalb darin, von denen zu handeln, die behindert bleiben. „Von der Kreuzestheologie her“, so urteilt Fuchs jetzt, „enthüllen sich die Heilungswunder Jesu (was ihre wunderliche Dimension anbelangt) als relativ hilfloser Versuch, Gottes Macht in der Geschichte in der Form sol————— 42 43 44 45 46

Fuchs, Ein Gott der Blinden und Lahmen, 215. Fuchs, Bei euch aber soll es nicht so sein!, 239. Ebd., 239f. Ebd., 240. Fuchs, Integration (1993), 50.

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cher Erfolgseffekte zu signalisieren.“47 Demgegenüber ruft er in Erinnerung, „daß nicht jedes Unheil unheilig ist“.48 Mithin: Fuchs kappt die allzu enge Verbindung von Heilung und Heil. Vor dem Hintergrund der Inkarnationsund Kreuzestheologie muss sie sogar gelockert werden: denn das Kreuz Christi markiert auch das Scheitern des Wundertäters Jesus. Sein heilendes Handeln entbehre daher jedes heilstotalitären Aspektes. „Wer geheilt ist, bleibt gefährdet und anderweitig behindert“.49 Die Zuordnung von Heil und Heilung erfolgt nunmehr unter einem eschatologischen Vorbehalt. „Heilendes Handeln ist immer ‚nur‘ ansatzhaft verwirklichte Hoffnung in erhoffter Wirklichkeit: Die Kategorie ‚Wunder‘ erzählt ‚fiktiv‘ in die Geschichten von Hilfe und Befreiung als Realität hinein, was ansonsten in der Erfahrungswirklichkeit meist nicht geschieht, was aber zu solchen Geschichten inhaltlich, zeitlich gesprochen eschatologisch dazugehört, insofern helfende und befreiende Begegnung auch gegen den Augenschein von Misserfolg und Scheitern nicht umsonst ist, sondern die ‚Wunder‘ des Reiches Gottes auf die Erde bringt und im Reich Gottes auch ihre ‚wunderbare‘ Erfüllung findet.“50 Heil und Heilung konvergieren erst im Eschaton. Unter den Bedingungen der irdischen Welt dagegen sei es nicht nur möglich sondern sogar realistisch, ganz heil und doch nicht geheilt zu sein. Auch wer behindert ist und bleibt, dürfe sich ganz von Gott angenommen wissen.51

4.3 Diakonische Theologie oder: ebenerdige Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung „Was für ein befreiender Gott!“ – mit diesem Schlussakkord beendet Ottmar Fuchs seine theologischen Reflexionen zum Integrationsthema.52 Die anthropologische Skizze legt es nahe, fortzusetzen: Was für ein befreiter Mensch! Aber: welche Konsequenzen hat diese Befreiung? Wäre es nicht folgerichtig, noch einen Schritt weiter zu gehen und dem Indikativ nunmehr den Imperativ folgen zu lassen: Was für eine befreiende Diakonie? In der Tat leitet Fuchs aus seiner theologischen Grundlegung die Anforderung ab, „daß es zur sozialen Kompetenz des Christen gehört, mit behinderten Personen ebenerdig in der Hilfe, ganzheitlich in der Begegnung und gegenseitig im Austausch menschlicher Lebensqualität umzugehen. Noch ————— 47

Ebd., 67. Ebd. 49 Ebd., 68. 50 Ebd., 68f. 51 Vgl. ebd., 70: „Demnach ist ein integraler Bestandteil der Befreiung, nicht sündenfrei sein zu müssen, nicht rundum geheilt sein zu müssen.“ 52 Ebd., 71 [Hervorhebung von mir; U.L.]. 48

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mehr: solange es Behinderte und Schwache, Arme und Unterdrückte gibt, ist es die Aufgabe der christlichen Gemeinde, diese […] zu suchen, zu ihnen hinzugehen und ihnen dort entsprechend helfend und befreiend zu begegnen“.53 Dieser Anforderung möchte ich im Folgenden sowohl auf der Ebene personaler Beziehungen als auch auf der Ebene struktureller Diakonie nachgehen. (1) Eine erste Konsequenz besteht in der paritätischen, ebenerdigen Beziehung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Dafür ist nicht nur wechselseitige Akzeptanz der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten vonnöten. Es brauche auch die Bereitschaft, die eigenen Grenzen und Unmöglichkeiten zu zeigen.54 Es bedürfe einer Atmosphäre, in der es möglich ist, Noterfahrungen, Scheitern und Erfahrungen mit der Verborgenheit Gottes auszutauschen.55 Gerade die Erkenntnis eigener Defizite und der Umgang mit den persönlichen Schwächen sei für nichtbehinderte Menschen besonders notwendig. Denn: „Nur wer […] mit seinen eigenen Behinderungen umgehen kann, kann auch Behinderten mitmenschlich begegnen, insofern er umgekehrt an diesen nicht nur die Behinderung, sondern auch deren unzählige Möglichkeiten und Qualitäten wahrnimmt und schätzt.“56 Darauf vor allem komme es an: Beziehungen aufzubauen, in denen gemeinsame Lebensformen entwickelt werden können und Beziehungen zu gestalten, in der sich die Beteiligten im anderen selbst finden können. Dort, wo Helfen keine Einbahnstraße mehr ist, dort also, wo beim Helfen Gegenverkehr herrscht, dort könnten Rollen getauscht und neue Perspektiven erschlossen werden. Immer dann, „wenn ein Behinderter den Raum bekommt, in dem er mit anderen Behinderten und mit den Helfern zusammen die eigenen Erfahrungen und Enttäuschungen austauschen darf; wenn die Betreuten sehen, daß ihr Leben, wie es ist […] elementare Wichtigkeit für die Begegnung mit denen besitzt, die für sie und mit ihnen da sind; wenn Helfer ihre diakonischen Begegnungen ihrerseits als Orte erleben, wo sie […] sehr viel für sich selbst geschenkt bekommen […]: immer dann geschieht eine ebenerdige diakonische Beziehung zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen, bei der die Rollen sich auch vertauschen können […], und wo klar wird, daß der Zustand des Leidens und der Behinderung genauso zuständig und entscheidend für menschliches Leben und menschliche Sinnerfahrung ist wie die Existenz des Gesunden und Normalen.“57 (2) Für die Verwirklichung solcher ebenerdiger Beziehungen kommt der christlichen Gemeinde eine besondere Bedeutung zu. Die reale Präsenz des ————— 53 54 55 56 57

Fuchs, Ein Gott der Blinden und Lahmen, 218. Vgl. Fuchs, Theologische Aspekte zur Interaktion mit psychiatrischen Patienten, 93. Vgl. Fuchs, Integration (2002), 163. Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 21. Fuchs, Bei euch aber soll es nicht so sein!, 241f.

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Mensch gewordenen, des behinderten, gekreuzigten und zum Leben auferstandenen Gottes legt nach Fuchs Sozialformen des Glaubens nahe, in der eine analoge „Proexistenz, […] ein Sein zugunsten heilender Gottes- und solidarischer Menschenbeziehung“58 verwirklicht wird. Die paulinische Leib-Christi-Ekklesiologie bilde dafür ein Paradigma: jedes Glied des Leibes hat seine besondere Funktion, ist auf die anderen Glieder angewiesen und bildet erst gemeinsam mit allen anderen den Leib. Ottmar Fuchs reflektiert das Modell des Leibes Christi vor allem in Bezug auf die Begrenzungen des Einzelnen und die daraus entstehende Ergänzungsgemeinschaft der Unvollkommenen. Er greift deshalb in mehreren Texten auf Ulrich Bachs Begriff von Kirche als „Patientenkollektiv“ zurück: „Wir alle sind aufeinander angewiesen, jeder hat seine guten und weniger guten Möglichkeiten, auch die Starken haben ihre Schwächen und umgekehrt, und es kommt alles darauf an, dass wir die dunklen Gegebenheiten und unsere besten Möglichkeiten zusammenwerfen und so das Miteinander gestalten.“59 Für den Aufbau entsprechender kirchlicher Sozialformen hat dieses Verständnis erhebliche Konsequenzen. Fuchs betont die Notwendigkeit, dass die kirchliche Verkündigungs- und Bildungsarbeit auch eine Aufklärungsfunktion wahrnehmen solle.60 Er plädiert für die Schaffung von gemischten Gemeinschaften, in denen Stigmatisierte gleichberechtigte Partner sind.61 Gelingt dies in den kirchlichen Kindertagesstätten, in der Jugendarbeit, im Gottesdienst und in anderen kirchlichen Begegnungskontexten, dann werden die „Gemeinden Ort der Solidarisierung für ‚andere‘ […], weil in ihnen selbst die Erfahrung zugelassen wird, anders als andere sein zu dürfen, zu Behinderungen zu stehen, ja sich auch fremd werden zu dürfen […], ohne mit Liebesentzug bestraft zu werden.“62 Kirche als gemischte Gemeinschaft, als Ergänzungsgemeinschaft unterschiedlich begabter und behinderter Personen könne so auch zum Ort für identitätsstiftende Erfahrungen werden, die jeder Mensch für die Entwicklung von Ich-Stärke63 benötigt, die wiederum die Voraussetzung dafür ist, mit anderen Personen auf eine nichtprojektive Weise umzugehen. (3) Eine Kirche, die sich auf diesem Hintergrund als soziale Lerngemeinschaft im Horizont des Reiches Gottes versteht,64 ist von vornherein eine diakonische Kirche. Die Unterscheidung zwischen einer verkündigungsorientierten Kirche und einer praxisorientierten Diakonie lasse sich daher nicht ————— 58 59 60 61 62 63 64

Fuchs, Wenn die Diakonik in die Kirche einbricht, 299. Fuchs, Integration (1993), 53. Vgl. Fuchs, Leben mit psychisch kranken Menschen, 69–71. Vgl. ebd., 71–74. Fuchs, Integration (1993), 58. Vgl. ebd., 59. Vgl. Fuchs, Integration (2002), 165.

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aufrechterhalten. Zur Begründung des Zusammenhangs von Verkündigung und Diakonie greift Fuchs erneut auf das chalcedonensische Bekenntnis zurück. An ihm hebt er die Perichorese, die gegenseitige Durchdringung der menschlichen und göttlichen Natur in Christus hervor. Das, was vom Menschen Jesus von Nazareth gilt, kann gleichfalls von seiner Gottheit ausgesagt werden. „Analog gilt dies […] für den Selbstvollzug der Kirche in Wortverkündigung und diakonia […]. Beide ‚Naturen‘, die zwischenmenschliche jesuanische Diakonie und die Verkündigung des Reiches Gottes […] sind ‚ineinander‘: wo die diakonische Begegnungsform lebt, ist implizit auch die Verkündigung des Evangeliums anwesend.“65 Und umgekehrt: dort, wo das befreiende Wort Jesu gepredigt wird, bedarf es zugleich der diakonischen Praxis. Die Etablierung eines eigenen Verbandes zur Wahrnehmung der diakonischen Aufgaben sei vor diesem Hintergrund unbefriedigend.66 Weil Gott in Christus zum Diakon der Menschen wird, sei wiederum der Dienst aneinander eine Gestalt glaubender Nachfolge. Die Identität der Kirche verwirklicht sich durch Diakonie.67 Fuchs spricht sogar von der grundsätzlichen Prävalenz der Diakonie und formuliert: „Die Diakonie stellt prinzipiell in jedem Fall die entscheidende Option dar, von der her alle weiteren Prioritäten zu organisieren sind.“68 (4) Einer solchen befreienden Diakonie und also: einer solchen befreienden Gestalt von Kirche muss es nach Fuchs zunehmend darum gehen, integrative Lebensformen auf allen Ebenen aufzubauen; so auch zwischen Menschen mit und ohne Behinderung.69 Dafür bedürfe allerdings der gängige Rehabilitations- und Integrationsbegriff einer kritischen Aufarbeitung. Die bloße Anpassung behinderter Menschen an eine unverändert bleibende gesellschaftliche Landschaft sei aufzugeben. Rehabilitation meine recht verstanden vielmehr, dass sich auch die gesellschaftliche und ökonomische Umgebung gegenüber Menschen mit Behinderung rehabilitieren müsse.70 ————— 65

Fuchs, Der Wert des Lebens oder wie wertvoll ist das Leben?, 74. Vgl. Fuchs, Kirche für andere, 283. 67 Vgl. ebd., 284f mit der These, „daß sich die Identität von Christ und Kirche durch Diakonie verwirklicht.“ 68 Ebd., 286. 69 Vgl. Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 23. 70 Vgl. Fuchs, Leben mit psychisch kranken Menschen, 66. Zur Ambivalenz des Integrationsbegriffs ebenfalls die beiden gleichnamigen jedoch inhaltlich unterschiedenen Texte: Integration (1993), 43ff und (2002), 155–160; hier 158: „Kollektiver Integrationszwang, in dem die kleinen, schwachen, behinderten, kranken und unpassenden Menschen um den Preis integriert werden, dass sie den Bedingungen der Starken und Gesunden unterworfen werden und so ihre Freiheit und Subjekthaftigkeit verlieren, kann nicht die positive Aura des Integrationsbegriffs für sich beanspruchen.“ 66

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Allerdings reflektiert Fuchs das Thema Integration in seinen jüngeren Veröffentlichungen nuanciert anders als in den früheren. Mitte der 1980er Jahre steht der Gedanke im Mittelpunkt, dass die Caritasinstitutionen zu Basisgemeinden werden sollten, in denen integrative Lebensformen aufgebaut werden.71 In einem Text aus dem Jahre 1990 hält Fuchs die Durchlässigkeit von geschlosseneren und offeneren Einrichtungen zueinander für die „Gretchenfrage“. Auch wenn gegen ein „Zentrum für behinderte Menschen“ nichts einzuwenden sei, „die dort (fast wie in einer Welt für sich) nicht nur ihre Freizeit, sondern auch ihre Arbeits- und Kulturbetätigungen ermöglicht bekommen“ dürfe man „das ideale Ziel nicht aus dem Auge verlieren, daß solche Institutionen nur als Durchgangszeiten und Übergangssysteme gesehen und gestalten werden: in je offenere soziale Felder hinein, in denen die Betroffenen nicht mehr in einer Sonderwelt, sondern in der Alltagswelt der Gesellschaft leben und integriert sein können. Dies wäre z.B. der Fall, wenn […] behinderte Menschen in der allgemeinen Wohnungslandschaft in Wohngruppen leben und in normalen Firmen ihrer Arbeit nachgehen können.“72 In jüngeren Veröffentlichungen reflektiert Fuchs das Integrationsthema zusätzlich unter einem differenztheoretischen Gesichtspunkt. Unter Bezug auf interkulturelle Erfahrungen von Minderheitengruppen bringt er den Begriff des „Integrationsmordes“ (Paulo Sueß) in die Diskussion. Mit diesem Begriff bringen beispielsweise Indios aus dem Amazonasgebiet ihre Erfahrung mit Integrationsprogrammen zum Ausdruck, die sie als Versuche erlebt haben, die Unterschiedlichkeit der anderen und damit ihre kulturelle Identität zu zerstören. Um solche Unterschiede anzuerkennen, differente Lebensformen zu respektieren und spezifische Identitäten zu akzeptieren hält es Fuchs nunmehr für notwendig, „das personale Integrationskonzept durch ein intersystemisches bzw. interinstitutionelles“ zu ergänzen. „Wenn die Eigenständigkeit in der Gesellschaft nicht oder nicht zureichend gewahrt bleiben kann, dann sollten behinderte Menschen mindestens das Recht haben, in eigenen Wohn-, Lebens- und Arbeitsbereichen das Leben zu führen, das ihnen innerhalb der Gesamtgesellschaft verweigert wird.“73 In der hier angedeuteten Möglichkeit hat Fuchs das frühere basisgemeindliche Pathos gegen einen realistischen Blick auf bestehende gesellschaftliche Widersprüche getauscht. Er nennt die Variante getrennter Lebenskontexte eine Notlösung und zugleich eine Anklage, weil die Gesellschaft zu einer Rehabilitation gegenüber Menschen mit Behinderung nicht fähig sei. Aber er hält zugleich das dahinter stehende Problem für (gegenwärtig?) nicht ————— 71 72 73

Vgl. Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 23. Fuchs, Grenzen von Hilfe und Macht im Umgang mit psychisch kranken Menschen, 139. Fuchs, Integration (2002), 158.

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lösbar. „Man kann diese Dialektik […] zwischen personaler Integration (in die eigene soziale Welt bei Wertschätzung der Andersheit von Personen) und struktureller Dissoziierung (bei Wertschätzung der anderen sozialen Welt), die letztlich nicht auflösbar ist, weil ihre Pole je nach Situation immer auch notwendig sind, in vielen Integrationsbereichen durchbuchstabieren.“74 Aus der Anerkennung dieser Dialektik ergibt sich für Fuchs nunmehr eine doppelte Konsequenz: Priorität genießen integrative Projekte in der Gesellschaft und in die Gesellschaft hinein. Allerdings sollte es nach Fuchs – besonders für extrem behinderte Menschen – immer auch eigene Institutionen geben. Ob aber nun stationär oder ambulant: „Entscheidend ist […], dass die Gleichstufigkeit der Beziehung eben nicht nur im Bereich intersubjektiver Begegnung und Integration geschieht, sondern auch im Bereich der Beziehung dieser Institutionen mit den anderen Institutionen und Lebensbereichen der Gesellschaft“.75

4.4 Anthropologischer Wahrheitswert für andere? Kritische Würdigung Unter den von mir untersuchten theologischen Entwürfen gehört der von Ottmar Fuchs ohne Zweifel zu denjenigen, die am offensivsten die Kompetenz und Subjekthaftigkeit von Menschen mit Behinderung betonen. Der klare emanzipatorische Ansatz ist die besondere Stärke des vorliegenden Ansatzes. Menschen mit Behinderung werden so ermutigt, ihre Stärken zu entwickeln und ihre Rechte einzufordern. Nichtbehinderte Menschen werden gleichzeitig aufgefordert, jenseits von Mitleid die Kompetenzen von Personen mit Behinderung wahrzunehmen. Für sie gilt es zu realisieren, dass behinderte Menschen etwas Wichtiges und Wahres zu sagen haben. Beide, Menschen mit und ohne Behinderung, werden so darin gestärkt, paritätische Beziehungen zu- und miteinander aufzubauen. Jedwede Beschränkung auf den persönlichen Bereich liegt Fuchs fern. Vielmehr sind die strukturellen Wirklichkeitsbedingungen sowohl auf kirchlicher wie gesellschaftlicher Ebene von Anfang an im Blick. Die Impulse der lateinamerikanischen „Theologie der Befreiung“ werden von Fuchs konsequent zu einer Befreiungspraxis in Europa, die „Option für die Armen“ zu einer Option für die stigmatisierten, leidenden und behinderten Menschen weiterentwickelt. Insgesamt ist also zu würdigen, dass Fuchs einen emanzipatorischen Theologieentwurf vorlegt und mit ihm reale Befreiungsprozesse anstößt. ————— 74 75

Fuchs, Integration (2002), 159. Ebd.

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Zur befreienden Hermeneutik des Evangeliums zählt auch, dass Fuchs die dämonologischen Aspekte des neutestamentlichen Krankheits- und Behinderungsverständnisses konsequent vermeidet. Was er in Bezug auf biblische Erklärungsmodelle für Besessenheit formuliert, hat auch Bedeutung für die Gesamtheit mythischer Deutungsparadigmen für Krankheiten und Behinderungen: „Jene dämonologische Anthropologie, in der man sich zur Zeit Jesu behalf, um die unverständlichen Verhaltensweisen psychisch kranker Menschen als Besessenheit von Dämonen zu erklären, muß […] endgültig verabschiedet werden“.76 Diese klare Verabschiedung ist in dieser wünschenswerten Eindeutigkeit von wenigen anderen Theologinnen vollzogen worden. Obwohl also bei Fuchs eine klar inklusive, kompetenz- und emanzipationsorientierte Theologie zu würdigen ist, bleiben gleichwohl einige Fragen offen. Sie möchte ich im Folgenden diskutieren. (1) Ähnlich wie viele andere Theologinnen benutzt Fuchs fast stets Sprachfiguren, in denen von den „kleinen, schwachen, behinderten, kranken und unpassenden Menschen“77 die Rede ist. Belege für solche semantischen Figuren finden sich durchgängig in seinen Texten. Wer aber solche Zusammenstellungen vornimmt, löst damit fast unweigerlich Assoziationen und Bedeutungsübertragungen aus. Menschen mit Behinderung geraten dadurch in einen Assoziationsspielraum von klein, schwach, krank und unpassend. Sicher: Fuchs geht es um eine befreiende und solidarische Praxis. Aber wider willen halten Formulierungen wie die genannte die Menschen, für deren Emanzipation Fuchs sich einsetzt, klein. Deshalb ist gerade dann, wenn man Jesu solidarisches Handeln mit behinderten Menschen hervorheben will, ein sensibler Sprachgebrauch angezeigt. (2) Nicht weit davon entfernt liegt für mich ein Einwand, der sich auf die These bezieht, die gesteigerte Angewiesenheit des Menschen mit Behinderung auf den Anderen decke einen prinzipiellen Wahrheitswert des Menschseins auf. In der Angewiesenheit und Abhängigkeit der behinderten Person begegne dem so genannten modernen Menschen eben diese prinzipielle Dimension des Menschseins in einer unabweisbar handgreiflichen Erfahrung.78 Wird hier nicht wiederum der Mensch mit Behinderung auf seine Schwäche, ja auf seine prinzipielle Abhängigkeit hin festgelegt? Und wird, wer in ihm vor allem eine grundsätzliche anthropologische Angewiesenheit erblickt, diesen Menschen auch darin fördern können, zunehmend selbstständiger und unabhängiger zu sein? Für mich ist allerdings nicht nur diese Festlegung problematisch, bei der ich den Verdacht habe, dass sie ————— 76 77 78

Fuchs, Leben mit psychisch kranken Menschen im Horizont christlicher Theologie, 61. Fuchs, Integration (2002), 158. Vgl. Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 24.

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auch pädagogisch nicht ohne Folgen bleibt. Ich möchte vielmehr noch einen Schritt weiter gehen. Fuchs macht ja nicht nur eine Aussage über Menschen mit Behinderung selbst, sondern auch eine Beziehungsaussage: nichtbehinderten, modernen Menschen begegnet in ihren behinderten Mitmenschen der prinzipielle Wahrheitswert des Menschseins, nämlich das Moment der Abhängigkeit und Angewiesenheit. Werden in solchen Formulierungen Menschen mit Behinderung nicht auf eine problematische Weise instrumentalisiert? Niemand existiert als Person zu dem Zweck, anderen eine Lektion über die wahre conditio humana zu erteilen. Personsein heißt seit Kant: Zweck an sich selbst, Selbstzweck zu sein. Deshalb scheint mir ein Doppeltes notwendig zu sein: Menschen mit Behinderung weder auf Charakteristika wie Schwäche etc. festzulegen (und sie damit wiederum nur über ihre Behinderung wahrzunehmen) noch ihr Menschsein für andere Menschen zu funktionalisieren. (3) Der oben gegenüber Moltmann geäußerte Einwand, dass die These, eine Behinderung sei auch eine Begabung, für Betroffene kaum nachvollziehbar sei, gilt in gewisser Weise auch gegenüber Fuchs. Zwar wird sie hier eingeschränkt: Behinderung kann zur Begabung werden. Dennoch gilt meine Kritik auch an dieser Stelle. Die unterschiedlichen Formen, mit denen Menschen ihre eigene Behinderung deuten: Ablehnung und Annahme, Klage und Mut, Trauer, Auflehnung, Hinnahme und sehr viel mehr – all diese möglichen und realistischen Selbstdeutungen werden mit der theologischen These unter einen Akzeptanzdruck gesetzt. Die durch das Evangelium inspirierte Aussage wird für Betroffene so leicht zu einem Gesetz. (4) Eine von mir an vielen Entwürfen gemachte Beobachtung besteht darin, dass Theologinnen kaum die behindertenpädagogische Diskussion wahr- und aufgenommen haben. Im vorliegenden Fall äußert sich dies darin, dass Fuchs noch im Jahr 1990 Zentren für Menschen mit Behinderung erwähnt, in denen diese „(fast wie in einer Welt für sich) nicht nur ihre Freizeit, sondern auch ihre Arbeits- und Kulturbetätigung ermöglicht bekommen“ und diese Erwähnung mit dem Hinweis kommentiert: „Dies ist sehr viel, und dagegen ist nichts zu sagen.“79 Allerdings ist die behindertenpädagogische Diskussion über die Strukturen stationärer Hilfsangebote zu dieser Zeit schon deutlich weiter gewesen als Fuchs sie wahrnimmt. Das sog. Normalisierungsprinzip, das in den 1950er und sechziger Jahren in Skandinavien entwickelt wurde, war spätestens seit Anfang der achtziger Jahre in Deutschland bekannt. Es sieht u.a. die örtliche Trennung der Bereiche Arbeit, Freizeit und Wohnen vor.80 Mein Einwand mag geringfügig ————— 79 80

Fuchs, Grenzen von Hilfe und Macht im Umgang mit psychisch kranken Menschen, 139. Vgl. Thimm, Das Normalisierungsprinzip.

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scheinen. Die Intensivierung des Gesprächs zwischen der Theologie und der Behindertenpädagogik könnte es jener aber erleichtern, ihre praktischtheologischen Schlussfolgerungen auf die aktuellen pädagogischen und professionellen Konzepte dieser zu beziehen.

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5. Würde als kommunikative Freiheit. Christof Bäumlers Überlegungen zur Menschenwürde Christof Bäumler „Als vor Jahrzehnten unser Gemeindepfarrer erfuhr, daß unser drittes Kind geistig behindert sei, meinte er: ‚Wie gut, daß es Bethel gibt‘“1 So beginnt Christof Bäumler einen Aufsatz, der sich mit der „Integration behinderter Kinder in die Vollzüge der kirchlichen Praxis“2 beschäftigt. Die Reaktion dieses Pfarrers ist für Bäumler der Ausgangspunkt für kritische Überlegungen, die eine Abkehr von diesem traditionellen Wohn-, Lebens- und Hilfeverständnis zum Inhalt haben. Mit ihnen zeichnet er einen Weg von der Isolierung zur Begegnung und von der Hilfsbedürftigkeit hin zur Selbständigkeit. Sie führen ihn am Ende seines Beitrages zu der Empfehlung, dass „alle in der Kirche berufstätigen Menschen, nicht zuletzt die Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer bereits in ihrer ersten Ausbildungsphase die Chance bekommen, mit den Lebensfragen behinderter Kinder vertraut zu werden“.3 Praktisch-theologische Lehrangebote, „die zugleich als Theoriebegleitung für ein Praktikum in der Offenen Behindertenarbeit dienen“4 seien dafür empfehlenswert. Christof Bäumlers Überlegungen zeugen von einer Vertrautheit mit Diskursen der Behindertenpädagogik und der „Selbstbestimmt-LebenBewegung“. In ihnen kommen aber auch theologisch-anthropologische Einsichten zum Tragen, deren Klammer durchgängig die Idee der Menschenwürde ist. Ich konzentriere mich in meiner Darstellung auf zwei unterschiedliche Explikationen, die Bäumler der Idee der Menschenwürde gegeben hat (5.1 / 5.2) und würdige anschließend seinen Entwurf kritisch (5.3).

————— 1 2 3 4

Bäumler, Behinderte Kinder und Kirche, 96. Ebd., 97. Ebd., 98. Ebd.

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Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

5.1 Menschenwürde als Bildungsprozess Abgesehen von Rezensionen und einigen kleineren Beiträgen,5 sind es vor allem zwei Aufsätze, die Bäumler im Abstand von etwa einer Dekade zum Thema „Behinderung“ veröffentlicht hat. Der erste erschien 1984 und beschäftigt sich mit dem Thema „Geistige Behinderung und die Würde des Menschen“. Gegenüber der auf Cicero zurückgehenden Identifizierung von Würde und Vernunftteilhabe macht Bäumler geltend, „daß es grundsätzlich problematisch ist, die Menschenwürde ausschließlich durch den Vernunftbegriff zu begründen“.6 Noch die Menschenrechtserklärung von 1948 stehe in dieser Tradition, indem sie Vernunft und Gewissen zu den beiden Hauptmerkmalen des würdevollen Menschen mache. Leicht entstehe im Gefolge dieses Verständnisses der Eindruck, bei Menschen mit einer geistigen Behinderung handle es sich um unvollkommene Menschen. Gleichwohl möchte Bäumler den Vernunftbegriff für Personen mit einer geistigen Behinderung nicht suspendieren. Vielmehr greift er Manfred Thalhammers Formel vom „kognitiven Anderssein“ auf, die ebenfalls den Vernunftbegriff beibehält. Die Angemessenheit dieser Formel werde dadurch „erhärtet, daß auch geistig Behinderte sinnvoll leben, d.h. ihre Erlebnisse gemäß ihren, uns nur teilweise bekannten, intellektuellen Strukturen verarbeiten und gelungene Beziehungen zu anderen Menschen auf ihre Weise aufbauen können. Selbst dann, wenn ihre Sprachfähigkeit wenig, kaum oder gar nicht entwickelt ist, sind ihnen kommunikative Prozesse möglich: ein Blick, ein Lächeln, eine Umarmung, ein Schrei sind dann ihr ‚code‘, und der will von ihren Begleitern entschlüsselt werden.“7 Trotzdem: auch wenn man den Vernunftcharakter einer geistigen Behinderung im Sinne eines ‚kognitiven Andersseins‘ akzeptiert, bleibt die Gefahr einer Quantifizierung ungebannt. „Allzuleicht führt dies nämlich dazu, die Menschenwürde auf eine menschliche Elite zu begrenzen“.8 Ohne also die spezifische Vernunft von Menschen mit geistiger Behinderung in Frage zu stellen, aber auch ohne dem Vernunftbegriff eine Begründungsfunktion für Menschenwürde zuzuweisen, sucht Bäumler nach einer Begründungsalternative für die bedrohte Würde. Er findet sie in der ImagoDei-Vorstellung. „Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit leistet eine tragfähige Begründung der Menschenwürde aller Menschen“.9 Anders aber als an —————

5 Vgl. die Rezensionen zu Ulrich Bach, Jürgen Seim und Anna-Katharina Szagun; weiterhin die Beiträge „Behinderte Kinder und Kirche“, „‚Denn sie sollen getröstet werden‘“, „Sterbehilfe durch die Hintertür?“ und „Ein lustiger Geburtstag“. 6 Bäumler, Geistige Behinderung und Menschenwürde, 86. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd., 87.

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Christof Bäumler

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den gewöhnlichen, essenziellen Auffassungen, orientiert sich Bäumler an einem progressiven Verständnis der Imago Dei. Dabei kommen Johann Gottfried Herders „Ideen zur Philosophie einer Geschichte der Menschheit“ eine wichtige Rolle zu. In Form eines Gebetes hatte Herder davon gesprochen, Gott habe den Menschen sein Bild, Religion und Humanität, in die Seele eingegraben: „‚der Umriß der Bildsäule liegt im dunkeln, tiefen Marmor da; nur kann er sich nicht selbst aushauen, ausbilden. Tradition und Lehre, Vernunft und Erfahrung sollten dieses thun, und du ließest es ihm an Mitteln dazu nicht fehlen‘“.10 Herder wahre, so Bäumler, in diesem prozessualen Verständnis die unterschiedliche Gewichtigkeit der jeweiligen Bedingungsfaktoren. Dem Handeln Gottes komme die sachliche Priorität zu: er schaffe die Möglichkeitsbedingungen, während der Mensch nur verwirklichen könne, was ihm ermöglicht worden sei. Zu den Werkzeugen, mit denen der Mensch das Bild Gottes aus dem ‚dunklen, tiefen Marmor‘, der er selbst ist, herausarbeiten kann, gehören neben Tradition und Lehre auch Vernunft und Erfahrung. Herders Imago-Verständnis sei damit theologisch und philosophisch gleichermaßen ausgewiesen. Aber nicht nur das. Ihm komme darüber hinaus auch eine hohe lebenspraktische Relevanz zu. Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde könnten in diesem Verständnis „als ein Bildungsprozeß verstanden werden, der in der Geschichte eines Menschen konkrete Gestalt gewinnt. Wenn in der partnerschaftlichen Zuwendung Gottes zum Menschen der primäre Aspekt des Menschseins zum Ausdruck kommt, dann bedeutet dies, daß jedem Menschen Möglichkeiten zugesprochen werden, die in seinem Lebenslauf verwirklicht oder unterdrückt werden können.“11 Für Menschen mit einer geistigen Behinderung – und nicht nur für sie – ergebe sich daraus, dass in ihrem Alltag die Möglichkeiten ihres Menschseins entdeckt, gefördert und verwirklicht werden müssten. Die Kommunikationsprozesse im Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung werden damit zu Faktoren, die der Ausbildung der Menschenwürde dienen können. Sie erfordern dazu allerdings den Verzicht auf vorgefertigte Menschenbilder und zugleich die Arbeit an würdevollen Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens. „Der Gedanke, auch die geistig Behinderten seien Ebenbilder Gottes, ist für die lebenslange Begleitung geistig Behinderter ungeheim hilfreich und praktisch zugleich. Hilfreich deswegen, weil in Jesus Christus als dem Ebenbild Gottes die Bilder, die wir uns von anderen Menschen machen, überschritten werden zu neuen, noch unentdeckten Lebensmöglichkeiten, und praktisch deswegen, weil dieser Gedanke dazu anregt, solche Lebensmöglichkeiten im alltäglichen ————— 10 11

Zitiert nach: Bäumler, ebd., 84. Ebd., 88.

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Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

Umgang mit Behinderten in deren und im eigenen Leben zu entdecken und jedenfalls ansatzweise zu verwirklichen.“12

5.2 Würde und Subjektivität Während im Beitrag von 1984 die Imago-Dei-Vorstellung im Sinne eines auf Herder zurückgehenden prozessualen Verständnisses die zentrale theologische Begründungsfigur für die Menschenwürdekategorie darstellt, setzt Bäumler in seinen „Bemerkungen zur humangenetischen Beratung aus der Sicht theologischer Ethik“ von 1993 noch einmal anders an. Auch jetzt steht die Würde des Menschen im Mittelpunkt. Aber Bäumler orientiert sich nunmehr stärker an Falk Wagner und der theologischen Rezeption der Philosophie Hegels. Ausgangspunkt der Überlegungen stellt die durch Peter Singer ausgelöste Diskussion um den Lebenswert und das Lebensrecht dar. Bäumler macht klar, dass in dieser Debatte vor allem der Wertbegriff dominiere und mit ihm tendenziell eine wirtschaftliche Logik die Oberhand gewinne. Vor allem aber kritisiert er mit Falk Wagner die Vermischung von Grundwerten und Grundrechten, die auf eine Subjektivierung, Relativierung und Ökonomisierung der Grundrechte hinauslaufe. Gegenüber dieser Vereinseitigung knüpft Bäumler an die Philosophie Kants und Hegels an und begreift – wiederum mit Falk Wagner – „das Recht als Freiheit“. Diese Freiheit sei „als intelligibel-transempirische Subjektivität des Menschen“13 definiert. Es bietet sich an, diesen zentralen Gedanken mit einem Seitenblick auf Falk Wagner selbst zu ergänzen. Bei ihm heißt es: „‚Die Würde des Menschen‘ (Art. 1, I GG) und seine ‚Rechtsfähigkeit‘ (§ 1 BGB) stellen als die intelligibel-transempirische Subjektivität des Menschen das praktische Vermögen der Vernunft dar, das nichts anderes als Freiheit ist. Freiheit, die theoretisch-formal definiert ist, einen Zustand schlechthin, als von selbst anfangen zu können, ist dadurch praktisch existent, daß sie vermittels praktischer Gesetze zu ethischen und rechtlichen Willensbestimmungen fähig ist. Durch die praktische Kompetenz der Freiheit werden empirischfaktische Willkürbestimmungen individueller und sozialer Art so bestimmt, daß sie aufgrund des intelligiblen Gesetzes sein sollen oder nicht sein sollen. Die Freiheit impliziert dann negativ die Freiheit von der empirischfaktischen Determination durch die eigne naturhaft und sozial vermittelte Willkür und positiv die praktische Kompetenz, die Willkür bestimmen zu können. Die positive Freiheit, eine Zustand von selbst anfangen zu können, ————— 12 13

Ebd., 89. Bäumler, Bemerkungen zur humangenetischen Beratung, 62.

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Christof Bäumler

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findet ihre praktische Realität im kategorischen Imperativ […]. Freiheit ist aufgrund der eigenen Selbstgesetzgebung […] als vermittelte Selbstbestimmung manifest.“14 Für Christof Bäumler ist an diesem Rückgriff auf die theologische Rezeption der Philosophie Kants und Hegels vor allem ein Gedanke entscheidend: die Differenz zwischen transempirisch-intelligiblen Bedingungen der Subjektivität und den individuellen Merkmalen der empirischen Subjekte. Aufgrund dieser Differenz gelten das Recht und insbesondere die Grundrechte aufgrund ihrer transzendentalen Bestimmtheit und nicht auf der Basis empirischer Merkmale. Eine Grundlegung, die auch Menschen mit geistiger Behinderung einschließt. Bäumler führt aus: „Die intelligibel-transempirische Subjektivität, die ‚Autonomie‘ des Menschen, darf nicht, wie das häufig geschieht, mit der individuellen Verfaßtheit empirischer Individuen verwechselt werden.“15 Die transzendentale Begründung der Menschenwürde und der Menschenrechte macht diese von ökonomischen Verwertungsinteressen, individuellen Gefühlslagen und subjektiven Determinanten frei. „Dieses Recht als Freiheit zum Leben ist unabhängig von Werturteilen, in denen Lust- oder Unlustgefühle bei der Beobachtung behinderter Menschen zum Ausdruck kommen.“16 Diese Freiheit zum Leben, die unabhängig von der physischen, psychischen oder geistigen Verfasstheit individueller Personen gilt, wird von Bäumler zum Begriff einer kommunikativen Freiheit weitergeführt. Diese verwirklicht sich – nach Wolfgang Huber – „darin, daß der eine den anderen als Bereicherung seiner selbst und als Aufgabe des eigenen Lebens erfährt“.17 Damit bahnt sich eine wechselseitige Begegnung und Zuwendung, eine Begegnung und Gemeinschaft zwischen Menschen mit und ohne Behinderung an, die als Verwirklichung kommunikativer Freiheit begriffen werden kann. Auch mit diesem zweiten Anlauf zur Bestimmung der Menschenwürde verbindet Bäumler praktische, gesellschaftliche Konsequenzen: die transempirisch konstituierte Würde begründe nicht nur die unbedingt geltenden Menschenrechte und sichere damit das Lebensrecht geistig behinderter Personen. Sie führe darüber hinaus zu einer Praxis wechselseitiger Anerkennung, in der sich Menschen mit und ohne Behinderung gegenseitig als Bereicherung erfahren.

————— 14 15 16 17

Wagner, Grundwerte als Pervertierung des Rechts, 83f. Bäumler, ebd. Bäumler, Bemerkungen zur humangenetischen Beratung, 63. Wolfgang Huber, Freiheit und Institution, zitiert nach Bäumler, ebd., 65.

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5.3 Wechselseitige Begegnungen in der kirchlichen Praxis. Kritische Würdigung „Wie gut, daß es Bethel gibt“ – Christof Bäumler hat sich mit dieser Auffassung nicht zufrieden gegeben. Wie bereits eingangs angedeutet, hat er deutlich gemacht, „daß behinderte Kinder ein Recht auf ein eigenständiges Leben haben und auf diesem Wege nach Kräften zu fördern sind“.18 Gegen die vermeintliche Selbstverständlichkeit einer Anstaltsunterbringung hat er deshalb die Notwendigkeit halboffener und offener Angebote gesetzt. Die „Variationen von Wohnmöglichkeiten […] reichen“, so hat er deutlich gemacht, „von der Wohngruppe für schwerstbehinderte Menschen über das ‚betreute Wohnen‘ bis hin zu Wohngemeinschaften behinderter und nichtbehinderter Menschen. Entscheidend ist, daß die dort lebenden Menschen mit Behinderung als Erwachsene respektiert werden, die sich in ihren privaten Beziehungen, in der Arbeitswelt und im Freizeitbereich ihren Platz suchen. Es käme jedenfalls darauf an, ihnen dabei zu helfen und sie nicht lebenslang im Status unmündiger Kinder festzuhalten.“19 Darüber hinaus hat sich Bäumler für eine diakonische Kirchgemeindepraxis stark gemacht, in der Kinder mit und ohne Behinderung unbefangen miteinander umgehen. „Wo immer möglich, sollte deshalb kirchliche Praxis diese wechselseitige Begegnung von behinderten und nichtbehinderten Kindern fördern.“20 Gerade um dies zu ermöglichen sei es nötig, dass nicht nur die heilpädagogisch ausgebildeten Mitarbeiterinnen, sondern alle kirchlichen Mitarbeiterinnen mit der Lebenssituation behinderter Kinder vertraut sind und Acht darauf haben, integrative Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen. „Ein Grundkriterium für die kirchliche Praxis mit behinderten Kindern sollte deshalb sein: so viel Integration in die Lernprozesse allgemeiner Bildung und Erziehung wie möglich, so viel Sondereinrichtungen für behinderte Kinder wie nötig.“21 Es dürfte erkennbar sein, dass beide der praktischen Impulse Bäumlers: die Bildungs- und Entwicklungsorientierung ebenso wie die Integrationsausrichtung durch sein Konzept von Menschenwürde inspiriert sind. Bäumler gehört zu den wenigen Theologinnen, die sich dem Diskurs der Behindertenpädagogik geöffnet und das Normalisierungsprinzip für die diakonische Behindertenhilfe zur Geltung gebracht haben. So sehr aber seine beiden anthropologischen Argumentationsgänge zu ähnlichen Konsequenzen in Bezug auf die Verwirklichung eines würdevollen ————— 18 19 20 21

Bäumler, Behinderte Kinder und Kirche, 96. Ebd., 97. Ebd., 98. Ebd.

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Christof Bäumler

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Lebens in Freiheit führen, so sehr unterscheiden sie sich doch in ihrem Ansatz. Sie sind auch unterschiedlich plausibel. Der erste Anlauf von 1984 bleibt zumindest missverständlich, weil er mit der Betonung des Prozesscharakters andere zentrale Aspekte der Gottebenbildlichkeit gewissermaßen abblendet. Die gedankliche Figur, auf die Herder wie auch Pannenberg zurückgreifen, geht auf Irenäus von Lyon zurück, der in der Auslegung des ersten Schöpfungsberichtes (Gen 1,26) zwischen dem hinter dem Urbild zurückbleibenden Abbild (GKXMYP; imago) und der aktuellen Gemeinschaft mit dem Urbild (QBOQKYUKL; similitudo) unterschied.22 Während bereits Adam Gottes Bild, allerdings mit der Differenz des Abbildes zum Urbild ist, wird der Mensch erst durch Christus im Prozess der Heilsgeschichte zur vollendeten Gottähnlichkeit geführt. Dieses prozessuale Denken geht also von differenten Ähnlichkeitsweisen aus, die erst im Prozess der Geschichte zur Vollendung gebracht werden. Bäumler unterschlägt aber in seiner Rezeption diesen Ausgangspunkt und spricht lediglich von der Gottebenbildlichkeit als einem Bildungsprozess. Dies ist insofern missverständlich, als es die Frage wachruft, ob bei einem Scheitern des Bildungsprozesses auch die Würde des Menschen auf der Strecke bleibt.23 Diese Konsequenz ist mit Sicherheit ungewollt. Sie macht aber deutlich, dass das von Bäumler favorisierte prozessuale Verständnis nur dann plausibel zu machen ist, wenn Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit auch schon am Anfang stehen. Bäumler versucht, dies mit einem Bezug auf eine These Heinrich Otts einzuholen, der zufolge „der primäre Aspekt der Gottebenbildlichkeit“ darin bestehe, „daß sich Gott zu des Menschen Partner gemacht habe“.24 Allerdings bleibt der systematische Zusammenhang zwischen Gottes primärer Zuwendung einerseits und der werdenden Gottebenbildlichkeit andererseits unklar. Die Bedeutung der zweiten anthropologischen Skizze Bäumlers sehe ich darin, dass er Menschenwürde und Menschenrechte transzendental begründet. Die idealistische Subjektivitätstheorie hat dafür Kategorien bereitgestellt. In der Tat können Würde und Rechte in ihrer unbedingten Geltung herausgearbeitet und von allen Wertvorstellungen befreit werden, wenn sie eine transzendentale Begründung haben. Gleichwohl scheint mir die Kantsche Gestalt dafür noch zweideutig zu bleiben, weil sie die positive Freiheit —————

22 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 43–45; ders., Systematische Theologie, Bd. 2, 239–241 u. 248–250. 23 Diese Frage ist auch deshalb nicht von der Hand zu weisen, weil Bäumler davon ausgeht, dass die in Bildung begriffene Gottebenbildlichkeit „in der Geschichte eines Menschen konkrete Gestalt gewinnt“ (Geistige Behinderung und Menschenwürde, 88). Die umgekehrte Fragerichtung legt sich nahe: wenn diese konkrete (!) Gestalt nicht erkennbar wird, weil eine Person ihre Möglichkeiten nicht verwirklichten kann, diese vielmehr unterdrückt werden, ist dann auch die Gottebenbildlichkeit auf der Strecke geblieben? 24 Bäumler, Geistige Behinderung und Menschenwürde, 88.

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als einen Zustand der moralischen Selbstgesetzgebung beschreibt, als „einen Zustand von selbst anfangen zu können“.25 Der negative Aspekt, die Freiheit von empirischer Determination, ist nicht ohne diesen positiven Aspekt der praktischen Kompetenz zur Selbstgesetzgebung einzusehen. Da für Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung, wie Bäumler selbst schreibt, diese Möglichkeit „gewiß äußerst erschwert“26 ist, bleibt auch Bäumlers anthropologische Begründung selbst zweideutig. Sachlich stringenter erschiene es mir demgegenüber, den Gang der Reflexion zu Subjektivität und Freiheit über Kant und Hegel hinaus bis zu Friedrich Schleiermacher weiter zu verfolgen, weil in seiner Theorie ein philosophisch und theologisch gleichermaßen interessanter Entwurf vorliegt, der mir gegenüber den genannten Konzepten eine tragfähige Alternative zu sein scheint. Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich auf diese Fragen ausführlicher eingehen.27

————— 25 26 27

Wagner, Grundwerte als Pervertierung des Rechts, 84. Bäumler, Bemerkungen zur humangenetischen Beratung, 63. Vgl. Teil B, Kap. 3.2 und 3.4–3.6.

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6. „Alle Menschen leben mit Beeinträchtigungen“. Hans Grewels Anthropologie des zerbrechlichen Lebens Hans Grewel Kurz nachdem der Deutsche Bundestag am 30. Januar 2002 seinen Kompromiss zum Import embryonaler Stammzellen beschlossen hatte, lud die Katholische Hochschulgemeinde in Dortmund vier engagierte Zeitgenossen ein, die zum Thema „Gentechnik – Chancen und Risiken“ denkbar kontroverse Auffassungen vertraten. Zur Podiumsdiskussion trafen aufeinander: auf der einen Seite die beiden entschiedenen Befürworter der Gentechnik, der damalige Ministerpräsident Wolfgang Clement und Oliver Brüstle, der einen der ersten Anträge zur Forschung mit embryonalen Stammzellen gestellt hatte. Auf der anderen Seite saßen die Wissenschaftsjournalistin Ursel Fuchs und der Dortmunder Religionspädagoge und Ethiker Hans Grewel. Dieser widersprach in der Diskussion allen Versuchen, die Menschenwürde mit bestimmten embryonalen Entwicklungsabschnitten oder gar menschlichen Eigenschaften zu verbinden. Menschenwürde, so machte Grewel klar, sei ein Gattungsbegriff und beziehe sich auf alle Mitglieder der Spezies. Deshalb sei mit dem Importkompromiss des Deutschen Bundestages die Gefahr verbunden, dass die Werte unserer Rechtsordnung ausgehöhlt würden.1 Die geschilderte Diskussion erlaubt einen ersten, wie ich meine, charakteristischen Blick auf Hans Grewel. Seit mittlerweile mehr als zwanzig Jahren hat er sich in bioethischen Diskussionen zu Wort gemeldet und zu zahlreichen kontroversen Themen Stellung bezogen: Humangenetik, Embryonenforschung, Pränataldiagnostik, Organspende, Sterbehilfe.2 Die Liste lässt sich fortsetzen. Grewel hat vor dem Hintergrund der biomedizinischen Herausforderungen auch das Thema „Behinderung“ reflektiert. Dabei ist er nicht nur zu ethischen Schlussfolgerungen gekommen, sondern hat zugleich auch seine anthropologischen Grundentscheidungen deutlich gemacht. Deshalb, weil Grewel seine ethische Position auch an mehreren Orten anthropologisch begründet und entfaltet hat, beziehe ich seinen Entwurf in meine Darstellung mit ein. Dabei werde ich zunächst die Anthropologie beleuchten (6.1), mich dann seiner Interpretation von Behinderung zuwenden (6.2) und schließlich die theologischen Linien seines Konzeptes weiter ————— 1 2

Vgl. Frank, Zoff um Zellen. Vgl. u.a. Grewel, Recht auf Leben; ders., Lizenz zum Töten.

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verfolgen (6.3). Abschließend werde ich die ethischen und pädagogischen Konsequenzen seines Entwurfes reflektieren (6.4).

6.1 „Leben inmitten von Leben“. Grundzüge der Anthropologie Hans Grewels Ethische Reflexion ist wie kaum eine andere Vernunfttätigkeit darauf angewiesen, Grenzen zu überschreiten. Ihr obliegt es nicht nur, Fächergrenzen zu überspringen, um Zugang zu den Denkwegen anderer Disziplinen zu gewinnen. Sie steht auch vor der Aufgabe, Gesprächsfäden zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens und verschiedener Überzeugungen zu knüpfen. Wer auf diese Weise den Dialog über die Grenzen der eigenen Überzeugung hinaus führt, sieht sich in besonderer Weise dazu genötigt, verständlich zu sein. Vielleicht sind es solche Erfahrungen als Ethiker, die Grewel dazu veranlasst haben, sich an einem hermeneutischen Modell zu orientieren, das auf allgemeine Verständlichkeit größten Wert legt. Seine Beiträge folgen fast stets dem nämlichen Aufriss: sie entfalten ein Problem im Horizont des fachwissenschaftlichen und philosophischen Diskurses, entwickeln anschließend den spezifischen Beitrag der christlichen Theologie, um schließlich die Konsequenzen zur Lösung des Ausgangsproblems auf allgemeinverständliche Weise zu erörtern.3 Für Christinnen, so Grewel, komme dem „Rückgriff auf Überlieferung und Zeugnis der Bibel erhebliche Bedeutung zu“.4 Aber in sozialpolitischen Diskussionen könnten wir „ja nicht einfach von der Bibel her, sondern nur so argumentieren, daß wir auf die Menschlichkeit des Menschen und auf jederfrau zugängliche Erfahrungen Bezug nehmen“.5 Die Plausibilität seiner Überlegungen will Grewel jedenfalls nicht davon abhängig machen, „ob jemand einer christlichen Kirche oder Konfession angehört“.6 Deshalb also stehen bei Grewel die anthropologischen und ethischen Pointen des theologischen Nachdenkens stets in einem Horizont philosophischer Plausibilisierung. Ich folge diesem hermeneutischen Modell auch in meiner Darstellung. (1) Grewels Anthropologie steht im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Lebens, einer philosophischen Biologie. Ihr Ausgangspunkt ist die Reflexion der durchgängigen Erfahrung von der Vorgegebenheit des Lebens: „bevor wir überhaupt ‚ich‘ sagen können, finden wir Leben immer ————— 3 Ausführlich setzt sich Grewel mit der Differenz und dem Zusammenhang von christlicher und nichtchristlicher Ethik auseinander in: Was ist das Christliche in einer christlichen Ethik, in: ders., Brennende Fragen christlicher Ethik, 23–42. 4 Grewel, Leben mit Beeinträchtigungen, 517. 5 Ebd., 516f. 6 Ebd., 517.

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Hans Grewel

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schon vor, auch uns selbst als lebend, inmitten von unzähligen Gestalten von Leben. Wir erfahren uns eingebunden in und angewiesen auf ein Umgreifendes von Leben, das alles, was lebt […] durchwebt und umschließt.“7 Kurz: „‚es lebt‘ in uns und um uns herum in ungezählten Gestalten von Leben“.8 Es handelt sich bei dieser Erfahrung um eine lebensphilosophische Transformation der auf Fichte zurückgehenden, subjektivitätstheoretischen These von der Vorgegebenheit des Ich. Fichte hatte so argumentiert, dass das Ich, wann immer es den Versuch unternehme, sich denkend auf sich selbst zu beziehen, dabei die Erfahrung mache, sich stets schon vorauszusetzen.9 Die Parallelität der Argumentation ist unverkennbar. Lediglich der argumentative Rahmen hat sich verändert. Es bleibt m.E. sogar zu fragen, ob nicht Grewels These nur mit Fichtes Begründungsfigur einsichtig zu machen ist. Denn: die Reflexion, dass wir Leben immer schon vorfinden, setzt ein Subjekt voraus, das mit sich selbst und an sich selbst eben diese Erfahrung macht. Grewels Gewährsmann für diese lebensphilosophische These ist Albert Schweitzer, der diese Überlegung in seiner Kulturphilosophie entfaltet hat.10 Das Beziehungsnetz des Lebens, das sich nach Grewel in der Erfahrung zeigt, ist keineswegs auf das menschliche Leben beschränkt. Vielmehr erschließe sich das Leben als etwas Übergreifendes und Umgreifendes, an dem alles Einzelne teilhat. Spanne man den Bogen noch weiter und beziehe auch die unbelebte Materie mit ein, so stelle die Natur dieses Umgreifende dar. Werde auch der Welt-Raum berücksichtigt, so lege sich der Begriff Kosmos nahe. Leben, Natur, Kosmos – in jedem Horizont machten die Menschen die Erfahrung, dass sie zu einem Ganzen gehören, mit dem sie verwoben sind.11 Das Innewerden „des Umgriffenseins von Leben, Natur und Kosmos“ bilde deshalb zugleich „die Grunderfahrung aller Religion“.12 (2) Die Einbindung des Menschen in ein Umgreifendes, das Leben, nötige gleichzeitig dazu, nach seiner Sonderstellung zu fragen. Die Philosophische Anthropologie hatte auf diese Frage mit dem Hinweis auf die fehlende Instinktgebundenheit geantwortet. Der Mensch hat keine feste Umwelt, sondern muss sie sich erst schaffen. „Der Mensch kann sich nur im Entwurf ————— 7

Grewel, Gottes Kinder dürfen schwach sein, 22. Ebd. 9 Vgl. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, 10–17. 10 Vgl. Schweitzer, Kultur und Ethik, 377: „Bei Descartes geht das Philosophieren von dem Satze aus: ‚Ich denke, also bin ich‘. Mit diesem armseligen, willkürlich gewählten Anfang kommt es unrettbar in die Bahn des Abstrakten. […] Wahre Philosophie muß von der unmittelbarsten und umfassendsten Tatsache des Bewußtseins ausgehen. Diese lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will‘“. 11 Vgl. Grewel, Haben schwerstbehinderte Neugeborene ein Recht auf Leben?, in: ders. Recht auf Leben, 30. 12 Ebd., 33. 8

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bestimmen“13 und sieht sich immer wieder genötigt, seine geschichtliche und welthafte Vorfindlichkeit zu übersteigen. „Dieses Transzendieren ist anthropologische Grundbedingung alles Menschseins.“14 In der Handhabung des Feuers, der Herstellung metallischer Werkzeuge, der Entwicklung der Sprachfähigkeit und anderen Phänomenen komme diese Fähigkeit zum Tragen.15 (3) Die Vorgegebenheit allen Lebens wiederholt sich nach Grewel auf der zwischenmenschlichen Ebene in der Erfahrung der Angewiesenheit auf andere. Die Lebensfäden jedes Menschen sind unauflöslich mit denen anderer Menschen verwoben. Ja, bevor wir überhaupt zu Bewusstsein kommen, „leben wir davon, daß andere Menschen für uns da sind“.16 Eine Erfahrung, die sich auch später nicht verliert. Menschen sind niemals isolierte Wesen, nirgends Individuen im Singular. Dieses „Von-anderen-her-Leben“ bildet deshalb nicht minder einen unhintergehbaren Bestandteil der condition humaine. (4) Aus den genannten Strukturen des Lebens ergeben sich für Grewel auch eine Reihe ethischer Konsequenzen. Zunächst ergibt sich für ihn aus der Vorgegebenheit des Lebens seine Unverfügbarkeit. Leben ist ein anvertrautes Gut. Es ist kostbar, unersetzlich und einmalig.17 Deshalb hat „niemand […] das Recht, einen Menschen zu töten, weder einen anderen noch sich selber“18 Diese generelle „Unantastbarkeit des Lebens“19 duldet keinerlei Ausnahme. Das Leben ist aber für Grewel nicht nur Gabe, sondern auch Aufgabe. Es ist uns zur verantwortlichen Gestaltung aufgegeben. Wie ein zerbrechliches Gut ist es uns anvertraut, auf dass wir es in achtsamen Händen halten.20 Daraus resultiert einerseits das Postulat eines uneingeschränkten Lebensschutzes21 und andererseits die Ermutigung zur Solidarität.22 Der normative Aspekt der Gabe des Lebens kommt besonders deutlich in der Idee der Menschenwürde zum Ausdruck. Sie sei ein Postulat, kein empirisch feststellbarer Sachverhalt. Sie ist „ein Ehrenprädikat, das wir um ————— 13

65.

Grewel, Was ist der Mensch – und wer entscheidet darüber? in: ders., Brennende Fragen,

14

Ebd. Vgl. Grewel, Haben schwerstbehinderte Neugeborene ein Recht auf Leben?, 31f. 16 Grewel, Zerbrechliches Leben, 9. 17 Vgl. ebd., 8; ders., Recht auf Leben, 68. 18 Grewel, Ist es wirklich Sterbe-Hilfe, wenn wir einen Menschen töten?, in: ders., Recht auf Leben, 69. 19 Grewel, Zerbrechliches Leben, 16. 20 Vgl. ebd., 8. 21 Vgl. ebd.: „Und alles Leben ist schutzbedürftig, angewiesen auf Hege und Pflege und auf Schutz vor Übergriffen“; ebd., 12: „Ebenso dringlich ist es, das Prinzip der Unantastbarkeit allen Lebens […] gegenüber den Tötungsaposteln durchzubuchstabieren“. 22 Vgl. Grewel, Leben mit Beeinträchtigungen, 515. 15

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ihrer Achtung willen und zu ihrem Schutz allen Menschen zusprechen“.23 Niemand ist von ihr ausgenommen. Keine Eigenschaften, keine Merkmale, keine Wertzuschreibung schränken sie ein. Jeder und jedem komme sie zu, einzig aufgrund der Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft.24

6.2 Normal ist der imperfekte Mensch Auf den eben dargestellten anthropologischen Überlegungen basiert auch Grewels Beschäftigung mit dem Thema „Behinderung“, die ich im Folgenden darstellen möchte. (1) Es entspricht der von Grewel angestrebten Allgemeinverständlichkeit, wenn seine Argumente fast stets induktiv aufgebaut sind und deshalb von einer konkreten Erfahrung ihren Ausgangspunkt nehmen. Die trifft auch auf den Gedanken zu, dass der normale Mensch der imperfekte Mensch ist. „Wenn wir uns an den Lebensbedingungen wirklicher Menschen orientieren, dann ist der unbeeinträchtigte Mensch […] gerade nicht die Regel, sondern die Ausnahme. ‚Normal‘ ist es vielmehr […], daß Menschen mit Beeinträchtigungen leben“.25 Das Leitbild des gesunden, leistungsstarken und perfekten Menschen entspringt dagegen, so Grewel, einem abstrakten Menschenbild, das von den realen Lebenssituationen absieht und sich am ökonomischen Markt-Modell und dessen Wertbegriff orientiert.26 Die wirklichen Menschen dagegen seien Personen, die aufgrund ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrungen, aufgrund körperlicher, geistiger oder seelischer Besonderheiten bzw. Verletzungen je auf spezifische Weise beeinträchtigt sind. Mit Begrenzungen zu leben und diese als Beeinträchtigungen zu erfahren sei deshalb behinderten und nichtbehinderten Personen gemeinsam. (2) Allerdings sollte umgekehrt auch daraus kein generalisiertes Bild des beeinträchtigten Menschen konstruiert werden. Denn auch ein kranker Mensch sei nicht nur krank, ein behinderter nicht nur behindert. Jeder sei vielmehr ein Mensch „mit glückenden oder misslingenden Lebensbeziehungen, mit Hoffnungen und Enttäuschungen und uneingelösten Träumen“.27 Auch der Umgang mit der je individuellen Beeinträchtigung ist verschieden. Die je persönliche Belastungsfähigkeit entscheide mit darüber, ob und wie stark eine bestimmte lebensgeschichtliche Erfahrung als Beein————— 23

Ebd., 514. Vgl. ebd.; ders., Recht auf Leben, 45; 85–87. 25 Grewel, Zerbrechliches Leben, 10. 26 Vgl. Grewel, Wer ist denn der „normale“ Mensch?, in: ders., Recht auf Leben, 41; ders., Zerbrechliches Leben, 9. 17; ders., Gottes Kinder dürfen schwach sein, 16. 27 Grewel, Gottes Kinder dürfen schwach sein, 13. 24

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trächtigung erlebt wird. Keineswegs müsse sie als Leiden empfunden werden. Und selbst leidende Menschen könnten glücklich sein.28 (3) All diese Aspekte machen es unmöglich, Krankheiten oder Behinderungen qualitativ abzugrenzen und damit aus der Normalität herauszuhalten. Das nötigt dazu, festlegende Definitionen fallen zu lassen und gängige Beschreibungen umzuschreiben. So lässt sich Gesundheit angemessen weder als „‚Abwesenheit von Krankheit‘“ noch als „‚Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens‘“29 beschreiben. Lebensnahe wäre statt dessen Deutung, die Gesundheit „als die Bereitschaft und Fähigkeit und Kraft“ versteht, „mit den Begrenzungen oder Störungen oder Schädigungen zu leben, d.h. den durch sie umgrenzten Horizont an Lebensmöglichkeiten auszuloten, zu erproben und einzuüben“.30 Menschen mit Behinderung sind nach diesem Verständnis gesund. Chronisch kranke nicht minder.31 (4) Vor dem Hintergrund dieses inklusiven Menschenbildes können behinderte und nichtbehinderte, gesunde und kranke Personen als Menschen angesehen werden, „die von unterschiedlichen Startbedingungen her ihr Leben gestalten“ und „die in der Bearbeitung dieser Bedingungen unterschiedliche Spielräume haben und unterschiedliche Erfolge erzielen“.32 Zu diesem Bedingungsgefüge gehören für Menschen mit einer Behinderung neben der individuellen Schädigung auch die sozialen Aspekte. Ob das Wohnumfeld ein weitgehend barrierefreies Leben möglich macht, sei dafür ebenso entscheidend wie die Erfahrung mit Begleitern, Allerweltsmenschen und anderen Menschen mit Behinderung. „Die Erfahrungen mit diesen Bezugsgruppen haben entscheidenden Anteil daran, in welchem Maße ein behinderter Mensch sein Anderssein als Beeinträchtigung erfährt, ob er sich als Mensch mit anderen Ausgangsbedingungen, aber ohne Einbußen an Lebensrecht und Menschenwürde, oder eben als ‚behindert‘, d.h. als eine Minderausgabe des Menschen […] sehen lernt.“33 Die soziale Welt eines Menschen vermag daher beides: Behinderungen auszulösen bzw. zu verstärken und Enthinderungen zu befördern. Die jeweils von der sozialen Umwelt ausgehenden – ermutigenden oder entmutigenden – Impulse, die besonderen lebensgeschichtlichen Erfahrungen sowie die Bewältigungsform der eigenen Lebenssituation sind vielfältig —————

28 Vgl. Grewel, Wer ist denn der „normale“ Mensch?, 44f; ders., Zerbrechliches Leben, 11; ders., Leben mit Beeinträchtigungen, 522. 29 Grewel, Wer ist denn der „normale“ Mensch?, 39; vgl. auch ders., Leben mit Beeinträchtigungen, 515; ders., Defizitäre Lebenserfahrungen, 434. 30 Grewel, Wer ist denn der „normale“ Mensch?, 46; vgl. auch ders., Leben mit Beeinträchtigungen, 515. 31 Vgl. Grewel, Wer ist denn der „normale“ Mensch?, 46. 32 Grewel, Leben mit Beeinträchtigungen, 514. 33 Grewel, Defizitäre Lebenserfahrungen, 436.

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miteinander vermittelt und tragen zum Selbstbild der Person bei. Sie „gehen […] ein in einen Sinnentwurf, in dem ein behinderter Mensch – wie andere Menschen auch – sich in einem Sinnganzen von Leben und Welt zu integrieren sucht.“34 Von diesen wechselseitig sich durchdringenden Aspekten werde es abhängen, ob ein solcher eigener Sinn gefunden werden kann, ob eine Person sich stärker als Mensch oder primär als Behinderter verstehen kann. Die Solidarität der sozialen Umwelt kann viel zur Enthinderung beitragen. (5) Die Sinnarbeit, die jeder Mensch im Umgang mit seinen je spezifischen Beeinträchtigungen leisten muss, bedarf nach Grewel eines ausgeprägten Realitätssinnes. So sei stets zwischen veränderbaren und unveränderbaren Lebensbedingungen zu unterscheiden. Für die Veränderung des Möglichen komme der eigenen Aktivität sowie der medizinischen, rehabilitativen und sozialpolitischen Unterstützung eine erhebliche Rolle zu. Die Annahme der unveränderlichen Aspekte der eigenen Lebenssituation dagegen sei ein oft schwerer, gelegentlich lebenslang andauernder Prozess. Vor der unabweisbaren Sinnfrage stehen aber Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen, weil grundsätzlich jeder und jede in eine Lebenskrise geraten kann. Nicht nach dem Sinn einer Krankheit gilt es zu fragen, sondern nach dem Sinn für das eigene Leben. „Es liegt kein Sinn im Kranksein als solchem, auch nicht im Behindert- oder Gesundsein. Sinn kommt nicht der Krankheit zu, sondern dem Menschen.“35 Kritische Lebensereignisse werden deshalb als Wahrheitsproben erfahren: sie decken auf, ob der persönliche Sinnentwurf und die eigene Hoffnung tragfähig sind.

6.3 Theologische Vergewisserung. „Schöpfungssymbol“ und „Gotteskindschaft“ Die bisherige Darstellung hat nur en passant auf theologische Aspekte abgehoben. Gleichwohl sind in sie bereits auf vielfache Weise theologische Inhalte eingegangen. Während Grewel für den Begründungszusammenhang auf positionelle Argumente verzichten möchte, weiß er zugleich darum, dass sich seine Überlegungen einem theologischen Entdeckungszusammenhang verdanken. Ich möchte deshalb an dieser Stelle diejenigen Motive erläutern, die den bisherigen Gang der Argumentation immer schon theologisch begleitet und begründet haben. Ich folge dabei Grewels eigenem Begriff der theologischen Vergewisserung.36 —————

34 Grewel, Wer ist denn der „normale“ Mensch?, 44; vgl. auch ders., Leben mit Beeinträchtigungen, 514. 35 Grewel, Wer ist denn der „normale“ Mensch?, 49. 36 Vgl. Grewel, Leben mit Beeinträchtigungen, 516.

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(1) Die Erfahrung der Vorgegebenheit des Lebens wird in der biblischen Überlieferung im Symbol der Schöpfung gedeutet. Aus der Kraft dieses Symbols heraus lasse sich das Leben als Geschenk, als gute Gabe Gottes erschließen. Gabe und Aufgabe, Unverfügbarkeit und verantwortliche Gestaltung ergeben sich ebenso aus der Interpretation des Schöpfungssymbols und der mit ihm verbundenen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen.37 (2) Neben dem Schöpfungsgedanken bezieht sich Grewel in seinen Schriften vor allem auf die Verkündigung und das Beispiel Jesu.38 Hier ist zunächst „Jesu Botschaft von der Gotteskindschaft aller Menschen“ bedeutungsvoll. Sie „hat der Christenheit den Weg bereitet, sich als die neue Menschheit zu verstehen, in der der Mensch nicht mehr durch seine Zugehörigkeit zu Nationen, Völkern, Rassen definiert ist, sondern als Mensch, der allen Bruder und Schwester werden soll“.39 Das Postulat der unbedingten Gleichheit aller Menschen habe durch das Beispiel Jesu eine entscheidende Orientierung und Präzisierung erfahren. Unter dem Einfluss seiner Verkündigung habe sich der Bezugsrahmen der Menschenwürde so erweitert, dass wir heute grundsätzlich jedem Menschen und auch dem vorgeburtlichen Leben dieses Ehrenprädikat zusprechen. „Der Mensch hat seine Würde darin, daß er als Kind Gottes berufen und angenommen ist: ‚Gott liebt dich, so wie du bist‘“.40 Weil im Bild der Gotteskindschaft jeder Mensch einbegriffen und keiner ausgeschlossen ist, münde sie folgerichtig auch in die Überzeugung einer umfassenden Solidarität, auch und gerade mit den Schwächsten.41 „Die Botschaft Jesu von der Gotteskindschaft zerbricht die Klassifizierungen in Starke und Schwache, in Gesunde und Kranke, in Behinderte und Nichtbehinderte usw. Sie proklamiert stattdessen die Geschwisterschaft all derer, die mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen leben.“42 Mit der Verkündigung der Gotteskindschaft trete zugleich das Symbol des Kindes selbst in den Blick. Es habe an der Person Jesu sein Urbild. Die Erzählung von der „Geburt eines Kindes, bei der die Welt den Atem anhält“ stelle ein Hoffnungsbild dar, „das die Unantastbarkeit unseres zerbrechlichen Lebens“43 zum Ausdruck bringt. Weil der Erlöser als Kind in die Welt ————— 37

Vgl. Grewel, Gottes Kinder dürfen schwach sein, 22f; ders., Hat es überhaupt noch einen Sinn, an Gott zu glauben?, in: ders., Brennende Fragen christlicher Ethik, 12f. 38 Vgl. u.a. Grewel, Gottes Kinder dürfen schwach sein, 23. 39 Grewel, Hat es überhaupt noch einen Sinn, an Gott zu glauben?, 13. 40 Grewel, Wer ist denn der ‚normale‘ Mensch? 46. 41 Vgl. Grewel, Leben mit Beeinträchtigungen, 515. 42 Grewel, Zerbrechliches Leben, 14. 43 Ebd., 13.

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kommt, werden auch an jedem zarten und verletzlichen Neugeborenen die Zeichen der Gotteskindschaft erkennbar. (3) Wer mit der Verkündigung und Praxis Jesu in Berührung kommt, wird weitere aufregende und ermutigende Entdeckungen machen. Die Evangelien erzählen, wie Menschen mit Jesus die Erfahrung machten, sich nicht verstecken zu müssen. Sie konnten ihm „ohne Maske, ohne in eine fremde Rolle zu schlüpfen, ohne falschen Schein gegenübertreten. […] Er ließ sie gelten, wie sie waren“.44 Mehr noch: er zeigte ihnen, dass sie ihm, ja dass sie Gott selbst wichtig sind. Die uneingeschränkte Liebe Gottes habe sich ihnen erschlossen. So konnten sie krankmachende Zwänge durchbrechen und lähmende Ängste ablegen.45 (4) Die Heilungsgeschichten der Evangelien lassen sich von dieser Zuwendung Jesu her verstehen. So sehr die heilende Praxis Jesu in der neutestamentlichen Forschung allgemein anerkannt ist, so wenig sei er als großer Wunderheiler oder Zauberer in Erscheinung getreten. Entscheidender sei etwas anderes: Jesus habe die damals gängige Lesart, nach der Behinderungen eine Folge von Sünde seien, zurückgewiesen und stattdessen „eine Bewegung der Solidarisierung mit den Schwachen angebahnt“.46 Er, der ein Freund der Zöllner und Sünder genannt wurde (vgl. Lk 7,34), war auch ein Freund der Kranken und Behinderten. Jesus habe mit seiner Hinwendung zu den Verlorenen eine Umwertung von Stärke und Schwäche herbeigeführt. Heil könne nicht mehr als Heilung im Sinne der Wiederherstellung einer Unversehrtheit verstanden werden. Sie sei vielmehr als die Zusage und Zueignung der bedingungslosen Liebe Gottes zu begreifen. Die Heilung, die dadurch angebahnt wird, bemesse sich an keinem „normativen Maß für alle, sondern für jeden Menschen nach den Möglichkeiten, die nur ihm angewiesen sind“.47 Nicht die Abschaffung eines körperlichen Gebrechens sondern unsere dringendsten Bedürfnisse sind im Horizont des Heils von lebenswichtigem Interesse. Nicht immer könnten wir Beschwerdefreiheit erwarten. „Auch ein Zugewinn an Leidensfähigkeit, an Lebensfreude oder an Vertrauen kann eine Heilung sein.“48 (5) Das Leben der christlichen Gemeinden versteht sich in der Nachfolge Jesu und deshalb auch in der Fortsetzung seiner heilbringenden Praxis. Die prinzipielle Aufhebung der Rangunterschiede in der Gemeinde drücke sich beispielsweise in Paulus’ Galaterbrief aus: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Man darf gesunde und ————— 44 45 46 47 48

Grewel, Wer ist denn der „normale“ Mensch?, 50f. Vgl. ebd., 51. Ebd., 52. Grewel, Gottes Kinder dürfen schwach sein, 24. Ebd.

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kranke, behinderte und nichtbehinderte Menschen getrost ergänzen. Dadurch entstehe in der christlichen Gemeinde der Impuls zu einer umfassenden Geschwisterlichkeit. Sie bestehe darin, dass Menschen mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Möglichkeitshorizonten mit ihren Beeinträchtigungen leben lernen, das Mögliche verändern und das Unveränderliche annehmen. „Mit solcher Geschwisterlichkeit verbindet sich dann der Traum von einem Gemeinwesen, das seine Ordnungen an den Möglichkeiten der schwächeren Glieder der Gemeinschaft orientiert.“49 Die christliche Gemeinde werde damit zum Modell für die Utopie eines solidarischen Gemeinwesens.

6.4 Anthropologie des zerbrechlichen Lebens. Kritische Würdigung Der Erfahrungsbezug gibt auch den ethischen und pädagogischen Überlegungen Grewels seine entscheidende Farbe. Statt einer abstrakten, prinzipiengeleiteten Ethik, für die exemplarisch der Utilitarismus und die traditionelle Güterlehre stehen, konturiert Grewel die Grundzüge einer „erfahrungsorientierten Ethik“,50 die sich an der Unterschiedlichkeit der Lebensbedingungen und damit Handlungssituationen orientiert. Diesen differenten Situationen werde man am ehesten mit einem ethischen Kompromissmodell gerecht, die „die Nöte, Hoffnungen und Möglichkeiten der betroffenen Menschen mit dem Tötungs- und Schädigungsverbot und der Ermutigung zur Solidarität zusammenzudenken versucht“.51 Eine solche Ethik habe keine fertigen Rezepte, sondern suche in einem offenen Entscheidungsprozeß jeweils eine humane Lösung, die dem Schädigungs- und Tötungsgebot sowie dem Solidarisierungsgebot gerecht wird. Grewel hat in einer Vielzahl von Beiträgen die Bedeutung dieser Kompromissethik gerade für bioethische Herausforderungen gezeigt.52 Das Interesse, Menschen in ihren Lebenssituationen zu verstehen, zu stärken und zu fördern prägt auch Grewels Pädagogik. Sie orientiert sich an der Förderung der Selbstbestimmung, der Stärkung der Selbstbeteiligung, an der Ausschöpfung des jedem Einzelnen offen stehenden Möglichkeitsho-

————— 49

Grewel, Defizitäre Lebenserfahrungen, 438. Grewel, Zerbrechliches Leben, 10 [Hervorhebung von mir; U.L.]. 51 Grewel, Gottes Kinder dürfen schwach sein, 27. 52 Vgl. u.a. Grewel, Recht auf Leben; ders, Gesellschaftliche Entwicklungen im Umgang mit Behinderung und Integration; ders., Die gefährliche Logik der Bioethik; ders., Recht auf Menschlichkeit; ders., Euthanasie und Technologie; ders., Gesellschaftliche und ethische Implikationen der Hirntodkonzeption. 50

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rizontes, an der Entdeckung von Sinnmöglichkeiten und einer am Rollentausch eingeübten Solidarität.53 Ohne Zweifel liegen die großen Ressourcen von Grewels Anthropologie des zerbrechlichen Lebens darin, dass er in einem umfassenden Sinn auf die Normalität des Imperfekten aufmerksam gemacht hat. Behinderung versteht er als die Erfahrung einer Beeinträchtigung, die neben einer Vielzahl von anderen menschlichen Lebenssituationen steht, die je spezifisch von den Betroffenen als Beeinträchtigung erfahren werden. Sehe ich richtig, so ist Grewels theologische Reflexion vor allem christologisch aufgebaut. Selbst der Schöpfungszusammenhang wird im Horizont der Christologie interpretiert. Die im Zusammenhang des ersten Schöpfungsberichtes auftauchende Formulierung „Siehe, es war sehr gut“ (vgl. Gen 1,31) erschließt sich ihm erst von der Verkündigung Jesu her. Deren Impuls zur „Umwertung von Stärke und Schwäche hat […] radikale Konsequenzen für unseren Glauben an den Schöpfergott“.54 Erst jetzt wird das Credo der guten Schöpfung Gottes von der Zweideutigkeit befreit, es gelte nur für die Makellosen. Auch für kranke und behinderte Menschen gilt der Satz: „Ich danke dir (Gott), daß ich wunderbar gemacht bin“ (Ps 139,4).55 In der Herausarbeitung dieses integrativen Menschenbildes, das auf die Beeinträchtigung jedes Menschen und die Solidarität aller abhebt, sehe ich die große Leistung des vorliegenden Entwurfs. Allerdings scheint mir die starke Betonung der Begrenzungen des Menschen nicht frei von Vereinseitigung zu sein. Auch bei Grewel stehen Schwachheit und Verletzlichkeit des Menschen im Mittelpunkt. Ich halte die Hauptthese, dass alle Menschen mit Beeinträchtigungen leben, für überzeugend. Aber es darf nicht nur von den Beeinträchtigungen und dem Umgang mit den Begrenzungen gesprochen werden. Auch von den Entwicklungspotentialen muss die Rede sein. Genau davor scheut aber Grewel zurück. Er hat gute Gründe dafür: er will vermeiden, dass Menschen mit Behinderung an der Latte einer Leistungsfähigkeit gemessen werden, der sie nicht entsprechen können. Interessant für diese Bedenken ist eine Bemerkung, in der sich Grewel mit dem sog. Kompetenzansatz auseinandersetzt. Gegen dieses Konzept wendet er ein: „Wenn nämlich z.B. ein behinderter Mensch nun doch wieder […] an ‚normalem‘ Leistungsvermögen orientierten Versuchen auf das festgelegt würde, was er zu leisten vermag […], hätten wir die frühere Unterforderung nur kompensiert durch dieÜberforderung eines Aktionismus, der den Menschen durch das definiert, ————— 53 54 55

Vgl. Grewel, Leben mit Beeinträchtigungen, 521. Ebd., 518. vgl. ebd.

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was er kann.“56 Grewel nimmt deshalb eine mittlere Stellung zwischen dem Defizit- und dem Kompetenzkonzept ein, für die er den Begriff der Differenz verwendet.57 Das Bedenken der Überforderung ist ernst zu nehmen. Aber: die Empowerment-Ansätze in der Behindertenpädagogik gehen heute stets vom Subjekt, von den differenten und pluralen Erlebnis- und Bedürfniswelten der Individuen aus, so dass von der Orientierung an einer allgemeinen Leistungsnorm genauso wenig gesprochen werden kann wie von einer Definition des Mensch über sein Können.58 Sehe ich richtig, so korrespondiert der anthropologischen Betonung der Begrenzungen des Lebens eine pädagogische Scheu, sich zu sehr an den Kompetenzen zu orientieren. Das von Grewel geforderte ganzheitliche Menschenbild59 müsste m.E. neben den Schwächen auch die Stärken, die Entwicklungsmöglichkeiten und individuellen Ressourcen von Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen berücksichtigen. Was Grewels biblische Hermeneutik anlangt, so ist auch hier zunächst positiv hervorzuheben, dass er „die Botschaft von der heilvollen Zuwendung Gottes zum Menschen“, die sich in der Schöpfungstradition und der Jesusüberlieferung ausdrückt, als hermeneutisches Zentrum ansieht. Mit diesem hermeneutischen Schlüssel kann er beispielsweise mit guten Gründen alle Anklänge an den Tun-Ergehen-Zusammenhang zurückweisen. Gleichwohl scheint mir in Bezug auf die Verkündigung Jesu eine gewisse Harmonisierung zu bestehen. Dies ist dort der Fall, wo Grewel den Zusammenhang von Heil und Heilung erläutert. Die Aussage, die Zusage des Heils bahne eine Heilung an, die sich aber nicht an unseren Sehnsüchten, sondern an dem bemesse, dessen wir am dringendsten bedürfen ist einerseits unscharf und andererseits anmaßend. Sie ist unscharf, weil sie eine genaue Beschreibung unterlässt, worin die Heilung eigentlich besteht. Sie ist anmaßend, indem sie über die tiefen Empfindungen der Betroffenen hinweggeht und diese gegen ihre dringendsten Bedürfnisse ausspielt. Über Bedürfnisse, noch dazu über die dringlichsten, können aber nur die betroffenen Subjekte selbst befinden. Die Theologie sollte hier eher bereit sein, Fragen offen zu lassen als das Unerklärliche solcherart zu harmonisieren.

————— 56 57 58 59

Grewel, Defizitäre Lebenserfahrungen, 440f. Vgl. ebd., 441. Vgl. dazu u.a.: Theunissen, Selbstbestimmt-Leben, 169–172. Vgl. Grewel, Gesellschaftliche Entwicklungen, 72.

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7. „Begrenztheit gehört zur Grundbestimmung des Menschen“. Michael Schibilskys christologische Anthropologie Michael Schibilsky In einem Vortrag aus dem Jahre 1997 hat Michael Schibilsky die heutige Theologie als handelnde Person innerhalb der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) platziert. Nach seiner Auffassung sei die „reflektierte Theologie“ – ähnlich wie der Priester und der Levit – der „besonderen Gefährdung […] ausgesetzt“, nur die „wohlanständigen Reinigungs- und Reinlichkeitsvorstellungen einer bürgerlichen Moral im Sinn“ zu haben. Stattdessen bestünde jedoch die „diakonische Blickrichtung“ darin, „den unter die Räuber gefallenen Menschen“1 zu sehen. Schibilsky macht sich deshalb für einen Blickwechsel stark: Die Diakonie solle zur Lehrerin der Theologie werden.2 Vor dem Hintergrund dieses Perspektivwechsels zu einer diakonischen Theologie darf auch Schibilskys Anthropologie verstanden werden. Er hat sie angesichts einer Vielzahl aktueller Herausforderungen formuliert und präzisiert: der Gentechnik, der Lebenswertdebatte, der Ökonomisierung des Sozialen usw. Ich will im Folgenden zunächst die christologisch begründete Anthropologie Schibilskys in den Blick nehmen (7.1) und anschließend sein Verständnis von Behinderung erläutern (7.2). Eine kritische Würdigung schließt dieses Kapitel ab (7.3).

7.1 „Anthropologie ist im Kern Christologie“ Theologische Anthropologie, das ist Schibilskys Überzeugung, steht quer zu den säkularen Menschenbildern der Gegenwart. Nicht im Sinne einer prinzipiellen Ablehnung. Wohl aber so, dass die anthropologischen Konzepte auf dem theologischen Forum zur Diskussion gestellt und mit den Impulsen theologischen Nachdenkens konfrontiert werden.3 Denn: die ————— 1

Schibilsky, Biblisch-theologische Impulse, Vortragstyposkript, 10. Schibilsky, Biblisch-theologische Impulse, Diakonie-Jahrbuch, 85. 3 Vgl. Schibilsky, Was ist der Mensch?, in: Diakonisches Werk der Evang. Kirche von Westfalen (Hg.), 172: „Quer zu den drei hier genannten Zugehensweisen und Frageperspektiven moderner Anthropologie steht der Ansatz christlicher Anthropologie“; vgl. auch ders., Das Menschenbild der Diakonie, 5f. 2

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Theologie macht darauf aufmerksam, dass „nicht die Geschichte des Menschen mit sich selbst, sondern die Geschichte Gottes mit dem Menschen“4 der Anfang und die Grundlage aller Anthropologie sind. Im Zentrum dieser Geschichte Gottes steht die Person Jesu Christi. Deshalb „ist Anthropologie im Kern für uns Christologie“.5 Die zentralen anthropologischen Kategorien erfahren deshalb bei Schibilsky eine christologische Schärfung. Seine anthropologische Grundthese lautet: „Am Menschensohn Jesus, an der Begegnung mit dem auferstandenen Christus erfahre ich für mich selbst, was Menschsein bedeuten kann: Dieser Jesus ist ganz frei und unabhängig in seinem Denken und Handeln, weil er ganz abhängig ist von Gott.“6 Von diesem Zentrum aus lassen sich die Linien nach allen Seiten ziehen – als Strahlen, die stets den gemeinsamen Mittelpunkt voraussetzen. (1) Eine erste Konsequenz zieht Schibilsky, indem er das Wesen des Menschen rechtfertigungstheologisch bestimmt. „Seine Einzigartigkeit verdankt der Mensch nicht eigener Leistung, sondern dem einzigartigen Anruf Gottes an uns.“7 Individualität sei deshalb im Kern eine geschenkte, ein passiv konstituierte Qualität. Das gleiche gilt von der Identität. Auch sie sei eine verliehene.8 Personalität, Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde seien es nicht minder.9 Stets macht Schibilsky darauf aufmerksam, dass der Mensch sein Wesen nicht aus sich selbst heraus hat und verwirklicht, sondern aus der Begegnung mit Christus erhält. (2) Eine zweite Konsequenz besteht in der Betonung der Relationalität der conditio humana. Begründet die Geschichte Gottes das Menschsein und gewinnt die Person aus der Begegnung mit Jesus Christus ihre Individualität, so wird klar, dass der Mensch konstitutiv ein Beziehungswesen ist. Der Gottesbezug begründet zugleich einen sich fortsetzenden Beziehungsreichtum. Sozialität macht das Wesen des Menschen aus. „Der Mensch lebt in Sozialität.“10 Die anthropologischen Kategorien, Würde, Personalität, Gottebenbildlichkeit etc. sind allesamt auch relational und damit sozial auszubuchstabieren. „Die soziale Bedeutung der Gottebenbildlichkeit basiert nach Schibilsky auf drei Aspekten: der Mittelpunktstellung des Menschen ————— 4

Schibilsky, Was ist der Mensch?, 172. Schibilsky, Ethik der Menschenwürde, 222. 6 Ebd. 7 Schibilsky, Biblisch-theologische Impulse, Typoskript, 19, These IV. 8 Vgl. Schibilsky, Was ist der Mensch?, 172: „Die Identität des Menschen ist eine ihm vom Schöpfer-Gott verliehene Identität.“ 9 Vgl. ebd.: „Auch das Person-Sein des Menschen ist eine solche Ableitung des PersonSeins Gottes […]. Personalität wird dem Menschen von Gott in der Taufe zugesprochen, in der Einzigartigkeit seines Wesens und Namens […]. Es geht als im Glauben […] um Neugewinn der Personalität in Christus“; ebd.: „Gott-Ebenbildlichkeit ist unverlierbare Menschenwürde, verliehen durch Gott und nicht erworben durch eigenes Können oder Leisten.“ 10 Schibilsky, Ethische Zukunftsaufgaben, 135. 5

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in der Welt (der Mensch als concreator dei); in der Weltzuwendung des Menschen als seiner Befähigung zur ethischen Orientierung; und in seiner Existenz als Sozialwesen.“11 Die Begegnung mit dem oder mit der Anderen ist damit nicht nur eine Bedingung der Möglichkeit des Menschseins. Sie ist zugleich Ort der ethischen Verantwortung. Dazu gehört einerseits die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme. Nicht minder aber auch die Möglichkeit, schuldig zu werden.12 (3) Die ethische Perspektive, die Schibilsky an dieser Stelle anbietet, widerspricht der traditionellen Mitleidsorientierung. An deren Stelle setzt er das Engagement für die unverlierbare Würde und die elementaren Rechte von Menschen.13 Diese prägnante Menschenrechtsperspektive ist erneut biblisch motiviert. Denn: in der hebräischen Bibel wird die Nächstenliebe als Recht schaffendes Handeln verstanden. Sie hat ihren Grund im Bund Gottes, in der Erinnerung an die Befreiung des Exodus und in der Erwartung des bevorstehenden Heils Gottes. Sie ist der Zufälligkeit und Willkürlichkeit entzogen. Kurz: Nächstenliebe ist ein erwartbares Recht; „das Gesetz verschafft den Leidenden ein Recht auf das Erbarmen“.14 Auch im Neuen Testament bleibt dieser partizipatorische und emanzipatorische Zug prägend. Gerade die Leidenschaft für die unhintergehbaren Menschenrechte und die unantastbare Menschenwürde werden so zu Kennzeichen einer diakonischen Theologie, die in einer christologischen Anthropologie ihren Mittelpunkt hat.

7.2 „Schwäche ist kein Makel und Stärke keine Grundlage für ein ganzes Leben“ Erfährt der Mensch in der Begegnung mit Christus die Wahrheit über sein Wesen, so gilt es auch, der Entäußerung Gottes in Christus anthropologisches Gewicht zu verleihen. Im Antlitz Christi werde, so Schibilsky, der Gott ansichtig, der auf Macht und Vollkommenheit Verzicht leistet und sich seiner Hilfsbedürftigkeit nicht schämt. „Gott wird hilfsbedürftiges Kind, in

————— 11

Schibilsky, Was ist der Mensch?, 173. Vgl. Schibilsky, Biblisch-theologische Impulse, Typoskript, 18, These II: „Nach dem Zeugnis der Bibel ist der Mensch befähigt, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Er ist verantwortungsbegabt und schuldfähig.“ 13 Vgl. Schibilsky, Wächteramt Ethik – Aufgaben eines christlichen Menschenbildes, 135; ähnlich ders., Ethik der Menschenwürde, 218: „Es geht nicht um Mitleid […]. Es geht um elementare Menschenrechte. Es geht um die unverlierbare Würde von Menschen.“ 14 Schibilsky, Biblisch-theologische Impulse, Diakonie-Jahrbuch 1998, 85. 12

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Windeln gewickelt.“15 Seine Insignien seien weder Stärke noch Makellosigkeit, sondern Schwäche und Bedürftigkeit. (1) Eine durch den Inkarnationsgedanken geschärfte Anthropologie hat deshalb den Erfahrungen der Ohnmacht und Hilfsbedürftigkeit Rechnung zu tragen. „Schwäche ist kein Makel, und Stärke ist keine Grundlage für ein ganzes Leben.“16 Beides gehört zum Leben. „Der Mensch lebt […] in Polaritäten: Glück und Leid, Krankheit und Gesundheit, geboren werden und sterben müssen“.17 Ein einheitliches Menschenbild müsse diesen polaren Erfahrungen ihr jeweiliges Recht geben. Sie dürfe nicht nur eine Seite, beispielsweise die Gesundheit, verabsolutieren. Ein verantwortliches Menschenbild dürfe kein gespaltenes sein. Es sollte für jede und jeden gelten. „Wir brauchen ein […] Menschenbild, das uns gemeinsam umgreift.“18 (2) Deshalb ist für Schibilsky von der Selbstverständlichkeit von Grenzen zu sprechen. Ja, er möchte sogar den Menschen von seinen Grenzen her definieren.19 In einer seiner anthropologischen Thesen heißt es folgerichtig: „Begrenztheit gehört zur Grundbestimmung des Menschen. Der Mensch ist seinem Wesen nach endlich, auch in seiner Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit. Grenzen gehören zu seinem Leben.“20 Auch Krankheit und Behinderung gehören zu diesen Begrenzungen, die von der conditio humana nicht wegzudenken sind. Michael Schibilsky hat sich in vielen Beiträgen mit den Rechten, der Lebenssituation und der bedrohten Würde von Menschen mit Behinderung auseinandergesetzt. Nirgendwo bemüht er dabei besondere Deutungen zur Erklärung von Behinderungen. Stets sind seine anthropologischen Reflexionen inklusiv. Insofern dürfte für Behinderungen analog gelten, was Schibilsky von Krankheiten sagt: „In Wahrheit ist Kranksein eine Gestalt menschlichen Lebens und Erlebens, nicht die Ausnahme, nicht die vermeidbare Panne, sondern konstitutiver Bestandteil des Lebens selber.“21 Es gilt: „Der Kranke ist normal.“22 (3) Behinderung dürfte auf diesem Hintergrund als normale Lebensform zu verstehen sein. Sie ist Ausdruck der grundsätzlichen Begrenztheit menschlichen Lebens. Behinderte sind normal. Dieses Urteil ist nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ zu verstehen. Es macht klar, dass die ————— 15

Schibilsky, Ethik der Menschenwürde, 223. Ebd. 17 Schibilsky, Ethische Zukunftsaufgaben, 136. 18 Ebd., 137. 19 Vgl. ebd.: „Christlicher Glaube weist in seinem dialogischen Beitrag darauf hin, den Menschen von seinen Grenzen her zu definieren. eine Anthropologie von unten zu formulieren.“ 20 Schibilsky, Biblisch-theologische Impulse, Typoskript, 20, These VI. Vgl. auch ders., Wie soll entschieden werden?, in: Diakonisches Werk der Ev. Kirche von Westfalen (Hg.), 144. 21 Schibilsky, Kranke, 271. 22 Ebd., 269. 16

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Menschenwürde ebenso wie die Menschenrechte ungeteilt für alle gelten. In der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens ist diese Normalität aber noch längst nicht wirklich. Isolation und Stigmatisierung sind vielmehr höchst real.23 Krankheit bzw. Behinderung werden nicht angenommen sondern abgelehnt. Die Krankheit der Gesundheitsverabsolutierung besteht nach Schibilsky darin, Krankheit und Behinderung nicht als normale Lebensäußerung annehmen zu können. Deshalb macht er im Gegenzug deutlich: „Schwerstbehinderte sind kein Sonderfall der Diskussion um ein künftiges Menschenbild, es ist der Ernstfall eines jeden Menschenbildes. Überall da, wo Menschen mit ihren Begrenzungen herausfallen aus unseren Maßstäben – da sind unsere Maßstäbe selbst fragwürdig geworden.“24 (4) Die Einseitigkeit und Fragwürdigkeit halbierter Menschenbilder hat Schibilsky besonders an der Entwicklung der Gentechnik25 und an der „Praktischen Ethik“ Peter Singers26 energisch kritisiert. Singers PersonenBegriff stellt für ihn das Paradigma für ein gespaltenes Menschenbild schlechthin dar. Gegen die Unterscheidung von Menschen und Personen macht er – mit Robert Spaemann – geltend, dass Personsein und Menschsein zusammenfallen.27 Die mit Singers Unterscheidung zugleich mitgesetzte Quantifizierung der Menschenwürde sei deshalb ebenso zurückzuweisen wie die mit dem Begriff des Lebenswertes verbundene Fiktion einer leidfreien Welt. Für Menschen mit Behinderung seien die Folgen von Singers Ethik besonders gravierend: „Sie werden durch eine solche Argumentation aus dem Zugehörigkeitsrecht zur menschlichen Gesellschaft verbannt.“28 Aufgrund dieser bedrohlichen Konsequenzen greift Schibilsky auch zu deutlichen Worten. Singer, so konstatiert er, habe sich mit seiner Argumentation „aus dem Bereich zivilisierter Ethik verabschiedet“. Sie sei „als rationale Barbarei zu qualifizieren“. Allein, wer Singers Buch „für wissenschaftlich respektabel hält, verstößt gegen Grundprinzipien zivilisierter Menschheit“.29 (5) Die Theologie ist angesichts dieser bedrohlichen Diskussion auf den Plan gerufen. Insbesondere die theologische Ethik wird von Schibilsky an ————— 23

Vgl. zur Isolation und Stigmatisierung kranker Menschen: ebd., 269, 274. Schibilsky, Ethische Zukunftsaufgaben, 136. 25 Vgl. Schibilsky, Wie soll entschieden werden? 142–144. 26 Vgl. unter einer Vielzahl von Beiträgen: Ethische Zukunftsaufgaben; ders., Wächteramt Ethik. Die Debatte um Peter Singer; ders., Peter Singers „Praktische Ethik“; ders., „Im besten Interesse des Patienten“. Zu einem Beitrag von Helga Kuhse, in: Diakonisches Werk der Evang. Kirche von Westfalen (Hg.), 81f; ders., Christoph Anstötz’ „Plädoyer für eine rationale Moraldiskussion“, in: Diakonisches Werk der Evang. Kirche von Westfalen (Hg.), 65–67. 27 Vgl. Schibilsky, Ethik der Menschenwürde, 216. 28 Schibilsky, Peter Singers „Praktische Ethik“, in: Diakonisches Werk der Evang. Kirche von Westfalen (Hg.), 62. 29 Alle Zitate: ebd. 24

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ihr Wächteramt erinnert.30 Es gilt für ihn, die Bedingungs-losigkeit des Menschseins ebenso deutlich zu machen wie die Unverlierbarkeit der Würde.31 Es gilt auf die Unmöglichkeit einer leidfreien Welt aufmerksam zu machen und sich zugleich mit dem Leiden selbst auseinanderzusetzen. Die starke Betonung der Menschenrechtsperspektive erweist sich vor diesem Hintergrund in ihrer ganzen Aktualität. Es gilt: „Behinderte, ihre Mitarbeiterschaft und Angehörigen müssen sich auf die Solidarität von Kirche und Diakonie verlassen können.“32 Deshalb sind behinderte Personen für Schibilsky der Ernstfall für das christliche Menschenbild. Die Diakonie und ihre Wahrnehmungsfähigkeit sind deshalb für die Theologie unverzichtbar, wenn diese wie der barmherzige Mann aus Samarien das Leiden sehen und Abhilfe schaffen will. „Eine Theologie, die bei der Diakonie in die Schule geht, kann dem begegnen, wo es heute gilt, Not wahrzunehmen und zu wenden.“33 Der Kreis schließt sich: Angesichts der Gefährdungen für die Theologie, wie sie in den Personen des Priesters und des Leviten in der Samariterperikope ansichtig werden, hilft nur ein radikale diakonischer Blickwechsel. Es gilt: die Diakonie soll Lehrerin der Theologie werden.

7.3 „Schwäche ist kein Makel und Stärke keine Grundlage“ Kritische Würdigung Schibilskys Theologie ist bei dem barmherzigen Mann aus Samarien in die Schule gegangen. Sie geht nicht an der Lebenssituation derer vorbei, die „unter die Räuber gefallen sind“, sondern hilft ihnen auf, stärkt ihnen den Rücken und setzt sich für ihre Würde und Rechte ein. Allerdings setzt sie sich darin zugleich von einer langen Auslegungstradition des barmherzigen Samariters ab. Sie bricht mit der Mitleidsethik und setzt an die Stelle des Liebespaternalismus das Engagement für die Rechte. Menschen mit Behinderung ebenso wie alle anderen auch werden deshalb als Subjekte wahrgenommen, die Rechte haben und damit Anspruch auf Gerechtigkeit. Es gehört – das will ich damit zum Ausdruck bringen – zur Leistung des Entwurfes von Schibilsky, dass er seiner Theologie eine so starke Orientierung an den Menschenrechten gibt. Dass er sich damit in guter biblischer Tradition wissen kann, hat die Darstellung gezeigt. Auf dem Hintergrund der Leidenschaft für die Rechte setzt sich auch die Betonung der menschlichen Gren—————

30 Vgl. Schibilsky, Wächteramt Ethik. Aufgaben eines christlichen Menschenbildes; ders., Wächteramt Ethik. Die Debatte um Peter Singer. 31 Vgl. Schibilsky, Ethik der Menschenwürde, 222. 32 Ebd., 226. 33 Schibilsky, Biblisch-theologische Impulse, Diakonie-Jahrbuch, 85.

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zen und Schwächen nicht dem Verdacht aus, einseitig defizitorientiert zu sein. Vielmehr prägt Schibilskys Konzept ein Realismus, der Kompetenzen und Grenzen gleichermaßen einschließt. „Schwäche ist kein Makel, und Stärke ist keine Grundlage für ein ganzes Leben.“34 Es deutet sich also bei Schibilsky eine Balance an, die für die menschliche Lebenswirklichkeit eine hohe Erschließungskraft hat. Für die anthropologische Diskussion möchte ich allerdings festhalten, dass Schibilsky sich in die Reihe derjenigen Theologen einreiht, die ihr Menschenbild mit einer Palette biblischtheologischer Farben zeichnen. Die Pinselstriche sind genau, gewiss. Das Porträt ausdrucksstark und einprägsam. Aber könnte das Bildnis nicht noch an Eindrücklichkeit gewinnen, würde der Maler sein Farbspektrum noch erweitern? Ich glaube jedenfalls, dass es dem theologischen wie diakonischen Anliegen gleichermaßen dient, wenn die Theologie ihren anthropologischen Entwurf auch auf der Agora der Sozialwissenschaften und der Philosophie plausibel zu machen versucht. Um es pointiert zu sagen: Die Theologie sollte neben der Hochschätzung für ihre Lehrerin Diakonie auch die empirischen Wissenschaften und die Philosophie als Gesprächspartner nicht gering schätzen.

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Schibilsky, Ethik der Menschenwürde, 223.

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8. Verletzliches Menschsein, beschädigte Schöpfung. Jürgen Seims Notizen zu einer Anthropologie des Verletzlichen Jürgen Seim „Menschen, die anders oder besonders sind, sind uns fremd. Wir tun uns schwer mit ihnen und darum haben sie es schwer mit uns.“1 Mit diesen Worten beginnt Jürgen Seim einen Abschnitt seines Katechismus aus dem Jahr 2004, der „Die Kirche und die besonderen Menschen“ überschrieben ist. Auf die besonderen Lebenserschwernisse geht Seim in diesem Abschnitt ein, auf die Euthanasieverbrechen und den „Schreck über dieses Verbrechen“, der „zu einer neuen Wahrnehmung der Menschen mit Behinderung geführt“ hat. Weil der Zuspruch der Gottebenbildlichkeit jeden Menschen einschließe, verbinde „‚brüderliche und schwesterliche Zusammengehörigkeit alle Menschen […], gesunde und kranke, starke und schwache, nicht behinderte und behinderte, hilfsbereite und hilfsbedürftige‘“. Vor diesem Hintergrund schlussfolgert Seim: „Besondere Menschen brauchen uns nicht fremd zu bleiben, sie erweitern vielmehr unseren Lebenskreis.“2 Es ist kein Zufall, dass Jürgen Seim in seinem Katechismusentwurf den besonderen Menschen einen eigenen Abschnitt widmet. In einer Reihe von Beiträgen hat er sich seit 1980 mit dem Thema „Behinderung“ auseinandergesetzt. Gemeinsam mit dem christlich-jüdischen Dialog, der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen sowie aktuellen biomedizinischen Herausforderungen gehört es zu den Themen, denen sich Jürgen Seim vielfach zugewandt hat. Vor allem aber ist Seim als Biograf und Werkinterpret Hans Joachim Iwands bekannt geworden. Dessen Theologie hat er sich aber nicht nur analytisch genähert. Eine Nähe zu Positionen der Dialektischen Theologie ist auch für Seim selbst charakteristisch. Sie schlägt sich beispielsweise darin nieder, dass Seim durchgängig vom Wort Gottes her denkt und in Folge dessen philosophischen und naturwissenschaftlichen Reflexionen eine nachgeordnete Bedeutung für die Bestimmung des Humanum einräumt. So will er in anthropologischen Fragen zwar die „Kompetenz der Dichter und Philosophen, der Biologen und Mediziner, der Soziologen und ————— 1 2

Seim, Entwurf eines Katechismus, Nr. 9. Alle Zitate ebd.

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Psychoanalytiker“3 nicht gering achten. Wer aber diese Fragen, so wie der Beter des achten Psalms, an Gott richte, dem sei es wesentlicher, „daß Gott unser gedenkt“4 und dass sich die Frage nach dem Menschen vom Schöpfer her erschließt. Auch in der Verhältnisbestimmung von Glaube und Wissen(schaft) setzt Seim mehr auf Distanz als auf Nähe. Gerade angesichts einer ethisch aufgeladenen Wissenschaft, die einzulösen scheint, dem Menschen umfassend gerecht werden zu können, sei Widerspruch angezeigt: „Wenn es […] einen argumentativen Standort des Glaubens gegenüber der Wissenschaft gibt, dann ist er in der Nähe der Kranken und Behinderten.“5 Der Glaube steht auf der Seite der Schwachen, während die Wissenschaft mit ihrer Utopie eines leidfreien Lebens auf die Seite der Starken gewechselt sei. Jürgen Seim entwickelt seine anthropologischen Überlegungen folgerichtig vor allem aus biblisch-theologischen Zusammenhängen: er denkt den Menschen als den, der von Gott gedacht wird. Ich will mich im Folgenden zunächst Seims Anthropologie zuwenden (8.1) und auf dieser Grundlage seine Interpretation des Phänomens „Behinderung“ nachzeichnen. (8.2). Abschließend frage ich danach, zu welchen Konsequenzen Seim in Bezug auf das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung hat (8.3).

8.1 Gottes Ebenbild in Schwachheit und Begrenztheit. anthropologische Notizen Wer den Menschen so denken will, wie er von Gott gedacht ist, wird der biblischen Überlieferung von der Gottebenbildlichkeit eine zentrale Bedeutung beimessen. Aus dem Gedanken, dass der Mensch zum Ebenbild Gottes geschaffen ist, erschließt sich sowohl die „herausgehobene GegenüberStellung zu Gott“ als auch die menschliche „Gegenüber-Stellung zu den anderen Geschöpfen“.6 Diese herausgehobene Positionalität wird durch die menschliche Schuldhaftigkeit gefährdet, jedoch nicht aufgehoben. Vielmehr bleibt es dabei: als Ebenbild Gottes ist der Mensch unantastbar, „ungeachtet von Krankheit, Behinderung und Alter, die ihn einschränken“.7 Sein Leben hat einen unschätzbaren Wert,8 eine nicht anzutastende Würde. Es ist grundsätzlich unverfügbar. ————— 3 4 5 6 7 8

Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 22. Ebd. Ebd., 45. Ebd., 22. Seim, Notizen zur Philosophie der Euthanasie, 58. Ebd., 55.

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Zur Geschöpflichkeit gehören aber auch die „Begrenztheit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit“.9 Der Mensch ist endlich und hinfällig.10 Deshalb ist auch das Leiden nicht aus der Definition des Humanum herauszuhalten: „Leiden gehört zum Menschsein“.11 Der hinfällige und bedürftige Mensch ist zugleich auch ein soziales Wesen. Gegen die einseitige Betonung der Autonomie hält Seim an der Überzeugung fest, „daß wir immer auf andere angewiesen sind; daß wir die Anrede anderer brauchen; daß wir erst hören, ehe wir selber sprechen können; daß wir auf den Arm und an die Hand genommen werden, ehe wir gehen können, daß allein zu leben prinzipiell unmöglich ist“.12 Passivität und Autonomie gehören beide zur conditio humana, beides, die Selbstbewusstheit und „die Abhängigkeit aller voneinander“.13 Hilfsbedürftigkeit ist deshalb keine Schande, sondern eine allgemeine anthropologische Kategorie. Seims schöpfungstheologische Überlegungen sind soteriologisch qualifiziert. Stärker als die Sünde sind die freie Erwählung Gottes und die Vergebung. Von Christus her, dem wahren Bild Gottes, ist die Gottebenbildlichkeit des an die Sünde verfallenen Menschen bestimmt.14 Deshalb kann Seim auch die ekklesiologische Rede vom Leib Christi anthropologisch interpretieren. Sie mache die „Gleichwertigkeit aller Glieder des Leibes“ deutlich und „verweist auf die Identifikation Christi mit dem Menschsein einschließlich des behinderten Menschseins“.15 Darüber hinaus ist die conditio humana für Seim auch eschatologisch qualifiziert. Mit der Auferstehung Jesu gewinnt sie die Hoffnung auf die Überwindung des Todes. Zwar ist der Mensch hinfällig und sterblich. Zwar hat er Teil am Seufzen der unerlösten Schöpfung (vgl. Röm 8,22). Zugleich ist er aber „zu Unvergänglichkeit und Kraft“, kurz: er ist „für die Neuschöpfung bestimmt“.16 Erst wenn das Eschaton Gegenwart geworden ist, wird auch das Leiden aufgehoben, das bis dahin zur condition humaine gehört.

—————

9 Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 23. Vgl. auch: ders., Behindertsein als Menschsein, 345. 10 Seim, Notizen zur Philosophie der Euthanasie, 58f. 11 Seim, Behindertsein als Menschsein, 350. 12 Seim, Notizen zur Philosophie der Euthanasie, 59. 13 Ebd., 58. 14 Vgl. Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 22 u. 26. 15 Seim, Behindertsein als Menschsein, 351; über die Formel vom Leib Christi heißt es hier: „Gewiß ist diese Formel im Neuen Testament ekklesiologisch gemeint. Um ihrer christologischen Begründung willen hat sie aber auch anthropologische Relevanz“. Vgl. auch ders., Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 49. 16 Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 25.

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8.2 Beschädigte Schöpfung. Behinderung als Sonderfall menschlichen Lebens In diese anthropologische Skizze trägt Seim anschließend auch seine Reflexion des Themas „Behinderung“ ein: (1) Innerhalb der als verletzlich, begrenzt und schwach beschriebenen Schöpfung sind auch Behinderungen normal. Behindertsein ist nichts anderes als ein Form des Menschseins.17 Im Gedanken der Gottebenbildlichkeit findet die „Gemeinsamkeit von Kranken und Gesunden, Behinderten und Nichtbehinderten“18 ihren Grund. Die Würde aller Menschen ist in gleicher Weise unantastbar. Behinderung ist demnach eine besondere Lebensform.19 Damit „ein Sonderfall von menschlichem Leben überhaupt“20. Sie entspricht nicht nur der allgemeinen anthropologischen Verletzlichkeit und Begrenztheit.21 Sie macht vielmehr exemplarisch – und darin deutlicher als sonst – diese humane Hinfälligkeit offenbar. „Der Behinderte ist das lebendige Beispiel für die Möglichkeit der Gefährdung, der jedes Menschenleben ausgesetzt ist. Er lehrt die anderen […] durch seine Existenz, wie dicht jeder Mensch am Rand der Hilfsbedürftigkeit, der Hilflosigkeit, ja des Ausgeliefertseins existiert.“22 (2) Ungewollt machen diese Bestimmungen Behindertsein aber zu einem extremen Fall menschlichen Lebens. Dies wird auch an einer Reihe weiterer Beschreibungen Seims deutlich. Zwar ist Hilfsbedürftigkeit ein allgemeines anthropologisches Kennzeichen. Aber an Menschen mit Behinderung bemerkt Seim eine „extreme Hilfsbedürftigkeit“.23 Zwar sind alle Menschen auf andere Personen angewiesen. Aber bei behinderten Menschen gibt es „manchmal sogar ein Ausgeliefert-sein an andere“.24 Zwar sind alle Menschen gleichermaßen Geschöpfe. Aber dennoch heißt es: „Der Behinderte lebt in einer anderen Welt als die Nichtbehinderten, und auch als die anderen Behinderten.“25 Er ist in diese andere Welt „eingemauert“.26 So geben denn Menschen mit Behinderung auch ein besonderes „Beispiel der Geduld ————— 17

Vgl. schon den Titel von Seim, Behindertsein als Menschsein. Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 26. 19 Seim, Behindertsein als Menschsein, 342. 20 Ebd., 341. 21 So die Formulierung in: Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 26. 22 Seim, Behindertsein als Menschsein, 345. 23 Ebd., 349. 24 Ebd., 342. 25 Ebd., 339. Dieser Satz ist nicht sozial zu verstehen. Vielmehr macht Seim deutlich: der behinderte Mensch lebt aufgrund seiner Behinderung (z.B. Seh-, Hör-, Sprachbehinderung usw.) in einer anderen Welt. 26 Ebd., 341 (mehrfache Formulierung 339–341). 18

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und der Tapferkeit, mit der ein Lebensschicksal getragen und bewältigt werden kann“.27 Hinter dieser Formulierung steckt eine weitgehende Synonymisierung von Behinderung und Leiden.28 Behindertsein wird so gegen den Willen des Autors zu einer Form defizitären Menschseins. Ausdrücklich werden Behinderungen von Seim auch „Beschädigungen der Schöpfung“29 genannt. Behindertsein, Krankheit und Leiden repräsentieren ein „beschädigtes Menschsein“.30 (3) An der Praxis Jesu hebt Seim den starken Impuls hervor, kranken und behinderten Menschen engagiert zur Seite zu stehen.31 Mehr noch: „Jesus bedeutet von Gott her einen Impuls, vor der tödlichen Übermacht von Krankheit und Behinderung nicht zu resignieren, sondern umgekehrt Kranken und Behinderten mit der Aussicht auf Erfolg hilfsbereit zur Seite zu stehen.“32 Diese Formulierung atmet erneut die Ambivalenz, auf die ich bereits hingewiesen habe. Während Seim Behinderungen stets als Ausdruck des Menschseins auffassen will, versieht er sie bei der Formulierung der „tödlichen Übermacht“ mit Konnotationen der Todesnähe. Die Heilungserzählungen der Evangelien legen nach Seim sowohl eine christologische als auch eine anthropologische Deutung nahe. Christologisch sind sie Ausweis der messianischen Würde Jesu. Anthropologisch aber legen sie „das Reich Gottes und die Messianität Jesu auf die Behinderten hin aus“.33 Sie machen deutlich, dass gerade behinderten und kranken Menschen das tätige Mit-Leid Jesu und damit die Liebe Gottes gelte. Sie erschließen, dass mit dem Reich Gottes auch die Hoffnung auf die Aufhebung von Leid und Behinderung einhergehe. An ihnen werde klar: „Jesus praktiziert Widerstand gegen die Behinderung.“34 Jesu Protest gegen das Leid und seine heilende Kraft des Mitleidens gingen auch auf seine Nachfolger über. Zum Kennzeichen der Praxis der Jünger Jesu gehöre es deshalb, das Leiden an sich heran zu lassen und für die Hilfsbedürftigen mit der Nähe des Gottesreiches zu rechnen.35 ————— 27

Ebd., 345. Vgl. ebd., 351: „Gehört Leiden in allen Gestalten, auch der Behinderung und des Defizits, zum Menschsein, so gehört eben diesem Menschsein das ganze Interesse Gottes.“ Ähnlich auch: ders., Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 27–30, wo Krankheit und Behinderung mit Leiden identifiziert werden. 29 Seim, Jesus und die Behinderten, 401. 30 Seim, Behindertsein als Menschsein, 350. 31 Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 30: „Es ist […] deutlich, daß von Jesus ein starker Impuls ausgeht, den Kranken und Behinderten, den Mühseligen und Beladenen, den Armen und Schwachen hilfsbereit zur Seite zu stehen.“ 32 Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 30f. 33 Seim, Jesus und die Behinderten, 401; vgl. ders., Behindertsein als Menschsein, 349f. 34 Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 29. 35 Vgl. ebd., 33. 28

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Aber: „Es bleibt der unheilbare Rest“36 derer, die nicht geheilt werden. Ja, Unheilbarkeit gehört zu den Gegebenheiten der Schöpfung. Dennoch bleibt auch für diese Menschen die Hoffnung auf die Überwindung ihres Leidens, ein Umstand, der für Seim die Rede vom unheilbaren Rest rechtfertigt. Die eschatologische Bestimmung des Menschen zur Neuschöpfung und die bereits jetzt spürbare heilende Kraft des Mitleidens scheinen dieser Hoffnungsperspektive Nahrung zu geben. Als Ebenbilder Gottes dürfen auch die unheilbar Kranken und Behinderten „der Zuwendung des Schöpfers gewiß sein“.37

8.3 Solidarität und Hinfälligkeit. Konsequenzen und Ambivalenzen Die Unteilbarkeit der menschlichen Würde, das untilgbare Angewiesensein auf andere Personen und das geschöpfliche Bewusstsein der Sterblichkeit und Begrenztheit erschließen eine mitmenschliche Praxis, die von den heilenden Potentialen des Mitleidens geprägt ist. Insbesondere aber in der Nachfolge Jesu setzt sich das tätige Erbarmen, das an ihm erkennbar wird, auch zwischenmenschlich fort. Eine Praxis der Solidarität nimmt Gestalt an, in der auch die Hilfsbereiten ihre Bedürftigkeit eingestehen und umgekehrt die Hilfsbedürftigen ihre Gaben für andere einbringen.38 Ohne Zweifel enthalten Jürgen Seims anthropologische Notizen wichtige Impulse für ein Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung, das von einer umfassenden, gegenseitigen Integration geprägt ist.39 Eine Partnerschaft wird vor-gedacht, die von Verständnis, angstfreien Begegnungen sowie von wechselseitigem Geben und Nehmen geprägt ist.40 Eine solche solidarische Praxis wirkt sich in Bezug auf das Selbstverständnis behinderter Menschen, auf die Familiensituation, auf die Konzeption von Schulen und Heimen, auf die Behindertenselbsthilfe und das kirchgemeindliche Leben aus.41 Sie wirkt entdiskriminierend und steht Menschen mit Behinderung auch angesichts der Gefahren der neueren biomedizinischen Entwicklung zur Seite.42 ————— 36

Ebd. Ebd., 34. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. Seim, Behindertsein als Menschsein, 342f. 40 Vgl. ebd., 344f. 41 Vgl. ebd., 346–348. 42 Vgl. Seim, Die Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens‘, 56–59; ders., Notizen zur Philosophie der Euthanasie. 37

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Trotz dieser unzweifelhaft solidarischen Züge bleibt andererseits aber festzuhalten, dass Seims Anthropologie ambivalent bleibt. Am Menschen werden vor allem die Züge der Begrenztheit, der Schwäche, der Hinfälligkeit und Sterblichkeit akzentuiert. Von Kompetenzen und Stärken ist dagegen kaum die Rede. Seim scheint die Absicht zu verfolgen, das gemeinsame Leben von Menschen mit und ohne Behinderung mithilfe einer Anthropologie zu begründen, die ihren Focus auf die allgemeine Begrenztheit der conditio humana legt. Gewiss kann im Brennpunkt dieser Einsicht eine humane Solidarität angefacht werden. Kaum aber dürfte dieser anthropologische Blick Kräfte und Potentiale freisetzen, weder bei behinderten noch bei nichtbehinderten Menschen. Ungeachtet des erkennbaren Ziels, von allen Menschen in gleicher Weise zu sprechen, halte ich dieses Konzept für nicht durchgängig verwirklicht. In einigen Formulierungen Seims scheint mir die intendierte Gleichheit nicht überzeugend gegeben zu sein. Dafür habe ich oben Beispiele gebracht. Ungewollt wird eine Behinderung dadurch vom Normalfall zu einem Sonder-, ja sogar Extremfall menschlichen Lebens gemacht. Die Deutung der Heilungen Jesu mit den Worten „Seine Messianität erweist sich an den Beschädigungen der Schöpfung“43 reißt unbeabsichtigt den Graben wieder auf, den er mit seiner Anthropologie der Gottebenbildlichkeit ansonsten geschlossen hatte. Es sind insbesondere die Interpretationen, die Seim der Heilungspraxis Jesu gibt, die von der genannten Ambivalenz zeugen. Die Annahme der eigenen Lebenssituation mit einer bleibenden Behinderung scheint mir – auch theologisch – sehr viel schwieriger zu sein, wenn sich die betroffenen Menschen zum „unheilbaren Rest“44 derer zählen müssen, die von Jesu Widerstand gegen die Behinderungen45 offenbar nicht erreicht worden sind. Gewiss: Seim spricht auch davon, unter den Bedingungen der Schöpfung sei Unheilbarkeit etwas Gegebenes; auch die Unheilbaren seien Gottes Ebenbilder.46 Dennoch: die Rede von einer Praxis des Widerstandes gegen die Behinderung und vom unheilbaren Rest stellt in meinen Augen eine theologische Diskriminierung dar. Die Ambivalenz bleibt bestehen: während Seim einerseits das Konzept einer integralen Anthropologie entwickelt, sind gegenläufige Tendenzen nicht frei von einer Pathologisierung der Behinderung. Dies ist auch in neueren Publikationen wie dem „Entwurf eines Katechismus“ noch nicht grundsätzlich anders. Zwar macht Seim deutlich, dass ————— 43 44 45 46

Seim, Jesus und die Behinderten, 401. Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 33f. Vgl. ebd., 29. Vgl. ebd., 34.

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die Hilfe für Menschen mit Behinderung „nicht von oben nach unten gegeben werden“ dürfe, sondern „von gleich zu gleich geschehen“. Doch die Begründung dieser These macht deutlich, dass Stärke und Schwäche nach wie vor auf unterschiedliche Personengruppen verteilt bleiben: „denn auch die Helfenden können hilfsbedürftig werden“. Die Besonderheit der „besonderen Menschen“ wird auch in diesem Text damit konnotiert, dass diese Menschen „anders“ und schwach sind. „Jesus teilt das Leben mit den besonderen Menschen und sagt: ‚Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig‘“.47

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Alle Zitate: Seim, Entwurf eines Katechismus, Nr. 9.

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9. Behinderung als „besondere Erscheinungsform menschlicher Möglichkeiten“. Anna-Katharina Szaguns Skizze einer integrativen Pädagogik Anna-Katharina Szagun Nach einer Notiz Goethes „lernen [wir] die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.“1 Kein schlechtes Motto für den Integrationsgedanken. Oft wird er als „gesellschaftliche Eingliederung“2 verstanden. Diese Lesart legt das Missverständnis nahe, dass die Integration von Menschen mit Behinderung verwirklicht sei, „wenn sie zu uns kommen“. Demgegenüber ist eine Richtungsänderung angezeigt. Soll gesellschaftliche Solidarität mehr sein ein Ornament in Sonntagsreden, müssen auch die Nichtbehinderten ihren Ort verlassen und auf die behinderten Menschen zugehen. Anna-Katharina Szaguns Pädagogik steht im Zeichen „eines partnerschaftlich-solidarischen Miteinanders von Behinderten und Nichtbehinderten“,3 bei dem „beide Seiten aufeinander zugehen“.4 Szagun hat vor dem Hintergrund langjähriger Erfahrungen an Haupt-, Real- und Sonderschulen dieses Projekt konzipiert, durchgeführt, beforscht und reflektiert.5 Obwohl das Interesse Szaguns vor allem religionspädagogisch ausgerichtet ist, hat sich die Autorin in ihrer 1983 erschienen Studie „Behinderung“ auch mit dem sozialwissenschaftlichen, religions- und kirchengeschichtlichen sowie theologisch-anthropologischen Kontext des Themas auseinandergesetzt. Ich möchte meine Lektüre vor allem auf diese theologischen und anthropologischen Aspekte konzentrieren, zugleich aber die sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Dimensionen nicht aus den Augen verlieren.

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Goethe, Wahlverwandtschaften, in: ders., Werke, Hamburger Ausg. Bd. 6, 396. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), Ratgeber (1998), 81. 3 Szagun, Partnerschaftliches Verhalten, 38. 4 Ebd., 37. 5 Die Studie „Partnerschaftliches Verhalten von Behinderten und Nichtbehinderten“ ist Szaguns Göttinger Dissertation von 1991. 2

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9.1 Soziologische Aufklärung. Hermeneutische Grundlegung Anna-Katharina Szagun hat ihr Verständnis des Phänomens „Behinderung“ an einem hermeneutischen Modell ausgerichtet, das sich m.E. am besten aus dem letzten Teil ihrer Studie erschließt. Ich beginne also mit meiner Lektüre von hinten. Innerhalb des letzten, religionspädagogischen Kapitels favorisiert die Autorin unter insgesamt fünf didaktischen Konzepten dasjenige, das sie im Anschluss an Klaus Wegenast das Konvergenz-Modell nennt.6 In dieser „Problemorientierten Konzeption“7 stehen „Theologie und Erziehungswissenschaften […] als gleichberechtigte Partner in einem Dialog: Die von je unterschiedlichen Perspektiven gewonnenen Aussagen über die eine Wirklichkeit sollen ‚in ihrer Unterschiedlichkeit aufeinander abgebildet werden und unter Umständen in ihren Zielbestimmungen konvergieren‘“.8 Eben dieses hermeneutische Modell legt Szagun auch ihrer eigenen Studie zu Grunde.9 Sie reflektiert das Phänomen „Behinderung“ in einem ersten Hauptteil in einer sozialwissenschaftlichen Perspektive. Anschließend erfolgt die Auseinandersetzung aus und mit der theologischen Deutungsgeschichte. Beide Teile konvergieren darin, dass sie je auf spezifische Weise in den Integrationsgedanken münden. Wenn man für die Zuordnung der beiden Wissenschaften systematische Gründe sucht, so wird man von der hermeneutischen Doppelperspektive vor allem eine wechselseitige Ergänzung, Vertiefung und Korrektur erwarten. Die Sozialwissenschaften vertiefen die theologische Reflexion durch die mit ihnen verbundene „Soziologische Aufklärung“ (Luhmann). Sie erschließt das Phänomen der Behinderung als soziales Konstrukt. Umgekehrt erweist sich die theologische Reflexion als widerständige und befreiende Kraft inmitten der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Deshalb ist die Konvergenz für Szagun mehr als nur eine formale Übereinstimmung. Sie wird zum Synergieeffekt.

————— 6

Szagun, Behinderung, 131. Ebd., 132. 8 Ebd., 131. 9 Dass Szagun die Favorisierung des Konvergenz-Modells mit der Aufnahme von Aspekten anderer didaktischer Konzepte verbindet, ist für meine hermeneutische These ohne Konsequenzen (vgl. ebd., 132f). 7

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9.2 Behinderung als Gesellschaftsprodukt. Zum Verständnis von Behinderung Dorothee Sölle hat Ende der sechziger Jahre Rudolf Bultmann vorgeworfen, seine existentiale Interpretation biblischer Texte breche zu früh ab, wenn man „zwar die vergangenen Texte historisch-kritischer Betrachtung unterwirft, nicht aber die eigene Gegenwart und ihre Fragestellungen historisch in ihrem Gewordensein, in ihrer Abhängigkeit von sozialen und psychosozialen Faktoren reflektiert.“10 Dem damit implizierten Postulat, den hermeneutischen Zirkel nicht nur auf der Seite des Textes sondern auch auf der Seite der Leserinnen einer sozialwissenschaftlichen, kritischen Reflexion zu unterziehen, entspricht Szaguns Themenbearbeitung. Ihre Darstellung hebt nicht mit exegetischen Ergebnissen an, sondern reflektiert zunächst das Phänomen Behinderung auf der sozialwissenschaftlichen Ebene. Dadurch ergibt sich ein geschärftes Problembewusstsein für den Brückenschlag auf die andere Seite des hermeneutischen Zirkels, die der biblischen Texte. Die These Szaguns, die sich in der Behindertenpädagogik seit den frühen 1970er Jahren durchgesetzt hat, geht von der gesellschaftlichen Konstruktion des Phänomens „Behinderung“ aus. „Ein differenziertes Verständnis“, so führt Szagun aus, „sieht das Behindertsein eines Menschen in Relation zu seinen aktuellen Lebensverhältnissen: Das Maß und die Art seines Behindertseins wird vor allem durch die sozialen Bedingungen bestimmt, unter denen ein ‚Behinderter‘ bzw. ein Mensch mit je anderer defizitärer Ausgangssituation lebt und agiert.“11 Im Ergebnis vielfältiger Untersuchungen lässt sich beispielsweise feststellen, dass in den Unterschichten Behinderungen deutlich überrepräsentiert auftreten.12 Szaguns sozialwissenschaftliche Reflexion des Behinderungsbegriffs bleibt aber nicht dabei stehen, eine einfache Abhängigkeit zwischen dem sozioökonomischen Status und der statistischen Häufigkeit einer Behinderung festzustellen. Vielmehr geht es ihr weitergehend um die Darstellung eines komplexen Bedingungsverhältnisses und dessen vielschichtiger Faktoreninterdependenz. Auf einer ersten Eben betrachtet sie „Behinderung als ‚Produkt‘ eines gesellschaftlichen Normenund Wertsystems und seiner spezifischen Institutionen sowie seiner spezifisch sachlichen Umwelt“.13 Diese gesellschaftliche Konstruktion des Behinderungsphänomens, die stark von den sozioökonomischen, technischen und politischen Strukturen und einen dadurch definierten Normalitätsbegriff ————— 10

Sölle, Politische Theologie, 23. Szagun, Partnerschaftliches Verhalten, 8. 12 Vgl. Szagun, Behinderung, 12–16; hier 16: „Die allgemeine Überrepräsentation der Unterschichten, die offenbar nicht auf medizinische Ursachen zurückzuführen ist, zeigt an, daß ein Großteil der Behinderungen gesellschaftlich gemacht wird“. 13 Ebd., 22. 11

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gesteuert wird, schlägt sich aber auch auf der Bewusstseinsebene nieder. Obwohl es zwischen Nichtbehinderten und Behinderten keinen qualitativen Sprung sondern nur graduelle Unterschiede gibt, sorgt die Gesellschaft „durch solche prinzipiellen Abgrenzungen dafür, daß ihre […] Normen und Ziele durch Abweichler nicht […] gefährdet werden: die Abgrenzungen haben Schutzfunktion“.14 Die Isolierung der Abweichler ist vorprogrammiert. Selbst der Integrationsgedanke, solange er als Eingliederung und nicht als Änderung des institutionellen Umfeldes verstanden wird, setzt noch den problematischen Normalitätsbegriff unproblematisiert voraus.15 Das Selbstverständnis behinderter und nichtbehinderter Menschen kann davon nicht unberührt bleiben. Während auf der Seite der Menschen ohne Behinderung u.a. Gefühle der Fremdartigkeit, des Abgestoßenseins, der Unsicherheit oder der Bagatellisierung16 bestimmend werden, lernen sich Menschen mit Behinderung vor allem als Abweichende sehen. Statt Solidarität greift Stigmatisierung Platz, statt dialogischer Partnerschaftlichkeit Fremdheit und Isolation. Dies aufzubrechen kann nicht die Sache der Menschen mit Behinderung allein sein. Eine wirkliche, eine auf gleichwertige Partnerschaft abzielende Integration ist „ohne gleichzeitige tiefgreifende Veränderungen des gesellschaftlichen Bewußtseins, des Normen- und Wertesystems und der gesellschaftlichen Institutionen“17 nicht möglich. Szaguns Behinderungsverständnis ist offenbar auf zwei Ebenen angesiedelt. Auf der ersten Ebene liegt die organische Schädigung.18 Für sie gibt es aber kein objektives Maß, das es rechtfertigen würde, eine Behinderung qualitativ von anderen Lebensformen abzugrenzen. Auf der zweiten Ebene liegen die sozialen Interaktionen. Grundsätzlich ergibt sich auch aus ihnen kein objektivierbares Kriterium. Ein solidarisch-partnerschaftliches Zusammenleben könnte beispielsweise die spezifischen Einschränkungen in ihrer Auswirkung für die betroffenen Menschen in erheblichem Maße ausgleichen. Die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen sind allerdings nicht an Solidarität, sondern an wirtschaftlicher Leistung und Konsum orientiert. Von ihnen gilt: sie produzieren Behinderungen.19

————— 14

Ebd., 24. Ebd., 25. 16 Vgl. ebd., 25–31. 17 Ebd., 40. 18 Vgl. ebd., 24. 19 Vgl. ebd., 109: „Die Gesellschaft produziert über ihr an den Zielen größtmöglicher wirtschaftlicher Leistung und hohen Konsums orientiertes Normen- und Wertsystem, den entsprechenden Institutionen und der sachlichen Umwelt durch ihre Definition von normal und anormal zwei qualitativ verschiedene Menschengruppen: Behinderte und Nichtbehinderte.“ 15

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9.3 Vergeltung und Protest. Zur Ambivalenz der biblisch-christlichen Tradition Eingedenk der soziologischen Aufklärung über das Zustandekommen von Behinderungen dürfte der Blick auf die biblische Tradition geschärft genug sein. Anna-Katharina Szagun unterzieht denn auch die jüdischen und frühchristlichen Deutungszusammenhänge der Phänomene Krankheit und Behinderung einer ausführlichen kritischen Reflexion. Da das hebräische Denken keinen ausdifferenzierten Behinderungsbegriff kennt und die theologische Bedeutung einzelner Behinderungsformen lediglich „in bezug auf priesterliche Tätigkeiten“20 thematisiert, legt sich für Szagun eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem hebräischen Krankheitsverständnis nahe. Dabei wird der Blick schnell auf die dominante Definitionsmacht des Tun-Ergehen-Zusammenhangs gelenkt. „Durch die das alttestamentliche Denken prägende Vergeltungslehre einer Schuld-StrafeÄquivalenz wurden Krankheiten als von Gott geschickte Strafen für Schuld angesehen, die nur Gott heilen konnte.“21 Andere Interpretationsversuche, die Krankheit entweder als Prüfung22 annehmen, als sinnloses Geschick23 verstehen oder im Gedanken des stellvertretenden Leidens Gottes24 zu ertragen suchten, konnten sich nach Szagun wirkungsgeschichtlich nicht durchsetzen. Die Folge des Vergeltungsdogmas bestand in einer beklagenswerten Situation der Kranken: „isoliert, häufig ausgestoßen, ohne ärztliche Betreuung, bestenfalls von Sklaven notdürftig gepflegt“25 konnten sie sich Hoffnung allein auf ein heilendes Eingreifen Gottes machen. Das zeitgenössische Judentum zur Zeit Jesu hatte den Tun-ErgehenZusammenhang durch eine umfangreiche Dämonenlehre ergänzt: jeder Krankheit wurde mit einer spezifischen Sünde auch ein besonderer Dämon zugeordnet, der die betroffenen Menschen entweder in Form einer Krankheit oder Behinderung ‚schlägt‘ oder aber besessen macht.26 Diese Dämonologie stehe auch im Hintergrund der neutestamtlichen Interpretation von Krankheiten und Behinderungen. Auch Jesus selbst dürfte seine Heilungen als Teil des endzeitlichen Kampfes zwischen der Machtsphäre Gottes und der des Satans verstanden haben.27 Als entscheidender aber erweist sich für Szagun, dass Jesus das Vergeltungsdogma deutlich zurückgewiesen hat ————— 20 21 22 23 24 25 26 27

Ebd., 72. Ebd., 72. Vgl. ebd., 67f. Vgl. ebd., 68–71. Vgl. ebd., 71. Ebd., 72. Vgl. ebd., 77f. Vgl. ebd., 79.

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(vgl. Lk 13,1–5). Damit werde klar: „Der Kranke oder Behinderte hat vor Gott keine andere Stellung als der Gesunde, er ist gleichwertig, seine körperlichen oder geistigen Defizite haben mit seinem Gottesverhältnis nichts zu tun.“28 Darüber hinaus werde in den Evangelien keine neue Sinndeutung des Leidens vorgetragen.29 Die Heilungswunder Jesu und der urchristlichen Wandercharismatiker versteht Szagun im Anschluss an Gerd Theißen als gelebten Protest gegen die menschliche Not und als symbolische Handlungen ihrer Überwindung. „Behinderung und Krankheit erschienen nicht mehr als von Gott geschickte Strafe, Prüfung, Läuterung oder ähnliches, sondern als etwas, das nach dem Willen des Schöpfergottes nicht sein soll und das es – in der Nachfolge Jesu – im konkreten Einsatz für die Leidenden zu überwinden gilt, wobei im zeichenhaften Überwinden von Krankheit, Hunger, Armut, Gewalt und Traurigkeit die Königsherrschaft Gottes in die von menschlichem Leid geprägte Welt hineinragt.“30 Diese befreiende Interpretation von Krankheit und Behinderung werde aber schon bald wieder abgeschwächt. So sei zu beobachten, „daß bereits bei Paulus und im Jakobusbrief das von Jesus strikt abgelehnte Vergeltungsdogma mindestens in Ansätzen wieder Eingang gefunden hatte“.31 Der dadurch quasi rehabilitierte Tun-Ergehen-Zusammenhang und eine von Paulus herrührende Leidensverklärung (vgl. 2Kor 12,7–10) hätten dann in der Kirchengeschichte eine breite Wirkungsgeschichte entfaltet. Die biblische nicht minder als die christliche Geschichte blieben somit von einer tiefen Ambivalenz geprägt. So sei zwar einerseits für das biblische Gottesbild festzuhalten, „daß es in immer neuen Variationen Gott als den Anwalt der Schwachen, Ohnmächtigen, Armen, Gefangenen und Bedrückten zeichnet“.32 Besonders Jesus habe „behinderte, arme bzw. schuldbeladene Menschen nicht als Mängelwesen oder Außenseiter definiert, sondern als gleichwertige Geschöpfe“33 angenommen. Andererseits fänden sich in der biblischen Tradition aber auch eine ganze Reihe diskriminierender Aspekte, deren Wirkungsgeschichte sich bis in die Gegenwart hinein für die Betroffenen als verhängnisvoll erweist.34

————— 28 29 30 31 32 33 34

Ebd., 82. Vgl. ebd., 82. Ebd., 86. Ebd., 93. Szagun, Partnerschaftliches Verhalten, 16. Ebd., 16f. Vgl. ebd., 17.

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9.4 Verdankte Möglichkeiten. Eine theologisch-anthropologische Skizze Der Theologie erwächst nach Szagun aus der Selbstreflexion ihrer eigenen ambivalenten Tradition eine doppelte Aufgabe: sie müsse einerseits (selbst)kritisch die fatalen Deutungskategorien ihrer Geschichte und Gegenwart aufarbeiten. Sie habe sich andererseits kritisch mit der heutigen gesellschaftlichen Situation von Menschen mit Behinderung zu beschäftigen und ihr eigenes Potential aktiv in das Bemühen um solidarische und partnerschaftliche Lebensformen zu stellen.35 Beiden Aufgaben aber könne die Theologie nur gerecht werden, wenn sie eine eigene systematisch-theologische Antwort entwickelt: sowohl bezüglich ihrer eigenen, halbierten Geschichte als auch in Bezug auf die gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderung. Ich möchte mich deshalb im Folgenden auf diesen Entwurf, der eine theologisch-anthropologische Skizze zum Inhalt hat, konzentrieren. Meine Lektüre stützt sich dabei gleichermaßen auf die frühere wie auf die spätere Studie Szaguns, die ich aus einem Ergänzungsverhältnis heraus interpretiere.36 (1) „Pädagogisches Handeln“, so lautet die These Szaguns, „ruht immer anthropologischen Grundaussagen auf, die implizit oder explizit Erziehungsziele und –entscheidungen bestimmen.“37 Gleichwohl sei ein einheitliches, verbindliches und vor allem: in sich geschlossenes Menschenbild für die Sonderpädagogik keineswegs wünschenswert. Vielmehr würden sich die aus ihm gewonnenen Erziehungsziele gerade für Menschen mit Behinderung als fatal erweisen. Sie müssten an den damit verbundenen Zielvorgaben und Maßstäben notwendig scheitern.38 Deshalb scheint einzig eine Anthropologie angemessen, die sich der Vielzahl menschlicher Seinsmöglichkeiten öffnet und die den Menschen als unabgeschlossen, mithin als offene Frage begreift.39 Die Notwendigkeit einer anthropologischen Grundierung der Pädagogik geht daher mit der Unmöglichkeit eines einheitlichen und verbindlichen Menschenbildes einher. (2) Auf ein normierendes Menschenbild zu verzichten, bedeutet für Szagun aber nicht, in ein anthropologisches Schweigen einzustimmen. Vielmehr sei es gerade die neuere philosophische Anthropologie, die im Gedanken der Weltoffenheit die Pluralität der menschlichen Lebenswirklichkeiten mitdenkt. Im Anschluss an einige philosophische und theologische Konzep————— 35 36 37 38 39

Vgl. ebd., 109. Aus systematischen Gründen weiche ich von der Reihenfolge der Darstellung Szaguns ab. Ebd., 27. Vgl. Szagun, Behinderung, 115; ähnlich auch: Partnerschaftliches Verhalten, 28. Vgl. Szagun, Behinderung, 115 im Anschluss an Ulrich Bleidick.

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te versucht Anna-Katharina Szagun denn auch, eine Reihe von anthropologischen essentials festzuhalten. Die Einsicht, dass der Mensch unfertig, nicht instinktgebunden und somit weltoffen ist, legt zunächst den Gedanken seiner Erziehungsbedürftigkeit nahe. Die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen und seine Unfertigkeit bedingen einander. Pädagogik wird damit zu einem ursprünglichen und unaufhebbaren Bestandteil des menschlichen Seins, wie Szagun mit Bezug auf Peter Petersen festhält.40 (3) Erziehung setze zugleich ein menschliches Gemeinschaftsverhältnis voraus, in dem sie sich entfalte. Der Pädagogik erschließe sich damit zugleich die Sozialität als ein weiterer Bestandteil der conditio humana. Der Mensch sei ein soziales Wesen und auf Gemeinschaft hin angelegt. Anders, und mit Martin Buber gesagt: „‚Der Mensch wird am Du zum Ich‘“.41 Das Dialogische sei deshalb nicht nur Voraussetzung und Implikat der Erziehung. Es sei auch ihr Ziel: Pädagogik erhält die Aufgabe, die Dialogfähigkeit des Menschen zu entfalten. Erziehungsbedürftigkeit und dialogische Sozialität sind für Szagun Aspekte der Schöpfungstheologie. Beiden liegt das schöpferische Handeln Gottes voraus. Während die Pädagogik zu den ursprünglichen Funktionen der Schöpfung gehört, ist für das Dialogische das mit der Schöpfung an den Menschen gerichtete Wort Gottes konstitutiv. (4) Zur Schöpfungswirklichkeit gehöre darüber hinaus auch die passive Grund-Struktur menschlicher Existenz: ihr Gegebensein. Der Mensch verfüge nicht über die Bedingungen seiner eigenen Existenz; er verdanke seine Möglichkeiten und Fähigkeiten seinem Schöpfer. Dieser schöpfungstheologischen Überlegung korrespondiert eine rechtfertigungstheologische: das Menschsein des Menschen sei, so macht Szagun deutlich, nicht das Ergebnis eigener Verdienste. Menschen lebten vielmehr aus der Annahme durch Gott. (5) Szagun ergänzt ihre theologisch-anthropologische Skizze durch eine Reihe ethischer Überlegungen. Denn: eine dialogische Existenz bedarf zugleich auch der Reflexion über die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie bedarf eines ethischen Bewusstseins. Für Szagun steht vor allem die menschliche Fähigkeit zum Mit-Leiden-Können im Mittelpunkt. Sie entwickelt diese Sym-Pathie mit einem schöpfungstheologischen und einem ekklesiologischen Argument. Einerseits ergebe sich die Überwindung des menschlichen Egoismus aus dem Bewusstsein der eigenen

————— 40 41

Vgl. Szagun, Partnerschaftliches Verhalten, 28f. Martin Buber, Ich und Du, zitiert nach Szagun, ebd., 30.

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Sterblichkeit.42 Die dadurch ausgelöste Ohnmachtserfahrung löse einen grundlegenden Veränderungsprozess aus: „das Ent-setzen ob der Unhaltbarkeit des Lebens erschüttere die narzißtische Verankerung des modernen Subjektverständnisses“43 und befreie zu einer einfühlenden Wahrnehmung der anderen Menschen. „Die sensibilisierte Wahrnehmungsfähigkeit für die eigene Seinsverfassung wie für die Bedürftigkeit des anderen Menschen“ setze ein Mit-Leiden-Können frei, das sich in der Hinwendung und im verantwortlichen Handeln äußere. Andererseits ist die Befreiung zur Sympathie für Szagun – im Anschluss an Dorothee Sölle – ekklesiologisch motiviert. Aus der Beschreibung der christlichen Gemeinde als Leib Christi, zu dem jeder Glaubende gehört, ergibt sich, dass auch das Leid der einen die anderen nicht teilnahmslos lässt. „‚Es gibt kein fremdes Leid‘“.44 Solidarität und Mitbetroffenheit sind deshalb Grundlagen christlicher Existenz. Ja, mehr noch: sie tragen die Verheißungen der Gotteserfahrung. Das gilt für das Teilen des Leides ebenso wie für die geteilten Möglichkeiten. „In der Solidarität mit den Leidenden ereignet sich Gott für beide Partner; beide gewinnen ihre Kraft aus diesem wechselseitigen Halten und Gehalten-werden“.45 (6) Aus dem Gegebensein der Welt und allen Lebens resultiert darüber hinaus eine umfassende Verantwortung. Die ethische Verpflichtung liege, so Szagun mit Bezug auf Emmanuel Lévinas, „im besorgten Umgang mit dem Anderen“,46 als dessen Hüter der Mensch bestellt sei. Der Andere bleibe dabei ebenso unverfügbar und unbegreiflich wie die gesamte Wirklichkeit. Im Antlitz des Anderen werde so die Spur des unendlich Anderen erkennbar. Es sind mithin vor allem schöpfungstheologische, soteriologische und ekklesiologische Aspekte, die Anna-Katharina Szagun in ihrer theologischanthropologischen Skizze verknüpft. Ich will im Folgenden klären, welche Konsequenzen diese Überlegungen für Menschen mit und ohne Behinderung haben.

—————

42 Szagun entfaltet dies im Anschluss an Werner Marx; vgl. dies., Partnerschaftliches Verhalten, 31f. 43 Szagun, ebd. 31. 44 Szagun, Behinderung, 117; dies., Partnerschaftliches Verhalten, 32. 45 Szagun, Behinderung, 117. 46 Szagun, Partnerschaftliches Verhalten, 33.

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9.5 Besonderheit im Plural. Über die vielen Gesichter menschlichen Lebens Anna-Katharina Szagun hatte der Theologie die Aufgabe gestellt, über die Aufarbeitung ihrer eigenen Ambivalenzgeschichte hinaus einen konstruktiven und gesellschaftskritischen Beitrag zur Verwirklichung eines partnerschaftlichen Miteinanders von Menschen mit und ohne Behinderung zu leisten. In der Tat eröffnen sich zahlreiche Horizonte. (1) Die Einsicht in die passive Existenzverfassung des Menschen öffnet den Blick für die unbedingte Gleichwertigkeit aller Menschen. Weil alle Menschen ihr Leben nicht verdienen, sondern verdanken, ist keiner dem anderen vorgeordnet. Jede Hierarchie muss zerbrechen. „Die christliche Aussage, daß der Mensch seine Möglichkeiten und Fähigkeiten verdankt, aber nicht erschafft oder verdient, stellt alle Menschen – so kompetent oder defizitär sie nach den Maßstäben der Gesellschaft auch sein mögen – als gleichwertige Geschöpfe auf eine Stufe. Ihr Menschsein bemißt sich nicht nach bestimmten Merkmalen, Fähigkeiten oder Rollen.“47 Behinderte sind keine verhinderten Menschen, sondern einmalige Geschöpfe Gottes. (2) Diese grundsätzliche Gleichwertigkeit jedes Menschen wird zu einer Befreiung eines jeden. Es befreit zum Eingeständnis der eigenen Schwächen und Grenzen. Der Mensch ohne Behinderung „muß sich weder an seine Gesundheit, noch an seine Leistung, Schönheit, Stärke und Erfolg klammern, um Mensch bleiben zu können. […] Und der Behinderte […] ist befreit von dem Zwang, sich durch Kompensation seinen Status als Mensch verdienen zu müssen.“48 (3) Behinderung erschließt sich so als besonderer Modus menschlichen Seins. Sie ist nichts Unnormales und erst recht nichts prinzipiell Andersartiges. Sie ist eine besondere Form des Menschseins inmitten einer Vielgestalt besonderer menschlicher Seinsweisen. „Ein Schwerstbehinderter ist […] einfach eine besondere Erscheinungsform menschlicher Möglichkeiten unter anderen, ein Modus menschlichen Seins, eine ‚normale‘ Größe in der Welt, die Behinderten wie Nichtbehinderten als zu bewältigende Realität aufgegeben ist.“49 (4) Aus der ekklesiologischen Leib-Christi-Überzeugung ergibt sich eine partnerschaftliche, auf wechselseitige Ergänzung angelegte Existenz. Das Teilen von Stärken und Schwächen und die gegenseitige Ergänzung mit den je spezifischen Begabungen bestimmen das gemeinsame Leben. Es wird klar, dass die „einander ergänzende solidarische Koexistenz die eigentliche ————— 47 48 49

Szagun, Behinderung, 115; dies., Partnerschaftliches Verhalten, 34. Szagun, Behinderung, 116; dies., Partnerschaftliches Verhalten, ebd. Szagun, Behinderung, ebd.; dies., Partnerschaftliches Verhalten, ebd.

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christliche Form der Lebensbewältigung von Nichtbehinderten und Behinderten darstellen soll und kann.“50 (5) Das Bewusstsein einer prinzipiell unfertigen, erziehungsbedürftigen und darin auf dialogische Gemeinschaft hin angelegten menschlichen Existenzverfassung, die Einsicht in deren prinzipielle Vorgegebenheit und damit Unverfügbarkeit sowie die Fähigkeit zum Mit-Leiden-Können und zum wechselseitigen Teilen bilden die Eckpunkte für Anna-Katharina Szaguns theologisch-anthropologische Skizze. Ihr Konzept hat für die Veränderung der gesellschaftlichen und persönlichen Situation von Menschen mit Behinderung erhebliche Auswirkungen. Gegen die gesellschaftliche Tendenz, Menschen nach ihren Eigenschaften, ja ihren Leistungen zu bewerten, hebt es auf die unbedingte Gleichheit aller Personen ab. Gegen die Praxis der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung setzt es auf eine uneingeschränkte Integration, die als aktive Solidarität nicht aber als Anpassung oder Einbahnstraße verstanden wird.51 Soziale und subjektive Faktoren lassen sich nicht voneinander trennen. Der Gedanke der unbedingten und voraussetzungslosen Annahme jedes Menschen durch Gott, der Menschen mit Behinderung zu einer selbstbewussten Annahme ihrer selbst befreien könnte, muss deshalb – soll er nicht zur Phrase werden – auch durch entsprechende soziale Beziehungen gedeckt sein: durch gesellschaftliche Akzeptanz. „Die soziale Dimension kann auch die Chance einer punktuellen Aufhebung der Behinderung bieten und konstruktive Lösungen der Bejahungsproblematik anbahnen.“52 Auch hier liegen die Ressourcen von Theologie und Kirche auf der Hand. In einer am Bild vom Leib Christi orientierten „solidarischen Ergänzungsgemeinschaft von Nichtbehinderten und Behinderten könnte eine von Druck, Erfolgszwängen und Versagensängsten entlastete Mitmenschlichkeit gelebt werden, die für alle Beteiligten einen Zuwachs an Sinn und Kraft für eine konstruktive Lebensgestaltung bedeutete.“53 (6) Die pädagogischen Linien ihres Konzeptes hat Anna-Katharina Szagun in ihren Studien ausführlich ausgezogen. Sie bauen unmittelbar auf die theologisch-anthropologische Skizze auf. So führt die Einsicht in die dialogische Existenzverfassung des Menschen zur Akzentuierung des Begegnungsaspektes in der pädagogischen Beziehung, in der sich die Dialogpartner aus der respektierenden Begegnung mit der Andersheit des Anderen verändern. Der Unterricht solle den Schülerinnen und Schülern darüber —————

50 Szagun, Behinderung, 116; vgl. dies. Partnerschaftliches Verhalten, 34, wo die LeibChristi-Vorstellung als nichthierarchisches Denkmodell einer sich im Teilen ergänzenden Solidargemeinschaft verstanden wird. 51 Vgl. Szagun, Behinderung, 110. 52 Ebd., 119. 53 Ebd., 119f.

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hinaus „Situationen des Mitlebens und Mittuns als erlebendes DarinnenSein“54 ermöglichen. Er soll weiterhin eine kognitive wie affektive Sensibilisierung für die Wahrnehmung anderer, insbesondere Benachteiliger ermöglichen und darin die Fähigkeit zum Mit-Leiden-Können fördern. Die Achtung vor der Andersheit des Anderen öffne schließlich aber auch den Blick für die Begrenztheit des eigenen Verstehens und damit auch der Berechtigung pädagogischer Interventionen. Szaguns pädagogisches Konzept zielt – und das ist seine zentrale Pointe – auf Ermöglichung und Einübung „zu partnerschaftlich-solidarischer Koexistenz“,55 einem Miteinander, das von den behinderten wie nichtbehinderten Partnern in gleicher Weise getragen wird.56 (7) Ich fasse zusammen: Anna-Katharina Szaguns Überlegungen sind vor allem davon geprägt, Behinderung als humane Normalität, als „besondere Erscheinungsform menschlicher Möglichkeiten unter anderen“57 zu verstehen. Sie ist ein normaler Modus menschlichen Seins. Menschen mit Behinderung werden demzufolge als Menschen mit Möglichkeiten und Gaben gesehen, die in das gemeinsame Leben einbringen können. Sie leben aber auch mit spezifischen Einschränkungen, die es anzunehmen gilt. Eine partnerschaftlich-solidarische Koexistenz von Menschen mit und ohne Behinderung kann dazu beitragen, dass die Möglichkeiten aller gefördert und die Einschränkungen jedes Menschen ausgeglichen oder in ihren Auswirkungen vermindert werden. Die Leistung von Szaguns Konzept sehe ich darin, dass sie Behinderung weder als theologisches Defizit stigmatisiert noch als besonderes Charisma verklärt. Sie bewahrt die theologische Diskussion damit vor einseitigen Akzentsetzungen und ermöglicht ein Verständnis, das keinen neuen Druck aufbaut: weder den Druck, sich als Mensch erst beweisen zu müssen, noch denjenigen, ein besonders begabtes Menschsein unter Beweis stellen zu müssen. Zwischen den Hauptpolen der theologischen Diskussion vertritt Szagun damit eine Position, die die Balance wahrt und die zugleich deutliche integrative Ressourcen hat. Dass Anna-Katharina Szagun dabei gelegentlich noch bei einer defizitorientierten Sprache stehen bleibt, indem sie Behinderung als Problem58 begreift, einem primären biologischen Defizit59 spricht und Behinderungen ————— 54

Szagun, Partnerschaftliches Verhalten, 35. Ebd., 37. 56 Vgl. zu den pädagogischen Leitlinien: ebd., 35–38. Ihr religionspädagogisches Konzept erläutert Szagun in: Behinderung, 121–151, bes. 122–124, 129–133 und 142–151. 57 Szagun, Behinderung, 116. 58 Vgl. den Untertitel „Behinderung. Ein gesellschaftliches, theologisches und pädagogisches Problem“. 59 Vgl. Szagun, Behinderung, 119. 55

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gelegentlich unproblematisiert mit Leiden60 gleichsetzt, möchte ich nicht überbewerten. Die Argumentationslinie Szaguns ist deutlich emanzipationsund nicht defizitorientiert. Für die Zeit der Abfassung ihrer ersten Studie lassen sich die genannten Sprachformen leider fast durchgängig nachweisen. Aus theologischer Perspektive ist für mich ein anderer Einwand zentraler: Szagun hat ihre theologisch-anthropologische Skizze im Wesentlichen thesenhaft vorgetragen und sich nicht auf eine ausführlichere argumentative Begründung eingelassen. So bleibt ein Bruch zwischen der Darstellung der biblisch-christlichen Tradition und den theologischen Grundlagen für die eigene anthropologische Akzentsetzung nicht zu übersehen. Dieser Bruch kann auch nicht mit Verweis auf die emanzipatorische Praxis Jesu geschlossen werden. In der Jesusbewegung ist zwar die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung durch ein befreiendes Engagement ersetzt worden. Gleichwohl ist ihr Verständnis eschatologisch bestimmt: in der Dynamik des hereinbrechenden Reiches Gottes wird die Aufhebung von Behinderungen als messianisches Zeichen gedeutet. Wenn man Behinderungen dagegen als normale Gestalt des Menschlichen versteht – worin ich Szagun folge – so muss man aus der eschatologischen Hermeneutik heraustreten und Behinderung bspw. unter Rückgriff auf schöpfungstheologische und soteriologische Überlegungen verstehen. Szagun unterlässt es aber, diesen notwendigen Überschritt ausführlicher zu reflektieren.61 Deshalb bleibt ihre anthropologische Skizze teilweise nur thesenhaft. Gleichwohl scheint mir der Ansatz Szaguns insgesamt zahlreiche Anknüpfungspunkte freizugeben.

—————

60 Vgl. ebd., 113: „Menschliches Leiden wie Behinderung, Krankheit, Hunger, Unterdrückung usw.“. 61 Dies gilt auch für Formulierungen, die scheinbar direkt an das biblische Zeugnis anknüpfen, vgl. Szagun, Partnerschaftliches Verhalten, 35, wo es heißt, dass „aus biblisch-christlicher Sicht eine einander ergänzende partnerschaftlich-solidarische Koexistenz von Nichtbehinderten und Behinderten als die wesensmäßig aufgegebene und zugleich befreiende Form einer gemeinsamen Lebensbewältigung in den Blick treten.“

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10. „Gott verursacht nicht das Leiden, sondern geht darauf ein“. Gunda Schneider-Flumes Anthropologie des „Lebens in Geschichten“ Gunda Schneider-Flume „Realismus“ ist ein Begriff, der in Gunda Schneider-Flumes Theologie einen festen Platz hat. „Realismus des Erbarmens“ nennt sie das Beziehungsgefüge, „durch das die biblischen Welt-, Menschen- und Gottesbilder inhaltlich aufeinander bezogen sind“.1 Die Wirklichkeit des göttlichen Erbarmens tritt mit diesem Begriff in den Blick. Sie erweist sich gegenüber der menschlichen Wirklichkeit als wirksam. Der Realismus des göttlichen Erbarmens ist deshalb ebenso real wie realistisch. Auch angesichts ambivalenter Lebenserfahrungen. Auch im Leiden. Auch in der Erfahrung von Krankheit oder Behinderung. Vom „Realismus des Erbarmens“ muss also gesprochen werden. Davon, wie die Wirklichkeit Gottes in die wirklichen Erfahrungen der Menschen einbricht, sie unterbricht und verändert. Nach einer kurzen Skizze des Theologie- und Gottesverständnisses werde ich mich Schneider-Flumes Anthropologie zuwenden und ihre Deutung von Behinderung erläutern.

10.1 Geschichten sind der Stoff, aus dem das Leben besteht „Menschen sind in Geschichten verstrickt.“ Mit dieser Einsicht hat Wilhelm Schapp den Überschritt von einer transzendentalphilosophischen Phänomenologie zu einer Philosophie lebensweltlicher Geschichten2 vollzogen, in deren Mittelpunkt die Sprache steht: vor jeder Selbstreflexion steht die Tatsache, dass Menschen in Geschichten verstrickt sind. Für Gunda Schneider-Flume hat diese Einsicht nicht nur anthropologische, sondern auch noetische, ontologische3 und theologische Qualität: Geschichten sind für sie der Stoff des Lebens und der Wirklichkeit. „Menschen sind in Geschichten Verstrickte. Sie sind nicht zuerst Subjekte, die eine Geschichte haben oder wählen, sondern die auf sie zulaufenden Geschichten begründen —————

1 Schneider-Flume, Der Realismus der Barmherzigkeit in der Gesellschaft, in: dies., Glaube in einer säkularen Welt, 225. 2 Vgl. Schapp, In Geschichten verstrickt (1953). 3 Schneider-Flume, Zur Frage nach dem christlichen Menschenbild, 351.

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sie schon zuvor. Die Geschichten sind vor den Subjekten und den Sachverhalten.“4 Schneider-Flume bringt mit dieser Einschätzung die Pointe einer sprachtheoretisch fundierten Theologie des Wortes Gottes zur Geltung: Menschen werden durch Sprache konstituiert: in Anrede und Antwort, in Gesprächen und Geschichten. Auch Gott wird durch das Wort Wirklichkeit: durch das gekreuzigte Wort5 und das Wort vom Kreuz (1Kor 1,18), das dieses Wort zur Sprache bringt und Menschen in die heil-same Geschichte Gottes verstrickt. Auch Gott ereignet sich also in Geschichten. „Die primäre, durch Gott gewirkte Passivität menschlichen Lebens ereignet sich im sozialen Bereich auf dem Wege der vielfachen Geschichten, in denen ein Mensch lebt. Nicht anders als durch Geschichten von Mitmenschen, die sie erzählen, mit denen sie uns anreden oder auf uns wirken, wirkt Gott auf menschliches Leben und menschliche Identität.“6 Schneider-Flume zieht aus dieser sprachtheoretischen Grundeinsicht wichtige Schlussfolgerungen für die Theologie, ihr Selbstverständnis und ihre Aufgaben. Wenn sich Gott in Geschichten ereignet und Menschen in Geschichten verstrickt sind, dann ist es folgerichtig, dass der Gegenstand der Theologie eben diese Geschichten sind, Geschichten des Erbarmens und Gedenkens, Geschichten der Grenzüberschreitung und Selbstverfehlung, Geschichten der Stellvertretung und Befreiung. „Wer Gott ist, das ist nur zu erfahren aus der Geschichte Gottes mit den Menschen, und wer der Mensch ist, das ist nur zu erfahren aus der Geschichte der Menschen mit Gott.“7 Sind aber Geschichten der Gegenstand der Theologie, so ist ihr Metier nicht das Erklären sondern das Erzählen. Die Theologie hat sich selbst auf Geschichten zu verstehen, genauer: auf das Nachdenken der Geschichte Gottes inmitten der zahlreichen alltäglichen Geschichten, in die die Menschen verwickelt sind. „Dogmatik […] denkt der in der christlichen Kirche erzählten und zu erzählenden Geschichte Gottes mit den Menschen nach.“8 In diesem Sinn ist Theologie für Schneider-Flume eine Erfahrungswissenschaft, die allerdings keine abstrakte „Theorie der Erfahrung“ entwickelt, sondern Erfahrung als das Ensemble derjenigen lebensweltlichen Zusammenhänge versteht, in denen Menschen leben.9 Menschliche Erfahrungen, die solcherart konkret und lebensweltlich ————— 4

Ebd. Vgl. Schneider-Flume, Grundaussagen des christlichen Glaubens, in: dies., Glaube in einer säkularen Welt, 61. 6 Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 66. 7 Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 44; hier auch 50: „Gegenstand der Theologie ist nicht Gott, sondern die jeweils betreffende Geschichte Gottes mit den Menschen, die sich dem Glauben erschließt.“ 8 Schneider-Flume, „Dogmatik erzählen“ als Programm?, in: dies., Glaube, 72. 9 Vgl. Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 20. 5

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verankert sind, verändern sich. Sie sind geschichtlich gebunden, mit Situationen verknüpft und kontextuell geprägt. Trotz dieser Vielfalt und Unterschiedlichkeit individueller Erfahrungswirklichkeit besteht die Gemeinsamkeit von Christen darin, an die Erzähltradition der Bibel anzuknüpfen und sich durch sie die eigenen, heutigen Erfahrungen provozieren und verändern zu lassen. „Theologie ist Erfahrungswissenschaft, die die in den biblischen Schriften bezeugte Geschichte Gottes bedenkt und sie zusammenerzählt mit gegenwärtigen, alltäglichen, lebensweltlichen und wissenschaftlichen Erfahrungen.“10

10.2 Die Geschichte Gottes in den Geschichten des Lebens Von Gott wird also erzählt. In den Geschichten der biblischen Erzähltradition. In der Kirche – all die Jahrhunderte hindurch. Heute. Wer wissen möchte, wer Gott ist, ist nach Schneider-Flume an die in den biblischen Schriften bezeugte Geschichte Gottes gewiesen. Nicht eine „Anstrengung des Begriffs“ (Hegel) führt uns zur Erkenntnis Gottes sondern die Öffnung für das, was von ihm erzählt wird. Die biblischen Texte enthalten allerdings kein einheitliches Gottesbild. Dennoch sei „in der Pluralität der biblischen Traditionen“ eine „Einheit der Geschichte Gottes“11 zu erkennen. Sie lasse sich durch die Worte „Erbarmen“ und „Gedenken“ charakterisieren.12 „Erbarmen“ kennzeichnet die Lebensbewegung der Geschichte Gottes, insofern Gott sich die menschliche Not angelegen sein lässt, Anteil nimmt und zu Gunsten des Lebens Anteil gibt. Von der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten bis zur Versöhnung am Kreuz: die biblischen Texte erzählen vom Erbarmen als der durchgängig bestimmenden Beziehung Gottes zu den Menschen. Dabei erweist sich das Erbarmen als „die freiwillige Selbstrücknahme, um Leben Raum zu geben“.13 Mit ihr ist das Gedenken eng verbunden. Es bezeichnet eine gleichermaßen kognitive und emotionale, fürsorgliche und lebensschöpferische Beziehung. „Gott kommt in dem ganz profanen Akt des Gedenkens zur Sprache und zur Wirklichkeit. Ohne Gedenken ist kein menschliches Leben, und auch Gott ist ohne Gedenken nicht angemessen gedacht.“14 Erbarmen und Gedenken bestimmen gleichermaßen die Geschichte Gottes, sein Handeln in Schöpfung und Erlösung. Als das Wirken des dreieinigen Gottes erschließen sie die überfließende Lebensfülle, in ————— 10

Ebd., 22. Schneider-Flume, „Dogmatik erzählen“ als Programm?, in: dies., Glaube, 74. 12 Die Geschichte Gottes in Erbarmen und Gedenken stellt für Schneider-Flume die Mitte der Schrift dar; vgl. dies, „Dogmatik erzählen“ als Programm? 80ff. 13 Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 314; vgl. dies., Leben ist kostbar, 28, 31. 14 Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 314; vgl. dies., Leben ist kostbar, 29f. 11

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der sich Gott gibt: als Vater in der Gabe des Lebens, als Sohn in der Lebensheilung und Versöhnung, als Heiliger Geist in der Lebensverwandlung und Neubelebung.15 Wir können, so Schneider-Flume, Gott nicht denken außerhalb der Geschichten, die von ihm erzählen. Ja, Gott wirke in den Geschichten, die von ihm erzählen. So breche er in die Welt ein und unterbreche ihren unheilvollen Lauf. Das sei dort, wo „im Alltäglichen mehr als Alltägliches aufbricht“.16 Es sei dort, wo Menschen anderen Menschen in Anrede und Antwort begegnen, dort, wo „Welt und Leben […] auf dem Hintergrund der erinnerten und erzählten Geschichte Gottes transparent werden für Gott“.17 Die Geschichte des göttlichen Erbarmens und Gedenkens rücke dabei die eigenen Geschichten in ein neues Licht. Menschen lernten sich neu verstehen. Sie fühlten sich nicht mehr allein gelassen sondern wissen Gott an ihrer Seite. Die Klage werde unterbrochen. „Angesichts Gottes wird Wirklichkeit unerwartet neu. Gottes Erbarmen wirkt einen Überschuss an Möglichkeit in der Wirklichkeit. […] Dem geängsteten Beter tut sich Freude auf […]. Er versteht sich nicht mehr von der Härte der Faktizität her, sondern bestimmt von dem Realismus des Erbarmens.“18 Gottes Geschichte lasse so eine neue Wirklichkeit aufbrechen, die Menschen sich neu verstehen lässt und darin ihre Wirklichkeit neu schafft.19 Das sei das rettende Wunder Gottes. Es ereigne sich selbst dort, wo sich keine sensationelle Rettung abspielt. „Gott begeistert zum Durchhalten, auch wenn noch kein gutes Ende in Sicht ist.“20 Weil sich Menschen in den erzählten Geschichten Gottes seines Erbarmens und Gedenkens vergewissern, werde dennoch ihre Wirklichkeit neu und erhalte einen Überschuss an Möglichkeit.

10.3 „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen“. Menschsein in Gottes Geschichte „Menschen sind in Geschichten Verstrickte“. Wer etwas über das Menschsein wissen will, sieht sich deshalb ebenfalls an Geschichten verwiesen. An die biblischen, wer das Menschsein in der Geschichte Gottes erblicken will.21 Dabei werde zunächst deutlich, dass das Leben ein Bezie————— 15

Vgl. Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 313; vgl. dies., Leben ist kostbar, 32f. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 22. 17 Ebd. 18 Schneider-Flume, Der Realismus der Barmherzigkeit, 227. 19 Vgl. Schneider-Flume, „Dogmatik erzählen“ als Programm? 82. 20 Schneider-Flume, Grundaussagen des christlichen Glaubens, 69. 21 Vgl. Schneider-Flume, Alter – Schicksal oder Gnade?, 31: „Der Mensch ist eine Geschichte, die verwickelt ist in Gottes Geschichte.“ 16

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hungsgeschehen ist, das durch Gottes Erbarmen gegeben und gehalten wird. Der Mensch sei sich selbst gegeben. Sein Leben sei Gabe, sei Geschenk. „Als Gabe ist es Teilnahme und Teilgabe an der Geschichte Gottes.“22 Zu Gott, dem Geber seines Lebens, stehe der Mensch in einem Verhältnis primärer Passivität. Als Mensch in Beziehung sei er aber auch mit allem anderen Leben verbunden. Die Gegebenheit seines Lebens entziehe es zugleich seiner eigenen Verfügung. Die Perspektive biblischer Geschichten gehe darüber sogar noch hinaus: Leben sei in ihr „mehr als Gabe, es ist Wohltat, mehr als alles, weil es bestimmt ist und getragen durch die Fülle der Beziehungen, die vom Geber ausgehen und zu ihm hinführen.“23 Deshalb sei das Leben auch bedingungslos gut. Kostbar. Von allem Anfang an. Bis zum letzten Atemzug.24 Wenn der Glaube die Gegebenheit des Lebens als Schöpfung bekennt, so verbinde er damit abermals keinen Erklärungsanspruch. „Weil Schöpfungsglaube nicht Theorie über den Weltanfang und nicht Theorie zur Erklärung der Welt ist, sondern Lebensgeschichte, muss er auch nicht im Streit mit den Naturwissenschaften liegen.“25 Beide seien vielmehr als methodisch eigenständige Perspektiven zu bestimmen. Der Glaube biete keine Totalerklärung der Wirklichkeit. Sein Anspruch mache aber gleichwohl geltend: jedes menschliche Leben ist Leben in der Geschichte Gottes und als solches geschenkt, gewährt und bewahrt. Kein biologischer Lebensanfang liegt außerhalb der Geschichte des göttlichen Erbarmens.26 Die theologische Anthropologie erzähle in die vielfältigen kursierenden Geschichten vom Menschen die Geschichte des Erbarmens Gottes hinein. Sie erzähle vom Zuspruch der Gottebenbildlichkeit, ihrer Pervertierung und Erneuerung. Sie erzähle von der bedingungslosen Annahme und Würdigung. Von der Selbstverfehlung. Von der Bedürftigkeit und Fragmentarität. Von der Neuwerdung des Menschen. Auch die klassische Kategorie der Gottebenbildlichkeit sei demnach keine Erklärung, sonder eine Erzählung. Sie werde durch die Anrede Gottes konstituiert und stelle insofern eine Verhältnisbestimmung dar. „Das göttliche Ich, Subjekt der Bewegung des Erbarmens, konstituiert die Gottebenbildlichkeit des Menschen und damit zugleich den Menschen als Person. […] Der Begriff Gottebenbildlichkeit verweist darauf, dass der Mensch eine offene Geschichte ist, in der er mehr ist, als er selbst aus sich macht ————— 22

Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 21. Ebd., 25. 24 Für die Unverfügbarkeit und Kostbarkeit des Lebens von seinem Anbeginn bis zu seinem Ende hat sich Schneider-Flume in zahlreichen bioethischen Beiträgen eingesetzt, vgl. bspw. dies., Leben ist kostbar, 82–113; sowie die Beiträge in dies., Glaube in einer säkularen Welt, 223–282. 25 Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 306. 26 Vgl. ebd., 307. 23

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und machen kann. […] Gottebenbildlichkeit ist ein Begriff der Verheißung. Der Mensch ist offenes System, eine Geschichte auf Hoffnung.“27 Weil die imago Dei eine dem Menschen von außerhalb zugesprochene Anerkennung sei, stelle sie zugleich einen unbedingten Schutzraum dar. Mit der „Metapher der Gottebenbildlichkeit“28 mache die biblische Tradition so deutlich, dass Menschen eine Würde haben, die ihnen von außen her zugesprochen ist und ihnen darum von niemand anderem abgesprochen werden kann. Die Menschenwürde gründe vor jeder rationalen Selbstbestimmung des Menschen in der ursprünglichen Bejahung durch Gott. „Der Gebrauch des Begriffes Menschenwürde ist sinnvoll nur, wenn er unbedingt und uneingeschränkt gilt“,29 unabhängig von der geistigen Ausstattung oder bestimmten Fähigkeiten. Menschenwürde werde durch keine Eintrittskarte erworben. Aus der Perspektive der Geschichte Gottes bezeichne sie vielmehr „einen Lebensschutz nach Maßgabe dessen, dass ‚das geknickte Rohr nicht zerbrochen und der glimmende Docht nicht ausgelöscht‘ wird (vgl. Jes 42,3)“.30 Gerade weil sie von Gott unbedingt angenommen und in der Bewegung seines Erbarmens gehört, angesprochen und gerettet werden, könnten sich Menschen auch in ihrer eigenen Bedürftigkeit und Fragmentarität annehmen. In der Tiefe ihres Leidens und ihrer Verzweiflung, in der Klage und dem Ruf „Wie lange noch?“ geraten sie „in die Bewegung göttlichen Erbarmens in die Tiefe, die sich schließlich als Unterbrechung der Not und als Rettung erweist“.31 Angesprochen durch das Wort Gottes, verstrickt in die Geschichte Gottes, erfahren Menschen, dass sie mehr sind als nichtige Zufallsprodukte eines ziellosen Entwicklungsprozesses. „Der Mensch, eine Handvoll Staub im Weltall, hinfällig, zufällig, Naturgesetzen unterworfen und insofern auch notwendig, ein Produkt des Evolutionsprozesses, ein Zufallstreffer der Selektion – aber diese Perspektive trifft auf die Perspektive des schöpferischen Gedenkens Gottes. Die Macht des Gedenkens schafft im Ablauf von Naturvorgängen Leben […]. Gedenken hält Leben machtvoll aus Zufall und Nichtigkeit heraus.“32

—————

27 Ebd., 328; Vgl. auch dies., Alter, 36: „Menschen sind im Werden. Ganz ist der Mensch nicht an sich selbst. [...] Gottebenbildlichkeit wird [...] nicht als Bild und nicht statisch ausgelegt“. 28 Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 107. 29 Schneider-Flume, Menschenwürde in theologischer Perspektive, in: dies., Glaube, 240. 30 Ebd. 31 Schneider-Flume, Zur Frage nach dem christlichen Menschenbild, 360. 32 Ebd., 355.

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10.4 Widerfahrnis, Klage und Befreiung. Zur Deutung von Krankheit und Behinderung Der christliche „Realismus des Erbarmens“ muss sich auch angesichts von Lebenserfahrungen als real und realistisch erweisen, die mit Beeinträchtigungen und Leiden verbunden sind. Mit Leidenschaft kritisiert Gunda Schneider-Flume deshalb theologische Deutungsversuche, die sich diesen Erfahrungen nicht aussetzen sondern sie rationalisieren. Das geschieht nach ihrer Auffassung überall dort, wo mittels – theologischer oder philosophischer – Theorien „Kontingentes als notwendig festgestellt wird und als erklärt gilt“.33 Ob durch einen abstrakten Vorsehungsglauben oder eine metaphysische Freiheitstheorie: überall dort, wo das Erlittene in eine Sinnkonstruktion eingepasst wird, gelte es als notwendig und werde festgeschrieben. Ein Unterfangen, das vielfach zynisch gegenüber den Betroffenen sei.34 Das Bemühen, Unfälle, Krankheiten oder Behinderungen innerhalb einer Theorie erklären und dadurch erträglicher zu machen, sei keineswegs neu. Die stoische Vorsehungslehre oder der alttestamentliche Tun-ErgehenZusammenhang belegten dies in je spezifischer Weise.35 In der heutigen Gesellschaft sei allerdings der Erklärungsdruck in erheblicher Weise gewachsen. In ihr gelten Unversehrtheit und Perfektibilität mittlerweile als normative Orientierung. „Hauptsache gesund“. Indem aber Gesundheit zum höchsten Gut, zur Utopie und zum Gegenstand der Selbstverwirklichung geworden sei, werde Krankheit als eine Bedrohung des Lebens wahrgenommen. „Der Einschätzung der Gesundheit als höchstes Gut entspricht die Erfahrung von Krankheit als Vernichtung.“36 Das erhöhe einerseits den Erklärungsdruck angesichts von Einschränkungs- und Leidenserfahrungen. Andererseits lasse es Phantasien aufkommen, über den Lebensanfang und das Lebensende selbstbestimmt verfügen zu können. Aus dem Schicksal wird ein „Machsal“ (Odo Marquard). Gunda Schneider-Flume reagiert auf diese Entwicklung nicht nur mit einem starken Plädoyer für einen unbedingten Lebensschutz. Sie macht sich darüber hinaus auch dafür stark, das, was sich nicht verstehen lässt, auch als ————— 33

Schneider-Flume, Überlegungen zu Vorsehung und Behinderung, in: dies., Glaube, 276. Vgl. ebd., 276f. Der Vorwurf des Zynismus gilt beispielsweise Pannenberg (ebd., 277). 35 Vgl. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 88ff; dies., Vorsehung und Behinderung, 276. 36 Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 88; vgl. dies., Perfektionierte Gesundheit als Heil?, 138: „Wenn nur Gesundheit gelingendes Leben verspricht, ist Krankheit nicht nur Gefährdung und Bedrohung des Lebens, sondern Krankheit und insbesondere chronische Krankheit ebenso wie jede Behinderung entwerten das Leben völlig. Krankheit ist Infragestellung des Lebens überhaupt, weil Krankheit, Behinderung und Einschränkung das Gelingen des Lebens vermeintlich verhindern und Leben zu einem Unleben machen.“ 34

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solches stehen zu lassen. Kontingenzerfahrungen, Leid und Beeinträchtigungen dürften nicht weginterpretiert werden. „Sinnkonstruktionen müssen in Frage gestellt werden, denn der Glaube vermag nicht Sinn zu konstruieren.“37 Der Glaube traue sich, ohne die Beantwortung der „Warum-Frage“ zu leben. Abermals bestehe die Theologie an dieser Stelle darauf, keine Erklärungen abzugeben. Sie lasse die Erfahrungen von Gesundheit und Krankheit als das stehen, was sie sind: als Widerfahrnisse, als Erfahrungen von Passivität im Leben.38 Behinderungen werden von Schneider-Flume an dieser Stelle nicht ausdrücklich genannt. Aber sachlich dürfte auch dies gelten: Behinderung ist ein Widerfahrnis im Leben. Die Leidenserfahrung einer Krankheit oder Behinderung führe Menschen zur Klage ihrer Not. „Klage ist Protest und Widerstand gegen eine Wirklichkeit, die mit Gottes Geschichte […] nicht zusammengebracht werden kann. In der Klage wird Gott in Leben verwickelt, das nach landläufiger Vorstellung zerstört ist, aber durch die lebendige Gottesbeziehung heil wird. Die Klage versetzt den Kranken und die Krankheit in eine Zeitperspektive über das bedrückende Jetzt hinaus und ermutigt so zum Warten.“39 Gott werde so für den Klagenden zum Anwalt des Lebens, der Integrität und der Würde. Er werde nicht mehr nur auf Seiten des Gelingens und der Gesundheit wahrgenommen, sondern auch bei den Belasteten, Leidenden und Erniedrigten. Krankheit erhalte so keineswegs einen Sinn. Aber sie werde dem Gefühl der Gottverlassenheit entrissen. „Die Bewegung des Erbarmens bringt Gott in enge Berührung mit Krankheit. Beschädigtes Leben wird nicht mehr ohne und außerhalb Gottes gedacht.“40 In die Geschichte des göttlichen Erbarmens verstrickt, könnten auch Menschen mit einer Behinderung erkennen, dass Gottes lebensschöpferische Hingabe im Kreuz und in der Auferstehung Jesu Christi ihnen eine neue Lebensperspektive eröffnet. Erklärungsversuche wie der Vorsehungsglaube könnten abgewiesen und Gott in allem Leiden als gegenwärtig erlebt werden. „Gott verursacht nicht das Leiden der Menschen, sondern er geht darauf ein.“41 Behinderung, so macht Schneider-Flume deutlich, sei nicht kausal aus der Vorsehung eines Schicksalsgottes zu ————— 37

Schneider-Flume, Vorsehung und Behinderung, 280. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 82; vgl. dies., Perfektionierte Gesundheit, 134. 39 Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 91. vgl. auch dies., Alter, 111-117. 40 Schneider-Flume, Leben ist kostbar, ebd. Vgl. auch dies., Perfektionierte Gesundheit, 148: „Als Grundstruktur des Lebens verweist Erbarmen auf die fundamentale Bedürftigkeit von Menschen, die dennoch in der Beziehung des Realismus des Erbarmens getragen sind. Für das Verständnis von Krankheit und Behinderung hat das die Konsequenz, dass göttliches Erbarmen nicht eine perfektionierte Menschheit ohne Krankheit und Behinderung erwarten lässt.“ 41 Schneider-Flume, Vorsehung und Behinderung, 277. 38

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erklären. „Sie kann deshalb auch nicht erklärt werden. Aber der Glaube ist die Kraft, ohne Erklärung zu leben, denn er ist der Mut des Dennoch.“42 In einer Spiritualität des Harrens und des Klagens könnten die eigenen Leiden vor Gott gebracht und Gott in Leiden verwickelt werden. Im Schrei komme Gott zur Sprache. „Gott“ ist auf diese Weise ein Rufwort.43 In der Klage könnten Menschen das Bedrängende bei Gott lassen, indem sie sich auf ihn verlassen.44 Obwohl Schneider-Flume den Glauben als die Kraft beschreibt, ohne Erklärungen leben zu können, erhalten nach ihrer Auffassung „Behinderung ebenso wie Leiden“ eine „Deutung in der Perspektive des Glaubens an den Schöpfer und Erlöser: Der Zuspruch an einen jeden Menschen ‚Du bist erwählt, geliebt und angenommen‘, gilt trotz und geradezu gegen jede Behinderung und alles Leiden.“ Dieser Zuspruch lasse „die Beschädigung von Leben kontingent stehen“ und „befreit davon, sich ausschließlich aus der Behinderung zu definieren“. Er „formuliert den gewährten Lebensraum für einen jeden Menschen“ und „steht gegen die Tyrannei von exklusiven Gesundheits- und Leistungsvorstellungen“. Er „provoziert die Bereitschaft, gesellschaftliches Leben in unterschiedlichen Lebensräumen und -zeiten neu zu gestalten für sehr differenziert begabte Menschen“. Zugleich erinnert er daran, „dass Menschen nicht nach austauschbarem Wert, sondern nach extern begründeter Würde bestimmt sind“. Schließlich aber und dies nicht zuletzt: „Dieser Zuspruch erklärt nichts, aber er ermutigt dazu, die Wunde von Leiden, Einschränkung und Behinderung zu ertragen, mitunter gegen sie zu kämpfen und mit ihr zu leben.“45 Der „Realismus des Erbarmens“ lege Menschen damit nicht auf das fest, was sie als Widerfahrnis erlebt haben. Er nagele sie nicht auf eine Behinderung oder ein Leiden fest. Vielmehr: er „spielt“ Menschen „Befreiung zu trotz und in beschädigtem Leben“.46

10.5 Behinderung als Widerfahrnis. Kritische Würdigung Der Glaube lebt ohne Erklärungen – aber aus Erzählungen. Er lässt sich in die Geschichte des göttlichen Erbarmens verstricken und erlebt darin einen Überschuss an Möglichkeit inmitten der Wirklichkeit. Das Widerfahrnis einer Behinderung erhält dadurch keinen Sinn, wohl aber eine Perspektive. Gunda Schneider-Flume gelingt es in ihrer theologischen Anthropologie, ————— 42 43 44 45 46

Ebd., 281. Vgl. Schneider-Flume, Grundaussagen des christlichen Glaubens, 65. Vgl. Schneider-Flume, Leben in Gottes Geschichte, in: dies., Glaube, 48. Alle Zitate: Schneider-Flume, Vorsehung und Behinderung, 281. Ebd., 282.

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einen „Realismus des Erbarmens“ zur Sprache kommen zu lassen, der in der Tat realistisch ist. Menschliche Lebenserfahrungen werden in ihrer Fragmentarität und Fragilität, in ihren Glücks- und Unfällen, in ihrer Tiefgründigkeit und Abgründigkeit erfasst. In der Zurückweisung fataler Sinnkonstruktionen und im Hinweis auf die befreiende Geschichte Gottes kann sie den Erfahrungen leidender Menschen gerecht werden und ihnen zugleich die verändernde Kraft biblischen Erzählens eröffnen. Behinderung wird von Schneider-Flume auf diese Weise einerseits als Widerfahrnis gedeutet, das in seiner Kontingenz stehen und als Wunde offen bleibt. Mit Gott wird dieses Widerfahrnis nicht in Verbindung gebracht. Die Gottesperspektive erschließt sich vielmehr als eine zweite, hinzutretende Perspektive. In ihr erfahren sich Menschen als getragen und gehalten, bejaht und angenommen, versöhnt und verändert. Der Perspektivwechsel der Gottesgeschichte ermöglicht ihnen die Wahrnehmung neuer Möglichkeiten und die Gestaltung neuer Lebensräume. Prägnant heißt es: „Gott verursacht nicht das Leiden der Menschen, sondern geht darauf ein.“47 Meine Auseinandersetzung konzentriere ich auf diese theologische These und ihren Zusammenhang. „Gott verursacht nicht das Leiden“. Ohne Zweifel. Ursachen für Behinderungen können vielmehr u.a. genetische Defekte, prä-, peri- oder postnatale Komplikationen, fehlende soziale Ressourcen, Lebensstile, Krankheiten oder Unfälle sein. Nicht Gott verursacht das Leiden – vielmehr lässt sich dafür in der Regel eine medizinische, soziale oder andere Ursache angeben. Aber fragen Menschen im Wissen um diese Ursachen nicht noch weiter? Wollen sie mit der Frage „Warum gerade ich?“ nicht mehr und anderes wissen, so beispielsweise, was Gott mit diesen ihren Erfahrungen zu tun hat? Wird der Hinweis auf ein – unerklärbares – Widerfahrnis diesen Fragen gerecht? Müsste nicht vielmehr zwischen theologisch angemessenen und unangemessenen Antworten unterschieden werden anstatt es nur bei der Formulierung „Widerfahrnis“ und „Erfahrung von Passivität im Leben“48 zu belassen? Schneider-Flume nennt das Leben eine Gabe und bringt darin seine primäre Passivität zur Geltung: „Als Gabe ist es Teilnahme und Teilgabe an der Geschichte Gottes“.49 Aber wenn ich mein Leben auf diese Weise in die Geschichte Gottes eintrage und als Gabe verstehe, dann liegt es nahe, dies auf alles zu beziehen, was mir gegeben, vorgegeben ist. Es erschiene mir als eine lebensfremde, abstrakte Aufteilung, wenn ich mein Leben insgesamt als Gabe, die konkreten Dimensionen meiner Leiblich————— 47 48 49

Ebd., 277. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 82. Ebd., 21.

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keit – in Gesundheit, Krankheit oder Behinderung – aber nur als kontingentes Widerfahrnis verstehen sollte. Das hat nichts mit Erklärungen zu tun. Vielmehr gibt es auch eine biblische Erzähltradition, die Krankheiten oder Behinderungen als Bestandteile der Schöpfung mit Gott als Schöpfer in Verbindung bringen, z.B. die Antwort Gottes an Mose: „Wer hat dem Menschen den Mund geschaffen? Oder wer hat den Stummen oder Tauben oder Sehenden oder Blinden gemacht? Habe ich’s nicht getan, der HERR?“ (Ex 4,11). Mir scheint es deshalb theologisch nahe liegender zu sein, Behinderung nicht einfach nur als Widerfahrnis, sondern als Lebensgegebenheit zu verstehen. Einen Rationalisierungsversuch kann ich darin nicht erblicken. Auch die Theodizee-Frage wird dadurch nicht still gestellt – vielleicht wird sie sogar intensiviert. Die Unterscheidung zwischen „Gabe“ und „Widerfahrnis“ erscheint mir dagegen als der Versuch, Gott den Schöpfer aus der Deutung der eigenen Krankheit oder Behinderung herauszuhalten. Schneider-Flumes theologische Deutung stellt vor allem auf Gott den Versöhner und den Erneuerer ab: „im Geschehen der Hingabe am Kreuz und im Leben-Schaffen im Tode“ erschließe sich das liebende und leidende Mitsein Gottes mit den Menschen. Diese Hereinnahme von Menschen in die Geschichte Gottes verwandle ihre Lebensperspektiven und schaffe einen Überschuss an Möglichkeiten. So sehr Schneider-Flume christologisch und pneumatologisch in eindrücklicher Weise Gottes „MitSein“ deutlich macht, so wenig erscheint mir andererseits plausibel, wenn sie schöpfungstheologisch die Gabe des Lebens vom Widerfahrnis der Behinderung trennt. Der Satz „Gott verursacht nicht das Leiden der Menschen, sondern geht darauf ein“ würde m.E. dann missverstanden, wenn das kontingente Widerfahrnis einer Behinderung nicht mehr mit Gottes Schöpferhandeln in Verbindung gebracht – und in diesem Sinn auch geklagt werden könnte. Ulrich Bach hat sich ebenso wie Gunda SchneiderFlume gegen fatale Rationalisierungen der Erfahrung einer Behinderung ausgesprochen. Aber er hat zugleich auch darauf bestanden, dass Behinderung nicht nur im zweiten und dritten, sondern auch im ersten Artikel des Glaubens vorkommt: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat, so wie ich bin“.50 Die theologische Herausforderung besteht m.E. genau darin, Gott nicht als Verursacher einer Behinderung zu denken und dennoch schöpfungstheologisch deutlich zu machen: „Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist“.51

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Bach, Der behinderte Mensch – ein Geschöpf Gottes, 95. Bach, ebd.

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11. „Behinderung als Bewährungsfall des Lebens“. Behinderung in Reinhard Turres ganzheitlicher Diakonik Reinhard Turre „Die Fähigkeit, auch dem Schwächsten in Liebe zu begegnen, gehört zu den höchsten menschlichen Leistungen. Sie verdient gerade dann Beachtung, wenn keine Erfolge in der Förderung nachgewiesen werden können und seitens des Schwerstbehinderten keine Zeichen der Dankbarkeit gegeben werden können.“1 Dieser Satz findet sich in Reinhard Turres „Diakonik“ und beschließt hier den Abschnitt zur „Diakonie für geistig Behinderte“. Mit ihm tritt nicht nur ein diakonisches Konzept in den Blick, das sich als „Zuwendung zu den Schwachen“ beschreiben lässt. Auch anthropologisch ist er einprägsam, weil er von der gleichen und unbedingten Würde der Allerschwächsten ausgeht. Ethisch wiederum bringt er ein auf dieser Grundlage erwachsendes Anerkennungsverhältnis zur Geltung. Ein markanter Satz mithin, ein Programmsatz, der die Tür zur Turres „Diakonik“ zu öffnen vermag. Ich möchte innerhalb dieses Kapitels das anthropologische Konzept erläutern (11.1), seine Deutung von Behinderung vorstellen (11.2) und beides anschließend reflektieren (11.3).

11.1 „Von Gott her ist der Mensch, was er ist“. Anthropologische Vergewisserungen Reinhard Turre entfaltet, das hat bereits der Eingangssatz deutlich gemacht, seine Anthropologie im Zusammenhang einer Theorie diakonischen Handelns. Die Reflexion auf das Menschenbild ist ihm deshalb unverzichtbar, weil „die pädagogische Aufgabe immer mit anthropologischen Festlegungen verknüpft ist“.2 Weil das jeweilige Menschenbild die konkrete pädagogische Praxis prägt, müssen Erziehungsziele anthropologisch orientiert und begründet sein. Allerdings konkurrieren nach Turre heute eine Vielzahl verschiedener Menschenbilder miteinander. Im Bewusstsein dieser Herausforderung muss die Theologie ihre eigenen Antworten konturieren und im Dialog bewähren. ————— 1 2

Turre, Diakonik, 257. Turre, Die Stärke der Schwachen, 35.

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(1) Der theologische Beitrag im Wettstreit der Deutungen um das Menschsein kann nach Turre nicht mit humanwissenschaftlichen Mitteln gegeben werden.3 Dafür sind für ihn eine Reihe von Gründen maßgeblich. Zunächst versagten bereits die wissenschaftlichen Methoden vor dem Rätsel des Lebens. „Der Mensch ist mehr als das, was in Laboratorien bestimmt werden kann.“4 Weil das Leben mehr ist als die Summe wissenschaftlicher Erkenntnisse, könnten eben diese nicht zum Geheimnis des Lebens vordringen. Ein weiterer Grund für das Ungenügen humanwissenschaftlicher Deutungen bestehe in ihrem Versagen vor der Wirklichkeit des Menschseins. Während die Psychologie den Menschen oft auf seine Triebnatur reduzierte, idealisierte ihn die Philosophie auf seine höchsten Möglichkeiten hin.5 Die Unter- und die Überschätzung des Menschen erwiesen sich aber gleichermaßen als realitätsblind. Die Reflexion des bleibenden Mangels wissenschaftlich-anthropologischer Konzepte führt zum dritten und wichtigsten Argument in dieser Debatte: „Wer der wirkliche Mensch ist, muß uns offenkundig gesagt werden, da wir es nicht eindeutig aus den Erfahrungen dieser Welt […] ableiten können.“6 Die Unfähigkeit des Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit – ein unverkennbar barthianischer Zug in Turres Theologie – führt zur Notwendigkeit der Offenbarung. „Wahrheit und Wirklichkeit des Menschen werden uns im biblischen Zeugnis aufgedeckt und sind wie Gott selbst nur in Jesus Christus offenbar.“7 In seiner Geschichte spiegle sich die menschliche Bestimmung. In ihm werde erkennbar, wie Gott den Menschen und das Menschsein gemeint hat. (2) In Jesus Christus wird dem Glauben demnach gewiss, dass sich Gott zu den Menschen herablässt und sie zu seinen Partnern macht. Das macht offenbar, dass die schöpfungsmäßige Bestimmung des Menschen darin liegt, Gegenüber Gottes zu sein. „Von Gott her ist der Mensch, was er ist“.8 Von ihm empfängt er sein Leben. Von ihm erfährt er den Ruf zur Gemeinschaft. „Gott hat den Menschen gewürdigt, sein Ebenbild zu sein, Partner seines Bundes, Empfänger der Gnade, Hörer seines Wortes.“9 In der Bestimmung zum Gegenüber Gottes seien die besondere Würde des Menschen, sein ————— 3

Vgl. ebd., 36. Turre, Diakonik, 174. 5 Vgl. Turre, ebd., 153–155; hier 154: „Diese Entwürfe zeigen, daß die philosophische Anthropologie fast immer auf die höchsten Möglichkeiten des Menschen hin orientiert ist […]. Genuß- und Leistungsfähigkeit, Ich-Stärke, Denkfähigkeit, Reife der Persönlichkeit, Bewußtsein der handelnden Subjekte, freie Entwicklung der Individuen sind in diesem Denken Kennzeichen der Ganzheit des Menschen.“ 6 Turre, Die Stärke der Schwachen, 36. 7 Ebd. 8 Turre, Diakonik, 159. 9 Ebd., 179. 4

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Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

unantastbarer Wert und seine prinzipielle Gleichheit begründet.10 Ja, die Personalität des Menschen habe hier ihren Grund. „Indem Gott den Menschen anspricht, wird er Person“.11 (3) Der Mensch als Partner und Gegenüber Gottes ist für Turre ein ganzheitliches Wesen. Seine Ganzheit hat verschiedene Dimensionen. Sie ist zunächst als „Einheit von Körper, Seele, sozialem und ökologischem Umfeld“12 zu bestimmen. Gegen den platonischen Dualismus von Leib und Seele setzt Turre das biblische Ganzheitsverständnis, nach dem der Mensch nicht nur Leib und Seele hat, sondern ist.13 Der ganze Mensch ist eine Einheit aus Leib, Seele und Geist, ein Wesen, das über rationale und emotionale Fähigkeiten verfügt und ohne sozialen Beziehungsreichtum nicht existieren kann.14 Eine zweite Ebene von Turres Ganzheitsverständnis verlässt die eben genannten Dimensionen des Menschseins und konzentriert sich auf das Wissen um seine Bestimmung. „Mit dem ganzen Menschen ist in biblischer Sicht gemeint, daß sich der Mensch seines Woher, seines Wohin und seines Wozu gewiß ist.“15 Einzig im Wissen darum, dass er von Gott her ist und in Gott seine Erneuerung und Vollendung erfahren wird, ist der Mensch ein ganzer. (4) Der geschöpfliche Mensch ist darüber hinaus ein begrenztes Wesen. Geschöpflichkeit wird von Turre auch als Erschöpflichkeit gedeutet. „Zum Menschsein gehören Begrenzungen, Defizite, Krankheit, Abbauprozesse, Schädigungen, Behinderungen und Sterben natürlicherweise mit hinzu.“16 Wer diese Grenzen ignorieren wollte, würde den Menschen unrealistisch überfordern. Es würde etwas aus ihm gemacht, was er nicht ist. Eine solche Lehre vom Menschen wäre unmenschlich. Die anthropologische Ganzheitsvorstellung habe deshalb zu berücksichtigen, „daß menschliches Leben in der Regel beeinträchtigt ist. Eine Ganzheitsvorstellung, die dies nicht berücksichtigt, wird zum Terror gegen die Kranken und Schwachen.“17 ————— 10

Vgl. ebd., 175, 179, 180. Turre, Die Stärke der Schwachen, 37. 12 Turre, Diakonik, 164. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. die Dimensionen der ganzheitlichen Begleitung in: ebd., 168–171. Die Teilüberschriften des Kapitels lauten: „Das Recht des Körpers beachten“ (168f), „Erfüllung für die Seele suchen“ (169), „Die Entfaltung des Geistes anstreben“ (169f), „Gefühle zulassen“ (170), „Die Beziehungsfähigkeit fördern“ (170f). Die Dimension der Sozialität hat Turre an einer anderen Stelle konkreter ausgeführt (vgl. Turre, Diakonische Einsichten, 173f). Seine Thesen lauten hier: „1. Menschliches Leben vollzieht sich […] da, wo man einander in die Augen sieht.“ „2. Menschliches Leben vollzieht sich da, wo Menschen aufeinander hören und offen miteinander reden.“ „3. Menschliches Leben vollzieht sich da, wo Menschen gern einander helfen und sich helfen lassen.“ 15 Turre, Die Stärke der Schwachen, 39. 16 Ebd., 38. 17 Turre, Diakonik, 155. 11

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Deshalb sei die dem Menschen angemessene Lebenshaltung die von Widerstand und Ergebung. Während es einerseits darum gehe, vermeidbare Beeinträchtigungen abzubauen, gelte es andererseits, mit dem unvermeidbaren Leid zu leben und es anzunehmen.18 (5) Der geschöpfliche Mensch ist für Turre weiterhin der sündige, jedoch in Christus gerechtfertigte Mensch. Sünde wird von ihm als Verlust der Ganzheit gedeutet, als das wahnhafte Unternehmen, sich seine Ganzheit selbst machen und gegen Gott behaupten zu wollen.19 Aus diesem Irrtum des Denkens und Wollens könne den Menschen nur der Ruf Christi herausführen. In der Begegnung mit Christus werde er neu auf das Leben hin ausgerichtet. „Das Menschsein ist in Christus neu begründet.“20 Die rechtfertigende Gnade Gottes befreie den Menschen aus seinem krankhaften Versuch, sich und sein Menschsein selbst begründen zu wollen. Sie lasse den Menschen ganz werden. Dies sei ein Geschenk. Auch Menschenwürde und Lebenswert würden dem Menschen durch Gnade zuteil. Sie seien ihm vorgegeben. Niemandes Wert lasse sich deshalb durch die eigene Leistungsfähigkeit bestimmen,21 auch nicht das Gegenteil durch die Leistungsgrenzen. Schwache und Starke lebten gleichermaßen von der Gnade Gottes.22 (6) Der gerechtfertigte Mensch ist bei Turre zugleich auch der zur Ewigkeit Gottes bestimmte Mensch. Damit tritt die zeitliche Dimension, die Zukunftsperspektive in den Blick. Das heilende Handeln Jesu und der von ihm dazu beauftragten Kirche richte sich nicht nur auf die Gesundung, nicht nur auf die Wiederherstellung gestörter Lebensfunktionen. Vielmehr gehe es um die „Erschließung neuer Lebensmöglichkeiten“.23 Es gehe um ein erfülltes Leben aus der von Gott angebotenen Fülle. Der begrenzte, kranke und leidende Mensch könne durch diese Hoffnungsperspektive begreifen, „daß alles, was jetzt zu erfragen und zu durchleiden ist, Station auf dem Weg in Gottes Ewigkeit hinein ist.“24 Der jetzige Mangel werde im Horizont der Ewigkeit erträglich. Gerade an den Grenzen eröffne sich so die Perspektive von Gottes grenzenlosen Möglichkeiten.

————— 18 19

Vgl. ebd., 46. Vgl. Turre, Schritte zu einem ganzheitlichen Leben, in: ders., Diakonische Einsichten,

109.

20 21 22 23 24

Ebd. Vgl. Turres Auseinandersetzung mit dem „Wert des Lebens“ ebd., 245–253. Vgl. Turre, Die Stärke der Schwachen, 40. Turre, Diakonik, 161; vgl. auch ders., Diakonische Einsichten, 27. Turre, Diakonik, ebd.

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Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

11.2 Behinderung als Bewährung, Aufgabe und Prüfung Die theologische Bestimmung des Menschseins gilt für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen. Alle Menschen sind als Kinder Gottes sein Gegenüber, von der Sünde gezeichnet, von Christus erlöst und zur Ewigkeit bestimmt. So wird es in diesem Abschnitt lediglich darum gehen, die gegebene Beschreibung zu präzisieren und zu erläutern. (1) Die Würde der kranken, behinderten und leidenden Menschen steht bei Turre im Licht der besonderen Gemeinschaft Gottes mit den Schwachen. „Das Recht des Schwachen gründet in der Gegenwart Gottes gerade in den ‚geringsten Brüdern‘ (Mt 25).“25 Turre entwickelt seine „Begründung für die Würde auch des Schwachen“ in einem trinitarischen Kontext. Sie gründe darin, dass Gott sich dem Menschen aus reiner Gnade zuwende: „Gott richtet den Menschen auf, indem er ihm zuspricht, dass er als sein Geschöpf von ihm gewollt […] ist. Er richtet den Menschen auf, indem er in dem leidenden Christus […] das belastete und bedrohte Leben auf sich nimmt und dem Schwachen neues Leben zueignet. Gott richtet den Menschen schließlich auf, indem er ihn durch seinen Geist tröstet und seiner Gegenwart auch in den notvollen Stunden gewiß macht.“26 Weil Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist, deshalb seien kranke, behinderte und leidende Menschen angenommen, geliebt, getröstet und gestärkt. (2) Die Zuwendung Gottes zu den Schwachen und Leidenden stellt allerdings kein Privileg dar. Kranke und behinderte Menschen seien nicht besser als gesunde und nichtbehinderte. Vielmehr werden alle Menschen schuldig und sind deshalb der Vergebung und Erlösung bedürftig. Man wird deshalb, so Turre, „mit der Sünde auch bei den schwachen, kranken und behinderten Menschen zu rechnen haben“.27 Auch ihr Menschsein werde, ebenso wie das eines jeden Menschen, durch Christus neu begründet. Für die diakonische Arbeit resultiert für Turre aus dem Wissen um die Sünde „die bewußte Annahme und Aufnahme des schuldig gewordenen Mitmenschen“.28 (3) Die Begrenzung des Menschen ist ein allgemeines anthropologisches Merkmal. „Leiden gehört zum Leben […]. Weil der Mensch lebt, leidet er; Leidlosigkeit würde Leblosigkeit bedeuten.“29 Trotzdem ergreife jedes Leiden den Menschen existenziell. Nicht nur ein Teil an ihm ist betroffen. Vielmehr leide der Mensch als ganzer. Deshalb stelle das Leiden auch vor Fragen nach dem warum und wozu. Der Sinn des eigenen Lebens und Lebensentwurfs werden herausgefordert. Auf diese Fragen werde es jeweils ————— 25 26 27 28 29

Turre, Das Recht der Schwachen, in: ders., Diakonische Einsichten, 148. Ebd. Turre, Die Stärke der Schwachen, 48. Ebd. Turre, Diakonik, 35.

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nur eine individuelle Antwort gegeben können. Deshalb sei das existenzielle Fragen des leidenden Menschen ernst zu nehmen, auszuhalten und nicht mit einer Leidensverklärung wegzuwischen. Das Ziel des gemeinschaftlich ausgehaltenen Leidens sollte deshalb nach Turre darin bestehen, den Leidenden zu einer eigenen Antwort auf die Sinnfrage zu befähigen. Der leidende Mensch sollte befähigt werden, seine eigene Situation anzunehmen und „mit seinem Leiden so umzugehen, daß er daran nicht zerbricht, sondern daß er darin in seiner ganzen Persönlichkeit reift und wächst“.30 (4) Die Theologie kann das Ringen um eine individuelle Antwort auf die Fragen, die die eigene bedrohte, begrenzte und belastete Lebenssituation stellt, begleiten. Sie werde dabei einerseits auf das Verhältnis von Gott und dem Leiden blicken und andererseits helfen, die eigene Lebenssituation theologisch zu deuten. a. Was hat Gott mit dem Leiden zu tun? Die christliche Theologie antwortet auf diese Frage, indem sie auf zwei Aspekte des Christusgeschehens hinweist: „daß Gott im Leiden Jesu Christi mit dem Leidenden solidarisch geworden und in der Auferstehung Christi der Überwinder von Leiden und Tod geworden ist“.31 Beide Aspekte sind nach Turre wichtig, um Einseitigkeiten zu vermeiden. Einerseits könne der leidende Mensch dadurch Trost erfahren, dass er um die Solidarität Gottes mit den Leidenden weiß. Darin dass sich Gott selbst dem Leiden ausgesetzt habe, erfahre die leidende Kreatur Würde, Aufmerksamkeit und Aufwertung. Andererseits sei aber Christus nicht im Leiden geblieben, sondern vom Tod auferstanden. Darin erführen Leidende über den Trost hinaus Hoffnung und Mut. Weil Christus „als der Gekreuzigte lebt, kann auch für die Leidenden gehofft werden“.32 Die Auferstehung Christi mache Gottes Widerspruch gegen das Leiden offenbar. Leidende haben von nun an Gott als Bündnispartner in ihrem eigenen Kampf gegen das Leid. In der Gewissheit, dass „die Überwindung des Leids“ und der „Kampf gegen das Leid […] Gottes eigene Sache“33 sind, werde der Christusglaube zur Kraftquelle für die persönliche Bewältigung des Leidens. b. Vom Christusgeschehen her falle nun auch Licht auf die persönliche Lebenssituation kranker, behinderter und leidender Menschen. Ihnen werde eine Perspektive eröffnet, die über ihre Schmerzen hinausweist. Gerade in belasteten Lebenssituationen seien solche Fragen dringlich. Gerade das Leiden lasse oberflächliche Antworten scheitern. „Patient und Helfer werden an den Grenzen menschlicher Kraft und menschlicher Möglichkeiten auf die tragende Mitte gestoßen. Was im Leben trägt, Kraft vermittelt, Mut gibt, Aussicht ————— 30 31 32 33

Ebd., 44. Ebd., 47. Ebd. Ebd., 48.

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Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

eröffnet, das wird in den Notsituationen seinen Wert und seine Geltung erweisen.“34 Der Inhalt der christlichen Antwort auf diese In-Frage-Stellung ist mit dem Hinweis auf die Gnade und Rettung Gottes in den vergangenen Abschnitten bereits mehrfach angesprochen worden. Die zum existenziellen Fragen herausfordernde Situation der Leidenden macht dabei jedoch deutlich, dass es sich bei Leid, Krankheit und Behinderung um einen „Bewährungsfall des Lebens“35 handelt. Turre gibt damit der Leidenssituation eine ausdrücklich pädagogische Bedeutung. Mit ausdrücklichem Hinweis auf das Buch Hiob und die Perikope vom Turm von Siloah (Lk 13,1–5), die im biblischen Kontext für ein pädagogische Verständnis von Krankheit bzw. Behinderung stehen, spricht Turre von Krankheit und Leid als einem „Ort persönlicher Bewährung und Prüfung“.36 Der eigene Lebensentwurf werde auf den Prüfstand gestellt. Die persönlichen Lebensüberzeugungen müssen sich bewähren. Jeder und jede sei zur Beantwortung der Sinnfrage herausgefordert. Die Herausforderung durch das Leiden gelte aber nicht nur individuell. Vielmehr werden bei Turre „Krankheit und Behinderung als eine allen gestellt Aufgabe begriffen“.37 Komplementär wird Gesundheit „als eine allen geschenkte Gabe“38 verstanden. So seien Kranke und Gesunde, Behinderte und Nichtbehinderte zur Gemeinschaft bestimmt. Gesundheit werde so nicht mehr gedankenlos als selbstverständlich hingenommen. Umgekehrt werde an der Krankheit die allen gestellte Frage nach dem tragenden Sinn offenbar. In der Gemeinschaft von kranken und gesunden Menschen seien beide aufeinander angewiesen und füreinander bestimmt. (5) Die christliche Gemeinde sei grundsätzlich als Gemeinschaft der Verschiedenen zu bestimmen, in der behinderte und nichtbehinderte, kranke und gesunde, leidende und nichtleidende Menschen gleichermaßen ihren Platz haben und wichtig sind. Auch Geben und Nehmen seien gleichgewichtig verteilt. Alle bringen etwas ein; jede und jeder empfängt. Menschen mit Behinderung seien also keineswegs nur Hilfeempfänger. Vielmehr lernten auch und gerade die nichtbehinderten von ihren behinderten Mitmenschen. „Unser Zusammenleben mit den Schwachen, Behinderten und Kranken bewahrt uns davor, unmenschlich zu werden.“39 Es bewahrt davor, die Ge————— 34

Turre, Krankheit und Leiden, in: ders., Diakonische Einsichten, 182. Turre, Diakonik, 53. Vgl. ebd. 231, wo Turre davon spricht, dass „Krankheit und Behinderung […] als Bewährungsfall des Lebens anzusehen sind“. Vgl. weiterhin Turre, Der Griff nach dem Leben, 16: „Leid als Bewährungsfall“; ders., Was ist ‚menschliches Leben‘, in: Diakonische Einsichten, 176: „Wir sollten einander helfen, Kranksein nicht als Beeinträchtigung, sondern als Bewährung menschlichen Lebens anzusehen.“; ders., Das heilende Handeln der Kirche, in: Diakonische Einsichten, 28: „Krankheit, Behinderung und Alter sind Bewährungsfälle des Lebens“. 36 Turre, Krankheit und Leiden, 182. 37 Turre, Diakonik, 232. 38 Ebd. 39 Turre, Krankheit und Leiden, 180. 35

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Reinhard Turre

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sundheit als etwas Selbstverständliches hinzunehmen und einen Perfektionismus zu propagieren.40 Zugleich bringe es etwas anderes als Selbstverständlichkeit zu Bewusstsein: dass Schwäche komplementär zur gleichen Wirklichkeit gehört, deren andere Seite die Stärke ist.41 Deshalb bewahre die Ko-Existenz kranker und gesunder Menschen davor, an der Wirklichkeit vorbeizugehen und das Leben nur oberflächlich wahrzunehmen. Im Einzelnen führten die behinderten ihren nichtbehinderten Mitmenschen eine Vielzahl von Einsichten vor Augen. „Von den Körperbehinderten unter uns möchten wir daran erinnert werden, dass gemeindliche und gesellschaftliche Entwicklung nicht lediglich ablesbar ist an Produktionsziffern, die nur Ausdruck eingesetzter Kraft sind. Wir dürfen von den Körperbehinderten Phantasie und die treue Bewältigung der begrenzten Aufgaben erwarten. / Von den geistig Behinderten in unserer Einrichtung lerne ich, was Freude am Leben ist. Dankbarkeit für erfahrene menschliche Zuwendung. Sie sind spontan in ihren Handlungen, spontan auch im Mißfallen, warm und herzlich auch, wo wir allzu oft nur kühl, sachlich, planend handeln. Wir möchten von ihnen erwarten, dass sie uns dazu anhalten, herzlich, warm und direkt miteinander umzugehen. / Die Hör- und Sehgeschädigten sind auf verschiedene Weise in ihrem Aktionsradius eingeengt. Die Einengung hilft ihnen, vieles gesammelter und intensiver zu erleben. Wir möchten von ihnen erwarten, dass sie uns in dieser Zeit der zu vielen Eindrücke helfen, uns zu konzentrieren, Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden.“42 Das Zusammenleben mit behinderten Menschen sei deshalb bereichernd. Christliche Gemeinde lasse sich nur in dieser gemeinschaftlichen Existenz denken. Mit dem Bad-Saarow-Memorandum sagt Turre: „Eine Gemeinde ohne Behinderte ist eine behinderte Gemeinde.“43 (6) Der Mensch, so hatte ich in der anthropologischen Skizze dargelegt, wird bei Reinhard Turre auch als das zur Ewigkeit bestimmte Wesen betrachtet. Diese endzeitliche Perspektive helfe, mit Blick auf Krankheiten und Behinderungen an die Auflösung des Leidens zu denken. „Die Überwindung des Leids kann […] nur im eschatologischen Horizont erhofft werden.“44 Das heilende Handeln der Kirche hier und heute sei bereits ein „Zeichen für die endgültige Überwindung des Leids am Ende der Zeit. […] ————— 40

Vgl. ebd.: „Nicht nur unsere Arbeit für Kranke und Behinderte, sondern vor allem unser Zusammenleben mit ihnen bewahrt uns davor, unsere Ordnungen und unsere Gesundheit als etwas Selbstverständliches anzusehen.“ Vgl. weiterhin ders., Die Stärke der Schwachen, 48f: „Die Stärke der Schwachen besteht […] darin, daß sie die Gemeinschaft davor bewahren, sich selbst als societas perfecta mißzuverstehen.“ 41 Vgl. Turre, Diakonik, 167: „Schwäche und Leid gehören komplementär mit zu einer Wirklichkeit, die ohne diese möglicherweise gesund, aber eben nicht ganz wäre.“ 42 Turre, Krankheit und Leiden, 181. 43 Turre, Diakonie – gedolmetschte Bibel, in: Diakonische Einsichten, 13. 44 Turre, Diakonik, 49.

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Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

Auf diese endgültige Überwindung des Leids hin wird der Kampf jetzt aufgenommen.“45 Im Licht dieser eschatologischen Vollendung erfahre das diakonische Handeln schon heute die Kraft, bei denen auszuhalten, die ihr Leben lang behindert bleiben. Die Diakonie werde zugleich vor dem falschen Stolz bewahrt, Heilung hinge von ihr ab.46

11.3 Stärken der Schwachen? Kritische Würdigung Reinhard Turres diakonische Einsichten47 resultieren aus einer langjährigen Erfahrung in Einrichtungen der Inneren Mission der DDR und später in der Leitung eines Diakonischen Werkes. Sie sind in einem guten Sinn Praxisreflexionen und Theorie für die Praxis. Gerade in Bezug auf Menschen mit Behinderung geht es Turre darum, die Stärke der Schwachen48 zu fördern. Zum Leben soll befähigt, die Verantwortung gestärkt und Begabungen sollen geweckt werden. Begabungen seien Zeichen der Gnade. „Wer länger in einer Gemeinschaft mit behinderten Menschen gelebt hat, weiß, wie dies auch und gerade für sie gilt. Zu sehr werden sie von außen nur nach ihren Defiziten eingeschätzt und eingestuft. Dabei wird häufig übersehen, mit welchem Potential hier in Wirklichkeit gerechnet werden darf. Die emotionale Offenheit, die geistige Direktheit, die handwerklichen Fähigkeiten, auch musikalische und musische Anlagen sind in der Behindertenpädagogik mit Recht als besonders förderungswürdig angesehen worden. Die vermutlich Schwachen haben ihre erfreulichen Stärken, die entdeckt und gefördert werden können.“49 Die Beispiele ließen sich vermehren. Es steht außer Zweifel, dass mit Turres Diakonik ein integrationsorientierter Ansatz vorliegt, der angesichts desintegrativer gesellschaftlicher Tendenzen auf Annahme und Solidarität setzt. Dieser Würdigung eingedenk möchte ich aber auch an diesen Ansatz eine Reihe von Fragen richten. (1) Meine erste Anfrage gilt dem Ansatz der Diakonik überhaupt. An mehreren Stellen macht Turre deutlich, daß er christliche Seelsorge und Pädagogik in starker Differenz zu humanwissenschaftlichen Konzepten versteht. In Bezug auf die Seelsorgetheorie spricht Turre davon, hier werde „zuweilen der Erweis für besondere Belehrung durch die Psychologie in dem Verzicht auf Normatives, Orientierendes, Direktives erbracht. Dann wird nur patientenorientiert gearbeitet, Empathie betrieben und lediglich ————— 45

Ebd., 51. Vgl. zur eschatologischen Dimension: Turre, Das Recht der Schwachen, 148. 47 So der Titel des Buches, in dem Turre diakonische Reflexionen aus zwei Jahrzehnten gesammelt hat. 48 So der Titel eines Vortrages von 1994. 49 Turre, Die Stärke der Schwachen, 46. 46

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Reinhard Turre

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gespiegelt, was der Patient emotional und verbal zu erkennen gibt.“50 Auch anderorts geht Turre kritisch mit der kirchlichen Seelsorge- und Beratungsarbeit um, der er vorwirft, sie hätte mit ihrem Verzicht auf direktive und orientierende Begleitung Anteil an der Unsicherheit der Ratsuchenden.51 Gegen dieses vermeintlich verkürzte Verständnis setzt Turre ein Konzept, das sich „in der Sorge um den ganzen Menschen herausfordern“ lässt „durch das Verlangen nach Sinn und Orientierung“.52 Es gehe um die Einheit von Glaubenshilfe und Lebenshilfe.53 Dieses starke Plädoyer für Klarheit, Orientierung und Wertvermittlung findet sich in vielen Beiträgen Turres. Es korrespondiert seinem Ansatz, den theologischen Beitrag zur anthropologischen oder pädagogischen Diskussion scharf von humanwissenschaftlichen Zugängen und Perspektiven abzutrennen. Eine systematisch-theologische Diskussion dieses erkennbar kerygmatisch geprägten Konzeptes führt weit in theologische Grundlagenfragen hinein und kann an dieser Stelle nicht geführt werden. Praktisch-theologisch bleibt aber zu fragen, ob die von Turre favorisierte orientierende und normierende Seelsorge nicht zu wenig auf die Lebenssituation der Menschen eingeht. Die Gefahr, die Joachim Scharfenberg im kerygmatischen Ansatz Eduard Thurneysens ausgemacht hat: hier werde Seelsorge „über die konkrete menschliche Not hinweg“54 getrieben, scheint mir auch in Turres Konzept gegeben zu sein. Darüber hinaus reiht sich Reinhard Turre in den Kreis derjenigen Theologinnen ein, die ihr Konzept kaum mit philosophischer Theoriebildung, humanwissenschaftlichen Erkenntnissen oder behindertenpädagogischen Konzepten ins Gespräch bringen. Die ausschließlich binnentheologische Ausrichtung nimmt wenig aus anderen Disziplinen auf. Sie ist darum auch selbst nur begrenzt zu einem Gespräch über die Grenzen der eigenen Disziplin hinaus in der Lage. (2) Die diakonische Praxis hat nach Reinhard Turre ihren Ausgangspunkt in der Herausforderung durch das Leiden. „Weil es Leid in der Welt gibt, ist Diakonie nötig.“55 Die tätige Antwort derer, die sich vom Leiden der Menschen herausfordern lassen, besteht folgerichtig im Mitleid und der Hilfe. „Im Mitleid vollzieht sich der Schritt vom Wahrnehmen des Leids zum Kampf gegen das Leid.“56 Christinnen sind Menschen, die sich durch das wahrgenommene Leid zu einer aktiven und helfenden Teilnahme am Ge————— 50 51 52 53 54 55 56

Turre, Diakonik, 153. Turre, Diakonie – gedolmetschte Bibel, 12. Turre, Diakonik, 153. Turre, Diakonie – gedolmetschte Bibel, 12. Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch, 16. Turre, Diakonik, 34. Ebd., 49.

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Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

schick des Leidenden bewegen lassen. Die zentrale systematische Bedeutung, die damit dem Leid zugewiesen wird, lässt sich in Turres Diakonik durchgängig erkennen. So gilt es in der Anthropologie, die Schwäche und das Leid zu berücksichtigen.57 So besteht für ihn das Ziel seelsorgerlicher Begleitung darin, mit dem Leid umgehen zu lernen, ja die Leidensfähigkeit zu stärken.58 Diese Fokussierung auf das Leiden bringt es mit sich, dass in Turres Diakonik „von Schmerzen, Krankheit, Leiden und Leid nahezu austauschbar gesprochen wird“.59 In dieser Aufzählung wird Behinderung nicht mit genannt. Wie andere Formulierungen deutlich machen, gehören aber „Krankheit, Behinderung und Leid“60 in ein und denselben Zusammenhang. Es entsteht eine Assoziationskette, in der Krankheit und Behinderung mit Schmerzen, Leiden und Schwäche assoziiert werden. Es kann bezweifelt werden, die diakonische Praxis als ganze angemessen zu erfassen, wenn man dies mit dem Stichwort der Herausforderung durch das Leiden tut. Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist es jedoch von besonderem Belang, dass sich die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung nicht durchgängig als leidvolle beschreiben lässt. Wenn ich dies behaupte, leugne ich nicht die besondere Belastungssituation oder den schmerzhaften Auseinandersetzungsprozess vieler Betroffener. Es genügt mir, auf zwei Umstände hinzuweisen. Einerseits empfinden keineswegs alle betroffenen Personen ihre Behinderung als Leid. Schon allein deshalb sollte das Gleichheitszeichen zwischen beiden gestrichen werden. Andererseits legt die Gleichsetzung von Krankheit und Behinderung mit Schmerzen, Leid und Schwäche die betroffenen Personen auf ihr Defizit fest. Selbst wo von den Stärken der Schwachen gesprochen wird, bleibt die Aufteilung zwischen Starken und Schwachen unangetastet. Ich vermute, dass diese Beobachtung nicht ohne pädagogische Konsequenzen ist. Wird eine diakonische Einrichtung der Behindertenhilfe Bewohnerinnen mit nachdrücklichem Engagement darin unterstützen, aus einer stationären Wohnform in eine ambulante zu wechseln, wenn sie in ihnen nur ‚Schwache mit Stärken‘ und ‚Leidende mit Potentialen‘ sieht? Ich vermute, dass das Gleichheitszeichen zwischen Behinderung und Schwäche bzw. Leid die pädagogische Phantasie hemmt, statt sie zu fördern. Es ermöglicht nicht Selbstbestimmung, sondern verfestigt fremdbestimmende Strukturen. Auch Reinhard Turres Diakonik ordnet sich damit in die bereits mehrfach beobachtete defizitorientierte Anthropologie ein. ————— 57 58 59 60

Vgl. ebd., 167. Vgl. ebd., 44. Ebd., 34. Ebd., 187.

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12. Behinderung als „auferlegte Last“ und „Herausforderung zum Kampf“. Karl Hermann Kandlers „Behindertenethik“ Karl Hermann Kandler „Plädoyer für eine Behindertenethik!“; lautet ein markanter Satz in einem bioethischen Beitrag Karl-Hermann Kandlers aus dem Jahre 1996. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen, die durch Peter Singers „Praktische Ethik“ und sein Engagement für die Euthanasie nicht selbstbewusster Menschen entstanden ist, konstatiert Kandler, dass in den ethischen Lehrbüchern reformatorischer Prägung die „besondere Lage von Behinderten […] überhaupt nicht in den Blick“1 komme. Anschließend nennt Kandler Inhalte, die in die Lehrbücher eingehen und dort als Behindertenethik verhandelt werden müssten. „Solange dies nicht geschieht“, schließt er seine Überlegungen, „wird sie nur ein Schattendasein führen“.2 Vier Jahre nach diesem Plädoyer hat Kandler die Lücke, die er hier beklagt, selbst geschlossen und eine „Behindertenethik in christlicher Verantwortung“ publiziert. Auf diesen Entwurf, den Kandler ausdrücklich als Betroffener entwickelt hat, bezieht sich die folgende Darstellung insbesondere. Ich konzentriere mich in meiner Darstellung auf die anthropologischen Aspekte (12.1), die theologische Interpretation von Behinderung (12.2) sowie eine knappe Reflexion seines Entwurfes (12.3).

12.1 Geschaffen, geliebt, erlösungsbedürftig. Anthropologische Grundannahmen Karl-Hermann Kandler versteht seine „Behindertenethik“ als den Versuch einer systematischen Darstellung aus der Perspektive „einer christlichen, genauer einer reformatorischen (evangelisch-lutherischen) Ethik“3. Wie die meisten Theologinnen geht er dabei von der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen aus. „Von Gott her ist der Mensch das, was er ist. Er ist Bild, Ebenbild Gottes.“4 Seine schöpfungsmäßige Bestimmung ————— 1 2 3 4

Kandler, Leben ohne Sinn?, 26. Kandler, ebd., 27. Kandler, Behindertenethik, 10. Ebd., 86.

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bestehe darin, „Gottes Gegenüber und Partner“5 zu sein. Der Mensch sei Kind Gottes und zugleich Krone der Schöpfung.6 Ihm sei die Schöpfung anvertraut. Die Geschöpflichkeit des Menschen konstituiere auch seine Würde. „Allein von Gott, seinem Schöpfer, empfängt jedes Leben […] seine Bestimmung, seine Würde, seinen Sinn“.7 Mit dieser bewusst positionellen Bestimmung der Menschenwürde wendet sich Kandler auch gegen Peter Singers Versuch, das Menschsein an Personmerkmalen festzumachen. Nicht Rationalität mache den Menschen aus. Seine Würde gründe vielmehr in seinem Erwähltsein zum Partner Gottes.8 Die Gottebenbildlichkeit und die Herrschaft Gottes über Leben und Tod begründen auch die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens und finden im Tötungsverbot ihren konsequenten Ausdruck.9 Gegenüber den Versuchen, sowohl über den Lebensanfang (z.B. im Rahmen der Pränataldiagnostik) wie auch über das Lebensende (z.B. im Rahmen aktiver Sterbehilfe) verfügen zu wollen, macht Kandler die unbedingte Schutzwürdigkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens geltend.10 Die Rede von der Geschöpflichkeit des Menschen bedarf allerdings einer wichtigen Ergänzung, um sie nicht einseitig werden zu lassen. Sie bedarf des Hinweises auf die menschliche Gebrochenheit, kurz: auf die Sünde. Im Gegenüberstehen von Schöpfer und Geschöpf zeigt sich nach Kandler auch „das Defizit des Menschen […], zeigt sich die Auflehnung des Menschen gegen seinen Schöpfer, der Abfall von ihm“.11 Deshalb ist neben der Geschöpflichkeit auch von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zu sprechen. In klassischer Weise schließt für Kandler hier die Soteriologie an: Gott hat seinen Sohn Jesus Christus zur Erlösung der Menschen in die Welt gesandt. Christus ist der neue Mensch Gottes, ist die neue Schöpfung. Diese ist in der alten Welt noch Zukunft, wird aber in der Vergebung der Sünden schon Gegenwart: die Neuschöpfung kann im Glauben schon empfangen werden. Kandlers Anthropologie hat somit einen ganz klassischen heilstheologischen Aufbau: Der Mensch ist das Bild Gottes, das zur Gemeinschaft mit ihm bestimmt ist. Aufgrund seiner sündhaften Gebrochenheit ist der Anthropos aber zugleich erlösungsbedürftig. Im Glauben an Jesus Christus kann er allerdings schon heute den neuen Adam anziehen, während die Neuschöpfung als ganze noch Zukunftsmusik ist. ————— 5 6 7 8 9 10 11

Ebd., 85. Ebd. Ebd., 109. Vgl. ebd., 91. Vgl. ebd., 72. Vgl. ebd., 69–83. Ebd., 86.

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12.2 Behinderung: Würde und Last In die Koordinaten dieses klassischen theologischen Menschenbildes zeichnet Kandler auch seine anthropologischen Überlegungen zum Thema Behinderung ein. (1) Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit gelten grundsätzlich für alle Menschen. „Auch Behinderte sind von Gott geschaffen, von ihm gewollt“.12 Deshalb seien Menschen mit und ohne Behinderung vor Gott gleichwertig. Sie sind gleich nahe zu Gott. Ihnen allen komme gleichermaßen Würde zu. 13 (2) Obwohl Kandler an manchen Stellen auch die Behinderung als Teil der guten Schöpfung Gottes betrachtet,14 geht er in anderen Passagen ausdrücklich auf Distanz zu dieser Auffassung. Gegen Ulrich Bach wendet er beispielsweise ein, es sei „kaum […] biblisch begründbar, Krankheit und Tod, also auch Behinderung, als Teil der ‚guten Schöpfung Gottes‘ anzusehen“.15 Diese Beobachtung spiegelt sich in einer analogen Ambivalenz: Kandler bleibt unentschieden, ob er Gott als Schöpfer auch der Behinderung denkt oder diese nicht mit ihm in Verbindung bringt. Den Hinweis, auch der Behinderte sei von Gott geschaffen, verbindet er ausdrücklich mit dem Hinweis auf Ex 4,11 und Am 3,6.16 Mit anderen Worten: der Behinderte ist als Behinderter Gottes Schöpfung. An anderer Stelle wiederum vertritt er die Lesart, daß „die Theologie aller Zeiten sich […] davon scheute, Gott trotz seiner Allmacht als Urheber des Bösen zu bezeichnen“.17 In diesem Verständnis, das die Behinderung „in jedem Falle“ diesem Bösen zuordnet, steht Gottes Schöpfungswerk mit dem Phänomen der Behinderung in keiner Beziehung. (3) Dieser Ambivalenz eingedenk scheint das Schwergewicht von Kandlers theologischer Interpretation dahin zu gehen, Behinderung als Bestandteil der alten, der gefallenen und erlösungsbedürftigen Welt zu betrachten. Damit wird einerseits kein direkter Zusammenhang zwischen individueller ————— 12

Ebd., 85. Vgl. ebd., 88f. 14 So schreibt Kandler bspw. im Zusammenhang des biblischen Befundes: „Doch generell ist Behinderung nicht ausgeschlossen von Gottes guter Schöpfung (Gen. 1,31).“ (Kandler, ebd., 37). Ähnlich auch 85: „Das Wort ‚Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut‘ (Gen. 1,31) gilt nicht nur für die heile Welt, sondern auch für Menschen, die mit Behinderungen leben müssen.“ Vgl. auch 112: „Behinderungen sind keine Panne der Natur, kein Mißgeschick des Schöpfers.“ 15 Ebd., 107. 16 Ex 4,11b: „wer hat den Stummen oder Tauben oder Sehenden oder Blinden gemacht? Habe ich’s nicht getan, der HERR?“; Am 3,6b: „Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der HERR nicht tut?“ Vgl. Kandler, ebd., 85. 17 Ebd., 103. 13

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Behinderung und persönlichem Fehlverhalten hergestellt. Andererseits werden aber Krankheit, Leiden und Behinderung allgemein als Repräsentanten der Erlösungsbedürftigkeit der Schöpfung verstanden. (4) Behinderung ist in diesem Focus eine „von Gott auferlegte Last“.18 Kandlers Deutung ordnet sich damit in ein pädagogisches Behinderungsverständnis ein: sie ist ein von Gott auferlegtes Leiden, das zur Bewährung des Glaubens und der Liebe herausfordert.19 Deshalb hält es Kandler auch für erforderlich, die Warum- durch die Wozu-Frage abzulösen: „Wenn Gott mir diese Behinderung auferlegt, wozu will er mich damit gebrauchen?“20 Die Behinderung könne so auch zu einem Segen für den Betroffenen selbst werden – und zum Segen für andere. Die Behinderung ist als Ort der Glaubensbewährung für Kandler gleichzeitig eine „Herausforderung zum Kampf“. Es gelte, die Last der Behinderung als eigene Lebenswirklichkeit anzunehmen, ja sogar als Chance zu begreifen und die individuellen Gaben zu entwickeln.21 Es gehe darum, die eigene Behinderung zurückzudrängen und zu beherrschen. Gott wolle auch der Herr des behinderten Lebens sein. Deshalb solle die Behinderung auch zu Gott hinführen. „Das Leiden kann, ja soll zu Gott hinführen, sogar zum Lobe Gottes“.22 (5) Karl-Hermann Kandler widerspricht mit dieser Deutung jedwedem Versuch einer Verklärung der Behinderung. Gegen die Auffassung, „alle Menschen seien (irgendwie) behindert“ wendet er ein, wer so rede, müsse sich „von einem Behinderten die Gegenfrage gefallen lassen, ob er bereit sei, mit ihm zu tauschen“.23 Ulrich Bach wirft er vor, Krankheit und Behinderung zu positiv zu bewerten und damit in der Gefahr zu stehen, „Behinderungen zu ideologisieren“.24 Besonders vehement wendet sich Kandler jedoch gegen Jürgen Moltmann, der von Behinderung als einer Gabe des Heiligen Geistes gesprochen hat. Mit dieser ärgerlichen These überschreite Moltmann „das Maß des Erträglichen“ und „Diskutierbaren“.25 Behinderung sei kein Charisma sondern auferlegte Last. Gott wolle kein Leiden. Nur „in der Weise der Negation“ sei „Gott auf das Leiden bezogen“.26 (6) Ist Behinderung ein Signum der gegenwärtigen und gebrochenen Welt, so werde sie demgegenüber im Reich Gottes aufgehoben. „Die alte ————— 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Ebd., 112 [Hervorhebung von mir; U.L.]. Vgl. ebd., 113. Ebd., 111. Vgl. ebd., 110. Ebd., 88. Ebd., 31. Ebd., 106. Ebd., 104. Ebd.

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Schöpfung kennt die Behinderung, die neue nicht.“27 Indem die alte Welt vergeht, werden auch deren Leiden aufgehoben. Im neuen Äon hingegen werde Gott alle Tränen abwischen „und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein“ (Offb 21,4). Deshalb seien Krankheiten und Behinderungen in der Perspektive der Neuschöpfung, d.h. ihrer eschatologischen Aufhebung zu verstehen. Aus diesem Grund gilt es für Kandler, „auch den Behinderten auf seine Vollendung im Reiche Gottes hinzuweisen“.28 (7) Obwohl der neue Äon noch in den Trümmern der alten Welt verborgen ist, könne die Neuschöpfung bereits in der Taufe empfangen werden. In der Vergebung der Sünden werde sie schon jetzt Gegenwart. Im Glauben könne der alte Adam bereits heute gesunden.29 Diese Gegenwärtigkeit der Zukunft im Glauben sei auch für Menschen mit Behinderung die alles entscheidende Frohbotschaft. Das Evangelium gebe daher die Kraft, die eigene Behinderung zu beherrschen. Es gewähre zugleich die begründete Hoffnung, dass das gegenwärtige Leiden in der künftigen Welt Gottes gestillt wird. „Der Behinderte kann […] sich“ deshalb, so Kandler, „getrost in Gottes Hände fallen lassen“.30 Er kann sich im Gebet Gott anvertrauen und die Erfahrung machen, dass Gott ihm zur Seite steht. Die Last der eigenen Behinderung könne so leichter getragen und im Glauben bewährt werden.

12.3 „Gott will den Behinderten, aber nicht seine Behinderung“. Kritische Würdigung „Leben ohne Sinn?“ lautet die Titelfrage des eingangs zitierten Beitrages, in dem Karl-Hermann Kandler sein „Plädoyer für eine Behindertenethik!“ vorbringt. In der Auseinandersetzung mit dem Präferenzutilitarismus Peter Singers entfaltet Kandler in der Durchführung dieser Behindertenethik ein klassisches heilstheologisches Konzept, das von der Geschöpflichkeit, Erlösungsbedürftigkeit und Vollendungsoffenheit des gottebenbildlichen Menschen ausgeht. Dabei legt Kandler auf die ungeteilte und unbedingte Würde aller Menschen nachdrücklich Wert. Vor diesem Hintergrund ist klar: in der Perspektive des christlichen Glaubens gibt es kein Leben ohne Sinn. Kandler hat deshalb mehrfach nachdrücklich vor den Folgen aktueller biomedizinischer Entwicklungen gewarnt und das ihnen zu Grunde liegen————— 27 28 29 30

Ebd., 86. Ebd., 135. Vgl. ebd., 86f. Ebd., 112.

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de Menschenbild kritisiert.31 Ohne Zweifel basieren seine Überlegungen auf einem integrativen anthropologischen Konzept und zielen auf eine gelebte Integration von Menschen mit und ohne Behinderung in Gesellschaft und Kirche.32 Trotzdem scheint mir sein Entwurf Fragen offen zu lassen, von denen ich drei kurz benennen möchte. (1) Karl-Hermann Kandlers Konzept gehört zu denjenigen anthropologischen Entwürfen, die kein wirkliches Gespräch mit philosophischen und sozialwissenschaftlichen Theorien führen. Dadurch ist es nur binnentheologisch plausibel und stellt den Menschenbildern, die in der Biomedizin diskutiert werden, lediglich positionelle Überlegungen entgegen. Wenn Kandler den Herausforderungen der „Praktischen Ethik“ Peter Singers entgegenzutreten versucht, so schwächt er m.E. von vornherein die Überzeugungskraft seiner Argumente, wenn er den christlichen Glauben zur Bedingung für deren Geltung macht. Gerade in den biomedizinischen Ethikdiskursen scheint es mir von erheblicher Bedeutung zu sein, dass ein Konzept seine theologische Plausibilität auch philosophisch und sozialwissenschaftlich einsichtig zu machen versteht. (2) Theologisch bleibt in Kandlers Anthropologie die Frage nach der schöpfungstheologischen Einordnung von Behinderung offen. Wie ich oben deutlich gemacht habe, finden sich bei ihm sowohl Passagen, nach denen „Behinderung nicht ausgeschlossen von Gottes guter Schöpfung“33 ist ebenso wie Abschnitte, in denen sich der Autor dagegen verwahrt, dass Behinderung „als Teil der ‚guten Schöpfung Gottes‘ anzusehen“34 sei. Trotz dieser spürbar bleibenden Unausgeglichenheit scheint sich Kandlers Verständnis am ehesten in seiner These auszudrücken: „Gott will den Behinderten, aber nicht seine Behinderung“.35 Sicher bleibt festzuhalten: Gott ist nicht der Verursacher der Behinderung. Insofern „will“ er sie auch nicht. Damit ist aber die Frage nach dem schöpfungstheologischen Status von Behinderung noch nicht hinreichend geklärt. Gehört Behinderung zur Schöpfungswirklichkeit oder kommt in ihr die Gebrochenheit der alten, der gefallenen Schöpfung zum Ausdruck. Kandler scheint ausdrücklich das Letztere zu behaupten. Damit stellt der Autor einen vermittelten Zusammenhang zwischen Behinderung und Sünde her. Diesen will er zwar nicht individuell verstanden wissen, sondern als Ausdruck der prinzipiellen Gefallenheit und Erlösungsbedürftigkeit der Schöpfung. Auf eine indirekte Art und Weise —————

31 Neben dem Beitrag „Leben ohne Sinn?“ und Abschnitten der „Behindertenethik“ (68–83) verweise ich auf: Kandler, Menschenleben und Menschenwürde – aus christlicher Sicht sowie ders. (Hg.), „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ 32 Vgl. Kandler, Behindertenethik, 115–135. 33 Ebd., 37 34 Ebd., 107. 35 Kandler, Leben ohne Sinn?, 27.

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kommt so aber dennoch der klassische „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ wieder zur Geltung – in einer entindividualisierten und deshalb theologisch generalisierten Form. Allerdings wäre ein entindividualisierter „TunErgehen-Zusammenhang“ noch fraglicher als der ursprüngliche. Mit ihm stellte sich nämlich die Frage, warum besondere Lebenssituationen in besonderer Weise die Gefallenheit der Schöpfung repräsentieren sollten. Ein Mensch stünde in diesem Fall nicht nur vor der Aufgabe, seine individuelle Lebenssituation anzunehmen sondern darüber hinaus vor der Herausforderung, sich als besonderen Repräsentanten der gefallenen Schöpfung zu verstehen. Fraglich ist allerdings, ob diese Zuschreibung theologisch angemessen ist.36 Die Endlichkeit und Fragmentarität des Lebens wird in einer solchen Deutung schnell aus der Schöpfungstheologie in die Hamartiologie verschoben. Nun kann m.E. nicht bestritten werden, dass zahlreiche Geschehnisse, in Folge derer Menschen von einer Krankheit oder Behinderung betroffen sind, mit der Wirklichkeit der gebrochenen und sündhaften Welt in Zusammenhang stehen. Gleichwohl dürfte dies nicht zu verallgemeinern sein. Werden Phänomene wie Krankheit oder Behinderung aber gänzlich der gefallenen Schöpfung zugeordnet, so wird der Schöpfungstheologie eine angemessene Reflexion der Fragmentarität und Endlichkeit des Lebens als Leben unmöglich gemacht. Darüber hinaus ist zu bedenken, welche Auswirkungen sich aus Kandlers These für das Selbstverständnis von Betroffenen ergeben. Die von ihm intendierte seelsorgerliche Ermutigung, der Behinderte könne „sein Leben getrost seinem Schöpfer überlassen und nach der spezifischen Verantwortung suchen, die ihm wahrzunehmen möglich, ja geboten sei“ weil er wisse: „Gott will den Behinderten, aber nicht seine Behinderung“, diese seelsorgerliche Ermutigung scheint mir unter dieser Voraussetzung schwer möglich zu sein. Immerhin wird Betroffenen auf diese Weise nahe gelegt, ein prägender Aspekt ihres eigenen Lebens sei von Gott nicht gewollt. (3) Darüber hinaus steht Kandlers These in Widerspruch zu seiner Deutung von Behinderung als „auferlegter Last“ und „Herausforderung zum Kampf“. Nachvollziehbar ist seine Deutung als Ausdruck und Ergebnis individueller Auseinandersetzung. Sie zeugt von der theologischen Interpretation der eigenen Lebenssituation im Sinne einer geistlichen Herausforderung. Ein solches Verständnis ist legitim, sollte aber nicht verallgemeinert werden. Andere individuell authentische und theologisch reflektierte Deutungsformen sind ebenso sinnvoll und legen sich Betroffenen nahe. So sehr also die Interpretation von Behinderung als „auferlegter Last“ als Möglichkeit subjektiven Verstehens einsichtig ist, so wenig passt —————

36 Diese Anfrage steht auch vor dem Hintergrund des biblischen Diskurses zum Thema „Behinderung“, der den „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ aufhebt, z.B. Joh 9,3f oder 2Kor 12,9.

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sie zur Behauptung Kandlers, Gott wolle den Behinderten aber nicht seine Behinderung. Immerhin spricht er jetzt ausdrücklich vom Willen Gottes: „Wenn Gott mir diese Behinderung auferlegt, wozu will er mich damit gebrauchen?“.37 An dieser Stelle bleibt eine Zweideutigkeit bestehen, die Kandlers „Behindertenethik“ m.E. nicht auflöst: sie bleibt uneindeutig gegenüber der Frage, wie Betroffene ihre Behinderung als Behinderung vor Gott verstehen können.

————— 37

Kandler, Behindertenethik, 111.

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13. Behinderung als „Gestalt des Nichtigen“. Ulrich Eibachs theologische Anthropologie im Kontext der Medizinethik Ulrich Eibach Als im Dezember 1784 Kant in der „Berlinischen Monatsschrift“ die „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ unternommen hatte, konterte Johann Georg Hamann in einem Brief an Christian Jakob Kraus vom 18.12. des gleichen Jahres, es handle sich bei der „Aufklärung unsers Jahrhunderts“ lediglich um „ein kaltes unfruchtbares Mondlicht ohne Aufklärung für den [feigen] faulen Verstand und ohne Wärme für den feigen Willen“.1 „Wahre Aufklärung“, so hält Hamann dagegen, bestehe „in einem Ausgang des unmündigen Menschen aus einer allerhöchst selbst verschuldeten Vormundschaft. […] Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“.2 Hamann setzt gegen das Autonomiepostulat der Aufklärung einen theologischen Kontrapunkt, indem er sich für eine biblische Epistemologie stark macht. Die hierin sichtbar werdende Kontrastierung zwischen einer philosophischen und einer biblischen Heuristik prägt die Diskussion der Aufklärungszeit ebenso wie die der nachfolgenden Jahrhunderte. Auch Ulrich Eibachs Theologie lässt sich innerhalb dieser Kontroverse verorten. In starker Anknüpfung an Johann Christoph Blumhardt und Karl Barth gibt Eibach seiner Theologie eine stark biblische Ausrichtung und grenzt sie zugleich gegenüber den Tendenzen der neuzeitlichen Philosophie ab. Eibachs Arbeitsgebiet ist in besonderer Weise die medizinische Ethik. Seit seiner Dissertation von 19733 hat er sich mit der gesamten Breite bioethischer Themen beschäftigt und hat in zahlreichen Publikationen vor den Folgen einer gesellschaftlichen Entwicklung gewarnt, die sich einseitig an Lebensqualität, Autonomie und einem Zwang zur Gesundheit orientiert. Die langjährige ————— 1

zitiert nach: Bayer, Umstrittene Freiheit, 71. Ebd., 72; vgl. zur Interpretation: ebd., 66–96. 3 Eibach, Tod, Lebensrecht und Lebensgrenzen in medizinischer und theologischer Sicht. Anthropologische Grundlegung einer medizinischen Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethik Karl Barths. Die Arbeit ist im gleichen Jahr unter dem Titel: Recht auf Leben – Recht auf Sterben. Anthropologische Grundlegung einer medizinischen Ethik veröffentlicht worden. Im ursprünglichen Titel wird die prominente Rolle der Theologie Barths deutlich. Die Anthropologie Karl Barths bildet in der Tat die entscheidende theologische Ausrichtung, (129–256 der publizierten Fassung), die auch in späteren Veröffentlichungen erkennbar bleibt. 2

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Arbeit als Krankenhausseelsorger bildet einen wichtigen Erfahrungshintergrund für seine medizinethischen Positionierungen. Im Folgenden werde ich zunächst die theologisch-anthropologische Grundlegung Eibachs in den Blick nehmen (13.1), anschließend die Interpretation von Gesundheit und Krankheit erläutern (13.2) und schließlich sein Verständnis von Behinderung erörtern (13.3). Eine kritische Würdigung steht am Ende meiner Ausführungen (13.4).

13.1 Der Mensch: beseelt und leibhaftig In der Einleitung zu seiner dreibändigen „Theologie in Seelsorge, Beratung und Diakonie“ gesteht Eibach, in seinen Überlegungen überwiege „der deduktiv-theologische Zugang“, jedoch würden „die konkreten Lebenserfahrungen und humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zugleich mitbedacht“.4 Dieses Aufbauprinzip scheint es mir zu rechtfertigen, auch die Darstellung der Anthropologie Eibachs deduktiv anzulegen und step by step auf die spezifischen Einzelfragen auszuweiten. (1) Gegen den Hauptstrom der abendländischen Philosophie- und Theologiegeschichte verzichtet Eibach auf die Bevorzugung eines geistigen Prinzips gegenüber dem leiblichen Pendant. Dem hebräischen Denken, so führt er aus, sei die grundsätzliche „Scheidung von seelischer und leiblicher Wirklichkeit fremd“. Sein Verständnis von Person sei vielmehr das eines „beseelten Leibes“.5 Dies gelte auch für die anthropologischen Begriffe des Neuen Testaments.6 Die These Karl Barths, den Menschen als leib-seelische Ganzheit aufzufassen, sei deshalb „biblischem Denken gemäß“.7 Eibach nähert sich der These von der Leib-Seele-Einheit allerdings nicht nur auf dem Weg über die biblische Anthropologie. In einer für seine Theologie nicht unbedeutenden Akzentsetzung greift er zugleich auf Ganzheitsvorstellungen der psychosomatischen Medizin und der philosophischen Anthropologie zurück. Leben wird in dieser phänomenologischen Hermeneutik als ein Geschehen verstanden, „das sich auf verschiedenen Organisations- und Integrationsstufen abspielt, die zusammen eine Ganzheit bilden“.8 Der komplexe Organismus, der das Individuum konstituiert, stellt dabei ein offenes, mit seiner Umwelt in einer Wechselbeziehung stehendes System dar. „Als derart offenes System ist der Organismus (Körper) Leib. Der Leib ist das Ausdrucksfeld des Subjekts und das Eintrittsfeld seiner ————— 4 5 6 7 8

Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 8. Ebd., 68. Ebd. Eibach, Experimentierfeld: werdendes Leben, 33. Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 27.

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Ulrich Eibach

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Mit- und Umwelt, er ist konstitutives Medium der Kommunikation des Subjekts und Feld der ‚Autoorganisation des Geistigen‘“.9 Insofern gilt: der Mensch hat nicht nur einen Leib, sondern ist Leib. Der Leib kann insofern als Darstellung der Seele begriffen werden, während umgekehrt auch die Seele als Darstellung des Leibes verstanden werden kann. Leib und Seele vertreten einander.10 Sie bilden eine Ganzheit in Wechselbeziehung. Zwar könne der Mensch in seinem Bewusstsein auch Distanz zu seiner Leiblichkeit aufbauen. Das Ich wisse sich auch von seinem Körper unterschieden. Diese Erfahrung erschließe sich dem Subjekt beispielsweise dann, wenn es Schmerzen hat. Sie mache aber zugleich auch deutlich, dass der Mensch nicht aus seinem Leib weglaufen könne.11 (2) Aus den Konturen dieser Ganzheits-Anthropologie lassen sich Linien zu vielen weiteren Aspekten ziehen. Eine Konsequenz dürfte bereits deutlich sein: Eibach begreift den Menschen als ein relationales Wesen. „Leben ist ein Geschehen, das sich in Beziehungen vollzieht.“12 Das menschliche Leben insbesondere vollzieht sich in der vierfachen Beziehung zu Gott, zum Mitmenschen, zur Natur und zu sich selbst.13 Transzendentalität, Sozialität, Oikonomie und Subjektivität bilden insofern den Kern der conditio humana. Von herausragender Bedeutung ist dabei das Gottesverhältnis. Es stellt nach Eibach „das das Leben und die Ganzheit des Lebens konstituierende Seinsverhältnis“14 dar. Im Hintergrund steht auch hier die These von der leib-seelischen Ganzheit. Das biblische Denken versteht die Seele als eine Lebenspotenz, d.h. als eine die Lebendigkeit des Lebens schaffende und erhaltende Kraft, die von Gott ausgeht.15 Der Mensch lebt deshalb nicht aus sich selbst. Das Lebenszentrum des Menschen liegt damit außerhalb seines Leibes. „Leben ist von allem Anfang an auf die Gabe des lebendig machenden Geistes Gottes angewiesen. Ohne diese Gabe zerfällt das Leben als Ganzheit, tritt der Tod ein.“16 Der Mensch ist deshalb auf unhintergehbare Weise Geschöpf. (3) Die conditio humana besteht somit theologisch in einer grundsätzlichen und unhintergehbaren Passivität. Weder Selbstbestimmung noch Selbstbewusstsein sind für das Dasein des Menschen konstitutiv. So wie er durch einen Akt des Schöpfers sein Leben empfängt, so ist er auch „im ————— 9

Ebd. Vgl. ebd., 35. 11 Vgl. ebd., 69f. 12 Ebd., 69. 13 Vgl. ebd., 70; in dieser Aufzählung fehlt zwar die Nennung des Selbstbezuges; diese ist aber in Eibachs vorherigen Ausführungen bereits genannt worden. 14 Ebd., 70f. 15 Vgl. Eibach, Experimentierfeld: werdendes Leben, 33. 16 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 71. 10

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Verhältnis zu den irdischen Vermittlungsgestalten göttlichen Handelns“17 auf die anderen angewiesen. Das bedeutet: „der Mensch [ist] ein grundlegend abhängiges Wesen“.18 Er lebt sein Leben in Beziehungen, lebt von dem, was andere ihm geben, lebt nicht aus sich selber. „Das ‚Ich‘ ist eine abgeleitete Größe.“19 Es verdankt sich dem „Du“. Die Asymmetrie dieses Angewiesenseins begründet für Eibach eine Haltung des „Für-Seins“ anderer für mich und meines „Für-Seins“ für andere. Zwar könne im idealen Fall auch ein Verhältnis der Gegenseitigkeit und eine Symmetrie des „Für-einander-Daseins“ entstehen. Aber diese Gleichgewichtigkeit des Gebens und Nehmens sei selten. Vor allem aber: selbst diese Symmetrie gründe in der Asymmetrie des Angewiesenseins. Das „Sein-in-Beziehungen“ habe ontologisch Vorrang vor dem Selbstsein. Der autonome Mensch sei deshalb eine Schimäre. Das Angewiesensein auf den anderen sei kein Daseinsmodus, „von dem der Mensch zur autonomen Selbstbestimmung zu befreien ist“ und „den er als ‚Stadium der Unmündigkeit‘ hinter sich lassen kann und soll“.20 Aus einer Ontologie der Beziehungen entwickelt Eibach gegen das neuzeitliche Selbstbestimmungsparadigma ein Paradigma der Fürsorge. (4) Eine weitere Konsequenz aus dem anthropologischen Beziehungsverhältnis zwischen Leib und Seele ist für Eibach die teleologische Ausrichtung des Menschseins. Zur Offenheit des leibvermittelten Interaktionsverhältnisses zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt gehört auch die Unabschließbarkeit der Sinnfrage unter den Bedingungen der vorfindlichen Wirklichkeit. „Der Mensch entwirft sein Leben auf ein Ziel hin, das seinem biologischen Leben an sich nicht immanent ist, sondern diesem erst Sinn, Richtung und Wert gibt.“21 Das Leben des Menschen ist also auf Sinnverwirklichung angewiesen; es ist teleologisch strukturiert.22 Da dieser Sinnkosmos dem biologischen Leben nicht innewohnt, ist das menschliche Leben auf einen transzendenten Sinn angewiesen. Ihm ist aufgegeben, in Freiheit denjenigen Lebenssinn zu verwirklichen, der seiner Bestimmung entspricht. Das Ziel des menschlichen Lebens besteht daher in nichts anderem als in der Verwirklichung seiner Bestimmung zum Geschöpf und Bündnispartner Gottes. In Anknüpfung an Karl Barths Zuordnung von Schöpfung und Bund23 schreibt Eibach: „Die Bestimmung des Menschen ————— 17

Eibach, Lebensqualität schwerstbehinderter Menschen, 367. Ebd. [Ergänzung von mir; U.L.]. 19 Eibach, Menschenwürde an den Grenzen des Lebens, 29. 20 Ebd., 30. 21 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 28. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. Barths These, dass „die Schöpfung als äußerer Grund des Bundes“ und der „Bund als innerer Grund der Schöpfung“ zu verstehen sind (Kirchliche Dogmatik, Bd. III/1, 103. 258). 18

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zum Bundespartner hat ontologische Priorität vor seiner Erschaffung, weil diese Bestimmung die Schöpfung erst ermöglicht und ihr ein Ziel, ein ‚Wozu‘ gibt.“24 (5) Das Handeln Gottes, der in Schöpfung und Bund das menschliche Leben sowohl grundlegend wie auch zielgebend bestimmt, konstituiert darin auch dessen Personalität. Person ist der Mensch nicht aufgrund empirisch feststellbarer Eigenschaften. Personalität ist vielmehr eine transzendente Größe. „Der Mensch ist Person durch das, was Gott an ihm und für ihn tut, dadurch daß Gott in besonderer Weise zu ihm in Beziehung tritt und seinem Leben eine ewige Verheißung gibt.“25 Gerade in dieser grundlegenden Hinsicht ist der Mensch passiv konstituiert: Nicht aufgrund seiner Leistungen, vorfindlicher Eigenschaften oder anderer Qualitäten darf sich der Mensch als Person verstehen. Vielmehr ist er in dieser Beziehung ganz ein Empfangender.26 Gleiches gilt für die Gottebenbildlichkeit und die Würde des Menschen. Auch sie sind transzendente Größen, für die sich niemand selbst qualifizieren kann, sondern die jeder und jedem von außen zugesprochen und zugeeignet werden. Würde ist ein Geschenk; sie ist eine Gnade.27 „Nach christlicher Auffassung gründet die Gottebenbildlichkeit und damit die Würde des Menschen […] nicht in seinen aufweisbaren Qualitäten und Leistungen, auch nicht darin, daß er über dem Tier steht, sondern darin, daß er in besonderer Weise unter Gott steht, daß Gott ihn zu seinem Partner erwählt und geschaffen, mit einer besonderen irdischen Bestimmung ausgezeichnet und zu ewiger Gemeinschaft mit sich bestimmt hat.“28 Würde und Gottebenbildlichkeit des Menschen werden als identisch gedacht: seine Würde ist seine Gottebenbildlichkeit.29 Gerade weil niemand seine Würde selbst hervorbringt, kann sie auch niemand verlieren. Die Passivität ihres Zustandeskommens begründet ihre Unverlierbarkeit. Seine Würde ist dem Menschen vorgegeben. Er hat sie bei sich und anderen anzuerkennen. Das Recht, jemandem die Würde abzusprechen, hat niemand. Deshalb kann es in christlicher Perspektive kein „lebensunwertes“ Leben geben. Vielmehr gilt: „Wer von Menschen geboren ist, hat unverlierbar Teil an der besonderen Bestimmung und Würde des Menschenlebens, ist und bleibt in seinem irdischen leiblichen Leben bis zu dessen Tod Mensch und Person.“30 ————— 24 25 26 27 28 29 30

Eibach, Experimentierfeld: werdendes Leben, 41. Eibach, Genomanalyse, 128. Vgl. Eibach, Von der Unmöglichkeit, die Würde zu verlieren, 211. Vgl. Eibach, Experimentierfeld: werdendes Leben, 40. Eibach, Ökonomische Grenzen des Gesundheitswesens, 210f. Vgl. Eibach, Experimentierfeld: werdendes Leben, 40. Eibach, Ökonomische Grenzen des Gesundheitswesens, 211.

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(6) Bislang ist von der Bestimmung des Menschen die Rede gewesen. Sein und Sollen liegen aber in der Erfahrung weit auseinander. Eibach unternimmt es deshalb, seine anthropologischen Reflexionen weiter zu differenzieren. Die conditio humana muss mit der Wirklichkeit des Menschseins zusammengedacht werden. Deshalb ist von der Sünde, der Gebrochenheit, der Erlösung und der Vollendung des Menschen zu sprechen. Die anthropologische Relationalität legt es nahe, auch den Sündenbegriff beziehungsorientiert auszulegen. Sünde ist nach Eibach Beziehungsstörung, ja Beziehungsabbruch. Sünder ist der Mensch, „der nicht mehr aus der Beziehung zu Gott, sondern aus sich selbst leben will. In dem Maße, in dem der Mensch sich von Gott lossagt, werden seine Lebensbeziehungen gestört, existiert er nicht mehr als Ganzheit.“31 Den Widerspruch zwischen der Bestimmung des Menschen und seiner realen unversöhnten und zerrissenen Existenz versucht Eibach mit der Unterscheidung des wahren und des wirklichen Menschen zum Ausdruck zu bringen. Der vorfindliche Anthropos ist zwar der wirkliche, aber nicht der wahre Mensch. Deshalb ist er auf die Vergebung, Erlösung und Vollendung angewiesen.32 Im Kreuzestod Jesu Christi und seiner anschließenden Auferweckung wird diese Versöhnung Realität: Der Mensch kann sie im Glauben empfangen und annehmen. Innerhalb des wirklichen erscheint das wahre Menschsein. Unter den Bedingungen der irdischen Existenz bleibt es allerdings bei der Spannung des „schon“ und „noch nicht“. Erst die endgültige Vollendung im Reich Gottes werde dieses Zugleich auflösen und die Fragmentarität aufheben. Diese heilsgeschichtliche Differenzierung hat bei Eibach auch Auswirkungen auf die anthropologischen Kategorien. Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde werden deshalb von ihm sowohl christologisch, soteriologisch als auch eschatologisch präzisiert. „Die Gottebenbildlichkeit beruht also in der Teilhabe des Menschen an Gottes Leben, die ganz in dem schöpferischen, vergebenden und erlösenden Handeln Gottes begründet ist.“33 Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit sind deshalb christologisch zu präzisieren. Denn: Christus ist das wahre Ebenbild Gottes. Durch seine Auferweckung erhalten die wirklichen Menschen schon jetzt die Würde, die in der Gottebenbildlichkeit besteht. Diese im Lichte des Auferstehungsglaubens bestehende Teilhabe ist zugleich auf ihre künftige Vollendung hin geöffnet. Die „Vollendung der Gottebenbildlichkeit“34 ist deshalb dem ausstehenden Reich Gottes vorbehalten. Sie ist noch nicht innerhalb dieser Weltzeit, sondern erst in Gottes Ewigkeit erreichbar. ————— 31 32 33 34

Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 75. Vgl. Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 156. Ebd., 157. Eibach, „Sterbehilfe“ und „Lebenswert“-Diskussion, 402.

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13.2 Anthropologische Notizen zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit Vor dem Hintergrund der eben skizzierten Anthropologie Eibachs können nun auch die Phänomene Gesundheit und Krankheit, Leiden und Behinderung verstanden werden. (1) Schon in frühen Veröffentlichungen macht Eibach deutlich, dass Gesundheit ein „Gegenstand anthropologischer Überlegungen“35 ist. Ihr Verständnis ergibt sich aus der Erörterung des Menschen als eines offenen, mit seiner Umwelt interagierenden Systems. Gesundheit wäre in dieser Perspektive als „dasjenige Geschehen“ zu bestimmen, „in dem eine sinnvolle, geordnete Einheit der Teile zum Lebensganzen einschließlich der Beziehungen zur Mit- und Umwelt gegeben ist, mithin das Geschehen, in die Regulation im Organismus und des Organismus zur Mit- und Umwelt geordnet und so eine Harmonie aller Lebensverhältnisse möglich ist.“36 Eibachs Gesundheitsverständnis erweist sich mit dieser Bestimmung als relational. Es geht davon aus, dass die Integration des Lebens auf unterschiedlichen Stufen erfolgt, auf denen jeweils eine Balance gefunden werden muss: Zwischen den Organen im Organismus, zwischen Leib und Seele sowie zwischen Subjekt und Umwelt. Gesundheit wäre dann diejenige Integrationsform des Lebens, die Störungen erfolgreich abwehrt und die Balance der verschiedenen Elemente herstellt.37 Im Hintergrund steht ein Lebensbegriff, der Wohlbefinden und Missbefinden gleichermaßen umfasst. Leben vollziehe sich grundsätzlich zwischen den Polen Glück und Leid.38 Die Leidensfähigkeit dürfe nicht aus dem Gesundheitsbegriff ausgeschlossen werden. „Zur Gesundheit gehört“ mithin auch, „daß der Mensch sein Leben […] mit seinen Tiefen und Unwägbarkeiten zu erleiden vermag“.39 Nicht die Abwesenheit von Beeinträchtigungen mache den gesunden Menschen aus, „sondern die Fähigkeit und Kraft der Person, solche Störungen anzugehen, abzuwehren oder mit ihnen so zu leben, daß der Mensch dadurch nicht daran gehindert wird, Sinn im Leben zu erfahren und sein Menschsein zu verwirklichen“.40 In dieser —————

35 Eibach, Zur Bedeutung ethischer Normen in der medizinischen Ethik, 585. Vgl. auch den Untertitel des ursprünglich 1977 erschienenen Beitrages „Gesundheit und Krankheit: Anthropologische und ethische Überlegungen zur Definition der Begriffe und zum Sinn von Gesundheit und Krankheit“, jetzt in: Heilung für den ganzen Menschen?, 19–49. 36 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 25. 37 Vgl. Eibach, Gesundheit und Krankheit, 214. 38 Vgl. Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 40. 39 Eibach, Genomanalyse, 134. 40 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 40f; vgl. auch ders., Art. Gesundheit, 120: „Gesundheit ist also nicht der Zustand […] des Freiseins von allen Störungen des Lebens. Denn dann müßten alle Formen des Mißempfindens als pathologisch eingestuft werden. […] Vielmehr ist unter Gesundheit auch die Fähigkeit zu verstehen, mit Einschränkungen der Lebenskraft zu

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letzten Formulierung klingt auch das teleologische Moment an, das Eibach seiner Anthropologie eingeschrieben hat: Menschsein ist angewiesen auf Sinnstrukturen; es ist angelegt auf die Realisierung seiner Bestimmung als Geschöpf in Beziehungen. Gesundheit hat an dieser teleologischen Struktur teil, insofern sie eine Möglichkeitsbedingung dafür darstellt, den eigenen Lebenssinn realisieren zu können. Eibach bestimmt sie deshalb als „Kraft und Voraussetzung zur Verwirklichung der dem Menschen aufgegebenen Lebensbestimmung“.41 Fasst man Gesundheit als die Fähigkeit auf, mit Einschränkungen zu leben, so macht dies einen Perspektivenwechsel nötig. Menschen beispielsweise, die mit einer chronischen Krankheit zu leben gelernt haben, müssten nach Eibachs Definition keineswegs als krank gelten. Als gesund wäre – allgemeiner gesagt – derjenige zu bezeichnen, „dem es gelingt, eine vielleicht unabänderliche Störung körperlichen, psychischen oder sozialen Wohlbefindens so in sein Leben zu integrieren, daß er mit ihr leben kann und […] nicht sein Selbstwertgefühl verliert und so als Person gesund bleibt“.42 Dieser Blickwechsel wirkt sich beispielsweise auch darauf aus, Behinderungen nicht länger als Krankheiten aufzufassen. Allerdings bleibt auf der anderen Seite auch festzuhalten, dass ein so bestimmter Gesundheitsbegriff relativ unscharf ist und sich kaum als präzises Kriterium eignet, um den Zugang zu den medizinischen Leistungen des Gesundheitswesens zu konditionieren. (2) Mit seinem ganzheitlichen und systemischen Gesundheitsverständnis setzt Eibach einen bewussten Kontrapunkt zu verschiedenen säkularen Konzepten. Besonders die Definition der Weltgesundheitsorganisation, die Gesundheit als „Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“43 beschrieben hat, unterzieht er einer ausführlichen Kritik. Dagegen macht er geltend, dass hier eine Maximalgröße von Gesundheit mit utopischem Charakter eingeführt werde, die jede Beeinträchtigung des Wohlbefindens als pathologische Erscheinung betrachte. Weil die WHO das Leiden nicht als ein dem Glück komplementäres und zum gesunden Leben notwendig zugehöriges Phänomen begreife, gehe sie von einer zweifelhaften anthropologischen Vorentscheidung aus.44 Dieses halbierte Verständnis des Menschseins, das sich einseitig an Glück, Vitalität, Jugendlichkeit und Genussfähigkeit orientiert und Krank————— leben (z.B. Altern).“ Eibachs Definition schließt an Karl Barths Bestimmung der Gesundheit als „Kraft zum Menschsein“ (KD III/4, 406) an (Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 28). 41 Ebd., 28. 42 Ebd., 48. 43 zitiert nach: Eibach, ebd., 20. 44 Vgl. Eibachs Auseinandersetzung mit der WHO-Definition in: Heilung für den ganzen Menschen?, 20–25; ders., Art.: Krankheit, TRE, 702; ders., Gesundheit und Krankheit, 213–215.

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heit, Behinderung, Leiden und Tod abblendet, sieht Eibach als Grundsignatur des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustandes an. Deshalb widerspricht sein ganzheitliches Paradigma auch jeglichem „Zwang zur Gesundheit“ und ihrer Verabsolutierung zu einem letzten und höchsten Wert. Die einseitige Gesundheitsglorifizierung, so macht Eibach deutlich, kann im Grenzfall auch zur Infragestellung des Lebensrechtes für unheilbar kranke oder schwerstbehinderte Menschen führen.45 Deshalb gehöre zu einem realistischen und theologisch verantwortlichen Gesundheitsverständnis nicht nur die Bewältigung von Leidenssituationen, sondern auch ein eschatologischer Vorbehalt: Gesundheit sei etwas Vorletztes, nicht das Letzte.46 (3) Analog dem Gesundheitsbegriff muss auch das Krankheitsverständnis relational bestimmt werden. So wie Gesundheit in der gelungenen Integration der Lebensfunktionen zu einer planvollen Ganzheit besteht, so lasse sich Krankheit als deren Misslingen verstehen. Sie sei „eine Störung der harmonischen Regulation der Lebensvorgänge im Körper oder der Beziehungen zur Mit- und Umwelt“.47 Krankheit sei eine Disharmonie. Sie sei die „Störung von Beziehungen, die Leben ausmachen“.48 Das Subjekt selbst erlebe die Krankheit als eine Entfremdung zwischen sich und seinem Körper. Die Verfügungsmöglichkeiten über den eigenen Körper werden als eingeschränkt erfahren. Behinderungen der normalen Lebensvollzüge werden bewusst. Das Subjekt könne sich selbst nicht mehr ungehindert in seinem Leib verwirklichen.49 Krankheit sei somit die Erfahrung einer Nichtidentität. Das Maß, in dem solche Störungen das Subjekt beeinträchtigen, sei individuell verschieden. Die Schwere der Erkrankung sei dafür ebenso bedeutsam wie die Ich-Stärke, persönliche und gesellschaftliche Wertvorstellungen oder soziale Hilfsangebote. Je mehr jedoch eine Krankheit den Menschen in seiner Ganzheit treffe, desto mehr bedrohe sie auch seine Identität. „Krankheit trifft das Ich […] in seinem Selbstwertgefühl, sie führt zu einer ‚Kränkung‘ des Ichs“.50 Mit diesen vielfältigen Einschränkungen und Bedrohungen hemme die Krankheit auch die Möglichkeiten des Subjekts, seiner Bestimmung gemäß leben zu können. Sie wirke der Teleologie des Lebens entgegen. Durch sie werde „der Mensch in der Verwirklichung ————— 45

Vgl. Eibachs Auseinandersetzung mit dem „Zwang zur Gesundheit“ in: Gesundheit und Krankheit, 221f; ders., Ökonomische Grenzen, 226–228; ders., Der Mensch als Schöpfer von Leben, 299–303; ders., Streit um Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit. 46 Vgl. Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 120. 47 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 28. 48 Ebd., 27. 49 Vgl. ebd., 30. 50 Ebd., 33.

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seines Lebenssinns sichtlich beeinträchtigt oder gehindert“.51 Gleichwohl gehöre Krankheit zum Leben. Sie sei Teil des Lebens selbst, Ausdruck seiner Endlichkeit und Begrenztheit.52 (4) Allerdings kann nach Eibach nicht jede Krankheit in diesem Sinn interpretiert werden. Die Endlichkeit des Daseins sei vielmehr als ambivalent zu verstehen. Die essenzielle Begrenztheit und Sterblichkeit des Menschen sei zugleich das potenzielle Einfallstor für die Mächte des Bösen und Nichtigen.53 Deshalb stehe neben dem notwendigen Leiden, das Ausdruck des endlichen Lebens ist, das sinnlose Leiden, für das es keine Sinnerklärung gibt.54 Angesichts von Krankheiten, an denen Menschen seelisch zerbrechen, setze sich „die Behauptung, daß auch solchen Krankheiten ein Sinn innewohnen müsse“ dem „Verdacht einer zweifelhaften ‚Pathodizee‘“55 aus. Jesus habe demgegenüber niemals vom Sinn einer Krankheit gesprochen, sondern sie vielmehr als Ausdruck widergöttlicher Macht bekämpft.56 Deshalb müsse auch theologisch die Sinnfrage angesichts schwerer Krankheit abgewehrt werden. „Der letzte Sinn, den die Krankheit in sich selbst trägt, kann daher nur ihre Überwindung sein.“57 Diese nicht bruchlos an die andere, ganzheitliche Deutung anschließbare Krankheitsinterpretation bedarf einiger Erläuterungen. Eibach geht zunächst von einer biblischen Vergewisserung aus: „Im Neuen Testament werden Krankheiten als Vorboten des Todes und Ausdruck einer lebenszerstörenden gottfeindlichen Macht und nicht als von Gott verursachtes Geschick betrachtet.“58 Insofern dürfen Krankheiten auch nicht unmittelbar auf Gott zurückgeführt werden. Sie sind vielmehr ein „Fluch über dem Leben“.59 Vom Menschen werden sie als Infragestellung seiner Gottesbeziehung erfahren.60 Eine Gleichung zwischen Tun und Ergehen könne gleichwohl ————— 51

Ebd., 29. Vgl. ebd., 29; ders., Gesundheit und Krankheit, 220. 53 Vgl. Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 129; vgl. auch ders., Glaube, Krankenheilung und Heil, 310: „Krankheiten sind nicht nur Zeichen der Unvollendetheit und Vergänglichkeit der Welt, sondern auch dessen, dass die Welt, die Natur, so wie wir sie vorfinden, nicht mit der guten Schöpfung Gottes identisch ist, dass in dieser Welt vielmehr auch ‚Mächte‘ wirksam sind, die Gottes Willen eindeutig widersprechen, die sein Werk zerstören.“ 54 Eibach bezieht sich auf Barths Unterscheidung „zwischen der ‚Nachtseite‘ der Schöpfung, also der Gottes Werk zerstörenden Chaosmacht des ‚Nichtigen‘, einerseits und andererseits ihrer ‚Schattenseite‘, den Leiden als Ausdruck der Endlichkeit und Unvollendetheit der Schöpfung, zu der er z.B. die Abnahme der Lebenskräfte, das Altern und die Sterblichkeit an sich rechnet“ (ders., Glaube, Krankenheilung und Heil, 311). 55 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 43. 56 Vgl. Eibach, Gesundheit und Krankheit, 217. 57 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 43. 58 Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 115. 59 Ebd., 127. 60 Vgl. Eibach, Gesundheit und Krankheit, 216. 52

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nicht hergestellt werden. Vielmehr habe Jesus einen solchen Interpretationszusammenhang ausdrücklich abgelehnt. Trotzdem zeige seine Heilungspraxis, dass es dabei um einen Kampf gehe, einen Kampf zwischen der göttlichen und der widergöttlichen Macht. (5) Krankheiten gehören zum Dasein. Sie entspringen keiner unmittelbaren Fügung Gottes. Sie sind allerdings oft auch nicht auf das moralische Versagen des Menschen zurückzuführen. Worin aber haben Krankheiten dann ihre Ursache? Eibach greift zur Beantwortung dieser Frage auf Karl Barths Lehre vom Nichtigen zurück. Barth hatte in der „Kirchlichen Dogmatik“ dieses „dem Willen des Schöpfers […] feindselig entgegengesetzte Nichtige“61 als eine Macht beschrieben, die „weder als Tun des Schöpfers, noch als Lebensakt des Geschöpfes zu erklären“ sei und die deshalb als das „dritte Wirkende“62 angesehen werden müsse. Barth führt Krankheiten auf diese „die Schöpfung bedrohende(n) Chaosmacht“63 zurück. Eibach knüpft an diese Deutung an, wenn er am Wesen der Krankheit dieses zerstörerische Moment, das Nichtigende und die Todesnähe hervorhebt. Nicht auf Gott und nicht auf den Menschen gehen Krankheiten demnach ursächlich zurück, sondern auf das Wirken einer lebens- und gottesfeindlichen Macht. Deshalb sei mit der Krankheit nicht Frieden zu machen. Sie habe weder Sinn noch Existenzberechtigung. Gott kämpfe gegen sie. „Wenn Krankheit theologisch gesehen ebenso wie die Sünde zu jenen Gestalten des ‚Nichtigen‘ gehört, die Gott verneint, die Jesus bekämpft und denen Gott den ‚Tod‘ angesagt hat, dann kann der Krankheit nicht an sich ein positiver und heilsamer Sinn zugebilligt werden, denn sie hat theologisch gesehen kein Recht in Gottes Schöpfung“.64 Weil Gott selbst der Krankheit den Kampf angesagt habe, deshalb habe auch der menschliche Kampf gegen die Krankheit seine Berechtigung.65 Nicht vorzeitige Annahme der Krankheit könne deshalb das Ziel seelsorgerlicher Begleitung sein. Vielmehr plädiert Eibach dafür, der Krankheit so lange Widerstand zu leisten, wie dies sinnvoll ist. „Der Wille zur Gesundheit hat im Widerspruch Gottes gegen die Mächte des ‚Nichtigen‘ und Bösen seinen Rechtsgrund; er soll nicht in den Willen zum Tode umgebogen werden.“66 Allerdings dürfe der medizinische und persönliche Kampf nicht endlos sein. Dann nämlich, wenn die Krankheit unabänderlich zum ————— 61

Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III/3, 327. Ebd., 330. 63 Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III/4, 417. 64 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 44. 65 Vgl. Eibach, Glaube, Krankenheilung und Heil, 310: „Gegenüber diesen ‚Chaosmächten‘ ist [...] immer ‚Widerstand bis aufs Letzte‘ geboten.“ 66 Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 137. 62

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Tod führe, sei es sinnvoll, den Kampf einzustellen und die Krankheit bzw. das Sterben anzunehmen.67 (6) Angesichts des Kampfes Gottes gegen die nichtigende Macht der Krankheit gibt Eibach konsequenterweise auch dem Phänomen der Heilung eine wichtige Rolle. Diese prominente Bedeutung komme ihr deshalb zu, weil Jesus in seiner Heilungspraxis gegen die Todesmacht der Krankheiten gekämpft hat. Deshalb sieht Eibach in der individuellen Heilung „den zeichenhaften Durchbruch und Vorschein des Reiches Gottes in diesem Leben“.68 Mehr noch: Heilungen seien Antizipationen der Auferweckungsmacht Gottes. In ihnen werde der Sieg über den Tod zeichenhaft vorweggenommen, den Gott in der Auferweckung Jesu bereits grundsätzlich errungen hat.69 Gegen die neuzeitliche Eingrenzung von Heilungen auf die medizinische Therapie macht sich Eibach für ein umfassendes theologisches Heilungsverständnis stark. Gegen das Kausalitätsdogma macht er geltend: „Gott muß […] die Macht haben, in diese Welt hinein kontingent zu handeln.“70 Das Handeln Gottes kann nicht mit dem kausalgesetzlichen Naturgeschehen identifiziert werden. Vielmehr seien auch die Naturgesetze Geschöpfe Gottes und deshalb offen für ihr aktuelles Bestimmtwerden durch Gottes Geist. Gott steht den Naturgesetzen „frei ‚gegenüber‘, kann sich ihrer bedienen und bedient sich ihrer“.71 Es sei also auch heute noch mit Heilungen zu rechnen. Im Gebet bitte der kranke Mensch deshalb konkret um individuelle Heilung. Es ist ein Wortwechsel von Person zu Person, in dem der Kranke „Gott zum Kampf gegen das konkrete Böse aufruft, ihn in seinem Kampf bestärkt und ‚anfeuert‘“.72 Für den Beter selbst sei es dabei sekundär, ob Gott diesen Kampf unter Beachtung oder Durchbrechung des kausal bestimmten Naturgeschehens führe, ob also eine medizinische oder eine unerklärliche, wundersame Heilung geschieht. Gottes Handeln könne nicht auf die medizinischen Handlungsmöglichkeiten beschränkt werden.73 ————— 67

Vgl. ebd., 137f. Ebd., 115; vgl. Eibach, Glaube, Krankenheilung und Heil, 311: „Jede Heilung des Leibes und der Seele soll als zeichenhafter Vorschein des Reiches Gottes angestrebt und dankbar empfangen werden.“ 69 Vgl. ebd., 135. 70 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 105. 71 Ebd., 137; vgl. ders., Glaube, Krankenheilung und Heil, 313: „Wenn Gottes Geist die sichtbare materielle Welt als geistige Wirklichkeit durchdringt, so kann es ihm nicht weniger möglich sein, die von Gott geschaffenen Naturgesetze und die von ihnen gelenkte materielle Welt verändernd zu bestimmen. […] Wie und auf welche Weise dies geschieht, bleibt […] ungeklärt […]. Dabei sollte man auch bedenken, dass viele heilende Wirkungen in der Medizin nur auf statistischen Erfahrungswerten beruhen und durchaus nicht kausal erklärbar sind.“ 72 Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 116. 73 Vgl. ebd., 116f. 68

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Eibach sieht seine Betonung heutiger Heilungspraxis im Heilungsauftrag Jesu begründet: Den Jüngern sei Vollmacht gegeben, Krankheiten zu heilen und böse Geister auszutreiben (Mt 10,8). Weil Gott seine Verheißungen auch heute noch Wirklichkeit werden lassen kann und weil er in der Art seines Wirkens nicht festzulegen sei, deshalb will Eibach auch der „Bitte um Heilung der Kranken ihren festen Platz“74 im kirchgemeindlichen Leben zurückgeben. Allerdings ist sich Eibach auch der Tatsache bewusst, dass Heilung nicht immer Wirklichkeit wird. Theologisch reflektiert er diese Erfahrung in der Unterscheidung von Heil und Heilung. „Die Gesundheit des irdischen Lebens ist nicht das ‚Letzte‘, aber sie ist als ‚Vorletztes‘ doch auf das ‚Letzte‘ hingeordnet“.75 Weil die Heilung nur das Vorletzte sei, dürfe sie nicht mit dem letzten Wort Gottes, dem Heil, identifiziert werden. Dieses Heil könne auch ein Mensch erfahren, der nicht geheilt wird. Der Glaube trage und ertrage die Spannung zwischen dem gegenwärtigen Unheil und dem verheißenen Heil. „Er erweist seine Kraft in erster Linie daran, daß er diese Spannung aushält, ohne an ihr zu verzweifeln. Dies ist nur möglich, wenn Gottes Nähe und Güte im Glauben trotz Krankheit und Leid und unabhängig von dem möglichen Sinn oder Widersinn von schwerer Krankheit erfahren werden kann und sich der Glaube so als Hilfe zum Leben gegen und mit einer Krankheit bewährt.“76 Das Gebet sei auch angesichts dieses erlebten Widerspruchs der geeignete Ort, um die Klage zu adressieren und sich der Nähe Gottes zu vergewissern.77

13.3 Behinderung als Ausdruck der Macht des Nichtigen Ich habe in den vergangenen Abschnitten Eibachs Gesundheits- und Krankheitsverständnis relativ umfangreich dargestellt. Diese Ausführlichkeit war notwendig, weil mit der Erörterung dieser beiden Begriffe auch die theologische Grundlage für das Verständnis von Behinderung gelegt ist. Diesem thematischen Aspekt möchte ich mich nunmehr zuwenden. (1) Ulrich Eibachs relationale Anthropologie und vor allem sein ganzheitlicher Gesundheitsbegriff machen es ihm möglich, behinderte als gesunde Menschen anzuerkennen. Mit seiner Gesundheitsdefinition sieht er ausdrücklich die Konsequenz verbunden, „daß man auch physisch und psychisch ‚behinderte‘ Menschen als gesunde Menschen (Personen) an————— 74 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 143; vgl. ders., Glaube, Krankenheilung und Heil, 314f. 75 Ebd., 149. 76 Eibach, Gesundheit und Krankheit, 221. 77 Vgl. Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 120f.

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sprechen muß und sie nicht gleich mittels der Einstufung unter einen bestimmten Begriff von Krankheit zum Objekt der Therapeuten und der Fürsorge machen […] darf“.78 Eine der Konsequenzen aus dieser normalisierenden Sichtweise besteht in der Kritik der gesellschaftlichen Aussonderungstendenzen gegenüber Menschen mit Behinderung. Deren Verbannung in spezielle Institutionen außerhalb der Gesellschaft kritisiert Eibach als Kehrseite der Tendenz zur Verabsolutierung des Leistungsfähigen.79 Eine andere Schlussfolgerung besteht in der Anerkennung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Die Achtung ihrer Personenwürde bestünde konkret darin, „daß man den Menschen in seinen Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und damit als ‚Partner‘ ernst nimmt“.80 (2) Wer allerdings an dieser Stelle hofft, Eibach würde diese Schlussfolgerungen konsequent weiterdenken und durch andere ergänzen, wird schnell enttäuscht. Mag es darin begründet sein, dass er vor allem schwerstbehinderte und pflegebedürftige behinderte Menschen vor Augen hat: Eibach denkt die angedeutete Möglichkeit, behinderte als gesunde Menschen anzusehen, nicht weiter, sondern schränkt die sich abzeichnenden Freiheitsräume schnell wieder ein. So kritisiert er die Versuche der Deinstitutionalisierung als einseitige Orientierungen an einem Autonomieideal, das die betroffenen Menschen leistungsmäßig überfordere.81 Und die sich andeutende Partnerschaft zwischen Menschen mit und ohne Behinderung wird rasch von einer Fürsorgeethik überlagert, die aus einem ‚Mit-Leben‘ und ‚Mit-Leiden‘ besteht, „aus dem heraus auch stellvertretend Entscheidungen für den anderen Menschen gefällt werden können und dürfen“.82 Ich notiere diesen kritischen Einwand bereits an dieser Stelle, weil ich die Leerstelle hervorheben möchte, die Eibach hinterlässt, indem er darauf verzichtet, aus seinem Gesundheitsbegriff konsequent konstruktive Schlussfolgerungen für Menschen mit Behinderung zu ziehen. (3) Statt dessen überwiegen Deutungen, die denen zum theologischen Krankheitsverständnis entsprechen. Über weite Strecken werden Krankheit, Leiden und Behinderung synonym gesetzt. Und: es dominiert die Zuord————— 78

Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 48. Vgl. Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 188f. 80 Eibach, Lebensqualität schwerstbehinderter Menschen, 370. 81 Vgl. ebd., 370f: „Aber auch der in den letzten Jahren unternommene Versuch, diese Anstalten möglichst aufzulösen, die körperlich, seelisch und geistig behinderten Menschen möglichst alle ins normale gesellschaftliche Leben […] zu integrieren und die Anstalten zur dauerhaften Betreuung aufzulösen, sind nicht unkritisch zu betrachten. Sie sind auch mitbedingt durch das kritisch zu betrachtende Autonomieideal, das auch in Gefahr steht, diese behinderten und hilfsbedürftigen Menschen an Maßstäben zu messen, die ihrer nicht zu leugnenden ‚Andersartigkeit‘ nicht gerecht werden, sie leistungsmäßig zu überfordern, ihrem wirklichen Wohlergehen nicht gerecht zu werden, weil man den Gesichtspunkt der ‚Autonomie‘ zu sehr zum Maßstab für das ‚Wohlergehen‘ erhebt.“ 82 Ebd., 372. 79

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nung einer Behinderung zum Machtbereich des Nichtigen. „Schwere Krankheit, Behinderung und Leiden können nicht in ein Welt- oder Gottesbild positiv eingeordnet und so mit einem höheren Sinn belegt werden, denn Gott hat in Christus gelitten aufgrund seiner Treue zur Schöpfung, also im Widerspruch zu den von ihm nicht gewollten und geschaffenen Mächten des ‚Nichtigen‘, zu Sünde und Elend (Krankheit, Tod).“83 Behinderung wird so als Ausdruck der widergöttlichen und gottfeindlichen Macht des Bösen verstanden. In einem Argumentationszusammenhang, in dem es ausdrücklich auch um Behinderung geht, fordert Eibach: „Es muß zwischen der Person und ihrer Krankheit so unterschieden werden, wie die Reformatoren zwischen der Person und ihrer Sünde, der Person und ihren Werken unterschieden.“ Während die Person durch Gott konstituiert werde, sei die Krankheit „als von Gott nicht gewollte und geschaffene Auswirkung(en) des Gott widersprechenden und seine Schöpfung zerstörenden Bösen“84 zu werten. Insofern gilt für die Behinderung analog, was schon für die Krankheit gesagt wurde: Sie hat keinen Sinn. Sie gehört nicht zu Gottes guter Schöpfung. Die Antwort, die dem Bösen in der Welt überhaupt gilt, muss so auch für die Behinderung gelten: Kampf gegen das Böse und Erlösung vom Bösen.85 Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn Eibach schreibt: „Der letzte Sinn von Krankheit und Behinderung kann deshalb nur in ihrer Überwindung, in der Erlösung aller Kreatur vom Leiden bestehen“.86 (4) Obwohl es auf dem dargestellten Hintergrund theologisch unmöglich ist, der Behinderung selbst einen Wert oder einen Sinn beizulegen, hält es Eibach für ebenso ausgeschlossen, daraus auf die Sinnlosigkeit oder Wertlosigkeit der behinderten Person zu schließen.87 Denn: ob behindert oder nicht – Wert empfängt jedes menschliche Leben aus der im Lichte des Auferstehungsglaubens von Gott zugeeigneten Würde. Deshalb wird Eibach in vielen Beiträgen nicht müde, die unverlierbare und unbedingte Menschenwürde behinderter Personen angesichts der bedrohlichen biomedizinischen Entwicklung hervorzuheben.88 Der nichtempirische Charakter ————— 83

Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 155f. Eibach, Heilung für den ganzen Menschen?, 142. 85 Vgl. ebd., 92: „Theologisch gesehen geht es […] nicht um die Integration des Bösen in Gottes gute Schöpfung, […] sondern um die rechte Unterscheidung zwischen dem, was Gott will und geschaffen hat, und dem, was diesem Willen widerspricht und sein Werk zerstört. Die Antwort auf das ‚Böse‘ in der Welt ist daher […] der Kampf gegen das Böse, die Erlösung vom Bösen“. 86 Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 156. 87 Vgl. ebd. 88 Vgl. u.a. Eibach, Dürfen nur Gesunde leben?, ders., Experimentierfeld: werdendes Leben, 90–124; ders., „Sterbehilfe“ und die „Lebenswert“-Diskussion, 402–405; ders., Genomanalyse zwischen Schutz des Lebens und Bedrohung der Menschenwürde; ders., Von der Unmöglichkeit, die Würde zu verlieren; ders., Leben ohne „Bewußtsein“?; ders., Annehmen oder auswählen; ders., 84

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der Menschenwürde mache es unmöglich, sie an das Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Eigenschaften zu binden. Würde und Wert empfange der Mensch von Gott. Jeder. Jede. Person und Persönlichkeit des Menschen bedürfen infolgedessen einer präzisen Unterscheidung. Die Persönlichkeit eines Menschen sei das, was sich im Wechselspiel von eigenen Fähigkeiten und sozialem Einfluss herausbilde. „Sie ist in der Tat eine empirische Größe, die ganz unterschiedlich entwickelt sein und durch Krankheit, Behinderung und moralisches Versagen in Verlust geraten kann.“89 Dagegen werde die Personalität des Menschen passiv, aus dem Handeln Gottes heraus, begründet. Sie sei eine nichtempirische Qualität. „Auch wenn es durch Krankheit, Altern und Behinderung zum Abbau der Persönlichkeit kommt, haben wir ‚hinter‘ der zerbrochenen Persönlichkeit die von Gott geschaffene und geliebte Person in ihrer einmaligen Würde zu sehen.“90 Menschen mit Behinderung komme deshalb selbstverständlich ein uneingeschränktes Lebensrecht zu. Dies gelte für die vorgeburtliche Entwicklung ebenso wie für die Situation eines irreversiblen Bewusstseinsverlustes. Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik seien deshalb nicht weniger abzulehnen wie die aktive Sterbehilfe einschließlich des Behandlungsabbruchs bei Menschen mit schweren hirnorganischen Schädigungen.91 Mehrfach hat Eibach auch in der durch Peter Singer ausgelösten Lebenswert-Debatte das Wort ergriffen und deutlich gemacht, dass der Begriff eines lebensunwerten Lebens für die christliche Theologie ein unmöglicher Begriff ist.92

13.4 Behinderung als Gestalt des Nichtigen? Kritische Würdigung Der „Test auf das Proprium christlicher Diakonie und Seelsorge“ besteht für Eibach weder in therapeutischen Fortschritten noch in wachsender Autonomie, sondern darin, „wie wir mit den ‚Unheilbaren‘, mit denen umgehen, deren Leben nach innerweltlichen Maßstäben ‚sinn- und wertlos‘ ist“.93 In der Tat scheinen seine anthropologischen und medizinethischen Reflexionen auf dieses Proprium abzustellen. Gegen das gesellschaftlich einflussreiche ————— Lebensqualität schwerstbehinderter Menschen zwischen Autonomie und paternalistischer Fürsorge; ders., Menschenwürde an den Grenzen des Lebens, 111–137; 167–191 89 Eibach, Ökonomische Grenzen, 215. 90 Eibach, Lebensqualität schwerstbehinderter Menschen, 366. 91 Vgl. die Literaturangaben unter Anm. 87. 92 Vgl. u.a.: Eibach, „Sterbehilfe“ und die „Lebenswert“-Diskussion; ders., Lebensqualität schwerstbehinderter Menschen zwischen Autonomie und paternalistischer Fürsorge. 93 Eibach, Lebensqualität schwerstbehinderter Menschen, 372.

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Ethos der Autonomie setzt Eibach auf eine Ethik der Fürsorge. Sie hat die Aufgabe, das Lebensrecht der Unheilbaren zu sichern sowie ihnen Liebe und Geborgenheit zu geben. Auch für die Begegnung mit behinderten Menschen wird dieses Ethos leitend. Es hindert ihn daran, Entwicklungsperspektiven zu öffnen, Selbstbestimmungspotentiale zu erschließen und Räume selbstverantwortlichen Lebens aufzutun. Damit bin ich schon mitten in der kritischen Auseinandersetzung. Meine erste kritische These besteht darin, dass Eibach nicht an die emanzipatorischen Ressourcen seines Gesundheitsbegriffs anknüpft, sondern diese durch eine Anthropologie der Abhängigkeit und eine mit ihr korrespondierende Ethik der Fürsorge abbremst. Ich werde im folgenden Abschnitt diesen Einwand erläutern. (1) In Anknüpfung an die biblische Anthropologie und in Aufnahme von phänomenologischen Überlegungen ist Ulrich Eibach zu einer Beschreibung des Menschen als einer leib-seelischen Ganzheit und eines interaktiven Systems gekommen. In der Weiterführung entwickelt er einen Begriff von Gesundheit, der als die gelungene Verarbeitung von Störeinflüssen und Herstellung einer Lebensbalance zu verstehen ist. Dieses Konzept ist geeignet, eine Vielzahl von emanzipatorischen Schlussfolgerungen zu ermöglichen. Es könnte dazu anleiten, Menschen mit Behinderung als gesunde Personen anzusehen, die angesichts jeweils spezifischer Beeinträchtigungen und Bewältigungsstrategien einen bestimmten Assistenzbedarf zur Verwirklichung ihrer Grundbedürfnisse und Lebensvorstellungen haben – einen Unterstützungsbedarf dazu also, auf ihre eigene Weise mit den „Störungen“ zu leben, selbstbestimmt zu leben.94 Eibach geht aber nur den ersten Schritt auf diesem Weg mit, indem er nämlich Behinderung als Gestalt von Gesundheit kenntlich macht. Weiter geht er nicht. Im Gegenteil: Die sich abzeichnenden Selbstbestimmungspotentiale hält er für eine Überforderung. Der Grund für diese Reserve gegenüber Potentialen, die mit seinem Konzept eigentlich verbunden sein könnten, liegt m.E. in einer zweiten ‚Schicht‘ seiner Anthropologie, die stark paternalistische Züge trägt. Obwohl dies nicht notwendig mit dem Konzept einer relationalen Anthropologie verbunden ist, hebt Eibach besonders auf die Asymmetrie der Beziehungen ab. Die Symmetrie der Gegenseitigkeit gründe „in der Asymmetrie des Angewiesenseins und damit des zunächst recht einseitigen ‚Für-Seins‘ anderer für mich, das nicht nur im Verhältnis reifer Erwachsener zu behinderten Menschen, sondern z.B. auch im Verhältnis der Eltern zu ihren Kin—————

94 Vgl. dazu die Definition von Georg Theunissen, der geistige Behinderung als ein Etikett betrachtet, „das Menschen auferlegt wird, die angesichts spezifischer Beeinträchtigungen […] und darauf abgestimmter Bewältigungsstrategien einen entsprechenden ressourcenorientierten Unterstützungsbedarf […] zur Verwirklichung der Grundphänomene menschlichen Lebens benötigen, der von lebensweltbezogenen Maßnahmen […] nicht losgelöst betrachtet werden darf“ (Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten [1997], 40).

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dern selten die Symmetrie eines gleichrangigen gegenseitigen ‚Füreinander-Daseins‘ einnimmt. Diesem ‚Angewiesensein‘ entspricht das ‚Fürsein‘ der Anderen, ohne das Leben nicht […] wirklich gelingen kann. […] Es tritt […] bei kranken, behinderten und unmündigen Menschen am deutlichsten hervor, weil bei ihnen das ‚Aus-sich-selbst-leben-können‘ am geringsten entwickelt ist.“95 Gegen die sich hier artikulierende Anthropologie der Abhängigkeit lassen sich mit guten Gründen Einwände erheben. Ob man nämlich aus der unbezweifelbaren Angewiesenheit von Kindern auf die Fürsorge ihrer Eltern sowie aus analogen Erfahrungen darauf schließen darf, dass symmetrische Beziehungen „in der Asymmetrie des Angewiesenseins gründen (!)“, ist durchaus zweifelhaft. Niemand käme beispielsweise auf den Gedanken, aus der fehlenden Perspektivenübernahme jüngerer Kinder darauf zu schließen, dass die Gerechtigkeitsethik im Egozentrismus gründe.96 Aus Entwicklungsphänomenen innerhalb der Ontogenese ethische Paradigmen ableiten zu wollen, ist methodisch problematisch. Für mindestens ebenso wichtig halte ich eine weitere Beobachtung: Für Ulrich Eibach scheinen Menschen mit Behinderung ebenso wie Kinder das Paradigma des menschlichen Angewiesenseins darzustellen. Damit ist eine folgenreiche Wahrnehmungseinschränkung verbunden: Wenn ich eine bestimmte Personengruppe vor allem über das Merkmal ihrer Bedürftigkeit wahrnehme, werden mir folgerichtig andere Eigenschaften und Potentiale möglicherweise gar nicht angemessen in den Blick kommen. Obwohl Eibach das Missverständnis aus dem Weg räumen möchte, Menschen mit Behinderung vor allem als Objekte der Betreuung anzusehen, gelingt es ihm nicht wirklich, entsprechende Zweifel zu entkräften. Zwar hält er fest, dass die Leiden anderer nicht dazu da seien, „daß ‚Gesunde‘ Gelegenheit zur Nächstenliebe haben. Aber angesichts der Tatsache, daß Leiden nun einmal als theologisch unerklärliche Wirklichkeit bestehen, fordern sie zu ihrer Überwindung, ihrer Linderung und zur Hilfe zum Ertragen von Leiden heraus. So ruft die Hilfsbedürftigkeit zu Taten der Barmherzigkeit (Lk 10,25ff). Die Not der Nächsten gibt eine sinnvolle Lebensaufgabe für die Gesunden, wenn sie sich durch die Not aus ihrer Tatenlosigkeit befreien lassen.“97 Die Rollen sind klar bestimmt: Gesunde hier, Hilfsbedürftige da. Die Beziehungshierarchie ist nicht minder eindeutig. Für Ulrich Eibach kommen Menschen mit Behinderung tatsächlich vor allem in ihrer Andersartigkeit und Hilfsbedürftigkeit in den Blick. Die Fürsorgeethik triumphiert über eine Ethik vermittelter Selbstbestimmung. Deshalb ist für Eibach „die Herausforderung, vor die schwerste Behinderung und der Abbau der Persönlich————— 95 96 97

Eibach, Lebensqualität schwerstbehinderter Menschen, 368. Vgl. zur Moralentwicklung: Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, 21–31. Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 170.

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keit stellen, nicht die, auf alle erdenklichen Weisen aufzuzeigen, daß solche Menschen doch auch noch über autonome Qualitäten verfügen, als vielmehr, dieses fragmentarische und unheilbare Leben geborgen sein zu lassen in den Leben ermöglichenden Beziehungen der Liebe, die ihm alle möglichen Hilfen zukommen läßt, die sein Geschick erleichtern.“98 Die Wucht dieser bergenden und behütenden Liebe dürfte allerdings in der Gefahr stehen, alle nicht fürsorgekonformen selbstbestimmten Lebensäußerungen zu erdrücken. (2) Eine weitere, wiederum andere und sich nicht bruchlos einfügende Schicht der Eibachschen Anthropologie verbindet neutestamentliche Krankheitsvorstellungen mit Barths Lehre vom Nichtigen. Diese ist hier nicht zu diskutieren. Ich möchte meine Einwände gegen Eibachs Verständnis von Krankheit und Behinderung als Repräsentationsweisen des Bösen und Nichtigen vielmehr „von unten“, also erfahrungs- und beziehungsorientiert einführen. Zunächst scheint mir gegen die Aktualisierung der neutestamentlichen Krankheitsdämonologie einzuwenden zu sein, dass hier eine unreflektierte Übernahme des antiken Weltbildes und ihres mythischen Charakters erfolgt. Dass die neutestamentlichen Autoren in den Krankheiten die Wirkungen dämonischer Mächte erkennen und die Heilungen Jesu als Teil eines eschatologischen Kampfes gegen die Macht des Satans verstehen, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber die Hermeneutik des Evangeliums erfordert es keineswegs, auch die mythischen Hintergrundvorstellungen mit zu übernehmen. Die Entmythologisierungsdebatte hat auf diese Differenz aufmerksam gemacht. Es scheint mir höchst problematisch zu sein, den Inhalt des Evangeliums nicht ausreichend vom mythologischen Wirklichkeitsverständnis zu trennen, das die neutestamentlichen Autoren ohne Zweifel voraussetzen. Dieser Einwand ist eng verbunden mit einem zweiten: Kranken und behinderten Menschen eine Deutung zuzumuten, die darauf hinausläuft, dass eine ihre Lebenssituation wesentlich mitbestimmende Wirklichkeit als Ausdruck der gottfeindlichen, zerstörerischen und bösen Macht des Nichtigen zu gelten habe, bürdet ihnen eine kaum tragbare psychische Last auf. Zwar ist Gott entlastet, die Theodizeefrage damit vermieden und niemandem wird die Rolle der Freunde Hiobs angewiesen, als Spitzel nach verborgenen Sünden Ausschau zu halten. Aber der Preis dafür ist hoch: Er besteht darin, dass kranke und behinderte Menschen sich als besondere Repräsentanten des Bösen verstehen lernen. Warum, so werden sie sich über kurz oder lang fragen, wird gerade ihr Leben zum Schauplatz eines eschatologischen Kampfes – zumal Gott das Nichtige längst gerichtet und überwunden hat. Für Barth ist das Nichtige dasjenige, das keinen Be————— 98

Eibach, Lebensqualität schwerstbehinderter Menschen, 369.

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stand hat.99 „Es ist das, was damit, daß Jesus Sieger ist, aus dem Feld geschlagen und erledigt ist.“100 Für die Betroffenen hat ihre Krankheit bzw. Behinderung jedoch einen oft langen, nicht selten lebenslangen Bestand. Warum, so werden sie sich fragen, bin ich mit etwas geschlagen, was Gott eigentlich aus dem Feld geschlagen hat? Die Theodizeefrage ist deshalb noch lange nicht erledigt. Aber die Selbstannahme der betroffenen Personen ist – so bleibt zu befürchten – erheblich erschwert. In dieser Situation hilft auch nicht die von Eibach stark betonte Heilungshoffnung. Jedenfalls nicht bei chronisch kranken und bleibend behinderten Menschen. Ulrich Bachs Satz klingt noch nach: „Ich wurde nicht geheilt“.101 Dieser Tatsache der allermeisten Menschen mit Behinderung wird Eibach nicht gerecht, wenn er vielfach die Kampfesmetapher für den Umgang mit Krankheiten und Behinderungen bemüht. Um es deutlich auszusprechen: Seine Theologie erschwert die Identitätsfindung chronisch kranker und behinderter Menschen.102 (3) Mit diesem letzten Einwand hängt eng ein weiterer zusammen: Das von Eibach intendierte ganzheitliche Gesundheits- und Krankheitsverständnis lässt sich nicht bruchlos mit seiner Theologie des Nichtigen verbinden. Denn: der Gesundheitsbegriff intendiert, mit Störungen zu leben, mithin: sie so anzunehmen und in das eigene Lebenskonzept zu integrieren, dass die Verwirklichung des individuellen Lebenssinnes nicht infrage gestellt wird.103 Das Konzept des Nichtigen intendiert dagegen das Entgegengesetzte: Behinderungen als Vorboten des Todes zu sehen und nicht anzunehmen sondern zu bekämpfen. Das eine ist mit dem anderen nicht vereinbar. Dieser Widerspruch wird durch folgenden Umstand noch einmal verstärkt: Die Integration einer Störung gelingt am besten, je weniger diese die Person beeinträchtigt. Sie wird umso schwieriger, je mehr die Krankheit bzw. Behinderung das Lebenskonzept der Person infrage stellt. Umgekehrt empfiehlt Eibach im Rahmen seiner Theologie des Nichtigen, die Krankheit bzw. Behinderung so lange wie möglich zu bekämpfen und erst dann, wenn der Kampf keinen erkennbaren Erfolg mehr zu erzielen scheint, die Krankheit annehmen zu lernen. Annahme und Kampf stehen also in beiden Konzepten an völlig verschiedenen und nicht miteinander vereinbaren Orten ————— 99

Vgl. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III/3, 416. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III/3, 420. 101 Vgl. Bach, Ich wurde nicht geheilt. 102 Vgl. dazu auch Eurich, Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung, 331, der die Frage aufwirft, „ob der starken Hervorhebung von Krankheit als Teil des gegen Gottes Schöpfung gerichteten Chaos nicht die Tendenz zu einem Gesundheitsverständnis innewohnt, das wenig Möglichkeiten eröffnet, für Krankheit oder Behinderung einen individuellen Sinn zu finden.“ 103 Vgl. Eibach, Heilung für den ganzen Menschen? 48: „Gesund wäre […] auch derjenige Mensch, dem es gelingt, eine vielleicht unabänderliche Störung körperlichen, psychischen oder sozialen Wohlbefindens so in sein Leben zu integrieren, daß er mit ihr leben kann“. 100

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innerhalb der persönlichen Auseinandersetzungsgeschichte mit der Krankheit bzw. Behinderung. Dieser Widerspruch ist nicht auflösbar und bestätigt die kritische These: Das ganzheitliche Gesundheitskonzept und seine anthropologischen Grundlagen sind nicht kompatibel mit dem eschatologischen Krankheitskonzept und seinen theologischen Implikationen. Es kann sein, dass Eibach im Hintergrund seines Behinderungsverständnisses die Erfahrung der Begegnung mit Menschen mit schwersten Behinderungen hat. Aber seine Ausführungen sind gleichwohl allgemeiner Art. Deshalb bleibt es dabei: Trotz einiger emanzipationsorientierter Ansätze ist das Konzept Eibachs von einem erdrückenden Paternalismus und einer problematischen Reaktualisierung der neutestamentlichen Dämonologie geprägt. Es mutet Menschen mit Behinderung m.E. mehr zu als dass es ihnen auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben behilflich ist.

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14. Behinderung als Ausdruck einer widergöttlichen Wirklichkeit. Georg-Hinrich Hammers Unterscheidung von Person und Behinderung Georg-Hinrich Hammer Georg-Hinrich Hammer hat „Behinderung als Thema christlicher Verantwortung“ vor allem in einem ethischen Kontext reflektiert. Angesichts neuer eugenischer Tendenzen, der neuen Euthanasiedebatte und der bleibenden Aktualität des Integrationsthemas sollen ethische Lösungswege aufgezeigt werden, die sich aus dem jesuanischen Ethos, der Christologie und dem biblischen Menschenbild ergeben.1 Dabei geht Hammer von einem Regelkreis aus, der sich aus den vier Faktoren Lebensrecht, Würde, Lebenshilfe und Integration zusammensetzt. „Die Achtung des Lebens, der Schutz der Würde, die Lebenshilfe und die Integration erweisen sich somit als vier Elemente eines zusammenhängenden Regelkreises. Allein die geschlossene Anwendung dieses Regelkreises wird den ethischen Dimensionen von ‚Behinderung‘ gerecht. Alles isolierende Herausbrechen einzelner Zielsetzungen läßt nicht nur ungelöste, sondern auch unlösbare Problematik zurück.“2 Hammer legt diesem mehrdimensionalen Konzept ausdrücklich theologisch-anthropologische Überlegungen zugrunde. Mir geht es darum, die Konturen dieses anthropologischen Ansatzes zu erläutern (14.1), die Interpretation des Phänomens Behinderung nachzuzeichnen (14.2) und die Schlussfolgerungen für den genannten Regelkreis knapp anzudeuten (14.3).

14.1 Der Mensch: Ebenbild Gottes und Rebell (1) Georg-Hinrich Hammer geht von einem klassischen Konzept theologischer Anthropologie aus. Die Geschöpflichkeit des Menschen steht an ihrem Anfang. „Gott gibt sich als der zu erkennen, der diese Welt und alles Leben schafft“.3 Der Mensch sei als Ebenbild Gottes geschaffen.4 Darin gründeten seine Würde und seine Personalität.5 Aus der Geschöpflichkeit ————— 1 2 3 4 5

Hammer, Behinderung als Thema christlicher Verantwortung, 7. Ebd., 98. Ebd., 12. Vgl. ebd., 26. Vgl. ebd., 25.

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des Menschen resultierten die Vorgegebenheit und Unverfügbarkeit seines Lebens. „Der Mensch findet sich vor in einem Leben, das er nicht sich selbst verdankt.“6 Eben deshalb sei er auch nicht der souveräne und autonome Herr über dieses Leben. Weil sich das menschliche Leben der Verfügbarkeit entzieht, genieße es absoluten Schutz. Hammer spricht beispielsweise von der „Option für das uneingeschränkte Lebensrecht Behinderter“.7 Dazu bedürfe es keiner weiteren Kriterien. Die Option gelte unbedingt. Aus der Geschöpflichkeit des Menschen, mithin aus der passiven Konstitution seiner Existenzbedingungen ergibt sich demnach für Hammer der Schutzcharakter seines Lebens. Damit ist die Begründung für das erste Element des Regelkreises gegeben. (2) Menschen finden sich aber nicht nur in ihrem Leben vor. Sie erfahren sich gleichzeitig auch als handelnd und damit aktiv. Biblisch ist nach Hammer davon zu sprechen, dass Gott dem Menschen die Achtung des Lebens anvertraut und aufträgt. „Er schließt mit den Menschen seinen Bund.“8 Die Gebote und Mahnungen weisen auf die Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott hin. Es gehe deshalb nicht nur um passiven Lebensschutz, sondern auch um die „aktive Förderung, um Phantasie und Einsatz für das Leben“.9 Sehe ich richtig, dann wurzeln in dieser aktiven Dimension des Menschseins wichtige Aspekte, die Hammer dem zweiten Element des Regelkreises, dem Schutz der Würde, zuordnet: die Förderung der Begabung, die Stärkung von Mündigkeit und Selbsttätigkeit, die Entwicklung der Selbsthilfe und Selbstverantwortlichkeit.10 Allerdings verbindet sich für mich mit dieser Zuordnung auch eine systematische Rückfrage: wie ich unten zeigen werde, entwickelt Hammer den Würdeschutz erneut passiv. Die Förderung von Mündigkeit, Selbsttätigkeit und Verantwortlichkeit, d.h. die Stärkung der aktiven Potentiale des Menschseins lassen sich aus diesem passiven Würdeverständnis kaum gewinnen. Deshalb erfolgt meine Zuordnung dieser Potentiale zu den aktiven Aspekten der conditio humana gewissermaßen gegen Hammers Systematik. Ihre Herleitung aus einem passiv hergeleiteten Würdeverständnis ist dagegen brüchig. Verbindungslinien aus der Bestimmung des Menschen zu aktivem verantwortlichen Handeln ergeben sich auch zu Hammers drittem Aspekt des Regelkreises, der Förderung von Lebenshilfe durch Selbsthilfe und Fürsorge. Hammer geht es hier beispielsweise um die Überwindung von Lähmung ————— 6 7 8 9 10

Ebd., 11. Ebd., 18. Ebd., 12. Ebd. Vgl. ebd., 28–34, 48f.

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und Passivität, um die aktive Annahme der Behinderung, um subsidiäres Handeln und erneut um die Stärkung der Selbsthilfepotentiale.11 (3) Zu den Bedingungen des geschöpflichen Menschseins gehört auch die Sozialität. Zum Fundament des vorgegebenen Lebens „gehört auch seine Verbundenheit mit anderem Leben“.12 Niemand lebe für sich allein. Das Leben aller sei vielmehr in ein Netz von Beziehungen eingewoben, das von den Eltern über Verwandte, Freundinnen und Freunde, Nachbarinnen und Nachbarn bis hin zum Volk reicht.13 Auch die Achtung des Lebensrechts sei in dieses Beziehungsnetz zwischen Personen, Gruppen und Generationen verflochten. „Eine Antastung des Lebensrechts von Behinderten ist schon deswegen problematisch, weil angesichts der unklaren Abgrenzungen zwischen Behinderungen, sowie zwischen Behinderung, Krankheit und Altersschwäche, damit auch andere Menschengruppen latent gefährdet sind.“14 Aus der Tatsache der Verbundenheit allen Lebens lassen sich Linien zu den sozialen Dimensionen des Regelkreises, besonders dem vierten Aspekt der Integration ziehen. Arbeit und Erziehung gehören ebenso hierher wie die „Integration im geselligen Leben“.15 (4) Das geschöpfliche Menschsein ist bei Hammer demnach durch die Kategorien der Vorgegebenheit des Lebens, der Beauftragung zu aktivem und verantwortlichem Handlung und der Verbundenheit bestimmt. Diese schöpfungstheologische Interpretation erhält darüber hinaus eine hamartiologische Präzisierung, deren christologische Kontrapunktierung sowie eine ekklesiologische Schlussfolgerung. Interessanterweise stehen Hammers Ausführungen zur Menschenwürde vor allem im Kontext der Gebrochenheit und Gefallenheit der menschlichen Existenz. Würde, so legt Hammer dar, „beruht nicht auf der Stärke des Menschen. Seine Würde bildet eine letzte Verteidigungslinie gegen alle von außen kommenden Angriffe. Sie schützt den Menschen an seiner schwächsten Stelle.“16 Die menschliche Zerrissenheit, nicht eine harmonische Identität werden durch die Würde geschützt. Das biblische Menschenbild meine mit der Schwachheit die Sündhaftigkeit des Menschen. Der Mensch als Ebenbild Gottes lebe zugleich als Rebell im Widerspruch gegen ihn. Gerade in seiner Niedrigkeit wird dem Menschen jedoch Würde geschenkt. In Jesus Christus bekenne sich Gott zu seinem Bild, solidarisiere sich mit den Schwachen und vergebe den Schuldigen. „Die Würde des Menschen ist ————— 11 12 13 14 15 16

Vgl. ebd., 50–57, 61f. Ebd., 12. Vgl. ebd., 13. Ebd., 13. Ebd., 91. Ebd., 25.

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damit nicht mehr nur eine geschöpflich gegebene, sondern auch eine an Jesus als dem Christus glaubend festzumachende.“17 (5) Das Kreuz Christi qualifiziert sowohl die passive Konstitution des Menschseins als auch ihr Bestimmtsein zur aktiven Weltgestaltung neu. Die bereits angedeutete Linie zu den verschiedenen Dimensionen des Regelkreises wird damit über ihre schöpfungstheologische Bestimmung hinaus christologisch erneuert. Neben die Vorgegebenheit des Lebens tritt die Erfahrung der Vorgegebenheit der Gnade und der Annahme. Der unbedingte Lebensschutz und der Schutz der Menschenwürde sind damit über die Geschöpflichkeit hinaus auch soteriologisch begründet. Auf der anderen Seite geht von der Versöhnung durch Christus auch eine neue Aktivierung aus. Das Kreuz Christi bewirkt nach Hammer „Motivation zur Versöhnung und Liebe unter den Menschen“.18 Es sei eine Kraft, die den Menschen zur Überwindung von Feindschaft, zur Nächstenliebe und „zum Einsatz seiner Begabungen im Dienst am anderen“19 aufruft. Die Nachfolge Christi entfalte eine aktivierende Dynamik. Hammer verfolgt diesen Aspekt vor allem in sozialer Hinsicht. „Nachfolge führt […] in einen christlich qualifizierten und motivierten ‚Prozeß des Zueinander‘“.20 Der Leib Christi relativiere begrenzte Sozialstrukturen und persönliche Eigenarten. In ihm „werden die zusammengeführt, die vorher nicht zusammenkommen konnten: Juden und Heiden, Sklaven und Freie, Behinderte und Nichtbehinderte.“21 Aktivierung und Sozialität korrelieren damit in einem christlich akzentuierten Verständnis von Integration. In ihm geht es nicht um die einseitige Anpassung einer Gruppe an die Majorität. Vielmehr müssten beide aufeinander zugehen und Umkehr praktizieren. Dabei komme es darauf an, ob die Schwächsten berücksichtigt worden sind. Das Leitbild einer integrativen Ekklesiologie laute deshalb: „Im Leib Christi ist wie jeder Christ auch der Christ mit Behinderung von vornherein ‚eingegliedert‘.“22 (3) Gottes Handeln in Schöpfung und Versöhnung wird bei Hammer schließlich durch den Aspekt des eschatologischen Handelns ergänzt. In der Vollendung seines Heilshandelns wird Gott die Schwäche und Zerrissenheit des Menschen aufheben. Diese eschatologische Perspektive bewahre alles menschliche Tun vor der Selbstüberschätzung. Sie sei zugleich motivierend, weil sie die bruchstückhafte menschliche Praxis sinnvoll auf das ————— 17 18 19 20 21 22

Ebd., 26. Ebd., 80. Ebd. Ebd. Ebd., 81 Ebd., 82.

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kommende Reich Gottes hin ausrichte, das nicht aus eigener menschlicher Kraft geschaffen werden müsse. Auf allen Ebenen hält Hammer damit das vorausgehende Handeln Gottes als konstitutiv fest: schöpfungstheologisch akzentuiert er die Vorgegebenheit des Lebens, soteriologisch die Vorgegebenheit der Gnade und schließlich eschatologisch die Vorgegebenheit des endzeitlichen Reiches Gottes. Die entscheidenden Bedingungen seines Lebens vermag sich der Mensch damit nicht zu schaffen. Er findet sich in ihnen vor und steht vor der Herausforderung, die Bedingungen seiner Existenz ihnen entsprechend zu gestalten.

14.2 Behinderung als Manifestation der Gegenmacht Gottes „Alles vorfindliche menschliche Leben ist Leben mit ‚Behinderung‘.“23 So lautet der allererste Satz in Hammers Studie. Man könnte diesen Satz leicht schöpfungstheologisch interpretieren und Behinderung als Teil der guten Schöpfung Gottes auffassen, wie dies beispielsweise Ulrich Bach und Jürgen Moltmann tun. Aber bei genauerem Hinsehen scheint diese Lesart nicht Hammers Intentionen zu entsprechen. Wenn er nämlich Behinderung als „zeitloses Paradigma des Mangels, welcher den Menschen zum ‚Mängelwesen‘ macht“24 bezeichnet, dann ist die Mangelsituation hamartiologisch konnotiert. Das gibt Hammer noch nicht in seinem Einleitungsabschnitt zu erkennen. Die genauere Lektüre seines Buches lässt daran jedoch keinen Zweifel: Behinderung gehört auf die Seite der Schwäche und Gebrochenheit der menschlichen Natur, die ihre Ursache in der menschlichen Sündhaftigkeit hat. Ich will diese hermeneutische These im Folgenden begründen. (1) Selbstverständlich sind in Hammers Ethikentwurf Menschen mit Behinderung als gleich geachtete, gleichwertige und gleich berechtigte Menschen im Blick. Die Ausführungen zur Vorgegebenheit des Lebens, zum Lebens- und Würdeschutz, die ich im ersten Kapitel wiedergegeben habe, gelten für Personen mit und ohne Behinderung gleichermaßen. Der von Hammer formulierte Regelkreis hat nur unter dieser Voraussetzung Sinn. Die „Option für das uneingeschränkte Lebensrecht Behinderter“ ist eine ethische Konsequenz dieses gleichen uneingeschränkten Menschseins. Sie hat ihren Grund darin, dass die dem Menschen gegebene Würde nicht zugemessen werden kann „aufgrund von Fähigkeiten und Fertigkeiten, von Status oder Position, auch nicht von mehr oder weniger großer biologischer ————— 23 24

Ebd., 1. Ebd.

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Lebenskraft oder volkswirtschaftlicher Nützlichkeit. […] Die Würde eines Menschen mit Behinderung hängt […] auch nicht ab von dem Vorhandensein oder dem Grad seiner Behinderung und ihren Auswirkungen.“25 Das Leben und seine Würde sind geschenkt. Unbedingt. Unantastbar. So wie die Geschöpflichkeit sind aber auch Erlösungsbedürftigkeit und Vollendung allgemeine anthropologische Bestimmungen. In Jesus bekenne sich Gott zu seinem Ebenbild und solidarisiere sich mit den Schwachen. Das, was in den messianischen Heilungen Jesu aufleuchtet, sei nichts anderes als die endzeitliche Aufrichtung des Reiches Gottes. Sie bedeute für Menschen mit Behinderung eine „Perspektive eschatologischer Heilung“. Mit ihr sei die „Verheißung der Aufhebung aller Behinderung“26 gegeben. (2) Die genannten anthropologischen Bestimmungen gelten Menschen mit und ohne Behinderung. Darüber hinaus scheint es aber für Hammer sinnvoll und notwendig zu sein, zwischen einer Person und ihrer Behinderung zu unterscheiden. Während der Mensch mit Behinderung als solcher von Gott gleichermaßen geschaffen, geliebt und erlöst sei, gelte dies nicht für die Behinderung, die er hat. Ich erinnere noch einmal daran, dass Hammer die Schwäche des Menschen als seine Sündhaftigkeit versteht.27 Vor diesem Hintergrund steht dann auch Hammers weitere Erörterung. Er widerspricht der Auffassung, Behinderung könne auf Gottes Schöpfung und Führung zurückgeführt werden und lehnt die These einer Allverantwortlichkeit Gottes ab.28 Stattdessen plädiert Hammer dafür, sich an Jesu Heilungshandeln zu orientieren. „Jesus leitet […] zur Unterscheidung an: Zwischen dem, der ihn gesandt hat und in dessen Auftrag und mit dessen Macht er handelt und dem, dessen Macht er in Krankheit und Behinderung bekämpft, besteht keine Identität, kann keine bestehen. Behinderung und Heilung sind der Ausdruck gegensätzlicher, miteinander verfeindeter Kräfte […]. In der Behinderung manifestiert sich für Jesus die Gegenmacht, die es zu besiegen und auszutreiben gilt. […] Die den Menschen beeinträchtigenden Wirkungen von Behinderung werden von Jesus als Ausdruck der widergöttlichen Wirklichkeit der ‚daimonia‘ gewertet.“29 Dieses ausführliche Zitat bringt die Deutung auf den Punkt: Hammer vertritt im Anschluss an bestimmte Linien neutestamentlicher Theologie ein dämonologisches Verständnis von Behinderung. Keineswegs wird die individuelle Behinderung auf eine persönliche

————— 25 26 27 28 29

Ebd., 28. Ebd., 64. Ebd., 25. Vgl. ebd., 26f. Ebd., 27.

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Schuld zurückgeführt. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang wird von Hammer zurückgewiesen.30 Zwei Akzente scheinen es zu sein, die Hammer betont: a. Behinderung ist exemplarischer Ausdruck der Gebrochenheit, der Schwäche und Zerrissenheit der menschlichen Existenz, die in der Sündhaftigkeit seiner Natur begründet sind. b. Behinderung ist die Manifestation einer gegengöttlichen, dämonischen Macht, mit der Jesus in seinen Heilungen den Kampf aufgenommen hat. Beide Aspekte haben miteinander zu tun. Sie sind als immanente und transzendente Bedingungsfaktoren einander zugeordnet: Während die erste Bestimmung stärker auf die Immanenz der menschlichen Lebenswirklichkeit abhebt, ordnet die zweite diese Existenzbedingungen in den Einflussbereich einer transzendenten, dämonischen Macht. Behinderung ist somit keinesfalls Ausdruck der Führung Gottes. „Sie ist von ihm bestenfalls zugelassen, aber nicht gegeben.“31 Das heilende Handeln Jesu macht sogar den göttlichen Protest gegen die dämonische Wirklichkeit offenbar. Die Unterscheidung von Person und Behinderung führt bei Hammer dazu, ein zwiefaches Verhältnis Gottes anzunehmen: der Behinderung gilt der Kampf Gottes, dem behinderten Menschen dagegen seine Liebe. „Auch wenn Behinderung keine Gabe Gottes ist, bleibt der Mensch mit Behinderung der Mensch Gottes und bleibt ein behindertes Kind Gottes Gabe.“32 Aufgrund der genannten Unterscheidung sieht sich Hammer aber auch noch zu anderen Schlussfolgerungen genötigt. Die Begabungen, die behinderte Menschen besitzen, hätten sie nicht aufgrund ihrer Behinderung. „Die mit auftretender bzw. vorhandener Behinderung als verbunden angesehenen Kräfte und Fähigkeiten sind nicht durch die Behinderung selbst verursacht.“33 Die widergöttliche Macht, die sich in der Behinderung manifestiert, sei keine kreative Kraft. Begabungen seien das Gegenteil: Gaben Gottes. „Der Mensch mit Behinderung, welcher sich als Mensch Gottes auf seine Begabungen besinnt, stellt ihren Reichtum fest.“ In den Begabungen „erweist sich Gottes schöpferisches und führendes Handeln“.34 Es bleibt dabei: auf der ganzen Linie mutet Hammer Menschen mit Behinderung ein doppeltes Bewusstsein zu: als Menschen seien sie von Gott geliebt und angenommen. Ihre Behinderung aber sei die Manifestation einer widergöttlichen, einer dämonischen Macht. Diese scheinbar doppelte Identität von Menschen mit Behinderungen wird in das Zentrum der Auseinandersetzung mit Hammer hineinführen. ————— 30 31 32 33 34

Vgl. ebd., 27 und 54f. Ebd., 27. Ebd. Ebd., 28. Ebd.

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14.3 Der Mensch im Schnittpunkt der Gewalten? Kritische Würdigung Auch in dieser Auseinandersetzung sollen zunächst die Stärken des Ansatzes von Hammer herausgearbeitet werden. (1) Das Konzept einer Verantwortungsethik für Menschen mit Behinderung steht erkennbar im Zeichen solidarischer Gemeinschaft zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen. Angesichts fortdauernder gesellschaftlicher Desintegrationstendenzen und angesichts zunehmender Infragestellung des Lebenswertes behinderter Personen geht es Hammer um eine schlüssige Begründung eines integrativen Konzeptes und den unbedingten Lebensschutz für alle Personen, gleich ob behindert oder nicht. Darüber hinaus enthält Hammers Buch eine Vielzahl von konkreten Einzelvorschlägen, die auf die Stärkung sozialer Solidarität und Förderung selbstbestimmter und selbstverantwortlicher Lebensformen behinderter Personen abzielen. Es enthält nicht nur einen Kompass zur Orientierung in unübersichtlichem biomedizinischem Terrain. Es formuliert auch Prinzipien für die Verwirklichung menschenwürdiger Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung. Das Normalisierungsprinzip zählt zu den selbstverständlichen Grundlagen von Hammers sozialethischen Überlegungen.35 Er hat ein differenziertes Praxiskonzept vorgelegt, das Leib und Seele gleichermaßen, Geschlechtlichkeit und Beziehungshaftigkeit, Arbeit, Bildung und Freizeit gleichermaßen berücksichtigt. Als instruktiv mag die Stellung zur sog. Anstaltsdiakonie gelten. Positiv würdigt Hammer an der stationären Behindertenhilfe die Gewährleistung geselliger Lebensformen und die anstaltsinterne Überwindung der Isolation Behinderter. „Die Einbettung seines Lebens in die menschliche Geselligkeit gehört auch für den Behinderten zu den Grundvoraussetzungen menschenwürdigen Lebens. Gerade darin lag und liegt eine der Stärken der Lebenssituation in den Anstalten.“36 Gleichzeitig schaffe die künstliche Lebenssituation in ihnen auch neue Probleme. Deshalb sei „die Öffnung der Anstalten“ und „die Ausgliederung von Wohngruppen“37 eine sinnvolle Perspektive. Gemäß dem von ihm vertretenen Subsidiaritätsprinzip spricht sich Hammer für die „Begrenzung der Kompetenz für die Vollzeiteinrichtungen“38 aus und legt auch diakonischen Einrichtungen nahe, „auf dem Weg der begonnenen Öffnung fortzufahren“.39 Eine Auflö————— 35 36 37 38 39

Vgl. ebd., 36. Ebd., 36. Ebd. Ebd., 69. Ebd., 96.

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sung der Anstaltsdiakonie lehnt Hammer allerdings mit der Begründung ab, die „kleineren Träger von Behindertenarbeit wären niemals in der Lage, die von den Anstalten geleistete Arbeit zu übernehmen“.40 Hammer kommt es stattdessen auf eine Balance von Selbsthilfe und Fürsorge an.41 Man mag diese Balance defensiv nennen und im Lichte neuerer Erfahrungen den Aspekt der Deinstitutionalisierung noch stärker hervorheben. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass Hammer unzweideutig den Weg der Normalisierung, Selbstbestimmung und sozialen Integration beschreitet. (2) Mein Haupteinwand gilt stattdessen dem Behinderungsverständnis selbst. Die Weichen zu der oben beschriebenen Lesart werden bereits dort gestellt, wo Hammer die menschliche Schwäche und Zerrissenheit als Manifestation von Sündhaftigkeit versteht. Er setzt damit ein Vollkommenheitsbild des Menschen in die Ur-Szene der Schöpfung, von der jede Abweichung in Schwäche und Leid als Folge des Sündenfalls erscheint. Bereits in dieser Vorstellung wird die Sünde als eine Macht verstanden, die über den Menschen herrscht, ihn schwächt und innerlich aufreibt. Diesem mythologischen Sündenverständnis korrespondiert dann der Rückgriff auf diejenige neutestamentliche Tradition, die das Auftreten Jesu in einen eschatologischen Kampf zwischen dem Reich Gottes und der widergöttlichen Macht des Satans einordnet. Hammer begründet sein Verständnis von Behinderung als Manifestation gegengöttlicher Macht mit Rückgriff auf die Perikope Mk 3,22–30. Gegen diese Begründung spricht aber, dass es hier um Dämonenaustreibungen, nicht um Heilungen von Menschen mit Behinderung geht. Diese Perikope heranzuziehen, um nachzuweisen, dass Blindheit oder Lähmung Manifestationen dämonischer Kräfte sind, beruht auf einer vorgängigen Gleichsetzung solcher Behinderungen mit Formen der Besessenheit. Mit anderen Worten: Hammer muss bereits vor der Lektüre der Beelzebul-Perikope wissen, dass Behinderungen Manifestationen von Besessenheit sind, um es dann von dem Text bestätigt zu bekommen. Ein klassischer Zirkelschluss. Immerhin hat Ulrich Bach in vielen Beiträgen gezeigt, dass die Evangelien das Handeln Jesu gegenüber besessenen und kranken, bzw. behinderten Personen als durchaus different beschreiben. Gleichwohl wird man nicht bestreiten können, dass das neutestamentliche Krankheits- und Behinderungsverständnis auch dämonologische Züge besitzt. Die Frage scheint mir nicht so sehr darin zu bestehen, ob diese Kennzeichnung zutrifft, sondern mehr darin, welche hermeneutische Bedeutung wir diesem Sachverhalt zubilligen. Handelt es sich dabei um ein essential der Verkündigung Jesu dergestalt, dass man bei seiner Bezweiflung mit Paulus sagen könnte „so ist auch euer Glaube vergeblich“ (1Kor ————— 40 41

Ebd. Vgl. ebd., 56–59.

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15,14)? Ich glaube nicht, dass dies zutrifft. Vielmehr scheint es mir so zu sein, dass die neutestamentliche Krankheitsauffassung in Bezug auf die hinter ihr stehende Dämonologie Ausdruck eines Weltbildes ist, das mit guten Gründen nicht mehr das unsere ist. Es käme also eher darauf an, solche Auffassungen zu interpretieren als sie ungebrochen in die Gegenwart zu übernehmen. Entmythologisierung scheint angebracht. Der berühmte Satz Rudolf Bultmanns scheint gerade hier sinnvoll zu sein: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“42 Zur Notwendigkeit einer entmythologisierenden Hermeneutik scheint es mir keine Alternative zu geben. Jeder Versuch, an die Dämonologie des Neuen Testaments ungebrochen anzuknüpfen, würde dagegen weder der heutigen diakonischen Praxis noch den betroffenen Menschen gerecht. Wollten Mitarbeiterinnen diakonischer Einrichtungen heute den Vorstellungshintergrund des neutestamentlichen Heilungshandelns übernehmen, so müssten sie sich vor allem in charismatischer und weniger in medizinischer Heilungspraxis ausbilden lassen. Indikationen müssten vor allem spirituell gestellt werden. Statt medizinischer Therapeutik müsste geistliche Paränese praktiziert werden. Es wäre nichts anderes als ein Widerspruch in sich, wollte man ein dämonologisches Krankheits- und Behinderungsverständnis akzeptieren, gleichzeitig aber die diakonischen Krankenhäuser und Rehabilitationseinrichtungen auf medizinische Diagnostik und Therapie abstellen. Ein solcher Ansatz wäre aber nicht nur widersprüchlich und inkonsequent. Er würde auch den betroffenen Personen nicht gerecht. (a) Wären Behinderungen die Manifestationen einer widergöttlichen Macht, so bestünde wohl für die Betroffenen zu Recht die Erwartung, mit der Taufe und der Abwaschung aller Schuld aus dem Wirkungsbereich der dämonologischen Wirklichkeit in den Herrschaftsbereich Gottes hinüberzuwechseln. Die Gewährung des Heils würde unmittelbar mit der Gewährung einer Heilung verknüpft. Es entstünde die berechtigte Erwartung, die im Matthäusevangelium so ausgedrückt wird: „Und Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, […] predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen“ (Mt 9,35). Bleibt dagegen die Heilung aus, so wie dies die allermeisten Menschen mit einer Behinderung erfahren, so wäre dies ein Zeichen für die bleibende Macht des Bösen und die Ohnmacht Gottes in diesem eschatologischen Kampf. (b) Darüber hinaus dürfte eine solche Auffassung auch zu einer Verschärfung der Theodizee-Frage führen: Warum, so dürften sich Betroffene ————— 42

Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 18.

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zu Recht fragen, sind bestimmte Personen dazu bestimmt, dass sich an ihnen die Wirkung dämonischer Kräfte manifestiert? Individuelle Schuld dürfte es ja nicht sein, da Hammer den Tun-Ergehen-Zusammenhang zurückweist. Wären aber ohne eine größere individuelle Schuld manche Menschen von Behinderungen betroffen, manche dagegen nicht, so würde dies das Handeln Gottes dem Eindruck der Willkürlichkeit aussetzen. (c) Am meisten mutet Hammer mit seiner Interpretation jedoch dem Selbstverständnis von Menschen mit Behinderung selbst zu. Die Betroffenen müssten sich als Menschen verstehen, die nicht nur eine individuelle Behinderung haben und sozial behindert werden. Sie müssten sich vielmehr als Personen begreifen, die mehr als Nichtbehinderte unter dem Schatten des Bösen leben. Ihnen wird zugemutet, sich selbst als Ort der Manifestation des Dämonischen zu verstehen. Die Annahme der eigenen Behinderung, die auch Hammer intendiert, dürfte unter diesen Bedingungen radikal erschwert wenn nicht sogar unmöglich sein. Dazu kommt, dass alles Positive des eigenen Lebens wie beispielsweise die persönlichen Begabungen nichts, aber auch gar nicht mit der Behinderung selbst zu tun haben.43 Die Behinderung wird damit zum Negativen schlechthin. Wie soll eine betroffene Person sie dann noch akzeptieren lernen? Man mag einwenden, Hammer unterscheide doch zwischen dem behinderten Menschen, der sich als von Gott geliebt wissen soll und seiner Behinderung, die Ausdruck der widergöttlichen Macht ist. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass sich diese Unterscheidung im Selbstverständnis eines wirklichen und nicht nur gedachten Menschen durchhalten lässt. Sie oder er lebt doch täglich mit der eigenen Behinderung. Schwer vorstellbar, dass eine Person einen so zur eigenen Identität gehörigen Sachverhalt als Manifestation widergöttlicher Macht begreifen, sich ansonsten aber als Gottes geliebtes Kind verstehen kann. (d) Hammers Behinderungsverständnis ist aber auch noch in einer anderen Hinsicht widersprüchlich. Ausdrücklich knüpft der Autor an das WHOVerständnis an, das Behinderung aus dem Zusammenspiel von körperlicher Schädigung, individueller Entwicklungsbeeinträchtigung und sozialer Benachteiligung versteht. Das dämonologische Behinderungsverständnis fällt demgegenüber hinter die Differenzierung der WHO zurück. Mehr noch: es gibt den sozialen Aspekten der Behinderung die Weihe der Schicksalhaftigkeit, indem es Behinderung ganz undifferenziert als Manifestation widergöttlicher Wirklichkeit versteht. —————

43 Vgl. die Formulierung: „Die mit auftretender bzw. vorhandener Behinderung als verbunden angesehenen Kräfte und Fähigkeiten sind nicht durch die Behinderung selbst verursacht.“ (Hammer, ebd., 28).

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Es bleibt dabei: Hammers Behinderungsverständnis ist in sich widersprüchlich. Vor allem aber: es läuft den integrativen Bemühungen zuwider und erschwert die individuelle Annahme einer Behinderung gravierend.

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15. Begabungen und Begrenzungen. Zusammenfassende Thesen Zusammenfassende Thesen „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde?“ Das Fragezeichen, das Fredi Saal am Ende seines Buches „Warum sollte ich ein anderer sein wollen?“ hinter die biblische Schöpfungsaussage macht, ist eine Anfrage an diejenigen, für die Behinderung mit Leiden zusammenfällt. Ihnen hält Saal als Schlusssatz entgegen: „Ich jedenfalls fühle mich als Spastiker als eine Schöpfung Gottes – und zumindest die Christen sollten es auch tun!“1 Blickt man auf die theologische Diskussion der letzten etwa 30 Jahre zurück, deren Grundzüge ich in diesem Kapitel dargestellt habe, so scheint Saals Fragezeichen ebenso unnötig zu sein, wie sein Schlussbekenntnis allseitige Zustimmung findet. In keinem der theologischen Entwürfe wird auch nur andeutungsweise in Frage gestellt, dass Menschen mit Behinderung sich mit Recht als Gottes Ebenbilder und als Schöpfung Gottes fühlen können. Allerdings hat Saal mit seinem letzten Satz noch mehr im Sinn: ihm geht es um das theologische Bekenntnis, dass Behinderung zur guten Schöpfung gehört und deshalb nicht „in die Leidensecke“ gestellt werden dürfe. Hier schon gehen die theologischen Stimmen auseinander. Damit bin ich am Ende meines Kapitels wieder bei den Herausforderungen, bei den Fragen, mit denen ich in die Darstellung der theologischen Entwürfe eingeleitet habe. Ich möchte deshalb am Ende noch einmal Rückschau halten: Welche Argumentationsformen und Inhalte, welche Übereinstimmungen und Differenzen, welche Indikative und Imperative werden innerhalb der vielen theologischen Stimmen erkenn- und unterscheidbar? Der gebotenen Kürze wegen greife ich zu einer thetischen Darstellung. 1. Die inhaltlichen Akzentuierungen des anthropologischen Diskurses und die Deutungskategorien für Behinderungen sind außerordentlich verschieden. (a) In einer ersten Lesart wird Behinderung als Teil der guten Schöpfung Gottes, als Gabe, als Begabung zum Leben, ja als Charisma in der Gemeinde verstanden. Ulrich Bach, Ottmar Fuchs und Jürgen Moltmann sind die Hauptrepräsentanten dieses Deutungsmodells. (b) Eine zweite Interpretationslinie versteht Behinderung als Ausdruck der Begrenztheit, Verletzlichkeit und Fragmentarität des menschlichen ————— 1

Saal, Warum sollte ich ein anderer sein wollen?, 236.

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Lebens. Im Wesentlichen betonen die theologischen Entwürfe damit die Normalität eines Lebens mit Behinderung, weil alles Leben begrenzt, verletzlich und imperfekt ist. Allerdings sind innerhalb dieses Modells durchaus wichtige Nuancen hervorzuheben. Eine Reihe von Theologinnen heben hervor, dass sich menschliches Leben in der Polarität von Glück und Leid, Gesundheit und Krankheit, Gelingen und Gefährdung bewegt. Vor diesem Hintergrund kommen die Autorinnen dann zu der Einschätzung, dass Behinderungen normal sind, dass sie Ausdruck der menschlichen Begrenztheit sind. „‚Normal‘ ist es […], daß Menschen mit Beeinträchtigungen leben“,2 heißt es bei Hans Grewel. Ähnlich argumentiert auch Michael Schibilsky. Anna-Katharina Szagun betont, dass eine schwere Behinderung nichts anderes als „eine besondere Erscheinungsform menschlicher Möglichkeiten unter anderen“3 ist. Gunda Schneider-Flume interpretiert Behinderung als ein Widerfahrnis im Leben, das nicht von Gott verursacht wird, in der Geschichte seiner Barmherzigkeit aber eine neue Perspektive erfährt. Jürgen Seim spricht dagegen von der Behinderung als einem „Sonderfall von menschlichem Leben“4 und stellt damit die intendierte Normalität wieder in Frage. Dem entspricht auch, dass Seim an anderen Stellen Behinderung als „Beschädigungen der Schöpfung“5 bezeichnet. (c) Einer dritten Deutungsform ist eher ein pädagogisches Verständnis eigen. Ihr ordne ich die Entwürfe von Reinhard Turre und KarlHermann Kandler zu. Reinhard Turre sieht in der Behinderung eine dem Menschen gestellte Aufgabe und Prüfung. Kandler spricht von einer von Gott auferlegten Last und einer Herausforderung zum Kampf. (d) Für eine vierte Gruppe von Theologen sind stärker biblischtheologische Interpretationskategorien leitend. Auch von ihnen kann die Normalität eines Lebens mit Begrenzungen hervorgehoben werden. Darüber hinaus wird von ihnen durchgängig deutlich gemacht, dass Gott Menschen mit Behinderung so wie alle Menschen bedingungslos annehme. Die Würde und Gottebenbildlichkeit des Menschen gelte ohne menschliche Verdienste und unabhängig vom Vorhandensein einer bestimmten körperlichen oder geistigen Verfassung. Was allerdings die spezifisch theologische Deutung des Phänomens „Behinderung“ anlangt, so greifen die Autoren stärker auf die neutestamentlichen Heilungserzählungen und das in ihnen zum Ausdruck kommende dämonologische Krankheits- bzw. Behinderungsverständnis zurück. Für Ge————— 2 3 4 5

Grewel, Zerbrechliches Leben, 10. Szagun, Behinderung, 116; analog, dies., Partnerschaftliches Verhalten, 34. Seim, Behindertsein als Menschsein, 341. Seim, Jesus und die Behinderten, 401.

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org-Hinrich Hammer manifestiert sich in einer Behinderung eine widergöttliche Macht. Auch Ulrich Eibach orientiert sich an den neutestamentlichen Texten, wenn er Krankheiten und Behinderungen als Vorboten des Todes und als Ausdruck einer lebenszerstörenden gottfeindlichen Macht begreift. Dabei greift er zugleich auf Karl Barths Theologie zurück, wenn er Behinderung als Ausdruck der widergöttlichen und gottfeindlichen Macht des Nichtigen und Bösen betrachtet. 2. Diese inhaltlich so divergierenden Konzeptionen sind in ihrem theologischen und anthropologischen Ansatz erstaunlich häufig christologisch akzentuiert. Ulrich Bach spricht von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus als der „christozentrischen Schaltstelle meines Denkens“.6 Auch für Michael Schibilsky „ist Anthropologie im Kern […] Christologie“.7 In je individuell akzentuierter Weise geben auch Jürgen Moltmann, Ottmar Fuchs, Gunda Schneider-Flume, Reinhard Turre und Ulrich Eibach ihren anthropologischen Entwürfen eine dezidiert christologische Grundierung. Häufig ist es eine inkarnatorische Christologie, von der aus Linien zum Menschsein gezogen werden. Moltmann, Bach und Fuchs legen die Inkarnationschristologie aber auch kreuzestheologisch aus. 3. Hinter der starken christologischen Akzentuierung der Anthropologie stehen fundamentaltheologische Grundentscheidungen, die im Bereich der Offenbarungslehre und der theologischen Epistemologie gefällt werden. Diese Grundentscheidungen sind hier nicht zu diskutieren. Hinweisen möchte ich aber auf die Konsequenzen: in den meisten Fällen führt der Christozentrismus zu einer Bedeutungsrelativierung philosophisch-anthropologischer Entwürfe. So grenzt beispielsweise Reinhard Turre sein christologisches Menschenbild eindeutig von philosophischen Bemühungen ab: „Wer der wirkliche Mensch ist, muß uns offenkundig gesagt werden, da wir es nicht eindeutig aus den Erfahrungen dieser Welt […] ableiten können.“8 So ist es nicht überraschend, dass sich unter den dargestellten Konzeptionen nur drei befinden, die sich auch um die philosophische Plausibilität ihrer Überlegungen bemühen: Hans Grewel orientiert sich an einem philosophischen Konzept des Lebens und Anna-Katharina Szagun arbeitet mit einem interdisziplinär aufgeschlossenen Konvergenz-Modell. Christoph Bäumler schließlich gibt seiner Skizze eine transzendentalphilosophische Grundlage. ————— 6 7 8

Bach, Der behinderte Mensch – ein Geschöpf Gottes, 104. Schibilsky, Ethik der Menschenwürde, 222. Turre, Die Stärke der Schwachen, 36.

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4. Die beobachtete Dominanz stark positionell ausgerichteter Modelle entspricht nicht der allgemeinen theologisch-anthropologischen Diskussionslage. Immerhin liegen mit Wolfhart Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ oder den Entwürfen von Eilert Herms und Wilfried Härle auch wichtige Konzepte mit einer unübersehbaren philosophisch-theologischen Akzentsetzung vor. Ihr Fehlen in der anthropologischen Diskussion um Behinderung dürfte sachliche Gründe haben: von ihnen aus scheint es auf den ersten Blick schwieriger zu sein, das Menschsein von Personen mit einer schweren geistigen Behinderung angemessen zu beschreiben. Umgekehrt scheint sich eine inkarnatorische Anthropologie leichter für eine solche Beschreibung zu eignen. 5. Die meisten dargestellten Entwürfe sind allerdings nicht nur gegenüber einer philosophischen Anthropologie distanziert, sondern öffnen sich auch wenig dem interdisziplinären Gespräch. So wird die anthropologische Diskussion in der Behindertenpädagogik von kaum einem theologischen Konzept in den Blick genommen. Einzig Christof Bäumler arbeitet mit Manfred Thalhammers Begriff des „kognitiven Andersseins“. Ein wirkliches Gespräch zwischen theologischer und heilpädagogischer Anthropologie ist in den von mir bearbeiteten Entwürfen nicht erkennbar geworden. 6. Besser steht es um die Öffnung der theologischen Diskussion für Einsichten der Psychologie und Soziologie. So arbeiten die meisten Entwürfe mit einem sozialwissenschaftlich geöffneten Paradigma von Behinderung. Für Ulrich Bach, Jürgen Moltmann, Ottmar Fuchs, Gunda Schneider-Flume, Hans Grewel, Michael Schibilsky und andere ist Behinderung eine Kategorie, die sich nicht nur der physisch-psychischen Konstitution einer Person sondern auch gesellschaftlichen Interaktionszusammenhängen und Zuschreibungen verdankt. Anna-Katharina Szagun geht sogar so weit, Behinderung vor allem als gesellschaftliche Konstruktion zu begreifen.9 Allerdings arbeiten auf der anderen Seite Jürgen Seim, Reinhard Turre, Georg-Hinrich Hammer und Ulrich Eibach mit einem Begriff von Behinderung, der nicht zu erkennen gibt, ob er die interaktionalen Zusammenhänge mit umgreift. Wenn man darüber hinaus zu bedenken gibt, dass Hammer und Eibach in der Behinderung eine widergöttliche Macht erkennen, dann wirkt die unkommentierte Selbstverständlichkeit, mit der sie den Begriff der Behinderung gebrauchen, umso befremdlicher. 7. Angesichts des Umstandes, dass ein christozentrischer und dabei mehrfach an der Theologie Karl Barths orientierter anthropologischer An————— 9

Vgl. Szagun, Behinderung, 16.

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satz sowohl bei Ulrich Bach und Jürgen Moltmann einerseits sowie bei Reinhard Turre und Ulrich Eibach andererseits im Hintergrund steht, gibt es offenbar keine Zwangsläufigkeit darin, wie auf dieser fundamentaltheologischen Basis Behinderung verstanden wird. Das Deutungsspektrum, das auf der Basis einer vergleichbaren fundamentaltheologischen und anthropologischen Konzeption möglich ist, liegt zwischen Charisma und widergöttlicher Macht. 8. Die Differenzen der inhaltlichen Akzentuierung scheinen daher weniger mit den fundamentaltheologischen Grundentscheidungen als vielmehr mit der Ausrichtung des gesamten theologischen Konzeptes zu tun zu haben. Interessanterweise sprechen gerade diejenigen Entwürfe von den Kompetenzen und Begabungen, von den Rechten und der Selbstbestimmungsfähigkeit behinderter Menschen, die auch in anderen thematischen Zusammenhängen emanzipationsorientiert argumentieren. So entfalten Ulrich Bach, Jürgen Moltmann und Ottmar Fuchs gleichermaßen ihre Überlegungen im Horizont einer befreienden Theologie im europäischen Kontext. Michael Schibilsky gibt seiner Theologie eine starke Orientierung an den Menschenrechten. Und AnnaKatharina Szagun kommt durch die Betonung einer solidarischen und dialogischen Existenzverfassung zur Betonung je spezifischer menschlicher Möglichkeiten. Vor dem Hintergrund einer Theologie der Befreiung, der Rechte und des Dialoges scheint es offenbar einfacher zu sein, die kompetente Subjektivität und die Rechte von Menschen mit Behinderung in den Blick zu nehmen.10 —————

10 Dass auch befreiungstheologische Entwürfe nicht vor der Gefahr problematischer defizitärer Zuschreibungen gefeit sind, wird an Norbert Greinacher deutlich. Dieser stellt seinen Überlegungen zwar die These voran: „Jeder Mensch, auch der Behinderte ist ein Ebenbild Gottes“ (ders., Der behinderte Mensch als Herausforderung für die Christen, 111). Im weiteren Fortgang seiner Ausführungen kommt er allerdings zu der Einschätzung: „Die Behinderten erinnern uns an die ‚bodenlose Ambivalenz‘ menschlichen Daseins“ (ebd., 114). Im Gegensatz zu einer anthropologischen „‚Protzerei von Vitalität‘“ erinnere uns der Behinderte „daran, daß Krankheit und Behinderung, daß Menschlichkeiten und Begrenztheiten, daß Bedingtheit und Leid zur ‚condition humaine‘ dazugehören. Der behinderte Mensch erinnert uns augenfällig an den realen Zustand der von Gott zwar gut intendierten Weltschöpfung, die aber bis zum Ende der Geschichte nicht perfekte, unheile, ja heillose Welt ist. Der Behinderte ist ein Realsymbol für den menschlichen Menschen, das heißt für den nicht vollkommenen, bedingten, begrenzten, sagen wir es ruhig: für den behinderten Menschen schlechthin. Die christliche Tradition hat diesen grundlegenden Aspekt menschlichen Daseins interpretiert mit dem Theologumenon der Erbsünde, das heißt, sie hat klargemacht, daß der Mensch unabhängig von seinem Tun und Lassen in eine bestimmte Situation hineingeboren wird, die von Bedingtheit und Begrenztheit und damit auch von Schuld geprägt ist“ (ebd., 114f). Semantisch sind Greinachers Ausführungen von der Unterscheidung zwischen „uns“ und „den Behinderten“ geprägt und stellen dadurch die eingangs beschriebene gemeinsame anthropologische Basis in Frage. Inhaltlich kennzeichnet er Menschen mit Behinderung als Realsymbole für die heillose Welt. Diese Zuschreibung generalisiert das Phänomen der Behinderung zur

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9. Umgekehrt scheinen es mir Entwürfe zu sein, die ich unter dem Begriff einer Theologie des Erbarmens zusammenfassen möchte, die stärker an der Fürsorge, der Verteidigung und dem Schutz eines Lebens mit Behinderung orientiert sind. Bei Reinhard Turre, Jürgen Seim und vor allem Ulrich Eibach steht eine Anthropologie der Abhängigkeit und Bedürftigkeit im Mittelpunkt: Menschsein heißt bei Ihnen, auf Andere angewiesen und abhängig zu sein. In solchen Entwürfen gelten Menschen mit Behinderung als Gruppe von Personen, an denen diese anthropologische Angewiesenheit in exemplarischer Weise erkennbar wird und die deshalb in besonderer Weise des Erbarmens, der Solidarität, der Zuwendung und des Mit-Leidens bedürfen. Fürsorge, nicht Befreiung oder Selbstbestimmung dominieren diese Modelle. Gunda SchneiderFlumes Entwurf unterscheidet sich von den eben genannten dadurch, dass sie jede Sinngebung und Erklärungstendenz zurückweist. Darüber hinaus macht sie deutlich, dass durch Gottes Erbarmen ein Überschuss an Möglichkeit und damit eine neue Lebensperspektive in den Blick trete. Zugleich führt die Theologie des Erbarmens auch bei SchneiderFlume weniger zu einer Perspektive der Rechte als vielmehr zu einer Orientierung an der unbedingten Schutzwürdigkeit des Lebens. 10. Keines der untersuchten Konzepte führt Behinderung auf individuelle Schuld zurück. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang wird von allen Autorinnen abgelehnt. Anna-Katharina Szagun macht besonders stark auf die Ambivalenz der biblischen Texte und der kirchlich-theologischen Tradition aufmerksam, in denen das Vergeltungsdogma oft eine fatale Rolle gespielt hat. Obwohl die Entwürfe übereinstimmend den Tun-Ergehen-Zusammenhang ablehnen, bringen dennoch einige von ihnen das Phänomen der Behinderung in einen weiteren Zusammenhang mit Sünde bzw. Sündhaftigkeit. Für Ulrich Eibach gehören „schwere Krankheit, Behinderung und Leiden“ zum Bereich der von Gott „nicht gewollten und geschaffenen Mächten des ‚Nichtigen‘, zu Sünde und Elend (Krankheit, Tod).“11 Für Georg-Hinrich Hammer ist Behinderung der exemplarische Ausdruck jener Gebrochenheit und Schwäche der menschlichen Existenz, die in ihrer Sündhaftigkeit begründet sei. Bei Karl-Hermann Kandler ist dieser Zusammenhang indirekter angedeutet, wenn er Krankheit, Leiden und Behinderung als Repräsentanten der Erlösungsbedürftigkeit der Schöpfung versteht. Zwar wird also übereinstimmend kein behinderter Mensch individuell für seine Behinderung verantwort————— conditio humana und macht es den Betroffenen unmöglich, aus dieser Etikettierung heraus und in einen offenen Entwicklungsprozess einzutreten. 11 Eibach, Der leidende Mensch vor Gott, 155f.

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lich gemacht. Dennoch bleibt die Behinderung bei einigen Theologen in einem Assoziationsraum von Sündhaftigkeit stehen, den ich für problematisch halte.12 11. Keiner der Entwürfe macht anthropologische Spitzenaussagen, deren Geltung sich nicht auch auf Menschen mit einer geistigen Behinderung beziehen lassen. Die Frage Walter Neidharts, ob die „theologische Anthropologie im Blick auf die […] geistig Behinderten […] über den Menschen nachdenken darf, als ob es diese nicht gäbe?“13 ist keine Anfrage an die von mir diskutierten Modelle. Der kritische Impuls Neidharts ist damit allerdings noch nicht gegenstandslos, weil noch immer zu wenige theologische Entwürfe auf das Thema eingehen. 12. Den von mir untersuchten Konzeptionen ist es mehrheitlich eigen, im Bemühen um eine Anthropologie, die auch für Menschen mit geistiger Behinderung aussagefähig ist, auf elementare anthropologische Phänomene aufmerksam zu machen: Geschöpflichkeit, leiblich-seelische Einheit, Sozialität usw. Vor allem aber bringen die meisten Entwürfe die Normalität des Imperfekten zur Geltung. Sie machen auf das zerbrechliche Leben (Grewel) aufmerksam und betonen, dass das Defizitäre in die Definition des Humanum hineingehört (Bach). Auf die Erschöpflichkeit der Geschöpflichkeit, auf die Grenzen und Begrenzungen des Menschen machen in unterschiedlicher Wiese auch Moltmann, Fuchs, Schneider-Flume, Turre, Seim, Hammer, Schibilsky und Eibach aufmerksam. Aus einer metatheoretischen Perspektive können diese Entwürfe als der Versuch angesehen werden, durch Rückgriff auf basale anthropologische Phänomene zu einer inklusiven Theorie zu gelangen. Dabei verbleiben sie allerdings in einer erkennbaren Differenz zu jenen anspruchsvollen anthropologischen Traditionen, die das Humanum entweder über das Selbstbewusstsein oder über die Sprachfähigkeit des Menschen bestimmt haben. Einzig Christof Bäumler hat sich der transzendentalphilosophischen Traditionslinie gegenüber geöffnet. 13. Alle vorliegenden Entwürfe sind integrationsorientiert.14 Allerdings sind Nuancen im Integrationskonzept unverkennbar. Am stärksten haben Bäumler und Fuchs aus dem Integrationsgedanken heraus auf die Notwendigkeit verwiesen, vermehrt halboffene und offene Hilfeangebote zu machen. Fuchs nennt die Durchlässigkeit von geschlosseneren und offeneren Einrichtungen zueinander eine „Gretchenfrage“. Eibach —————

12 Norbert Greinacher bezeichnet den Behinderten als „ein Realsymbol für den […] nicht vollkommenen, bedingten, begrenzten […] Menschen schlechthin“ und bringt dies „mit dem Theologumenon der Erbsünde“ in Verbindung (vgl. Greinacher, ebd., 115). 13 Neidhart, Geistigbehinderte als Anfrage an die theologische Anthropologie, 305. 14 Das Inklusionskonzept wird in den von mir untersuchten Konzepten noch nicht explizit aufgegriffen, sosehr einzelne Überlegungen auch in diese Richtung weitergeführt werden können.

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Zusammenfassende Thesen

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dagegen kritisiert die Bemühung um eine stärkere Deinstitutionalisierung als Überforderung und setzt ein stärkeres Fürsorgeparadigma dagegen. Ein Zusammenhang zwischen Menschenbild und Pädagogik scheint mir durchweg erkennbar zu sein. Während die emanzipationsorientierten anthropologischen Entwürfe auch in ihren integrativen pädagogischen Überlegungen offensiver argumentieren, sind die fürsorgeorientierten Modelle gegenüber der Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung zurückhaltender. 14. Das Modell einer gelungenen Integration erblicken die meisten Konzepte in der paulinischen Leib-Christi-Ekklesiologie. Jürgen Moltmann sieht in ihr das „Prinzip der Anerkennung des Anderen in seiner Andersartigkeit“15 gerettet. Ulrich Bach spricht vom Leib Christi als Patientenkollektiv und einer Ergänzungsgemeinschaft: „Kirche ist die Gemeinschaft derer, die sich gegenseitig brauchen, jeder kann etwas einbringen ins Ganze, jeder ist auf Hilfe anderer angewiesen, Kirche als Patienten-Kollektiv“.16 Ähnlich sehen auch Szagun, Turre, Grewel, Hammer und Fuchs im Leib-Christi-Modell das Paradigma einer gelungenen Integration. 15. Mehrere Entwürfe beschäftigen sich mit den Heilungswundern Jesu. Vielen Autoren ist die Betonung der Heilungstätigkeit Jesu wichtig. Die inhaltlichen Akzente gehen allerdings weit auseinander. Während Ulrich Eibach auf der einen Seite Heilungen als Antizipationen der Auferweckungsmacht Gottes ansieht und auch heute Gottes kontingentes Handeln in die Welt hinein für realistisch hält, steht auf der anderen Seite die pointierte Aussage von Ulrich Bach „Ich wurde nicht geheilt“. Während Bach Heil und Heilung sehr stark von einander trennt, ordnet wiederum Ottmar Fuchs beide stark einander zu. Hans Grewel versteht die Heilungswunder nicht als Abschaffung eines körperlichen Gebrechens sondern als Erfüllung dringendster Bedürfnisse. Anna-Katharina Szagun wiederum sieht in den Heilungswundern den gelebten Protest gegenüber der menschlichen Not sowie ihre symbolische Überwindung. 16. Vom Verständnis der Heilungswunder ist in mehreren Konzepten auch die Vorstellung geprägt, wie Gott sich zu Behinderungen verhält. Aus der Heilungstätigkeit Jesu leiten einige Entwürfe den Widerstand Gottes gegen die Behinderung ab. „Jesus praktiziert Widerstand gegen die Behinderung“17 heißt es bei Jürgen Seim. Ähnlich äußern sich auch Turre, Kandler, Hammer und Eibach. Die meisten dieser Autoren versuchen, die Spannung zwischen der Annahme behinderter Menschen ————— 15 16 17

Moltmann, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes, 48. Bach, Das annehmen, was Gott will, 32. Seim, Kranksein – Behindertsein – Menschsein, 29.

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Deutungen von Behinderung in der zeitgenössischen Theologie

durch Gott und dem Kampf Gottes gegen die Behinderung durch die Unterscheidung von Person und Behinderung einzuholen: der behinderte Mensch sei als Person von Gott geliebt und angenommen; seine Behinderung dagegen sei nicht von Gott gewollt – ihr gelte der göttliche Widerstand. 17. Viele Konzepte rechnen mit einer eschatologischen Aufhebung der Behinderung. Exemplarisch bei Karl-Hermann Kandler: „Die alte Schöpfung kennt die Behinderung, die neue nicht.“18 Sachlich analog äußern sich auch Seim, Turre und Eibach. Die eschatologische Konvergenz von Heil und Heilung hebt auch Fuchs hervor. Einen etwas anderen Akzent setzen dagegen Moltmann und Bach. Moltmann denkt das Eschaton als einen Raum und eine Zeit, in denen „sich abgebrochenes, behindertes und zerstörtes Leben frei wird entfalten können.“19 Ulrich Bach dagegen macht darauf aufmerksam, dass das Eschaton als eine Verwandlung begriffen müsse: für Menschen mit und ohne Behinderung. 18. Auffallend oft sehen die theologischen Autorinnen in Menschen mit Behinderung die menschliche Schwäche und Gefährdung in exemplarischer Weise zum Ausdruck kommen. So besteht für Moltmann das Charisma des behinderten Lebens u.a. darin, dass der Mensch mit Behinderung „anderen die kostbare Einsicht in die Verletzlichkeit und die Schwachheit des menschlichen Lebens“20 gibt. Für Ottmar Fuchs decken Menschen mit Behinderung „einen prinzipiellen Wahrheitswert des Menschseins“ auf, der in ihrer „Angewiesenheit auf“ und in ihrer „Abhängigkeit von anderen“ 21 bestehe. Nicht einmal emanzipationsorientierte theologische Entwürfe sind demnach vor der Gefahr gefeit, in Menschen mit Behinderung vor allem einen Ausdruck anthropologischer Schwachheit zu erkennen. 19. Bei einigen Theologinnen wie Gunda Schneider-Flume, Jürgen Seim, Reinhard Turre, Karl-Hermann Kandler und Ulrich Eibach ist das Verständnis von Behinderung stark mit dem Begriff des Leidens konnotiert. Schneider-Flume macht zwar in einer Fußnote deutlich, dass „Behinderung und Leiden […] deutlich unterschieden werden“ müssen, sieht aber auf der anderen Seite „angesichts der Beziehung von Behinderung und Leiden auf die Geschichte Gottes im Glauben deutliche Analogien, die es erlauben, gelegentlich die Erfahrung von Behinderung und die von Leiden gemeinsam zu nennen.“22 In ihrer Thematisierung von Behinderung spielt der Aspekt des Leidens durchgängig eine ————— 18 19 20 21 22

Kandler, Behindertenethik, 86. Moltmann, Das Kommen Gottes, 139. Vgl. Moltmann, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes, 70f. Fuchs, Die Autonomie des Menschen, 24. Schneider-Flume, Überlegungen zu Vorsehung und Behinderung, 274, Anm. 1.

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Zusammenfassende Thesen

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Rolle. Reinhard Turre wiederum spricht von Leid und Behinderung nahezu synonym. Auch bei Ulrich Eibach werden schwere Krankheit, Behinderung und Leiden oft in einem Atemzug genannt. Fredi Saals Wunsch, als Mensch mit Behinderung nicht von vornherein in die Leidensecke gestellt zu werden, wird demnach noch nicht von allen Entwürfen erfüllt. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass es gerade unter den zuletzt genannten Entwürfe solche sind, in denen Behinderung als „beschädigte Schöpfung“ (Seim) oder – wie bei Eibach – als Ausdruck der widergöttlichen und gottfeindlichen Macht des Bösen verstanden wird, dann erscheint nicht nur Fredi Saals Kritik als berechtigt, sondern auch Ulrich Bachs Anfrage, ob nicht auch die Theologie behindere.

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Teil B: Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven theologischen Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie Einleitung Die Frage „Was ist der Mensch?“ ist nach Ernst Bloch „falsch gestellt, oder zumindest unvollständig. Es kann nicht heißen ‚Was ist der Mensch?‘ sondern ‚Was wird der Mensch?‘ oder ‚Was kann er werden?‘ […] Denn er ist noch nicht bestimmt.“ Die berühmte Antwort des Odysseus „ich heiße niemand“ sei „in Wahrheit den meisten von uns, wenn nicht allen, ihr bis jetzt errungener Name. Unbestimmt aber auch offen.“1 Ernst Bloch hat mit seiner Transformation der Frage nach dem Menschsein darauf aufmerksam gemacht, dass Veränderung, Entwicklung und Bildung in die Definition des Menschseins einzubeziehen sind. „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“2 Gerade die Betonung des Unabgeschlossenen und Offenen ist auch ein Charakteristikum theologischer Anthropologie. In christlicher Perspektive kann es keine abgeschlossenen anthropologischen Aussagen geben. Vielmehr steht das Menschsein stets im Werden. Es ist bestimmt von der Geschichte des dreieinigen Gottes, der sich in Schöpfung, Erlösung und Vollendung auf das menschliche Leben bezieht. „Wir sind schon Gottes Kinder“ schreibt der Autor des ersten Johannesbriefes, „es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden“ (1Joh 3,2). „Und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.“3 das gilt für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen. Für alle Menschen. Die Anthropologie hat mit dieser Unabgeschlossenheit des Menschen zu rechnen, hat die Nichtdefinierbarkeit des Menschen in die Definition seines Wesens aufzunehmen. Zugleich steht sie vor der Aufgabe, ihre Aussagen inklusiv zu formulieren. Jedes anthropologische Diktum ist daraufhin zu reflektieren, ob es auch Menschen mit Behinderung einzuschließen vermag. Ich möchte in diesem Teil meiner Untersuchung Aspekte einer solchen offenen und inklusiven theologischen Anthropologie skizzieren. Dabei erweist sich eine grundsätzliche Erweiterung der Darstellung als notwendig: in meiner bisherigen Darstellung der theologischen Deutungsmodelle war vor allem von Menschen mit Behinderung die Rede. Wenn aber der Charakter einer Sonder————— 1 2 3

Bloch, Was ist der Mensch? Vortrag an der Universität Tübingen, 1971, SDR 1971. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Werke 13, 13. Sölle, Und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, 7.

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Einleitung

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anthropologie für Menschen mit Behinderung vermieden werden soll, müssen sich die anthropologischen Reflexionen auf das Menschsein insgesamt und nicht allein auf das Phänomen „Behinderung“ beziehen. Die in den folgenden Abschnitten thematisierten Dimensionen des Menschseins sind daher grundsätzlich inklusiv zu reflektieren, d.h. so, dass sie für alle Menschen Geltung besitzen. Das bringt es mit sich, dass das Thema „Behinderung“ nicht in jedem Abschnitt ausdrücklich angesprochen wird. Das ist beabsichtigt und für eine inklusive Anthropologie unausweichlich. Alle Reflexionen müssen sich gleichwohl daran messen lassen, dass sie auch Menschen mit Behinderung einschließen. Eine inklusive Anthropologie muss beides leisten: ihre Aussagen müssen für alle Menschen gelten und sie müssen sich konkretisieren lassen für Menschen mit Behinderung. Die folgende anthropologische Skizze reflektiert Aspekte des Menschseins: Personalität, Subjektivität, Leiblichkeit, Sozialität, Glaube, Bildung und Fragmentarität. Die Darstellung muss in der Erörterung dieser Themen selbst Fragment bleiben. Die Einbeziehung weiterer Aspekte wäre möglich gewesen, ist aber angesichts des bereits jetzt nicht unbeträchtlichen Umfangs unterblieben. Die jetzt ausgewählten stellen gleichwohl besonders wichtige Dimensionen des Menschseins dar, weil sie von den unhintergehbaren Beziehungen ausgehen, in denen Menschen ihr Leben führen: der Gottes-, Sozial- und Selbstbeziehung. In der Personalität wird die Einheit des beziehungsreichen Lebens reflektiert. Mit Subjektivität, Sozialität und Glaube werden das Selbst-, Sozial- und Grundverhältnis des Menschen bedacht. Leiblichkeit wiederum ist eine Dimension, die alle menschlichen Beziehungsdimensionen spezifisch prägt. Mit Bildung und Fragmentarität tritt schließlich der Entwicklungsaspekt des Seins-in-Beziehung in den Blick – und zwar sowohl in seinen Möglichkeiten und Begrenzungen. Meine Erörterungen beginne ich zumeist mit einem Beispiel aus der Lebenswelt von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Anschließend trete ich in eine ausführliche Erörterung ein: nach einem Blick auf das biblische Zeugnis folgen Hinweise zu ausgewählten theologischen und philosophischen Theorien. Mit ihnen werden wirkungsgeschichtlich einflussreiche Konzepte und damit zugleich problemgeschichtliche Kontexte des jeweiligen Themas dargestellt. Anschließend versuche ich, einige Gesichtspunkte der aktuellen theologischen Diskussion zu skizzieren. Ich berücksichtige dabei Entwürfe mit unterschiedlichen theologischen Akzenten. Nicht durchgängig konnte ich dieselben Autoren zu Wort kommen lassen. Das war deshalb unmöglich, weil sich nicht alle von ihnen zu jedem der entsprechenden Aspekte ausführlich geäußert haben. Trotzdem habe ich mich bemüht, die Ansätze so auszuwählen, dass einerseits eine möglichst hohe Kontinuität von Positionen zum Tragen kommt und andererseits markante Differenzen zwischen den theologischen Konzepten erkennbar wer-

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

den. Nachdem ich so einen möglichst differenzierten Überblick über die Problemgeschichte und einige aktuelle Diskussionslinien des jeweiligen Themas gewonnen habe, setze ich mich anschließend mit den aufgeworfenen Fragen theologisch auseinander. Um die Relevanz der anthropologischen Erörterung für Menschen mit einer geistigen Behinderung herauszuarbeiten, schlage ich am Ende eines jeden Kapitels eine Brücke zur Behindertenpädagogik. Dabei versuche ich einerseits zu zeigen, wie das jeweilige Thema in der Behindertenpädagogik selbst reflektiert und diskutiert wird. Aus dieser Beziehung ergeben sich Gesprächsfäden mit wechselseitigen Impulsen für eine vertiefende Reflexion. Andererseits greife ich ausgewählte pädagogische Theorien und Konzepte auf. Mit ihnen erläutere ich, wie pädagogische Konzepte auf die jeweilige anthropologische Dimension eingehen und ihre Methoden auf sie abstellen. Bei diesem Brückenschlag zwischen Theologie und Behindertenpädagogik ergeben sich Konturen eines Dialogs, der gerade von Seiten der Theologie bislang erstaunlicherweise nur wenig geführt worden ist. Die Erörterungen dieser abschließenden Abschnitte konkretisieren überdies die anthropologischen Überlegungen in ihrer Bedeutung für Menschen mit geistiger Behinderung. Das erste und letzte Kapitel haben innerhalb dieses Teiles eine jeweils besondere Bedeutung. Im Eröffnungskapitel thematisiere ich die m.E. entscheidende Kategorie der theologischen Anthropologie: „Der Gott entsprechende Mensch heißt in der Bibel Ebenbild Gottes, Imago dei.“4 Mit der Gottebenbildlichkeit bringt die Theologie die entscheidende Perspektive sowie zentrale Inhalte zur Sprache, die ihren spezifischen Beitrag zur anthropologischen Diskussion ausmachen. Das Eröffnungskapitel bringt deshalb ein Grundkapitel theologischer Anthropologie zur Geltung, das die anschließenden Erörterungen miteinander verklammert. Die anthropologischen Dimensionen, die ich innerhalb dieses zweiten Teils meiner Arbeit reflektiere, sind Dimensionen des gottebenbildlichen Menschen. In den verschiedenen Abschnitten komme ich daher auch regelmäßig auf die imago Dei zurück und versuche durch ihre Einbeziehung die theologische Reflexion der jeweiligen anthropologischen Dimensionen zu präzisieren. Das Schlusskapitel wendet sich noch einmal konzentriert dem Thema des Menschseins mit einer Behinderung zu. Ich habe es bewusst „Inklusion“ genannt, weil die Aussagen, die hier getroffen werden, erneut in andere anthropologische Diskurse übertragbar sind und sein müssen. Ohne also in die Semantik einer Sonderanthropologie zurückzufallen, versuche ich in diesem Kapitel, in konzentrierter Form die Ergebnisse meiner Untersuchung für Menschen mit einer Behinderung zusammenzufassen. Dabei ergeben sich Ergänzungen und Präzisierungen. ————— 4

Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, in: ders., Entsprechungen, 300.

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Einleitung

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Wie ich in den ersten beiden Teilen meiner Studie deutlich gemacht habe, haben zahlreiche – sowohl behindertenpädagogische als auch theologische – Konzepte ihre Überlegungen nicht auf eine konkrete Funktionsbeeinträchtigung konzentriert sondern als Charakterisierungen des allgemein verstandenen Phänomens „Behinderung“ vorgetragen. Gleichwohl ist es nicht verwunderlich, dass in der Behindertenpädagogik das Maß der Differenzierung insgesamt höher ist. Ich konzentriere meine Überlegungen in den folgenden Abschnitten besonders auf Menschen mit einer geistigen Behinderung. Mit Beispielen aus ihrer Lebenswelt eröffne ich die Erörterung und mit pädagogischen Reflexionen aus der Geistigbehindertenpädagogik schließe ich sie ab. Trotz dieser Konzentration gelten die meisten Reflexionen auch über den genannten Personenkreis hinaus. Auch das ist ein Charakteristikum einer inklusiven Anthropologie und daher gewollt.

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1. Gottebenbildlichkeit oder: Ich bin „nach dem besten Bild gebild’t“1 Gottebenbildlichkeit Mit dem Stichwort der Gottebenbildlichkeit hat ein anthropologischer Begriff Karriere gemacht, dem – ginge es nach der Häufigkeit biblischer Bezeugung – allenfalls Außenseiterchancen einzuräumen gewesen wären. Lediglich an drei Stellen der hebräischen Bibel, die alle der Autorschaft der Priesterschrift zuzurechnen sind, wird vom Menschen als Bild Gottes gesprochen: Gen 1,26f.; 5,1.3; 9,6.2 Der erst nachexilisch entstandene Vorstellungszusammenhang ist – unter dem Einfluss der Septuagintaübersetzung und griechischer Philosophie – in der hellenistischen Zeit mehrfach rezipiert worden, wovon Texte in den außerbiblischen Schriften zeugen, u.a. Sir 17,1–4, Weish 2,23.3 Einige neutestamentliche Autoren haben diesen Rezeptionsweg aufgegriffen und ihm eine neue Richtung gegeben, indem sie den Gedanken der Gottebenbildlichkeit auf Christus bezogen haben. Hier sind insbesondere Paulus (u.a. 2Kor 4,4; Röm 8,29) sowie die Schreiber des Kolosser- und des Hebräerbriefes (u.a. Kol 1,15; Hebr 1,3) zu nennen. Insgesamt bleiben die biblischen Bezeugungen quantitativ gering. Vor allem aber: sie sind inhaltlich divergent. Eine ausgeführte „Theologie der Gottebenbildlichkeit“ wird von den biblischen Texten nicht präsentiert. Es macht Staunen, dass trotz dieses Befundes die Gottebenbildlichkeit zum anthropologischen Leitbegriff avanciert ist. Für Wilfried Härle ist sie „die entscheidende theologische Aussage über den Menschen“.4 Für Jürgen Moltmann ist sie „der Grundbegriff der theologischen Anthropologie“.5 Zu diesem Siegeszug haben unterschiedliche Faktoren beigetragen.6 Zu ihnen gehört, dass kein anderer Begriff in ähnlicher Weise die anthropologischen ————— 1

EG 388, V. 6. Vgl. Groß, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 11: „Im hebräischen Alten Testament ist die Gottebenbildlichkeit des Menschen ein junges, wohl frühnachexilisches, isoliertes Theologumenon, beschränkt auf ein einziges Werk, die Priesterschrift, dort allerdings an strukturell herausragende Stelle gesetzt“. 3 Vgl. zum Bild Gottes im vor- und außerrabbinischen Frühjudentum: Jervell, Art.: Bild Gottes I, 492–494. 4 Härle, Dogmatik, 434. 5 Moltmann, Gott in der Schöpfung, 222. 6 Dazu gehört u.a. auch die Herausforderung durch die Gnosis: „Die theol. Entfaltung der Lehre von der G.[ottebenbildlichkeit] in der christl. Theologiegesch. beginnt […] in der Auseinandersetzung mit der Gnosis“ (Markschies, Art.: Gottebenbildlichkeit, 1160; Ergänzung U.L.). 2

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Gottebenbildlichkeit

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Einzelaussagen bündeln und innerhalb eines heilsgeschichtlichen Rahmens dynamisieren konnte. Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit hat faszinieren können, weil er sich auf den Menschen und zugleich nicht nur auf den Menschen bezieht, weil seine Semantik mit der menschlichen zugleich eine zweite, die göttliche Wirklichkeit in den Blick nimmt, von der her die erste verstehbar wird. Er ist eine infinite Definition, eine offene Feststellung. Er verbindet Prägnanz und Interpretationsoffenheit. Ich möchte mich im Folgenden zunächst der biblischen Tradition und anschließend der systematisch-theologischen der imago Dei zuwenden.

1.1 Der Mensch: eine Plastik Gottes „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1). Die Bibel nimmt Leserinnen mit ihrem ersten Satz in eine Dramaturgie hinein, in der Gott das Chaos bannt, Lebensorte ordnet und Lebensformen in immer komplexeren Gestalten ins Dasein ruft. Innerhalb dieser kunstvoll gestalteten Schöpfungserzählung lässt die Erschaffung des Menschen aufhorchen, weil in ihr das Geschöpf durch etwas anderes als es selbst definiert wird: der Mensch, ein Bild, eine Plastik Gottes. „Und Gott sagte: Wir wollen Menschen machen als unsere Statue unseresgleichen, damit sie herrschen über die Fische des Meeres und über das Fluggetier des Himmels und über das Vieh und über alles ‚Getier‘ der Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. Und Gott schuf den Menschen als seine Statue, als Statue Gottes schuf er ihn: männlich und weiblich schuf er sie. Und Gott segnete sie, und Gott sagte zu ihnen: Seid fruchtbar und werdet zahlreich und füllet die Erde und nehmt sie in Anspruch und herrscht über die Fische des Meeres und über das Fluggetier und über alles Getier, das auf der Erde kriecht.“7 Walter Groß’ Übersetzung macht deutlich, worum es sich bei dem Ausdruck Gottebenbildlichkeit handelt: der Mensch wird hier als Statue, als Plastik Gottes aufgefasst. Das dafür gebrauchte hebräische Substantiv ~l,c, (zelem) „meint ein konkretes plastisches Abbild, ein Porträt, ein Standbild, eine Statue“.8 Das im gleichen Zusammenhang stehende Wort tWmD> (demut) „bedeutet Gleichheit […]. Beide Substantive sind austauschbar und […] fast bedeutungsgleich“.9 In der Formulierung „Wir wollen Menschen machen als unsere Statue (zelem) unseresgleichen (demut)“ ist deshalb keine Abschwä—————

7 Übersetzung: Groß, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 11f (erläuternde, in Klammer gesetzte hebräische Begriffe sowie Versbezeichnungen ausgelassen; U.L.). 8 Jervell, ebd., 491. 9 Ebd.

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

chung enthalten.10 Der Mensch ist für die Priesterschrift vielmehr tatsächlich „eine vollplastische Kopie Gottes“.11 Möglicherweise steht im Hintergrund dieser merkwürdig anmutenden Vorstellung die Auffassung von einer äußeren Gestaltähnlichkeit zwischen Gott und Mensch. Hermann Gunkel hat in diesem Sinn davon gesprochen, der erste Mensch sei „Gott ähnlich an Gestalt und Aussehen“.12 Gleichwohl ist mit der Feststellung einer Theomorphie des Menschen noch nicht die Bedeutung der Gottebenbildlichkeitsvorstellung getroffen. Sie kommt in den Blick, wo Inhalt, Funktion und Kontext der Formulierung genauer analysiert werden. Dies soll in einigen Stichworten erfolgen: (1) Der Gedanke einer Ebenbildlichkeit Gottes ist im Alten Orient bekannt gewesen. Seine spezifische Bedeutung im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht erhält er durch eine zentrale Bedeutungsverschiebung. Am weitesten verbreitet war diese Vorstellung in Ägypten. Hier spielte sie aber ausschließlich in der Königsideologie eine unverzichtbare Rolle. In Texten aus der Zeit der 18. und 19. Dynastie (ca. 1550–1190 v.Chr.) wird der Pharao als Abbild des Gottes bezeichnet. So lautet beispielsweise ein Wort des Gottes Amon Re an Pharao Amenophis III: „Du bist mein geliebter Sohn, aus meinen Gliedern hervorgegangen, mein Ebenbild, das ich auf der Erde eingesetzt habe. Ich habe dich die Erde in Frieden beherrschen lassen“.13 In diesen und anderen Textzeugnissen wird – strukturanalog mit dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht – die Gottebenbildlichkeit des Pharao mit der Funktion seiner Herrschaftsausübung verknüpft. Aber die Differenz zwischen den ägyptischen und den israelitischen Texten ist eine ums Ganze. Während im Reich am Nil die Gottebenbildlichkeit zur Absicherung der exklusiven Herrschaft des Pharao diente, wird die analoge Vorstellung in Israel zur würdevollen Auszeichnung jedes Menschen. Nach Werner H. Schmidt hat sich darin „die sog. ‚Demokratisierung‘ im Alten Testament wieder grundsätzlich vollzogen […]. Das Alte Testament hat verallgemeinert und jedermann […] zugesprochen, was einst im Wesentlichen nur dem König zukam: als ‚Bild Gottes‘ Herrschaft auszuüben.“14 —————

10 Dies ist inzwischen exegetischer Konsens, vgl. u.a: Westermann, Genesis, 202f; Groß, Art.: Gottebenbildlichkeit, 871; Schmidt, Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift, 133f. 11 Kaiser, Der Mensch, Gottes Ebenbild und Statthalter auf Erden, 46. 12 Gunkel, Genesis, 112. 13 Schmidt, Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift, 139; vgl. auch die Inschrift Thutmoses III.: „Der vollkommene Gott, Herr der Freude, Herr der Kronen, der die Krone von Oberägypten ergriffen hat, der die beiden Mächtigen in Leben und Wohlsein vereint hat, das Abbild […] Res, sein Sprössling, den er eingesetzt hat, daß er die beiden Ufer beherrsche“ (Kaiser, Der Gott des Alten Testaments, Bd. 2, 307; weitere Textbeispiele an den genannten Stellen und bei Westermann, Genesis, 210f. 14 Schmidt, Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte, 206. Neben der stark prägenden Analogie zur ägyptischen Königsideologie fallen die übrigen Traditionslinien wirkungsgeschicht-

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Gottebenbildlichkeit

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(2) Die Strukturanalogie und ihre hermeneutische Umbesetzung geben auch den Blick auf die Bedeutung der Gottebenbildlichkeit des Menschen frei. Eine Statue hat die Funktion, das, was sie abbildet, zu vergegenwärtigen. Könige stellten in den von ihnen eroberten Ländern und Provinzen Statuen auf, „um so zu bekunden, daß ihre Herrschaft so weit reicht, wie der betreffende König durch seine Statue gleichsam gegenwärtig ist“.15 Die Aufgabe einer Statue Gottes besteht analog darin, Gott selbst zu repräsentieren. Der Mensch ist deshalb nach der Auffassung der Priesterschrift ein Repräsentant bzw. Stellvertreter Gottes auf Erden. So wird „Gott proklamiert, wo der Mensch ist. Der Mensch repräsentiert, bezeugt Gott auf Erden.“16 (3) Die Frage nach dem Inhalt der Repräsentanz Gottes in der Welt wird von der Priesterschrift eindeutig final beantwortet: „damit sie herrschen […] über alles ‚Getier‘ der Erde […]“ (V. 26). Die Funktion der Gottebenbildlichkeit besteht demnach in der Herrschaft über die Tiere.17 Auch hier ist der Blick auf die ägyptischen Ausgangsbedeutung weiterführend. Dem Pharao oblag als dem Bild Gottes „die Pflicht, Natur und Gesellschaft in ihre schöpfungsmäßige Ausgewogenheit zu bringen oder, wie der Ägypter gesagt hätte, Ma’at zu tun.“18 Das gleiche gilt auch in der demokratisierten und egalisierten Formulierung der Priesterschrift. Der Mensch repräsentiert Gott auf Erden, indem er über die Tiere – nicht aber über die Menschen (! vgl. 1,28; 9,6) – herrscht. Die zur Bezeichnung des Herrschens in V. 26 und 28 gebrauchten Verben haben eine ähnliche Semantik: hdr (radah) hat die harte Bedeutung von „niedertreten“ und „unterwerfen“; vbk (kabasch) bedeutet „beherrschen“ und „unterwerfen“.19 In ihrer Verwendung klingt erneut die Königsideologie nach. Dass damit aber keineswegs ein Freibrief für eine schonungslose Naturherrschaft ausgestellt wird, ergibt sich aus dem Charakter der Gottebenbildlichkeit. Besteht diese darin, eine Statthalterschaft Gottes auszuüben, so ist die Ausübung der Herrschaft eben darin auch inhaltlich bestimmt. Es handelt sich um das Verhältnis einer Entspre————— lich ab. In neuassyrischen Fragmenten wird beispielsweise König Tukulti-Ninurta I. (1244–1208) als Bild bzw. Statue des Gottes Enlil bezeichnet. In babylonischen Texten wiederum wird getrennt die Erschaffung normaler und des königlichen Menschen berichtet, ohne dass dabei die Metapher der Ebenbildlichkeit fällt. Die neuassyrischen und babylonischen Parallelen stehen allerdings in der Häufigkeit der Bezeugung und in der Intensität des Entsprechungsverhältnisses den ägyptischen Texten eindeutig nach (vgl. die ausführlichere Darstellung der verschiedenen Traditionslinien bei Walter Groß, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 13–18. 15 Scharbert, Der Mensch als Ebenbild Gottes in der neueren Auslegung von Gen 1,26, 253. 16 Schmidt, Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift, 144. 17 Darin stimmen die meisten Exegeten überein; vgl. u.a. Groß, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 21; Ebach, Die Erschaffung des Menschen als Bild Gottes, 207; Kaiser, Der Gott des Alten Testaments, Bd. 2, 308; Steck, Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift, 151; Jervell, Art. Bild Gottes I, 492. 18 Kaiser, Der Mensch, Gottes Ebenbild und Statthalter auf Erden, 50. 19 Vgl. Westermann, Genesis, 218, 222.

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

chung: so wie sich Gott gegenüber der Schöpfung verhält, so soll der Mensch seine Statthalterschaft ausüben. Nicht aus einer philologischen Analyse der Verben „radah“ und „kabasch“,20 sondern aus der Rückbindung des Herrschaftsauftrages an die Funktion der Gottebenbildlichkeit ergibt sich, dass Herrschen hier als verantwortungsvolle Machtausübung und Gestaltung begriffen werden kann. (4) Wenn man die Bedeutung der Gottebenbildlichkeit von ihrer Funktion her erschließt, erübrigen sich Versuche, ihren Charakter an einem besonderen Merkmal des Menschen festmachen zu müssen. Die Theologiegeschichte ist reich an den verschiedensten solcher Deutungsbemühungen und noch in der Exegese der jüngeren Zeit kommen sie zum Tragen. So hat auf der einen Seite des Deutungsspektrums Ludwig Köhler die Gottebenbildlichkeit in der aufrechten Gestalt des Menschen erblicken wollen.21 Auf der anderen Seite des Interpretationsspektrums betont Otto Kaiser den „Geistcharakter“ des Menschen, der unter Einschluss von Vernunft, Urteilskraft und Willen die formale Gottähnlichkeit ausmache.22 All diese Verstehensversuche gehen über den Wortlaut des Textes hinaus. Von der Priesterschrift her bleiben sie ungedeckt. „Alle Versuche in den letzten 100 Jahren […], das durch die G.[ottebenbildlichkeit] ausgesagte bes.[onders] enge Gottesverhältnis […] ontologisch zu füllen […], haben sich als dem Duktus v.[on] Gen 1 unangemessen nicht durchsetzen können.“23 Die Trennung der anthropologischen Bereiche Leib, Seele und Geist sind dem hebräischen Denken ohnehin fremd. Deshalb bleibt festzuhalten: es ist der ganze Mensch, kein Teilbereich, von dem die Gottebenbildlichkeit ausgesagt wird. (5) Diese letzte Aussage verlangt allerdings eine Präzisierung: nicht von einem Individuum, sondern von der Menschheit in ihrer geschlechtlichen Identität und Unterschiedenheit wird die Aussage von der Gottebenbildlichkeit gemacht. „Und Gott sagte: Wir wollen Menschen machen als unsere Statue unseresgleichen, damit sie herrschen“ (V. 26). Der Plural, der hier gebraucht wird, setzt voraus, dass es sich um eine Gemeinschaft von Menschen handelt, denen die Herrschaft übertragen ist.24 Diese Menschheit aber besteht aus Frauen und Männern: „männlich und weiblich schuf er sie“ (V. 27). Beiden, Frauen und Männern gleichermaßen, kommt es zu, Gott auf ————— 20

Hier gilt die Aussage von Josef Scharbert: „Es scheint mir […] vergebliche Liebesmüh zu sein, aus den beiden Verben ein fürsorgliches, pflegerisches Handeln herauslesen zu wollen. Nach dem Ausweis aller Stellen, an denen die beiden Verben vorkommen, handelt es sich um eine harte Behandlung des betreffenden Objekts, um die Ausübung einer fast unbeschränkten Verfügungsund Herrschaftsgewalt“ (Scharbert, Der Mensch als Ebenbild Gottes, 249). 21 Vgl. Köhler, Theologie, 135: „Allein sprachlich lässt sich nur die Deutung halten, daß Gott die Menschen so schafft, daß sie allein […] eine aufrechte Gestalt haben.“ 22 Kaiser, Der Mensch, Gottes Ebenbild und Statthalter auf Erden, 47f. 23 Groß, Art.: Gottebenbildlichkeit, 871f [Ergänzungen von mir; U.L.]. 24 Vgl. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 151.

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der Erde zu repräsentieren und verantwortliche Macht in der Welt auszuüben. So wird damit von der Priesterschrift anthropologisch hervorgehoben, dass es „ein ‚Wesen des Menschen‘ […] abgesehen von seiner Existenz in zwei Geschlechtern nicht geben kann“.25 Das impliziert zugleich, dass der Mensch als soziales Beziehungswesen aufgefasst wird. Er existiert als Individuum in Gemeinschaft. Hier: als Gemeinschaft von Mann und Frau. Umgekehrt dürfte jedoch klar sein, dass es „den Menschen“ als neutrales Abstraktum nicht geben kann. Vielmehr leben Menschen je schon als Frauen und Männer, d.h. in ihrer jeweiligen geschlechtlichen und sozialen Identität. (6) Die übrigen beiden Belege aus dem priesterschriftlichen Teil der Urgeschichte – Gen 5,1–3 und Gen 9,6 – setzen die im ersten Schöpfungsbericht entwickelte Vorstellung der Gottebenbildlichkeit voraus und entwickeln sie zugleich weiter. In Gen 5,3 werden die gleichen beiden Substantive – „demut“ und „zelem“ – verwendet wie in Gen 1,26. Hier aber beziehen sie sich auf die Weitergabe der Bildlichkeit von Adam auf seinen Sohn Set: „Und Adam war 130 Jahre alt und zeugte einen Sohn, ihm gleich und nach seinem Bilde, und nannte ihn Set“ (Gen 5,3). Damit wird unterstrichen, dass die Gottebenbildlichkeit der sich generativ fortentwickelnden Menschheit gilt. Sie teilt sich mit der Zeugung der folgenden mit. In Gen 9,6 wiederum dient die Gottebenbildlichkeit als Begründung für das Verbot, Menschenblut zu vergießen. „Apodiktisch […] und ganz bedingungslos wird die Aufrichtung des göttlichen Hoheitsrechtes über dem menschlichen Leben ausgesprochen: es ist schlechthin unantastbar, […] weil der Mensch Eigentum Gottes ist und nach dem Bilde Gottes geschaffen ist.“26 Die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens wird an dieser Stelle besonders eindringlich hervorgehoben. (7) Der Umstand, dass in der biblischen Urgeschichte auch nach den – jahwistischen – Erzählungen vom Sündenfall und Brudermord unabgeschwächt vom Menschen als Bild Gottes die Rede ist, zeigt, dass für den Redaktor des Genesisbuches die Vorstellung eines Verlustes dieser Würde nicht in Betracht gekommen ist. Dieser Gedanke ist vielmehr erst zu späterer Zeit entstanden und bildet die Voraussetzung des neutestamentlichen Verständnisses der Gottebenbildlichkeit. Für seine Entstehung und Verbreitung stellt die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel ein wichtiges Bindeglied dar. Der hebräische Text, der davon spricht, dass der Mensch als Bild Gottes geschaffen worden ist, wurde in der Septuaginta so übersetzt, dass nunmehr davon die Rede ist, der Mensch sei nach bzw. gemäß dem Bild Gottes geschaffen worden.27 „Der Mensch ist nicht Bild Gottes, ————— 25

Westermann, Genesis, 221. Von Rad, Das erste Buch Mose, 109. 27 In der Septuaginta lautet der Satz Gen 1,27 a: „MCKGXRQKJUGP QBSGQL VQP CPSTYRQP MCV8 GKXMQPC SGQW“. Die Präposition MCVC(kata) hat mit dem Akkusativ u.a. die Bedeutung von „gemäß“, „nach“, „entsprechend“. 26

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sondern nach dem Bild Gottes erschaffen.“28 An diese entscheidende Nuance in der Übertragung hat sich die im griechischen Denken beheimatete Urbild-Abbild-Spekulation anschließen können. Platon hat den Bildbegriff zwar nicht direkt auf den Menschen angewandt. Im „Timaios“ entfaltet er aber die Auffassung, nach der der gesamte natürliche Kosmos ein vollkommenes Abbild des ewigen, göttlichen Urbildes sei.29 Philo von Alexandrien, in dessen philosophischen Eklektizismus platonische und stoische Vorstellungen eingegangen sind, hat die Urbild-Abbild-Vorstellung anthropologisch aufgenommen. In seiner Interpretation der Gottebenbildlichkeit aus Gen 1,26–28 spielt der Begriff des Logos eine herausragende Rolle. Der Logos als Repräsentant Gottes in der Welt ist für Philo Bild Gottes, „ein Abbild und Urbild, auf das sich der Mensch immer wieder bezieht. Der Mensch ist nur indirekt Imago dei, insofern er Bild der direkten Imago des Logos ist.“30 Obwohl die neutestamentlichen Autoren inhaltlich noch einmal ganz eigene Akzente setzen, hat Philo mit seiner Logosspekulation den Boden für die christologische Ausdeutung der Gottebenbildlichkeitsvorstellung bereitet.31 Den unterschiedlichen Nuancen des neutestamentlichen Verständnisses möchte ich im Folgenden nachgehen.

1.2 Bild Gottes im Glauben. Neutestamentliche Aspekte der Gottebenbildlichkeit Während die hebräische Bibel mit der priesterschriftlichen Interpretation ein einheitliches Konzept der Gottebenbildlichkeit beinhaltet, lassen sich im Neuen Testament unterschiedliche Vorstellungen ausmachen. Drei unterschiedliche Deutungen lassen sich erkennen: (1) Auch in den neutestamentlichen Texten wird mancherorts an die priesterschriftliche Auffassung angeknüpft, nach der der Mensch ungeachtet des Sündenfalls Bild Gottes ist. In diesen Textgruppen wird die Gottebenbildlichkeit ohne christologische Akzentuierung anthropologisch festgehalten. Allerdings mit spezifischen Nuancen. So nimmt Paulus in 1Kor 11,7 die Gottebenbildlichkeit nur für den Mann in Anspruch. In seiner Erörterung des korinthischen „Kopftuchstreites“ (1Kor 11,1–16) argumentiert er (V. 7): „Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken, denn er ist Gottes Bild und Abglanz; die Frau aber ist des Mannes Abglanz.“ Paulus hebt in dieser Formulierung die von der Priesterschrift ausdrücklich hervorgehobe————— 28 29 30 31

Groß, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 35. Vgl. Platon, Timaios, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, 103 (92c). Jervell, Art.: Bild Gottes I, 493. Vgl. Groß, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 37.

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ne Gleichheit von Frauen und Männern als Gottes Ebenbildern auf und fällt damit hinter diese zurück. Im Hintergrund dürfte dabei eine in der zeitgenössischen jüdischen Exegese geläufige Kombination aus dem ersten und dem zweiten Schöpfungsbericht stehen. Die Erschaffung des Menschen zum Bild Gottes wird in dieser Hermeneutik an der Aussage von Gen 2,22 gebrochen, nach der die Frau erst im Anschluss an die Erschaffung Adams von Gott aus dessen Rippe gemacht worden ist.32 Der Schreiber des Jakobusbriefes wiederum knüpft an die Formulierung der Septuaginta an, indem er von der Erschaffung des Menschen nach dem Bild Gottes spricht. In seiner Paränese über die Macht der Zunge schreibt er: „die Zunge kann kein Mensch zähmen […]. Mit ihr loben wir den Herrn und Vater, und ihr fluchen wir den Menschen, die nach dem Bilde Gottes gemacht sind“ (Jak 3,8f.). Der Umstand, dass der Briefautor die Gottebenbildlichkeit nicht von Christus her akzentuiert, korrespondiert mit der allgemeinen Beobachtung, dass die Epistel stärker theozentrisch als christologisch angelegt ist.33 Eine Einschränkung der imago Dei durch den Sündenfall wird überdies nirgendwo unterstellt. (2) Der spezifisch neue Akzent, den insbesondere Paulus in die Interpretation der Gottebenbildlichkeit einträgt, besteht in deren christologischer Fokussierung. Nach 2Kor 4,4 ist Christus das Ebenbild Gottes.34 In seinem Angesicht wird die Herrlichkeit Gottes sichtbar (V. 6). Es ist die Erleuchtung des Glaubens, die es möglich macht, im Antlitz des gekreuzigten und auferstandenen Christus Gott selbst zu erkennen. Der Bildbegriff bei Paulus ist, darauf hat Rudolf Bultmann hingewiesen, eine Offenbarungskategorie.35 „Auf dem Angesicht Christi […], und nur hier, ‚wird der Unsichtbare gesehen‘“.36 Paulus nimmt dabei Aspekte der hellenistischen Bildphilosophie auf und akzentuiert sie christologisch. Christus, der präexistente Sohn Gottes (vgl. Phil 2,6) ist das Abbild Gottes, der selbst das Urbild ist. In der Verkündigung des Evangeliums erkennt der Glaube den unsichtbaren Gott in seinem sichtbaren Bild, Christus. Mehr noch: der Glaube erhält an diesem Bild Anteil. Im zweiten Korintherbrief spricht Paulus davon, dass die Glaubenden in das Bild Christi hineinverwandelt werden (2Kor 3,18). „Gemeint ist eine ständig sich vertiefende Verwandlung durch die Wirkung —————

32 Vgl. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, Bd. 2, 509; Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, 119. 33 Vgl. Hoppe, Art.: Jakobusbrief, 362. 34 Vgl. 2Kor 4,4, wo Paulus von der „Herrlichkeit Christi“ spricht und hinzufügt: „welcher ist das Ebenbild Gottes“. Im griechischen Text ist an dieser Stelle von der „FQZCVQW&TKUVQW“ die Rede und es wird hinzugefügt „Q=LGXUVKPGKXMYPVQWSGQW“. 35 Vgl. Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, 108f, nach: Gräßer, Der zweite Brief an die Korinther, Bd. 1, 154. 36 Gräßer, ebd.

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des Evangeliums, in dem der Apostel die Herrlichkeit Christi als des Bildes Gottes erstrahlen und in den Herzen der Glaubenden leuchten lässt“.37 Die Teilhabe der Glaubenden an der Gottebenbildlichkeit Christi ist mit ihrem Gegenwartsaspekt aber zugleich eine eschatologische Bestimmung. Im Römerbrief beschreibt Paulus das Ziel der Erwählung Gottes dahingehend, dass die Glaubenden „gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes“ (Röm 8,29). Aus dem paulinischen Argumentationszusammenhang heraus wird die eschatologische Gottebenbildlichkeit den Glaubenden in der Auferstehung zuteil. So, wie die Offenbarung „der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (V. 21) mit „der Erlösung unseres Leibes“ (V. 23) einhergeht, so ist sie auch mit der Gleichgestaltung38 der Glaubenden zu Bildern Christi verbunden. Diese eschatologische Dimension wird auch in 1Kor 15,49 in den Blick genommen, wo Paulus in einer Adam-Christus-Typologie „das Bild des irdischen“ und „das Bild des himmlischen“ Menschen einander gegenüberstellt. Während Menschsein in der Gegenwart stets noch heißt, vom ersten, dem irdischen Menschen Adam und damit von der Vergänglichkeit gezeichnet zu sein, so wird die eschatologische Zukunft eine Verwandlung zeitigen. Der natürliche Leib wird als geistlicher Leib auferstehen (V. 44). Dieser ist das Bild des zweiten, des himmlischen Menschen: Christus. Paulus’ christologische Transformation der Gottebenbildlichkeitsvorstellung lässt sich mit Udo Schnelle folgendermaßen zusammenfassen: „Im Verhältnis zwischen Gott und Jesus Christus ist die GKXMYP-Vorstellung sowohl als Seins- als auch als Relationsbegriff aufzufassen. In der Beziehung zwischen Christus und den Glaubenden hingegen erscheint GKXMYP als reiner Relationsbegriff. Christus als GKXMYPVQWSGQW (2Kor 4,4) nimmt die Glaubenden hinein in einen geschichtlichen Prozess, an dessen Endpunkt ihre eigene Verwandlung stehen wird. Erst in der Beziehung zu Christus als dem Urbild wird der Mensch in seiner Bestimmung als GKXMYP VQW SGQW gerecht.“39 (3) Die größte spekulative Ausweitung erfährt die christologisch akzentuierte Gottebenbildlichkeitsvorstellung in Kol 1,15–20: In diesem ursprünglichen selbstständigen Hymnus wird die Bedeutung Christi in kosmologische Dimensionen eingerückt. „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare“ (V. 15–16). Für die Gottebenbildlichkeitsvorstellung des Kolosserbriefes ist es charakteristisch, dass Christus Bild Gottes ist und nicht nur nach dem Bild Gottes geschaffen wurde. Allerdings wird diese Aussage attributiv ————— 37 38 39

Wilckens, Der Brief an die Römer, 2. Tlbd., 164. In Röm 8,29 wird der Begriff UWOOQTHQL verwendet, dt.: „dieselbe Gestalt habend“. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, 120.

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präzisiert: er ist das Bild des unsichtbaren Gottes (Q=LGXUVKP GKXMYP VQW SGQW VQW CXQTCVQW). Dies könnte leicht in einem platonischen Sinn verstanden werden, nach dem das sichtbare, irdische Abbild Christi das unsichtbare, himmlische Urbild Gottes vergegenwärtigt. Obwohl der Hymnus in seiner Kosmologie unter dem Einfluss der griechischen Philosophie steht, ist ihm an dieser Stelle der platonische Argumentationsduktus fremd. Christus ist für ihn mehr als die irdische Person Jesu. „Er ist der Schöpfungsmittler, Kosmokrator, Weltversöhner (1,16.18) und insgesamt der Stellvertreter Gottes auf Erden“.40 Der präexistente Christus gehört auf die Seite des unsichtbaren Gottes. Insofern „in ihm [...] alles geschaffen“ ist, „das Sichtbare und das Unsichtbare“ (V. 16) ist er das unsichtbare Bild des unsichtbaren Gottes. In ihm manifestiert sich Gott.41 Aber nicht nur so, dass Gott an Christus handelt. Vielmehr ist der Sohn Gottes zugleich der „Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (V. 15), in dem alles geschaffen ist. Christus ist also auch „aktives Subjekt in der Ausweitung“ des Handelns Gottes „auf die ihm folgenden Geschöpfe“.42 Der Hymnus „preist also Christus nach dem Muster des Logos in hellenistisch-jüdischen Schriften als den, in dem der grundsätzlich unzugängliche Gott als Schöpfer wirkend Welt schafft und sich so dem zuwendet, der ihn nicht sehen könnte“.43 In diesem kosmologischen und christologischen Sinn ist Christus das Bild des unsichtbaren Gottes. Meine Ausführungen zu den verschiedenen Interpretationslinien der Gottebenbildlichkeit in den neutestamentlichen Schriften streben keine Vollständigkeit an. Auf Texte wie Röm 1,23, Kol 3,10 und Hebr 1,3 habe ich auf Grund des Umfangs ganz verzichtet.44 Trotz dieser Begrenzung ergibt sich aber ein Blick auf die unterschiedlichen Nuancen des Verständnisses von der imago Dei. Die verschiedenen schöpfungstheologischen, christologischen, soteriologischen, eschatologischen und kosmologischen Aspekte ergeben aber kein kohärentes Gesamtbild. Dies gilt umso mehr, wenn der priesterschriftliche Schöpfungsbericht mit einbezogen wird. Es kommt deshalb darauf an, die unterschiedlichen Deutungen in eine systematisch-theologische Interpretation der Gottebenbildlichkeit einfließen zu lassen. Eine solche theologische Hermeneutik der imago Dei hat von den biblischen Texten auszugehen und sich an ihnen zu orientieren. Sie hat aber zugleich eine eigene theologische Reflexion vorzunehmen.

————— 40 41 42 43 44

Jervell, Art.: Bild Gottes, 495. Vgl. Merklein, Christus als Bild Gottes im Neuen Testament, 59, 65. Schweizer, Der Brief an die Kolosser, 59. Ebd., 60. Vgl. dazu Jervell, Art.: Bild Gottes, 495–497.

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1.3 Anspruch – Widerspruch – Entsprechung. Theologische Interpretationen der Gottebenbildlichkeit Die Theologen der Alten Kirche tragen maßgeblichen Anteil, dass die Gottebenbildlichkeitsvorstellung in den Mittelpunkt der theologischen Anthropologie getreten ist. Dass die Geschichte vom Menschen als Bild Gottes Geschichte gemacht hat, ist in hohem Maße ihnen zuzuschreiben. Für die Kirchenväter bot sich der Bild-Begriff nicht zuletzt deshalb als anthropologischer Leitbegriff an, weil er es gestattete, an den philosophischen Diskurs des zeitgenössischen Platonismus anzuknüpfen und zugleich eine spezifisch christliche Perspektive in die Debatte einzubringen. So haben Irenäus von Lyon, Hieronymus, Clemens von Alexandrien, Origines, Gregor von Nyssa, Augustin und Leo der Große – um nur die wichtigsten zu nennen – die Gottebenbildlichkeit zu einem festen anthropologischen Begriff der Theologie gemacht. Bei ihnen werden bereits die Hauptfragen aufgegriffen und erörtert, die jede theologische Anthropologie seither zu bearbeiten hatte: (a) Wie lässt sich die Gottebenbildlichkeit theologisch verstehen? Hier ist insbesondere der heilsgeschichtliche Zusammenhang zu reflektieren und verständlich zu machen, wie die Aussagen des ersten Schöpfungsberichtes mit der christologischen Argumentation des Neuen Testaments verbunden werden können. (b) Wie lässt sich die Gottebenbildlichkeit anthropologisch verstehen? Hier ist herauszuarbeiten, worin die imago Dei besteht und welche Konsequenzen dies für das menschliche Selbst- und Weltverständnis hat. Ich kann in diesem Zusammenhang keinen auch nur annähernden Überblick über die Interpretationsmodelle der Theologiegeschichte bieten. Ich möchte lediglich typische Modelle der zeitgenössischen evangelischen Theologie in Bezug auf die beiden eben genannten Fragen vorstellen und dabei auch auf deren theologiegeschichtliche Voraussetzungen hinweisen. 1.3.1 Gottebenbildlichkeit zwischen Schöpfung, Erlösung und Vollendung In der aktuellen protestantischen Theologie lassen sich vier Modelle unterscheiden, wie die schöpfungstheologischen und soteriologischen Aspekte der Gottebenbildlichkeit aufeinander bezogen worden sind: die These vom völligen Verlust der imago Dei durch den Sündenfall (1), die Theorie einer doppelten Gottebenbildlichkeit (2), das Konzept einer sich entwickelnden Imago Dei (3) sowie die relationale Interpretation der Gottebenbildlichkeit in der Spannung von Bestimmung, Verfehlung und Erfüllung (4).

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(1) Die Pointe der Theologie Luthers besteht in der radikalen These, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen mit dem Sündenfall völlig zerstört worden sei. Sie setzt damit einen bewussten Kontrapunkt zu altkirchlichen und mittelalterlichen Auffassungen. Hier hatte sich eine Theologie der imago Dei herausgebildet, die sich an der Unterscheidung von Natur und Gnade orientierte. Augustin beispielsweise entwickelte den Gedanken einer doppelten imago. Auf der ersten Ebene ist der Mensch in seiner Vernunftfähigkeit, Unsterblichkeit und natürlichen Gotteserkenntnis capax Dei. Auf einer zweiten wird er durch die übernatürlichen Gaben Gottes particeps Dei. Während diese zweite Dimension durch die Sünde verloren gegangen ist und nur aufgrund göttlicher Gnade wiederhergestellt werden kann, wird die erste Dimension auch durch den Sündenfall nicht in Frage gestellt.45 Diese Zuordnung von natürlichen und übernatürlichen Aspekten ist für das gesamte Mittelalter prägend geblieben. Petrus Lombardus hat ihr in seinem dreistufigen heilsgeschichtlichen Modell, das eine imago creationis (naturae), eine imago recreationis (gratiae) und eine imago similitudinis (gloriae) unterscheidet, wiederum eindrücklich Ausdruck verliehen.46 Luther hat dieses Zuordnungsmodell radikal in Frage gestellt und die Vorstellung einer doppelten Gottebenbildlichkeit verworfen. Für ihn bedeutet der Sündenfall vielmehr den vollständigen Verlust der imago Dei. Das Bild Gottes ist „durch die Sünde […] dermaßen verdunkelt und geschwächt, daß wir es auch mit Gedanken nicht fassen können.“47 Mehr noch: es hat sich in das Bild des Widersachers Gottes verkehrt: „Was da ‚nach Gottes bilde geschaffen‘ heist […], nemlich das da Gott gott gleichfoermig sey und was man Gottes natur guts zuschreibet, das der mensch auch darnach und yhm gleich gemacht sey, Aber das selbe bilde ist nu untergegangen und verderbet und an des stat des Teuffels bilde auffgericht, Aber durch Christum ist es widder bracht und vernewet“.48 Im Glauben an Christus, der die wahre imago Dei ist, kann der Mensch also neugeschaffen werden. Seine verlorene Ebenbildlichkeit wird so erneuert und er wird mit der Gottesbildlichkeit Christi gleichförmig.49 In der neueren protestantischen Theologie ist die These vom völligen Verlust der Gottebenbildlichkeit durch den Sündenfall kaum noch vertreten ————— 45

Crouzel, Art.: Bild Gottes. 500. Peters, Art.: Bild Gottes. 508. 47 Luther, Genesisvorlesung, WA 42, 48,39–49,1: „Ita autem per peccatum haec imago obscurata et viciata est, ut eam ne quidem intellectu possimus assequi.“ Übersetzung nach: Luther, Auslegung des ersten Buches Mose, in: ders., Erklärungen der Heiligen Schrift, 66. 48 Luther, Über das erste Buch Mose. Predigten. 1527, WA 24, 152,34–153,16. 49 Vgl. zu Luthers Interpretation der Gottebenbildlichkeit: Peters, Der Mensch, 43–49. 46

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worden.50 Einzig die frühe dialektische Theologie hat mit ihrem Distanzpathos diese These noch einmal erneuert. Für den Karl Barth des Römerbriefes gibt es keine wie auch immer geartete Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch. Sie sind wie Töpfer und Ton unterschieden (vgl. Röm 9,20f). „Wer wagt es, hier noch von zwei Partnern, von zwei Gliedern einer Reihe zu reden? Hier der Handwerker mit seiner Absicht, dort das Material […]. Von hier nach dort, vom Töpfer zum Ton, vom Meister zum Werk führt keine Brücke, keine Kontinuität. Inkommensurabel, in unendlichem qualitativem Unterschied, in schlechthin indirekter unanschaulicher Beziehung (oder doch im Gleichnis solcher!) stehen sich hier und dort gegenüber.“51 Angesichts der unendlichen qualitativen Differenz ist dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit außerhalb der Offenbarung und Erlösung durch Christus jeglicher Boden entzogen. Es gibt keinen menschlichen Anknüpfungspunkt für diese göttliche Gnade. „Der Heilige Geist […] bedarf keines Anknüpfungspunktes als dessen, den er selber setzt.“52 Die These vom völligen Verlust der Gottebenbildlichkeit durch den Sündenfall kann m.E. weder biblisch noch systematisch-theologisch überzeugen. Biblisch wird sie zentralen Textaussagen nicht gerecht. Ausdrücklich wird in Gen 5,1.3 und ebenso in 1Kor 11,7 sowie Jak 3,9 davon ausgegangen, dass der entfremdete, schuldige Mensch Gottes Bild bleibt. Darüber hinaus denkt die Verlustthese die imago Dei vom Menschen und nicht von Gott her. Wird die Relation, die mit der Gottebenbildlichkeit ausgesagt wird, von Gottes Beziehung zum Menschen her interpretiert, so kann es keine Verlustanzeige geben. Trotz des menschlichen Widerspruches bleibt Gottes Beziehung zum Menschen bestehen: er bleibt zum Bild Gottes bestimmt. Schließlich ist die Verlustthese auch für die Schöpfungstheologie problematisch: wer die imago durch den Sündenfall als völlig zerstört auffasst, hebt die Schöpfungstheologie tendenziell auf und lässt sie in der Soteriologie aufgehen. Wird aber die Schöpfung ihrer eigenständigen Stellung beraubt, dann fehlt der Neuschöpfung in Christus der Ausgangs- und Bezugspunkt. Die Soteriologie tendiert dann dazu, zur creatio ex nihilo zu werden. Damit würde der heilsgeschichtliche Zusammenhang von Schöpfung und Erlösung gekappt. Dieser Gefahr hat die lutherische Theologie dadurch zu entgehen versucht, dass sie ausgeprägte Spekulationen über den unversehrten Urstand (status integritatis) des Menschen angestellt hat,53 der durch den Sündenfall verloren gegangen ist. —————

50 In einer Reihe von Entwürfen wird sie sogar ausdrücklich kritisiert, so z.B. bei Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 1, 638; Althaus, Die christliche Wahrheit, Bd. 2, 94; Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 241–243. 51 Barth, Der Römerbrief, 341. 52 Barth, Nein!, 56. 53 Vgl. Peters, Der Mensch, 43f.

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Aber die Urstandsspekulationen historisieren unrechtmäßig die biblischen Texte, deren Erzählungen keine historischen Sachverhalte beschreiben. Ist aber einmal klar, dass die Paradieserzählung keine Historizität beansprucht, dann bleibt von der Verlusttheorie der imago nur übrig, dass es von einer imago Dei außerhalb des Glaubens an Christus kein Jota übrig bleibt. Die Schöpfung wird von der Erlösung aufgesogen. (2) Bereits in der protestantischen Orthodoxie lässt sich beobachten, dass Luthers schroffe Verlustdiagnose abgemildert und durch ein abgeschwächtes zweistufiges Verstehensmodell ergänzt wurde. Die Lehre von der doppelten Gottebenbildlichkeit kehrte zurück. Die heilsgeschichtliche Unterscheidung zwischen schöpfungstheologischen und soteriologischen Dimensionen der Gottebenbildlichkeit wird meist mit einer mehrstufigen Status-Lehre verbunden. Johann Andreas Quenstedt unterscheidet fünf Stände des Menschen: status integritatis (Stand der Unversehrtheit), status corruptionis (Stand der Verderbnis), status gratiae (Stand der Gnade), status gloriae (Stand der Herrlichkeit) sowie status damnationis (Stand der Verdammnis). Mit dem status integritatis wird die Gottebenbildlichkeit als eine natürliche Vollkommenheit (perfectio naturalis) verbunden, mit der sich einerseits geistige und sittliche Vollkommenheiten verbinden: Weisheit, „Heiligkeit und Freiheit des Willens“ sowie „Reinheit der sinnlichen Affekte“54 Dazu kommen körperliche Vollkommenheiten wie körperliche Leidensfreiheit, Unsterblichkeit sowie die Herrschaft über die übrigen Lebewesen.55 Diese natürliche Vollkommenheit des Menschen im status integritatis wird als widerfahrene Gottebenbildlichkeit verstanden (imago Dei accidentalis), womit zum Ausdruck gebracht wurde, „daß die Vorzüge des ursprünglichen Zustandes nicht des Menschen Wesen selbst […] ausmachen“.56 Diese imago Dei accidentialis teilt sich wiederum in eine allgemeine und uneigentliche (imago Dei generaliter et abusive) und eine besondere, eigentlich erwünschte Gottebenbildlichkeit (imago Dei specialiter et proprie accepta). Durch den Sündenfall wird der status integritatis aufgehoben. Davon kann auch die Gottebenbildlichkeit nicht unberührt bleiben. Für die Menschen, die in statu corruptionis leben, ist die besondere imago verloren gegangen. Die allgemeine Gottebenbildlichkeit ist ihnen jedoch auch nach dem Fall erhalten geblieben. Sie besteht nach David Hollaz in einem immateriellen Geist, Verstand und freiem Willen (spiritus immaterialis, intelligens, voluntate libera agens). Die besondere Gottebenbildlichkeit und die mit ihr verbundene Urgerechtigkeit und Heiligkeit kann dagegen nur durch Jesus Christus wiedererlangt werden, der im ————— 54 55 56

Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, 159. Vgl. ebd., 160. Ebd., 162.

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Gegensatz zur menschlichen imago Dei accidentialis das wahre und substanzhafte Ebenbild Gottes ist (imago Dei substantialis).57 Die begrifflich stark ausdifferenzierte Gottebenbildlichkeitslehre der protestantischen Orthodoxie hebt in ihrem Kern auf eine doppelte Gottebenbildlichkeit ab, die einerseits aus einer unveräußerlichen allgemeinen imago (Geist, Verstand, freier Wille) und andererseits aus einer im Glauben an Christus wiedererlangten besonderen imago (Gerechtigkeit, Heiligkeit etc.) besteht. Sie nimmt damit nicht nur den reformatorischen Protest gegen eine zwiefache imago zurück, sondern erneuert auch das mittelalterliche Zuordnungsmodell. Das Problem der doppelten imago besteht allerdings erneut darin, dass sie den biblischen Texten nicht gerecht wird. Die These vom status integritatis historisiert nicht nur erneut die biblische Urgeschichte. Sie legt ihr auch Inhalte bei, die von den Texten nicht gedeckt sind. „Zwar setzen die Lebensminderungen, die den Menschen der Paradiesgeschichte als Folgen ihrer Übertretung auferlegt werden […], einen von derartigen Belastungen freien Zustand voraus, aber dieser schließt weder eine vollkommene Erkenntnis und Heiligkeit der ersten Menschen vor dem Sündenfall ein, noch auch ihre Unsterblichkeit.“58 Die Theorie eines in jeder Hinsicht vollkommenen Urzustandes scheint mir vielmehr von philosophischen Brocken gespeist zu sein, die platonischen Ursprungs sind. Darüber hinaus ist das Konzept der doppelten imago schwierig, weil es die Gottebenbildlichkeit ontologisiert und mit bestimmten Eigenschaften des Menschseins verknüpft. Dies widerspricht erneut den biblischen Texten, nach denen der ganze Mensch als Bild Gottes geschaffen wurde (Gen 1,26). Werden aber besondere Eigenschaften zu den eigentlichen Dimensionen des Menschseins, so wird die conditio humana willkürlich parzelliert. Statt wesentliche gegenüber vermeintlich nachgeordneten Aspekten des Menschseins hervorzuheben sollte es der theologischen Anthropologie aber vielmehr darum gehen, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen. In neueren theologischen Entwürfen hat das Modell einer doppelten Gottebenbildlichkeit vergleichsweise wenig Zuspruch gefunden. Emil Brunner und Paul Althaus haben es mit unterschiedlichen Akzenten aufgegriffen. Mit seiner 1934 unter dem Titel „Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth“ veröffentlichten Streitschrift hat Emil Brunner jene heftige Kontroverse ausgelöst, in der ihm Karl Barth schroff die Unmöglichkeit jeglichen menschlichen Anknüpfungspunktes entgegenhielt. Brunner spricht ausdrücklich von einer zwiefach zu verstehenden Gottebenbildlichkeit. In einem ersten, formalen Sinn, bezeichne sie „das Humanum, d.h. dasjenige, was den Menschen […] vor der gesamten übrigen ————— 57 58

Vgl. ebd., 163. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 243f.

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Kreatur auszeichnet“.59 So seien auch die beiden klassischen alttestamentlichen Stellen, Gen 1,26 und Ps 8 zu verstehen. Die Vorzugsstellung des Menschen innerhalb der Schöpfung beruhe „auf der besonderen Stellung des Menschen zu Gott, nämlich […] darauf, dass Gott ihn zu etwas Besonderem geschaffen hat: sein Bild zu tragen“.60 Diese Funktion sei durch die Sünde keineswegs zerstört. Sie trete in zwei Aspekten hervor: in der Subjektivität und der Verantwortlichkeit des Menschen. Auch als Sünder sei der Mensch ein Vernunftwesen. „Er hört auch als Sünder nicht auf, Subjekt zu sein. Er hört auch als Sünder nicht auf, einer zu sein, mit dem man reden kann, mit dem auch Gott reden kann […]. Auch als Sünder ist der Mensch verantwortlich.“61 Wortfähigkeit und Verantwortlichkeit seien deshalb als die beiden Bestimmungen zu fassen, die die bleibende Sonderstellung des Menschen, seine formale Gottebenbildlichkeit oder, wie Brunner sich auch ausdrückt, seinen imago-Rest ausmachen. Zu unterscheiden sei davon allerdings die materiale Gottebenbildlichkeit. Diese sei durch die Sünde vollständig zerstört. Und mit ihr sei auch die justitia originalis verloren. Die materiale Gottebenbildlichkeit kann dem Menschen nur durch den Glauben an Christus geschenkt werden. Sie ist für ihn „identisch mit dem Sein-im-Worte Gottes“.62 Sie besteht darin, dass der Mensch seiner Bestimmung zur Worthaftigkeit und Verantwortlichkeit gemäß lebt, d.h. dass er in der Liebe lebt. „Jesus Christus ist die wahre Imago Dei, die der Mensch dann und darin wiederbekommt, dass er durch den Glauben ‚in Jesus Christus‘ ist. Der Glaube an Jesus Christus ist darum die restauratio imaginis, weil er uns das Sein im Wort Gottes wiederbringt, das wir in der Sünde verloren haben.“63 Neben Brunner lässt sich Paul Althaus dem Konzept einer doppelten imago Dei zurechnen. Er spricht ausdrücklich von einer Gottebenbildlichkeit „in zwiefachem Sinne“ und qualifiziert die bleibende imago des sündigen Menschen in ontologischer Weise. In einem ersten Sinn eigne dem Menschen die imago Gottes darin, dass er zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt sei. Indem Gott darüber hinaus den Menschen „als Person in geistigem Selbstbewußtsein und freier Selbstbestimmung“ setzte, schuf er ihn als „kreatürliches Abbild seiner göttlichen Personalität“.64 In einem zweiten ————— 59

Brunner, Natur und Gnade, 10. Ebd. 61 Ebd. 62 Brunner, Dogmatik, Bd. 2, 70. 63 Ebd. 64 Althaus, Die christliche Wahrheit, Bd. 2, 98. Althaus gehört, indem er Bestimmung und Erfüllung voneinander unterscheidet, in vielfacher Hinsicht bereits zum nächsten Modell, das ich vorstellen werde. Da er aber die bleibende Gottebenbildlichkeit des natürlichen Menschen ontologisch qualifiziert, stelle ich ihn unter diesem Sachgesichtspunkt dar. 60

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und erfüllten Sinn „eignet dem Menschen kreatürliche Ebenbildlichkeit mit Gott, sofern seine Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott erfüllt wird. Das geschieht durch Jesus Christus im Heiligen Geiste. Dann ist der Mensch hineingenommen in das Leben der Liebe Gottes.“65 Sowohl für Brunner als auch für Althaus gilt die Kritik an jeder doppelten imago in gleicher Weise. (3) In einem abgewandelten Sinn taucht die Theorie einer zwiefachen Gottebenbildlichkeit in einem anderen Interpretationsmodell wieder auf: im Konzept einer sich entwickelnden Gottebenbildlichkeit. Es wird in der Gegenwart vor allem durch Wolfhart Pannenberg vertreten, hat jedoch Wurzeln, die bis in die Theologie der Alten Kirche zurückreichen. Irenäus von Lyon hatte an die beiden Begriffe angeknüpft, mit denen in Gen 1,26 die Gottebenbildlichkeit ausgesagt wird: „zelem“ und „demut“. Er deutete sie aber vor dem Hintergrund der platonischen Urbild-Abbild-Philosophie. Dabei verstand er „zelem“ als „Bild“ (GKXMYP; eikon) und „demut“ als „Ähnlichkeit“ (QBOQKYUKL; homoiosis). Das „Bild“ hatte dabei einen geringeren substanziellen Status. Als Abbild war es in platonischer Perspektive in geringerem Maße mit dem Urbild verbunden. Die „homoiosis“ dagegen galt als „aktuelle Gemeinschaft mit dem Urbild“.66 Aus der Zuordnung beider Begriffe entstand bei Irenäus eine „Ökonomie des Bildes“.67 Indem er Adam als Abbild Gottes und Christus als mit dem Urbild (Gott) verbunden, beschrieb er eine teleologische heilsgeschichtliche Entwicklung, in der die Gottebenbildlichkeit immer weiter realisiert wird. „Durch die Beziehung des abbildlichen Adam auf das Urbild wurde der geschöpflichen Gottebenbildlichkeit der Sinn einer auf das Urbild zielenden Bestimmung gegeben, die auf dem Weg der „Angleichung“ an das Urbild im Prozeß des Ringens um die sittliche Lebensthematik des Menschen eingelöst werden soll“.68  Das Konzept einer Gottebenbildlichkeit in Entwicklung ist in späterer Zeit u.a. von Pico della Mirandola sowie von Johann Gottfried Herder in philosophisch-theologischer Hinsicht vertieft worden. Es wird bei ihnen mit der Aufgabe zusammengedacht, dass der Mensch das Bild Gottes, einem Bildhauer gleich, aus dem Stein der ihm mitgegebenen Möglichkeiten selbst heraushauen, d.h. sich zum Bild Gottes bilden soll. „In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt“, sagt Gott bei Pico della Mirandola zu Adam, „damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben ————— 65 66 67 68

Ebd. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 45. Scheffczyk, Art.: Gottebenbildlichkeit, 874. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 239.

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und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.“69 Ähnlich Herder. Auch bei ihm wird die Gottebenbildlichkeit zu einem Ziel- und Entwicklungsbegriff. In den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ bekennt er betend vor Gott: „dem Menschen grubest du dein Bild, Religion und Humanität, in die Seele, der Umriß der Bildsäule liegt im dunkeln, tiefen Marmor da; nur kann er sich nicht selbst aushauen, ausbilden. Tradition und Lehre, Vernunft und Erfahrung sollten dieses tun, und Du ließest es ihm an Mitteln dazu nicht fehlen.“70 Die Gottebenbildlichkeit wird bei Herder klar als Bildungsbegriff artikuliert. Im Zusammenwirken mit der göttlichen Vorsehung kann der Mensch zum Bild Gottes erzogen, d.h. zur Humanität gebildet werden. In der gegenwärtigen protestantischen Theologie wird das Konzept einer sich entwickelnden Gottebenbildlichkeit – wie gesagt – am nachdrücklichsten durch Wolfhart Pannenberg vertreten. Seine Interpretation ist erneuert mit einer Urbild-Abbild-Theorie verbunden, die Pannenberg allerdings durch einen exegetischen Hinweis abzustützen sucht. Der hebräische Text von Gen 1,26 spreche davon, so argumentiert Pannenberg, dass der Mensch „nach“ bzw. „gemäß“ dem Bild Gottes geschaffen worden wäre. Dies impliziere eine Differenz zwischen Urbild und Abbild. „Der Mensch ist Abbild Gottes“.71 Man sollte hinzufügen: er ist nur Abbild. Das Urbild dagegen ist Christus. Ähnlich wie schon Irenäus beschreibt Pannenberg einen Prozess des Ähnlichwerdens. „In der Geschichte der Menschheit war das Gottesbild […] nicht von Anfang an voll realisiert. Seine Ausprägung ist noch im Werden […]. Ihre volle Realisierung ist die Bestimmung des Menschen, die mit Jesus Christus geschichtlich angebrochen ist und an der die übrigen Menschen teilnehmen sollen durch Verwandlung in das Bild Christi.“72 Menschen sind nach Pannenberg mithin Bilder im Werden. Erst durch Verwandlung ihrer abbildhaften Bildgestalt in das Bild Christi erlangen sie die Vollgestalt ihrer Bildähnlichkeit. Das Konzept der sich entwickelnden imago Dei wird von den Schwächen der bisher referierten Interpretationsmodelle nicht tangiert. Es vermeidet Spekulationen über den Urzustand: weder historisiert es die biblische Urgeschichte noch heroisiert es einen fiktiven Urzustand. Darüber hinaus weicht es einem weiteren Fehler des Modells der doppelten imago aus: indem es die eine Gottebenbildlichkeit innerhalb eines Entwicklungsprozes————— 69 70 71 72

Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate, 9. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 278. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 248. Ebd., 249.

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ses reflektiert, verzichtet es auf Annahmen über allgemeine und unzerstörbare Aspekte der Gottebenbildlichkeit. Schließlich: die Interpretation ist entwicklungsoffen konzipiert und darum sowohl mit evolutiven Theorien wie auch mit pädagogischen Konzepten vereinbar. Gleichwohl blieben Schwierigkeiten. Während Pico della Mirandola und Herder weniger biblisch als vielmehr philosophisch argumentieren, suchen sowohl Irenäus als auch Pannenberg Anhalt an der biblischen Tradition. Sie werden diesen Texten aber nicht gerecht. Die von Irenäus in Anspruch genommene Differenz zwischen Bild (zelem/eikon) und Ähnlichkeit (demut /homoiosis) ist exegetisch nicht zu halten.73 Aber auch Pannenbergs philologische Abstützung der Abbild-Urbild-Differenz ist problematisch. Ernst Jenni hat deutlich gemacht, dass die Präposition B. als bet essentiae zu verstehen sei: der Mensch ist als Bild Gottes geschaffen.74 Damit entfällt jede exegetische Grundlage für die Behauptung, der Mensch sei „in den Anfängen der Menscheit noch unvollkommen“ Gottes Bild gewesen. Pannenbergs Entwicklungsthese hat wohl auch weniger biblische als philosophische, nämlich hegelsche Wurzeln. Die mit ihr verbundene Unterscheidung eines weniger und mehr an Gottähnlichkeit gehört aber in den Bereich einer teleologischen Projektion. (4) Am meisten Verbreitung haben in der protestantischen Theologie inzwischen Modelle, die die Gottebenbildlichkeit als relational zu interpretierende Bestimmung des Menschen verstehen. Diese Konzepte gehen von einer einheitlichen imago Dei aus: der Mensch ist Bild Gottes von Anbeginn. Er ist zur Gottebenbildlichkeit bestimmt. Die Sünde ist allerdings als Widerspruch gegenüber dieser Bestimmung zu verstehen. Der Glaube an Jesus Christus stellt dagegen die Entsprechung zu ihr her. Die einzelnen Entwürfe unterscheiden sich dabei in Bezug auf die in ihnen zum Tragen kommenden fundamentaltheologischen Grundentscheidungen. Eberhard Jüngel und Ingolf U. Dalferth verstehen die Gottebenbildlichkeit des Menschen aus dem Geschehen der Anrede Gottes. „Der Mensch ist Person, weil er als von Gott unterschiedenes Geschöpf von diesem in Verheißung und Verpflichtung als Du angesprochen ist; und er ist damit zur Gottebenbildlichkeit bestimmt weil er als solcher aufgefordert ist, Gottes an ihn gerichtetem Anspruch mit seinem ganzen menschlichen Sein […] zu entsprechen.“75 Dass er diesem Anspruch Gottes nicht entspricht sondern ihm widerspricht, kennzeichnet den Zustand des Menschen in der Sünde. Die Entsprechung zu Gott kann der Mensch im Widerspruch nur erlangen, ————— 73

Vgl. Teil B, Kap. 1.1. Vgl. Jenni, Die hebräischen Präpositionen, Bd. 1: Die Präposition Beth, 84f, nach: Groß, Statue oder Ebenbild Gottes?, 12, Anm. 3. 75 Dalferth/Jüngel, Person und Gottebenbildlichkeit, 77. 74

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„wenn er sich Gottes Liebe […] gefallen läßt.“76 Dies ist dann der Fall, wenn der Mensch im Glauben an Jesus Christus Gott entspricht und darin sein Menschsein zu realisieren vermag. Ganz ähnlich, obwohl vor einem anderen theologischen Hintergrund, argumentiert Wilfried Härle. Die Gottebenbildlichkeit ist für ihn eine „dem Menschen zugesagte, zugedachte und zugemutete Bestimmung zur Liebe“.77 Sie gilt als solche unverbrüchlich. Allerdings verfehle der Mensch in der Sünde diese seine Bestimmung. Sie könne ihm deshalb nur durch Jesus Christus, der das Ebenbild Gottes ist, zugeeignet werden. „Wenn eine Person es für sich gelten läßt, daß sie zu demselben Bild Gottes bestimmt ist, das in Jesus Christus erschienen ist, und wenn sie sich von da aus selbst versteht, dann ist ihr Personsein neu konstituiert.“78 Unter den genannten Interpretationsversuchen innerhalb der neueren protestantischen Theologie hat das Modell der einen imago, die in der Spannung von Bestimmung und Erfüllung reflektiert wird, die meisten Argumente auf seiner Seite. Es nimmt die biblischen Texte ernst, indem es davon ausgeht, dass der Mensch als solcher Gottes Bild ist und diese seine Bestimmung gleichwohl erst im Glauben an Christus Erfüllung findet. Es ist deshalb in der Lage, sowohl die Verfehlung der menschlichen Bestimmung als auch ihre Erneuerung theologisch angemessen zu thematisieren. Überdies vermeidet es Spekulationen über eine historisiert gedachte ursprüngliche Gerechtigkeit. Wenn man dieses Konzept der imago darüber hinaus in der Perspektive des trinitarischen Seins und Handelns Gottes interpretiert, ergeben sich weitere Differenzierungen und Präzisierungen.79 1.3.2 Ontologie oder Relation. Der Diskurs über den materialen Gehalt der Gottebenbildlichkeit Neben dem Anspruch, ein schöpfungstheologisch und soteriologisch kohärentes Konzept der imago Dei zu formulieren, hat die Theologie stets auch vor der Herausforderung gestanden, den materialen Gehalt der Gottebenbildlichkeit zu reflektieren. In dieser Hinsicht lassen sich vor allem ontologische und relationale Konzepte unterscheiden. (1) Seit der imago-Begriff bereits in der Alten Kirche aus dem Schatten heraus ins grelle Licht der theologischen Anthropologie gerückt worden ist, ————— 76 77 78 79

Ebd., 79. Härle, Dogmatik, 436f. Ebd., 503. Dies geschieht in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels.

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hat es immer wieder Versuche gegeben, ihn ontologisch zu qualifizieren: an einem besonderen und unterscheidenden Wesenszug des Menschseins. Versuche dieser Art rücken den imago-Begriff stets in eine andere und neue Konstellation ein. Während er in den biblischen Texten aus der Relation zwischen Gott und Mensch heraus verstanden wird, orientieren sich diese Deutungen stärker an der Relation zwischen Mensch und Tier. Es wird nach unterscheidenden Qualitäten des Menschseins gefragt, nach dem, was den Menschen vor dem übrigen Leben auszeichnet. Entsprechend den jeweiligen philosophischen Konzepten kann dies dann mit Blick auf Seele, Vernunft oder Sittlichkeit ausgesagt werden. In der protestantischen Theologie haben die ontologischen Konzeptionen durch den kräftigen Einspruch Luthers80 einen durchgängig wirksam gebliebenen Kontrapunkt erhalten. Gleichwohl sind sich auch hier mehr oder weniger stark aufgegriffen worden. David Hollaz hat die allgemeine Gottebenbildlichkeit im Geist, dem Verstand und freien Willen des Menschen wiederentdecken wollen.81 Paul Althaus sah sie in der menschlichen Personalität, ihrem geistigen Selbstbewusstsein und ihrer freien Selbstbestimmung.82 Emil Brunner wiederum erblickte in der Wortfähigkeit und Verantwortlichkeit des Menschen einen untilgbaren imago-Rest.83 Die Beispiele zeigen, dass insbesondere die Konzeption einer doppelten imago anfällig für ontologische Spekulationen gewesen ist. In geringerem Maß haben sich aber auch Vertreter anderer Interpretationsmodelle um einen materialen Aufweis der Gottebenbildlichkeit am Menschen bemüht. Eberhard Jüngel beispielsweise hat die von Ludwig Köhler herausgearbeitete Gestaltähnlichkeit zwischen Gott und Mensch ins Zentrum der materialen Grundlegung seiner Anthropologie gestellt: „In der aufrechten Haltung des Körpers ist der Mensch Gott ähnlich. Und diese körperliche Ähnlichkeit des Menschen mit Gott ist der Ausdruck des Menschseins des Menschen.“84 Der aufrechte Gang des Menschen und sein „Blick nach oben“ sind damit der spezifische Inhalt der Gottebenbildlichkeit. Versuche, besondere Wesensmerkmale des Menschen als Inhalte der Gottebenbildlichkeit aufzuweisen, sind allermeist willkürlich. Sie spiegeln die Hochschätzung, die bestimmte philosophische Konzepte bestimmten humanen Lebensäußerungen zubilligen. Biblisch ist dagegenzusetzen, dass die imago Dei im Verständnis der Priesterschrift stets vom ganzen Menschen —————

80 „Luther fügt die Imago Dei von Gen 1,26f zum Leibesleben von Gen 2,7, das uns mit den Tieren gemeinsam ist, hinzu und lässt sie im worthaft personalen Gottesbezug zentriert sein.“ Peters, Art. Bild Gottes, 510, mit Hinweis auf Luther, WA 42, 46, Anm.; 47, 29–38; 49,18–22. 81 Vgl. Schmid, Dogmatik, 163; Vgl. Teil B, Kap. 1.3.1 (2). 82 Althaus, Die christliche Wahrheit, Bd. 2, 98. 83 Brunner, Natur und Gnade, 11. 84 Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, in: ders., Entsprechungen, 302.

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ausgesagt wird.85 Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass für die priesterschriftliche Urgeschichte die Relation Gott-Mensch und nicht Gott-Tier der maßgebliche Deutungshorizont ist. Vor allem aber: die Hochschätzung der Vernunft, der freien Selbstbestimmung oder des aufrechten Ganges schließen ungewollt diejenigen aus, die mit einem handicap in einer dieser Hinsichten leben. Diese Ambivalenz tritt beispielsweise bei Eberhard Jüngels Betonung des aufrechten Gangs hervor. „Nicht zufällig“, so schreibt er, „empfindet der Mensch diejenigen Mitmenschen, denen aufrecht zu gehen oder auch nur aufrecht sich zu halten verwehrt ist, als besonders arme, besonders bedauernswerte Menschen. Ihnen fehlt die Freiheit zur Zukunft.“86 Zwar mildert Jüngel wenige Sätze später die eben gemachte Aussage durch den Hinweis, „daß der vom Glauben als Herr prädizierte Jesus Christus ein Gekreuzigter war“, aber der Indikativ bleibt bestehen: Menschen, die am aufrechten Gang gehindert werden, „fehlt die Freiheit zur Zukunft“. Für den Spott, dem gehbehinderte Menschen im Altertum ausgesetzt waren, hat Jüngel im Übrigen die Erklärung parat, dass „sie das Herrsein des Menschen mit ihrem Dasein als eine störende Randglosse kommentierten, was wiederum dazu führte, daß man sie – weil ihnen eben die Funktion zum Herrschen äußerlich abzugehen schien – sich als besonders herrschsüchtig vorstellte und ja wohl nicht nur vorstellte.“87 Angesichts solcher Formulierungen glaubt man, den eigenen Augen nicht zu trauen. In der Fortschreibung alter Vorurteile wird der aufrechte Gang zum exklusiven anthropologischen Merkmal, an dem sich die Freiheit zur Zukunft entscheidet. Eine Formulierung Ulrich Bachs liest sich wie ein kritischer Kommentar dazu: „Aufrechter Gang an zwei Gehstöcken“.88 Jüngels Fauxpas bringt das Ungenügen aller Versuche auf den Punkt, die Gottebenbildlichkeit mit bestimmten Merkmalen des Menschen in Verbindung zu bringen.89 (2) Aus der Einsicht in die Fruchtlosigkeit der Suche nach menschlichen Gestaltmerkmalen, mit denen die Gottebenbildlichkeit material qualifiziert werden soll, hat sich in der zeitgenössischen protestantischen Theologie eine anderes Verständnis entwickelt, das die imago relational deutet. Obwohl dieser Interpretationsansatz keineswegs neu, sondern schon bei Luther bestimmend gewesen ist,90 haben in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth den Anstoß dafür ————— 85

Vgl. Teil B, Kap 1.1 (4). Jüngel, ebd., 303. 87 Ebd., 303f. 88 Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz, 336. 89 Die Fokussierung der materialen Gottebenbildlichkeit auf den „aufrechten Gang“ verwundert bei Jüngel auch deshalb, weil er die formale Gottebenbildlichkeit konsequent relational versteht. 90 Vgl. Peters, Art. Bild Gottes, 510f. 86

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gegeben, die imago akzentuiert relational auszulegen. „Die Ähnlichkeit“, schreibt Bonhoeffer in „Schöpfung und Fall“, „die analogia des Menschen zu Gott ist nicht analogia entis, sondern analogia relationis“.91 Daraus folge, dass diese Relation „nicht eine dem Menschen eigene Fähigkeit“ sei, „sondern sie ist geschenkte, gesetzte Beziehung, justitia passiva!“ Darüber hinaus weist Bonhoeffer die Vorstellung ab, „als habe der Mensch diese Ähnlichkeit […] in seinem Besitz“.92 Sie ist vielmehr eine von Gott gesetzte Beziehung. Genau in dieser Interpretation der Gottebenbildlichkeit im Rahmen einer analogia relationis ist ihm wenig später Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik gefolgt.93 Auch für Barth ist die imago „keine Qualität des Menschen“. Deshalb habe es auch „keinen Sinn, zu fragen, in welchen besonderen Eigenschaften oder Verhaltensweisen des Menschen sie bestehen möchte“.94 Sie hat ihren Inhalt vielmehr darin, dass der Mensch die Lebensform Gottes wiederholt. Barths Deutung Ebenbildlichkeit erfolgt im Horizont der Trinität Gottes. Diese ist das Urbild für diejenige Relation, die der Mensch wiederholt. „In Gottes eigenem Wesen und Bereich findet ein Gegenüber statt: ein reales, aber einmütiges Sichbegegnen und Sichfinden, ein freies Zusammensein und Zusammenwirken, ein offenes Gegeneinander und Füreinander. Eben dieser göttlichen Lebensform Wiederholung, ihr Abbild und Nachbild ist der Mensch. […] So ist das tertium comparationis, die Analogie zwischen Gott und Mensch sehr schlicht die Existenz im Gegenüber von Ich und Du.“95 Der Mensch aber wiederholt die in Gott urbildlich bestehende Relation in der Beziehung von Mensch zu Mensch, genauer: in der Beziehung von Mann und Frau. Barth interpretiert deshalb das Geschlechtsverhältnis als „das Humane und damit auch das geschöpfliche Ebenbild Gottes“96 schlechthin. An Karl Barths Konzept wird deutlich, dass auch eine relationale Deutung der imago einer großen Interpretationsoffenheit unterliegt. Seine These von der sozialen Wiederholung der innergöttlichen Beziehung ist nur wenig rezipiert worden. Aber der Grundton ist gleichwohl relational gestimmt geblieben. Nur wenige andere Modelle möchte ich anführen. Nach Otto Weber besteht der von Barth gesuchte Vergleichspunkt zwischen der göttlichen und der menschlichen Ebene nicht im Geschlechtsverhältnis sondern im Gegenübersein und in der gegenseitigen Verantwortlichkeit.97 Er bestimmt sie deshalb als „fortdauernde Bestimmtheit des Men————— 91 92 93 94 95 96 97

Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, DBW 3, 60f. Ebd., 61 Barth, Die Kirchliche Dogmatik, III/1, 219. Ebd., 206. Ebd., 207. Ebd., 209. Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 1, 634.

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schen zur Liebe“.98 Dietrich Bonhoeffer sieht den Inhalt der Gottebenbildlichkeit in der Freiheit, die er als Freiheit des Menschen für einander99 und als Freiheit von der übrigen geschaffenen Welt, d.h. als Herrschaft über sie interpretiert. Am Freiheitsbegriff ist auch Christoph Schwöbels Interpretation orientiert. Für ihn ist der Mensch eine imago libertatis im Sinne einer Transparenz, bei der die abgebildete menschliche Wirklichkeit „durchsichtig bleibt für die Wirklichkeit, die es abbildet“:100 „In der Praxis der erlösten Freiheit kann menschliche Freiheit Gottes erlösende Freiheit erschließen, und in der Praxis der Freiheit als geschöpflicher Freiheit kann sie für Gottes schöpferische Freiheit transparent werden.“101 Schwöbels Begriff der Transparenz ist wiederum nicht ontologisch, sondern relational zu verstehen. Wiederum einen anderen Akzent setzt Gerhard Ebeling, der die lebensmäßige Entsprechung von Gott und Mensch durch die Sprache, genauer: durch das Wortgeschehen konstituiert sieht. Die imago könne „nur von dem Gespräch Gottes und des Menschen her verstanden werden“.102 Gottebenbildlichkeit sei genauer hin „nach der Weise eines Einsetzungswortes zu verstehen“.103 Sie sei etwas, was dem Menschen zugesprochen wird. Sie sei eine Verheißung, eine Sache des Glaubens. Wilfried Härle und Eilert Herms erblicken die Gottebenbildlichkeit des Menschen in seiner Personalität. Diese hat relationalen Charakter. Personalität drückt sich in den Beziehungen des Menschen zu sich selbst und zu seiner Umwelt aus und wird durch Beziehung zu Gott ermöglicht und konditioniert.104 „Im Begriff Gottebenbildlichkeit kommt Personalität so zur Sprache, daß sie grundlegend als durch die Bezogenheit auf Gott bestimmt gedacht wird.“105 Sie sei als diejenige Würde zu verstehen, durch die der Mensch an der Würde des Schöpfers partizipiere. Diese Würde bestehe darin, dass der Mensch „als (untergeordneter) Partner Gottes, als (gleichgeordneter) Partner des Mitmenschen und als (übergeordneter) Partner der nicht-personalen Kreatur in Betracht kommt.“106 ————— 98

Ebd., 633. Bonhoeffer denkt an dieser Stelle an die Beziehung zwischen Mann und Frau. Karl Barth hat diesen Impuls von Bonhoeffer übernommen (vgl. Schöpfung und Fall, 61: „Der Mensch in der Zweiheit, Mann und Weib, in seiner Gottebenbildlichkeit ist hineingeschaffen in die Welt des Starken und des Lebendigen“). 100 Schwöbel, Imago Libertatis: Freiheit des Menschen und Freiheit Gottes, in: ders., Gott in Beziehung, 254. 101 Ebd. 102 Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, 414. 103 Ebd., 413. 104 Vgl. Härle/Herms, Rechtfertigung, 81–91. 105 Ebd., 91. 106 Ebd., 92. 99

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Von den dargestellten relationalen Deutungen nehmen nur diejenigen Bonhoeffers und Barths ausdrücklich auf die Trinität Bezug und bestimmen den Menschen als Bild des dreieinigen Gottes. Mit einer ausdrücklichen Betonung, dass die imago Dei nur als imago trinitatis zu verstehen sei, ist dagegen die Anthropologie Jürgen Moltmanns verbunden. „Die Gottebenbildlichkeit des Menschen“, so Moltmann, sei zuerst „ein theologischer Begriff, bevor er ein anthropologischer Begriff wird“.107 Er sagt etwas über Gott selbst aus. Die Relationsanalogie zwischen Gott und Mensch „liegt in der differenzierten Beziehung, der beziehungsreichen Differenz, die in dem dreieinigen Gott das ewige Leben des Vaters, des Sohnes und des Geistes ausmacht und bei Menschen das zeitliche Leben von Frauen und Männern, Eltern und Kindern bestimmt. Diese sozial offene Lebensgemeinschaft von Menschen ist die gottentsprechende Lebensform.“108 Gottebenbildlichkeit als Relation. Einzig diese Hermeneutik vermeidet die Schwierigkeiten ontologischer Spekulationen, die auf ein Gott und Mensch verbindendes Seinsmerkmal aus sind. Andererseits macht die Pluralität der relationalen Deutungsangebote darauf aufmerksam, dass auch der Inhalt der Entsprechung in hohem Maße interpretationsoffen ist. An Moltmanns sozialer imago-Lehre wird überdies auch die Gefahr willkürlicher Interpretationen deutlich. Die von ihm behauptete Analogie zwischen dem trinitarischen Beziehungsreichtum Gottes und der sozialen Beziehungsgemeinschaft der Familie ist weder durch biblische Hinweise noch durch eine ausreichende systematische Begründung gedeckt. Will man deshalb die relationale Hermeneutik nicht in eine Inflation spekulativer Deutungsmodelle auslaufen lassen, so sind die jeweiligen Inhalte sowohl biblisch als auch systematisch-theologisch ausreichend zu fundieren. Keineswegs ist es dabei erforderlich, sich auf eine einzige Relation einzuschränken, in der sich die Entsprechung von Gott und Mensch erschöpft. Es kann vielmehr Gründe dafür geben, die imago Dei als komplexes theologisches Deutungsmodell zu verstehen. Das ist umso mehr der Fall, wenn die Gottebenbildlichkeit als „die entscheidende theologische Aussage über den Menschen“109 aufgefasst wird. Ich möchte im Folgenden den Versuch machen, mir von der Gottebenbildlichkeit ein Bild zu machen, das die wichtigsten Aspekte aus der biblischen und theologiegeschichtlichen Tradition aufnimmt und reflektiert.

————— 107 108 109

Moltmann, Gott in der Schöpfung, 226. Ebd., 229. Härle, Dogmatik, 434.

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1.4 Weil die Bilder laufen lernen ... Gottebenbildlichkeit in trinitarischer Perspektive Nach Immanuel Kants Urteil lässt sich aus der Trinitätslehre „schlechterdings nichts fürs Praktische machen, wenn man sie gleich zu verstehen glaubte, noch weniger aber, wenn man inne wird, daß sie gar alle unsere Begriffe übersteigt“.110 Mit dieser doppelten Kritik – dem Irrelevanz- und dem Irrationalitätsvorwurf – hat Kant der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ein vernichtendes Urteil ausgestellt. Vorschnell, wie ich meine. Das Thema meiner Untersuchung erlaubt es mir nicht, mich der Explikation der Trinitätslehre ausführlicher zuzuwenden. Insofern kann ich, was den Irrationalitätsvorwurf anlangt, nur auf die neuere theologische Diskussion verweisen. Was ich aber zu zeigen beabsichtige: Kants These, die Dreieinigkeit sei für die Praxis irrelevant, erweist sich als voreilig. Dies soll in diesem Abschnitt an einem Sachgesichtspunkt genauer gezeigt werden: dem der theologischen Anthropologie. Für deren zentrale Kategorie der Gottebenbildlichkeit erweist sich nämlich die Trinitätslehre als außerordentlich bedeutsam und prägt deren Interpretation durchgängig. Darüber hinaus aber lässt sich zeigen, dass die Auffassung des Menschen als Bild des dreieinigen Gottes erhebliche Relevanz für das Verständnis der menschlichen Existenz in ihrer Gottesbeziehung sowie ihrem Selbstund Weltumgang hat. Gerade für die Formulierung einer inklusiven Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung kommt der Trinitätslehre eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Ich möchte in den folgenden Abschnitten diese These von der Relevanz der Trinitätslehre für ein theologisch angemessenes und praktisch folgenreiches Verständnis des Menschen als Bild Gottes erläutern und begründen. Ich wähle dafür die Form von Thesen, die ich jeweils mit einem Kommentar versehe. Die Ergebnisse, die sich aus der Hermeneutik der grundlegenden biblischen Texte ergeben, sollen dabei innerhalb einer systematisch-theologischen Interpretation der Gottebenbildlichkeit zur Geltung kommen. Zuvor jedoch möchte ich in knapper Weise die wichtigsten Aspekte der Trinitätslehre benennen, die meine anthropologische Skizze prägen.

————— 110

Kant, Der Streit der Fakultäten, Werke Bd. 9, 303f (A 50).

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1.4.1 Drei Seinsweisen des einen Gottes. Kurzer Exkurs zur Trinitätslehre (1) Im Interesse an möglichst konzentrierten Erläuterungen wähle ich auch in diesem Abschnitt eine knappe und komprimierte Darstellungsform, bei der ich Kernaussagen knapp kommentiere. (1) In der Trinitätslehre reflektiert der christliche Glaube, was sich ihm in der Begegnung mit dem Evangelium als Handeln Gottes erschlossen hat und erschließt. Sie ist damit eine „menschliche Denkbemühung“, die „ihren Ausgang bei dem Wirken Gottes“ nimmt, „durch das er dem Menschen begegnet“.111 Das in der Begegnung mit ihm sich offenbarende Wirken Gottes wiederum erschließt, wer Gott ist. Die Trinitätslehre reflektiert diesen Aspekt, indem sie das Handeln Gottes mit der Welt und sein Wesen so auf einander bezieht, dass sie Vielfalt der Werke Gottes mit der Einheit und Einzigkeit seines Wesens zusammen denkt. Am deutlichsten hat Karl Rahner von einer Identität beider gesprochen: „Die ‚ökonomische‘ Trinität ist die immanente Trinität und umgekehrt“.112 Die Trinitätslehre begreift also das „trinitarische Handeln Gottes […] als die Selbstmanifestation des trinitarischen Seins Gottes“.113 (2) Für das Verstehen des vielfältigen Handelns Gottes mit der Welt und den Menschen hat sich der Theologie insbesondere ein heilsgeschichtliches Modell nahe gelegt, das drei Aspekte des Wirkens Gottes in der Schöpfung, in der Versöhnung und in der Vollendung unterscheidet. Die Trinitätslehre reflektiert die Einheit dieses Wirkens, indem sie zum Ausdruck bringt, dass sich in der Begegnung mit dem Evangelium Jesu Christi Gott selbst als der Versöhner erschließt und dass dieser selbe Gott auch als Schöpfer und Vollender an der Welt gehandelt hat, handelt und handeln wird. Dieses Handeln Gottes ist nicht allein auf die Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beziehen. Es muss auch gegenwartsbezogen interpretiert werden. Dem christlichen Glauben erschließt sich in der Begegnung mit dem Evangelium Jesu Christi mit der Gegenwart der Versöhnung auch die Gegenwärtigkeit des schöpferischen und des vollendenden Handeln Gottes. Das Zeitverständnis des Glaubens hält deshalb neben dem linearen Zeitmodell auch die sich in der Gegenwart erschließende Spannung zwischen dem noch immer, dem schon und dem noch nicht fest. Das Handeln Gottes, das sich in der Begegnung mit dem Evangelium erschließt, ist deshalb in dieser, die Gegenwart des Glaubenden bestimmenden Mehrdimensionalität auszu————— 111

Härle, Dogmatik, 390. Rahner, Bemerkungen zum dogmatischen Traktat ‚De Trinitate‘, 115, zit. nach Härle, ebd., 392. 113 Schwöbel, Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens, in: ders., Gott in Beziehung, 37. 112

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sagen. Es erweist sich dabei – mit Wilfried Härle – als (a) „schöpferisches (= wirklichkeitsbegründendes)“, (b) „offenbarendes (= wahrheitserschließendes)“ und (c) „erleuchtendes (= gewißheitschaffendes) Wirken“.114 (3) Die klassische Trinitätslehre hat das Handeln Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist als das Handeln dreier göttlicher Personen reflektiert. Das Augsburger Bekenntnis hält fest, „dass ein einig gottlich Wesen sei, […] und seind doch drei Personen in demselben einigen gottlichen Wesen“.115 Allerdings birgt diese am Personenbegriff gebildete Deutung die Gefahr, dass die drei göttlichen Personen als jeweils selbstständig gedacht werden und insofern die Einheit Gottes in Frage steht. Karl Barth spricht, um diesem Missverständnis aus dem Weg zu gehen, von den drei Seinsweisen Gottes.116 Diese Reformulierung117 hält stärker als der traditionelle Personenbegriff fest, dass es sich um unterschiedliche Aspekte des einen und unteilbaren Wirkens Gottes handelt. „Jedes Wirken Gottes partizipiert uneingeschränkt an seiner Göttlichkeit und an seiner Einheit.“118 In der Reflexion des Wesens Gottes ist deshalb darauf zu achten, dass das Wirken Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist nicht als das Wirken selbstständiger und voneinander unabhängiger Entitäten aufgefasst wird. Vielmehr geht es darum, die Inhalte des Wirkens Gottes so zu verstehen, dass sie als Aspekte des einen und einzigen Gottes plausibel werden. Der Begriff der Seinsweisen erscheint mir dafür geeignet. Kant merkte kritisch an, dass die Trinitätslehre alle unsere Begriffe übersteige. In der Tat lässt sich das in ihr Gedachte nicht auf einen einfachen begrifflichen Nenner bringen. Gleichwohl ist die Trinitätslehre der Versuch, das Handeln und Sein Gottes zu verstehen. Nicht ein einziger Begriff macht sich dafür notwendig, sondern eine Konstellation von Begriffen. Die Kunst der Trinitätslehre besteht darin, Vielfalt und Einheit so aufeinander zu beziehen, dass die Werke und Seinsweisen Gottes weder auseinander- noch zusammenfallen. Deshalb bringt sie Begriffe dafür bei, die Gottes vielfältiges Handeln als Seinsweisen des einen und einzigen Gottes erkennbar machen. Dass diese begriffliche Anstrengung nicht nur verstehbar ist, sondern auch erhebliche praktische Konsequenzen hat, sollen die folgenden Abschnitte zeigen.

————— 114 115 116 117 118

Vgl. Härle, ebd., 394. Confessio Augustana, Art. 1, in: BSLK, Bd. 1, 50. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. I/1, 378–388. Sie wird heute bspw. von Härle aufgenommen, vgl. ders, Dogmatik, 390. Härle, ebd., 396f.

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

1.4.2 Der Mensch als Bild des dreieinigen Gottes In den meisten neueren Interpretationsmodellen zur Gottebenbildlichkeit wird der Bezug zur Trinitätslehre nicht explizit hergestellt.119 Lediglich Dietrich Bonhoeffer, Karl Barth und Jürgen Moltmann120 entwickeln ihre Überlegungen ausdrücklich im Horizont der Trinität Gottes. In jüngster Zeit hat Christoph Schwöbel erneut den Versuch unternommen, die „Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens“121 zu verstehen und demzufolge auch die Anthropologie trinitarisch zu reflektieren. „Menschsein als In-Beziehung-Sein“, so lautet Schwöbels These, ist „in der Beziehung des dreieinigen Gottes zur Menschheit begründet.“122 Mir scheint, dass sich aus der Trinitätslehre unverzichtbare vertiefende Perspektiven zum Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen ergeben. Deshalb werde ich dieses Verständnis meinen weiteren Überlegungen zu Grunde legen. In den folgenden Kapiteln werde ich regelmäßig darauf zurückkommen und weitere Präzisierungen vornehmen. Bereits hier möchte ich allerdings einige zentrale Aspekte dieser trinitarischen Deutung der Gottebenbildlichkeit thesenförmig erläutern. (1) Der Mensch ist theologisch als Bild des dreieinigen Gottes zu verstehen. Die imago Dei ist als imago trinitatis auszulegen. Diese These ist in den zurückliegenden Abschnitten bereits mehrfach angeklungen. Sie setzt einen Überschritt von der Exegese einzelner biblischer Texte und Textgruppen zu einer systematisch-theologischen Gesamtinterpretation voraus. Die exegetischen Ergebnisse müssen allerdings in diese Interpretation eingehen und dürfen nicht übergangen werden. Die Begründung für eine Hermeneutik der Gottebenbildlichkeit im Horizont der Trinität Gottes ist ihrerseits systematisch-theologischer Art. Wenn man mit der Einsicht ernst macht, dass sich der in der Begegnung mit dem Evangelium erschließende Gott sowohl als der wirklichkeitsbegründende, wahrheitserschließende und gewissheitsschaffende Gott erweist, dann muss sich diese theologische Reflexion auch auf andere theologische Fragen auswirken. Vor dem Horizont der Trintitätslehre erscheinen die anderen Themen der Theologie in einem anderen Licht. Deshalb ist es konsequent, die Trintitätslehre als „Rahmentheorie des christlichen Glaubens“ (Schwöbel) zu verstehen. Für die theologische Anthropologie und insbesondere für die Interpre—————

119 Implizit bestehen solche Bezüge dadurch, dass regelmäßig die Gottebenbildlichkeit sowohl in der Schöpfung als auch in der Versöhnung durch Jesus Christus in Beziehung zu einander gesetzt wird. Allerdings wird in dieser heilsgeschichtlichen Hermeneutik die Gottebenbildlichkeit nicht direkt auf die Trinität Gottes bezogen. 120 Vgl. Teil B, Kap. 1.3.2 (2). 121 Vgl. Schwöbel, Die Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens, 48–51. 122 Schwöbel, Menschsein als Sein-in-Beziehung, in: ders., Gott in Beziehung, S.194.

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Gottebenbildlichkeit

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tation der Gottebenbildlichkeit ergibt sich daraus der hermeneutische Ansatz, den Menschen als imago Dei trinitatis zu verstehen. (2) Gottebenbildlichkeit ist eine relationale Kategorie. Sie versteht das Charakteristikum des Menschseins als sein Sein-in-Beziehungen. Der Mensch ist darin Bild Gottes, dass er in Analogie zu Gottes Sein in Beziehungen existiert. Die evangelische Theologie versteht die conditio humana relational. „Der Mensch ist nach biblischem Urteil […] ein Beziehungswesen, das immer schon auf anderes Sein bezogen und nur in solchen Relationen es selbst ist.“123 Dieser anthropologische Ansatz gründet in der Kategorie der Gottebenbildlichkeit und deren relationaler Interpretation. Das Leben des Menschen ist genau in dem Sinn als gottebenbildlich zu bezeichnen als er aus und in Beziehungen existiert. Gottes Sein in Beziehungen erfährt in der menschlichen Existenz in Beziehungen eine Analogie. Diese relationale Deutung sollte nicht material dadurch überlastet werden, dass konkrete Beziehungsformen – etwa soziale bzw. familiale Beziehung – gesucht und als Inbegriff der Analogie ausgemacht werden. Dieses Bemühen ist der früheren Suche nach bestimmten Merkmalen verwandt und dürfte stets willkürlich bleiben. Aus den biblischen Texte ergeben sich stattdessen bestimmte Beziehungsdimensionen, die das menschliche Sein in Beziehungen in grundlegender Weise bestimmen: Menschen leben zunächst aus der Beziehung zu Gott und in der Beziehung zu ihm. Er ist ihr Schöpfer, der sie „zum Bilde Gottes“ (Gen 1,27) erschuf. Ihm verdanken sie ihr Leben; aus dieser Beziehung zu ihm existieren sie. Zugleich leben sie auch in der Beziehung zu ihm – antwortend in Lob, Dank oder Klage. Darüber hinaus leben Menschen in der Beziehung zu ihrer sozialen Umwelt. Als „Mann und Weib“ (Gen 1,27) sind sie auf einander bezogen und existieren zugleich in einem sozialen Raum. Menschen sind auf ihre kreatürliche Umwelt bezogen, die sie Gott entsprechend zu gestalten haben (vgl. Gen 1,28). Und schließlich: Menschen stehen in einer Beziehung zu sich selbst, die sie selbst einen Namen und damit eine Identität haben (vgl. Gen 5,2f). Menschen realisieren ihr Leben mithin in der wechselseitigen Durchdringung ihres Gottes-, Sozial-, Umwelt- und Selbstverhältnisses. Diese grundlegenden Beziehungsdimensionen werden in den folgenden Kapiteln aufgegriffen und genauer reflektiert.124 (3) Gottebenbildlichkeit ist eine theologische Kategorie. Sie ist aus der Beziehung Gottes zum Menschen zu verstehen. Damit entfallen sowohl ————— 123

Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, in: ders., Beziehungsreich, 16. Für die Bearbeitung meines Themas konnte eine eigenständige Behandlung der Beziehung zur kreatürlichen Umwelt entfallen. 124

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

Möglichkeit als auch Notwendigkeit, ein Merkmal am Menschen zu bestimmen, das die Gottebenbildlichkeit begründet. Der Gottesbeziehung kommt innerhalb des menschlichen Beziehungsreichtums konstitutive Bedeutung zu. Auch die Kategorie der Gottebenbildlichkeit ist aus dieser Beziehung heraus zu interpretieren. Sie sagt insofern etwas über das Handeln Gottes am Menschen und nicht über ein menschliches Merkmal aus. Die imago ist deshalb als theologische und nur in diesem Sinn als anthropologische Kategorie zu verstehen. Wer dagegen eine Eigenschaft, ein Merkmal oder eine Qualität des Menschseins sucht, die es an sich rechtfertigen würde, die Gottebenbildlichkeit zu begründen, löst den Menschen aus der ihn konstituierenden Gottesbeziehung heraus. Ein anthropologisches Merkmal, das für sich eine solche Begründungslast tragen könnte, existiert indes nicht. Überdies scheint es mir auch im Gespräch mit der philosophischen und naturwissenschaftlichen Anthropologie sinnvoll zu sein, deutlich zu machen, dass die imago Dei keine empirisch verifizierbare Kategorie ist. Es bleibt dabei: in der Gottebenbildlichkeit reflektiert die Theologie die für sie grundlegende Einsicht, dass das menschliche Leben aus der Beziehung zu Gott Gewährung und Annahme, Befreiung und Erneuerung erfährt.125 —————

125 Die Angemessenheit der „Gottebenbildlichkeit“ als zentrale theologisch-anthropologische Kategorie ist von John M. Hull in Frage gestellt worden: „Aus der Sicht eines Menschen mit Behinderung ist es schwierig, das Menschenbild von der Gottesebenbildlichkeit her zu entwerfen. Diese Schwierigkeiten haben mit der Vollkommenheit zu tun, die durch die Analogie suggeriert wird.“ (Hull, Der gebrochene Körper in einer zerbrochenen Welt, 53). Hull schlägt deshalb vor, „nicht die Gottesebenbildlichkeit als unseren Ansatzpunkt [zu] nehmen, sondern den menschlichen Körper selbst“ (ebd., 54 [Hinzufügung von mir; U.L.]). Indem er anschließend eine „Theologie des Körpers als Theologie der Behinderung“ (ebd., 55) entwickelt, geht es ihm insbesondere um die Reflexion der Gebrochenheit des menschlichen Körpers. Sie komme theologisch darin zum Ausdruck, dass der im Abendmahl gereichte Leib Christi ein gebrochener Leib ist: „‚Als er das Dankgebet sprach, brach er es (das Brot) und sprach: Das ist mein Leib für euch. [...]‘(1 Kor 11,24) Dies ist die früheste Überlieferung vom letzten Mahl, und Gebrochen-Sein steht dort an zentraler Stelle. Aufgrund seines Gebrochen-Seins verkündigen die, die vom Brot nehmen, den Tod Jesu [...], denn dessen Tod stellte ein Zerbrechen seines Körpers dar.“ (ebd., 64). So werde deutlich, dass Vollkommenheit im biblischen Sinn eine verletzte, eine unvollkommene Vollkommenheit sei (vgl. ebd., 69). Der christliche Glaube stelle deshalb nicht zuletzt „eine tiefgehende und wunderschöne Theologie des Gebrochen-Seins“ (ebd., 72) dar. „Die Theologie des Gebrochen-Seins bietet der Kirche einen Weg, den erdrückenden Felsklotz einer scheinbar eindeutigen Vollkommenheit durch die reichhaltige Mehrdeutigkeit einer Vielfalt zahlreicher Formen menschlichen Gebrochen-Seins zu ersetzen“ (ebd.). Hulls Einwand gegen die Gottebenbildlichkeit, diese sei notwendig mit einer merkmalsorientierten Vollkommenheitsvorstellung verbunden, überzeugt nicht. Einerseits übersieht Hull, dass die „imago Dei“ eine theologische Kategorie ist, die von Gott und seiner Beziehung zum Menschen her zu denken ist. Dadurch ist die Suche nach menschlichen Merkmalen von vornherein sachlich unangemessen. Andererseits scheint mir Hulls Zurückweisung der „imago Dei“ aber auch von einem zu wenig differenzierten Gottesbild auszugehen. Wird Gott dagegen trinitarisch gedacht, so gehört der verwundete, hingerichtete, gestorbene und auferstandene Christus zu einem theologisch angemessenen Verständnis Gottes hinzu. Indem darüber hinaus Christus als das

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Gottebenbildlichkeit

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(4) Der Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen. Er ist zum Bild Gottes bestimmt. Die biblischen Beobachtungen haben gezeigt, dass die Priesterschrift die Schöpfung des Menschen als Bild Gottes ohne jede Einschränkung versteht. Daran ändert auch ihre redaktionelle Verschränkung mit der jahwistischen Sündenfallerzählung nichts. Gen 5,1 sich bezieht die Gottebenbildlichkeit nicht nur auf das erste Menschenpaar sondern ausdrücklich auch auf „Adams Geschlecht“. Ähnlich setzt auch das Verbot, Menschenblut zu vergießen in Gen 9,6 die uneingeschränkt verstandene Gottebenbildlichkeit des Menschen voraus. Für die Priesterschrift ist diese Schöpfungsaussage kein Widerspruch zum Wissen um die Schuld des Menschen. Vielmehr verschränkt sie durchdacht Gottes Schöpfungshandeln an der Welt mit seinem Heilshandeln an Israel. Bereits der Schöpfungsbericht mündet in die Kultordnung des Sabbat (Gen 2,2f). So gilt einerseits: „die ‚Urgeschichte Israels‘ gründet in der ‚Urgeschichte der Welt‘“.126 Ebenso darf man aber auch sagen: in der Hinwendung zu Israel kommt das Schöpfungshandeln Gottes zu seiner umfassenden Verwirklichung. Die Kultordnung spielt dabei eine besondere Rolle: die Herrlichkeit Gottes (kabod), die in der Stiftshütte gegenwärtig ist, gewährt dem Volk Sühne und Reinigung. Die Priesterschrift kann auf diesem Hintergrund die Gottebenbildlichkeit aller Menschen uneingeschränkt festhalten und gleichzeitig deutlich machen, dass Israel in der Praxis des Kultes dieser Gottebenbildlichkeit entspricht bzw. sie im praktizierten Kult erneuert. Die theologische Pointe des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtes, nach der der Mensch uneingeschränkt Gottes Bild ist, erweist sich auch in systematischer Perspektive als angemessen. Wird nämlich, wie oben ausgeführt, die imago Dei als theologische Kategorie verstanden, dann ist für ihre Deutung die Beziehung Gottes zum Menschen konstitutiv. Diese Beziehung wird nicht dadurch aufgehoben, dass der Mensch schuldig wird und sich seinerseits als beziehungsmüde darstellt. Der dreieinige Gott bezieht sich vielmehr nicht nur wirklichkeitsbegründend auf den Menschen, sondern auch so, dass er eine befreiende Beziehung zu ihm knüpft und ihm in der Begegnung mit dem Evangelium die Möglichkeit gibt, von seiner Beziehungslosigkeit erlöst und mit ihm versöhnt zu werden. Das wahrheitserschließende und gewissheitsschaffende Handeln Gottes setzt voraus, dass Gott von seiner Seite aus die Beziehung zum Menschen aufrechterhält. Aus ————— Ebenbild Gottes bezeichnet wird (vgl. 2Kor 4,4), wird deutlich, dass die „imago Dei“ keineswegs eine Vollkommenheit suggeriert. In Teil II, Kap. 8.8 entwickle ich deshalb ein Verständnis der Gottebenbildlichkeit, das Fragmentarität und Gebrochenheit mit einschließt. 126 Zenger, Art.: Priesterschrift, 440.

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

diesem Grund bleibt auch systematisch-theologisch festzuhalten: Der Mensch ist als Bild Gottes geschaffen. Er ist Gottes Bild. In der neueren protestantischen Theologie wird die Gottebenbildlichkeit deshalb als die Bestimmung des Menschen festgehalten. Der Begriff der „Bestimmung“ besagt, etwas oder jemandem „Inhalt (Sinn, Wesen, Struktur) [zu] verleihen“.127 Genau in diesem Sinn ist auch die imago Dei zu verstehen: sie bezeichnet die dem Menschen von Gott verliehene Würde. Diese Würde verliert er von Gottes Seite her auch dann nicht, wenn er ihr selbst Hohn spricht. Deshalb gilt trotz vielgestaltiger menschlicher Würdelosigkeit: der Mensch ist zum Bild Gottes bestimmt. Er hat eine unverlierbare Würde.

————— 127

Warnach, Art.: Bestimmung, 850 [Ergänzung von mir; U.L.].

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2. Personalität oder: „als Person bin ich, was ich bin“ (Edmund Husserl) Personalität „Der Mangel an Person“, schreibt Friedrich Nietzsche in der „Fröhlichen Wissenschaft“, „rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr – sie taugt am wenigsten zur Philosophie.“1 Nietzsche dürfte mit dieser Feststellung auf andere Weise Recht haben, als er selbst intendiert hat. Für ihn galt es, gegen die schwachen und für die starken Geister zu votieren, „die fest auf sich selber sitzen“.2 Das Gegenteil scheint, gerade wenn man die neueren Debatten um den Personenbegriff vor Augen hat, mehr für sich zu haben: der Mangel an Person, d.h. ein schwacher Begriff von Personalität, der nicht auch die Schwäche mit einbegreift, taugt zu keinem guten Dinge mehr – am wenigsten zur Philosophie. Der Begriff der Person hat Konjunktur. Besonders durch die aktuelle bioethische Diskussion ist er neu ins Zentrum des theologischen und philosophischen Interesses gelangt. Zu dieser exponierten Bedeutung ist es vor allem deshalb gekommen, weil ihm „eine tragende Rolle für die normative Argumentation in der angewandten Ethik“3 zugewiesen worden ist: die Diskussionen um menschliche Autonomie, Würde, Instrumentalisierungsverbot und Lebensrecht kristallisieren sich allesamt um den Personenbegriff. Dieter Sturma hat deshalb zu Recht davon gesprochen, dass „die Philosophie der Person einen Großteil des Erbes der philosophischen Anthropologie an[tritt]. Der Begriff der Person ist die moderne Antwort auf die alte Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen.“4 Aber ist der Personenbegriff überhaupt in der Lage, die Begründungslast für solche anspruchsvollen und weit reichenden ethischen Argumentationszusammenhänge zu tragen? Immerhin haben wiederholt Ethiker vor einer Überforderung des Begriffs gewarnt.5 Der Personenbegriff ist offenbar umstritten. Während er für die einen zum philosophischen Schwergewicht gehört, befinden ihn die anderen als zu leicht und unpräzise. Während er für die einen eine moralische Gemeinschaft stiftet, sehen sich andere durch ihn ————— 1 2 3 4 5

Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2, 208. Nietzsche, ebd., 209. Siep, Der Begriff der Person als Grundlage der biomedizinischen Ethik, 458. Sturma, Person und Philosophie der Person, 12 [Ergänzung von mir; U.L.]. Vgl. Siep, Der Begriff der Person, 458.

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

aus dem Ring geboxt. Zu ihnen gehören auch Menschen mit geistiger Behinderung. Da es eine einflussreiche Strömung in der zeitgenössischen Ethik gibt, die an das Kriterium der Personalität die Gewährung von Lebensrechten knüpft, sind Menschen mit geistiger Behinderung keineswegs nur Zuschauer eines philosophischen Wettkampfes. Für sie geht es in dieser Debatte um mehr: um Inklusion oder Ausschluss. Ich möchte in diesem Kapitel einige der „Masken“ betrachten, mit denen die „Person“ im Laufe ihrer Geschichte aufgetreten ist und einige „Rollen“ zur Sprache bringen, die sie heute spielt. Eine „Biografie“ der „Person“ habe ich nicht im Sinn. Vielmehr konzentriere ich mich auf zentrale Stücke des philosophischen und theologischen „Theaters“: glanzvolle Aufführungen und problematische Inszenierungen. Am Ende plädiere ich für eine maßvolle Besetzung der „Person“ in aktuellen anthropologischen „Stücken“.

2.1 Handeln hinter Masken. Die persona in der vorchristlichen Antike Mit der „Person“ hat ein Begriff philosophische und theologische Karriere gemacht, der gewissermaßen „einfachen Verhältnissen entstammt“, allmählich aber immer größere Aufmerksamkeit auf sich zog und dem schließlich die Würde einer anthropologischen Leitkategorie verliehen wurde. Seine Herkunft liegt in der Welt des Theaters: das lateinische Wort „persona“ bezeichnete ursprünglich die „Maske“ des Schauspielers. Der römische Schriftsteller Gellius (2. Jhd.n.Chr.) hat es mit Bezug auf den Grammatiker Gavius Bassus (1. Jhd.v.Chr.) auf das Verb „personare“ = „durchtönen“ zurückgeführt.6 Der Schauspieler, so lässt sich diese etymologische Erklärung verstehen, musste durch die Maske, die er sich vor das Gesicht hielt, hindurchsprechen. Das diesen Vorgang bezeichnende Wort hat sich auf die Verkleidung selbst übertragen.7 „Das Wort behauptete sich in der gesamten römischen Literatur als die übliche Bezeichnung für ‚Maske‘“.8 Noch in der Welt des Schauspiels erfolgte aber bereits der erste Bedeutungszuwachs: mit Person konnte jetzt auch die Rolle, die Figur bzw. der Charakter bezeichnet werden, die ein Schauspieler zur Darstellung brachte. Der nächste Entwicklungsabschnitt der „Person“ spielt sich in den Gerichten, Behörden, in der politischen Hierarchie und im gesellschaftlichen Leben ab. Auch hier wurde ja in festen ‚Rollen‘ gehandelt, weshalb persona ————— 6

Vgl. Fuhrmann, Persona, ein römischer Rollenbegriff, 85. Im ältesten literarischen Zeugnis, dem Persa des Plautus (250–184 v.Chr.), hatte persona die Bedeutung von „Verkleidung“ bzw. „verkleideter Mensch“ (vgl. Fuhrmann, Persona, 86). 8 Fuhrmann, Persona, 86. 7

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Personalität

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nunmehr in übertragener Weise zu einem ‚römischen Rollenbegriff‘ avancierte. Wie Manfred Fuhrmann in luzider Analyse gezeigt hat, bezeichnet persona jetzt auch die gesellschaftliche ‚Stellung‘ eines Menschen. Sie bezeichnet „die Rolle, die jemand im Laufe seines Lebens konstituiert hat“, bzw. das „‚Image‘, das er sich vor der Öffentlichkeit zu geben wusste“.9 Die Person wurde zur Standesperson. In der Welt der antiken Philosophie hat Cicero die „Person“ nachdrücklich bekannt gemacht. Im ersten Buch seiner Schrift „Vom pflichtgemäßen Handeln“ (De officiis) erörtert er den Anstand als vernunftgeleitete Beherrschung der Begierden. In diesem Zusammenhang entwickelt Cicero eine Theorie von vier Masken, durch die ein Mensch gegenüber seiner Umwelt handelt: die erste bezeichnet das, dessen die Menschen „alle teilhaftig sind“ und das in seiner Vernunftfähigkeit besteht. Die zweite dagegen trägt die spezifischen Merkmale, „die in besonderem Sinne den einzelnen zugeteilt sind“.10 Dazu fügt sich drittens eine Maske, „die irgendein Zufall oder ein Zeitumstand auferlegt, ferner eine vierte, die wir uns selbst aufgrund unseres persönlichen Urteils zumessen“.11 Menschliches Handeln wäre demnach sowohl durch Gattungsmerkmale, individuelle Charakterprägung, Kontextfaktoren sowie das persönliche Urteil geprägt: vier „Masken“, durch die hindurch Menschen mit ihrer Umwelt handeln. Manfred Fuhrmann sieht in ihnen typische Rollen und Rollenerwartungen und das Buch „vom pflichtgemäßen Handeln“ als Anleitung zum richtigen Rollenverhalten. Keineswegs sei dagegen von individuellen Personen im modernen Sinn die Rede. Ciceros Theorie komme vielmehr „dem von allem ‚Persönlichen‘ und ‚Individuellen‘ abstrahierenden Bilde nahe, das die moderne Soziologie von den sozialen Rollen zu vermitteln sucht“.12

2.2 Von der Maske zum Antlitz. Aspekte der christlichen Rezeption Den Eintritt der ‚persona‘ in die Welt des spätantiken Christentums haben zwei Faktoren vorbereitet und erleichtert. Einerseits ist das griechische Wort RTQUYRQP (prosopon), das neben „äußere Gestalt“, „Maske“ oder „Rolle“ auch „Gesicht“ oder „Antlitz“13 bedeuten kann, bereits in neutestamentlichen Texten in Bezug auf das Angesicht Gottes bzw. Christi verwendet worden ————— 9

10 11 12 13

Vgl. ebd., 94. Cicero, De officiis, I, 107, 95. Ebd., I, 115, 101. Fuhrmann, Persona, 100. Benselers griechisch-deutsches Schulwörterbuch, 797.

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

(vgl. u.a. Apg 3,20; Heb 9,24; 2Kor 4,6). Andererseits ist für die christliche Bibelhermeneutik der Rückgriff auf die in der antiken Grammatik geläufige Unterscheidung der drei Sprecherrollen (RTQUYRC) wichtig geworden. Die Analyse der in den drei Personalpronomen vorausgesetzten Sprechsituation konnte für die Hermeneutik biblischer Texte und zum Verstehen des göttlichen Handelns genutzt werden. Tertullian unterschied dementsprechend: „wer spricht, von wem spricht er, an wen wendet er sich“.14 Durch diese Faktoren ist die Anwendung des Personenbegriffs auf Gott und zugleich seine spätere trinitarische Ausdifferenzierung vorbereitet und erleichtert worden. Tertullian war es auch, der den Personenbegriff schließlich aus der Exegese in die Dogmatik überführte, indem er die eine göttliche Substanz und ihre drei Personen (una substantia / tres personae) differenzierte. Tertullians eigener Versuch, „dem farblosen grammatisch-exegetischen Begriff einen bestimmteren Inhalt zu verleihen“ verblieb allerdings weiterhin im Bereich „des traditionellen römischen Sprachgebrauchs p[erson]a=Rolle oder Funktion innerhalb eines Systems“.15 Die trinitarische und christologische Diskussion der folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte kann ich hier nicht weiter verfolgen. Ich möchte lediglich auf Boethius’ klassisch gewordene Definition der Person eingehen, die am Ausgang der christologischen Debatte der Alten Kirche steht. Das Konzil von Chalcedon (451 n.Chr.) hatte die lang währende Auseinandersetzung mit der Konsensformel zum Abschluss gebracht, nach der die eine göttliche Person, Jesus, zwei Naturen besitze, eine göttliche und eine menschliche.16 Boethius beabsichtigt mit seinen Erörterungen, einen Beitrag zur Klärung der beiden Zentralbegriffe des christologischen Dogmas – „Natur“ und „Person“ – zu leisten. Da der Personbegriff außerhalb von Natur nicht sinnvoll anwendbar sei, müsse genauer bestimmt werden, „welchen Naturen […] es zukommt, Person zu haben“.17 Dies sei offensichtlich nur für Substanzen und nicht für Akzidentien der Fall – denn niemand lege „der Weißheit, Schwärze oder Größe […] irgendeine Person[haftigkeit]“18 bei. Allerdings kämen auch nicht alle Substanzen in Betracht: unbelebte schieden ebenso aus wie unter den belebten solche, „die der Sinne entbehren“ oder denen „Vernunft und Verstand abgehen“.19 Weiterhin kämen auch universale Substanzen nicht in Frage, denn „dem Menschen als Lebewesen ————— 14

Tertullian, Adversus Praxean, zit. nach Fuhrmann, Art. Person, 275. Fuhrmann, Art. Person, 276 [Hinzufügungen von mir; U.L.]. 16 Denzinger, Enchiridion Symbolorum, 71: „unum eundemque Christum Filium Dominum unigentium, in duabus naturis inconfuse, immutabiliter, indivise, inseparabiliter agnoscendum“. 17 Boethius, Contra Eutychen II, in: Brasser (Hg.), Person, 48. 18 Ebd. 19 Ebd., 49. 15

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Personalität

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oder als Gattungswesen kommt nicht Person zu, sondern man spricht von der einzelnen Person Ciceros, Platons oder einzelner Individuen“.20 Boethius kommt auf seinem Weg der kumulativen Eingrenzung folgerichtig zu dem Ergebnis: nur solche Naturen könnten Personen sein, die individuelle sowie empfindungs- und vernunftfähige Substanzen sind: Personen sind „einer vernunftbegabten Natur individuelle Substanz“.21 Boethius’ Personenbegriff hat Karriere gemacht. Der Diskurs der mittelalterlichen Theologie hat sich regelmäßig – auch kritisch – auf ihn zurück bezogen.22 Auch und gerade für die Weiterentwicklung des anthropologischen Personenverständnisses in der neuzeitlichen Philosophie ist er von erheblicher Bedeutung gewesen.23 Angesichts eben dieser Bedeutung verdient der Umstand Aufmerksamkeit, dass Boethius nichts weniger als eine Kehrtwendung der Reflexion vollzogen hat. Der klassische antike Personenbegriff galt der Reflexion von Beziehungen: der Masken, d.h. Rollen, durch die das Handeln „nach außen“, d.h. gegenüber der Umwelt konditioniert wird. Boethius blickt dagegen in die entgegengesetzte Richtung, auf den Träger der Maske und die ‚innere‘ Konditionierung seines Handelns. Er transformierte Personalität von einem Beziehungs- zu einem Substanzbegriff. Dies war insofern folgenreich, weil sich mit dieser Transformation zugleich eine Reduktion der vielfältigen thematischen Aspekte auf ein Hauptthema nahe legte: die Frage nach den Merkmalen derjenigen Substanz, die als Person bezeichnet werden kann. Diese Transformation hat, wie ich unten ausführe, in der Philosophie der Neuzeit eine Fernwirkung entfaltet. Boethius hat seine Definition als klärenden Beitrag zum christologischen Dogma der Alten Kirche verstanden. So wie bei ihm steht die gesamte mittelalterliche Diskussion des Personenbegriffs überwiegend im Zeichen theologischer Fragen – vor allem der Trinität, Christologie und Angelologie. Neben der boethianischen wurden im Hochmittelalter zwei weitere Definitionen einflussreich: Richard von St. Viktor ersetzte den Begriff der Substanz durch den der Existenz. Er erneuerte damit den relationalen Deutungsansatz, weil in der Ex-sistenz24 das Ursprungsverhältnis des entsprechenden Seins mitgesetzt ist. Nach Richard ist Person „die ————— 20

Ebd., 49f. Ebd., 50, lateinisch: „naturae rationabilis individua substantia“. 22 Vgl. Kible, Art.: Person, 283–296. 23 Vgl. Pannenberg, Art.: Person, 231: „Die Auffassung der P.[erson] als geistige Individualität blieb bis in die Neuzeit hinein wirksam, bs. In Humanismus und Aufklärung“ [Hinzufügung von mir; U.L.]. 24 Vgl. Georges, Handwörterbuch, Bd. 1, 2612 zu „ex-sisto“: „A) im allg., heraus-, hervortreten, -kommen, -gehen“; „B) prägn., entstehend hervortreten, -hervorgehen, zum Vorschein kommen, […] entstehen“. 21

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

nichtmitteilbare Existenz einer intellektuellen Natur“.25 Alexander von Hales wiederum ordnet die „persona“ dem Bereich der Moral zu, während das „subiectum“ zur Natur und das „individuum“ in die Sphäre des Geistigen gehöre. Vor diesem Hintergrund steht seine Definition der Person als einer „Hypostase, die durch eine die Würde betreffende Eigentümlichkeit unterschieden ist“.26 Abgesehen davon, dass diese drei Definitionen vor allem im Zusammenhang der Klärung theologischer Fragen stehen, so werden von ihnen gleichwohl – in starker Vereinfachung – die zentralen Grundaspekte angesprochen, die auch in der anthropologischen Diskussion der Neuzeit eine unübersehbare Rolle spielen: Personalität verstanden als Substanz, Beziehung und als moralische Dignität.

2.3 „Mit Christus eine Person werden“. Luthers christologisches Personenverständnis Eine Person ist die „individuelle Substanz einer vernunftbegabten Natur“. Boethius hat seine wirkungsgeschichtlich einflussreiche Definition in einem christologischen Zusammenhang entwickelt. Auch Luthers Personenbegriff ist christologisch gegründet. Der Unterschied zwischen ihnen ist gleichwohl beträchtlich. Während Boethius ontologische Interessen verfolgt, gilt Luthers Leidenschaft dem Heilshandeln Christi. Für ihn ist Christus diejenige Person, die Gott und die Menschheit in sich umfasst und gerade dadurch die Person aller Menschen in sich aufnimmt.27 Mittels des Personbegriffs kann er so „beides in engsten Zusammenhang […] rücken: die Menschwerdung Gottes in Christus und die Veränderung des Menschseins durch Christus“.28 Indem die Person Christi mit der des Sünders einen „fröhlichen Wechsel“, einen „Personenaustausch“ vornimmt, ermöglicht sie es dieser, wahrhaft zur Person zu werden. Diesen soteriologischen Gedankengang hat Luther in seiner wiederholten Kommentierung des Galaterbriefes zur Geltung gebracht. In der Auslegung von Gal 2,6 („denn Gott achtet das Ansehen der Menschen nicht“)29 arbeitet Luther die erste Ebene des Personenbegriffs heraus. Sie ist dadurch charak————— 25

Zitiert nach: Kible, ebd., 284 (lateinisch: „p.[erson]a est intellectualis naturae incommunicabilis existentia“; Hinzufügung von mir; U. L). 26 Zitiert nach: Kible, ebd., 288 (lateinisch: „p.[erson]a est hypostasis distincta proprietate ad dignitatem pertinente“; Hervorhebung von mir; U.L.). 27 Vgl. Ebeling, Lutherstudien, Bd. 2, 185. 28 Ebeling, Lutherstudien, Bd. 2, 187. 29 Im Griechischen lautet diese Stelle: „RTQUYRQP[QB]SGQLCXPSTYRQWQWXNCODCPGK“, im Lateinischen.: „Deus personam hominis non accipit“.

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Personalität

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terisiert, dass hier „Person“ „Ansehen“ bedeutet, „alles, was vor Augen ist, das äußerliche Wesen und Wandel des Lebens oder Werks, durch welches ein Mensch von dem andern geurteilt, gelobt, geschändet oder genennet wird.“30 Diese Person aber hat vor Gott keinen Bestand. „Der Mensch sieht immerzu allein die Person an und nicht das Herz, darum ist sein Urteil allewege falsch und böse; Gott sieht die Person nicht an, aber allewege das Herz“.31 In der Erläuterung zu Gal 2,20 macht Luther deutlich, dass dieser erste Personenbegriff den Menschen kennzeichnet, der unter dem Gesetz lebt. Er ist „eine sondere geschiedene Person von Christo“,32 die auf sich selbst und nicht auf Christus blickt. Paulus dagegen mache mit seiner zugleich unerhörten wie lieblichen Redeweise etwas deutlich, was über diese Person hinausgeht: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“. Möglich wird dieser Identitätstausch dadurch, dass Christus „die Person eines Sünders und Mörders auf Sich genommen; ja nicht eines allein, sondern aller Sünder und Mörder auf einen Haufen“.33 Durch Christi Heilstat kommt es im Glauben zu einem „fröhlichen Wechsel“, bei dem Christus und der Sünder ihre Identität tauschen und der Glaubende mit Christus eine Person wird. „Darum soll man vom Glauben recht lehren, nämlich also, daß du durch denselben mit Christo also verbunden werdest, daß aus dir und Ihm soviel als eine Person werde, welche sich von einander gar nicht scheiden noch trennen lasse, sondern Christo immerdar anhange und mit aller Freudigkeit getrost sagen möge: Ich bin Christus; nicht persönlich, sondern Christi Gerechtigkeit, Sieg, Leben und alles, was er hat, ist mein eigen. Und Christus wiederum auch sage: Ich bin dieser arme Sünder“.34 Der zweite Personenbegriff Luthers kennzeichnet also die gerechtfertigte Person, die nicht aus sich selbst lebt, sondern aus der Vereinigung mit Christus, bei der dieser zur Form jener wird.35 „Christus übernimmt meine Person und gibt mir die seine; […] hat doch die Person des Menschen ihr Sein extra se, getragen von dem sie konstituierenden Wort.“36 Insofern auch der gerechtfertigte Mensch weiterhin Sünder bleibt, gehört es zur menschlichen Existenz nach lutherischem Verständnis, ein Leben zwischen Person und Person zu führen. Genauer noch: als Person und Person – nämlich einerseits als die mit sich selbst beschäftigte und auf ihr „Ansehen“ bedachte und andererseits als die von Gott mit „Ansehen“ bedachte und darum von ihrer Selbstbeschäftigung erlöste Person. Der Glaube ————— 30 31 32 33 34 35 36

Luther, Erklärung des Briefes St. Pauli an die Galater, 52. Ebd., 52. Ebd., 86. Ebd., 131 (zu Gal 3,13). Ebd., 87. Vgl. Luther, WA 40/1, 283, 6: „Sed quod Christus sit mea forma“. Ebeling, Lutherstudien, Bd. 2, 205.

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rettet den Menschen vor sich selbst, indem er ihn von einer verlorenen zu einer wahrhaften Person macht: fides facit personam, der Glaube macht die Person.37

2.4 Von der Seele zum Selbstbewusstsein. Vom Gestaltwandel der Person in der Neuzeit Die drei Deutungsaspekte der Personalität – Substanz, Relation und Moralität – sind in der Philosophie der Neuzeit zunehmend anthropologisch gewendet und weiterentwickelt worden. Einen wichtigen Anstoß für ihre inhaltliche Neufassung und für die Veränderung ihrer Gewichtung hat die empiristische Diskussion gegeben. (1) Für John Locke ist der Begriff der Substanz eine komplexe Idee, die der Verstandestätigkeit des Menschen entspringt. Weil Substanzen als solche aber nicht erfahren werden können, sondern wir immer nur mit ihren Eigenschaften bekannt sind, eignet sich der Substanzbegriff nicht, um die Identität eines handelnden Subjekts zu bestimmen. Locke glaubt vielmehr, im Selbstbewusstsein das konstitutive Prinzip personaler Identität zu finden. Person ist für ihn „ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann.“38 Ihre Identität sei eine solche des Selbstbewusstseins, das in allen Wahrnehmungen, allem Denken und Wollen des Menschen präsent ist. „Denn da das Bewußtsein das Denken stets begleitet und jeden zu dem macht, was er sein Selbst nennt […], so besteht hierin allein die Identität der Person, das heißt das Sich-selbst-gleich-Bleiben eines vernünftigen Wesens.“39 Durch die erinnernde Ausweitung dieses Selbstbewusstseins auf die Vergangenheit entstehe eine personale Identität in der Zeit: ich bin derselbe wie damals. „Somit ist alles, was das Bewusstsein gegenwärtiger und vergangener Handlungen besitzt, dieselbe Person“.40 Locke legt Wert darauf, dass die Person als selbstbewusstes Ich-Selbst sowohl der Seele als auch vom Körper unterschieden, d.h. weder mit einer immateriellen noch mit einer materiellen Substanz identifiziert wird. Nur so lange diese Substanzen mit dem bewussten Ich verbunden sind, bildeten sie einen Teil seines Selbst. „Sobald aber die lebensfähige Verbindung, durch die jenes Bewusstsein mitgeteilt wird, gelöst ist, bildet das, was eben noch ein Teil unseres Selbst war, ————— 37

Vgl. Luther, Zirkulardisputation de veste nuptiali, WA 39/I, 283, 1. Locke, Über den menschlichen Verstand, in: Brasser (Hg.), Person, 79 (englisch: „a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self, the same“, zit. nach: Schütt, Art.: Person, 304. 39 Locke, ebd. 40 Ebd., 81. 38

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ebenso wenig noch einen solchen, wie ein Teil des Selbst irgendeines anderen Menschen einen Teil meines Selbst ausmacht.“41 Ein abgetrenntes Körperteil, ja der ganze vom Bewusstsein getrennte Körper seien ebenso wenig Person wie ein Geist ohne Selbstbewusstsein: „Könnten wir uns ein geistiges Wesen vorstellen, das alle Erinnerungen oder alles Bewußtsein seiner vergangenen Handlungen eingebüßt hätte […], so würde durch die Verbindung oder Trennung einer solchen geistigen Substanz ebenso wenig eine Veränderung der Identität der Person herbeigeführt werden wie durch die irgendeiner Partikel der Materie.“42 In Lockes Erläuterungen ist das Bemühen zu erkennen, den Personenbegriff radikal zu entsubstantialisieren: von der Substanz zum Subjekt. Dabei wird das Selbstbewusstsein als die formale Fähigkeit verstanden, zeitlich und räumlich divergierende Erfahrungen sich selbst zurechnen zu können. Person sei das den individuellen Erfahrungsprozess begleitende und dessen Einheit ermöglichende Selbstbewusstsein. Darüber hinaus versucht Locke aber auch, der Anthropologie mit dem Personenbegriff ein einheitliches Fundament zu geben, das jenseits der kontroversen LeibSeele-Dichotomie liegt.43 Hier liegt möglicherweise eine der Wurzeln für die weitere Karriere des Personenbegriff: er bot sich als Alternative zu einer in die Sackgasse geratenen dualistischen Anthropologie an und vermied zugleich die Aporien des monistischen Materialismus. (2) Immanuel Kant hat die mit Locke anhebende Tendenz zur Entsubstanzialisierung des Personenbegriffs fortgesetzt. Mehr noch: er hat sie radikalisiert. Über Locke hinausgehend hat Kant den Begriff der Person nicht nur von der Substanz gelöst, „sondern unterscheidet ihn auch vom ‚Subjekt‘. Die Leistungen des Selbstbewußtseins sind keine hinreichenden Bedingungen für Personalität. Es muß eine bestimmte Art von Freiheitsbewußtsein hinzutreten.“44 Während die „Kritik der reinen Vernunft“ den Personenbegriff erkenntnistheoretisch nachhaltig in Frage stellt, gewinnt er in Kants praktische Philosophie als transzendentale Idee eine Schlüsselstellung. Innerhalb der „transzendentalen Dialektik“ behandelt Kant den Personenbegriff als Bestandteil der rationalen Psychologie und ihrer Bestimmung ————— 41

Ebd., 86. Ebd., 86f. 43 Vgl. Siep, Personbegriff und praktische Philosophie bei Locke, Kant und Hegel, 85: „Das praktische Interesse […] [an der Trennung von Person und geistiger Substanz; U.L.] ist deutlich: Egal ob die theoretischen Streitigkeiten zwischen Materialisten, Spiritualisten oder Dualisten gelöst werden können, egal auch, ob wir uns die Verursachung körperlicher Bewegung durch geistige Akte (Gedanken, Entschlüsse) wirklich erklären können – für die Zurechnung von Taten und damit für Belohnung und Bestrafung nach Gesetzen haben wir klare Kriterien.“ 44 Ebd., 90. 42

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der Seele als einfache, immaterielle und unzerstörbare Substanz. Der Begriff der Personalität bezeichnet hier den Aspekt der numerischen Identität dieser intellektuellen Substanz in verschiedenen Zeiten. Dem rationalen Seelenbegriff liege, so argumentiert Kant nichts anderes „als die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich“ zu Grunde. Diese sei „ein bloßes Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich […], welches denkt, wird nun nichts weiter als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen“.45 Die Kategorie der Substanz kann aber auf dieses „Ich“ nicht angewendet werden, da sie nur dort Bedeutung habe, wo sie mit einer sinnlichen Anschauung verbunden sei. Die These, nach der die Seele eine Substanz ist, sei deshalb „nur eine vermeintliche neue Einsicht“, die darin bestehe, dass sie „das beständige logische Subjekt des Denkens vor die Erkenntnis des realen Subjekts der Inhärenz ausgibt, von welchem wir nicht die mindeste Kenntnis haben, noch haben können, weil das Bewusstsein das einzige ist, was alle Vorstellungen zu Gedanken macht.“46 Ebenso beruhe auch die These von der Identität der Person nur auf einer Scheineinsicht, weil diese gleichfalls nur für das Selbstbewusstsein einer ersten Person Singular gilt, keineswegs aber von einem äußeren Beobachter wahrgenommen werden könne. Nur in einem transzendentalen Sinne könne der Begriff der Persönlichkeit erhalten bleiben, insofern er so lediglich die Einheit des Subjekts im Sinne der transzendentale Apperzeption zum Ausdruck bringe.47 Eben in diesem transzendentalen Sinn gewinnt Personalität in der praktischen Philosophie Kants eine Schlüsselstellung. Ohne eine verdeckte ReOntologisierung. Vielmehr als Idee der praktischen Vernunft. Bedeutung kommt ihr jetzt in Bezug auf die moralische Selbstgesetzgebung der menschlichen Vernunft zu. Der Mensch, so führt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft aus, ist Bürger zweier Welten: der empirischen ebenso wie der intelligiblen. Zur Natur- und Sinnenwelt gehört er, weil sein Handeln von sinnlichen Motiven und Neigungen beeinflusst wird. Gleichzeitig erhebt er sich aber auch über die Sinnenwelt und hat Teil an einer intelligiblen Welt, „die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt […] unter sich hat.“ 48 Als Bürger dieser vernünftigen ————— 45 46 47 48

Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke, Bd. 4, 344 (A 345f). Ebd., 363 (A 350). Vgl. ebd., 373 (A 365). Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke, Bd. 6, 209f (A 154f).

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Welt vermöge es der Mensch, sich aus freier Vernunft ein moralisches Gesetz und damit einen kategorischen Imperativ zu geben, nämlich sich selbst und jede(n) andere(n) „niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen“49 Den Menschen in diesem Sinn als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ nennt Kant Persönlichkeit. Person dagegen sei er, insofern er der Persönlichkeit unterworfen ist. Während diese der intelligiblen Ordnung angehöre, partizipiere jene zugleich an der empirischen Welt. Person ist also das moralische Subjekt, das sich von der Selbstgesetzlichkeit der Vernunft und insofern von der Persönlichkeit bestimmen lässt. In diesem Sinn ist die einflussreiche Definition in der „Metaphysik der Sitten“ zu verstehen: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen […], woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie […] sich selbst gibt, unterworfen ist.“50 An dieser Rekonstruktion der Person als moralisches, d.h. der Selbstgesetzgebung der Vernunft unterstehendes Subjekt verdient nicht zuletzt der Umstand Aufmerksamkeit, dass Kant Personalität nicht nur konsequent entsubstantialisiert, sondern zugleich als relationale Kategorie rehabilitiert. Interessanterweise findet sich die Person in der „Tafel der Kategorien der Freiheit“ an der gleichen Stelle, an der in der Tafel der reinen Verstandesbegriffe die Substanz ihren Ort hat: sie ist eine Kategorie der Relation.51 Person, das ist aus meinen Darlegungen deutlich geworden, ist (a) „auf die Persönlichkeit“ zurück bezogen. Zugleich konstatiert Kant aber auch (b) eine Selbstbezüglichkeit „auf den Zustand der Person“. Darüber hinaus impliziere das moralische Handeln eine Beziehung (c) „wechselseitig einer Person auf den Zustand der anderen“.52 Personen wären mithin als moralische Subjekte zu bestimmen, die aus der Beziehung auf ein ihnen gegebenes ethisches Gesetz handeln, deren Handeln zugleich einen Selbstbezug enthält und die mit ihrem Handeln in Beziehung zu anderen Personen treten. (3) Bereits von Locke zu Kant hat der Personenbegriff an Reichweite gewonnen. Von Kant zu Hegel setzt sich diese Tendenz fort. Dabei ist es für die Hegelsche Philosophie charakteristisch, dass in ihr der Personenbegriff auf unterschiedlichen Ebenen lokalisiert und jeweils spezifisch bestimmt wird: auf einer individuellen, interpersonalen, einer gesellschaftli————— 49

Ebd., 210 (A 156). Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, 329f (AB 22). 51 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 185 (A 117); ders., Kritik der reinen Vernunft, 118 (A 80). Auf diesen Sachverhalt macht auch Ludwig Siep aufmerksam, vgl. Siep, Personbegriff und praktische Philosophie, 94. 52 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 185 (A 117). 50

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chen und einer metaphysischen (logischen) Ebene. Dabei entsprechen sich Personalität und Selbstbewusstsein in hohem Maße, so dass den jeweils komplexeren Formen der Subjektivität auch solche der Personalität entsprechen. Die Person ist involviert in die Geschichte des erscheinenden Bewusstseins. Hegels Philosophie der Person korreliert in hohem Maße mit seiner Philosophie des Geistes. Sie nimmt ihren Ausgang beim freien Willen und verfolgt dessen Weg vom unmittelbaren Fürsichsein über seine Reflexion als subjektiver Wille bis zur Gestaltwerdung des substanziellen Willens als Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat. Hegel bestimmt die Person zunächst als „die formelle, die selbstbewußte sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit“.53 Der freie Wille äußere sich auf dieser Ebene als die Fähigkeit der Person, sich zu sich selbst zu verhalten. Hegel spricht auch von der „Einzelheit der Freiheit im reinen Fürsichsein“.54 Repräsentiert werde dieses Selbstverhältnis im Besitz. In ihm sei aber nicht nur ein Selbst-, sondern auch ein Fremdverhältnis eingeschlossen: Eigentum beruhe auf Anerkennung und damit auf einer Beziehung zum „Sein anderer Personen, meiner Beziehung auf sie und dem Anerkanntsein von ihnen“ .55 Dieses Anerkennungsverhältnis drücke sich im Vertrag aus. Für Hegel bildet die individuelle Person die Grundlage des abstrakten, formellen Rechtes. Das Rechtsgebot auf dieser Ebene lautet „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“.56 Gleichwohl ist der sich als individuelle Person darstellende freie Wille für Hegel beschränkt. Seine nächst reflektierte Stufe bildet die Moralität als „in sich reflektierter Wille“,57 der damit zum besonderen Willen wird und sich in freien Handlungen äußert. Die „moralische Person“ spielt allerdings strukturell eine untergeordnete Rolle. Von ihr sagt Hegel lediglich, in ihr sei die Persönlichkeit noch „nicht zur Wahrheit ihrer Existenz gekommen“.58 Dagegen gewinnt Personalität auf der Ebene der Sittlichkeit erneut an Bedeutung. Diese stelle die „Vollendung des objektiven Geistes“ dar, weil in ihr die „Einseitigkeiten aufgehoben“59 seien. Die subjektive Freiheit stellt sich jetzt „als der an und für sich allgemeine vernünftige Wille“ dar, „der in dem Bewusstsein der einzelnen Subjekte sein Wissen von sich und […] unmittelbare allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat“.60 Noch in der ————— 53 54 55 56 57 58 59 60

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Bd. 7, 93. Ebd., 95. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke, Bd. 10, 307. Hegel, Grundlinien, 95. Hegel, Enzyklopädie III, 312. Hegel, Grundlinien, 446. Hegel, Enzyklopädie III, 317f (§ 513). Ebd., 318 (§ 513).

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bürgerlichen Gesellschaft sei diese Dimension nicht verwirklicht, weil diese lediglich einen „allgemeinen, vermittelnden Zusammenhange von selbständigen Extremen und von deren besonderen Interessen“61 darstelle. Erst der Staat lasse diese Partikularität unter sich. Er ist für Hegel diejenige „Totalität, in welcher die Momente des Begriffs zur Wirklichkeit nach ihrer eigentümlichen Wahrheit gelangen“.62 Der Staat ist damit nicht nur sittliche Substanz sondern auch Persönlichkeit, genauer: vollkommene Persönlichkeit. Hegels Begriff der Persönlichkeit greift über den Personenbegriff hinaus, nimmt diesen aber mit in sich auf. „Persönlichkeit drückt den Begriff als solchen aus, die Person enthält zugleich die Wirklichkeit desselben, und der Begriff ist nur mit dieser Bestimmung Idee, Wahrheit.“63 Der Staat und seine Verfassung stellen den Höhe- und Schlusspunkt innerhalb der Bildungsgeschichte des objektiven Geistes dar. Ebenso findet für Hegel die Persönlichkeit im Staat ihre Erfüllung. „So ist es das Grundmoment der zuerst im unmittelbaren Rechte abstrakten Persönlichkeit, welches sich durch seine verschiedenen Formen von Subjektivität fortgebildet hat, und hier im absoluten Rechte, dem Staate, der vollkommen konkreten Objektivität des Willens, die Persönlichkeit des Staats ist“.64 Allerdings wird der im Staat zu seiner Vollendung gelangende objektive Geist seinerseits noch vom absoluten Geist umgriffen. Deshalb nimmt Hegel den Personenbegriff religionsphilosophisch noch einmal auf. In seinen „Vorlesungen zur Trinität“ erörtert er das Wesen des einen Gottes als „dreifache Persönlichkeit“.65 Am Phänomen der Liebe gewinnt er ein Verhältnis, in dem die isolierte Person aus sich heraus tritt und sich im anderen ihrer selbst findet. „In der […] Liebe gebe ich meine abstrakte Persönlichkeit auf und gewinne sie dadurch als konkrete. Das Wahre der Persönlichkeit ist also eben dies, sie durch dies Versenken, Versenktsein in das Andere zu gewinnen.“66 Im Wesen des dreieinigen Gottes komme deshalb die Personalität zu ihrer Vollendung. Ihre Isolierung und ihr Fürsichsein seien aufgehoben und die Personen fänden in einem freien Wechselverhältnis ihre Einheit. „In der göttlichen Einheit ist die Persönlichkeit als aufgelöst gesetzt“.67 Hegel nimmt eine konsequente Rekonstruktion des Personenbegriffs als Beziehungsbegriff vor. Seine Philosophie vollzieht „die Aufhebung der Sub————— 61

Ebd., 321. Hegel, Grundlinien, 445; vgl. ders., Enzyklopädie III, 330: „Der Staat ist die selbstbewusste sittliche Substanz, die Vereinigung des Prinzips der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft“. 63 Hegel, Grundlinien, 445. 64 Ebd. 65 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Werke, Bd. 17, 233. 66 Ebd. 67 Ebd., 233f. 62

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stanz in das Subjekt“68 und bildet insofern das Gegenstück zu den substantialistischen Personenkonzepten in der Nachfolge des Boethius. Darüber hinaus hat Hegel die in der neuzeitlichen Philosophie seit Thomas Hobbes erkennbare Tendenz weitergeführt, dem Personenbegriff eine zentrale Rolle in der Rechtsphilosophie einzuräumen. Die heute bedeutsame Verknüpfung von Personalität mit bestimmten Rechten ist insofern bereits in der frühneuzeitlichen und später in der idealistischen Philosophie vorbereitet worden. (4) Mit meiner theologie- und philosophiegeschichtlichen Skizze habe ich keinen erschöpfenden Überblick sondern lediglich einen Einblick in markante Entwicklungen und Positionen geben wollen. Zwischen den Zeilen sind dabei en passant auch bereits die problematischen Aspekte des Personenbegriffs, die ihn für Menschen mit geistiger Behinderung zu einem gefährlichen Begriff machen, angeklungen. In einigen philosophischen Konzepten ist Menschen mit geistiger Behinderung der Personenstatus allerdings sogar offen abgesprochen worden. So können für Thomas Hobbes „Kinder, Geistesschwache und Wahnsinnige, die keine Vernunft besitzen, von Vormündern oder Pflegern vertreten werden“.69 Die zentrale Fähigkeit einer Person, Autor von sich selbst zugeschriebenen Handlungen zu sein, komme ihnen aber nicht zu. John Locke wiederum hält es gerade für die Leistung seines Personenbegriffs, dass mit ihm geklärt werden kann, was auf der Grundlage der „Zugehörigkeit zur biologischen Art ‚Mensch‘ […] schwer zu entscheiden ist – z.B. bei Missgebildeten und Schwachsinnigen“.70 Menschen mit geistiger Behinderung hatten bereits in diesen Anthropologien keinen Platz. In einigen moralphilosophischen Entwürfen der Gegenwart wird dies noch deutlicher ausgesprochen. Davon ist nunmehr zu handeln.

2.5 Mensch oder Person. Unterscheidungen in der angewandten Ethik In der neueren bio- und medizinethischen Diskussion hat der Personenbegriff eine besondere Bedeutung erlangt. Insbesondere vor dem Hintergrund von Impulsen der angelsächsischen analytischen und utilitaristischen Philosophie ist hier eine unabgeschlossene Debatte entstanden, in der dem Personenbegriff eine Schlüsselfunktion für die ethische Urteilsbildung in konfliktträchtigen und belastenden Entscheidungssituationen am Lebensanfang und Lebensende zukommt. Personalität fungiert als Entscheidungskriterium dafür, ob entweder das Leben eines Menschen zu schützen und gegebenen————— 68 69 70

Pannenberg, Person und Subjekt, 136. Hobbes, Leviathan, in: Brasser (Hg.), Person, 73f. Siep, Personbegriff und praktische Philosophie bei Locke, Kant und Hegel, 84.

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falls medizinisch zu verlängern ist oder aber ob der Verzicht auf medizinische Interventionen oder sogar eine aktive Lebensbeendigung gerechtfertigt ist. Ebenso scheinen Entscheidungen in Bezug auf Embryonenforschung, Präimplantationsdiagnostik und Schwangerschaftsabbruch auf der Grundlage eines qualifizierten Personenbegriffs leichter zu sein. (1) Wer der Personalität eine solche Bedeutung zumisst, muss präzise Kriterien angeben, mit denen über die Zuschreibung des Personenstatus entschieden werden kann. Es kann daher nicht überraschen, wenn in der angewandten Ethik zahlreiche Kataloge unterschiedlich anspruchsvoller Personenmerkmale diskutiert werden. „Durchweg wird der Personenstatus an den Besitz bestimmter kognitiver und moralischer Fähigkeiten geknüpft.“71 Nahezu alle Personentheoretiker, so schätzt Dieter Birnbacher ein, hätten ihn „an eine mehr oder weniger anspruchsvoll verstandene Vernunftfähigkeit geknüpft“,72 die meist kognitiv, gelegentlich zusätzlich auch moralisch bestimmt werde. Birnbacher hat eine Übersicht der Fähigkeiten zusammengestellt, auf die in diesem Zusammenhang regelmäßig verwiesen wird: Kognitive Fähigkeiten: A1. Intentionalität, Fähigkeit zu Urteilen, Denkfähigkeit A2 Zeitliche Transzendenz der Gegenwart (Zukunftsbewusstsein, Erinnerungsfähigkeit) A3. Selbstbewusstsein, Ichbewusstsein A4. Selbstdistanz, Präferenzen zweiter Stufe A5. Rationalität, Vernünftigkeit Moralische Fähigkeiten: B1. Autonomie, Selbstbestimmung B2. Moralfähigkeit, Moralität B3. Fähigkeit zur Übernahme von Verpflichtungen B4. Fähigkeit zur kritischen Selbstbewertung73 Auf die in diesem Katalog genannten Kompetenzen greifen die verschiedenen Positionen in unterschiedlicher Intensität zurück. Für diejenigen, die ein oder zwei Merkmale (z.B. A1) als hinreichend ansehen, fällt in der Regel das Menschsein mit dem Personsein zusammen. Je umfangreicher und anspruchsvoller aber aus diesem Katalog ausgewählt wird, desto stärker treten für die betreffenden Ethikerinnen Menschsein und Personalität auseinander. Gerade diese Unterscheidung macht es nach ihrer Auffassung ————— 71

Birnbacher, Selbstbewußte Tiere und bewußtseinsfähige Maschinen, 312. Ebd. 73 Ebd., 312f; vgl. auch Sturma, Person und Philosophie der Person, 19: „In den Listen werden Fähigkeiten und Eigenschaften wie Intelligenz, Emotivität, Selbstbewusstsein, Selbstverständnis, Intentionalität, Sprache, Handlungsfreiheit, Rationalität und wechselseitige Anerkennung angeführt.“ 72

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möglich, in konfliktträchtigen medizinischen Entscheidungssituationen zu einem ethisch gerechtfertigten Urteil kommen zu können: Personen haben eine unverfügbare Würde. Für Menschen, die keine Personen sind, gelte dagegen ein abgestufter Lebensschutz. Häufig ist dies für Menschen mit geistiger Behinderung der Fall. In zahlreichen Konzepten werden sie als Menschen ohne Personenmerkmale verstanden. Die daraus resultierenden Konsequenzen sind unterschiedlich. Gelegentlich werden sie von abgeleiteten, mittelbaren Rechtskonstruktionen zumindest teilweise geschützt (z.B. bei Tristram Engelhardt). In radikaleren Konzepten wird es von den Interessen Angehöriger abhängig gemacht, ob ihr Leben geschützt wird. Der Personenbegriff ist deshalb für Menschen mit einer geistigen Behinderung zu einer gefährlichen Kategorie geworden. Mit seinem Aufstieg zu einem Schlüsselbegriff der Bioethik droht ihnen der Abstieg zu Außenseitern der menschlichen Gemeinschaft. Ich möchte im Folgenden einige ausgewählte Positionen anreißen, an denen sowohl Inhalte wie auch Probleme der Merkmalsorientierung deutlich werden und an denen zugleich auch die Konsequenzen für Menschen mit geistiger Behinderung in den Blick treten. (2) Hugo Tristram Engelhardt jr. geht von einer Differenz zwischen biologischem und personalem Leben aus. Biologisch sei auch ein menschlicher Organismus nach dem Hirntod – sofern seine Organfunktionen medizinisch substituiert werden – am Leben. Personalität käme dagegen nur Menschen zu, die zu freiem, rationalem und selbstbewusstem Handeln fähig seien. Sie seien Zwecke an sich selbst und zu wechselseitiger Anerkennung verpflichtet. Ihre Würde sei unantastbar.74 Kleine Kinder und Menschen mit geistiger Behinderung könnten nicht als Personen im strikten Sinn gelten. Für sie komme lediglich ein Personenbegriff im weiteren Sinn in Betracht, den Engelhardt soziale Person nennt. „Im sozialen Umgang behandeln wir […] nicht-personales menschliches Leben so, ‚als ob es Person im strengen Sinne wäre‘.“75 Eine soziale Person sei allerdings keineswegs Träger absoluter Schutzrechte. Sie könnten vielmehr im Konfliktfall als Mittel gebraucht werden, je nachdem, welcher Nutzen für strikte Personen damit verbunden sei. (3) Die amerikanische Ethikerin Mary Anne Warren differenziert zwischen Menschen im genetischen und im moralischen Sinn. Kriterien für die moralische Qualifizierung des Menschseins sind für sie: Bewusstsein und Schmerzempfindung, Überlegungs- und Problemlösungskompetenz, selbstmotivierte Aktivität, Kommunikationsfähigkeit und das Bewusstsein, Indivi————— 74 75

Vgl. Siep, Der Begriff der Person, 449. Ebd., 450.

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duum einer Gattung zu sein.76 Nur Menschen mit eben diesen Personenmerkmalen gelten für sie als Mitglieder der moralischen Gemeinschaft und haben volle moralische Rechte. Föten, Neugeborene und Menschen mit geistiger Behinderung gehören nicht dazu. Die Tötung eines Neugeborenen wäre demzufolge auch kein Mord. Allein der dadurch herabgesetzte Nutzen von Adoptionswilligen und die moralischen Gefühle der meisten Menschen, die eine Tötung ungewollter Kinder nicht wünschten, sprächen für die Legitimität des Tötungsverbotes.77 (4) Der amerikanische Philosoph Derek Parfit wiederum problematisiert die Idee personaler Identität. Für ihn ist die „Annahme, daß der Person die Identität eines continuant, d.h. einer in der Zeit sich durchhaltenden Entität, zukommt“ abzulehnen, weil sie mit der nicht beweisbaren Voraussetzung einer „‚zusätzlichen Tiefentatsache‘(‚deep further fact […])“78 verbunden sei. An die Stelle personaler Identität tritt bei ihm ein Kriterium psychophysischer Kontinuität. Mit ihm reduziert sich die Person auf eine Folge von psychophysischen Zuständen, die durch Erinnerung oder andere psychische Vorgänge in einer Kontinuitätsbeziehung stehen. Die Person bestehe nur so lange, wie diese Kontinuität besteht. Aus der Person wird eine personale Kontinuitätsphase. Unterschiedliche Zustände des Menschen lassen sich dem entsprechend als Abstufungen personaler Kontinuität begreifen. Ihnen gegenüber bestehe auch eine verschiedene ethische Verantwortung. „Feten, geistig Schwerstbehinderte und irreversibel Komatöse sind […] zu Recht nicht als Personen zu betrachten. Die Verantwortlichkeit des Menschen reicht soweit wie die durch sein Gedächtnis hergestellte Identität.“79 (5) Peter Singer, mit dessen Namen sich in Deutschland die Infragestellung des Lebensschutzes für Menschen mit geistiger Behinderung besonders verbindet, steht im Kontext der eben aufgeführten Positionen offenbar keineswegs allein. Was ihn von anderen unterscheidet ist allenfalls die Radikalität, mit der er die Konsequenzen seines Konzeptes ausspricht. Singers Konzept von Personalität knüpft ausdrücklich an John Lockes Definition an. 80 Auf die knappe Formel des „Oxford Dictionary“ gebracht sei eine Person „‚ein selbstbewusstes und rationales Wesen‘“.81 Bei der Aufstellung von differenzierten Merkmalen der Personalität kann Singer einmal – mit Michael Tooley – davon sprechen, Personen seien Wesen, „die sich selbst als ‚distinkte Entitäten‘ begreifen könnten, die in der Zeit exis————— 76 77 78 79 80 81

Vgl. Siep, Der Begriff der Person, 451; Baumgartner [u.a.] (Hg.), 201. Vgl. Siep, Der Begriff der Person, 451. Baumgartner [u.a.] (Hg.), 207. Ebd., 208. Singer, Praktische Ethik, 120. Ebd.

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tierten“.82 An anderer Stelle greift er auf eine Liste mit „Indikatoren des Menschseins“ zurück, die Joseph Fletchers aufgestellt hat. Nach ihr verfügen Personen über „Selbstbewußtsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheit, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier“.83 Ausdrücklich stellt Singer fest, dass sich bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung diese Indikatoren nicht fänden: „Der Fötus, das schwerst geistig behinderte Kind, selbst das neugeborene Kind – sie alle sind unbestreitbar Mitglieder der Spezies Homo sapiens, aber niemand von ihnen besitzt ein Selbstbewußtein oder hat einen Sinn für die Zukunft oder die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen.“84 Infolge dessen haben für Singer Nicht-Personen auch nur in Abhängigkeit des Nutzens eine Existenzberechtigung, den Personen mit ihrem Leben verbinden. Das Leben eines Neugeborenen wird davon abhängig gemacht, ob die Eltern wollen, dass es lebt. Ebenso ist auch das Leben eines Menschen mit geistiger Behinderung nur in Abhängigkeit von den Interessen anderer Betroffener geschützt. Bestehe ein Nutzen für sie nicht, so wäre seine Tötung weniger verwerflich als die einer Person.85 Ja, sogar „die Tötung eines Schimpansen“ wäre „schlimmer […] als die Tötung eines menschlichen Wesens, welches aufgrund einer angeborenen geistigen Behinderung keine Person ist und nie sein kann“.86 Die Debatte um die Person ist auf diesem Hintergrund kein Streit um Worte. Zur Frage steht viel, weil viel in Frage steht. Wie lässt sich Personalität angemessen bestimmen: substantialistisch, relational, normativ – oder noch ganz anders? Kann der Personenbegriff die Last einer umfassenden Theorie von Rechten überhaupt allein tragen? Welche Dimensionen des Menschseins gehören in eine angemessene Bestimmung von Personalität unverzichtbar hinein? Was ist die theologische Pointe einer Reflexion auf Personalität? Diese und weitere Fragen sollen in den kommenden Abschnitten diskutiert werden. Bevor ich meine eigenen Überlegungen dazu erläutere, möchte ich zunächst einen Blick auf aktuelle theologische Konzepte von Personalität werfen.

————— 82

Ebd., 130. Ebd., 118. 84 Ebd., 119. 85 Vgl. Singers These, „daß das Töten einer Person in höherem Maße verwerflich sei als das Töten eines nichtpersonalen Wesens“ (ebd., 147). 86 Ebd., 156. 83

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2.6 Personalität als Vorschein, Angesprochensein und Selbsterschlossenheit. Die Person im Spiegel gegenwärtiger Theologie Gesucht wird: die Person. Genauer: der Mensch als Person in der Theologie. Obwohl sich zahlreiche „biografische“ Angaben über ihre Geburt in der Antike sowie über ihre Kindheit und Jugend in der Dogmen- und Theologiegeschichte haben finden lassen. In dem Zeitraum jedoch, in dem sich ihr die neuzeitliche und idealistische Philosophie verstärkt zuwandte, machte sie sich in der Theologie rar. In der protestantischen Dogmatik des 17. bis 19. Jahrhunderts stand sie nicht im Scheinwerferlicht. Heinrich Schmid dokumentiert lediglich Reflexionen zu den trinitarischen Personen sowie zur Person Christi.87 Ernst Luthardt nicht anders.88 In der dritten Auflage der „Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“ findet sich noch im Jahr 1904 kein Eintrag unter Person oder Persönlichkeit.89 In der ersten Auflage der „Religion in Geschichte und Gegenwart“ im Jahre 1913 findet sich zwar auch noch kein eigener Artikel, jedoch wird bereits auf den Personalismus im Zusammenhang des Neukantianismus verwiesen.90 Es sind die Wirkungen von Kants praktischer Philosophie und die des Neukantianismus, die in der Theologie des späten 19. Jhds. dazu geführt haben, dass der Person bzw. Persönlichkeit größere Aufmerksamkeit zugewandt worden ist.91 Wilhelm Herrmann hat der Persönlichkeit und dem persönlichen Leben in seiner Ethik Raum gegeben.92 Ernst Troeltsch wiederum hat den protestantischen Personalismus als die der modernen Individualkultur angemessene Religiosität bezeichnet.93 „Der letzte ‚Durchbruch‘ personalen Denkens beginnt [aber erst] nach dem ersten Weltkriege. Kierkegaards Existenz-Kategorien, Luthers neu verstandene Rechtfertigungslehre, die Besinnung auf die lebendige Anrede des ‚Wortes Gottes‘ bewirken einen Neuansatz theologischen Fragens. In der Begegnung mit den ‚Existenzphilosophien‘ klärt sich neues personales Denken ab. Die Pneumatologie Ferdinand Ebners, das dialogische Prinzip Martin Bubers, die kritische Ethik Eberhard Grisebachs wirken in einzelnen Denkmotiven […] ein: auf Emil ————— 87

Vgl. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Vgl. Luthardt, Kompendium der Dogmatik. 89 Vgl. Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 15. 90 Vgl. Wendland, Art.: Neukantianismus, 746f. 91 Vgl. die Darstellung der unterschiedlichen philosophischen und theologischen Richtungen des Personalismus bei Leiner, Art. Personalismus, 1130–1132. 92 Vgl. Herrmann, Ethik, 57–61, 71–75 u.ö. 93 Vgl. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 101: „Alles in allem wird man sagen dürfen: die auf die Geschichte sich stützende, aber sie nicht dogmatisch verhärtende Überzeugungs- und Gewissensreligion des protestantischen Personalismus ist die der modernen individualistischen Kultur gleichartige und entsprechende Religiosität“. 88

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Brunner, Karl Heim, Friedrich Gogarten.“94 Gogarten hat einen besonders konsequenten theologischen Personalismus entwickelt. Personalität ist für ihn ein Beziehungsbegriff, für den das Gegenüber von Gottes Wort und menschlichem Hören charakteristisch ist. Sie ist deshalb keine feststehende Tatsache, sondern ein Akt der Beziehung zu Gott, die stets neu empfangen werden kann und muss. Der Mensch ist deshalb je und je zur Entscheidung gefordert. „Personsein ist dasjenige Sein, das ich empfange im Hören des Wortes, in dem sich mir ein anderer verspricht.“95 Nachdem die Person bis in die Theologie des späten 19. Jhds. hinein eher ein Mauerblümchendasein inne hatte, ist sie vor dem Hintergrund der eben skizzierten Entwicklungen im Verlauf des 20. Jhds. in den Mittelpunkt des theologischen Interesses getreten. Die meisten anthropologischen Konzepte schenken ihr Aufmerksamkeit, ja geben ihr breiten Raum. Ich wähle aus aktuellen Entwürfen drei aus. (1) Wolfhart Pannenberg vertritt ein interaktionalistisch grundiertes und zugleich teleologisch geöffnetes Konzept von Personalität. Person und Subjekt sind für ihn keineswegs synonym. Während „Subjektivität“ in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie konsequent entsubstantialisiert und bei Hegel als reiner Beziehungsbegriff verabsolutiert worden sei, versucht Pannenberg – gegenläufig – „einen neuen Begriff der Persönlichkeit des Menschen zu entwickeln, der die Überspitzungen der abstrakten, verselbständigten Subjektivität vermeidet“.96 Dabei knüpft er in einem ersten Schritt an George Herbert Meads Sozialpsychologie und deren Unterscheidung von Ich und Selbst an: „Das Selbst des Menschen wird als Inbegriff seiner Einschätzungen durch seine soziale Umgebung gedeutet, die das Ich zusammen mit der eigenen Stellungnahme dazu übernimmt.“97 Mead habe in seinem Konzept die zentrale Bedeutung der gesellschaftlichen Einschätzungen und Erwartungen erkannt, die das Ich internalisiere und dabei seine Identität ausbilde. Allerdings bleibe in ihm die Rolle des Individuums selbst unterbestimmt, das die Übernahme sozialer Erwartungen immerhin auch verweigern oder modifizieren könne.98 Deshalb müsse umgekehrt auch danach gefragt werden, was das Individuum zur Identifikation befähige. Diese Frage lasse sich unter Zuhilfenahme von Erik H. Eriksons Entwicklungspsychologie beantworten. Die in ihr für den Prozess der Identifikation als grundlegend herausgearbeitete Kategorie des Grundvertrauens sei als gestaltendes Prinzip der Identitätsbildung zu interpretieren. Das Urvertrau————— 94

Gloege, Der theologische Personalismus als dogmatisches Problem, 35 [Ergänzung U.L.]. Gogarten, Die Kirche in der Welt, zit. nach: Gloege, Der theologische Personalismus, 37. 96 Pannenberg, Christliche Anthropologie und Personalität, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 2, 157. 97 Pannenberg, Person und Subjekt, 141f. 98 Vgl. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 217f. 95

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en gehe „daraus hervor, daß die erste Objektbindung an die Mutter dieses Vertrauen nicht überhaupt konstituiert, sondern nur seine erste […] Konkretisierung darstellt, der eine Rolle weiterer Identifikationen folgt, die aber alle auch wieder überschritten werden“.99 Indem Pannenberg Meads Theorie der Erwartungsübernahme und Eriksons Konzept der Identitätsbildung mit einander verknüpft, versucht er, eine tragfähige Interpretation der Wechselwirkung zwischen dem Ich und dem Selbst zu geben: Die Ichinstanz bildet dabei das innere und gestaltende Prinzip für den Prozess der Identitätsbildung. Korrespondierend dazu vermag erst das Selbst den Identifikationsleistungen des Ich Dauer und Stabilität zu verleihen. „Das Ich für sich genommen wäre nur eine Augenblicksgröße.“ Es „verdankt seine Stabilität erst der Identität des Selbstseins, die im Prozeß der Identitätsbildung gewonnen wird“.100 Charakteristisch für dieses Wechselverhältnis von Ich und Selbst ist für Pannenberg ihre offene, antizipatorische und theologische Struktur. Das Grundvertrauen, das zuerst die Identifikation mit den nächsten Bezugspersonen und nach der Ablösung von ihnen eine eigenständige Identitätsbildung ermöglicht, sei „durch seine Unbeschränktheit implizit […] über die Eltern hinaus auf eine Instanz gerichtet, die die Unbegrenztheit solchen Vertrauens zu rechtfertigen vermag“.101 Die Wirklichkeit Gottes sei deshalb als unthematischer Horizont und implizite Perspektive im Grundvertrauen mitgesetzt. Von der Antizipation der mit diesem Sinnhorizont verbundenen Ganzheit lebe jeder Akt der Identitätsbildung. Gelingen, Heilsein und Integrität seien mit ihm verbunden. Im Fragment, im Heute, sei dieses Ganze bereits anwesend. Im „Verständnis unserer Identität“ nehmen wir „das noch unvollendete Ganze unseres Daseins und damit unser wahres Selbstsein gegenwärtig vorweg“.102 Pannenbergs Verständnis von Personalität umgreift diese verschiedenen Dimensionen. Es verknüpft die Erlebnisgewissheit des Ich, die soziale Bestimmtheit des gegenwärtigen Selbst und die Vorwegnahme der noch ausstehenden Ganzheit des mit sich identischen Selbst. Person ist für Pannenberg die Antizipation des erfüllten Selbst am Ort des gegenwärtigen Ich. „Das Wort ‚Person‘ bezieht das die Gegenwart des Ich übersteigende Geheimnis der auf dem Wege zu ihrer besonderen Bestimmung noch unabgeschlossenen individuellen Lebensgeschichte auf den gegenwärtigen Augenblick des Ich. Person ist die Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich, in ————— 99

Pannenberg, Person und Subjekt, 143. Pannenberg, Der Mensch als Person, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 2, 168. 101 Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 226. 102 Pannenberg, Christliche Anthropologie und Personalität, 160. 100

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der Beanspruchung dieses Ich durch unser wahrhaftes Selbst und im vorwegnehmenden Bewusstsein unserer Identität.“103 In Pannenbergs Personalitätskonzept sind die drei charakteristischen Beziehungsdimensionen des Menschseins in spezifischer Weise präsent: im „Augenblick des Ich“, in dem das soziale und das eschatologische Selbst präsent sind, steht die Person in einer Beziehung zu sich selbst. Die Relation zur sozialen Mitwelt wird im gegenwärtigen, fragmentarischen Selbst hergestellt. Die Gottesbeziehung schließlich ist in der unhintergehbaren Antizipation des wahrhaften, identischen Selbst präsent, weil darin zugleich die es verbürgende Instanz mitgesetzt sei. Pannenberg macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass Personalität auf diesem Hintergrund nicht am Vorhandensein bestimmter Eigenschaften fest gemacht werden dürfe. „Wenn wir […] die Person von der das Dasein des Menschen in jedem Augenblick unendlich übersteigenden göttlichen Bestimmung jedes einzelnen zu seinem wahren Selbstsein her verstehen, die in der Gegenwart des Ich lediglich für uns zur Erscheinung kommt, dann gibt es gute Gründe dafür, auch jene Stadien menschlicher Entwicklung schon als personhaft zu beurteilen, in denen noch keine Ichinstanz ausgebildet ist, und auch jene Menschen als Person gelten zu lassen, deren Ichidentität mehr oder weniger zerstört ist. Auch an ihnen wird die Ehrfurcht vor der Bestimmung des Menschen noch die Würde der menschlichen Person erkennen.“104 (2) Das Charakteristikum von Eberhard Jüngels Konzept von Personalität besteht dem gegenüber darin, den Menschen als ein Sprachwesen zu verstehen, das durch das Wort Gottes konstituiert wird. Der Mensch sei „primär das von Gott angesprochene Wesen […]. Als solches ist er Person“.105 Menschsein und Personalität werden daher von Jüngel streng relational verstanden. „Eine Person sein heißt […] von anderen her und auf Andere hin existieren“.106 Der Beziehungsreichtum des menschlichen Lebens werde dabei durch die vorgängige Beziehung Gottes zum Menschen konstituiert. Er könne nur wirklich werden, weil das menschliche „Selbst-, Weltund Gottesverhältnis in Gottes Verhältnis zu ihm gründet“.107 Der Andere, von dem her der Mensch lebt, sei deshalb in unüberbietbarerer Weise Gott. Deshalb bestehe die Bestimmung des Menschen darin, dem Angesprochensein durch Gott zu entsprechen. Allerdings entspreche der natürliche Mensch dieser seiner Bestimmung nicht, sondern widerspreche ihr. An die Stelle von Beziehungsreichtum trete Verhältnislosigkeit. „Indem der Mensch im Widerspruch zur Bestimmung seines Personseins steht, lebt er ————— 103 104 105 106 107

Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 233. Pannenberg, Der Mensch als Person, 168f. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, in: ders., Entsprechungen, 314. Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, in: ders., Beziehungsreich, 23. Dalferth; Jüngel, Person und Gottebenbildlichkeit, 60.

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in all seinen Verhältnissen im Gegensatz zu dem, was er aufgrund des Verhältnisses Gottes zu ihm ist und dementsprechend als Mensch sein kann und sein soll. Wer so Mensch ist, ist Sünder.“108 Er bleibt sich selbst als Mensch und Person ein Rätsel. Aus dieser Selbst-Widersprüchlichkeit kann ihn erneut nur ein Wort herausrufen, das ihn von außen her richtend und rettend anspricht: das Wort der Rechtfertigung. Es bringt zur Sprache, dass der Mensch vor allen seinen Aktivitäten von Gott definitiv anerkannt und bejaht ist. Es spricht ihn daher darauf an, dass er bereits Person ist und deshalb Mensch werden kann und werden soll. Durch das Wort Gottes „wird das Personsein des Menschen neu konstituiert“.109 Auf diese Ansprache könne es nur eine Entsprechung geben: den Glauben. In ihm komme der Mensch, der von Gott herkommt, zu sich selbst und zu den anderen. „Im Glauben kommt der Mensch, indem er extra se sich ganz auf den ganz Anderen, also auf Gott, verläßt, in einer seiner ganz bestimmenden Weise zu sich selbst und gewinnt so sein konkretes Sein als Person. In diesem Sinne kann man mit Luther sagen, der Glaube mache die Person zur Person: ‚Fides facit personam‘“.110 Die so durch einen Anderen, durch Gott konstituierte Person könne nun ihrerseits aus sich herausgehen und für Andere da sein. Der von Gott angesprochene und im Glauben Gott entsprechende Mensch sei so der homo humanus. „Der menschliche Mensch – er ist die von Gott definitiv anerkannte und insofern durch nichts und niemanden […] diskreditierbare Person, die aber eben durch diese ihre unwiderrufliche Anerkennung freigesetzt ist zu einem immer noch menschlicheren Tun.“111 (3) Auch für Eilert Herms steht der Beziehungscharakter menschlichen Selbsterlebens im Mittelpunkt seines Verständnisses von Personalität. Anders aber als bei Jüngel oder Pannenberg ist Herms’ Konzept phänomenologisch und subjektivitätstheoretisch grundiert. „Der Mensch wird seiner selbst inne, indem er sich erlebt als eine geschichtlich existierende individuelle Person.“112 Ausgangspunkt ist demnach nicht ein den Menschen von außen treffendes Wort Gottes (Jüngel). Ebenso wenig die Antizipation des mit sich identischen Selbst am Ort des Ich (Pannenberg). Vielmehr sei es ein individueller Erschließungsvorgang, durch den Menschen ihrer selbst als Person innewerden. Er manifestiere sich in dem, was Herms im Anschluss an Friedrich Schleiermacher als „‚unmittelbares‘ – ‚präreflexives‘ […] ‚Selbstbe————— 108

Ebd., 66. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen, 210. 110 Jüngel, Die Wahrnehmung des Anderen in der Perspektive des christlichen Glaubens, in: ders., Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit, 217. 111 Jüngel, Der menschliche Mensch, in: ders., Entsprechungen, 213. 112 Herms, „Füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet …“. Das dominium terrae und die Leibhaftigkeit des Menschen, in: ders., Gesellschaft gestalten, 29. 109

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wußtsein‘“113 bezeichnet. In diesem nicht durch Reflexion konstituierten Selbsterleben erschließe sich dem Menschen seine Bestimmung als „Bestimmtsein zur Selbstbestimmung“.114 Er erfahre seine Freiheit als eine ihm vorgegebene. Selbstbestimmung erweise sich als passiv konstituiert. Menschen würden ihrer selbst als freie Individuen gewiss und zugleich darin, dass sie „nicht durch sich selbst, sondern extern bestimmt [sind] zu solcher Selbstbestimmung“.115 Die Gabe der Freiheit impliziere aber zugleich eine Aufgabe: nämlich zu selbstbestimmtem Handeln durch Interaktion. Das Selbsterleben des Menschen impliziert mithin auch die Zumutung, freiwillentlich zu agieren, zu interagieren und darin gestaltend zu handeln. Eben dieses Bestimmtsein zum Handeln in verantworteter Freiheit macht für Herms den Kern von Personalität aus. Das Erleben des eigenen Daseins als Person beschreibt er als die „Fähigkeit […], sich angesichts eines jeweils erlebnismäßig vorschwebenden Inbegriffs von Möglichkeiten der leiblichen Reaktion auf die Umwelt selbst dazu zu bestimmen, eine von diesen Möglichkeiten zu wählen, sie leibhaft zu realisieren und dadurch in den Prozeß des Werdens der Gesamtsituation einzugreifen.“116 Personalität ist somit das Vermögen zu einer freien Wahl aus gegebenen Handlungsoptionen und deren Realisierung. Person ist „diejenige Instanz, die ihrer selbst inne ist als Macht, die hinreichende Bedingungen für den selektiven Übergang von Möglichem zum Wirklichen auf dem Wege der Selbstbestimmung zu setzen; und die nur durch diese Setzungen für andere manifest wird“.117 Personalität im Sinn der Bestimmung zur Selbstbestimmung118 impliziert für Herms zugleich Relationalität. Das Selbsterleben, das im unmittelbaren Selbstbewusstsein des Menschen statt hat, begründet – erstens – sein ursprüngliches Selbstverhältnis: ihm sei sein Leben als sein eigenes erschlossen, auf das er sich reflektierend bezieht und dass selbstbestimmt zu gestalten ist. Zugleich habe das ursprüngliche Selbstverhältnis des Menschen den „konkreten Charakter des Eigenleiberlebens“.119 Durch seinen Leib erlebe sich der Mensch – zweitens – in einer Beziehung zur Umwelt. Dabei erfahre er sich sowohl in „Prozesse eines organischen und interorganischen Werdens“ als auch in solche „eines personalen bzw. interpersonalen Werdens“120 eingebettet. Schließlich aber impliziert die Vorgegebenheit des ————— 113

Herms, Art.: Mensch, Menschenbild, 677. Herms, Glaube, in: ders., Offenbarung und Glaube, 463. 115 Herms, Die Lehre von der Schöpfungsordnung, in: ders., Offenbarung und Glaube, 440. 116 Herms, Das christliche Verständnis vom Menschen, 47. 117 Herms, Die Lehre von der Schöpfungsordnung, 439 118 Vgl. Herms, Das christliche Verständnis vom Menschen, 47: „Die Person findet sich bestimmt zur Selbstbestimmung. Oder: Der Mensch erlebt sein eigenes Personsein als Aufgabe, Auftrag, Zumutung der Selbstbestimmung.“ 119 Herms, Liebe, Sexualität, Ehe, 97. 120 Ebd. 114

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menschlichen Selbsterlebens und Selbstverhältnisses auch – drittens – eine „Ursprungsbezogenheit“.121 Sie sei die Beziehung zu einer Instanz, in deren Aktivität die passive Konstitution der menschlichen Selbstbestimmung begründet liegt und von deren Setzung der Mensch schlechthin abhängig ist. „Die Person erlebt sich selbst als schlechthin angewiesen auf die Ursprungsmacht, die sie in ihrer Selbstbezogenheit erhält und über das Schicksal ihres Selbsterlebens entscheidet.“122 Die drei gleichursprünglichen Beziehungen, die in der Personalität mitgesetzt sind, differierten allerdings qualitativ. Die Selbst- und Weltbeziehung gründeten beide in der Ursprungsbeziehung. Die Relation zur Umwelt wiederum setze darüber hinaus auch die Selbstbeziehung voraus. Eine Person könne nur in aktiven Selbstmanifestationen ihrer selbst für andere da sein. Der Begriff des Personseins wird deshalb von Herms als „Begriff desjenigen asymmetrischen Relationsgefüges“ gefasst, „welches (a) unhintergehbar begründet ist in der in schöpferischer Gegenwart vollzogenen Selbstbestimmung der Macht über den Ursprung zur schöpferischen Gewährung des asymmetrischen Füreinanderseins-in-Verantwortlichkeit ihrer selbst und ihrer Geschöpfe und welches daher (b) für diese manifest ist als die derart begründete und somit für sie unhintergehbare und unauflösliche Einheit des asymmetrischen Gefüges ihres Ursprungs-, Selbst- und Weltverhältnisses. Dessen Asymmetrie liegt darin, daß erstens im Ursprungsverhältnis das ganze Gefüge gewährt wird, daß zweitens das ganze Gefüge für uns und unseresgleichen nur zugänglich ist durch das gewährte Selbstverhältnis […], welches drittens das Weltverhältnis immer schon einschließt“.123 (4) Das Gemeinsame an den theologischen Konzepten von Jüngel und Herms besteht darin, dass beide den relationalen Charakter der Personalität betonen. Für Eberhard Jüngel heißt Personalität „von Anderen her und auf Andere hin existieren und in solcher Ek-sistenz ab alliis und ad alios bejaht und anerkannt zu sein“.124 Für Eilert Herms ist dem Menschen, der „sich als leibhafte Person erlebt, […] sein Dasein als Gefüge von drei gleichursprünglichen Lebensrelationen präsent“:125 Gegenüber diesen beiden relationalen Konzepten legt Wolfhart Pannenberg Wert darauf, die Person nicht als reine Beziehung zu entsubstantialisieren. Sein Personalitätskonzept integriert ausdrücklich auch die empirische Ich-Instanz und den Prozess ihrer Identitätsbildung, der zugleich eschatologisch ausgeweitet wird. Das dabei auch zu Grunde gelegte Konzept einer interaktionistischen ————— 121 122 123 124 125

Ebd., 98. Herms, Das christliche Verständnis vom Menschen, 48. Herms, Art.: Person, 1126. Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, in: ders., Beziehungsreich, 23. Herms, Das christliche Verständnis vom Menschen, 48.

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Personalität verbindet wiederum Pannenberg und Jüngel. Jener knüpft dabei an George Herbert Meads Sozialphilosophie an, während für diesen – hegelianisch und zugleich sprachphilosophisch – gilt: „Als Person komme ich nur bei einem anderen zu mir selbst.“126 Für Herms dagegen erschließt sich dem Menschen im Selbsterleben seine Personalität. Ich möchte im Folgenden einige Aspekte des Personenbegriffs herausarbeiten, die mir für die Begründung einer inklusiven Anthropologie von Wichtigkeit zu sein scheinen. Dabei werde ich auch auf Überlegungen der eben vorgestellten Konzepte zurückkommen.

2.7 Personalität als Sein in Beziehung. Anmerkungen zum Personenbegriff Die „Person“ hat Karriere gemacht: von der Maske des Schauspielers zum anthropologischen Spitzenbegriff. Gleichwohl ist sie stets auch umstritten gewesen. Immer wieder gab es Skeptiker, denen die „Person“ zu vieldeutig und wenig greifbar war. Augustin hielt sie für eine Lückenbüßerin und Anselm von Canterbury sprach im Zusammenhang der Trinität von „dreien ich weiß nicht was“ („tres nescio quid“).127 Unter den neueren Zweiflern hat Michael Theunissen „skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personenbegriff“ angestellt und konstatiert, dass „in der gegenwärtigen Philosophie“ die „Mannigfaltigkeit der Bedeutungen des Personbegriffs […] so verwirrend [ist], daß man von der personalen Anthropologie, genau genommen, gar nicht sprechen kann“.128 Diese Situation dürfte sich seither noch verschärft haben. Dieter Sturma vermutet deshalb zu Recht, dass gegenwärtig „angesichts der definitorischen Divergenzen […] kaum mit einem Konsens gerechnet werden“129 kann. Angesichts dieses Umstandes möchte ich die Eingangsfrage noch einmal aufgreifen: kann der Personenbegriff allein überhaupt die anthropologische Begründungslast tragen, die ihm im Laufe seiner Bildungsgeschichte zugewachsen ist? Die Zurückhaltung gegenüber einer – im Verhältnis zu anderen anthropologischen Kategorien – herausgehobenen und verabsolutierten Personalität scheint mir viele Gründe auf ihrer Seite zu haben. Einer dieser Gründe, die angesprochene Vieldeutigkeit, dürfte nicht zuletzt damit zu tun haben, dass der empirische Bezug des Personenbegriffs kontrovers bestimmt wird. Weniger als ————— 126 127 128 129

Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, 24. Vgl. Fuhrmann, Art. Person I, 278 und 284. Theunissen, Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff, 461. Sturma, Person und Philosophie der Person, 19.

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bei anderen anthropologischen Leitbegriffen kann bei ihm eine Einigkeit darüber hergestellt werden, auf welche empirischen Phänomene er sich unstrittig bezieht. Je stärker sich in ihm eine ganze philosophische Anthropologie bündelt, umso stärker treten die unvereinbaren Interpretationsalternativen auseinander. All diese Aspekte wären für den akademischen Diskurs kein Manko und könnten als Zeichen eines gelebten und gesprächsfähigen Pluralismus gelten. Aber kann ein Begriff, hinter dem sich derart divergierende Interpretationen verbergen, die anthropologische Verantwortung dafür übernehmen, die Wahrung der menschlichen Würde ausreichend sicherstellen zu können? Ich plädiere stattdessen dafür, den Personenbegriff in seinem anthropologischen Anspruch zu ermäßigen und ihn an andere Kategorien wie Subjektivität, Leiblichkeit, Sozialität usw. zurückzubinden. Wenn der Personenbegriff, das ist meine These, diese anderen anthropologischen Dimensionen inkludiert, kann Exklusion vermieden und eine inklusive Anthropologie grundgelegt werden. Im Folgenden möchte ich im Rückbezug auf einzelne Aspekte meines geschichtlichen Durchgangs dieses Verständnis von Personalität skizzieren. (1) Die persona, darauf hat Manfred Fuhrmann hingewiesen, ist in der Antike ein Rollenbegriff.130 Das heißt aber: sie konditioniert menschliche Interaktion im sozialen Raum. Mit der persona sind Funktionen, Beziehungen, Rollen, Stand und Stellung verbunden. Damit werden zugleich Anerkennungsverhältnisse gesichert. In der Personalität geht es „um Regelung von sozialer Interaktion“.131 Erst im Zuge der theologischen Rezeption des Personenbegriffs ist es zu seiner Individualisierung und Substanzialisierung gekommen. Beide Paradigmen der Person, das soziale und das individuelle, sind vom Diskurs der Neuzeit emphatisch rezipiert worden, weil sich mit ihnen eine starke Opposition gegen traditionsbestimmte Sozialkonzepte und Menschenbilder organisieren ließ. Einerseits konnten mit seiner Hilfe ständisch orientierte Rechtskonzeptionen überwunden werden. Andererseits bot er sich als Alternative zu einer Anthropologie an, die sich am Leib-SeeleDualismus orientierte. „Offenbar war der Begriff […] wegen seiner gegen Traditionen gerichteten Distanzierungsleistung geschätzt.“132 Gerade in der Anthropologie konnte er diese Leistung aber nur erbringen, indem er zugleich entsubstantialisiert und d.h. als Deutungskategorie gegenüber empirischen Phänomenen verselbstständigt wurde. Nur indem er nicht von den ungelösten Problemen der Diskussion um Leib und Seele erfasst wer ————— 130

Vgl. Fuhrmann, Persona, ein römischer Rollenbegriff. Luhmann, Die Form „Person“, 147. 132 Ebd.; vgl. weiterhin: Siep, Der Begriff der Person, 447: Der Begriff der Person „ist unentbehrlich für den Versuch, Ethik und Rechtsphilosophie von den Problemen der Naturphilosophie und Metaphysik, vor allem was den Art- und Substanzbegriff angeht, zu ‚entlasten‘.“ 131

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den konnte, bot er eine tragfähige anthropologische Alternative. Die neuzeitliche Karriere des individualisierten Personenbegriffs liest sich daher als Geschichte seiner fortschreitenden Entsubstanzialisierung – bis zum Reduktionismus Derek Parfitts. Zugleich blieb seine strukturelle Verkoppelung mit der Rechtsphilosophie durchgängig erhalten. Von Locke, über Kant und Hegel bis zur angewandten Ethik der Gegenwart spielte der Personenbegriff eine Schlüsselrolle in der Konditionierung von Rechten. Die verschiedenen Aspekte scheinen sich wechselseitig beeinflusst und befördert zu haben: der anthropologische Aufstieg wurde durch eine Entsinnlichung der Person möglich. Gerade in ihrer abstrakten und formalisierten Gestalt bot sie sich umso stärker zur Grundlegung einer Theorie der Rechte an. Die Karriere der „Person“ zum anthropologischen Spitzenbegriff scheint entscheidend durch Verschränkung beider Prozesse bedingt zu sein. Zugleich liegt hierin aber auch die crux, die die Person zu einem Problembegriff werden lässt: je weniger er empirisch verwurzelt ist, desto mehr wird er von einem Sturm der Deutungsalternativen weggerissen. Zugleich erweist er sich als immer weniger geeignet, um konkrete empirische Konfliktlagen rechtlich zu konditionieren. Der anthropologische Siegeszug des verabsolutierten Personenbegriffs mündet so gesehen in sein Scheitern. (2) Das Bemühen in manchen neueren Konzepten, über das Vorhandensein von Personalität anhand eines Kataloges von Eigenschaften zu entscheiden, führt die Paradoxie des eben beschriebenen Prozesses vor Augen. Einerseits soll die Person konsequent entsubstantialisiert und formalisiert werden. Andererseits soll sie sich an bestimmten qualifizierten Merkmalen festmachen lassen. Die Zusammenstellung solcher Kataloge zeugt von dem paradoxen Bemühen um eine Renaturalisierung des entsinnlichten Personenbegriffs. Darin versteckt sich die unreflektiert bleibende Einsicht, dass eine völlig entsubstantialisierte Person ein leerer Begriff bliebe, unvereinbar mit dem Leben endlicher leiblicher Subjekte. Die in den Katalogen aufgeführten Merkmale verraten zudem, dass in ihnen die traditionelle anthropologische Hochschätzung des Geistes gegenüber dem Leib fortgeschrieben wird. Bei ihnen handelt es sich größtenteils um qualifizierte kognitive und reflexive Fähigkeiten. Dimensionen der Leiblichkeit, Sinnlichkeit oder Emotionalität fehlen dagegen. Die Behauptung, dass der Personenbegriff den anthropologischen Dualismus überwunden habe, steht insofern auf tönernen Füßen. An Peter Singers Personenbegriff, der lediglich das jeweils aktuelle – keineswegs „nur“ potenzielle – Vorhandensein der entsprechenden Merkmale als hinreichend ansieht, zeigt sich zudem etwas von dem, was Theodor W. Adorno als identifizierendes Denken kritisiert hat. In ihm wird das nichtidentische Phänomen auf das reduziert, was das logische Begriffsystem vorgibt: „Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken

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begreifen will“.133 Singers scheinbar rational konsistenter Personenbegriff scheidet die Vielfältigkeit des bewussten Lebens von Menschen aus: die leibhafte Dimension des Bewusstseins, seine emotive Verankerung, das Unbewusste oder Phasen des ruhenden Bewusstseins. Eigentlich, so wirft ihm zu Recht Robert Spaemann vor, wäre es nach seiner Theorie legitim, Schlafende zu töten.134 Singer hat diese Schwierigkeit selbst gesehen, jedoch keine Argumente, ihr zu begegnen.135 Ein vermeintlich rationaler Personenbegriff erweist sich als offensichtliche Verkürzung wirklichen personalen Lebens. Ich werde in den folgenden Kapiteln nicht nur wiederholt auf solche verkürzende Momente hinweisen. Vor allem werde ich die in ihnen behandelten anthropologischen Kategorien – Subjektivität, Leiblichkeit, Sozialität, Bildung und Fragmentarität – als Aspekte eines unverkürzten Verständnisses menschlicher Personalität entwickeln. An dieser Stelle kann ich lediglich Argumente der Kritik an einem halbierten Menschenbild vortragen. Die Ausführungen an den genannten Stellen sollen aber darüber hinaus auch eine alternative Anthropologie konturieren. Allerdings scheint mir nicht nur in der Auflistung kognitiver Eigenschaften als solcher eine Verkürzung zu liegen. Bereits das reduzierte Bemühen um eine Liste von Merkmalen scheint mir zentrale Dimensionen der Personalität abzuschneiden. Immerhin war ihr Begriff über einen langen Zeitraum stets mit sozialen Beziehungen, Rollen und Anerkennungsverhältnissen verbunden. Erst in einer späteren Lesart der boethianischen Definition und – vor allem – im Gefolge von Lockes Bestimmung sind die relationalen Aspekte zurückgedrängt worden. Der Umstand, dass für andere philosophische Entwürfe – wie bspw. die Philosophie Hegels oder den Personalismus – die Beziehungsaspekte konstitutiv geblieben sind, hat in den Personkonzepten der angewandten Ethik keine erkennbaren Spuren hinterlassen. Angesichts ihrer offensichtlichen Defizite scheint es mir aber unabdingbar zu sein, der relationalen Dimension ein stärkeres Gewicht zu geben. Die von mir vorgestellten theologischen Entwürfe zeigen, dass in ihnen dieser erweiterte Blick durchgängig vorhanden gewesen ist. Allerdings kann es umgekehrt nicht darum gehen, den Personenbegriff in reine Relationalität aufzulösen. Auch Beziehungen setzen Entitäten voraus, empirische Phänomene, zwischen denen Relationen bestehen. Es wird also vielmehr darum gehen, in einem unverkürzten Verständnis von Personalität weder kognitive und leibliche Aspekte gegeneinander auszuspielen noch naturale und relationale. Ein solches Personenverständnis lässt sich viel————— 133 134 135

Adorno, Negative Dialektik, Schriften, Bd. 6, 17. Spaemann, Sind alle Menschen Personen, 98. Vgl. Singer, Praktische Ethik, 131.

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leicht am ehesten entwickeln, wenn man noch einmal an den Geburtsort der Person, das Theater, zurückehrt. (3) Michael Theunissen hat den Versuch unternommen, „die Einheit in der Mannigfaltigkeit der sich z.T. […] ausschließenden Personbegriffe“136 in einer phänomenologischen ‚Anthropologie des Schauspielers‘ (Plessner) herzustellen. Dabei erblickt er – erstens – in der zu spielenden Rolle den Aspekt der Relationalität. Am Schauspieler als Rollenträger sei – zweitens – das Moment „eines substanziell-individuellen Für-sichSeins“137 festzumachen. Im „Selbstbewußtsein des sich weder bloß als Rolle noch bloß als Rollenträger verstehenden Schauspielers“138 sei schließlich – drittens – die Autarkie des Aus-sich-Seins der Person und damit ihre Absolutheit begründet. Ich halte Theunissens Versuch vom Ansatz her für sinnvoll, in der Durchführung aber noch nicht für überzeugend. Relationalität und Substantialität scheinen mir nicht auf jeweils eine Dimension – Rolle, Rollenträger, Subjekt – reduzierbar, sondern in ihnen allen mitgesetzt zu sein. So ist die Rolle nicht von der leiblichen Subjektivität des Schauspielers zu lösen. Umgekehrt stellt seine Individualität bzw. Selbstbewusstsein auch ein Selbstverhältnis, d.h. eine Relation dar. Mir scheint es deshalb schlüssiger zu sein, den Beziehungsaspekt und seine jeweilige psychophysische Implikation als Korrelate aufzufassen. Michael Welker hat davon gesprochen, die durch die Maske verbildlichte ‚Person‘ sei „die Schnittstelle, die sowohl von der Außenwelt festgelegt wird und ihr zugewendet ist als auch vom ‚inneren Menschen‘ festgelegt wird und ihm zugewendet ist“.139 Deshalb sei es für ein unverkürztes Personverständnis unerlässlich, „die Einheit der Person ‚vor der Maske‘, ‚hinter der Maske‘ und in ihrer Verbindung zu denken“.140 Welker berücksichtigt deutlicher als Theunissen den durchgängigen Aspekt der Relationalität. Aber bei ihm wird die Konditionierung der Person von „außen“ und „innen“ m.E. zu stark betont. Für ihn tritt die Maske selbst – und das heißt die theatralisch dargestellte Person – hinter ihrer passiven Bestimmtheit durch die Zuschauer und den Schauspieler zurück. M.E. kommt es aber darauf an, die persona als aktive Darstellung zu verstehen und sich dabei konsequent am Phänomen der Maske des Schauspielers zu orientieren. Personalität möchte ich deshalb als Identität eines zugleich leibgebundenen und selbstbewussten Seins in Beziehung verstehen. Die Maske des Schauspielers scheint mir der Schnittpunkt eines Seins in Beziehung zu sein ————— 136 137 138 139 140

Theunissen, Skeptische Betrachtungen, 481. Ebd., 485. Ebd., 486. Welker, Person, Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit, 252. Welker, Zu diesem Heft, 5

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und zugleich deren Einheit zu repräsentieren. Den Zuschauern gegenüber bringt die Maske die Rolle einer im Theaterstück handelnden Person zur Darstellung. Die persona steht darin – erstens – in einer Beziehung nach außen, indem sie dem Publikum im Parkett oder auf den Emporen die jeweilige Figur des Stücks vor Augen treten lässt. Die Maske kann zugleich aber nur dann auf der Bühne zu einer Gestalt werden, wenn sie gespielt wird, d.h. wenn ein Schauspieler ihr Gestalt verleiht. Es bedarf also offenbar – zweitens – einer weiteren Relation, die darin besteht, dass eine Beziehung ‚hinter der Maske‘ realisiert wird. Die gespielte Person wird nur dadurch „lebendig“, dass der Schauspieler in diese Rolle schlüpft und sich zu ihr verhält. Dieses Selbstverhältnis ‚hinter der Maske‘ stellt die zweite Dimension dar. Schließlich aber gewinnt die jeweilige persona auf der Bühne nur dadurch einen Sinn, dass sie im Theaterstück eine bestimmte Rolle spielt. Sie ist demnach nicht autark oder autonom, sondern gewinnt Funktion und Bedeutung im Kosmos eben dieses Stückes. In ihr kommt insofern eine weitere Beziehung zum Tragen, die darin besteht, dass ein Autor den handelnden Personen des Stückes Bedeutung verliehen hat. Die Maske steht insofern – drittens – in einer Ursprungsbeziehung, weil sie sich eben dieser Autorschaft verdankt. An der ursprünglichen Bedeutung der persona als Maske des Schauspielers lassen sich also tatsächlich die grundlegenden Dimensionen rekonstruieren, die dafür ausschlaggebend gewesen sind, der „Person“ über den Theaterkontext hinaus eine soziale, rechtliche, anthropologische und sogar theologische Bedeutung zu geben. Dort, wo in Spätantike und Mittelalter der Personenbegriff adaptiert und in eine spezifische Bedeutung eingerückt worden ist, stand regelmäßig die Identität eines in Beziehung stehenden Wesens in Rede. Cicero ging es in seinem Traktat „Über die Pflichten“ um die Konditionierung solcher Handlungsrelationen. Die Differenzierung der drei Personalpronomina in der antiken Grammatik ist auf dem Hintergrund der unterschiedlichen Sprecherbeziehungen entwickelt worden. Für die altkirchliche trinitätstheologische Rezeption des Personenbegriffs stand ebenfalls die Relationalität der göttlichen Personen im Mittelpunkt, wobei deren Einheit nicht in den Personen selbst, sondern in der einen göttlichen Substanz festgemacht worden ist. Selbst bei Boethius wird Relationalität impliziert, insofern es bei ihm die Beziehung der Person Jesu Christi zu seiner göttlichen und menschlichen Natur ging. Erst mit der späteren Isolierung der boethianischen Definition aus dem Kontext der Christologie ist der Beziehungsaspekt in den Hintergrund getreten. Man wird auf diesem Hintergrund in der Fokussierung der Person auf das Individuum und seine Eigenschaften, wie sie in einer Reihe neuzeitlicher und gegenwärtiger Personkonzepte zu finden ist, eine reduzierte Perspektive erblicken dürfen. Personalität geht nicht im Begriff der Individualität auf. Ihr semantischer

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Gehalt geht weiter: Sie bezeichnet die Einheit eines Seins in Beziehung. In der protestantischen Theologie wird auf diesen relationalen Aspekt durchgängig hingewiesen. Selbst unterschiedliche Strömungen scheinen sich in der Einschätzung treffen zu können, dass die conditio humana relational zu bestimmen ist. Der Begriff der Person, und darin liegt seine Bedeutung, die durch keine andere anthropologische Kategorie ersetzt werden kann, weist darauf hin, dass der Mensch „ein Beziehungswesen“ ist, „das immer schon auf anderes Sein bezogen und nur in solchen Relationen es selbst ist“.141 Dieses relationale Verständnis der Person ist aber insofern ergänzungsbedürftig, weil ein Personenbegriff ohne jede naturale Basis völlig leer bliebe. Kant hat zwar in seiner Kritik der rationalen Psychologie die These von einer Substanzialität der Seele überzeugend zurückgewiesen. Jedoch setzt die formale, synthetisierende Leistung des Ich zugleich ein leibgebundenes und sozial situiertes Subjekt voraus. Was ich an dieser Stelle nur thetisch formulieren kann, werde ich in den folgenden Kapiteln jeweils in einer phänomenologischen Analyse genauer ausführen: Personalität erschöpft sich nicht in formaler Relationalität, sondern impliziert leibgebundene Subjektivität. „So richtig es nämlich ist, daß das Subjekt die Beziehung zum andern seiner selbst in sich selbst hat […], so sehr bleibt es seinerseits angewiesen auf einen ihm vorgegebenen substantiellen Inhalt seines Lebensvollzuges, und seine Beziehung zu diesem substantiellen Inhalt verschränkt sich mit der Beziehung zum andern Subjekt, zum Du.“142Personalität bezeichnet demnach eine relationale Struktur, die aber zugleich materiale Implikationen hat. Insofern lassen sich die oben, am Phänomen der Maske entwickelten Dimensionen, inhaltlich ergänzen und differenzieren: (a) Einheit der Beziehungshaftigkeit: Die für das Leben des Menschen tragenden Beziehungen – d.h. seine Selbst-, Umwelt- und Ursprungsrelation – sind keineswegs diffus, sondern koordiniert und auf einander bezogen. Der Personbegriff akzentuiert die Einheit dieser Beziehungshaftigkeit. Der anthropologische Ort, an dem diese verschiedenen Relationen erlebt, reflektiert und gestaltet werden, ist die menschliche Subjektivität. In ihr sind nicht nur die unterschiedlichen Beziehungsdimensionen in ihrer spezifischen Eigenart präsent. Sie gewährt auch die individuell einheitliche Struktur des aktiven Lebens in den Beziehungen. Damit wird keineswegs das Subjekt verabsolutiert und aus seinem Transzendenz- und Sozialbezug isoliert. Subjektivität bezeichnet vielmehr die einheitliche und unhintergehbare Struktur, die es Menschen ermöglicht, ihre Bestimmung als beziehungsrei-

————— 141 142

Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, 16. Pannenberg, Person und Subjekt, 137.

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che Wesen erleben, reflektieren und gestalten zu können.143 Das individuelle Selbsterleben des Menschen einerseits und die Fähigkeit zur Reflexion und Auseinandersetzung andererseits machen auf eine differenzierte Struktur der Subjektivität aufmerksam.144 Die „Einheit der Person“ wird, wie Konrad Stock hervorgehoben hat, darin manifest, „daß sie […] sich auf eine präreflexive, vorprädikative Weise je als besonderes Ich ‚fühlt‘, bzw. mit sich als je besonderem Ich ‚vertraut‘ ist“.145 In diesem, ihrem unmittelbaren Selbstbewusstsein ist Menschen ihre Existenz in Beziehungen präsent. Komplexere Strukturen eines vermittelten, d.h. reflexiven und interaktiven Selbstbewusstseins ermöglichen darüber hinaus, dass Menschen Relationalität nicht nur erleben, sondern sich in diesen Beziehungen noch selbst positionieren können. (b) Die Gestaltung der verschiedenen Beziehungsdimensionen erfolgt in der gleichzeitigen und nicht auf einander reduzierbaren Präsenz der anthropologischen Grunddimensionen Subjektivität, Leiblichkeit, Sozialität und Glaube.146 Ein schichtentheoretisches Konzept des Menschen erweist sich dagegen als unangemessen. Am Beispiel der Reflexivität lässt sich die angesprochene Kopräsenz gut verdeutlichen. Im Selbstbezug ist es Menschen möglich, sich zu sich selbst zu verhalten. Er markiert eine reflexive Beziehung, in der das Ich sich selbst zum Gegenstand wird. Diese Selbstbezüglichkeit ist die Voraussetzung für Erkennen und Handeln gleichermaßen. Gewissen und Verantwortlichkeit gründen in ihr. Nicht zuletzt aber auch Wachstum, Erneuerung und Veränderung. Personen sind im Stande, „sich […] in einer Art ‚bestimmter Negation‘ von gewissen Eigenschaften, Wünschen, Trieben distanzieren“ zu können. „Sie können bedauern, so zu sein, wie sie sind. Sie können sich selbst ändern wollen“.147 Ebenso beruhen —————

143 Vgl. Stock, Art.: Person, 226: „Manifest wird die Einheit der Person darin, daß sie […] sich auf eine präreflexive, vorprädikative Weise je als besonderes Ich ‚fühlt‘, bzw. mit sich als je besonderem Ich ‚vertraut‘ ist.“ Im Kapitel „Subjektivität“ werde ich die hier nur angedeuteten Überlegungen differenziert entfalten. 144 Vgl. meine Ausführungen im Kapitel „Subjektivität“, Teil B, Kap. 3.2 und 3.4. 145 Stock, Art.: Person, 226. 146 Mit meiner These der Kopräsenz der o.g. anthropologischen Grunddimensionen gehe ich weiter als Eurich, der ebenfalls einen relationalen Personenbegriff ausarbeitet, für diesen aber allein den Leib als Identifikator in Betracht zieht: „Beim Fehlen beziehungsweise der Unzulänglichkeit spezifischer empirischer Identifikatoren der Personhaftigkeit kommt dafür nur ein einziger universeller Identifikator in den Blick, ‚nämlich die leibliche Existenz eines zur Spezies homo sapiens sapiens gehörigen Individuums‘“ (Eurich, Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung, 291). Nach meinem Dafürhalten ist es in der Perspektive einer relationalen Betrachtung angemessener, die grundlegenden anthropologischen Dimensionen, die das beziehungsbestimmte Menschsein ausmachen, als kopräsente und (auf unterschiedliche Weise) interdependente Dimensionen von Personalität zu verstehen, also Subjektivität, Leiblichkeit, Sozialität und Glaube. In den folgenden Kapiteln will ich dies herausarbeiten. 147 Spaemann, Personen, 21.

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die Selbstannahme und die Möglichkeit, ein anderer zu werden, auf dieser Fähigkeit zum Selbstbezug. Die Beispiele machen deutlich, dass in dieser reflexiven und gestaltenden Fähigkeit nicht nur kognitive Kompetenzen impliziert sind. Die Leiblichkeit des Menschen ist in ihnen ebenso angesprochen, weil der Bezug auf Triebe und Eigenschaften unhintergehbar leibliche Dimensionen einschließt: beide gewinnen in körperlichem Verhalten Gestalt; die Auseinandersetzung mit ihnen ist wiederum nur in leiblicher Vermittlung denkbar. Darüber hinaus ist auch die Dimension der Sozialität in ihr präsent, weil Reflexion regelmäßig in sozialen Interaktionen angeregt wird und sich auf sie auswirkt. Selbstbezüglichkeit setzt mithin Selbstbewusstsein ebenso wie Leiblichkeit und Sozialität voraus. Als Fähigkeit zur Distanzierung und Veränderung ist sie darüber hinaus die Grundlage von Bildungs- und Entwicklungsprozessen. Meine Beispiele zeigen, dass der Selbstbezug keineswegs nur eine anthropologische Dimension – beispielsweise eine kognitive – impliziert, sondern stets sind alle in ihm präsent. So ist es auch in den anderen beiden Relationen: der Weltbezug vollzieht sich als leibliche Gestaltwerdung intentionaler und darin selbstbezüglicher Akte in sozialen Beziehungen. Subjektivität, Leiblichkeit und Sozialität sind erneut in ihm kopräsent. Ebenso ist es mit der Ursprungsbeziehung: sie erschließt sich im unmittelbaren Selbstbewusstsein, wird vom Menschen aber subjektiv angeeignet, in Akten leibvermittelter Subjektivität – in Anbetung, Dank, Klage usw. – zum Ausdruck gebracht und in sozialer Gestalt – in Gottesdiensten, Ritualen usw. – gelebt. (c) Passivität und Aktivität: Die drei unterschiedlichen Dimensionen, die den menschlichen Beziehungsreichtum ausmachen, sind qualitativ keineswegs gleichrangig. Die Ex-sistenz der Person stellt vielmehr die buchstäblich grundlegende Relation dar: in ihr wird die Person dessen gewahr, dass sie ihr Menschsein nicht sich selbst verdankt sondern einem Grund, der außerhalb ihrer selbst liegt. Die Ursprungsrelation ist genau darin asymmetrisch. Noch bevor der Mensch diese Beziehung – in Zuwendung oder Abwendung – selbst gestaltet, ist er passiv durch diese existenzbestimmende Macht bestimmt: er hat durch sie sein Dasein empfangen. Die Person lebt aus der Beziehung zur Ursprungsmacht. Zugleich erlebt sie sich aber auch dazu bestimmt, in den Beziehungen zu leben und sie zu gestalten. Personalität als die einheitliche Struktur einer relationalen Existenz impliziert die aktive Gestaltung der menschlichen Verhältnisse. Passivität und Aktivität sind so mit einander verschränkt und auf einander bezogen. Eilert Herms hat diese Grundstruktur der menschlichen Personalität ihr „vorgängiges Bestimmtsein zur Selbstbestimmung“148 genannt. Sie erschließt sich Personen im unmittelbaren Selbstbewusstsein, das genauer als Selbstgefühl zu ————— 148

Herms, Glaube, 463.

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charakterisieren ist.149 Allerdings scheint es mir eine Verkürzung zu sein, wenn Herms diese Bestimmtheit der Person anschließend stark kognitiv auflädt: als freiwillentliche Wahl aus einem Inbegriff vorgegebener Einwirkungsmöglichkeiten.150 M.E. wird man dem, was sich im Selbstgefühl erschließt, besser gerecht, wenn man die Selbstbestimmung als selbstbestimmende Gestaltung der menschlichen Beziehungshaftigkeit beschreibt, an der kognitive, emotionale und motivationale Aspekte gleichermaßen beteiligt sind. Mit Personalität, so kann ich meine Überlegungen abschließen, bezeichnen wir die Grundstruktur einer einheitlichen, passiv gegründeten und selbstbestimmt gestalteten Relationalität des Menschen in den Dimensionen eines Grund-, Sozial-, Umwelt- und Selbstverhältnisses. In diesen reichhaltigen Beziehungen ist die Person jeweils in der Gesamtheit ihrer leibhaften und interpersonal geöffneten Subjektivität präsent. Personalität impliziert deshalb stets auch Interpersonalität. Menschen erleben sich selbst als Person im unmittelbaren Selbstgefühl. Gestalt gewinnt ihre Personalität im interpersonalen Raum, indem sie für einander zum Antlitz werden. Personalität, verstanden als ein Sein in Beziehung mit den oben genannten Charakteristika, gehört ohne Zweifel zur conditio humana. In Beziehungen leben Menschen mit und ohne geistige Behinderung gleichermaßen. Sie bringen sich in die Beziehungen ein und gestalten sie. Dazu sind auch Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung in der Lage. Georg Theunissen hat in seinen Studien zum Empowerment in der Einzelarbeit das Fallbeispiel von Herrn Jonas vorgestellt. Dieser 1947 geborene Mann ist in seiner Kindheit aufgrund einer schweren, beidseitigen Hüftgelenkserkrankung dauerhaft in eine orthopädische Kinderklinik eingewiesen worden. Bei ihm war darüber hinaus auch eine geistige Schädigung diagnostiziert worden. Nachdem einige orthopädische Behandlungsversuche fehlgeschlagen waren, wurde Herr Jonas seit „seinem sechsten Lebensjahr nur noch im Bett gehalten, überdies galt er […] als ‚völlig pflegebedürftig‘, ‚schwachsinnig vom Grade der Idiotie‘ und ‚bildungsunfähig‘“151 Im Laufe der Jahre verschlechterte sich sein Zustand kontinuierlich. Neben einen rapiden Abbau im psychischen und kognitiven Bereich traten Verhaltensauffälligkeiten derentwegen er sedierende Medikamente erhielt. „Nach Auffassung der Mitarbeiter konnte man ‚psychisch keinen Kontakt mehr zu ihm herstellen‘. Auch habe er ‚keine einfachen Begriffe oder Aufforderungen mehr erfassen können‘ und sich nur noch äußerst selten sprachlich geäußert, wenn, dann ————— 149 150 151

Vgl. Teil B, Kap 3.4. Vgl. Herms, Glaube, 464. Theunissen, Wege aus der Hospitalisierung, 212.

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in unartikulierten Zwei-Wort-Sätzen.“152 Nachdem Herrn Jonas im Jahr 1981 der Antrag auf einen Rollstuhl mit der Begründung abgelehnt wurde, er werde niemals das Bett verlassen können, fühlte sich ein Team von Heilpädagogen dazu herausgefordert, das Gegenteil: die Entwicklungsfähigkeit von Herrn Jonas unter Beweis zu stellen. Auf eine Phase der Kontaktaufnahme mit Methoden basaler Kommunikation folgte eine pädagogischtherapeutische Arbeit mit Bällen. Allmählich lösten sich seine massiven Ängste. Theunissen setzte die Ballspiele mit Herrn Jonas fort, bei denen dieser nunmehr in der Bauchlage auf dem Boden lag. Neben der Mobilitätssteigerung und der Entwicklung von Kraft im Oberkörper dienten diese Spiele auch der Stabilisierung des psychischen Wohlergehens. Nicht zuletzt entstand auf diese Weise aber auch eine Beziehung, in der Herr Jonas sich angesprochen fühlte, reagierte und Vertrauen zu sich entwickelte. Als nächsten Schritt lernte er das selbstständige Essen mit einem Speziallöffel, den er besonders gut greifen konnte. Er wurde zunächst nur zum Essen an einen Tisch gesetzt. In der Folgezeit wurde er auch tagsüber häufiger auf einen Stuhl gesetzt. Inzwischen äußerte er selbst diesen Wunsch: „will auf Stuhl“. So folgte Schritt auf Schritt. Nach zwei Jahren, Ende 1983, „war Herr Jonas in der Lage, sich selbst die Urinflasche anzulegen sowie Unterhemd und Pullover allein an- und auszuziehen“.153 Im Zeitraum von weiteren zwei Jahren lernte er, sich ohne fremde Hilfe auf einen Stuhl hochzuziehen und zu setzen. Am Beispiel von Herrn Jonas lassen sich alle Charakteristika von Personalität eindrücklich zeigen: er ist ein Selbst, das in Beziehung zu seiner Umgebung tritt, auf seine Umwelt reagiert, einfach kommuniziert, Aktivitäten entwickelt, Intentionen zum Ausdruck bringt, Entwicklungsprozesse durchläuft und eine Identität hat: „Anton will Stuhl haben“. Herr Jonas, daran kann es nicht den geringsten Zweifel geben, ist eine Person, ein Mensch, der in Beziehungen lebt. Dass er am Beginn der Förderung zunächst als beziehungslos, unartikuliert und entwicklungsunfähig erschien, war seinerseits das Ergebnis verfehlter Beziehungen: ausgebliebener Förderung, fehlender Zuwendung, fataler Zuschreibungen usw. Man könnte auch sagen: eine Folge struktureller Unpersönlichkeit. In den Abschnitten zu Subjektivität und Leiblichkeit werde ich an weiteren Fallbeispielen deutlich machen, dass Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung selbst dann Beziehungen elementar gestalten, wenn sie dabei nicht artikuliert sprechen, sondern nur mit ihrem Leib ihre Intentionen zum Ausdruck bringen können. ————— 152 153

Ebd., 213. Ebd., 220.

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Bevor ich aber auf die Rezeption und Diskussion des Personenbegriffs in der Behindertenpädagogik selbst eingehe, will ich noch auf die spezifisch theologische Pointierung des Personenbegriffs aufmerksam machen.

2.8 Ebenbild Gottes und menschliches Antlitz. Zur theologischen Präzisierung des Personenbegriffs Die Geburt der „Person“ ereignete sich auf den Brettern des Theaters. Nicht im Tempelkult. Ihr Geburtsland ist Italien. Nicht Israel. Dennoch ist die christliche „Adoption“ des Personenbegriffs weder zufällig noch unsachgemäß. Die Bedeutungsvielfalt, die sein Gebrauch in der Antike erhalten hat, erlaubte die vertiefende und präzisierende Reflexion hermeneutischer und theologischer Fragen z.B. in Bezug auf die Trinität oder die Christologie. Darüber hinaus ermöglichte seine Verwendung in der lateinischen Übersetzung hebräischer und griechischer Begriffe, dass die persona den ganzen Menschen in seiner Relation zu Gott oder anderen Personen bezeichnen konnte. So wurde in der Vulgata sowohl das hebräische Wort ~ynIp'154 als auch der griechische Begriff RTQUYRQP 155 an mehreren Stellen mit persona übersetzt.156 Andererseits wurde persona auch für das Angesicht Gottes bzw. Christi verwendet.157 Paulus spricht im zentralen Argumentationsgang der Rechtfertigungslehre davon, dass sich kein Mensch vor Gott entschuldigen könne (Röm 2,1) und fügt wenig später hinzu, dass es „kein Ansehen der Person vor Gott“ (Röm 2,11)158 gebe. Auf dem Hintergrund der theologischen Differenzierung des Personenbegriffs und seiner Adaption zur Bezeichnung des ganzen Menschen vor Gott ist es nicht verwunderlich, dass er im Laufe der Theologiegeschichte auch in eine Verbindung mit dem zentralen anthropologischen Begriff der Gottebenbildlichkeit gesetzt worden ist. In den von mir vorgestellten theologischen Interpretationen der Personalität wird durchgängig ein enger Zusammenhang zwischen beiden ————— 154

Panim; dt. Angesicht, Antlitz, persönliche Gegenwart. Prosopon; dt.: Gesicht, Angesicht, Antlitz, Person. 156 Vgl. aus der hebräischen Bibel: Dtn 1,17: hebr.: „jP'v.MiB; ~ynIp' WryKit;-al{“; lat.: „nulla erit distantia personarum“; dt.: „Beim Richten sollt ihr die Person nicht ansehen“; Als Beispiel aus der griechischen Bibel: 2Kor 1,11: griech.: „K=PCGXMRQNNYPRTQUYRYPVQGKXLJBOCLECTKUOC FKCҠ RQNNYP GWXECTKUVJSJ^WBRGTJBOYP“; lat.: „ut ex multis personis eius quae in nobis est donationis per multos gratiae agantur pro nobis“; dt.: „damit unseretwegen für die Gabe, die uns gegeben ist, durch viele Personen viel Dank dargebracht werde“. 157 Vgl. 2Kor 2,10: „Denn auch ich habe … es vergeben um euretwillen vor Christi Angesicht“; griech.: MCKICTGXIYQ?MGECTKUOCK…FK8WBOCLGXPRTQUYRY^&TKUVQW; lat.: „nam et ego, quod donavi ... propter vos in persona Christi“. 158 Vgl. Röm 2,11: griech.: „QWXICTGXUVKPRTQUYRQNJO[KCRCTCVY^SGY^“; lat.: „non est enim personarum acceptio apud Deum“; dt.: „Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott“. 155

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hergestellt. Bei Wolfhart Pannenberg entsprechen sich Personalität und Gottebenbildlichkeit darin, dass die Person über ihre „vorhandene Realität hinaus auf eine noch offene Bestimmung und darin auf Gott bezogen ist“. Genau diese Bestimmung des Menschen habe die Bibel „durch den Begriff der Gottebenbildlichkeit bezeichnet“.159 Für Ingolf U. Dalferth und Eberhard Jüngel ist der Mensch Person, weil er von Gott „in Verheißung und Verpflichtung als Du angesprochen ist“. Er sei „damit zur Gottebenbildlichkeit bestimmt, weil er als solcher aufgefordert ist, Gottes an ihn gerichtetem Anspruch mit seinem ganzen menschlichen Sein […] zu entsprechen“.160 Wilfried Härle und Eilert Herms wiederum sehen in der Gottebenbildlichkeit „die innere Einheit der Personalität zusammenfassend [so] zur Sprache gebracht“, dass diese „grundlegend als durch die Bezogenheit auf Gott bestimmt gedacht wird. 161 Die theologische Rekonstruktion der Personalität als Gottebenbildlichkeit hat ihr Recht in einer weitgehenden Bedeutungsüberschneidung: in beiden Begriffen kommt die conditio humana als die Erschließung und Gestaltung von Beziehungen in den Dimensionen eines Grund-, Sozial-, Umwelt- und Selbstverhältnisses in den Blick. Trotz dieser Überschneidung sind beide Begriffe aber nicht identisch. Indem nämlich die Theologie zentrale strukturelle Aspekte der imago Dei als Dimensionen der Personalität rekonstruiert, versieht sie den Personbegriff umgekehrt mit einem inhaltlichen Anspruch. Personalität existiert nämlich nur dann widerspruchsfrei, wenn die Person die Qualität der jeweiligen Beziehungen anerkennt und realisiert. Mit anderen Worten: wenn sie entsprechend ihrer Personalität lebt. Der Begriff der Gottebenbildlichkeit bringt unter diesen Bedingungen die Bestimmung der Person zum Ausdruck. Nur dann, wenn die Person dieser ihrer Bestimmung entspricht, existiert sie „in adäquater, widerspruchsfreier Weise als Ebenbild Gottes“.162 Indem die Theologie auf die bestimmungsgemäße Gestaltung des menschlichen Beziehungsreichtums aufmerksam macht, erinnert sie an die Dramatik gelebter Personalität, die alles andere als weltfremd oder abstrakt ist. In konkreten Beziehungen realisiert sich das pulsierende menschliche Leben. In ihnen gewinnt und verliert es sich, sucht, irrt und wird gefunden. Martin Luther hat diese Dramatik des personalen Lebens163 als Spannung zwischen Glaube und Unglaube beschrieben. Im Traktat „Von der Freiheit ————— 159

Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 235. Dalferth/Jüngel, Person und Gottebenbildlichkeit, 77. 161 Härle/Herms, Rechtfertigung, 91 [Ergänzung von mir; U.L.]. 162 Ebd., 92. 163 Ich nehme hier indirekt die Formulierung Reiner Preuls über das „dramatische Modell des menschlichen Lebens- bzw. Bildungsprozesses“ (ders., Bildung und Erziehung nach Gesichtspunkten Luthers, 20 u.ö.) auf. 160

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eines Christenmenschen“ hat er die bösen Werke ebenso wie die nach Gottes Anerkennung schielenden und mit optimaler Sichtwirkung inszenierten „guten“ Werke als Ausdruck des Unglaubens entzaubert. „Wer nun mit diesen Blinden nicht irren will“, so schreibt er, „muß weiter sehen als in die Werke, Gebote oder Lehre der Werke: er muß vor allen Dingen auf die Person sehen“.164 Diese aber werde weder durch Werke gerechtfertigt noch in ihrer selbstbezüglichen Gottvergessenheit. Vielmehr gilt: „Die Person […] macht niemand gut als allein der Glaube“.165 Die von Luther beschriebene Dramatik des personalen Lebens liegt jenseits rationaler Einsicht, Entscheidung oder Selbstbestimmung und hat ihren Ort im Herz, Willen und Gewissen des Menschen.166 In ihr kommt eine Grundbewegung zum Ausdruck, in der sich Menschen an jemanden oder etwas affektiv binden: „Worauf Du nun (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“167 Allerdings ist der Mensch bei dieser Hinwendung seines Herzens keineswegs das durchgängig rationale Subjekt des Handelns. Vielmehr wird sein Herz gezogen.168 Ihm „‚widerfährt‘ […] diese seine Grundaktivität als ein Mitgeführt-, ja Hingerissenwerden“,169 das allerdings sein eigenes Handeln durchaus mit einschließt. Menschliche Personalität, wie sie sich in dieser dramatischen Grundbewegung verfehlt oder gewinnt, ist für Luther durch dreierlei Dimensionen bestimmt.170 Sie hat zunächst einen relationalen Charakter, insofern der Mensch auf etwas ausgerichtet ist, woran er sein Herz hängt. In der Liebe zu Gott sowie den Nächsten, der Schöpfung und sich selbst findet diese Relationalität ihre Erfüllung. Darüber hinaus eignet der Personalität ein responsorischer Charakter, insofern der Mensch als Person „als Antwort auf Gottes Anrede“ 171 existiert. Drittens hat die Personalität aber auch einen dynamischen Charakter im Sinn einer „Ausrichtung auf die Bestimmung des Menschen, die ihm sowohl im Sinne des täglichen Neubeginns als auch im

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164 Luther, Die Freiheit eines Christenmenschen, in: ders., Luther deutsch, Bd. 2, 267; vgl. WA 7, 33, Z. 22–24: „Wer nu mit den selben blinden nit will yrren, muß weytter sehen, den ynn die werck […]. Er muß ynn die person sehen fur allen dingen“. 165 Luther, Die Freiheit eines Christenmenschen, in: ders., Luther deutsch, Bd. 2, 267; vgl. WA 7, 33, Z. 10f: „Die person aber macht niemant gut, denn allein der glaub“. 166 Vgl. Härle, „Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt“, in: ders., Menschsein in Beziehungen, 182 mit Bezug auf Wilfried Joests Studie „Ontologie der Person bei Luther“. 167 Luther, Der große Katechismus, in: Luther deutsch, Bd. 3, 20 (vgl. BSLK, 560, 22–24). 168 So schreibt Luther bezüglich der Verehrer heidnischer Götter: so „machte sich jedermann das zum Gott, dazu ihn sein Herz zog“ (Luther, Der große Katechismus, 22; vgl. BSLK, 564, 8f). 169 Härle, „Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt“, in: ders., Menschsein in Beziehungen, 184. 170 Vgl. Härle, ebd., 185–187. 171 Ebd., 186.

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Sinne des eschatologischen Telos voraus liegt und auf die hin er darum unterwegs ist“.172 In der Annahme und Gestaltung solcher lebenstragenden Beziehungen zu Gott, den Mitmenschen, der Umwelt und sich selbst entspricht die Person ihrer Bestimmung und existiert als Bild Gottes. In der Rechtfertigung wird der suchenden und irrenden Person diese Beziehungsfähigkeit zugesprochen, zugetraut und zugemutet. So „ist offenbar“, schreibt Luther, „daß allein der Glaube aus lauterer Gnade, durch Christus und sein Wort, die Person genugsam fromm und selig macht“.173 Die Theologie präzisiert und vertieft den Personenbegriff, indem sie ihn über seine formale Beschreibung hinaus mit einer inhaltlichen Bestimmung versieht. Jeder Mensch ist Person: Existenz in Beziehung. In der Alternative von Glaube und Unglaube geht es darüber hinaus um das Gelingen oder Verfehlen dieser lebenstragenden Beziehungen. Es geht darum, dass das Antlitz des Menschen erkennbar wird: von der Liebe Gottes ins warme Licht der Gnade gehüllt und einander zugewandt in liebevoller, notwendender und gestaltender Praxis.

2.9 Substanz, Relation oder Postulat? Der Personenbegriff im Diskurs der Behindertenpädagogik „A Down’s not a Person“.174 Als dieses Diktum Joseph Fletchers im Zusammenhang der sog. Singer-Debatte öffentlich wurde, traf es die Behindertenpädagogik in einer Phase, in der gerade eine längere und einflussreiche Tradition personenorientierter Modelle merklich in den Hintergrund getreten war. Das Thema der Personalität, das in der Folge des Paradigmenwechsels Anfang der 1970er Jahre an Orientierungsrelevanz eingebüßt hatte, wurde mit einem Mal ins Zentrum des Interesses zurückgeholt. In der Folge kam es nicht nur zu einer „Wiederentdeckung der Anthropologie“ (Bleidick) sondern auch zu einer Re-Aktualisierung des Personenbegriffs. Die Provokation Fletchers verlangte eine Erwiderung. Die Gegenposition „A Down’s is a Person“175 bedurfte einer gründlichen argumentativen Klärung. Ich möchte im Folgenden einen Überblick über fünf Konzepte von Personalität geben, die den Diskurs der Behindertenpädagogik bestimmt haben oder noch bestimmen. ————— 172

Ebd., 187. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: Luther deutsch, Bd. 2, 266 (WA 7, 32, 28–30). 174 Bard/Fletcher, The Right to Die, zit. nach: Bleidick, Die Behinderung im Menschenbild, 523. 175 Vgl. Wolfgang Jantzens Aufsatz: A Down’s is a person! 173

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(1) „Der katholischen Erziehungslehre kommt das Hauptverdienst zu, Ansprüche und Perspektiven einer Personalen Pädagogik durch intelligente Analysen in verschiedene Praxisfelder […] getragen zu haben“.176 Dieses Urteil Emil E. Kobis, das dieser mit einem polemischen Seitenhieb gegen die evangelisch orientierte Pädagogik verbindet,177 macht auf die prägende Rolle der katholischen Heilpädagogik in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aufmerksam. Ulrich Bleidick kam noch zu Beginn der 1970er Jahre zu der Einschätzung dass sich die „heilpädagogische Anthropologie der jüngsten Zeit (Bopp, Hengstenberg, Montalta) […] ausschließlich des neuscholastischen Begriffes“178 der Person bedient habe. Am Beispiel HansEduard Hengstenbergs möchte ich dies kurz skizzieren. Charakteristisch für Entwürfe wie den seinigen ist die Unterscheidung von Person und Persönlichkeit. Personalität sei der apriorische Grund für alle menschlichen Vollzüge. Sie sei werdelos und von Anbeginn vollwertig und wirklich. „Person ist der seinshafte Grund, auf dem Persönlichkeit wächst.“179 Sie ist „das letzte, selbst nicht mehr gegenständlich faßbare Subjekt aller seiner bewußten Vollzüge im physischen, psychischen und geistigen Raum“.180 Geistigkeit, erhöhter Selbstand und erhöhte Individualität seien die drei Wesensmerkmale einer Person.181 Da Personalität dem Menschsein immer schon zu Grunde liegt und keinen Entwicklungsprozess durchläuft, ist jeder Mensch unabhängig von einer möglichen Behinderung uneingeschränkt Person. Ja Personalität bestehe bereits vom Zeitpunkt der Zeugung an. Im Unterschied dazu bezeichne Persönlichkeit die konkrete Verwirklichung, zu der ein Mensch mit seinem seelischen, geistigen und leiblichen Vermögen findet. Der invarianten Personalität steht demnach die veränderliche Persönlichkeit gegenüber. „Person ist der Mensch von Anfang an, Persönlichkeit muß er erst allmählich werden“.182 Spätestens seit der empirisch-rationalen Wende in der Behindertenpädagogik vermochten solche personalen Anthropologien immer weniger zu überzeugen. Ulrich Bleidicks theoriegeschichtlicher Überblick zum „‚Personwert‘ des Behinderten“183 liest sich bereits wie ein Nachruf. Erst im Zusammenhang der durch Peter Singer ausgelösten Debatte ist es in der ————— 176

Kobi, Personorientierte Modelle der Heilpädagogik, 280. Ebd.: „Die protestantischen Erziehungslehren der Neuzeit wirken daneben eher zweitrangig und blaß […] Bedeutende Theologen wie Barth, Brunner, Bultmann u.a. fanden oft nicht in die Zentren erzieherischer Problematik und in die Niederungen des (heil-)erzieherischen Alltags.“ 178 Bleidick, Pädagogik der Behinderten, 333. 179 Hengstenberg, Zur Anthropologie des geistig und körperlich behinderten Kindes, 19. 180 Ebd., 17. 181 Hengstenberg, Der Dienst am geschädigten Kind, 118. 182 Hengstenberg, Zur Anthropologie des geistig und körperlich behinderten Kindes, 19. 183 Bleidick, Pädagogik der Behinderten, 332–340. 177

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Behindertenpädagogik zu einer neuen Diskussion um Personalität gekommen. Diese ist nicht zuletzt auch deshalb dringlich geworden, weil Christoph Anstötz den Versuch unternommen hatte, den utilitaristischen Personenbegriff Peter Singers in die Behindertenpädagogik zu übernehmen. Davon soll als Nächstes die Rede sein. (2) Christoph Anstötz teilt die Überzeugung, dass dem Personenbegriff eine juristisch und ethisch relevante Rolle zukommt: mit ihm werden moralische Ansprüche und Rechte, insbesondere das Recht auf Leben verbunden. Einen „Speziesismus“, der dieses Recht an die Zugehörigkeit zur Gattung Homo sapiens knüpft, lehnt Anstötz aber ebenso ab wie sprachlich willkürliche, poetische, emotional aufgeladene oder schlicht postulierte Kennzeichnungen.184 Dem stellt er das präferenzutilitaristische Personalitätsverständnis gegenüber: Personen seien Lebewesen mit bestimmten rationalen Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Zeitgefühl, Urteilsvermögen usw.185 Menschen mit schwerster Behinderung, die über diese Eigenschaften nicht verfügen, könnten auf diesem Hintergrund „sowenig ein Recht auf Leben in Anspruch nehmen […] wie nichtmenschliche Lebewesen, die keine Personen sind“.186 Dennoch sind schwerstbehinderte Menschen für Anstötz in besonderer Weise auf eine Stellvertreterschaft angewiesen, durch die ihre Anliegen im Sinne der Gleichheitsidee gewahrt werden. Auch wenn sie keine Personen seien, sei pädagogisch zu überlegen, wie ihre Lebenssituation für sie so befriedigend und menschwürdig zu gestalten [sei], wie das eben möglich ist“.187 Allerdings ließe der Präferenzutilitarismus im Zusammenhang mit der Abtreibung auch eine Ersetzbarkeit offen. (3) In die durch Peter Singer und Christoph Anstötz angestoßene Debatte um den Personenbegriff in der Behindertenpädagogik hat sich von Anbeginn Ulrich Bleidick nachdrücklich eingeschaltet. Auf dem Hintergrund der von ihm vertretenen Trennung einer rational-empirischen Erziehungswissenschaft einerseits und einer normativ angelegten Erziehungsphilosophie andererseits kann für ihn eine Erörterung des Personenbegriffs nicht den Status einer allgemeinverbindlichen wissenschaftlichen Theorie haben. Darüber hinaus spreche auch die Pluralisierung der Menschenbilder in der heutigen Gesellschaft dafür, von traditionellen Personenkonzepten Abstand zu nehmen.188 Unter diesen Bedingungen verdient für Bleidick ein normativ-gattungsspezifischer Personenbegriff Vorzug. Er begreift Personalität nicht als empirischen Sachverhalt sondern als normative Zuschreibung. Sie ————— 184 185 186 187 188

Vgl. Anstötz, Heilpädagogische Ethik auf der Basis des Präferenz-Utilitarismus, 370–373. Vgl. Anstötz, Ethik und Behinderung, 113, 116 u.ö.; ders., Ethik der Heilpädagogik, 129. Ebd., 117. Ebd., 122 [Ergänzung von mir; U.L.]. Vgl. Bleidick, Der Personbegriff in der Behindertenpädagogik, 22.

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ist keine Tatsachenfrage, sondern ein Werturteil. „Person-Sein ist eine Zuschreibung, ein Appell […] Personalität ist eine normative Kategorie, ‚ein moralischer Status‘“.189 In seiner Erörterung der Personalität als normativem Begriff bezieht sich Bleidick auf Immanuel Kants praktische Philosophie. Dessen „Zuschreibung von Personalität als Notwendigkeit einer ‚praktischen Idee‘, mit der die ‚Natur‘ des Menschen als […] ‚Zweck an sich selbst‘ gesehen wird“, dürfe auch „noch heute als gültig angesehen werden“.190 Bei der Interpretation dieser Aussage sei es aber wesentlich, Kants Unterscheidung zwischen einer physiologischen und einer pragmatischen Anthropologie nicht aus den Augen zu verlieren. Während in einer physiologischen Sichtweise das Individuum und die empirische Menschennatur in den Blick kämen, trete in der pragmatischen Perspektive die Menschengattung als solche vor Augen. Deshalb müsse der Fehlschluss vermieden werden, eine Gattungsaussage zu einer Einzelaussage umwandeln zu wollen. Allerdings folgt Bleidick in seinen weiteren Überlegungen nicht weiter den Spuren der kantischen Philosophie sondern orientiert sich am Konstruktivismus.191 Welterkenntnis, so führt er aus, erfolge dadurch, „dass wir subjektive Deutungen entwerfen, in die subjektunabhängige Strukturen eingepasst werden […]. Auch das menschliche Personsein ist das Produkt unseres Bewusstseins. Das normative Wissen darüber, ob und welche Menschen Personen sind, entstammt unseren normativen Einstellungen, unseren Vor-Urteilen, wann in unserem Urteil der Status der Personalität gesollt ist.“192 Es ist mithin ein konstruktivistisch gebrochener und insofern stark ermäßigter Kantianismus, auf dem Bleidicks Reflexion eines gattungsbezogenen Personenbegriffs ruht. Personalität ist für ihn vor diesem Hintergrund eine praktische Zuschreibung, mit der die unbedingte Anerkennung des Menschen und seiner Würde verbunden ist. Die Konsequenz seines Personenbegriffs ist für Bleidick die keine weiterer Begründung bedürftige „Basisnorm“: „Behinderte müssen wissen, daß sie zu dieser Gemeinschaft gehören, mit gleichen Rechten und Chancen, ohne Unterschied der Person und der Ausprägung ihrer Persönlichkeit, als Menschen wie wir alle, die wir je verschiedene Individuen sind.“193 Die Entscheidung, Schwerstbehinderte als Personen anzuerkennen, sei eine Gewissensentscheidung, in der dieser Wertbezug zum Ausdruck komme. ————— 189

Bleidick, Menschenbild und dialogisches Handeln, 423f. Bleidick, Der Personbegriff in der Behindertenpädagogik, 25. 191 In früheren Texten spielte statt des Konstruktivismus die dialogische Philosophie Martin Bubers eine wichtige Rolle als Referenztheorie (vgl. Bleidick, Menschenbild und dialogisches Handeln, 424). 192 Bleidick, Der Personbegriff in der Behindertenpädagogik, 37f. 193 Bleidick, Menschenbild und dialogisches Handeln, 423. 190

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Allerdings hält es Bleidick mit Blick auf die neueren Entwicklungen in der Biomedizin nicht für möglich, eine generelle Regelung zu schlussfolgern. Vielmehr gebe es hier ein unaufhebbares Spannungsverhältnis zwischen der Universalität des moralischen Gebotes einerseits und der konkreten Situation sowie persönlichen Betroffenheit andererseits. Das Menschenwürdegebot des Grundgesetzes und seine Interpretation durch die Rechtsprechung würden vielmehr diesem – konfliktträchtigen – Sachverhalt Rechnung tragen. „Unabhängig von der philosophischen und theologischen Diskussion um einen Personwert von Neugeborenen und Schwerstbehinderten existiert für den Bereich Deutschlands somit ein rechtsgültiges Kriterium der Personalität.“194 (4) Während Bleidicks Interpretation den Personenbegriff moralphilosophisch transformiert, hat Wolfgang Jantzen den Weg seiner rationalen Rekonstruktion im Rahmen einer materialistischen Behindertenpädagogik beschritten. In seinem programmatischen Aufsatz „A Down’s is a person!“ verfolgt er zwei philosophische Spuren, mit deren Hilfe er auf die Lichtung eines erweiterten Personenverständnisses zu gelangen hofft. Zunächst beschäftigt sich Jantzen mit Manfred Franks nichtegologischer Interpretation von Selbstbewusstsein und Personalität. Merkwürdigerweise zieht er aber zur Analyse der dabei im Mittelpunkt stehenden Kategorie der Selbstvertrautheit die kommunikationstheoretisch grundierte Selbstbewusstseinstheorie Ernst Tugendhats heran. Nach dieser entstehe Selbstbewusstsein auf der Grundlage einer „veritativen Symmetrie“, einer „Symmetrie zwischen dem Einen, der sich mit ‚Ich‘ bezeichnet, und dem Anderen, der ihn mit ‚Du‘ bezeichnet“.195 Personalität entstünde folglich „mit dem Auftauchen der IchDu-Invarianzen in der kindlichen Entwicklung“,196 was durchschnittlich im dritten Lebensjahr geschehe. Personalität wäre damit an den Austausch sprachlicher bzw. quasisprachlicher Akte gebunden. „Der Personbegriff könnte damit oberhalb des Niveaus der sensomotorischen Akte der Intelligenz prinzipiell in Anwendung gebracht werden“.197 Kinder mit Trisomie 21, die zumindest die Stufe der prä-operationalen Intelligenz nach der Entwicklungstheorie Jean Piagets erreicht hätten, wären damit eindeutig als Personen zu bezeichnen. Dagegen bliebe der Personenbegriff für schwerstbehinderte Kinder auf der Stufe der sensomotorischen Intelligenz weiterhin nicht anwendbar. Um die sich hier auftuende Leerstelle zu füllen und das Personalitätsverständnis erneut auszuweiten, greift Jantzen anschließend die Spur der Diffe————— 194 195 196 197

Bleidick, Der Personbegriff in der Behindertenpädagogik, 40. Jantzen, A Down’s is a person!, 41. Ebd. Ebd.

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renzphilosophie Gilles Deleuzes auf. Für diese ist das Prinzip der Wiederholung das innerste Moment des psychischen Seins. Die Selbstwiederholung wird dabei zum Ausgangspunkt für die Entstehung von Neuem. „Im Prozess der Wiederholung des Gleichen […] entsteht am Ungleichen, an den Verhältnissen der Welt jeweils die Differenz“.198 Diese Dialektik der Wiederholung des Sinns und der Differenz von Bedeutungen sei die Grundlage für die Entstehung des Ich und der Person. Anders gesagt: die individuierende Differenz macht Personalität aus. Diese fällt daher nicht mit einem bestimmten Resultat der Persönlichkeitsentwicklung zusammen, sondern bildet deren Grundlage. „Person ist […] auf jedem Entwicklungsniveau der Ausdruck der Differenzierung in der Entwicklung der Persönlichkeit. Insofern ist Person eine nicht an äusseren Bedingungen festmachbare Qualität des Menschseins. Sie muss begriffen werden auf der Basis der intrinsischen Bedingungen der differenzierenden Wiederholung in einer für alle Individuen der Gattung Mensch einmaligen Weise.“199 Der Akt der Personwerdung sei dabei stets Ausdruck eines sozialen Prozesses. „Person ist […] jenes soziale Verhältnis, das den Menschen erst zum Menschen macht, und dessen Aberkennung für ihn tödlich ist.“200 Jantzens Personalitätsbegriff verbindet die Traditionslinie der Differenzphilosophie mit der des Marxismus: sie denkt die Person im Schnittpunkt psychischer Differenzierungsprozesse und sozialer Interaktionen. Jeder biologische Mensch gilt ihm auf dieser Grundlage als Person.201 Auch die pränatale Entwicklung sei dabei einzubeziehen. Da „das Werden bereits […] in spezifischen Formen der Differenzbildung (Entstehen von subjektiver Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in verschiedenen aktiven und passiven Synthesen) in einem Individuationsfeld“ stattfinde, „wäre […] von Personalität […] ab dem Übergang von der Embryonalphase in die Fetalphase zu sprechen“.202 Embryonen seien deshalb keine Personen. Feten aber durchaus.203 (5) Wiederum einen anderen Akzent setzt Dieter Gröschke mit einem normativ-transzendentalen Personenbegriff in phänomenologischer Per————— 198

Ebd., 43. Ebd., 44. 200 Ebd., 45. 201 Vgl. ebd. 202 Jantzen, Postmoderne Ethik und Embryonenschutz, 71. 203 Jantzen erwägt über die bisherige Argumentation hinaus gehend noch ein früheres, embryonales Entwicklungsstadium, bis zu dem hin man die Genesis des kantianischen Ichs möglicherweise zurückverfolgen könne. Es bestehe in einem „embryo-fetalen Übergangsraum […], innerhalb dessen sich ein intrinsisches Motivsystem (IMF) neuronal etwa um die 8. Embryonalwoche konsolidiert, das auf die Existenz eines freundlichen Begleiters zielt und die Grundlage gattungsinterner Bindungs- und Anerkennungsprozesse ist“ (Jantzen, Postmoderne Ethik, 71). 199

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spektive. Für ihn bildet der Personenbegriff die Kernidee des Projekts Heilpädagogik und dessen unaufgebbare regulative Maxime.204 Das normativtranszendentale Personenverständnis, das er ausdrücklich dem empirischrationalen gegenüberstellt, hält er für philosophisch begründbar, aber nicht streng beweisbar. Personalität sei ein Begriff mit metaphysischem Überschussgehalt.205 Gröschke entwickelt seine Überlegungen bewusst vor dem Horizont der christlichen Theologie. Mit Bezug auf Hans Eduard Hengstenberg bestimmt er Personalität zunächst ontologisch als eine Einheit von Leib, Seele und Geist. In diesem Sinn sei in der Personalität eines Menschen dessen ganzheitlicher Seinsentwurf beschlossen. Sie bezeichne insofern einen apriorischen ontologischen Seinsgehalt. Im weiteren Argumentationsgang verknüpft Gröschke dieses ontologische mit einem stärker relationalen Verständnis. Ein zentrales Merkmal von Personalität sei, so führt er aus, das Transzendieren, d.h. das „Über-sich-selbst-hinausVerwiesensein“ des Menschen.206 Der Mensch sei als Person auf Gott als Schöpfer und auf den Anderen als Nächsten bezogen. Im Anschluss an Eberhard Schockenhoff hält Gröschke vier Grundrelationen des biblischen Personalismus fest: die Relation zu Gott, dem anderen Menschen, zu sich selbst und zur Schöpfung.207 Trotz dieser relationalen Entschränkung sieht es Gröschke als Gefahr des Personenbegriffs an, statisch zu sein und von konkreten Umweltbedingungen abzusehen. Deshalb plädiert er für ein korrespondierendes, kritisch aufgeklärtes Konzept von Persönlichkeit in der Heilpädagogik. Person und Persönlichkeit stünden in einem unauflösbaren, dialektischen Spanungsverhältnis: „Der Mensch, jeder Einzelne, muß erst durch Erziehung werden, was er immer schon ist und nie verlieren kann: / Er ist Person, Wirkungseinheit von Körper und Geist, Leib und Seele. Er entwickelt sich gemäß seines personalen Seinsentwurfs durch Erziehung und Unterstützung seiner Umwelt in Richtung bestimmter Zielentwürfe von Persönlichkeit“.208 Mit diesen Bestimmungen steht Gröschke erkennbar in der Tradition der konfessionell geprägten, personorienterten Konzepte der Heilpädagogik. Er entwickelt diese Tradition jedoch zu einem phänomenologischen Personalitätsverständnis weiter. Dabei öffnet er sich einerseits der Philosophie des „Antlitzes“ von Emmanuel Lévinas und andererseits der Phänomenologie der Leiblichkeit. In beiden Fällen werden präreflexive Dimensionen des Menschseins als Aspekte seiner Personalität herausgearbeitet. In einem Fall ————— 204 205 206 207 208

Vgl. Gröschke, Praxiskonzepte der Heilpädagogik, 23. Vgl. ebd., 59. Vgl. ebd., 47. Vgl. ebd., 59. Ebd., 53f.

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die intersubjektive, im anderen die leibliche Dimension. Für Lévinas ist die Wahrnehmung des Anderen die Offenbarung dessen Antlitzes. „Die Wahrnehmung des Antlitz des Anderen geschieht in einer Sprache vor der Sprache, also in einem präreflexiven Medium reiner Kommunikation, in der der Andere in meine Weltwahrnehmung ‚einbricht‘.“209 Das Antlitz sei Erfahrung ohne Begriff. In seiner vollkommenen Blöße und Schutzlosigkeit, in seiner Nacktheit, Not und Angewiesenheit werde der Andere zu einer Infragestellung meiner selbst und zu einer Forderung an mich: du sollst nicht töten. In der Unmittelbarkeit seines Ausdrucks nehme mich das Antlitz in die Pflicht und mache mich dem Anderen in unvergleichlicher Weise solidarisch. Da Lévinas diese Bezogenheit als reine, präreflexive Erfahrung denkt, weitet sich das Personalitätsverständnis intersubjektiv auf. Personalität kann so als apriorische Offenheit für die Offenbarung des Antlitzes verstanden werden. Eine weitere Dimension der Personalität ist für Gröschke die Leiblichkeit. Diese unterlaufe die Trennung von Subjekt und Objekt und konstituiere unhintergehbar die menschliche Erfahrung. Das „unbezweifelbare Leibapriori menschlicher Existenz“ bedeute, dass der Leib die „Erlebnis-, Ausdrucks- und Erfüllungsgestalt meiner einmaligen personalen Existenz“ sei. „Im Phänomen der Leiblichkeit vereinen sich alle Momente, die sonst eher als sich ausschließende Gegensätzlichkeiten gedacht werden: Natur und Geist, Geschichte und Faktizität, Ich und Welt, Körper und Seele.“210 Die in der Leiblichkeit gelebte Koexistenz mit der Welt sei präreflexiv. Das „Leibfundament unseres personalen Lebens“ bedeute: „Wir sind unser Leib“.211 Wir sind Leibpersonen. Auf der Grundlage seines normativ-transzendentalen Personenverständnisses kommt auch Gröschke zum Imperativ eines unbedingten Lebensrechtes und einer uneingeschränkten Würde aller Menschen: „Es ist daran eisern festzuhalten, daß jeder lebende Angehörige der Gattung Mensch Person ist und Person bleibt: zu jedem Zeitpunkt und unabhängig/unbedingt von jeglichen äußerlichen Merkmalen seiner psychophysischen Konstitution.“212 (6) Der in der Behindertenpädagogik geführte Diskurs über Personalität zeigt eine ähnliche Vielstimmigkeit, wie sie auch in der übrigen philosophischen und pädagogischen Diskussion erkennbar ist. Einheitlicher als in diesen anderen Disziplinen fällt allerdings die Orientierungsfunktion des Personenbegriffs in der Behindertenpädagogik auf. Für mehrere Konzepte – ————— 209 210 211 212

Gröschke, Praktische Ethik der Heilpädagogik, 29. Ebd., 23f. Ebd., 23. Ebd., 22.

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hier diejenigen von Hengstenberg, Bleidick und Gröschke – gilt er als Grundlage für die „Einforderung von Lebensrecht und Bildungsrecht für alle geschädigten und benachteiligten Menschen, als Prüfstein in der Verwirklichung humaner Beziehungen“.213 Er fungiert als anthropologischer Grundbegriff und ethische Grundnorm.214 Die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Entwürfe ist m.E. unterschiedlich. Hengstenbergs ontologisches Personalitätsverständnis scheint mir doppelt begrenzt zu sein: einerseits verbleibt es in den Bahnen einer ontologischen Interpretation. Die Wesensmerkmale einer Person werden als apriorisch und unveränderlich aufgefasst. Personalität wird dadurch zu einer transzendentalen ontologischen Bestimmung des Menschseins. Die Merkmale sind dabei so sehr dem empirischen Bereich enthoben, dass Hengstenbergs Personalitätsbegriff mit der Zustimmung zu den Basisannahmen seiner Ontologie steht und fällt. Dadurch hat dieser Personenbegriff lediglich den Status eines anthropologischen Postulats. Eine zweite Grenze ist mit der ersten eng verbunden: durch die Behauptung eines uranfänglich vorhandenen und invarianten ontologischen Kerns wird die Personalität von den übrigen Dimensionen personalen Menschseins abgetrennt: Sozialität und Leiblichkeit sowie Bildungsbedürftigkeit und -fähigkeit dürften kaum der Person zuzuordnen sein als vielmehr der veränderlichen Struktur von Persönlichkeit. Damit aber verbleibt Personalität als eine Art platonischer anthropologischer Idee jenseits der veränderlichen menschlichen Lebensverhältnisse und der auf sie bezogenen anthropologischen Dimensionen. Während sich Hengstenbergs Personenbegriff ganz auf die transzendental-ontologische Seite hin neigt, nimmt Christoph Anstötz’ empirischrationales Personenverständnis die diametral entgegengesetzte Position ein. Es soll von allen ontologischen Resten befreit werden und ohne jede Inanspruchnahme transempirischer Deutungen auskommen. Gegenüber diesem Konzept treffen all die Einwände zu, die ich oben gegenüber Peter Singer unter dem Stichwort der anthropologischen Reduktion geltend gemacht habe. Ulrich Bleidick versucht mit seinem normativ-gattungsspezifischen Personenbegriff eine Trennung von kritisch-rationaler Wissenschaft und praktischer Wertung durchzuhalten und so empirische von nichtempirischen Sachverhalten zu trennen. Das Nachdenken über Personalität spielt sich jetzt vollständig im Rahmen ethischer Zuschreibungen ab. Der dabei von Bleidick akzentuierte Personenbegriff bleibt aber m.E. in einem doppelten ————— 213

Bleidick, Der Personbegriff in der Behindertenpädagogik, 21. Mit dieser Formulierung wird nicht übersehen, dass es auch behindertenpädagogische Entwürfe gibt, die dem Personenbegriff keine Zentralstellung einräumen. Behauptet wird nur, dass vergleichsweise viele Konzepte der Personalität eine zentrale Begründungs- und Orientierungsfunktion einräumen. 214

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Sinn ein Postulat. Einerseits sucht Bleidick für sein Personalitätsverständnis keine rationalen anthropologischen Anhaltspunkte. Andererseits wird aber auch die praktische Zuschreibung der Personalität nicht moralphilosophisch begründet und argumentativ eingeholt. Dadurch wird der Personenbegriff zu einer Setzung, für die weder ausreichende empirische noch ethische Argumente vorgebracht werden. Wolfgang Jantzens materialistisches Personenverständnis geht in der Rezeption nichtegologischer Subjektivitätstheorien sowie der Differenzphilosophie einen interessanten eigenständigen Weg. Allerdings scheinen mir auch hier wichtige Fragen offen zu sein: einerseits wird Jantzens intersubjektive Interpretation der Selbstvertrautheit deren Unmittelbarkeit nicht gerecht. Die veritative Symmetrie im Sinne Tugendhats und die unmittelbare Selbstvertrautheit im Sinne Franks lassen sich keineswegs in einer Synthese vereinigen. Andererseits bleibt bei der Differenzphilosophie die Frage unbeantwortet, welche psychische Instanz die Wiederholung und Differenzbildung vollzieht. Müsste hier nicht erneut ein nichtegologisches Ich ins Spiel gebracht werden, wenn denn die Identität zwischen dieser Instanz und dem auf dem Weg der Differenzbildung entstehenden Ich gewahrt bleiben soll? Schließlich scheint mir auch die Deutung der Person als desjenigen sozialen Verhältnisses, das den Menschen erst zum Menschen mache, nicht bruchlos mit den vorherigen beiden Argumentationsgängen vereinbar zu sein. Ist hier Personalität nicht unter der Hand materialistisch in Interpersonalität aufgelöst worden? Bleibt schließlich Dieter Gröschkes transzendental-normatives Personalitätsverständnis. Es steht einerseits erkennbar in der Tradition der ontologischen Entwürfe wie dem Hengstenbergs. Andererseits geht es über deren Vorgaben hinaus. Gerade in dieser produktiven Weiterentwicklung sehe ich die Leistung Gröschkes. Das betrifft auf der einen Seite den Überschritt zu einem relationalen Verständnis von Personalität in den vier Grunddimensionen menschlicher Lebensverhältnisse. Auf der anderen Seite bindet Gröschke sein Verständnis von Personalität stärker an Phänomene empirischen Menschseins zurück, indem er es aus der ontologischen Transzendenz herabholt, interpersonal öffnet und leiblich „inkarniert“. Sicher geht Gröschkes Versuch, Hengstenberg mit Lévinas und Merleau-Ponty zu verbinden, „nicht ohne Schrammen ab“. Dessen dürfte sich der Autor selbst bewusst gewesen sein, wie seine vorsichtige Wertschätzung des dynamischeren Persönlichkeitsbegriffs gegenüber dem statischeren Personenbegriff zeigt.215 Gleichwohl hat Gröschke in seinem anthropologischen Entwurf den Personenbegriff in hohem Maße mit anderen Phänomenen des Menschseins, insbesondere den Dimensionen der Intersubjektivität und Leiblichkeit verknüpft. Gröschkes phänomenologische Interpretation wahrt eine Balance. ————— 215

Vgl. Gröschke, Praxiskonzepte der Heilpädagogik, 53.

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Sie reduziert Personalität einerseits nicht auf empirische menschliche Eigenschaften. Sie löst die Person andererseits aber auch nicht aus ihren empirischen Bezügen.216

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216 Der Versuch, die Anthropologie in einer „Phänomenologie des Leibes“ grundzulegen und von hier aus auch den Personenbegriff zu konturieren, ist in der Behindertenpädagogik auf ein breites Echo gestoßen. Unter den jüngeren Veröffentlichungen ist bspw. der anthropologische Entwurf von Markus Dederich zu nennen, der diesen Ansatz weiter führt. „Die Leiblichkeit“, führt Dederich aus, „ist unser ‚Sitz im Leben‘. Durch ihn, seine Sinnlichkeit, seine Berührbarkeit, sind wir zur Welt geöffnet und in lebensweltliche Zusammenhänge eingewoben. Aufgrund der Verschränkung von Wahrnehmung und Bewegung und den hiermit gekoppelten Emotionen von Angst und Begehren, von Befriedigung und Frustration entsteht eine Polarität von Individuum und Umwelt: sie bleiben zwar aufeinander bezogen, treten jedoch zu einem […] Spannungsfeld auseinander. Zugleich entwickelt sich beim Menschen die Reflexionsfähigkeit und mit ihm die Exzentrizität, die ein reflexives Selbstverhältnis ebenso ermöglicht wie ein reflektiertes und distanziertes Verhältnis zu unserer Welt“ (Dederich, Behinderung – Medizin – Ethik, 147). Sehe ich richtig, dann ordnet Dederich die Leiblichkeit allen anderen anthropologischen Dimensionen voraus. Ausdrücklich betont er, dass „die Leiblichkeit das Fundament des menschlichen Selbstverhältnisses darstellt, d.h. seiner Innerlichkeit, Subjektivität und Reflexivität – mit einem Wort: seiner Personalität“ (ebd., 152). Subjektivität und Sozialität, Individualität und Personalität würden so gleichermaßen durch die Leiblichkeit konstituiert. Trotz meiner ausdrücklichen Würdigung des leibphänomenologischen Konzeptes sehe ich an dieser Stelle die Gefahr einer Überlastung der Kategorie des Leibes. Die phänomenologischen Einsichten haben stattdessen die Gleichursprünglichkeit von Subjektivität, Leiblichkeit und Sozialität zur Geltung gebracht. Nach meiner Vermutung liegt in der Überpointierung der Leiblichkeit der Versuch vor, die Probleme, die sich aus der traditionellen Akzentuierung der Subjektivitätskategorie ergeben, zu umgehen. Es besteht aber, wie ich in den folgenden Kapiteln deutlich machen werde, dazu kein Anlass: weder zu einer Zurückhaltung gegenüber der Subjektivitätskategorie noch zu einer Korrektur an der phänomenologischen Gleichursprünglichkeitsthese.

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3. Subjektivität oder: „Ich fühle mich! Ich bin!“ (J.G. Herder) Subjektivität Axel galt als stark autistisches Kind. Der Pädagogin gelang es zunächst nicht, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Dass es dann doch zu einer Begegnung kam, scheint im Rückblick eher ein Zufall gewesen zu sein. Einmal, als sie den Kindern auf dem Xylophon vorspielte, ergriff Axel einen Schlegel und begann disharmonisch einzelne Töne anzuschlagen. Dies tat er einige Zeit, während sie ihr Spielen fortsetzte. Plötzlich trafen sich sein und ihr Schlegel auf demselben Klangstab. Axel hielt kurz inne und begann anschließend vorsichtig, die Klangvorgabe zu imitieren. Diese Nachahmung setzte sich weiter fort und mündete schließlich in ein Wechselspiel zwischen ihm und der Pädagogin. Axel, der zu keiner Beziehung fähig schien, war über das Medium des Xylophonspiels in einen direkten Austausch mit einer anderen Person getreten.1 Das Beispiel einer solchen elementaren Begegnung – hier mit einem stark autistischen Kind – enthält zahlreiche unterschiedliche Facetten, wie sich Axel auf sein Gegenüber bezieht. Am Anfang steht eine akustische Wahrnehmung, die den Anlass dafür bildet, dass sich Axel dem Musikinstrument zuwendet. Es zieht seine Aufmerksamkeit auf sich und er beginnt selbst damit, unstrukturierte Tonfolgen zu schlagen. Inmitten der Konzentration auf dieses Spielen kommt es zu einer plötzlichen akustischen Begegnung zwischen ihm und der Pädagogin. Sie wird zum Ausgangspunkt für eine intensivere Beziehung, in der sich Axel und die Pädagogin wechselseitig Töne vorgeben bzw. diese nachahmen. Über die Wahrnehmung des Anderen hinaus ist so eine Interaktion entstanden, in der Klänge vorgegeben und beantwortet werden. Mag der Austausch in dieser Beziehung auch nur basaler Art sein: er lässt sich auf Axels Seite nicht auf ein Reiz-Reaktions-Modell reduzieren. Vielmehr ist er Ausdruck einer Beziehung zwischen zwei Subjekten. Zwischen Menschen, die sich selbst erschlossenen sind und die sowohl in einer Beziehung zum jeweils Anderen wie auch zu sich selbst stehen. Mehr noch: zwischen Personen, die in der Lage sind, die Wahrnehmung des Anderen zu verstehen, mit einer Selbstwahrnehmung zu verbinden und durch eine darauf abgestimmte, intentional bedeutsame Reaktion zu beantworten. ————— 1

Vgl. Fornefeld, Elementare Beziehung, 236.

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

Subjektivität ist das Thema dieses Kapitels. Selbstbewusstsein. Das Ich. Die Begriffe müssen geklärt werden. Geklärt werden muss aber vor allem, was es damit auf sich hat, wenn wir von Subjekten bzw. selbstbewussten Personen sprechen. Bei Peter Singer, der mit seinen Thesen zum Lebensrecht von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung die Debatte über Kriterien von Subjektivität herausgefordert hat, wird die Latte dafür hoch gelegt. Selbstbewusstsein, so argumentiert er, sei mit der Fähigkeit verbunden, „sich seiner selbst als einer distinkten Entität bewußt“ zu sein, und das Bewusstsein „einer Vergangenheit und Zukunft“2 zu haben. Weiterhin nennt Singer die Fähigkeit, „Wünsche hinsichtlich seiner eigenen Zukunft zu haben“.3 Darüber hinaus sei Selbstbewusstsein mit Autonomie verknüpft, mit der Fähigkeit also, „eine Wahl zu treffen“ und „eine Handlung nach eigener Entscheidung zu vollziehen“.4 Ein entscheidender Bewährungspunkt für eine selbstbewusste, autonome Person ist für Singer die selbstbestimmte Entscheidung über Leben oder Sterben. So könne „ein Wesen, das fähig ist, den Unterschied zwischen Sterben und Weiterleben zu erfassen, sich autonom dafür entscheiden zu leben.“5 Oder aber, den eigenen Tod zu erbitten. Unterscheidungsbewusstsein, Zeitbewusstsein, das Vorhandensein von Zukunftspräferenzen sowie Autonomie wären somit für Singer Kriterien für Selbstbewusstsein und Personalität. Menschen mit einer Demenz oder mit einer schweren geistigen Behinderung verfügten über diese Eigenschaften nicht. Ihr Leben habe deshalb keinen Wert an sich. Ihre Tötung sei folglich nicht im selben Maß verwerflich wie diejenige einer Person. Auf diesem Hintergrund ist auch der Satz zu verstehen, der in der Auseinandersetzung um die sog. neue Euthanasie immer wieder zitiert worden ist: „So scheint es, daß etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines menschlichen Wesens, welches aufgrund einer angeborenen geistigen Behinderung keine Person ist und nie sein kann.“6 Peter Singers Konzept von Selbstbewusstsein ist inhaltlich außerordentlich anspruchsvoll. Es beinhaltet Kriterien, die eindeutig intendieren, bestimmte Menschen aus der Gruppe der Personen auszuschließen. Deshalb ist es eng. Elitär. Selektiv. Dennoch ist es nicht singulär. Vielmehr nimmt Singer eine provozierende Position in einer langen und kontroversen Diskussion um das Verhältnis von Subjektivität und geistiger Behinderung ein. Mehrfach in der neueren Geschichte hat es solche Debatten gegeben, in denen Menschen mit geistiger Behinderung Selbstbewusstsein, Vernunft und vielfach auch ihr Menschsein abgesprochen worden sind. „Brechet die ————— 2 3 4 5 6

Singer, Praktische Ethik, 123. Ebd. Ebd., 134. Ebd. Ebd., 156.

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Subjektivität

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Kette Eurer Vorurtheile“, ruft beispielsweise La Mettrie seinen Lesern zu, „bewaffnet Euch mit der Fackel der Erfahrung und Ihr werdet der Natur die verdiente Ehre erweisen […]. Ihr werdet überzeugt sein, dass der Schwachsinnige oder der Dumme Thiere mit menschlicher Gestalt sind“.7 Leibniz lässt in den „neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ seinen Protagonisten Theophilus von Gesprächen „mit ganz verständigen Personen“ berichten, deren Auffassung es war, „daß […] die Blödsinnigen nicht zum Menschengeschlecht gehören“,8 weil sie keine vernünftige Seele hätten. Philalethes, der an John Locke gebildete Gegenspieler des Theophilus, provoziert einen längeren Gesprächsgang mit der Frage, ob Blödsinnige angesichts der ihnen fehlenden Vernunft überhaupt Menschen seien. „Denn wenn man von einem Blödsinnigen spricht, der vierzig Jahre gelebt hat, ohne das geringste Zeichen von Vernunft zu geben, könnte man nicht sagen, daß er die Mitte zwischen Menschen und Tier einnimmt?“9 Leibniz hätte dieser Frage, der Theophilus energisch entgegentritt, nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt, wenn sie nicht auch real aufgeworfen worden wäre. Karl Binding und Alfred Hoche schließlich, die sich 1920 für eine begrenzte „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ eingesetzt haben, beschreiben die sog. Blödsinnigen als Menschen ohne jeglichen Lebenswillen: „Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müsste.“10 Alle diese Infragestellungen nehmen – direkt oder indirekt – die Vernunft, das bewusste Erleben oder das Selbstbewusstsein als Entscheidungskriterium in Anspruch. Bei den sog. Blödsinnigen gilt dieses Kriterium als nicht erfüllt. Deshalb erscheint es den Autoren an der Zeit, über die Zugehörigkeit der Idioten zur Menschengattung prinzipiell nachzudenken. Stehen sie nicht zwischen Mensch und Tier? Und gibt es nicht sogar Tiere, die im Vergleich mit den Schwachsinnigen viel eher als Menschen anzusehen wären?11 Die Argumentationsmuster, die in der sog. neuen Euthanasiediskussion eine wichtige Rolle gespielt haben, sind also so neu nicht. Sie stehen vielmehr in einer traurigen Tradition. ————— 7

La Mettrie, Der Mensch eine Maschine, 78f. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, 463. 9 Ebd., 420. 10 Binding/Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 183 (i.O. 31). 11 Nicht nur Singer stellt Vergleiche zwischen Menschen mit geistiger Behinderung, die keine Personen seien und Schimpansen, die über Personenmerkmale verfügten, her. Schon La Mettrie verbindet die Feststellung, dass Schwachsinnige Tiere mit menschlicher Gestalt seien mit dem Zusatz, dass Affen dagegen kleine Menschen seien. Vgl. ders., Der Mensch eine Maschine, 79: „Ihr werdet überzeugt sein, dass der Schwachsinnige oder der Dumme Thiere mit menschlicher Gestalt sind, wie der Affe mit seiner Fülle von Verstand ein kleiner Mensch unter einer anderen Gestalt ist.“ 8

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

Auf der anderen Seite wird in den anthropologischen Entwürfen derer, die sich pädagogisch oder theologisch mit Behinderung auseinandergesetzt haben, das Subjektivitätsthema vielfach vermieden.12 Manfred Thalhammer spricht lieber vom „kognitiven Anderssein“ als dem primären Konstitutivum einer geistigen Behinderung.13 Auch Ulrich Bach geht zum Subjektbegriff auf Distanz: „‚Ich denke, als bin ich‘ – und der schwer Geistigbehinderte?“.14 Führt also das Subjektivitätsthema in jene anthropologische Randzone hinein, von der Walter Neidhart in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung warnend gesagt hat: „Ihr Menschsein wird durch die Definitionen unausgesprochen in Frage gestellt“?15 Das Thema der Subjektivität scheint an einen allergischen Punkt zu rühren. Auf der einen Seite stehen ambitionierte anthropologische Konzepte, die das Subjektivitätsthema stark rational aufladen. Auf der anderen Seite bestätigen zahlreiche anthropologische Konzepte aus dem Kontext der Behindertenpädagogik – zumindest indirekt – die Identifizierung von Selbstbewusstsein und Rationalität, indem sie den Subjektivitätsbegriff vermeiden. Ist vor diesem Hintergrund das Thema des Selbstbewusstseins bei Menschen mit geistiger Behinderung ein „hölzernes Eisen“ oder eher ein „heißes Eisen“? Ich möchte in den folgenden Abschnitten zeigen, dass derjenige, der das Thema anfasst, sich weder einen Splitter einzieht noch die Hände verbrennt. Mit einer differenzierten Vergewisserung über die Strukturen von Selbstbewusstsein will ich zeigen, dass das Thema der Subjektivität aus einer inklusiven Anthropologie nicht wegzudenken ist, weil es das Verständnis der conditio humana entscheidend erweitert und vertieft. Subjektivität steht ohne Zweifel im Zentrum des anthropologischen Diskurses der Neuzeit. Nach Manfred Franks Urteil bezeichnen Selbstbewusstsein und Subjektivität „das Grundinteresse, das die moderne Philosophie von Descartes bis Husserl (und Sartre) in Atem gehalten hat“.16 Das „Subjekt“ mit dem, was wir heute mit diesem Begriff verbinden, ist selbst eine Entdeckung dieser Epoche. Zwar spielen zahlreiche Dimensionen des „Ich“ auch schon in den literarischen Zeugnissen der antiken Zeit eine wichtige Rolle. Menschen sind auch in der damaligen Zeit schon Subjekte gewesen. Aber: —————

12 Eine Ausnahme bilden in der Behindertenpädagogik bspw. Dieter Gröschke und Georg Theunissen, in der Theologie u.a. Christoph Bäumler. 13 Vgl. Thalhammer, Geistige Behinderung, 32. 14 Bach, Bausteine für ein theologisches Nachdenken über Menschenbild und Menschenwürde, in: ders., „Gesunde“ und „Behinderte“. 15 Neidhart, Geistigbehinderte als Anfrage an die theologische Anthropologie, 303. 16 Frank, Ist Subjektivität ein „Unding“?, 66.

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„Ich“, „Selbstbewusstsein“ und „Subjektivität“ sind erst neueren Datums zu komplexen philosophischen und theologischen Begriffen avanciert. Erst in der jüngeren Geschichte sind sie zu der Bedeutung eingeschmolzen worden, die seither ihren Glanz ausmacht. Dem 17. und 18. Jahrhundert kommt für diesen Prozess eine Schlüsselrolle zu. Am Ende dieser beiden Jahrhunderte tritt Subjektivität in der Philosophie des Idealismus endgültig ins Zentrum des Interesses und jagt allen anderen Themen den Rang ab. Philosophische Entwürfe haben dem Subjektivitätsthema seither zahlreiche neue Facetten hinzugefügt oder seine Bedeutung in Frage gestellt. Aber selbst heutige Theorien der Subjektivität kehren häufig zunächst zu den Einsichten jener klassischen Epoche zurück ehe sie zu neuen Reflexionen aufbrechen. So gilt es, zumindest in groben Strichen, eine Skizze über „die Entdeckungsgeschichte des Ichs“ zu geben und dabei zugleich auch die verschlungene Begriffsgeschichte mit im Auge zu behalten.

3.1 Der Einzelne und sein Gewissen. Biblische Impulse Mit dem Thema „Subjektivität“ tritt der Mensch in seiner Selbsterschlossenheit und Selbstbeziehung in den Mittelpunkt der Überlegung. Das Ich in seiner unmittelbaren und reflektierten Beziehung zu sich selbst. Weder das hebräische noch das frühe christliche Denken haben Theorien des Ich oder des Selbstbewusstseins ausgearbeitet. Die meisten heute dafür gebräuchlichen Begriffe waren dieser Zeit noch fremd. Gleichwohl haben sich Juden und Christen bereits mit dem Selbstverhältnis des Menschen beschäftigt. Dabei haben sie auch Begriffe und Vorstellungen der zeitgenössischen hellenistischen Philosophie adaptiert und weiterentwickelt. Das hebräische und frühe christliche Denken hat die spätere Ausarbeitung differenzierter Konzepte von Subjektivität vorbereitet und inhaltlich mit inspiriert. Einige Aspekte aus der biblischen Thematisierung des menschlichen Selbstverhältnisses möchte ich erläutern. (1) Der Mensch als Ebenbild Gottes wird im Zusammenhang des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtes noch nicht als Individuum verstanden. Die Rede vom Menschen als „adam“ in Gen 1,26f ist „fraglos kollektiv zu verstehen“.17 In weiten Teilen der hebräischen Bibel steht das Volk Israel im Mittelpunkt: seine Erwählung, der mit ihm geschlossene und von ihm missachtete Bund, das ihm geltende Gericht und die ihm zugesagte Verheißung. Dennoch finden sich auch Spuren einer im Entstehen begriffenen Individualität. Die prägende Rolle hervorragender Personen, die Unterwei————— 17

Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 151.

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sung des Einzelnen18 in die Thora oder individuelle Frömmigkeitsformen wie z.B. Gelübde geben schon in alter Zeit davon Zeugnis.19 In der prophetischen Überlieferung tritt der Einzelne noch deutlicher hervor. „Die Profilierung des I.[ndividuums] beginnt anscheinend mit dem Widerstand und der Kritik an herrschenden sozialen und rel.[igiösen] Verhältnissen.“20 Darüber hinaus hat die religiöse Verarbeitung von Leiderfahrungen entscheidend dazu beigetragen, dass sich Menschen verstärkt als ein Ich verstanden haben: in den individuellen Klagepsalmen drückt sich dies mit großer Intensität aus. Hermann Gunkel hat die Entstehung des Individuums auf die Auseinandersetzungen zwischen den exponierten Vertretern des Jahwe-Glaubens und der einfachen Volksreligiosität zurückgeführt.21 Max Webers einflussreiche Rationalismusthese22 setzt gar nicht so viel anders an. Für Weber haben gleichermaßen die levitischen Thoralehrer und die Propheten den Prozess einer ethischen Rationalisierung in Gang gesetzt, indem sie Impulse zu einer methodisch systematisierten Lebensführung gegeben haben. „Die entscheidende religiöse Forderung der Propheten war nicht die Innehaltung einzelner Vorschriften […] Sondern: der Glaube.“23 Mit diesem Glauben ist die Ausbildung einer Ich-Struktur verbunden, die die gesamte persönliche Lebensführung unter dem Gesichtspunkt der göttlichen Forderung systematisiert. Das Pendant zu der von Weber analysierten Rationalisierung und Ethisierung ist deshalb eine Individualisierung des Glaubens- und Lebensvollzuges. (2) Adolf von Harnack zählte die Wertschätzung des Einzelnen zu den vier Wesensmerkmalen des Christentums: „erst durch Jesus Christus ist der Wert jeder einzelnen Menschenseele in die Erscheinung getreten“.24 Unrecht hat er damit nicht. Zwar kennen auch die Schriften der griechischen Bibel noch kein Ich im neuzeitlichen Sinn. Aber sie geben von einer intensivierten Individualisierung Zeugnis. So gilt Jesu Ruf in die Nachfolge durchgängig Einzelnen (u.a. Mk 2,14). Seine Verkündigung hat eine ihrer Pointen darin, dass Gott „jede einzelne verlorene Seele mit unendlicher Liebe sucht“25 (vgl. Lk 15,1–32). Paulus wiederum hat mit großer Eindringlichkeit sowohl die individuelle Verlorenheit des Menschen beschrieben als auch die Einwohnung —————

18 Ich verwende den Begriff des Einzelnen im Folgenden synonym mit dem des Individuums. Eine Isolierung der Einzelnen aus ihren Sozialbezügen ist nicht intendiert. 19 Vgl. Gunkel, Art.: Individualismus, 235f. 20 Görg, Art. Gemeinschaft und Individuum, 637 [Ergänzungen von mir; U.L.]. 21 Vgl. Gunkel, Art.: Individualismus, 237. 22 Vgl. Liedke, Naturgeschichte und Religion, 174–182. 23 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. III, 333. 24 Harnack, Das Wesen des Christentums, 44. 25 Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 161.

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Christi im einzelnen Glaubenden zum Ausdruck gebracht. Während der im Gesetz der Sünde Gefangene verzweifelt „Ich elender Mensch!“ (Röm 7,24) ruft, kann der Glaubende dankbar bekennen: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). (3) In der paulinischen Theologie werden die Begriffe, in denen Aspekte des menschlichen Selbstverhältnisses thematisiert werden, weiter differenziert. Den Begriff des Gewissens, der UWPGKFJUKL,26 hat Paulus aus der hellenistischen Philosophie übernommen. Bereits die klassische griechische Philosophie kannte diesen Begriff und bezeichnete mit ihm das die eigenen Handlungen begleitende Bewusstsein. Mit der Formulierung UWPGKFGPCK GBCWVY27 konnte sogar zum Ausdruck gebracht werden, sich seiner selbst bewusst zu sein.28 Für Paulus ist das Gewissen eine „Instanz der Selbstbeurteilung“, die das menschliche „Verhalten nach vorgegebenen Normen und der konkret getroffenen Entscheidung beurteilt“ und „anzeigt, inwieweit es diesen Voraussetzungen entspricht“29 (vgl. 1 Kor 10,25ff). Daneben kann es auch eine Beurteilungsinstanz in Bezug auf Andere sein (vgl. 2Kor 5,11). Das Gewissen ist für Paulus ein allgemeines menschliches Phänomen (vgl. Röm 2,15). Die Normen jedoch, an denen sich seine Beurteilung bemisst, sind spezifisch: für Christen der Wille Gottes und das Liebesgebot. Eine andere Dimension menschlicher Ich-haftigkeit ist sein Herz, die MCTFKC (kardia). „Mit -CTFKCbezeichnet Paulus das Innere des Menschen, den Sitz von Verstand, Gefühl und Willen, den Ort, wo Entscheidungen des Lebens wirklich fallen und Gottes Handeln am Menschen durch den Geist beginnt.“30 Dieses „Innere“ ist allerdings keine von der Körperlichkeit getrennte Sphäre. Der Begriff „Herz“ macht vielmehr auf eine innere Dimension des Menschen aufmerksam, die zugleich leiblich vermittelt ist.31 Darüber hinaus beschäftigt sich Paulus mit dem Verstand des Menschen, seiner PQWL(nus). Dabei hat er das vernünftige Denken und Erkennen im Blick, das im Glauben verändert wird. Deshalb ruft Paulus zur „Erneuerung des Sinnes“ (des „PQWL“, Röm 12,2) auf. Eine weitere wichtige Dimension des Ich reflektiert Paulus unter dem Begriff des „inneren Menschen“, des GUYCPSTYRQL (eso anthropos). Auch mit diesem Begriff hat er die innere Verwandlung und Erneuerung des Menschen im Blick. Auch wenn der äußere Mensch verfällt, schreibt Paulus im 2. Korintherbrief, „so wird doch ————— 26

Syneidesis, dt. Mitwissen, Bewusstsein, Gewissen, Gewissenhaftigkeit. Vgl. Benselers griechisch-deutsches Schulwörterbuch, 874. 27 Syneidenai heauto; dt. sich selbst bewusst sein. 28 Vgl. Platon, Das Gastmahl, Werke II.2, 314: „Ja auch jetzt noch bin ich mir sehr wohl bewußt“ (216). 29 Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, 110 30 Ebd., 122. 31 Vgl. Teil B, Kap 4.1.

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der innere von Tag zu Tag erneuert“ (2Kor 4,16). Paulus bezeichnet deshalb mit dem „inneren Menschen“ „das eigentliche Ich des Menschen, das offen ist für den Willen Gottes und das Wirken des Geistes“.32

3.2 Das Ich und sein Grund. Stationen einer Selbst-Verständigung Die anthropologischen Impulse der paulinischen Theologie sowie die der übrigen biblischen Überlieferung sind in die theologischen Entwürfe der folgenden Jahrhunderte eingegangen. Dazu kamen Einflüsse aus der griechischen und römischen Philosophie. Die Theorie des Gewissens und das Konzept von Individualität sind dabei entscheidend weiterentwickelt und differenziert worden. Das „Ich“ als Thema und Gegenstand theologischer und philosophischer Reflexion gab es allerdings bis weit nach der ersten Milleniumswende noch nicht. Das änderte sich erst, als Meister Eckhart im Spätmittelalter die ersten Grundzüge zu einer „Theorie des Ich“ entworfen hat. (1) Indem Meister Eckhart den Terminus „Ich“ auch in nominalisierter Form gebrauchte, hat er diesen neuen Begriff in die Theologie und Philosophie eingeführt und zugleich die Anfänge eines neuen Themas anthropologischer Theoriebildung begründet. In seinem Konzept spielt die Spannung zwischen dem Pseudo-Ich und dem Ich eine zentrale Rolle. Der mögliche Intellekt (intellectus possibilis) wird von ihm relational gedacht und kann sich auf zwei unterschiedliche Phänomene beziehen: „1) Er kann sich auf sich als auf ein anderes beziehen; 2) Er kann sich auf sich als Ich beziehen.“33 Der erste Fall ist der des sich verfehlenden Pseudo-Ichs. Ihm sei das Ich ein Inhalt neben anderen Weltinhalten, auf den sich der Intellekt bezieht. Es bleibe an den Abbildern haften, auch an dem von sich selbst. Es bleibe selbst-vergessen. Im zweiten Fall wende sich der Intellekt von all diesen Abbildern ab und dem Urbild, nämlich sich selbst als Ich zu. Er entdecke „ein Etwas in der Seele, das nicht die Seele selbst ist, sondern deren Grund oder Ursprung“.34 Das Ich werde so zur Stätte für sich selbst als Ich. „Das Ich als Ich – und das ist es, was das Pseudo-Ich nicht weiß – ist nicht nur Bewusstsein, sondern Selbst-Bewußtsein als Sich-Erkennen, als Sich-Wollen und als Seine-eigene-Stätte-Sein.“35 Meister Eckharts Ich-Konzeption verdient deshalb Beachtung, weil sie auf etwas aufmerksam macht, was erst bei Descartes implizit und dann in ————— 32 33 34 35

Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, 126. Mojsisch, „Dieses Ich“, Meister Eckharts Ich-Konzeption, 102. Ebd., 103. Ebd., 106.

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großer Klarheit von Fichte herausgearbeitet worden ist: der relational gedachte Intellekt stößt, indem er sich auf sich selbst bezieht, auf ein ihm Vorgegebenes. Das Ich wird demnach nicht durch den intellektuellen Akt des Selbstbezuges konstituiert. Vielmehr muss das Denken anerkennen, dass ihm sein Urbild – das Ich als Ich – bereits als Seelengrund vorgegeben ist, so dass es sich seiner lediglich vergewissern und ihm entsprechen kann, indem es sich der Bilder entbildet und sich dabei als bildloses Ich findet. (2) „Das heißen […] rechte Christen, die Christi Leben und Namen […] in ihr Leben ziehen“,36 schreibt Luther im „Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi“. Hat die Formulierung „in ihr Leben ziehen“ etwas mit dem Thema „Subjektivität“ zu tun? Im Mittelpunkt von Luthers Theologie steht nicht das „Ich“ als solches.37 Vielmehr ist es Luther um die Rechtfertigung zu tun, das Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch, in dem Gott dem Menschen im Glauben an das Evangelium Gnade gewährt und der Mensch im Glauben diese Gnade Gottes annimmt. Im Glauben. Darauf kommt es an. Deshalb pocht Luther auch darauf, der Mensch könne „auf keine andere Weise mit Gott übereinkommen oder handeln als durch den Glauben.“38 Gerade in dem aber, wie Luther den Glauben akzentuiert, hat er zugleich auch dessen anthropologische Dimension vertieft ausgeleuchtet. „Nach Luther hat der Glaube seinen Ort im Herzen des Menschen oder, wie er stattdessen auch sagen kann, im Gewissen.“39 Das Gewissen und sein Gewisswerden, das Herz und sein Erfülltwerden sind anthropologische Dimensionen, die durchgängig die menschliche Selbstgewissheit betreffen und verändern. Luther hebt hervor, dass der Mensch angesichts des Leidens Christi einerseits „zu seiner selbst Erkenntnis komme und vor sich selbst erschrecke und zerschlagen werde“.40 Dieses Erschrecken vollziehe sich im Gewissen.41 Es senke sich ins menschliche Herz.42 Dann aber, wenn der Mensch ob seiner Sünden zutiefst erschrocken ist, „so muß man sie wieder auf ihn schütten und das Gewissen ledig machen.“43 In diesem Moment sehe der Glaube das „freundlich Herz“ Christi, —————

36 Luther, Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 1, 354 (WA 2, 141, 35f). 37 Karl Holl trägt in seiner Bestimmung von Luthers Antwort auf „die Frage nach der Bedeutung des Ich in der Religion“ den neuzeitlichen Ich-Begriff in die Interpretation ein: Bei Luther „geht das Ich nicht […] unter; es bleibt als Bewußtseins- und Willensform erhalten, aber es erscheint zugleich eingespannt in den Gegensatz, den der Doppelsinn der Vergebung in sich schließt“ (Holl, Was verstand Luther unter Religion?, 81). 38 Luther, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, in: Luther deutsch, Bd. 2, 187 (WA 6, 514, 21f). 39 Ebeling, Lutherstudien, Bd. 2, 453. 40 Luther, Betrachtung des heiligen Leidens Christi, 351 (WA 2, 138, 16). 41 Vgl. ebd., 350, 352 u.ö. (WA 2, 137, 11; 139, 24.36–38). 42 Vgl. ebd., 351 (WA 2, 139, 1). 43 Ebd., 352f (WA 2, 139, 38).

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„wie voller Lieb das gegen dich ist, die ihn dazu zwingt das er dein Gewissen und dein Sünd so schwerlich trägt. Also wird dir das Herz gegen ihn süße und die Zuversicht des Glaubens gestärket.“44 Luther spricht an dieser Stelle davon, dass Christus das Gewissen des Glaubenden trägt. Sein Gewissensbegriff hat sich hier gegenüber der Tradition deutlich verändert. Nicht als Urteilsinstanz des Handelns kommt Gewissen in den Blick, sondern als eine das gesamte Leben tragende Grund-Gewissheit. In diesem Sinn stellt er auch die Verleihung eines guten Gewissens in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.45 Ja Luther kann sogar sagen: „Der Glaube ist nichts anderes als ein gutes Gewissen.“46 Genau dieses Gewissen, das von Christus getragen, von der Sünde befreit und so zu einem guten Gewissen geworden ist, stellt die neue Selbstgewissheit des Menschen dar, die als Glaubensgewissheit eine gewissmachende Gewissheit sei.47 Diese Gewissheit des Glaubens ist für Luther kein anthropologischer „Besitz“, sondern beruht auf Gottes gewissmachendem Handeln. Sie gründe in einer Verwandlung des Herzens, die sich der Begegnung mit dem Evangelium Jesu Christi verdanke. Indem Luther die Objektivität dieses Heilsgeschehens herausarbeitet, hat er zugleich auch dessen subjektive Dimensionen zur Geltung gebracht: die Bestimmtheit und Verwandlung der menschlichen Selbstgewissheit durch die Begegnung mit dem gewissmachenden Evangelium.48 (3) „Gewissheit“ ist – in ganz anderer Weise – auch das zentrale Thema von René Descartes. Sein philosophischer Neueinsatz steht im Zeichen der Suche nach einer unbezweifelbaren Gewissheit der Erkenntnis. Deshalb macht er sich das Prinzip „de omnibus dubitandum“ zu eigen und will nur das als gewiss akzeptieren, „was sich so klar und so distinkt meinem Geist darbieten würde, daß ich keine Veranlassung haben würde, es in Zweifel zu ziehen“.49 Aber womit er sich auch beschäftigt: stets mache er die erschreckende Erfahrung brüchiger Gewissheiten. Ein Strudel des Zweifelns und Immer-Noch-Weiter-Zweifelns habe ihn erfasst. So erweisen sich nicht nur die Sinneswahrnehmungen als unzuverlässig. Auch Wachen und Träumen könne er nicht mit letzter Sicherheit unterscheiden. Selbst die mathematischen Gesetzmäßigkeiten könnten sich als irrig herausstellen. Ja nicht einmal der Gedanke der Güte Gottes könne diesem Strudel Einhalt gebieten. Immerhin könnte auch „ein ebenso böser wie mächtiger und listiger Geist ————— 44

Ebd., 353 (WA 2, 140, 33–35). Ebeling, Lutherstudien, Bd. 2, 464. 46 Luther, Vorlesung über 1Joh., WA 20, 718, Z. 19f: „fides nihil aliud est quam bona conscientia“; vgl. dazu Ebeling, ebd., 464f. 47 Vgl. Ebeling, ebd., 468. 48 Vgl. Herms, Luthers Auslegung des Dritten Artikels, 74–77; ders., Gnade, in: ders., Offenbarung und Glaube, 14f. 49 Descartes, Abhandlung über die Methode, 20. 45

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all sein Bestreben darauf“ richten, „mich zu täuschen“.50 In diesem Moment gerate alles ins Schwanken. Die Wirklichkeit scheint sich als Fratze der Täuschung zu entpuppen. Aber genau an dieser tiefsten Stelle findet Descartes den Wendepunkt. In der Erfahrung tiefsten Zweifels erschließt sich ihm eine untrügliche und unbezweifelbare Gewissheit: Wie immer auch der verschlagene Geist ihn täuscht, so wird Descartes klar, ist es doch zugleich unzweifelhaft, dass ich bin: „mag er mich nun täuschen, soviel er kann, so wird er doch nie bewirken können, daß ich nicht sei, solange ich denke, ich sei etwas“.51 Descartes fasst diese Einsicht in den bekannten Satz: „ich denke, also bin ich“.52 In der Erfahrung radikalen Zweifels hat sich ihm erschlossen, dass doch der Zweifel selbst keineswegs ungewiss, sondern bedrückend gewiss ist. Das Ich wird deshalb im radikalen Zweifel auf paradoxe Weise seiner selbst gewiss. Descartes’ Meditationen wirken auf den ersten Blick stark intellektualistisch. Bei genauerer Betrachtung wird an ihnen aber – ähnlich wie bei Meister Eckhart – deutlich, dass der Intellekt auf das Ich als eine ihm vorgegebene Wirklichkeit stößt. Auf dem Weg, den das Denken beschreitet, erschließt sich ihm das Ich als unmittelbare Selbstgewissheit. Dennoch ist eine intellektualistische Färbung unübersehbar. Obwohl Descartes mehrfach in nominalisierter Form von diesem Ich53 spricht, ist das Ich für ihn eine Substanz,54 die er mit der Seele identifiziert. Es ist für ihn eine „res cogitans“, „ein denkendes Ding“.55 Vielfach identifiziert Descartes das Ich mit dem Denken.56 Seine Ich-Theorie bleibt substantialistisch und intellektualistisch. (4) Der Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts, anders gesagt: die Epoche zwischen Descartes und Kant ist für die weitere Klärung und Vertiefung des Ich-Themas von besonderer Bedeutung gewesen. In dieser Zeit werden zentrale Begriffe geprägt oder erfahren ihre für die Folgezeit spezifische Prägung. Insbesondere Kants Kritizismus markiert dann die ent————— 50

Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, 73. Ebd., 79. 52 Descartes, Abhandlung über die Methode, 31. 53 Vgl. Descartes, Discours de la Méthode, 33 „En sorte que ce moi, c'est-à-dire l'âme par laquelle je suis ce que je suis, est entièrement distincte du corps“, dt.: Abhandlung über die Methode, 31: „Es ist demanch dieses Ich, d.h. die Seele, durch die ich bin, was ich bin, von meinem Körper gänzlich verschieden“; ähnlich: ders., Meditationes de Prima Philosohia / Meditationen über die Erste Philosophie, 84: „quaero quis sim ego ille quem novi“, dt. 84: „ich frage mich, was dieser Ich sei, den ich kenne“ [Hervorhebung von mir; U. L]. 54 Vgl. Descartes, Abhandlung über die Methode, 31. 55 Vgl. den lat. Text in: Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, 86, dt., 87. 56 Vgl. Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, 82: „cogitatio est; haec sola a me divelli nequit. Ego sum, ego existo; certum est“, dt. 83: „das Denken […] ist es; es allein kann von mir nicht abgetrennt werden; Ich bin, Ich existiere, das ist gewiß“. 51

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scheidenden Vorgaben, Herausforderungen und offenen Fragen, an denen sich die späteren Theorien der Subjektivität abgearbeitet haben. So hat der Begriff des „Subjekts“ in diesem Zeitraum einen geradezu diametralen Bedeutungswechsel erlebt. In der Antike war „subiectum“ zunächst nichts anderes als die Übersetzung des griechischen Begriffs „WBRQMGKOGPQP“,57 womit entweder eine Substanz, ein grammatisches Subjekt oder der Gegenstand einer wissenschaftlichen Beschäftigung bezeichnet worden ist.58 Noch Descartes verwendete „subiectum“ im Sinne einer Substanz.59 Erst bei Leibniz vollzieht sich dann der für die weitere Begriffsgeschichte entscheidende Wechsel, der von Kant dadurch vollendet wird, dass er Subjekt und Substanz endgültig von einander trennt und unter dem transzendentalen Subjekt allein die Form des Denkens60 versteht, durch die die Einheit der Gegenstandserkenntnis wie auch der inneren Erfahrung konstituiert wird. Auch der Begriff des „Selbstbewusstseins“ hat im 17. und 18. Jahrhundert seine entscheidende Prägung erfahren. Erste Belege finden sich bei Spinoza und Leibniz, die beide den Terminus „conscientia sui“ kennen.61 Eine prägende Rolle erhält die „self conscioussness“ in der englischen Philosophie des späten 17. Jahrhunderts. Doch erst Kant hat dem „Selbstbewusstsein“ die für seinen anschließenden Siegeszug zentrale Bedeutung eingeschrieben. In der „transzendentalen Analytik“ der „Kritik der reinen Vernunft“ firmieren das „Ich“ und das „Selbstbewusstsein“ als einander weitgehend entsprechende Begriffe. Mit ihnen bezeichnet Kant die synthetisierende Leistung des Ichs im Zusammenhang der transzendentalen Apperzeption. Diese bestehe darin, dass die Mannigfaltigkeit von Empfindungen auf das sie durchgängig begleitende „Ich denke“ zurückbezogen und dadurch die Einheit der Erfahrung konstituiert wird. Kant nennt diese „ursprüngliche Apperzeption“ „dasjenige Selbstbewußtsein […], was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann.“62 Die durch sie konstituierte Einheit bezeichnet er als „die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins“.63 Das „Subjekt“, das „Selbstbewusstsein“ und das „Ich“ werden von Kant nicht mehr als Substanz, sondern als das formale, synthetische Vermögen ————— 57

Hypokeimenon, dt.: Grundlage, Voraussetzung, Substrat, Gegenstand einer Behandlung, grammatisches Subjekt. Vgl. Benselers griechisch-deutsches Schulwörterbuch, 945. 58 Vgl. Kible, Art. Subjekt, 373. 59 Vgl. ebd., 379. 60 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke Bd. 4, 349 Anm. (B 411). 61 Dt. Selbstbewusstsein; vgl. Jaeschke, Art.: Selbstbewusstsein, 353. 62 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke 3, 136 (B 133). 63 Ebd.

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des Bewusstseins aufgefasst, durch das die Einheit der Erfahrung konstituiert wird. Als transzendentale Leistungen seien sie selbst nicht Gegenstand der Erkenntnis sondern lägen jeder Erfahrung als deren Ermöglichungsgrund und Einheitshorizont voraus. Der Begriff „Subjektivität“ selbst spielt bei Kant noch keine Rolle. Er ist erst in den späten 80er Jahren des 18. Jahrhundert in der zeitgenössischen Diskussion um Kants Kritizismus entstanden. In der polemischen Auseinandersetzung mit der eben erläuterten Funktion des transzendentalen Subjekts bei der Entstehung von Gegenstandserkenntnis, diente der Begriff „Subjektivität“ zur Bekräftigung des Vorwurfes, dass letztlich alles subjektiv sei, einschließlich der Subjekte selbst.64 Wenige Jahre später bereits wurde er seines ursprünglichen Entstehungszusammenhangs entkleidet und gewann eine breitere Bedeutung. Johann Gottlieb Fichte nennt bereits 1795 die „Subjektivität“ als den einheitlichen Grundsatz, von dem eine Wissenschaftslehre auszugehen habe.65 Hegel führt später in seinem philosophischen System die Idee des Absoluten als absolute Idee einer Selbstbewegung reiner Subjektivität aus.66 Binnen weniger Jahre hatte sich damit „Subjektivität“ von einem polemischen zu einem fundamentalen philosophischen Begriff entwickelt. (5) Kants Theorie des Selbstbewusstseins hat der Philosophie nicht nur eine große Leistung sondern auch offene Fragen hinterlassen. Dazu gehört das merkwürdige Paradox des Selbstbewusstseins, das sich der Erkenntnis regelmäßig dann entzieht, wenn man sich ihm zuwendet. Da es als reine Form des Denkens aufgefasst wird, die in keiner Anschauung gegeben ist, kann der Rückbezug des Ichs auf sich selbst zu keiner Erkenntnis von sich selbst führen.67 Das Selbstbewusstsein, mit dem Kant das Problem der Erkenntnistheorie zu lösen versucht, erweist sich selbst als ein Problem. Es ist das Paradox einer unerkennbaren Erkenntnisgrundlage. Kant ist auf diese Schwierigkeit selbst aufmerksam geworden. Er nennt das transzendentale Subjekt „eine an Inhalt gänzlich leere Vorstellung […], welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns ————— 64

Vgl. Clairmont, Art.: Subjektivität, 457f; Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 20, 814f. Fichte, Brief an Carl Leonhard Reinhold vom 28.04.1795, zit. nach Clairmont, Art.: Subjektivität, 459. 66 Von der negativen Beziehung auf sich selbst als dem innersten Quell aller geistigen Selbstbewegung schreibt er: „auf dieser Subjektivität allein ruht das Aufheben des Gegensatzes zwischen Begriff und Realität und die Einheit, welche die Wahrheit ist“ (Hegel, Wissenschaft der Logik, Werke 6, 563). 67 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 151 (B 155): „Wie aber das Ich, der ich denke, von dem Ich, das sich selbst anschauet, unterschieden […] und doch mit diesem letzteren als dasselbe Subjekt einerlei sei, […] hat nicht mehr auch nicht weniger Schwierigkeit bei sich, als wie ich mir selbst überhaupt ein Objekt und zwar der Anschauung und innerer Wahrnehmungen sein könne.“ 65

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daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen“.68 Kein Wunder, dass angesichts solcher ungelöster Fragen die auf Kant folgende Philosophengeneration vom Thema der Subjektivität weiter in Atem gehalten worden ist. (6) Über Kant hinaus haben erst die Ich-Konzeptionen der idealistischen und der romantischen Epoche geführt. Johann Gottlieb Fichtes mehrfache Anläufe zur Ausarbeitung seiner „Wissenschaftslehre“ lassen sich als fortwährende Bemühung verstehen, der Selbstbewusstseinstheorie Stringenz zu verleihen. Im „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ aus dem Jahr 1797 lädt Fichte zu einer Selbsterkundungsreise ein, die für den Leser unter der Aufgabe steht: „dir eigentlich und innigst bewusst zu werden, wie du verfährst, wenn du denkst: Ich“.69 Interessanterweise komme das Ich, wenn es sich selbst denkt, zwei Mal vor, nämlich als denkendes und als gedachtes Ich.70 Einmal handelnd und damit aktiv; im anderen Fall passiv. Fichte wird daran klar, dass die Subjektivität auf dem Wege der Reflexion, d.h. auf dem Weg der Selbstbezüglichkeit des Denkens, nicht erklärt werden kann. Denn immer dann, wenn das Ich sich selbst als Objekt zu denken versuche, nehme es sich dabei als handelndes Subjekt schon in Anspruch. Das gedachte Ich setze stets ein denkendes Ich voraus. Da auf diese Weise ein endloser Weg des Begründens entstünde, werde klar: Subjektivität kann selbstreflexiv nicht ausreichend einsichtig gemacht werden. Dennoch wisse das Subjekt von sich. Auf dem Weg der Selbstreflexion könne dieses Wissen, wie ausgeführt, aber nicht entstanden sein. Deshalb bleibt für Fichte nur eine Alternative: „ich wusste es unmittelbar“,71. d.h. vor aller denkerischen Selbstvergewisserung. Weil dieses Wissen nicht reflexiv zu Stande komme, ordnet er ihm eine eigene Erkenntnisform zu, die intellektuelle Anschauung. Sie sei mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein identisch. „Ich bin diese Anschauung und schlechthin nichts weiter, und diese Anschauung selbst ist Ich.“72 In ihr bildeten das Subjektive und das Objektive eine Einheit, ja Fichte kann das Ich ein „Subject-Object“73 nennen. Das unmittelbare Selbstbewusstsein bilde daher die Grundlage für jedes andere Wissen, weil es nur jemandes Wissen werden könne, wenn ————— 68

Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke Bd. 4, 344 (A 345f/ B 404). Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, Bd. 1, 1971, 522. 70 Vgl. Fichte, ebd., 522: „Indem du deinen Tisch […] dachtest, warest du […] in diesem Denken dir selbst das Denkende: aber das Gedachte war dir nicht du selbst, sondern etwas von dir zu unterscheidendes […] Indem du aber dich denkst, bist du dir nicht nur das Denkende, sondern zugleich auch das Gedachte“. 71 Ebd., 527. 72 Ebd., 529. 73 Ebd. 69

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dabei dessen Selbstwissen vorausgesetzt werde. „Alles andere Bewusstseyn wird an dieses [das unmittelbare Bewusstsein; U.L.] angeknüpft und durch dasselbe vermittelt; wird lediglich durch die Verknüpfung damit zu einem Bewusstseyn“.74 Fichte hat mit aller Klarheit das präreflexive, unmittelbare Selbstbewusstsein als Kern von Subjektivität und Bedingung jedes gegenständlichen Bewusstseins herausgearbeitet und damit deutlich gemacht: jedem Wissen liegt eine nichtgegenständliche, nichtreflexive Anschauung zu Grunde. Sie beruht auf einer ursprünglichen, allen Denkoperationen vorausgehenden Vertrautheit des Ich mit sich selbst. Allerdings bleibt Fichtes Konzept darin zweideutig, dass er dieses Ich verabsolutiert und selbst zu einer Gottheit macht. Davon zeugt der erste Grundsatz der Wissenschaftslehre von 1794: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Seyn.“75 Darüber hinaus gibt Fichte dem unmittelbaren Selbstbewusstsein – wie die Tradition vor ihm – eine kognitive Färbung: „die Intelligenz schaut sich selbst an, bloss als Intelligenz oder als reine Intelligenz“.76 Fichte hat mit seiner „Wissenschaftslehre“ der Selbst-Verständigung über Subjektivität zahlreiche neue Aspekte hinzugefügt: die Einsicht in die Aporie des reflektierenden Selbstbewusstseins nicht weniger als die Herausarbeitung des unmittelbaren Selbstbewusstseins als der Grundierung von Subjektivität. Die These von der Selbst-Setzung des „Ich“ stellt darüber hinaus bereits einen ersten Lösungsvorschlag für das aporetische Problem der Subjektivität dar, der allerdings nicht unwidersprochen geblieben ist. In der Periode rasch auf einander folgender Systemwechsel am Beginn des 19. Jahrhunderts traten vielmehr weitere Entwürfe mit dem Anspruch auf, das Problem der Subjektivität angemessener darzustellen. Diejenigen von Hegel und Schleiermacher interessieren mich in diesem Zusammenhang besonders. (7) Anders als Fichte, der das Ich in einem Akt der ursprünglichen Selbst-Setzung gegründet sieht, zeichnet es Hegel als ein sich entwickelndes und intersubjektiv öffnendes. Seine „Phänomenologie des Geistes“77 hebt mit dem Ich in seiner abstrakten Einzelheit an. Es sei die erste Stufe seines Erscheinens, die Hegel das Bewusstsein nennt. Auf ihr beziehe sich das Ich auf sich selbst und schließe damit zugleich alles das aus, was es nicht ist. Darin bleibe es allerdings zugleich auf das bezogen, was es ausschließe. Die ————— 74

Ebd., 528f. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: ebd., 98. 76 Fichte, Versuch einer neuen Darstellung, ebd., 530. 77 Damit meine ich die inhaltliche Darstellung der Erscheinungs- und Entwicklungsgeschichte des Geistes, wie sie Hegel nicht nur in seinem gleichnamigen Buch (Hegel, Werke, Bd. 3), sondern auch im dritten Band seiner „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (Werke, Bd. 10, 199–229) gegeben hat. Vgl. die instruktive Darstellung bei Hösle, Hegels System, Bd. 2, 365–385. 75

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Beziehung zwischen dem Ich und dem, was es ausschließt, bleibe im reinen Selbstbezug die eines Widerspruchs. „Das Bewußtsein ist daher, wie das Verhältnis überhaupt, der Widerspruch der Selbständigkeit beider Seiten und ihrer Identität, in welcher sie aufgehoben sind.“78 Die Klärung dieses zunächst abstrakt negativen Verhältnisses mache deshalb die Aufgabe des Ich auf den weiteren Stufen seiner Entwicklung aus. Dies sind auf der Ebene des Bewusstseins zunächst die Dimensionen des sinnlichen Bewusstseins, der Wahrnehmung und des Verstandes. Jetzt werde klar, dass das Ich einen Gegenstand hat, der von ihm selbst nicht unterschieden und deshalb als Selbstbewusstsein zu charakterisieren sei.79 Damit erhebt sich die Phänomenologie auf ihre nächste Ebene. Hegel eröffnet die Darstellung dieses Entwicklungsabschnittes mit einer Charakterisierung des Selbstbewusstseins: „Die Wahrheit des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein und dieses der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtsein eines anderen Gegenstandes Selbstbewußtsein ist; ich weiß von dem Gegenstande als dem meinigen (er ist meine Vorstellung), ich weiß daher darin von mir.“80 Erneut entwickle sich das Ich im Durchgang durch drei konkrete Phänomenbereiche. Dabei handelt es sich um die Begierde, das anerkennende Selbstbewusstsein und das allgemeine Selbstbewusstsein. Die Beziehung zwischen dem Ich und seinem Anderen strebe in der Gestalt der Begierde zur Assimilation und schließlich zur Zerstörung des Gegenstandes, der dem Ich keinen Widerstand entgegensetzen kann. „Das Produkt dieses Prozesses ist, daß Ich sich mit sich selbst zusammenschließt und hierdurch für sich befriedigt, Wirkliches ist.“81 Indem das Ich allerdings den selbstständigen Gegenstand in der Begierde aufhebe, verändere es wiederum sich selbst. Es hebe seine eigene Unmittelbarkeit auf und setze sich „mit der Bestimmung des Andersseins gegen sich selber“. In der Begierde hebe das Ich nicht nur seine eigene Unmittelbarkeit und seinen Gegenstand auf; es verdoppele sich zugleich, indem es „das Andere mit dem Ich erfüllt“ und dadurch „sich als ein unterschiedenes Ich sich selber“82 gegenüberstelle. Damit ist eine erste intersubjektive Beziehung hergestellt, die des anerkennenden Selbstbewusstseins. Da sich aber das Ich im Anderen zuerst nur als Anderes wahrnehme, bedürfe es eines Prozesses der Anerkennung, bis es schließlich dazu komme, dass sich das Ich im Anderen seiner selbst bewusst werde. Hegel beschreibt diesen Prozess zunächst als Kampf um Leben und Tod, durch den ein Ich erzwingen wolle, vom anderen anerkannt ————— 78 79 80 81 82

Hegel, Enzyklopädie III, Werke 10, 201 (§ 414). Vgl. ebd., 212 (§ 423). Ebd., 213 (§ 424). Ebd., 217 (§ 428). Ebd., 219 (§ 429).

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zu werden. Allerdings wäre der Tod des Einen kein Anerkennungsverhältnis und insofern „ein neuer Widerspruch, und der höhere als der erste“.83 Auch ein Kampf um Herrschaft und Knechtschaft führe das Problem der Anerkennung zu keinem befriedigenden Ergebnis, da sie zu dem paradoxen Ergebnis führt, dass der Herr auf der Ebene der unmittelbaren Begierde verbleibt. Der Knecht dagegen „arbeitet sich im Dienste des Herrn seinen Einzel- und Eigenwillen ab, hebt die innere Unmittelbarkeit der Begierde auf und macht in dieser Entäußerung und der Furcht des Herrn den Anfang der Weisheit, – den Übergang zum allgemeinen Selbstbewußtsein.“84 Erst das allgemeine Selbstbewusstsein bringe ein Anerkennungsverhältnis hervor, durch das sich das Ich in seinem Anderen erkenne, anerkenne und seinerseits anerkannt werde. Ein Verhältnis intersubjektiver Anerkennung. Das Ich stelle sich jetzt nicht mehr als einzelnes und einsames dar, sondern als „Inbegriff von mehreren Subjekten, die einerseits selbständig und für sich sind, andererseits gerade als solche durchgängig auf das jeweils andere bezogen sind und mit ihm eine Einheit bilden. Entscheidend ist, dass sie nur durch diesen Bezug, durch die wechselseitige Anerkennung als freier selbst frei werden“.85 Das Ich sei in einen Zustand allgemeiner Freiheit eingetreten, der durch wechselseitige Anerkennungsverhältnisse geprägt sei: im Bezug auf den Anderen beziehe es sich auf sich selbst und vice versa. Dadurch habe das Ich auf dieser Stufe eine Identität der Subjektivität und der Objektivität hergestellt, die wiederum den Charakter einer Allgemeinheit habe. Von hier aus ergibt sich für Hegel dann auch der Überschritt zur Philosophie des Geistes. Obwohl Hegels Selbstbewusstseinstheorie den Mantel der Subjekt-ObjektPhilosophie noch nicht abstreifen kann,86 besteht ihre nach wie vor anhaltende Wirkung nicht zuletzt darin, den Anstoß zu einer Reihe von vertieften und differenzierten Theorien der Intersubjektivität gegeben zu haben. In ihnen wird die vermeintliche Selbständigkeit eines einsamen, denkenden Ich durch Interaktionsprozesse zwischen Ich und Du verflüssigt. Darüber hinaus gibt Hegel damit auch eine eigene Antwort auf die von Fichte verdeutlichte Aporie des Selbstbewusstseins. Er antwortet auf sie nicht mit einer Gründungs-, sondern mit einer Entwicklungsgeschichte. Die Lösung des Problems der Subjektivität besteht für ihn nicht im Rückgang auf ein unmittelbares Selbstbewusstsein, sondern im Fortschritt zu einem durchgängig vermittelten. Indem sich das Ich aus Vermittlungsverhältnissen empfange, erweise sich die Suche nach einem Gründungsverhältnis als unnötig. ————— 83 84 85 86

Ebd., 221 (§ 432). Ebd., 224 (§ 435). Hösle, Hegels System, Bd. 2, 378f. Darauf bezieht sich bspw. Hösles Kritik, ebd., 379f.

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(8) Zeitgleich und parallel zu Hegel haben andere Philosophen und Theologen die von Fichte ausgehenden Impulse in einer wiederum selbstständigen Weise aufgenommen und weitergeführt. Es ist insbesondere die romantische Bewegung gewesen, die besonders gegenüber der kognitiven Grundierung der Selbstbewusstseinstheorie andere Akzente gesetzt hat. Dafür sind schon Novalis’ Fichte-Studien von 1795 instruktiv. Novalis ist darauf aufmerksam geworden, dass die ursprüngliche Vertrautheit des Ich mit sich selbst nicht Inhalt eines Wissens, sondern eines Gefühls ist. „Was ich nicht weis, aber fühle / das Ich fühlt sich selbst. als Gehalt / glaube ich“.87 In diesem Selbstgefühl werde dem Subjekt zugleich gewiss, dass es sich nicht selbst setze sondern vielmehr empfange. „Geseztseyn durch ein Nichtsetzen – ist reines Gefühl“.88 Beides ist offenbar miteinander verknüpft: einerseits macht Novalis deutlich, dass die ursprüngliche Vertrautheit des Ich mit sich selbst kein Wissen, sondern ein Gefühl ist – andererseits klärt sich damit, dass das Ich nicht absolut, sondern endlich und empfangend ist. „Hieraus sehn wir beyläufig, daß Ich im Grunde nichts ist – Es muß ihm alles Gegeben werden“.89 Statt Absolutheit und Aktivität sei das Ich durch Endlichkeit und Empfänglichkeit gekennzeichnet. Manfred Frank hat die Ideengeschichte für den Paradigmenwechsel vom Selbstwissen zum Selbstgefühl in beeindruckender Materialfülle nachgezeichnet.90 Wie er gezeigt hat, war es im 18. Jahrhundert eine weit verbreitete Überzeugung, dass das „Gefühl – als ein Modus der Erfahrung – […] das Organ der Auffassung von Wirklichkeit“91 sei. Selbst Kant habe dem Selbstgefühl eine unzweifelhafte Gewissheit zugeschrieben: „Das Erste, was ganz gewiß ist, ist das: daß ich bin; ich fühle mich selbst, ich weiß gewiß, daß ich bin.“92 Insbesondere Friedrich Heinrich Jacobi habe später dem „Ausdruck ‚Gefühl‘ zur Doppelbezeichnung der Existenzabhängigkeit und der präkognitiven Kenntnis unserer selbst terminologisch zum Durchbruch“93 verholfen. Von Jacobi haben Novalis, Friedrich Schlegel und später Friedrich Schleiermacher die Einsicht in die grundlegende Bedeutung des Gefühls für das Selbst-Verständnis rezipiert.94 In Schleiermachers Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins laufen ————— 87

Novalis, Fichte-Studien, NS II, 105, zit. nach: Frank, Selbstgefühl, 8. Ebd., 125, zit. nach: Frank, Selbstgefühl, 36. 89 Ebd., 273, zit. nach: Frank, Selbstgefühl, 9. 90 Frank, Selbstgefühl. 91 Frank, ebd., 41 92 Kant, AA XXVIII/1, 206, Z. 3f, zitiert nach Frank, ebd. 93 Frank, ebd., 79. Der Begriff „Selbstgefühl“ ist Franks umfangreicher Recherche zufolge zuerst von Johann Bernhard Basedow im Jahr 1764 als Übersetzung des englischen Ausdrucks „inner sense“ eingeführt worden (vgl. Frank, ebd., 101). 94 Vgl. ebd., 79 und 190f. 88

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rie des unmittelbaren Selbstbewusstseins laufen später die Fäden der romantischen Ich-Konzeptionen zusammen.95 (9) Ähnlich wie Fichte in seinem „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ baut Schleiermacher sein Konzept im vierten Paragraphen der Glaubenslehre von 1831 als Meditation über das Ich auf. In jedem Selbstbewusstsein, so Schleiermacher, seien zwei Elemente enthalten, ein „Sichselbstsetzen und ein Sichselbstnichtsogesetzthaben, oder ein Sein, und ein Irgendwiegewordensein“.96 Diese zwei Selbst-Erfahrungen entsprechen dem grundlegenden anthropologischen Vermögen zur Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Den zahlreichen und unterschiedlich ausgeprägten Erfahrungen, in denen sich das Subjekt als selbsttätig oder empfänglich erlebe, entspreche jeweils ein (unterschiedlich stark ausgeprägtes) Gefühl: das Gefühl der Freiheit auf der einen Seite, ein Abhängigkeitsgefühl auf der anderen. Im Selbstbewusstsein stünden stets beide Gefühle in einem Wechselverhältnis, das sich nach keiner Seite hin auflösen lasse. Vielmehr deute die Unreduzierbarkeit beider Momente auf die unhintergehbare Relationalität, in der das Subjekt zu seiner Umwelt stehe. Schleiermacher kann deshalb das aus dem Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl „zusammengesetzte Gesamtselbstbewußtsein das der Wechselwirkung des Subjekts mit dem mitgesetzten Anderen“97 nennen. Allerdings können aus eben diesem Umstand heraus weder das Freiheits- noch das Abhängigkeitsgefühl den Grund und die Einheit des Selbstbewusstseins repräsentieren. Vielmehr müssten beide von einem noch grundlegenderen Gefühl getragen und umfasst werden. Dieses lasse sich nur als das Gefühl einer schlechthinnigen Abhängigkeit einsichtig machen. Schleiermacher steigert damit aber keineswegs das endliche Abhängigkeitsgefühl ins Absolute, so wie es Hegels spöttische Bemerkung unterstellt, nach der ein „Hund der beste Christ“ sei, weil er dieses Gefühl „am stärksten in sich“98 trage. Vielmehr nimmt Schleiermacher das Gefühl der Freiheit zum Ausgangspunkt und Gegenstand, um das Selbstbewusstsein auf seine Einheit und seinen Grund hin durchsichtig zu machen. Denn im Freiheitsgefühl ist doch, so argumentiert er, zugleich das Bewusstsein mitgesetzt, dass diese Freiheit nicht vom Subjekt selbst hervorgebracht, sondern ihm vorgegeben sei. Jederzeit sei uns bewusst, dass wir unsere Freiheitssielräume zwar vergrößern können, dass wir aber die Bedingung der Möglichkeit dafür, frei zu handeln, nicht selbst produziert hätten. Es sei also gerade nicht so, dass das Ich sein eigenes Sein setze. Sondern es sei von woanders her gesetzt. Diese Gewissheit sei dem Selbst————— 95 Vgl. ebd., 194: „Kein Denker des romantischen Zeitalters führt die mit Namen wie Jacobi, Heydenreich oder Tetens markierten Traditionsstränge so zusammen wie Schleiermacher.“ 96 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 24 (§ 4,1). 97 Ebd., 26 (§ 4,2). 98 Hegel, Vorrede zu Hinrichs’ Religionsphilosophie, in: ders., Werke, Bd. 11, 58.

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bewusstsein als das Gefühl „schlechthinniger Abhängigkeit“ präsent. Sie sei „das Bewusstsein, daß unsere ganze Selbsttätigkeit ebenso von anderwärts her ist, wie dasjenige ganz von uns her sein müsste, in Bezug worauf wir ein schlechthinniges Freiheitsgefühl haben sollten“.99 Es gebe einen Grund für das Selbst, für das aktive denkende Ich, für unsere Freiheit – einen Grund, der außerhalb unserer selbst liege. Das ist der systematische Ort in Schleiermachers Subjektivitätstheorie, an der Gott als das im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit Mitgesetzte und damit als der Grund für die dem Menschen gegebene Freiheit einsichtig gemacht wird. Schleiermacher erläutert dies mit dem Hinweis, „daß eben das in diesem Selbstbewusstsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll, und dieses für uns die wahrhaft ursprüngliche Bedeutung desselben ist.“100 Schleiermachers Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins kommt m.E. aus mehreren Gründen eine hohe Bedeutung für die theologische und philosophische Anthropologie zu. Sie besitzt erstens eine hohe Evidenz, weil ihr Autor es versteht, seine Leserinnen auf eine Meditationsreise dahin mitzunehmen, verstehen zu lernen, was die Subjektivität „im Innersten zusammenhält“ und trägt. Sie kann zweitens einsichtig machen, in welchen qualitativ verschiedenen Beziehungen Menschen ihr Leben leben: einerseits in einer Relation der Wechselseitigkeit zu anderen Subjekten und der übrigen Umwelt, andererseits aus einer Beziehung der Abhängigkeit in Bezug auf das Gegebensein des eigenen Lebens und der Freiheit. Im ersten Fall Beziehungen interdependenter Aktivität und Passivität; im letzteren eine Beziehung grundlegender Passivität. Schleiermacher macht damit philosophischtheologisch einsichtig, was ein Kennzeichen protestantischer Anthropologie darstellt: den Menschen als beziehungsreiches Wesen zu verstehen. Schließlich aber wird an seinem Konzept drittens deutlich, dass Subjektivität weder aus einer grundlegenden Aktivität heraus besteht noch, dass sie primär eine kognitive Struktur hat. Die eigene Existenz und ihre tragenden Beziehungen erschließen sich vielmehr in einem Gefühl, das präreflexiver Art ist. Im unmittelbaren Selbstbewusstsein wird dem Menschen seine Existenz in ihrer passiven Vorgegebenheit und in ihrer Bezogenheit auf ihre Umwelt gewiss. Die reflexive Durchdringung dieses Gefühls macht dem Verstand einsichtig, was schon vor aller denkerischen Arbeit bestanden hat. In Schleiermachers Subjektivitätstheorie lassen sich demnach folgende Dimensionen unterscheiden. (1) Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ist die präreflexive Gewissheit von der Vorgegebenheit der endlichen Freiheit für diese selbst. Es repräsentiert die Grund-Erfahrung, die zugleich die ————— 99

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Schleiermacher, a.a.O, 28 (§ 4, 3). Ebd., 28f (§ 4, 4).

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Einheit der Subjektivität konstituiert: alle noch so unterschiedlichen Aktivitäts- oder Passivitätserfahrungen setzen doch stets diese grund-legende Gewissheitserfahrung voraus. (2) Auf diesem Grund-Gefühl ruhen die Gefühle endlicher Freiheit und Abhängigkeit auf, die Gefühle von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Hierher gehören Empfindungen und Stimmungen, Aktivitäts- und Passivitätserfahrungen. (3) Erst auf der dritten Ebene setzt die Reflexion ein. Sie ruht auf der emotiven Grundstruktur der Subjektivität auf. Subjektivität wäre nach Schleiermacher die Einheit und das Wechselspiel dieser drei Ebenen, keineswegs nur der intellektuelle Akt. Die „Entdeckung des Ichs“ hat sich über Jahrhunderte hin vollzogen. In den fünfzig Jahren zwischen Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und Schleiermachers „Glaubenslehre“ hat diese Entdeckungsgeschichte eine besonders kraftvolle Dynamik erfahren. Die zahlreichen unterschiedlichen Dokumente dieser intensivierten Selbst-Verständigung machen etwas Überraschendes deutlich: die „Nuss“, die es am Ich zu knacken galt, war nicht das SelbstBewusstsein im Sinn einer reflexiven Kenntnis des Ich von sich selbst. Die „harte Nuss“ war vielmehr die präreflexive Tiefenschicht des Subjekts und deren Gründungszusammenhang. Von Meister Eckhart bis Fichte und Schleiermacher hat sich die Selbst-Erkundung mit den Strukturen befasst, auf denen das Selbst-Wissen gründet. Viele Antworten haben dabei – ohne dass in jedem Fall der Begriff hat genannt werden müssen – auf die Dimension eines unmittelbaren Selbstbewusstseins abgehoben. An den Konzepten der beiden gegensätzlichen Protagonisten Fichte und Schleiermacher wird dabei das Antwortspektrum deutlich: während bei Fichte das Ich für sich selbst zum Grund und insofern verabsolutiert wird, denkt es Schleiermacher als extern gegründet und insofern – buchstäblich – relativiert. Schleiermachers theologische Theorie der Subjektivität macht damit deutlich, dass das Selbstbewusstsein keine ontologische Priorität hat und mithin nicht als Grund des Seienden in Betracht kommt. Mit ihm wird lediglich der Ort in den Blick genommen, an dem sich der Glaube, die das individuelle Leben tragende Gewissheit, erschließt. Mit dem Subjekt wird kein Begründungs-, sondern ein Erschließungszusammenhang reflektiert.

3.3 Umstrittenes Ich. Subjektivität im Diskurs der Theologie der Gegenwart Schleiermachers Theologie hat Epoche gemacht. Selbst Karl Barth stimmte dem Diktum zu, das Schleiermacher als den Kirchenvater des 19. Jahrhunderts bezeichnet hat.101 Mit der theologischen Intervention seiner „Theolo————— 101

Vgl. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 379.

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gie der Krise“ hat Barth allerdings zugleich alles daran zu setzen versucht, dass Schleiermacher nur der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts bleiben sollte. „Ich halte Schleiermacher bei allem schuldigen Respekt vor der Genialität seines Lebenswerkes […] für keinen guten theologischen Lehrer, weil es bei ihm […] in der verhängnisvollen Weise unklar bleibt, dass der Mensch als Mensch sich in […] rettungsloser Not befindet, […] unklar darum auch, daß von Gott reden etwas Anderes heißt als in etwas erhöhtem Ton vom Menschen reden.“102 Der theologische Ansatz Schleiermachers war für die barthsche Wort-Gottes-Theologie deshalb geradezu die These, zu der sie selbst die Antithese bilden wollte. Barth hat Schleiermacher entgegengehalten, bei ihm habe „eine Dunkelheit Platz gegriffen“, bei der alles daraufhin deute, „dass hier der Mensch insofern allein auf dem Platz geblieben ist, als er allein hier Subjekt, Christus aber sein Prädikat geworden ist“.103 Es ist dieser konsequente Antisubjektivismus, der Barth 1934 auch zu seinem fulminanten „Nein!“ in der Auseinandersetzung mit Emil Brunner motiviert hat. Dessen Versuch, einen Anknüpfungspunkt für die christliche Verkündigung beim „natürlichen“ Menschen zu finden, konterte Barth mit seinem kategorischen „Nein!“: „Der Heilige Geist […] bedarf keines Anknüpfungspunktes als dessen, den er selber setzt.“104 Angesichts der enormen Wirkung, die Barths Theologie bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgeübt hat, ist es nicht verwunderlich, dass Subjektivität über einen langen Zeitraum eher ein theologisches Randthema gewesen ist. Erst als sich die Theologie wieder stärker der Philosophie und den Sozialwissenschaften öffnete, kehrte auch das Thema der Subjektivität wieder auf das Forum der Theologie zurück. Auch heute ist es umstritten.105 Auch heute kursieren unterschiedliche Deutungen. Ich will im Folgenden drei theologische Positionen vorstellen. (1) „Nein!“ Karl Barth hat mit seiner Absage an die Suche nach anthropologischen Anknüpfungspunkten ein für die protestantische Theologie nicht untypisches „Unbehagen an der natürlichen Theologie“ auf den Punkt gebracht. Ohne den damaligen Rigorismus zu wiederholen, hat Ingolf U. Dalferth 60 Jahre nach Barth all denjenigen Versuchen sein „Nein!“ entgegengestellt, die in der menschlichen Subjektivität einen solchen Ausgangspunkt sehen. In einer breit angelegten Grundsatzkritik106 hat sich Dalferth ————— 102

Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, 164. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 424. 104 Barth, Nein!, 56. 105 Vgl. u.a. Dalferth/Stoellger (Hg.), Krisen der Subjektivität. 106 Dalferth ist in der gegenwärtigen protestantischen Theologie einer der wichtigsten Kritiker des Subjektivitätsparadigmas. Seine grundsätzliche Kritik hat er zunächst in „Subjektivität und Glaube“ (1994) entwickelt und später in „Die Wirklichkeit des Möglichen“ (2003, hier 336–430) ausgebaut. Der frühere Aufsatz ist in die spätere Fassung der Kritik eingegangen. Der von Dalferth 103

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vor allem mit dem begründungstheoretischen Konzept des Selbstbewusstseins beschäftigt und dabei die These entwickelt, dass Subjektivität als „Begründungskategorie […] theologisch weder notwendig noch brauchbar“ sei. „Brauchbar, aber nicht notwendig ist sie allenfalls als Aneignungskategorie, welche die individuelle Konkretion des Glaubens im je eigenen Leben auf den Begriff bringt.“ Allerdings könne diese Aneignung „theologisch […] besser mit anderen Kategorien zum Ausdruck gebracht werden“.107 Diese These wird von Dalferth in zwei Argumentationsgängen plausibel gemacht. In einer philosophischen revue de raison versucht er zu zeigen, dass der Anspruch des Subjektivitätsparadigmas bereits vor dem Forum der Vernunft unhaltbar ist. Mit einer theologischen Vergewisserung wird anschließend eine Alternative entwickelt, nach der sich ein angemessenes menschliches Selbstverständnis aus der Konfrontation mit Gottes Offenbarungshandeln ergibt. Beide Wege sollen kurz skizziert werden. Auf dem Weg seiner philosophischen Kritik des Subjektivitätsparadigmas knüpft Dalferth vor allem an sprachphilosophische Einwände108 an. Diese betonen, dass der Ausdruck „ich“ ein Indexwort sei, mit dem sich Sprecherinnen identifizieren nicht aber beschreiben lassen. Ebenso wie die Ausdrücke „hier“ oder „jetzt“ hätten Indexwörter eine „pragmatischperformative […] Funktion: Sie lokalisieren die Kommunikanten“.109 Sie seien der sprachliche Indikator des Kommunikationsortes.110 Mehr nicht. „Da das Indexwort ‚ich‘ […] in seiner pragmatisch-performativen Funktion durch die beiden Indexwörter ‚hier‘ und ‚jetzt‘ definiert werden kann (und umgekehrt), besagt eine Aussage wie ‚Ich habe Hunger‘ nicht mehr und nicht weniger als ‚hier, jetzt, Hunger‘“.111 Auf diesem Hintergrund, so Dalferth, gäbe es gar keine subjektiven Fakten sondern nur subjektive Aussagen. „Gibt es aber keine besonderen subjektiven Tatsachen, dann gibt es auch kein besonderes, durch sich aufgeworfenes Problem ihrer Selbstzuschreibung zu einem Ich, und folglich benötigen wir auch keine besondere Subjektivitätstheorie, um diese zu erklären“.112 Die Dekonstruktion scheint damit ihr wichtigstes Resultat vorweisen zu können: einer Theorie der Sub————— gemeinsam mit Philipp Stoellger herausgegebene Band „Krisen der Subjektivität“ präsentiert schließlich Subjektivität als „fragwürdiges Thema“, indem er ein Forum für die Diskussion des Subjekts gibt, das „nicht grundlos in Verruf gekommen“ ist (Dalferth/Stoellger, Krisen der Subjektivität, Problemanzeigen und Wegmarken, Xf. 107 Dalferth, Subjektivität und Glaube, 31; vgl. ders., Die Wirklichkeit des Möglichen, 388. 108 Dalferth referiert die erkenntnistheoretische, intersubjektivitätstheoretische, spekulative, existentialontologische und sprachanalytische Kritik am Subjektivitätsparadigma (ders., Subjektivität und Glaube, 44–48; ders., Die Wirklichkeit des Möglichen, 414–425). 109 Dalferth, Subjektivität und Glaube, 47. 110 Vgl. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 381. 111 Dalferth, Subjektivität und Glaube, 47. 112 Ebd., 48.

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jektivität wird der Boden entzogen. Selbstbewusstsein sei kein eigenständiges philosophisches Problem sondern allenfalls ein Faktum, das durch die empirische Erhellung psychosozialer Prozesse erklärt werden könne. Zu dieser Erhellung gibt Dalferth selbst einige Hinweise. Subjektivität, so führt er aus, sei das „Resultat eines komplizierten empirischen Entstehungsprozesses, in dem wir diese Struktur durch Interaktion mit unserer Umwelt aufbauen“.113 Dalferth stellt seine Überlegungen damit in die von Hegel inspirierte Tradition, die von einem Primat der Intersubjektivität ausgeht: Selbstbewusstsein werde durch Interaktion konstituiert. Innerhalb der vielfältigen Linien dieser Tradition knüpft er besonders an deren sprachphilosophische Transformation an. Deshalb ist seine intersubjektivistische Erklärung zugleich sprachanalytisch angelegt. Subjekte seien Instanzen, die „semiotisch aktiv“ sind und „damit zu einer Gemeinschaft des Zeichengebrauchs“114 gehören. Sie könnten Zeichen reflexiv gebrauchen und seien deshalb „in der Lage, […] ihre Operationen der Informationsgewinnung […] und der Informationsverarbeitung […] selbst kritisch zum Thema zu machen“.115 Diese Reflexivität wiederum begründe die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung dieser Informations- und Handlungsprozesse. Subjektivität, darauf zielen diese sprachpragmatischen Überlegungen ab, sei auch in dieser Hinsicht kein ursprüngliches oder singuläres Phänomen. Es sei „allenfalls eine komplexe Folgekategorie höherer Stufe“,116 die nur gemeinsam mit den Phänomenen Freiheit, Rationalität, Reflexivität, Sozialität und Zeichengebrauch auftrete. Am Ende dieses kritischen Weges steht die vollständige Dekonstruktion von Subjektivität als einem für die Theologie relevanten Thema. Für Dalferth erweist sich die subjektivitätstheoretische Denkform als „zu monistisch, zu übervereinfachend und eben dadurch in problematischer Weise unvernünftig.“117 Sie sei darüber hinaus unkritisch, weil sie außer ihren eigenen Kriterien nichts anderes gelten lasse und sich im geschlossenen Zirkel ihrer eigenen Konstruktionen bewege. Indem sie sich ganz im Horizont der Unterscheidung von Ego und Alter Ego bewege, sei sie weiterhin egozentrisch. Und: sie sei konstruktivistisch, weil sie nicht mehr zwischen den Phänomenen und ihrer Beschreibung unterscheiden könne. Das Subjekt mache das, was ist, zu dem, was es in seiner Sicht ist. „Die Folge ist, dass es überhaupt nur noch die Probleme sieht, die es sich selbst macht.“118 In Summa: Das Problem der Subjektivitätstheorie ist der Trug einer Verwechslung. Ihre ————— 113 114 115 116 117 118

Ebd. Ebd., 30. Ebd. Ebd., 31. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 425. Ebd., 426.

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Grundaporie bestehe darin, „dass sie praktische Lebensgewissheit mit theoretischer Letztbegründung verwechselt, das, was keines Grundes bedarf, also als unbezweifelbar begründet ausgeben will, um es als vernünftig vertretbar zu erweisen.“119 Die vollständig erscheinende Entzauberung des Subjekts hinterlässt aber für Dalferth keine Leerstelle, weil der am Subjektivitätsmodell orientierte theologische Weg sowieso eine Sackgasse wäre. Ein angemessenes Selbstverständnis erschließe sich dem Menschen vielmehr allein „‚passiv‘ und ausschließlich von Gott her“,120 d.h. in einem Aneignungsprozess des Glaubens. „Nicht die reflexive Selbstthematisierung von uns selbst, sondern die Konfrontation mit Gottes Selbsterschließung in Jesus Christus und durch den Heiligen Geist erschließt uns, wer und was Gott ist und was und wie wir wahrhaft sind“.121 Die Pointe dieser theologischen Hermeneutik des menschlichen Selbst besteht darin, dass kein Ich, sondern eine Differenz aufgedeckt werde: die zwischen Gottes schöpferischer und rettender Beziehung zu uns auf der einen und unserer Beziehung zu ihm auf der anderen Seite. So erkennen wir uns vor Gott „als Geschöpfe, die ihre Geschöpflichkeit ignorieren (simul creatura et peccator) bzw. als Geschöpfe, die, obwohl sie ihre Geschöpflichkeit ignorieren, von Gott nicht verlassen und sich selbst nicht überlassen werden (simul iustus et peccator)“.122 Dalferths „Nein!“ gegenüber der Kategorie „Subjektivität“ wird so mit einem leidenschaftlichen „Ja!“ für die theologische Kategorie „Rechtfertigung“ verbunden. Glaube und Unglaube seien noch immer die brauchbarsten, reichsten und weit reichendsten Kategorien für ein angemessenes theologisches Selbst-Verständnis. (2) Während Dalferth Selbstbewusstsein und Glaube einander kontrastiert, gibt Wolfhart Pannenberg dem Thema der Subjektivität eine begrenzte Geltung. Eine begrenzte, denn die durch den Deutschen Idealismus begründete Verabsolutierung des Ichs weist Pannenberg als problematisch zurück. Sie sei nicht nur sachlich unzutreffend sondern auch gefährlich. Dies gelte insbesondere für Hegels These, nach der das Selbstbewusstsein der Grund des Bewusstseins sei.123 Auf diese Weise würde der Ursprung der Subjektivität im Absoluten in Frage gestellt. Das Absolute erschiene statt-

————— 119

Ebd. Dalferth, Subjektivität und Glaube, 41. 121 Ebd., 52f. 122 Ebd., 55. 123 Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke, Bd. 10, 213: „Die Wahrheit des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein und dieses der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtsein eines anderen Gegenstandes Selbstbewußtsein ist“ (§ 424). 120

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dessen selbst als Produkt der Subjektivität.124 Das menschliche Ich sei stattdessen in mehrfacher Hinsicht ein vermitteltes Phänomen. Pannenbergs theologische Erläuterung dieser These hebt auf die Unterscheidung von Bewusstsein und Geist ab. Nach biblischem Zeugnis sei der Geist nicht als menschlicher Intellekt zu verstehen. Er sei vielmehr Geist Gottes, eine schöpferische Lebenskraft, die Gott den Menschen einhauche. Die menschlichen Lebensfunktionen seien auf ihre Aktualisierung durch diesen Schöpfergeist angewiesen.125 Aber nicht nur das: der Ursprung allen Lebens im Geist Gottes sei auch der Grund für die Möglichkeit unseres Bewusstseins, die äußere Wirklichkeit erfassen zu können.126 So werde die Einheit der Erfahrung nicht durch ein transzendentales Subjekt sondern vielmehr durch die umfassendere, einheitliche Gründung aller Wirklichkeit in einer göttlichen Ordnung konstituiert.127 Im Menschen sei dieser unendliche Lebensgrund des Geistes im Lebensgefühl gegenwärtig, das die Differenz von Selbst und Welt, Subjekt und Objekt übergreift. In der symbiotischen Lebenssphäre des frühen Kindesalters sei eine Unterscheidung zwischen der subjektiven und der objektiven Seite des Weltverhältnisses noch nicht gegeben. „Das Lebensgefühl als Ausdruck der Geistesgegenwart mit der der Subjekt-Objekt-Differenz vorgängigen und sie übergreifenden Präsenz der noch unbestimmten Ganzheit des Lebens liegt also der Ausbildung des Bewusstseinsfeldes schon zugrunde“.128 Das bewusste Ich sei demgegenüber erst „ein Produkt der Ausdifferenzierung der Einheit des Lebensgefühls im Prozeß der Erfahrung“.129 Das Selbstbewusstsein entstehe deshalb auch anthropologisch erst im Ergebnis einer längeren Entwicklung. Es sei Resultat, nicht Ausgangspunkt. „In der Lebensgeschichte des Individuums geht die Ausbildung des Wahrnehmungsfeldes, besonders des Bewußtseins der Raumkonstanz, sodann die Entwicklung der Sprachfähigkeit dem Auftreten des Ichbewußtseins voraus.“130 Erst in einem Lebensalter von etwa 15 Monaten sei beim Kleinkind die Ich-Instanz ausgebildet. Das Bewusstsein der Einheit des Ich sei durch Gegenstandserfahrung vermittelt – nicht umgekehrt, wie Kants Kritizismus ————— 124

Vgl. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 35. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 214–219. 126 Vgl. Pannenberg, Bewusstsein und Geist, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 2, 135: „Auf der Grundlage der biblischen Anschauung von Geist und Bewußtsein könnte die Antwort gegeben werden, daß die Möglichkeit der Erfassung außer uns gegebener Wirklichkeit durch unser Bewußtsein darin begründet ist, daß der Geist, an dem wir teilhaben, auch Ursprung alles Lebens außer uns ist, Ursprung der unterschiedlichen Gestalten geschöpflicher Wirklichkeit.“ 127 Vgl. Pannenberg, Bewusstsein und Subjektivität, 43. 128 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 223. 129 Ebd. 130 Pannenberg, Bewusstsein und Subjektivität, 39. 125

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glauben machen wolle. Die „Welterfahrung […] ist […] Bedingung für die Bildung der Ichinstanz“.131 Bei Pannenberg wird damit der Status von Subjektivität doppelt begrenzt: theologisch durch deren Gründung im unendlichen Grund des göttlichen Geistes und anthropologisch durch einen sozial vermittelten, mehrstufig verlaufenden Entwicklungsprozess. Innerhalb dieser Grenzen kommt dem Subjektivitätsthema dennoch eine wichtige Bedeutung zu. Nicht ohne Grund sei es im Wirkungsbereich des Christentums ausgebildet worden. Mit der Ausbildung seines Ich stelle sich dem Menschen nämlich auch die Herausforderung der Identitätsbildung.132 Dabei habe „das Selbstbewusstsein […] in jedem seiner Augenblicke aufs neue die Integration aller der Momente zu vollziehen, die mit unserem Selbst und den vergangenen, in unserer Erinnerung gegenwärtigen Ichsynthesen verbunden sind“. Dabei sei „unserem Selbstbewußtsein das Ganze unseres Seins in jedem Augenblick gegenwärtig“, was sich angemessen „nur als Teilhabe an der Ewigkeit […] beschreiben“133 lasse. Gott ist deshalb für Pannenberg „als Ursprung und Ziel endlicher Subjektivität zu denken“.134 (3) Während Dalferth den Subjektivitäts- durch den Glaubensbegriff ersetzt und Pannenberg das Ich durch einen eschatologisch bestimmten Personenbegriff überbietet, bildet das Selbstbewusstsein für Eilert Herms den zentralen Ort, an dem sich dem Menschen seine tragende Lebensgewissheit erschließt. Dabei orientiert er sich an jener Traditionslinie in der Thematisierung von Subjektivität, die durch „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ begründet und anschließend von Jacobi und Schleiermacher korrigiert und weitergeführt worden ist. Herms verfolgt das Konzept von „Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens“.135 Als Lehre von den Erscheinungen beschäftigt sich diese mit dem einheitlichen Sachverhalt der wechselseitigen Bestimmung unserer selbst und unserer Umwelt. Sie artikuliert deshalb die „Resultate unserer reflexiven Selbsterkenntnis“.136 Die Reflexion dieser Reflexivität habe allerdings bereits am Ende des 18. Jahrhunderts gezeigt, „daß Akte der Selbstreflexion nur möglich sind aufgrund der vorgängigen Reflexivität der reflektierenden Instanzen; das heißt: aufgrund ihres unmittelbaren Selbstbewußtseins, ihres unmittelbaren Selbsterlebens, oder: ihres Erschlossenseins bzw. ihres Erscheinens für sie selbst, aufgrund dessen sie unmittelbar ihrer selbst inne sind, sich selbst ‚fühlen‘ und darin ————— 131 132 133 134 135 136

Ebd., 42. Vgl. zu Pannenbergs Verständnis von Personalität: Teil B, Kap. 2.5 (1). Pannenberg, ebd., 51. Ebd., 47. Vgl. Herms’ gleichnamigen Aufsatz. Herms, Die Lehre von der Schöpfungsordnung, in: ders., Offenbarung und Glaube, 432.

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ihrer selbst ‚gewiß‘ sind.“137 Dem Ich erschließe sich damit seine passive Konstitution: es ruhe nicht auf den Resultaten seiner Selbsttätigkeit sondern gründe auf einer unhintergehbaren Fundamentalgegebenheit, die Herms als „das Vorgegebensein […] jedes Menschen für ihn selbst als personales Individuum“138 bezeichnet. An dieser Fundamentalgegebenheit unterscheidet er eine formale und eine inhaltliche Seite. Formal manifestiere sie sich als unmittelbares, d.h. präreflexives Selbstbewusstsein. Anders gesagt: als Selbstgefühl. Ihr Inhalt dagegen sei die Selbsterschlossenheit des Menschen als personales Individuum.139 Dabei liege das Moment der Individualität in der Erschlossenheit des Ich für sich selbst begründet. Ihr personaler Charakter hänge dagegen damit zusammen, dass das Erschließungsgeschehen nicht allein kognitive Aspekte aufweise. Vielmehr werde der Mensch als ganzer seiner passiven Konstitution „als eines vorgängigen Bestimmtseins zur Selbstbestimmung“140 inne. Anders gesagt: ihm erschließe sich die Nötigung und zugleich Befähigung zum selbstbestimmten Handeln als der freiwillentlichen Wahl und Realisierung gegebener Aktionsmöglichkeiten. In der Selbsterschlossenheit des Menschen als personalem Individuum lägen zugleich die Dimensionen der Selbst-, Welt- und Gottesgewissheit. Die Selbstgewissheit einer Person besteht nach Herms in der „absoluten Gewißheit ihres […] unverwechselbaren Selbstes im Sinne ihres Eigenleibes“.141 Ebenso gewiss sei jeder Person „die Tatsache, dass der Eigenleib in der Welt existiert“142 und hier mit anderen Individuen koexistiere. Die Weltgewissheit also. Die Gottesgewissheit als dritter Inhalt der Fundamentalgegebenheit besteht für Herms in der Gewissheit der Kontingenz alles Wirklichen im Sinne eines kontingenten Gegebenseins alles Seins, das einer jenseitigen Gewährung entspringe.143 Das unmittelbare Selbstbewusstsein stellt damit bei Herms die nicht hintergehbare Dimension der conditio humana dar, die dem Menschen seine Bestimmung erschließt, ihm Freiheit eröffnet und sein Leben orientiert. Es stellt die „Grundschicht persönlicher Identität“ dar, die Ebene „des ‚Herzensgrundes‘ oder […] des tragenden Lebensgefühls“144

————— 137 138 139 140 141 142 143 144

Ebd., 432f. Herms, Art. Mensch, Menschenbild, 677. Vgl. ebd. Herms, Die Lehre von der Schöpfungsordnung, 440. Herms, Glaube, in: ders., Offenbarung und Glaube, 464. Ebd. Vgl. ebd., 466. Herms, Religion und Organisation, in: ders., Erfahrbare Kirche, 65.

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3.4 Tragende Gewissheit. Selbstbewusstsein und Glaube Subjektivität ist umstritten. Ihr philosophischer Status nicht weniger als ihre theologische Bedeutung. Im theologischen Diskurs der letzten Jahre und Jahrzehnte ist das Subjektivitätsparadigma insbesondere von drei Seiten aus unter Druck geraten. Einerseits durch die erhebliche Wirkung hegelianischer und personalistischer Motive. Sie haben die intersubjektive Gründung des Subjekts betont und den Status des Ich vom Du her begrenzt. Eine zweite Infragestellung erfolgte im Kontext des „linguistic turn“ in Philosophie und Theologie. Mit ihm sind die Abwendung vom Subjektivitätsparadigma und die Hinwendung zu einer sprachanalytischen Rekonstruktion des Ich einhergegangen. Drittens schließlich ist vor dem Hintergrund der fundamentaltheologischen Prämissen der Wort-Gottes-Theologie die Angemessenheit einer subjektivitätstheoretischen Vergewisserung generell in Zweifel gezogen worden.145 Dennoch gibt es gute Gründe, dem Ich nicht vorschnell die Tür zu weisen. Sie liegen einerseits darin, dass die kritischen Einwände ihrerseits zu Kritik Anlass geben. Andererseits spricht einiges dafür, dass mit der Thematisierung des Ich zugleich auch in angemessener Weise gezeigt werden kann, wie das Evangelium das menschliche Selbstverständnis verändert. Nicht alle Argumente können im Zusammenhang dieser Arbeit vorgetragen und diskutiert werden. Ich konzentriere mich auf eine knappe Skizze, die den Konturen und Konsequenzen für eine inklusive Anthropologie besondere Aufmerksamkeit schenkt. (1) „Kann selbstbewußte Subjektivität für Theologie belanglos sein?“146 So lautet Klaus Müllers „hartnäckige Rückfrage“ an die theologischen Kritiker des Subjektivitätsparadigmas. Ingolf U. Dalferths breit angelegte Auseinandersetzung bejaht diese Frage unumwunden. Seine Kritik geht, wie oben ausgeführt, in ihrem philosophischen Teil von der Sprachanalyse aus. Dalferth argumentiert, dass die „eigentümliche Gewißheit der ‚ich‘Aussage“ „nicht aus einer referentiellen Funktion des ‚ich‘-Ausdrucks als solchem“ sondern „vielmehr aus dem performativen Gebrauch des Ausdrucks ‚ich‘ in konkreten Redesituationen“147 zu erklären sei. „Mit Hilfe des Ausdrucks ‚ich‘ referiere ich also nicht auf einen mir unmittelbar und eben ————— 145

Dass es zwischen diesen Infragestellungen zahlreiche Überschneidungen gibt, sei zumindest am Rand erwähnt. An Ingolf U. Dalferths Einspruch gegen das Subjektivitätsmodell beispielsweise lassen sich die Wirkungen aller drei Traditionszusammenhänge belegen. Ähnliches gilt für Matthias G. Petzoldts Kritik an der Subjektivitätstheorie, vgl. ders., Kommunikations- und medientheoretische Anmerkungen zur subjektivitätstheoretischen Kritik an der Wort-GottesTheologie. 146 Müller, Subjektivität und Theologie, 161. 147 Dalferth, Subjektivität und Glaube, 24.

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nicht nur über Wahrnehmung vermittelten Gegenstand (mein Selbst), sondern ich indiziere mich als Sprecher […] als eine der Wahrheitsbedingungen meiner Aussage“.148 Das Wort „ich“ sei auch in dieser Hinsicht ein ausschließlich deiktischer Ausdruck. Der Ausdruck „ich“ sei nicht die Bezeichnung eines Subjekts, sondern ein Indexausdruck, der Sprecherinnen an ihrem Kommunikationsort loziere. Dalferths sprachkritisch ansetzende Subjektivitätskritik greift allerdings zu kurz. Denn das Wort „ich“ liegt nur scheinbar auf einer Linie mit den deiktischen Ausdrücken „hier“ und „jetzt“. Tatsächlich ist es ursprünglicher und ermöglicht erst den bedeutungsvollen Gebrauch von Index-Wörtern. „Denn wer nicht zuvor mit dem Bezugsgegenstand von ‚ich‘ bekannt war, kann sich gar nicht in Raum und Zeit so situieren, daß er Demonstrativa sinnvoll benutzen kann.“149 Nicht nur die mit einem Pfeil versehene Angabe auf einer Wandertafel: „Sie befinden sich hier“ setzt ein Ich voraus, das sich selbst als ein solches an diesem Ort identifizieren kann. Auch die Warnung „hier ist es glatt“ ist nur für ein Subjekt verständlich, das sich seiner eigenen Verortung im Raum, d.h. seines eigenen „hier“ gewiss ist. Ähnliches gilt für den Zeitbezug. Die Aussage „jetzt ist es Nacht“ macht nur Sinn durch den in ihr mitgesetzten Bezug auf die Gegenwart eines Subjekts.150 (2) An einer exponierten Stelle seiner Auseinandersetzung formuliert Dalferth die These, dass es ein Ich in der Welt gar nicht gebe. „Ein Ich gibt es in der Welt nur im Zeichengebrauch, nicht unabhängig von jedem Zeichengebrauch. In einer (nur per impossibile anzunehmenden) Totalbeschreibung der Welt in der deskriptiven Perspektive der dritten Person käme daher kein Ich vor, sonder nur der Gebrauch des Zeichens ‚ich‘: ‚Ich‘ bezeichnet kein ‚Ding‘ oder Wesen einer bestimmten Art. Es taugt nicht zur deskriptiven Klassifizierung von Phänomenen, und es ist keine Ursache, die weltliche Phänomene zu erklären erlaubte. Gibt es aber kein Ich in der Welt, dann gibt es auch keine unmittelbare und unhintergehbare Vertrautheit von Ich-Subjekten mit sich selbst.“151 Die Pointe an dieser Kritik ist ihr Anspruch, auf die Perspektive der „ersten Person“ vollständig verzichten zu können: Aus der Perspektive von Kommunikationsteilnehmerinnen genüge es, so behauptet das Argument, dass sich Sprecher durch die Verwendung des „Ich“-Ausdruck lozieren. In diesem Sinn werden Aussagen der ersten Person in die deskriptive Perspektive der dritten Person transformiert und als solche ersetzt: da es ein Ich im deskriptiven Sinn nicht „gebe“, sei es auch nicht existent. ————— 148 149 150 151

Ebd., 25. Frank, Ist Subjektivität ein „Unding“?, 82. Vgl. ebd. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 382.

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Formulierungen wie diese schreiben die abstrakte Entgegensetzung von „linguistic turn“ und traditioneller Subjektphilosophie fort. Dabei behauptet jede Seite, auf die jeweils andere verzichten und deren Anspruch vollständig mit der eigenen Theorie einlösen zu können. In diesem Sinn intendiert auch Dalferth die Ersetzung des Subjektparadigmas. Seine Kritik muss sich aber eine Reihe von Rückfragen gefallen lassen: So scheint er von einer mehr oder weniger homogenen Subjektivitätstheorie auszugehen, die summarisch ihren Halt in haltlosen Letztbegründungsabsichten suche. Schaut man genau hin, so gilt seine Kritik aber vor allem dem kognitiven „Ich denke“ von Kant bis Fichte – auf die Traditionslinie von Jacobi zu Schleiermacher geht Dalferth nicht explizit ein. Ist nicht seine generelle Kritik insofern ebenfalls eine Übervereinfachung? Und: wenn Dalferth das „Ich“ restlos in den Gebrauch des Zeichens „Ich“ auflösen will – ist dieses Bemühen funktional nicht so etwas wie ein Letzterklärungsversuch? Die Einräumung jedenfalls, Subjektivität käme nicht als Begründungs-, sondern allenfalls als Anwendungskategorie in Betracht, wird hinfällig, wenn nach der Grundsatzkritik vom Subjekt nichts mehr übrig bleibt. M.E. käme es darauf an, aus der eingeübten Konfrontation von Sprachund Subjektphilosophie herauszutreten und beide in ihrer Angewiesenheit auf einander zu reflektieren. So tendiert nicht nur eine isolierte Subjekttheorie – wie Matthias Petzoldt kritisiert – zu einer „Substantialisierung von ‚Selbstbewußtsein‘“.152 Umgekehrt neigt eine auf das Selbstbewusstsein Verzicht leistende Kommunikationstheorie zu einer Verabsolutierung der Sprache. Deshalb scheint es mir ratsam zu sein, die Sprache und den Sprachgebrauch nicht von den Sprecherinnen zu trennen. Eine Sprechakttheorie sollte mit einer anspruchsvollen „Theorie der ersten Person“ verbunden sein. Der Gewinn sprechakttheoretischer Einsichten153 ließe sich deutlicher zur Geltung bringen, wenn er das Subjekt einbegreift, das in seiner Sprache lebt, versteht und handelt. Insofern ließe sich sagen: es gibt kein Ich in der Welt unabhängig von jedem Zeichengebrauch – wohl aber gibt es das Ich nicht nur im Zeichengebrauch.154 ————— 152

Petzoldt, Kommunikations- und medientheoretische Anmerkungen, 423. Vgl. bspw. ebd., 449–451. 154 Ich kann auf weitere Aspekte der Sprachphilosophie hier nicht eingehen, insbesondere deshalb nicht, weil die fundamentaltheologischen Diskussionen in dieser anthropologisch fokussierten Arbeit nicht differenziert erörtert werden können. Einen Punkt der Kontroverse um das Subjektivitätsthema möchte ich allerdings noch ansprechen, weil er anthropologisch relevant ist: den Vorwurf des „einsamen, mit sich selbst identischen Ich“, bzw. eines auf sich selbst fixierten und befangenen Bewusstseins (vgl. Petzoldt, ebd., 420f und 441). Diese Kritik geht vielfach mit der Gegenposition einher, nach der sich das Ich erst durch Kommunikation herausbildet (ebd., 425) bzw. das Ich erst am Du zum Ich wird (ebd., 451). Auch hier meine ich, sollte die Diskussion aus alten Polaritäten heraustreten. Wie ich im Kapitel „Sozialität“ herausarbeiten will, trifft der 153

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(3) Gerade zeitgenössische philosophische Konzepte zeigen, dass sprachanalytische und subjektphilosophische Ansätze nicht nur vereinbar, sondern gerade in ihrer strukturellen Verkoppelung auch weiterführend sind. Manfred Frank beispielsweise hat viel dazu beigetragen, die breite angelsächsische Diskussion in Deutschland bekannt zu machen und alte Entgegensetzungen zu überwinden. In seinen Arbeiten hat er gerade sprachphilosophisch die Unreduzierbarkeit der „ersten Person“ zur Geltung gebracht. Dazu gehört der Aufweis, dass sich Einstellungen zu uns selbst – so genannte Attributionen de se – nicht auf Einstellungen de dicto oder de re zurückführen lassen.155 Das lässt sich am besten an einem Beispiel deutlich machen. Alan Alexander Milne erzählt in „Pu der Bär“ die Geschichte, wie Winnie-der-Pu und Ferkel eines Wintertages im Schnee umher laufen, unwissentlich ihre eigenen Spuren entdecken und ihnen – im Kreis laufend – folgen. Sie halten sie für die Abdrücke eines Wuschels und eines Wischels, bis es immer mehr Wuschel- und Wischelspuren werden und sich Ferkel aus Angst vor wilden Tieren unter einem Vorwand verabschiedet. Da kommt Christopher Robin hinter einem Baum hervor. „‚Dummer alter Bär‘, sagte er, ‚was hast du denn gemacht? Zuerst bist du zweimal allein um das Dickicht herumgegangen, dann ist dir Ferkel nachgelaufen, und ihr seid zusammen um das Dickicht gegangen, und dann, als ihr gerade zum vierten Mal ...‘ ‚Warte mal‘, sagte Pu und hielt eine Pfote hoch“. Nach einer Weile dann kommt es ihm: „‚Jetzt verstehe ich […]. Ich war ein verblendeter Narr […] und ich bin ein Bär ohne jeden Verstand‘“156 Als Attribution de dicto würde eine sich auf diese Begebenheit beziehende Aussage lauten: „Pu glaubt, dass Pu die Spuren im Schnee gemacht hat“. Bei einem „Bären von sehr geringem Verstand“ – und nicht nur bei ihm – kann man aber nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass er sich der Identität seiner selbst mit dem Pu, der die Spuren im Schnee gemacht hat, gewiss ist. Das ist einzig ein einer de se-Attribution gegeben: „Pu glaubt, dass er selbst die Spuren im Schnee gemacht hat“.157 Wendungen dieser Art „schöpfen die ————— Solipsismus-Vorwurf nicht zu, weil sich zeigen lässt, dass Subjektivität und Sozialität gleichursprünglich und insofern nicht auf einander zurückführbar sind. 155 Einstellungen de dicto sind solche zu einer Proposition. Sie haben die Form „x glaubt, dass x ... [das dictum, die Proposition]“. Wendungen de re sind demgegenüber dadurch charakterisiert, dass sie sich auf eine Sache beziehen: „es gibt x, das mit y identisch ist, und x hält x für y“. De se-Attributionen schließlich sind Einstellungen zu sich selbst in der Form „x glaubt, dass er bzw. sie selbst ...“, vgl. Frank, Die Wiederkehr des Subjekts, 113f. 156 Milne, Pu der Bär, 41. 157 Ein literarisches Beispiel anderer Art, bei dem ganz bewusst mit der Differenz zwischen de dicto und de se gespielt wird, ist Günter Grass’ autobiografischer Roman „Beim Häuten der Zwiebel“. In der Passage, in der Grass von seiner Einberufung erzählt, spricht der auf sein Leben zurückblickende Autor von dem Marschbefehl, der deutlich gemacht habe, „wo der Rekrut meines Namens auf einem Truppenübungsplatz der Waffen-SS zum Panzerschützen ausgebildet werden sollte“ (Grass, Beim Häuten der Zwiebel, 126). Grass verwendet an dieser Stelle bewusst keine de

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ihnen eigene Sicherheit aus der logischen Unersetzlichkeit der „ich“Perspektive, die in den bewussten Selbstbezügen impliziert ist.“158 Sie machen deutlich, dass es eine spezifische Kenntnis von sich selbst gibt, die kein propositionales Wissen darstellt. „Wenn ich etwas von mir selbst glaube, muß ich mir keineswegs irgendwelche in Sätzen ausgedrückten (und auf Information beruhenden) Kenntnisse zuschreiben, wie dritte das täten. Ich kann selbst meinem Spiegelbild mißtrauen, meine Biographie für einen Traum halten und meinen Charakter verleugnen. Immer noch werde ich mit unfehlbarer Gewißheit mit mir (und evtl. meinem Zweifel an meiner Biographie) vertraut sein.“159 Die Perspektive der ersten Person ist also für die Selbstsituierung von Subjekten in der Welt unersetzlich. (4) Dabei kann es nicht darum gehen, das Selbstbewusstsein als Letztbegründungsinstanz installieren zu wollen. Subjektivität ist keineswegs ontologisch primär. Fichtes „Lösung“ der Aporie des Selbstbewusstseins ist eine verfehlte Verabsolutierung des „Ich“. Der Aufweis einer vorgängigen und unmittelbaren Selbstvertrautheit des Subjekts hat demgegenüber keine ontologische sondern eine epistemische Pointe: er macht deutlich, dass Personen selbstbewusste Individuen sind, deren Leben in Beziehung durchgängig von ihrem Selbstverhältnis begleitet wird. Kein einsames Subjekt kommt dabei in den Blick, sondern eine Person, die in und aus Beziehungen lebt und die sich selbst in diesen Beziehungen unmittelbar vertraut und gewiss ist. Diese unmittelbare Selbstgewissheit lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das auch Dalferth gebraucht – allerdings mit anderen Schlussfolgerungen: das Schmerzempfinden.160 Schmerz wird nicht erst durch Wahrnehmung oder Nachdenken zu einer bitteren Erfahrung. Vielmehr bin ich mir ohne den Umweg über eine besondere Wahrnehmungsform meines erlittenen Schmerzes unmittelbar bewusst. „Wenn ich fühle, ich habe Schmerzen, so ist das alles, was erfordert wird, um wirklich Schmerzen zu haben.“161 In Bezug auf den Gegenstand des Schmerzes mag ich mich täuschen. Dass ich aber einen stechenden Schmerz verspüre, ist mir unfehlbar gewiss. Diese gleiche unmittelbare Selbstvertrautheit gilt auch für Situationen, in denen sich Menschen in der Welt lokalisieren. Eine Begebenheit, die der Geschichte von Winnie-dem-Pu ähnlich ist, macht dies deutlich. Der Physiker Ernst Mach hat davon berichtet, wie er einst, „etwas erschöpft, in ————— se- sondern eine de dicto-Formulierung. Sie soll ein Maß an Distanzierung deutlich machen, eine lebensgeschichtliche Nicht-Identität. Grass begegnet sich selbst in der biografischen Rückschau als Fremdem. Deshalb spricht er von einem „Rekruten meines Namens“ und nicht von „sich selbst“. 158 Frank, Ist Subjektivität ein „Unding“?, 84. 159 Ebd., 84f. 160 Vgl. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 426f. 161 Frank, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis, 221.

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einen Wiener Bus gestiegen [sei]. Wie er die Treppen hinaufging, sah er im gleichen Rhythmus auf der anderen Seite einen Mann einsteigen, und bei seinem Anblick schoss ihm der Gedanke durch den Kopf: ‚Was ist das für ein herabgebrachter Schulmann!‘ […] In seiner Unaufmerksamkeit hatte er nicht bemerkt, dass er auf sich selbst Bezug nahm, weil er den Spiegel nicht gesehen hatte.“162 Über die Identität des scheinbar fremden, heruntergekommenen Schulmanns, den Mach im Spiegel sah, war er sich zunächst nicht im Klaren. Dass er den Inhalt seiner Wahrnehmung aber nicht mit sich selbst in Verbindung brachte, sondern einem vermeintlich Fremden zuschrieb, setzt allerdings zugleich voraus, dass Mach im gleichen Moment sich seiner selbst unmittelbar, d.h. ohne den Umweg über eine optische Wahrnehmung gewiss gewesen ist. Er wird keine Schwierigkeiten damit gehabt haben, den Bus zu besteigen und genau zu wissen, dass er selbst es ist, der dies tat. Selbstbewusstsein stellt sich offenbar nicht auf dem Weg einer sinnlichen Vergewisserung ein – wir sind uns vielmehr vor jeder Sinneswahrnehmung als uns selbst gewiss. (5) Vor dem Hintergrund des oben Gesagten vertritt Manfred Frank ein dreistufiges Modell von Subjektivität. Zu ihm gehört erstens ein „phänomenales Bewusstsein (‚Zumutesein‘)“. Dieses sei die Grundlage dafür, „dass wir überhaupt in der elementaren Weise mit unserem Seelenleben bekannt sind, wie wir es sind“.163 Es könne als Selbstvertrautheit (selfacquaintance) bezeichnet werden. Daneben existiere zweitens „ein kognitiv anspruchvolleres Ich-Bewusstsein“. Auf ihm bauten die „höherstufigen Leistungen“ unseres Denkens auf: „Leistungen des Überlegens, der Abstraktion, der Konzentration, des Aufmerkens und des Sich-Erinnerns“.164 Hier handele es sich um ein ausdrückliches Selbst-Wissen (self-knowledge). Beide Aspekte des Selbstbewusstseins würden aber schließlich von einem dritten Strukturmerkmal umgriffen: „Das ist das anonyme Feld, in das sich die beiden anderen teilen und aus dem sie gelegentlich auftauchen. Das ist die ‚Vertrautheit‘, aufgrund deren wir überhaupt erst von einem einheitlichen Phänomen des Selbst sprechen können.“165 Diese drei Dimensionen möchte Frank nicht deduktiv aus einander ableiten. Vielmehr orientiert er sich am Modell eines Organismus, dessen Organe jeweils für sich existieren und dennoch nicht ohne einander sein können: „Ich denke, wir müssen das Selbst als dreigliedrig und als unzertrennliche Einheit auffassen.“166 (6) Bringt man Franks Strukturmodell des Selbstbewusstseins mit dem Schleiermachers in Beziehung, ergeben sich interessante Überschneidungs————— 162 163 164 165 166

Frank, Selbstgefühl, 138 [Ergänzung von mir; U.L.]. Ebd., 143 [Hervorhebung von mir; U.L.]. Ebd. [Hervorhebung von mir; U.L.]. Ebd., 144. Ebd.

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punkte und Ergänzungen. Beiden gemeinsam ist die Thematisierung des unmittelbaren Selbstbewusstseins als Implikation aller komplexeren Bewusstseinsleistungen, insbesondere der reflexiven. Während Frank diese basale Bewusstseinsdimension – zurückhaltender – als Selbstvertrautheit interpretiert, wird sie von Schleiermacher – inhaltlich anspruchsvoller – als Gefühl der Vorgegebenheit der Freiheit, als Gewissheit der passiven Konstitution individueller Aktivität verstanden. Diese Differenz liegt darin begründet, dass Schleiermacher das unmittelbare Selbstgefühl relational auf Gott als das „Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins“167 zurück bezieht, während es Frank in einem „anonymen Feld“ verankert sieht, in das sich die Selbstvertrautheit und das Selbst-Wissen teilen „und aus dem sie gelegentlich auftauchen“. Die theologische Gründung des unmittelbaren Selbstbewusstseins einerseits und seine anthropologische Verankerung in einem Feld anonymer Vertrautheit müssen sich indes nicht widersprechen. Denn die inhaltliche Bestimmung des Ichs zur Freiheit schließt nicht aus, dass es sich formal aus einer anonymen Tiefenschicht erhebt. In jedem Fall muss nämlich geklärt werden, wie sich aus einer nichtrelationalen anonymen Vertrautheit die Dynamik einer individuellen Selbstbeziehung ergibt. Der Theologe Schleiermacher macht an dieser Stelle auf etwas aufmerksam, was der Philosoph Frank unthematisiert lässt: Die Selbstbeziehung entsteht durch eine Beziehung von außen: Gott ist der Grund des empfänglichen und tätigen Selbstbewusstseins; das Selbstverhältnis wurzelt in Gottes ursprünglichem Verhältnis zum Selbst. Schleiermachers Subjektivitätstheorie öffnet darüber hinaus den Blick für eine weitere Differenzierung. Franks dreigliedriges Modell umfasst das anonyme Feld, die Selbst-Vertrautheit und das Selbst-Wissen. Das Konzept der „Glaubenslehre“ differenziert dagegen noch einmal das unmittelbare Selbstbewusstsein und führt es dadurch stärker an die Lebens- und Sinndeutungen der Menschen heran. Schleiermacher unterscheidet das sinnliche vom höheren Selbstbewusstsein, das im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit bestehe. Während dieses „immer da und immer sich selbst gleich“168 sei, unterliege jenes Veränderungen und Schwankungen. Es sei nicht nur von teilweisem Freiheits- und teilweisem Abhängigkeitsgefühl geprägt. An ihm erscheine ebenso der „Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen oder der Lust und Unlust“.169 Das sinnliche Selbstbewusstsein sei intersubjektiv geöffnet und daher auch interaktiv geprägt. Dennoch sei es präreflexiv und unmittelbar gewiss – ein Gefühl. Als partikulares Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl sei es auf das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ————— 167 168 169

Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 28 (§ 4.4). Ebd., 34f (§ 5.3). Ebd., 37 (§ 5.4).

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zurückbezogen. Mit ihm bilde es eine Einheit. „Dieses Bezogenwerden des sinnlich bestimmten auf das höhere Selbstbewußtsein in der Einheit des Momentes ist der Vollendungspunkt des Selbstbewußtseins.“170 Diese Differenzierung der „Glaubenslehre“ öffnet das Verständnis dafür, wie die Gewissheit des Bestimmtseins zur Selbstbestimmung mit den konkreten Lebensentwürfen und Sinnkonzepten der Menschen verbunden ist. In diesen Lebensdeutungen kommt diese grund-legende Gewissheit zum Tragen. Die Sinnkonzepte ihrerseits verdanken es ihrer Verbundenheit mit der absoluten Gewissheit, dass sie sich den Personen als gewissmachend präsentieren. (7) Meine Skizze steht vor dem Horizont des anthropologischen Interesses, die Unhintergehbarkeit der Subjektivität für das Menschsein deutlich zu machen und das Selbstbewusstsein bis in seine Gründung im Gefühl zurückzuverfolgen. Die zahlreichen fundamentaltheologischen Einwände, die von der Wort-Gottes-Theologie gegen die theologische Relevanz von Subjektivität vorgebracht worden sind, können hier nicht diskutiert werden. Wohl aber lässt sich zeigen, dass die individuelle Erschließung eines verwandelten, neuen Selbstverständnisses durch die Begegnung mit dem Evangelium Jesu Christi mit der Kategorie des Selbstbewusstseins nach wie vor angemessen thematisiert werden kann. „Das unmittelbare Selbstbewußtsein geht uns […] aus einem Grunde auf, der uns prinzipiell nicht zum Gegenstand unseres Wissens werden kann. Genau deshalb verweist er uns aber im Gang unseres Lebens auf die deutende Erfassung des Daseins, das wir selber sind.“171 Der Nötigung, das eigene Leben mit Blick auf seine tragenden Gewissheiten und Orientierungen zu deuten, kann niemand ausweichen. Da es sich dabei um eine individuelle Hermeneutik des eigenen Lebens handelt, werden im sozialen Zusammenleben die Inhalte der jeweiligen Selbstdeutungen zu Gegenständen des Gespräches und Austausches. Die christliche Theologie engagiert sich auf dem Forum des Gespräches über Lebensgewissheiten als Anwältin für eine tragfähige Selbst- und Weltdeutung. Sie misstraut den selbst-gefälligen Deutungsmustern und reflektiert die riskanten Freiheiten von Lebensentwürfen und Lebensstilen. Die Nachdenklichkeit, die sie in die pluralen Deutungsprozesse einmischt, besteht im Hinweis auf die Verfehlung angemessener Lebens-Verhältnisse. Mit dem Begriff der Sünde bringt sie zur Sprache, dass Menschen regelmäßig von der Tragik eingeholt werden, in ihren Beziehungen zu scheitern und Anderen, Gott sowie sich selbst etwas schuldig bleiben. Es geht mithin darum, kenntlich zu machen, worin Menschen ihre Bestimmung verkennen und wie sich Selbstgewissheiten verändern und erneuern können. Der Ort ————— 170 171

Ebd., 35 (§ 5.3). Gräb, Lebenskulturen von Selbstdeutungen, 132.

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aber, an dem Lebensdeutungen gebildet, bewährt und erneuert werden, ist das Selbstbewusstsein. Subjektivität ist deshalb ein sinnvolles Thema der Theologie, weil hier individuelle Selbst-, Welt- und Gottesgewissheiten geprägt werden und weil deren Tragfähigkeit, Scheitern und Erneuerung nicht anders als subjektiv erlebt und realisiert werden können. In der protestantischen Theologie gibt es zahlreiche Entwürfe, die der Bildung, Reflexion und Erneuerung subjektiver Lebensdeutungen ihre Aufmerksamkeit widmen. Wilhelm Gräbs „Praktische Theologie gelebter Religion“172 gehört ebenso dazu wie Eilert Herms’ theologische Theorie der Gewissheit. Auf letztere möchte ich in diesem Zusammenhang noch einen Blick werfen. Sie geht, wie oben gezeigt, von der Fundamentalgegebenheit der Selbst-Erschlossenheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins aus. Ihr Inhalt ist die absolute Gewissheit der Bestimmung zur Selbstbestimmung. Mit ihr sind zugleich Individualität und Personalität, Selbst- und Eigenleibgewissheit, Umwelt- und Interaktionsgewissheit sowie Gottes- und Kontingenzgewissheit verbunden. Glaube in seiner allgemeinmenschlichen Form ist die aktive Anerkennung dieser Gewissheiten.173 Da diese Anerkennung nicht automatisch sondern freiwillentlich erfolgt, können die Inhalte der absoluten Daseinsgewissheit auch verkannt werden. Das ist nach Herms genau dann der Fall, wenn „der Mensch über der Gewißheit seiner innerweltlichen Möglichkeiten den ewigen Ursprung und die ewige Bestimmung seiner Existenz verkennt“ und „auf das Ziel einer innerweltlichen Vollendung fixiert“174 bleibt. Unglaube, Selbstliebe, Hybris und Konkupiszenz hat die theologische Tradition diese Verkennung der eigenen Bestimmung genannt und damit zum Ausdruck gebracht, dass mit ihr die grundlegenden menschlichen Beziehungen gestört und von einer narzisstischen Selbstbezüglichkeit überlagert werden. In der Begegnung mit dem Evangelium Jesu Christi kann der Mensch jedoch der Wahrheit seiner Bestimmung innewerden. Das Geschehen der Gnade besteht dann darin, dass „es die trügerische Selbstgewißheit des Menschen durchbricht und ihm die Augen über seine wahre Situation, insbesondere über seine Geschöpflichkeit und seine ewige Bestimmung, öffnet“.175 Indem Menschen durch das Lebenszeugnis Jesu die Wahrheit über die Bestimmung des Menschseins und über ihr eigenes Leben erschlossen wird, erneuert sich ihre individuelle Selbst-, Welt- und Gottesgewissheit. Für das Konzept einer inklusiven Anthropologie ist der eben dargestellte Zusammenhang der Bildung und Erneuerung von Selbstgewissheit deshalb ————— 172 173 174 175

Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutung. Vgl. Herms, Glaube, in: ders., Offenbarung und Glaube, 468. Herms, Gewalt und Recht in theologischer Sicht, in: ders., Gesellschaft gestalten, 131. Ebd.

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bedeutsam, weil er auf die präreflexive Verankerung der tragenden Lebensgewissheiten aufmerksam macht. Die je individuellen Lebenskonzepte und -deutungen gründen nicht zuerst in kognitiven Theorien. Sie verdanken sich vielmehr einer Erfahrung des Herzens. Sie gründen in dem, was Schleiermacher mit dem Begriff des Gefühls oder unmittelbaren Selbstbewusstseins zum Ausdruck gebracht hat. Dabei ist es bedeutsam, sich noch einmal die Differenz zwischen der absoluten Gewissheit des Bestimmtseins zur Selbstbestimmung und dem unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein in Erinnerung zu rufen.176 Nur mit Blick auf diese Unterscheidung lässt sich nämlich der Charakter inhaltlich konkreter Lebensdeutungen und Sinnkonzepte als Gewissheiten auf eine nicht widersprüchliche Weise darstellen. Individuelle Lebenskonzepte haben nämlich (nur) darin einen unmittelbaren Charakter, als sie den Subjekten präreflexiv gewiss sind. Zugleich resultieren sie aus interaktiven Erfahrungen, bei denen sich Menschen, die sich für ihre Mitwelt öffnen, eine konkrete Lebensgewissheit erschließt. Von der Ebene der unmittelbaren Selbstvertrautheit als solcher ist also die Ebene konkreter Lebensgewissheiten zu unterscheiden. Ihr intersubjektives Zustandekommen ändert nichts daran, dass sie den betreffenden Personen unmittelbar gewiss sind.

3.5 Subjektivität und geistige Behinderung. Plädoyer für eine verstärkte Aufmerksamkeit auf selbstbewusstes Leben Mein ausführlicher Gang durch die Entdeckungsgeschichte der Subjektivität zeigt, dass es eine gefährliche Verkürzung von Subjektivität darstellt, wenn man diese – so wie Peter Singer es tut – auf die Fähigkeit reduziert, die eigene „Zukunft ins Auge zu fassen“177 oder sich als „distinkte Wesen mit einer Vergangenheit und Zukunft“178 zu begreifen. Selbstbewusstsein und Subjektivität sind gegenüber einer solchen verabsolutierten ratio ungleich reichhaltiger und komplexer. Dabei sollten Vernunft und Intelligenz auch nicht – umgekehrt – als unwesentlich abgetan werden. Wer dem Rätsel der Subjektivität auf die Spur kommen will, muss aber Stimmungen und Gefühle, Gebärden und Gesten, Berührungen und Tasterfahrungen, Intentionen und Gedanken gleichermaßen berücksichtigen. Wir sind uns unserer selbst bewusst: als leibhaft existierende, endliche, in Beziehung zu anderen Subjekten stehende und auf sie bezogene Wesen. Wir sind uns als uns selbst erschlossen und gewiss. Wir können dies reflexiv erfassen und sprachlich zum Ausdruck bringen. Hervorgebracht haben wir das Phäno————— 176 177 178

Vgl. Teil B, Kap. 3.4 (6). Singer, Praktische Ethik, 134. Ebd., 173.

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men unserer Subjektivität damit aber keineswegs. Unser Dasein ist uns vielmehr präreflexiv erschlossen. Darüber hinaus sind auch unsere Selbstbilder und Lebensgewissheiten nicht nur rationale Modelle. Vielmehr sind die tragenden Deutungsmuster unseres persönlichen Lebens präreflexiv gegründet. Sie werden von uns reflexiv bearbeitet und gedeutet. Ihre individuelle Verbindlichkeit und Tragfähigkeit wurzeln jedoch darin, dass sie die Subjektivität in der Gesamtheit ihrer präreflexiven, emotionalen, motivationalen und reflexiven Dimensionen umfassen. Der Mensch ist deshalb in der Mehrdimensionalität seines subjektiven Lebens zu analysieren und nicht nur als der eindimensionale Mensch der Kognition. Weil uns psychische Zustände auch dann bekannt sind, wenn wir nicht über eine entsprechende Theorie und ein verbalisiertes Ausdrucksvermögen verfügen, können auch „Kinder vor dem Spracherwerb Selbstbewusstsein haben“.179 Descartes ist auf die unmittelbare Selbsterschlossenheit des Subjekts für sich selbst aufmerksam geworden. Seine Erfahrung steht mit am Beginn der langen Entdeckungsgeschichte der Reichhaltigkeit von Subjektivität. Sein Leitsatz „ich denke, also bin ich“ bringt eine Schlüsselerfahrung – allerdings in einer zumindest missverständlichen Form – zum Ausdruck. Erst zweihundert Jahre später ist diese Zweideutigkeit überwunden worden. Bei Friedrich Heinrich Jacobi klingt der Satz schon anders. „‚Sum‘, nicht ‚cogito‘ heiße die erste Einsicht“.180 Und Johann Gottfried Herder stellt Descartes Leitsatz endgültig vom Kopf auf die Füße: „Ich fühle mich! Ich bin!“181 Meine umfangreichen Erkundungen zur Struktur von Subjektivität haben beträchtliche Auswirkungen für ein inklusives Menschenbild, das Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen umfasst. Zwei Schlussfolgerungen möchte ich benennen: (1) Gerade in der Begegnung und Kommunikation mit geistig behinderten Menschen ist es von großer Wichtigkeit, mit der Vieldimensionalität der Ausdrucks- und Realisierungsformen von Subjektivität zu rechnen. Neben verbalisierten Gedanken, Gefühlen und Wünschen gilt es ebenso, den stärker leibvermittelten Ausdrucksformen Aufmerksamkeit zu schenken: den Gesten und Körperregungen, den Berührungen und dem Tasten, dem Antlitz und der Begegnung der Blicke. In ihnen artikuliert sich eine tiefe und reichhaltige Innerlichkeit. Durch sie realisieren sich tragende Beziehungen. Sie sind Ausdrucksformen selbstbewussten Lebens.182

————— 179

Frank, Die Wiederkehr des Subjekts in der heutigen deutschen Philosophie, 113. zitiert nach: Frank, Selbstgefühl, 79. 181 Herder, Zum Sinn des Gefühls, zitiert nach: Frank, ebd., 85. 182 Ich komme im Kapitel „Leiblichkeit“ auf diesen Zusammenhang zurück; vgl. Teil B, Kap. 4.5 und 4.6. 180

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Am Beispiel der elementaren Begegnung, mit der ich dieses Kapitel eröffnet habe, lassen sich diese Aspekte verdeutlichen. Der musikalische Dialog mit Axel ist eine Ausdrucksform selbstbewussten Lebens – auch wenn in ihm keine Verbalisierungen stattfinden. Angeregt durch die Wahrnehmung der Töne verändert sich die Selbst- und Situationswahrnehmung Axels. Im Hören auf das Xylophon werden in ihm selbst Töne angeschlagen. Zunächst kann er das Spiel der Pädagogin und das, was sich in ihm abspielt, noch nicht mit einander verbinden. Allmählich aber gelingt es Axel, das äußere und sein inneres Hören auf einander abzustimmen. Dabei entstehen nicht nur Klangimitationen sondern Variationen und neue Wendungen. In ihnen klingen nicht nur Axels augenblickliche Stimmungen an sondern auch seine Intentionen. Mit den Tönen, die er anschlägt und dem, was er mit ihnen zum Ausdruck bringt, steht er in einer Kommunikation mit der Pädagogin und den übrigen Personen in seiner Umgebung. Ein Dialog findet statt: aus Tönen und mit den in sie eingesenkten Intentionen. Mag Axel auch autistisch sein. Im Klangdialog tritt er, seiner selbst bewusst, aus sich heraus und in den Austausch mit anderen ein. Im Verhältnis zu sich selbst stehend, steht er in der Beziehung zu seiner Umwelt. (2) Vor dem Hintergrund des von mir skizzierten komplexen und differenzierten Verständnisses von Selbstbewusstsein erhält der Umstand Bedeutung, dass zur Subjektivität auch das persönliche Selbsterleben und die individuelle Selbstgewissheit gehören. Selbstbilder, Selbstkonzepte, Selbstgefühle und motivationale Dimensionen des Selbst. Jeder Mensch trägt in das Erleben und die Deutung seiner Lebenserfahrungen solche Dimensionen seines persönlichen Selbst ein. Umgekehrt beeinflussen die individuellen Erfahrungen dieses Selbstbild in der ganzen Breite seiner kognitiven, emotionalen und motivationalen Aspekte. Darüber hinaus wirkt sich auch der individuelle Sinnhorizont, der dem eigenen Leben Orientierung und Sicherheit gibt, auf das persönliche Selbst aus. Dieses persönliche Selbst in seiner Interdependenz mit sozialen Erfahrungen und dem individuellen Sinngrund der Person machen das – mehr oder weniger ausbalancierte – Beziehungsgefüge aus, das wir mit dem Begriff „Identität“ bezeichnen. In den Kapiteln „Sozialität“, „Glaube“ und „Inklusion“ werde ich auf diese Aspekte zurückkommen und sie jeweils ergänzen und vertiefen. Hier genügt die Verdeutlichung, dass das selbstbewusste Leben, das sich in Selbsterleben und Selbstgewissheit, Selbstbildern und Selbstkonzepten, Selbstgefühlen und Selbstmotivationen ausdrückt, für den Prozess der Identitätsbildung und -balancierung von zentraler Bedeutung ist. (3) Für Menschen mit einer geistigen Behinderung ist es von erheblicher Bedeutung, dass sie nicht unter der Defizitperspektive verminderter Intelligenz sondern als Subjekte mit einem reichen selbstbewussten Leben erkannt werden. Und sich selbst so erschlossen sind. Das persönliche Selbst

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entscheidet nicht nur über den Umgang mit der eigenen Behinderung. Es prägt zugleich die Deutung von Erfahrungen sowie die Wahrnehmung von Lebensperspektiven und Gestaltungsspielräumen. Am Beispiel zweier Interviews lässt sich dies verdeutlichen. Sie sind im Rahmen einer Diplomarbeit mit Müttern geführt worden, die in einer „Werkstatt für behinderte Menschen“ arbeiten und deren Angelegenheiten von einer gesetzlichen Betreuerin verwaltet werden. Die erste von beiden, die 1968 geboren ist, hat in der Zeit zwischen 1988 und 2000 vier Kinder zur Welt gebracht. Sie gilt als zu 50% behindert. Die andere, 1958 geboren, wurde 1983 von einem Kind entbunden. Sie gilt als zu 80% behindert. Die erste Mutter macht im Interview deutlich: „Ich bin 1999 schwanger geworden, gewollt, ich wollte schwanger sein“ und an einer späteren Stelle: „ich hab’ mich für das Kind entschieden“.183 Als sie den Eindruck hat, dass man ihr bereits im Krankenhaus das Kind wegnehmen will, verständigt sie umgehend ihre gesetzliche Betreuerin und macht deutlich. „Ich möchte nicht, dass […] die Kleine in andere, fremde Händen kommt. Ich möchte, dass ich das selbst großziehen kann.“184 Sie zieht deshalb anschließend in ein Mutter-Kind-Heim. Auf die Frage, ob es Leute gegeben habe, die gesagt hätten „schon wieder ein Kind“, antwortet sie: „Nein, die standen alle hinter mir.“185 An zahlreichen Stellen des Interviews zeigt sie, dass sie Selbstvertrauen zu sich hat, ihr Leben gestalten zu können: „ich bewältige doch den Tag!“,186 sagt sie an einer Stelle. Und mehrfach macht sie deutlich, dass sie stark genug ist, ihre eigene Position zur Geltung zu bringen: „ich hab’ das für mich entschieden“.187 Ganz anders die zweite interviewte Mutter. Gleich zu Beginn sagt sie: „das Kind sollte ich eigentlich gar nicht kriegen. Und der Chefarzt hat […] gesagt: Na eigentlich ist das für Ihnen gar nicht gut, ein Kind. Für Behinderte ist das nicht gut, ein Kind. Die können’s nicht pflegen, es muss ins Heim gleich. Musste gleich ins Heim mein Kind.“188 Nicht nur der Chefarzt – auch ihre übrige Umgebung macht ihr deutlich, dass sie als behinderte Frau kein Kind zur Welt bringen sollte: „die haben alle gesagt, dass ich verrückt bin, die haben alle mit mir geschimpft. Auch die Betreuer. Die haben gesagt: Du bist doch blöd, Du bist doch verrückt, dass Du ein Kind hast. Du weißt, dass du behindert und so. So was Wahnsinniges.“189 Das, was ihr so eindringlich vor Augen geführt und ins Bewusstsein eingeprägt ————— 183 184 185 186 187 188 189

Schmidt/Bloß, Eine Untersuchung zur Lebenssituation, Anhang 3 und 5. Ebd., 6. Ebd., 5. Ebd., 16. Ebd. Ebd., 45. Ebd., 50.

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wird, hat schließlich auch ihre eigene Überzeugung geprägt. Das Fremdbild wird zu ihrem Selbstbild. Auf die Frage, ob sie selbst denke, „dass es für Behinderte schädlich ist, ein Kind zu bekommen“ antwortet sie eindeutig mit „Ja, ja, doch.“ Und sie fügt eine Begründung an, die an ihrem Argument erkennen lässt, dass es sich um eine zum Selbstbild gewordene Zuschreibung handelt. „Weil ich mir denken, wenn ich jetzt, wenn behinderte Leute jetzt ein Kind hat, das Kind normal rauskommt und wir sitzen im Rollstuhl und können gar nichts für das Kind machen.“ Sie selbst ist gar keine Rollstuhlfahrerin! Aber sie hat die ihr zugeschriebene Unfähigkeit verinnerlicht und ist sich deshalb gewiss: „ich kann’s nicht“.190 An den Interviews mit den beiden Müttern werden zahlreiche und unterschiedliche Aspekte deutlich, die an dieser Stelle allerdings nicht diskutiert werden können: Zuschreibungen und Internalisierungen, Assistenzformen und Hilfestrukturen, soziale Ressourcen, Bildungsaspekte, Einstellungen und weitere Kontextfaktoren. Eines ist aber, so hoffe ich, deutlich geworden: innerhalb all dieser Faktoren, die die Kompetenz beider Frauen bestimmen, kommt auch ihrem Selbstbild, Selbsterleben und Selbstgefühl eine entscheidende Bedeutung zu: während sich in der erstgenannten Frau das Selbstbild verdichtet „ich bewältige doch den Tag!“, kommt die zweitgenannte für sich zu dem Resümee: „ich kann’s nicht“. Im Horizont des Themas „Subjektivität“ wird somit deutlich, dass das persönliche Selbst und die individuellen Lebensgewissheiten unverzichtbare Themen der Behindertenpädagogik sind und sein müssen. Assistenz darf sich nicht nur auf lebenspraktische Unterstützung beschränken. Vielmehr sollte sie auch Dialogangebote und Entwicklungsimpulse bereithalten, um die jeweils subjektiven Lebens-, Welt- und Sinndeutungen zu unterstützen. Dabei sind unterschiedliche Aspekte einer subjektorientierten Pädagogik denkbar und sinnvoll. Am Beispiel des Kölner Erlebnistheaters „SinnFlut“ lässt sich beispielsweise zeigen, dass die Begegnung mit anspruchsvoller Kunst ästhetische Bildungserfahrungen und subjektive Auseinandersetzungen ermöglicht.191 Andere pädagogische Konzepte konzentrieren sich auf die Narrationen und Selbstbeschreibungen von Menschen mit geistiger Behinderung und wenden sich den in ihnen enthaltenen Wirklichkeitskonstruktionen zu. So hat sich die Pilotstudie „Subjektive Theorien von Menschen mit geistiger Behinderung“192 auf die subjektive Konstruktion der biografischen Wirklichkeit konzentriert. Mit der Erschließung von Selbstkonzepten zielt sie auf die verbesserte Wahrnehmung der Wünsche, Bedürfnisse, psychischen Situation sowie auf die Förderung der Selbstartikula————— 190 191 192

Alle Zitate: Ebd., 46. Vgl. Teil B, Kap. 7.8 (3). Vgl. Giese/Hofmann/Overbeck, Subjektive Theorien.

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tion von Menschen mit geistiger Behinderung. Diese Forschung und eine auf sie aufbauende Pädagogik stehen allerdings noch am Anfang. Das ist auch das Ergebnis meiner Lektüre eine Reihe einflussreicher behindertenpädagogischer Konzepte, zu der ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels einen Überblick geben möchte.

3.6 Zur „Entdeckung des Ich“ in der Behindertenpädagogik. Ein vorläufiger Überblick Das Thema der Subjektivität habe, so lautet Manfred Franks Einschätzung, die moderne Philosophie in Atem gehalten. Eben dieses Grundinteresse schlägt sich aber im anthropologischen Diskurs der Behindertenpädagogik nicht in der gleichen Weise nieder. Im Gegenteil: Subjektivität ist hier überwiegend ein Randthema. Das mag in besonderer Weise damit zu tun haben, dass Subjektivität in der philosophischen Tradition oft mit Rationalität konnotiert gewesen ist und deshalb in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung eher Schwierigkeiten aufzuwerfen schien. Um behinderte Menschen nicht länger aus dem Menschenbild auszuschließen, so forderte beispielsweise Hermann Siegenthaler, „werden wir die Vernunftbegabung, die Sprache, das logisch-abstrakte Denken, die Welt- und Selbstgestaltung des Menschen etc. nicht mehr als Merkmale des menschlichen Wesens gelten lassen dürfen“.193 Obwohl Siegenthaler die Stichworte Subjektivität oder Selbstbewusstsein nicht ausdrücklich nennt, gibt er doch klar zu verstehen, dass sich eine inklusive Anthropologie für ihn konsequent antirationalistisch auszurichten habe. Auch andere Gründe dürften für die eigentümliche Reserviertheit der Behindertenpädagogik gegenüber dem Thema Subjektivität mitverantwortlich sein. So spielt in ihr beispielsweise die Kategorie der Personalität eine eher große Rolle. Einige inhaltliche Aspekte der Subjektivität werden so unter dem Thema Personalität bearbeitet. Auch mit anderen Begriffen wie z.B. dem des „inneren Halts“ sind Momente des menschlichen Selbstverhältnisses in den Blick genommen worden. (1) Die „Heilpädagogische Psychologie“ Paul Moors scheint mir ein Beispiel dafür zu sein, wie thematische Aspekte des subjektiven Lebens mit anderen begrifflichen Mitteln bearbeitet werden. Ihr Zentrum ist eine Theorie des „inneren Halts“, die nach den beiden Seiten des tätigen und des empfangenden Lebens hin entfaltet wird. Jede dieser beiden anthropologischen Ebenen, die aktive und die passive, reflektiert Moor in ihrer Entwicklung: vom Gegebenen über das Aufgegebene zum Verheißenen. Dabei —————

193 Siegenthaler, Vom Menschenbild in der Heilpädagogischen Tätigkeit, in: ders., Menschenbild und Heilpädagogik, 74.

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würden auf der Seite des tätigen Lebens das Können, das Wollen und die Empfänglichkeit ausgebildet. Auf der Seite des empfänglichen Lebens seien es das Angesprochensein, das Erfülltsein und die Verwirklichung. Im „inneren Halt“ verbinden sich auf diese Weise Willensstärke und Gefühlsreichtum. Zwischen den Dimensionen des Gegebenen, Aufgegebenen und dem Verheißenen existierten jeweils spezifische Beziehungen: „In der Tatkraft vollzieht sich die Wechselwirkung von Gegebenem und Aufgegebenem […], in der Leidenschaft diejenige von Gegebenem und Verheißenem“. Begeisterung dagegen sei die „beständig sich vollziehende Wechselwirkung von Aufgegebenem und Verheißenem“.194 In ihr wiederum verbinden sich geistige Fähigkeiten mit geistiger Einsichtigkeit und geistigem Leben. In diese Theorie des „inneren Halts“ zeichnet Moor auch die verschiedenen Formen der Entwicklungshemmung und Haltschwäche ein, zu denen die Behinderungen gehören. Die Ausprägungen von geistigen Behinderungen unterscheidet Moor danach, ob sie stärker auf der Ebene des Gegebenen, Aufgegebenen oder Verheißenen lokalisiert werden können. Mit meiner knappen Skizze habe ich die Grundzüge einer Theorie in den Blick genommen, in der das Stichwort der Subjektivität nicht auftaucht. Die einzelnen Aspekte des selbstbewussten Lebens: Empfänglichkeit und Tätigkeit, Ergriffenheit und Entscheidung, Gefühl und Wille, Leidenschaft, Tatkraft und Begeisterung werden in ihm aber thematisiert und bearbeitet. Die Theorie des „inneren Halts“ enthält insofern eine Reihe von Analogien zu einer differenzierten Theorie des Selbstbewusstseins. Zumindest in der von Moor ausgearbeiteten Form muss man allerdings auch auf deren Grenzen hinweisen: im Hintergrund der Unterscheidung zwischen dem Gegebenen, Aufgegebenen und Verheißenem steht bei Moor die Polarität zwischen dem Vitalen bzw. Natürlichen und dem Geistigen. Zu den Lebensformen, die dem Vitalen verhaftet bleiben, gehöre auch die geistige Dürftigkeit,195 zu der wiederum auch die Geistesschwäche zu zählen sei. Diese Deutung reduziert die Vielfalt der Gestalten und Äußerungen des subjektiven Lebens, indem sie die geistige Behinderung an die Sphäre des (bloß) Natürlichen annähert. (2) Andere Entwürfe nehmen das Stichwort „Subjektivität“ auf, assimilieren es aber bestimmten anthropologischen Kategorien, insbesondere denen der Personalität und der Leiblichkeit. So legt Wolfgang Jantzen den Personenbegriff beispielsweise im Horizont der Subjektivitätstheorie aus und widmet sich dabei insbesondere dem Phänomen unmittelbarer Selbstvertrautheit.196 Darüber hinaus knüpft er an die Beschreibung des psychi————— 194 195 196

Moor, Heilpädagogische Psychologie, Bd. 1, 287. Vgl. Moor, Heilpädagogische Psychologie, Bd. 2, 22 und 24–28. Jantzen, A Down’s is a person!, 40f.

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schen Seins an, wie sie Gilles Deleuze in seiner Differenzphilosophie gegeben hat. Auf die Schwierigkeiten, mit denen diese Akzentuierungen verbunden sind, habe ich an früherer Stelle hingewiesen.197 (3) Auch Christoph Anstötz widmet sich der Subjektivität nur im Zusammenhang der Personalität. Sein Konzept unterscheidet sich aber insofern von allen übrigen, dass er sich an einem konsequent rationalistischen Modell von Subjektivität orientiert. Anstötz schließt sich Peter Singers Personenbegriff an, in dessen Zentrum ein Verständnis von Selbstbewusstsein im Sinne von Rationalität sowie Zeit-, Distinktions- und Todesbewusstsein steht. Auf die theoretischen Schwierigkeiten dieser Position habe ich an früherer Stelle hingewiesen.198 Wie ich dort gezeigt habe, erweist sie sich darüber hinaus als ungeeignet für eine inklusive Anthropologie, da ihr vernunftorientierter Subjektbegriff Exklusion mit sich bringt, statt Inklusion zu praktizieren. (4) Unter den anthropologischen Entwürfen der Behindertenpädagogik haben die phänomenologischen und die systemischen Ansätze dem Phänomen der Subjektivität am meisten Beachtung geschenkt. Allerdings wird es auch von ihnen meistenteils im Zusammenhang anderer anthropologischer Phänomene reflektiert. Für die phänomenologischen Konzepte ist es insbesondere die leibliche Dimension des Menschseins. Für Dieter Gröschke beispielsweise ist die Leiblichkeit „eine existentielle Modalität der Person: Das Subjekt, wie es leibt und lebt“.199 Deshalb sei Bewusstsein stets „inkarniertes Sein“. In ähnlicher Weise nimmt auch Dieter Mattner die phänomenologische Rede vom Leib-Subjekt auf.200 Ursula Stinkes spricht vom Leibbewusstsein.201 (5) In wiederum anderer Weise wird Subjektivität in den systemischen Konzepten thematisiert. Otto Speck geht von der Grunderkenntnis Maturanas und Varelas aus, nach denen der Mensch ein autonomes System darstellt, das darauf angelegt ist, „sich selbst zu organisieren und zu spezifizieren“.202 Den Begriff der Autopoiese transformiert Speck zu dem der Autonomie. Auf der Grundlage solcher autonomer Prozesse baue der Mensch auch eine psychische und geistige Welt auf, die nicht nur durch Kognitionen sondern auch durch Emotionen bestimmt sei. Die jeweils „individuelle Entwicklung und Selbstwerdung“ vollziehe sich „in sozialer Koppelung mit der Umwelt“.203 Speck widerspricht ausdrücklich der Einseitigkeit von La————— 197 198 199 200 201 202 203

Vgl. Teil B, Kap. 2.9 (6). Vgl. Teil B, Kap. 2.7 (2). Gröschke, Praxiskonzepte der Heilpädagogik, 197. Vgl. Mattner, Gerspach, Heilpädagogische Anthropologie, 81ff. Vgl. Stinkes, Spuren eines Fremden in der Nähe, 154–157. Speck, System Heilpädagogik (1998), 293. Ebd., 297.

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beling-Ansätzen, die die interagierende Funktion des Subjekts vernachlässigten. Stattdessen betont er die Unhintergehbarkeit des personalen Selbst neben dem sozialen. Unter ihm versteht er mit Michael Argyle „‚das bewußte Subjekt und aktive Agens im Verhalten, das Entscheidungen fällt‘“.204 Unter Einbeziehung von Einsichten der „Humanistischen Psychologie“ sowie der Neurobiologie arbeitet Speck heraus, dass dem „personalen Selbst“ eine zentrale Rolle für die Bewältigung und Gestaltung des individuellen Lebens zukommt. Speck resümiert: „Wir sehen in dieser wissenschaftlichen Rehabilitation des Selbst-bewußtseins eine explizite existentielle Chance des Menschen mit einer Behinderung, aus seinem Leben mehr machen zu können, als seine Schädigung determiniert. Er kann seine Behinderung transzendieren, sie umdeuten, sie geistig über-leben. Freilich nicht er allein, sondern nur in menschlich dynamischer Teilhabe.“205 Die Rehabilitation des Subjekts führt Speck schließlich auch dazu, sich intensiv der Rolle von Existenzdeutungen, Identitätsfragen, Sinnerleben und Lebensgewissheiten zu widmen. Damit schenkt er zentralen Aspekten des subjektiven Lebens seine Aufmerksamkeit und bezieht diese in seine pädagogische Überlegungen ein. (6) Georg Theunissen entwickelt seine Überlegungen zur Subjektivität innerhalb einer „basalen Anthropologie“, die Impulse Adolf Portmanns aufnimmt. Dabei schließt sich Theunissen Portmanns Beschreibung der Innerlichkeit lebendiger Gestalten an, nach der „‚Lebewesen in der Welt als Subjekte auftreten, dass sie als relativ autonome Zentren des Handelns in ihre Umgebung eingreifen und in ihr sich einrichten‘“.206 Diese Innerlichkeit und Subjektivität sei allerdings nicht an ein bewusstes Ich gebunden, sondern bestehe schon vor und unabhängig von Bewusstseinsvorgängen. Theunissen zufolge gilt dies bereits „für einzellige Wesen, für Polypen oder Formen, die kein eigentliches Nervensystem besitzen“.207 Entscheidendes Merkmal von Subjektivität wird so die Selbststeuerung eines Organismus in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Bereits die formale Autopoiesis eines Lebewesens gilt so als Subjektivität, nicht erst das selbstbewusste Erleben eines Ich. Wenn Theunissen in anderen Zusammenhängen von Selbstbestimmung, Autonomie und Freiheit als „wesenhaft zum Menschsein“208 gehörigen Aspekten spricht, so sind damit jeweils selbstorganisierende und -regulierende Prozesse gemeint, die in einer so weit verstandenen Subjektivität gründen. ————— 204 205 206 207 208

Argyle, Soziale Interaktion, Köln, 1972, 347, Zitat bei Speck, ebd., 241. Ebd., 247. Portmann, Entlässt die Natur den Menschen?, München, 1970, 15. Theunissen, ebd., 65. Theunissen, Wege aus der Hospitalisierung, 105.

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Besonders in der von Theunissen vertretenen Theorie und Praxis des Empowerment nimmt die „Ich-Perspektive“ eine bedeutende und eigenständige Rolle ein. Subjektzentrierung ist hier ein pädagogisches Leitprinzip und mit der Aufgabe verbunden, den Menschen mit einer geistigen Behinderung „als Person in seiner Subjekthaftigkeit zu erschließen“.209 Der Subjekt-Perspektive210 komme pädagogisch eine zentrale Rolle zu. Deshalb gelte es, „individuelle Wirklichkeitsdeutungen, subjektive Erfahrungen und Befindlichkeiten, Wünsche, Bedürfnisse wie aber auch das Recht auf Eigen-Sinn, So-Sein, Einmaligkeit oder Einzigartigkeit menschlichen Seins, unkonventionelle Lebensentwürfe wie auch eigene Zeitpläne anzuerkennen und ernst zu nehmen“.211 Am Beispiel eines Unterrichtsprojektes in der Unter- und Mittelstufe einer Förderschule hat Theunissen auf zentrale Aspekte einer pädagogischen Förderung von Prozessen der Selbstfindung bei Kindern mit einer geistigen Behinderung aufmerksam gemacht. Das Projekt heißt „Ich bin Ich“212 und zielt darauf ab, „emotionale Stabilität, Ich-Bewusstsein, Selbstwertgefühl und Ich-Stärke“213 der Kinder zu fördern. In acht Teilschritten bearbeitet es am Beispiel der Geschichte von Mira Lobe „Das kleine Ich bin ich“ unterschiedliche Themen der Identitätssuche und -bildung. Dazu gehören Fragen wie: „Was will ich?“, „Wer bin ich?“, „Wie bin ich?“, „Was kann ich?“ aber auch „Wie ist der andere?“, „Was kann er besonders gut?“ und „Wobei benötigt er Hilfe?“. Das Projekt unterstützt damit die Identitätsfindung von Kindern mit einer geistigen Behinderung in der sozialen Beziehung mit ihrer Umwelt. (7) Die pädagogischen Konzepte, die dem Phänomen „Subjektivität“ Raum geben, bedürfen nicht nur anthropologischer Plausibilität sondern auch breiter empirischer Absicherung. Eine darauf gerichtete Forschung hat in den letzten Jahren erst begonnen. Die bereits erwähnte Pilotstudie „Subjektive Theorien von Menschen mit geistiger Behinderung“214 gehört dazu. Mit dem Ziel, „das Selbstkonzept und die möglichen Auswirkungen künstlerisch-kreativen Handelns […] von Menschen mit geistiger Behinderung im Erwachsenenalter“215 zu untersuchen, hat Saskia Schuppener eine Untersuchung mit insgesamt 112 Personen mit einer geistigen Behinderung ————— 209

Ebd., 143. Vgl. dazu auch die Subjekt-Dimension innerhalb des Begriffs von geistiger Behinderung, in: Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 37–40. 211 Theunissen/Plaute, Handbuch Empowerment und Heilpädagogik, 36. 212 Vgl. ebd., 164–178. 213 Ebd., 166. 214 Vgl. Giese/Hofmann/Overbeck, Subjektive Theorien. Weiterhin zu nennen ist die Auswertung von Interviews bei Julius, Identität und Selbstkonzept. 215 Schuppener, Selbstkonzept und Kreativität, 150. 210

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durchgeführt. Je zur Hälfte bestand die Gruppe aus Erwachsenen mit bzw. ohne künstlerisch-kreative Tätigkeit. Methodisch verbindet Schuppeners Studie quantitativ und qualitativ orientierte Forschungsansätze: ein (nonverbales) standardisiertes Verfahren und eine Videoanalyse, einen strukturierten Fragebogen mit geschlossenen Fragen und vorgegebenen Antwortkategorien (Selbstkonzeptskalen) und schließlich ein halbstrukturiertes Interview mit offenen Fragen.216 Bei den Selbstkonzeptskalen orientiert sie sich an einer Differenzierung der Konzeptbereiche in ein soziales, emotionales und kognitives Selbstkonzept sowie ein Leistungs- bzw. Fähigkeitsbezogenes und ein Körperselbstkonzept.217 Die Ergebnisse ihrer Untersuchung weisen nach Schuppener „über alle einzelnen Skalen und auch Gruppen hinweg ein grundlegend positives Selbstkonzept der befragten Untersuchungsteilnehmer nach“.218 „Trotz vermuteter ungünstiger Kontextbedingungen“, so schlussfolgert sie, „ist es Menschen mit geistiger Behinderung möglich, ein grundlegend positives Selbstkonzept zu entwickeln und aufrecht zu erhalten.“219 Diese Aussage bestätigte sich über die quantitativen Selbstkonzeptaussagen hinaus auch in den qualitativen Interviews.220 In Bezug auf die einzelnen Selbstkonzeptbereiche traten z.T. erkennbare Differenzen zwischen den beiden untersuchten Gruppen hervor. Während diese beim sozialen, dem leistungsbezogenen und dem Körperselbstkonzept nicht signifikant blieben, traten die Unterschiede in den anderen beiden Bereichen umso deutlicher hervor. So waren die Künstler emotional ausgeglichener und stabiler als die Nicht-Künstler, kognitiv dagegen reflexiver und kreativer. „Das Selbstkonzept von Künstlern mit einer geistigen Behinderung ist vergleichsweise emotional stabiler und kognitiv reflexivkreativer, als das Selbstbild von Personen mit geistiger Behinderung ohne künstlerische Erfahrung.“221 Auf Grund dieser Ergebnisse wird deutlich, dass künstlerisch-kreative Tätigkeit ein zentraler Impuls zur Entwicklungsund Selbstbestimmungsförderung sein kann. (8) Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die anthropologischen Konzepte der Behindertenpädagogik dem Phänomen Subjektivität unterschiedlich starke Aufmerksamkeit schenken. Während es in einigen Ent————— 216

Vgl. ebd., 153. Vgl. ebd., 169–178. 218 Ebd., 251. 219 Ebd., 252. 220 Vgl. ebd., 263: „Die qualitativen Interviewergebnisse weisen analog zu den quantitativen Selbstkonzeptaussagen auf grundlegend positive subjektive Theorien hin. Fragenübergreifend wurden Anzeichen allgemeiner Lebenszufriedenheit deutlich, die […] auf einen positiven Selbstwert sowie mentale und physische Gesundheit schließen lassen“. 221 Ebd., 261. 217

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würfen gar nicht auftaucht, wird es in zahlreichen anderen im Zusammenhang des Personenbegriffs bearbeitet. Otto Speck und Georg Theunissen räumen ihm einen vergleichsweise breiten Raum ein. Beide stimmen darin überein, dass der Thematisierung der Subjekt-Perspektive erhebliche Bedeutung für die Identitätsbildung zukommt: Selbstbewusstsein als Voraussetzung einer Selbstverständigung, mit der Lebensfragen geklärt und Lebensthemen bewältigt werden. Trotz dieser Übereinstimmung sind Unterschiede nicht zu übersehen. Unverkennbar zielt Speck auf eine sowohl kognitive wie emotionale Selbst-Entwicklung einschließlich subjektiver Lebensdeutung und Sinnsuche. Gegenüber dem Aspekt des Sinnerlebens scheint Theunissen dagegen zurückhaltender zu sein. Im Zusammenhang mit individuellen Wirklichkeitsdeutungen und Lebensentwürfen wird er zwar sicher mit eingeschlossen. Aber die Sinndeutung als solche wird von ihm nicht explizit zum Thema gemacht. Die emotionale Ebene wiederum tritt als Frage emotionaler Stabilität in den Blick, nicht aber als ein zu pflegender und zu fördernder Reichtum an Gefühlen. Theunissen orientiert sich seinerseits stärker an den subjektiven Wünschen und Bedürfnissen, der IchStärke, dem Bewusstsein individueller Kompetenzen sowie dem Wachstum des Ich-Bewusstseins in sozialen Beziehungen. Ungeachtet dieser Nuancen gehen sowohl Speck wie auch Theunissen von einem unscharfen und reduzierten Subjektbegriff auf. Wenn allein der autopoietische Selbstregulierungsprozess eines Lebewesens in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt den Sachverhalt von Subjektivität erfüllt, wird diese tendenziell zu einem leeren Begriff. Die Ablösung des Subjektbegriffs von allen Formen eines selbstbewussten Lebens, so dass er auch für Einzeller reserviert werden kann, macht seine Verwendung zu einer semantischen Leerformel. Wenn alles, was lebt, Subjekt ist, ist eigentlich nichts mehr Subjekt. Ihr Begriff wird dadurch aus relevanten empirischen Bezügen herausgelöst, jeglichen Unterscheidungsvermögens beraubt und damit im buchstäblichen Sinn gegenstandslos. Ich halte diese Entgrenzung des Subjektbegriffs auf alle Lebewesen für eine Unterforderung der Selbst-Verständigung über Subjektivität. Ohne eine differenzierte Berücksichtigung der Strukturen, Dimensionen und Interdependenzen des Selbstbewusstseins bleiben zentrale anthropologische, ethische und pädagogische Prinzipien „in der Luft hängen“ und dadurch bloße Behauptungen. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, Selbstgewissheit und Selbstbilder, Selbstkonzepte und Selbstwertgefühle sind vielmehr unhintergehbar mit Strukturen menschlicher Subjektivität verbunden, die es differenziert zu analysieren und zu berücksichtigen gilt. Die Behindertenpädagogik hat dieses Thema ohne Zweifel für sich wahrund angenommen. Der theoretische Orientierungsrahmen, in dem sie es reflektiert, ist aber m.E. ergänzungsfähig und erweiterungsbedürftig. Zu

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wünschen ist, dass in den kommenden Jahren die empirischen Forschungen zu den Selbstkonzepten von Menschen mit geistiger Behinderung ausgedehnt, die theoretische Vergewisserung zu den Strukturen von Subjektivität vertieft und auf dieser Grundlage die bereits bestehenden Konzepte zu einer subjektorientierten Pädagogik erweitert werden. Die ersten empirischen Arbeiten, die sich den Selbstbildern und Selbstkonzepten von Menschen mit geistiger Behinderung zuwenden, bestätigen die Relevanz der Kategorie „Subjektivität“. Ihre Ergebnisse zeigen, dass der vertieften Beschäftigung mit diesem Thema erhebliche Konsequenzen für die pädagogische Arbeit zukommen dürften. Indem sie zu dem Ergebnis222 kommen, dass das Selbstbild der Betroffenen weitaus positiver ist, als es die Theorien der Behinderung hätten erwarten lassen, wird deutlich, dass Subjektivität nicht nur hinzunehmen ist, sondern ein eigenes pädagogisches Thema darstellt: in Gestalt biografischer Kommunikation ebenso wie in künstlerisch-kreativer Arbeit oder religiöser Vergewisserung.

—————

222 Vgl. Julius, Identität und Selbstkonzept, 184: „Alle Befragten geben an, sich wohl zu fühlen, zeigen Zufriedenheit mit ihrer momentanen Lebenssituation und beschreiben sich selbst in überwiegend positiver Weise.“

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4. Leiblichkeit oder: „ich bin mein Leib“ (Maurice Merleau-Ponty) Leiblichkeit Helmut fällt es auch ein halbes Jahr nach seiner Einschulung schwer, die neue Situation für sich zu akzeptieren. Häufig weint er, scheinbar unmotiviert, laut und anhaltend. Er sucht Körperkontakt, er schreit, manchmal lacht er. Stets lautstark. Gelegentlich hat er epileptiforme Anfälle. Helmut ist ein Kind mit einer schweren geistigen Behinderung. Sein Verhalten provoziert, macht ratlos und nervt schließlich. Auch nach vielen Bemühungen ist es der Pädagogin nicht gelungen, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Jetzt versucht sie erneut, eine störungsfreie und beziehungsfördernde Atmosphäre herzustellen. Sie setzt sich mit Helmut auf eine Schaumstoffmatte, zeigt ihm einen Bass-Klangstab und beginnt, mit ihm gemeinsam Töne anzuschlagen und nachhallen zu lassen. Plötzlich lehnt er seinen Kopf an die Wange der Pädagogin. Diese reagiert, indem sie ihren Kopf sanft an seine Stirn drückt. Er wiederum reibt seine Stirn vorsichtig an ihrer Wange. Helmut atmet tief und ruhig. Der Stirn-Wangen-Druck wird von beiden mehrfach wiederholt. Die Pädagogin bemerkt, dass Helmuts Beine, die er ansonsten auf Grund seines Spasmus stets angewinkelt hat, völlig entspannt auf der Matte liegen. Nach einiger Zeit richtet die Pädagogin seine Aufmerksamkeit wieder auf das Instrument. Helmut bleibt entspannt. Er kann jetzt das Holz aktiver festhalten; seine Freude über den entstehenden Klang ist intensiver. Den Rest des Tages weint Helmut nicht mehr.1 Diese Episode, die Barbara Fornefeld berichtet und reflektiert, bringt eine prägnante pädagogische Situation in der Arbeit mit geistig schwer behinderten Menschen zum Ausdruck. An zentraler Stelle gelingt es hier der Pädagogin, eine Beziehung zu Helmut über einen elementaren leiblichen Dialog herzustellen. Die sanften Berührungen ihrer Wange und seiner Stirn sind mehr als „nur“ Berührungen. Sie sind die leiblich inkarnierten „Sätze“ in einer Kommunikation ohne Worte. Sie sind „Rede“ und „Antwort“ in einem Körpergespräch. Barbara Fornefeld spricht an dieser Stelle von „elementaren Beziehungen“ und sieht in ihnen zentrale Dimensionen für eine leiborientierte Pädagogik. Körpergespräche sind Teil der menschlichen Kommunikation. Das wissen Mütter und Väter von Kleinkindern. Liebende spüren es. In der Pflege ————— 1

Vgl. Fornefeld, „Elementare Beziehung“ und Selbstverwirklichung, 122f.

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ist es bekannt. Körpergespräche machen auf die unhintergehbare Bedeutung der Leiblichkeit für das Menschsein aufmerksam. Für das eines jeden. Bei Menschen mit einer schweren geistigen oder mehrfachen Behinderung wird der leiblich zentrierte Dialog zu einer besonders wichtigen Möglichkeit sowohl für die Begegnung mit ihnen als auch für pädagogische Prozesse. Ich wende mich in diesem Kapitel dem allgemeinen menschlichen Phänomen der Leiblichkeit zu und will theologische, anthropologische und pädagogische Gesichtspunkte herausarbeiten. Dabei wende ich mich zunächst Aspekten des biblischen Zeugnisses zu (4.1), blicke anschließend auf die Reflexion des Leib-Seele-Themas in der Philosophie- und Theologiegeschichte (4.2) und stelle an drei Entwürfen heutige theologische Thematisierungen der Leiblichkeit vor (4.3). Mit der Anthropologie Helmuth Plessners beziehe ich eine zentrale philosophische Theorie ein (4.4) und versuche anschließend, unter Bezugnahme auf phänomenologische Einsichten die Leibhaftigkeit der menschlichen Existenz zu reflektieren (4.5). Abschließend arbeite ich die Bedeutung der Leiblichkeit in der Behindertenpädagogik heraus (4.6).

4.1 Gottebenbildlichkeit und Leiblichkeit. Aspekte des biblischen Zeugnisses Die lapidare und prosaisch wirkende Aussage in Gen 1,27 „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“ hat in der Theologiegeschichte zu vielfältigen Spekulationen Anlass gegeben, worin diese imago bestehe und woran man sie erkennen könne. Vernunft, unsterbliche Seele, Verantwortung, Sittlichkeit. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Alle Bemühungen in diese Richtung haben die gleichen Schwächen: sie wechseln zum einen die Perspektive, indem sie die imago Dei aus ihrer Gottesrelation herauslösen und aus dem Kontext weltlicher Beziehungen heraus interpretieren. Zum anderen aber verkennen sie die Struktur des hebräischen Denkens, das weder Trichotomie, Dichotomie noch andere analytisch zergliederte anthropologische Bereiche kennt.2 Vielmehr ist es stets synthetisch ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund ist beides zum Scheitern verurteilt: der Versuch, die imago Dei an der menschlichen Natur ablesen zu wollen ebenso wie das Ansinnen, im hebräischen Denken Anhaltspunkte für eine Separierung von Geist, Seele oder Leib zu finden. Vielmehr: Gott zeichnet den Menschen als Bild Gottes aus. Die Aussage des Schöpfungsberichtes in Gen 1,27 ist gera-

————— 2

Vgl. Krieg, Leiblichkeit im Alten Testament, in: Krieg/Weder, Leiblichkeit, 8.

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de in ihrer prägnanten Kürze ernst zu nehmen. Sie bringt zum Ausdruck: „Der ganze Mensch ist gottesbildlich geschaffen“.3 (1) Das Thema „Leiblichkeit“ erfährt in der gesamten hebräischen Bibel vor diesem Horizont seine Einordnung. So wenig wie als Geist wird der Mensch im hebräischen Denken isoliert als Leib reflektiert. Der Mensch wird vielmehr als ganzheitliches und zugleich relationales Wesen gedacht. „Diese Relationalität […] drückt sich aus in seiner Leiblichkeit und geht nie an ihr vorbei.“4 Deshalb implizieren die ganzheitlich zu verstehenden anthropologischen Grundbegriffe der hebräischen Bibel jeweils auch die Dimension der Leiblichkeit. Die Bedeutung dieser Grundbegriffe nimmt jeweils von einem konkreten Organ ihren Ausgang und hat zugleich eine semantische Erweiterung erfahren. So ist rf'b' (basar; dt. Fleisch) zunächst die Bezeichnung für die Haut des Menschen (Ps 102,6). Später bringt das Wort die äußere Gestalt und sichtbare Körperlichkeit als Ganzes zum Ausdruck (Gen 2,23). Die ursprüngliche organische Bedeutung von Ble (Leb; dt. Herz) ist noch in der deutschen Übersetzung zu erkennen. Von dem Organ „in der Mitte“ des Menschen wurde es im Zug seiner Bedeutungserweiterung zum Begriff für das innere Kräftezentrum5 des Menschen, das zugleich Zentrum der Gefühle, des Denkens, Wollens und Begehrens ist (z.B. Jer 23,9; Spr 16,23; Ps 21,3).6 Einen wiederum anderen Akzent hat vp,n< (Näfäsch; dt. Seele). Sie bezeichnete anfänglich den Hals, Schlund bzw. die Gurgel oder Kehle des Menschen.7 Später wird zur Bezeichnung für das individuelle Leben (z.B. Ex 21,23), ja für „das individuelle Lebensprinzip oder Selbst, das den Menschen zur Person macht und seine unverwechselbare Eigenart bestimmt“8 (z.B. Lev 17,11). In jedem dieser anthropologischen Grundbegriffe kommt die ganze menschliche Existenz aus einer jeweils besonderen Perspektive in den Blick.9 Leiblichkeit ist stets ein Moment innerhalb dieser Ganzheitlichkeit des Menschen. Sie ist bereits im organischen Ursprung der Begriffe mitgesetzt. Aber auch in ihrer erweiterten Bedeutung klingt die leibliche Dimension als Implikat an: das ist in der äußeren Gestalthaftigkeit (basar) besonders offensichtlich aber auch beim inneren Kräftezentrum (leb) und dem individuellen Lebensprinzip bzw. Selbst (näfäsch) nicht zu übersehen. Der gottebenbildliche Mensch der hebräischen Bibel ist stets der ganze und deshalb auch der leibliche Mensch. (2) Die Anthropologie der frühen Christen steht in großer Kontinuität zur hebräischen Tradition. Ich konzentriere mich hier auf die paulinische Theo————— 3 4 5 6 7 8 9

Von Rad, Das erste Buch Mose, 45 [Hervorhebung von mir; U.L.]. Krieg, Leiblichkeit, 9 Vgl. ebd., 11. Vgl. Kaiser, Der Gott des Alten Testaments, Bd. 2, 297f. Vgl. Krieg, Leiblichkeit, 12. Kaiser, Der Gott des Alten Testaments, Bd. 2, 293. Vgl. Krieg, Leiblichkeit, 13.

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logie. Die Bedeutung der anthropologischen Grundbegriffe UYOC(soma; dt. Leib, Körper), MCTFKC(kardia; dt. Herz) und [WEJ(psychä; dt. Seele) stimmt in hohem Maße mit denen von basar, leb und näfäsch überein. Sie „bezeichnen nicht jeweils einen Teil des Menschen, sondern den ganzen Menschen“.10 Die paulinische Anthropologie setzt darüber hinaus aber auch eigene Akzente. Der Begriff UYOC(soma) bezeichnet zunächst die Leiblichkeit des Menschen in ihrer Geschöpflichkeit.11 Dabei gilt auch hier: der Mensch hat keinen Leib, sondern ist Leib.12 Deshalb geht die Bedeutung des Begriffs über den Körper hinaus und umfasst die Person insgesamt, den Menschen als ganzen, sein Selbst (Röm 8,23; 1Kor 6,13).13 Als UYOCsteht er anderen Menschen gegenüber, als UYOCsteht er in einem Verhältnis zu sich selbst. Deshalb kann er auch dem Anspruch Gottes widersprechen und sich selbst verfehlen. In diesem Fall gewinnen andere Mächte und Gewalten Herrschaft über ihn. Insofern steht der ganze Mensch als UYOCentweder in einer Beziehung zu Gott oder unter der Herrschaft der Mächte. Einen anderen Aspekt der Leiblichkeit bringt der Begriff UCTZ (sarx) zum Ausdruck. An manchen Stellen ähnlich wie UYOCim Sinne von Leib gebraucht (z.B. Gal 4,13), verwendet Paulus den Begriff häufig dort, wo er von dem auf sich selbst vertrauenden, selbstbezogenen und selbstgenügsamen Menschen spricht (z.B. Röm 8,5–8, Gal 5,19–21). Der nach dem Fleisch lebende Mensch ist der unter der Macht der Sünde stehende und ihr ausgelieferte Mensch. Der Begriff UCTZ wird so „zum Inbegriff eines von Gott losgelösten und sich gegen Gott auflehnenden Lebens“.14 Ähnlich wie schon in der hebräischen Bibel ist auch bei den anthropologischen Begriffen, die eher eine innere Dimension des Menschen zur Sprache bringen, die Implikation eines leiblichen Aspektes erkennbar. -CTFKC(kardia), die das Ich des Menschen als Subjekt des Fühlens, Wollens und Begehrens15 bezeichnet, ist keineswegs auf eine vom Äußeren getrennte innere Sphäre beschränkt. Die Liebe Gottes, die „ausgegossen [ist] in unsere Herzen“ (Röm 5,5) erfüllt vielmehr den ganzen Menschen. Paulus nennt die korinthische Gemeinde sogar einen Brief, der mit dem Geist des lebendigen Gottes „auf fleischernen Herzenstafeln“ (GXP RNCZKP MCTFKCKL UCTMKPCKL) geschrieben ist (2Kor 3,3). Ähnlich verhält es sich auch mit dem Begriff [WEJ (psychä). Paulus verwendet ihn, „um das Leben in ————— 10

Lohse, Grundriss der neutestamentlichen Theologie, 87. Vgl. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, 66. 12 Vgl. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 191. 13 Vgl. ebd., 192: „durch UYOC kann der Mensch, die Person als ganze, bezeichnet werden“; Schnelle, ebd., 68: „Paulus gebraucht UYOC als umfassenden Ausdruck des menschlichen Selbst.“ 14 Schnelle, ebd., 73. 15 Vgl. Lohse, Grundriss der neutestamentlichen Theologie, 90. 11

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seiner Gesamtheit (Röm 2,9) oder alle Menschen (Röm 13,3) damit zu bezeichnen“.16 An Paulus’ Formulierung, dass sein Mitarbeiter Epaphroditus „sein Leben aufs Spiel gesetzt“ habe (RCTCDQNGWUCOGPQL VJ^ [WEJ; Phil 2,30), wird die leibliche Implikation des Begriffs besonders deutlich. Mit dieser knappen und keineswegs alle Aspekte des Themas aufgreifenden Erkundung des biblischen Zeugnisses wird deutlich, dass in ihm die conditio humana durchgängig die Dimension der Leiblichkeit einschließt. Dabei wird aber der Körper keineswegs von den anderen Aspekten des Menschseins isoliert. Vielmehr wird der Leib einerseits so umfassend gedacht (basar/soma), dass er als Verhältnis des ganzen Menschen zu sich selbst in den Blick kommt, das sich entweder von Gott in Anspruch nehmen lässt oder aber unter die Herrschaft fremder Mächte gerät. Andererseits wird selbst der innere Horizont des menschlichen Fühlens, Wollens und Begehrens (leb/kardia, näfäsch/psychä) in eine leibliche Perspektive eingerückt. Selbst die eschatologische Verwandlung des Menschen zum Bild Gottes wird von Paulus als eine Verwandlung des Leibes verstanden: „Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib“ (1Kor 15,44). In dieser Auferstehung werden die Gläubigen dem Bild Christi gleich: „wie wir getragen haben das Bild des irdischen, so werden wir auch tragen das Bild des himmlischen“ Menschen, Christus (1Kor 15,49). Der gottebenbildliche Mensch ist leibbestimmt – in der Schöpfung ebenso wie in der Erlösung und Vollendung.

4.2 Zwischen Hochschätzung und Verachtung. Der Blick auf den Leib in der Theologie- und Philosophiegeschichte Trotz der durchgängigen Hochschätzung der Leiblichkeit als Konstitutionsmerkmal des Menschseins im hebräischen und frühchristlichen Denken, erfährt der menschliche Körper in der Alten Kirche eine zunehmend zurückhaltende Bewertung. Mit dem Einfluss, den das hellenistische Denken und insbesondere die platonische Philosophie für die altkirchliche Theologie erhielten, trübte sich die Wertschätzung ein und schlug gelegentlich in Geringschätzung um. Impulsgebend für eine solche Tradition der Despektierlichkeit ist beispielsweise der Dialog „Phaidon“ geworden. In ihm entwickelt Platon die Vorstellung, dass die zum Bereich des Unsichtbaren gehörige Seele, dann, wenn sie in der sinnlichen Wahrnehmung auf den Leib angewiesen ist, von diesem auf die Seite des Sichtbaren, Vergänglichen, sich Auflösenden gezogen werde. Daraus resultiere, „daß sie dann ————— 16 Schnelle, ebd., 122. Bei der Stellenangabe Röm 13,3 ist Schnelle offenbar ein Fehler unterlaufen: die Formulierung RCUC[WEJim Sinne von „jeder Mensch“ findet sich in Röm 13,1.

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selbst schwankt und irrt und wie trunken taumelt“.17 Deshalb gebiete es die Natur dem Leib, dass er der Seele diene und sich von ihr beherrschen lasse. Im Tod jedoch mache sich die Seele aus der Verklammerung los und ziehe nichts von dem Leibe mit sich, „weil sie mit gutem Willen nichts mit ihm gemein hatte im Leben, sondern ihn floh und in sich selbst gesammelt blieb“.18 Der Sog der in diesen Sätzen versammelten Leibskepsis hat über Jahrhunderte nachgewirkt. Auch die Theologie ist von einem „Unbehagen am Leib“ angesteckt worden.19 In großer Eintracht haben Philosophen und Theologen über Jahrhunderte der Leiblichkeit eher scheele Blicke zugeworfen. Unter den dualistischen Vorgaben des Leib-Seele-Diskurses zog der Leib regelmäßig den Kürzeren. So bekennt beispielsweise Lactantius: „der Seele haftet das Gute an, dem Leib das Böse, der Seele Licht, Leben und Gerechtigkeit, dem Leib Finsternis, Tod und Ungerechtigkeit“.20 Basilius von Caesarea rät dazu, dem Leib lediglich das Notwendige zu geben; im Übrigen solle er in strenger Zucht gehalten werden.21 Nuancierter urteilt Augustinus. Für ihn ist es einerseits selbstverständlich, dass ein Mensch „überhaupt seinen Leib liebt und ihn gesund und unversehrt erhalten will“.22 Wer seinen Leib zu hassen meine, täusche sich selbst. Andererseits will auch er des Leibes „Begierlichkeit […] bändigen und ihn unter das Joch des Geistes bringen“.23 Die Erinnerung an die biblische Betonung der LeibSeele-Einheit hat vielfach in der Theologiegeschichte dafür gesorgt, dass die Geringschätzung des Leibes gebremst und auch seiner Wertschätzung Raum zuteil geworden ist. Ambrosius nennt den Leib das Kleid der Seele und die Kraft der Seele das Lebensprinzip des Geistes.24 Luther hat dem traditionellen Dualismus mit Verweis auf Paulus eine totus-homo————— 17

Platon, Phaidon, in: ders., Werke, Bd. II.3, 40 (79). Ebd., 42 (80). 19 Karl Rahner und Albert Görres haben vom christlichen „Unbehagen an der Materie“ gesprochen (vgl. Schrey, Art.: Leib/Leiblichkeit, 641). 20 Lactantius, Vom Zorne Gottes, in: ders., Des Luc. Cael. Firm. Lactantius Ausgewählte Schriften, 105. 21 Vgl. Basilius der Große, Mahnwort an die Jugend über den nützlichen Gebrauch der heidnischen Literatur, in: ders., Des heiligen Kirchenlehrers Basilius des Großen Ausgewählte Schriften, Bd. 2, 461–464; 463: „Mit einem Worte: Wer sich nicht im Schlamme sinnlicher Lust vergraben will, der muß den Leib überhaupt verachten, bzw. darf nur insoweit an ihn sich halten, als er […] beim Streben nach Weisheit behilflich ist […]. Man muß also […] den Leib züchtigen und niederhalten wie das Ungestüm eines Tieres, und ungeordnete Regungen, die er in der Seele weckt, mit der Geißel der Vernunft dämpfen“. 22 Augustinus, Über die christliche Lehre, in: ders., Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften, Bd. 8, 33. 23 Ebd., 32. 24 Ambrosius, Des Heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Ausgewählte Schriften, Bd. 2, 391, in der Auslegung von Luk 12,22f: „Da nun der Leib das Kleid der Seele und die Kraft der Seele das Lebensprinzip des Leibes ist, wäre es widersinnig zu glauben, es könnte uns künftig an Lebensunterhalt gebrechen, die wir das zum Leben Nötige fort und fort empfangen“ . 18

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Anthropologie gegenübergestellt.25 Zu Paulus’ Wort „Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, und den Geist wider das Fleisch“ (Gal 5,17) schreibt Luther: „Ich scheide das Fleisch, die Seele, den Geist nicht von einander […] sondern ich verstehe den ‚Geist‘ und das ‚Fleisch‘ für den ganzen Menschen […]. Soviel der Mensch göttlich Ding vernimmt, ist er Geist; soviel er von den Lüsten des Fleisches bewegt wird, ist er Fleisch.“26 In der Neuzeit hat René Descartes dem platonischen Dualismus noch einmal philosophischen Schwung verliehen. Seine Entdeckung des unbezweifelbaren Selbstbewusstseins hat er mit einer schroffen Abgrenzung zum Körper, der „Gliedermaschine“, verbunden: „Jener Komplex von Gliedern, den man den menschlichen Leib nennt, bin ich nicht“ .27 „Also was bin ich nun? Ein denkendes Ding.“28 Die Revision der abendländischen Geringschätzung des Leibes ist im Empirismus vorbereitet29 und in der Philosophie des 19. Jahrhunderts nachhaltig betrieben worden. Vielfach so, dass innerhalb der dualistischen Konzeption nunmehr dem Leib die Krone und das Zepter verliehen wurden. Für Ludwig Feuerbach ist der „Leib […] allein jene verneinende, einschränkende, zusammenziehende, beengende Kraft, ohne welche keine Persönlichkeit denkbar ist. Nimm deiner Persönlichkeit ihren Leib – und du nimmst ihr ihren Zusammenhalt. Der Leib ist der Grund, das Subjekt der Persönlichkeit.“30 Auch Friedrich Nietzsche hat in seiner Abrechnung mit den Verächtern des Leibes31 den Spieß einfach umgedreht. Die Seele gilt Zarathustra nur als „ein Wort für ein Etwas am Leibe“.32 Dagegen gilt der Leib als monistisches Schaffensprinzip. „Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens.“33 Sowohl Feuerbachs als auch Nietzsches Deutungen des Leibes verbleiben in den Grenzen des dualistischen Prinzips. Sie sind abstrakte Entgegensetzungen, die von dem abhängig bleiben, was sie negieren. Erst im zwanzigsten Jahrhundert haben es philosophische Konzeptionen vermocht, den Dualismus hinter sich zu lassen und die Einheit von Leib und Seele „als ein gegenseitiges Ausdrucksverhältnis“34 zu verstehen. Es sind ————— 25

Vgl. Hägglund, Luthers Anthropologie, 64f. Luther, Erklärung des Briefes St. Pauli an die Galater, 305. Allerdings bleibt auch Luthers totus-homo-Anthropologie mit Elementen des traditionellen Dualismus und seiner Hochschätzung des Geistes konnotiert; vgl. dazu: Liedke, Freiheit, 206–209. 27 Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, 83 (in der lateinischen Fassung: „non sum compages illa membrorum, quae corpus humanum appellatur“, 82). 28 Ebd., 87 (in der lateinischen Fassung: „Sed quid igitur sum? Res cogitans.“ 86). 29 Vgl. Korsch, Art.: Leib und Seele, 223. 30 Feuerbach, Das Wesen des Christentums, GW, Bd. 5, 177. 31 Der Abschnitt in den Reden Zarathustras trägt den Titel: „Von den Verächtern des Leibes“, vgl. Nietzsche, Werke, Bd. 2, 300–3001 32 Ebd., 300. 33 Ebd., 301. 34 Korsch, Art. Leib und Seele, 224. 26

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die „Phänomenologie“ und später die neu entstehende „philosophische Anthropologie“ gewesen, die dieser nichtdualistischen Perspektive die Augen geöffnet haben.35 Über das, was dabei in den Blick kommt, wird zu sprechen sein. Die neure evangelische Theologie hat – ähnlich wie die Philosophie – über einen langen Zeitraum das Phänomen der Leiblichkeit innerhalb des Duals von Leib und Seele reflektiert. Die anthropologischen Konzepte, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind, würdigen regelmäßig die Bedeutung des Leibes und greifen dabei auf dessen Wertschätzung in den biblischen Texten zurück. Sie verbleiben aber meistenteils innerhalb der Leib-Seele-Relation und nehmen die Leiblichkeit nicht als eigenständiges Phänomen in den Blick.36 Innerhalb des Duals jedoch steht der Leib meist hinten an, weil – in unterschiedlichen Nuancen – die „Offenbarung Gottes […] nicht durch den Leib, sondern durch den Geist zu vernehmen“37 ist. Emil Brunner, der mit den eben zitierten Worten den Geist als „Empfänger des Gotteswortes“ auszeichnet, möchte darin durchaus keine Abwertung des Leibes sehen. Die Bibel gehe vielmehr von der Geistleiblichkeit des Menschen aus und der Leib selbst sei „das Kennzeichen der Andersheit des Geschaffenen gegenüber dem ungeschaffenen Sein des Schöpfers. Die Leiblichkeit ist darum […] der konkrete Ausdruck der Kreatürlichkeit des Menschen, seines Nichtgottseins.“38 Karl Barth hat das Leib-Seele-Thema in der „Kirchlichen Dogmatik“ ausführlich reflektiert. In seiner christologisch aufgebauten Argumentation betont er die Einheit von Seele und Leib: „Durch Gottes Geist ist der Mensch das Subjekt, die Gestalt und das Leben eines stofflichen Organismus, die Seele seines Leibes – beides ganz und zugleich: in unaufhebbarer Verschiedenheit, in untrennbarer Einheit, in unzerstörbarer Ordnung.“39 Da aber der Mensch näherhin als Vernehmender zu bestimmen sei, kommt Barth dann doch wieder zu einem „Primat der Seele“,40 dem der Leib untergeordnet wird: „die Seele regiert, […] der Leib dient“.41 Bei Barth – und ähnlich auch bei Brunner – ist es die Konzentration auf das Wortgeschehen der Offenbarung, das der Seele, die das Wort vernimmt, ihre Vorzugsstellung einträgt. Möglicherweise hängt es damit zusammen, dass Paul Althaus als lutherischer Theologe keinen Offenbarungsmonismus wie Barth kennt, dass er in seiner Bestimmung der Leib————— 35

Vgl. ebd.; Müller, Art. Leib, 716; Metz, Art. Leiblichkeit, 31f. Vgl. Müller, Art. Leib, 715: „Der L.[eib] bildet so lange kein eigenes Thema, wie die Besonderheit des Menschen in seiner unsterbl.[ichen] Geist–Seele gesehen wird“ [Ergänzung U.L.]. 37 Brunner, Dogmatik, Bd. 2, 75. 38 Ebd., 74. 39 Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III/2, 391. 40 Ebd., 486. 41 Ebd., 505. 36

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Seele-Relation keine derartige Hierarchie kennt. Für ihn ist das „Leibliche […] weithin Gestalt der Seele, in der diese erst ihre ganze Wirklichkeit hat. So muß man den Leib geradezu als einen Teil, ein Moment der seelischen Wirklichkeit selbst bezeichnen. In dieser Einheit seines leiblich-seelischen Seins ist der Mensch zu Gott geschaffen, als Person vor ihn gestellt.“42

4.3 Leibgewissheit und Leibvergessenheit. Das Phänomen des Leibes in exemplarischen Entwürfen der Theologie Erst in den siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist die Behandlung des Phänomens Leiblichkeit aus dem Schatten der LeibSeele-Relation herausgetreten. Dazu hat u.a. beigetragen, dass sich die evangelische Theologie jetzt den Impulsen der modernen philosophischen Anthropologie öffnete, die hermeneutische Tradition rezipierte, in das Gespräch mit den emanzipatorischen Sozialutopien eintrat und sich für phänomenologische Perspektiven aufschloss. Die Leiblichkeit als unhintergehbare anthropologische Dimension trat stärker in den Blick. Aus den unterschiedlichen Verstehensbemühungen wähle ich im Folgenden die Konzepte von Wolfhart Pannenberg, Eberhard Jüngel und Eilert Herms aus. (1) Wolfhart Pannenbergs theologisches Denken kreist wie kaum ein anderes um die Anthropologie. Emphatisch gibt er ihr eine fundamentaltheologische Schlüsselstellung. Nur „auf dem Feld der Anthropologie“, argumentiert er, könne „die Theologie die Wahrheit […] ihres Redens von Gott […] vertreten“.43 Nur auf ihrem Boden könne gezeigt werden, dass der Gottesglaube mehr sei als eine Setzung des frommen Selbstbewusstseins. Gerade vor diesem Hintergrund und angesichts der Fülle von Beiträgen mit anthropologischem Fokus muss es verwundern, dass Pannenberg dem Thema Leiblichkeit so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Nur am Rande wird es gelegentlich gestreift. Selbst in seiner „Systematischen Theologie“, in der er sich der Einheit von Leib und Seele zuwendet,44 geht die Thematisierung der Leiblichkeit kaum über Andeutungen hinaus. Es sei unwidersprechlich, argumentiert Pannenberg hier, „daß bewußtes und seiner selbst bewußtes Leben uns nur als leibliches Leben bekannt ist“. Auch sei „alles seelische Erleben durch leibliche Funktionen bedingt“.45 Daraus wird – mit dem Hauptstrom der modernen Anthropologie – die konstitutive und nicht auf einander reduzierbare Einheit von Leib und Seele geschluss————— 42 43 44 45

Althaus, Die christliche Wahrheit, Bd. 2, 84. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 16. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 209–232. Ebd., 210.

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folgert. Dies bedeute, dass der Leib als beseelt und die Seele als „beleibt“ verstanden werde müsse; in Pannenbergs Worten: die Seele könne „als Lebensprinzip des Leibes“ aufgefasst werden; zur Seele gehöre umgekehrt „auch das mit der eigenen Leiblichkeit und ihrer Geschichte verbundene ‚Unbewusste‘.“46 Bereits die letzte Formulierung lässt erkennen, dass die Einheit von Leib und Seele in gewisser Weise unter einem Bewusstseinsvorbehalt steht, insofern die Leiblichkeit nur vermittelt durch die Dimension des Unbewussten die Seele affiziert. Das hängt damit zusammen, dass Pannenberg von der anthropologischen Trias von Leib, Seele und Geist ausgeht, wobei der Geist als die „von außen auf die Geschöpfe einwirkende Gotteskraft“ verstanden wird, die den Menschen als Lebensodem beseelt und belebt. „Als das Leben ihres Leibes […] ist die Seele Wirkung des lebendigmachenden Geistes.“47 Seine Wirksamkeit äußere sich besonders im menschlichen Bewusstsein.48 Diesem wiederum falle die Führung bei der Integration der verschiedenen Lebensmomente in die Identität des eigenen Selbst zu. „Die darin begründete Rolle des vernünftigen Bewußtseins für die Lebensführung ist in der […] Tradition unter dem Gesichtspunkt einer Herrschaft der Seele über den Leib erörtert worden.“49 Die Einheit von Leib und Seele, von der Pannenberg immer wieder spricht, wird also klar durch die Seele und das Bewusstsein dominiert. Während die Seele immerhin das Medium für die Gegenwart des göttlichen Geistes ist, kommt der beseelte Leib nur als Ort in Betracht, an dem dieser gegenwärtig wird.50 Pannenberg schenkt dem Thema der Leiblichkeit offenbar deshalb vergleichsweise wenig Beachtung, weil er im Dual von Leib und Seele verbleibt und dabei der Seele den Primat verleiht. (2) „Der Mensch“, so hat Eberhard Jüngel in seinen anthropologischen Beiträgen immer wieder hervorgehoben, „ist nach biblischem Urteil […] ein Beziehungswesen, das immer schon auf anderes Sein bezogen und nur in solchen Relationen es selbst ist.“51 Drei Relationen sind es, die diesen Beziehungsreichtum des Menschen ausmachen und jede von ihnen manifestiert sich in besonderer Weise. „Sein Selbstverhältnis manifestiert sich in seiner Vernunft, in seinem Gefühl und in seinem Gewissen, sein Weltverhältnis in seiner Leiblichkeit, sein Gottesverhältnis in seiner Religiosität. ————— 46

Ebd., 223. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 509. 48 Vgl. ebd. 49 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 230. 50 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 513: „Die Gegenwart des Geistes konstituiert so im Medium der menschlichen Seele und am Ort des beseelten Leibes die Identität der Person als Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich.“ 51 Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, in: ders., Beziehungsreich, 16. 47

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Nur im Vollzug dieses dreifachen Verhältnisses ist der Mensch wirklich“.52 Angesichts dieser konzentrierten anthropologischen Programmatik sollte man annehmen, dass die Leiblichkeit in den ihr folgenden theologischen Erörterungen nicht unbeachtet bleibt. Genau das ist aber der Fall. Jüngels Anthropologie erweist sich in hohem Maße als leibvergessen. Obwohl sie an mehreren Stellen das Phänomen der Leiblichkeit programmatisch aufs Tapet holt, deckt sie es im Handumdrehen wieder ab. Neben der eingangs zitierten anthropologischen Grundformel hat Jüngel das Leibphänomen auch an anderen Orten notiert, ohne der Notiz Erläuterungen folgen zu lassen. Im Zusammenhang seiner Interpretation der imago Dei erneuert Jüngel die auf Ludwig Köhler zurückgehende These, nach der die imago im aufrechten Gang des Menschen zu sehen sei. „Die Gottebenbildlichkeit des Menschen würde sich demnach […] material in einer spezifischen Weise der Leiblichkeit, in einer körperlichen Gestalt, ausweisen.“53 Das Phänomen der aufrechten Haltung wird anschließend so weitergeführt, dass in ihm die Bestimmung des Menschen zum Herrschen erkannt wird. Aber die dabei implizierte Dimension von Körperlichkeit wird an späterer Stelle nicht mehr aufgegriffen.54 Der Grund für die Wortkargheit Jüngels in Bezug auf die Leiblichkeit könnte in der Wortkonzentration seiner Theologie selbst zu suchen sein. „Der Mensch“, so lautet seine These, „ist ein durch das Wort konstituiertes und organisiertes Wesen. Hörend ist der Mensch Mensch.“55 Als von Gott Angesprochener und zur Gemeinschaft mit ihm Berufener, lebt der Mensch als „Hörer des Wortes“ (Rahner). Indem sich Jüngels Theologie darauf konzentriert, dieses Wortgeschehen zur Sprache zu bringen, scheint sie für den Aspekt der Leiblichkeit, der in ihr ebenfalls anklingt, nur wenige Worte übrig zu haben. (3) Eine andere Deutung erfährt die Dimension der Leiblichkeit in theologischen Entwürfen, die sich phänomenologisch orientieren. Aus ihnen greife ich die Theorie von Eilert Herms heraus. Für ihn ist Leiblichkeit ein nicht hintergehbarer, ursprünglicher Inhalt des menschlichen Selbsterlebens, ein Implikat des unmittelbaren Selbstbewusstseins. „In unserem Erleben sind wir uns selbst gegenwärtig als körperliche Individuen, in Wechselwirkung mit allen gleichzeitigen körperlichen Individuen“.56 Sowohl die ————— 52

Dalferth/Jüngel, Person und Gottebenbildlichkeit, 60. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, in: ders., Entsprechungen, 301. 54 Andere Orte, an denen die Leiblichkeit angesprochen aber nicht aufgegriffen wird: (a) im Zusammenhang seiner Interpretation des Todes legt Jüngel Wert auf die These, „dass im Leib und als Leib der ganze Mensch dem Tode ausgesetzt ist“ (Jüngel, Tod, 58); (b) personale Identität interpretiert Jüngel in einem Beitrag über Ganzheitsbegriffe „als personale Einheit der menschlichen Seele mit ihrem Leib und der menschlichen Person mit ihrer Geschichte“ (Jüngel, Ganzheitsbegriffe – in theologischer Perspektive, in: ders., Ganz werden, 51). 55 Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 309. 56 Herms, Offenbarung und Wahrheit, in: ders., Offenbarung und Glaube, 277. 53

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Identität des eigenen Selbst als auch dessen Beziehung zu anderen körperlich situierten Personen sind also in der Selbsterfahrung unmittelbar präsent. Diese Kopräsenz des Selbst und des Anderen sei relational verfasst. „Im Selbsterleben des Menschen ist ihm sein Für-andere-Sein, seine Äußerlichkeit gegeben als bedingt durch sein Für-sich-Sein, durch seine Innerlichkeit.“57 Das Fundament dieser Beziehungsstruktur sei der Leib. Weil die körperlich konstituierte Äußerlichkeit des Selbstes nicht von seiner Innerlichkeit zu trennen sei, könnten auch Körper und Selbst nicht als getrennt aufgefasst werden. „Insofern hat das individuelle Selbst nicht einen Leib, sonder ist sein Leib.“58 Die leiblich fundierte Beziehungsdimension, die im Selbsterleben erschlossen sei, habe eine doppelte Struktur: als passives Bestimmtwerden durch andere Personen wie auch umgekehrt als aktive Selbstbestimmung. Der eigene Leib erschließe sich daher als „ein Medium, in dem ich mir selbst präsent bin als: durch meine Mitwelt bestimmt; aber zugleich auch als: eine diese Mitwelt durch freiwillentlich gewählte Bewegungen meines Körpers bestimmende Instanz.“59 Diese Dimension der leiblich fundierten Selbsterschlossenheit von Personen in ihrem Bestimmtsein zur handelnden Selbstbestimmung in Interaktion mit anderen Personen sei Inhalt der unmittelbaren Selbstgewissheit des Menschen. Herms hält es deshalb auch für möglich, den Begriff der Selbstgewissheit durch den der Eigenleibgewissheit zu ersetzen.60 So sehr wie die Leiblichkeit für das individuelle Selbsterleben konstitutiv sei, so sehr sei sie zugleich „das Fundament aller Intersubjektivität, also de facto das Medium aller Sozialität“.61 Alle Formen sozialer Interaktion seien leibvermittelt. Das gelte selbst für soziale Systeme und die Gesellschaft im Ganzen: sie sind leibhaft. Leiblichkeit ist für Herms insofern zugleich Inhalt des individuellen Selbstbewusstseins, Fundament sozialer Interaktion und unhintergehbares Strukturmoment sozialer Systembildung. Ja es gilt sogar: „Die Leibhaftigkeit des Menschen ist der Spielraum der sozialen Evolution.“62 Nach diesem Überblick über die Reflexion des Leibes in einigen theologischen Entwürfen der Gegenwart, möchte ich mich nunmehr zentralen Aspekten des Phänomens Leiblichkeit vertieft zuwenden.

————— 57 58 59 60 61 62

Herms, Künstliche Intelligenz, in: ders., Gesellschaft gestalten, 287. Herms, ‚Sinn‘ als theologischer Grundbegriff, in: ders., Offenbarung und Glaube, 399. Herms, „Füllet die Erde ...“, in: ders., Gesellschaft gestalten, 32. Herms, Glaube, in: ders., Offenbarung und Glaube, 464. Herms, Ethische Fragen der Gentechnologie, in: ders., Gesellschaft gestalten, 312. Ebd.

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4.4 Als Leib existieren und einen Körper haben. Leiblichkeit in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners Für die Erinnerung an den vergessenen Leib haben in der Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts mindestens zwei – miteinander verschränkte – Strömungen gesorgt: die „philosophische Anthropologie“ und die „Phänomenologie“. Ihnen gelten die beiden folgenden Abschnitte. Im Mittelpunkt der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners steht die exzentrische Positionalität des Menschen, die zentral mit der leibhaften Situiertheit des Ich verbunden ist. Während das Tier in seiner eigenen Mitte lebe und damit eine geschlossene Form der Positionalität repräsentiere, trete der Mensch in eine Beziehung zu dieser positionalen Mitte. Er „weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus“.63 Der Mensch verhält sich zu sich selbst. „Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben“.64 Der Doppelaspekt eines Seins außerhalb seines Leibes und eines Seins innerhalb seines Leibes bestimme das menschliche Erleben im Kern. Eine dreifache Positionalität sei zu unterscheiden: „Das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist.“65 In dieser dreifachen Positionalität sei der Mensch Person. In der Beziehung zu seiner physischen Existenz resultiere daraus, so Plessner, dass der Mensch als Leib existiert und zugleich einen Körper hat. Einerseits ist der Mensch Leib. „Der eigene Leib wird durchlebt, lustvoll, schmerzhaft, satt, behaglich“.66 Das Ich erlebe sich in diesen Dimensionen gelebter Leiblichkeit. Andererseits sei es dem Menschen aber auch eigen, einen Körper zu haben, d.h. über Körperbewegungen verfügen und sie einsetzen zu können. Ständig komme er in die Lage, „seinen Körper als Mittel einzusetzen, mit und auf ihm zu spielen“.67 Insbesondere das Auge-Hand-Feld bilde dabei das zentrale Operationsfeld. Der Mensch entdecke in diesem Körperhaben die „Instrumentalität der eigenen Leiblichkeit“.68 Aus der Leiblichkeit als unhintergehbarem Bestandteil der exzentrischen Positionalität resultiere auch das Charakteristikum der vermittelten Unmittelbarkeit. Mit diesem scheinbaren Paradox bringt Plessner die Erkenntnis zum Ausdruck, dass die unmittelbare Umweltbeziehung des Menschen ————— 63

Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 291. Ebd., 292. Im Aufweis der „Rückbezüglichkeit“ des Menschen (Plessner, Der Mensch als Lebewesen, GS VIII, 320) bleibt Plessner allerdings auf der Stufe der sog. Reflexionstheorien des Ich. Deren Ungenügen habe ich in Teil B, Kap. 3.2 (6) und (9) erläutert. 65 Plessner, Die Stufen, 293 [Hervorhebung von mir; U.L.]. 66 Plessner, Der Mensch als Lebewesen, 320 67 Ebd., 321. 68 Ebd. 64

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durch seinen Körper, durch die Sinnesorgane ebenso wie durch neuronale Prozesse vermittelt wird. „Nur in der Vermittlung durch meinen Körper, der ich selbst leibhaft bin […], ist das Ich bei den Dingen, schauend und handelnd.“69 Sehen, Hören, Tasten, Empfinden, Anschauung, Wahrnehmung usw. seien allesamt Modi einer solchen vermittelten und zugleich unmittelbaren Beziehung. Das Prinzip der vermittelten Unmittelbarkeit sei ein allgemeines anthropologisches Gesetz. Es gelte sowohl für die aktive Weltbemächtigung des homo faber wie auch für das Ausdruckshandeln des homo sapiens. Neben dem instrumentellen Umgang mit dem eigenen Körper schließe es ebenso die Expressivität des Leibes ein – Gesten, Mimik, Haltung, Sprache, Lachen und Weinen. „Expressivität ist eine ursprüngliche Weise, damit fertig zu werden, daß man einen Leib bewohnt und zugleich ein Leib ist.“70 In den Gesten und Gebärden, in Sprache und Mimik bildeten Leibesfläche und Stimme den ursprünglichen Resonanzboden des Ausdrucks. Sie seien Organe der Expression. Der Leib sei dem Menschen dabei „Material, Spiegelfläche, Resonanzboden für die verschiedenen Weisen von Ausdruck Sprache, Gesten [und] Gebärden“.71 Besonders häufig übernehme dabei das Gesicht die zentrale Rolle im Ausdruckshandeln. Es werde „zum Spiegel, ja ‚Fenster‘ der Seele […] Aus ihm schaut und tönt er heraus, in ihm fängt er die Blicke der anderen, die Bilder der Welt auf. Verdecktheit und Offenheit machen das Gesicht zur Front, zur Grenz- und Vermittlungsfläche des Eigenen gegen das Andere, des Inneren gegen das Äußere.“72 Neben dem Gesicht sei es insbesondere die Stimme, in der zum Ausdruck komme, wie jemand gestimmt und ergriffen ist. Aber auch in körperlichen Bewegungen trete die menschliche Gestimmtheit in Erscheinung. Allerdings könne der Leib in Gestik, Mimik, Lachen und Weinen auf je verschiedene Weise Resonanzraum für eine innere Expression sein. Während der Mensch mit Gesten etwas Bewusstes zum Ausdruck bringe, d.h. mit ihnen etwas meine, seien die natürliche Mimik und die Ausdrucksgebärden oft unwillkürliche Ausdrucksformen. In ihnen spiegele sich in diesem Fall ein innerer Zustand unmittelbar. Sie ließen sich auch nicht durch andere Ausdrucksbewegungen ersetzen. In ihnen sei die „Durchdringung von seelischem Gehalt und körperlicher Ausdruckserscheinung […] so vollkommen, daß es unmöglich wird, den Gehalt eines Affekts, einer Stimmung, Gesinnung oder Neigung ganz für sich und ohne die nun einmal in der Organisation des Körpers gegebenen Ausdrucksmöglichkeiten zu erfas————— 69 70 71 72

Plessner, Lachen und Weinen, GS VII, 247. Ebd., 249. Ebd., 374 [Hervorhebung von mir; U.L.]. Ebd., 250f.

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sen“.73 Unwillkürlichkeit, Unmittelbarkeit und Unvertretbarkeit zählten deshalb zu den Charakteristika des mimischen Ausdrucks. Noch einmal anders verhalte es sich im Lachen und Weinen, die nach Plessner weder als Gesten noch als Gebärden aufzufassen sind. In ihnen komme der Verlust der Selbstbeherrschung in einer besonderen Weise zur Geltung. Bereits in der Sprache schlage sich dies nieder: das Lachen platzt aus uns heraus und wir werden vom Weinen geschüttelt. In beiden Fällen überfällt uns etwas, dem wir uns überlassen müssen, falls es uns nicht gelingt, dieses Überwältigt-Werden seinerseits durch Selbstbeherrschung zu bewältigen. Im Lachen oder Weinen emanzipierten sich daher körperliche Vorgänge. Es sind nach Plessner unbeantwortbare und nicht bedrohende Lagen, in denen der Körper lachend oder weinend selbst zu sprechen beginnt. „Auf die unbeantwortbare Lage findet“ der Mensch „kraft seiner exzentrischen Position […] die einzig noch mögliche Antwort: von ihr Abstand zu nehmen und sich zu lösen. Der außer Verhältnis zu ihm geratene Körper übernimmt für ihn die Antwort, nicht mehr als Instrument von Handlung, Sprache, Geste, Gebärde, sondern als Körper.“74 Der in Lachen und Weinen von der Selbstbeherrschung emanzipierte Körper bringe gerade darin etwas zum Ausdruck. Der Körper selbst habe Ausdruckscharakter. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie reflektiert eindrücklich die Leibgebundenheit der conditio humana. Der Mensch, dessen Grundsituation darin besteht, ein Verhältnis zu seiner eigenen Mitte herstellen zu müssen, kann diese exzentrische Positionalität stets nur leiblich vermittelt verwirklichen. Der Körper ist sein Tor zur Welt – sowohl instrumentell als auch expressiv. Plessners Analysen von Gestik und Stimme, von Mimik und Gebärde sowie von Lachen und Weinen haben die Hermeneutik des Menschlichen erweitert und vertieft. Auch für die pädagogische Arbeit mit geistig behinderten Menschen lassen sich seine anthropologischen Einsichten fruchtbar machen. Sie helfen, die unterschiedlichen verbalen, gestischen, mimischen und körperlichen Ausdrucksformen vor dem Hintergrund der exzentrischen Positionalität des Menschen zu erschließen. Trotzdem scheint mir Plessners Anthropologie an einer bestimmten Stelle zweideutig zu bleiben. Die exzentrische Positionalität des Menschen wird von ihm stark auf das Selbstverhältnis des Menschen konzentriert, nicht nur ein Leib zu sein, sondern auch einen Körper zu haben. Die Positionalität des Tieres besteht nach Plessner darin, dass es sich nicht selbst gegenständlich werden kann und deshalb im Hier und Jetzt aufgeht. Die exzentrische Positionalität des Menschen dagegen bringe mit der Reflexivität des Selbstverhältnisses auch eine Distanzierung zum eigenen Körper mit sich: der ————— 73 74

Ebd., 260. Ebd., 276.

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Mensch könne seinen Körper bewusst gebrauchen. Die „Instrumentalität der eigenen Leiblichkeit“75 steht über weite Strecken im Mittelpunkt von Plessners Interesse. Und auch dort, wo es ihm um die Expressivität in Gestik und Mimik geht, steht die Frage im Mittelpunkt, wie in ihnen etwas Inneres zum Ausdruck kommt. Lediglich in der Analyse des Lachens und Weinens erörtert er den Ausdruck des Körpers selbst. Die Trennung von Bewusstsein und Körper scheint mir deshalb nicht wirklich überwunden zu sein. Ihr Fortbestehen hängt, das ist meine Vermutung, damit zusammen, dass Plessner das Subjekt in den Koordinaten des Reflexionsmodells bestimmt. Dessen Ungenügen habe ich im Zusammenhang der Debatte um Subjektivität erörtert. Plessner macht das Reflexionsparadigma in der These von der exzentrischen Positionalität zum Eckstein seiner Anthropologie. Die Beziehung, die der von sich selbst distanzierte Mensch zu sich aufzubauen hat, wird deshalb vor allem als eine Selbst-Relation des Bewusstseins aufgefasst. Die These von der exzentrischen Positionalität schreibt deshalb mit dem Reflexionsmodell auch die Trennung von Bewusstsein und Leib fort. Erst wenn in den Blick kommt, dass die exzentrische Positionalität in ihrem Hervorgehen aus einem nichtreflexiven, unmittelbaren Selbstbewusstsein einsichtig gemacht wird, kann der menschliche Leib als Implikation der humanen Selbsterschlossenheit einsichtig gemacht werden.

4.5 Selbstbewusstsein als Leibbewusstsein. Zur Leibhaftigkeit der menschlichen Existenz In der Aufnahme und Weiterführung von Einsichten Edmund Husserls ist in der phänomenologisch orientierten Philosophie ein Konzept von Leiblichkeit entwickelt worden, das die Zweideutigkeit des Reflexionsmodells vermeidet. Besonderen Einfluss hat hier Maurice Merleau-Ponty erlangt. Seine „Phänomenologie der Wahrnehmung“ hat die Gegenüberstellung von Leib und Seele überwunden, indem sie einen Weg aufzeigt, auf dem es möglich wird, „das menschliche Subjekt als unzerlegbares und in allen seinen Bekundungen als ganzes anwesendes Bewußtsein aufzufassen“.76 Einer solchen Betrachtung erschließen sich die verschiedenen körperlichen Regungen, Bewegungen und Seinsweisen als vielgestaltige Lebens- und Ausdrucksformen gelebter Subjektivität. Für Merleau-Ponty stellt sich der Leib deshalb als Angelpunkt der Welt und des Bewusstseins dar: „denn wenn es wahr ist, daß ich meines Leibes bewußt bin im Durchgang durch die Welt, daß er, im Mittelpunkt der Welt, selbst unerfaßt, es ist, dem alle ————— 75 76

Plessner, Der Mensch als Lebewesen, 58. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 147.

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Gegenstände ihr Gesicht zukehren, so ist es aus demselben Grunde nicht minder wahr, daß die Gegenstände viele Gesichter haben, da ich um sie herumgehen könnte, und insofern bin ich der Welt bewußt durch das Mittel des Leibes“.77 Jegliche Beziehung zur Wirklichkeit sei davon getragen. Der Leib sei nicht nur die Brücke vom Ich zur Welt – er sei es zugleich auch, der diese Brücke beschreite. Merleau-Ponty vergleicht den Leib mit einem Kunstwerk, mit einem Gedicht oder Musikstück, in denen „Ausdruck und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind, deren Sinn nur in unmittelbarem Kontakt zugänglich ist und die ihre Bedeutung ausstrahlen, ohne ihren zeitlich-räumlichen Ort zu verlassen.“78 Ich möchte im Folgenden wichtige Aspekte des phänomenologischen Leibkonzeptes im Anschluss an MerleauPonty und Bernhard Waldenfels erläutern und damit zugleich Konturen zu einer Anthropologie der Leiblichkeit entwickeln. Menschsein ist gelebte, erfahrene und gestaltete Relationalität. In ihrem Grundverhältnis ebenso wie in ihrem Sozial-, Umwelt- und Selbstverhältnis. Die Dimension der Leiblichkeit ist allen diesen Beziehungen eingeschrieben. Subjektivität ist leiblich bestimmt. Sozialität und Spiritualität nicht minder. Es gilt, die verschiedenen Aspekte der Leiblichkeit in der Gestaltung des menschlichen Beziehungsreichtums in den Blick zu nehmen. Ihre Aufteilung auf einzelne Relationen ist allerdings unmöglich, da gerade die wechselseitige Durchdringung und Bedingung der Beziehungsebenen das Charakteristische ist. (1) Menschen sind Personen, die sich selbst als sie selbst erschlossen und vertraut sind. In dieser unmittelbaren Selbsterschlossenheit des Menschen ist die Gewissheit seines eigenen Leibes mit enthalten. Menschen haben nicht nur einen Körper. Sie sind vielmehr Leib. Darauf weist Gabriel Marcels vielzitiertes Diktum hin „Körper, den ich habe, Leib, der ich bin“.79 Der Leiblichkeit kommt in diesem Selbsterleben – erstens – Unmittelbarkeit zu. Am Beispiel von Ernst Machs missglückter Selbstwahrnehmung, als er einen Bus bestieg,80 habe ich deutlich gemacht, dass wir vor aller sinnlichen Wahrnehmung als uns selbst erschlossene Personen existieren. Eben diese Selbsterschlossenheit hat auch eine leibliche Dimension. Mach hatte nämlich keine geistige Existenz gesehen. Vielmehr schoss ihm angesichts des körperlichen Anblicks des vermeintlich Anderen der Gedanke durch den Kopf: „Was ist das für ein herabgebrachter Schulmann!“.81 Das Bewusstsein unseres Leibes ist uns demnach nicht durch Wahrnehmung oder Reflexion vermittelt. Meine Hand muss ich nicht erst suchen, bevor ich sie zur ————— 77 78 79 80 81

Ebd., 106. Ebd., 181. Zit. nach: Gröschke, Praxiskonzepte, 199. Vgl. Teil B, Kap. 3.4 (4). Zit. nach: Frank, Selbstgefühl, 138.

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Begrüßung ausstrecke. Will ich meine Frau küssen, bedarf es keiner Vergewisserung, wo sich meine Lippen befinden. Vielmehr ist die Leiblichkeit meiner Existenz bereits in meiner unmittelbaren Selbsterschlossenheit mit enthalten. Maurice Merleau-Ponty hat auf diese Unmittelbarkeit der Leiberschlossenheit am Beispiel von Bewegungen hingewiesen, die ich mit meinem eigenen Leib vollziehe: „Ich bewege äußere Gegenstände mit Hilfe meines eigenen Leibes, der sie an einem Ort erfaßt, um sie an einen anderen zu versetzen. Doch ihn selbst bewege ich unmittelbar, ich finde ihn nicht an einem Punkte des objektiven Raumes vor und führe ihn zu einem anderen hin, ich muß ihn nicht erst suchen, er ist schon bei mir – und ich muß ihn selbst nicht zum Ziel der Bewegung erst hinführen, er berührt es von Anbeginn, und er selbst ist es, der sich ihm entgegenwirft.“82 (2) Mit dieser Unmittelbarkeit des Leibes ist auch seine Ungegenständlichkeit verbunden: wir können uns von unserem Leib nicht distanzieren, können ihn nicht hinter uns lassen. Wir beobachten Gegenstände im Raum um uns herum. Uns selbst können wir jedoch nicht in der gleichen Weise betrachten. „Mein sichtbarer Leib ist zwar wohl in seinem vom Kopf entfernter liegenden Teilen möglicher Gegenstand, doch je mehr man den Augen sich nähert, um so entschiedener trennt er sich von den Gegenständen; in ihrer Mitte bildet er einen Quasi-Raum, zu dem sie nicht Zugang haben, und suche ich diese Leere durch das Spiegelbild auszufüllen, so verweist dieses mich wieder auf das Original meines Leibes zurück, das nicht dort, unter den Dingen ist, sondern ‚meinerseits‘, diesseits von allem Sehen.“83 Unser Leib ist für uns deshalb nur in der eingeschränkten Weise als Körper mit seinen Körperteilen verobjektivierbar. Als Leib bleibt er dagegen ungegenständlich und entzieht sich dem Versuch seiner Vergegenständlichung. Eng in Zusammenhang damit steht die Permanenz des Leibes.84 Er ist stets und immer da. Während ich mich von vielen Körpern entfernen kann, ist es mir unmöglich, von meinem Leib Abstand zu nehmen. (3) Am Leib lässt sich darüber hinaus das gleiche Verhältnis von Reflexivität und Unmittelbarkeit zeigen, wie es bereits an der Struktur von Subjektivität zu Tage getreten ist. Taste ich mit einer meiner Hände die andere, so werde ich mir selbst in dieser Berührung zum Gegenstand einer Tastempfindung. Ich bin Tastender und Getastetes zugleich. Bernhard Waldenfels spricht hier von einer „Reflexion in der Leiblichkeit“: „der Leib ist von sich aus auf sich selbst zurückbezogen“.85 Die menschliche Selbstbezüglichkeit reicht offenbar bis in die Sinnlichkeit hinein. Das Tasten allein kann aber ————— 82 83 84 85

Merleau-Ponty, ebd., 119. Ebd., 116. Vgl. Waldenfels, Das leibliche Selbst, 31–35. Ebd., 36.

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niemals auf dem Weg des Tastens Aufschluss über sich selbst und die eigene Leiblichkeit erlangen. Anders gesagt: was eine tastende Hand ist, lässt sich nicht hinreichend mit dem Wissen um die betastete erschließen. Lediglich die Körperlichkeit als Objekt der Berührung wird so greif-bar. Dies kann aber nur zu Stande kommen, weil sich das Tasten selbst bereits im Akt des Tastens als leiblich bestimmte Aktivität des Subjekts erschlossen ist. Tasten und Getastetes sind nicht nur in dem Sinne different, wie es Waldenfels mit dem Begriff der Doppelempfindung formuliert. Die unmittelbare Selbsterschlossenheit des Leibsubjektes wird vielmehr im tastenden Selbstverhältnis je schon vorausgesetzt. (4) In der durchgängigen Leibbestimmtheit des Menschen gründet auch Perspektivität und Zentrierung des menschlichen Erlebens und Selbsterlebens. Durch den Leib lokalisiert sich ein Subjekt an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit. Es nimmt dabei aber Raum und Zeit nicht wie ein Gegenstand ein. Vielmehr gilt: Der Leib „wohnt Raum und Zeit ein“.86 Das bedeutet zugleich, dass diese räumliche und zeitliche Verortung des Leibes die Perspektive bestimmt, in der die Welt dem Menschen zugänglich wird und aus der heraus er selbst auf die Welt zugeht. Die andere Seite dieser Perspektivität ist die Zentrierung und damit die Einheitlichkeit des Körpererlebens. Die Teile des menschlichen Leibes sind nicht additiv zu einander gefügt, sondern ineinander eingeschlossen. Deshalb habe ich meinen Körper „inne in einem unteilbaren Besitz, und die Lage eines jeden meiner Glieder weiß ich durch ein sie alle umfassendes Körperschema“.87 Mit diesem Begriff bezeichnet Merleau-Ponty die unmittelbare Erschlossenheit der Einheitlichkeit des Körpererlebens und das Bewusstsein von der Gesamtgestalt des Leibes. Das Körperschema ist das „Gesamtbewusstsein meiner Stellung in der intersensorischen Welt“.88 Zentrierung und Perspektivität sind zwei Seiten der mit diesem Körperschema verbundenen Verortung. Auf der einen Seite konstituiert es die Einheitlichkeit des leiblichen Selbsterlebens und damit ein in sich zentriertes leibliches Selbst. Auf der anderen Seite baut es sich in einem räumlichen und zeitlichen Hier auf. In dieser Perspektive werden nicht nur Erfahrungen gemacht, sondern auch Aktionen begonnen. (5) Ein weiterer Aspekt unseres leiblichen Zur-Welt-Seins ist das kinästhetische Bewusstsein. Husserl hat diesem aus der Psychologie des späten 19. Jahrhunderts stammenden Begriff eine prominente philosophische Bedeutung gegeben, mit der er die „Einheit von Rezeptivität (Empfindung) ————— 86 87 88

Merleau-Ponty, ebd., 169. Ebd., 123. Ebd., 125.

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und Spontaneität (Bewegung)“89 zum Ausdruck brachte. Ich kehre noch einmal zum Akt des Tastens zurück, betrachte ihn aber diesmal unter einem anderen Aspekt. Taste ich mit meiner rechten Hand nach meiner linken, so erschließt sich mir die berührte linke Hand nicht durch eine punktuelle Berührung, sondern erst, indem ich mit meinen Fingern über die Handfläche der anderen Hand gleite. Anders gesagt: erst in der Bewegung entsteht die Empfindung. Kinästhesen als Bewegungsempfindungen sind deshalb „ineins Empfinden und Bewußtsein von der Bewegung, die das Empfinden herbeiführt, als unserer, der von uns ins Spiel gebrachten Bewegung“.90 Durch dieses kinästhetische Bewusstsein haben wir zugleich das Bewusstsein unseres Leibes, der diese Bewegung in unmittelbarer Gewissheit vollzogen hat. Die Kinästhesen verweisen damit darauf, dass Empfindungen stets mit einer Bewegung des Leibes im Raum und dem sie begleitenden (Selbst)Bewusstsein verbunden sind. Nach Ludwig Landgrebe ist vor diesem Hintergrund das Ichbewusstsein „ineins Bewußtsein der Spontaneität des ‚ich denke‘ und der Spontaneität des ‚ich bewege mich‘ als waltend in meinem Leibe als meinem Organ und mir dadurch Empfindungen beschaffend“.91 (6) Eng mit den eben erläuterten Kinästhesen ist auch die Intentionalität von Bewegungen verbunden. Merleau-Ponty bezeichnet die Einheit von Motorik, Sensorik und Denken in der leiblichen Bewegung als deren intentionalen Bogen.92 Damit ist ein Zusammenspiel von Denkvorgängen und Bewegungsabläufen im Sinne eines Kreislaufs gemeint: die Vorstellungen des Subjekts gehen in die Bewegung ein und umgekehrt. So lassen sich beispielsweise in einer Geste keineswegs die geistigen Inhalte von der körperlichen Bewegung trennen. „Man kann nicht gewisse Bewegungen der Körpermechanik und andere dem Bewußtsein zuschreiben, Leib und Bewußtsein begrenzen nicht einander, sondern können nur einander parallel sein.“93 Die Intentionalität liegt in der Bewegung des Leibes selbst, nicht in einer geistigen Welt hinter dieser oder ihr voraus. Merleau-Ponty versteht deshalb auch die Motorik selbst als intentional. „Die Geste der Hand, die sich auf einen Gegenstand zu bewegt, impliziert einen Verweis auf den Gegenstand nicht als einen der Vorstellung, sondern als dieses sehr bestimmte Ding, auf das hin wir uns entwerfen, bei dem wir vorgreifend schon sind und das wir gleichsam umgeistern. Bewußtsein ist Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes.“94 An der Intentionalität von Bewegungen wird die Koinzidenz von Bewusstsein ————— 89 90 91 92 93 94

Claesges, Art.: Kinästhese, 819. Landgrebe, Prinzipien der Lehre vom Empfinden, 202. Ebd., 205. Vgl. Waldenfels, Das leibliche Selbst, 148. Merleau-Ponty, ebd., 151. Ebd., 167f.

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wegungen wird die Koinzidenz von Bewusstsein und Leiblichkeit erneut ersichtlich. (7) Die letztgenannten Beispiele haben deutlich gemacht, dass die traditionelle Trennung einer Innen- und Außenperspektive vor dem Hintergrund einer Analyse der Leiblichkeit keinen Bestand hat. Das wird auch daran deutlich, wie Menschen das, was sie fühlen und denken zum Ausdruck bringen. In der Geste kommt deren Bedeutung als Konfiguration des Leibes zum Ausdruck. Auch bei der nichtwillentlichen Expression von Affekten und Emotionen ist dies der Fall. Mein Erröten ist nicht etwa nur die äußere Erscheinungsform meiner Verlegenheit; es ist sie. Genauso gilt: „der Zorn ist die geballte Faust“95 und nicht eine hinter ihr stehende innere Bewusstseinsregung. In der Ausdrucksgebärde realisiert sich ihr Inhalt; Ausdruck und Ausgedrücktes fallen zusammen. Das Ausgedrückte „inkarniert sich, es ist ein verkörperter Sinn“.96 (8) Angesichts dieser durchgängigen Verleiblichung von Rezeptionsprozessen einerseits und Ausdrucksformen andererseits kann es nicht verwundern, die Dimension der Leiblichkeit auch im kommunikativen Handeln wieder zu entdecken. Sprechakte sind immer auch leiblich vermittelte Handlungen. Bernhard Waldenfels unterscheidet vier Formen, in denen der Körper am Sprechen beteiligt ist:97 zunächst die intralinguistische Körperlichkeit, mit der die Beteiligung der Stimme am Sprechen bzw. der Hand am Schreiben gemeint ist. Die semilinguistische Körperlichkeit bezeichnet darüber hinaus gehend eine die Sprachhandlung begleitende Zeigegeste. Die paralinguistische Körperlichkeit schließt diejenigen Aspekte der Kommunikation ein, die zum Sprechen und Hören gehören, aber nicht selbst in den syntaktischen und semantischen Sprachgehalt eingehen. Zu ihnen zählen beispielsweise „der Tonfall, das Sprachtempo, der Rhythmus und all das, was die Sprache der Musik naherückt“.98 Die extralinguistische Körperlichkeit schließlich bezeichnet die sog. Körpersprache im engeren Sinn: den Gesichtsausdruck, den Blick, die Körperhaltung, Gestik, Mimik, Kleidung usw. Alle diese Dimensionen machen deutlich, wie stark der Körper an der Kommunikation beteiligt ist. Unsere Sprechakte sind in eine Sprache des Leibes eingebettet und werden von ihr begleitet. Angesichts der Bedeutung des Tonfalls, des Gesichtsausdrucks oder anderer leiblicher Ausdrucksformen im kommunikativen Handeln wird man dieser Körpersprache weder ihre eigene „Semantik“ noch „Grammatik“ absprechen können. Die Gebärdensprache setzt diese Formen und Strukturen der Körper————— 95 96 97 98

Waldenfels, ebd., 226. Ebd., 224. Vgl. ebd., 230–236. Ebd., 232.

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sprache voraus und hat auf ihrer Grundlage eine differenzierte Semantik und Grammatik entwickelt. Bislang kam die Körpersprache nur von ihren jeweiligen Sprecherinnen her in den Blick. Diese eingeschränkte Perspektive lässt sich jedoch erweitern, sodass auch Dimensionen eines leiblichen Dialogs ins Auge fallen. Bei Waldenfels kommen diese Dimensionen an zwei Stellen zum Tragen. Einerseits betrachtet er auch das Körpergespräch als zur Körpersprache gehörig und sieht in ihm die Realität einer Zwischenleiblichkeit. Besonders an der Sexualität lasse sich zeigen, dass hier „ein Körper den anderen sucht“ und „ihm zugewandt ist. Erotische Attraktion und Repulsion hängen damit zusammen, daß ein Körper auf den anderen gerichtet ist und es auf der Ebene des Leiblichen ein Zwischen gibt.“99 Andererseits entwickelt Waldenfels auch eine Theorie der leiblichen Responsivität, des leiblichen Antwortens. In der Begegnung zweier Menschen gibt es beispielsweise auch einen Dialog der Blicke: ich sehe, wie mein Gegenüber mich anschaut – mein antwortender Blick auf sie oder ihn wird davon nicht unbeeinflusst bleiben. Die Art solcher Wechselblicke ist vielfältig. Deshalb ließe sich „die Sprechakttheorie […] auch als eine Sehakttheorie durchführen; es gibt den fragenden, den drohenden, den begehrenden, den verführerischen, den ängstlichen Blick. Mit einer gewissen Vorsicht könnte man sagen: Wie es Sprechakte gibt, so auch Blickakte, die verschiedene Charaktere haben und ganz und gar die Situation verändern. Daraus erwächst eine Grammatik des Blicks, eine Grammatik von Blickeinstellungen, die in der Physiognomie des Blicks ihren Ausdruck findet.“100 Eine „Grammatik des Blicks“ lässt sich aber nicht von der Semantik und der Pragmatik lösen: Blicke haben sowohl Bedeutung wie Wirkung. Ihr Dialog kann dazu führen, dass Neues erblickt wird. Ich habe innerhalb dieses Abschnittes Aspekte einer Anthropologie der Leiblichkeit skizziert, die aus der Gegenüberstellung von Leib und Seele heraustritt und das Subjekt als unhintergehbar leibbestimmtes begreift. Sie geht durchgängig von der These aus, dass sich dem Menschen sein Dasein als unhintergehbar leibbestimmtes erschließt. Ich und mein Körper lassen sich nicht trennen. Mein „Leib steht nicht vor mir, sondern ich bin in meinem Leib, oder vielmehr ich bin mein Leib“.101

————— 99

100 101

Ebd., 240. Ebd., 386. Merleau-Ponty, ebd., 180.

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4.6 Leibliche Beziehung und Kommunikation. Konzepte und Reflexionen einer leiborientierten Pädagogik Menschliche Subjektivität ist durchgängig inkarniert. Deshalb ist es für alle Menschen unhintergehbar, dass ihre Lebensvollzüge stets auch Leibvollzüge sind. Die menschliche Lebenswelt ist ein Raum leibvermittelter Interaktion. In zahlreichen Praxisfeldern von Theologie oder psychosozialen Diensten ist es in den letzten Jahren vor diesem Hintergrund zu einer „Wiederentdeckung der Leiblichkeit“ gekommen.102 Für die Beziehung zu Menschen, die aufgrund einer schweren geistigen Behinderung in ihrer verbalen Kommunikation sehr eingeschränkt sind, gewinnt dieser Aspekt der Leiblichkeit eine wichtige Bedeutung. Die Berücksichtigung der Leibbestimmtheit kann in der Begegnung mit ihnen spezifische Möglichkeiten der Kommunikation und Pädagogik eröffnen. Die besondere Bedeutung einer basalen, leibvermittelten Interaktion und Förderung hat sich in der Heilpädagogik in vielfältigen Konzepten niedergeschlagen. Die „Förderpflege“103 gibt der Dimension des Leibes ebenso eine zentrale Rolle wie Andreas Fröhlichs Praxistheorie der „basalen Stimulation“ In den letzten beiden Dezennien des 20. Jhds. sind es dann vor allem phänomenologisch orientierte Ansätze gewesen, die noch einen Schritt weiter gegangen sind und dem Projekt einer leiborientierten Pädagogik Konturen gegeben haben. Wilhelm Pfeffer hat mit seiner viel beachteten Grundlegung „Förderung schwer geistig Behinderter“104 den Grundstein dafür gelegt. Barbara Fornefeld,105 Ursula Stinkes,106 Dieter Mattner107 und Dieter Gröschke108 sind weitere Repräsentanten einer solchen leiborientierten Pädagogik. Nach Gröschke „eröffnet der leibphänomenologische Ansatz produktive Verstehenshilfen, neue und potentiell kreative Sichtweisen auf altbekannte Gegebenheiten der menschlichen Lebenspraxis, die ein vertieftes Verständnis und erweiterte Formen heilpädagogischer Beziehungsgestaltung ermöglichen“.109 Aus diesen vielfältigen Ansätzen und pädagogischen Konzepten wähle ich diejenigen von Andreas Fröhlich und Barbara Fornefeld für meine Darstellung aus. ————— 102 Vgl. bspw. die Beiträge in der Festschrift für Dietrich Stollberg: Klessmann/Liebau (Hg.), Leiblichkeit; weiterhin: Naurath, Seelsorge als Leibsorge; Schneider-Harpprecht, Leib-Sorge? Johannes Eurich hat der Leiblichkeit eine Schlüsselstellung in seiner relationalen Anthropologie gegeben, vgl. ders., Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung, 291f und 365-371. 103 Auf dieses Konzept gehe ich in Teil B, Kap 7.8 (1) ausführlicher ein. 104 Vgl. Pfeffer, Die Förderung schwer geistig Behinderter (1988). 105 Vgl. Fornefeld, „Elementare Beziehung“ und Selbstverwirklichung. 106 Vgl. Stinkes, Spuren eines Fremden in der Nähe. 107 Vgl. Mattner, Zur Dialektik; Mattner/Gerspach, Heilpädagogische Anthropologie. 108 Vgl. Gröschke, Das „Leibapriori“ in der Heilpädagogik; ders., Praxiskonzepte. 109 Ebd., 300.

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4.6.1 Leibvermittelte Förderung. Das Konzept der „basalen Stimulation“ Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung galten über lange Zeit als bildungsunfähig. Bis 1978 waren sie in der Bundesrepublik von der Schulpflicht befreit. In der DDR bis zu deren Ende.110 In den siebziger Jahren entstanden in mehreren Bundesländern Initiativen von Eltern und Pädagogen mit dem Ziel, das allgemeine Bildungsrecht auch bei schwersten Behinderungen anzuerkennen. Als erstes Bundesland richtete RheinlandPfalz zwischen 1975 und 1983 einen Schulversuch ein, mit dem Möglichkeiten für die Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit schwersten Behinderungen gesucht und untersucht werden sollten. Der Leiter dieses Versuchs war der damalige Sonderschullehrer Andreas Fröhlich. Seine Erfahrungen haben Fröhlich dazu geführt, das Konzept der „basalen Stimulation“ zu entwickeln. Es zielt auf eine systematische Anregung, Versorgung und Pflege von Menschen mit einer schweren Behinderung, die deren individuelles Lernen und persönliche Entwicklung unterstützen soll. In der Perspektive dieses Zieles werden Methoden einer intensiven, ganzheitlichen und leibvermittelten Förderung eingesetzt. Durch „die Anregung der Wahrnehmungsorganisation, die Vermittlung primärer Körpererfahrung, das Angebot elementarer Bewegungserfahrung und Wege zu einer individualisierten Kommunikation“111 soll Menschen mit schweren Behinderungen die Möglichkeit eröffnet werden, ihren eigenen Körper zu entdecken und Beziehungen zu ihrer Umwelt aufzunehmen. Basale Stimulation ist deshalb „eine kommunikations-, interaktions- und entwicklungsfördernde Anregungsform […], die sich in allen Bereichen an menschlichen Grundbedürfnissen orientiert“.112 Fröhlichs Konzept orientiert sich an den drei Bereichen somatischer, vestibulärer und vibratorischer Anregungen. Sie werden auf jedem der vier Förderungsschritte, die von elementaren zu komplexeren Formen voranschreiten, praktiziert.113 Am Beginn stehen Methoden, mit denen die grundlegende Wahrnehmungsorganisation eines Menschen mit schwerer Behinderung angeregt und dadurch die Informationsaufnahme erleichtert werden soll. Dazu könnten beispielsweise Raumlageveränderungen, Schaukel-, Schwing- oder Drehbewegungen, somatische Anregungen, Spannungs- und Entspannungserfahrungen sowie Atemübungen gehören. Anschließend könne die „Aus————— 110

Vgl. Teil B, Kap. 7.6. Fröhlich, Basale Stimulation, 256. 112 Ebd., 257. 113 Fröhlich weist darauf hin, dass sich dieses Nacheinander in der Praxis nicht durchgängig als sinnvoll erweise. Häufig müssten vielmehr parallel Angebote aus Förderbereichen gemacht werden, die in der Darstellung aber nur nacheinander behandelt werden könnten (vgl. ebd., 183). 111

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differenzierung des Körperschemas und der Körperwahrnehmung“114 durch primäre Körpererfahrungen gefördert werden. Bei ihnen stehe die Haut als Grenze und Kontaktstelle zwischen Ich und Umwelt im Mittelpunkt. Fröhlich beschreibt in diesem Zusammenhang somatische Anregungen wie Berührungserfahrungen, Massageformen, Ganzkörperwaschungen, die Verwendung von Anregungsmaterialien (z.B. Frotteetuch). Daneben könnten auch vibratorische Anregungen gegeben werden (Massagegerät, Vibrationskissen, schwingungserzeugende Musikinstrumente u.a.). Diese Anregungsformen, die bereits kommunikativ angelegt sind, schafften die Grundlagen für eine weitergehende Begegnung und Förderung. Sie zielt als Nächstes auf die Ermöglichung von Bewegungserfahrungen, mit denen schwerbehinderte Menschen lernen, „vom eigenen Körper […] Besitz zu ergreifen, sich in ihm auszudehnen und so das Körper-Ich zu vervollkommnen“.115 Bewegungen, das Spüren von Widerstand und Druck am eigenen Körper, Vibration, Mikrobewegungen in den Gelenken, das „klassische Durchbewegen“ oder auch Lockerungsübungen ermöglichten solche Erfahrungen. Das Konzept der basalen Stimulation zielt aber darüber hinaus auch auf Kommunikationsförderung und damit auf die Befähigung, „sich kommunikativ zu verhalten, eigene Gefühle zu spüren und einen dafür passenden Ausdruck zu finden“.116 Im Anschluss an die Methode des Babytalks beschreibt Fröhlich hier die Entwicklung der Vokalisationsfähigkeit und die Gestaltung elementarer Vokalisationsdialoge. Durch stets gleichbleibende Formulierungen für bestimmte Situationen, die Identität von Inhalt, Stimmklang, Satzmelodie, Mimik, Gestik, Haltung und Situation sowie weiterer Aspekte könne die Person allmählich einen ersten Wortschatz aufbauen und schließlich auch zu Äußerungen mit Mitteilungscharakter übergehen.117 Gelingen diese Formen der Erfahrungsvermittlung und Förderung, dann werde als nächster Schritt sogar der „Austritt aus der eigenen engen Körpersphäre […] hinaus in die Beschäftigung mit der alltäglichen Umgebung und ihren Dingen“118 möglich. Diese Erweiterung der Aktivitäts- und Erfahrungsmöglichkeiten bezieht sich beispielsweise auf Greifen und Erkunden, Spielen und Nachahmen, Tasten und Berühren. Durch „Suchen, Finden, Wiedererkennen, Geben, Nehmen, Verstecken, Hervorholen“119 und andere ————— 114

Ebd., 197. Ebd., 217. 116 Ebd., 231. 117 Fröhlich erwägt am Ende seines Abschnittes, der sich stark am Babytalk ausrichtet, dass auch eine „freundlich-ruhige Erwachsenensprache, aufmerksam, zugewandt, aber nicht kindlich“ (ebd., 246) eine vergleichbare Kommunikationsförderung ermöglichen könne. Dies erscheint mir in der Beziehung zu Jugendlichen und Erwachsenen angemessener zu sein. 118 Ebd., 247. 119 Ebd., 253. 115

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Aktivitäten könnten die Betreffenden allmählichen einen „Begriff“ von Objekten erhalten. Das Konzept der basalen Stimulation ist eines der wichtigsten Konzepte in der Arbeit mit Menschen mit einer schweren Behinderung. Es verfolgt einen durchgängigen pädagogischen Ansatz und wird insofern vom Vorwurf einer technisierten Reizzufuhr bzw. eines stereotypen Funktionstrainings nicht getroffen.120 Allerdings scheint mir zwischen die Ebene der Bewegungserfahrung und die der Förderung vokalisierter Kommunikation noch die Ebene des unmittelbaren Körpergesprächs zu gehören. Hierzu gehören unmittelbare Kommunikationsformen mit dem Körper. Fröhlich hat an anderer Stelle solche Möglichkeiten, mit dem Körper zu sprechen durchaus einbezogen: „Es geht darum, mit unseren Händen, mit unserem Körper und natürlich auch mit unserer Stimme Beziehungen herzustellen, d.h. zu kommunizieren“. Er hält eine solche „primäre Sprache im somatischen Dialog“ für notwendig und betont, wir müssten lernen, „mit unserem Körper zuzuhören“.121 Im ausgeführten Konzept selbst werden diese Dimensionen des Körpergesprächs aber zu wenig behandelt. Sicher: man kann einwenden, dass die Anregungen zur Körper- und Bewegungserfahrung bereits zu einem Dialog der Sinne hinzugehören. Gleichwohl werden diese Erfahrungen in den entsprechenden Abschnitten nicht als Dialog- sondern als Anregungsformen behandelt. Insofern scheint mir das Konzept der basalen Stimulation mit Blick auf einen somatischen Dialog zu wenig ausgearbeitet zu sein. Deutlicher ist diese kommunikative Dimension in der leiborientierten Pädagogik Barbara Fornefelds berücksichtigt, der nunmehr meine Aufmerksamkeit gilt. 4.6.2 Elementare Beziehung und leiblicher Dialog Helmut hatte zu einem ruhigen Atem gefunden. Ein Körpergespräch hatte ihm eine erkennbare Entspannung ermöglicht. Ein Dialog von Stirne und Wange. Erwiderungen mit sanftem Druck. Mit diesem Beispiel habe ich dieses Kapitel eröffnet. Barbara Fornefeld, die es reflektiert, stellt es in den Zusammenhang einer leiborientierten Pädagogik, die von der elementaren Beziehung im leiblichen Dialog ausgeht und zugleich darauf zielt, schwerstbehinderte Menschen zu befähigen, eine zunehmend differenzierte, komplexe und selbstgesteuerte Beziehung zu ihrer Umwelt aufzubauen. —————

120 Vgl. dazu die Kritik von Erhard Fischer, zit. in: Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 150. 121 Fröhlich, Dialog der Sinne, 8.

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Fornefelds pädagogisches Konzept hat zur Voraussetzung, anzuerkennen, dass jede Lebensäußerung eines Menschen mit schwerster Behinderung Sinn-Gebung ist.122 Seine Reflexe, seine mimische und gestische Expressivität, sogar seine Handlungsstereotypien oder Wahrnehmungsstörungen gelte es deshalb als sinn-volle Ausdrucks- und Interaktionsformen zu verstehen. Oft seien sie auf einer präreflexiven, leiblichen Ebene angesiedelt. „Menschen mit schwerer geistiger Behinderung stiften Welt ‚nach Maßgabe ihrer Leiblichkeit‘.“123 Deshalb sei es für Pädagogen erforderlich, sich dieser SinnStiftung zu öffnen und in eine elementare, nichtreflexive und leiblich bestimmte Beziehung einzutreten. „Indem sich der Lehrer […] auf den leibhaften Dialog mit dem Schüler einläßt, sich beide also ‚elementar‘ aufeinander beziehen und gemeinsam Welt konstituieren, wird das schwerstbehinderte Kind für ihn, wenn auch nur begrenzt, so doch intensiv, nämlich ‚leibhafter‘ erfahrbar. Durch die Reflexion der elementaren Beziehungssituation können sich für den Lehrer Interpretationsperspektiven des kindlichen Verhaltens, das ihm bisher unverständlich schien, auftun.“124 Dabei gelte es, sowohl Ausdruck als auch Handeln und Wahrnehmung als die drei Weisen des leibvermittelten Zur-Welt-Seins einzubeziehen. Zu achten wäre daher zunächst auf das Emotionalisiert-Sein von Menschen mit schwerster geistiger Behinderung. In den emotionalen Stimmungen und Befindlichkeiten, in der körperlichen Artikulation von Wohl- oder Unbehagen, von Freude oder Unmut drücke sich die jeweilige Person aus. Auch Gesten und Gebärden als „Ausdrucksbewegungen“ gehörten in den gleichen Bereich. In Bezug auf den Aspekt des Handelns rückt Fornefeld die präreflexiven Handlungen in das Blickfeld, „mit denen der Schwerstbehinderte spontan seine Umwelt gestaltet. In seinen Automatismen, von Bewegungs- über sensorielle Stereotypien bis hin zur Selbstverletzung, drückt sich das Zur-Welt-Sein des schwerstbehinderten Kindes im Leibe aus. Mit seinen präreflexiven Handlungen wirkt es auf die Umwelt ein, verleiht ihr subjektiven Sinn und macht sie sich dadurch zueigen.“125 Der Wahrnehmungsaspekt schließlich macht auf die Bedeutung der Empfindungen und Eindrücke aufmerksam. Die Gesamtheit der Impressionen bildeten weitere bedeutungsvolle Aspekte des leiblichen Zur-Welt-Seins in der pädagogischen Gestaltung der elementaren Beziehung. Hier gelte es, die visuellen, auditiven, osmatischen, haptischtaktilen und gustatorischen Wahrnehmungselemente sowohl für sich als auch in ihrer Einheit zu betrachten. ————— 122 123 124 125

Vgl. Fornefeld, „Elementare Beziehung“ und Selbstverwirklichung, 128f. Ebd., 138. Ebd., 132. Ebd., 170.

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Unter Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Ausdrucks-, Handlungs- und Wahrnehmungsformen kann es nach Barbara Fornefeld „in der elementaren Beziehung […] zum gegenseitigen Verstehen im ursprünglichen-leiblichen Sinne kommen, weil [es] im Richten auf den Anderen […] zum Austausch von Bedeutungen und damit zur Gestaltung der Welt kommt. Beide Partner bezeugen sich im Beziehungsaspekt ihre gegenseitige Akzeptanz, ihr Sich-angenommen oder –wohlfühlen und manchmal auch ihr Glücklichsein.“126 Durch den leiblichen Dialog könnten Menschen mit schwerster Behinderung lernen, sich selbst anzunehmen und Selbstvertrauen entwickeln. Für die Gestaltung dieses Dialogs hat Fornefeld ein Strukturmodell entwickelt. Die dynamische Struktur der elementaren Beziehung glaubt sie am besten durch das Symbol einer Doppelhelix zum Ausdruck bringen zu können. In fünf charakteristischen Phasen127 vollziehe sich der leibliche Dialog: auf die Phasen der Vorbereitung und der Annäherung folgt die Phase des ursprünglichen Verstehens als Mittelpunkt und Hauptphase. Sie ist „dadurch gekennzeichnet, daß die beiden Partner zur Welt für einander werden. Kind und Lehrer teilen sich einander präverbal über die verschiedenen Gesten ihres Leibes mit.“128 Charakteristisch für diese Beziehung ist eine Reziprozität von Anruf und Antworten. Sobald dieses reziproke Verhältnis unterbrochen wird, beginnt die rückläufige Entfaltung der Beziehung. Sie besteht aus der Phase des Rückzugs und der des Nachhalls. Für Fornefeld ist die „elementare Beziehung“ keineswegs der Regelfall in der Beziehung zu Menschen mit schwerster geistiger Behinderung. Sie sei vielmehr etwas Besonderes und eine „glückliche Ausnahme“. Vor allem aber ist der leibliche Dialog grund-legende, wenn man so will: die basale Relation in einer pädagogischen Beziehung, die darauf abzielt, dass allmählich generalisierte und differenziert-selbstgesteuerte Beziehungen aufgebaut werden können.129 Fornefelds Konzept der „elementaren Beziehung“, das auf zentralen Inhalten der Anthropologie Merleau-Pontys aufbaut, hat seine Stärke darin, dass es die Dimension des leiblichen Zur-Welt-Seins des Menschen konsequent in das Zentrum der pädagogischen Beziehung rückt. Dadurch wird eine anthropologische Dimension ernst genommen, die eine eigene dialogische Struktur und eine eigene Begegnungsqualität hat. Das Modell erschließt ein zwischenmenschliches Verstehen, das präreflexiv und präverbal ist. Es ist zugleich auf komplexere Beziehungsstrukturen hin geöffnet ————— 126 127 128 129

Ebd., 180. Vgl. ebd., 228–234. Ebd., 230. Vgl. ebd., 242–247.

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und ermöglicht dadurch pädagogische Lern- und menschliche Wachstumsprozesse. Allerdings ist gelegentlich die Tendenz nicht zu übersehen, das „Prinzip Leib“ seinerseits zu verabsolutieren und den Begriff des Subjektes durch den des Leibes zu überblenden. Das ist beispielsweise an solchen Stellen der Fall, an denen Fornefeld in der leiblichen „Wahrnehmungstätigkeit des Menschen ein vorobjektives und vorsubjektives Wirklichkeitsverständnis“130 erblickt. An diesen Stellen wird zumindest der Eindruck nicht ausgeschlossen, dass die Leiblichkeit ihrerseits Subjektivität generiere. Gegenüber solchen Überhöhungen wäre m.E. darauf zu achten, Selbsterschlossenheit und Leiberschlossenheit als zwei gleich ursprüngliche Dimensionen von Subjektivität anzusehen. Insofern ist die phänomenologische Rede vom Leibsubjekt am ehesten geeignet, das Missverständnis abzuwehren, die Subjektivität gewissermaßen zum Derivat der Leiblichkeit zu machen. Nach Friedrich Oetinger ist „Leiblichkeit […] das Ende der Werke Gottes“.131 Damit steht sie zugleich am Beginn der Werke des Menschen. Gleichursprünglich ist aber das präreflexive Selbstgefühl. So ist die conditio humana beides, Subjektivität und Leiblichkeit, ein inkarniertes Selbst.

————— 130 131

Ebd., 136. Vgl. auch ebd., 140, Zitat Nr. 88. Friedrich Christoph Oetinger, Biblisches und emblematisches Wörterbuch, 407.

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5. Sozialität oder: die „Gewissheit, daß der Andere für mich immer anwesend ist“ (Jean-Paul Sartre) Sozialität „Ist ein ganz anderes Leben!“, sagt Herr R. als ihn die Interviewerin darauf anspricht, nun erstmals in einer eigenen Wohnung zu leben. „Sich im Heim immer das Geschreie anzuhören“, fügt er hinzu, „oder wenn die dann besoffen sind“.1 Herr R. ist im Jahr 2002 aus einer Wohnstätte für Menschen mit geistiger Behinderung in eine separate kleine Wohnung in Dresden umgezogen. Er wird seither ambulant begleitet. Im Entwicklungsbericht der Wohnstätte heißt es: „Herr R. hat seit seinem Einzug in die Wohnstätte eine sehr rasante Entwicklung genommen. Frühere sehr auffällige Verhaltensweisen sind heute keine mehr zu beobachten. Er hat sich vor ca. 4 Jahren das Ziel gesetzt, einmal in eine eigene Wohnung zu ziehen, welches er hiermit auch erreicht hat.“2 Die Formulierung „rasant“ ist angesichts der Lebensgeschichte von Herrn R. angemessen. An dem 1962 geborenen Jungen wurde zum damaligen Zeitpunkt eine „Oligophrenie auf der Grundlage einer frühkindlichen Hirnschädigung“3 diagnostiziert. Er wuchs in Kinderheimen auf und besuchte die Hilfsschule bis zur 6. Klasse. Eine Berufsausbildung zum Dreher brach er ab. Vor dem Hintergrund von Verhaltensauffälligkeiten und aus Anlass einer Schlägerei wurde er fünfzehnjährig in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Sechzehn Jahre, bis 1993, lebte er hier auf einer Langzeitstation. „Wir hatten keine Zimmer, das waren nur Säle!“, sagt er im Interview, „da waren so ungefähr zwanzig Leute drin“.4 Im Rahmen des sächsischen Enthospitalisierungsprozesses zog Herr R. 1993 in ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung. Die Arbeit in einer Werkstatt verweigerte er mit der Begründung, dass er ein Jahr lang keinen Lohn erhalten habe. Deshalb wurde er 1995 – im Alter von 33 Jahren – in ein Alten- und Pflegeheim verlegt. Die Wende in der Lebensgeschichte von Herrn R. bahnte sich am Ende des gleichen Jahres an. Er zog in eine Wohnstätte für Menschen mit geisti————— 1 2 3 4

Interview mit Herrn R., in: Balzer, „... ist ein ganz anderes Leben!“, Anhang, 11. Entwicklungsbericht 2003, in: ebd., Anhang, 4 (Name anonymisiert). Ebd., 2. Interview mit Herrn R., ebd., 2

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ger Behinderung ein und bekam eine Arbeit in deren Gärtnerei. Verhaltensauffälligkeiten traten weiterhin auf. Der Leiter der Wohnstätte erkannte aber auch seine sozialen Kompetenzen und hauswirtschaftlichen Fähigkeiten. Sein Angebot, als Kellner im Café der Wohnstätte zu arbeiten, nahm Herr R. gern an. Nach drei Jahren war er bereits so selbstständig, dass er ins Trainingswohnen umziehen konnte. Herr R. kellnert noch heute im selben Café. Inzwischen aber lebt er, wie gesagt, in den eigenen vier Wänden. „Ist ein ganz anderes Leben!“ Die Lebensgeschichte von Herrn R. liest sich bis zu seiner Verlegung ins Pflegeheim wie der klassische Beleg für eine Theorie des abweichenden Verhaltens. Sein Lebensweg ist als negative „Karriere“ verlaufen, bei der sich Stigmatisierungen und Verhaltensauffälligkeiten wechselseitig aufgeschaukelt haben und die mit trauriger Konsequenz in eine Situation des Ausschlusses und der Isolation geführt hat. Umgekehrt werden an seiner Entwicklung nach dem Umzug in die Wohnstätte – wiederum klassisch – die Erfolge einer sozialpädagogischen Förderung deutlich. Beide Theoriereferenzen sind zutreffend: Herr R. hat bis zu seinem 33. Lebensjahr einen negativen Sozialisationsprozess durchlaufen, anschießend einen pädagogisch geförderten, positiven. In beiden Fällen zeigt sich die sozialisierende Kraft prägender sozialstruktureller Verhältnisse. Hemmend und fördernd. Beides ist zutreffend und macht einsichtig, in welch starkem Maße Individualität kontextuell vermittelt ist. Am Beispiel der Biografie von Herrn R. kristallisieren sich Fragen heraus: Wie lässt sich die Wende in seinem Leben erklären? Wie die „sehr rasante Entwicklung“ nach seinem Einzug in die Wohnstätte? Wenn man eine weitgehende Sozialbestimmtheit der Individualität unterstellen würde, wäre der Wandel zwar erklärbar – er müsste sich dann aber auch bei anderen stigmatisierten Personen unter förderlichen Sozialverhältnissen analog nachweisen lassen. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Vielmehr entziehen sich Entwicklungsverläufe einer genauen Prognostizierbarkeit. Sie sind unverfügbar und verlaufen kontingent. Was bedeutet das aber? Wie sind die entsprechenden Interaktionsprozesse beschreibbar und wie die an ihnen beteiligten Instanzen, die Subjekte und ihre soziale Umwelt? Als die Theorien des abweichenden Verhaltens in der sozialwissenschaftlichen Diskussion populär wurden, fanden sie auch in der Behindertenpädagogik eine lebhafte Resonanz. Sie ermöglichten den Übergang von einem medizinisch zu einem sozialwissenschaftlich geprägten Behinderungsverständnis. Komplementär zu ihrer Leistung waren sie aber auch mit Vereinseitigungen verbunden. Bei ihrer Rezeption in der Behindertenpädagogik entstand gelegentlich der Eindruck, als ob stigmatisierende Etikettierungen gewissermaßen zwangsläufig zu einer gestörten Identität führen müssten. Günther Cloerkes spricht in diesem Zusammenhang von der Stigma-Iden-

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titäts-These.5 Vor dem Hintergrund einer solch engen Fassung der Stigmatisierungstheorie wäre der Wandel in der Biografie von Herrn R. gerade nicht erklärbar. Dass sich eine „beschädigte Identität“ in einem so kurzen Zeitraum verändern kann, bliebe ein Rätsel. Vielmehr scheint es angesichts dieses Fallbeispiels angemessener, dem zweifellos bedrohlichen Zuschreibungsprozess ein Ich gegenüber zu stellen, das seinerseits zu einer individuellen Auseinandersetzung fähig ist. Nicht nur für Menschen mit Behinderung ist es deshalb von zentraler Bedeutung, wie Subjekt und Soziales interagieren. Daran entscheiden sich Identitätstheorien ebenso wie pädagogische Interventionen oder politische Programme. Um das Sozialverhältnis des Menschen geht es in diesem Kapitel, um die Sozialität der conditio humana. Ich werde dabei die These verfolgen, dass nur solche Konzepte von Sozialität theoretisch angemessen und pädagogisch sinnvoll sind, die Subjekt und Soziales als zwei nicht auf einander zurückführbare und insofern in unverfügbarer Weise interagierende Instanzen auffasst. Dazu werde ich nach einem Blick in die biblische Tradition (5.1) einige philosophische Konzepte der Sozialität in den Blick nehmen (5.2) mich den Entwürfen von Fichte, Hegel und Schleiermacher ausführlicher zuwenden (5.3) und daran anschließend drei aktuelle theologische Konzepte der Intersubjektivität erläutern (5.4). Im darauf folgenden Abschnitt werde ich sozialwissenschaftliche Theorien der Intersubjektivität – insbesondere die von George Herbert Mead und Jürgen Habermas – vorstellen und diskutieren. Diese Auseinandersetzung führt mich zur Annahme der Gleichursprünglichkeit von Subjektivität und Sozialität (5.5). Theologische Gesichtspunkte zu einem Konzept der Sozialität stehen im Mittelpunkt des folgenden Abschnittes (5.6). Abschließend wende ich mich der behindertenpädagogischen und politischen Dimension des Themas zu und reflektiere soziale Möglichkeiten zur Entstigmatisierung (5.7).

5.1 „Corporate personality“ – Notizen zur sozialen Anthropologie in den biblischen Schriften Die „Entdeckung des Individuums“ hat sich in der hebräischen Bibel erst allmählich vollzogen. Deshalb wird der Mensch in ihr vor allem als „sozial eingebundenes Wesen“6 verstanden. Selbst zu der Zeit, da die Vorstellung eines „Einzelnen“ bereits Konturen gewinnt, bleibt die grundsätzliche Gruppenbezogenheit unbestritten. Ein isolierter Einzelner wäre für die gesamte biblische Tradition ein anthropologischer und theologischer ————— 5 6

Cloerkes, Soziologie der Behinderten, 151ff. Krieg, Leiblichkeit im Alten Testament, 18.

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Selbstwiderspruch. Nach Matthias Krieg besteht die „corporate personality“ (H.W. Robinson) der hebräischen Bibel in einer durchgängigen Verschränkung von Individual- und Gruppenbezug: „Einerseits wird das Individuum synekdochisch als ein Repräsentant der Gruppe angesprochen (Ps 8), andererseits aber die Gruppe korporativ als ein Individuum (Dt 6)“.7 Die sozialen Beziehungen, in die Israeliten sich eingebunden wussten, lassen sich als Gemeinschaftskreise beschreiben, deren jeweils größerer mehrere kleinere umfasst. Am Beispiel der Erzählung von Achans Diebstahl (Jos 7,1–26) hat Hans Walter Wolff die Skizze einer „kleinen altisraelitischen Soziologie“ gegeben, die sich zugleich als „kleine soziale Anthropologie“ darstellt.8 Im Buch Josua wird davon erzählt, wie Achan heimlich Beute aus der gebannten Stadt Jericho an sich gebracht und dadurch Gottes Zorn erregt hatte. Da der Schuldige zunächst unbekannt war, ließ Josua alle Stämme zusammenkommen, um ihn im Losverfahren zu ermitteln: „Und als er die Geschlechter Judas herzutreten ließ, wurde getroffen das Geschlecht der Serachiter. Und als er das Geschlecht der Serachiter herzutreten ließ, wurde Sabi getroffen. Und als er sein Haus herzutreten ließ, Mann für Mann, wurde getroffen Achan, der Sohn Karmis […], aus dem Stamm Juda“ (Jos 7,17f). Der Einzelne ist also zunächst Glied einer Großfamilie, eines „Hauses“. Diese gehört mit etwa zwanzig weiteren zu einem „Geschlecht“, einer Sippe. Die Sippen wiederum bildeten einen Stamm, der eine bestimmte Landschaft bewohnte. Die Gemeinschaft der Stämme schließlich bildete das „Haus Israel“, das „Volk Jahwes“.9 Die Sozialbestimmtheit des Menschen wurde in altisraelischer Zeit mithin entlang zweier Bezugsgrößen gedacht: verwandtschaftlich-ethnisch gemäß der Zugehörigkeit des Einzelnen zu einem „Haus“, „Geschlecht“, „Stamm“ und „Volk“, religiös als Bezogenheit aller dieser Gemeinschaftskreise auf Gott, der sich das Volk Israel als das „Volk seines Bundes“ auserwählt hat. In späterer Zeit haben sich an der Rolle der jeweiligen Gemeinschaftsgruppen auf Grund der politischen, geschichtlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen Veränderungen ergeben. Insbesondere in der nachexilischen Zeit hat sich Israel stärker als Kultgemeinde verstanden (vgl. Esr 10,7–17), wodurch die religiöse Dimension der Gemeinschaft deutlicher in den Vordergrund getreten ist. In manchen Texten (z.B. Dtn 16,18–18,22) wird Israel sogar „als ein Personenverband“ beschrieben, „der […] auch nach Verlust des Landes Bestand behält“.10 Dennoch bleibt im Verständnis Israels als „Gemeinde“ die ethnische Zugehörigkeit konstitutiv. ————— 7 8 9 10

Ebd. Vgl. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 196. Vgl. ebd., 196f. Rüterswörden, Art. Gemeinde, II. Altes Testament, 611.

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Das Gemeindeverständnis der frühen christlichen Gemeinden gründet in der Christuspredigt und knüpft zugleich an den Vorgang der Versammlung an, der bereits in der Septuaginta mit GXMMNJUKC(ekklesia) als Übersetzung des hebräischen Terminus lh'q' (qahal) bezeichnet worden ist.11 Für Paulus bildet die durch Gott berufene Gemeinde eine „Gemeinschaft in Christus Jesus“ (Phil 2,5) und zugleich eine „Gemeinschaft am Evangelium“ (Phil 1,5). Die Erneuerung im Glauben an Christus bringt auch eine Erneuerung der Gemeinschaft mit sich. In der idealtypischen Beschreibung des Lukas war „die Menge der Gläubigen […] ein Herz und eine Seele“ und „es war ihnen alles gemeinsam“ (Apg 4,32). Die wichtigsten theologischen Bestimmungen zur Gestalt der durch die Gemeinschaft am Evangelium bestimmten Sozialverhältnisse hat Paulus anhand der Metapher vom Leib und seinen Gliedern formuliert. Indem er theologisch die Gemeinde als Leib Christi und die Glaubenden als Glieder an diesem Leib versteht, nimmt er darin zugleich auch eine Verhältnisbestimmung von Individuum und Gemeinschaft vor. „Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt“ (1Kor 12,12f). Das Individuum kommt bei Paulus mithin nie als solches, sondern durchgängig als Glied der Gemeinschaft des Leibes in den Blick. Umgekehrt ist diese Gemeinschaft eine aus Individuen mit Gaben und Begabungen (vgl. Röm 12,6–8). Diese, durch die Berufung Gottes zur Gemeinschaft mit seinem Sohn konstituierte Gemeinde hebt die bestimmende Kraft anderer Sozialverhältnisse auf: egal ob sie in einander ausschließenden ethnischen Zugehörigkeiten wurzeln oder in gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Jedes einzelne Glied dieser Gemeinschaft hat individuelle Züge und Würde. Es hat eine spezifische Begabung, die für den Leib unverzichtbar ist. Keines ist dem Anderen über- sondern alle sind einander gleichgeordnet. „Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder auch das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht“ (1Kor 12,21). Kein Einzelner steht über der Gemeinschaft mit den anderen. Vielmehr wird diese von der „Option für die Schwachen“ geprägt: nach Paulus sind „die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen, die nötigsten; und die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre“ (1Kor 12,22f). Paulus versteht die Sozialität nicht isoliert von den übrigen menschlichen Verhältnissen: sie korreliert mit der Gottesbeziehung, die im Glauben erschlossen und der Selbstbeziehung, die durch den Glauben erneuert wird. Für eine theologische Theorie der Intersubjektivität ergibt sich daraus die ————— 11

Vgl. Banks, Art. Gemeinde, III. Neues Testament, 611.

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Einsicht, dass der soziale Beziehungsreichtum des Menschen seinerseits relational gedacht werden muss: durch das menschliche Grundverhältnis ebenso wie durch sein Selbstverhältnis.

5.2 Geselligkeit, Ungeselligkeit, Vergesellschaftung. Konzepte der Sozialität zwischen Naturzustand und Gesellschaftsvertrag Während die biblische Sozialanthropologie unter dem Eindruck steht, von Gott zu einer Gemeinschaft berufen zu sein, vollzieht sich das anthropologische Denken der Griechen mehr im Zeichen der „Politik“, der Selbstorganisation der bürgerlichen Angelegenheiten.12 Die geschichtliche Erfahrung, die gemeinsamen Angelegenheiten der Polis gemeinschaftlich beraten und entscheiden zu können, war für die Griechen prägend. Nicht ohne Grund haben Platon und Aristoteles ihre jeweiligen Bücher „Der Staat“ und „Politik“ genannt. Aristoteles, der die staatliche Gemeinschaft als die vollkommenste ansieht, fragt nach den ursprünglichen Bestandteilen des Staates und entdeckt in der Natur des Menschen die Grundlage für die Gemeinschaftsbildung. Seine Doppelthese besagt deshalb einerseits, „daß der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört“. Umgekehrt geht sie dahin, dass „der Mensch von Natur ein staatliches Wesen“13 ist. Deshalb, so Aristoteles, „verlangen die Menschen, auch wenn sie durchaus keiner gegenseitigen Hilfe bedürfen, nichtsdestoweniger nach dem Zusammenleben; indessen führt auch der gemeinsame Nutzen sie zusammen, insofern die Gemeinschaft für jeden zur Vollkommenheit des Lebens beiträgt.“14 Dies wiederum ist die Aufgabe des Staates: zum guten Leben für alle und damit zugleich für jeden Einzelnen beizutragen. Die aristotelische Kennzeichnung des Menschen als eines „zoon politikon“ ist zu einer der prägendsten Formulierungen geworden, mit denen das Sozialverhältnis des Menschen auf den Begriff gebracht worden ist. Die Stoa hat sie später aus ihrer Bezogenheit auf die Polis gelöst und allgemeiner vom „geselligen Lebewesen“ gesprochen: der Mensch als „zoon koinonikon“.15 In der scholastischen Aristotelesrezeption sind beide Formulierungen mit einander verbunden worden.16 Thomas von Aquin spricht in ————— 12

Vgl. Meier, Art. Politik, I. Antike, 1038. Aristoteles, Politik, in: ders., Werke, Bd. 4, 4 (1253 a). Die zentrale Formulierung lautet im Griechischen „HWUGK... \Y^QPRQNKVKMQXP“ (zit. nach: Aristoteles, Werke in dt. Übersetzung, Bd. 9, Tl. 2/2 u. 3, 448). 14 Aristoteles, Politik, 88 (1278 b). 15 Griech.: „\Y^QPMQKPQPKMQXP“; vgl. Ganslandt, Art. Gesellschaft, bürgerliche, 757. 16 Vgl. Ganslandt, Art. Gesellschaft, bürgerliche, 757. 13

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seinem Kommentar zu „peri hermeneias“ davon, der Mensch sei „von Natur ein politisches und geselliges Tier“.17 Für die christliche Theologie ist darüber hinaus durchgängig eine soziale Anthropologie bestimmend gewesen, die sich an den biblischen Schöpfungsberichten orientiert hat. Freilich lassen sich in diesen Interpretationen auch die hermeneutischen Voraussetzungen ihrer jeweiligen Autoren erkennen. Augustin beispielsweise verbindet in seiner Schöpfungslehre die biblische Tradition mit einer neuplatonischen Kosmologie, nach der Gott den Menschen „als eine Art Mittelding zwischen Engel und Tier gestaltet“18 habe. Im Unterschied zu den Tieren habe Gott den Menschen „als einen und einzelnen erschaffen“, der zugleich aber „nicht allein bleiben“ sollte. Deshalb habe ihm Gott „durch die Art der Erschaffung um so eindringlicher die genossenschaftliche Einheit ans Herz gelegt […] und das Band der Eintracht, wenn die Menschen nicht nur durch die gleiche Natur, sondern auch durch verwandtschaftliche Zuneigung miteinander verbunden wären; hat doch Gott nicht einmal das dem Manne beizugesellende Weib so wie den ersten, sondern aus diesem erschaffen wollen, da sich das Menschengeschlecht ganz und gar von einem Menschen aus verbreiten sollte.“19 Augustinus versucht, sein platonisch inspiriertes Interesse an der Einheit auch im Angesicht der Vielfältigkeit menschlicher Gemeinschaftsbeziehungen aufrecht zu erhalten: die Frau wird nicht gemeinsam mit dem Mann sondern aus ihm erschaffen und bleibt insofern von ihm abhängig. In die menschliche Sozialbeziehung wird so von vornherein ein asymmetrischer Zug eingetragen, mit dem Unterordnungsverhältnisse verbunden sind. Obwohl das Bewusstsein von der Sozialität des Menschen die theologische und philosophische Reflexion durchgängig begleitet hat, blieben die damit verbundenen Fragen eher am Rand des thematischen Spektrums stehen. Gegenüber dem beherrschenden Diskurs zu Leib, Seele und Geist konnten sie nur eine vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Vermutlich war auch die Leib-Seele-Anthropologie nicht in der Lage, die geeigneten kategorialen Mittel bereitzustellen, um diese Fragen differenziert ausarbeiten zu können. René Descartes hat diese theoretischen Voraussetzungen mit seiner Theorie des Selbstbewusstseins zwar entscheidend erweitert. Seine rationalistischen und dualistischen Grundannahmen

—————

17 Thomas von Aquin, peri hermeneias, I,2,2: „homo est naturaliter animal politicum et sociale“, zitiert nach: Park, Die Rezeption der mittelalterlichen Sprachphilosophie, 101, Anm. 66. 18 Augustinus, Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Bd. 2, 242 (12, 22). 19 Ebd.

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hinderten ihn aber daran, zu einer „Gewissheit des anderen Ich“ zu kommen, die mit der Selbstgewissheit auch nur annähernd vergleichbar wäre.20 Die neuzeitliche Philosophie hat das Thema der Sozialität des Menschen bevorzugt innerhalb einer politischen Theorie der Gesellschaft reflektiert. Thomas Hobbes hielt der aristotelischen These einer natürlichen Sozialorientierung des Menschen die Behauptung einer ursprünglichen Selbstbehauptung entgegen: „Der Mensch sucht von Natur keine Gesellschaft um der Gesellschaft willen, sondern um von ihr Ehre und Vorteil zu erlangen.“21 Deshalb sei auch der Naturzustand durch einen skrupellosen Kampf aller gegen alle gekennzeichnet. Die Selbstbeschränkung, die das Leben in einem Gemeinwesen mit sich bringt, würden die Menschen nur deshalb auf sich nehmen, um dadurch „dem elenden Kriegszustand zu entkommen“.22 Für David Hume ist der Mensch „auf Vergesellschaftung angewiesen, um seine eigennützigen Interessen zu befriedigen“.23 Kant wiederum erkennt am Menschen eine „ungesellige Geselligkeit“,24 „eine Neigung, sich zu vergesellschaften“ wie auch den „Hang, sich zu vereinzelnen (isolieren)“.25

5.3 Das Ich und sein Verhältnis. Sozialität in den Entwürfen von Fichte, Hegel und Schleiermacher Meine Skizze hat gezeigt, dass die Philosophie bis Kant zwar durchgängig ein Sozialverhältnis des Menschen reflektiert hat, dabei aber nicht bis zu einer Theorie der Intersubjektivität gelangt ist. Interessanterweise sind es —————

20 In der letzten seiner „Meditationen über die Erste Philosophie“ untersucht Descartes die Gewissheit, mit der das Ich etwas über die Existenz von Körpern wissen kann. Aus den angenehmen oder unangenehmen Empfindungen, die mit der Wahrnehmung anderer Körper verbunden sind, schließt er, „daß mein Körper oder vielmehr mein ganzes Ich […] von den umliegenden Körpern in verschiedener Weise mit Zuträglichem und Unzuträglichem affiziert werden kann.“ (Descartes, Meditationes de Prima Philosophia / Meditationen über die Erste Philosophie, 197). Obwohl sich die Unsicherheiten dieser Wahrnehmungen durch eine gemeinsame Aufbietung aller Sinne, des Gedächtnisses und des Verstandes zurückweisen ließen, bleibe „uns im Drang der Geschäfte“ (ebd., 213) aber nicht immer die Zeit für eine solche Prüfung. Descartes’ Meditation macht deutlich, wie weit er von einer Theorie der Intersubjektivität entfernt war: wenn schon die Einwirkungen anderer Körper täuschungsanfällig bleibt, wie wenig lässt sich dann etwas darüber wissen, ob sich in ihnen möglicherweise ein anderes Ich ausdrückt! Descartes selbst mutmaßt, es könne ja sein, dass die Körpermaschine „auch geistlos all die Bewegungen ausführt“, die ich an ihr wahrnehme (a.a.O, 203). 21 Hobbes, Grundzüge der Philosophie, Tl. 2 u. 3, 426. 22 Hobbes, Leviathan, 145.. 23 Weymann, Art.: Gesellschaft/Gesellschaftstheorie, 471 24 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Werke, Bd. 9, 37 (A 392). 25 Ebd., 37f (A 392). Vgl. auch ders., Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, 611: „Der Mensch ist ein für die Gesellschaft bestimmtes (obzwar doch auch ungeselliges) Wesen“ (A 156).

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dann die ambitionierten Konzepte der Subjektivitätstheorie gewesen, die mit der Schließung dieser Lücke begonnen haben. Offenbar hat erst die Thematisierung der Strukturen des Ich auch die Gewissheit des anderen Ich und das Bewusstsein ihrer Wechselwirkung ermöglicht. In den Entwürfen von Fichte, Hegel und Schleiermacher wird erstmals nicht nur ein natürlicher Sozialbezug unterstellt, sondern das Verhältnis von Ich und anderem Ich reflektiert. Mit unterschiedlichen Akzenten und Ergebnissen. Von ihnen soll jetzt die Rede sein. (1) Goethe und Schiller haben ihre „Xenien“ mit Witz und philosophischem Scharfsinn gemischt. Ein Epigramm über Fichtes „Philosophie der Tat“ lautet: „Ich bin ich, und setze mich selbst, und setz ich mich selber / Als nicht gesetzt, nun gut! Setz ich ein Nicht-Ich dazu.“26 Was hier fast als philosophische Posse erscheint, markiert ein zentrales Problem von Fichtes Denken: das Verhältnis des sich selbst setzenden Ich zum Nicht-Ich. Oder zu einem anderen Ich. Lässt sich der steile Anspruch von Subjektivität auch mit einer Idee von Intersubjektivität verbinden? Fichte hat sich dieser Frage in der „Grundlage des Naturrechts“ von 1796 zugewandt. Und er hat ihr eine Antwort gegeben, in der er keine seiner philosophischen Prinzipien ermäßigt. Im Gegenteil: die gleiche Aporie des Selbstbewusstseins, die ihn zur These des sich selbst setzenden Subjekts geführt hat, macht nunmehr auch die Annahme von Intersubjektivität einsichtig. Selbstbewusstsein im Sinn einer Selbsterfassung und -identifizierung des Ich ist nach Fichtes Auffassung insbesondere im Wollen möglich. In ihm sei sich der Mensch seiner freien Wirksamkeit, seiner Selbstsetzung bewusst. Zugleich bedürfe es aber für jeden konkreten Ausdruck des Wollens bereits eines reflektierenden Selbstbewusstseins, das die Ziele und Gegenstände der Handlung bestimmt. Hier entsteht eine Schwierigkeit: Das Ich kann kein Objekt zum Gegenstand seines Wollens machen, ohne sich zuvor selbst erfasst zu haben. Umgekehrt kann es sich nur erfassen, indem es sein Wollen auf Gegenstände bezieht. In Fichtes Worten: „Das vernünftige Wesen kann […] kein Object setzen (wahrnehmen und begreifen), ohne zugleich […] sich eine Wirksamkeit zuzuschreiben […]. Aber es kann sich keine Wirksamkeit zuschreiben, ohne ein Object, auf welches diese Wirksamkeit gehen soll, gesetzt zu haben. Das Setzen des Objects […] muss in einem vorhergehenden Zeitpunct gesetzt werden“.27 Ein unendlicher Regress droht das Ich zu verschlingen: um sich auf ein Objekt beziehen zu können, muss sich das Subjekt bereits zu einem früheren Zeitpunkt erfasst haben. Da es sich aber nur in der Beziehung auf ein Objekt erfassen kann, müsste es sich zu einem noch weiter zurückliegenden Zeitpunkt erfasst haben – und so weiter. „Al————— 26 27

Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 4.1, 821. Fichte, Grundlage des Naturrechts, Werke, Bd. III, 30.

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so“, schreibt Fichte, „ist jeder mögliche Moment des Bewusstseyns, durch einen vorhergehenden Moment desselben, bedingt, und das Bewusstseyn wird in der Erklärung seiner Möglichkeit schon als wirklich vorausgesetzt. Es lässt sich nur durch einen Cirkel erklären; es lässt sich sonach überhaupt nicht erklären, und erscheint als unmöglich.“28 Ein einziger Ausweg bliebe: es müsste eine Synthese angenommen werden, in der die Selbsterfassung des Subjekts und seine Wirksamkeit vereinigt wären. „Nur eine vollkommene Synthesis […] von Erkennen und Wollen ermöglicht den ersten Akt des Bewußtseins.“29 Dies wäre, so Fichte, nur dann der Fall, wenn das Ich von außen dazu bestimmt würde, wirksam zu werden, mithin durch ein externes „Bestimmtseyn des Subjects zur Selbstbestimmung“.30 An dieser Stelle nun wird die Existenz eines anderen Ich zur Bedingung der Möglichkeit, den Zirkel vermeiden und die praktische Selbsterfassung des Subjekts widerspruchsfrei denken zu können. „Das vernünftige Wesen kann sich nicht setzen, als ein solches, es geschehe denn auf dasselbe eine Aufforderung zum freien Handeln […]. Geschieht aber eine solche Aufforderung zum Handeln auf dasselbe, so muss es nothwendig ein vernünftiges Wesen ausser sich setzen als die Ursache derselben, also überhaupt ein vernünftiges Wesen ausser sich setzen“.31 Individualität wird so, wie Fichte schreibt, zu einem „Wechselbegriff“, d.h. zu einem Begriff, der „nur in Beziehung auf ein anderes Denken gedacht werden kann, und durch dasselbe […] bedingt ist.“32 Wechselseitigkeit ist deshalb ein Merkmal der Intersubjektivität, genauer „die freie Wechselwirkung durch Begriffe und nach Begriffen“,33 mithin die Kommunikation. Fichte hat als einer der Ersten die intersubjektive Verschränkung von Subjektivität erkannt und differenziert beschrieben. Dennoch bleibt der Eindruck bestehen, dass ihn die anderen Subjekte „nur als Bedingungen der Möglichkeit der Realisierung des ersten Ich interessieren“.34 Metaphorisch gesprochen: Fichte ist dem Monolog des Ichs ins Wort gefallen und hat sein Gegenüber in den Dialog einbezogen. Aber er hat den Zweifel nicht zerstreuen können, dass das Ich, nachdem sein Gegenüber ein Wort an es gerichtet hat, erneut nur von sich selbst spricht. (2) Ganz anders Hegel. In meiner Darstellung des Weges der „Phänomenologie des Geistes“ vom Bewusstsein zum allgemeinen Selbstbewusstsein habe ich bereits eine Skizze der Hegelschen Theorie der Intersubjektivität ————— 28 29 30 31 32 33 34

Ebd. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewusstsein, 250. Fichte, ebd., 33. Ebd., 39. Ebd., 47. Ebd., 40. Hösle, Hegels System, Bd. 2, 379 Anm. 85.

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gegeben. Sie soll an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholt werden.35 Das allgemeine Selbstbewusstsein versteht Hegel als eine Gegenseitigkeit, in der „es im freien anderen sich anerkannt weiß und dies weiß, insofern es das andere anerkennt und es frei weiß“.36 Subjektivität ist anerkennende und anerkannte Intersubjektivität. Allerdings ist mit der Bestimmung des allgemeinen Selbstbewusstseins der Gang der „Phänomenologie“ noch nicht abgeschlossen. Vielmehr sind es die Vernunft und der Geist, in die Hegels Darstellung mündet. Die Vernunft beschreibt er als „die an und für sich seiende Allgemeinheit und Objektivität des Selbstbewußtseins“.37 Damit geht sie über die Subjektivität einzelner interagierender Subjekte hinaus. Hegel intendiert eine Allgemeinheit, „welche […] jene […] Besonderheiten übergreift und in welche diese sich auflösen. Indem aber das Selbstbewußtsein zu dieser Allgemeinheit gelangt, hört es auf, Selbstbewußtsein im eigentlichen oder engeren Sinne des Wortes zu sein, weil zum Selbstbewußtsein als solchem gerade das Festhalten an der Besonderheit des Selbstes gehört. Durch das Aufgeben dieser Besonderheit wird das Selbstbewußtsein zur Vernunft.“38 Indem das Selbstbewusstsein schließlich zur „Gewißheit seiner selbst als unendliche Allgemeinheit“39 voranschreitet, wird es Geist. An dieser Stelle werden Schwierigkeiten von Hegels Theorie der Intersubjektivität erkennbar. Sie haben ihren Grund darin, dass in ihr die reale Interaktion individueller Subjekte nur ein Durchgangsstadium zu einer allgemeinen Bewegung des Geistes darstellt. Letztlich betrachtet Hegel „den ganzen Anerkennungsprozeß nur als Mittel […], das vernünftige Bewußtsein zu erlangen, daß die Bestimmungen des Denkens zugleich objektiv sind“.40 Die Intersubjektivität realer Personen löst sich dabei in die „unendliche Allgemeinheit“ des Geistes auf. Dadurch läuft Hegels Philosophie Gefahr, das Allgemeine dem Einzelnen vor- und den Einzelnen dem Allgemeinen unterzuordnen. Wenn anschließend das Allgemeine als die Gesellschaft identifiziert wird, geht das Subjekt leicht im gesellschaftlichen Allgemeinen auf. Die marxistische Tradition hat diesen gesellschaftlichen Primat ausdrücklich behauptet. Marx hat in seinen „Thesen über Feuerbach“ davon gesprochen, „das menschliche Wesen“ sei „kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“41 In den „Ökonomisch————— 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Teil B, Kap. 3.2 (7). Hegel, Enzyklopädie III, Werke 10, 226 (§ 436). Ebd., 227 (§ 437). Ebd., 228 (§ 437). Ebd., 229 (§ 439). Hösle, ebd., 379. Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, 6.

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philosophischen Manuskripten“ heißt es lapidar: „Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen.“42 Marx’ Einsicht in die gesellschaftliche Vermittlung von Individualität ist m.E. nicht von der Hand zu weisen. Seine These geht aber darüber hinaus. Indem sie das Individuum mit dem gesellschaftlichen Wesen identifiziert, nimmt sie ihm jede Eigenständigkeit im Prozess der Vermittlung. Das Subjekt wird zum Anhängsel gesellschaftlicher Verhältnisse. (3) Während Fichte und Hegel das Verhältnis von Ich und Anderem jeweils nach einer Seite hin stärker gewichten, legt Schleiermacher Wert auf das Gleichgewicht beider. Zu Unrecht spielt sein Entwurf in der heutigen Diskussion um Sozialität kaum eine Rolle. Nichts desto trotz ist aber „Schleiermachers […] Subjektivitätstheorie […] im Kern eine Theorie der Intersubjektivität“.43 Dies will ich im Folgenden zeigen. Inspiriert vom Geist der Frühromantik und motiviert durch die Erfahrungen im „geselligen Berlin“44 hat Schleiermacher schon zeitig die menschliche Sozialität reflektiert. In seinem „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ von 1799 sieht er die „freie Geselligkeit als eine nicht zu umgehende natürliche Tendenz“45 an, deren Zweck im „freien Gedankenspiel“46 und deren Form in der „durchgängigen Wechselwirkung“47 bestehe. In den zeitgleich publizierten „Reden über die Religion“ gibt Schleiermacher bereits eine anthropologische Begründung: die „Anschauung des Universums“ im Gefühl rege den Menschen an, ja dränge ihn, sich anderen mitzuteilen: „je heftiger ihn etwas bewegt, je inniger es sein Wesen durchdringt, desto stärker wirkt auch der Trieb, die Kraft deßelben auch außer sich an Andern anzuschauen, um sich vor sich selbst zu legitimiren, daß ihm nichts als menschliches begegnet sei“48 Nur im intersubjektiven Austausch gelingt es dem Menschen offenbar, sich der Erfahrung des Gefühls zu vergewissern, sie einzuordnen und zu reflektieren. Gerade das, schreibt Schleiermacher, „was zu seinen Sinnen eingeht, was seine Gefühle aufregt, darüber will er Zeugen, daran will er Teilnehmer haben“.49 Die differenzierteste Gestalt hat Schleiermacher seiner Theorie der Intersubjektivität in seiner „Psychologie“, „Dialektik“ und „Ethik“ sowie in der zweiten Auflage seiner „Glaubenslehre“ gegeben.50 Ich konzentriere mich ————— 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungsbd., Tl. 1, 538. Schlenke, „Geist und Gemeinschaft“, 35. Nowak, Schleiermacher, 82. Schleiermacher, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, KGA, I/2, 168. Ebd., 170. Ebd., 169. Schleiermacher, Reden über die Religion, KGA, I/2, 267. Ebd. Vgl. Schlenke, „Geist und Gemeinschaft“, 21–135.

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auf die letztere. Sie geht von der Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, also: von der Rezeptivität und Spontaneität als den beiden grundlegenden anthropologischen Dimensionen aus. Im Selbstbewusstsein ist dem Menschen beides erschlossen. Während sich in der Spontaneität „das Sein des Subjektes für sich“ ausdrückt, ist es in der Rezeptivität „sein Zusammensein mit anderem“.51 Mit ihr ist das Gefühl verbunden, dass „wir nicht anders als nur durch ein anderes so werden konnten“,52 wie wir sind. Das aus diesem Abhängigkeitsgefühl und dem korrespondierenden Freiheitsgefühl zusammengesetzte „Gesamtselbstbewußtsein“ beschreibt Schleiermacher als „das der Wechselwirkung des Subjektes mit dem mitgesetzten Anderen“.53 In der Struktur des Selbstbewusstseins ist so die Beziehung auf die soziale und natürliche Umwelt mit enthalten. Es ist nicht zuletzt ein „Bewußtsein […] unseres Zusammenseins mit der Welt“.54 Beides, Abhängigkeitsgefühl und Freiheitsgefühl, gründen nach Schleiermacher im konstitutiven Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Nachdem Schleiermacher auf diese Weise die Anwesenheit des Anderen im individuellen Selbstbewusstsein gezeigt hat, erläutert er im unmittelbar folgenden Abschnitt, wie das Ich seinerseits die Gemeinschaft sucht. „Das fromme Selbstbewußtsein“, so lautet der Leitsatz des § 6, „wird wie jedes wesentliche Element der menschlichen Natur in seiner Entwicklung notwendig auch Gemeinschaft“.55 In der Erläuterung verweist Schleiermacher auf das menschliche Gattungsbewusstsein,56 das sich im „Heraustreten aus den Schranken der eigenen Persönlichkeit und in dem Aufnehmen der Tatsachen anderer Persönlichkeiten in die eigene“57 verwirkliche. Darüber hinaus ist für ihn die Wechselwirkung von Innerem und Äußerem leitend.58 Da jedes Gefühl durch Gesichtsausdruck, Gebärden, Ton oder seine Verbalisierung nach außen trete, errege es „in andern zunächst […] die Vorstellung von dem Gemütszustande des Äußernden“, die aber aufgrund des Gattungsbewusstseins zur lebendigen Nachbildung werde. Je mehr der Wahrnehmende dabei „teils im allgemeinen, teils wegen größerer Lebendigkeit der Äußerung und wegen näherer Verwandtschaft fähig ist, in denselben Zustand überzugehen, um desto leichter wird dieser mittelst der ————— 51

Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 24 (§ 4.1). Ebd., 25 (§ 4.2). 53 Ebd., 26 (§ 4.2). 54 Ebd. 55 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 41 (§ 6, Leitsatz). 56 Das Gattungsbewusstsein bestimmt Schleiermacher als „das Bewußtsein vom menschlichen Geist an sich, wie er da ist in unendlicher Mannigfaltigkeit von einzelnen Gestalten“ (WW III 7, 146, zit. nach: Keller-Wentorf: Schleiermachers Denken, 292). 57 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 42 (§ 6.2). 58 Vgl. dazu Schlenke, „Geist und Gemeinschaft“, 161. 52

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Nachbildung hervorgebracht.“59 Dieser wechselseitigen Nachbildung müsse „sich jeder von beiden Seiten her als Äußernder und als Vernehmender aus Erfahrung bewußt sein, und also zugeben, daß er sich unter Zustimmung seines Gewissens in einer mannigfaltigen Gemeinschaft des Gefühls immer befindet“.60 Diese kurze Skizze der „Glaubenslehre“ enthält Schleiermachers Theorie der Intersubjektivität in nuce. Diese beschreibt den Prozess sozialer Interaktion als eine notwendige Selbstüberschreitung des Ich zum Anderen und als das „Aufnehmen der Tatsachen anderer Persönlichkeiten in die eigene“. Perspektivenübernahme ist somit für die Selbst-Entwicklung konstitutiv. Die „lebendige Nachbildung“, d.h. die selbstbewusste Aneignung der am Anderen wahrgenommenen Gemütszustände, Gebärden oder Worte stellt zugleich die individuelle Auseinandersetzung des Ich mit seiner sozialen Umwelt dar. Die Aufnahme des Anderen ins eigene Ich und die lebendige Nachbildung markieren so die beiden konstitutiven Aspekte eines Prozesses der Entwicklung und Identitätsbildung. Schleiermacher deutet hier einen Austauschprozess an, in dem Motive anklingen, die in den Theorien des symbolischen Interaktionismus später differenzierter entfaltet worden sind. Allerdings, und das ist von zentraler Bedeutung, denkt Schleiermacher diesen Prozess als einen wechselseitigen. Jeder Mensch ist sich der Interaktion „von beiden Seiten her als Äußernder und als Vernehmender […] bewußt“. Individualität und Sozialität werden von Schleiermacher als gleichursprünglich angesehen. Fichte, Hegel und Schleiermacher haben Intersubjektivität nicht nur verschieden bestimmt. Ihre Entwürfe bringen auch unterschiedliche Konsequenzen mit sich. Die jeweilige Verhältnisbestimmung von Individualität und Sozialität ist folgenreich für die Beschreibung psychischer und sozialer Prozesse sowie für pädagogische und politische Programme. Fichtes Konzept ist dasjenige, das ein starkes Ich im Wappen führt, ein tätiges, ein sich selbst setzendes und bildendes Subjekt. Intersubjektivität ist deshalb Anregung, nein: Bestimmung zur Selbstbestimmung. Das Ich bestimmt ein anderes Ich zur Selbsttätigkeit und wird seinerseits von ihm zur Wirksamkeit bestimmt. Pädagogische oder auch politische Konzepte würden vor diesem Hintergrund das Ziel zu verfolgen haben, die Selbsttätigkeit des Subjekts anzuregen, zu fördern und zu fordern. Fichtes Modell setzt die Rolle des Individuums tendenziell höher an als die des Sozialen. Anders Hegel. Seine Intersubjektivitätstheorie geht bis zur Stufe des allgemeinen Selbstbewusstseins von wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen aus. Beim Überschritt zur Vernunft und zum Geist gewinnt aber die Allgemeinheit die ————— 59 60

Schleiermacher, ebd., 43 (§ 6.2). Ebd.

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Dominanz gegenüber dem besonderen Selbstbewusstsein. Vor dem Hintergrund von Hegels Totalvermittlung würden Entwicklungsprozesse unter einer starken Akzentuierung des Sozialen zu beschreiben sein. Entwicklung als Sozialisation. Die Rolle des Individuums wäre demgegenüber schwächer angesetzt. Pädagogische und politische Programme würden eher von einem starken Einfluss sozialer Faktoren her konzipiert. Schleiermacher schließlich nimmt eine Mittelstellung ein. Seine Intersubjektivitätstheorie gibt weder dem Subjekt noch dem Sozialen den Primat sondern beschreibt ein Verhältnis gleich ursprünglicher Aspekte. Bereits auf der Ebene des präreflexiven Selbstbewusstseins ist die Bezogenheit auf das andere Ich enthalten. Sie realisiert sich weiterhin als Perspektivenübernahme und macht dadurch die Entwicklung sowohl des Subjekts als auch sozialer Gemeinschaften möglich. Das Ich und seine Verhältnisse. Von der konkreten Beschreibung dieser Relationen hängt also viel ab. Die Konzepte von Fichte, Hegel und Schleiermacher enthalten insofern für die weitere Konkretisierung der Sozialverhältnisse des Menschen sehr verschiedene Impulse, Fragen, Anregungen und Herausforderungen. Auf sie werde ich zurückkommen. Zuvor aber möchte ich noch einen Blick auf zeitgenössische theologische Konzepte der Intersubjektivität werfen.

5.4 Zwischen „Ich“ und „Selbst“. Theologische Konzepte der Intersubjektivität „Warum wurde Hegel für die protestantische Welt nicht etwas Ähnliches wie Thomas von Aquino für die katholische geworden ist?“,61 hat Karl Barth in seiner „Theologiegeschichte“ gefragt. Einige Jahre später hätte man geneigt sein können, darauf zu erwidern: ist er das denn nicht? In den theologischen Entwürfen, die nach dem zweiten Weltkrieg und in den darauf folgenden Jahrzehnten entstanden sind, ist Hegel jedenfalls ein gern gesehener Gast. Das gilt für so unterschiedliche Konzepte wie die von Wolfhart Pannenberg, Eberhard Jüngel oder Jürgen Moltmann gleichermaßen. Was das theologische Nachdenken über Sozialität anlangt, ist die Resonanz der Philosophie Hegels ebenfalls nicht zu übersehen. Der Einfluss der Theologie Schleiermachers hat dagegen nach der vernichtenden Kritik durch die „Dialektische Theologie“ erst ab Mitte der 1950er Jahre allmählich wieder zugenommen. Mittlerweile findet seine Theologie allerdings wieder eine breite und anhaltende Aufmerksamkeit. Ich möchte im Folgen————— 61

Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 343.

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den an drei theologischen Entwürfen deren jeweilige Auffassung von Sozialität herausarbeiten. (1) „Der Mensch ist zwar immer Bild Gottes, aber nicht immer in gleichem Maße“.62 Er ist vielmehr ein in Bildung begriffenes Bild Gottes. Die auf Irenäus von Lyon zurückgehende und von Herder erneuerte Vorstellung einer werdenden Gottebenbildlichkeit ist die theologische Leitkategorie für Wolfhart Pannenbergs Anthropologie. Sie erlaubt ihm, „das Ziel der menschlichen Wesensverwirklichung zugleich als seine Ausgangslage schon konstituierend zu denken“.63 Zugleich erweist sie sich als anschlussfähig gegenüber der modernen philosophischen Anthropologie und gestattet darin ein wechselseitiges Konkretisierungs- und Korrespondenzverhältnis. Pannenberg entwickelt seine Theorie der Intersubjektivität in eben diesen Koordinaten: theologisch zur Präzisierung des Bildungsprozesses für den Menschen als Bild Gottes und anthropologisch zur Klärung der Interaktionsbedingungen innerhalb eines auf Identität ausgerichteten Entwicklungsprozesses. Beide Momente führt Pannenberg schließlich in seiner Theorie der Personalität wieder zusammen.64 Die sozialwissenschaftliche Grundlage für den menschlichen Bildungsund Entwicklungsweg erblickt Pannenberg in der Weltoffenheit bzw. Exzentrizität des Menschen.65 Die exzentrische Struktur der conditio humana bildet auch den Ausgangspunkt für seine Theorie der Intersubjektivität. Ihre Grundform präsentiere sich in der Wahrnehmung. In ihr erfasse der Mensch den wahrgenommenen Gegenstand als einen anderen, d.h. als von sich selbst unterschieden. Daraus folge nicht nur, „daß der Mensch immer schon bei den Gegenständen seiner Welt ist“.66 Vielmehr „kann er von jedem Gegenstand auch wieder Distanz nehmen, indem er seine Aufmerksamkeit anderen Gegenständen zuwendet, die gegenüber dem ersten als ‚andere‘ bestimmt sind“.67 Die freie Selektivität seiner Aufmerksamkeit mache den Menschen somit zur Distanznahme fähig. In ihr liege aber nicht nur die Möglichkeit, sich immer anderen Gegenständen, sondern auch, sich selbst als dem Wahrnehmenden zuzuwenden. In der Struktur der Wahrnehmung sei somit auch der „Ansatz zur Rückwendung von der Gegenstandserfahrung auf das eigene Selbst oder Ich“68 gegeben. Das ist der Ursprung des ————— 62

Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 249. Pannenberg, Anthropologie, 57. 64 Vgl. Teil B, Kap. 2.6 (1). 65 In der Entwicklung von Pannenbergs Theologie wird erkennbar, dass der ursprünglich im Mittelpunkt stehende Begriff der Weltoffenheit später hinter den Begriff der Exzentrizität zurück tritt, bzw. von diesem her gedeutet wird. Vgl. Pannenberg, Was ist der Mensch? (1962), 6–13 u.ö.; ders., Anthropologie in theologischer Perspektive (1983), 57–71. 66 Pannenberg, Anthropologie, 63. 67 Ebd., 64. 68 Ebd. 63

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Selbstbewusstseins. Es erweise sich allerdings als Bewusstsein einer Nichtidentität.69 In seinem Sein bei einem anderen als einem anderen wisse sich der Mensch als einer, der nicht das Andere ist. Dadurch werde aber die Frage nach meinem Sein beim Anderen im Verhältnis zu meinem Sein zu mir selbst virulent. Sie lässt sich nach Pannenberg nur unter Einbeziehung des sozialen Lebenszusammenhangs klären. Die Exzentrizität des Menschen schließe seine Sozialität ein.70 Ein erster wichtiger Klärungsversuch liegt für Pannenberg in der Sozialpsychologie George Herbert Meads vor. Selbstbewusstsein ist nach ihm durch die Beziehung zum Anderen konstituiert: „das Individuum erfasst sich selbst, indem es sich in die Rolle des andern ihm gegenüber versetzt“.71 Nicht nur des Einzelnen sondern der sozialen Gruppe, der es zugehört. Das Selbst des Menschen wird dadurch konstituiert, dass sich das Individuum vom Standpunkt dieses „generalized other“ aus erfasst. „Das Selbst, als das wir uns in der Selbstreflexion erfassen, ist also eine soziale Wirklichkeit.“72 Allerdings bleibt es in Pannenbergs Augen unbefriedigend, dass Mead das neben dem Selbst existierende Ich nicht als konstituiert denkt. Deshalb widmet sich Pannenberg in einer zweiten Untersuchung der analytischen Ichpsychologie und arbeitet heraus, „daß das Ich seinerseits einen Entwicklungsoder Bildungsprozeß durchmacht, der entscheidend durch die Verarbeitung der sozialen Mitwelt […] geprägt ist“.73 Den dritten Argumentationsgang konzentriert Pannenberg schließlich auf das Verhältnis zwischen Ich und Selbst. Die traditionelle Vorstellung, nach der das Ich die Grundlage für das Selbst sei, wird zurück gewiesen. Vielmehr sei das Selbst der Grund für das Ich. „Die Entwicklung des Selbstbewußtseins beginnt […] auf der Seite des Selbst […] und wird erst sekundär durch Hinzutreten des Ich erweitert, als das der jeweilige Sprecher und der jeweils augenblicklich Erlebende mit seinem dauerhaften ‚Selbst‘ sich eins und doch von ihm unterschieden weiß.“74 Das Ich ist primär augenblicksbezogen. Erst in der Perspektive des „generalized other“, erst in der Internalisierung des Sozialbezuges gewinnt —————

69 Dieses Bewusstsein der Nichtidentität ist in der exzentrischen Grundstruktur begründet. Vgl. ebd., 82: „In seiner exzentrischen Selbsttranszendenz ist das Ich ursprünglich beim andern seines Leibes, und doch ist es im Wissen um die Andersheit des anderen mit seinem Leibe identisch all dem andern gegenüber, das es von sich unterschieden weiß. Das Sein beim andern als einem andern eröffnet die Dimension des Selbstbewußtseins mit seiner Unterschiedenheit von sich selber und seiner Einheit mit sich, die jedoch widerspruchsvoll bleibt, weil das Ich auf beiden Seiten des Unterschiedes auftritt, sowohl von seinem Leibe verschieden als auch mit ihm identisch. In diesem Widerspruch, der das Ich ist, bleibt seine Einheit zugleich eine offene Frage.“ 70 Vgl. ebd., 151–159. 71 Ebd., 181. 72 Ebd., 182. 73 Ebd., 193. 74 Ebd., 215.

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das Ich eine den einzelnen Moment überdauernde Kontinuität. Das Selbst also, der Interaktionszusammenhang, konstituiert das Ich nach Pannenberg. (2) Ausgehend von dem doppelten Befund, zugleich eine „Krise der Subjektivität“ und einen „Drang zur Subjektivität“ konstatieren zu müssen, hat Ingolf Dalferth – wie ich oben dargestellt habe – das Subjektivitätsparadigma verabschiedet.75 Ihr kontrastiert er allerdings keine Theorie der Intersubjektivität, die an die Stelle von Subjekt-Objekt-Beziehungen nunmehr Subjekt-Subjekt-Relationen setzt.76 Vielmehr überführt Dalferth beide Modelle in eine semiotisch grundierte Sprachphänomenologie, die auch eine Theorie der Sozialität impliziert. Seinen Ausgangspunkt wählt Dalferth nicht anthropologisch sondern semiotisch. Er setzt bei Zeichenprozessen als Kennzeichen aller Gestalten des Lebens an und bringt diese damit als das konstitutive Merkmal des Lebendigen zur Geltung. „Alles Leben ist durch semiotische Prozesse, also Prozesse der Zeichenverknüpfung, Zeichentransformation und Zeichenverwendung zum Zweck des Nachrichtenaustausches zwischen Organismen und innerhalb von Organismen charakterisiert.“77 Dabei wird ein Zeichen im Anschluss an Peirce als triadische Relation von Signifikant, Signifikat und Sinn aufgefasst, in der sich der Signifikant auf das Signifikat bezieht und damit den Sinn dahingehend bestimmt, in derselben Relation auf das Signifikat zu stehen wie er selbst. „Jedes Zeichen ist als Signifikant so über einen Sinn auf ein Signifikat bezogen, dass dieser Sinn seinerseits als Zeichen fungiert, das als Signifikant über einen Sinn auf ein Signifikat bezogen ist, der seinerseits in derselben Weise als Zeichen fungiert usf.“78 Jedes Zeichen gehört damit in den Zusammenhang einer über sich selbst hinaus gehenden Interpretationspraxis. Solche Prozesse entwickelten sich in der Zeit, im Horizont möglicher anderer Verläufe und unter verschieden bestimmbaren Bestimmtheiten. Jede Lebensform sei deshalb sowohl durch eine irreduzible Komplixität als auch Eigenart gekennzeichnet.79 Die aktive Partizipation an Zeichen- und Interpretationsprozessen zur Gewinnung und Verarbeitung von Nachrichten machte die Eigenart von Lebewesen im Unterschied zu unbelebten Dingen und Pflanzen aus. Lebewesen mit Bewusstsein (höhere Tiere) könnten sich darüber hinaus „in ein zeichenvermitteltes emotionales und basal kognitives Verhältnis“80 zu diesen semiotischen Prozessen setzen ————— 75

Vgl. Dalferth, Subjektivität und Glaube, 18; vgl. auch ders., Die Wirklichkeit des Möglichen, 343; vgl. meine Darstellung von Dalferths Kritik an der Kategorie der Subjektivität: Teil B, Kap. 3.3 (1). 76 Vgl. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 480f. 77 Ebd., 6. 78 Ebd., 6f. 79 Vgl. ebd., 9. 80 Ebd., 10f.

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und dadurch ansatzweise Zeichen als Zeichen gebrauchen. Das menschliche Leben sei durch eine weitere Komplexitätssteigerung gekennzeichnet: es sei potenziell selbstbewusst. „Menschen […] zeichnet aus, dass sie sprachfähig sind, diese Prozesse in Gemeinschaft vollziehen können und sie so kreativ und kritisch zu gestalten vermögen.“81 Dalferth kennzeichnet Sozialität hier als Merkmal des selbstbewussten Lebens, das Zeichen- und Interpretationsprozesse aktiv und reflexiv gestaltet. Der Einzelne integriere die verschiedenen Zeichenprozesse zur Einheit seines je eigenen Lebens und vollziehe diese Integration zugleich „in einer Form […], für die der Bezug auf andere konstitutiv ist.“82 Eben in Gemeinschaft. Von diesen semiotischen Überlegungen ausgehend, entwickelt Dalferth seine Theorie der Sozialität. Als grundlegendes Charakteristikum des Menschen sieht er die Fähigkeit zur Identifikation mit Anderen und zur Perspektivenübernahme an. Manche Formulieren lassen eine Nähe zum symbolischen Interaktionismus erkennen. Selbsterkenntnis, sagt Dalferth, entstünde in der „Kommunikation mit anderen, in der und an der sich zeigt, was ich für andere bin, wie andere mich sehen, erleben und verstehen“.83 Der Mensch könne nur „ich“ sagen, „weil er von anderen als ‚du‘ angesprochen und als ‚er‘ bzw. ‚sie‘ wahrgenommen wird und gedacht werden kann“.84 Schnell aber wird deutlich, dass Dalferth den symbolischen Interaktionismus phänomenologisch überbietet. Menschwerdung vollziehe sich nicht dadurch, dass ein Mensch seine abstrakte Verschiedenheit zu Anderen wahrnehme, sondern durch die plötzliche Präsenz des Anderen im eigenen Lebensfeld und die dadurch ausgelöste Unterbrechung. Der Andere trete mir mit seinem Blick und seinem Gesicht gegenüber, ohne dass ich dies selbst intendiert hätte. „Seine Anwesenheit und sein Blick unterbrechen die Zeichenketten meines Lebensvollzuges unwiderstehlich.“85 Der Andere sei in diesem Moment nicht ein bestimmter Rollenträger und damit ein konkreter ER bzw. eine konkrete SIE. Vielmehr sei er der radikal Andere.86 Seiner Gegenwart und dem Anspruch seines Blicks lasse sich nicht ausweichen; sie nötigten mich zur Verantwortung. Entscheidend sei deshalb, „dass wir uns zum Anderen nicht als diese oder jene verhalten […], sondern dass wir dem Anderen rein als Anderem und damit von Mensch zu Mensch begegnen […], weil wir dem Anspruch seines Blickes nicht ausweichen kön————— 81 82 83 84 85 86

Ebd., 11. Ebd. Ebd., 382. Ebd., 384. Ebd., 15. Vgl. ebd., 505.

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nen.“87 Zum Mensch werde ein Mensch dadurch, dass er in der Begegnung mit dem DU zu einem ICH werde und sich darin von seiner konkreten Manifestation als ein ER/SIE/ES unterscheide. Selbstverständlich stünde mir der Andere auch als ein konkreter Dritter in einer spezifischen Rolle gegenüber, so wie dies umgekehrt von mir auch gelte. Durch die Herausforderung, die die Begegnung mit dem Anderen mit sich bringe, würde ich aber zum ICH diesem DU gegenüber und sei darin von mir als einem ER, der ich auch bin, unterschieden. „Zum Menschwerden gehört daher wesentlich beides: Zum einen die Unterbrechung meines Lebensprozesses durch den Anderen, der mir als DU begegnet und sich dabei als unendlich Anderer, als ein in keine Bestimmtheit aufhebbares ER/SIE/ES manifestiert […]. Zum anderen gehört dazu aber auch die dadurch erfolgende, mich in absoluter Passivität betreffende Differenzierung meines Lebensprozesses in die Bestimmtheiten der Ersten und Dritten Person. Ich werde durch das DU des Anderen zum ICH. Ich werde als ICH zum Anderen des Anderen, beziehe mich also auf ihn nicht nur als DU, sondern als ER/SIE/ES. Damit tritt er mir als DU in der unendlichen Differenz zu seinem ER/SIE/ES entgegen, wie auch ich mich ihm gegenüber in der unaufhebbaren Differenz des ICH und des ER/SIE/ES vorfinde.“88 Indem Dalferth die Beziehungen zwischen ICH und DU so erweitert, dass in diese jeweils auch ein Drittes eingezeichnet wird, potenziert er reziproke Relationen und vertieft damit das Verständnis von Sozialität. ICH und DU sind für einander eben nicht nur ICH und DU sondern immer auch ein DRITTES. Dies gilt für jedes ICH und jeden ANDEREN. „Kein ICH ist nur ICH, sondern auch (in anderer Hinsicht) DU und ER/SIE und WIR, IHR und SIE. Und dasselbe gilt für jedes DU, jedes ER/SIE, jedes WIR usf.“89 An jeder Stelle der Relation können sämtliche Positionen der Personalpronomina durchgespielt werden. Deshalb hält Dalferth eine Theorie der Intersubjektivität für eine Übervereinfachung. Der lebensweltliche Hintergrund von Gesellschaft bestehe vielmehr in diesen mehrfachkodierten Relationen. Die „Hintergrund-Welt und das ihr korrelierte WIR“ sei „dasjenige, in dessen Horizont sich ICH und ANDERES ICH über DRITTES so aufeinander beziehen können, dass sie beide sich wechselseitig nicht nur als DU in eigener perspektivischer Konstruktion, sondern als ER kennen und damit unter verschiedenen Gesichtspunkten gemeinsam als WIR im Kontrast zu (anderem) IHR bzw. (pluralem) SIE thematisieren können.“90 ————— 87 88 89 90

Ebd., 14. Ebd., 16; vgl. ebd., 504. Ebd., 498. Ebd., 503.

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Ingolf Dalferth vertritt mit diesem Entwurf ein radikal relationslogisches Modell von Sozialität. Seine Stärke besteht darin, klassische – aber schlechte – Alternativen, wie die Ich-Du-Beziehung auf der einen und die Ich-EsRelation auf der anderen Seite hinter sich gelassen und als Momente des Relationsgefüges in seine Theorie integriert zu haben. Die mit seinem Konzept einher gehende Potenzierung und Unausschöpflichkeit möglicher und realer Beziehungen gehört ebenfalls zu diesen Stärken. Andererseits vertritt Dalferth ein Konzept, das dem ICH diese anderen Beziehungen und insbesondere die Relation zum radikal ANDEREN fundamental vorordnet. An dieser Stelle ordnet sich sein Entwurf in die seit Hegel weit verbreitete Priorisierung der Sozialität gegenüber dem Subjekt ein. An dieser Vorordnungsthese entscheidet sich viel. Ich werde sie deshalb im Laufe dieses Kapitels in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rücken. Ungeachtet des Umstandes, ob sie vor dem Hintergrund des symbolischen Interaktionismus oder der Phänomenologie des Antlitzes entwickelt worden ist: ein Konzept der Sozialität muss klären, ob die These im Kern zutrifft: ich werde zum Ich, wenn „du“ zu mir gesagt wird.91 (3) Eilert Herms wählt als Ausgangspunkt seiner Sozialtheorie das menschliche Selbsterleben. In ihm erschließe sich die Struktur der Erfahrungswirklichkeit als Bestimmtsein zur Selbstbestimmung, oder – genauer gesagt – als Erschlossensein bzw. „Erscheinen-von-Individuellem-für-sichselber-als-durch-sich-selbst-zu-bestimmendes“.92 Es hat damit die Struktur eines Relationsgefüges. Drei grundlegende Beziehungen sind in ihm impliziert. Zunächst die Selbstbezogenheit, die sich im Bestimmtsein zur Selbstbestimmung zeigt. Zweitens seine Umweltbezogenheit, die im Charakter des Individuellen begründet ist. „Denn Individuelles ist als solches jeweils eine Instanz, welche im Unterschiedensein von anderen gleichartigen Instanzen auf diese bezogen ist.“93 Beides, Selbstbezogenheit und Umweltbezogenheit, werden – drittens – durch eine Ursprungsbezogenheit, eine Bezogenheit auf einen Existenzgrund außerhalb ihrer konstituiert. Deshalb ist die „Umweltbezogenheit des Bestimmbaren […] nicht durch das Bestimmbare konstituiert, sondern für es als das durch es selbst zu bestimmende. Dem Bestimmbaren ist seine Bezogenheit auf Umwelt mit seiner eigenen Existenz (seinem eigenen Erschlossensein) vorgegeben.“94 Individualität und Sozialität gründen gleichermaßen in der Ursprungsbezogenheit des —————

91 Vgl. Dalferth, ebd., 384: „Will man […] überhaupt von ‚letzten Gewissheiten‘ reden, dann ist das nicht das ‚Ich denke‘, sondern das, was darin mitgesetzt ist: dass ‚du‘ zu mir gesagt und an mich gedacht wird“; ebd., 418: „Ich werde zum Ich, weil mir der Andere nicht erlaubt, mein Leben verantwortungslos zu leben.“ 92 Herms, ‚Sinn‘ als theologischer Grundbegriff, in: ders., Offenbarung und Glaube, 395. 93 Ebd., 396. 94 Ebd.

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Selbst. Deshalb weist Herms auch die für Pannenberg prägende Vorstellung einer sozialen Konstitution des Subjekts zurück. Vielmehr spricht er von einem „ursprünglichen und irreduziblen Doppelaspekt von Individualität und Sozialität“.95 Die Umweltbezogenheit96 des Menschen impliziere zugleich seine Leiblichkeit. In ihr sei mit gesetzt, dass dem Individuum „ein umweltbezogenes System als sein Körper erschlossen ist. Dieser dem individuellen (umweltbezogenen) Selbst als sein eigener erschlossener Körper ist der Leib dieses individuellen Selbstes.“97 Intersubjektivität sei insofern stets leibvermittelt. Die Beziehungen von Alter zu Ego und vice versa gründen so in der Leibbestimmtheit des Menschen. Durch seine Leiblichkeit finde sich das Subjekt „in die Weite einer situativen Beziehung zu anderem versetzt“.98 Die leiblich bestimmte Umweltbezogenheit sei dem Individuum in zwei Aspekten präsent: einerseits als „Herausgefordertsein zu willkürlichen Reaktionen durch den bestimmenden Einfluß der Umwelt auf uns“ und andererseits als Herausgefordertsein zu „willkürliche[n] Körperbewegungen, durch die wir unsererseits einen bestimmenden Einfluß auf unsere Umwelt ausüben“.99 Dem Individuum sei mithin erschlossen, dass es zur freien und willentlichen Gestaltung seines Umweltverhältnisses bestimmt ist. Diese vollziehe sich durch Handeln als Interagieren. Dafür bedarf es nach Herms verlässlicher Interaktionsregeln und -ordnungen, die durch Institutionen gewährleistet werden. Regelmäßige und geregelte soziale Interaktion bedürfe der Institutionenbildung. Deshalb ist für Herms „die Verfassung von Sozialität grundsätzlich als soziales System zu begreifen, in dem Personen durch regelmäßiges Handeln miteinander verbunden sind.“100 Herms nennt diese sozialen Institutionen Interaktionsordnungen. Die grundlegenden vier Interaktionsordnungen, in denen jeweils ein menschliches Existenzproblem gelöst werden soll sind für ihn: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Religion.101 Ihrer Relation, Entwicklung und Ausdifferenzierung ist Herms in zahlreichen Publikationen nachgegangen. Auch den Variationsmöglichkeiten und Entwicklungsregeln menschlicher Sozialität hat er sich gewidmet.102 ————— 95

Herms, Erneuerung durch die Bibel, in: ders., Kirche für die Welt, 188. Vgl. auch Herms, Dominium terrae, in: ders., Gesellschaft gestalten, 34: „Wir sind uns in unserem Selbsterleben präsent als Individuen-in-Relation-zu-anderen-Individuen.“ 97 Herms, ‚Sinn‘ als theologischer Grundbegriff, 399. 98 Herms, Dominium terrae, 35. 99 Ebd., 33 [Ergänzung von mir; U.L.]. 100 Herms, ‚Kirche für andere‘, in: ders., Kirche für die Welt, 39f. 101 Vgl. u.a. Herms, Grundzüge eines theologischen Begriffs sozialer Ordnung, in: ders., Gesellschaft gestalten, 73–86. 102 Vgl. Herms, Erneuerung durch die Bibel, in: ders., Kirche für die Welt, 192–202. 96

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Während Pannenberg und Dalferth eine Rezeptionslinie der Sozialtheorie repräsentieren, die – in unterschiedlicher Weise – Anregungen aus Hegels Philosophie aufgenommen und verarbeitet hat, aktualisiert Herms eine andere, auf Schleiermacher zurückgehende Inspiration. Während Pannenberg die Sozialbestimmtheit des Individuums ausdrücklich behauptet, geht Herms von der Gleichursprünglichkeit von Individualität und Sozialität aus. Die Frage, welche dieser sich alternativ darstellenden Theorien überzeugender ist, wird im Zentrum der folgenden Auseinandersetzung stehen.

5.5 Wechselwirkungen. Versuche, Intersubjektivität zu verstehen „Ist ein ganz anderes Leben!“, sagte Herr R. als er endlich in seiner eigenen Wohnung lebte. Seine „sehr rasante Entwicklung“ gibt zu denken, gerade weil seine Biografie zuvor in bestürzender Weise als negative Karriere verlaufen ist. Die Theorie der Stigmatisierung kann den Interaktionsprozess von Zuschreibung und abweichendem Verhalten gut erklären. Entsteht dabei aber der Eindruck einer Zwangsläufigkeit, so bliebe gerade die Wende im Leben von Herrn R. ein Rätsel. Das Interaktionsverhältnis zwischen dem Individuum und seiner sozialen Umgebung bedarf daher einer differenzierten Analyse. Ich möchte mich im Folgenden diesen Wechselwirkungen genauer zuwenden. 5.5.1 Stigma und Identität (1): Über die Entstehung „beschädigter Identität“ In der Heilpädagogik haben bis weit in die 1960er Jahre hinein die sozialen Interaktionsverhältnisse, die an der Herausbildung, Verfestigung oder Vermindung einer Behinderung beteiligt sind, nur am Rand eine Rolle gespielt.103 Ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre hat dann eine rege Rezeption soziologischer Theorien eingesetzt.104 Die Behindertenpädagogik, die in der Reflexion solcher Fragen den Paradigmenwechsel vom „medizinischen“ zum „sozialwissenschaftlichen Modell“ vollzog,105 hat dabei das Gespräch mit verschiedenen soziologischen Theorien geführt, so beispielsweise mit Dependenztheorien, materialistischen Entwürfen oder interaktio————— 103

Vgl. Speck, System Heilpädagogik (1998), 226. Georg Antor hat 1976 davon gesprochen, dass „zu behindertenpädagogischen Themen sowohl gesellschaftstheoretische […] wie interaktionistisch orientierte Untersuchungen in größerer Zahl erst in jüngster Zeit“ einsetzen. „Verusche, Behindertenpädagogik als Sozialwissenschaft zu begründen, stehen am Anfang“ (Antor, „Labeling approach“ und Behindertenpädagogik, 89. 105 Vgl. Speck, System Heilpädagogik (1998), 226. 104

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nistischen Konzepten.106 Erving Goffmanns Untersuchung „Stigma“ ist regelrecht ein Klassiker für die sozialwissenschaftliche Aufklärung der Behindertenpädagogik geworden. Ihr interaktionistischer Ansatz erwies sich als attraktiv, weil er es erlaubte, ein alternatives Paradigma zu entwerfen, das Behinderung nicht länger als Eigenschaftspotential von Personen, sondern als Resultat sozialer Beziehungen versteht: „Behinderung entsteht aus definierenden Aktivitäten von interagierenden Personen in sozialen Situationen“.107 Goffmann geht bei seinem Versuch, die „Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“108 zu analysieren, von Begegnungen aus, in der ein Interaktionspartner für den anderen auf eine verunsichernde Weise anders ist. Diese überraschende Begegnung spielt sich nach Goffmann vor dem Hintergrund der sozialen Identität eines Menschen ab: zugeschriebenen Personenkategorien auf Grund der Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Einrichtung, Berufsgruppe, sozialen Gruppe o.ä. Auf ihrer Grundlage würden Kontakte und Erwartungen vorstrukturiert und dadurch entlastet. Diese Routinisierung „erlaubt es uns, mit antizipierten Anderen ohne besondere Aufmerksamkeit oder Gedanken umzugehen. Wenn ein Fremder uns vor Augen tritt, dürfte uns der erste Anblick befähigen, seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine ‚soziale Identität‘ zu antizipieren.“109 Weiche aber die aktuale soziale Identität, d.h. die tatsächlichen Attribute der betreffenden Person markant von der virtualen sozialen Identität, d.h. den erwarteten Attributen, ab, entstehe eine Verunsicherung, die den Prozess der Stigmatisierung in Gang setzt. Die Zuschreibung eines Stigmas beseitige die Dissonanz der Begegnung, indem sie die Verunsicherung retrospektiv umdeute: der Andere ist ein Krüppel, Bastard, Schwachsinniger, Zigeuner etc.110 Dabei bestehe die Eigenart der Stigmatisierung darin, dass in ihr ein besonderes Attribut zu einem allgemeinen Personenmerkmal generalisiert werde. Ein Mensch mit einer Behinderung wird so zum Behinderten schlechthin. Die stigmatisierte Person könne verschieden auf die Zuschreibung reagieren: mit dem Versuch der Korrektur oder Kompensation des Stigmas, mit Selbstisolation, Vermeidungsverhalten, Depression, Feindseligkeit oder aber mit der Durchsetzung einer unkonventionellen Auffassung der eigenen sozialen Identität.111 Ihre Reaktionsweisen zeigten jedoch durchgängig, dass sich ihre Identität durch die Zuschreibung und die mit ihr ————— 106 107 108 109 110 111

Eine differenzierte Übersicht gibt Speck, ebd., 224–252. Thimm, Behinderung als Stigma, 154. So der Untertitel des Buches. Goffman, Stigma, 10. Vgl. ebd., 14. Vgl. ebd., 16–30.

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verbundenen Erwartungen verändert hat. Genauer: ihre Ich-Identität, das subjektive Empfinden ihrer eigenen Situation.112 Goffmanns Stigmatisierungstheorie hat, wie gesagt, in der Behindertenpädagogik ein lebhaftes Echo gefunden. Sie ermöglichte nicht nur eine veränderte Sichtweise des Phänomens „Behinderung“ – sie erlaubte darüber hinaus auch eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Vorurteilen, politischen Programmen und pädagogischen Konzepten. Die Emanzipationsbewegung von Menschen mit Behinderung, die Enthospitalisierungsforderung und die Umsteuerung der Behindertenhilfe auf dezentrale, ambulante Assistenzformen haben aus ihr wichtige Impulse bezogen. Ihre Rezeption ist aber auf der anderen Seite vielfach mit einem beinahe linearkausalen Verständnis von der sozialen Konstruktion der Behinderung verbunden gewesen. So hat beispielsweise Günther Bittner vorgeschlagen, „anstelle“ (!) des traditionellen pädagogischen Behinderungsbegriffs „oder zumindest ergänzend zu ihm die Termini ‚beschädigte Identität‘ […] und ‚besondere Lebenslage‘ zur Bezeichnung des Adressatenkreises sonderpädagogischer Maßnahmen zu verwenden“.113 Bittner begründet seinen Vorschlag mit dem Hinweis, „daß Krankheit immer schon von Anfang an – nicht erst auf dem Wege sekundärer ‚Folgeerscheinungen‘ – das Ich und die psychosoziale Identität des Kranken oder Behinderten affiziert. […] der Blinde, der Körperbehinderte etc. ist nicht nur ‚unter anderem‘ und als Folge mißlicher sozialer Erfahrungen, sondern ganz unmittelbar und primär in seinem Ich-Gefühl, in seiner persönlichen Unversehrtheit beeinträchtigt.“114 Deshalb sei der Begriff der „beschädigten Identität“ treffend. Ähnlich wie Büttner, jedoch unter Bezugnahme auf die Kritische Theorie, hat Manfred Gerspach Behinderung als eine „über Sozialisation hergestellte Beschädigung am Subjekt“115 gedeutet. Auch Andreas Lob-Hüdepohl hat die Formulierung der „‚beschädigten Identität‘“ aufgegriffen.116 Günther Cloerkes hat solche Auffassungen, die eine linearkausale Verbindung zwischen der organischen Dimension einer Behinderung und einer beschädigten Identität oder Subjektivität gezogen haben, als „Stigma—————

112 Vgl. ebd., 132. Neben der sozialen Identität und der Ich-Identität beschäftigt sich Goffman auch noch mit der persönlichen Identität, unter der er die Identifizierbarkeit (den „Identitätsaufhänger“) einer Person durch ihren Namen, Ausweis usw. versteht. 113 Bittner, „Behinderung“ oder „beschädigte Identität“, 15. 114 Ebd., 14. 115 Mattner/Gerspach, Heilpädagogische Anthropologie, 159. 116 Andreas Lob-Hüdepohl spricht in einem Aufsatz über „Menschenbilder in der Ethik ‚behinderten‘ Lebens“ von der „‚beschädigten Identität‘des behinderten Menschen“ (604) oder seiner „versehrten Identität“ (605). Analog gebraucht er den Begriff „‚beschädigte Subjektivität‘“ (604) und spricht von der „beschädigten Lebensgeschichte eines ‚behinderten‘ Menschen“ (606). An einer anderen Stelle wiederum ist von der „Situation beschädigter Menschen“ (603) die Rede.

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Identitäts-These“ bezeichnet und einer ausführlichen Kritik unterzogen.117 Er kritisiert die in ihr – ausdrücklich oder unausdrücklich – unterstellte Zwangsläufigkeit, mit der eine Behinderung zu einer beschädigten Identität führen müsse. „Identitätsstörungen bei behinderten Menschen werden als geradezu zwangsläufig angesehen, und zwar nicht nur […] als Folge des Stigmatisierungsprozesses, sondern ganz im Sinne des strukturellen Ansatzes als Konsequenz der ‚Behinderung‘. Das bedeutet genau genommen: Behinderte sind defizitäre Wesen, denen selbst eine so elementare Fähigkeit wie die zur balancierenden Ich-Identität fehlt.“118 Nicht nur in der Rezeption der Stigma-Theorie sondern auch andernorts lässt sich ein solches lineares Denken wieder finden. Es hat auch in das damalige Behinderungsverständnis der Weltgesundheitsorganisation Eingang gefunden. In ihrem Klassifikationsschema aus dem Jahr 1980 (ICIDH)119 unterscheidet die WHO drei Ebenen von Behinderung: Impairment: Beeinträchtigung, Substanzverlust oder Veränderung einer psychischen, physischen oder anatomischen Struktur. Disability: Störung bzw. Beeinträchtigung, die partielle oder vollständige Reduktion einer üblichen Fähigkeit oder Fertigkeit des Menschen, die aufgrund einer Schädigung entstanden ist. Handicap: Behinderung, soziale Benachteiligung eines Individuums, welche sich aus einer Behinderung und/oder Störung ergibt und welche die Wahrnehmung einer (in Bezug auf Alter, Geschlecht, soziale und kulturelle Faktoren) als normal angesehenen Rolle einschränkt oder unmöglich macht.120 Auch dieses Modell unterstellt eine Art Zwangsläufigkeit, mit der sich aus der Beeinträchtigung die soziale Benachteiligung ergibt, die wiederum die normale Rollenausübung beeinträchtigt. Georg Theunissen sieht das zentrale Problem dieses Modells in der „Vernachlässigung des Subjekts, dessen Perspektive, Befindlichkeiten, psychosozialen Bewältigungsstrategien, Selbstkonzept und Mitgestaltungsmöglichkeiten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurden.“121 Meine Vermutung besteht darin, dass diese „Vernachlässigung des Subjekts“ kein Zufall ist, sondern systematische Gründe hat. Sie sind m.E. in —————

117 Weitere kritische Auseinandersetzungen (u.a.): Antor, „Labeling approach“ und Behindertenpädagogik; Wocken, Untersuchungen zur sozialen Distanz. 118 Cloerkes, Soziologie der Behinderten, 158. 119 „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps“. Mittlerweile liegt mit der „International Classification of Impairments, Activities and Participation“ (ICIDH-2) aus dem Jahr 1999 eine neue, deutlich andere Akzente setzende Klassifikation vor. Auf sie gehe ich in Teil B, Kap. 9.2 (2) näher ein. 120 Übernommen aus: Fornefeld, Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik, 49. 121 Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 31.

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einer strukturellen Unterbestimmung der Subjektivität in den Interaktionsverhältnissen zu suchen. Wenn in den vorausgesetzten Theorien der Intersubjektivität die Entstehung und Entwicklung des Subjekts auf soziale Prozesse zurückgeführt wird, so liegt es auch für die mit ihnen verbundenen Identitätskonzepte nahe, von einer weitgehenden Sozialbestimmtheit des Ichs auszugehen. Tatsächlich lässt sich an einflussreichen Intersubjektivitätstheorien diese systematische „Vernachlässigung des Subjekts“ zeigen. Ich wähle dazu einerseits die klassische Theorie des „Symbolischen Interaktionismus“ aus, die Sozialpsychologie George Herbert Meads. Andererseits beschäftige ich mich mit deren kommunikationstheoretischer Reformulierung durch Jürgen Habermas. 5.5.2 „Me“ und „I“. George Herbert Meads Sozialpsychologie Meads Theorie der Intersubjektivität gründet auf der These, „daß der gesellschaftliche Prozeß zeitlich und logisch vor dem bewußten Individuum besteht, das sich in ihm entwickelt“.122 Sie vertritt damit das Modell einer sozialen Konstitution des Subjekts. (1) Am Ausgangspunkt der Genese des menschlichen Bewusstseins und der Identitätsentwicklung steht für Mead die Geste: ein Gesichtsausdruck, ein Blick, eine Haltung usw. In ihr drücken sich Gefühle aus. Das Charakteristische an ihr bestehe darin, dass sie eine Reaktion der anderen hervorrufe, die wiederum auf das Individuum zurückwirke, von dem die Geste ausgeht und es zu einer Anpassung seines Verhaltens führt. So erfolge auf die Geste des Kleinkindes eine Reaktion der Eltern, auf die das Kind erneut reagiert usw. Die Bedeutung der Geste bestehe zunächst in der Reaktion der anderen.123 Diese werde wiederum zum Reiz für das eigene Handeln. Der vokalen Geste komme bei der Entstehung von Kommunikation eine besondere Bedeutung zu. Weil das, was ein Sprecher sagt von ihm genauso gehört wird, wie alle anderen beteiligten Individuen es hören, gebe ihm die vokale Geste „die Fähigkeit, auf die eigenen Reize so zu reagieren, wie andere es tun“.124 Für Mead ist deshalb die Übermittlung von Gesten der Anfang der Kommunikation. Von bewusster Kommunikation könne genau dann gesprochen werden, „wenn Gesten zu Zeichen werden, d.h. wenn sie für das sie setzende Individuum wie auch für die auf sie Reagierenden eine ————— 122

Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 230. Vgl. ebd., 88: „Am Anfang bedeutet die Geste der anderen Person das, was man selbst im Zusammenhang damit zu tun gedenkt. Sie bedeutet nicht ihre Gedanken, nicht einmal ihre Gefühle. Nehmen wir an, dass ihr zorniger Angriff in uns Furcht auslöst, dann sind wir nicht zornig, wir haben vielmehr Angst. Ihre Geste bedeutet für uns Angst.“ 124 Ebd., 105. 123

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bestimmte Bedeutung oder Signifikanz im Hinblick auf das darauf folgende Verhalten des sie setzenden Individuums gewinnen. Indem sie den reagierenden Individuen als vorzeitige Hinweise auf das darauf folgende Verhalten des Individuums dienen, das die Geste setzte, ermöglichen sie die gegenseitige Anpassung der verschiedenen Komponenten der gesellschaftlichen Handlung. Indem sie im ersten Individuum andeutungsweise die gleichen Reaktionen wie in den angesprochenen Individuen auslösen, ermöglichen sie die Entwicklung des Bewußtseins in Verbindung mit dieser gegenseitigen Anpassung.“125 (2) Das Entscheidende an diesem Kommunikationsprozess besteht nach Mead darin, dass sich das Individuum unbewusst in die Rolle anderer hineinversetzt und so handelt wie sie.126 Indem es sich aus der Perspektive der anderen wahrzunehmen lerne, entstehe Reflexivität. Das Individuum werde sich selbst zum Objekt. Dieser Aspekt, dass das Individuum die Haltung der anderen in sein eigenes Verhalten hineinnimmt, macht die erste Dimension individueller Identität aus. Mead nennt sie das „Me“, das Selbst127 und versteht darunter „die organisierte Gruppe von Haltungen anderer, die man selbst einnimmt“.128 Allerdings werde nur das erste Stadium der Identität des Selbst durch die Haltungen anderer Menschen seiner Umgebung bestimmt. In ihrem zweiten Stadium sei sie dagegen auf den allgemeinen gesellschaftlichen Prozess, die organisierte Gemeinschaft als ganze bezogen. Mead spricht in diesem Zusammenhang vom verallgemeinerten Anderen. „So entwickelt sich die Identität, indem sie diese individuellen Haltungen anderer in die organisierte gesellschaftliche oder Gruppenhaltung hereinbringt und damit zu einer individuellen Spiegelung der allgemeinen, systematischen Muster des gesellschaftlichen oder Gruppenverhaltens wird, in die sie und die anderen Identitäten eingeschlossen sind“.129 (3) Selbstverständlich nimmt das Individuum die Haltung des verallgemeinerten Anderen nicht nur hin, sondern vermag sich ihr gegenüber auch zu positionieren. Damit öffne sich die zweite Dimension individueller Identität, die Mead das „I“, das Ich nennt. Das Ich ist die Antwort des Indivi————— 125

Ebd., 109, Anm. 7. Vgl. ebd., 108: „Wir versetzen uns unbewusst in die Rolle anderer und handeln so wie sie […]. Wir lösen ständig, insbesondere durch unsere vokalen Gesten, in uns selbst jene Reaktionen aus, die wir auch in anderen Personen auslösen, und nehmen damit die Haltungen anderer Personen in unser eigenes Verhalten herein. Die kritische Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der menschlichen Erfahrung liegt eben in der Tatsache, daß der Reiz so beschaffen ist, daß er sich auf das sprechende Individuum ebenso auswirkt wie auf andere.“ 127 In der Übersetzung von Ulf Pacher wird das „Me“ als „ICH“ wiedergegeben. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion begegnet dagegen meist der Begriff des „Selbst“, den ich außerhalb von Zitaten ebenfalls verwende. 128 Vgl. ebd., 218. 129 Ebd., 201. 126

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duums auf die Haltung der Anderen. Sie sei seine Reaktion auf das Selbst. Während das Selbst die Struktur, die konventionell geprägte Form der Identität darstelle, repräsentiere das Ich ihre spontane Aktivität. „Das ‚Ich‘ ist die Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer“.130 Darin liege stets auch ein neues Element, eine Initiative, die ihrerseits auf den gesellschaftlichen Prozess zurückwirke und ihn beeinflusse. Mit dem „Ich“ sei deshalb auch ein Gefühl von Freiheit verbunden.131 Allerdings entziehe sich das „Ich“ jeder Verobjektivierung. Es trete lediglich in der Erinnerung in Erscheinung, dann, wenn es bereits zu einem Bestandteil des „Selbst“ geworden sei.132 Erst wenn Individuen gehandelt haben, wissen sie nach Mead, was sie getan haben. Weil das „Ich“ „eine Situation schafft, die irgendwie neuartig ist, […] läuft ein Prozeß ab, der vorher in der Erfahrung nicht gegeben war“.133 (4) Für Mead bilden die beiden Dimensionen des „Selbst“ und des „Ich“ gemeinsam die volle Identität einer Person.134 Vorgängig bleibt jedoch in jeder Hinsicht das „Selbst“, die Hereinnahme der gesellschaftlichen Erfahrungen und Haltungen in das Individuum. Das gilt auch für den Geist, das Denken und das Selbst-Bewusstsein. Denken ist für Mead das innere Gespräch des Individuums mit sich selbst mithilfe von signifikanten Symbolen vom Standpunkt des verallgemeinerten Anderen aus.135 Selbst-Bewusstsein werde dadurch konstituiert, dass das Individuum sich selbst in der Haltung der anderen zum Objekt und insofern reflexiv werde. „Durch die Übernahme oder das Erfühlen der Haltung des anderen gegenüber sich selbst entsteht Selbst-Bewußtsein“.136 Es sei ein Produkt gesellschaftlicher Interaktion. Intersubjektivität gehe der Subjektivität voraus und bringe sie hervor.

————— 130

Ebd., 218. Vgl. ebd., 221. 132 Vgl. ebd., 217. 133 Ebd., 240. 134 Vgl. ebd., 243: „Beide Aspekte, ‚Ich‘ und ‚ICH‘, sind für den vollen Ausdruck der Identität absolut notwendig. Man muß die Haltung der anderen in einer Gruppe einnehmen, um einer Gemeinschaft anzugehören; man muß diese äußere gesellschaftliche Welt einsetzen, die man in sich selbst hereingenommen hat, um denken zu können […] Andererseits reagiert der Einzelne ständig auf die gesellschaftlichen Haltungen und ändert in diesem kooperativen Prozeß eben jene Gemeinschaft.“ 135 Vgl. ebd., 198. 136 Ebd., 214. 131

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5.5.3 Die „subjektivierenden Blicke der Anderen“. Intersubjektivität und Kommunikation bei Jürgen Habermas Jürgen Habermas hat sein Konzept von Intersubjektivität in bewusster Anknüpfung an Meads Sozialtheorie entwickelt. Dabei verfolgt er das Ziel, Meads Sozialpsychologie konsequent kommunikationstheoretisch zu rekonstruieren und zugleich ihre Schwächen zu vermeiden. Ich kann dieser Debatte hier nicht im Detail folgen und konzentriere mich daher auf das Verhältnis von Ich und Selbst sowie dessen Konstitutionsbedingungen. (1) Das von Mead dargestellte Modell der Einstellungsübernahme bedarf, so legt Habermas dar, einer sprachpragmatischen Rekonstruktion. Es stellt sich dabei als dreigliedriger Prozess dar, in dem aus der gemeinsamen Interpretation von Gesten eine symbolisch vermittelte Interaktion entsteht. An seinem Anfang stehe die von Mead herausgearbeitete Übermittlung einer Geste. Auf dieser ersten Stufe der Einstellungsübernahme lerne ein Organismus an der Reaktion eines anderen Organismus, was seine Geste bedeutet. Beide gelangten zu einer gemeinsamen Interpretation. Auf diesen ersten Schritt baue sich ein nächster auf. „Nachdem der erste Organismus gelernt hat, die eigene Geste in gleicher Weise zu interpretieren wie der andere Organismus, kann er nicht umhin, die Geste in der Erwartung hervorzurufen, daß sie für den zweiten Organismus eine bestimmte Bedeutung hat.“137 Dadurch verändere sich aber die Beziehung zwischen beiden. Der erste Organismus beginne, sich gegenüber dem zweiten zu verhalten und seine Geste an ihn zu adressieren. Dadurch „lernen sie die Kommunikationsrollen von Hörer und Sprecher: sie verhalten sich zueinander wie ein Ego, das einem Alter Ego etwas zu verstehen gibt“.138 Gesten würden nunmehr in kommunikativer Absicht verwendet. Allerdings sei die dabei entstehende kommunikative Beziehung noch immer in hohem Maße Missverständnissen ausgesetzt. Diese treten regelmäßig dann zu Tage, wenn der Eine durch eine unerwartete Verhaltensreaktion des Anderen überrascht werde und sich daher in der prognostischen Erwartung von dessen Reaktion getäuscht sehe. Die Kommunikationspartner würden sich in dieser Situation vor die Aufgabe gestellt sehen, „die kritische Stellungnahme des anderen zur fehlgeschlagenen Deutung eines kommunikative Aktes sich selbst gegenüber ein[zu]nehmen“139 und Regeln der Symbolverwendung herauszubilden, die künftige Missverständnisse und Enttäuschungen vermeiden. Erst auf dieser dritten Stufe der Einstellungsübernahme entstünden objektiv übereinstimmenden Interpretationen. Es „bilden sich Bedeutungskonventio————— 137 138 139

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 26. Ebd., 27. Ebd., 29 [Ergänzung von mir; U.L.].

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nen und bedeutungsidentisch verwendbare Symbole aus“.140 Aus der Übermittlung von Gesten sei auf dem Weg einer mehrstufigen Einstellungsübernahme eine symbolisch vermittelte Interaktion entstanden. (2) Allerdings bleibe die innerhalb des eben beschriebenen Prozesses hervorgebrachte Signalsprache und die mit ihr verbundene symbolische Handlungskoordinierung noch in eine weitgehend vorsprachliche und instinktvermittelte Verhaltensregulation eingebettet. Der Übergang zum normengeleiteten Handeln lässt sich, so Habermas, nur so verstehen, dass die Interaktion zunehmend über eine propositional ausdifferenzierte Sprache gesteuert wird. Der „außersprachliche Kontext der Verhaltensdispositionen und der Verhaltensschemata“ werde so „gewissermaßen sprachlich durchdrungen, d.h. symbolisch durchstrukturiert“.141 Auf diese Weise wirke die sprachliche Kommunikation auf die Individuen und die Gesellschaft zurück. Die Transformation von der Signalsprache zur ausdifferenzierten Sprache sei deshalb die Voraussetzung für die Entstehung sowohl von Identitäten wie Institutionen. Das menschliche Handeln werde jetzt nicht mehr außersprachlich gesteuert sondern durch die spezifischen, der sprachlichen Kommunikation inhärenten Geltungsansprüche gebunden. Eine Äußerung, so führt Habermas aus, kann unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Sprache nicht ohne Grund sondern nur dann bestritten werden, wenn entweder ihre Wahrheit, ihre Legitimität oder aber ihre Wahrhaftigkeit in Zweifel gezogen werden. Diese drei Geltungsansprüche und die mit ihnen verbundene Nötigung zu einer begründeten, d.h. rational motivierten Stellungnahme vermittelten der Sprache die Kraft, den Willen von Sprechern binden zu können.142 (3) Auf der Basis einer solchen ausdifferenzierten Sprache erfolge nun auch der Prozess gesellschaftlicher Struktur- und individueller Identitätsbildung. Mich interessiert dabei zunächst der Individuierungsaspekt. Habermas rekonstruiert hierbei erneut das von Mead entwickelte Modell der Einstellungsübernahme konsequent kommunikationstheoretisch. Die Instanzen von „I“ und „Me“ gehen für ihn aus demselben Prozess der Vergesellschaftung hervor. „‚Me‘ steht für die Ansicht, die Ego einem Alter in einer Interaktion bietet, wenn dieser Ego ein Sprachaktangebot macht. Diese Ansicht gewinnt Ego von sich selbst, indem er Alters Perspektive genau dann einnimmt, wenn dieser Ego, d.h. mich bittet, mir etwas verspricht, von mir etwas erwartet, mich fürchtet, haßt, erfreut usw. Die interpersonale Beziehung zwischen Sprecher und Angesprochenem […] ist aber so angelegt, daß sich Ego mit der Übernahme der Perspektive eines Gegen————— 140 141 142

Ebd. Ebd., 42. Vgl. ebd., 45f.

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übers aus seiner eigenen kommunikativen Rolle nicht herausstehlen kann. Indem Ego die Einstellung von Alter einnimmt, um sich dessen Erwartungen zu eigen zu machen, dispensiert er sich nicht von der Rolle der ersten Person: er selbst bleibt es, der in der Rolle von Ego die zunächst von Alter übernommenen und internalisierten Verhaltensmuster zu erfüllen hat.“143 Ego und Alter hätten die Freiheit, über das Sprechaktangebot des anderen mit „Ja“ oder „Nein“ Stellung zu nehmen. Deshalb sei mit der Entstehung des „Me“ gleichzeitig auch die des „I“ verbunden. Der Prozess der Vergesellschaftung hat deshalb nach Habermas zugleich einen Individuierungseffekt. Das Individuum lerne auf dem Weg der im Medium der Sprache erfolgenden Einstellungsübernahme, sein Handeln an Geltungsansprüchen zu orientieren. Indem es in einem nächsten Schritt die Antwort von Alter in einem inneren Dialog vorwegnimmt, verinnerliche es die diskursive Beziehung und gewinne dadurch ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst.144 Das sich dabei konstituierende reflexive Selbstbewusstsein sei deshalb ebenfalls ein Produkt der Interaktionsbeziehung zwischen Alter und Ego. (4) Über die individuierende Wirkung des Sozialisationsprozesses hinaus bedarf der Aspekt der Identitätsbildung einer weiter gehenden Betrachtung. Habermas rekonstruiert den sozialpsychologischen Identitätsbegriff erneut sprachtheoretisch. Von Mead übernimmt er dabei das Konzept einer zweistufigen Identität. Deren erste Stufe bestehe im Erwerb einer konventionellen Rollenidentität, die durch die Internalisierung zugeschriebener Verhaltensmuster entstehe. Die beiden Komponenten „Me“ und „I“ repräsentierten dabei die soziale Welt, der eine Person angehört und die subjektive Welt, zu der sie einen privilegierten Zugang hat. Über diese konventionell bestimmte Identität hinaus gehe die zweite Identitätsstufe, die Ich-Identität. In ihr begreife sich eine Person „als zugleich unabhängigen und schöpferischen Initiator grundsätzlich unvorhersehbarer Handlungen“.145 Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung seien daher die beiden Aspekte, die zur Ich-Identität gehörten und die zugleich über den konventionellen Charakter der Rollenidentität hinausgingen. Die Kraft zu diesem Entwurf einer nichtkonventionellen Ich-Identität, in der die Person sich im Horizont dessen versteht, wer sie selbst sein will, entstammt nach Habermas der kontrafaktischen, antizipierenden Bezugnahme auf die ideale Sprechsituation.146 Einige Jahre nach Erscheinen der „Theorie des kommunikativen Handelns“ hat er sich mit diesem Aspekt noch einmal ausführlicher beschäftigt. Die gesell————— 143 144 145 146

Ebd., 93. Vgl. ebd., 115. Ebd., 152. Vgl. ebd., 162.

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schaftliche Konstitution einer nicht-konventionellen Ich-Identität gründet, so führt er hier aus, in der Antizipation von Verhältnissen reziproker Anerkennung.147 Auch bezüglich seiner Identität als selbstbestimmtes und sich selbst verwirklichendes Subjekt „findet das Ich zu sich nur auf dem Umweg über andere, über den kontrafaktisch unterstellten universalen Diskurs. Das Selbst des praktischen Selbstverhältnisses kann sich seiner wiederum nur vergewissern, wenn es aus der Perspektive anderer auf sich als deren Alter ego zurückkommen kann – diesmal nicht als Alter ego eines anderen Alter ego der jeweils eigenen, aber konkreten Gruppe (als ‚Me‘). Es trifft sich nur an als das Alter ego aller vergemeinschafteten Anderen […]. So bleibt das Verhältnis von ‚I‘ und ‚Me‘auch der Schlüssel für die Analyse der gesellschaftlich zugemuteten postkonventionellen Ich-Identität.“148 Allerdings kehrt sich deren Verhältnis auf dieser Stufe um. Während bislang das „Me“ dem „I“ die Struktur seiner Reaktion vorgab, wird jetzt „dem Ich selbst die antizipatorische Herstellung interaktiver Beziehungen zu einem Adressatenkreis zugemutet, aus dessen Perspektive es auf sich zurückkommen und sich seiner selbst als autonomer Willen und individuiertes Wesen vergewissern kann. Das ‚Me‘, das dem Ich gewissermaßen folgt, wird hier nicht mehr durch eine vorgängige interaktive Beziehung ermöglicht. Das Ich selbst entwirft jenen Interaktionszusammenhang, der die Rekonstruktion einer zerbrochenen konventionellen Identität auf höherem Niveau erst möglich macht.“149 (5) Selbstbewusstsein, Personalität, Subjektivität und Identität sind für Habermas Produkte sozialer Interaktion. Sein Konzept ist das einer Individualisierung durch Vergesellschaftung. Menschen können dieser Theorie zu Folge die innere Welt eines selbstbewussten Lebens nur durch die Entäußerung an eine äußere Welt interpersonaler Beziehungen herstellen. Individuen sind Menschen nicht von Haus aus, sondern werden es erst im öffentlichen Raum ihrer sozialen Welt. „In den Blicken des Du, einer zweiten Person, die mit mir als einer ersten Person spricht, werde ich meiner nicht nur als eines erlebenden Subjekts überhaupt, sondern zugleich als eines individuellen Ichs bewusst. Die subjektivierenden Blicke des Anderen haben eine individuierende Kraft.“150

—————

147 Vgl. Habermas, Individuierung durch Vergesellschaftung, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, 224f. 148 Ebd., 227. 149 Ebd. 150 Habermas, Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkeit, 19.

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5.5.4 Intersubjektivität und Zwischenleiblichkeit. Dimensionen der Sozialität Habermas gründet sein anspruchsvolles Konzept einer postkonventionellen Ich-Identität auf die antizipierende Kraft, mit der ein Subjekt die ideale Sprechsituation unter den gegenwärtigen Kommunikationsbedingungen vorwegnimmt. Dabei kehre sich das Verhältnis von „Me“ und „I“ um. Das „I“ folge nicht mehr dem „Me“, sondern entwerfe jetzt eine postkonventionelle Ich-Identität, indem es über die gegebenen Sozialverhältnisse hinaus die ideale Sprechsituation antizipiere. Habermas setzt also die Idee eines starken Subjekts voraus. Eines Subjekts der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Allerdings scheint er mir die Erklärung darüber auszulassen, worin diese Kraft des Ich gründet. Es müsste doch jenes Empowerment einsichtig gemacht werden, mit der eine Person, die einerseits erst in den Blicken eines Du zum Ich wird, sich andererseits von diesen Blicken emanzipieren und eine kontrafaktische postkonventionelle Ich-Identität entwerfen kann. Genügt dafür das Konzept eines Subjekts, das erst unter den Blicken des Du selbst die Augen aufschlägt? Der Widerspruch, der hier erkennbar wird, ist grundsätzlicher Art. Er hat seine Ursache in jener strukturellen „Vernachlässigung des Subjekts“, die ich eingangs als Vermutung geäußert habe. Mead und Habermas gehen gleichermaßen von einer sozialen Konstitution des Subjekts aus und bringen es damit in ein genetisches Abhängigkeitsverhältnis zu den Interaktionsbedingungen, aus denen es resultiert. Aus diesem Grund fehlen ihnen die begrifflichen Ressourcen, um eine aktive Auseinandersetzung des Ich mit den Perspektiven und Erwartungen der Anderen plausibel erklären zu können. Wenn ich diesen Ansatz als eine Unterforderung der Subjektivität bezeichne, geht es mir nicht darum, die Beschreibung der Perspektivenübernahme und ihrer Rolle für die Identitätsbildung in Frage zu stellen. Vielmehr ist mir ihre Ergänzung wichtig. Meine These besteht darin, dass nur eine Theorie, die Subjekt und Soziales nicht auf einander zurückführt, deren Interdependenz angemessen beschreiben kann. Eine solche Theorie müsste das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft so beschreiben, dass sowohl die identitätsbildende Macht des Sozialen als auch die Eigensinnigkeit der Subjekte berücksichtigt werden. Der symbolische Interaktionismus hat den ersten Teil dieser Aufgabe mit der Theorie der Perspektivenübernahme geleistet. Im Folgenden möchte ich mich auf ihren m.E. offen gebliebenen zweiten Teil konzentrieren. (1) Die Unterschätzung der Subjektivität ist bei Habermas nicht zuletzt darin begründet, dass er einen dezidierten Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie vertritt. Damit ist der Anspruch verbunden, dass die Kommunikationstheorie die Schwierigkeiten des Subjekti-

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vitätsparadigmas vermeidet und dieses überflüssig macht. Habermas tritt deshalb mit dem Anspruch auf, den von Fichte aufgewiesenen Zirkel selbstvergegenständlichender Reflexion kommunikationstheoretisch hinter sich lassen zu können. Im „Paradigma der symbolisch vermittelten Interaktion“,151 so führt er aus, werde die Entstehung von Selbstbewusstsein erklärt, ohne dass dabei eine introspektive Verobjektivierung in Anspruch genommen werden müsse. Das kommunikative Modell gehe stattdessen davon aus, dass sich ein Sprecher, indem er einen Sprechakt an eine andere Person adressiert, in deren Antwort in personaler Weise selbst gegenüber tritt. Er begegnet sich „als Alter ego seines Alter ego […]. Er tritt sich in der ersten Person seiner performativen Einstellung selbst als zweite Person gegenüber.“152 Weil die dabei erfolgende Perspektivenübernahme innerhalb einer personalen Ich-Du-Beziehung stattfinde, liege keine vergegenständlichende Beziehung vor wie im Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins. Aber ist Habermas damit einer zirkulären Erklärung von Selbstbewusstsein entkommen? Keineswegs. Denn das Ich, das sich im Du begegnet, muss doch schon in Anspruch genommen werden, damit es sich in Perspektivenübernahme die Antwort des Du aneignen und zuschreiben kann. Ein neuer, kommunikativer Zirkel ist an die Stelle des früheren, epistemischen Zirkels getreten. „Auch die […] nicht-vergegenständlichende […] Anrede durch ‚du‘ bezieht sich auf mich als mich nur unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß ich mit dem Adressaten des ‚Anspruchs‘ oder der ‚Aufforderung‘ […] vorher schon vertraut war.“153 Mit anderen Worten: ich muss schon vorgängig mit mir selbst vertraut sein, um im kommunikativen Handeln die ungegenständliche Anrede des ‚Du‘ erfolgreich auf mich beziehen zu können. Die von Habermas behauptete Vorgängigkeit kommunikativer Vergesellschaftung bleibt daher ebenfalls in einem Zirkel gefangen und kann keineswegs ihren Anspruch einlösen. Der Versuch, auf dem Weg über die Vergesellschaftung die Individuierung vollständig einzuholen, scheitert erneut. Die „Theorie des kommunikativen Handelns“ kann offenbar weder dem Zirkel der sich selbst voraussetzenden Subjektivität entkommen noch die Kraft erklären, auf deren Grundlage sich das Ich mit der sozialisierenden Macht der Gesellschaft auseinander zu setzen vermag.154 Wenn sich offenbar Modelle als widersprüchlich erweisen, nach denen das Ich unter den Blicken des Du die Augen aufschlägt, ist es nahe liegend, ————— 151

Habermas, Individuierung durch Vergesellschaftung, 210. Ebd., 211. 153 Frank, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis, 237; vgl. auch ders., Wider den apriorischen Intersubjektivismus, 280; ders., Subjektivität und Intersubjektivität, 452; Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne?, 39f. 154 Der hier formulierte Einwand trifft auch auf Ingolf U. Dalferths Theorie der Sozialität zu, die ich oben dargestellt habe, vgl. Teil B, Kap. 3.3 (1) und 3.4 (1) bis (4). 152

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Konzepte in Augenschein zu nehmen, die das Wechselverhältnis von Subjekt und Sozialem erklären, ohne eine der beiden Seiten auf einander zurückzuführen. Es wird dabei nicht darum gehen, eine abstrakte Gegenposition aufzubauen, die nun umgekehrt von einem solitären Individuum ausgeht, das erst anschließend in ein Interaktionsverhältnis tritt. Eine unverkürzte Intersubjektivitätstheorie wird vielmehr zu zeigen haben, „daß sich die Sprachfähigkeit nur in einem mit dem spontanen Hervorgang von Selbstverhältnis entfalten kann“.155 Anders gesagt: dass sich kommunikative Sozialverhältnisse und Selbstverhältnisse komplementär und durch einander vermittelt entwickeln. „Dieser Hervorgang bedarf“, wie Dieter Henrich einleuchtend formuliert, „seinerseits der Aufklärung“.156 Diese hat auf mindestens zwei Ebenen zu erfolgen: entwicklungspychologisch zum einen und phänomenologisch zum anderen. Ich beginne mit ersterem. (2) Dieter Henrich hat in seiner Auseinandersetzung mit der „Theorie des kommunikativen Handelns“ auf das implizite Selbstverhältnis hingewiesen, das bereits im Verlauf des elementaren Spracherwerbs entsteht und fungiert. Schon die Beherrschung von Demonstrativa oder der korrekte Gebrauch des eigenen Namens seien nur unter der Voraussetzung eines Selbstverhältnisses zu verstehen. Das Sprachverhalten entstehe „in einem komplexen Bezugsrahmen von intelligenten Leistungen“ und schubweise „aus spontanen Versuchen, in denen sich schließlich auch das Verstehen in einem mit dem Können spontan einstellt.“157 Die entwicklungspsychologische Aufklärung über den interdependenten Hervorgang von Selbst- und Sozialverhältnissen ist mittlerweile weiter vorangeschritten als es Henrichs vorsichtige Formulierungen vermuten lassen. Daniel N. Stern hat beispielsweise auf der Grundlage umfangreicher empirischer Untersuchungen einen Entwicklungsprozess der frühen Kindheit beschrieben, der die Annahme nicht aufeinander zurückführbarer Interaktionen zwischen dem Selbst und den Anderen bestätigt. Für Stern gründet „die Lebenserfahrung des Säuglings“ in der Beziehung eines Kern-Selbst und eines Kern-Anderen.158 Bereits in der Zeit der ersten beiden Lebensmonate entwickle der Säugling „aktiv ein Empfinden seines auftauchenden Selbst […]. Es ist das Empfinden einer im Entstehen begriffenen Organisation, und es ist ein Selbstempfinden, das während des gesamten weiteren Lebens aktiv bleiben wird.“159 Bestimmte frühe Lebenserfahrungen macht der Säugling nach Sterns These nicht vor dem Hintergrund eines Lernprozesses sondern auf der Grundlage dieses im Entstehen begriffenen Selbstes, ————— 155 156 157 158 159

Henrich, Was ist Metaphysik?, 35. Ebd. Ebd. Vgl. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, 47f. Ebd., 61

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dem bestimmte angeborene Wahrnehmungskompetenzen und Affektqualitäten eigen sind. So könnten bereits Kinder in diesem frühen Lebensalter Eindrücke aus einem in einen anderen Wahrnehmungsmodus übersetzen, ohne dass dem ein Lernen vorausgegangen wäre. In einem Experiment wurde mehreren drei Wochen alten Kindern, deren Augen verbunden worden waren, jeweils einer von zwei unterschiedlichen Schnullern in den Mund gesteckt. Während der eine die übliche kugelförmige und glatte Gestalt hatte, war die Oberfläche des anderen mit Knubbeln besetzt. Nachdem die Kinder an dem ihnen in den Mund gesteckten Schnuller eine Zeitlang gelutscht hatten, nahm man ihnen den Schnuller weg und legte ihn neben den anderen Schnuller, an dem der Säugling nicht gelutscht hatte. Anschließend nahm man den Kindern die Augenbinde ab. Egal, welchen der beiden unterschiedlichen Schnuller sie im jeweiligen Experiment mit dem Mund berührt hatten: stets betrachteten sie denjenigen intensiver, an dem sie zuvor gelutscht hatten. Säuglinge in diesem frühen Alter sind offensichtlich ohne Weiteres in der Lage, Entsprechungen zwischen haptischen und visuellen Eindrücken herzustellen und Informationen aus einer Sinnesmodalität in eine andere zu transformieren.160 Stern spricht in diesem Zusammenhang von amodaler Wahrnehmung. Neben ihr beschreibt er die physiognomische Wahrnehmung sowie die Wahrnehmung korrespondierender Vitalitätsaffekte als Prozesse, die an der Entstehung eines Empfindens des auftauchenden Selbst sowie des auftauchenden Anderen teilhaben. Charakteristisch an diesem auftauchenden Selbstempfinden sei sein Doppelaspekt: der Säugling erlebe einen Prozess und sein Resultat. Das am Ende dieser Phase entstandene Selbstempfinden sei deshalb kein Interaktionsprodukt. Vielmehr verfüge bereits der Säugling über Wahrnehmungs- und Affektmodalitäten, auf deren Grundlage die Selbstempfindung innerhalb einer sozialen Matrix entstehe. „Der Säugling kann ein Selbstempfinden überhaupt erst besitzen, wenn bereits irgendeine Organisation, die als Bezugspunkt empfunden wird, vorhanden ist.“161 Im Alter von zwei bis drei Monaten besitze der Säugling bereits das Empfinden eines Kern-Selbst und eines Kern-Anderen. Zum Kern-Selbst verbänden sich dabei das Empfinden eines eigenen Willens, einer SelbstKohärenz, einer Selbst-Affektivität und einer Selbst-Geschichtlichkeit.162 In der Vereinheitlichung dieser Selbst-Invarianten („Inseln der Konsistenz“) bilde sich das Kern-Selbst. Im Alter zwischen sieben und neun Monaten entdeckten Kinder dann, dass anderen Personen offenbar ähnliche innere Zustände eigen sind wie ihnen selbst. Jetzt entstehe das subjektive Selbstempfinden. „Der Säugling ————— 160 161 162

Vgl. zu diesem und anderen empirischen Belegen: ebd., 74–82. Ebd., 73. Vgl. ebd., 106 und 114–138.

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verfügt nun über eine neue organisierende subjektive Perspektive in bezug auf sein soziales Leben […]. Zu den Selbsten und den Anderen gehören nun auch innere oder subjektive Zustände des Lebens“.163 Erst jetzt werde die Sphäre der Kern-Bezogenheit zu einer intersubjektiven Beziehung hin geöffnet. Gefühle, Motive und Absichten, die gewissermaßen „hinter“ den sichtbaren Körperfigurationen stehen, würden erkannt. Dadurch könne ein gemeinsamer Fokus der Aufmerksamkeit entwickelt sowie eine Gemeinsamkeit der Intentionen und der affektiven Zustände herausgebildet werden. Im Alter von fünfzehn bis achtzehn Monaten lernten Kinder schließlich, „sich Dinge mit Hilfe von Zeichen und Symbolen vorzustellen oder psychisch zu repräsentieren“.164 Sie beherrschten zunehmend die Operationen, um ihre Welterfahrung mit Anderen zu teilen. Sie vermögen, geistige und handlungsbezogene Schemata zu koordinieren. Sie entwickelten die Fähigkeit, das eigene Selbst zu objektivieren, indem sie sich beispielsweise sicher im Spiegel erkennen. Darüber hinaus entdeckten sie die Fähigkeit zum symbolischen Spiel. Schließlich aber lernten sie ihr angesammeltes inneres Erfahrungswissen sprachlich zu verbalisieren. Die neue Gestalt des Selbstempfindens, die hier entstehe, sei das verbale Selbstempfinden. Sterns Darstellung von der Entwicklung des Säuglings bestätigt mit reichhaltigem empirischem Material die These einer interdependenten und nicht auf einander zurückführbaren Entwicklung von Individualität und Interpersonalität. Das Selbstempfinden des Säuglings wächst in interpersonalen Beziehungen. Aber es resultiert nicht aus ihnen. Vielmehr beruht die Lebenserfahrung des Säuglings gleichermaßen auf einer fundamentalen Struktur – dem Erleben eines Kern-Selbst – und in der aktiven Integration interpersonaler Erfahrungen. (3) Angesichts solcher Befunde spricht viel dafür, dass Schleiermachers Intersubjektivitätstheorie zu Unrecht nur wenig Beachtung gefunden hat. Während bei Fichte dem Individuum und bei Hegel dem Allgemeinen das Hauptaugenmerk galt, hat Schleiermacher auf eine unverkürzte Interdependenz gesetzt. Ihre Pointe besteht darin, den Zusammenhang zwischen dem menschlichen Grundverhältnis und seinem Selbst- und Sozialverhältnis kenntlich gemacht zu haben. Mit der Gewissheit seiner passiven Konstitution im Gottesverhältnis erschließe sich dem Menschen in einem auch sein Selbst- und Sozialverhältnis. Gunther Wenz hat dies in seiner „Erinnerung an den Kommunikationstheoretiker […] Schleiermacher“ prägnant deutlich gemacht: „Im Bewußtsein ihrer ursprünglichen Faktizität […] ist der Subjektivität sowohl die Erkenntnis der Notwendigkeit ihrer Selbstunterscheidung vom Absoluten und somit die Erkenntnis ihrer Endlichkeit als auch ————— 163 164

Ebd., 180. Ebd., 232.

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ein Wissen darum präsent, daß es Subjekt unter Subjekten zu sein hat, deren Differenzstatus irreduzibel und nicht in die eigene Identität aufzuheben ist. Identität und Differenz erweisen sich so als paritätische Größen und subjektive Selbstbeziehung und Intersubjektivität stellen nicht länger einen Gegensatz dar, sondern koinzidieren in einer ursprünglichen Einsicht.“165 Schleiermachers Theorie der Sozialität ist auch mit einem Konzept der Identitätsbildung verbunden. Entsprechend der konstitutiven Rolle von Rezeptivität und Spontaneität unterscheidet er zwei Interaktionsformen. Auf der Seite der Empfänglichkeit beschreibt er das „Aufnehmen der Tatsachen anderer Persönlichkeiten in die eigene“.166 In seiner „Psychologie“ verwendet er dafür sogar den Identitätsbegriff und spricht davon, „daß man das Leben des andern selbst in die Identität mit dem seinigen aufnimmt“.167 Auf der Seite der Spontaneität konturiert er die „lebendige Nachbildung“ als die individuelle Wiederholung, Aneignung und Auseinandersetzung mit den Inhalten der Interaktion. Identitätsbildung ist somit beides: die Übernahme der Sozialperspektive und die Entwicklung einer eigenen Sichtweise – eine Interdependenz zwischen dem Selbst- und dem Sozialverhältnis. Darüber hinaus hat Schleiermacher seine Theorie der Intersubjektivität bis in die Bildung konkreter gesellschaftlicher Interaktionsformen und – strukturen weitergeführt. Seine „Ethik“ entwickelt aus der Kombination der beiden konstitutiven Gegensatzpaare eine Theorie der grundlegenden sittlichen Gemeinschaftsformen.168 Auf der anderen Seite schließlich hat er auch selbst die entwicklungspsychologische Frage reflektiert, wie sich das Selbstbewusstsein des Menschen und das in ihm enthaltene „gesellige Gefühl“ lebensgeschichtlich ausbilden. Dabei rechnete er mit einer ursprünglichen Indifferenz von persönlichem Selbstbewusstsein einerseits und Gemeinbewusstsein bzw. Gegenstandsbewusstsein andererseits. Die allererste Lebensgemeinschaft des Kindes mit seiner Mutter sei von der Einheit von ————— 165

Wenz, Verständigungsorientierte Subjektivität, 239. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 42 (§ 6.2). 167 Schleiermacher, Psychologie (1818), SW III / 6, 454, zit. nach: Schlenke, 43. 168 Die mit einander in Spannung stehenden Dimensionen sind auf der einen Seite das organisierende und das symbolisierende Handeln und auf der anderen Seite deren individueller oder identischer (d.h. intersubjektiv verallgemeinerter) Modus. Aus der Kombination jeweils zweier dieser Dimensionen entstehen die vier grundlegenden Gemeinschaftsformen: (a) aus der Kombination des identischen, d.h. intersubjektiv verallgemeinerten Organisierens entsteht die „Sphäre des gemeinschaftlichen Gebrauchs (=Verkehr)“ mit dem Recht als sittlicher Basis; (b) auf der Seite des individuellen Organisierens entsteht die Sphäre des Eigentümlichen mit dem sittlichen Verhältnis der Geselligkeit; (c) in der Verbindung des identischen, d.h. intersubjektiv verallgemeinerten Symbolisierens bildet sich die „Sphäre des objektiven Erkennens oder des Wissens“ mit den schulischen bzw. akademischen Gemeinschaftsformen des Wissens; (d) nach der Seite des individuellen Symbolisierens schließlich entsteht die „Sphäre des subjeitven Erkennens“ mit den Gemeinschaftsformen der „Kirche mit angebildetem Kunstsystem“ (Schlenke, „Geist und Gemeinschaft“, 95f); vgl. Feil, Die Grundlegung der Ethik, 78–101. 166

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Selbstischem und Geselligem geprägt.169 Erst auf einer zweiten Stufe entwickle sich das Bewusstsein ihrer Unterscheidung und Wechselwirkung. Für die Entstehung des reflektierten Selbstbewusstseins macht Schleiermacher dann die denkerische und sprachliche Verarbeitung sinnlicher Wahrnehmungen verantwortlich und damit erneut das empfängliche und selbsttätige Vermögen des Menschen.170 Schleiermachers Theorie der Sozialität enthält – das möchte ich mit meiner Erinnerung deutlich machen – eine Fülle thematischer Aspekte, die in erstaunlicher Weise an heutige sozialwissenschaftliche Diskurse anschlussfähig sind und diese zugleich vertiefen. Ihr Gehalt dürfte bei weitem noch nicht ausgeschöpft sein und verdient deshalb eine größere Aufmerksamkeit. (4) Ähnlich wie Schleiermacher hat auch Jean Paul Sartre eine Theorie der Intersubjektivität entwickelt, deren Pointe in der intersubjektiven Verfasstheit von Subjektivität besteht. Genauer: im Aufweis der Anwesenheit des Anderen im unmittelbaren Selbstbewusstsein. Sein Konzept bleibt an mehreren Punkten hinter dem Schleiermachers zurück: es blendet das menschliche Grundverhältnis aus und mündet in die Darstellung eines aporetischen Kampfes um Anerkennung.171 Einige Aspekte seiner Konzeption können allerdings meine bisherige Darstellung vertiefen. Sie möchte ich an dieser Stelle einbeziehen. Sartre entwickelt sein Sozialitätsverständnis an einem berühmt gewordenen Beispiel: „Nehmen wir an, ich sei aus Eifersucht, aus Neugier, aus Verdorbenheit so weit gekommen, mein Ohr an eine Tür zu legen, durch ein Schlüsselloch zu gucken.“172 Auf diese Weise werde ich zum Zeugen jener Szene jenseits der Tür, die mein Interesse geweckt hat und die mir sonst verborgen bleiben müsste. Doch meine Beobachtung währt nur kurz. „Jetzt habe ich Schritte im Flur gehört: man sieht mich.“173 Ein Blick hat mich getroffen. Schlagartig ändert sich die Situation für mich. Ich bin bis ins Mark getroffen. Scham ergreift mich. Ich schäme mich meiner, so wie ich dem Anderen erscheine. —————

169 Vgl. zu Schleiermachers entwicklungspsychologischen Erwägungen: Schlenke, ebd., 43f, 54–59, 158f. 170 Vgl. Schleiermacher, SW III/6, 447: „Das Losreißenwollen vom Sinneseindrukke ist das Denkenwollen, und dies ist eher aber auch unbestimmter als das Sprechenwollen; aber wirklich gedacht wird nur in der Identität mit dem Sprechen“ (zit. nach Schlenke, 55). 171 Vgl. dazu Honneth, Kampf um Anerkennung; ders., Erkennen und Anerkennen. Auch Manfred Frank spricht davon, dass Sartre in „Das Sein und das Nichts“ „den agonalen und ungeselligen Zug wechselseitiger Freiheits-Verdinglichung karikatural überbetont habe“ (ders., Wider den apriorischen Intersubjektivismus, 282). Anders als Honneth versucht Frank aber zu zeigen, dass sich Sartres Position in späteren Anläufen zur Lösung des Intersubjektivitätsthemas verändert habe (ebd., 282–284). 172 Sartre, Das Sein und das Nichts, 467. 173 Ebd., 469.

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Sartre dient diese Szene zu einer weit ausgreifenden Analyse des Blicks, mit der er die Existenz Anderer im Selbstbewusstsein konturenscharf ausleuchtet. Ich konzentriere mich hier auf Sartres Analyse der Scham, die durch den Blick des Anderen ausgelöst wird. Diese habe ihre eigentümliche Doppelstruktur darin, dass sie einerseits kein Reflexionsphänomen und doch zugleich Scham vor jemandem ist. Scham sei präreflexiv. Sie „ist ein unmittelbares Erschauern, das mich von Kopf bis Fuß durchläuft, ohne jede Vorbereitung“.174 Scham sei eine unmittelbare Gewissheit. Sie entstehe nicht durch eine reflexive Vergewisserung, durch die ich die Perspektive eines Anderen aktuell auf mich beziehe und aufgrund dieser Identifikation den Anstoß erhalte, mich zu schämen. So wenig aber Scham ein Reflexionsphänomen sei, so sehr sei in ihr doch zugleich der Andere anwesend. Sartre zeigt, dass diese andere Person dabei keineswegs leiblich anwesend sein müsse. Ich kann mich auch getäuscht haben. Der Andere, dessen Blick ich in meinem Rücken gespürt habe, war gar nicht an- sondern war abwesend. Es sei deshalb eine fundamentale Anwesenheit175 des Anderen, die von seiner aktuellen Gegenwart unabhängig sei, die mir in meinem präreflexiven Bewusstsein präsent ist. Am Phänomen der Scham werde daher für Sartre die Anwesenheit des Anderen in meinem unmittelbaren (Selbst)bewusstsein unbezweifelbar gewiss. „So hat uns der Blick auf die Spur unseres FürAndere-seins gebracht und hat uns die unbezweifelbare Existenz dieser Anderen, für die wir sind, enthüllt.“176 Sartres Analyse des Blickes und der Scham macht noch einmal an anderen Phänomenen die intersubjektive Verfasstheit der Subjektivität deutlich. Sie erweitert meine bisherigen Überlegungen vor allem dadurch, dass sie dabei ein Interaktionsverhältnis reflektiert, das nicht über sprachliche Kommunikation hergestellt wird. Mit dem Blick und der Scham tritt vielmehr die Dimension der Leiblichkeit erneut vor Augen. Auf der einen Seite macht der unerwartete, stumme Blick auf die sinnliche Bestimmtheit der Interaktion aufmerksam. Andererseits ist auch die Scham zutiefst leiblich bestimmt. Werde ich von ihr ergriffen, so dringt sie mir bis ins Mark. Sie erfasst mich ganz und gar und ist mir gerade in dieser leiblichen Bestimmtheit unmittelbar gewiss. Ähnlich verhält es sich auch mit der Furcht oder dem Stolz:177 die Gegenwart des Anderen in meinem präreflexiven Bewusstsein erfasst mich mit Haut und Haar, also leiblich. Diese leiblichen Dimensionen der Intersubjektivität möchte ich jetzt noch etwas ausführlicher in Augenschein nehmen. ————— 174 175 176 177

Ebd., 406. Vgl. Sartres Analyse der Abwesenheit, ders., ebd., 498–503. Ebd., 505. Vgl. Sartre, ebd., 519f.

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(4) In einer phänomenologischen Lektüre hat Bernhard Waldenfels die Sphäre der „Zwischenleiblichkeit“ (Merleau-Ponty) zum Gegenstand einer ausführlichen Analyse gemacht. Intersubjektivität bezeichnet für ihn eine Verschränkung von eigenem Leib und Fremdleib in einer Sphäre des „Zwischen“. Diese beginnt nicht erst mit der sprachlichen Interaktion, sondern bereits auf der „Ebene der Erfahrung und der Wahrnehmung“, die „man als Kohabitation, als ein gemeinsames Wohnen in der Welt bezeichnen“178 könnte. An den Phänomenen der gemeinsamen Räumlichkeit, dem Ineinandergreifen von eigenem und fremden Handeln sowie des Mit-Empfindens179 macht Waldenfels klar, dass sich Zwischenleiblichkeit bereits auf einer vorprädikativen Ebene abspielt. „Es begegnet mir in der Empfindung die Welt, und im Empfinden, in der Art und Weise, wie die Welt uns begegnet, empfinde ich gleichzeitig mich selbst, fühle ich mich selber erleichtert, belastet oder wie immer.“180 Gefühle hätten deshalb teil an der Sphäre der Zwischenleiblichkeit. Sie seien keine Zustände des Einzelnen, sondern Formen, in denen er sich auf die Welt bezieht. „Die Freude ist […] ein Sichbefinden mit den Anderen in der Welt.“181 Der Bezug zu Anderen und der Selbstbezug vollzögen sich in ihnen synchron. Auf einer zweiten Stufe spiele sich die Zwischenwelt dann auf der Ebene des Gesprächs und der Kooperation ab. „In der Erfahrung des Dialogs bilden mein Denken und das Denken des Anderen ‚ein einziges Gewebe‘.“182 Waldenfels betont die tatsächliche Kooperation, die dabei zwischen den Dialogpartnern statt hat und die es unmöglich macht, die Äußerungen genau den einzelnen Gesprächspartnern zuzurechnen. Im Sprechen, im Hören und im Antworten entstehe vielmehr eine Gemeinschaftsbildung. Der Dialog vollbringe eine „Kooperation […] in dem Sinne, dass die eigene Tätigkeit in sich selber schon durch fremde Mitwirkung, etwa durch die Erwartung des Hörers, durch den Einwand des Anderen, sogar durch einen möglichen Einwand geprägt ist. Ein Stirnrunzeln oder ein erstaunter Blick können eine Rede aus der Bahn bringen.“183 Diese Formulierung entspricht in wichtigen Aspekten der von Habermas beschrieben Perspektivenübernahme. Sie erweitert sie aber vor allem dadurch, dass sie nicht nur den Sprechakt als solchen berücksichtigt, sondern auch die leibliche Situiertheit des Dialogs, die Mimik, Gestik, kurz: die Körpersprache. Die vier von Waldenfels herausgearbeiteten leiblichen Dimensionen der Kommunikation gehören damit ebenso zur Intersubjektivität wie der propositionale Gehalt der Sprache. ————— 178 179 180 181 182 183

Waldenfels, Das leibliche Selbst, 299. Vgl. ebd., 288–292. Ebd., 285. Ebd., 289. Ebd., 300. Ebd., 301.

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Intersubjektivität ist tatsächlich Intersubjektivität: eine Interaktion, in der das Selbstverhältnis und das Sozialverhältnis in einem entstehen, sich entwickeln und mit einander in Wechselwirkung treten. Meine vorangegangenen Überlegungen haben Sachdimensionen und Entwicklungsaspekte eines solchen Interaktionsverhältnisses herausgearbeitet. Ihre Bedeutsamkeit für Identitätstheorien, pädagogische Konzepte und gesellschaftliche Strukturen ist mehrfach angeklungen. Im Folgenden möchte ich dieses Konzept sozialer Anthropologie vertiefen, indem ich es aus der Perspektive der trinitarischen Theologie ergänze und präzisiere.

5.6 Trinität und menschliche Gemeinschaft. Theologische Präzisierungen einer sozialen Anthropologie „Man muss das Bild der ganzen Gesellschaft sein und doch auch ein Individuum“,184 hat der junge Schleiermacher in seinen „Vermischten Gedanken und Einfällen“ formuliert. Theologisch gilt aber zugleich: der Mensch ist Bild Gottes. Was aber haben diese Bilder mit einander zu tun? Genauer: welche Konturen treten hervor, wenn man das Selbstbild und Gesellschaftsbild des Menschen in der Perspektive seiner Gottebenbildlichkeit reflektiert. Wie lassen sich die verschiedenen Beziehungsdimensionen des Menschseins auf einander beziehen? Das ist das Thema dieses Abschnittes. Die Interdependenz des menschlichen Gottes-, Selbst- und Sozialverhältnisses gilt es hier ebenso zu bedenken wie die Konsequenzen, die sich aus der theologischen Interpretation des Menschen als einer imago trinitatis ergeben. (1) Die Theologie bindet die Reflexion der menschlichen Sozialität durchgängig an die Gottesbeziehung zurück. Intersubjektivität wird dadurch nicht abstrakt, sondern in der konkreten qualitativen Differenz ihrer schöpfungstheologischen Bestimmung, mundanen Entfremdung, christologischen Erneuerung und ekklesiologischen Verwirklichung thematisiert. Die bisherigen Überlegungen zu Formen und Aspekten interpersonaler Beziehungen gehören in den Bereich schöpfungstheologischer Reflexion. Insbesondere Schleiermachers Konzept denkt diese Beziehungen in ihrer Fundierung durch das menschliche Grundverhältnis. Das im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit fundierte Selbst-Verständnis des Menschen erschließt sich als dessen Bestimmung zur intersubjektiven Selbstbestimmung. Schleiermacher greift mit dieser Einsicht über das hinaus, was Sozialitätstheorien gewöhnlich in den Blick nehmen: für ihn wird die soziale Bezogenheit des Menschen sowohl durch Gott konstituiert als auch bestimmt. Allerdings ist dieses Verständnis m.E. dadurch weiter zu vertiefen, dass der Mensch erneut als ————— 184

Schleiermacher, Bruchstücke der unendlichen Menschheit, 56.

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Bild des dreieinigen Gottes, als imago trinitatis reflektiert wird. In dieser Perspektive kann die relationale Entsprechung zwischen dem Sein Gottes und der conditio humana deutlich gemacht und präzisiert werden. Karl Barth hat davon gesprochen, dass sich „Gottes Lebensform […] in dem von ihm geschaffenen Menschen wiederholt“.185 „In Gottes eigenem Wesen […] findet ein Gegenüber statt: ein reales, aber einmütiges Sichbegegnen und Sichfinden, ein freies Zusammensein und Zusammenwirken, ein offenes Gegeneinander und Füreinander. Eben dieser göttlichen Lebensform Wiederholung, ihr Abbild und Nachbild ist der Mensch. Er ist es einmal darin, daß er Gottes Gegenüber ist […]. Und ist es sodann darin, daß er selbst das Gegenüber von seinesgleichen ist und in seinesgleichen sein eigenes Gegenüber hat, daß also das in Gott selbst stattfindende Zusammensein und Zusammenwirken in der Beziehung von Mensch zu Mensch zur Wiederholung kommt.“186 Das trinitarische Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen qualifiziert den menschlichen Beziehungsreichtum inhaltlich: so wie Gott in der wechselseitigen Bezogenheit und Gemeinschaft dreier selbstständiger Seinsweisen existiert, so ist die menschliche Bestimmung die eines Wechsel- und Austauschverhältnisses von Individualität und Gemeinschaft, ohne dass einer der beiden Aspekte auf den anderen zurückgeführt werden könnte. Identität und Differenz, Anerkennung und Gemeinschaft sind deshalb Aspekte des trinitarischen Beziehungsverhältnisses, die ihre Entsprechung im menschlichen Leben finden. (2) Das konkrete Denken der Theologie wendet sich darüber hinaus auch den gelebten menschlichen Beziehungsverhältnissen zu und thematisiert diese in ihrem Gelingen und Scheitern. Mit dem Begriff der Sünde reflektiert sie Erfahrungen gescheiterter, abgebrochener, gestörter und verletzter Gemeinschafsbeziehungen. Sünde ist „selbstverschuldete Beziehungslosigkeit“.187 Sie entsteht dort, wo die theologisch konstituierte Beziehungsstruktur der menschlichen Bestimmung zu interaktiv-kooperativer Selbstbestimmung verletzt wird. In den sozialen Beziehungen treten Verletzungen dieser Relationalität in vielfältigen Gestalten auf: beispielsweise in Unterdrückungsverhältnissen, Stigmatisierungsprozessen und gesellschaftlichem Ausschluss. Die Theologie reflektiert sie aber nicht nur auf der sozialstrukturellen Ebene, sondern erblickt in ihnen zugleich auch eine Verkehrung des Gottesverhältnisses und einen Missbrauch der von Gott gewährten endlichen Freiheit. „Der Mensch bleibt ein Beziehungswesen, eingebunden in die Ordnung von Beziehungen, die die Strukturen des Geschaffenen bestimmt, aber er verliert seine Fähigkeit, zu Gott, zu sich selbst, zu ande————— 185 186 187

Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III/1, 207. Ebd. Vgl. Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, in: ders., Beziehungsreich, 22.

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ren Menschen und zur Natur in Übereinstimmung mit der geschaffenen Ordnung der Relationalität in Beziehung zu treten.“188 Deshalb bedarf es einer Erfahrung, die sich Menschen von außerhalb ihrer selbst her erschließt, ihnen die Augen über die Verletzung gelebter sozialen Beziehungen öffnet und zugleich die Erneuerung der verletzten Beziehungskultur anbahnt. Dies ist die Erfahrung des rechtfertigenden Glaubens. Sie hat ihren Inhalt darin, aus Gnade von Gott anerkannt und deshalb selbst zur Anerkennung Anderer befähigt und aufgefordert zu sein. Diese Verwandlung ermöglicht die Wiederherstellung der bestimmungsgemäßen Beziehungsstruktur der conditio humana. Aus der Erfahrung des rechtfertigenden Glaubens können Menschen deshalb auch lebenstragende und lebensfördernde Sozialbeziehungen wieder herstellen. (3) Die Erfahrung des Glaubens ist eine Beziehungserfahrung: des durch Gott wiederhergestellten Grundverhältnisses, das neue Beziehungen entstehen lässt und bestehende Beziehungen erneuert. Die Gemeinschaft der Glaubenden existiert daher als die „durch die Gemeinschaft mit Christus konstituierte versöhnte Sozialität des Menschen“.189 Für die Gestalt und Gestaltung der lebendigen Beziehungsvielfalt des Glaubens kommt der paulinischen Ekklesiologie entscheidende Bedeutung zu. Wie oben skizziert sieht Paulus in der Gemeinschaft der Verschiedenen das entscheidende Kennzeichen der christlichen Gemeinde: viele Glieder – ein Leib. Dabei hebt er besonders diejenigen hervor, deren Gesellschaft nicht sonderlich gesucht wird: „Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen, die nötigsten; und die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und bei den unanständigen achten wir besonders auf Anstand; denn die anständigen brauchen’s nicht. Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben, damit im Leib keine Spaltung sei; sondern die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen“ (1Kor 12,22–25). Die Goldene Regel, die Paulus für die christliche Gemeinde aufstellt, ist deshalb eine Option für die Schwächsten. Diese Vorfahrtsregel gründet nicht in der besonderen Würdigkeit einer bestimmten Personengruppe, sondern in der Würde jedes Gliedes am Leib Christi. Sie besagt, dass allen, denen gemeinhin am wenigsten Achtung zuteil wird, besondere Achtsamkeit entgegengebracht werden soll. Dies geschieht mit dem Ziel, symmetrische Annerkennungs- und Lebensverhältnisse herzustellen. Das Kennzeichen der versöhnten Sozialität ist deshalb die uneingeschränkte Teilhabe. Inklusion. (4) Die Existenz der Kirche als Gemeinschaft der im Glauben erneuerten Intersubjektivität steht in der Spannung von Universalität und Partikularität. ————— 188 189

Schwöbel, Menschsein als Sein-in-Beziehung, in: ders., Gott in Beziehung, 202. Schwöbel, Kirche als Communio, in: ders., Gott in Beziehung, 426.

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In ihr kommt einerseits der universale Anspruch zur Geltung, dass die in Christus versöhnte Sozialität des Menschen nichts anderes als die versöhnte geschaffene Sozialität ist. In der Existenz und der Verkündigung der Kirche kommt deshalb etwas zur Erscheinung, was für die gesamte gesellschaftliche Lebenswirklichkeit des Menschen entscheidende Relevanz besitzt. Die Theologie ist daher genötigt, die versöhnte Sozialität fortwährend auf die geschaffene Sozialität zu beziehen. Andererseits ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die erneuerte Gemeinschaft des Glaubens inmitten der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse in mehrfacher Weise vorläufig bleibt. Einerseits existiert die versöhnte Sozialität inmitten der verletzten und entfremdeten Beziehungskultur. Dabei sind nicht nur unversöhnte soziale Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Auch die Glaubenden selbst erfahren sich als Gerechte und als Sünderinnen, als Menschen mithin, die der Erneuerung permanent bedürftig sind. Andererseits ist die versöhnte Sozialität des Glaubens nur eine gesellschaftliche Gruppe unter vielen in der modernen pluralistischen Gesellschaft. Diesen Aspekten trägt die theologische Reflexion in der Zwei-Reiche-Lehre dadurch Rechnung, dass sie den Verkündigungsauftrag der Kirche und ihre gesellschaftliche Beauftragung jeweils spezifisch akzentuiert: Zum einen bezieht sich die Kirche auf alle Menschen und verkündigt ihnen das Evangelium, die Botschaft von der Versöhnung der geschaffenen Sozialität. Zum anderen weiß sie sich inmitten pluralistischer Orientierungen und fortwährender Beziehungsverletzungen. Deshalb sieht sie es nicht als die Aufgabe von Politik an, Heilserwartungen zu erfüllen, sondern der Hoffnung auf ein gesellschaftliches Wohl zur Hand zu gehen. Auch ihre eigene gesellschaftliche Beauftragung reflektiert die Kirche nicht unter den Gesichtspunkten von Erlösung und Heil, sondern von Recht, Gerechtigkeit und Frieden. Ihre Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs und zur Gestaltung des Sozialen sind deshalb auf Interaktions-, Kooperations- und Gemeinschaftsverhältnisse gerichtet, die ein rechtsförmiges, gerechtes und friedvolles Zusammenleben ermöglichen. Die paulinische „Option für die Schwachen“, die sich zunächst auf die Gemeinde als Leib Christi bezieht, kann deshalb sozialethisch als „Option für die Armen“ zur Geltung gebracht werden. Diese vollzieht eine „Bewegung zu denjenigen, die als Arme und Machtlose am Rande des sozialen und wirtschaftlichen Lebens existieren und ihre Teilhabe und Teilnahme an der Gesellschaft nicht aus eigener Kraft verbessern können […]. Sie […] zielt auf den Abbau der strukturellen Ursachen für den Mangel an Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen.“190 Das theologisch angemessene sozialethische Leitbild ist mithin das einer inklusiven Sozialität. ————— 190

Kirchenamt der EKD (Hg.), Gemeinwohl und Eigennutz, Ziff. 155.

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5.7 Entstigmatisierung und die Gemeinschaft der Verschiedenen. Pädagogische und politische Notizen „Es lebe der Unterschied!“, lautet ein Motto der „Aktion Mensch“. Sein – nur auf den ersten Blick paradox anmutendes – Leitbild ist die Differenz als Merkmal sozialer Identität. Es enthält die Idee einer Gesellschaft als einer Gemeinschaft der Verschiedenen. Das hat Konsequenzen: für die Individuen und ihr Zusammenleben. Darum soll es in diesem Abschnitt gehen. 5.7.1 Stigma und Identität (2). Identitätsbildung und Entstigmatisierung „Ist ein ganz anderes Leben!“. Der Satz von Herrn R. klingt nach. Das Beispiel seiner Biografie spricht gegen die Unterstellung einer Zwangsläufigkeit in Entwicklungs- und Identitätsbildungsprozessen. Vielmehr spricht vieles dafür, dass Herr R. über ein Selbstbild verfügt, das es ihm auch unter stigmatisierenden Lebensbedingungen ermöglicht hat, eine Distanz zu ihnen herzustellen. Beispiele dieser Art sind nicht so rar, dass sie zu vernachlässigen wären. (1) So hat beispielsweise Hans Wocken eine Untersuchung unter Schülerinnen des neunten Schuljahres verschiedener Hamburger Haupt- und Sonderschulen durchgeführt. 62 Schülerinnen aus fünf Sonderschulklassen und 43 Schülerinnen aus drei Hauptschulklassen sind dabei nach ihrem jeweiligen Selbstbild als Haupt-, bzw. Sonderschüler, nach ihrem Fremdbild von der jeweils anderen Gruppe sowie nach ihrer Vermutung gefragt worden, wie das Fremdbild der jeweils anderen auf die eigene Gruppe aussieht. Dabei stellte Wocken fest, dass die „Sonderschüler […] über ein sehr positives Selbstkonzept“ verfügen, „das dem Selbstbild der Hauptschüler kaum nachsteht“.191 Sie sehen bei sich selbst anerkennenswerte Qualitäten, deretwegen sie keinen Vergleich mit den Hauptschülern zu scheuen bräuchten. Lediglich in Bezug auf Geselligkeit und Lebensfreude kontrastiert ihre Selbsteinschätzung das ansonsten positive Selbstbild. Ebenso auffällig ist „eine schockierende Diskrepanz“192 zwischen dem vermuteten Fremdbild der Sonderschüler und ihrem eigenen Selbstbild. Weit über das hinausgehend, was die Hauptschüler tatsächlich über die Sonderschüler denken. Wocken interpretiert seine Untersuchungsergebnisse als Korrektur, nicht als Widerlegung der Stigmatheorie. „Der labeling approach ist primär eine Theorie zur Erklärung gesellschaftlicher Reaktionen auf abweichendes ————— 191 192

Wocken, Untersuchungen zur sozialen Distanz, 477f. Ebd., 480.

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Verhalten und weniger eine Theorie zur Erklärung individueller Reaktionen auf gesellschaftliche Etikettierung.“ Er habe aber „nur eine geringe Erklärungskraft für die intraindividuelle Verarbeitung eben jener Stigmata“.193 Fremddefinitionen würden keineswegs unvermittelt auf das Selbstverständnis von Personen durchschlagen, sondern durch individuelle Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Bewertungsmuster gebrochen. „Das positive Selbstkonzept der Sonderschüler muss […] als ein Ergebnis selbstwertstabilisierender und -erhöhender Strategien aufgefasst werden. […] Sie attribuieren sich Normalität, wissen aber zugleich um ihre wahre Situation am Rande der Normalität.“194 Die „schockierende Diskrepanz“ zwischen dem positiven Selbstbild der Sonderschüler und dem vermuteten Fremdbild bei den Hauptschülern habe nicht das Selbstbild in Mitleidenschaft gezogen sondern zur Kontaktvermeidung geführt. „Für das positive Selbstbild muss unter Umständen ein hoher Preis gezahlt werden: psychische Defensivität und Entwicklungsretardierungen.“195 Das missverstandene Individuum fühlt sich isoliert und igelt sich ein. Die negative Selbsteinschätzung der Sonderschüler in Bezug auf „Geselligkeit“ und „Lebensfreude“ bestätigen das. (2) Angesichts solcher Befunde legt es sich nahe, die „Stigma-IdentitätsThese“ selbst einer Revision zu unterziehen. Dabei geht es nicht darum, den symbolischen Interaktionismus zu verabschieden sondern zu differenzieren. Ein Identitätskonzept, das bei der sozialen Konstitution des Selbst nicht stehen bleibt, sondern zugleich mit der „Annahme eines ‚aktiven‘ Selbsts“196 verbunden ist, hat beispielsweise Hans-Peter Frey entwickelt. Die Identitätsdynamik als der „Prozeß des Hereinholens der Außenwelt in die Innenwelt“197 lässt sich nach Frey nur dann angemessen verstehen, wenn dabei die soziale und die personale Dimension nicht verwischt, sondern in ihrer Eigenart angemessen erfasst werden. Die Selbstreflexion, die innerhalb dieses Prozesses statt hat, ist nach Frey keine bloße Widerspiegelung sondern „ein aktiver Prozeß der Auswahl und Interpretation, der Gewichtung der in einem sozialen Definitionsraum angebotenen Merkmale und ihre (durchaus nicht immer harmonische oder stabile) „Synthese“ mit den im Verlauf der Biografie zu „Selbst-Erfahrungen“ geronnenen Identitätsdesignata der subjektiven Innenwelt“.198 Drei verschiedene Aspekte dieses Prozesses „des Hereinholens der Außenwelt in die Innenwelt“199 seien zu unterscheiden. In der Außenperspektive geht es um die Zuschreibung, die eine Person durch ihre Interakti————— 193 194 195 196 197 198 199

Ebd., 482. Ebd., 484. Ebd., 487. Frey, Die Änderungsdynamik abweichender Identitäten bei Jugendlichen, 184. Frey/Haußer, Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, 16. Ebd. Ebd.

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onspartner erfährt (a). Sowohl ein persönlicher wie auch ein sozialer Status würden ihr dabei von außen zugeordnet: so hat ein Mensch einerseits einen Namen und gilt andererseits beispielsweise als Punk, hochbegabtes Kind, Mensch mit Behinderung o.ä. Indem die betreffende Person diese externen Zuschreibungen aufnimmt, vollziehe sich eine Dynamik der Identitätsbildung in der Innenperspektive des Individuums (b). Dabei komme dem Wechselverhältnis von sozialem und privatem Selbst eine entscheidende Rolle zu. Als soziales Selbst bezeichnet Frey diejenige „Konfiguration an Selbsterfahrungen […], die der einzelne unmittelbar aus seiner Umwelt ableitet. […] Es ist die in die Innenperspektive des Subjekts übernommene wahrgenommene Außenperspektive, nicht die Außenperspektive selbst.“200 Im sozialen Selbst steht das vermutete Bild im Mittelpunkt, das die eigene Person in der Meinung ihrer sozialen Umwelt hat. Das private Selbst dagegen nehme eine Selbstinterpretation aus der eigenen, persönlichen Perspektive vor. Es beziehe sich dabei auf die „internen Selbst-Erfahrungen, die die Person als bewahrtes Wissen über sich selbst, als ein Teil ihrer Biographie ‚anerkannt‘ hat“.201 Das aus dieser Interpretation hervorgehende Selbstbild setze sich annehmend oder ablehnend mit den Inhalten des sozialen Selbst auseinander. Aus diesem Wechselverhältnis von sozialem und privatem Selbst in der Innenperspektive des Individuums resultiere der dritte Aspekt der Identitätsdynamik, nämlich die Ausbalancierung von sozialem und privatem Selbst, d.h. die Herstellung einer balancierten Identität (c). Das Entscheidende an diesem Wechselverhältnis sei nun die Frage, wie viele und welche Informationen die Person aus ihrer sozialen Selbst-Erfahrung in ihre private SelbstErfahrung übernimmt. Die Annahme der „Stigma-Identitäts-These“ würde an dieser Stelle eine weitgehende Adaption des sozialen in das private Selbst nahe legen. Freys eigene Untersuchungen legen allerdings ein differenzierteres Wechselverhältnis nahe. Eine Befragung von 512 jungen Straftätern (JS) und einer Vergleichsgruppe (PEER; n = 211) ist zum Ergebnis einer lediglich „geringen Korrelation zwischen Sozialem und Privatem Selbst“202 gekommen. Auf einer siebenstufigen Bewertungsskala (7 = max.) wurde u.a. der Stellenwert des Primäretiketts „kriminell“ im sozialen wie auch im privaten Selbst-Konzept eingeordnet. Für die Gruppe der jungen Straftäter (JS) konnte dabei eine erhebliche Differenz nachgewiesen werden. Während die Einschätzung für das soziale Selbst bei einem Mittelwert von 5,0 lag, blieb sie für das private Selbst mit 2,5 erheblich darunter. In der Vergleichsgruppe lagen die Werte bei 2,5 und 1,9. Frey kommentiert dieses Ergebnis: „In unseren Daten kommt bei den JS ein tendenziell abweichendes Soziales Selbst, ————— 200 201 202

Ebd., 18. Ebd. Frey, Die Änderungsdynamik, 182.

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dem ein tendenziell nicht abweichendes Privates Selbst […] diskrepant gegenübersteht, am häufigsten vor.“203 Offenbar muss zwischen beiden Dimensionen des Selbst keineswegs ein synchrones Gleichgewicht bestehen. Diskrepanzen, so Frey, seien durchaus „normal“ und würden innerhalb bestimmter Grenzen ausbalanciert und ausgehalten. So könnte der öffentlich Verurteilte seinem sozialen Selbst beispielsweise die private Bilanz gegenüberstellen, dass er in zahlreichen anderen Lebenssituationen nicht abweichend gewesen ist. „Innere Gegenwelten“ könnten entwickelt und dem Stigma gegenübergestellt werden. Solange sich die betreffende Person dabei nicht in Scheinwelten verliere, würde ihre Handlungsfähigkeit dadurch nicht eingeschränkt sondern eher noch gestärkt. In das Private Selbst würden mithin abweichende Statusdefinitionen in deutlich geringerem Maße übernommen. Es entwickle sich eher allmählich in Richtung auf den abweichenden Pol. Frey resümiert seine Untersuchungsergebnisse mit einem Zitat von William B. Swann Jr., der es als „grob irreführend“ bezeichnet hat, „Menschen als passive Kreaturen zu charakterisieren, die mit Staunen beobachten, wie ihre Selbstkonzeption von den um sie herumwirbelnden situationalen Zwängen wohl oder übel hin- und hergestoßen werden. Es ist vielmehr treffender, Menschen als aktiv Handelnde zu begreifen, die versuchen, nachdem sie Vorstellungen von sich selbst entworfen haben, die soziale Wirklichkeit mit diesen Vorstellungen in Einklang zu bringen. Aus dieser Sicht sind Selbst-Konzeptionen sowohl Determinanten als auch Ergebnisse der sozialen Wirklichkeit.“204 (3) Identität ist offenbar ein Beziehungsbegriff. Sie ist Ausdruck einer Relation, in der Menschen die divergierenden Perspektiven des sozialen und des privaten Selbst ausbalancieren. „Identität integriert Privates und Soziales Selbst, berücksichtigt auch andere Rahmeninformationen, leitet das Handeln an und bestimmt die Identitätsdarstellung.“205 Versteht man die Identitätsdynamik als ein solches Beziehungsgeschehen zwischen einer aktiv zuschreibenden sozialen Umwelt und einem ebenfalls aktiven Selbst, dann wird auch der Eindruck einer Zwangsläufigkeit vermieden, mit der Stigmatisierungen zu einer beschädigten Identität führen. Vielmehr steht das Individuum innerhalb dieser Beziehungsdynamik unter der durchgängigen Herausforderung „(1) die Kontinuität (seiner) privaten Selbsterfahrung zu sichern und (2) die Inkonsistenz zwischen sozialer und privater Selbsterfahrung auszugleichen bzw. erträglicher zu halten“.206 Um die Kontinuität und Konsistenz seiner ausbalancierten Identität zu sichern, kann das Individuum mit unterschiedlichen Identitätsstrategien den Stigmatisierungen ————— 203 204 205 206

Ebd., 185. Swann, Self-verification, 1983, 60, zit. nach: Frey, Die Änderungsdynamik, 190. Cloerkes, Soziologie der Behinderten, 162. Frey, Stigma und Identität, 1983, 71, zit. nach: Cloerkes, 166.

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begegnen. So kann es beispielsweise bezüglich des sozialen Selbst den veränderten Bewertungen widersprechen, ausweichen oder diese leugnen. Auf der Ebene des privaten Selbst kann es die Relevanz der negativen Bewertung einschränken. Dann allerdings, wenn es die Identitätsstrategien auf beiden Ebenen nicht länger zulassen, eine positive Selbsterfahrung aufrecht zu erhalten, muss eine neue Balance zwischen dem privaten Selbst und den Bewertungen der Umwelt hergestellt werden. (4) Günther Cloerkes hat sich im Anschluss an Freys Identitätskonzept mit Strategien der Entstigmatisierung von Menschen mit Behinderung beschäftigt. Seine These lautet: „Eine gelungene soziale Integration behinderter Menschen trägt ganz entscheidend zur Identitätsentwicklung bei, verhindert ‚beschädigte Identität‘ und führt zur Entstigmatisierung.“207 Eine gelungene personale Integration fördere die Entfaltung eines positiven personalen Selbst; eine gelungene soziale Integration die Entfaltung eines positiven sozialen Selbst. Beide gemeinsam „konstituieren ein Selbst, das Einfluß und Widerstand auf das Fremdbild ausübt und dieses im Sinne real erlebter Verhältnisse verändern und fortschreiben kann. Sogenannte ‚beschädigte Identitäten‘ sind unter integrativen Bedingungen reversibel.“208 Damit bin ich bereits beim zweiten Teil meiner praxisorientierten Überlegungen: der Frage nach einer inklusiven Sozialität. 5.7.2 „Es ist normal, verschieden zu sein“. Inklusion und „Community Care“ als Leitbilder eines gesellschaftlichen Zusammenlebens Theorien der Intersubjektivität sind eminent praktisch. In den gelebten menschlichen Sozialverhältnissen kommen nicht nur Auffassungen über das grundsätzliche Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sondern auch über das konkrete Zusammenleben unterschiedlicher Subjekte und Personengruppen zum Tragen. Die Lebens-, Wohn- und Kooperationsformen sind davon ebenso geprägt wie die Arbeits-, Rechts und Beteiligungsverhältnisse. Für Menschen mit einer geistigen Behinderung sind diese sozialen Strukturen von existenzieller Bedeutung, weil sich an ihnen ihre gesellschaftliche Partizipation entscheidet. (1) Die Behindertenpädagogik der Nachkriegszeit hat – in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen – an das Modell der Anstaltsbetreuung angeknüpft, das sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgemein durchgesetzt hatte.209 In großen, oft für mehr als hundert Bewohnerinnen ————— 207 208 209

Cloerkes, ebd., 180. Ebd. Einen geschichtlichen Überblick gibt Theunissen, Wege aus der Hospitalisierung, 18–38.

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ausgelegten und meist außerhalb der Städte erbauten Anstalten lebten Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Regel in großen Aufenthaltsund Schlafräumen und über lange Zeit in geschlechtshomogenen Gruppen. Personen mit einer schweren geistigen Behinderung haben darüber hinaus vielfach fehlplatziert auf Langzeitstationen psychiatrischer Krankenhäuser oder in Alten- und Pflegeheimen gelebt.210 In der Bundesrepublik haben die Psychiatrie-Enquete aus dem Jahre 1975 und die Rezeption des sog. Normalisierungsprinzips ab Mitte der 1970er Jahre zu veränderten Konzepten und der Forderung geführt, „die Lebens- und Umweltbedingungen für geistig Behinderte so zu gestalten, daß sie, soweit wie möglich, den jeweiligen Gegebenheiten, die für ‚Normale‘ gelten, entsprechen.“211 Allerdings ist es in den Folgejahren nur langsam und inkonsequent zu einer Umsteuerung der sog. Behindertenhilfe gekommen, weil nur selten das Modell des stationären Wohnens in Frage gestellt worden ist. Normalisierung wurde „häufig nur als eine Humanisierung von Lebensbedingungen innerhalb bestehender Großeinrichtungen in Betracht gezogen“.212 Das gilt auch für den Umgestaltungsprozess der sog. Behindertenhilfe in Ostdeutschland. Hier ist ebenfalls das dreigliedrige Wohnkonzept umgesetzt worden, das stationäre, halbstationäre und ambulante Angebote beinhaltet. Die angestrebte Durchlässigkeit zwischen Wohnstätten, Außenwohngruppen und ambulant betreuten Wohnformen ist allerdings in der Praxis nicht erreicht worden, weil in den ersten Jahren vor allem in den Bau und die Rekonstruktion von Wohnstätten investiert worden ist. In Sachsen bildeten die stationären Wohnformen noch im Jahr 2001 84% der gesamten Wohnangebote.213 In Deutschland lebten im Jahr 2000 insgesamt 160.346 Menschen mit Behinderung in 4.107 stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe.214 Das entspricht einer durchschnittlichen Größe von 39 Bewohnerinnen in einer Einrichtung. Noch immer existieren aber auch noch zahlreiche sog. Großoder Komplexeinrichtungen mit einer deutlich größeren Zahl von Wohnplätzen. Zu einer Auflösung oder erheblichen Verkleinerung von Großeinrichtungen ist es bislang nur in vergleichsweise wenigen Fällen gekommen.215 —————

210 Vgl. zur Fehlplatzierung von Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung in der DDR und insbesondere in Sachsen: Liedke/Lippstreu, Freiräume, 16f, 66. 211 Deutscher Bundestag (Hg.), Bericht über die Lage der Psychiatrie, 9. 212 Theunissen, Zeitgemäße Wohnformen, 62. 213 Sächsisches Staatsministerium für Soziales (Hg.), Dritter Bericht, 13. Vgl. zur Entwicklung der verschiedenen Wohnangebote im Zeitraum von 1990 bis 2002 in Sachsen: Liedke/ Lippstreu, Freiräume, 50–65. 214 Deutscher Bundestag (Hg.), Bericht der Bundesregierung 2004, 128. 215 Vgl. Theunissen, Wege aus der Hospitalisierung, 62–68. Zwei neuere Beispiele für eine nachhaltige Umstrukturierung und Dezentralisierung bieten die Evangelischen Stiftungen Alsterdorf (Hamburg) und Hephata (Mönchengladbach).

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Menschsein im Werden. Aspekte einer inklusiven Anthropologie

Mein kurzer Überblick zeigt, dass in den letzten Jahrzehnten einerseits erhebliche Anstrengungen zum Umbau der sog. Behindertenhilfe unternommen worden sind, die Realität des Wohnens andererseits aber noch weit von einer wirklichen Normalität entfernt ist. Die von mir skizzierte Entwicklung und Situation des Wohnens für Menschen mit einer geistigen Behinderung lässt zugleich auch Modelle von Sozialität erkennen. Das Konzept der Anstalt, das am Anfang der Nachkriegsentwicklung stand, ist das einer gesellschaftlichen Exkludierung von Menschen mit geistiger Behinderung. Man könnte es das einer separierten Sozialität nennen. Interpersonale Verhältnisse werden nur innerhalb einer homogenisierten Betroffenengruppe zugelassen. Die Umsetzung des dreigliedrigen Wohnkonzeptes hat mit dem Paradigma der Anstalt und dem hinter ihr stehenden Konzept von Sozialverhältnissen gebrochen. Es orientiert sich stattdessen am Leitbild der Integration von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft. In der Behindertenpädagogik ist oft darauf aufmerksam gemacht worden, „daß soziale Integration keine Einpassung behinderter Menschen in Lebenszusammenhänge nichtbehinderter Menschen darstellt, sondern einen Wechselwirkungsprozeß, bei dem sich beide Seiten aufeinander zu verändern, so daß gegenseitig adäquate Beziehungen und Verbindlichkeiten, kurzum mehr Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit entstehen“.216 Die Realität des Wohnens von Menschen mit geistiger Behinderung zeigt jedoch, dass dies nach wie vor ein unabgegoltenes Postulat darstellt. (2) Inzwischen sind in der Behindertenpädagogik vermehrt Stimmen zu hören, die das Leitbild der Integration ablösen und durch das der Inklusion ersetzen wollen. Sie kritisieren am Integrationsparadigma, dass es von der Beziehung zweier relativ homogen gedachter Gruppen ausgeht: Menschen mit und ohne Behinderung. Gemäß einem auf die jeweilige Schädigung bezogenen Hilfeansatz werden Menschen mit Behinderung individuelle Unterstützungsangebote gemacht. In der Praxis allerdings erschöpfe sich Integration häufig in „einem räumlichen Bei- oder Nebeneinander; Interaktion, soziales Eingebundensein und emotionales Wohlbefinden kommen weniger in den Blick“.217 Die Praxis zeige, dass Integration meist nur für diejenigen realisiert werde, die nicht zu verschieden von dem sind, was gerade als ‚normal‘ gelte. Demgegenüber geht das Modell der Inklusion von der unmittelbaren Zugehörigkeit218 jedes Menschen zu einer pluralen Gesellschaft aus. Einer Gesellschaft, in der es normal ist, verschieden zu sein. „Es geht diesem Verständnis nach nicht um die Einbeziehung einer Gruppe ————— 216

Speck, System Heilpädagogik (1998), 394. Hinz, Von der Integration zur Inklusion, 355. 218 Vgl. Theunissen, Inklusion – Schlagwort oder zukunftsweisende Perspektive?, in: Theunissen/Schirbort (Hg.), Inklusion, 13. 217

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Sozialität

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von Menschen mit Schädigungen in eine Gruppe Nichtgeschädigter, vielmehr liegt die Zielsetzung in einem Miteinander unterschiedlichster Mehrund Minderheiten – darunter auch die Minderheit der Menschen mit Behinderung.“219 Inklusion, Diversität und Anerkennung sind deshalb eng auf einander bezogen. (3) In Verbindung mit dem Inklusionsparadigma gewinnt derzeit das Konzept „Community Care“ eine wachsende Bedeutung,220 das auf eine wechselseitige Unterstützung und Verantwortung im Gemeinwesen abzielt. „Community Care“ konzipiert ein Zusammenleben, bei dem es für Menschen mit Behinderung selbstverständlich ist, „dass sie in Nachbarschaft zu allen Einwohnern eines Dorfes, eines Stadtteils, einer Stadt leben und arbeiten. Spezifische Lebenserschwernisse (Behinderungen) von Menschen sollen nicht mehr zu deren Ausgliederung aus den gewohnten Lebensräumen und zur Unterbringung in Heimen führen, sondern dezentrale Wohnund ambulante Unterstützungsformen sollen wohnortnah zur Verfügung stehen und Menschen mit spezifischen Lebenserschwernissen die Kontrolle über ihr eigenes Leben sichern“.221 Das Konzept geht deshalb von einem selbstbestimmten Leben behinderter Menschen mit gleichen Rechten und Pflichten innerhalb der Gesellschaft aus. Der Aufbau eines umfassenden Systems ambulanter Hilfen und Assistenzen in den Wohnquartieren soll mit der Auflösung aller stationären Angebote einhergehen, in denen mehr als acht bis zehn Menschen mit Behinderung leben. Einige Vorschläge gehen davon aus, dass bereits alle Wohngruppen mit mehr als sechs Personen zu groß sind.222 Darüber hinaus zielt „Community Care“ auf den Aufbau und die Stärkung eigener sozialer Netzwerke von Menschen mit Behinderung. Durch „die Förderung und Unterstützung tragfähiger Beziehungen im direkten Wohnumfeld mit der Nachbarschaft“223 soll die vollwertige Teilhabe an Gesellschaft (sog. „full membership“) realisiert werden. „Community Care“ geht über die Theorie und Realität der gegenwärtigen Integrationspolitik hinaus, indem selbstbestimmte Lebensführung und soziale Kooperation auf der Basis einer umfassenden Partizipation mit einander verbunden werden. Wenn es gelingt, das Konzept weiter zu entwickeln, zu implementieren und gegen seine Instrumentalisierung im Zusammenhang ————— 219

Hinz, ebd., 355. Vgl. Störmer, Community Care; Kraft, Nur eine Mode?; Maas, Community Care in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, in: Theunissen/Schirbort (Hg.), Inklusion, 141–169.; Community-Care-Diskussion in der Behindertenhilfe des Rauhen Hauses u. d. T.: Community Care – ein neues Paradigma der Behindertenhilfe in Hamburg?; sowie der Evangelischen Stiftung Alsterdorf unter dem Titel: Community Care. 221 Störmer, Behindertenhilfe, 506. 222 Vgl. Theunissen, Zeitgemäße Wohnformen, 64. 223 Ebd., 76. 220

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des Einsparungsdrucks in der Behindertenarbeit zu schützen, kann es dazu beitragen, eine inklusive Sozialität Wirklichkeit werden zu lassen, ein Sozialverhältnis, in dem es tatsächlich normal ist, verschieden zu sein. (4) Inklusion und „Community Care“ sind vergleichsweise neue Leitbilder der Behindertenpädagogik. Der Gedanke einer „Gemeinschaft der Verschiedenen“ ist allerdings als solcher keineswegs neu. Ich möchte im Schlussabschnitt dieses Kapitels an ein Memorandum erinnern, in dem bereits in den 1970er Jahren theologische Überlegungen zu ähnlichen Ergebnissen und wichtigen Konsequenzen für die Gestalt der Kirche gelangt sind. Dabei handelt es sich um das Memorandum „Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde“. Es stellt das Ergebnis einer ökumenischen Konsultation dar, zu der sich Vertreterinnen aus 15 Ländern vom 3.–7. April 1978 in Bad Saarow getroffen hatten. Zu Beginn erinnern die Teilnehmerinnen an die fünfte Vollversammlung des ÖRK in Nairobi (1975), auf der betont worden war, dass die „Einheit der Kirche […] die „Behinderten“ und die „Unbehinderten“ einschließen“ muss. Dort dagegen, wo sie „als die Schwachen“ und nicht „als völlig verpflichtete und integrierte Glieder des einen Leibes Christi und der einen Menschheitsfamilie“ behandelt würden, ignoriere man „den besonderen Beitrag, den sie leisten können“.224 Daran schließt der Text des Memorandums an: „2. Die in Nairobi betonte Ganzheit der Familie Gottes bedingt die volle Annahme der Behinderten in Leben, Zeugnis und Dienst der Kirche. Diese volle und unbedingte Annahme der Behinderten muß mitten im Zentrum kirchlichen Lebens geschehen und darf nicht an den Rand gedrängt oder in eigene Arbeitsfelder abgeschoben werden. 3. Wenn wir uns zu der vollen Einheit aller Menschen in der Familie Gottes bekennen, stellen wir damit in aller Deutlichkeit fest, daß niemand aus ihr entlassen oder ausgestoßen werden darf, wie schwer auch die Behinderung sein mag. Keine körperliche, geistige oder sensorische Behinderung, gleich welcher Art und Schwere, darf zum Vorwand genommen werden, die Zusammengehörigkeit aufzukündigen. Eine Gemeinde ohne Behinderte gibt es nicht. Wo die Behinderten fehlen, ist eine Gemeinde behindert. 4. […] Die christliche Gemeinde steht fortwährend unter dem Ruf, sich um ihren Herrn zu sammeln. Sammlung und Integration aller Glieder seines Leibes gehören zum bleibenden Auftrag der Christenheit. Es ist deshalb angemessen, von einer wechselseitigen und fortwährenden Integration der Behinderten und Nichtbehinderten zu sprechen. Was Christus in der Taufe in seinem Leib zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“225 ————— 224 225

Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde, 76. Ebd., 77f.

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Im Anschluss an diese grundsätzlichen Erwägungen zieht das Memorandum Schlussfolgerungen, die sich mit der Gestaltung von Hilfestrukturen und kirchlichen Lebensformen beschäftigen. So wird beispielsweise gefordert, die Kirchen müssten „über die mit ihren Einrichtungen gegebene Lösung hinausgelangen und mit Entschlossenheit dafür eintreten, daß die Behinderten mitten im Leben der Gemeinden angenommen werden.“226 Dazu regt der Text u.a. den Abbau von „Barrieren der gottesdienstlichen und liturgischen Formen“, eine gemeindliche „Anwaltschaft für und mit den Behinderten“, Entlastung bei der Pflege, Assistenz bei der Alltagsbewältigung, gemeinsame Freizeitprojekte sowie die Unterstützung jugendlicher Behinderter in ihrem Streben nach selbstbestimmten Wohn- und Lebensformen an. Sicher ist das Bad-Saarow-Memorandum in manchen Passagen mit den Integrationskonzepten seiner Zeit verknüpft und wird von ihnen her begrenzt. Durch heutige Konzepte, wie das des „Community Care“, wäre es weiter zu führen. Die theologische Einsicht aber, dass der Leib Christi die volle, fortwährende und wechselseitige Inklusion seiner unterschiedlichen und verschieden begabten Glieder mit sich bringt, ist nach wie vor gültig. Deshalb bleibt auch die Herausforderung für das kirchgemeindliche Leben uneingeschränkt gültig: „Eine Gemeinde ohne Behinderte gibt es nicht. Wo die Behinderten fehlen, ist eine Gemeinde behindert.“

————— 226

Ebd., 80.

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6. Glaube oder: „der Glaube schafft die Person“ (Martin Luther) Glaube Zum Beispiel Monika. Gerade 18 Jahre alt geworden, lebte sie zum damaligen Zeitpunkt in einer traditionsreichen diakonischen Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung. Die meisten ihrer Mitbewohnerinnen hatten eine schwere geistige Behinderung. Täglich wurde von der Gruppenleiterin nach dem Frühstück in der Wohngruppe eine kurze Andacht gehalten. Eines Tages war die Gruppenleiterin nicht da. Monika übernahm an ihrer statt die Andacht. Ohne lesen zu können, trug sie in einer Hand ein aufgeschlagenes Liederbuch. Mit der anderen führte sie den Arm einer jüngeren Mitbewohnerin. Mit ihr ging sie von Platz zu Platz, „führte die Hand und streichelte über jeden Kopf, indem sie sang und jedes Mädchen bei dem eigenen Namen nannte: Jesus hat die Heike, Ines, Sabine lieb, Halleluja, Halleluja! Im Raum war vollkommene Ruhe […]. Alle […] waren in das Geschehen einbezogen. Man hörte nur Monika singen [und] jeden Namen aussprechen“.1 Das Beispiel entstammt einem Beitrag über „Die therapeutische Bedeutung christlicher Lebensformen für geistig Behinderte“. Hanns-Joachim Wollstadt, der damalige Bischof der Görlitzer Landeskirche und Paul Meis, theologischer Leiter der Neinstedter Anstalten, reflektieren in ihm Erfahrungen in und aus Wohneinrichtungen der Inneren Mission. Die Beispiele ihres Erfahrungsberichtes machen auf eindrückliche Weise deutlich, dass christlicher Glaube und geistliches Leben eine prägende und identitätsstiftende Lebensdimension sind. Nicht nur für Menschen mit geistiger Behinderung. Diese These fordert zu einer anthropologischen Diskussion heraus: gehört Religiosität zum Menschsein hinzu? Ist der Mensch, wie Dorothee Sölle formuliert hat „unheilbar religiös“? Oder trifft die gegenteilige These zu, die Dietrich Bonhoeffer in einflussreicher Weise vertreten und stark gemacht hat: „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein.“2 Verändern sich die Einschätzungen, wenn statt von „Religion“ von „Glaube“ gesprochen wird? Innerhalb dieses Kapitels sind solche und eine Reihe weiterer Fragen zu erörtern. Das menschliche Gottesverhältnis steht zur Diskussion. Sein Grundverhältnis. ————— 1 2

Meis/Wollstadt, Die therapeutische Bedeutung christlicher Lebensformen, 190. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, 403.

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Für den ersten biblischen Schöpfungsbericht ist es – wie für die gesamte biblische Tradition – selbstverständlich, dass der Mensch als Bild Gottes in einer unhintergehbaren Gottesbeziehung steht. Aber ist diese Beziehung auch allgemein anthropologisch plausibel zu machen? Die Reflexion dieser Frage wird sich mit Aspekten mehrerer zentraler Begriffe beschäftigen müssen: „Glaube“, „Religion“, „Religiosität“ – um die wichtigsten zu nennen. Dabei können viele Facetten nicht berücksichtigt werden.3 Im Mittelpunkt steht allein die Frage, ob – und gegebenenfalls in welcher Weise – eine in Glaube, Religion oder Religiosität zum Ausdruck kommende Gottes- oder Transzendenzbeziehung als unhintergehbare Dimension des Menschseins anzusehen und zu berücksichtigen ist.

6.1 Leben im Glauben. Biblische Perspektiven der Gottesbeziehung (1) „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“ (Gen 1,27). Das zeichnet den Menschen nach der Priesterschrift aus. Gegenüber allen anderen Geschöpfen, mit denen er als Geschöpf verbunden ist, unterscheidet ihn diese seine Charakterisierung als Bild Gottes. Und das heißt: ein unhintergehbares Spezifikum des Menschseins besteht darin, dass er aus und in einer Beziehung zu Gott lebt. Nach Hans Walter Wolff besteht „das Entsprechungsverhältnis, auf das die Wendung „Bild Gottes“ hinweist, zuerst darin […], daß der Mensch im Hören und dann auch im Gehorchen und im Antworten dem Worte der Anrede Gottes entspricht.“4 Von dieser Beziehung zu Gott sind nicht nur die Schöpfung sondern auch der gesamte weitere Weg des Volkes Israel getragen. Die Priesterschrift beschreibt ihn als eine „Setzungsgeschichte Gottes“ (O.H.Steck), in der Gott eine ewig gültige kultische Ordnung stiftet und inmitten seines Volkes seinen Wohnsitz nimmt. „Der von ihm gestiftete Kult sühnt und reinigt das Volk und bewahrt es in seinem rituellen Zusammenhang vor den Mächten der dämonischen Unreinheit“.5 Das Verhältnis der Israeliten zu Gott, das „wegen der Verunreinigungen der Israeliten und wegen ihrer Übertretungen, mit denen sie sich versündigt haben“ (Lev 16,16) gestört ist, wird durch das Sündopfer am großen Versöhnungstag sowie durch den regelmäßigen Opferkult entsühnt (vgl. Lev 9,16). Dieses im Kult erneuerte Gottesverhältnis ist aber ————— 3 So werde ich mich nicht intensiv mit der Struktur des Glaubens sowie seinem Gegenstand, Inhalt und Zustandekommen beschäftigen können. Aspekte dieser Themen werde ich in meine Darstellung so einbeziehen, dass sie ganz auf die Frage nach der Gottesbeziehung des Menschen fokussiert sind. 4 Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 149f. 5 Kaiser, Einleitung in das Alte Testament, 110f.

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kein anderes als das in der Schöpfung des Menschen zum Bild Gottes konstituierte Grundverhältnis. Deshalb lässt die Priesterschrift auch keinen Zweifel daran, dass der Mensch auch nach dem Sündenfall Gottes Bild ist – und so in einer bleibenden Gottesbeziehung steht (vgl. Gen 5,1; 9,6). Auch der zweite, jahwistische Schöpfungsbericht, betont auf seine Weise die buchstäblich lebenstragende Bedeutung der Gottesbeziehung für das Menschsein: „Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen“ (Gen 2,7). In diesem Text kommt der Atem als das individuelle Lebensprinzip in den Blick. „Das besagt nichts weniger, als daß der Mensch sein Leben der Teilnahme am Lebensodem Gottes […] verdankt. Umgekehrt stirbt der Mensch, wenn Gott ihm diesen Odem wieder entzieht.“6 Diese Vorstellung ist in der gesamten hebräischen Bibel weit verbreitet (vgl. Jes 42,5; Hi 34,14 u.ö.). Die Unhintergehbarkeit der Gottesbeziehung wird so neben der relationalen Ebenbildlichkeit auch durch die durchgängige Angewiesenheit des Menschen auf den göttlichen Lebensatem begründet. (2) So ist der Mensch im Verständnis der hebräischen Bibel durchgängig auf Gott bezogen und dazu bestimmt, sein Leben in dieser Beziehung zu Gott zu verwirklichen. Spätestens seit exilischer Zeit wird zur spezifischen Charakterisierung dieses Gottesverhältnisses auch das Verb „glauben“ verwendet. „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ (Jes 7,9) mahnt der Prophet Jesaja den judäischen König Ahas. Einer der Grundtexte des jüdischen Glaubensverständnisses.7 Das hebräische Verb !ma (‘mn) bezeichnet hier im ersten Satzteil den vertrauensvollen Akt, der sich auf das dauerhafte und zuverlässige Handeln Gottes bezieht und es treu annimmt.8 Ähnlich heißt es auch in 2Chr 20,20: „Glaubet an den HERRN, euren Gott, so werden ihr sicher sein“. In der weisheitlichen Literatur spielt auf der anderen Seite der Aspekt der Gottesfurcht eine zentrale Rolle.9 „Der Weisheit Anfang ist die ————— 6

Kaiser, Der Gott des Alten Testaments, Bd. 2, 286. Jes 7, 9b wurde lange Zeit als „Geburtsstunde des alttestamentlichen Glaubensbegriffes“ (Kaiser, Der Prophet Jesaja, Kap. 1–12, 143) bezeichnet. Mittlerweile ist es aber forschungsgeschichtlich umstritten, ob die beiden maßgeblichen Texte, Jes 7,9 und 28,16 auf Jesaja zurückgehen oder eine spätere Ergänzung sind. Otto Kaiser datiert Jes 7,9b auf das späte sechste oder frühe fünfte Jahrhundert v.Chr. (ebd.) und Jes 28,16b auf die Zeit nach der Katastrophe des Jahres 587 v.Chr. (Kaiser, Der Prophet Jesaja, Kap. 13–39); Klaus Haacker hält es dagegen nach wie vor für möglich, das Jesaja der „Schöpfer des theologischen Glaubensbegriffs war“ (Haacker, Art. Glaube, 280–282, Zitat: 282). 8 Vgl. Kaiser, Art. Glaube, 944. Das Verb !ma (‘mn) bedeutet im Niphal u.a.: fest sein; dauerhaft, beständig sein; zuverlässig, treu sein; wahr befunden werden; in Jes 7,9 wird es im ersten Satzteil im Hiphil gebraucht und bedeutet in dieser Zeitform trauen; getrost, vertrauensvoll sein. Im zweiten Satzteil findet sich die Niphal-Form, die Luther mit „bleiben“ übersetzt hat. Vgl. Gesenius, Handwörterbuch, 48. 9 Vgl. Wolff, ebd., 193–195. 7

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Furcht des Herrn, und den Heiligen erkennen, das ist Verstand“ (Spr 9,10). Obwohl im Begriff „Gottesfurcht“ (hw"hy> ta;r>yI) in stärkerem Maße kognitive Aspekte präsent sind, geht seine Bedeutung deutlich darüber hinaus. Das „Wissen um Gott“ schließt die Bindung an ihn und ein davon geprägtes Verhalten ein. Ja, der Begriff „Gottesfurcht“ schließt sogar Elemente des Vertrauens ein.10 So prägen „Glaube“ und „Gottesfurcht“ gleichermaßen das individuelle Leben in dessen durchgängiger Bezogenheit auf Gott. Sie finden Ausdruck im Antwortverhalten des Menschen gegenüber Gott, im Lobpreis (vgl. Ps 145,1–3) ebenso wie in der Klage (vgl. Ps 69,2–4), im Dank (vgl. Ps 9,2) oder gar in der Anklage (vgl. Hi 13). (3) Das theologische Denken der ersten Christen hat sich in der Aufnahme, Weiterführung und Neuakzentuierung von Motiven und Inhalten der jüdischen Tradition entwickelt. Ich konzentriere mich hier erneut auf die Theologie des Paulus. Dieser versteht in Übereinstimmung mit der Tradition die gesamte Welt als Schöpfung Gottes. In der Rezeption und Präzisierung einer aus dem hellenistischen Judentum stammenden Formel preist Paulus das unerforschliche Wirken Gottes: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge“ (Röm 11,36). Die ursprünglich nur kosmologisch akzentuierte Formel wird von Paulus hier wie auch andernorts (vgl. 1Kor 8,6) durch ihre Verbindung mit dem Heilshandelns Gottes präzisiert und von einem pantheistischen Missverständnis befreit: von Gott kommt alles her und auf das Ziel seines Erbarmens (vgl. V. 32) ist alles hingeordnet.11 Die Wirklichkeit der Welt und des menschlichen Lebens kann ohne Bezug auf Gott als ihren Grund und Ziel gar nicht verstanden werden.12 Die breit angelegte theologische Argumentation des Römerbriefes hat Paulus gerade so aufgebaut, dass diese konstitutive Gottesbezogenheit gleichermaßen für Juden und Heiden – und das heißt: für alle Menschen als unhintergehbar aufgewiesen wird. Für die Juden konkretisiert sich ihr Gottesverhältnis im Gesetz. Für die Heiden dagegen gilt: „Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken“ (Röm 1,20). Das Gesetz ist ihnen „in ihr Herz geschrieben“ und wird ihnen durch ihr Gewissen bezeugt (Röm 2,14). Das Gottesverhältnis erweist sich so als Konstitutionsbedingung und als konkreter Anspruch an die menschliche Existenz. Aber gerade diesem Anspruch entsprechen weder Juden noch Heiden. Vielmehr widersprechen sie Gottes Gesetz und damit der ihr Leben tragenden Gottesbeziehung. Den Juden wirft Paulus vor, Gott durch die Gesetzesmissachtung zu schänden (Röm 2,23). Mit den Heiden geht er ins Gericht, weil sie „dem Nichtigen ————— 10 11 12

Vgl. v. Rad, Weisheit Israels, 92. Vgl. Wilckens, Der Brief an die Römer, Tlbd. 2, 272f. Vgl. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, 44.

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verfallen sind“ (Röm 1,21). In diesem Zusammenhang spricht Paulus sogar von der Vertauschung der Gottebenbildlichkeit mit einer Tierebenbildlichkeit, denn sie „haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere“ (Röm 1,23).13 Deshalb, so Paulus, „haben [wir] soeben bewiesen, daß alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind“ (Röm 3,9). Ihr Gottesverhältnis ist durch Unverhältnismäßigkeit und Verhältnislosigkeit zerstört (vgl. Röm 3,11f). An dieser Stelle markiert Paulus die von Gott selbst eingeleitete Wende: das Ereignis der Sendung seines Sohnes, „welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt“ (Röm 4,25). In diesem Heilsereignis wird die zerstörte Gottesbeziehung wieder hergestellt. „Im Glauben tritt der Mensch ein in Gottes Zuwendung zur Welt.“14 Deshalb stehen sich Gesetz und Glaube als die beiden entgegengesetzten Modelle des menschlichen Gottesverhältnisses gegenüber. Während der Versuch, durch das Gesetz Gott zu entsprechen, scheitert, gilt jetzt: „So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28). Der Glaube ist nicht zuerst ein menschlicher Akt oder Entschluss. Primär ist er eine Gabe Gottes, eine Frucht seines Geistes: „niemand kann Jesus einen Herrn nennen außer durch den heiligen Geist“ (1Kor 12,3; vgl. Gal 5,22).15 Dieser Glaube muss freilich angenommen werden. Aber die Entscheidung, Gott zu vertrauen und sich auf ihn zu verlassen,16 ist nur die Antwort auf das, was Gott zuerst getan hat und was sich Menschen durch den heiligen Geist erschließt. Durch den Glauben wird mit dem Gottesverhältnis auch das individuelle Selbstverständnis transformiert. Seine Gesetzes- und Leistungsbezogenheit wird korrigiert. An seine Stelle tritt ein erneuertes Selbstverständnis aus dem Glauben an Gottes Heilshandeln in Christus. „Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes“ (Gal 2,19f). Ein Subjektwechsel hat stattgefunden, der dennoch das Subjekt nicht ichlos macht. Das „Leben im Glauben“ ist für Paulus vielmehr die einzige Gott entsprechende Lebensform: sich seiner Gnade verdankend und ihr dankbar in allen Lebensvollzügen entsprechend. „Es geht also nicht um einen subjektlosen Glauben, es geht nicht um eine ausgeschaltete Subjektivität – es geht vielmehr um die tatsächliche Voraussetzung dafür, ‚ich‘ sagen zu können. Sie liegt nicht in der fragwürdigen Selbstkonstitution des ————— 13

Vgl. Wilckens, Der Brief an die Römer, Tlbd. 1, 107f. Schnelle, ebd., 59. 15 Vgl. ebd. 16 Das griechische Verb RKUVGWY (pisteuo) bedeutet „vertrauen“ bzw. „sich verlassen auf“ (vgl. Bultmann, Art. RKUVGWY, 177). 14

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Subjekts, sondern in der neuen Grundrelation des Glaubens, der Christus als Subjekt zu denken wagt. Dieses Wagnis lässt das ‚ich lebe mein Leben‘ als Illusion erkennen, verliert sich jedoch nicht ans Scheitern des Subjekts, sondern ermöglicht Subjektivität auf neue Weise – ich lebe“.17 Obwohl die biblischen Texte noch keineswegs von der neuzeitlichen „anthropologischen Fragestellung“ geprägt sind, ist für sie dennoch – wie meine exemplarische Skizze zeigt – ein durchgängiges Gottesverhältnis des Menschen selbstverständlich: der Mensch verdankt sein Leben der Gewährung durch Gott; er lebt in seiner Beauftragung und mit dem Gesetz im Herzen. Deshalb muss er sich auch vor Gott verantworten. Diese unhintergehbare Lebensbeziehung des Menschen zu Gott wird aber, darin stimmen die biblischen Autoren überein, vom Menschen selbst verfehlt und kann nur durch eine Initiative Gottes „ins Reine“ gebracht werden: als reinigendes, d.h. sühnendes Opfer.18 Paulus reflektiert das Christusgeschehen als diese einmalige und unüberbietbare Versöhnung Gottes mit der Welt (2Kor 5,19). Die dieser Treue, d.h. buchstäblich: Glaub-Würdigkeit Gottes19 und seiner Initiative angemessene Antwort des Menschen ist dann der Glaube. Die ursprüngliche und auch in ihrer Verfehlung nicht fehlende Gottesbeziehung des Menschen und deren Verwirklichung im von Gott gewirkten Glauben sind deshalb beide als Dimensionen der Bezogenheit des Menschen auf Gott festzuhalten.

6.2 Das Gottesverhältnis als „religio“ und „fides“ Nach Friedrich Nietzsche ist der Glaube „der typisch-christliche Zustand“.20 Trotz des antichristlichen Gestus, mit dem Nietzsche diese Beobachtung vorträgt, hat er mit ihr etwas Wahres erkannt: der Begriff des Glaubens und die unter seinem Namen firmierende Lebensform sind erst durch das Christentum zum Inbegriff des wahren Gottesverhältnisses geworden. „Im Christentum erst ist der Glaubensbegriff zur beherrschenden Bezeichnung des Verhältnisses des Menschen zur Gottheit geworden, ist der Glaube als die das Leben durchherrschende Haltung des Frommen verstanden worden.“21 ————— 17

Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament, 204. Obwohl vom Priester vollzogen verdankt sich auch der israelitische Opferkult einer ursprünglichen Initiative Gottes: Gott selbst setzt das Sündopfer ein: „Das soll euch eine ewige Ordnung sein, daß ihr Israel einmal im Jahr entsühnt wegen aller seiner Sünden“ (Lev. 16, 34). 19 Das griech. Verbaladjektiv RKUVQL (pistos) hat im klassischen griech. Sprachgebrauch die Bedeutung von „vertrauend“, „vertrauenswürdig“ und „treu“ (vgl. Bultmann, Art. RKUVGWY, 175f). 20 Nietzsche, Der Antichrist, Werke Bd. 2, 1218. 21 Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 88. 18

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(1) Obwohl „Glaube“ bereits im vorchristlichen, griechischen Denken „einen festen Platz“ und auch „unmittelbare rel.[igiöse] Bedeutung“22 hatte, fungierte er zu dieser Zeit noch keineswegs als Inbegriff einer auf Gott bezogenen und ihm entsprechenden Lebensform. Rudolf Bultmann hält im Ergebnis seiner Untersuchung des klassischen griechischen Sprachgebrauches fest, dass RKUVQL(pistos) „in keinem Sinne zur Bezeichnung des eigentlich religiösen Verhältnisses zu Gott oder zur Bezeichnung der religiösen Grundhaltung des Menschen geworden“23 ist. In der klassischen attischen Philosophie hat er keine exponierte Rolle. Platon verwendet ihn häufiger in der Semantik von „Glauben schenken“24 oder „Fürwahrhalten“.25 In der „Politeia“ ordnet er der den vier Seelenteilen vier abgestufte Zustände der Wahrheitsgewissheit zu: „die Vernunfteinsicht dem obersten, die Verstandesgewißheit dem zweiten, dem dritten aber weise den Glauben an und dem vierten die Wahrscheinlichkeit“.26 Für Aristoteles ist „Pistis“ insbesondere ein „übermäßiges Meinen“.27 Nur selten findet er sich der Begriff bei Platon und Aristoteles im Kontext religiöser Reflexionen. Überhaupt fehlt für die griechische Antike ein einheitlicher Begriff, mit dem die Gottesbeziehung des Menschen zum Ausdruck gebracht wird. Das Gottesverhältnis wird vielmehr mit so unterschiedlichen Begriffen wie bspw. „die Götter ehren“ (VKOCP), „anerkennen, achten, pflegen“ (PQOK\GKP) oder „scheuen, fürchten, sich schämen“ (CB\GUSCK). Darüber hinaus werden Begriffe wie „Ehrfurcht“ (UGDCL) oder „Verehrung“ (STJUMGKC) verwendet.28 Ingesamt, so urteilt Karl Kerényi, gibt es aber „keine griechische Bezeichnung für die religiöse Erfahrung als besondere Erfahrung und für die daraus hervorgehobene Haltung als besondere Haltung“.29 (2) Nicht anders in der römischen Kultur. Obwohl sie traditionell eng mit dem Begriff „religio“ in Verbindung gebracht worden ist, zeigen neuere Untersuchungen, dass „religio“ keineswegs ein Sammel- oder gar Oberbegriff zur Bezeichnung des menschlichen Gottesverhältnisses gewesen ist. Cicero beispielsweise hat „religio“ in engem Zusammenhang mit „pietas“ (Frömmigkeit) und „sanctitas“ (Heiligkeit, Frömmigkeit) reflektiert und dabei sogar den Begriff „pietas“ bevorzugt gebraucht. Am umfangreichsten ————— 22 23 24 25 26 27 28 29

Vgl. Jüngel, Art. Glaube, 953 [Ergänzung von mir; U.L.]. Bultmann, Art. RKUVGWY, 179. Analoges gilt für das Substantiv RKUVKL (pistis) (ebd.). Vgl. Platon, Laches, Werke I/1, 236 (184) u. ö. Vgl. Platon, Gorgias, Werke II/1, 26f (454f). Platon, Der Staat, Werke, III, 234 (511). Aristoteles, Topik, Philosophische Schriften, Bd. 2, 85 (126 b). Vgl. Feil, Religio, Bd. 1, 37. Kerényi, Die Religion der Griechen und Römer, 109f, zit. nach: Feil, Religio, Bd. 1, 37.

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wird das menschliche Verhalten gegenüber den Göttern dagegen mit „deos colere“ (Götter anbeten bzw. verehren) bezeichnet.30 „Religio“ hat erst durch christliche Theologen des zweiten und dritten Jahrhunderts n.Chr. ihre herausgehobene Bedeutung erlangt, durch die sie dann später in allgemeiner Weise das Gottesverhältnis des Menschen bezeichnen konnte. Da der Religionsbegriff aber wirkungsgeschichtlich so bedeutsam geworden ist, soll seine ursprüngliche Bedeutung hier nicht unerwähnt bleiben. Seine Grundbedeutung bei Cicero ist „Scheu“. Sie bezeichnet die gewissenhafte Beachtung alles dessen, was Gott gegenüber zu tun ist. In diesem Sinn steht sie für „die sorgsame Bedachtnahme auf die Pflicht des ‚Kultus‘ und des ‚Ritus‘“.31 Nach Ernst Feil bezeichnet „religio“ „die merkwürdige Verbindung von Scheu und Sorgfalt den Göttern gegenüber, die gleichwohl eine innere Beteiligung nicht verlangte.“32 Gerade das, was vom neuzeitlichen Religionsbegriff nicht wegzudenken ist: das Moment subjektiver Gewissheit und individueller Gottesbeziehung, gehörte also nicht zur ursprünglichen Semantik von „religio“. (3) Es sind also erst christliche Theologen gewesen, die dem Religionsbegriff zu dem entscheidenden Einfluss verholfen haben, den er wirkungsgeschichtlich entfaltet hat und der bis heute anhält. Schon am Ende des zweiten Jahrhunderts findet er sich bei Irenäus von Lyon und Tertullian.33 Laktanz hat im dritten Jahrhundert einen weiteren, entscheidenden Impuls gegeben. Für ihn ist „religio“ Bestandteil der Tugend der Gerechtigkeit im Verhältnis zu Gott. Sie korrespondiert der ihr vorausgehenden Einsicht (sapientia). „Gott erkennen bzw. lieben gehört […] zur ‚sapientia‘, während zur ‚religio‘ gehört, Gott zu ehren“,34 ihm zu gehorchen und zu dienen. Religion hat jetzt auch einen mentalen, innerlichen Aspekt. Laktanz unterscheidet zwischen der Religion Gottes (religio dei), womit er das christliche Gottesverhältnis charakterisiert, und den Religionen der Götter (religiones deorum), der gesamten außerchristlichen Gottesverehrung. In solchen Formulierungen wird „religio“ bereits als Charakterisierung des menschlichen Gottesverhältnisses schlechthin verwendet. Besonders einflussreich ist darüber hinaus Laktanz’ etymologische Herleitung geworden. Während Cicero „religio“ auf das Verb „relegere“ (wieder durchgehen, wieder behandeln) zurückgeführt hat, widerspricht ihm Laktanz und ordnet sie dem Verb „religari“ zu, was so viel wie „zurückbinden“ oder „festbinden“ heißt. „Er präzisiert diese Ableitung dahingehend, daß ‚Gott den Menschen an ————— 30 31 32 33 34

Vgl. Feil, ebd., 41, 47f. Ebd., 41. Ebd., 49. Vgl. Ratschow, Art. Religion, 635; Feil, ebd., 56f (zu Tertullian). Feil, ebd., 61.

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sich zurückgebunden und durch die pietas verbunden hat‘, so daß die Menschen ihm als Herrn zu dienen und als Vater zu gehorchen haben.“35 (4) Während der Religionsbegriff so seit Ende des zweiten Jahrhunderts in der christlichen Theologie einflussreich geworden ist, hat der Glaubensbegriff vor dem Hintergrund seiner Bedeutung in den neutestamentlichen Schriften eine durchgängig zentrale Rolle gespielt. Zwei Aspekte möchte ich herausgreifen. Einerseits wird in der Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie die kognitive Dimension des Glaubens stark reflektiert. So stellt Justin der Märtyrer eine enge Beziehung zur Philosophie her. Glaube wird dabei zu einer Voraussetzung für das Wissen des Philosophen.36 Die christliche Lehre erscheint als „die allein verläßliche und nutzbringende Philosophie“.37 Inhaltliche Aspekte stehen ebenfalls im Mittelpunkt, wenn Irenäus das Christentum insgesamt als „den Glauben“ bezeichnet und dessen Wahrheit durch eine „Glaubensregel“ begründet und einsichtig macht.38 Andererseits bezeichnet „Glaube“ auch die christliche Lebenspraxis als ganze und wird in diesem Sinn sehr ähnlich wie „religio“ gebraucht. Dies gilt für Tertullian ebenso wie für Laktanz, der auch den Kult als zur „fides“ zugehörig auffasst und diese – wie die „religio“ – zur Tugend des gerechten Menschen zählt.39 In dieser letztgenannten Bedeutung, die sich auf das gesamte christliche Gottesverhältnis bezieht und dabei sowohl den Kult als auch die christliche Lebensweise beinhaltet, liegen die Bedeutungen von „fides“ und „religio“ nahe beieinander. (5) Augustin hat stärker als andere vor ihm den Religionsbegriff aufgegriffen und sogar ein Buch „Über die wahre Religion“ (De vera religione) veröffentlicht. Bei ihm bezeichnet „religio“ vor allem „das Verhalten den Göttern gegenüber, das am besten im ‚achtungsvoller Verehrung‘ wiedergegeben wird“.40 Während sich aber „cultus“ auf konkrete eigene Handlungsformen bezieht, meint „religio“ die allgemeine Verehrung der Götter. Insofern kann „religio“ auch für nichtchristliche Religionen gebraucht werden, während das Christentum selbst als „vera religio“ gilt.41 In „De vera religione“ hat Augustin „religio“ und „fides“ mehrfach parallelisiert gebraucht. In „De civitate Dei“ dagegen hat er die „religio“ als eine äußere ————— 35

Ebd., 63. Über die vom Heiligen Geist erfüllten Propheten schreibt Justin: „Ihre Schriften sind noch jetzt erhalten. Wer sich mit ihnen abgibt und ihnen Glauben schenkt, kann großen Nutzen davontragen, wenn es sich um Ursprung und Ende, überhaupt um das notwendige Wissen eines Philosophen handelt.“ (Justin, Dialog mit dem Juden Tryphon, in: Die Apologeten, 143). 37 Justin, ebd., 145. 38 Vgl. Hall, Art. Glaube, 306; Ritter, Art.: Glaubensbekenntnisse, 402. 39 Vgl. Hall, Art. Glaube, 306f. 40 Feil, ebd., 75. 41 Ebd., 71. 36

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Gestalt aufgefasst, „die unser Glaube angenommen hat“.42 Der Reflexion des Glaubens selbst hat sich Augustin in sehr umfassender und differenzierterer Weise gewidmet. Dabei gilt ihm der Glaube u.a. als Voraussetzung für die wahre Erkenntnis: „Glaube“, schreibt Augustin, „um zu erkennen“.43 Darüber hinaus begreift er den Glauben als eine Gabe Gottes. „In Predigt und Lehre erfolgt eine Berufung, die sich unter dem Wirken der Gnade zur ‚inspiratio fidei‘ ausformt, zugleich aber als Willensgeschehen zu beschreiben ist, insofern sie ihn befreit und aktiviert.“44 (6) In der weiteren Theologiegeschichte werden die herausgearbeiteten Akzente beider Begriffe weiter vertieft. Bei Thomas von Aquin wird Religion als Tugend der Gottesverehrung verstanden, die ihrerseits der Kardinaltugend der Gerechtigkeit zu- und untergeordnet ist:45 „Die religio ist eine Tugend, in der wir Gott zu Dienst und Ehren etwas darbringen“.46 Der „religio“ wiederum sind alle einzelnen Vollzüge wie Gebet, Opfer usw. zugeordnet. Thomas fasst „religio“ als natürlichen (An)Trieb (naturalis instinctus) des Menschen auf, dessen Inhalt Gott als der Schöpfer des jeweils eigenen Seins ist (a quo est sui esse). Sie sei allerdings nicht nur äußerer Vollzug sondern beinhalte auch innere Akte, wie z.B. Ehrfurcht (pietas).47 Den Glauben fasst Thomas demgegenüber stark kognitiv. Er sei ein Erkenntnisakt, dessen Grund Gott als die erste Wahrheit ist. In der menschlichen Erkenntnisfähigkeit liege ein von Gott gewirkter Glaubens-Instinkt vor. „Der Glaube ist also ein Erkenntnisakt auf Grund eines subjektiven Ergriffenseins, das sich zum Habitus ausbildet.“48

6.3 „Der Glaube schafft die Person“. Luthers Glaubens- und Religionsverständnis Einen Gott zu haben, schreibt Luther zu Beginn seiner Auslegung des ersten Gebotes, ist nichts anderes, „als ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Vertrauen und Glauben des Herzens beide macht: Gott und Abgott“.49 Dieses prominente Zitat macht bereits Luthers Akzentuierung des Glaubens deutlich. Glaube ist für ihn keine Dimension neben anderen im Gottesverhältnis des Menschen. Vielmehr ist ————— 42 43 44 45 46 47 48 49

Augustin, De civitate Dei, VIII 4, 360, zit. nach: Feil, ebd., 71f. Augustin, Sermo 118, zit. nach: Vorster, Art. Glaube, 633 („crede ut intelligas“). Vorster, ebd. Vgl. Feil, ebd., 106f. Ratschow, Art. Religion, Mittelalter, 638. Vgl. ebd. Vorster, Art. Glaube, 635. Luther, Großer Katechismus, in: Luther deutsch, Bd. 3, 20 (BSLK, 560, 14–17).

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der „Glaube das eine und ganze Gottesverhältnis“.50 Durch den Glauben und allein durch den Glauben wird die Beziehung zwischen Gott und Mensch hergestellt und verwirklicht. „Aber der Mensch kann auf keine andere Weise mit Gott übereinkommen oder handeln als durch den Glauben.“51 Ich konzentriere mich in meiner folgenden Darstellung auf einige Akzente des Glaubensbegriffs, die für die anthropologische Diskussion besondere Bedeutung haben. (1) Der Glaube ist für Luther zuerst und zuvorderst ein Werk Gottes. In den „Marburger Artikeln“ nennt er den Glauben eine „Gabe Gottes, den wir mit keinem vorgehenden Werken oder Verdienst erwerben noch aus eigener Kraft machen konnen, sondern der heilig Geist gibt und schafft, wo er will, denselbigen in unsern Herzen, wenn wir das Euangelion oder Wort Christi horen.“52 Dieser von Gott gewirkte Glaube entsteht, wie das Zitat deutlich macht, durch das Hören, genauer: durch die Predigt, oder, wie Luther in seiner Römerbriefvorlesung sagt, durch „das vor den Ohren vorübergehende Ereignis des Wortes Gottes“.53 (2) Als Werk Gottes macht der Glaube den Menschen gerecht. Es ist „klar und gewiß“, schreibt Luther in den „Schmalkaldischen Artikeln“, „daß allein solcher Glaube uns gerecht mache“.54 Glaube ist demnach ein Beziehungsgeschehen, in dem Gott dem Menschen seine Gerechtigkeit schenkt. Das Wort Gottes, das als Gesetz den Menschen mit seinem Unvermögen konfrontiert, spricht ihn im Moment seiner Verzweiflung als Wort der Verheißung an. So heißt es im „Freiheitstraktat“: „Willst du alle Gebote erfüllen, […] siehe da, glaube an Christus, in welchem ich dir alle Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zusage. Glaubst du, so hast du, glaubst du nicht, so hast du nicht.“55 Im Glauben an diese Verheißung kommt es zu einer Vereinigung der Seele mit Gottes Wort, „so ganz und gar […], daß alle Tugenden des Wortes auch der Seele eigen werden und durch den Glauben die Seele so durch das Gotteswort heilig, gerecht, wahrhaftig, friedsam, frei und aller Güte voll, ein wahrhaftiges Kind Gottes wird“.56 Wenige Abschnitte später erläutert Luther diese Vereinigung im Glauben als Hochzeit zwischen der Seele, d.h. dem „inneren“, dem Gott vertrauenden Menschen und Christus, bei der es nicht nur zu einer Vereini————— 50

Korsch, Glaube und Rechtfertigung, 379. Luther, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, in: Luther deutsch, Bd. 2, 187 (WA 6, 514, 21f). 52 Luther, Marburger Artikel, BSLK, Bd. 1, 59, 26–29 (6. Artikel). 53 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, in: ders., Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe, Bd. 2, 400 (zu Röm 10,17); vgl. Slenczka, Art. Glaube, 321. 54 Luther, Schmalkaldische Artikel, in: Luther deutsch, Bd. 3, 340 (BSLK, Bd. 1, 415, 16f). 55 Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: Luther deutsch, Bd. 2, 255 (WA 7, 24, 10–13). 56 Ebd., 256 (WA 7, 24, 24–27). 51

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gung beider, sondern auch zu einem Austausch zwischen den Gütern Christi und den Untugenden der Seele kommt. „Christus hat alle Güter und Seligkeit: die sind der Seele eigen; die Seele hat alle Untugend und Sünde auf sich: die werden Christi eigen.“57 Luther nennt diesen Austausch einen „fröhliche[n] Wechsel und Streit“.58 Die Rechtfertigung des Sünders vollzieht sich so als eine wechselseitige Übergabe: als Übergabe der Gerechtigkeit Christi an die Seele und deren Ungerechtigkeit wiederum an Christus. Die Rechtfertigung vollzieht sich aber allein im Glauben, den Luther deshalb auch als den „Brautring“59 dieser Hochzeit bezeichnet.60 (3) Der Glaube ist darin ein Werk des Menschen, dass dieser die ihm durch Christus erworbene und von ihm angebotene Gerechtigkeit annimmt. „Denn wo das Wort des verheißenden Gottes ist, da ist der Glaube des Menschen nötig, der diese Verheißung ergreift.“61 Luther hat die Formulierung, dass der Glaube „Christus ergreift“ vielfach gebraucht; gelegentlich hat er auch von dem „Christus ergreifenden Glauben“ (fides apprehensiva Christus) gesprochen. Vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Seelenlehre ist diese Wendung als der „Christus verstehende Glauben“ wiederzugeben.62 Allerdings ist damit keine kognitive Engführung verbunden. Vielmehr geht es um ein Verstehen, das den ganzen Menschen erfasst und sich Christus öffnet. Der von Christus ergriffene Glaube ergreift Christus seinerseits. „Der wahre Glaube umfaßt freudig mit ausgebreiteten Armen den für ihn hingegebenen Christus und sagt: Mein Freund ist mein und ich bin sein“.63 (4) Der Glaube konstituiert den neuen Menschen und dessen wahre Personalität. In seiner „Vorrede zum Römerbrief“ erläutert Luther den Glauben als ein göttliches Werk, „das uns wandelt und neu gebiert aus Gott […] und tötet den alten Adam, macht uns ganz zu andern Menschen von Herz, Mut, Sinn und allen Kräften und bringet den heiligen Geist mit sich“.64 Indem der Glaube durch das Rechtfertigungsgeschehen den alten Adam tötet und den neuen Menschen schafft, konstituiert er auch die wahre Personalität des Menschen. Der aristotelischen These, nach der die menschliche Person das ist, was sie aus sich macht, setzt Luther die theologische These entgegen, dass die Person von Gott geschaffen durch den Glauben ————— 57

Ebd., 257 (WA 7, 25, 32–34). Ebd. (WA 7, 25, 34) [Ergänzung von mir; U.L.]. 59 Ebd. (WA 7, 25, 37). 60 Vgl. zu Luthers Glaubensverständnis im „Freiheitstraktat“ auch: Seils, Glaube, 37–41. 61 Luther, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, 187 (WA 6, 514, 13f). 62 Vgl. Seils, Glaube, 56. 63 Luther, Disputation De fide et de lege, WA 39/I, 46, 3, deutsch zitiert nach: Seils, Glaube, 23; vgl. auch ebd., 21–24 u. 54–56. 64 Luther, Vorrede auf die Epistel Sankt Pauli zu den Römern 1522, Ausgewählte Werke 6, 89f (WA DB 7, 11, 6ff 58

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geschaffen werde.65 „Der Glaube schafft die Person“,66 heißt es in aller Prägnanz. (5) Demgegenüber ist „religio“ kein zentraler Begriff in Luthers Theologie. „Nirgends findet er besondere Aufmerksamkeit, nirgends ist er ausführlicher behandelt.“67 Allerdings lässt Luthers Gebrauch des Religionsbegriffs erkennen, dass dieser von den Veränderungen des reformatorischen Ansatzes im Ganzen mitbetroffen ist.68 Darüber hinaus deutet sich im Umfeld Luthers bereits das neuzeitliche Religionsverständnis deutlich erkennbar an. Luther hat „religio“ zum einen mit dem christlichen Glauben gleichgesetzt. „Ich neme das wort Religion itzt an, das es heisse den gemein Christlichen glauben“.69 Hier sind „fides“ und „religio“ faktisch identifiziert. In einem ähnlichen, jedoch nuanciert anderen Sinn verwendet Luther den Begriff, um die Einheit des Glaubens und der mit ihm verbundenen Praxis zum Ausdruck zu bringen.70 „An Christus glauben und von Liebe gegen die Armen angeregt zu werden, das ist unsere christliche Religion“.71 Zum anderen verwendet Luther „religio“ in einem weiteren Sinn, in dem er verschiedene Religionen so bezeichnet. In einer Predigt spricht er davon, dass sich an der Gottheit Christi „der Christen Glaube von aller andern menschen Religion und glauben“72 scheide. Allerdings geht es hier, wie das Zitat zeigt, nicht um Religions„systeme“, sondern um verschiedene Glaubensweisen. Diese haben sich aber inhaltlich am Wort Gottes zu messen, weshalb Luther auch deutlich macht: „Alle Kulte und Religionen außerhalb von Christus sind Götzenkulte“.73 Es ist dann Melanchthon, der als erster auf den Gedanken zu sprechen kommt, es gebe eine bei allen Völkern zu allen Zeiten vorfindliche Religion. Melanchthon widerspricht dieser These zwar, bestätigt sie aber doch zugleich indirekt, indem er sie in Bezug auf die „falsche Religion“ für wahr hält. Im Grunde, so sagt Melanchthon, handle es sich dabei überall um die gleiche Abgötterei.74 Der Glaube, das hat meine knappe Erläuterung gezeigt, ist für Luther tatsächlich das ganze und wahre Gottesverhältnis des Menschen – ein Ver————— 65 Vgl. Luther, Zirkulardisputation de veste nuptiali, WA 39/I, 283, 15f: „Paulus […] dicit, quod persona sit facta per fidem a Deo“. 66 Luther, WA 39/I, 283,1: „Fides facit personam“. 67 Feil, ebd. 237. 68 Vgl. ebd., 242. 69 Luther, Von den Konziliis und Kirchen, WA 50, 532, 13f. 70 Vgl. Ratschow, Art. Religion, 642. 71 Luther, Annotationes Lutheri in Epistolam Pauli ad Titum (1527), WA 25, 11, 14f: „Credere Christo et affici adfectibus dulcibus contra pauperem, infirmum, in his exerceri, haec est nostra et Christiana religio.“ (dt. Übers. zit. nach Ratschow, ebd.). 72 Luther, Predigt am 4. Sonntag n. Epiphaniä (1546), WA 51, 150, 8f. 73 Luther, Ad Galatas, WA 40/II, 111, 15f: „Omnes […] cultus et religiones extra Christum sunt idolorum cultus“ [Übersetzung von mir; U.L.]. 74 Vgl. Feil, ebd., 244.

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hältnis, das Menschen von der Gerechtigkeit Gottes ergriffen sein lässt, das Christus ergreift und schließlich auch zu einer Praxis der Liebe greifen lässt. „Dißer glawb macht, das dyr Christus lieblich gefellt unnd süß ym hertzen schmeckt, da folgen nach lieb unnd gutte werck ungetzwungen.“75 Der Religionsbegriff spielt demgegenüber eine deutlich untergeordnete Rolle. Beide, der Glaubens- und der Religionsbegriff erhalten vom Rechtfertigungsgeschehen her ihre spezifische Pointe. In der Akzentuierung des subjektiven Glaubens- bzw. Religionsvollzuges deuten sich bereits spezifische Nuancen an, die für die weitere theologie- und philosophiegeschichtliche Entwicklung maßgeblich geworden sind.

6.4 Von der „religio“ zum „religiösen Apriori“. Bedeutungsverschiebungen in der Neuzeit „In der neueren evangelischen Theologie ist der Religionsbegriff seit dem Verfall der Lehre von der Verbalinspiration […] zur Grundlage der theologischen Systematik geworden.“76 Mit dieser Einschätzung hat Wolfhart Pannenberg die Bedeutungs- und Funktionsverschiebung deutlich gemacht, die der Religionsbegriff in der Neuzeit erfahren hat. Aus einem Begriff, der über lange Zeit mit praktischen Vollzügen der Gottesverehrung konnotiert gewesen ist, entwickelte sich einer, der das menschliche Gottesverhältnis schlechthin auf den Begriff brachte und zu einer anthropologischen Kategorie avancierte. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sprach Ernst Troeltsch dann von einem „religiösen Apriori“ des Menschen. Von dieser Transformation des Religionsbegriffs soll jetzt die Rede sein – aber auch der Glaubensbegriff soll nicht unbeachtet bleiben. (1) Obwohl in der protestantischen Theologie der folgenden Zeit die grundsätzliche Bezogenheit des Glaubens auf das Rechtfertigungsgeschehen erhalten geblieben ist, haben sich in der Folgezeit einige Akzente verschoben. In der protestantischen Orthodoxie ist der Glaubensbegriff innerhalb der Lehre des ordo salutis weiter ausdifferenziert worden.77 Er ist das dem Menschen dargebotene Mittel zum Empfang des Heiles. Zu diesem Glauben komme es aber nur dann, wenn der Mensch, „nachdem ihm das durch Christum erworbene Heil verkündet und angeboten ist, die Wirklichkeit des Vorhandenseins dieses Heils […] erkennt und die Zuversicht zu ————— 75

Luther, Adventspostille (1525), WA 10/I.2, 25, 4–6. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 133. 77 Vgl. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, 294–365 (De gratia spiritus s. applicatrce; zur „fides“ 296–306, § 41). 76

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fassen vermag, daß dieses Heil […] ihm zugedacht ist“.78 Entsprechend differenziert sich der Glaube in Kenntnis (notitia), Anerkenntnis (assensus) und Vertrauen (fiducia). Der Pietismus hat den Erfahrungs- und Praxisbezug des Glaubens besonders akzentuiert. Die Theologie der Aufklärung wiederum hat sich verstärkt auf die kognitive und rationale Dimension des Glaubens konzentriert. (2) Auf der anderen Seite hat – wie gesagt – der Religionsbegriff eine beträchtliche Bedeutungstransformation erfahren. Aus der inhaltlich keineswegs einheitlichen Entwicklung greife ich drei Aspekte heraus. So wird seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Thema einer „natürlichen Religion“ (religio naturalis) häufiger diskutiert. Bei Jean Bodin wird diese als eine ursprüngliche Gottesverehrung aufgefasst, die von Adam bzw. Abel bis Noah praktiziert worden sei. Sie wird von Bodin noch nicht der offenbarten Religion gegenübergestellt und ist ebenso einer bestimmten geschichtlichen Zeit zugeordnet.79 Die protestantische Orthodoxie ging von einer natürlichen Gotteserkenntnis des Menschen aus. Die „Religion“ wird innerhalb der Prolegomena der Dogmatik behandelt und firmiert hier als Gegenstand der Theologie: „Objekt der Theologie ist […] die Religion. Religion ist die Art und Weise, wie Gott verehrt wird.“ Sie unterteilt sich in falsche und wahre Religion. Die rechte Gottesverehrung „muß sich […] zunächst in der rechten Gott wohlgefälligen Gesinnung gegen ihn äußern, dann weiter sich in der Liebe gegen den Nächsten und in der Übung aller von Gott vorgeschriebenen Tugenden bethätigen. Im weitesten Umfange begreift die Religion dann alles in sich, was Gott zu glauben und zu thun befiehlt.“80 In der Theologie der protestantischen Orthodoxie findet sich auch bereits die Unterscheidung zwischen „natürlicher“ und „geoffenbarter Religion“, wobei die religio naturalis allerdings zur Erlangung des Heils nicht ausreicht.81 Ein weiterer Aspekt ist im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert hinzugetreten. Zu dieser Zeit entstand die Unterscheidung zwischen einer äußeren, bloß rituellen und einer inneren, wahren Religion. Thomas Morgan stellte die wahre, natürliche und universale Religion mit ihren „internal, real Acts of Religion“ der positiven, geoffenbarten Religion gegenüber, die er auch als „Churchism“ oder Religion „of the hierarchy“ bezeichnete. Bereits bei Morgan wird die innere Religion mit „moral Truth and Righteousness“ identifiziert.82 Diese moralische Fokussierung der „internal religion“ ist in der Folgezeit zu einem wesentlichen Aspekt der Philo————— 78 79 80 81 82

Vgl. ebd., 297; hier weitere Differenzierungen des Glaubensbegriffs (297–299). Vgl. Feil, Art. Religion II, 268; vgl. auch Jaeschke, Art. Religion, 648. Schmid, ebd., 5. Vgl. Feil, ebd., 269. Vgl. Jaeschke, Art. Religion, 655.

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sophie der „Religion“ geworden. Zugleich wurde „Religion“ allmählich zu einem Schwerpunktthema der Philosophie und die Vernunft zur via regis ihrer Explikation. Dabei wird in der Neologie die „natürliche Religion“ allmählich zur Grundlage und zum Maßstab für die „geoffenbarte Religion“. So hat beispielsweise Johann Gottfried Toellner die Auffassung vertreten, „daß alle R.[eligion]en im wesentlichen übereinstimmen, da sie doch alle Gott in rechtmäßigen Handlungen dienen wollen. Denn auch in den falschesten R.[eligionen] kommt es allein auf den guten Willen an, ‚Gott zu gehorchen‘“.83 Die existierenden Religionen seien allerdings zu einer weiteren Vervollkommnung durch Vernunft und Offenbarung sowohl fähig als auch bedürftig. „‚Die ganze geoffenbarte R.[eligion] beruht doch auf der Wahrheit der natürlichen‘“.84 Die Offenbarung wird so der „natürlichen Religion“ als Moment deren Weiterentwicklung ein- und untergeordnet. Dadurch verhindert Toellner eine Diastase zwischen „natürlicher“ und „geoffenbarter Religion“. Zugleich ist die Geschichte der Religion unabgeschlossen und durch Vernunft und weitere Offenbarung zu vervollkommnen. Diese wenigen Andeutungen sollen genügen, um die Voraussetzungen kenntlich zu machen, unter denen sowohl der Glaubens- als auch der Religionsbegriff an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert diskutiert worden ist. (3) „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“85 Der erste Satz aus Kants Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“ ist geeignet, auch seine Behandlung des Glaubens- und Religionsthemas einzuleiten. Denn: der vom Kritizismus eingesetzte „oberste Gerichtshof“ urteilt auch über alle Ansprüche der Religion und des Glaubens.86 Da die Vernunftkritik zu dem Ergebnis führt, dass das Wissen auf den Bereich der Erfahrung beschränkt bleibt, verortet Kant den Glauben im Bereich der praktischen Vernunft. Glaube erweitert demnach nicht die Erkenntnis des Menschen, sondern vergewissert ihn der Verbindlichkeit des moralischen Sittengesetzes. „Glaube (als Habitus, nicht als Actus)“, schreibt Kant in der „Kritik der Urteilskraft“, „ist die moralische Denkungsart der Vernunft im Fürwahrhalten desjenigen, was für das theoretische Erkenntnis unzugänglich ist. Er ist also der beharrliche Grundsatz des Gemüts, das, was zur Möglichkeit des höchsten moralischen End————— 83 84 85 86

Jaeschke, Art. Religion, 655 [Ergänzung von mir; U. L]. Töllner, Meine Überzeugungen, zit. nach: Jaeschke, Art. Religion, 664 [Ergänzung U. L]. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke 3, 11 (A VII). Vgl. ebd., 13 (A XI); Werke 4, 582 (A 669; B 697).

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zwecks als Bedingung vorauszusetzen notwendig ist, wegen der Verbindlichkeit zu demselben als wahr anzunehmen; ob zwar die Möglichkeit desselben, aber eben so wohl auch die Unmöglichkeit, von uns nicht eingesehen werden kann. Der Glaube (schlechthin so genannt) ist ein Vertrauen zu der Erreichung einer Absicht, deren Beförderung Pflicht, die Möglichkeit der Ausführung derselben aber für uns nicht einzusehen ist […]. Der Glaube also, der sich auf besondere Gegenstände, die nicht Gegenstände des möglichen Wissens oder Meinens sind, bezieht, […] ist ganz moralisch. Er ist ein freies Fürwahrhalten, nicht dessen, wozu dogmatische Beweise für die theoretisch bestimmende Urteilskraft anzutreffen sind, noch wozu wir uns verbunden halten, sondern dessen, was wir, zum Behuf einer Absicht nach Gesetzen der Freiheit, annehmen; aber doch nicht, wie etwa eine Meinung, ohne hinreichenden Grund, sondern als in der Vernunft (obwohl nur in Ansehung ihres praktischen Gebrauchs), für die Absicht derselben hinreichend, gegründet: denn ohne ihn hat die moralische Denkungsart bei dem Verstoß gegen die Aufforderung der theoretischen Vernunft zum Beweise (der Möglichkeit des Objekts der Moralität) keine feste Beharrlichkeit, sondern schwankt zwischen praktischen Geboten und theoretischen Zweifeln.“87 In diesem Zitat sind die wesentlichen Aspekte für das enthalten, was Kant „Vernunftglauben“88 genannt hat: er ist ein freies Fürwahrhalten dessen, was für das theoretische Wissen unzugänglich zugleich aber für das moralische Handeln unerlässlich ist. In diesem Sinn spricht Kant von der Gewissheit der Existenz Gottes und eines künftigen Lebens.89 Da sich der praktische Glaube und das theoretische Wissen auf verschiedene Vernunftbereiche beziehen, können beide nicht mit einander kollidieren. Das hat Kant mit der berühmten Formulierung zum Ausdruck gebracht: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“.90 Obwohl aus moralischer Perspektive allein der reine Vernunft- bzw. Religionsglaube eine allgemeine Kirche gründen könne, gehe diesem natürlicherweise ein Kirchenglaube voraus, der aus dem menschlichen Bedürfnis nach etwas Sinnlich-Haltbarem resultiere.91 Der Vernunftglaube sei allerdings der höchste Ausleger des Kirchenglaubens und seiner Schriftgelehrsamkeit.92 Die Perspektive des moralischen Gesetzes bestimmt auch Kants Thematisierung des Religionsbegriffs. Durch seinen Bezug auf ein höchstes Gut ————— 87

Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke 8, 603f (A 456–58; B 462–64). Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke 4, 694 (A 829; B 857). 89 Vgl. ebd., 693f (A 828f; B 856f). 90 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke 3, 33 (B XXX). 91 Vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Werke 7, 762 (A 137; B 145); 767 (A 143f; B 151f); 771 (A 149; B 157). 92 Vgl. ebd., 770 (A 149; B 157); 776 (A 157; B 166). 88

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Glaube

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führe das Sittengesetz, so Kant, „zur Religion, d.i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanktionen, d.i. willkürliche für sich selbst zufällige Verordnungen, eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen, weil wir nur von einem moralisch-vollkommenen (heiligen und gütigen), zugleich auch allgewaltigen Willen das höchste Gut, welches zum Gegenstande unserer Bestrebung zu setzen uns das moralische Gesetz zur Pflicht macht, und also durch Übereinstimmung mit diesem Willen dazu zu gelangen hoffen können.“93 Religion hat deshalb einerseits eine begründende Funktion für das Sittengesetz. Andererseits resultiert aus der Moralität Religion. Kant stellt der „natürlichen Religion“ die „geoffenbarte“ gegenüber. Beide unterscheiden sich durch das Begründungsverhältnis der moralischen Pflicht: während in der „natürlichen Religion“ das Wissen um die Pflicht ihrer Anerkennung als göttliches Gebot vorausgehe, folge in der „geoffenbarten Religion“ das Pflichtbewusstsein aus dem vorgängigen Wissen um das göttliche Gebot.94 Gleichwohl könne eine „geoffenbarte Religion“ zugleich auch eine natürliche sein, „wenn sie so beschaffen ist, daß die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können und sollen“.95 Deshalb kann Kant auch die christliche Religion als natürliche Religion, ja als moralische Religion kennzeichnen.96 Kant verhindert mit seinem moralischen Religionsbegriff die Entgegensetzung von „natürlicher“ und „geoffenbarter Religion“, wobei jene zum Maßstab für diese wird. Der Vernunftglaube und die wahre Religion haben bei ihm denselben Gegenstand. Allerdings scheint Kant mit dem Religionsbegriff stärker das Phänomen der menschlichen Bezogenheit auf einen moralischen Gesetzgeber zu bezeichnen, während im Glaubensbegriff mehr der Aspekt des subjektiven Vollzuges zum Ausdruck kommt. Beim Glauben allein spricht Kant von einem „Fürwahrhalten“, von „Gewißheit“ und von „Vertrauen“97. Ausdrücklich formuliert er: „Die Annehmung der Grundsätze einer Religion heißt vorzüglicherweise der Glaube“.98 Der Inhalt von Religion und Religionsglaube sind dagegen identisch. Beide, der Religionsund der Glaubensbegriff, werden von Kant nicht nur erkenntnistheoretisch und moralphilosophisch, sondern auch anthropologisch reflektiert. Menschen würden durch die Vernunft dazu gedrängt, Fragen zu stellen, die die ————— 93

Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke 6, 261 (A 233). Vgl. Kant, Die Religion, 822 (A 216f; B 230f). 95 Ebd., 824 (A 219; B 233). 96 Vgl. ebd., 826 (A 222; B 236); 838 (A 239; B 254). 97 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskrauft, Werke 8, 603 (A 456; B 462); KdrV, Werke 4, 693 (A 829; B 857) 98 Vgl. Kant, Die Religion, 833 (A 233; B 247). 94

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Vernunft selbst nicht beantworten könne. Religion und Glaube könnten diese Wissenslücke nicht schließen. Ihre Annahme erweise sich aber um der Moralität des Menschseins willen als praktisch unabweisbar. (4) „Kants Identifizierung von R.[eligion] und Moral hat die Diskussion in dem auf die „Kritik der praktischen Vernunft“ folgenden Jahrzehnt weitgehend geprägt.“99 Sie ist auch von Fichte fortgesetzt worden, der Gott und die moralische Weltordnung in eins gesetzt hat.100 Dabei verwirft er jeden Versuch, von der Sinnenwelt ausgehend die Existenz Gottes zu beweisen. Diese gilt ihm vielmehr als ein Implikat des unmittelbaren Selbstbewusstseins: „Ich finde mich frei von allem Einflusse der Sinnenwelt, absolut thätig in mir selbst und durch mich selbst; sonach, als eine über alles Sinnliche erhabene Macht. Diese Freiheit aber ist nicht unbestimmt; sie hat ihren Zweck: nur erhält sie denselben nicht von aussen her, sondern sie setzt sich ihn durch sich selbst. Ich selbst und mein nothwendiger Zweck sind das Uebersinnliche. / An dieser Freiheit und dieser Bestimmung derselben kann ich nicht zweifeln, ohne mich selbst aufzugeben.“101 Mit dem unmittelbaren Bewusstsein der ursprünglichen Selbst-Setzung des Ich ist demnach auch die Gewissheit der eigenen Bestimmung zur Freiheit und d.h. zur Moralität verbunden. Diese unmittelbare Gewissheit nennt Fichte Glaube und fügt hinzu: sie kann nur durch sich selbst und nicht durch einen logischen Beweis konstituiert werden. „Die Ueberzeugung von unserer moralischen Bestimmung geht sonach selbst schon aus moralischer Stimmung hervor und ist Glaube; und man sagt ganz richtig: das Element aller Gewissheit ist Glaube.“102 Sein Inhalt ist die moralische Ordnung als das einzig Göttliche. Sein Bekenntnis: „fröhlich und unbefangen vollbringen, was jedesmal die Pflicht gebeut“.103 Anders als Kant, für den der Glaube vom reflektierenden Ich vollzogen wird, betont Fichte die unmittelbare Gewissheit der eigenen moralischen Bestimmung als Glaube. (5) Eine Formulierung, die Hegel in der Vorrede seiner Rechtsphilosophie gebraucht, wirft ein bezeichnendes Licht auf seine Thematisierung des Glaubensbegriffs. Das „eigentümliche Prinzip des Protestantismus“ bestimmt er hier so, „nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist“.104 Das protestantische Prinzip wird von Hegel mithin als Vernunftprinzip erläutert. Und er fährt fort: „Was Luther als Glauben im Gefühl und im Zeugnis des Geistes begonnen, ————— 99

100

Jaeschke, Art. Religion, 675. Vgl. Fichte, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, Werke 5,

185.

101 102 103 104

Ebd., 181. Ebd., 182. Ebd., 185. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, 27 (Vorrede).

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Glaube

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es ist dasselbe, was der weiterhin gereifte Geist im Begriffe zu fassen und so in der Gegenwart sich zu befreien und dadurch in ihr sich zu finden bestrebt ist.“105 Die in diesem Zitat programmatisch anklingende Befreiung der Glaubensinhalte in die Wahrheit des Begriffs bestimmt Hegels zahlreiche Bezugnahmen auf den Glaubensbegriff. In der „Enzyklopädie“ kritisiert er die Entgegensetzung von Glauben und Wissen durch den Hinweis, „daß das im Bewußtsein ist, was man glaubt, daß man somit wenigstens davon weiß; auch daß, was man glaubt, als etwas Gewisses im Bewußtsein ist, daß man es also weiß“.106 Die Bestimmung des Glaubens als eines „unmittelbaren Wissens“ sei im Übrigen eine ganz formelle Bestimmung, die dasselbe zum Ausdruck bringe, was man sonst „Eingebung, Offenbarung des Herzens“ oder „ein von Natur in den Menschen eingepflanzter Inhalt“107 nenne. Hegel gibt zu, dass der Glaube als ein unmittelbares Wissen die unmittelbare Gewissheit der Existenz Gottes sei. „Das, was dieses unmittelbare Wissen weiß, ist, daß das Unendliche, Ewige, Gott, das in unserer Vorstellung ist, auch ist, – daß im Bewußtsein mit dieser Vorstellung unmittelbar und unzertrennlich die Gewißheit ihres Seins verbunden ist.“108 Aber gegenüber dem Ausschließlichkeitsanspruch dieser Auffassung macht er auf die Zwangsläufigkeit der Vermittlung aufmerksam. So ist nicht nur zur individuellen Bewusstwerdung des Inhalts dieses unmittelbaren Wissens Erziehung notwendig.109 Es gilt sogar allgemein: die Erhebung des Bewusstseins über das Sinnliche, Endliche endigt im Glauben an Gott, einem Glauben, der „ein unmittelbares Wissen und Fürwahrhalten ist, aber nichtsdestoweniger jenen Gang der Vermittlung zu seiner Voraussetzung und Bedingung hat.“110 Der Glaube ist insofern als ein unmittelbares Wissen, ja eine unmittelbare Gewissheit auf den Prozess der Vermittlung angewiesen, auf jenen Prozess mithin, in dem der Geist sich als Geist erfasst, in sich zurückkehrt, sich selbst erkennt und in dieser Bewegung das absolute Wesen ist.111 Im Vollzug dieses Prozesses hat sich der Geist als absoluter Geist verwirklicht. Als solcher ist er „ebenso ewig in sich seiende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität, die eine und allgemeine Substanz als geistige, das Urteil in sich und in ein Wissen, für welches sie als solche ist.“112 Auch der Glaube als „unmittelbares Wissen“ werde von diesem Prozess der Selbst-Bewegung des Geistes ergriffen und verändert. Am Ende dieser ————— 105 106 107 108 109 110 111 112

Ebd. Hegel, Enzyklopädie I, Werke 8, 150 (§ 63). Ebd., 152 (§ 63 Anm.). Ebd., 153 (§ 64). Vgl. ebd., 157 (§ 67). Ebd., 158 (§ 68). Vgl. Jaeschke, Art. Religion, 680. Hegel, Enzyklopädie III, Werke 10, 366 (§ 554).

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„Phänomenologie des Geistes“ kennzeichnet ihn Hegel als die Gewissheit der Einheit und Wahrheit des Entwicklungsprozesses des Geistes. „Das subjektive Bewußtsein des absoluten Geistes ist wesentlich in sich Prozeß, dessen unmittelbare und substantielle Einheit der Glaube in dem Zeugnis des Geistes als die Gewißheit von der objektiven Wahrheit ist. Der Glaube […] ist in der Andacht, dem impliziten oder expliziteren Kultus, in den Prozeß übergegangen, den Gegensatz zur geistigen Befreiung aufzuheben, durch diese Vermittlung jene erste Gewißheit zu bewähren und die konkrete Bestimmung derselben, nämlich die Versöhnung, die Wirklichkeit des Geistes zu gewinnen.“113 Hegel bezeichnet eben diese höchste Sphäre auch als Religion. Kennzeichnend für diesen spekulativen Religionsbegriff ist es, dass er nicht nur ein Verhältnis des Menschen zu Gott, sondern zugleich – und vor allem – ein durch Gott hergestelltes Verhältnis, d.h. ein Selbstverhältnis des absoluten Geistes ist: „Die Religion […] ist ebensosehr als vom Subjekte ausgehend und in demselben sich befindend als objektiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten, der als Geist in seiner Gemeinde ist.“114 Charakteristisch für die Religion – und das unterscheidet sie von Kunst und Philosophie – sei es aber, dass sie ihren Gegenstand im Medium der Vorstellung erfasst und thematisiert. Weil in der Religion noch die Vorstellung und in der Kunst noch die Anschauung dominant seien, glaubt Hegel beide erst im Wissen der Philosophie wahrhaft aufheben zu können. „Diese Wissenschaft ist insofern die Einheit der Kunst und Religion, als die der Form nach äußerliche Anschauungsweise der ersteren […] in der Totalität der zweiten […] nicht nur zu einem Ganzen zusammengehalten, sondern auch in die einfache geistige Anschauung vereint und dann zum selbstbewußten Denken erhoben ist. Dies Wissen ist damit der denkend erkannte Begriff der Kunst und Religion, in welchem das in dem Inhalte Verschiedene als notwendig und dies Notwendige als frei erkannt ist.“115 (6) Kant reflektierte „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ als moralische Erkenntnis göttlich gebotener Pflichten. 1799, sechs Jahre nach dem Erscheinen von Kants religionsphilosophischem Hauptwerk veröffentlichte Schleiermacher seine Reden „Über die Religion“. Kant und Schleiermacher. Beide haben den modernen Religionsbegriff in entscheidender Weise geprägt. Der eine „fundiert die ‚Religion‘ in der Vernunft bis hin zu ihrer Charakterisierung als ‚Vernunftreligion‘“. Der andere „bestimmt ‚Religion‘ als ‚Gefühl‘“.116 Schleiermachers „Reden“ sind ————— 113 114 115 116

Ebd., 366f (§ 555). Ebd., 366 (§ 554). Ebd., 378 (§ 572). Feil, ebd., 20.

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Glaube

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ein Gegenentwurf zu Kant.117 Von diesen oppositionellen „Reden“ soll nun die Rede sein. „Von Alters her“, sagt ihr Autor zu Beginn, „ist der Glaube nicht jedermanns Ding gewesen, von der Religion haben immer nur Wenige etwas verstanden.“118 Religion und Glaube werden in diesem Zitat weitgehend synonym gebraucht.119 Dennoch hat Schleiermacher in den „Reden“ eindeutig den Religionsbegriff dem Glaubensbegriff vorgezogen. Anthropologisch geht er von einer menschlichen „Anlage […] zur Religion“120 aus, deren „eigne Provinz im Gemüthe“121 er herausarbeiten will. Diese grenzt Schleiermacher gegen zwei andere Provinzen ab: die des Wissens und die des Wollens, d.h. gegen Metaphysik und Moral. Das Wesen der Religion, schreibt er, „ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen lassen.“122 Das Universum ist mithin der Gegenstand und der Maßstab der Religion. Schleiermacher spricht auch vom Unendlichen, dem unendlichen Ganzen oder dem Einen und Allen.123 Er gebraucht den Begriff „Universum“ mithin nicht im Sinn von „Weltall“ sondern im Sinn eines „Ganzen“, das alles einschließt und umfasst.124 Dieses Universum sei unablässig tätig. Es offenbare sich uns. Es bringe vielfache Formen hervor, gebe jedem Wesen sein eigenes Dasein und lasse mannigfache Begebenheiten geschehen. Religion öffne sich diesen Wirkungen des Universums: „und so alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion“.125 Religion ist beides: die individuelle Öffnung für die Erfahrung des Ganzen der Wirklichkeit und deren Vorstellung als Handeln Gottes. „Alle Begebenheiten in der Welt als ————— 117

Vgl. Nowak, Schleiermacher, 98; Feil, ebd., 24. Schleiermacher, Über die Religion, KGA I/2, 189. 119 Ähnlich auch ebd., 298: „Ich lade Euch ein, jeden Glauben zu betrachten, zu dem sich Menschen bekannt haben, jede Religion die Ihr durch einen bestimmten Namen und Charakter bezeichnet“; andernorts hat Schleiermacher vom Glauben mehr im Sinne eines individuellen Vollzuges und eines Inhalts, von Religion dagegen mehr im Sinne eines allgemeinen Phänomens gesprochen, 217: „Die Philosophie […] strebt diejenigen, welche wißen wollen, unter ein gemeinschaftliches Wißen zu bringen, […] die Religion aber nicht diejenigen welche glauben und fühlen, unter Einen Glauben und Ein Gefühl.“ 120 Ebd., 242. 121 Ebd., 204. 122 Ebd., 211. 123 Vgl. ebd., 214, 215, 212. Die Rede von dem „Einen und Allen“ lässt die klassische pantheistische Formel des „G=PMCKRCP“ (hen kai pan) anklingen; Gegen den Pantheismusvorwurf wehrt sich Schleiermacher später (vgl. ders., Der christliche Glaube, Bd. 1, 29, Anm.). 124 Vgl. „universus“ in: Georges, Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, 3308: „B) subst., universum, i, n., das Ganze, der Inbegriff aller Teile; dah. die ganze Welt, das Weltall“. 125 Schleiermacher, Über die Religion, 214. 118

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Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion“.126 Religion ist somit Akt und Inhalt, zugleich also fides qua und fides quae creditur. Schleiermachers „Reden“ sind ein enthusiastisches Bekenntnis im Geist der Romantik. Sie haben der Vernunftreligion wirkungsvoll opponiert und der Gottesbeziehung einen eigenen anthropologischen Ort im Gefühl zugewiesen. Dennoch lassen sie zahlreiche Fragen offen: so bleibt die Struktur der menschlichen Passivität im Gefühl noch unausgearbeitet. Das Gottesbild wirft Fragen auf. Zahlreiche hamartiologische, soteriologische und weitere theologische Fragen ließen sich anfügen. Der spätere Schleiermacher hat in seiner „Glaubenslehre“ seinen Ansatz differenzierter ausgearbeitet und zugleich verändert. Anders als in den „Reden“ vermeidet er jetzt den Begriff „Religion“ mit dem Hinweis, man könne sich angesichts der zahlreichen Gebrauchsweisen leicht davon „überzeugen, wie sehr hier alles schwankt. Daher es wohl besser ist, im wissenschaftlichen Gebrauch sich dieser Bezeichnungen lieber zu enthalten“.127 An seine Stelle treten jetzt Frömmigkeit und Glaube. Sehe ich recht, dann steht „Frömmigkeit“ stärker für die anthropologisch allgemeine Gottesbeziehung, während „Glaube“ die konkrete Christusgewissheit zum Ausdruck bringt. Anders gesagt: „Frömmigkeit“ bezeichnet eher die formale Struktur der Gottesbeziehung, während „Glaube“ mehr ihre materiale Konkretisierung zum Ausdruck bringt.128 Wie in den „Reden“ verortet Schleiermacher die Gottesbeziehung anthropologisch im Gefühl. Hier sei Gott den Menschen auf ursprüngliche Weise gegeben und zwar so, „daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind.“129 Seine subjektivitätstheoretische Erörterung im § 4 der Glaubenslehre verbindet Schleiermacher mit der Bemerkung, dass das in unserem unmittelbaren „Selbstbewußtsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll“.130 Diese in der Struktur der Subjektivität mitgesetzte Gottesbeziehung —————

126 Ebd. An dieser Stelle spricht Schleiermacher von Gott. Ansonsten bevorzugt er in den „Reden“ aber eindeutig den Begriff „Universum“. Als Grund gibt er an, dass eine „rechtskräftige Definition“ Gottes „noch nicht vorhanden“ sei und dass deshalb „die größten Verschiedenheiten darüber statt haben“ (243). Nach einigen knappen religionsgeschichtlichen Anmerkungen resümiert er: „welche von diesen Anschauungen des Universums ein Mensch sich zueignet, das hängt ab von seinem Sinn fürs Universum, das ist der eigentliche Maßstab seiner Religiosität, ob er auch zu seiner Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Fantasie“ (ebd., 245). 127 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 47 (§ 6, Zusatz). 128 An einer Stelle der Prolegomena kann Schleiermacher, das was er ansonsten mit „Frömmigkeit“ thematisiert allgemein als „Glauben an Gott“ bezeichnen, von dem er dann den „Glaube an Christum“ unterscheidet (ebd., 95 [§ 14.1]). 129 Ebd., 23 (§ 4, Leitsatz). 130 Ebd., 28 (§ 4.4).

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ist für Schleiermacher „ein allgemeines Lebenselement“,131 d.h. anthropologisch universal. Von dieser allgemeinen „Gewißheit über das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als solches“132 sei der christliche Glaube in seiner materialen Gestalt zu unterscheiden. „Es gibt keine andere Art, an der christlichen Gemeinschaft Anteil zu erhalten, als durch den Glauben an Jesum als den Erlöser“.133 Dieser Glaube entstehe im Einzelnen durch den Eindruck, den er durch Christus empfängt, genauer: durch den Heiligen Geist, der ihn hervorbringt.134 Glaube wird von Schleiermacher strukturell als Gewissheit verstanden. In einer handschriftlichen Notiz nennt er ihn auch eine „innere Erfahrung aus unmittelbarem Eindruck“,135 den der Einzelne von Christus empfängt. Inhaltlich bestimmt Schleiermacher den Glauben als „Aneignung der Vollkommenheit und Seligkeit Christi“136 und als Lebensgemeinschaft mit Christus.137 Der Anfang dieses neuen Lebens mit Christus ereigne sich in der Bekehrung. Diese bestehe aus der Bekehrung und dem Glauben, die beide aus der Einwirkung Christi hervorgingen. Die Rechtfertigung wird von Schleiermacher eng mit der Bekehrung verknüpft: die deklaratorische Gerechtsprechung könne nur im „Zusammenhang mit der die Bekehrung hervorrufenden Einwirkung Christi“ verstanden werden. Deshalb könne man auch mit Recht sagen: „jeder Akt der Bekehrung sei, insofern zugleich das Bewußtsein der Sündenvergebung und der Kindschaft Gottes mit dem Glauben entsteht, in dem Menschen selbst eine Deklaration des allgemeinen göttlichen Ratschlusses, um Christi willen zu rechtfertigen“138 (7) Schleiermachers „Reden“ wollten zeigen, dass Religion „aus dem Inneren jeder beßern Seele nothwendig von selbst entspringt“.139 Und Hegel kam am Ende seiner „Philosophie des Geistes“ zu dem Ergebnis, dass die „Religion […] die Wahrheit für alle Menschen ist“.140 Es scheint, dass die neuzeitliche Selbstverständigung des Menschen über sich selbst zu dem klaren Ergebnis eines anthropologisch gegründeten Gottesverhältnisses geführt hätte, einer „Anlage zur Religion“ (Schleiermacher) mithin, die als Glaube vom Menschen angeeignet und subjektiv verwirklicht wird. Aber wenige Jahre nach den eindrucksvollen religionsphilosophischen und theologischen Entwürfen von Kant, Fichte, Hegel und Schleiermacher wurden ————— 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140

Ebd., 174 (§ 33, Leitsatz). Ebd., 95 (§ 14.1). Ebd., 94 (§ 14, Leitsatz). Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 268 (§ 124.2). Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 95 (§ 14.1 Anm. b)). Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 153 (§ 108, Leitsatz). Vgl. ebd., 187 (§ 110.2). Ebd., 180 (§ 109.3). Schleiermacher, Über die Religion, KGA I.2, 204. Hegel, Enzyklopädie III, Werke 10, 379 (§ 573).

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die Stimmen immer vernehmlicher, die gerade diese religiöse Veranlagung in Zweifel zogen. Ludwig Feuerbach machte sich für eine „Zurückführung der Religion und der Götter auf die Wünsche der Menschen“141 stark. Schleiermachers Rede vom Abhängigkeitsgefühl wendete er gegen deren Autor und erklärte, „daß die Religion […] den Menschen […] eingeboren sei […], inwiefern sie nichts andres ausdrückt als das Gefühl der Endlichkeit und Abhängigkeit des Menschen von der Natur“.142 Dieses Abhängigkeitsgefühl hat Feuerbach auf den menschlichen Selbsterhaltungstrieb zurückgeführt: werde dieser gehemmt, entstehe ein Gefühl der Abhängigkeit, der Furcht und Angst. Könne der Mensch dagegen seinen Wunsch nach einem glücklichen Leben verwirklichen, so rege sich in ihm ein Gefühl der Dankbarkeit und Freude. In der Religion aber projiziere der Mensch diese Gefühle von Furcht oder Freude an einen imaginären Himmel. Religion wird so als phantastische Wunscherfüllung entzaubert. In diesem Sinn führt Feuerbach die Religion in die Anthropologie zurück: „Der Gott des Menschen ist nichts andres als das vergötterte Wesen des Menschen“.143 (8) Feuerbachs Religionskritik hat Wirkung gezeigt. „Kein Atheismus seither, der nicht von Feuerbachs Argumenten zehrte.“144 Karl Marx beispielsweise hat die Kritik weitergeführt, indem er die konkreten gesellschaftliche Produktionsverhältnisse für die Genese der Religion verantwortlich machte: „Der Mensch macht die Religion […]. Aber der Mensch […], das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.“145 Aber auch auf Theologen hat Feuerbach Eindruck gemacht. Karl Barth beispielsweise hat seine Kritik der Religion unterstützt: „Feuerbach bekommt in verschärftem Sinn Recht“, schrieb er in seinem Römerbriefkommentar, und erläuterte: „Wird doch gerade am „religiösen Bewußtsein“ des Menschen nicht sowohl ein Denken, Wollen und Tun Gottes, als vielmehr ein, wenn auch seltsames, großartiges und bedeutsames, so doch keineswegs unentbehrliches, schlechthin notwendiges, zwingend objektives Denken, Wollen und Tun des Menschen anschaulich.“146 Ja, die „religiöse Möglichkeit“ komme, so Barth „als erprobtes Mittel zur Aufrechterhaltung wünschenswertester Illusionen der Energie des existentiell gottlosen Menschen zugute“.147 ————— 141 142 143 144 145 146 147

Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, Gesammelte Werke 6, 278. Ebd., 42. Ebd., 24. Küng, Existiert Gott?, 237. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, 378. Barth, Der Römerbrief, 218. Ebd., 218f.

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Einen exemplarischen Einblick in Barths Kritik an allen Bemühungen, eine anthropologisch fundierte, religiöse Gottesbeziehung auszuweisen, gibt die Auseinandersetzung, die Adolf von Harnack und er 1923 in der „Christlichen Welt“ geführt haben. „Ist das Gotteserlebnis von der Erweckung des Glaubens verschieden oder mit ihm identisch?“,148 lautete eine der Fragen, die Adolf von Harnack eingangs dem vermeintlichen „Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen“ stellte. In seiner Antwort machte Barth deutlich, dass „das sogenannte ‚Gotteserlebnis‘ von der Erweckung des Glaubens durch Gott so verschieden“ sei „wie die Erde vom Himmel“.149 An einer späteren Stelle der Auseinandersetzung fügte er hinzu: „Ich unterscheide […] den Glauben als Gottes Werk an uns […] von allen bekannten und unbekannten menschlichen Organen und Funktionen, auch von allen unseren sogenannten ‚Gotteserlebnissen‘.“150 In Barths Entgegnung kommt sein gesamter Protest gegen eine theologische Position zum Tragen, die den von Gott erweckten Glauben in eine wie auch immer geartete Kontinuität mit anderen menschlichen Glaubens- oder Religionsformen stellt. Für Barth „ist der Glaube niemals identisch mit der ‚Frömmigkeit‘ und wenn sie die reinste wäre“.151 Glaube sei eine Tat Gottes. Und als ein solches Geschehen des Heiligen Geistes sei er „die Liebe zu Gott im Bewußtsein des qualitativen Unterschieds von Gott und Mensch, Gott und Welt, […] die Bejahung des göttlichen Nein! im Christus, das erschütterte Haltmachen vor Gott“.152 Von Harnacks Vorwurf, er zerschneide das Band zwischen dem Glauben und dem Menschlichen,153 entgegnet Barth, er schneide nicht ab, bestreite aber jede Kontinuität. Die anthropologische Frage nach dem Glauben ist demnach für Barth theologisch ohne Relevanz. Im Gegenteil, die Suche nach Kontinuitäten entleere den Glauben. Den Gedanken eines „homo religiosus“ nennt Barth ausdrücklich eine „natürlich-titanische Überhebung“.154 So steht am Beginn der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts der Paukenschlag einer Theologie der Krise, nach der es keine anthropologische Gottesbeziehung, sondern einzig ein durch Gott selbst hergestelltes Verhältnis gibt: Gott selbst schafft sich das Organ seiner Kraft auf Erden.155 —————

148 Harnack, Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen, in: Barth, Klärung. Wirkung. Aufbruch, 225. 149 Barth, Sechzehn Antworten an Herrn Professor von Harnack, in: ders., Klärung. Wirkung. Aufbruch, 228. 150 Barth, Antwort auf Herrn Professor von Harnacks offenen Brief, in: ders., Klärung. Wirkung. Aufbruch, 245. 151 Barth, Der Römerbrief, 15. 152 Ebd., 14. 153 Harnack, Offener Brief an Herrn Professor K. Barth, in: Barth, Klärung. Wirkung. Aufbruch, 234. 154 Barth, Antwort auf Herrn Professor von Harnacks offenen Brief, ebd., 247. 155 Vgl. Slenczka, Art. Glaube VI, 352.

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(9) Barth hat einen Kontrapunkt zur neuzeitlichen Suche nach einer „religiösen Anlage“ des Menschen gesetzt. Allerdings sind daneben auch die anderen und anders lautenden Stimmen weiterhin vernehmbar gewesen. Zu Jahrhundertbeginn hat Ernst Troeltsch den Begriff des „religiösen Apriori“ geprägt und damit die Traditionslinie von Kant bis Schleiermacher weitergeführt. Gegen zeitgenössische Versuche, religiöse Phänomene auf historische oder psychologische Zusammenhänge zu reduzieren, versucht Troeltsch zu zeigen, dass die Wertsetzungen und Geltungsannahmen des empirischen Subjekts immer schon in einem transzendentalen Vernunftkern gründen. Die „vernunftnotwendige […] Beurteilungs- und Betrachtungsweise des Wirklichen unter ethischen, religiösen und teleologischenästhetischen Gesichtspunkten“ und deren synthetische Funktion sei „auf einen hinter dem Ablauf der Seelennatur und ihres Wirkungszusammenhangs liegenden […] Vernunftkern“156 zurückzuführen. Dadurch enthebt Troeltsch die empirische Vernunft einer bloß historischen oder psychologischen Ableitung und macht ihre Leistungen vor dem Hintergrund einer „Metaphysik des noumenalen Charakters“157 verständlich. Das „religiöse Apriori“ verbinde insofern das Gegeben-Tatsächliche mit dem VernunftNotwendigen158 und erweise sich so als für den „Aufbau der einheitlichen Persönlichkeit“159 konstitutiv. Als „religiös“ sei dieser Vernunftkern aufgrund seines metaphysischen Charakters zu bezeichnen. Die „Unbedingtheit alles Apriorischen, die Kontinuität und Folgerichtigkeit der geschichtlichen Vernunftbildungen“ deuten nach Troeltsch „auf eine handelnde Gegenwart des absoluten Geistes im endlichen“ hin, „das der eigentliche Grund alles Apriori und aller geschichtsphilosophisch zu erfassenden Bewegung ist“.160 (10) Paul Tillich hat Troeltschs Begriff des „religiösen Apriori“ kritisiert, weil er dadurch das Unbedingte zu einer Funktion des Bedingten, nämlich des endlichen Bewusstseins werden glaubte. „Das Unbedingte steht neben dem Bedingten“, kritisierte er in einem Aufsatz aus dem Jahr 1922, und so sei man neben vielem anderen auch religiös. Aber „die Religion gestattet nicht, daß man auch religiös ist“. Sie sei „ein verzehrendes Feuer gegen alle autonomen Geistesfunktionen und wer ein religiöses Apriori sucht, muß wissen, daß damit alle anderen Apriori’s im Abgrund versinken.“161 Dennoch verwirft Tillich nicht die anthropologische Gründung einer Beziehung zum Unbedingten. Vielmehr erblickt er in der Selbstge————— 156 157 158 159 160 161

Troeltsch, Zur Frage des religiösen Apriori, 758. Ebd. Vgl. ebd., 757. Ebd., 758. Ebd., 764. Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, GW 1, 370.

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wissheit des Ich dessen Teilhabe an dem Unbedingten, auf dem es ruht. Dabei sei das Unbedingte, dessen das Ich in seiner Selbstgewissheit gewiss sei, weder Subjekt noch Objekt sondern die Voraussetzung jedes Unterschiedes von Subjekt und Objekt. „Gottesgewißheit ist die in der Selbstgewißheit des Ich enthaltene und sie begründende Gewißheit des Unbedingten […]. Das Ich und seine Religion steht unter dem Unbedingten; es ist erst möglich durch das Unbedingte. Es gibt deswegen überhaupt keine Gewißheit, in der nicht die Gottesgewißheit implicite enthalten wäre“.162 Das Selbstbewusstsein ist für Tillich demnach der Ort, an dem die Unbedingtheit im Bedingten offenbar wird. Das Unbedingte ist für Tillich deshalb auch der Gegenstand der Religion. In seiner „Religionsphilosophie“ von 1925 nennt er Religion die „Richtung auf das Unbedingte“.163 Im zwei Jahre später entstandenen „System der religiösen Erkenntnis“ taucht dann bereits die eindrückliche und einflussreiche Formulierung auf: „Religiös ist, was uns unbedingt angeht.“164 In späteren Jahren hat Tillich diesen Religionsbegriff weiter ausgebaut. Er unterscheidet dann ein weiteres und engeres Verständnis. „Religion in diesem weitesten und grundsätzlichsten Sinn ist das Ergriffensein von etwas, das uns unbedingt angeht.“165 Im engeren Sinn bezeichnet sie dann eine konkrete Ausformung dessen, was uns unbedingt angeht, d.h. eine konkrete Religion mit bestimmten Gottesbildern, Kultformen und Vorstellungen. Auf ihrem Weg durch die Neuzeit in die Moderne haben der Religionsaber auch der Glaubensbegriff Transformationen erfahren. Insbesondere der Religionsbegriff ist dabei zu einem theologischen und philosophischen Grundbegriff geworden. Während er einerseits den Gegenstand der Theologie kennzeichnete, brachte er andererseits philosophisch die grundsätzliche Bezogenheit des Menschen auf das Absolute zur Geltung. Dabei ist eine Entwicklung zu beobachten, die man als zunehmende Anthropologisierung oder sogar Subjektivierung bezeichnen könnte: von der „natürlichen“ zur „inneren“ und zur „Vernunftreligion“. Der Verortung der Religion im Menschen wird verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei spielt spätestens ab Kant der Subjektbegriff eine zentrale Rolle. Fichte, Hegel und Schleiermacher reflektieren Religion bereits als eine Implikation des unmittelbaren Selbstbewusstseins. Allerdings repräsentieren sie zugleich erkennbar unterschiedliche Modelle ihres Charakters: Fichte erblickt sie im Bewusstsein ————— 162

Ebd., 377. Ebd., 320. 164 Tillich, Das System der religiösen Erkenntnis, EB 11, 112. Werner Schüßler weist darauf hin, dass die Formulierung „das, was uns unbedingt angeht“ bei Tillich erstmals in der „Dogmatik“ von 1925 auftaucht (vgl. Schüßler, Jenseits von Religion und Nicht-Religion, 70, Anm. 4). 165 Tillich, Über die Grenzen von Religion und Kultur, GW 9, 94. 163

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der selbst gesetzten Freiheit und also in der Moralität. Hegel schreitet von der unmittelbaren Gewissheit zum absoluten Wissen, weshalb Religion zu einem Moment in der Bewegung des Begriffs wird. Schleiermacher schließlich erblickt die Religion in der Präsenz des transzendenten Grundes im Gefühl. Trotz ihrer Verschiedenheiten und Bewertungsunterschiede machen aber alle drei Konzepte deutlich, dass der Transzendenzbezug bereits auf der Ebene der unmittelbaren Selbstgewissheit mitgesetzt ist. Das ist auch eine Pointe von Tillichs Religionsbegriff. Man darf deshalb als ein Ergebnis des neuzeitlichen und modernen Religionsdiskurses ansehen, dass Religion – und Glaube – nicht erst reflexiv entstehen, sondern bereits präreflexiv gewiss sind. Überein kommen die Konzepte auch darin, dass die anthropologisch verankerte Gottesbeziehung auf einer Beziehung Gottes zum Menschen beruht. „Glaube“ wird ebenfalls in großer Übereinstimmung als Gewissheit und Vertrauen näherbestimmt. Allerdings unterscheiden sich die Entwürfe darin, ob sie „Glaube“ und „Religion“ beinahe synonym betrachten oder so differenzieren, dass der Glaubensbegriff innerhalb des ordo salutis zu stehen kommt. Die Theologie Karl Barths hat den Unterschied von „Glaube“ und „Religion“ besonders stark akzentuiert. Allerdings bestreitet auch Barth nicht die Gottsuche des religiösen Menschen – diese wird jedoch angesichts der Offenbarung Gottes als soteriologisch bedeutungslos zurückgewiesen. Die „Gretchenfrage“ müsste deshalb wohl bei Barth lauten: „Nun sag, wie hast du’s mit dem Glauben?“

6.5 Gottoffenheit. Unterbrechungen. Gottesgewissheit. Aspekte von „Religion“ und „Glaube“ in aktuellen systematisch-theologischen Entwürfen Margarete glaubte sich nach demselben zu erkundigen, wenn sie ihre Frage „Wie hast du’s mit der Religion?“ anschließend mit „Glaubst du an Gott?“ wiederholt. Barths Einspruch hat deutlich gemacht, dass das scheinbar fraglos Selbe in Wirklichkeit fraglich ist. Die Bewertungen von „Religion“ und „Glaube“ sind auch in der aktuellen theologischen Diskussion unterschiedlich. Ebenso wie ihre anthropologische Verortung. Drei Konzepte will ich skizzieren. (1) Für Wolfhart Pannenberg kann die christliche Theologie allein „auf dem Boden allgemeiner anthropologischer Untersuchungen“166 grundgelegt werden. Dies setzt den Nachweis voraus, dass „Religion“ konstitutiv zur conditio humana gehört. Genau dies hat Pannenberg durchgängig zur Gel————— 166 Pannenberg, Anthropologie, 15. Pannenberg sagt ausdrücklich (ebd.), dass dies keine Frage einer Position sei, „die man einnehmen oder auch nicht einnehmen kann“.

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tung gebracht: „Der Mensch ist von Natur aus religiös. Religion […] ist eine notwendige Dimension seines Lebens“.167 Er hat verschiedene Begründungen für diese These entwickelt. Drei besonders zentrale möchte ich darstellen. (a) In seinen frühen Vorlesungen „Was ist der Mensch?“ geht Pannenberg von der Weltoffenheit des Menschen aus. Im Unterschied zur Umweltgebundenheit des Tieres sei der „Mensch […] ganz und gar ins Offene gewiesen. Er ist über jede Erfahrung, über jede gegebene Situation hinaus immer noch weiter offen. Er ist offen auch über die Welt hinaus, nämlich über sein jeweiliges Bild von der Welt; aber auch über jedes mögliche Weltbild hinaus und über das Suchen nach Weltbildern überhaupt […]. Solche Offenheit über die Welt hinaus ist sogar Bedingung der Welterfahrung selbst.“168 Der Motor dieses Strebens ins Offene sei der Druck des menschlichen Antriebsüberschusses. Diese Triebstruktur sei nicht nur auf etwas gerichtet sondern zugleich auch darauf angewiesen. Mit den Tieren teile der Mensch die Angewiesenheit auf Nahrung, Gesundheit, Gemeinschaft und einen Lebensraum. Im Unterschied zu den Tieren sei die menschliche Bedürftigkeit allerdings grenzenlos. Sie richte sich auf etwas, das sich ihm fortwährend entziehe. An dieser Stelle bringt Pannenberg Gott als Grund und Gegenüber dieser Offenheit ins Spiel. Als Bedingung für den menschlichen Antriebsüberschuss sei das, worauf sich die menschliche Offenheit richte, nicht das Produkt des Menschen sondern deren Voraussetzung. „Die chronische Bedürftigkeit, die unendliche Angewiesenheit des Menschen setzt ein Gegenüber jenseits aller Welterfahrung voraus. Der Mensch schafft sich nicht erst unter dem Druck seines Antriebsüberschusses einen phantastischen Gegenstand seiner Sehnsucht und Ehrfurcht über alle in der Welt möglichen Dinge hinaus, vielmehr setzt er in seiner unendlichen Angewiesenheit ein entsprechend unendliches, nicht endliches, jenseitiges Gegenüber immer schon voraus, mit jedem seiner Atemzüge, auch wenn er es nicht zu nennen weiß. Das liegt wiederum im Wesen seines unendlichen Triebes. Erst daraufhin, daß der Mensch unendlich angewiesen ist und also in jedem Lebensvollzug ein über alles Endliche hinweg ihm zugewandtes Gegenüber seiner Angewiesenheit voraussetzt, erst daraufhin kann seine Phantasie Vorstellungen davon bilden.“169 „Gott“ ist der Name für dieses Gegenüber der unendlichen menschlichen Angewiesenheit. Die Weltoffenheit des Menschen setze daher seine Gottoffenheit voraus. —————

167 Pannenberg, Religion und menschliche Natur, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 2, 270. 168 Pannenberg, Was ist der Mensch?, 10. 169 Ebd., 11.

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(b) In seiner „Anthropologie“ hat Pannenberg eine Argumentation entwickelt, die sich vor allem am Phänomen der menschlichen „Exzentrizität“ (Plessner) orientiert. Diese lässt sich am Verweilen der menschlichen Anschauung bei ihrem Gegenstand erläutern. Indem der Mensch einen Gegenstand als einen anderen erfasse, sei nicht nur mitgesetzt, dass der Mensch bei den Gegenständen seiner Welt sei, sondern auch, dass er sich von jedem von ihnen auch distanzieren könne. „Im Bewußtsein der Andersheit des Gegenstandes ist das ihm gegenüber andere, von dem er unterschieden wurde, […] stets implizit gegenwärtig, wenn auch nur vage, ohne Bestimmtheit.“170 Aber nicht nur das implizite Wissen um das andere ist in der Gegenstandswahrnehmung mitgesetzt. Auch die Unterscheidung vom Wahrnehmenden selbst ist in ihr präsent. In der Struktur der gegenständlichen Wahrnehmung ist dadurch ein Moment ihrer Überschreitung angelegt. „Um den einzelnen Gegenstand als diesen einzelnen und also als einen andern im Unterschied zu anderen Gegenständen wie auch zu mir selber erfassen zu können, muß ich schon über den einzelnen Gegenstand hinausgegriffen haben auf eine Perspektive, in der er zusammen mit andern überschaubar ist, die also durch ihre Allgemeinheit dem einzelnen Gegenstand übergeordnet ist und ihn zugleich mit andern zusammen umgreift.“171 Auch in dieser Argumentation wird von Pannenberg das Ganze als Grund und Horizont der menschlichen Wahrnehmung ins Spiel gebracht. „Wenn der Mensch sich einem bestimmten Gegenstand zuwendet, so hat er immer schon ausgegriffen über alles Endliche hinaus; denn nur im Zusammenhang des Ganzen wird die Bedeutung des einzelnen uns bestimmbar.“172 Die menschliche Exzentrizität setze daher die Vorgegebenheit einer göttlichen Wirklichkeit voraus. (c) In der „Systematischen Theologie“ und in zeitnah zu ihr erschienen Aufsätzen hat Pannenberg die natürliche Gottesbezogenheit des Menschen noch einmal nuanciert anders entfaltet. Jetzt wählt er seinen Ausgangspunkt nicht im Antriebsüberschuss oder in der Aufmerksamkeitsselektion sondern interpretiert die notitia innata, die dem Menschen ins Herz geschriebene Kenntnis Gottes (vgl. Röm 2,15). Exzentrizität versteht Pannenberg in diesem Zusammenhang als die Nötigung, sich selbst außerhalb seiner selbst zu gründen. Der Mensch müsse sein Vertrauen so in etwas festmachen, „dass er sein Herz daran hängt und sich darauf verläßt“.173 Das gelte bereits für die Anfänge jeder individuellen Lebensgeschichte und das sich hier herausbildende „Grundvertrauen“. Allerdings werfe der ————— 170 171 172 173

Pannenberg, Anthropologie, 64. Ebd. 65. Ebd. 69. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 127.

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Vertrauensbegriff Probleme auf, weil er bereits ein rudimentäres Bewusstsein der Unterschiedenheit von Ich und Welt voraussetze. Ihm voraus liege stattdessen „die Einbettung des Individuums in einen symbiotischen Lebenszusammenhang“.174 Dabei handele es sich um jene gemeinsame Lebenssphäre am Beginn einer Lebensgeschichte, in der sich ein Kind noch nicht von seiner Mutter unterscheidet, sondern mit ihr symbiotisch verbunden ist. Erik H. Erikson habe mit seiner Kategorie des „Grundvertrauens“ deutlich gemacht, dass das Kind mit einer grundsätzlichen Offenheit auf die Welt bezogen sei und in sie hineinwachse, dass man von einer „exzentrischen Lebensform“ sprechen könne.175 Das Kind existiert „in der ‚symbiotischen‘ Verbundenheit mit der Mutter in einer ganz ursprünglichen Weise außerhalb seiner selbst. Die ‚Ekstase‘ ist da vor dem Insichselbststehen, vor der ‚Hypostase‘, der Person.“176 In dieser symbiotischen Lebenssphäre sei ein unbestimmtes Ganzes präsent, das vor allen Abgrenzungen liege und den Menschen in ein ihn übersteigendes „Geheimnis“ hineinstelle.177 „Die Mutter vertritt in den Anfängen der kindlichen Entwicklung für das Kind die Welt, und […] sie vertritt Gott, den letzten bergenden und tragenden Horizont für das Leben des Kindes, jenen Horizont, in bezug auf den die unbestimmte Ekstatik des symbiotischen Lebensvollzugs der ersten Lebenswochen schließlich übergeht in jenes erstaunliche Vertrauen“.178 Aber die Mutter könne dieses Vertrauen selbst nicht rechtfertigen – vielmehr könne es nur durch Gott selbst, das bergende und tragende „Geheimnis“ des Lebens und der Wirklichkeit als ganzer verbürgt werden. Nach Pannenberg kann diese Bezogenheit des Menschen auf ein ihn bergendes „Geheimnis“ erst im Nachhinein, d.h. im Rückblick aus einem entwickelten Gottesbewusstsein heraus als ein „unthematisches Wissen von Gott“ (Rahner) bezeichnet werden. Für diese allgemeine anthropologische Gottesbezogenheit des Menschen verwendet Pannenberg den Begriff „Religion“. Er sei gegenüber dem des Glaubens zu bevorzugen, weil er nicht als bloß subjektives Engagement missverstanden werden könne, die Gemeinschaftlichkeit des religiösen Verhaltens mit thematisiere und das gemeinsam Menschliche in der Vielheit der religiösen Phänomene benenne.179 In den unterschiedlichen Religionen dürfe auch nicht von vornherein nur Götzendienst gesehen werden. In ————— 174

Ebd. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 127; ders., Religion und menschliche Natur, 269. 176 Pannenberg, Religion und menschliche Natur, 269. 177 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 128. 178 Pannenberg, Religion und menschliche Natur, 269. 179 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 158f. 175

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ihnen komme es „sehr wohl ‚seit der Weltschöpfung‘ zur Erkenntnis des wahren Gottes“, ebenso freilich zur Verkennung.180 (d) Pannenberg reflektiert die anthropologisch allgemeine Gottesbeziehung des Menschen im Begriff „Religion“. „Glaube“ dagegen ist für ihn – im Anschluss an Luther – ein Akt personalen Vertrauens, der sich auf das göttliche Du und seine Verheißungen bezieht.181 In diesem Vertrauen (fiducia) seien allerdings die Momente der Kenntnisnahme (notitia) und der Zustimmung (assensus) enthalten und vorausgesetzt. Der Glaube sei deshalb auf die ihm vorgegebene „Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung in der Geschichte Israels und ihrer eschatologischen Vollendung in Jesus von Nazareth“182 angewiesen. Seine Gründung in der geschichtlichen Offenbarung Gottes mache nicht nur das Spezifikum des Glaubens aus, sondern zugleich auch seine Unterscheidung von allen anderen Konkretisierungen des anthropologischen Urvertrauens, in dem Menschen immer schon leben. Mithin zur „Religion“. Zentrale Bedeutung für den Glauben, der sich auf die geschichtliche Selbstoffenbarung Gottes gründet, kommt für Pannenberg der Zeitdimension zu. Im Vertrauen verlassen wir uns nämlich buchstäblich selbst, um uns auf etwas Verlässliches zu verlassen. Das Vertrauen hat es deshalb stets mit Zukunft zu tun. Gerade dort, wo wir uneingeschränkt vertrauen, gehe es letztlich um das Ganze unseres Lebens und sein in der Zukunft zu vollendendes Wohl oder Heil. Die Struktur eines solchen umfassenden, alles Endliche übersteigenden Vertrauens entspreche der Struktur der Geschichte Jesu: in beiden werde das Heil der Welt proleptisch präsent. Die Gewissheit des Glaubens verortet Pannenberg im Gefühl. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie sich „Religion“ und „Glaube“ zueinander verhalten: während Religion die Antizipation des Ganzen von Leben und Wirklichkeit im „Gefühl“ des Grundvertrauens darstellt, ist „Glaube“ die auf Grund der Selbstoffenbarung Gottes ermöglichte, im Gefühl präsente und bejahte Antizipation der Vollendung unseres Lebens und der Welt. „Gefühlsmäßig müssen wir bejahen können, daß in der Geschichte Jesu die Vollendung der Welt und unseres eigenen Leben schon angebrochen und unserem Glauben gegenwärtig ist“.183 Die rationale Rechenschaft des Glaubens setze dasjenige voraus, was vage im Gefühl bereits gegenwärtig sei. (2) „Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt“. Luthers Kurzdefinition des Menschen kann zugleich als Überschrift über Eberhard Jüngels Anthropologie stehen: „die theologisch definierte Natur des Men————— 180 181 182 183

Vgl. ebd., 132. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, 158f, 174. Ebd., 175. Ebd., 195.

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schen“ ist, so macht er deutlich, „von Gott gerechtfertigt zu sein und sich diese Rechtfertigung gefallen zu lassen. Das heißt: der Mensch kommt ontologisch von seiner in Christus geschehenen Rechtfertigung durch Gott immer schon her und geht ontisch, insofern er glaubt, sowohl von ihr aus als auch auf sie zu. Im Glauben existiert der Mensch, was er in Christus schon ist.“184 Weil der Mensch in Christus schon anerkannt ist, gehöre auch die Zumutung der Anerkennung seines Anerkanntseins zur Definition des Menschen. Mithin der Glaube. „Der Mensch ist theologisch eben durch die Rechtfertigung allein aus Glauben definiert.“185 Das Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis des Menschen entscheide sich im Glauben. Seine Existenz entscheide sich hier. Vom Ereignis der Rechtfertigung her sind deshalb nach Jüngel auch anthropologische Konsequenzen zu ziehen.186 Der Mensch, so werde durch das Rechtfertigungsgeschehen deutlich, sei ein ex-zentrisches Wesen, das sich selbst aus der Begegnung mit einem anderen empfängt.187 Genauer: durch das Wort Gottes, von dem er angesprochen werde, ereigne es sich, dass er sich aus seiner Selbstbezüglichkeit heraus öffne und beziehungsfähig werde. So geschehe es, dass er „im Hören auf dieses Wort die Pointe seiner Existenz, das gelingende Zusammensein mit Gott, mit seinen Mitmenschen und das gelingende Bei-sich-selbst-Sein allererst findet“.188 Der Glaube sei nichts anderes als dieses Bei-sich-selbstSein in einem Außer-sich-Sein.189 Im Glauben verlasse das Ich sich selbst und komme bei dem zu sich, von dem es angesprochen und angenommen sei und auf den es sich unbedingt verlassen könne.190 Nur im Glauben findet der Mensch wahrhaft zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen – und zu Gott. Immer wieder macht Jüngel deutlich, dass die menschliche Gottesbeziehung durch Gott selbst ermöglicht wird, indem dieser sich in Christus offenbart und den Menschen als dieses Wort Gottes anspricht. Deshalb gilt: ontologisch könne der Mensch nicht gottlos sein. „Denn wenn der Mensch durch die Rechtfertigung aus Glauben definiert wird, dann ist seine subjektive Gottlosigkeit durch Gottes Menschlichkeit objektiv unmöglich gemacht.“191 Ontisch jedoch könne der Mensch diese —————

184 Jüngel, Das Dilemma der natürlichen Theologie und die Wahrheit ihres Problems, in: ders., Entsprechungen, 168. 185 Ebd. 186 Vgl. Jüngel, Extra Christum nulla salus – als Grundsatz natürlicher Theologie, in: ders., Entsprechungen, 188; ders., Glaube, 973. 187 Vgl. Jüngel, Was ist der Mensch?, 85; ders., Der Gott entsprechende Mensch, in: ders., Entsprechungen, 299; ders., Glaube, 973. 188 Jüngel, Ganzheitsbegriffe – in theologischer Perspektive, in: ders., Ganz werden, 53. 189 Vgl. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 292f; ders., Gott als Geheimnis, 246. 190 Vgl. Jüngel, Glaube, 973. 191 Jüngel, Extra Christum nulla salus, ebd., 192.

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Gottesbeziehung verfehlen.192 Und hier gilt: außerhalb des Glaubens könne der Mensch Gott weder wahrhaft erkennen noch seiner gewiss werden. Deshalb bestreitet Jüngel die Relevanz einer notitia dei naturalis.193 Sie führe bestenfalls zum Rahmenbegriff eines göttlichen Wesens oder zur Erkenntnis einer abstrakten weltüberlegenen Macht.194 Und zu Götzen. Nicht auf der Basis von Selbst- und Welterfahrung lasse sich die Erfahrbarkeit Gottes erweisen, sondern nur aufgrund der Offenbarung Gottes selbst.195 Gott wirke Glauben, „weil allein der Glaube Gott Recht gibt, weil allein der Glaube Gott Gott sein läßt und also Gott als Gott erkennt“.196 Allein der Glaube. Es wird deutlich, warum Jüngel exklusiv im Glauben die wahre Beziehung zu Gott verwirklicht sieht und warum deshalb „der Glaube ein integrierender Bestandteil der theologischen Definition des Menschen“197 ist. „Religion“ dagegen wird von Jüngel nur eingeschränkt zur Kennzeichnung der Gottesbeziehung verwendet. Zwar kann er das Christentum eine Religion der Freiheit nennen – aber selbst bei dieser Kennzeichnung fügt er hinzu, „daß Religion in ihrem Wesen weder Denken noch Handeln, sondern eben Glauben ist“.198 Vor allem in seinen Publikationen der 1970er Jahre kontrastiert Jüngel „christlichen Glauben“ und „Religion“: „Religion beginnt, wo die Welt in ihrem Widerspruch erfahren […] wird. Inmitten der […] Widersprüche sucht Religion nach heilender Entsprechung. / Der christliche Glaube entstand, als Gottes Offenbarung, als das Wort vom Kreuz die Welt des Widerspruches unterbrach, um in ihr einen neuen, den Gott entsprechenden Menschen zu schaffen.“199 Religion wird mithin als vom Menschen ausgehende Heilssuche gekennzeichnet. Christlicher Glaube dagegen gründe in Gottes Handeln und Offenbarung. Insofern bleiben „Religion“ und „Religiosität“ zumindest zweideutig, während „Glaube“ das wahre, nämlich von Gott erneuerte Gottesverhältnis charakterisiert. So bleibt alles an Gottes Handeln gelegen und „auch im Gottesverhältnis konstituiert nicht die Religiosität des Menschen, sondern das schöpferische Wort Gottes die Ganzheit des ganzen Menschen.“200 —————

192 Vgl. zur Unterscheidung von „ontologisch“ und „ontisch“: Jüngel, Gelegentliche Thesen zum Problem der natürlichen Theologie, in: ders., Entsprechungen, 200. 193 Vgl. Jüngel, Das Dilemma der natürlichen Theologie, ebd., 177. 194 Vgl. Jüngel, Gottesgewißheit, in: ders., Entsprechungen, 257f. 195 Vgl. Jüngel, Das Dilemma der natürlichen Theologie, 175f; ders., Gott – um seiner selbst willen interessant, in: ders., Entsprechungen, 196. 196 Jüngel, Das Dilemma der natürlichen Theologie, ebd., 173. 197 Jüngel, Extra Christum nulla salus, ebd., 191. 198 Jüngel, Zum Wesen des Christentums, in: ders., Indikative der Gnade, 2. 199 Jüngel, Entsprechungen, 7 (Vorwort). 200 Jüngel, Ganzheitsbegriffe, 47.

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(3) „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen“,201 war Dietrich Bonhoeffer in den 1940er Jahren überzeugt und fügte seiner Prognose die Vermutung hinzu, dass ein „religiöses Apriori“ des Menschen gar nicht existiere. Genau dieser einflussreichen These Bonhoeffers widerspricht Eilert Herms mit Nachdruck. Für ihn ist Religion keine geschichtlich vorübergehende Erscheinung sondern eine „anthropologische Konstante“202 bzw. ein „fundamentalanthropologischer Leistungsbereich“.203 Weil „alle Menschen Religion haben (religiös sind)“204 sei Bonhoeffers These vom Verlust des „religiösen Apriori“ falsch und „die Behauptung der faktischen Religionslosigkeit dieser Welt ist falsch. Es gibt überhaupt kein Handeln, das nicht de facto von irgendeiner religiös-weltanschaulichen Gewißheit über Ursprung und Bestimmung des Menschen motiviert und gesteuert wäre“.205 „Religion“ als wesentliche und konstitutive Dimension des Menschseins sei demnach in jedem individuellen Leben präsent. Sie komme darin zum Tragen, dass jeder Mensch sein Leben im Licht unterhintergehbarer Gewissheiten führt. Dazu gehöre die „Gewißheit über den Ursprung, die ursprüngliche Verfassung und Bestimmung des Weltgeschehens und darin des leibhaften Personseins, die die Handlungsfähigkeit von Personen begründet und inhaltlich bestimmt.“206 In der „Religion“ erschließe sich dem Menschen sein Dasein und das der gesamten Wirklichkeit in seiner externen Konstitution und Bestimmung. Dem Menschen werde seine individuelle Existenz als Bestimmtsein zur interaktionalen Selbstbestimmung erschlossen.207 Darin liege u.a. das Bewusstsein der Kontingenz der eigenen Existenz sowie der gesamten Wirklichkeit als „eines Seins, das kontingenter ‚jenseitiger‘ Gewährung entspringt und nur durch sie […] besteht“.208 Als Urheber für diese Gewährung kommt nach Herms nur eine ganz andersartige, absolut freie und wählende Instanz in Betracht. „Der Ausdruck ‚Gott‘ bezeichnet nichts anderes als diese von allem Gewählten unterschiedene (ihm gegenüber jenseitige) absolut wählende Instanz; und zwar ohne Rücksicht auf jede Näherbestimmung dieser Instanz (etwa als ‚absoluter Zufall‘ oder als ‚absolute Person‘, absolutes ‚Ich‘ etc.) ‚Gottes‘gewißheit in diesem Sinne ist also in der Kontingenzgewißheit als solcher eingeschlos————— 201

Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, 403. Herms, „Verantwortung“ in der Verfassung, in: ders., Kirche für die Welt, 451 Anm.; ders., Art. Religion in der Gesellschaft, 287. 203 Herms, Theologie und Religionswissenschaft, in: ders., Phänomene des Glaubens, 458. 204 Herms, Ist Religion noch gefragt?, in: ders., Erfahrbare Kirche, 26f. 205 Herms, Die Wiedervereinigung als Chance und Herausforderung für den Protestantismus, in: ders., Kirche für die Welt, 112. 206 Herms, Theologie und Religionswissenschaft, 461. 207 Vgl. Herms, Glaube, in: ders., Offenbarung und Glaube, 461–467. 208 Ebd., 466. 202

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sen.“209 In der Gewissheit des menschlichen Selbsterlebens sei deshalb der Gottesbezug in diesem allgemeinen Sinn mit enthalten. Sie lasse sich als unmittelbare Gewissheit der externen Konstitution und der kontingenten Gewährung des eigenen Lebens verstehen. Das ist Religion.210 Als solche Gewissheit über Ursprung, Verfassung und Bestimmung des eigenen freien Daseins habe sie zugleich eine motivierende und orientierende Bedeutung.211 in ihrem Licht würden Zielwahlentscheidungen für das eigene Leben getroffen und umgesetzt. Dabei sei Religion nicht nur eine Sache des Kopfes, sondern auch und vor allem eine Angelegenheit des Herzens.212 „Religion“ in diesem Sinn sei anthropologisch universal. Sie sei „der Möglichkeitsgrund aller Selbstbesinnung und Selbstbestimmung von Personen“.213 Allerdings bedeutet diese These für Herms nicht, dass jedem Handeln notwendigerweise eine klare religiöse Überzeugung mit einem ganz bestimmten Inhalt zu Grunde liegen müsse.214 Vielmehr könne die religiöse Gewissheit in einer lediglich rudimentären und unentwickelten Gestalt vorliegen oder sich sogar ausdrücklich als atheistisch (miss)verstehen. Selbst solche Gewissheiten müssten als „Religion“ angesehen werden, die aus christlicher Perspektive als irrige Gewissheiten erscheinen.215 Jede „positive“, d.h. konkret gegebene „Religion“, „Philosophie“ oder „Weltanschauung“ sei „Religion“. Damit erübrigt sich für Herms auch die Suche nach einer „natürlichen Religion“. Diese sei selbst eine „positive Religion“, nämlich eine konkrete geschichtliche und inhaltliche Gestalt von „Religion“. Nur in konkreten Gestalten, d.h. als „positive Religion“ werde „Religion“ manifest.216 Darüber hinaus werde jede solche Religion in dem Moment ein Glaube, wenn die betreffende Person die jeweilige konkrete Gewissheit über Ursprung, Verfassung und Bestimmung des eigenen und allen Seins aktiv anerkennt.217 Vor dem Hintergrund der Vielzahl von konkreten Religionen stelle sich notwendig die Frage nach deren Wahrheit und dem des in ihr mitgesetzten Gottesbezuges. Diese Wahrheitsfrage lasse sich allerdings nicht an einem ————— 209

Ebd. Herms definiert „Religion“ andernorts folgendermaßen: „Religion ist das Innewerden und der Umgang des Menschen mit der Tatsache, daß seine Macht, etwas in der Welt zu bewirken, nur existiert als eine ihm gewährte, von ihm völlig passiv empfangene begrenzte Anteilhabe an der uns schlechthin überlegenen weltschöpferischen Macht über alle Wirklichkeit“ (Offenbarung, in: ders., Offenbarung und Glaube, 180). 211 Vgl. Herms, Art. Religion in der Gesellschaft, 287. 212 Vgl. Herms, Theologie und Religionswissenschaft, 461. 213 Herms, „Verantwortung“ in der Verfassung, 451, Anm. 214 Vgl. Herms, Ist Religion noch gefragt?, 31. 215 Vgl. Herms, Die Wiedervereinigung, 112; ders., Ist Religion noch gefragt?, 30f. 216 Vgl. Herms, Theologie und Religionswissenschaft, 458. Herms kritisiert deshalb auch die Theorie der „Zivilreligion“ (Pluralismus aus Prinzip, in: ders., Kirche für die Welt, 472f. 217 Vgl. Herms, Glaube, 468f. 210

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gleichsam „neutralen Ort“ beantworten. Vielmehr entstehen menschliche Überzeugungen regelmäßig „aus dem Zusammenspiel zwischen dem Erleiden von Gewißheit aus offenbarendem Erleben und aus menschlichen Vergewisserungsaktivitäten“.218 Insofern sei es ein durchgängiges Charakteristikum religiöser Gewissheit, dass sie sich als passiv erschlossen und insofern unverfügbar erfahre, mithin: durch Offenbarung konstituiert.219 Das gelte auch für die christliche Religion und deren Konstitution durch das Offenbarungshandeln des dreieinigen Gottes. Gott offenbare sich, indem er Menschen in der Begegnung mit dem Evangelium Jesu Christi dessen Wahrheit erschließt und dadurch deren Lebensgewissheit in einer „Verwandlung ihres Herzens“ differenziert, korrigiert und konkretisiert.220 Menschen würden so der Wahrheit des Evangeliums inne und ihnen erschließe sich ein vollständiger Begriff von Ursprung, Verfassung und Bestimmung des Wirklichen. Vor dem Hintergrund dieses Erschließungsgeschehens kennzeichnet Herms den christlichen Glauben als „diejenige Weise der Hinnahme (Aneignung) der Gabe des dem Versöhnungswillen des Schöpfers entspringenden, in ihm aufgehobenen und durch ihn bestimmten Daseins, die ihrem Geber vertraut.“221 Herms hat in diese Glaubensdefinition die drei wesentlichen Dimensionen der „fides“ nach evangelischem Verständnis integriert: notitia (Kenntnis), assensus (Anerkenntnis) und fiducia (Vertrauen). In der Erschließungserfahrung ist der Aspekt des Wissens bereits mit enthalten.222 Das, was sich Menschen so erschlossen habe und wovon sie auch wüssten, werde nun aber zum Anlass, diese Gewissheit auch ihrerseits anzuerkennen. Glaube ist in diesem Sinn dann die Anerkennung dessen, was sich ihm erschlossen hat, also die Aneignung der Gabe der Versöhnung. Diese Aneignung könne sich aber ihrerseits nur als Vertrauen gegenüber dem dreieinigen Gott vollziehen. In diesem Sinn kann Herms auch formulieren: Glaube ist das „Ernstmachen mit dem und sich verlassen auf das, was gewiß ist“.223

————— 218

Herms, Offenbarung und Wahrheit, in: ders., Phänomene des Glaubens, 114. Vgl. Herms, Pluralismus aus Prinzip, 483; ders., Offenbarung und Wahrheit, 103–115; ders., Offenbarung und Erfahrung, in: ders., Offenbarung und Glaube. 220 Vgl. Herms, Glaube, 478. 221 Ebd., 481. 222 Vgl. Herms, Offenbarung und Wahrheit, 112–115; ders., Das Selbstverständnis der Wissenschaften heute und die Theologie, in: ders., Kirche für die Welt, 379–387; ders., Glaube, 469f. 223 Herms, Das Selbstverständnis der Wissenschaften, 380. 219

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6.6 Lebensgewissheit. Grundgewissheit. Strukturen des Glaubens Ernst Troeltsch galt das „religiöse Apriori“ als konstitutiv für den Aufbau der einheitlichen Persönlichkeit. Dietrich Bonhoeffer dagegen mutmaßte, „daß dieses ‚Apriori‘ gar nicht existiert“ und die Menschen deshalb „wirklich radikal religionslos werden“.224 Die Positionen stehen einander schroff gegenüber. Ihr Gegensatz nötigt zur Reflexion. Ist der Mensch, wie Dorothee Sölle formuliert hat, „unheilbar religiös“? Existiert eine „strukturelle Angewiesenheit des Menschen auf Religion“? Nachdem ich in den zurückliegenden Abschnitten einen begriffsgeschichtlichen Überblick gegeben habe, möchte ich in den folgenden Passagen anthropologische Überlegungen zum Religions- und Glaubensthema diskutieren. (1) Bonhoeffers Erwartung einer „religionslosen Zeit“ ist vielfach kritisiert worden.225 Mit Recht, denn sowohl sein Religionsbegriff selbst als auch das generalisierte Säkularisierungstheorem erweisen sich als problematisch. Ebenso die Vorstellung vom religionslosen als einem ipso facto mündigen Menschen. Dennoch: Bonhoeffers Briefe aus der Haft sind eine ernst zu nehmende Warnung, den Menschen vorschnell als homo religiosus behaften zu wollen. Immerhin kommen auch neue empirische Untersuchungen zu dem eindeutigen Ergebnis, dass in den letzten Jahrzehnten „nicht nur traditionale Kirchlichkeit, sondern auch individuelle Religiosität abgenommen hat“.226 Detlef Pollack und Gert Pickel konstatieren „dass die dominante Entwicklungstendenz auf dem religiösen Feld durch Prozesse der Säkularisierung – hier verstanden als Bedeutungsrückgang von Religion in ihren sozialen, institutionellen und individuellen Dimensionen – gekennzeichnet ist“.227 Immerhin umfasst die Gruppe der Areligiösen, die alle Formen von Religiosität – auch außerkirchliche – ablehnt, in Westdeutschland 30,7% und in Ostdeutschland sogar 65,8% der Bevölkerung.228 Im Osten korreliert darüber hinaus das religiöse Selbstverständnis in hohem Maße mit der Konfessionszugehörigkeit. „Religion und Kirche“, so Pollack und Pickel, „sind in Ostdeutschland offenbar in vielen Gesellschaftsschichten derart abseitig, dass nicht nur traditionale Kirchlichkeit abgelehnt wird, sondern mit ihr alle Formen von Religion.“229 ————— 224

Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, 403. Vgl. u.a. Stock, Die Theorie der christlichen Gewißheit, 41f; Herms, Kirche für die Welt, 112; Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen, 40f. 226 Pollack/Pickel, Deinstitutionalisierung des Religiösen und religiöse Individualisierung, 459. Das Zahlenmaterial, das Pollack und Pickel ihrer Untersuchung zu Grunde gelegt habe, reicht bis zum Jahr 2000. 227 Ebd., 469. 228 Vgl. ebd., 467. 229 Ebd., 463. 225

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Angesichts des Umstands, dass Religionslosigkeit in Ostdeutschland ein Massenphänomen ist, fällt es schwer, ein generalisierbares „religiöses Apriori“ des Menschen zu behaupten. Damit ist aber nicht zwangsläufig die Gegenthese erwiesen. Vielmehr scheint es mir notwendig zu sein, die anthropologische Reflexion der menschlichen Gottesbeziehung aus der Polarität von „religiösem Apriori“ einerseits und „Religionslosigkeit“ andererseits herauszulösen und deshalb nicht vom Religionsbegriff her aufzubauen. Zwar hat meine geschichtliche Skizze gezeigt, dass „Religion“ in der neuzeitlichen Entwicklung zunehmend die zentrale anthropologische Kategorie zur Charakterisierung des menschlichen Transzendenzbezuges geworden ist. In weiten Teilen der (ostdeutschen?) Gesellschaft wird „Religion“ aber heute nicht mehr so verstanden, sondern meist mit einem konkreten Religionssystem sowie dessen Lehre in eins gesetzt – und abgelehnt. Nicht weil der Religionsbegriff ein sachlich falscher Ausgangspunkt wäre, sondern weil er zahlreichen Missverständnissen ausgesetzt ist, möchte ich ihn zunächst nicht als Zugang zum Phänomen eines menschlichen Transzendenzbezuges verwenden.230 Stattdessen scheint mir der Begriff des Glaubens geeigneter zu sein, die anthropologische Offenheit auszuleuchten und in ihrer Verwiesenheit sowie Angewiesenheit auf einen transzendenten Grund zu reflektieren. Ich wähle überdies meinen Ausgangspunkt außerhalb eines im engeren Sinn religiösen Glaubens, weil ich meine, dass ich so am besten das anthropologische Phänomen deutlich machen kann, von dem ich ausgehe und dessen Struktur ich in den folgenden Absätzen weiter verfolge. (2) In einem Lied der ostdeutschen Rockgruppe „Renft“ aus dem Jahr 1974 heißt es: „Du, woran glaubt der / Der zur Fahne geht / Ruhm der Fahne schwört / Dabei stramm steht? // Du, woran glaubt der / Der nicht anlegt / Der als Fahne vor sich her / Einen Spaten trägt // Du, woran glaubt der / Der in’n Kahn geht / Und den Hintern quer / Zur Fahne dreht?“231 Gerulf Pannach, von dem der Text stammt, hat dieses Lied „Glaubensfragen“ genannt. Es ist nicht nur seines unmittelbaren Themas wegen interessant, sondern auch, weil es dabei Lebensüberzeugungen thematisiert, die sich in konkreten Handlungsentscheidungen niederschlagen. Ohne dass religiöse Bezüge ausdrücklich hergestellt werden, reflektiert das Lied zentrale Le————— 230

In der Geschichte der neueren Theologie haben zahlreiche Autoren, die Herausforderung, einen geeigneten Begriff für das anthropologische Phänomen des Transzendenzbezuges zu wählen, gesehen und reflektiert. Schleiermacher hat in der „Glaubenslehre“ den Religionsbegriff als missverständlich bezeichnet und deshalb vermieden (§ 6, Zusatz); Tillich wiederum zieht „Religion“ dem Glaubensbegriff vor, weil er diesen mit einem „Fürwahrhalten“ konnotiert sieht (ders., GW IX, 94). Pannenberg zieht ebenfalls den Religions- dem Glaubensbegriff vor (ders., Systematische Theologie, Bd. 1, 158). Diese Diskussionen belegen einerseits die Nähe beider Begriffe – sie machen andererseits deutlich, dass die Autoren jeweils in einem konkreten Kontext nach einem angemessenen Begriff gesucht haben. 231 Pannach, Als ich wie ein Vogel war, 120.

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bensentscheidungen als „Glaubensfragen“. Gerade dadurch rückt es den Glauben als ein für die Lebensorientierung von Menschen konstitutives Phänomen in den Blick. Die „Glaubensfragen“ bringen Glaube als eine das Leben tragende, deutende und orientierende Gewissheit ins Spiel. Im Lichte eines jeweiligen Glaubens wird von Menschen ihre Wirklichkeit gedeutet und als sinnhaft strukturierte Welt erfahren. Diese Glaubenswelt ist aber keineswegs nur eine kognitiv plausible Weltdeutung. Sie hat zugleich auch affektive und motivationale Qualität. In ihr sind Güter präsent, die für die jeweilige Person als richtig und erstrebenswert gelten und die deshalb auch das individuelle Handeln zu orientieren vermögen. Im Lichte des eigenen Glaubens werden Lebensentscheidungen getroffen. Mit ihm ist ein Lebensentwurf verbunden, der sich für das Subjekt als ein wahres, gutes und authentisches Leben darstellt. In ihm erschließt sich ein Sinn, der das eigene Leben trägt und ausrichtet. Der es stark macht, dem eigenen Glauben treu zu bleiben – auch wenn sich dabei Konflikte abzeichnen. Glaube, so wird anhand der „Glaubensfragen“ deutlich, ist eine erfahrungsdeutende und handlungsorientierende Gewissheit in Bezug auf lebenstragende Sinnfragen. In seinem Licht erschließt sich die Wirklichkeit in ihrer Sinnhaftigkeit. Er hat eine emotional bindende und verbindliche Qualität. Er orientiert Lebens- und Handlungsentscheidungen. Die individuelle Glaubensgewissheit bestimmt mithin Kopf, Herz und Handeln gleichermaßen. (3) Die „Glaubensfragen“ lassen erkennen, dass es sich hier bereits um einen reflektierten Umgang mit der Gewissheit handelt, die das eigene Leben trägt und orientiert. Die Situationen, die das Lied vor Augen führt, nötigen geradezu zu einer eigenen kognitiven Auseinandersetzung und Antwort auf die Frage, „Du, woran glaubt der […]“. Insofern wird hier deutlich, dass Glaube zwar den Charakter subjektiver Verbindlichkeit hat – er ist aber deshalb nicht der Auseinandersetzung und Argumentation entzogen: auch über Glaubensfragen lässt sich diskutieren und muss sich diskutieren lassen. Glaube hat darüber hinaus die Dimension der bewussten Annahme einer lebenstragenden und -orientierenden Gewissheit. Mit ihm verlässt sich eine Person zugleich ausdrücklich auf das, was sich ihr als glaubwürdig erschlossen hat. Glaube meint deshalb auch ein bewusstes Vertrauen und Zutrauen zu dem, was sich der eigenen Person als tragfähig, verlässlich und vertrauenswürdig präsentiert. Glaube ist auch in diesem Liedbeispiel ein Dreiklang aus Kenntnis, Annahme und Vertrauen. Er ist ein kognitiver Akt, Bejahung und Vertrauen gegenüber dem, was sich Kopf und Herz gleichermaßen als überzeugend erschlossen hat. (4) Ein Glaube, wie ihn das Lied thematisiert, entsteht nicht vor dem Hintergrund einer tabula rasa sondern setzt voraus, dass das individuelle Leben immer schon im Licht von Gewissheiten geführt wird. Menschen

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mögen sich über diese Gewissheit keine Rechenschaft geben. Sie mögen über den „Sinn des Lebens“ nicht verbalisiert Auskunft geben. Dennoch wird jedes personale Leben auf dem Boden von Gewissheiten geführt. Erik H. Erikson hat in seiner Entwicklungspsychologie gezeigt, dass sich das Grund- oder Urvertrauen eines Menschen bereits in den Erfahrungen des ersten Lebensjahren herausbildet und sich als „ein Gefühl des SichVerlassen-Dürfens“ darstellt, „und zwar in bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit seiner selbst“.232 Es wird insbesondere durch die Qualität der Mutterbeziehung bestimmt, die dem Kind, indem sie ihm die Brust und Zuwendung gibt, ein Gefühl der Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit der Wirklichkeit vermittelt. Erikson spricht ausdrücklich von einem Gefühl, das Bewusstes und Unbewusstes gleichermaßen durchdringt und das Erleben, Verhalten und innere Zustände prägt.233 Mehrfach nennt er dieses Grundvertrauen Glaube.234 Darüber hinaus lässt sich auch auf einer grundsätzlichen anthropologischen Ebene zeigen, dass Menschen ihr Leben immer schon vor dem Horizont unmittelbarer Gewissheit führen. Die Analyse der Selbst- und Sozialbeziehung des Menschen hat gezeigt, dass wir uns immer schon unmittelbar unserer selbst und der Welt, auf die wir bezogen sind, bewusst sind.235 Diese Gewissheit entsteht nicht als Produkt eigener Selbstvergewisserung. Ich erfahre mich in ihr; ich erlebe sie als mir vorgegeben. „Ich bin mir mit einem Schlage dessen bewusst, dass ich mir meiner selbst wie des Ganzen einer Welt, die mir aufgeht, bewusst bin.“236 In diesem unmittelbaren Selbstbewusstsein ist die individuelle Selbstgewissheit ebenso eingeschlossen wie die damit verbundene Leibgewissheit. In ihm ist die Bezogenheit auf Andere ebenso präsent wie die Gewissheit eines regelmäßig strukturierten Wirklichkeitszusammenhangs. Darüber hinaus ist auch die Bestimmtheit der eigenen Person zu selbstbestimmtem Handeln in dieser Gewissheit gegenwärtig.237 All diese Momente machen deutlich, dass das individuelle Leben stets schon auf dem Boden einer unmittelbaren Gewissheit geführt wird. Die lebensgeschichtliche Ausbildung eines Ur-Vertrauens setzt bereits diese anthropologische Struktur voraus. Der Glaube, der sich Menschen dann als ihr konkreter Lebens- und Sinnentwurf erschließt und zu dem sie sich dann auch ausdrücklich verhalten, wird über diese beiden Faktoren hinaus durch die individuelle Biografie und all das mitbestimmt, was in ihr erfahren wird und Kopf und Herz bewegt. ————— 232 233 234 235 236 237

Erikson, Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit, 62. Ebd. Vgl. ebd., 71–75. Vgl. Teil B, Kap. 3.4 und 5.5.4. Gräb, Atheistisch auf Gott sinnen, 193. Vgl. Herms, Glaube, 464f.

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(5) Glauben heißt also: Leben in und aus Gewissheit. Ohne Zweifel hat dieser Glauben durchgängig auch einen Transzendenzbezug. Auch das lässt sich an den „Glaubensfragen“ zeigen: indem das Lied unterschiedliche ethische Entscheidungen in den Blick nimmt, stellt es zugleich nicht nur Lebens-, sondern auch Wirklichkeitsentwürfe vor Augen, Handlungskonzepte, Gerechtigkeitsaspekte, Konfliktlösungsansätze und Modelle gesellschaftlichen Lebens. Alle die mit der jeweiligen Gewissheit verbundenen Inhalte greifen strukturell über die jeweilige individuelle und soziale Gegenwart hinaus und werfen Fragen ihrer Begründung, Geltung und Bewährung auf. Sie gewinnen subjektive Plausibilität, indem sie im Licht eines tragenden Lebens-, Welt- und Sinnkonzepts beantwortet werden und sich angesichts der eigenen Lebenserfahrungen bewähren. Allen solchen Konzepte müssen tragfähige Antworten auf zentrale Lebensfragen finden: „Woher komme ich?“, „wer bin ich?“, „was ist gut?“, „warum soll ich moralisch sein?“. Nach Kant sind es diese drei zentralen Fragen, denen kein Mensch ausweichen kann: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“.238 Alle diese Fragen und Themen greifen im Gang ihrer Reflexion über die empirische Welt hinaus auf eine letzte, gründende Wirklichkeit, auf ein Grund, Halt und Ziel alles Wirklichen. Sie fordern zu „letzten Gedanken“ (Dieter Henrich) heraus. „Glaubensfragen“ sind insofern regelmäßig mit „letzten Fragen“ verbunden. (6) Der Transzendenzbezug, der mit lebenstragenden Sinnfragen regelmäßig gegeben ist, stellt sich aber nicht nur auf der reflexiven Ebene ein, sondern ist bereits auf der vorreflexiven Ebene gegeben. Es ist die Leistung von Schleiermachers Frömmigkeitstheorie, dass er das Gottes- bzw. Transzendenzverhältnis tatsächlich fundamentalanthropologisch einsichtig gemacht hat. In den klassischen Konzepten der „Vernunftreligion“ ist der menschliche Transzendenzbezug entweder im Zuge einer Sittlichkeitstheorie (Kant; Fichte) oder einer „Phänomenologie des Geistes“ (Hegel) – stets aber auf dem Weg einer reflexiven Vergewisserung und im Rahmen eines Vernunftkonzeptes zur Geltung gebracht worden. Schleiermacher hat demgegenüber deutlich gemacht, dass das Grund-Verhältnis des Menschen „tiefer“, nämlich bereits auf einer vorreflexiven Ebene gegeben und bestimmend ist: im Gefühl. Indem er gezeigt hat, dass in jedem individuellen Selbstbewusstsein durchgängig das Bewusstsein des „Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins“239 mitgesetzt ist, hat er das menschliche Grund-Verhältnis in seiner grundlegenden Bedeutung zur Geltung gebracht: es ist in jeder Aktivitäts- oder Passivitätserfahrung mitgesetzt und begleitet sowohl Rationalität wie Moralität. Vor aller reflexiven Vergewis————— 238 239

Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke 4, 677 (A 805, B 833). Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 28 (§ 4.4).

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serung ist es unhintergehbar präreflexiv präsent. Deshalb ist auch bereits in der unmittelbaren Gewissheit, in der Menschen ihr individuelles Leben führen, der Transzendenzbezug mitgesetzt. Es ist dies die „vorgängige, vorreflexive und vorprädikative, insofern zugleich geheimnisvolle Erschlossenheit von Selbst und Welt in einem unvordenklich Gründenden“.240 (7) Glaube ist mithin Kenntnis, Annahme und Vertrauen gegenüber demjenigen Sinnzusammenhang, der sich der eigenen Person vor dem Hintergrund ihrer biografischen Erfahrungen und in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lebens- und Weltkonzepten als überzeugend präsentiert und erschlossen hat. Glaube ist Leben in und aus Gewissheit. Als solcher setzt er aber zugleich voraus, dass menschliches Leben immer schon und unhintergehbar in der unmittelbaren Gewissheit des Ich gründet. Diese macht dem Ich vorprädikativ die eigene Relationalität zu sich selbst, den Anderen und zum Grund von Selbst und Welt präsent. In ihrer jeweiligen Lebensgeschichte konkretisiert sich allerdings diese formale Gewissheitsstruktur immer schon inhaltlich: durch konkrete Güter und Werte, durch bestimmte Ziele und Hoffnungen, durch jeweils eigene Selbst- und Weltbilder. Insofern ist ein Leben ohne Gewissheit gewiss kein menschliches Leben. Im Sinn der Ablehnung konkreter Glaubensformen und -inhalte ist Unglaube eine Realität. Als die von mir beschriebene Angewiesenheit auf Sinn wäre Unglaube dagegen im buchstäblichen Sinn unmenschlich. Noch die vehemente Verneinung eines Sinns, wie sie beispielsweise in Samuel Becketts „Endspiel“ artikuliert wird, lebt von Sehnsucht nach einer Erfüllung, die in der Gegenwart schmerzlich vermisst wird.241 ————— 240

Gräb, Atheistisch auf Gott sinnen, 193. Vgl. Beckett, Endspiel, in: ders., Dramatische Werke 1, 120: HAMM: Und der Horizont? Nichts am Horizont? / CLOV das Fernglas absetzend, sich Hamm zuwendend voller Ungeduld: Was soll denn schon am Horizont sein? Pause. / HAMM: Die Wogen, wo sind die Wogen? CLOV: Die Wogen? Er setzt das Fernglas an. Aus Blei. / HAMM: Und die Sonne? / CLOV schauend: Keine. […] / HAMM: Es ist also schon Nacht? CLOV schauend: Nein. / HAMM: Was denn? CLOV schauend: es ist grau. Er setzt das Fernglas ab und wendet sich Hamm zu. Lauter: Grau! Pause. Noch lauter: G r a u ! Er steigt von der Leiter, nähert sich Hamm von hinten und flüstert ihm ins Ohr. HAMM zuckt zusammen: Grau! Sagtest du grau? / CLOV: Hellschwarz, allüberall“. Theodor W. Adorno hat in seinem „Versuch, das Endspiel zu verstehen“ genau auf diese negative Dialektik hingewiesen: „Ratio, vollends instrumentell geworden, bar der Selbstbesinnung und der auf das von ihr Entqualifizierte, muß nach dem Sinn fragen, den sie selber tilgte. In dem Stand aber, der zu dieser Frage nötigt, bleibt keine Antwort als das Nichts, das sie als reine Form bereits ist. Die geschichtliche Unausweichlichkeit dieser Absurdität läßt sie ontologisch erscheinen: das ist der Verblendungszusammenhang der Geschichte selbst. Becketts Drama durchschlägt ihn. Der immanente Widerspruch des Absurden, der Unsinn, in dem Vernunft terminiert, öffnet emphatisch die Möglichkeit eines Wahren, das nicht einmal mehr gedacht werden kann“ (Adorno, Versuch, das Endspiel zu verstehen, in: ders., GS 8, 319). Adorno fügt wenige Zeilen später hinzu: „Die Erde ward noch nie betreten; das Subjekt ist noch keines. Bestimmte Negation wird dramaturgisch durch konsequente Verkehrung“ (ebd., 319f). 241

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(8) In jedem Glauben ist strukturell der Bezug auf einen transzendenten Grund des Sinns mitgesetzt. Aber er wird nicht von jedem Menschen bewusst hergestellt und bejaht. Paul Tillich hat diesen Umstand eingehend bedacht und in der Unterscheidung einer „a priori religiösen Art der Selbsterfassung“ von einer „a priori unreligiösen Art der Selbsterfassung“ zur Geltung gebracht: „Im ersten Fall dringt das Ich gleichsam durch die Form seiner Bewußtheit hindurch, zu dem Realitätsgrund, auf dem es ruht, im zweiten Fall bleibt dieser Untergrund zwar wirksam – ohne ihn gäbe es keine Selbstgewißheit – aber er wird nicht angetastet; das Ich bleibt in seiner Losgelöstheit, in der Bewußtseinsform.“242 Tillich fügt hinzu: „Objektiv ist jedes Bewußtsein Gott-gebunden, aber subjektiv kann das Bewußtsein Gott-los sein.“243 Diese subjektive Gott-losigkeit ist heute in einem unvergleichlich höheren Maße Realität. Mit einem Anteil von zwei Dritteln der Bevölkerung ist Religionslosigkeit in Ostdeutschland schlicht zu einem Massenphänomen geworden. Das bedeutet, dass sich hier die überwiegende Mehrheit der Menschen als nicht religiös verstehen und ihre lebenstragende Gewissheit nicht mit einem Grund von Selbst und Welt in Verbindung bringen. Sie sehen für sich keinen Anlass, ihren Lebenssinn vor dem Horizont eines letzten Sinns zu bedenken. Ihre – mehr oder weniger klar zum Ausdruck gebrachte – Religionslosigkeit ist aber nicht mit Glaubenslosigkeit in eins zu setzen. Wilhelm Gräb spricht davon, dass sich die moderne Welt „weithin gar nicht mehr explizit religiös“ ausdrücke. „Die Menschen leben heute in einer Vielfalt von symbolischen Welten. Und sie finden Sinnerfüllung […] auch in der Kunst und im Kino, in der Moral, im Konsum, in der Liebe. Vor allem in der ästhetischen Erfahrung wird heute ein implizit religiöser Gehalt erlebt.“244 Obwohl sich also zahlreiche Menschen – mehr oder weniger ausdrücklich – als religionslos verstehen, leben sie dennoch in einer jeweils subjektiven Sinngewissheit. Dabei ist es für das Verständnis von Sinn konstitutiv, dass er gerade nicht hergestellt wird, sondern sich erschließt. Sinn ist nach einer Definition von Wilhelm Weischedel „das Deuten des als sinnhaft Bezeichneten auf etwas, von woher es verstehbar wird, was ihm seine Sinnhaftigkeit verleiht, was es im Hinblick auf sein Dasein und Sosein rechtfertigt, worin seine Fraglosigkeit im Hinblick auf Dasein und Sosein gründet.“245 Sinn ist mithin eine Beziehungskategorie, die das als sinnhaft Bezeichnete aus einem über es hinausgehenden Zusammenhang verständlich macht. Darin liegt auch der Umstand begründet, dass der Frage nach Sinn implizit ————— 242 243 244 245

Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs, GW 1, 378. Ebd. Gräb, Atheistisch auf Gott sinnen, 191. Weischedel, zit. nach: Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang, 52f.

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regelmäßig der Gedanke eines letzten und gründenden Sinnes innewohnt. Zugleich wird deutlich, dass ein produzierter Sinn sinnlos ist. Es gehört vielmehr zur Signatur der Sinnsuche, an einer zentralen Stelle dessen inne zu werden, in dem gesuchten Sinn bereits zu existieren. Wilhelm Gräb spricht in diesem Zusammenhang davon, man könne auch „a-theistisch […] auf Gott sinnen. Dann meint ‚Gott‘, dass wir immer schon von Sinnvoraussetzungen leben, die wir nicht selber hervorbringen können, die uns vielmehr ein Verhalten auch noch zu jenen Erfahrungen ermöglichen, in denen aller Lebensinhalt sich entzieht.“246 (9) Luther hat in der Auslegung des ersten Gebotes im „Großen Katechismus“ davon gesprochen, „daß ‚einen Gott haben‘ nichts anders ist, als ihm von Herzen trauen und glauben […]. Denn die zwei gehören zu Haufe (zusammen), Glaube und Gott. Worauf Du nun (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“247 Er hat damit die Unhintergehbarkeit des Glaubens für die menschliche Existenz ebenso zum Ausdruck gebracht, wie er zugleich mit dem ersten Gebot zu einem „rechten Glauben“ auffordert, dazu nämlich, „das ganze Herz des Menschen und alle Zuversicht auf Gott allein und niemand anders“248 zu setzen. Die verschiedenen Glaubensformen, seien es Religionen oder Weltanschauungen, kommen somit aus theologischer Perspektive in einer doppelten Weise in den Blick. Sie sind zunächst Ausdruck dessen, dass jeder Mensch sein Leben in und aus der Gewissheit eines Sinns führt und führen muss. Niemand ist der Herausforderung enthoben, sich selbst und sein Leben innerhalb eines Sinnkosmos zu verorten und aus diesem heraus zu verstehen. Jeder Mensch hängt sein Herz an etwas, das ihn selbst umgreift. Vor diesem Hintergrund sind die unterschiedlichen Glaubens- und Weltdeutungen der Menschen anzuerkennen. Obwohl sie dabei theologisch lediglich den Status des Gesetzes haben, dürfen sie nicht per se als „Illusionen der Energie des existentiell gottlosen Menschen“ (Barth) abgetan werden. Vielmehr verdient der Umstand, dass alle Menschen ihr Leben im Licht eines Glaubens führen, allgemeine Berücksichtigung. Wenn sich, wie ich unten zeigen möchte, der Charakter der je individuellen Gewissheit und die Inhalte der subjektiven Sinnwelt zentral auf das Selbst- und Weltverständnis einer Person auswirken, dann verdienen diese Gewissheiten und Sinnwelten im Sinn der ZweiReiche-Lehre nicht nur Respektierung sondern auch Pflege. Die Identität eines Menschen wird in erheblicher Weise durch den Glauben, der ihn gewiss macht und durch das Sinnkonzept, in dem er seine Erfahrungen deutet, mitbestimmt. Für eine theologische Theorie des Sozialen und der ————— 246 247 248

Gräb, Atheistisch auf Gott sinnen, 192. Luther, Großer Katechismus, in: Luther deutsch, Bd. 3, 20 (BSLK, 560, 13–15.21–24). Ebd., 21 (BSLK, 562, 40–563, 2).

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Bildung ist es deshalb unverzichtbar, dass Menschen ihren eigenen Glauben finden und in ihm gewiss werden können. In einer pluralistischen Gesellschaft kommt es darauf an, dass den Menschen neben sozialen und materiellen Ressourcen auch Möglichkeiten zur Ausbildung tragfähiger – religiöser oder weltanschaulicher – Weltbilder gegeben werden. „Arbeit am Sinn“ ist deshalb eine anspruchsvolle und unverzichtbare pädagogische Herausforderung. Darüber hinaus müssen aber auch Institutionen bereit stehen, die für die Ausbildung und Pflege von Sinnkonzepten und individuellen Lebensgewissheiten Verantwortung übernehmen (können). (10) Der Umstand, dass Menschen ihr Herz an etwas hängen, von dem her ihr Leben Sinn und Bejahung erfährt, ist eine Basis für die Begegnung von Christen und Nichtchristen. In das Gespräch, das sich dabei anbahnt, bringt die christliche Theologie ihr eigenes Verständnis vom Glauben, seinem Zustandekommen, seinen Inhalten und seiner Verlässlichkeit ein. Die zentralen Aspekte dazu sind bereits in den Abschnitten zur paulinischen Theologie oder auch zum Glaubensverständnis Luthers ausgeführt worden und bedürfen an dieser Stelle lediglich einer Erinnerung. Das christliche Glaubensverständnis gründet in der Begegnung mit dem Evangelium Jesu Christi. Es bezeugt ihm einen Gott, in dem alle Wirklichkeit kreativ gegründet ist und der sich seinerseits den Menschen befreiend und erlösend zuwendet. Menschen, die nach Sinn suchen, begegnen so einem Gott, der zuvor schon auf der Suche nach ihnen ist. Die menschliche Sinnsuche wird so vom Kopf auf die Füße gestellt: die Suchenden erfahren sich als Gefundene. Indem sich Menschen dieses Evangelium erschließt, wird in ihnen Glaube geweckt, die Gewissheit, dass sie von Gott Angenommene sind und sich so selbst annehmen können. Diese aus der vorgängigen Bejahung durch Gott erwachsene Gewissheit muss nun aber ihrerseits bejaht und angenommen werden. Der Glaube, der ein Werk Gottes ist, muss auch zu einem Werk des Menschen werden. Er ist jetzt das feste Vertrauen zu dem, der sich als vertrauenswürdig erwiesen hat, ein Sich-Verlassen auf den, der verlässlich ist. Gott, schreibt Luther, kann man „nicht […] mit Fingern ergreifen und fassen oder in Beutel stecken oder in Kasten schließen […]. Das heißet ihn aber gefasset, wenn ihn das Herz ergreifet und an ihm hanget.“249 Luthers Formulierung macht noch einmal deutlich, dass auch Glaube ein Beziehungsbegriff ist: im Grundverhältnis des Menschen kennzeichnet er eine Relation, die durch Gottes schöpferisches, rechtfertigendes und erleuchtendes Handeln begründet wird und die Menschen inspiriert, sich ihrerseits auf Gott zu verlassen. Glaube ist ein Beziehungsgeschehen. Er ist „das Sichgründen der Existenz außerhalb ihrer selbst“.250 ————— 249 250

Ebd., 21f (BSLK, 563, 4–10). Ebeling, Was heißt glauben?, 232.

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(11) Hans-Jürgen Fraas hat in seiner Untersuchung über „Glaube und Identität“ die damalige sozialwissenschaftliche Identitätsdiskussion „religionspädagogisch bilanziert“.251 Dieser Diskurs ist auch für die Frage nach der Relevanz des Glaubens in der individuellen Lebensgeschichte bedeutsam und soll deshalb unter diesem Aspekt hier einbezogen werden. Fraas geht in seinen systematisch-theologischen Überlegungen davon aus, „daß Identität als personale Kontinuität nur unter der Voraussetzung des Gottesgedankens, als exzentrisch, im ‚extra nos‘ […] voll zu erfassen ist“.252 Angesichts der Notwendigkeit des Subjekts, eine Identitätsbalance in der Überschreitung gegenwärtiger Situationen und Rollenerwartungen herzustellen, stelle sich die Frage nach dem Woraufhin dieses Transzendierens und der Quelle unserer Freiheit. Da grundlegende Freiheit nur im Rückgriff auf eine grundlegende, eine die übrigen Rollen transzendierende Rolle gefunden werden könne, kommt Fraas zu der These, dass die Ich-Identität letztlich durch die Gottesbeziehung konstituiert werde. In der durch den Rechtfertigungsglauben ermöglichten Identitätserfahrung gründe die „Freiheit zur Rollendistanz“ ebenso wie die „Freiheit der Rollenübernahme. Die Identitätsbalance in ihrem Gelingen wie in ihrem Scheitern geschieht im Rahmen der Gottesbeziehung als der Urrolle des Menschen, in der voraussetzungslos gewährte Identität gegeben ist, die die notwendigen zwischenmenschlichen Akte vorab ermöglicht. Die Annahme dieser letzten Bedingtheit befreit aus der Abhängigkeit sekundärer Bedingtheiten.“253. Fraas bestimmt vor diesem Hintergrund die Aufgabe der Religionspädagogik als „Hilfe zur Identitätsfindung“254 und Identitätsförderung. Diese besteht näherhin aus drei Dimensionen, der politischen Gestaltung sozialer Wirklichkeit (a), der sozialpädagogischen Vermittlung des Angenommenseins und der Ermöglichung neuer Rollenerfahrungen (b) sowie in der Vermittlung der „Grunderfahrung der eigenen Bedingtheit in Gestalt des Gottesglaubens“.255 (c). Die Gottesbeziehung erweise sich dabei als Ermöglichungsgrund der sozialen Beziehungen, als deren Infragestellung und auffangende Kritik. Identitätskrisen als diejenigen Erfahrungen, die Lernprozesse auslösen, bedürften deshalb einer Thematisierung dieser transzendentalen Hintergrundstruktur, die bis „zur Wurzel des Identitätsproblems als der Sinnvergewisserung bzw. der Gottesfrage vordringt“.256 Fraas hat mit seiner theologischen Reflexion des Identitätsthemas zugleich die Bedeutung des Glaubens in der Lebensgeschichte herausgear————— 251 252 253 254 255 256

Meyer-Blanck, Von der Identität zur Person, 347. Fraas, Glaube und Identität, 52. Ebd., 55f. Ebd., 56; vgl. auch 56–69. Ebd., 61. Ebd., 69.

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beitet. Diese Bedeutsamkeit bestehe darin, dass die Grunderfahrung menschlicher Identität im Rechtfertigungsglauben ausgemacht wird. In ihr trete einerseits der Grund der Identitätssuche und andererseits ihre spezifische, die sozialen Rollen transzendierende und infragestellende Prägung zu Tage. Allerdings erweist sich Fraas’ Rede von Gott als „dem Grund und Bürgen der Identität“ durchaus als problematisch: sie konzentriert sich auf das Begründungsproblem, scheint eine tendenziell abschließbare und gelingende Identität für möglich zu halten und isoliert ungewollt das Identitätsthema aus der Vielfältigkeit der Beziehungen, in denen es individuell erfahren wird. Demgegenüber weisen sozialwissenschaftliche Theorien darauf hin,257 dass Identität eine Relation ist, eine Balance, die das Individuum zwischen dem privaten und dem sozialen Selbst herstellt und herstellen muss. Identität ist ein Beziehungsbegriff. Deshalb scheint mir die Rede von Gott als dem „Grund und Bürgen der Identität“ die Vielfältigkeit des Beziehungsnetzwerkes, in dem Identität auszubalancieren ist, eher zu reduzieren. Die Gottesbeziehung kommt, das haben meine Überlegungen in den letzten Abschnitten gezeigt, als das Grundverhältnis des Menschen in den Blick, in dem das Subjekt gründet, das in seinem Selbst- und Weltbewusstsein durchgängig präsent ist und das das individuelle Selbst- und Weltverständnis durch die Begegnung mit dem Evangelium erneuert, korrigiert und vertieft. Durch dieses Grundverhältnis wird nicht die Identität verbürgt. Diese bleibt vielmehr als Erschließungserfahrung und Balancierungsaufgabe bestehen. Aber durch die Verkündigung des Evangeliums wird der Relation von privatem und sozialem Selbst eine weitere Beziehungsdimension hinzugefügt. Man könnte sie unter Aufnahme sozialwissenschaftlicher Terminologie das religiöse Selbst nennen.258 Sofern in diesem religiösen Selbst das Gottes-, Welt- und Selbstverständnis des Evangeliums präsent wird, tritt in die Erfahrung der Identitätsbildung eine neue, tragende und verändernde Dimension ein: die Gewissheit, dass die eigene Person in Gott gründet, in ihrem Selbst-, Welt- und Gottesverständnis befreit und erneuert wird und dass sie in diesem Glauben erleuchtet, gestärkt und gewiss gemacht wird. Die Berücksichtigung des menschlichen Grundverhältnisses ermöglicht insofern nicht die „Lösung“ der menschlichen Frage und Suche nach Identität. Vielmehr erweitert sie das, was Michael Meyer-Blanck im Anschluss an Klaus Prange eine „differentielle Identität“ genannt hat. Indem die gründende, erneuernde und gewissmachende Dimension der Gottesbeziehung in das Identitätsthema eingetragen wird, wird das Verhältnis von privatem und sozialem Selbst durch ein drittes Relat erweitert. Die Perspektive von ————— 257 258

Vgl. die Ausführungen in Abschnitt 5.7.1 (2). In Teil B, Kap. 9.3 gehe ich ausführlicher auf diesen Aspekt des Identitätsthemas ein.

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Selbst- und Fremdbild wird durch diejenige erweitert, in der der Mensch als Bild Gottes erscheint. Als Bild des dreieinigen Gottes. Dies ermöglicht Transzendierungen, Unterbrechungen und Korrekturen der jeweiligen Selbst- und Fremdbilder. Es ermöglicht Unterscheidungen. SelbstUnterscheidungen. Unterscheidungen gegenüber Zuschreibungen. Dabei erscheint Identität nicht als Habitus, sondern als fortwährende Erfahrung und Aufgabe eines Lebens in Beziehungen. Auch der Glaube „macht“ also den Menschen nicht identisch. „Er hat keine Identität. Er steht in der Spannung des ‚simul justus et peccator‘“. Den Sinn dieser Formulierung Luthers sieht Meyer-Blanck „darin, den Menschen nicht aus der radikalen Relationalität zu Gott zu entlassen. Der Mensch hat keine Identität, sondern er ist Beziehung auf Gott und von daher auch Beziehung auf andere, auf sich selbst und die Welt.“259 Es ist denn auch die „Kunst der Selbstunterscheidung“, die Meyer-Blanck theologisch in den Identitätsdiskurs einbringen möchte: „Der außerhalb seiner selbst integrierte Mensch ist zu Übergängen innerhalb seiner differenten Identitäten fähig, ohne sich aufzuspalten.“260 Identität erscheint mithin aus theologischer Perspektive als eine dreigliedrige Relation, in der das Selbst- und Fremdbild des Menschen von ihm als einem Bild Gottes unterschieden und zugleich aufeinander bezogen sind. Diese Unterscheidung ermöglicht Unterbrechung und Erneuerung des Selbst-, Welt- und Gottesverständnisses. Es ermöglicht, dass Menschen „neu werden und gerade nicht mit sich identisch bleiben“.261 Es ermöglicht auch die Gewissheit: „alle Schritte, die gelingen, und alle, die nicht gelingen, sind umfangen von der Bewegung des Erbarmens“262 Gottes. Hier liegt m.E. die zentrale Bedeutung des Glaubens in der individuellen Lebensgeschichte. Er trägt in ihre Identitätssuche eine gründende, erneuernde und gewissmachende Beziehungsdimension ein. Darin und dadurch ermöglicht er Sinnerschließung und Sinngewissheit für ein personales Leben in Beziehungen.

6.7 Glaube in der Lebensgeschichte Von Monika ist bereits die Rede gewesen. Aus dem Erfahrungsbericht, der von ihr erzählt, greife ich noch ein weiteres Beispiel heraus: das von Roswitha, einer Jugendlichen mit geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten, die im Gebet zur Ruhe und Sprache fand. Sie „dankte für den Käse, ————— 259 260 261 262

Meyer-Blanck, Von der Identität zur Person, 352. Ebd., 353. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 75. Ebd., 77.

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der ihr so gut geschmeckt hat, für das Brot, für ein schönes Kleid, für das, was sie lernen durfte, für freundliche Menschen. Rund alles, was das Herz bewegt: daß wir arbeiten und etwas tun durften, daß wir gesunde Hände und Füße haben.“263 Wollstadt hebt angesichts dieser und anderer Beispiele die „prägende, bewahrende und helfende Bedeutung“ der „liturgischen Formen für behinderte Menschen“264 hervor. In der Tat: Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass für Menschen mit geistiger Behinderung Glaube eine ebenso identitätsfördernde, -stärkende und -prägende Kraft besitzen kann – wie bei grundsätzlich allen Menschen. Sinnkonzepte und Sinngewissheit, explizit religiöser Glaube und nichtreligiöse Weltanschauungen – all das findet sich in vergleichbarer Weise bei Menschen mit und ohne geistige Behinderung. Die Aussparung der menschlichen Grund- und Sinnbeziehung aus der pädagogischen Arbeit wäre deshalb eine Verkürzung ihrer Möglichkeiten und ihres Anspruchs. „Jesus hat die Heike, Ines, Sabine lieb, Halleluja, Halleluja!“ Monika streicht jeder ihrer Mitbewohnerinnen zärtlich übers Haar, singt und nennt ihre Namen. Unübersehbar prägt in meinem ersten Fallbeispiel der christliche Glaube die individuelle Gewissheit, als Person von Gott geliebt und angenommen zu sein. In eins damit werden Selbstvertrauen und die Selbstannahme gefördert. Die Selbstgewissheit des Glaubens vermag so, das Selbst der Jugendlichen zu stärken. Glaubensgewissheit erweist sich als Lebenshilfe und Kompetenzstärkung. Ihr Glaube prägt ihre Identität mit. Neben alle anderen Erfahrungen tritt in ihr Selbstbild auch die Gewissheit: Jesus nimmt mich an; er liebt mich. Das ist auch im Beispiel von Roswitha der Fall. Sie deutet ihre Lebenserfahrungen nicht nur in einer sozialen Perspektive sondern auch vor dem Horizont ihrer Ermöglichung durch Gott. Sie nimmt dadurch an den „Gegenständen“ ihrer Erfahrung mehr wahr als nur diese selbst. Sie lässt sich von einer Differenz leiten, nämlich der zwischen den Dingen des Lebens selbst und deren Bedeutung innerhalb eines sinn-vollen Lebenszusammenhangs. Diese Differenz zwischen den „Gegenständen“ und ihrer Gewährung ermöglicht es ihr, sich zu ihnen und zu derjenigen Instanz zu verhalten, in der sie gründen. Zugleich erfährt sie in dieser Doppelperspektive die Bedeutung und Wertschätzung ihres Lebens und seiner Wirklichkeit. Sie erfährt sich als angenommen und getragen von Gott und einem sinnhaft strukturierten Lebenszusammenhang zugehörig. Der christliche Glaube erweist sich auch im Beispiel von Roswitha als Lebens- und Identitätshilfe. Über die Bedeutung des Glaubens für Menschen mit einer geistigen Behinderung ist in der religionspädagogischen Literatur immer wieder die ————— 263 264

Meis/Wollstadt, Die therapeutische Bedeutung christlicher Lebensformen, 190. Ebd., 181.

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Rede. In der Regel an Hand von exemplarischen Einzelbeispielen. Repräsentative empirische Untersuchungen über die individuelle Bedeutsamkeit von (religiöser oder nichtreligiöser) Glaubensgewissheit existieren aber m.W. in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung nicht. Über die Rolle des christlichen Glaubens in der Bewältigung der mit einer Behinderung vielfach verbundenen Krisenerfahrung existieren aber solche Studien durchaus. Erika Schuchardt hat beispielsweise auf der Grundlage von mehr als tausend autobiografischen Zeugnissen den Umgang von Menschen mit ihrer eigenen Behinderung oder der ihrer Kinder analysiert. Daraus hat sie das idealtypische Modell eines Krisenverlaufs herausgearbeitet und die Bedeutsamkeit des Glaubens für seine erfolgreiche Bewältigung kenntlich gemacht.265 Monika Lang wiederum hat eine umfangreiche Studie zur familiären Bewältigung der Behinderung eines Kindes vorgelegt. Beide Untersuchungen haben deutlich gemacht, dass der Glaube eine erhebliche Ressource zur Bewältigung, Neubewertung und Annahme der Lebenssituation mit einer Behinderung ist.266 Wie gesagt, Studien über die individuelle Bedeutsamkeit des Glaubens für Menschen mit geistiger Behinderung existieren nach meiner Kenntnis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. Überhaupt ist ihre Religiosität „bis in die Gegenwart nahezu unerforscht“.267 Dies verdient auch deshalb Beachtung, weil bis in die jüngere Zeit hinein Einschätzungen einflussreich gewesen sind, die vor dem Hintergrund einer „normalen“ kognitiven Entwicklung die Religiosität geistig behinderter Schüler als defizitär interpretiert haben.268 Umso erfreulicher ist es, dass Stefan Anderssohn mit einer neuen Untersuchung über die Gestalt der Religiosität die bestehende Forschungslücke zu schließen begonnen hat.269 In ihr hat er religiöse Vorstellungen und Themen von 85 Menschen mit geistiger Behinderung im Alter von 6 bis 43 Jahren untersucht. Das Forschungsdesign seiner Studie hat Anderssohn so gewählt, dass er von jeweils zwei Interviewterminen mit den befragten Personen ausgegangen ist. Beim ersten Treffen stand das zeichnerische Gestalten von Gottesbildern, ein Interview zum Gottesbild, die Evaluation des gezeichneten Bildes sowie ein projektiver Gottesbildertest im Mittelpunkt. Der zweite Termin konzentrierte sich auf ein Interview zum Thema ————— 265

Vgl. Schuchardt, Warum gerade ich?; zur Rolle des Glaubens zusammenfassend: 41–43. Vgl. bspw. bei Lang, „Gott nimmt alle an so wie sie sind“, 132: „41 von 47 Frauen bewerten ihren Glauben konsistent […] als hilfreich oder sehr hilfreich für die Bewältigung der Behinderung ihres Kindes“ (ausgewertet wurden 47 Interviews mit Frauen, die einer christlichen Kirche angehören). 267 Anderssohn, Strukturen und Themen, 17. 268 Vgl. die Übersicht bei Röhrig, Religionsunterricht, 106–115. 269 Anderssohn, Religionspädagogische Forschung als Beitrag zur religiösen Erziehung und Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung. 266

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„Gebet“ und die Untersuchung der kognitiven Struktur der Untersuchungsteilnehmerinnen.270 Anderssohn verfolgt in seiner Studie einen Forschungsansatz, der die strukturgenetischen Theorien der Glaubensentwicklung von Fowler und Oser/Gmünder durch ein Modell ergänzt, das die Präsenz bestimmter Themen in der (religiösen) Biografie in den Mittelpunkt rückt. Dadurch entsteht eine „Zusammenschau religiöser ‚Strukturen‘ und ‚Themen‘“.271 Da es sich bei dieser Zusammenschau um die Verknüpfung von Formen und Inhalten handelt, lassen sich beide je für sich untersuchen und anschließend miteinander in Verbindung setzen. Anhand der jeweiligen Dimensionen des Gottesbildes unterscheidet Anderssohn vier Strukturebenen mit jeweils einer Übergangsstufe. Bei näherer Betrachtung ergibt sich dabei eine große Nähe zu James Fowlers „Stufen des Glaubens“. Allerdings möchte Anderssohn – anders als Fowler – die von ihm analysierten Strukturen nicht im Sinne einer Höherentwicklung sondern als funktionell gleichwertig verstanden wissen. Sie seien „Ebenen“ und nicht „Stufen“. Eine „undifferenzierte Strukturebene“ macht Anderssohn bei Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung aus. Mit ihnen sei eine sprachliche Verständigung über die Aspekte ihres Gottesbildes nicht möglich; ein geistiges Konzept über den Begriff Gott liege bei ihnen nicht vor. Dennoch hätten auch bei ihnen relevante Erfahrungen eine religiöse Qualität. Dies seien Beziehungserfahrungen (direkte Ansprache, Körperkontakt) sowie „Erfahrungen mit konkreten, elementaren Symbolen, z.B. Licht, Wärme, Dunkelheit, Wasser“272 usw. Auf einer weiteren, einer „intuitiven Strukturebene“ sei demgegenüber die Fähigkeit zur Symbolisierung und Kommunikation von Erfahrungen gegeben. Die interviewten Personen, die dieser Ebene zuzuordnen seien, kombinierten verschiedene, ausdrucksstarke Bilder ihrer Gottesvorstellung in assoziativer Weise miteinander, ohne dass daraus ein kohärentes Bild entstehen würde. „Anthropomorphe […] und nicht-anthropomorphe Aspekte Gottes können problemlos nebeneinander bestehen. Dabei wird Gott nicht notwendigerweise in den Himmel verortet, sondern kann auch auf der Erde als Mensch erscheinen.“273 Der Erfahrungsraum, in dem das Gottesbild entsteht, sei vor allem das nahe persönliche Umfeld in Familie und Schule. Die nächste, die „konkrete Strukturebene“ ist dadurch gekennzeichnet, dass die verschiedenen Aspekte des Gottesbildes in einen größeren, sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können. Dieser werde vor allem durch die Organisation der eigenen Erfahrungen in Erzählungen hergestellt. Obgleich die Imagina————— 270 271 272 273

Vgl. ebd., 366–390. Anderssohn, Strukturen und Themen, 21. Ebd., 23; vgl. ders., Religionspädagogische Forschung, 425f. Anderssohn, Religionspädagogische Forschung, 456.

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tion eine wichtige Rolle spiele, stehe doch Anpassung des Gottesbildes an die Realität der Erfahrung im Vordergrund. Die Fähigkeit zur kritischen Distanznahme bzw. zur Realitätsprüfung des Gottesbildes sei vorhanden. Mensch und Gott würden auf dieser Strukturebene in einem gegenseitigen Beziehungsverhältnis wahrgenommen. Die Erfahrungen, die im Gottesbild integriert würden, entstammten einem weiter reichenden Lebensfeld und schlössen das Wissen um andere Länder, Krieg, Armut usw. mit ein.274 Auf einer „abstrakten Strukturebene“ schließlich werde „Gott als ort- und gestaltlose Größe aufgefasst, die überall in der Welt anwesend ist und den Menschen jederzeit und allerorten nahe sein kann. Sein Wesen ist nichtmenschlicher Natur, und Gottes Handeln wird an Zeichen erkannt.“275 Auf dieser Ebene bestehe die Fähigkeit zur symbolischen Darstellung Gottes. Die Gottesidee könne dabei sogar als pantheistischen Prinzip aufgefasst werden. Undiffer. ÜberGlaube gang

Intuitiver ÜberGlaube gang

Konkreter Glaube

Übergang

Abstrakter Glaube

Gesamt

2

6

3

1

0

0

19

10,5%

31,6%

15,8%

5,3%





100%

10–13 J. 2 Anzahl 9,1% %

2

14

2

2

0

0

22

9,1%

63,6%

9,1%

9,1%





100%

14–16 J. 2 Anzahl 6,7% %

3

13

3

7

2

0

30

10,0%

43,3%

10,0%

23,3%

6,7%



100%

20–29 J. 0 Anzahl – %

0

0

1

2

3

1

7





14,3%

28,6%

42,9%

14,3%

100%

30–43 J. 0 Anzahl – %

1

2

0

2

7

28,6%

0 –

2

14,3%

28,6%



28,6%

100%

6–9 Anzahl

J. 7 36,8% %

Gesamt

11

8

35

9

14

5

3

85

Anzahl

12,9%

9,4%

41,2%

10,6%

16,5%

5,9%

3,5%

100%

% Tabelle: Verteilung der Strukturebenen des Gottesbildes über die Altersgruppen276

Anderssohn interpretiert seine Forschungsergebnisse so, dass er „keinen Zusammenhang zwischen Lebensalter und Strukturebenen des Gottesbildes ableiten“ könne; „es lässt sich nur sagen, dass die Strukturebenen bei dieser Gruppe nicht früher auftreten, als es bei einer Vergleichsgruppe Nichtbe————— 274 275 276

Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., 457.

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hinderter der Fall wäre.“277 Sicher wird man in der Auswertung auch besonders vorsichtig sein müssen, da für die Altersgruppen von 20 bis 43 Jahren nur eine geringe Personenzahl befragt werden konnte. Vergleicht man darüber hinaus Anderssohns Ergebnisse mit denen Fowlers,278 so zeigt sich, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung im Erwachsenenalter eine größere Breite an Glaubensformen (Ebenen) zeigen, dass aber zugleich auch die „abstrakte Strukturebene“ erreicht werden kann. Im mittleren Schul- und Jugendalter dominiert klar ein „intuitiver“ Glaube. Im Erwachsenenalter tritt dagegen der „konkrete“ Glaube häufiger auf. Das wichtigste Ergebnis von Anderssohns Untersuchung dürfte an dieser Stelle aber sein, dass kein prinzipieller Unterschied in der Glaubensentwicklung und Glaubensgestalt zwischen Menschen mit und ohne geistiger Behinderung besteht. Das zeigt der Vergleich zwischen Fowler und Anderssohn: Die Stufen/Ebenen sind quantitativ unterschiedlich besetzt – aber qualitativ strukturgleich. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Fowlers Stufe 5 (und 6) von Anderssohn nicht nachgewiesen worden ist. Wer allerdings aus dem Umstand, dass z.B. bei einigen geistig behinderter Erwachsenen der „intuitive Glaube“ bestimmend bleibt, die Schlussfolgerung ziehen wollte, hier müsste die Religionspädagogik der von Vorschulkindern gleichen, irrt. Um dies zu begründen, zeigt Anderssohn an den Interviews, dass diese Personen zwar ein intuitives Gottesbild besitzen, die Themen ihres Lebens und Glaubens aber ihrem eigenen Lebensalter entsprechen. Themen wie „Spiel“ oder „Arbeit“, „Freundschaft/Liebe“, „lebenswerte Welt“, „soziale Anerkennung“ usw. sind lebensalterspezifisch. „Folglich“, so Anderssohn, „darf man nicht bei Strukturen stehen bleiben: Bei der Konzeption religionspädagogischer Angebote ist es ebenso wichtig, zu wissen, welche Themen bestimmend sind. Und diese sind bei Schulkindern andere als bei erwachsenen Menschen, die sich im Arbeitsleben befinden.“279 Anderssohns Untersuchung hat eine deutlich inklusive Pointe: sie macht auf die Strukturäquivalenz in der religiösen Entwicklung von Menschen mit und ohne geistige Behinderung aufmerksam. Zugleich lenkt sie den Blick auf die wiederum vergleichbaren Themen in der Lebensgeschichte. Darüber hinaus geben die Interviews, die Anderssohn geführt hat, auch einen Eindruck von der subjektiven Bedeutsamkeit des Glaubens für die jeweils Befragten. Auch darin unterscheiden sich Menschen mit und ohne geistige —————

277 Anderssohn, Strukturen und Themen, 25. Ich habe mich in meiner konzentrierten Darstellung auf das untersuchte Gottesbild konzentriert. Die Ergebnisse, die Anderssohn bei der Untersuchung der Gebetskonzepte erzielt hat, entsprechen den genannten Inhalten sachlich, vgl. ders., Religionspädagogische Forschung, 465–490. 278 Vgl. die Übersicht bei Fowler, Stufen des Glaubens, 340. 279 Anderssohn, Strukturen und Themen, 27; s. ders., Religionspädagogische Forschung 546.

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Behinderung nicht: in zahlreichen Fällen entspringen dem Glauben wichtige Impulse für das jeweilige Selbst- und Weltverständnis der Personen. Menschen mit geistiger Behinderung, das hat die Untersuchung deutlich gezeigt, haben einen eigenen Glauben. Deshalb erscheint mir das pädagogische Ziel, das die „Empfehlungen für den Unterricht in der Schule für Geistigbehinderte“ formuliert haben, „den Schüler in den Glauben seiner Bezugspersonen hineinzunehmen“ als problematisch. Das zweite Ziel der „Empfehlungen“, „den Schüler zu befähigen, zu einem eigenen Glauben zu kommen“,280 dürfte angemessener bestimmt sein. Schülerinnen und Schüler mit oder ohne geistige Behinderung unterscheiden sich an dieser Stelle wiederum nicht. Denn „Die Suche nach eigenem Glauben“ (Friedrich Schweitzer) gehört zu den allgemeinen Kennzeichen des Jugendalters. Welche Rolle dieser „eigene Glaube“ – verstanden als christlicher Glaube oder als nichtreligiöses Sinnkonzept – in den Entwürfen der Religions- und Behindertenpädagogik spielt, beschäftigt mich im folgenden, abschließenden Abschnitt.

6.8 Den eigenen Glauben finden. Religions- und behindertenpädagogische Reflexionen „Wie hast du’s mit der Religion?“. Was bei Margarete die Frage nach einem persönlichen Bekenntnis Fausts ist, kann vor dem Hintergrund der Reflexionen dieses Kapitels in einem ganz anderen Sinn als Frage an die Pädagogik gestellt werden. Sie lautet jetzt: welche Rolle spielen religiöser und nichtreligiöser Glaube, spielen Sinn- und Lebensfragen in den pädagogischen Konzepten in der Arbeit mit geistig behinderten Menschen? Die Antwort der Behindertenpädagogik wird dabei eine andere zu sein haben als die der Religionspädagogik. Je auf ihre Weise, weltanschaulich offen oder christlich geprägt, dürfte aber von beiden erwartet werden, dass sie die Angewiesenheit des Menschen auf einen Sinngrund und eine Grundgewissheit in sich aufnehmen. Je auf ihre Weise sollen deshalb im Folgenden die Behindertenpädagogik und die Religionspädagogik gefragt werden: „Wie hast du’s mit den Lebens- und Sinnfragen der Menschen“? (1) Die geschichtlichen Wurzeln der Heilpädagogik liegen in der Pädagogik, der Medizin und der Theologie. Insbesondere unter dem Einfluss christlicher Impulse sind im 19. Jahrhundert Anstalten und Hilfsschulen für Menschen mit einer geistigen Behinderung gegründet worden.281 Als sich die Heilpädagogik 1931 zur universitären Disziplin etablierte, war für sie ————— 280 281

Zit. nach: Adam, Religiöse Erziehung geistig Behinderter, 164. Vgl. Speck, Menschen mit geistiger Behinderung (1997), 14–26.

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eine enge Verbindung von Pädagogik und Theologie charakteristisch. Heinrich Hanselmanns pädagogischem Konzept liegt die Gegenüberstellung von Trieb und (ewigem) Geist zu Grunde.282 Paul Moors Pädagogik ist „von oben, gleichsam vom Lichte her“ entwickelt, dem der Mensch „entgegenwächst“.283 Auch Eduard Montalta geht davon aus, dass der Mensch nicht nur ein Natur- und Kulturwesen ist, sondern auch in das Absolute hineinragt.284 Gerade für die „Schweizer Heilpädagogik“, der alle drei angehören, ist die enge Verbindung von Pädagogik und Theologie charakteristisch. Erst die sog. „empirische Wende“ in den 1960er und 70er Jahren hat dazu geführt, dass sich die Behindertenpädagogik in starkem Maße von diesem normativ-religiösen Hintergrund löste. Ulrich Bleidicks Unterscheidung zwischen einer wertfreien Erziehungswissenschaft und einer wertgebundenen Erziehungsphilosophie ist für diese Neuorientierung charakteristisch.285 Die Behindertenpädagogik hat sich seither weiter und in hohem Maße pluralisiert. Nur in wenigen Konzepten spielt allerdings „Religion“ oder „Glaube“ eine erkennbare Rolle. (2) Zu ihnen gehört Urs Haeberlins Konzept einer „Heilpädagogik als wertgeleitete[n] Wissenschaft“.286 Es setzt die Tradition der „Schweizer Heilpädagogik“ fort und geht davon aus, dass das Postulat der Wertfreiheit für die Pädagogik undurchführbar und unannehmbar ist. Die „heilpädagogische Haltung“ und die mit ihr verbundenen Wertentscheidungen lassen sich aber nicht logisch beweisen, sondern ergeben sich auf der Grundlage von Erfahrungen. Sie sind Inhalt eines Glaubens, mit dem zugleich eine Antwort auf die Sinnfrage verbunden ist. Anthropologisch wurzelt er im menschlichen „Bedürfnis nach emotionaler Sinnempfindung“, seiner Fähigkeit zur „emotionalen Hingabe“287 und der Angewiesenheit seines Handelns auf eine wertgeleitete Emotionalität. Für Haeberlin ist diese unhintergehbare anthropologische Dimension die der Religiosität. „Wenn der Glaube […] an die Idee der Nächstenliebe in der Emotionalität des Menschen verankert ist, spreche ich von seiner religiösen Haltung. Wenn das praktische Handeln eines Menschen von der Wertentscheidung für die gleiche Würde und die gleichen Rechte aller Menschen geleitet ist, spreche ich von seiner sittlichen Haltung. Wenn sich diese Haltungen vereinigen, ist der Mensch auf dem Weg zu seiner sittlich-religiösen Identität.“288 Ausdrücklich weist Haeberlin darauf hin, dass Religiosität nicht mit einer konfessio————— 282 283 284 285 286 287 288

Vgl. Hanselmann, Andragogik, 33–35. Moor, Heilpädagogik, 47. Vgl. Montalta, Grundlagen, 6. Vgl. Bleidick, Pädagogik der Behinderten, 348. Vgl. den gleichnamigen Buchtitel [Ergänzung von mir; U.L.]. Haeberlin, Das Menschenbild für die Heilpädagogik, 71. Ebd., 71f.

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nellen oder kirchlichen Zugehörigkeit in eins gesetzt werden dürfe.289 Die Entwicklung einer sittlich-religiösen Haltung ist für Haeberlin ein unverzichtbares Ziel pädagogischer Arbeit, wenngleich die sittlich-religiöse Identität eine ideale Norm darstelle, die real niemand erreicht.290 Wenn ich richtig sehe, dann stellt die „Schweizer Heilpädagogik“ innerhalb der heutigen Behindertenpädagogik am ausdrücklichsten den Bezug auf Religiosität her und dessen Unverzichtbarkeit für die pädagogische Arbeit heraus. (3) Menschen bedürfen in ihrem personalen Leben eines Haltes ebenso wie einer Haltung. So könnte man eine zentrale pädagogische Akzentsetzung Otto Specks kennzeichnen. Auch Speck macht damit auf die Bedeutung von Sinn- und Identitätsfragen für die Behindertenpädagogik aufmerksam. Er versteht unter Integration einen „Zustand sinnvoll geordneter Zusammenhänge, die dem Individuum Halt, Energien und Orientierung geben“.291 Dazu genüge es nicht, allein die Dimension sozialer Integration zu berücksichtigen. Sie bedürfe der Ergänzung durch den Aspekt einer „Persönlichkeitsbildung durch personale Integration“.292 Zu den Zielen einer solchen Integrationshilfe unter dem Aspekt der Persönlichkeitsbildung zählt er u.a. die Bereicherung und Stabilisierung von Emotionalität, die Erschließung eines tragfähigen Selbstkonzeptes, die Ermöglichung von Identität sowie die Vermittlung eines Lebensstils und von Einstellungen, „die die eigene Existenz bejahen und beglücken können“.293 Innerhalb der daraus abgeleiteten Teilziele sind insbesondere die Vermittlung von Lebensorientierung und der Bildung von Lebenshaltungen zu nennen.294 (4) Eine erkennbar geringere Rolle spielt die „Arbeit am Sinn“ in anderen Bildungskonzepten. Für Georg Theunissen gehört die „Unterstützung […] der Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung“295 zu den drei zentralen Aufgaben der Selbstbildung. Die Ausdifferenzierung dieser Hauptaufgaben nimmt Theunissen anhand der Leitfrage vor: „Welcher Fähigkeiten und Kenntnisse bedarf der Einzelne, um sich angesichts seiner Möglichkeiten […] emanzipatorisch, autonom und sozial verwirklichen zu können?“296 Möglicherweise hängt es mit Theunissens Kritik an normativen Bildungskonzepten zusammen, deren „klare Handlungsanweisungen […] von der obersten Sinn-Norm abgeleitet“297 werden, dass er die Berücksichti————— 289 290 291 292 293 294 295 296 297

Vgl. ebd., 74. Vgl. ebd., 78–83; 93. Speck, Menschen mit geistiger Behinderung (2005), 183. Ebd., 184. Ebd., 185. Vgl. ebd., 184f; 190–194. Vgl. zum pädagogischen Konzept Specks: Teil B, Kap. 7.7 (1). Theunissen, Erwachsenenbildung und Behinderung, 79. Ebd., 80. Ebd., 82.

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gung von Sinnwelten und tragenden Lebensfragen nur en passant den „psychosozialen Angeboten“ einordnet. Theunissen ignoriert die Sinndimension des menschlichen Lebens keineswegs. Aber sie spielt eine eher beiläufige, untergeordnete Rolle – ihre Bedeutung für die Identitätsbildung wird von Theunissen offenbar vergleichsweise gering veranschlagt. (5) Als in den 1970er Jahren die von der Kultusministerkonferenz erarbeiteten „Empfehlungen für den Unterricht in der Schule für Geistigbehinderte“298 diskutiert worden sind, hat Karl Ernst Nipkow ihnen gegenüber den Vorwurf eines verkürzten Menschen- und Wirklichkeitsverständnisses erhoben. Das Planungsdokument sei „von bedenklicher Sinnarmut“299 gekennzeichnet, lautete seine Kritik. Dadurch, dass die „Ebene der Sinngebung nicht thematisiert“ werde, sei ein Bereich ausgegrenzt worden, „in welchem eine Person […] ein Verständnis des eigenen Selbst gewinnt, ein tragendes hilfreiches Bild von sich, ihrer Lebenslage und ihrer Lebenswelt.“300 Nipkows Kritik stützte sich auf die Beobachtung, dass die „Empfehlungen“ unter der Leitidee von „Selbstverwirklichung in sozialer Integration“ zwar zahlreiche alltagspraktische und soziale Kompetenzen berücksichtigten, die Dimension personaler Identität und Integration aber weitgehend unberücksichtigt gelassen haben. Zwei Jahrzehnte später sind die damaligen Richtlinien von den „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“301 abgelöst worden. In ihnen spielen Lebenssinn und Werte eine größere Rolle. Die aktuellen „Empfehlungen“ zielen auf eine „aktive Lebensbewältigung in sozialer Integration“ und ein „Leben in größtmöglicher Selbständigkeit und Selbstbestimmung“.302 Unter den Aufgaben, die diesem Ziel zugeordnet werden, wird beispielsweise festgehalten: „Die Schülerinnen und Schüler […] sollen erfahren, daß sowohl in der menschlichen Begegnung als auch im Eingebettetsein in Natur, Kultur und Weltanschauung Werte für ein sinnerfülltes Leben zu finden sind.“303 Zu den Förderbereichen zählt auch die „Ermöglichung von Erfahrungen zur alters- und geschlechtsspezifischen Entwicklung, zu Ich-Identität und Sinnfindung“, sowie die „Begegnung mit Musik, Rhythmik, bildnerischen und bewegungsbetonten Möglichkeiten sowie Religion, Sport und Hauswirtschaft“.304 ————— 298

Verabschiedet von der Kultusministerkonferenz am 09.02.1979. Nipkow, Das Evangelium als Grund und Hilfe an Schulen für Behinderte, 66. 300 Ebd., 73. 301 Verabschiedet von der Kultusministerkonferenz am 26.06.1998. 302 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister (Hg.), Empfehlungen zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, 3. 303 Ebd. 304 Ebd., 6. 299

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„Religion, Sport und Hauswirtschaft“… Diese Aufzählung zu monieren, mag auf den ersten Blick kleinlich anmuten. Aber ich halte sie für charakteristisch für eine Ambivalenz gegenwärtiger pädagogischer Konzepte. Auf der einen Seite wird in ihnen die Sinndimension des menschlichen Lebens keineswegs ausgeklammert. Andererseits nährt aber die Art ihrer Berücksichtigung den Verdacht, dass diese Dimension dennoch als etwas Marginales angesehen wird. Von einer aktiven Begegnung mit Sinnkonzepten und Sinnzusammenhängen, der Begleitung bei der Erschließung eines eigenen Glaubens, einer das eigene Leben orientierenden Gewissheit und eines individuellen lebenstragenden Sinnes wird weder in den „Empfehlungen“ noch in zahlreichen pädagogischen Konzepten gesprochen. Dass es sich dabei aber um eine eigene und unverzichtbare Lebensdimension handelt, wird vielfach übergangen. Haeberlin und Speck mögen dagegen als Beispiele dafür gelten, dass auch in heutigen pädagogischen Konzepten die Multidimensionalität des menschlichen Lebens einschließlich ihres Grundverhältnisses erfasst und berücksichtigt werden kann. (5) Ich habe in den letzten Absätzen bewusst nicht von christlichem Glauben und kirchlichem Religionsunterricht gesprochen, weil es mir zunächst um ein Plädoyer für die Unverzichtbarkeit pädagogischer „Arbeit am Sinn“ ging. Für die christliche Theologie steht es vor dem Hintergrund der Zwei-Reiche-Lehre außer Frage, dass dieser Aufgabe eine allgemeine pädagogische Bedeutung zukommt und dass Menschen dabei zu unterstützen sind, ihren eigenen Glauben und ihre persönliche Antwort auf die lebenstragenden Sinnfragen zu finden. Den eigenen inhaltlichen Beitrag der Theologie für die Korrektur, Ausrichtung, Stärkung und Vertiefung der persönlichen Glaubensgewissheit habe ich oben bereits angedeutet. Angesichts dessen, dass in der allgemeinen Behindertenpädagogik der Stellenwert von Glaube und Religion aufs Ganze gesehen unterschätzt wird, besteht m.E. eine kaum überschätzbare Aufgabe der Theologie darin, sich für eine stärkere Berücksichtigung lebenstragender Sinnfragen in pädagogischen Prozessen stark zu machen. Der von den Kirchen angebotene Religionsunterricht ist eine Chance dafür, wenngleich – wie ich oben deutlich gemacht habe – Glaubens- und Sinnfragen auch außerhalb des Religionsunterrichts thematisiert werden sollten. Der Rat der EKD hat sich in einer Stellungnahme aus dem Jahr 2001 mit dem Thema „Religion in der Grundschule“ beschäftigt. Er macht auf „Religion als Dimension des Lernens und Lebens“305 aufmerksam. Deshalb sei sie „ein impulsgebender, integrierender und komplementärer Bereich schulischer Bildung und Erziehung“. Dies gelte beispielsweise deshalb, weil religiöse Bildung „den nicht-ersetzbaren, grundlegenden Impuls“ gebe, „die ————— 305

Kirchenamt der EKD (Hg.), Religion in der Grundschule, 5.

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beiden aufeinander bezogenen substantiellen Aufgaben der Grundschule wie jeder Schule, die Einführung in die Kultur und die Bildung der Person, zu vertiefen. Sie hilft den Kindern, sich in der pluralen Vielfalt möglicher Lebensentwürfe zurechtzufinden und eine eigene Identität zu entwickeln, die religiöse Orientierung und ethische Urteilsfähigkeit einschließt.“306 Mit der Aufgabenformulierung, die „Einführung in die Kultur“ und die „Bildung der Person“ miteinander zu verknüpfen, kommt die EKDStellungnahme in Bezug auf die religiöse Bildung zu einer ganz ähnlichen Bestimmung, wie sie Otto Speck für die allgemeine Heilpädagogik festgehalten hat: „Sozialbildung durch soziale Integration“ und „Persönlichkeitsbildung durch personale Integration“.307 Die EKD-Stellungnahme macht mit ihrer Formulierung allerdings deutlich, dass „Glaube“ bzw. „Religion“ nicht auf die Persönlichkeitsbildung beschränkt bleiben. Vielmehr orientiert der Glaube, indem er die Person bildet, zugleich deren soziales und kulturelles Leben. (6) Hier liegen die Chancen und Aufgaben der Religionspädagogik – einer inklusiven Pädagogik des Evangeliums für Menschen mit und ohne Behinderung. Im Anschluss an Karl Ernst Nipkow kann ihre Aufgabe als die einer Sinnerschließung verstanden werden, die das Selbstverständnis von Menschen durch die Begegnung mit dem Evangelium und die Teilhabe an dem durch die Person Jesu gestifteten Lebensverhältnis verändert. „Sinnerschließung durch das Evangelium heißt hierbei Erschließung eines neuen Lebensverständnisses auf dem Wege über die Stiftung eines Lebenszusammenhanges.“308 Ausdrücklich macht Nipkow deutlich, dass diese Aufgabe für jede christliche Erziehung gilt. Die theologische Konkretisierung der in ihr zu leistenden „Vermittlung personaler Sinnhilfe“309 erfolgt nach Nipkow durch die Fokussierung auf das Evangelium Jesu Christi. „Die Zuwendung Gottes in Jesus Christus zu den Leidenden, Armen, Ausgestoßenen, Beschädigten, Kranken, Schwachen geschah nicht um der Verklärung von Leid, Armut, Krankheit und Schwachheit willen, sondern im Zeichen der positiven Gaben, durch die jene Menschen, ja, durch die wir alle in Gottes Augen reich genannt werden dürfen.“310 Deshalb soll sich auch eine am Evangelium ausgerichtete Religionspädagogik nicht an den Defiziten oder Problemen, sondern an den Kompetenzen und dem Vermögen der Menschen orientieren. Reinhard Thoma und Richard Rogge haben 1996 das Verhältnis zwischen Heil- und Religionspädagogik in einem „Zustand toleranten Desinte————— 306 307 308 309 310

Ebd. Speck, Menschen mit geistiger Behinderung (2005), 184f. Nipkow, Das Evangelium als Grund und Hilfe an Schulen für Behinderte, 77. Ebd., 82. Ebd.

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resses“311 wahrgenommen. Zehn Jahre zuvor hatte auch Hans-Günter Heimbrock beklagt, dass sich die Religionspädagogik für Menschen mit Behinderung „lange Zeit fernab von wissenschaftlichen Zirkeln“ entwickelt habe und „bis heute kaum zur Entfaltung einer konsistenten Fachdiskussion fortgeschritten“312 sei. Zugleich machte aber sein Literaturbericht bereits zum damaligen Zeitpunkt deutlich, dass die „Literatur […] bei näherem Hinsehen so umfangreich“313 sei, dass sie nur in Auswahl angesprochen werden könne. Die religionspädagogische Diskussion hat sich seither deutlich intensiviert. Das 1988 ins Leben gerufene „Würzburger Religionspädagogische Symposium“, das seit 2001 durch das „Forum Heil- und Religionspädagogik“ weitergeführt wird, ist nur ein Beispiel für die Verbreiterung und Vertiefung der heutigen Diskussion. Mittlerweile liegen auch umfangreichere konzeptionelle Entwürfe vor. (7) Hans-Jürgen Röhrig beispielsweise hat die Konzeption eines „subjektorientierten Religionsunterrichts“ mit geistigbehinderten Schülern vorgelegt und erläutert.314 Er nimmt die ressourcenorientierte Sichtweise der neueren Geistigbehindertenpädagogik zur Grundlage und zum Anlass, um diesen Perspektivwechsel auch in der Religionspädagogik zum Zuge kommen zu lassen.315 Röhrig geht von einer anthropologischen Bezogenheit auf Religion sowie von der Notwendigkeit aus, „die Sinnfrage immer wieder neu und aktuell stellen zu müssen“.316 Die Ausblendung religiöser Bildung würde die Schüler von der Möglichkeit abschneiden, ein individuelles Selbst- und Weltverständnis frei wählen und aufbauen zu können. Die Ziele des Religionsunterrichtes bestimmt Röhrig darin, „sich als ein von Gott bejahtes Subjekt zu erkennen“ sowie „einen Beitrag zur persönlichen religiösen Orientierung und zur konkreten Lebenshilfe [zu] leisten“.317 Menschen seien auf Trost, Hilfe und auf die Unterstützung bei Selbst- und Sinnfindungsprozessen angewiesen. Auf der Basis eines öko-systemischen Ansatzes erläutert Röhrig anschließend das Konzept von Lernwelten, das die „Ich“-, „Wir“- und Sachkomponente miteinander verknüpft. Diese drei Basiskomponenten werden in einer „didaktischen Spirale“ zusammengeführt, innerhalb der sie jeweils in Balance (Homöostase) zu halten seien.318 Anschließend – und darin liegt eine sachliche Verschiebung – erläutert ————— 311

Thoma/Rogge, Zum Verhältnis zwischen Heilpädagogik und Religionspädagogik, 141. Heimbrock, Religiöse Erziehung behinderter Kinder, 144. 313 Ebd. 314 Röhrig, Religionsunterricht mit geistigbehinderten Schülern – aber wie? (1999). 315 Eine instruktive Übersicht über den Ansatz verschiedener religionspädagogischer Konzepte mit Blick auf das Phänomen „geistige Behinderung“ findet sich bei Röhrig, ebd., 104–116. 316 Ebd., 188. 317 Ebd. 318 Vgl. ebd., 197f. 312

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Röhrig das didaktische Verhältnis als das von Schüler, Lehrer und Bibel.319 Dabei plädiert er für eine gleichberechtigte Stellung zwischen den Schülern, dem Lehrer und dem Unterrichtsinhalt (Bibel). Dies führt zur Idee eines didaktischen Rotationsprinzips, „bei dem die Aufeinanderfolge der verschiedenen Komponenten (Lehrer-Schüler-Inhalt/Schüler-Lehrer-Inhalt/ Inhalt-Lehrer-Schüler usw.) ständig neu geregelt wird.“320 Auf diese Weise und durch die Berücksichtigung eines selbstbestimmten religiösen Lernens werde die linear-hierarchische Lehrer-Schüler-Beziehung von einem partnerschaftlichen, symmetrischen Verhältnis abgelöst. Röhrigs Entwurf eines subjektorientierten Religionsunterrichtes implementiert die Prinzipien des Empowerment und der Selbstbestimmung in das pädagogische und didaktische Konzept religiöser Bildung für Menschen mit geistiger Behinderung. Modelle wie dieses sind in der Lage, die religionspädagogische Praxis auf der Basis eines nichtdefizitären Menschenbildes und einer selbstbestimmten Sinnerschließung durch das Evangelium Jesu Christi zu orientieren. Es ist darüber hinaus inklusiv angelegt: seine theoretischen und methodischen Annahmen können pädagogischen Prozessen mit den unterschiedlichsten Zielgruppen zu Grunde gelegt und für diese zugleich konkretisiert werden. Dennoch bedarf m.E. Röhrigs Konzept auch der Weiterentwicklung: seine im engeren Sinn theologische Fundierung und Ausgestaltung ist vergleichsweise schmal geraten und gewinnt gegenüber dem öko-systemischen Ansatzes nicht durchgängig eigene Kontur. Hier wäre noch einmal an Nipkows theologisch-pädagogischen Ansatz zu erinnern, der die personale Sinnhilfe des Evangeliums als die „Erschließung eines neuen Lebensverständnisses auf dem Wege über die Stiftung eines Lebenszusammenhanges“321 bezeichnet hat. (8) Vor dem Hintergrund meiner Erkundungen zur Berücksichtigung des menschlichen Grundverhältnisses und einer darin fundierten Lebensgewissheit haben sich in den letzten Passagen Eckpunkte für eine inklusive Pädagogik abgezeichnet, die subjekt- und kompetenzorientiert das Evangelium als Erschließung einer neuen und erneuernden, tragenden und tragfähigen Grundgewissheit über Selbst und Welt zur Geltung bringt. Ein auf dieser Grundlage zu entwickelnder Dialog zwischen der Religions- und der Behindertenpädagogik kann von dem gemeinsamen Interesse an den Subjekten, ihrer Kompetenz und Selbstbestimmungsfähigkeit ausgehen. „Bei—————

319 Die Verschiebung betrifft insbesondere den Umstand, dass die „Wir“-Komponente nun durch die des Lehrers ersetzt wird. Das ist nicht unproblematisch, weil jetzt das „Wir“ der Schülerinnen und Schüler nicht mehr angemessen berücksichtigt werden kann. Statt die „Wir“Komponente zu ersetzen, hätte m.E. die Person des Lehrers ergänzend in die „didaktische Spirale“ eingefügt werden müssen. 320 Röhrig, ebd., 202. 321 Nipkow, Das Evangelium als Grund und Hilfe, 77.

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den, Heilpädagogik und Religionspädagogik, müßte demnach daran gelegen sein, ihr Handeln in den Dienst einer Ermöglichung von intersubjektiven Lebenszusammenhängen zu stellen, damit und in denen der Mensch in Freiheit zum Sinn und zu lebensbedeutsamen Wahrheit seines Handelns, seiner Existenz, der der anderen und der Welt im Ganzen finde.“322 Die Theologie kann auf ihre Weise die Bedeutsamkeit des religiösen Selbstverständnisses für die menschliche Identitätsbildung deutlich machen. Sie kann einen Beitrag zur Förderung der Selbstbestimmung in sozialer Verantwortung leisten. Sie kann zur Wertschätzung der eigenen Person, der anderen sowie der Natur ermutigen und beitragen. Sie kann Menschen darin begleiten, dass sie „in ihrer Lebensgeschichte […] den ihnen innewohnenden, geschenkten und mit anderen gemeinsam geteilten Lebenssinn im Dialog zu entdecken, um daraus Zutrauen zum Leben zu entwickeln.“323 Diesen Beitrag leistet die Religionspädagogik, indem sie das Evangelium als Grund und Inhalt des Glaubens zur Geltung bringt. Die beiden Beispiele, mit denen ich dieses Kapitel eröffnet habe, belegen die Lebensrelevanz dieser Gewissheit: „Jesus hat die Heike, Ines, Sabine lieb, Halleluja, Halleluja! „. Die Theologie kann nicht anders, als den Sinn, der sich ihr als wahr erschlossen hat, beim Namen zu nennen. Die Sinnperspektive als solche sollte aber auch der Behindertenpädagogik nicht fremd bleiben. Sie hat weltanschaulich neutral, nicht aber weltanschaulich abstinent zu sein. Kein einzelnes Sinnkonzept darf sie bevorzugen. Aber sie sollte Sinn für den „Sinn“ zeigen. Sollte „Glaubensfragen“ Raum geben und die Sinnsuche der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen begleiten. Als ressourcenorientierte sollte sie auch eine sinnempfindliche Pädagogik sein. Zu den Fähigkeiten, bei deren Ausbildung sie fördernd und begleitend zur Seite steht, gehört deshalb auch die „Sinnkompetenz“ (Thoma/Rogge).

————— 322 323

Thoma/Rogge, Zum Verhältnis zwischen Heilpädagogik und Religionspädagogik, 143. Vgl. ebd., 144f, Zitat 145.

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7. Bildung oder: „Wann werd ich satt und froh mit Lachen, O Herr! nach deinem Bild erwachen?“ (BWV 492) Bildung Zu reden ist von Frau B.1 Sie lebt in einer kleinen Wohnung in der Nähe von Leipzig. Seit wenigen Jahren. Genauer: seit 2002. Vorher hat sie in einer Wohnstätte für Menschen mit einer geistigen Behinderung gelebt. Sieben Jahre lang. Hier hatte sie sich in einer Trainingswohngruppe gezielt die Fähigkeiten angeeignet, über die sie verfügen muss für das Leben in den eigenen vier Wänden: Einkaufen, mit Geld umgehen, Haushalt führen, Freizeit gestalten, Beziehungen aufbauen usw. Am Ende hatte sie gesagt „Ich glaube, es wird nun endlich Zeit, dass wir ausziehen“2 und mit Unterstützung der Wohnstätte ihre eigene Wohnung bezogen. Frau B. ist dieses Maß an Selbstbestimmung über Jahrzehnte vorenthalten geblieben. Bevor sie 1995 im Rahmen des sächsischen Enthospitalisierungsprozesses in die Wohnstätte zog, hatte sie 28 Jahre lang auf der Langzeitstation eines psychiatrischen Krankenhauses gelebt. Mit ihrer geistigen Behinderung hatte sie als nicht förderfähig gegolten. Förderung war ihr auch nicht zu Teil geworden. So war Frau B., als sie die Psychiatrie verließ, von der jahrzehntelangen Hospitalisierung gezeichnet. Erst allmählich konnte sie in der Wohnstätte durch gezielte Förderung das Selbstvertrauen und die Fähigkeiten erwerben, die ihr dann den Schritt in die Selbständigkeit möglich machten. Der langjährige Aufenthalt von Frau B. auf einer psychiatrischen Langzeitstation gilt heute als sog. Fehlplatzierung. Allein in Sachsen gab es im Jahr 1990 ca. 1.600 bis 1.800 Menschen mit geistiger Behinderung, die fehlplatziert in psychiatrischen Krankenhäusern und etwa 1.800, die in Altenpflegeheimen gelebt haben.3 Dass ihnen pädagogische Förderung vorenthalten blieb, ist eine Folge von begrifflichen Unterscheidungen, die in der DDR-Rehabilitationspädagogik geläufig gewesen sind. Sie differenzierte zwischen leicht Intelligenzgeschädigten (Debilen), schulbildungsunfähigen Förderungsfähigen (Imbezillen) und förderungsunfähigen Pflege—————

1 Das Fallbeispiel entnehme ich der Diplomarbeit von Steffen Randolph, Unterwegs zu einem selbstbestimmten Leben, 43–50, 59–61, 85–88, 96–102. 2 Randolph, 96. 3 Sächsisches Staatsministerium für Soziales, Gesundheit und Familie (Hg.), Enthospitalisierung, 8–10.

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bedürftigen (Idioten).4 Pädagogisch wurde lediglich mit den ersten beiden Gruppen gearbeitet.5 Für die letztere existierten dagegen weder pädagogische Ziele noch Programme. Sie blieben ausgegrenzt. Der allergrößte Teil der Personen, die fehlplatziert in der Psychiatrie oder in Altenpflegeeinrichtungen untergebracht gewesen sind, konnte in den 1990er Jahren im Rahmen des Sächsischen Enthospitalisierungsprogramms eine für sie angemessenere Wohnform und darüber hinaus individuelle Förderung erfahren.6 Sicher haben die meisten von ihnen keinen ähnlich weit reichenden Entwicklungsprozess durchlaufen wie Frau B. Das Maß der Selbstbestimmung hat sich aber für die allermeisten von ihnen in erheblicher Weise erhöht.7 Daran wird deutlich, dass Bildung in einem umfassend verstandenen Sinn für Menschen mit geistiger Behinderung in besonderer Weise eine Lebensfrage ist. Vor diesem Hintergrund möchte ich im folgenden Kapitel das Thema Bildung theologisch und pädagogisch entwickeln sowie Konsequenzen für die Behindertenpädagogik andeuten.

7.1 Künstler, Pflanze, Tat. Metaphern und Paradigmen von Bildung „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“, heißt es in Kants Pädagogikvorlesung aus den Jahren 1776/77. „Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“8 Kants euphorische Proklamation der Erziehung steht am Anfang jener Epoche zwischen 1770 und 1830, in der auch das Wort „Bildung“ zum Modewort, ja Leitbegriff geworden ist9 und 1784 von Moses Mendelssohn als neuer „Ankömmling in unserer Sprache“10 bezeichnet wurde. Für Kant geht es in der Erziehung darum, die im Menschen angelegten Naturanlagen zu entwickeln. „Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache, die Naturanlagen proportionierlich zu entwickeln, und die Menschheit aus ihren Keimen zu entfalten, und ————— 4

Vgl. Institut für Planung und Organisation des Gesundheitsschutzes (Hg.), 1968, 212. Vgl. Eßbach, Rehabilitationspädagogik; vgl. Becker, Rehabilitationspädagogik. 6 Vgl. zum Enthospitalisierungsprozess in Sachsen: Liedke/Lippstreu, Freiräume, 66–75. 7 Das gilt auch für Menschen mit schwerster geistiger Behinderung, die nicht in so starkem Maße wie Frau B. zur Selbstbestimmung fähig sind. Georg Theunissen erläutert bspw. in seinem Buch „Wege aus der Hospitalisierung“ Fallbeispiele aus der Einzelarbeit, die auch für Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung erstaunliche Entwicklungsprozesse verdeutlichen. Verwiesen sei u.a. auf die Einzelförderung von Herrn Jonas, 212–221. 8 Kant, Über Pädagogik, Werke, Bd. 10, 699 (A 7). 9 Vgl. Lichtenstein, Art.: Bildung, 921. 10 Mendelsohn, Schriften zur Philosophie, Leipzig 1880, Bd. 2, 246, zitiert nach: Lichtenstein, Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs, 4. 5

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zu machen, daß der Mensch seine Bestimmung erreiche.“11 Diese Beschreibung verdient nicht nur Interesse, weil sie von einem optimistischen Zutrauen in die Erziehung zeugt, sondern auch, weil sie sich an einer bestimmten Metapher orientiert: dem Wachstum der Pflanze. Die Paradigmen von Bildung sind im Laufe der Geschichte regelmäßig mit starken Bildern verbunden worden. Menschenbilder und Bildungswege lassen sich leicht aus diesen Metaphern erschließen. Das Wachstum der Pflanze ist eine dieser wirkungsstarken Metaphern. (1) Sie ist nicht die erste, so wie das Wort „Bildung“ älteren Datums ist und nicht erst ein Ankömmling in der Sprache des 18. Jahrhunderts. Die Gottebenbildlichkeitslehre war die Mutter der Bildung und kam zur Sprache, als Meister Eckhart die Verwandlung des Glaubenden in das Bild Christi als mystische Überbildung interpretierte. In einer Predigt über Lk 19,12 erläutert er die Schaffung „des inneren oder neuen Menschen“ – analog dem Schöpfungsrhythmus – als einen siebenstufigen Bildungsprozess. „Der sechste Grad ist, so der Mensch entbildet ist und übergebildet in Gottes Ewigkeit: wenn er auf den Gipfel der Vollkommenheit gelangt ist und aller Vergänglichkeit des zeitlichen Lebens vergessen hat, und erhoben und übergefahren ist in Gottebenbildlichkeit: wenn er ein Kind Gottes worden ist.“12 Entbildung und Überbildung sind die beiden Schritte dieser Transformation: die Seele muss sich der Weltbilder, all der kreatürlichen Einbildungen entledigen, damit das Bild Gottes, das wie ein Samenkorn seit der Schöpfung in ihr liegt, wieder zu glänzen beginnen kann.13 Meister Eckhart deutet diese Einbildung Gottes in der Seele als Wiedergeburt. An seiner Theorie werden zugleich die beiden Momente deutlich, die sich von Anbeginn im Bildungsbegriff verbunden haben: Bild (lat. imago, forma) und Gestaltung (lat. formatio).14 „Mit diesen Bedeutungen sind zugleich die Momente des schaffenden Herstellens (Produzierens) und der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Bild und Abbild (Nachahmung) gegeben“.15 Meister Eckharts Bildungsbegriff ist am Paradigma des Künstlers gebildet, der „nichts in das Holz hinein“ trägt, sondern „nur die Späne fort“ schneidet, „die das Bild verborgen und verdeckt hielten“.16 Für ihn ist diese künstlerische Tätigkeit die Freilegung eines bereits bestehenden Bildes. Dieses Modell des Artefakts ist eine weitere starke Metapher für die Bildung. Meist ist es allerdings so verstanden worden, dass aus einem gestaltlosen Material eine Gestalt gebildet, geschaffen wird. So hat es beispiels————— 11 12 13 14 15 16

Kant, ebd., 701 (A 11). Meister Eckhart, Vom edlen Menschen, 108. Vgl. ebd., 109. Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, 22; Lichtenstein, Art.: Bildung, 921. Lichtenstein, Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs, 5. Meister Eckhart, ebd.

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weise Pico della Mirandola eindrucksvoll ins Bild gesetzt. Auch bei ihm geht es dabei um die Bildung zur Gottebenbildlichkeit. In einem Schöpfungsdialog spricht Gott-Vater Adam auf diese Bildungsaufgabe an: „keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst […]. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.“17 (2) Das bereits an Kants Pädagogikvorlesung angedeutete Modell des pflanzlichen bzw. organischen Wachstums ist in der Naturphilosophie der Renaissance entstanden und hat in Paracelsus’ Naturmystik einen ihrer Ausgangspunkte.18 Johann Gottfried Herder hat dieses organologische Modell zur Grundlage seiner weit ausgreifenden und komplexen Bildungstheorie gemacht. Anders als Kant versteht Herder Bildung aber nicht als Entfaltung vorgebildeter Keime sondern als Gestaltungsprozess organischer Kräfte.19 Diese formen die Materie des jeweiligen Körpers bzw. Organs; sie bilden und beleben ihn. Für Herder ist „Bildung (genesis)“ deshalb zunächst „eine Wirkung innerer Kräfte, denen die Natur eine Masse vorbereitet hatte, die sie sich zubilden, in der sie sich sichtbar machen sollten.“20 Im Menschen kulminiert diese „Reihe aufsteigender Formen und Kräfte“. Er erscheint als „das höchste, wozu eine Erdorganisation gebildet werden konnte“.21 Zugleich ist der Mensch aber auch „der erste Freigelassene der Schöpfung“.22 Deshalb bedarf sein Werden einer zweiten, einer geistigen Genesis.23 Diese ist nichts anderes als Erziehung. Sie ist „das Prinzipium zur Geschichte der Menschheit“.24 Nur durch sie kann der Mensch zur Humanität gebildet werden. Gerade in diesem doppelten Werden ist der Mensch für Herder das Bild der Gottheit. Als diese „die Erde […] geschaffen hatte, formte sie den Menschen und sprach zu ihm: ‚Sei mein Bild, ein Gott auf Erden, herrsche und walte! Was du aus deiner Natur Edles und Vortreffliches zu schaffen vermagst, bringe hervor! Ich darf dir nicht durch ————— 17

Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, 7–9. Vgl. Lichtenstein, Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs, 7. 19 Vgl. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 123: „Präformierte Keime, die seit der Schöpfung bereit lagen, hat kein Auge gesehen; was wir vom ersten Augenblick des Werdens eines Geschöpfs bemerken, sind wirkende organische Kräfte.“ 20 Ebd., 124. 21 Ebd., 118. 22 Ebd., 98. 23 Vgl. ebd., 237, 239. 24 Ebd., 236. 18

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Wunder beistehn, da ich dein menschliches Schicksal in deine menschliche Hand legte, aber alle meine heiligen, ewigen Gesetze der Natur werden dir helfen.‘“25 In der Entfaltung organischer und geistiger Wachstumsenergien entspricht der Mensch nach Herder seiner Bestimmung als Bild Gottes. (3) Eine weitere einflussreiche pädagogische Metapher ist die Idee von Bildung als Selbstentwurf. Johann Gottlieb Fichtes Bildungstheorie ist ein prägnantes Beispiel für sie. Die konstitutive Rolle von Subjektivität, die in Kants theoretischer wie praktischer Philosophie herausgearbeitet worden ist, wird bei Fichte zum Gedanken der Selbstsetzung des Ich und damit zu einer Philosophie der Tat weitergeführt. „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Seyn“,26 lautet der erste Grundsatz seiner Wissenschaftslehre von 1794. Auch in seiner späten Philosophie ist der Tatcharakter des Geistes im Zentrum geblieben. Die Bildungstheorie der „Reden an die deutsche Nation“ von 1808 enthält deshalb das Postulat, die Menschheit müsse „von nun an zu allem, was sie noch weiter werden soll, sich selbst machen“.27 In der Bildung gehe es daher nicht darum, das Gegebene aufzufassen und sich anzueignen. Nicht um Nachbildung, sondern um VorBildung sei es ihr zu tun. Fichte entwickelt dieses pädagogische Konzept im Rahmen einer Philosophie des Bildes. Sie gründet in dem Vermögen des Geistes, „einen gewissen Zustand der Dinge, der in Wirklichkeit nicht vorhanden ist, hervorzubringen“,28 ein Bild, das dem Geist vorschwebt und sein Wohlgefallen auf sich zieht. Daran schließt die Pädagogik an: „Jenes Vermögen, Bilder, die keineswegs bloße Nachbilder der Wirklichkeit seien, sondern die da fähig sind, Vorbilder derselben zu werden, selbsttätig zu entwerfen, wäre das erste, wovon die Bildung des Geschlechts durch die neue Erziehung ausgehen müßte.29 Bildung wird so buchstäblich zur SelbstBildung, zum Werk des Ich, zu einer Schöpfungshandlung, die das Subjekt aus sich heraus vollzieht. Bildung wird zur Konstruktion einer neuen Wirklichkeit in kühnen Bildern, die „der Zögling durch eigne Kraft […] sich erzeuge“.30 Sie wird verstanden als Tat, als Selbstentwurf, als selbsttätige Bildung. Damit hängt auch zusammen, dass Fichte Pädagogik kognitiv zuspitzt: sie ist Erkenntnis und Wissen. Künstler, Pflanze, Tat. Das sind nur einige der starken Metaphern, die zur Deutung von Bildung geprägt worden sind. Zahlreiche weitere ließen sich hinzufügen: Entäußerung (Hegel), Werden (Schleiermacher) und andere. Den vielfältigen Aspekten und Nuancen der Geschichte des Bildungs————— 25 26 27 28 29 30

Ebd., 349. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, Bd. 1, 98 Fichte, Reden an die deutsche Nation, 46. Ebd., 22. Ebd., 23. Ebd.

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begriffs31 kann ich mich hier nicht ausführlicher widmen. Vielmehr möchte ich jetzt ausgewählte theologische Konzepte zur Bildung vorstellen und anschließend Aspekte eines theologischen Bildungsbegriffs erörtern.

7.2 Protestantismus und Bildung. Theologische Entwürfe Bildung ist eines der Schlüsselthemen des modernen Protestantismus. Sie ist zugleich das Ergebnis eines Inkulturationsprozesses, in dem sich Formen des protestantischen Selbst- und Weltumgangs zu Strukturen moderner Persönlichkeitsbildung umgebildet haben. Christian Albrecht hat in seiner Studie zum Bildungsgedanken des Protestantismus deutlich gemacht, wie das im modernen „Bildungsparadigma ausgedrückte Strukturprinzip der Lebens- und Weltgestaltung“ im „neuzeitlich-protestantischen Strukturprinzip des Selbst- und Weltumganges“32 vorgeprägt ist. Das Bildungsthema und der Beitrag des Protestantismus zur modernen Kultur haben daher einen hohen Stellenwert in den Entwürfen von Schleiermacher und Rothe bis Harnack und Troeltsch.33 Als die „Dialektischen Theologie“ nach dem Ersten Weltkrieg die ihr vorausgegangene theologische Epoche unter das polemische Verdikt des „Kulturprotestantismus“ stellte, geriet mit der liberalen Theologie auch der Bildungsbegriff in Misskredit. Zeitweise wurde er zugunsten des Erziehungsbegriffs verabschiedet.34 Karl Barth, der einflussreichste Vertreter der „Dialektischen Theologie“, hielt seinerseits zwar am Begriff der Bildung fest, widersprach aber ebenso energisch jeder affirmativen, kulturprotestantischen Verbindung von Evangelium und Bildung. In einem Vortrag aus dem Jahr 1938 hat er den unvermeidlichen „Zusammenstoß zwischen dem Evangelium“ und allen verabsolutierten „menschlichen Bildungsversuchen“ proklamiert. „Gegen sie alle erhebt sich der Protest, die Anklage, das Gelächter, der Fluch des Evangeliums.“35 Barths Gegenentwurf folgt der offenbarungstheologischen und christologischen Fokussierung seiner Theologie. Allein vom Evangelium her ergibt sich für ihn eine Lösung des Bildungsproblems. Jesus Christus als wahrer Gott und wahrer Menschen sei „das realisierte Menschenbild nach dem Bilde Gottes, der ‚gebildete‘, der eine, einzige nicht nur in einer Bildung begriffene, sondern wirklich, weil durch Gott selbst nach dem ————— 31

Vgl. Dohmen, Bildung und Schule; Schilling, Bildung als Gottesbildlichkeit. Albrecht, Bildung in der Praktischen Theologie, 21. 33 Vgl. ebd., 31–42. 34 Vgl. den instruktiven Überblick über „Theologische Bildungskritik“ bei Preul, Religion – Bildung – Sozialisation, 16–95. 35 Barth, Evangelium und Bildung, 17. 32

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Bilde Gottes selbst ‚gebildete‘ Mensch“.36 Jesus Christus und nicht etwa der Mensch selber sei deshalb Subjekt und Träger des wahren Bildungsprozesses. Das bedeute, „daß er in uns Bildner und Bild wäre und wir Bildner und Bild in ihm“.37 Vor diesem Hintergrund ist die im ersten Leitsatz des Vortrages formulierte Hauptthese zu verstehen: „Das Wort ‚Bildung‘ bezeichnet die Aufgabe der äußeren und inneren Gestaltung der menschlichen Existenz im Blick auf deren ursprüngliche, letzte und eigentliche Bestimmung und Möglichkeit.“38 Menschliche Bildungsanstrengungen seien dort möglich und gerechtfertigt, an deren Anfang Jesus Christus stehe und in denen Christus als Subjekt und Träger des Bildungsprozesses anerkannt werde.39 Das, worum es in aller Bildung geht, werde so davor bewahrt, von den Füßen auf den Kopf gestellt zu werden. Dieser Inhalt der Bildung besteht für Barth darin, „dass die Umwelt des Menschen ihn gestalte zu einem, der möglichst reich und tief um sie weiß, sie versteht, an ihr teilnimmt. Daß der Menschen in seiner Begegnung mit der Umwelt sich selbst gestalte zu einem zugleich Freien und Verantwortlichen. Und daß endlich er selber seinerseits zu einem Gestalter werde in und an seiner Umwelt.“40 Barth zieht in seinem Bildungskonzept die Linien seiner christologisch akzentuierten Theologie aus. Das geschieht auch darin, dass er das Gesetz nicht als eigenes Wort Gottes neben dem Evangelium zur Geltung bringt, sondern als Gestalt des einen und einzigen Wortes Gottes, das Gnade ist, auffasst: „Evangelium und Gesetz“.41 Der Einfluss der „Dialektischen Theologie“ hat die Diskussion um den Bildungsbegriff nachhaltig geprägt und seine Rolle geschwächt. Erst seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hat der Bildungsbegriff allmählich seine zentrale Stellung in der protestantischen Theologie zurückerhalten. Ich möchte im Folgenden an drei unterschiedlichen Konzepten Unterschiede und Spezifika des neueren theologischen Bildungsdiskurses herausarbeiten. (1) Wolfhart Pannenberg entwickelt sein Bildungsverständnis vor dem Horizont des Gottebenbildlichkeitsgedankens. In Anknüpfung an Irenäus von Lyon vertritt er die Auffassung einer doppelten imago Dei. Für sie ist charakteristisch, dass der Mensch zwar von Anbeginn zum Bild Gottes bestimmt ist, diese seine Bestimmung aber erst im Laufe der Geschichte und zwar durch seine Verwandlung zum Bild Christi realisieren kann.42 ————— 36 37 38 39 40 41 42

Ebd., 9. Ebd., 14. Ebd., 3. Vgl. ebd., 19. Ebd., 3f. Vgl. Barth, Evangelium und Gesetz, in: ders., Klärung – Wirkung – Aufbruch, 272–300. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 249.

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Dieses Verständnis der Gottebenbildlichkeit ist nun auch für Pannenbergs Bildungskonzept leitend, da „der Gedanke der künftigen Bestimmung des Menschen die Möglichkeit eines Bildungsprozesses zu wahrer Menschlichkeit“43 eröffne. Sein Ziel besteht in der Überwindung der menschlichen Entfremdung und in der Gewinnung von Identität. Das Wissen des Menschen von sich selbst verändere sich auf diesem Weg, weshalb sachgemäß „von einer Beteiligung des Menschen am Prozess seiner eigenen Bildung“44 zu sprechen sei. Aber nicht nur die Selbsterfahrung, sondern auch das Wissen von der Welt sei für den Bildungsprozess bedeutsam, weil in ihm die Idee einer Ganzheit der Welt entstehe, die im Christentum als Reich Gottes thematisiert wird. „Erst in solchem Wissen von Gott, in dem sowohl die eigene Individualität als auch die Welt im ganzen mitgesetzt sind, gelangt der Mensch zum Bewußtsein seiner selbst, seiner Identität, hinsichtlich seiner über das Weltverhältnis hinausgehenden Bestimmung.“45 In der Bildung geht es demnach nach Pannenberg um eine Transformation des Menschen in das Bild Christi, in der dieses Bewusstsein entsteht. Eine solche Bildung könne allerdings nicht unmittelbar Gegenstand von Erziehung werden. Diese wurzele im Generationenverhältnis und bestehe darin, „die heranwachsende Generation in die gesellschaftliche Welt einzuführen“.46 Der Beitrag der Erziehung zur Bildung könne aber darin bestehen, dass in der von ihr vermittelten Weltorientierung und Weltaneignung das Thema einer Welt im Ganzen und einer Ganzheit des individuellen Lebens antizipiert werde. (2) Regelmäßig stellt sich in Bildungsdiskursen die Frage nach dem Subjekt von Bildung. Karl Barth hat dieser Frage eine christologische Antwort gegeben. Menschliche Bildungsanstrengungen, so macht er deutlich, sind nur legitim, wenn sie, „obwohl vom Menschen, doch nicht vom Menschen her“,47 sondern von Christus her unternommen werden. Peter Biehl beantwortet eben diese Frage nach dem Subjekt des Bildungsprozesses, indem er zwischen Person und Subjekt unterscheidet und beiden anthropologischen Begriffen verschiedene Handlungsbedingungen zuordnet. Dabei knüpft Biehl an Eberhard Jüngels Personalitätsverständnis an, das er zugleich sozialwissenschaftlich und pädagogisch öffnet. Person ist der Mensch nach Biehl dadurch, „daß er geschöpfliches Gegenüber des Schöpfers ist. Als Person ist er zur Gottebenbildlichkeit bestimmt, nämlich dazu, dieser seiner Auszeichnung durch Gott entsprechen zu können. Das Personsein ist im ————— 43 44 45 46 47

Pannenberg, Gottebenbildlichkeit und Bildung des Menschen, 219. Ebd. Ebd., 222. Ebd. Barth, Evangelium und Bildung, 19.

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Ereignis des den Menschen anredenden Wortes Gottes begründet“.48 Vor allem menschlichen Handeln und vor jeder pädagogischen Aktivität ist der Mensch je schon Person durch das Wort Gottes, das ihn anspricht. Personalität ist mithin der menschlichen Praxis entzogen. Vielmehr ist sie ihr vorgegeben. Subjektivität dagegen muss realisiert werden. Darum geht es in der Bildung. „Im Prozeß der Bildung geht es […] um den Prozeß der Subjektwerdung des Menschen in der Gesellschaft als ein ständiges Freilegen seiner ihm gewährten Möglichkeiten. Diesem Prozeß geht das Personsein als Grund der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung stets voraus. Subjekt muß der Mensch im Prozeß seiner Bildung erst werden, Person ist er immer schon. Bildung ist also Folgephänomen des Personseins.“49 Für eine theologische Theorie der Bildung, die ihr Ziel in der Verwirklichung der menschlichen Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit sieht, wird der Glaube zu einer zentralen Kategorie. Der rechtfertigende Glaube, der „eine qualitativ neue Erfahrung mit aller bisherigen Lebenserfahrung“50 ermögliche, sei auf Bildung angewiesen, die einen „Erkenntniszuwachs durch Lernen aus Erfahrung“51 ermögliche. In der sachgemäßen Verschränkung des Glaubens, durch den die Person konstituiert wird, und Bildung, durch die eine Ich-Identität ausgebildet wird, vollzieht sich für Biehl Subjektwerdung. Der „Gebildete“ wäre nichts anderes als „ein erfahrungs- und handlungsfähiges Subjekt in Individualität, Sozialität und Mitgeschöpflichkeit“.52 (3) Gegenüber den beiden bislang dargestellten Bildungstheorien besteht der Akzent derjenigen von Reiner Preul in der stärkeren Konzentration auf die Theologie Luthers, insbesondere auf die Anthropologie und ZweiRegimenten-Lehre.53 Preuls Konzept kann als Bildung zur Freiheit54 gelesen werden. Freilich einer theologisch aufgeklärten. Es gilt, die libertas christiana bildungstheoretisch auszubuchstabieren. Freiheit bedeutet die Fähigkeit zum Handeln. Deshalb wählt Preul den Handlungsbegriff als fundamental————— 48

Biehl, Erfahrung, Glaube und Bildung, 157. Ebd., 156. Biehls Begriff der Subjektwerdung ist sachlich ebenfalls von Dalferth und Jüngel vorgezeichnet: „das Personsein ist schon deshalb vom Subjektsein des Menschen zu unterscheiden, weil der Mensch immer schon Person ist, während er Subjekt immer erst werden muß“ (Dalferth, Jüngel, Person und Gottebenbildlichkeit, 91). 50 Ebd., 167. 51 Ebd., 168f. 52 Ebd., 174. 53 Zentrale Bedeutung kommt dabei Preuls These, „daß die in der Zwei-Regimenten-Lehre enthaltene Anschung von der menschlichen Lebenswelt die soziale Veranschaulichung der Anthropologie Luthers, die als soziale Welt vorstellig gemachte zweistufige Definition des Menschen ist“ (Preul, Bildung und Erziehung nach Gesichtspunkten Luthers, 29 Anm. Ausführliche Erläuterung in: ders., Erziehung bei Luther – Luthers Bedeutung für die Erziehung, 56–59). 54 Mit der Formulierung „Bildung zur Freiheit“ charakterisiert Preul das Bildungsverständnis Luthers (vgl. Preul, Bildung und Erziehung nach Gesichtspunkten Luthers, 15). 49

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anthropologische Kategorie seiner pädagogischen Theorie.55 Ziel von Bildung ist für ihn die „gesteigerte und über sich selbst aufgeklärte Handlungsfähigkeit“56 einer Person. Die theologische Aufklärung über deren Genesis leistet nach Preul die lutherische Rechtfertigungslehre. In ihrem Horizont werde klar, wie Menschen „‚richtig‘, d.h. bestimmungsgemäß, handeln können“57 und wie sie zu eben dieser aufgeklärten Freiheit befreit werden. Der Rechtfertigungsglaube bestimmt die menschliche Bildungsgeschichte zugleich aber auch prozessual. Weil Bildungswege stets offen und unabschließbar seien, bedürfen die Menschen auf ihren Wegen eines lebensgeschichtlich verankerten Vertrauens. „Das menschliche Leben ist eine Geschichte der Ausdifferenzierung, Umverteilung und Symbolisierung von Vertrauen“,58 bei der es um die Verlässlichkeit der jeweiligen Instanzen gehe, mit denen sich das Vertrauen verknüpft. Eben dieser Prozess steht nach Preul vor der immer gleichen Grundalternative: „ob ich mein Vertrauen auf Gott setze […] oder […] auf eigenes Können“.59 Jeder individuelle Bildungsweg beruhe daher auf einer vorreflexiv gewonnenen Lebensgewissheit. Die Pädagogik dürfe der Thematisierung dieser individuellen Formen lebenstragenden Vertrauens nicht ausweichen. Vielmehr sei es sogar ein spezifischer Aspekt von Bildung, dass Menschen in der Auseinandersetzung mit anderen Positionen zu einer für sie existenziell verbindlichen Antwort auf die Sinnfrage finden. Hier liege auch der Beitrag der Theologie zum pädagogischen Diskurs. Sie kläre darüber auf, dass individuelle Handlungsfähigkeit eine „Gewissheit über Grund, Verfassung und Bestimmung des menschlichen Lebens sowie des Weltprozesses insgesamt“60 einschließe und mache deutlich, „daß alles menschliche Handeln und Gestalten […] nur ein Ausschöpfen von Möglichkeiten ist, die in der Struktur der Schöpfung schon angelegt sind.“61 Mit dem Rechtfertigungsglauben thematisiere sie zugleich die spezifisch christliche Antwort auf die Frage, wie Lebensgewissheit und Freiheit konstituiert werden.

7.3 Relationalität und Bildung Liebe und Bildung sind Schwestern. In der Philosophie- und Theologiegeschichte ist auf ihr inniges Verhältnis immer wieder aufmerksam gemacht ————— 55 56 57 58 59 60 61

Vgl. u.a. Preul, Anthropologische Fundamente, 149. Preul, Kirche als Bildungsinstitution, 105. Preul, Anthropologische Fundamente, 151. Ebd., 153. Preul, Bildung und Erziehung nach Gesichtspunkten Luthers, 20. Preul, Art.: Bildung, IV. Religionsphilosophisch, dogmatisch, ethisch, 1583. Preul, Bildung, 74.

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worden. Für Friedrich Schleiermacher sind sie Korrelate: „Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort.“62 Selbst Theodor W. Adorno bekennt, „zur Bildung bedürfe es der Liebe“.63 Liebe aber ist ein Beziehungsbegriff. Nach Herder heißt Liebe, „sich in der Situation, in der Existenz, im Gefühl, im Herzen eines anderen fühlen“.64 Dass Bildung der Liebe bedarf, ist deshalb auch ein Hinweis darauf, dass Bildung ebenfalls ein Beziehungsbegriff ist. Im Zusammenhang einer relational ausgerichteten Anthropologie liegt es daher nahe, auch den Bildungsbegriff relational zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund wäre Bildung zu verstehen als Entwicklung von Beziehungen und Beziehungsfähigkeit, als Beziehungswachstum und Beziehungsgestaltung. In ihr geht es um einen Wachstumsprozess, in dem ein Mensch zu einem beziehungsoffenen, beziehungskompetenten und beziehungsaktiven Subjekt wird. Eine solche Entwicklung zur Beziehungsfähigkeit betrifft alle Grundrelationen des Menschseins. Sie wurzelt im menschlichen Grundverhältnis, insofern die Ermöglichung und Nötigung zu freien und interaktional vermittelten Entwicklungsprozessen im Transzendenzbezug der conditio humana ihren Grund haben. Indem der Mensch zur Selbstbestimmung bestimmt ist, ist er auch zur Bildung gebildet. Zugleich gehört es zu den Inhalten, Themen und Aufgaben des Bildungsprozesses, dieses Grundverhältnis zu entwickeln und zu gestalten. Innerhalb des Sozial- und Umweltverhältnisses besteht Bildung darin, dass neue Relationen ermöglicht und geknüpft werden. In ihnen entäußert sich das Subjekt an das Andere seiner selbst, indem es Menschen und anderen Lebewesen, Natur- und Kulturphänomenen aber auch sozialen Strukturen und Prozessen begegnet und sich für sie öffnet. Eine solche Steigerung der Sozial- und Umweltrelation ist zugleich mit einer intensivierten Selbstbeziehung verbunden. Das Subjekt wird in der Begegnung mit dem Anderen reicher. Ein solcher Prozess der Entäußerung und Aneignung setzt zugleich auch die Kunst der Unterscheidung und Abgrenzung voraus. Nicht alles kann angeeignet, nicht alles beibehalten werden. Der Prozess, in dem neue Beziehungen mit bestehenden Erfahrungen verknüpft werden, verläuft selektiv. Bildung ist deshalb nicht kumulatives Beziehungswachstum, sondern Neuverknüpfung von Beziehungen. Insofern bezeichnet Bildung einen Prozess fortwährender Selbstüberschreitung, in dem das Subjekt durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit Neuem wächst. ————— 62

Schleiermacher, Monologen, KGA I.3, 22. Adorno, Philosophie und Lehrer, in: ders., GS 10.2, 485. 64 Herder, Brief an Caroline vom Feuchtersleben, zit. nach: Kuhn/Nusser, Art.: Liebe, 311 [Hervorhebung von mir; U.L.]. 63

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Friedrich Schleiermacher hat diesen Wachstums- und Entwicklungsprozess, der Aufgeschlossenheit und Liebe einerseits sowie Unterscheidung und Abgrenzung andererseits beinhaltet, in seinem „Monologen“ Ausdruck verliehen: „Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöffnet sein für Alles, was er nicht ist […]. Nur wenn der Mensch im gegenwärtigen Handeln sich seiner Eigenheit bewußt ist, kann er sicher sein, sie auch im nächsten nicht zu verlezen; und nur wenn er von sich beständig fordert die ganze Menschheit anzuschaun und jeder andern Darstellung von ihr sich und die seinige entgegen zu sezen, kann er das Bewußtsein seiner Eigenheit erhalten: denn nur durch Entgegensezung wird das Einzelne erkannt. Die höchste Bedingung der eigenen Vollendung im bestimmten Kreise ist allgemeiner Sinn. Und dieser, wie könnt er wol bestehen ohne Liebe? […] Ja Liebe, du anziehende Kraft der Welt! Kein eignes Leben und keine Bildung ist möglich ohne dich, ohne dich müßt alles in gleichförmige rohe Maße zerfließen!“65 Ohne dass dies in Schleiermachers Programm romantischer Individualitätsbildung explizit benannt wäre, ist auch in seinem Konzept der relationale Charakter des Bildungsprozesses vorausgesetzt.

7.4 Kompetenz, Emanzipation, Selbstbestimmung. Pädagogische Ziele Das anthropologische Fundament von Bildungsprozessen, die in der Entwicklung und Gestaltung von Beziehungen bestehen, ist – mit Reiner Preul – der Handlungsbegriff.66 Handlungen sind selbst relational verfasst. In ihnen geht es um Ausdrucksverhalten, kommunikative Verständigung oder zielgerichtete Einwirkung – stets aber um eine Aktivität in Beziehung auf Andere oder Anderes. In der Bildung geht es deshalb um „gesteigerte und über sich selbst aufgeklärte Handlungsfähigkeit“.67 Das gilt für alle Dimensionen menschlicher Beziehungen: für das Sozial-, Umwelt- und Selbstverhältnis ebenso wie für das Grundverhältnis. Menschen bilden sich, indem sie in ihren lebenstragenden Beziehungen wachsen und sich die Fähigkeit zu deren individueller Gestaltung aneignen. Handlungsfähigkeit in diesem Sinn geht deshalb über handwerkliche Fähigkeiten hinaus. Vielmehr sind Verfügungswissen und Orientierungswissen durchgängig auf einander zu beziehen. Dabei umfasst das Verfügungswissen die methodischen Fähigkeiten zum kompetenten Agieren in den jeweiligen lebensweltlichen und sys————— 65 66 67

Schleiermacher, Monologen, KGA I.3, 21f. Vgl. Preul, Anthropologische Fundamente, 149–151. Preul, Bildung und Erziehung nach Gesichtspunkten Luthers, 16.

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temischen Bezügen. Das Orientierungswissen beinhaltet demgegenüber „diejenigen Fähigkeiten, die erforderlich sind, […] um eigene Lebens- und Handlungsziele formulieren, prüfen, bewerten und wählen zu können“.68 (1) In der pädagogischen Diskussion wird die eben erläuterte Handlungsfähigkeit häufig unter dem Begriff der Kompetenz reflektiert und didaktisch strukturiert. Der Gerontologe Andreas Kruse beschreibt mit Kompetenz „die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen zur Erhaltung oder Wiederherstellung eines selbständigen, selbstverantwortlichen und sinnerfüllten Lebens in einer anregenden, unterstützenden, zur selbstverantwortlichen Auseinandersetzung mit Anforderungen anregenden sozialen, räumlichen und infrastrukturellen Umwelt“.69 Eine Stärke dieser Definition besteht darin, dass sie Aspekte auf allen Ebenen des menschlichen Beziehungsreichtums miteinander verknüpft, die Kompetenz konstituieren und die deshalb auch zum Bildungsbegriff hinzugehören.70 Die Begriffe Selbständigkeit, Selbstverantwortlichkeit und Sinnerfüllung bezeichnen Dimensionen eines individuell geführten Lebens, die auf aktionale, ethische und lebensorientierende Gesichtspunkte hinweisen. Menschen handeln kompetent, wenn sie über die eigenständige Ausführung von Lebensaktivitäten hinaus ihr Leben verantwortlich „in einer den eigenen Leitbildern eines guten Lebens (‚Wer bin ich? Was will ich?‘) folgenden Weise […] gestalten“71 und dabei zugleich als sinnerfüllt erleben. Die Realisierung einer solchen Kompetenz ist zugleich von personalen wie auch von umweltbezogenen Faktoren abhängig. Als Personenmerkmale wirken sich beispielsweise Erfahrungen des individuellen Lebenslaufes aus: Lebensstile und Lebensgewohnheiten, Bewältigungsstrategien, soziale Aktivitäten, Interessen, die subjektive Bewertung der eigenen Fähigkeiten, das Maß an Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Lebenssituation, das Erleben der Gestaltbarkeit der eigenen Situation, die persönliche Zukunftseinstellung und anderes. Auf Seiten der Umweltfaktoren stehen dagegen die Qualität der persönlichen Wohn- und Lebenssituation, der sozialen Umwelt, der kulturellen und sozialen Angebote, der strukturellen Unterstützungsressourcen sowie die materiellen Situation.72 —————

68 Härle, Zeitgemäße Bildung auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes, in: ders., Menschsein in Beziehungen, 414. 69 Kruse/Ding-Greiner, Ergebnisse einer Interventionsstudie, 465. 70 Ein solcher Begriff von Kompetenz ist, weil er die unterschiedlichen Faktoren in den Blick nimmt, die Kompetenz konstituieren, auch für die Reflexion pädagogischer Prozesse besser geeignet als beispielsweise der Kompetenzbegriff, den Eilert Herms einführt und der im Wesentlichen nur das Individuum betrachtet. Vgl. Herms, Was heißt „theologische Kompetenz“? in: ders., Theorie für die Praxis, 38–40. 71 Kruse/Ding-Greiner, ebd., 465. 72 Vgl. die differenziertere Übersicht über Personen- und Umweltmerkmale in ihrem Einfluss auf die Kompetenz bei: Kruse/Lehr: Reife Leistung, 5/13.

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Kruses Definition macht darauf aufmerksam, in welch erheblichem Maß die Umwelt in ihren sozialen, räumlichen und infrastrukturellen Gestalten Einfluss auf die Kompetenz eines Menschen nimmt. Fördernd oder hemmend. Zugleich nimmt sie in den Blick, dass die individuelle Kompetenz sowohl von subjektiven Faktoren wie auch von solchen der Umwelt abhängt. (2) Eine solche anspruchsvolle Definition von Kompetenz vermeidet die Engführung, bei Bildungsprozessen nur das Individuum im Blick zu haben. Vielmehr entwickelt sich ein Mensch stets in der Interdependenz physischer und psychischer Funktionen auf der einen und sozialer, räumlicher und infrastruktureller Dimensionen auf der anderen Seite. Die Erkenntnis solcher fördernder oder hemmender Wechselwirkungen wird inzwischen auch in der Definition von Behinderung berücksichtigt. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2001 beschreibt Behinderung aus einem Wechselverhältnis von „Schädigungen auf der organismischen Ebene (Körperfunktionen und Körperstrukturen)“, Aktivitäten auf der individuellen und Partizipationsmöglichkeiten auf der gesellschaftlichen Ebene. „Dabei beeinflussen diese Ebenen einander wechselseitig und stehen überdies in Wechselwirkung mit den Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, personenbezogene Faktoren)“.73 Aus theologischer Perspektive ist der oben erläuterte Kompetenzbegriff allerdings dahingehend zu präzisieren, dass die Fähigkeit zur Erhaltung eines selbstständigen, selbstverantwortlichen und sinnerfüllten Lebens kein alleiniges Handlungsergebnis ist, sondern in hohem Maße mit „einer inneren Konstellation“ verbunden ist, „die zu einer sowohl emotional wie intellektuell als auch sozial reifen Bearbeitung aller Erlebnisse fähig ist“.74 Kompetenz gründet deshalb in einer individuellen Gewissheit, in deren Horizont Erfahrungen gedeutet, das eigene Leben verstanden und die Praxis endlicher Freiheit gestaltet wird. Eine solche Gewissheit erschließt sich Menschen. Sie ist mithin passiv konstituiert. Ihre subjektiv bindende Kraft gewinnt sie nicht zuletzt auch in der Erfahrung eines lebenstragenden Sinnes. Für die Kompetenz eines Menschen sind neben subjektiven und sozialen Faktoren auch sein Glaube und damit sein Grundverhältnis von erheblicher Bedeutung. (3) Das von mir skizzierte, relational bestimmte Bildungsverständnis vermeidet eine einseitige Überbetonung individueller oder gesellschaftlicher Faktoren. Weder ist der Mensch lediglich ein vernunftbestimmtes —————

73 Seidel, Die Internationale Klassifikation, 248; vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Hg.), Internationale Klassifikation (ICF). 74 Stroh, Art. Kompetenz, 1537.

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Wesen, noch allein ein „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“.75 Vielmehr trägt die selbstbestimmte Auseinandersetzung mit den sozialen und sozialstrukturellen Faktoren ebenso zur Subjektwerdung des Subjekts bei wie umgekehrt die gesellschaftlichen Bedingungen – fördernd oder hemmend – die individuelle Selbstbestimmung mit bestimmen. Subjekt und Gesellschaft müssen daher im Bildungsbegriff mit einander vermittelt werden. Die Perspektiven von Individuation und Sozialisation sind mit einander verschränkt. „Bildung als uneingelöstes Versprechen meint den lebenslangen Prozeß der Subjektwerdung im Kontext allgemeiner, gesellschaftlicher Lebensverhältnisse“.76 (4) Ein Konzept von Bildung, das auf den Kompetenzerwerb in der Gestaltung der verschiedenen menschlichen Grundbeziehungen abzielt, kann dabei an Inhalte einer Kritischen Theorie von Bildung anschließen und diese zugleich differenzieren. Bildung impliziert das, was Theodor W. Adorno „Erziehung zur Mündigkeit“ genannt hat: eine Pädagogik, deren Ziel es ist, „die selbständige bewußte Entscheidung jedes einzelnen Menschen“77 zu ermöglichen und zu fördern. Sie beinhaltet daher einen emanzipatorischen Impuls. Indem sie die Beziehungsfähigkeit von Menschen stärken und fördern möchte, geht es ihr zugleich um die Befreiung aus Beziehungen, die die Kompetenz des Subjektes einschränken und es der Dominanz fremdbestimmender Faktoren aussetzen. Dafür ist die Reflexion auf die Bedingungen wesentlich, die Mündigkeit verunmöglichen: individuelle, soziale, gesellschaftsstrukturelle. Eine Theorie der Bildung muss daher „die unbeschreiblichen Schwierigkeiten sehen“ und analysieren, „die in dieser Einrichtung der Welt der Mündigkeit entgegenstehen“.78 Die Bedingungen von Heteronomie mithin. Insofern ist tatsächlich der leidende Mensch ein Ausgangspunkt von Bildungsprozessen und „Erziehung […] Leidensbefreiung“.79 Ziel von Bildung besteht daher in der „Erkenntnis der Deformation“ sowie – als Pendant – in der Gewinnung einer „Aktionsfähigkeit im Wirklichen“.80 Allerdings scheint mir gerade der kritische Impuls des Bildungskonzeptes weitergeführt und differenziert werden zu müssen. Ein Paradigma, das sich überwiegend an der Gegenüberstellung leidender Menschen einerseits und heteronomer gesellschaftlicher Verhältnisse andererseits orientiert, scheint mir nicht hinreichend zu sein. Weder beginnt Bildung immer mit ————— 75 76 77 78 79 80

Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, 534. Evers, Alter – Bildung – Religion, 150. Adorno, Erziehung – wozu?, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, 107. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, 144. Vgl. Heydorn, Ungleichheit für alle, 89, zit. nach: Evers, Alter – Bildung – Religion, 156. Heydorn, ebd., zitiert nach Evers, ebd.

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einer Leidenserfahrung.81 Auch Neugierde, Staunen, Sehnsucht oder Liebe können Bildungsprozesse initiieren.82 Eben so wenig lassen sich die gesellschaftlichen Lebensbedingungen allein mit dem Stichwort Heteronomie charakterisieren. Der von mir oben eingeführte Kompetenzbegriff lässt solche Erklärungsduale hinter sich und differenziert Kompetenz nach Dimensionen und Interaktionsformen der Person und ihrer sozialen bzw. strukturellen Umwelt.83 Er scheint mir darüber hinaus auch darin komplexer zu sein als der Befreiungsbegriff, dass er nicht nur negativ zum Ausdruck bringt, welche Beziehungen gelöst, sondern auch positiv, mit welchem Ziel Beziehungen geknüpft werden sollen. Insofern impliziert der Kompetenzbegriff eine induktive Utopie: er erschließt in konkreten Lebenszusammenhängen das, was noch nicht ist, aber sein könnte. Die „bestimmte Negation“ (Adorno) gilt konkreten Aspekten des individuellen, sozialen und gesellschaftsstrukturellen Lebens, die ein selbstständiges, selbstverantwortliches und sinnerfülltes Leben behindern. Wolfgang Klafkis Konzept einer Allgemeinbildung mit dem Ziel der „Selbstbestimmung jedes einzelnen über seine individuellen Lebensbeziehungen und Sinndeutungen“, der Mitbestimmung bei der „Gestaltung unserer gemeinsamen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse“ sowie der Solidarität mit denjenigen, denen „Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten aufgrund gesellschaftlicher Verhältnisse […] vorenthalten […] werden“84 bringt ein solches umfassenderes und konstruktivkritisches Bildungsverständnis auf den Begriff. Allerdings ist auch hier aus theologischer Perspektive darauf hinzuweisen, dass der Selbstbestimmungsbegriff nicht nur mit Blick auf das Sozial- und Umweltverhältnis partizipatorisch zu erweitern ist, sondern zugleich auf das Grundverhältnis des Menschen hin auszulegen ist: Menschen sind zur vermittelten Selbstbestimmung bestimmt. (5) Adorno hat von der Bildung als einem „Kraftfeld“85 gesprochen, das nicht auf Geist oder Natur zu reduzieren sei. Der philosophischen Bildungsidee auf ihrer Höhe sei es gleichermaßen um die „Bändigung des animali—————

81 Die Gegenthese vertritt Ralf Evers, ebd.: „Bildung beginnt immer mit der Erfahrung von Leiden, ohne dabei enden zu müssen.“ 82 Vgl. zur Neugierde: Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 261–528; zur Sehnsucht: Schleiermacher, Über die Religion, KGA I/2, 282; zum Staunen (der Verwunderung): Aristoteles, Metaphysik, Schriften Bd. 5, 6 (982b); zur Liebe: Hegel: Entwürfe über Religion und Liebe, in: Werke 1, 239–254. Ein schönes Beispiel anderer Art findet sich bei Adorno: „musikalische Erfahrungen in der frühen Kindheit macht man, wenn man im Schlafzimmer liegt, schlafen soll und mit weitaufgesperrten Ohren unerlaubt hört, wie im Musikzimmer eine Beethoven-Sonate für Klavier und Violine gespielt wird“ (ders., Erziehung – wozu?, 112). 83 Vgl. Kruse/Lehr, Reife Leistung, 5/13. 84 Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, 52. 85 Adorno, Theorie der Halbbildung, GS 8, 96.

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schen Menschen“ wie um die „Rettung des Natürlichen“86 gegangen. Adornos Hinweis macht darauf aufmerksam, dass Bildung mehr als ein geistiger Aneignungsprozess ist. Sie wird sogar in entscheidendem Maße verkürzt, wenn man sie allein auf kognitive Dimensionen abstellt. Die durch Bildung erweiterten Beziehungsdimensionen und Gestaltungskompetenzen erschließen gleichermaßen körperliche wie geistige Entwicklungsprozesse. Sie sind sinnlich vermittelt und bewusstseinserweiternd. Sie öffnen Räume für einen sich bewusst werdenden Leib und ein leibhaft gebundenes Bewusstsein. Bildungsprobleme sind deshalb nicht nur geistige Herausforderungen, sondern auch „Probleme der richtigen Bildung der Affekte, des Triebs, des Lebensgefühls, kurz: des Herzens der Menschen“.87

7.5 Ebenbild und Bildung. Theologische Erwägungen zur Bildungstheorie Als Meister Eckhart der deutschen Sprache das Wort „Bildung“ schenkte, hat er seiner Zeit den maßgeblichen theologischen Gründungstext ins Bild gesetzt: das berühmte Verwandlungsbild des Paulus aus dem zweiten Korintherbrief: „Nun aber schauen wir alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel, und wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern von dem Herrn, der der Geist ist“ (2Kor 3,18). Was Luther mit „verklären“ übersetzt, ist genauer eine Verwandlung in das Bild Gottes.88 Der gefällig wirkende Bildungsbegriff hat insofern einen theologischen Stachel. Dies gilt es zu reflektieren. Die Theologie hat mithin ihr eigenes theologisches Bildungsverständnis zu konturieren. Dazu gehört die Reflexion des Verhältnisses von Gottebenbildlichkeit und Bildung ebenso wie die Konzeption spezifisch theologischer Bildungsimpulse. (1) In den theologischen Bildungstheorien spielt die Verhältnisbestimmung von Gottebenbildlichkeit und Bildung durchgängig eine maßgebliche Rolle. Die Konzepte unterscheiden sich u.a. danach, ob sie eher von einem universalen oder einem diversalen theologischen Bildungsgedanken getragen sind. Barths pädagogische Skizze beispielsweise macht einen einheitlichen, christologisch fokussierten Bildungsgedanken stark, insofern das Evangelium von dem gebildeten Menschen schlechthin, Jesus Christus, zugleich „die Möglichkeit, die Notwendigkeit, den Sinn, den Umfang und ————— 86

Ebd., 95. Herms, Bildung und Ausbildung, in: ders., Erfahrbare Kirche, 214. 88 Im griechischen Text heißt es: VJPCWXVJPGKXMQPCOGVCOQTHQWOGSC; im lateinischen: in eandem imaginem transformamur. 87

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die Lösung der Bildungsaufgabe“89 bestimmt. Obwohl Wolfhart Pannenbergs Ansatz einer Offenbarung als Geschichte90 der barthschen Offenbarungstheologie radikal opponiert, scheint auch sein pädagogisches Konzept eher einen universalen Bildungsprozess zu betonen. In seinem Plädoyer für die „Erneuerung des Bildungsgedankens aus dem christlichen Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen“ spricht Pannenberg ausdrücklich von einem „Bildungsprozess, in dem Schöpfung und Erlösung des Menschen verbunden sind“91 und der im Gedanken „der künftigen Bestimmung des Menschen“ seine Pointe hat. Diese realisiert sich innerhalb der Geschichte als die endzeitliche Verwandlung der Menschen in das Bild Christi.92 Die Schwierigkeiten universal angelegter und dabei zugleich christologisch fokussierter theologischer Bildungskonzepte bestehen m.E. darin, dass sie die allgemeine Pädagogik theologisch überlasten. Die allgemein bildendende Schule würde sich beispielsweise bei Barth der Erwartung ausgesetzt sehen, dem Wort der göttlichen Gnade zu entsprechen. Denn: menschliche Bildungsversuche sind nach Barth darin der Gnade bedürftig, „daß sie gut macht, was wir nicht gut machen, daß Jesus Christus dazu von Gott her zu den Menschen gekommen ist, um als der Bildner und Gebildete vor Gott an ihre Stelle zu treten, vor Gott ihren Platz einzunehmen, vor Gott für sie Genugtuung zu leisten, und so, in seiner Person, […] den wahren Menschen in seiner wahren göttlichen Bildung auf den Plan zu stellen.“93 Erziehungswissenschaft als ancilla theologiae. Damit mutet Barth den menschlichen Bildungsanstrengungen sachlich etwas zu, dem sie m.E. nicht entsprechen können. Deshalb scheinen mir Bildungskonzepte theologisch angemessener zu sein, die sich an Unterscheidungen orientieren und insofern als diversal bezeichnet werden können. So ist beispielsweise Emil Brunners Pädagogik an der Grundunterscheidung von Natur und Gnade gebildet.94 Den „Trieb und die Fähigkeit zur Bildung“ verortet er in der gottgeschaffenen Natur des Menschen. „Sie sind Gabe des Schöpfers und damit zugleich Aufgabe des Menschen“.95 Den theologischen Beitrag macht er dagegen in der durch das Evangelium motivierten Korrektur menschlicher Bildungsprogramme fest. Peter Biehl wiederum räumt der Bildung eine Eigenständigkeit ein, ————— 89

Barth, Evangelium und Bildung, 10. Vgl. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung 91 Pannenberg, Gottebenbildlichkeit und Bildung des Menschen, 219. 92 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 249: „Ihre volle Realisierung ist die Bestimmung des Menschen, die mit Jesus Christus geschichtlich angebrochen ist und an der die übrigen Menschen teilnehmen sollen durch Verwandlung in das Bild Christi.“ 93 Barth, Evangelium und Bildung, 19. 94 Vgl. Brunner, Natur und Gnade. 95 Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 489. 90

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weil er die humane Subjektwerdung von der Konstitution menschlicher Personalität unterscheidet: „Subjekt muß der Mensch im Prozeß seiner Bildung erst werden, Person ist er immer schon.“96 Das Problem der diversal angelegten theologischen Bildungskonzepte besteht regelmäßig darin, wie die auf einander bezogenen Aspekte inhaltlich und relational bestimmt werden. Die Schwierigkeit von Brunners Theorie ist ihr Naturbegriff. Wird in ihm nicht die Physis des Menschen als tendenziell nichtkorrumpierte Sphäre gegenüber der Gnade verselbstständigt? Biehl wiederum verortet die Personalität in einem ontologischen Niemandsland vor und jenseits jedes individuellen Bildungsprozesses. Dadurch ermöglicht er zwar eine Eigenständigkeit des Bildungssystems, riskiert jedoch das Verblassen des theologischen Bildungsanspruchs. (2) Trotz der eben angedeuteten Schwierigkeiten scheint es mir am angemessensten zu sein, die sog. Zwei-Reiche-Lehre als Ausgangspunkt für ein theologisches Bildungskonzept zu wählen. Luther hat seine pädagogischen Überlegungen in diesem Horizont entwickelt. Für ihn gehört „die Erziehung in beide Regimente“97 Gottes. Nicht nur die Eltern üben in ihrer Erziehungsarbeit „geystlich und weltlich gewallt“98 aus. Auch die Lehrer sind sowohl ein geistlicher wie auch ein weltlicher Stand.99 Der Sinn der Zwei-Reiche-Lehre besteht darin, das menschliche Leben im Horizont des Schöpfungshandelns Gottes einerseits und seines Erlösungshandelns andererseits differenzierend zu reflektieren. Sie unterscheidet deshalb keine voneinander abgetrennten Wirklichkeitsbereiche, sondern Funktionen. Nicht systemisch ausdifferenzierte Gesellschaftsbereiche wie Politik, Recht, Wirtschaft auf der einen und Religion auf der anderen sind deshalb zu unterscheiden. Dies wäre eine Übervereinfachung, weil sie davon absehen würde, dass in alle Entscheidungen in den erst genannten Systembereichen immer auch Sinn- und Wertüberzeugungen eingehen. Deshalb sind nicht Bereiche, sondern Funktionen zu unterscheiden, nämlich Schöpfung und Erhaltung auf der einen sowie Erlösung auf der anderen Seite. Die Zwei-Reiche-Lehre ermöglicht ein Bildungskonzept, das solchen Unterscheidungen Rechnung trägt. (3) Bildung ist der bewusst gestaltete und zugleich unverfügbare Entwicklungs- und Wachstumsprozess, in dem sich Menschen neue Beziehungen erschließen und sie zugleich Kompetenzen in der Gestaltung dieser Beziehungen erwerben. Diese Bildungsprozesse stehen sowohl in der Perspektive der Schöpfungswirklichkeit wie auch im Horizont der Erlösungser————— 96 97 98 99

Biehl, Erfahrung, Glaube und Bildung, 156. Preul, Erziehung als ‚gutes Werk‘, 100. Luther, WA 10/II, 301, zitiert nach: Preul, Erziehung als ‚gutes Werk‘, 101. Vgl. Asheim, Art. Bildung V, 614f.

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fahrung. Beides ist ebenso von einander zu unterscheiden wie auf einander zu beziehen. In Bezug auf die kreatürlichen Lebensbedingungen geht es um die Aneignung von kreativen Kompetenzen zur Gestaltung individueller, sozialer und ökologischer Lebenszusammenhänge vor einem umgreifenden Sinnhorizont. Der ganze Mensch in der Gesamtheit seiner Beziehungen ist in diesem Bildungsprozess präsent und erfährt ein Wachstum. Das gilt auch für die aus dem Transzendenzbezug erwachsenden Sinn- und Wertüberzeugungen. Sie haben eine unhintergehbare Relevanz für die individuelle Existenz und das aus ihr erwachsende Handeln. Bildung im Fokus der Schöpfungswirklichkeit zielt deshalb auf Handlungsfähigkeit des Menschen als Bild Gottes in seinem individuellen, natürlichen und sozialen Leben. In ihr geht es mithin um die Aneignung derjenigen Kompetenzen, die für eine lebensfähige, gerechte und nachhaltige Gestaltung der Lebenswirklichkeit in einer umgreifenden Sinnperspektive erforderlich sind. In Bezug auf die soteriologische Lebenswirklichkeit geht es um Inspirationen, durch die menschliche Lebensgewissheiten verändert und erneuert werden. Die individuellen Sinnwelten und Lebensbeziehungen werden durch die Begegnung mit dem Evangelium Jesu in ihrer Verfehlung aufgedeckt, korrigiert und revolutioniert. Wiederum wird der ganze Mensch von diesem Bildungsprozess erfasst und in Bildung versetzt, insofern sich ihm mit der Gottesbeziehung auch neue Dimensionen seiner Selbst- und Weltbeziehung erschließen. In dieser Dimension geht es um die Bildung zur Gottebenbildlichkeit in dem Sinne, dass die menschlichen Beziehungen aus ihrer Entfremdung befreit werden und der humane Beziehungsreichtum im Glauben seine Erneuerung erfährt. Dieses doppelt codierte Bildungsverständnis im Horizont der ZweiReiche-Lehre erweist sich auch mit Blick auf die biblische Thematisierung der Gottebenbildlichkeit als sinnvoll. (a) Der Gründungstext der imago-Dei-Lehre, Gen 1,26f, verknüpft die Gottebenbildlichkeit mit dem Schöpfungsauftrag und setzt damit einen auf Veränderung zielenden Entwicklungsprozess frei. Die Schöpfung als ganze wird ebenso wenig wie der Mensch selbst als fertig vorausgesetzt. Vielmehr sind Mensch und Welt in Veränderung begriffen. Nach Eberhard Jüngel ist der Mensch in der „Freiheit des Anfangen-Könnens […] das Ebenbild des göttlichen Schöpfers“. Wer aber dazu bestimmt ist, „mit sich selbst und der Welt etwas anzufangen“,100 ist zur Veränderung und Entwicklung bestimmt. Er darf und soll sich die dafür erforderlichen Kompetenzen aneignen. Menschen bedürfen für die Wahrnehmung ihrer Schöpfungsverantwortung der Bildung. Sie müssen sich eine Beziehungskompetenz aneignen, durch die ————— 100

Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, in: ders., Beziehungsreich, 23.

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sie als „Kinder der Freiheit“ zu verantwortlichen Akteuren ihrer individuellen, natürlichen und sozialen Welt werden können. Als Bilder Gottes sind sie in Bildung begriffen. (b) Menschen werden aber zugleich auch mit der Erfahrung konfrontiert, dass ihnen die lebensfähige, gerechte und nachhaltige Gestaltung ihrer natürlichen und sozialen Welt misslingt. Politische Systeme scheitern immer wieder, werden korrumpiert oder erweisen sich angesichts dringlicher Herausforderungen als handlungsunfähig. Die Koordinierung der Steuerung der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme mit dem Ziel auf gerechte und nachhaltige Strukturen misslingt vielfach. Individuelle Sinnwelten geraten in eine Krise. Gute Absichten werden von fatalen Folgen konterkariert. Menschen erleben sich als verstrickt, leer oder ausweglos im Kreis drehend. Die Theologie spricht an dieser Stelle von Sünde und versteht darunter die Beschädigung oder Zerstörung der menschlichen Beziehungskompetenz. „In allen […] selbstverschuldeten elementaren Rücksichtslosigkeiten tritt an die Stelle des ursprünglichen Beziehungsreichtums des menschlichen Seins eine wachsende Beziehungslosigkeit.“101 Weil Beziehungen nicht nur aufgebaut, sondern individuell, interpersonal und strukturell auch in Frage gestellt und abgebrochen werden, bedarf es neben der Aneignung kreatürlich-kreativer Kompetenzen auch einer befreienden Bildungsperspektive. In ihr geht es um die Korrektur, Vertiefung und Erneuerung von Weltbildern, darum, dass sich Glaubenswelten als weltgemäß erschließen. Angesichts von Beziehungsabbrüchen und Fremdbestimmung geht es um Befreiung aus Abhängigkeit und Isolation, um die Konstitution einer schöpferischen und empfänglichen Beziehungsfähigkeit sowie um die Erneuerung tragender Lebensrelationen. Diese Erneuerung erfolgt aus dem Transzendenzbezug des Menschen. Aus dem Glauben. Dem Herzen. „Worauf Du nun […] Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott“,102 heißt es in Luthers Großem Katechismus. Eben diese Sinnorientierung des Menschen ist lebenstragend. Sie inspiriert alle übrigen Beziehungen. Deshalb ist religiöse Bildung eine unhintergehbare Dimension jedes Bildungsprozesses. Die christliche Theologie erkennt die Pluralität der existierenden Sinnwelten an, nivelliert aber nicht ihre Geltung gegen einander. Vielmehr macht sie darauf aufmerksam, dass es bei der Symbolisierung und „Ausdifferenzierung des Vertrauens […] um die […] radikale Grundalternative geht: ob ich das lebenstragende Grundvertrauen auf Gott setze oder auf etwas, das ich […] für ein funktionales Äquivalent halte, was dann nach reformatorischer Einsicht immer in irgendeiner Weise auf ein Vertrau————— 101 102

Ebd., 21. Luther, Großer Katechismus, in: Luther deutsch, Bd. 3, 20 (BSLK, 560, 22–24).

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en auf Werke des Gesetzes hinausläuft“.103 Indem die christliche Theologie dieses „dramatische Modell des menschlichen Lebens- bzw. Bildungsprozesses“104 stark macht, rückt sie zugleich ins Bild, dass die Bildung zur Gottebenbildlichkeit sich in der Begegnung mit Jesus Christus, dem wahren und eigentlichen Bild Gottes vollzieht. Diese vollkommene Erneuerung der Gottebenbildlichkeit in Jesus Christus ist nichts anderes als „die Vollendung der Schöpfung des Menschen“.105 Sie erschließt sich Menschen in der Begegnung mit dem Evangelium Christi, in der sowohl die Deformation der individuellen Existenz in ihrer Radikalität aufgedeckt als auch die Befreiung der Rechtfertigung zugesprochen wird. Die Bildung zum Bild Christi erfolgt damit im Glauben. Freilich nicht als substanzhaftes Geschehen. Vielmehr als täglicher Bildungs- und fortwährender Wachstumsprozess im Glauben. Luther hat dieser Gleichzeitigkeit des Gerechten und Sünders im „Kleinen Katechismus“ dadurch Ausdruck verliehen, dass er vom täglichen Ersäufen des alten Adam spricht.106 (c) Im Text des Chorals „O Durchbrecher aller Bande“ aus der Feder Gottfried Arnolds heißt es: „Ach wie teu’r sind wir erworben, / nicht der Menschen Knecht zu sein! / Drum, so wahr du bist gestorben, / musst du uns auch machen rein, / rein und frei und ganz vollkommen, / nach dem besten Bild gebild’t; / der hat Gnad um Gnad genommen, / wer aus deiner Füll sich füllt“ (EG 388.6). Kann diese Bildung zum „besten Bild“, zum Bild Gottes, auch ein tragfähiges Leitbild für eine Bildungstheorie sein? Vor dem Hintergrund der in den letzten Abschnitten entwickelten Überlegungen wird man diese Frage bejahen können, ohne zugleich die allgemeine Pädagogik theologisch zu überfordern. Die Orientierung an der ZweiReiche-Lehre ermöglicht ein solches differenziertes Bildungsverständnis. Der Mensch ist Gottes Bild. So lautet die anthropologische Grundaussage. Aber er ist zugleich in Bildung begriffen. In einer schöpfungstheologischen Bildungsperspektive geht es dabei um die Aneignung von Handlungsfähigkeit zum selbstbestimmten und verantwortlichen Leben in einer natürlichen und sozialen Welt auf der Grundlage einer individuell verbindlichen Sinn- und Wertgewissheit. In einer soteriologischen Bildungsperspektive geht es um die Revolutionierung der Welt der Sinnwelten vom Evangelium her. Die Bildung von Weltbildern und die individuelle Ver————— 103

Preul, Anthropologische Fundamente, 153. Preul, Bildung und Erziehung nach Gesichtspunkten Luthers, 20. 105 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 24; § 89. Vgl. auch Schleiermachers Diktum: „Soll aber in einer einzelnen menschlichen Erscheinung alles zusammengeschaut werden, was sich aus solcher ursprünglichen Vollkommenheit entwickeln kann: so wird dieses nicht in Adam aufzusuchen sein, in dem es wieder verlorgegangen sein müsste, sondern in Christo, in welchem es allen Gewinn gebracht hat“ (ebd., I, 337; § 61). 106 Vgl. Luther, Kleiner Katechismus, in: BSLK, Bd. 1, 516, 32–38. 104

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trauensbildung werden hier unter dem Gesichtspunkt ihrer Korrumpierung und Korrektur, ihrer Entfremdung und Erneuerung thematisiert. Beide Dimensionen des Bildungsprozesses gilt es zu unterscheiden und auf einander zu beziehen. In beiden wird der Mensch, das Bild Gottes, gebildet. Zum besten Bild. In je spezifischer Weise. Zu einem kompetenten Akteur in einer individuellen, natürlichen, sozialen, strukturellen und sinnstiftenden Welt und zu einem Subjekt, dessen Sinnwelt sich in der Begegnung mit dem Evangelium öffnet und erneuert.

7.6 „Alle Menschen alles gründlich lehren“ „Omnes, omnia, omnino“,107 lautet das bekannte pädagogische Prinzip des Johann Amos Comenius: alle Menschen alles gründlich lehren. Menschen mit geistiger Behinderung ist dieses Bildungsrecht über lange Zeit nur eingeschränkt gewährt worden. Idiotie galt weithin als Bildungsunfähigkeit.108 Der Heilpädagoge Rupert Egenberger hielt in einem Vortrag auf dem 3. Kongress für Heilpädagogik 1926 nur „jene Abnormen“ für bildungsfähig, „deren Gebrechen, Krankheiten, Störung und Hemmungen das geistige Individuum an sich nicht zerstört haben“.109 In der Bundesrepublik gab es bis 1978 keine Schulpflicht für Menschen mit geistiger Behinderung. Die DDR-Rehabilitationspädagogik kannte neben den schulbildungsfähigen Intelligenzgeschädigten die Gruppe der schulbildungsunfähigen Förderungsfähigen sowie der förderungsunfähigen Pflegebedürftigen.110 Während für die erste Gruppe Sonderschulen existierten, wurde für die förderungsfähigen Kinder und Jugendlichen ab den 1970er Jahren sonderpädagogische Förderstrukturen in Tagesstätten, Wochenheimen und Heimen entwickelt. Für die Gruppe der sog. Pflegebedürftigen existierten bis zum Ende der DDR innerhalb der staatlichen Strukturen keine pädagogischen Angebote.111 Mittlerweile ist diese unhaltbare Situation abgeschafft. „Hinsichtlich der prinzipiellen Notwendigkeit von Erziehung für alle geistig behinderten Personen besteht heute international weitgehende Übereinstimmung, auch wenn bei den am schwersten geschädigten von ihnen Pflege dominant werden kann“.112 Die Kultusministerkonferenz hat am 06. Mai 1994 „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik ————— 107 108 109 110 111 112

Zit. nach: Blekastad, Comenius, 322. Vgl. Speck, Menschen mit geistiger Behinderung (2005), 167. Egenberger, Die Bildungsfähigkeit abnormer Kinder (1926), zitiert nach: Speck, ebd. Vgl. Teil B, Kap. 7 Einleitung. Vgl. Liedke/Lippstreu, Freiräume, 15f. Speck, Menschen mit geistiger Behinderung (2005), 168f.

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Deutschland“ beschlossen. In den Jahren zwischen 1996 und 2000 sind – basierend auf dem Beschluss von 1994 – insgesamt neun weitere Empfehlungen zu einzelnen Förderschwerpunkten verabschiedet und veröffentlicht worden.113 Unter ihnen befinden sich die „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ vom 26.06.1998. Sonderpädagogische Förderung von Menschen mit einer geistigen Behinderung wird hier als eine Unterstützung und Begleitung „unabhängig von Schweregrad und Umfang der Beeinträchtigungen“ aufgefasst. Ihr Ziel ist es, Förderung für eine „aktive Lebensbewältigung in sozialer Integration und für ein Leben in größtmöglicher Selbständigkeit und Selbstbestimmung“ 114 zu geben. Den Schülerinnen und Schülern sollen „Hilfen zur Entwicklung der individuell erreichbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten“115 gegeben werden. Auf dem Hintergrund dieser Zielstellung formulieren die Empfehlungen Aufgaben der sonderpädagogischen Förderung. Sie soll die Schülerinnen und Schüler „zu unmittelbarer Begegnung und Auseinandersetzung mit sich selbst, mit eigenen Wünschen und Vorstellungen“ befähigen. Weiterhin soll ihnen die Erfahrung ermöglicht werden, „dass wohl in der menschlichen Begegnung als auch im Eingebettetsein in Natur, Kultur und Weltanschauung Werte für ein sinnerfülltes Leben zu finden sind“. Schließlich soll die Förderung auch „zu einer selbstbestimmten Gestaltung des Lebens und zur Wahrnehmung von Rechten und Pflichten in der Gesellschaft beitragen“.116 Diese grundsätzlichen Ziele und Aufgaben gelten auch für Kinder und Jugendliche mit schwerer Mehrfachbehinderung, die in allen Entwicklungsbereichen beeinträchtigt sind. Bei ihnen gehe es besonders um die „Förderung basaler Funktionen“. Der Unterrichts- und Erziehungsprozess beinhalte deshalb auch „Aspekte von Pflege und Therapie“, die „in ein pädagogisches Gesamtkonzept eingebettet“117 werden müssten. Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1998 gehen von einem allgemeinen Recht auf sonderpädagogische Förderung unabhängig vom Schweregrad einer geistigen Behinderung aus. Kritisch ist ihnen gegenüber anzumerken, dass der Bildungsbegriff nur eine geringe Rolle spielt und stattdessen vor allem von sonderpädagogischer Förderung gesprochen wird. Der Begriff der Förderung kann allerdings nicht die Bedeutungsvielfalt von Bildung abdecken. Er ist einerseits – und das gilt insbesondere für ————— 113

Vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister (Hg.), Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur sonderpädagogischen Förderung. Vgl. weiterhin die ausführliche Besprechung und Würdigung bei: Vernooij, Erziehung und Bildung, 201– 210. 114 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister (Hg.), Empfehlungen zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, 3. 115 Ebd., 4. 116 Ebd., 3. 117 Ebd., 5.

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die „Feststellung von Sonderpädagogischem Förderbedarf“ – aus der Perspektive des Hilfesystems formuliert und sichert die Berücksichtigung der Subjektperspektive nicht unmissverständlich ab. Als transitiver Begriff konzentriert er sich andererseits instrumentell auf pädagogische Interventionen, die ein bestimmtes Unterstützungsziel verfolgen und lässt die intransitiven Aspekte der (Selbst)Bildung außer Acht. Der Begriff der Förderung kann deshalb den Bildungsbegriff nicht ersetzen.118 Dennoch sind die Empfehlungen ein wichtiges Dokument, weil sie als Konsenspapier der Bundesländer die grundsätzlich akzeptierten Rahmenziele und Strukturdimensionen festhalten.119

7.7 Sonderpädagogik oder Allgemeine Bildungstheorie? Pädagogische Konzepte Bereits der Gründungsvater der universitären Disziplin Heilpädagogik, Heinrich Hanselmann, hatte 1941 „Grundlinien einer Theorie der Sondererziehung“ formuliert. Das Konzept einer besonderen Erziehung für behinderte Kinder ist allerdings wesentlich älter. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts120 wurde es formuliert und „besondere Schulen“ wurden bereits im „Handbuch für das deutsche Volksschulwesen“ von 1820 verlangt.121 Sonderpädagogik und Sonderschulen sind also keine Erfindung der jüngsten Geschichte. Die pädagogischen Konzepte zur Sonderschule und ihren Strukturen haben vielmehr eine längere Geschichte fortgeschrieben. Neueren Datums dagegen ist das Bewusstsein der Problematik dieser Begrifflichkeit. Der Terminus „Sonderpädagogik“ findet zwar nach wie vor Verwendung. Inzwischen wird aber jeder damit in Zusammenhang stehenden Sonderanthropologie eine Absage erteilt.122 Gleichwohl existieren in der heutigen Behindertenpädagogik unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf besondere oder universalistische Grundannahmen für Bildungsprozesse bei Menschen mit einer geistigen Behinderung. (1) Für Otto Speck leitet sich „eine Besonderung der Erziehungsaufgabe oder des Bildungsauftrags“ aus „der besonderen Erziehungsbedürftigkeit des Kindes mit einer geistigen Behinderung“123 ab. Das Richtziel für die Bildung und Erziehung bei geistiger Behinderung besteht für ihn im —————

118 Vgl. die Kritik von Theunissen, Erwachsenenbildung und Behinderung, 58; Vernooij, Erziehung und Bildung, 41; Schuck, Art. Fördern, Förderung, Förderbedarf, 64f. 119 Vgl. Vernooij, Erziehung und Bildung, 208–211. 120 Vgl. Bleidick, Art.: Sonderpädagogik, 92. 121 Vgl. Bleidick, Art.: Sonderschule, 94. 122 Vgl. u.a. Bleidick, Art. Sonderpädagogik, 93; Speck, System Heilpädagogik (1991), 40f. 123 Speck, Menschen mit geistiger Behinderung (2005), 179.

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„Menschlich-leben-können“,124 womit sowohl die Entfaltung von Kompetenzen als auch die Erfahrung von Anerkennung gemeint sind. Dieses Bildungsziel enthält für Speck die beiden Aspekte der personalen und der sozialen Integration. Im ersten Fall handelt es sich um Persönlichkeitsbildung mit dem Ziel der „Gewinnung von (relativer) Autonomie und Selbstbestimmung“,125 im anderen um „das Finden und Aufbauen sinnvoller Koppelungen des Individuums mit der sozialen Umwelt“.126 Dem Ziel des „Menschlich-leben-könnens“ ordnet Speck anschließend vier Teilziele zu:127 – das Erschließen von Lebenszutrauen im Sinne einer Aktivierung und Motivierung, – die Ausbildung von Lebensfertigkeiten in den Bereichen Persönliche Pflege, häusliches Tun, soziale Umgänglichkeit, körperliche Geschicklichkeit, musisches Tun und Handfertigkeit, Sprechen, kognitive Techniken sowie Arbeit und Berufsvorbereitung – die Vermittlung von Lebensorientierung mit dem Ziel, „dass Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung ihre Welt finden, gliedern und gestalten können“128 und – die Bildung von Lebenshaltung im Sinne einer individuellen Werthaltung, die die eigene Lebensführung orientiert (Arbeitshaltungen, Einstellungen zu anderen, Einstellungen zu den Dingen). (2) Während Speck seine Bildungstheorie in hohem Maße auf die besondere Erziehungsaufgabe bei geistigen Behinderungen abstellt, legt Georg Theunissen seiner Pädagogik ein stärker universalistisches Konzept zu Grunde. Es orientiert sich an der Allgemeinen Pädagogik Wolfgang Klafkis und führt diese mit der Philosophie des Empowerment zusammen. Für Theunissen ist Bildung eine Möglichkeit und ein Recht für alle Menschen „unabhängig des Alters, der Art oder der Schwere einer Behinderung“,129 sodass niemand von ihr ausgeschlossen werden darf. Ihr Leitprinzip ist emanzipatorisch. In Aufnahme einer Bestimmung Klafkis besteht das Ziel von Bildungsprozessen für Theunissen in der „Unterstützung und Entfaltung der ‚Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit‘“.130 Diese oberste Zielbestimmung bezieht sich auf einen allseitig entfalteten, emanzipierten und weitestgehend selbstständigen Menschen, der an der Gesellschaft partizipiert und ein erfülltes Leben führt. Entspre————— 124 125 126 127 128 129 130

Ebd., 183. Ebd., 184. Ebd., 185. Vgl. ebd., 186–194. Ebd., 191. Theunissen/Plaute, Handbuch Empowerment und Heilpädagogik, 195. Theunissen, Erwachsenenbildung und Behinderung, 79.

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chend der Theorie des Empowerment versteht Theunissen Bildung in hohem Maße als Assistenz im Prozess einer Selbstbildung. Diese Selbstentfaltung stehe in engem Bezug zum Sozialen: zu Sozialisation, Partizipation und Aktivität. Drei zentrale Aufgaben lassen sich diesem Bildungsziel daher zuordnen: – „Unterstützung/ Begleitung der Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung – Soziales Lernen zum Zwecke der sozialen und gesellschaftlichen Partizipation und – Unterstützung/ Begleitung der Sachwelterschließung.“131 Theunissen bezeichnet die Assistenz zur Entfaltung von Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit als oberste Zielebene von Bildungsprozessen. In seinem didaktischen Konzept ordnet er diesem universalen pädagogischen Ziel eine Reihe von Teilzielen zu, die er allerdings nicht als Deduktionen verstanden wissen will. Vielmehr handle es sich um Interdependenzverhältnisse.132 Auf einer zweiten Lernzielebene geht es um den Erwerb von Grundqualifikationen sozialen Handelns – sog. Schlüsselqualifikationen –, die es Menschen mit einer geistigen Behinderung ermöglichen, Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität zu entwickeln. Zu ihnen zählen beispielsweise: „Selbstannahme, Akzeptanz der eigenen Behinderung; […] Empathie; Ambiguitätstoleranz; Rollenflexibilität und Rollendistanz; Selbstbewusstsein und Ich-Stärke; Selbstkontrolle und -reflexion; Selbststeuerung; Kritikfähigkeit […]; Entscheidungsfähigkeit; Kompetenzen zur Bewältigung von Alltag und Umwelt […]; Artikulationsfähigkeit […]; Durchsetzungsfähigkeit; realistische Selbsteinschätzung; Fähigkeit, gemeinsam mit anderen Strategien zur Durchsetzung von Gruppeninteressen zu entwickeln; Fähigkeit, in unvertrauten Situationen sich selbst zu helfen […]; Fähigkeit, Ängste eigenständig-kompetent zu bewältigen; Fähigkeit, gemeinsam mit anderen Gruppeninteressen zu entwickeln und für eigene Belange […] einzutreten; Fähigkeit, mit anderen gemeinsam eine eigene Interessenvertretung aufzubauen.“133 Theunissen macht darauf aufmerksam, dass Selbstbestimmung nicht zwangsläufig Selbständigkeit voraussetze: wenn ein Mensch mit geistiger Behinderung in der Lage sei, seinen Willen zu bekunden und seinen Assistenten auffordere, dementsprechend zu handeln, so handele er in hohem Maße selbstbestimmt ohne dabei selbstständig zu sein. Auf einer dritten Lernzielebene geht es anschließend um die Verknüpfung der Schlüsselqualifikationen mit relevanten, bereichsspezifischen ————— 131 132 133

Ebd. Vgl. Theunissen, Plaute, Handbuch Empowerment und Heilpädagogik, 207. Ebd., 202f.

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Themen. Diese Themen sollten der Lebenswelt, den Bedürfnissen und den Möglichkeiten der geistig behinderten Menschen entsprechen und mit dem Emanzipationsziel vereinbar sein. Dabei gehe es um die Entwicklung sozialer Handlungskompetenz im Zusammenhang mit Schlüsselproblemen. Das Thema „Wohnen“ beispielsweise würde neben dem Kennenlernen einzelner Räume und ihrer Funktion auch die Reflexion von Wohngruppenkonzepten beinhalten und ebenso die Rechte-Perspektive und die Mitbestimmungsmöglichkeiten zur Schaffung selbstbestimmter Lebensräume einschließen.134 Die vierte Ebene beinhaltet nunmehr instrumentelle Lernziele, die sich auf den Erwerb von Basisfertigkeiten beziehen. Dabei handle es sich um lebenspraktische Kompetenzen, die ein emanzipatorisches Handeln befördern können. Eine Verknüpfung mit den Schlüsselqualifikationen der zweiten Ebene sei wünschenswert aber nicht zwingend. Auf dieser Ebene gehe es vor allem um das „Erlernen von Kulturtechniken, Verkehrserziehung, bildnerisches Gestalten, Werken, Sportaktivitäten, Selbstversorgung, Umgang mit Geld, Sicherheitsverhalten (safety skills) usw.“135 Eine fünfte Lernzielebene konzentriert sich schließlich auf basale Fähigkeiten. Ihr Erwerb ist gerade in der Pädagogik mit schwer geistig behinderten Menschen von zentraler Bedeutung. Auf einfachste Weise geht es hier um die Erfahrung der Gestaltbarkeit der Welt. Ich komme auf die Inhalte dieser basalen Pädagogik im folgenden Abschnitt, in dem ich mich mit Bildungsprozessen bei schwersten Behinderungen beschäftige, noch einmal zurück. Die von Theunissen vorgenommene interdependente Anordnung der unterschiedlichen pädagogischen Ziele auf den verschiedenen Lernzielebenen führt zu einer m.E. gut nachvollziehbaren Didaktik. Der Entwicklungsweg von Frau B., den ich am Beginn dieses Kapitels angedeutet habe, lässt sich gut innerhalb dieser Didaktik verorten. Auf der Ebene der Basisfertigkeiten musste sich Frau B. nach der langen Zeit ihrer Hospitalisierung viele lebenspraktische Kompetenzen neu bzw. wieder aneignen. Dazu gehörten tägliche Lebensverrichtungen, Umgang mit Geld, Teilnahme am Verkehr usw. Darüber hinaus war es für sie wichtig, dass sie soziale Handlungskompetenzen erwarb, die ihr eine selbstbestimmte Orientierung und Reflexion in den für sie zentralen Lebensbereichen ermöglichten. Das galt insbesondere für die Entscheidung bezüglich ihres weiteren Lebensweges, Wohnortes und ihrer beruflichen Tätigkeit. Diese Entscheidungskompetenz steht wiederum in engem Zusammenhang mit dem Erwerb von Schlüsselqualifikationen, wie ich sie oben ausführlicher dargestellt habe. Frau B. hat ————— 134 135

Vgl. ausführlicher: ebd., 205. Ebd., 207.

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sich nach einem mehrjährigen Lern- und Entwicklungsprozess für eine eigene Wohnung entschieden, die sich in der Nähe ihrer bisherigen Wohnstätte befindet. In dieser hat sie auch eine berufliche Anstellung gefunden. Ihr soziales Netzwerk ist stabil geblieben. Frau B. hat sich vor dem Hintergrund der Aneignung dieser unterschiedlichen Kompetenzen aus einer in erheblichem Maße fremdbestimmten Lebensform lösen (Emanzipation) und Selbstbestimmung verwirklichen können. Darüber hinaus kann sie durch Verantwortungsübernahme in ihrem beruflichen und sozialen Kontext auch Mitbestimmung und Solidarität praktizieren. (3) Ich habe in diesem Abschnitt zwei Bildungskonzepte für Menschen mit geistiger Behinderung vorgestellt. Sie unterscheiden sich bezüglich einer stärker sonderpädagogischen Fokussierung auf der einen und der Orientierung an einer Allgemeinen Bildungstheorie auf der anderen Seite. Sie akzentuieren aber auch das Subjekt der Bildung verschieden. Während Speck in höherem Maße auf die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen abhebt, betont Theunissen stärker assistierte Prozesse der Selbstbildung und -entfaltung. Ebenso akzentuiert er die Rechte-Perspektive stärker und macht auf Emanzipationsprozesse sowie politische Partizipation aufmerksam. Speck und Theunissen stimmen allerdings darin überein, dass beide die Bildungsprozesse in enger Wechselwirkung mit sozio-ökologischen Faktoren beschreiben. Bezogen auf die zentralen Relationen, in denen die conditio humana steht, arbeiten damit Speck und Theunissen gleichermaßen den Sozialbezug heraus. Er wird bei Theunissen partizipatorischer, emanzipatorischer und politischer fokussiert, während Speck in seinem heilpädagogisch-ökologischen Ansatz die Lebensweltorientierung der Bildungsarbeit stärker hervorhebt. Beide Autoren akzentuieren ebenfalls die personale Dimension und damit den Selbstbezug von Bildungsprozessen. Während sich Speck hier stärker auf Identitätsbildung, innere Ordnung und gelingendes persönliches Leben136 konzentriert, legt Theunissen besonderen Wert auf das „Anstiften zu einer kritischen (widerstandfähigen, ich-starken) Haltung“,137 d.h. auf reflexive und selbstreflexive Kompetenzen. In Bezug auf den Sinn-, Werte- und Transzendenzbezug unterscheiden sich die beiden Autoren deutlicher. Theunissens Konzept ist stärker an sozialen Handlungskompetenzen, Basisfertigkeiten und basalen Lernprozessen ausgerichtet. Lebenstragende Sinnfragen und ethische Orientierungen werden zwar aufgegriffen, spielen aber insgesamt eine eher untergeordnete Rolle.138 Angesichts der zentralen Be————— 136

Vgl. Speck, Menschen mit geistiger Behinderung (2005), 184. Theunissen, Erwachsenenbildung und Behinderung, 81. 138 Unter den Inhalten und Themen werden erwähnt: ein „Gesprächskreis über Lebenssinn“ innerhalb von psychosozialen Angeboten; die Themen „Integration und Ethik, Weltreligionen u. dgl.“ innerhalb von gesellschaftspolitischen Themen. Angesichts der Fülle von Themenangeboten scheinen diese Inhalte keineswegs von besonderer Bedeutung zu sein (vgl. Theunissen, ebd., 85f). 137

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deutung, die Theunissen der Subjekt-Perspektive für die Pädagogik bei geistigen Behinderungen gibt,139 ist dieser Befund überraschend. Speck dagegen gibt den Themen Lebensorientierung und Lebenshaltung ein deutlich größeres Gewicht. Für ihn geht es beispielsweise darum, dass jeder Mensch „den ihm zugänglichen und bedeutsamen Weltausschnitt kennen und deuten lernt, damit er sich in ihm zurechtfindet und sich geborgen fühlt“.140 Orientierung schließt für ihn dabei ebenso Handlungskompetenz wie Sinndeutungen ein. Specks Bildungskonzept öffnet deshalb einen m.E. deutlich breiteren Bildungshorizont, der auch Aspekte des Menschseins einschließt, denen Theunissen nur beiläufige Beachtung schenkt. Die Stärke von dessen Konzept ist demgegenüber die Perspektive der Subjekte, ihrer Bedürfnisse und Rechte. Sie bedarf aber einer Erweiterung in Bezug auf lebenstragende Sinnfragen und ethische Orientierungen.

7.8 Kein Tabu für Goethe. Bildung für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung Frau B. bezieht ihre eigene Wohnung. Der Bildungsprozess, der bei ihr zu einer selbstständigen Wohn- und Lebensform führt, lässt sich – wie gezeigt – als Kompetenzerwerb auf unterschiedlichen Lernzielebenen beschreiben und reflektieren. Aber lassen sich die vorgestellten Bildungskonzepte auch für Menschen mit schweren geistigen Behinderungen anwenden? Dieser Frage möchte ich mich abschließend noch einmal vertieft zuwenden. (1) Anfang der 1970er Jahre entwickelten Jürgen und Uta Trogisch im Katharinenhof Großhennersdorf das Konzept der „Förderpflege“ für diejenigen Menschen mit schwersten Behinderungen, die in der offiziellen Rehabilitationspädagogik der DDR als förderungsunfähig galten. Es geht von der Grundeinsicht aus, „daß Förderungsunfähige lernfähig sind“141 und formuliert vor diesem Hintergrund einen „Rechtsanspruch […] auf qualifizierte medizinisch-pflegerische und pädagogische Betreuung“.142 Das Konzept orientiert sich an Erziehungsprozessen der ersten beiden Lebensjahre und konzentriert sich hier besonders auf die Bewegungs-, Sinnen- und Spracherziehung. Daneben beinhaltet es das Üben von Aufmerksamkeit und gezielte emotionale Kontakte. Die Ziele der Förderpflege verorten Uta und Jürgen Trogisch auf zwei Ebenen. Als allgemeines Ziel gilt die Befriedigung der drei basalen Bedürfnisse Sicherheit, Geborgenheit und Wohlbe————— 139 140 141 142

Vgl. Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 37f. Speck, Menschen mit geistiger Behinderung (2005), 191. Trogisch, Gibt es Förderungsunfähigkeit bei geistig Behinderten?, 107. Trogisch, Trogisch, Sind Förderungsunfähige „nur“ Pflegefälle?, 721.

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finden. Daneben verfolgt das Konzept aber noch eine Reihe spezieller Ziele. Diese beziehen sich auf die „relative Selbstverständlichkeit in einfachsten Bereichen der Selbstbedienung […], der sozialen Einordnung […] und der Umweltorientierung.“143 Trogisch und Trogisch weisen darauf hin, dass die Förderpflegefähigkeit nicht an das Erreichen dieser maximalen Ziele gebunden sei. Bei Menschen mit schwersten Behinderungen sei es vielmehr bereits als Erfolg anzusehen, wenn diese auf eine Kontaktaufnahme hin mit einem Lächeln zu reagieren vermöchten.144 Trogischs Modell der „Förderpflege“ hat viele Ähnlichkeiten mit Andreas Fröhlichs Konzept der „basalen Stimulation“. In der diakonischen Behindertenarbeit der DDR hatte es eine erhebliche Resonanz. Aber auch für die staatliche Rehabilitationspädagogik ist es nicht ohne Wirkung geblieben. So haben die erfolgreichen Praxiserfahrungen mit dem Konzept der Förderpflege Mitte der 1980er Jahre dazu geführt, dass der diskriminierende Begriff „förderungsunfähig“ offiziell fallen gelassen worden ist.145 (2) Georg Theunissen hat seiner aus mehreren Lernzielebenen bestehenden Bildungstheorie auch das Modell einer basalen Pädagogik eingeschrieben. Sie knüpft an Methoden der basalen Kommunikation und Stimulation an und integriert diese in einem umfassenderen Konzept ästhetischer Erziehung. Diese definiert Theunissen als „den Versuch, mit einem (behinderten) Menschen in Beziehung zu treten und ihn auf dem Hintergrund dieses zwischenmenschlichen Verhältnisses mittels ästhetischer Materialien und Prozesse zur Selbstverwirklichung in sozialer Bezogenheit zu befähigen“.146 Vier Aufgaben einer solchen basalen ästhetischen Pädagogik stehen im Mittelpunkt: eine aufbauend-entwicklungsfördernde, eine therapeutischintervenierende, eine ganzheitlich-bildende und eine psychohygienischkompensatorische.147 Bildungsprozesse auf dieser basalen Ebene können an ganzheitliche, sog. coenästhetische Wahrnehmungsformen anknüpfen, bei denen eine intensive Kommunikation auf allen Sinnesgebieten statthat. Im Mittelpunkt stehen der Haut- und Körperkontakt, Schwingung, Rhythmus, Tempo, Spannung und Entspannung, Körperhaltung, Gleichgewicht, Temperatur, Stimmlage, Tonskala, Tonnuancen, Klangfarbe usw. Menschen mit schwerer geistiger Behinderung lassen sich so sensibilisieren und für elementare Wahrnehmungsprozesse empfänglich machen. Auf dieser Grundlage können modal-sinnesspezifische Aktivitäten entwickelt werden, die von materialunspezifischen Funktionsspielen bis zu spielerisch-aktionistischen und -explorativen Tätigkeiten reichen. In der Nutzung der Beschaffenheit der ————— 143 144 145 146 147

Trogisch, Gibt es Förderungsunfähigkeit bei geistig Behinderten?, 108. Vgl. Trogisch, Trogisch, Sind Förderungsunfähige „nur“ Pflegefälle?, 722. Vgl. Trogisch, Trogisch, Förderpflege, 303. Theunissen, Ästhetische Erziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung, 360. Vgl. ebd., 362f.

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verschiedensten Materialien in ihrer jeweiligen Konsistenz, Oberflächenstruktur, Form, Farbe usw. können so basale Lernprozesse angestoßen und gefördert werden. Theunissen macht deutlich, dass „Handlungen wie Matschen, Schmieren, Rühren, Krabbeln, Kratzen, Einpacken, Auspacken, Betasten, in den Mund stecken, Reißen, Knüllen, Auseinandernehmen, Hineinstecken, Auftürmen“ usw. der „Beherrschung des Körpers und der Motorik, der Vervollkommnung eigener Bewegungsmöglichkeiten, der Sensibilisierung und Differenzierung der Sinne, der Orientierung im Raum und Bewältigung der Raumbeziehungen, des Be-Greifens der Dinge, der Informationsgewinnung über Beschaffenheit und Verwendungsmöglichkeiten von Materialien sowie dem Einüben von Fertigkeiten dienen“.148 (3) Die ästhetische Praxis mit geistig behinderten Menschen muss aber keineswegs auf basale Prozesse beschränkt bleiben. Wolfgang Lamers hat eindrücklich herausgearbeitet, wie ästhetische Bildung auch die Begegnung mit großer Kunst einschließt. Damit erweitert sich noch einmal das Bildungsverständnis. Es bezieht sich nicht mehr nur auf elementare Lernvollzüge sondern integriert auch anspruchsvolle Bildungsinhalte. Lamers hat diesen Aspekt vor allem gegenüber formalen Bildungskonzepten hervorgehoben und sich für ein Verständnis ausgesprochen, „das sich durch inhaltlich anspruchsvolle Lernangebote auszeichnet, die die generelle Lernfähigkeit des Menschen mit schwerer Behinderung betonen und damit nicht auf formales, entwicklungszentriertes und funktionales Lernen beschränkt bleiben“.149 Die Methoden der basalen Stimulation eigneten sich in besonderer Weise für die Elementarisierung und inhaltliche Konzentration literarischer Texte oder bildnerischer Kunstwerke. In der Rückführung auf elementare Grundstrukturen und der damit erfolgenden Herausarbeitung des Typischen und Konstitutiven sei eine Übersetzung in die Sprache von Menschen mit einer schweren Behinderung möglich. „Die Art, wie ich jemanden berühre (somatisch), wie ich jemanden bewege (vestibulär), wie ich optische, akustische, haptische Sinneseindrücke dem jeweiligen Inhalt entsprechend eingebunden in eine Handlungssituation anbiete, ist die Sprache, die ein erlebendes Verstehen möglich macht.“150 An der Arbeit des Kölner Erlebnistheaters „SinnFlut“ macht Lamers eine solche Übersetzung deutlich. „SinnFlut“ ist eine seit 1990 existierende Theatergruppe an der Heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen mit einer schweren Behinderung die Teilhabe an anspruchsvoller Kunst und Kultur zu ermöglichen. Dabei arbeiten die Theatermacher mit einem Erlebnisraum, in dem durch Licht, Farben, Musik und ————— 148 149 150

Ebd., 364. Lamers, Goethe und Matisse für Menschen mit einer schweren Behinderung, 197. Ebd., 201.

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Aromen eine spezifische, dem jeweiligen szenischen Inhalt entsprechende Atmosphäre geschaffen wird. Die Schauspieler treten mit kreativen Ausdrucksformen in eine Kommunikation mit dem Publikum und stellen beispielsweise tänzerisch, gestisch und mimisch Formen von Spannung, Entspannung, Ruhe, Bewegung, Schwere, Leichtigkeit usw. dar. „SinnFlut“ hat in den letzten Jahren beispielsweise „Die Leiden des jungen Werthers – frei nach Goethe“, „Orpheus und Eurydike“ und „Drei Bilder Blau – eine Szenencollage nach drei Scherenschnitten von Henry Matisse“ auf die Bühne gebracht. Lamers gibt eine szenische Übersetzung aus Goethes „Werther“ wieder: „Werther hat Lotte an Albert verloren. Es ist dunkel im Raum. Geräusche, die an Wind, Blättergeraschel und Regen erinnern, beginnen leise, werden lauter und wieder leiser. Gleichzeitig färbt sich die Wand, und eine Herbstszenerie aus Laub und Farben wird projiziert. Herbstliche Gestalten betreten mit langsamen, verhaltenen Bewegungen und ernstem, traurigem Gesichtsausdruck das Zelt. Sie tragen Kostüme aus einem kratzigen, steifen Stoff in Grün- und Brauntönen. Ihre Gesichter sind herbstlich geschminkt. Sie nähern sich den Teilnehmern. In den Händen halten sie grüne und rote Farben, die nach Wald duften. Auf ihrer Hand zeigen sie, wie sich die reinen Farben des Sommers zu einem herbstlichen Braun verwandeln. Mit Blicken und Gesten laden sie die Teilnehmer ein, an diesem Farbenspiel teilzunehmen. Lassen sich die Teilnehmer auf dieses Angebot ein, entsteht zu traurig bewegter Musik ein intensives Spiel mit den Händen“,151 bei dem Melancholie und Traurigkeit sinnlich erlebbar werden. Lamers hebt in einer anschließenden Interpretation dieser Szene hervor, wie in ihr die Stimmung durch basale visuelle, akustische, olfaktorische und haptische Wahrnehmungen zum Ausdruck gebracht und zugleich zu einem alle Sinne betreffenden Eindruck gemacht wird. Dazu gehören nicht nur die medialen Darstellungsformen wie die traurig bewegte Musik, die Kostüme, die Farben und Gerüche. Auch die personalen Interaktionsformen, zu denen die Bewegungen, Berührungen und das Einmalen der Hände zählen, lassen die Stimmung eindrücklich werden. Die verschiedenen Elemente der basalen Stimulation werden so zu einem gemeinsamen, sinnvollen und Sinn erschließenden ästhetischen Erlebnis verbunden. Menschen mit einer schweren Behinderung lernen im Rahmen der Förderpflege, selbstständig zu essen und zu trinken. Im Rahmen einer basalen Pädagogik gehen sie mit ästhetischen Materialien um und erwerben dabei neue motorische Fähigkeiten und Bewegungsmöglichkeiten. In einem Theater begegnen sie anspruchsvoller Kunst, deren Inhalte mit Methoden der basalen Stimulation erlebbar gemacht werden. Die Beispiele dieses ————— 151

Ebd., 202.

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Kapitels zeigen: Bildungsprozesse für Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung sind nicht nur möglich sondern auch realistisch, wenn ihnen Bildung zugetraut und zugänglich gemacht wird. Ein Satz Johann Amos Comenius’ dürfte auch für diesen Zusammenhang Geltung besitzen: „Wenn Sie sagen, dass man nicht aus jedem Holz einen Löffel schnitzen könne, so antworte ich: Aber aus jedem Menschen kann ein Mensch werden, wenn nicht einer auftritt, der die Sache verdirbt.“152

————— 152

Comenius, Böhmische Didaktik, 75.

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8. Fragmentarität oder: ich bin „sowohl ein Fragment aus Vergangenheit als auch ein Fragment aus Zukunft“ (Henning Luther) Fragmentarität „der [im]perfekte mensch“ lautete der Titel einer Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum. Ihr Untertitel: „vom recht auf unvollkommenheit“.1 Die Dresdener Ausstellung verstrickte ihre Besucher zu Beginn des neuen Jahrhunderts in ein Gespräch über das Menschsein. Über die normierende Macht der Normalität, die Wirkungen des Anblicks und der Blicke, Erfahrungen der Differenz, Wunsch- und Albträume, Anstaltsmauern und solche aus Vorbehalten – und immer wieder über den imperfekten Menschen. „Museale Gratwanderung zwischen normal und behindert“ titelten die „Dresdner Neuesten Nachrichten“ ihre Besprechung.2 In der Tat. Diese Gratwanderung der Ausstellung drohte dort das Gleichgewicht zu verlieren, wo sie den Eindruck nährte, der imperfekte sei im Wesentlichen der behinderte Mensch. Die starke thematische Konzentration auf das Thema Behinderung hatte diesem Eindruck stellenweise nichts entgegenzusetzen. Dagegen fand die Ausstellung dort zur Balance zurück, wo sie Eindrücke, Impulse und Verunsicherungen bereithielt, die es den Besuchern gestattete, reflexiv und nachdenklich zu werden. Das wurde beispielsweise im „Spiegelgang“ ermöglicht, in dem sich die Besucher selbst begegneten und befremdliche Hör- und Seherfahrungen machten. Weitere Grenzerfahrungen inspirierten ähnliche Entdeckungen. „Unvollkommenheit“ ist das Thema dieses Abschnittes. Mit ihm möchte ich eine Dimension in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, die im anthropologischen Diskurs auch unter Begriffen wie „Endlichkeit“, „Zeitlichkeit“, „Befristung“ oder „Begrenzung“ reflektiert worden ist. Ich wähle den Begriff „Fragmentarität“. Dabei möchte ich es ausdrücklich vermeiden, das imperfekte, das fragmentarische Menschsein mit einer besonderen Personengruppe oder den spezifischen Phänomenen von „Krankheit“ und „Behinderung“ zu identifizieren. Vielmehr geht es mir erneut um eine inklusive Anthropologie und also um die Fragmentarität des Menschseins als solches. Darüber hinaus werde ich die Perspektive meiner Überlegungen so ————— 1 2

Vgl. Stiftung Deutsches Hygiene-Museum […] (Hg.), der [im]perfekte mensch. Heitkamp, Museale Gratwanderung zwischen normal und behindert.

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wählen, dass ich mit dem fragmentarischen Leben keineswegs nur Erfahrungen der Schwäche und des Leidens in den Blick nehme. Vielmehr möchte ich beides im Auge behalten: Grenzen und Möglichkeiten, Schwächen und Stärken sollen gleichermaßen Beachtung finden. Ich werde Fragmentarität nicht nur als Defizit in Augenschein nehmen sondern als Lebensmöglichkeit, als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Existenz.

8.1 „Meine Zeit steht in deinen Händen“. Dimensionen des fragmentarischen Lebens im biblischen Zeugnis „HERR, auf dich traue ich“, beginnt der Beter des 31. Psalms sein Lied, das er im Schutzbereich des Tempels anstimmt (Ps 31,2).3 Als Verfolgter beklagt er seine Not: „Mein Auge ist trübe geworden vor Gram, matt meine Seele und mein Leib“ (V. 10). Neben der Klage aber steht der Dank, denn „du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (V. 9). Beides kommt zur Sprache: die bedrohliche Einschränkung der Lebenswirklichkeit und ihre Entschränkung. Im Bekenntnis „Meine Zeit steht in deinen Händen“ (V. 16) werden beide Erfahrungen auf Gott zurückgeführt. Im 31. Psalm spiegeln sich nicht nur individuelle Lebenserfahrungen, sondern zugleich auch anthropologische Einsichten: über Bedrängnisse und Befreiungen als Dimensionen des Gott-bestimmten Lebens. Auf einige Aspekte des biblischen Zeugnisses möchte ich im Folgenden eingehen. (1) Den vielfältigen Traditionen der hebräischen Bibel ist die Gewissheit gemeinsam, dass das menschliche Leben und seine Zeit in Gottes Händen stehen. Gott hat den Menschen im Mutterleib gebildet (Ps 139,13) – ebenso steht die befristete Lebenszeit bei ihm. Die Endlichkeit mit ihren Möglichkeiten und Begrenzungen gründet deshalb zunächst in der Geschöpflichkeit des Menschen. Dazu gehören beispielsweise die „Stufen des Lebens“ mit ihren jeweiligen Charakteristika: die Kraft und Schönheit der Jugend (Spr 20,29; 1Sam 16,12) ebenso wie deren Unentschlossenheit oder ihr Rigorismus. Das Alter wiederum ist durch schwindende Kräfte (Ps 71,9) aber auch Weisheit und Verstand (Hi 12,12) geprägt. Die biblischen Texte benennen also „für die Jugend wie für das Alter ebenso spezifische Gefahren und Lasten wie typische Gaben und Fähigkeiten“.4 Auch Gesundheit und Krankheiten sind auf einer Ebene Dimensionen des endlichen, geschöpflichen Lebens. Von zahlreichen Krankheiten oder Behinderungen wird gesprochen, ohne dass dabei Aspekte von Schuld angedeutet werden. „Wer hat den Stummen oder Tauben oder Sehenden oder Blinden gemacht? Habe ————— 3 4

Vgl. die exegetische Erläuterung bei Kraus, Psalmen, Bd. 1, 245–252. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 118.

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ich’s nicht getan, der HERR?“ (Ex 4,11). Umgekehrt wird die Heilung gleichermaßen auf Gott zurückgeführt: „ich bin der HERR, dein Arzt“ (Ex 15,26). Schließlich ist auch der Tod in der hebräischen Bibel ein natürlicher Bestandteil der menschlichen Endlichkeit, „denn du bist Erde und sollst zu Erde werden“ (Gen 3,19). Die Texte machen auf diese Weise deutlich, „daß ein lebenssattes Sterben zur Geschöpflichkeit des Menschen gehört“.5 Leben und Sterben, Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit sind so gleichermaßen Ausdrucksformen eines Lebens aus der Hand Gottes. „Meine Zeit steht in deinen Händen“. Auf der anderen Seite kommt in Krankheiten und Tod nach der Auffassung einer breiten Tradition aber auch die tiefe Entfremdung, Verlorenheit und Sünde des Menschen zum Ausdruck. Krankheiten werden als von Gott verhängte Strafe für Sünden verstanden. „Wenn du […] nicht gehorchen wirst der Stimme des HERRN“, wird er „dich schlagen mit Auszehrung, Entzündung und hitzigem Fieber“ (Dtn 28,15.22). In Krankheiten und Leiden tritt Gottes Zorn hervor. „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe wegen deines Drohens / und ist nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde […]. Meine Wunden stinken und eitern / um meiner Torheit willen“ (Ps 38,4.6). Nicht anders der Tod. Ist das lebenssatte Sterben einerseits Ausdruck der Kreatürlichkeit, so gilt insbesondere der vorzeitige Tod als selbstverschuldet.6 Die Ungerechten sind es, „die fortgerafft wurden, ehe es Zeit war“ (Hi 22,16) und die Ruchlosen sterben in ihrer Jugend (Hi 36,13f.). In seiner Bundesrede am Berg Horeb legt Mose dem Volk beides zur Entscheidung vor: „das Leben und das Gute, den Tod und das Böse. Wenn du gehorchst den Geboten des Herrn, […] so wirst du leben […]. Wendet sich aber dein Herz und du gehorchst nicht […], so verkünde ich euch heute, daß ihr umkommen […] werdet“ (Dtn 30,15–18). Der Tod ist also bereits in zahlreichen Passagen der hebräischen Bibel der Sünde Sold – eine Deutung, die später bei Paulus im Mittelpunkt der Erörterung steht. (2) Der sich hier andeutenden Kontinuität zwischen den alten jüdischen Lebens-Deutungen und denen des Juden Paulus stehen auf der anderen Seite aber dessen neue theologische Akzentuierungen gegenüber. Paulus reflektiert das menschliche Leben und Sterben in der Perspektive, wie sie durch das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi bestimmt ist.7 Dadurch verändert sich zugleich auch der Blick auf den Tod und das Leben. Das Bild vom geschöpflichen, natürlichen Tod wird überlagert von dem anderen, das den Tod als der Sünde Sold (Röm 6,23) begreift. Denn „wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod ————— 5 6 7

Ebd., 110. Vgl. ebd., 109. Vgl. Jüngel, Tod, 103.

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zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben“ (Röm 5,12). Der Tod herrscht über sie (V. 14). Er lässt das Leben ersterben. Ausweglos. Beziehungslos. Leblos. In Jesus Christus aber ist der neue Adam Gottes erschienen, dessen Gnade die Menschen aus der Verdammnis zur Gerechtigkeit führt (V. 15f). Der Tod Christi ermöglicht ihnen, dass auch ihr zum Tod verdammtes Leben sterben kann. Seine Auferweckung wird für sie zum neuen Leben. In der Taufe vollzieht sich diese „‚Konformität‘ der Glaubenden mit dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn“.8 Durch diesen Tod des Todes ändert sich die Perspektive des Lebens. Erst jetzt steht der endliche, der natürliche Tod nicht mehr zwischen den Menschen und Gott. Der Glaube ist sich gewiss, „daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“ (Röm 8,38f). Der Glaube ermöglicht so die Annahme des eigenen endlichen Lebens in seinen Begrenzungen und Möglichkeiten. Gerade der zweite Korintherbrief ist ein eindrückliches Zeugnis dafür, wie Paulus die christliche Konformität mit der Passion und der Auferweckung Jesu als Dialektik von Schwäche und Stärke beschreibt: „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserm Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserm Leibe offenbar werde“ (2Kor 4,10). Die Unterscheidung des „äußeren“ vom „inneren Menschen“ ermöglicht es Paulus, der Erfahrung der Vergänglichkeit ein Empowerment des Glaubens entgegenzusetzen: „wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert“ (V. 16). Kein anthropologischer Dualismus kommt hier zum Tragen, sondern die Betrachtung der menschlichen Existenz unter verschiedenen Perspektiven.9 Die christologisch begründete Dialektik von Schwäche und Stärke ermöglicht es Paulus auch, seine eigene Krankheit in dieser Perspektive wahr- und anzunehmen. Weil die Kraft Christi gerade in den Schwachen mächtig ist, „will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne“ (2Kor 12,9). Die Konformität des Glaubens mit dem Weg Christi ermöglicht so neue Lebens-Deutungen, in denen Schwäche und Stärke keine Gegensätze bleiben. Vielmehr kann Paulus in der Gewissheit der Gemeinschaft mit Christus seine apostolische Existenz mit Worten interpretieren, in denen beides zusammen gehalten wird. „In allem erweisen wir uns als Diener Gottes“, schreibt er, „in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen […], in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, […] als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch ————— 8 9

Dietrich/Vollenweider, Art. Tod, 595. Vgl. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, 126.

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nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben“ (2Kor 6,4–10). Der Glaube ermöglicht es, dass die gegensätzlichen Erfahrungen nicht dualistisch auseinander fallen und dem Einfluss unterschiedlicher Mächte zugeordnet werden, sondern vielmehr als Dimensionen des endlichen menschlichen Lebens zusammengehalten und angenommen werden. Eines Lebens, das von Gott erschaffen und erhalten, versöhnt und erneuert worden ist. Eines Lebens, das zugleich auf seine Vollendung noch wartet. Dieses Leben bleibt unhintergehbar ein Fragment, „Stückwerk“, wie Paulus schreibt. „Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören“ (1Kor 13,12). Die eschatologische Vollendung wird von Paulus als eine Verwandlung beschrieben (vgl. 1Kor 15,51). Nicht als Ausgleichung bestehender Defizite – so als ob Krankheiten geheilt, die gesunden Lebensgestalten dagegen unverändert in die Ewigkeit Gottes eingingen.10 Vielmehr wird alles verwandelt. „Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib“ (1Kor 15,44). (3) Bei aller unterschiedlicher Akzentuierung in den einzelnen biblischen Traditionen besteht deren Gemeinsamkeit in der Doppelperspektive, unter der menschliche Endlichkeitserfahrungen gedeutet werden: diese sind einerseits Ausdruck der Geschöpflichkeit und bestimmen als solche jedes individuelle Leben. Andererseits sind sie Ausdruck der Sünde und Folge der durch sie bewirkten Entfremdung des menschlichen Beziehungsreichtums. Der christliche Glaube macht Menschen überdies darin gewiss, dass sie auch durch schwere Widerfahrnisse nicht aus der Beziehung zu Gott gerissen werden sondern in ihrer Schwäche durch die Kraft Christi gestärkt werden. Der Realismus des biblischen Denkens besteht in seiner Abwehr von Idealisierungen und einlinigen Generalisierungen. Vielmehr wird das individuelle personale Leben in seiner Vielgestaltigkeit, Tiefgründigkeit und Abgründigkeit reflektiert. In seiner Konflikthaftigkeit. In der Verfehlung seiner Bestimmung. In seiner Erneuerung und Gewisswerdung. Dieser Realismus macht es der christlichen Theologie möglich, Größe und Elend des Menschen gleichermaßen im Blick zu behalten. So sind allein vor diesem theologisch-anthropologischen Hintergrund die beiden folgenden, einander auf den ersten Blick radikal widersprechenden Aussagen als gleichermaßen wahr zu begründen: „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst […]. Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt“ (Ps 8,5f). Und: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?“ (Röm 7,24). Beides ist der Mensch. Als Fragment. ————— 10

Vgl. zu diesem Missverständnis: Ebach, Biblische Erinnerungen, 100.

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Fragmentarität

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8.2 Auf der Suche nach Perfektion. Vollkommenheit in der griechischen Philosophie Während das biblische Denken die divergierenden menschlichen Lebenserfahrungen anerkannt und aus dem Verhältnis zu dem einen, geschichtsmächtigen, gebietenden und barmherzigen Gott heraus gedeutet hat, hat das griechische Denken andere Wege beschritten und andere LebensDeutungen entwickelt. Die Erfahrungen des Wandels und der Veränderung haben hier eine Denk-Bewegung angestoßen, die die Wahrheit im Ewigen und Unveränderlichen gesucht hat. Platons Philosophie verleiht dieser Deutungsperspektive begrifflichen Ausdruck. Aristoteles demgegenüber hat die in der Bewegung wirksame Kraft in ihrer Zielgerichtetheit analysiert. In beiden Fällen aber geht es um Vollkommenheit und um Überwindung endlicher und vorläufiger Lebensgestalten. Da beide Konzepte nachhaltig gewirkt und dem Perfektionsmotiv eine prägende Kraft gegeben haben, sollen sie hier kurz erläutert werden. (1) Platons Philosophie orientiert sich am Vollkommenen, dem Unvergänglichen und immer Seienden. Der Demiurg, so führt er im „Timaios“ aus, habe nach dem Urbild dieses Unvergänglichen und ganz und gar Guten den Kosmos geschaffen. Er sei „dem schönsten unter allem Gedachten und in jeder Beziehung Vollkommenen möglichst ähnlich“.11 Als gewordene müsse die Welt aber körperlich, sichtbar und betastbar sein. Deshalb habe sie der Demiurg durch die proportionale Verbindung der vier Grundbestandteile Feuer, Wasser, Luft und Erde erschaffen.12 Indem der Kosmos jedes dieser vier Elemente ganz in sich aufgenommen hat, werde seine Ganzheit, Einheit und Vollkommenheit gewährleistet. Der Demiurg schuf den Weltleib so „aus lauter Ganzen als ein vollkommenes, nie alterndes noch erkrankendes Ganzes“.13 In seine Mitte habe er die Weltseele eingepflanzt. Um den Kosmos seinem Urbild noch ähnlicher zu machen, habe er die Zeit als „ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit“ bzw. als ein in Zahlen fortschreitendes unvergängliches Bild „der in dem Einen verharrenden Unendlichkeit“14 geschaffen. Anschließend seien analog zu den vier Weltbestandteilen die vier grundlegenden Gattungen des Lebens entstanden: zunächst das aus Feuer geschaffene himmlische Göttergeschlecht, dann die in der Luft, im Wasser und auf der Erde existierenden Lebewesen. Indem der Demiurg den Mischkrug, in dem er zuvor die Weltseele gemischt hatte, mit den darin übriggebliebenen Bestandteilen „zweiten und dritten ————— 11 12 13 14

Platon, Timaios, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, 30 (30 d). Vgl. ebd., 30f (31 bff). Ebd., 31 (33 a). Ebd., 35f (37d).

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Grades“15 erneut mischte, habe er die menschlichen Seelen geschaffen, die anschließend Körpern eingepflanzt wurden: die Erschaffung der leiblichen Menschen. Ihnen sei, so Platon, „eine mit Lust und Schmerz gemischte Liebe und außerdem Furcht und Erzürnen“16 eigen. Über diese Gemütsbewegungen müsse die Seele die Herrschaft gewinnen. Der aus Bestandteilen von Feuer, Wasser, Luft und Erde zusammengesetzte Körper fessele aber die Seele nicht nur, sondern drohe sie auch mit sich fortzureißen. Deshalb bedürfe es des Wachstums der Seele zur Festigkeit und Vollendung. Derjenige, dem dies gelinge, entgehe „dem größten Siechtum“ und werde „zu einem Makellosen und durch und durch Gesunden; wer es aber vernachlässigt, der kehrt, nachdem er hinkend des Lebens Bahn durchschritt, unvollkommen und unverständig wieder zum Hades zurück“.17 Unvollkommenheit, Krankheit, Gebrechlichkeit und Siechtum entstehen demnach in Bezug auf die Seele dann, wenn diese dem leiblichen Drang unterliegt. An späterer Stelle geht der „Timaios“ noch differenzierter auf Alter, Tod sowie körperliche und seelische Krankheiten ein. Das Altern erklärt er daraus, dass sich das Gefüge des Lebendigen, seine aus Dreiecken gebildeten Grundstoffe, allmählich lockern und schließlich auflösen.18 Krankheiten dagegen entstünden durch naturwidrige Veränderungen der Grundstoffe. „Da es nämlich vier Gattungen gibt, aus denen der Körper zusammengefügt ist, Erde, Feuer, Wasser und Luft, so ist es der naturwidrige Mangel oder Überfluß derselben sowie die Vertauschung der dem einen zukommenden Stelle mit einer ihm fremden und ferner […] die Aufnahme von jeder nicht zuträglichen, und alles derartige, was Zwiespalt und Krankheiten bewirkt.“19 Als Krankheiten der Seele sieht Platon die zwei Gattungen des Unverstandes, Wahnsinn und Unwissenheit an. Auch für sie gibt er eine körperliche Erklärung. Freiwillig, so lautet die These dieses Abschnittes, sei niemand schlecht. Vielmehr entstehe es durch körperliche Beschaffenheit und ausbleibende Erziehung. „Denn wo die im Körper umherirrenden, von sauren und salzigen Verschleimungen herrührenden sowie ätzenden und galligen Säfte nach außen keinen Ausweg finden, sondern, im Innern sich umhertreibend, mit den Bewegungen der Seele, denen ihre Ausdünstung sich beimischt, sich vereinigen, da erzeugen sie […] mannigfaltige Krankheiten der Seele und erwecken […] alle Arten der Unzufriedenheit und des Mißmuts, der Verwegenheit und Verzagtheit, dazu der Vergeßlichkeit und Ungelehrigkeit.“20 ————— 15 16 17 18 19 20

Ebd., 41 (41 d). Ebd., 41 (42 a). Ebd., 44 (44 c). Vgl. ebd., 89 (81 c–e). Ebd., 89f (82 a). Ebd., 95f (86e–87a)

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Die platonische Deutung des endlichen Lebens erfolgt in einer eigentümlichen Spannung. In der Beherrschung des Leibes sowie bei einer maßvollen Ordnung der Grundstoffe kann der Mensch zu einer ihm gemäßen Vollendung gelangen. Vollkommenheit ist so die möglichst getreue Nachbildung des unvergänglichen und vollkommenen Urbildes. Anzeichen von Schwäche oder Krankheiten kann Platon dagegen nur in einer Defizitperspektive deuten. Sie gehören auf die Seite der unvollkommenen und durch Beherrschung zu überwindenden Welt. Die Wahrnehmung der Vielgestaltigkeit des menschlichen Lebens fällt so dualistisch auseinander: in einen auf Vollkommenheit, Weisheit und Beherrschung gerichteten Teil einerseits sowie einen von Dissoziation, Unvernunft und Kontrollverlust bedrohten andererseits. Auf diesem Hintergrund hat Platon mit dazu beigetragen, dass die Fragmentarität des menschlichen Lebens über lange Zeiträume eher als suspekt betrachtet worden ist. (2) „Wir wollen […] gleichsam zu einem neuen Anfang zurückkehren“, schreibt Aristoteles lapidar zu Beginn seines 2. Buches „Über die Seele“, nachdem er zuvor „das von den früheren Philosophen über die Seele Überlieferte“21 nicht nur dargelegt, sondern auch widerlegt hatte. Auch das von Platon Überlieferte. Der Neueinsatz, den Aristoteles anschließend wagt, besteht in der Destruktion des platonischen Dualismus und dessen Transformation zu einer immanenten Bewegungsdynamik. Jeder Körper, so führt er aus, besteht aus Materie und Form. Die Seele aber ist nichts anderes als sein Formprinzip. Sie ist das Lebensprinzip des Leibes. „Das Leben kommt also durch dieses Prinzip dem Lebendigen zu“.22 Seele und Leib bilden gemeinsam das Lebewesen. Untrennbar. Auch das ist gegen Platon formuliert.23 Dabei sei die Seele die Vollendung (Entelechie) dieser leibseelischen Ganzheit. Und dies in mehrfacher Hinsicht. Drei von vier Ursachen dieser zur Vollendung hinstrebenden Bewegung lägen bei der Seele: die Bewegungs-, Zweck- und Formursache. Beim Körper liege dagegen die stoffliche Ursache dieses mehrdimensionalen Lebensprozesses. Die aristotelische Umformung der Seelenlehre hat auch Konsequenzen für die Wahrnehmung des Unvollkommenen. Einerseits ist mit der Verknüpfung von Materie und Form auch die Anerkennung der Endlichkeit der jeweiligen Entwicklungsgestalten innerhalb des teleologischen Wachstumsprozesses verbunden. Auf der anderen Seite ist das Ziel der Entwicklung auch bei Aristoteles die Vollkommenheit. Ontologisch nicht anders als anthropologisch. Indem in der Bewegung des Seienden immer höhere For————— 21

Aristoteles, Über die Seele, Schriften 6, 28 (412a). Ebd., 31 (413b). 23 Vgl. ebd., 30 (413a): „Daß also die Seele nicht abtrennbar vom Körper ist […], erweist sich deutlich; denn von einigen ist die Vollendung die der Teile selbst.“ 22

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men verwirklicht werden, tritt der materielle Anteil in ihnen zurück. Die Befreiung von aller Materie und die Verwirklichung der reinen Form markiert daher das Ziel der Welt-Bewegung. Mithin die Vergeistigung alles Seienden. Die Vollkommenheitsorientierung gilt auch für den Menschen. Für sein Handeln sei die Verwirklichung der Glückseligkeit das höchste Gut: „Glückseligkeit stellt sich dar als ein Vollendetes und sich selbst Genügendes, da sie das Endziel allen Handelns ist.“24 Kein Wunder, dass Gesundheit ein Gut, Krankheit dagegen ein Übel ist:25 „man muß mehr fliehen was das Wählenswerte in höherem Grade verhindert; so ist die Krankheit mehr als die Häßlichkeit zu fliehen. Denn die Krankheit ist ein größeres Hindernis für den Genuß und die Tugendwerke.“26 Gesundheit sei aber nicht nur ein ethisches Gut sondern auch ein ontologischer Zweck: die causa finalis für den Kranken.27 Für Aristoteles sind deshalb Krankheiten Mängelerscheinungen, die ontologisch wie ethisch an der Verwirklichung des Guten hindern. Phänomene der Unvollkommenheit geraten vor dem Horizont des Vollkommenheitsstrebens unter den Verdacht, dem Lebenszweck entgegenzustehen. (3) Die philosophische Hochschätzung der Vollkommenheit hat Wirkung gezeigt. Das Perfekte galt für lange Zeit als der entscheidende Orientierungspunkt des Denkens. Auch die christliche Theologie nahm in Spätantike und Mittelalter an Platon oder Aristoteles Maß. Zwar sorgte in ihr der Schöpfungsgedanke für eine Unterscheidung zwischen dem vollkommenen Sein Gottes und dem kreatürlichen: „das geschöpfliche Sein partizipiert im Modus seiner Unvollkommenheit an der göttlichen V.[ollkommenheit]“.28 Allerdings blieb auch für Thomas das Unvollkommene auf das Vollkommene hingeordnet und existierte nur um dessen willen.29 Fragmentarische und brüchige Lebenserfahrungen konnten innerhalb dieses Denkens nur schwer reflektiert werden. Neben dem Schöpfungsgedanken besteht eine weitere Differenz im Gottesbild. Platon geht von der Vollkommenheit Gottes und seiner Leidensunfähigkeit aus.30 Die christliche Theologie dagegen gewahrt im Antlitz des gekreuzigten Jesus Christus das Angesicht Gottes. Die Differenzen zwischen dem biblischen und dem platonischaristotelischen Gottes-, Menschen- und Wirklichkeitsverständnis sind auch ————— 24

Aristoteles, Nikomachische Ethik, Schriften 3, 20 (1101a). Vgl. Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, Schriften 2, 56 (180b). 26 Aristoteles, Topik, Schriften 2, 59 (118b). 27 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, übers. v. A. Lasson, 171. 28 Thomas von Aquin, Summa theologica, p. I, q. 13, art. 3, ad 1, zit. nach: Hoffmann, Art.: Vollkommenheit, 1121 [Ergänzung von mir; U.L.]. 29 Vgl. Hoffmann, Art. Vollkommenheit, 1121. 30 Vgl. Moltmann, Trinität und Reich Gottes, 36f. 25

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maßgeblich dafür gewesen, dass Luther dieser philosophischen Orientierung später entschieden widersprach. Von seiner Anthropologie soll nunmehr die Rede sein.

8.3 Fragment und Vollendung. Luthers Anthropologie des gerechtfertigten Sünders „Ich jedenfalls glaube dem Herrn diesen Gehorsam zu schulden, gegen die Philosophie anzubellen und zur Heiligen Schrift zuzureden.“31 Martin Luther hat mit diesem Bekenntnis aus der Römerbriefvorlesung von 1515/16 die Schwerpunktsetzung seines theologischen Denkens scharf konturiert. Sie kommt auch in der Reflexion der menschlichen Fragmentarität zum Tragen. Statt sich an Lehrern wie Aristoteles und Thomas zu orientieren, sieht sich Luther stärker als Schüler des Paulus, der zentrale Einsichten von dessen Theologie aufnimmt und neu zur Sprache bringt. Im Mittelpunkt steht eine schroffe anthropologische Doppelthese. Ihr erster Teil lautet: „Der Theologe […] disputiert über den Menschen als Sünder“.32 Ihr zweiter ist die anthropologische Kurzdefinition: „der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt“.33 Beide Thesen stehen sich konträr gegenüber. Für beide beansprucht Luther volle Geltung. Den dadurch provozierten Widerspruch fängt er auf, indem er von den beiden Menschen im Menschen spricht, die beide als ganze seine Existenz bestimmen. Im Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ spricht er von der geistlichen und leiblichen Natur: „Nach der Seele wird er ein geistlicher, neuer, innerlicher Mensch genannt, nach dem Fleisch und Blut wird er ein leiblicher, alter und äußerlicher Mensch genannt.“34 Anderorts stellt er dem Menschen als „Fleisch“ den als „Geist“ gegenüber.35 Beides sind aber keine abgrenzbaren anthropologischen Zonen. Vielmehr stehen sie jeweils „für den ganzen Menschen und zumeist für die Seele“.36 Luther hat seine spannungsvolle anthropologische Doppelthese demnach in einer totus-homoAnthropologie aufgefangen.37 „Fleisch“ ist für Luther der irdische und end————— 31

Luther, WA 56, 371, 17f. Luther, Enarratio Psalmi LI (1532), WA 40/II 327, 20f: „Theologus […] disputat de homine Peccatore“. 33 Luther, Die Disputation de homine, WA 39/I, 176: „Hominem iustificari fide“. 34 Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: Luther deutsch, Bd. 2, 251 (WA 7, 21, 13–15). 35 Vgl. Luther, Erklärung des Briefes St. Pauli an die Galater, 305 (WA 2, 585, 8). 36 Ebd. (WA 2, 585, 32–33). 37 Vgl. Hägglund, Luthers Anthropologie, 64f. Dass auch die lutherische Konzeption eines „ganzen Menschen“ nicht ohne Ambivalenzen bleibt, habe ich ausgeführt in: Liedke, Freiheit. 32

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liche Mensch, der „seinen eigenen Leib regieren und mit Menschen umgehen“38 muss. Er sei zugleich ein von bösen Neigungen erfüllter, von Furcht geplagter und mit Verzweiflung erfüllter Mensch. Aber auch ein selbstgerechter, stolzer und sich seiner Erfolge brüstender. Anders gesagt: er sei Sünder, sei ein buchstäblich unverhältnismäßiger, in sich selbst verkrümmter, beziehungsloser Mensch. Einer, dessen Gottes-, Sozial- und Selbstverhältnis gestört ist. Aber eben dieses Sünders habe sich Gott angenommen. Im Glauben an diese bedingungslose Annahme durch Gott werde der Mensch „Geist“. Er werde gerechtfertigt und deshalb ein vor Gott Gerechter. Beides gilt: „Fleisch“ und „Geist“ als den ganzen Menschen ganz bestimmende Wirklichkeit. Luthers berühmte These aus der Römerbriefvorlesung, nach der der Mensch „gleichzeitig ein Sünder und ein Gerechter“39 ist, bringt dies zum Ausdruck. An gleicher Stelle verwendet Luther die Krankheits- und Genesungsmetapher zur Kennzeichnung dieser Doppelexistenz im Glauben: „Es steht mit uns ähnlich wie mit einem Kranken, der dem Arzt, der ihm verspricht, er werde ganz sicher gesund werden, Glauben schenkt und in der Hoffnung auf die versprochene Genesung seinem Gebote gehorcht […]. Ist ein solcher Kranker nun etwa gesund? Nein, er ist zugleich krank und gesund. Krank in Wirklichkeit, gesund aber kraft der gewissen Zusage des Arztes, dem er glaubt, der ihn schon gleichsam für gesund rechnet, weil er dessen gewiß ist, daß er ihn heilen wird […]. Genau so hat auch unser Samariter Christus den halbtoten Menschen, seinen Kranken zur Pflege in die Herberge aufgenommen und begonnen, ihn zu heilen, nachdem er ihm völlige Gesundheit zum ewigen Leben zugesagt hat.“40 Luthers anthropologische Doppelthese hat Konsequenzen für die Wahrnehmung menschlicher Unvollkommenheit. Schwäche und Stärke, Furcht und Hoffnung, Verzweiflung und Zuversicht gehören gleichermaßen zur menschlichen Existenz. Nicht nur zur christlichen. Paulus nennt die Rechtfertigung aus Glauben ausdrücklich eine Kurzdefinition des Menschen. Fragmentarität ist eine unhintergehbare Bedingung seiner Existenz. Der Glaube kann sie annehmen und braucht nicht die Fassade des Perfekten aufzurichten. Er kann deshalb auch die Endlichkeit des eigenen Lebens, seine Vergänglichkeit annehmen. So kann sich der Mensch der Tatsache stellen, dass er ebenso sterben muss wie das Vieh und dass er diesem deshalb nichts voraus hat.41 Die Beziehung, die Gott in der Rechtfertigung zu ihm hergestellt hat, wird im Sterben nicht zerrissen. Sie trägt. Auch durch das Sterben hindurch. Auch im Tod. ————— 38 39 40 41

Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, ebd., 263 (WA 7, 30, 15). Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, 172 (WA 56, 272, 17). Ebd., 171 (WA 56, 272, 3–13). Vgl. Hägglund, Luthers Anthropologie, 66.

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Die Spannung und Konfliktträchtigkeit, die in der menschlichen Doppelexistenz liegt, wird nach Luther erst eschatologisch aufgelöst. Erst in der künftigen Herrlichkeit werde die menschliche Fragmentarität aufgehoben. Deshalb sei „der Mensch dieses Lebens Gottes bloßer Stoff für das Leben seiner zukünftigen Gestalt. / Wie auch die ganze Kreatur, die jetzt der Nichtigkeit unterworfen ist, für Gott der Stoff ist für ihre herrliche künftige Gestalt. / Und wie Erde und Himmel im Anfang gewesen ist im Verhältnis zu der nach sechs Tagen vollendeten Gestalt, nämlich als deren Stoff, / So ist der Mensch in diesem Leben im Verhältnis zu seiner künftigen Gestalt, wenn das Bild Gottes wiederhergestellt und vollendet worden sein wird.“42 Gerhard Ebeling hat deutlich gemacht, dass Luther mit diesen Formulierungen der klassischen Substanzmetaphysik opponiert. Der Mensch ist bei ihm kein Kompositum aus Stoff und Form. Er ist vielmehr als ganzer Stoff. Auch seine Vernunft, auch die Geistseele. Das gesamte irdische Leben des Menschen ist für Gott nur der Stoff, aus dem er die künftige herrliche Gestalt formen, bilden wird. Deshalb „gehört alles miteinander, was dieses Leben an Hochgemutem und Gebrechlichem umschließt, zu dem Material dessen, was Gott daraus machen will.“43 Luther bringt dadurch nicht nur zur Geltung, dass das zeitliche Leben „auch im Stande der Gnade Fragment bleibt“.44 Für ihn hat darüber hinaus das, was aus menschlicher Perspektive „bestenfalls Fragment ist“ aus der Perspektive Gottes „mit der Vollendung des Menschen zu tun, mit der vollkommenen Erneuerung des Ebenbildes Gottes“.45

8.4 Verwandlungen. Von der ontologischen zur relationalen Vollkommenheitsidee Luther hat theologisch gegen Aristoteles „angebellt“. Andere Zeitgenossen haben philosophisch nach einem Neuanfang gesucht. Gemeinsam ist ihnen die Opposition gegen die Scholastik und den langen Schatten des platonischen und aristotelischen Denkens. Während Luther mit der biblischen Tradition dabei eine klare Alternative vor Augen stand, musste sich der philosophische Blick erst allmählich neu orientieren. Kein Wunder, dass der Innovation zunächst noch viel Tradition anhaftete. —————

42 Luther, Die Disputation de homine, WA 39/I, 177, 3–10, Übersetzung nach Härle, „Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt“, 190. 43 Ebeling, Das Leben – Fragment und Vollendung, in: ders., Lutherstudien, Bd. 3, 332. 44 Ebd., 331. 45 Ebd., 333.

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(1) Bei Descartes bleibt das ontologische Verständnis von Vollkommenheit bestimmend. Mit der Annahme „eingeborener Ideen“, unter denen die Idee eines „allervollkommensten Seins“ eine prominente Stellung hat, verblieb er im Schatten Platons. Die Erfahrung des Zweifels, des Begehrens und des Mangels ist für ihn sowohl ein Indiz für die eigene Unvollkommenheit wie zugleich für die eingeborene Idee der Vollkommenheit: „Wie könnte ich denn wissen, daß ich zweifle, daß ich begehre, d.h., daß mir etwas fehlt und daß ich unvollkommen bin, wenn in mir nicht die Vorstellung eines vollkommeneren Seienden wäre?“46 (2) Ein deutlicheres Bewusstsein seiner Begrenztheit hat das neuzeitliche Denken erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewonnen. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ hat das menschliche Erkenntnisvermögen auf die Welt der Erfahrung eingegrenzt und zugleich gezeigt, dass „ein über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus versuchtes […] Erkenntnis […] in getäuschte Erwartung“47 hinein verschwindet. Deshalb könne die Vernunft auch den Gedanken Gottes als eines allervollkommensten Seins (ens perfectissimum) inhaltlich nicht widerspruchsfrei denken. Einzig als transzendentales Ideal sei er für sie unentbehrlich. Dies aber nicht zu einem „konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden“ sondern lediglich zu einem „notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten“.48 In seiner praktischen Philosophie verwirft Kant die Vollkommenheit als ein äußerliches Zweckprinzip, durch das dem Willen ein materieller Bestimmungsgrund vorgegeben würde.49 Weder Vollkommenheitsstreben noch Glücksverlangen dürften das menschliche Handeln bestimmen, sondern allein die Verpflichtung gegenüber dem unbedingten Sittengesetz. „Das moralische Gesetz ist […] für den Willen jedes endlichen vernünftigen Wesens […] ein Gesetz der Pflicht, der moralischen Nötigung und der Bestimmung der Handlungen desselben durch Achtung für dies Gesetz und aus Ehrfurcht für seine Pflicht.“50 Als sittliche Vervollkommnung auf dieser Basis kann Kant den Vollkommenheitsbegriff dann aber gleichwohl wieder einführen. So bestehe denn „die größte moralische Vollkommenheit des Menschen“ darin, „seine Pflicht zu tun und zwar aus Pflicht“.51 Allerdings schränkt Kant diese Vorstellung einer sittlichen Vervollkommnung dadurch

————— 46 47 48 49 50 51

Descartes, Meditationen über die Erste Philosophie, 123. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke 4, 355 (B 423f). Ebd., 565 (A 644 / B 672). Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke 6, 154 (A 70f). Ebd., 204 (A146). Kant, Metaphysik der Sitten, Werke 7, 523 (A 24).

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ein, dass er den Menschen als „krummes Holz“ in den Blick nimmt.52 An der Verwirklichung des Guten werde der Mensch nämlich durch einen natürlichen Hang zum Bösen gehindert. Dieser stelle sich als „Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur“,53 als Unlauterkeit oder als Bösartigkeit dar. Das Vollkommenheitsmotiv wird bei Kant so im Gedanken des „Hanges zum Bösen“ gebrochen. Temilo van Zantwijk hat darauf hingewiesen, dass Kants Theorie des Bösen entscheidend mit dazu beigetragen habe, dass im „späteren Deutschen Idealismus und in der Romantik […] die Idee der Perfektibilität des Menschen zu Grabe getragen“54 worden sei.55 (3) Von einem „zu Grabe Tragen“ kann allerdings bei Fichte noch nicht die Rede sein. Eher von seiner Steigerung. Fichte setzt zwar einerseits die Transformation des ontologischen Vollkommenheitsmotivs zu einem praktisch-sittlichen fort. Andererseits radikalisiert er aber dessen Perfektionsanspruch. Für ihn besteht der „letzte Endzweck“ des Menschen darin, „alles vernunftlose sich zu unterwerfen“ und es „frei und nach seinem eigenen Gesetze es zu beherrschen“.56 Da die vollständige Verwirklichung dieses Zieles aber unerreichbar sei, solle der Mensch „diesem Ziele immer näher kommen: und daher ist die Annäherung ins unendliche zu diesem Ziele seine wahre Bestimmung als Mensch, d.i. als vernünftiges, aber endliches, als sinnliches, aber freies Wesen. – Nennt man nun jene völlige Uebereinstimmung mit sich selbst Vollkommenheit […] so ist Vollkommenheit das höchste unerreichbare Ziel des Menschen; Vervollkommnung ins unendliche aber ist seine Bestimmung.“57 Diesen Weg der Vervollkommnung könne der Mensch gemeinschaftlich mit anderen gehen, weshalb die „gemeinschaftliche Vervollkommnung […] unsere Bestimmung in der Gesellschaft“58 sei. Fichtes Pathos der Vervollkommnung erhebt sich dabei über die Grenzen der irdischen Existenz. „Ich kann nie aufhören, zu wirken“, ruft er seinen Zuhörern zu, „und mithin nie aufhören zu seyn. Das, was man Tod nennt, kann mein Werk nicht abbrechen; denn mein Werk soll vollendet werden, und es kann in keiner Zeit vollendet werden, mithin ist meinem Daseyn keine Zeit bestimmt, – und ich bin

————— 52

Die Formulierung verwendet Kant in: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Werke 7, 760 (A 133 / B 141). 53 Ebd., 677 (A 19 / B 22). 54 Zantwijk, Das Ende der Vervollkommnungsidee, 65. 55 Kant hat darüber hinaus auch Aspekte physischer Fragmentarität beschrieben. Gesundheit ist für ihn das „Gleichgewicht aller körperlichen Kräfte des Menschen“ (Kant, Metaphysik der Sitten, Werke 7, 514 [A 11]). Krankheit mithin ihr Ungleichgewicht. 56 Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, Werke 6, 299. 57 Ebd., 300. 58 Ebd., 310.

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ewig.“59 Es ist ein prometheischer Mensch, der hier ausruft: „Meine Bestimmung […] ist ewig, und ich bin ewig, wie sie“.60 Vor diesem Hintergrund erscheinen Erfahrungen des Schmerzes, des Leidens und der beängstigenden Endlichkeit als Phänomene, die sich der ewigen menschlichen Bestimmung entgegenstellen, von ihr aber überwunden werden. „Alles unvollkommene Seyn“, sagt Fichte in seiner „Anweisung zum seligen Leben“, ist „lediglich eine Vermischung des Todten mit dem Lebendigen“.61 Später spricht er davon, dass das wahre Leben „durch Beimischung von Elementen des Todes und des Nichtseyns verdeckt“ würde und sodann „durch Qual und Schmerz und durch Abtödtung dieses unvollkommenen Lebens seiner Entwickelung sich entgegen“62 dränge. Die menschliche Begrenztheit, Endlichkeit und Fragmentarität wird deshalb von Fichte auf die Gegenseite des Lebens geschlagen. Dem zur Vervollkommnung Strebenden könnten sie deshalb auch nichts anhaben. Er erhebe sich über diese Endlichkeit und wisse sich dem Unendlichen verwandt. „Körperliche Leiden, Schmerz und Krankheit, wenn sie mich treffen sollten, werde ich nicht vermeiden können zu fühlen, denn sie sind Ereignisse meiner Natur, und ich bin und bleibe hienieden Natur; aber sie sollen mich nicht betrüben. Sie treffen auch nur die Natur, mit der ich auf eine wunderbare Weise zusammenhänge, nicht Mich selbst, das über alle Natur erhabene Wesen.“63 (3) Der Weg des Bewusstseins, dem Hegel in seiner „Phänomenologie“ folgt, ist der einer Bewusstwerdung, die den Geist über seine endliche, subjektive und objektive Gestalt hin zum unendlichen absoluten Geist führt. Dabei ist das Endliche zunächst das Äußerliche, gegen das Unendliche fixierte Endliche, das im Prozess seiner weiteren Bestimmung aufgehoben wird. „Die verschiedenen Stufen dieser Tätigkeit, […] welche zu durchlaufen die Bestimmung des endlichen Geistes ist, sind Stufen seiner Befreiung, in deren absoluter Wahrheit das Vorfinden einer Welt als einer vorausgesetzten, das Erzeugen derselben als eines von ihm Gesetzten und die Befreiung von ihr und in ihr eins und dasselbe sind, – einer Wahrheit, zu deren unendlicher Form der Schein als zum Wissen derselben sich reinigt.“64 Habe der Geist seine endlichen Gestalten durchlaufen und sich in seiner Tätigkeit als absoluter Geist verwirklicht, erfasse er sich „als selber das Sein setzend, als selber sein Anderes, die Natur und den endlichen Geist hervorbringend“.65 ————— 59 60 61 62 63 64 65

Ebd., 322. Ebd., 323. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, Werke 5, 402f. Ebd., 538. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Werke 2, 315. Hegel, Enzyklopädie III, Werke 10, 34 (§ 386). Ebd., 31 (§ 384 Z).

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In seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ kann Hegel den Entwicklungsprozess auch als ein „Fortschreiten von dem Unvollkommenen zum Vollkommeneren“ beschreiben. Dabei enthalte jeweils das Unvollkommene „das Gegenteil seiner in ihm selbst“ und existiere deshalb als der Widerspruch, das Vollkommene „als Keim, als Trieb in sich“ zu haben.66 Hegels Philosophie des Geistes teilt einerseits mit dem übrigen Idealismus die Vollkommenheitsorientierung: das Unvollkommene strebe zum Vollkommenen, das Endliche werde im Unendlichen aufgehoben. Das Fragmentarische wird deshalb auch bei Hegel gegenüber dem Ganzen als defizitär bewertet. Andererseits hat Hegel das Endliche auch als notwendigen Teil des Unendlichen anerkennen können. Es wird nicht abstrakt negiert, sondern aufgehoben, d.h. in seiner Negation bewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben. „Der Geist ist daher sowohl unendlich als endlich und weder nur das eine noch nur das andere; er bleibt in seiner Verendlichung unendlich, denn er hebt die Endlichkeit in sich auf“.67 Gerade die Grundfigur seiner Philosophie: die Momente eines Phänomens in ihrer gegenseitigen Vermittlung zu reflektieren, hat Hegel auch zu einer interessanten Analyse von Gesundheit und Krankheit geführt.68 Gesundheit ist für ihn „die Proportion des organischen Selbsts zu seinem Dasein, daß alle Organe in dem Allgemeinen flüssig sind“.69 Sie sei das dynamische Geschehen, in dem sich alle Organe in das Funktionssystem des Organismus einordnen, sich dadurch wechselseitig erhalten und mit ihrer jeweils besonderen Tätigkeit die Funktion des Gesamtorganismus gewährleisten. Dieser sei dagegen krank, wenn „eines seiner […] Organe […] sich für sich festsetzt und in seiner besonderen Tätigkeit gegen die Tätigkeit des Ganzen beharrt“,70 so dass dessen Funktion dadurch gehemmt werde. Krankheit besteht also in der Verselbstständigung eines Organs gegenüber dem Organismus. Das kranke Organ isoliert sich, „macht sich zum Mittelpunkt, ist nicht mehr Moment des Ganzen, sondern überwiegend“.71 Als Ursachen dafür kommen für Hegel sowohl natürliche Faktoren (angeborene Fehler, Alter, Sterben etc) oder äußere Einwirkungen in Betracht. In der Krankheit verwirkliche sich allerdings eine Möglichkeit, die im Organismus selbst angelegt ist.72 Insofern gehöre Krankheit zum Lebensprozess des Organismus. ————— 66

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, 78. Hegel, Enzyklopädie III, 37 (§ 386 Z). 68 Vgl. dazu: Büttner, Hegels Krankheitsbegriff. 69 Hegel, Enzyklopädie II, Werke 9, 521 (§ 371 Z). 70 Ebd., 520 (§ 371). 71 Ebd., 522 (§ 371 Z). 72 Vgl. Hegel, Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse, Werke 4, 41: „Der Organismus befindet sich im Zustande der Krankheit, wenn eine in ihm gesetzte Potenz von ihm nicht überwältigt werden kann“. 67

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(4) Die Religion, so hat Schleiermacher in den „Reden“ formuliert, ist weder Metaphysik noch Moral. „Sie begehrt nicht, das Universum […] zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht […] es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral.“73 Weil Religion „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“74 ist und ihren anthropologischen Ort im Gefühl hat, reflektiert Schleiermacher auch Vollkommenheit und Fragmentarität konsequent in Bezug auf das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und die in ihm gesetzte Gottesbeziehung. Vollkommenheit ist für ihn deshalb weder sittliche noch spekulative Vervollkommnung. Sie wird von ihm vielmehr theologisch als ursprüngliche, durch die Sünde gestörte und im Glauben wieder angeeignete relationale Vollkommenheit gedeutet. Die ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen ist für Schleiermacher nichts anders als die durchgängige Bezogenheit und Bestimmung aller Gestalten des menschlichen Selbstbewusstseins auf und durch das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Sie bestehe darin, „daß die Gesamtheit des endlichen Seins, wie sie auf uns einwirkt, und so auch die aus unserer Stellung in derselben hervorgehenden menschlichen Einwirkungen auf das übrige Sein dahin zusammenstimmt, die Stetigkeit des frommen Selbstbewußtseins möglich zu machen.“75 Diese Vollkommenheit sei allerdings durch die Sünde gestört.76 Durch sie werde die durchgängige Bezogenheit und Bestimmtheit des Selbstbewusstseins auf bzw. durch das Gottesbewusstsein eingeschränkt. Sünde sei die Hemmung der freien Entwicklung des Gottesbewusstseins.77 In der Begegnung mit Christus und in der Aufnahme in die Lebensgemeinschaft mit ihm werde die Bezogenheit auf und die Gemeinschaft mit Gott wieder hergestellt. Nach Schleiermacher besteht deshalb der Glaube „in der Aneignung der Vollkommenheit und Seligkeit Christi“.78 Vollkommenheit ist bei Schleiermacher keine ontologische, ethische oder spekulative Kategorie. Vielmehr eine relationale. Eine Beziehungskategorie des Gottes-, Selbst- und Weltverhältnisses.79 Eine ontische Perfektibilität des Menschen wird von Schleiermacher strikt verworfen.80 Stattdessen ————— 73

Schleiermacher, Über die Religion, KGA I/2, 211. Ebd., 212. 75 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 307 (§ 57,1). 76 Vgl. zu Schleiermachers Sündenverständnis: Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, insbesondere 247–254. 77 Vgl. Schleiermacher, ebd., 355 (§ 66,1). 78 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 153 (§ 108, Leitsatz). 79 Vgl. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 223: „Schleiermachers Bestimmung der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen und der Welt formuliert insgesamt die Bedingung der Möglichkeit des religiösen Selbstverhältnisses und […] des religiösen Weltverhältnisses.“ 80 Schöpfungstheologisch, so argumentiert Schleiermacher, könnte alles ,„was unmittelbar mit der Vergänglichkeit des menschlichen Einzellebens zusammenhängt, […] höchstens als eine unvermeidliche Unvollkommenheit aufgefaßt werden“ (Schleiermacher, ebd., Bd. 1, 414 (§ 75,3). 74

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Fragmentarität

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ist für ihn die relationale Perspektive leitend für das menschliche Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit. Dieses Bewusstsein reflektiert er in der doppelten biblischen Perspektive schöpfungstheologischer und hamartiologischer Begrenzung. Ausführlich widmet sich Schleiermacher der kreatürlichen Endlichkeit des Menschen. „Erregungen des Selbstbewußtseins“, schreibt er, „welche Lebenshemmungen ausdrücken, sind vollkommen ebenso in die schlechthinnige Abhängigkeit von Gott zu stellen wie diejenigen, welche eine Lebensförderung ausdrücken.“81 Der Hinweis auf beides, auf den Gegensatz und das Wechselspiel „zwischen heiteren und trüben Lebensmomenten“82 ist von zentraler Bedeutung. So resultierten die natürlichen Übel aus dem Verhältnis Lebensentwicklung und -rückgang. „Zu dem Vergänglichen […] gehören auch die Einzelwesen in der Form einer erst bis zu einem gewissen Gipfel fortschreitenden Lebensentwicklung, von da aus aber bis zum Tode sich allmählich verringernden Lebenstätigkeit.“83 Beides, die Förderungen und die Hemmungen, gehörten zur natürlichen Konstitution des Menschseins und könnten nicht ohne das jeweils andere sein. Als gesamter Lebenslauf ebenso wie im „zufälligen Wechsel zwischen beidem während des ganzen Verlaufs“.84 Daneben existierten auch gesellige Übel, solche also, die aus intersubjektiven Verhältnissen resultieren. Jede soziale Interaktion, so argumentiert Schleiermacher, ist ein Bedingungsverhältnis: die individuellen Interaktionspartner bedingen einander und werden durch die Anderen bedingt. „Nun aber ist ein anderes nur durch mich bedingt, wenn es irgendwie gefördert werden kann nur durch mich, worin aber zugleich liegt, daß ich auch hemmend sein kann.“85 Beides, die Möglichkeit zur Lebensförderung und zur Lebenshemmung konstituieren soziale Interaktionsverhältnisse. Wachstum und Vergänglichkeit, Lebensförderung und Lebenshemmung gehören so für Schleiermacher – als natürliche und soziale Phänomene – gleichermaßen zur ursprünglichen Schöpfung. Deren Fragmentarität liege im Wechselverhältnis beider. Gott habe nicht Übel und Güter je für sich geordnet, „sondern jedes ist von Gott dazu geordnet, daß es beides sei“.86 Dabei werden Endlichkeitserfahrungen auch nicht als durchgängige Lebenshemmungen wahrgenommen, weil durch sie das menschliche Gottesverhältnis und dessen Prägungskraft nicht gestört werden. „Dies gilt selbst von dem natürlichen Tode und den ihm als Krankheit und Schwäche voran————— 81 82 83 84 85 86

Ebd., 242 (§ 48, Leitsatz; Hervorhebung von mir, U.L.). Ebd., 242 (§ 48,1). Ebd., 245 (§ 48,2). Ebd. Ebd. Ebd., 246 (§ 48,2).

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gehenden leiblichen Lebenshemmungen, indem, was dem leitenden und bestimmenden höheren Bewußtsein nicht mehr dienen kann, auch nicht gewollt wird.“87 Die mit der Sünde verbundene Störung und Abschneidung der prägenden Kraft des Gottesverhältnisses führe allerdings zu einer gravierenden Wahrnehmungsänderung. Die eigene, endliche Existenz erscheine jetzt in einem anderen, einem bedrohlichen Licht. Weil mit dem Gottesbewusstsein diejenige Instanz an Einfluss verloren hat, die ein verbindendes Bewusstsein der dissonanten Welt- und Selbsterfahrungen ermöglicht hätte, werde nunmehr die Lebenshemmung dominant als Übel wahrgenommen. Das gelte für natürliche Endlichkeitserfahrungen ebenso wie für soziale. Eine weitere Folge der gestörten Integration der Erfahrungsvielfalt in ein vom Gottesbewusstsein geprägtes Gesamterleben bestehe nun zugleich darin, dass die Lebenshemmungen isoliert wahrgenommen werden, nicht mehr im Horizont der Gottesbeziehung eingeordnet werden können und deshalb Furcht auslösen. Auf diesem hamartiologischen Hintergrund steht dann Schleiermachers These, „daß ohne die Sünde in dieser Welt nichts sein würde, was mit Recht für ein Übel gehalten werden könnte“.88 Die im Glauben hergestellte Lebensgemeinschaft mit Christus, die Schleiermacher unter den Begriffen der Wiedergeburt und der Heiligung behandelt, wird von ihm als in jedem Moment neu sich vollziehende Überwindung des alten Lebens durch das neue reflektiert, als fortwährendes Ergriffenwerden durch Christus. Sie sei die Realisierung der ursprünglichen Vollkommenheit unter den Bedingungen bleibender Unvollkommenheit. „Sofern ein jeder Moment als eine Erneuerung der Wiedergeburt angesehen werden kann, ist auch jeder dem anderen gleich und in jedem eine Teilnahme an der Vollkommenheit und Seligkeit Christi.“89 Andererseits bleibe das Leben des Wiedergeborenen unter dem Einfluss der Sünde. „Dementsprechend ist denn auch das wirkliche einzelne Selbstbewußtsein in manchen Momenten Leidwesen, […] in anderen ist es Freude“.90 Beide würden aber durch die Teilnahme an der Vollkommenheit Christi im Glauben verändert bzw. spezifisch geprägt: das Leiden könne angenommen und bewältigt werden, die Freude werde gerechtfertigt. Schleiermachers Leistung besteht darin, dass er die biblische Doppelperspektive erneuert und mit seinem Ansatz relationaler Subjektivität verbunden hat. Die Vollkommenheitsvorstellung wird dadurch im Ansatz verwandelt. Sie bezeichnet keine ontologische Perfektibilität sondern eine Voll————— 87 88 89 90

Ebd., 412 (§ 75,1). Ebd., 414 (§ 75,3). Ebd., Bd. 2, 188 (§ 110,3). Ebd., 188 (§ 110,3).

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Fragmentarität

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kommenheitsbeziehung. Diese im Glauben erneuerte Beziehung lässt die menschliche Fragmentarität erkennen und annehmen. Tatsächlich kann man erst von Schleiermachers Theologie – wie überhaupt von der romantischen Bewegung – sagen, dass sie die Vollkommenheitsidee verabschiedet habe.91 Für Schleiermacher lässt sich zugespitzt formulieren: Die Vollkommenheit des Menschen besteht gerade darin, dass er aus der Glaubensbeziehung heraus seine Unvollkommenheit und Endlichkeit sieht und bejaht. Ausdrücklich weist Schleiermacher darauf hin, dass Lebenshemmung und Lebensförderung gleichermaßen zum menschlichen Endlichkeitsbewusstsein gehören. Auch in seinem Gesundheitsverständnis distanziert er sich von einer einseitigen Überbetonung von Selbsttätigkeit und Stärke einerseits wie von Empfänglichkeit und Schwäche andererseits. Gesundheit, so schreibt er, sei ein Phänomen, das „gleich weit entfernt ist von einseitiger Stärke oder Meisterschaft einzelner leiblicher Funktionen und von krankhafter Schwächlichkeit, als durch welche beide die gleichmäßige Tüchtigkeit der Organisation für alle Forderungen des Willens verringert wird“.92 Nicht die Abwesenheit jeglicher Beeinträchtigungen macht offenbar Gesundheit aus, sondern die Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Umgang mit den gegebenen leiblichen Funktionen zu einer „gleichmäßigen Tüchtigkeit der Organisation“. Bei Schleiermacher deutet sich damit bereits ein Verständnis von Gesundheit an, das mit einer Formulierung Dietrich Rösslers mittlerweile einflussreich geworden ist: „Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen, Gesundheit ist die Kraft, mit ihnen zu leben.“93

8.5 „Grenzen des Menschseins“ zwischen Geschöpflichkeit und Sünde. Aspekte des aktuellen theologischen Diskurses „Daß mit der Zeitlichkeit die Endlichkeit des Menschen gegeben sei und daß darum die Endlichkeit […] nicht die Folge seines Widerspruchs gegen Gott sei, dies gehört zu den wirkungsgeschichtlich folgenreichsten Thesen der Glaubenslehre Schleiermachers.“94 Konrad Stock eröffnet mit dieser Einschätzung seine Erörterung von Karl Barths Theologie der Zeitlichkeit. Gerade Barth, der den theologischen Grundentscheidungen Schleiermachers —————

91 Temilo van Zantwijk hat dies am Beispiel Friedrich Schlegels herausgearbeitet (vgl. ders., Das Ende der Vervollkommnungsidee, 67). Allerdings scheint mir diese Verabschiedung nicht schon im nachkantischen Idealismus, sondern tatsächlich erst in der Romantik vollzogen worden zu sein. 92 Schleiermacher, ebd., Bd. 2, 81 (§ 98,2). 93 Rössler, Der Arzt zwischen Technik und Humanität, 63. 94 Stock, Anthropologie der Verheißung, 220.

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radikal opponiert hat, hat an dieser Stelle keinen Einspruch gegen die „Glaubenslehre“ erhoben. Vielmehr hat auch er die biblische Doppelperspektive geltend gemacht, die den Tod sowohl als Gericht wie auch als kreatürliche Grenze des Menschen begreift. So sieht Barth im Tod einerseits das „Zeichen des Gerichtes Gottes über uns“.95 Dieser Gerichtscharakter gehöre aber andererseits nicht notwendig zum Wesen des Todes. „Es gehört auch zu des Menschen Natur, es ist auch Gottes Schöpfung, die es so bestimmt und geordnet hat und es ist insofern gut und recht so, daß das Sein des Menschen endlich, daß der Mensch sterblich ist.“96 Die Unterscheidung eines „natürlichen Todes“ von einem „Gerichtstod“ bzw. „Fluchtod“ hat in der Theologie des 20. Jahrhunderts Resonanz gefunden. In zahlreichen theologischen Entwürfen ist sie zu finden. Allerdings bleibt sie, wie meine kurze Skizze des theologischen Diskurses zeigt, auch in aktuellen Konzepten nicht unwidersprochen. Die theologische Reflexion der „Grenzen des Menschseins“ zwischen Schöpfungstheologie und Hamartiologie kommt zu erkennbar unterschiedlichen Akzentuierungen. (1) Wolfhart Pannenberg reflektiert die Fragmentarität des Menschen in den unterschiedlichen Dimensionen seiner Endlichkeit, Gebrochenheit, Entfremdung und Vergänglichkeit. Mit seiner Geschöpflichkeit sei die Endlichkeit des Menschen verbunden. Sie sei konstitutiv für die conditio humana und werde auch nicht im Prozess der eschatologischen Vollendung aufgehoben. „Die Beseitigung der Endlichkeit des Menschen schlechthin würde die Beseitigung der Differenz zwischen Gott und Geschöpf bedeuten.“97 Ein Merkmal seiner endlichen Existenz bestehe beispielsweise darin, dass er auf den unverfügbaren Geist Gottes als lebensschaffende und –erhaltende Kraft angewiesen ist. Ohne ihn müsste er augenblicklich sterben. In dieser von außen auf den Menschen einwirkenden Kraft des göttlichen Geistes gründe zugleich der exzentrische und sich selbst transzendierende Charakter des geschöpflichen Lebens.98 Mit ihm ist aber auch die Fragmentarität der menschlichen Identität verbunden. In seiner selbsttranszendierenden Struktur sei die menschliche Identitätssuche auf eine Ganzheit, auf eine umfassende und unverletzte Integrität ausgerichtet. Diese bleibe jedoch im Lebensprozess selbst unabgeschlossen und fragmentarisch. „Dieses Ganze unseres individuellen Lebens ist uns im zeitlichen Prozeß unseres Lebensweges nie schon vollständig gegeben. Wir haben unser Selbst, unsere Identität, immer nur im Vorgriff auf das Ganze unseres Lebens.“99 Obwohl wir dieses Ganze immer nur verzerrt, ————— 95

Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III/2, 725. Ebd., 770. 97 Pannenberg, Tod und Auferstehung in der Sicht christlicher Dogmatik, in: ders., Grundfragen der Systematischen Theologie, Bd. 2, 152f. 98 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 214f. 99 Pannenberg, Tod und Auferstehung in der Sicht christlicher Dogmatik, 153. 96

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Fragmentarität

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aus unserer jeweiligen individuellen und zeitlichen Perspektive antizipieren, sei dennoch „im Fragment das Ganze schon anwesend“.100 Erfahrungen der eigenen Begrenztheit gründen also erstens in der unhintergehbaren Endlichkeit des geschöpflichen Daseins. Ein zweiter Aspekt besteht darin, dass das menschliche Leben dem göttlichen Lebens-Geist nicht uneingeschränkt verbunden sei. „Wir alle kennen Stunden der Niedergeschlagenheit und des Mißmuts. Wir erleben Augenblicke, in denen uns unser Leben als bar aller wahrhaften Einheit und Bedeutung erscheint. Konflikte treten auf, Unterdrückung und Gewalt zwischen Individuen und in den Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft. Da finden sich Versagen und Schuld, Unfähigkeit, Krankheit und Tod. Daneben blitzen Augenblicke eines sinnvollen und glücklichen Lebens auf, aber nur in fragmentarischer Gestalt, und im Augenblick des Todes bleibt die Ganzheit unseres Lebens eine offene Frage.“101 Dissonanzerfahrungen haben ihren Grund demnach zweitens in der nur begrenzten Partizipation des Menschen an der Macht des Geistes. Pannenbergs Formulierungen beziehen sich dabei auf Endlichkeitserfahrungen in einem sehr weiten Sinn. Schuldhaftes Versagen wird ebenso einbezogen wie Gefühle der Leere oder das Erleben von Krankheit. Allerdings dürfte sich darin weniger eine versehentliche Unschärfe als vielmehr eine maßgebliche Intention Pannenbergs ausdrücken. Dissonanzerfahrungen führt er in hohem Maße auf die Gebrochenheit des Menschen und die ihr zu Grunde liegende Selbstverfehlung zurück. „Die fundamentale Gebrochenheit der menschlichen Daseinsform“ sieht er darin, „daß die Spannung zwischen zentraler Organisationsform und Exzentrizität immer schon zugunsten der ersteren, zugunsten der Zentralinstanz des Ich, aufgelöst ist, statt umgekehrt durch Aufhebung des Ich in den Vollzug seiner wahren, exzentrischen Bestimmung.“102 In dieser Verkehrung des Verhältnisses zwischen dem Ichzentrum und der exzentrischen Struktur verfehle der Mensch seine Bestimmung und damit sich selbst. In der Gebrochenheit seines Selbst-, Welt- und Gottesverhältnisses gerate er unter eine umfassende Entfremdung, die sich auch in gesellschaftlichen Strukturen niederschlägt. Dieser „Zustand der Entfremdung macht sich dem Menschen bemerkbar in Gefühlen des Unbehagens und Mißmuts oder auch der Angst und einer allgemeinen Depression“.103 Erfahrungen der Zweideutigkeit und Dissonanz gründen demnach vor allem in der sündhaften Selbstverstrickung des Menschen. Auch Krankheiten und Tod deutet Pannenberg vor diesem Hintergrund. Ausdrücklich widerspricht ————— 100 101 102 103

Pannenberg, Anthropologie, 228. Pannenberg, Der Geist des Lebens, in: ders., Glaube und Wirklichkeit, 55. Pannenberg, Anthropologie, 103. Ebd., 278.

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er der Auffassung eines „natürlichen Todes“ und hält ihr entgegen, dass „der Tod nicht notwendig zur Endlichkeit geschöpflichen Daseins“104 gehöre. Die eschatologische Hoffnung richte sich vielmehr auf ein endliches Dasein ohne Tod. „Im Unterschied zur Endlichkeit geschöpflichen Daseins ist der Tod nur in Verbindung mit der Sünde Bestandteil der Schöpfung Gottes.“105 Das gleiche scheint für Pannenberg auch in Bezug auf Krankheiten zu gelten. Sie stellten eine „Auflösung der Selbstintegration“106 dar, wobei der Tod „das Endergebnis solcher Auflösung des Organismus“107 sei. Krankheit und Tod ließen sich so gleichermaßen als Folge der Sünde verstehen. In einem späteren Text lockert Pannenberg allerdings den unmittelbaren Zusammenhang von Krankheit, Vergänglichkeit und Sünde. Mit Bezug auf Röm 8,20 heißt es jetzt: „Vergänglichkeit kennzeichnet also das Leben der ersten Schöpfung. Das unvergängliche Leben hat erst Jesus Christus, der zweite Mensch gebracht.“108 Die Vergänglichkeit sei deshalb für die menschlichen Leidenserfahrungen ursächlich. „Das Leiden an der Vergänglichkeit ist die Grundform des Leidens: Sie konkretisiert sich in allen besonderen Formen des Leidens durch Krankheiten, Verletzungen, Versagungen aller Art.“109 Das menschliche Leiden, so sagt Pannenberg jetzt ausdrücklich, sei „nicht nur Folge der Sünde, sondern Ausdruck dafür, daß wir der Ganzheit des Lebens entbehren.“110 Mit den letztgenannten Formulierungen hat Pannenberg eine nicht unmaßgebliche Änderung vorgenommen. Seine bis dahin vertretene Position, die Dissonanzerfahrungen in hohem Maße mit der Selbstverfehlung des Menschen in Verbindung gebracht hatte, war im Wesentlichen systematisch begründet: die Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit gilt ihm als richtungsweisend für den Prozess der Selbstintegration, während die Sünde diese Bestimmung zerstöre.111 Da am Ende der Geschichte die Auferstehung von den Toten und die Vernichtung des Todes steht, lag es nahe, die Vergänglichkeit in dem von Paulus hergestellten Zusammenhang von Sünde und Tod zu interpretieren (vgl. Röm 6,23). Gegen diese Deutung lässt sich einwenden, dass sie von der Voraussetzung eines kontinuierlichen Geschichtsprozesses ausgeht, der in der Auferstehung von den Toten seine ————— 104

Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 311. Ebd., 313. 106 Pannenberg, Anthropologie, 138. 107 Ebd., 139. 108 Pannenberg, Die christliche Deutung des Leidens, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 2, 251. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Pannenberg, Anthropologie, 139. 105

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Vollendung findet und nur durch die menschliche Verfehlung entfremdet wird. Die paulinische Auferstehungstheologie geht aber demgegenüber von einer Diskontinuität zwischen dem verweslichen natürlichen und dem unverweslichen himmlischen Leib aus: „wir werden […] alle verwandelt werden“ (1Kor 15,51). Darüber hinaus würde Pannenbergs enge Verknüpfung von Fragmentarität und Sünde dazu führen, auf Leiderfahrungen mit der Suche nach Selbstverfehlungen zu reagieren. Pannenbergs spätere Lockerung dieses ursprünglich engen Zusammenhangs wird demgegenüber sowohl der biblischen Tradition als auch der Lebenserfahrung in weit höherem Maße gerecht. (2) Der Mensch ist „eine Antwort […] zu der wir die Frage noch nicht hinreichend kennen“.112 Er ist keineswegs das undefinierbare, sondern vielmehr das durch die Menschwerdung Gottes definierte Wesen. Eberhard Jüngel bringt mit seiner theologischen Opposition gegenüber der These von der radikalen Fraglichkeit des Menschen zur Geltung, dass der Mensch von außerhalb seiner selbst her zum Menschen wird.113 Er ist ein Wesen, das sich selbst gegeben ist und sich darin einem anderen, Gott, verdankt. Darin liege auch die Begrenzung des Menschseins. Sie sei eine doppelte, eine ewige und weltliche. „Indem der sich zu sich selbst verhaltende Gott sich zum Menschen verhält, wird der Mensch ewig begrenzt.“114 Indem er den Menschen zugleich „sich zu sich selbst verhalten läßt, wird der Mensch weltlich begrenzt“.115 Im Gottesverhältnis gründet also die ewige, im Selbstverhältnis die weltliche Begrenzung der conditio humana. Im ersten Fall wird sie durch Gottes Gnade, im zweiten Fall durch Zeit und Raum begrenzt. Beide sind strikt unterschieden – und dennoch gründlich auf einander bezogen. Denn: „Um des Ereignisses der Liebe Gottes am Menschen willen ist der Mensch als Welt-Wesen durch […] Zeit und Raum ontologisch begrenzt.“116 Die Liebe Gottes bestehe darin, dass er dem Menschen Lebenszeit und Lebensraum einräumt. Deshalb sei die Gewährung von Zeit und Raum nichts anderes als eine Wohltat Gottes. Der Mensch sei also „von einem ihn um seiner selbst willen wollenden und bejahenden Schöpfer begrenzt“.117 Er komme von Gott her und gehe auf Gott zu. Während die Geburt die anfängliche Begrenzung der Lebenszeit und des Lebensraumes eines Menschen durch Zeit und Raum darstelle,118 sei der Tod als Lebens————— 112 113 114 115 116 117 118

Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, in: ders., Entsprechungen, 296. Vgl. ebd.; ders., Was ist der Mensch?, 81. Jüngel, Grenzen des Menschseins, in: ders., Entsprechungen, 355. Ebd., 356. Ebd., 358. Jüngel, Meine Zeit steht in Deinen Händen, in: ders., Indikative der Gnade, 66. Vgl. Jüngel, Grenzen des Menschseins, 359.

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grenze das Ende seiner Lebenszeit und seines Lebensraumes.119 Der Mensch bleibe aber auch im Tod durch Gott, der sich zu ihm verhält, ewig begrenzt. Deshalb könne der „weltlich begrenzte Mensch dem Ende seiner weltlichen Begrenzung im eigenen Tod getrost entgegenleben“.120 Jüngel sieht in der menschlichen Begrenzung durch Zeit und Raum keine tragische sondern eine tröstliche Wahrheit.121 Sie mache den Menschen nicht klein sondern groß und gebe ihm die Gelegenheit zu einer eigenen Identität. „Sie ist […] die Bedingung der Möglichkeit, in der Verantwortung vor Gott ein unverwechselbares eigens Leben zu führen in einer unverwechselbar eigenen Zeit.“122 Für Jüngel liegt in der Begrenzung beides: Endlichkeit und Möglichkeiten. Deshalb sei sie nicht eine zum menschlichen Leben hinzukommende Beschränkung sondern eine unhintergehbare Dimension seiner Bestimmung. Vor diesem Hintergrund wird man davon auszugehen haben, dass Jüngel sowohl die Momente menschlicher Schwäche als auch Ausdrucksformen ihrer Stärke zur menschlichen Endlichkeit und Begrenztheit hinzuzählt. Begrenzung ist für ihn nichts Defizitäres, sondern Bedingung der Möglichkeit, die Bestimmung des Menschseins zu erfüllen. Dazu gehörten Momente des Gelingens und Erfahrungen des Scheiterns gleichermaßen. Leben in den Grenzen des Menschseins bedeutet auf diese Weise beides: – die Anerkennung der Tatsache, dass dem Menschen seine als Welt gesetzten Grenzen ebenso entzogen sind wie sein eigenes Sein; – die Veränderung seiner in der Welt gesetzten Grenzen in verantwortlicher Grenzüberschreitung und Selbstbegrenzung.123 Auch Leiden gehört zum Menschsein hinzu. Aber es gehört nicht zu den Begrenzungen, die der Mensch einfach nur hinzunehmen oder anzunehmen habe. Jüngel hält fest, „daß sich Leiden nicht verstehen lässt“.124 Menschen seien ihm ausgeliefert und erführen sich als Leidende auf sich selbst zurückgeworfen. „Im Leiden erfahren wir auf schmerzhafte Weise denjenigen Identitätsverlust, den wir im Tod dann definitiv erleiden.“125 Die Bibel gebe aber bezeichnenderweise dem Leiden keinen Sinn und keine Rechtfertigung. Sie lenke vielmehr den Blick auf die Passionsgeschichte Jesu und bestimme vor diesem Hintergrund die menschliche Einstellung zum Leiden neu. Das führe einerseits zum Bewusstsein, in der „Gemeinschaft der Lei————— 119

Vgl. ebd., 361. Ebd. 121 Vgl. Jüngel, Meine Zeit steht in Deinen Händen, 61. 122 Ebd., 66. 123 Jüngel, Grenzen des Menschseins, 360. 124 Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, in: ders., Beziehungsreich, 29; ebenso ders., Homo patiens – Deus patiens, 39. 125 Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, ebd. 120

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Fragmentarität

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den“ Christi zu stehen (Phil 3,19). Andererseits werde den Glaubenden „eine kompromißlose Gegnerschaft gegen das menschliche Elend zugemutet“.126 Darüber hinaus bestehe der Blickwechsel des Glaubens aber auch darin, im Leidenden den würde-vollen Menschen zu sehen. „Wer […] in der Passion Jesu Christi Gott als den erkennt, der selber für den Menschen gelitten hat, der glaubt eben damit, dass jeder Mensch ein von Gott gelittener, ein wohl gelittener Mensch ist.“127 Auch und gerade im Anblick des schrecklich entstellten Antlitzes des gekreuzigten Christus werde der Glaube darin gewiss, dass sich in Christus die Würde des Menschen manifestiert habe. Deshalb achte der Glaube gerade in der Schwäche des Menschen dessen Würde. Mit einem Zitat von Ernst Benda macht Jüngel deutlich, zu welchen Konsequenzen dies führt: „Was Menschenwürde wirklich bedeutet, zeigt sich […] in den Strafanstalten, den Häusern der Psychiatrie, den Asylanten- und Obdachlosenherbergen und in den Pflegeheimen.“128 Jüngel vertritt mit seinen Überlegungen zu den Grenzen des Menschseins die These einer geschöpflichen Begrenzung des Lebens. Das Ereignis des menschlichen Todes ebenso wie verschiedene Erfahrungen der eigenen Endlichkeit sind ihm zufolge als „Ausdruck der Endlichkeit des menschlichen Lebens“129 anzusehen. Anders als Pannenberg, der eine starke Verknüpfung zwischen der menschlichen Fragmentarität und ihrer Sündhaftigkeit herstellt, trennt Jüngel die ontologische Begrenzung des Menschseins von ihrer ontischen. Der wirkliche Mensch, der sich vom wahren radikal unterscheidet, tendiere zur Pervertierung und Lädierung seiner tragenden Lebensbeziehungen. Das Resultat dieser Rücksichtslosigkeit sei regelmäßig die Verhältnislosigkeit, mit der die Bibel die Sünde bezeichnet.130 Der Drang in die Verhältnislosigkeit sei aber nichts anderes als der Drang in den Tod, der die schlechthinnige Verhältnislosigkeit darstelle. „Der Tod als Ereignis am Ende des Lebens bringt nur an den Tag, was im Verlauf des Lebens schon […] immer geschieht: nämlich die Lädierung und Zerstörung von Lebensverhältnissen.“131 Leiden, Verletzungen, Abbrüche und Scheitern sind deshalb keineswegs nur Ausdruck der geschöpflichen Begrenzung des Menschseins. Sie können ebenso aus der sündhaften Verstrickung des Menschen resultieren. Umgekehrt sei es auch die rücksichtslose Realisierung seiner Lebensverhältnisse, die den Menschen seine Begrenzung als Bedrohung wahrnehmen lasse. „Der dunkle Schatten, den der Tod faktisch auf das Leben wirft, ist nichts anderes als die unheimliche Vergrößerung ————— 126 127 128 129 130 131

Ebd., 34; ebenso ders., Homo patiens – Deus patiens, 52. Jüngel, Hoffen, Handeln – und Leiden, 35. Benda, Würde des Menschen – Würde des Lebens, zitiert nach: Jüngel, ebd., 36f. Jüngel, Tod, 145. Vgl. Jüngel, Meine Zeit steht in Deinen Händen, 66. Vgl. Jüngel, Der Tod als Geheimnis des Lebens, in: ders., Entsprechungen, 341.

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des ursprünglicheren Schattens, der von unserem in die Verhältnislosigkeit drängenden Leben her auf unser Ende fällt und von daher dann als Angst vor dem Ende auf das Leben zurückfällt.“132 Deshalb nehme der Mensch seine Beschränktheit, Begrenztheit und Befristetheit, die doch eigentlich eine tröstliche Wahrheit sein könnten, als Bedrohung und Anlass zur Klage und Verzweiflung wahr. Begrenztheit, so lässt sich Jüngels Position zusammenfassen, resultiert zunächst aus Gottes Verhältnis zum Menschen und stellt die Bedingung der Möglichkeit für die Verwirklichung der geschöpflichen Bestimmung des Menschen in einem beziehungsreichen Leben dar. Aufgrund seines Dranges in die Verhältnislosigkeit verfehle der Mensch diese Bestimmung jedoch und begrenzt dadurch sich und seine Lebenswahrnehmung. Der Glaube an Gottes Selbstbegrenzung in Jesus Christus ermögliche es dem Mensch jedoch, sein begrenztes Leben als von Gott bejahtes, in seiner Lebenszeit und in seinem Lebensraum von Gott herkommendes und auf ihn zulaufendes Leben anzunehmen und zu gestalten. Jüngel gelingt es, die Endlichkeit als Bedingung der Möglichkeit des Menschseins zu reflektieren und dabei sowohl ihre Möglichkeiten als auch Begrenzungen zu reflektieren. Zugleich macht er deutlich, dass die Passion Christi zu einer veränderten Sicht auf das menschliche Leid führt: zum Trost, in der „Gemeinschaft der Leiden“ Christi zu stehen und zugleich zu einer aktiven Gegnerschaft gegen das Leid. (3) „Meine Zeit steht in deinen Händen“. Das Bekenntnis des 31. Psalms kann auch als Überschrift zu Eilert Herms’ Reflexion der menschlichen Befristung stehen. Zeit ist für ihn ein Phänomen, das kein besonderes neben anderen ist, sondern ein „Erscheinen von Erscheinendem zweiter Ordnung“.133 Mit ihm werde der transzendentale Sachverhalt des Erscheinens des Einzelnen thematisiert. Zeit sei deshalb ursprünglich Zeit Gottes. „Meine Zeit“ sei dagegen die mir von ihm gewährte und mich bestimmende Zeit. Sie entspringe einem Selektionsakt Gottes. „Das heißt: das ewige Leben des Schöpfers setzt durch sich selbst in seine schöpferisch-unvergängliche Dauer die begrenzte Dauer eines bestimmten endlichen Lebens (Werdens).“134 Menschliches Leben sei mithin befristet. Es sei „ein Werden, das begrenzt ist auf die Frist zwischen seinem Angefangensein und seinem Erschöpftsein“.135 Herms kennzeichnet dieses befristete Leben durchgängig als einen Prozess des Werdens. Menschen seien bestimmt zu einer fortwährenden selektiven Verwirklichung wählbarer Möglichkeiten in ihrer jewei————— 132 133 134 135

Jüngel, Meine Zeit steht in Deinen Händen, 67. Herms, „Meine Zeit in Gottes Händen“, 72. Herms, Art. Zeit, 543. Ebd.

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ligen Gegenwart. Daraus resultiere ein Prozess, „d.h. ein Werden als Schritt von einem Gewordensein zu einem weiteren Gewordensein“.136 Dabei verändere sich das Verhältnis zwischen dem Werden und dem Gewordenen: während die Seite der wählbaren Möglichkeiten permanent ausgedünnt werde, reichere sich diejenige des Gewordenen an.137 Das menschliche Leben als Prozess eines solchen Werdens strebe insofern sein eigenes Vollendetsein an. Der menschliche Werde-Prozess vollzieht sich nach Herms im Medium der Leiblichkeit, insofern nur leibliche Individuen selektiv und interaktiv tätig werden können. Als leiblicher sei der Mensch zum Werden, d.h. zum Reifen, Altern und Sterben bestimmt.138 Körper und Geist als die beiden Dimensionen der menschlichen Leiblichkeit seien dabei Sphären relativer Abhängigkeit und relativer Freiheit. Der Körper ist für Herms „der Grund unserer Verletzlichkeit durch die physische und soziale Umwelt“. In ihm „manifestiert sich die Begrenztheit unserer Bewegungsfreiheit, unsere ‚Erdenschwere‘ […]. Im Körper zeigt sich die Endlichkeit unseres Daseins, die Begrenztheit unserer Möglichkeiten und Kräfte.“139 Allerdings zeige sich andererseits die Freiheit des Körpers darin, dass er auf kausalgesetzliche Prozesse einzuwirken vermag. Herms legt Wert darauf, dass der Körper nicht abwechselnd abhängig und frei ist, sondern „sondern stets (auch in der Krankheit!) […] beides zugleich: als Sphäre einer Abhängigkeit […] und als Sphäre einer Freiheit“.140 Daraus resultiert Herms’ Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Beides sind leibliche, d.h. körperliche und geistige Faktoren gleichermaßen umfassende Phänomene. In beiden gehe es um das naturgemäße Zusammenwirken einzelner leiblicher Faktoren und ihres Zusammenhangs. Während Krankheit den „naturwidrigen Zustand unseres leibhaften Existierens“ bezeichnet, bezeichnet Gesundheit deren naturgemäßes Existieren. Sie sei allerdings nicht utopisch als Zustand eines völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens zu definieren, sondern als ein relatives Wohlbefinden, das uns ein Leben mit Störungen erlaube.141 Die den Menschen bestimmende Zeit und die mit ihr verbundene Erfahrung relativer Freiheit und Abhängigkeit stelle sich allerdings im menschlichen Selbsterleben als ambivalent dar. Diese Ambivalenz bestimme das affektive Erleben ebenso wie die menschlichen Hoffnungen und Befürch————— 136

Herms, Das Diktat der Zeit, 663. Vgl. ebd., 667. 138 Vgl. Herms, Der Leib als Symbol von Freiheit und Abhängigkeit, in: ders., Sport, 18. 139 Ebd., 16. 140 Ebd. 141 Vgl. ebd., 24, Anm. 10; weiterhin: Herms, Das christliche Verständnis vom Menschen in den Herausforderungen der Gegenwart, 56. 137

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tungen. „Die durch mich bestimmte Zeit ist durch diese Deformation geprägt“.142 Anders gesagt: durch die Sünde. Diese ist für Herms eine Perversion des Selbstverständnisses, durch die alle Existenzvollzüge geprägt werden.143 Erst die Begegnung mit dem Evangelium Jesu Christi kann diesen fundamentalen Trug auflösen. Im Glauben erschließe sich, dass „meine Zeit in Gottes Händen“ steht. Sie erschließe sich dann nicht nur als die Zeit meines Werdens und meines Versöhntwerdens sondern auch als die Zeit meines Vollendetwerdens.144 Für Herms vollendet sich im Sterben das bestimmungsgemäße Leben das Menschen. Das Ziel des menschlichen Lebens besteht für ihn in der Entsprechung des menschlichen Verhaltens und Gottes Verhaltens. Dies realisiere sich in der Hingabe des menschlichen Verhaltens an das Verhalten Gottes. „Und dies wiederum in vollkommener und restloser Weise, wenn der Mensch stirbt. Der Mensch […] ist dazu bestimmt, zu sterben. Und das meint nicht, sein Leben zu negieren, sondern es zu führen und zu vollenden, um schließlich in jenen großen Sabbat und Ruhetag einzugehen, an dem das Verhalten des Menschen zur Welt und zu sich selbst ganz und gar seinem Schöpfer überlassen ist.“145 In seiner Vollendung im Tod werde das menschliche Leben ganz.146 Auch Herms bringt die Doppelperspektive schöpfungstheologischer und hamartiologischer Endlichkeit zur Geltung. Allerdings hat er seine schöpfungstheologischen Überlegungen mit einer Ontologie der Zeitlichkeit und des Werdeprozesses verbunden. Dies scheint mir mit einer problematischen Harmonisierung der menschlichen Endlichkeitserfahrungen einher zu gehen. Insbesondere die Vollendung und Ganzwerdung147 des menschlichen ————— 142

Herms, „Meine Zeit in Gottes Händen“, 86. Vgl. Herms, Der Leib als Symbol, 23. 144 Vgl. Herms, „Meine Zeit in Gottes Händen“, 90. 145 Herms, Der Leib als Symbol, 17. 146 Vgl. ebd., 22; ders., Art. Zeit, 546f. 147 Für Herms ist die Dogmatik der „Begriff derjenigen Ganzheit des Wirklichen, innerhalb deren die Existenz jeder endlichen Person ihre individuelle Ganzheit gewinnt“ (Herms, Ganzheit als Geschick, in: ders., Phänomene des Glaubens, 184). Schöpfungstheologisch reflektiere sie dabei einen kontinuierlichen Prozess physischen Werdens, der „durch selektive Fixierung von systembildenden Selektionsprozessen“ geregelt sei und deshalb nur Systeme entstehen lasse, „die durch das Prinzip ihrer Bildung selbst zum Altern und Vergehen bestimmt“ (ebd., 197) seien. So erschließe sich auch leibhaften Personen der Prozess ihres Leibes als körperliches System: „Nur weil dieser Prozeß selbst als Prozeß der Entwicklung eines wachsenden und alternden Systems geordnet ist, nur deshalb kann durch ihn der Person Ganzheit widerfahren. Die ihr durch in widerfahrende Ganzheit schließt die geordnete Abfolge aller Phasen dieses Prozesses ein, keine kann fehlen, keine ist ohne die andere, keine verdrängt die andere. Die Jugend ist hingeordnet aufs Alter und dieses bestimmt durch die Jugend“ (ebd., 198). Eschatologisch gehe es dann um die Wirklichkeit als das „Gewordensein derjenigen Ganzheit, die jetzt im Werden ist: der Ganzheit des leibhaften Personseins“ (ebd., 202). Die Zitate führen noch einmal das Konzept von Herms’ Phänomenologie vor Augen: es geht von einem teleologischen Prozess des Werdens des Lebens aus, der im Tod seinen terminus ad quem findet. Dieser Prozess hat einerseits die Dimension biologischer 143

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Lebens im Tod leuchtet mir auch vor dem Hintergrund von Herms’ Voraussetzungen nicht ein. Gerade die von ihm vielfach akzentuierte menschliche Relationalität legt andere Schlussfolgerungen nahe. Indem dem Menschen im Sterben alle Beziehungen – mit Ausnahme der Gottesbeziehung – entrissen werden, wird das Leben im Tod nicht ganz sondern abgebrochen. Der Tod ist nicht der Vollender sondern der Vernichter des irdischen menschlichen Lebens. Paulus deutet deshalb den Tod nicht als Vollendung, sondern als Abbruch und Verwandlung: „Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel“ (2Kor 5,1). Auf Grund dieser m.E. problematischen Ontologisierung scheint mir Herms’ Theologie der Befristung gegenüber den zahllosen Leidenserfahrungen an der menschlichen Befristung, der Zerstörung von Lebenszeit oder ihrer zur Unzeit kommenden Vernichtung sprachlos zu bleiben.148 Sie kann zugleich auch die Potentiale des biblischen Gottesglaubens und seiner trinitarischen Reflexion nicht ausschöpfen.

8.6 Befristung. Einräumung. Leiblichkeit. Fragmentarität als Grunderfahrung „Wir sind immer […] gleichsam Ruinen unserer Vergangenheit, Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verronnener Lebenswünsche, verworfener Möglichkeiten, vertaner und verspielter Chancen. Wir sind Ruinen aufgrund unseres Versagens und unserer Schuld ebenso wie aufgrund zugefügter Verletzungen und erlittener […] Verluste […]. Dies ist der Schmerz des Fragments. Andererseits ist jede erreichte Stufe unserer Ich-Entwicklung immer nur ein Fragment aus Zukunft. Das Fragment trägt den Keim der Zeit in sich. Sein Wesen ist Sehnsucht.“149 Hennig Luther, von dem diese ————— Systeme, die werden und vergehen. Er hat andererseits die Dimension des personalen Selbstverständnisses. „Der Leib altert, das Herz nicht. Aber es reift“ (ebd., 199). Dieses Konzept des Lebensprozesses scheint mir jedoch der Brüchigkeit und Gebrochenheit, dem Ziellosen und Kontingenten zu wenig Rechnung zu tragen. Die Metaebene, auf der Herms die Struktur evolutiver Prozesse des Lebens reflektiert, sollte m.E. gegenüber den konkreten Erfahrungen von Fragmentarität und Kontingenz geöffnet werden. Darüber hinaus müssten die Auswirkungen solcher Erfahrungen auf das Selbstverständnis von Personen in den Blick genommen und Formen der Auseinandersetzung reflektiert werden. 148 Ein Indiz dafür ist, dass Herms in der Reflexion von Themen, bei denen es sich nahe gelegt hätte, auch den Erfahrungen von Fragmentarität (unterschiedlichster Art) Aufmerksamkeit zu geben, dies unterlassen hat, z.B. Herms, Ganzheit als Geschick, ebd., 171–204; ders., Leben. Wahrnehmen, Verstehen, Erkennen, Gestalten, in: Phänomene des Glaubens, 320–346; ders.; Das Böse. Systematische Überlegungen im Horizont des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, in: ebd., 347–367; ders., Menschenwürde. 149 Luther, Identität und Fragment, 168f.

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Charakterisierung menschlicher Fragmentarität stammt, hat damit eine Debatte über den imperfekten Menschen angestoßen. An den klassischen Identitätstheorien von Mead und Erikson kritisiert er deren Unterstellung einer vollständigen und dauerhaften Ich-Identität. Gegenüber dieser Verkürzung bringt Luther den Glauben als Annahme der prinzipiellen Fragmentarität der Identität zur Geltung: „Glauben hieße […], als Fragment zu leben und leben zu können.“150 Diesen theologischen Blickwechsel vertieft Luther im Durchgang durch zentrale dogmatische Themen: Hamartiologie, Soteriologie, Christologie, Eschatologie und Anthropologie.151 So erkennt er beispielsweise in der gewaltsamen Kreuzigung Jesu in exemplarischer Weise die menschliche Fragmentarität. Der Osterglaube nehme davon nichts zurück, sondern glaube den Auferstandenen als den Gekreuzigten. Anthropologisch wiederum interpretiert Luther den Gedanken der Gottebenbildlichkeit inkarnationstheologisch: „Der Gott, als dessen Ebenbild der Mensch gedacht ist, ist mit Christus nicht mehr der Gott der Stärke, sondern der Schwäche, nicht mehr der Gott der Macht, sondern der Ohnmacht […]. Spätestens die Inkarnationstheologie bedeutet eine Wende im Gottesbild, die anthropologische Folgen hat.“152 Der Mensch als Bild Gottes. „Mit Würd’ und Hoheit angetan, mit Schönheit, Stärk’ und Mut begabt“, heißt es in Haydns „Schöpfung“. Und dieser: ein imperfekter Mensch? Fragil und fragmentarisch? Was für den common sense ein Ärgernis und selbst für große Teile der philosophischen Tradition eine Torheit ist, macht den realistischen Blick der Theologie aus. Das christliche Wirklichkeitsverständnis nötigt zu diesem Blickwechsel. Ich möchte diesen im Folgenden nachzeichnen und theologisch erläutern. (1) Wenn ich im Folgenden einige Aspekte der menschlichen Endlichkeit und Fragmentarität erörtern will, möchte ich zunächst mit der – schöpfungstheologischen – Grunderfahrung der passiven Konstitution des Menschseins beginnen. Schleiermacher hat sie als das in allem endlichen Abhängigkeitsund Freiheitsgefühl mitgesetzte Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit gekennzeichnet. Menschen sind sich selbst erschlossen als zur Selbstbestimmung bestimmt. Das Bewusstsein dieser passiven Konstitution der humanen Existenz ist zugleich auch das Bewusstsein ihrer Endlichkeit. Es ist das Bewusstsein, das eigene Leben einer lebensschaffenden Macht zu verdanken, von der es bestimmt ist. Und begrenzt. Als endlich erfährt sich der Mensch aber auch in seiner Bezogenheit auf andere Personen und das damit verbundene Interaktionsverhältnis. Nach Schleiermacher ist sich der ————— 150 151 152

Ebd., 172. Luther behandelt die Themen in dieser Reihenfolge, ebd., 172–176. Ebd., 176.

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Mensch in seinem „allgemeinen Endlichkeitsbewußtsein […] als schlechthin abhängig bewußt“.153 (2) Dieses Endlichkeitsbewusstsein gilt es weiter zu differenzieren. Zur passiven Konstitution des Menschseins gehört seine Bestimmung durch die Zeit. Analog zu der paradoxen Erfahrung des Ich, sich bei der reflexiven Selbstverständigung immer schon selbst vorauszusetzen, liegt ihm auch die Zeit in jedem Augenblick seines Bewusstseins bereits zu Grunde. Jede Vergewisserung über die Zeit erfolgt bereits in ihr. Kant hat die Zeit als „die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt“154 genannt, weil sie von keiner Erfahrung abgezogen werden könne, sondern vielmehr allen Anschauungen bereits zu Grunde liege. Die Zeit ist aber nicht, wie Kant meinte, eine „Form des inneren Sinnes“155 sondern eine transzendentale Bedingung der menschlichen Existenz überhaupt. Menschsein ist zeitlich bestimmt. Es hat eine Lebenszeit. An der eigenen Entwicklung, dem persönlichen Wachstum ebenso wie dem individuellen Altern gewahrt jeder Mensch diese seine zeitliche Bestimmung. Und seine Befristung. Eine Lebenszeit zu haben heißt darüber hinaus auch, zu einer bestimmten Zeit zu leben, unter spezifischen Zeitumständen und in einer konkreten geschichtlichen Zeit. (3) Eine weitere Konstitutionsbedingung endlicher menschlicher Existenz ist deren Bestimmtheit durch den Raum. Auch hier kann an Kants Einsicht angeknüpft werden, nach der der Raum kein empirischer Begriff ist, sondern „allen äußeren Anschauungen zugrunde liegt“156 und von ihnen nirgendwo abgezogen werden kann. Aber Räumlichkeit ist eben, anders als Kant meinte, keine subjektive apriorische Kategorie sondern ein passives Konstitutionsmerkmal der sich dem Menschen erschließenden Wirklichkeit. Die conditio humana ist räumlich bestimmt. Dem Menschen ist sein Leben eingeräumt, d.h. es vollzieht sich innerhalb eines Lebensraumes, der zur Gestaltung offen steht, dessen transzendentale Strukturen aber vorgegeben sind. Lebensorte können gewählt, die grundsätzliche Einräumung des Lebens aber nicht ausgeräumt werden. (4) Zum Endlichkeitsbewusstsein des Menschen gehört weiterhin seine Leiblichkeit. Ich bin mir jederzeit meiner selbst als eines leiblich inkarnierten Selbst bewusst. Leiblich trete ich in Interaktion zu anderen Personen. In meinen Sinnen und das heißt: am eigenen Leib erfahre ich die Präsenz der Anderen. Eine weitere Dimension der Leiblichkeit besteht darin, mit dem eigenen Körper zu leben, mit seinen Möglichkeiten und Begrenzungen, ————— 153 154 155 156

Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, 53 (§ 8,2). Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke 3, 81 (A 34; B 50). Ebd., 80 (A 33; B 49). Ebd., 72 (A 24; B 38)

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seiner Tiefgründigkeit und Abgründigkeit. Ich erlebe mich als Leibsubjekt: in Entwicklung und zugleich alternd, emotional, rational und affektiv, verletzlich, verletzt und genesend, kraftlos und stark. Viele Dimensionen meines leiblichen Lebens lassen sich gestalten und beeinflussen. Zentrale Aspekte aber bleiben unverfügbar und entziehen sich der Selbstbestimmung. (5) Endlichkeit ist mithin ein konstitutives Merkmal aller Beziehungsdimensionen der menschlichen Existenz. In ihrem Grundverhältnis ist sie in deren passiver Konstitution begründet sowie mit deren zeitlicher und räumlicher Bestimmung verbunden. Im Selbst- und Umweltverhältnis ist sie durch die eigene Leiblichkeit und durch Interaktionsverhältnisse mit ihrer sozialen und ökologischen Umwelt bestimmt. In allen diesen Beziehungsdimensionen handeln Menschen nicht nur selbstbestimmt, sondern sind auch der Bestimmung durch andere und anderes ausgesetzt. Mit unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten: die Befristung, Einräumung und Leibbestimmtheit des Lebens ist nur in engen Grenzen der menschlichen Selbstbestimmung zugänglich (etwa durch medizinisches Handeln oder bewusste Lebensgestaltung). Öko-soziale Austausch- und Interaktionsverhältnisse dagegen sind in weit höherem Maße gestaltungsoffen. Dennoch bleibt es dabei, dass Passivitätserfahrungen in allen Beziehungsdimensionen unhintergehbar enthalten sind. Leben in Beziehungen heißt ebenso bestimmt zu werden wie zu bestimmen. Schleiermacher hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die Gleichzeitigkeit von Lebensförderung und Lebenshemmung das natürliche und soziale Gesamtverhältnis des Menschen charakterisiert. (6) Endlichkeit, Begrenzung – Fragmentarität. Diese Dimension des Menschseins lässt sich keineswegs durchweg in einer Defizitperspektive beschreiben. Sie charakterisiert vielmehr die Bedingung näher, unter der sich das Menschsein realisiert: Grenzen überschreitend und zugleich begrenzt bleibend. Der Mensch ist Fragment: ein Bruchstück nur und zugleich etwas, an dem sich das Ganze ahnen lässt. Es sind also keineswegs nur Einschränkungserfahrungen, die zur Fragmentarität gehören – zu ihr gehören ebenso Entwicklungen und Aufbrüche. Beides: Exzentrizität und Begrenzung. (7) Die Fragmentarität ihres Lebens wird von allen Menschen erlebt. Aber auch erlitten. Gerade in den höchst individuellen Einschränkungs-, Verletzungs- und Versagenserfahrungen. Im Erleben der eigenen befristeten Zeit und den dadurch begrenzten Möglichkeiten. In der Erfahrung körperlicher Einschränkung. An den Folgen mangelnder Umsicht und ausgebliebener Rücksicht. Bei sich selbst und an anderen. „Wir sind Ruinen aufgrund unseres Versagens und unserer Schuld ebenso wie aufgrund zugefügter Verletzungen und erlittener und widerfahrener Verluste und Niederlagen.

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Dies ist der Schmerz des Fragments.“157 Zu diesem Schmerz gehören auch individuelle Krisen, die Unabgeschlossenheit und Verletzlichkeit der eigenen Identität. Aber auch die Erfahrung von Krankheit oder Behinderung. All diese Erfahrungen werden auch erlitten. Gunda Schneider-Flume hat zu Recht vor einem Ästhetizismus der Fragilität gewarnt: „Die Feststellung von Fragmentarität ohne das Eingeständnis, dass Menschen daran leiden, fragmentarisch zu sein, ist entweder zynisch, oder sie entstammt der Unkenntnis der Not bei der Identitätssuche.“158 Das Erleiden der menschlichen Fragmentarität ist nicht nur eine Folge der Sünde. Zahlreiche Entwürfe der Theologie heben die geschöpfliche Begrenzung hervor und unterscheiden sie von den Begrenzungen, die aus der Grenzverletzung der Sünde resultieren. Gewiss: die menschliche Pervertierung seiner Lebensverhältnisse und die mit ihr verbundenen Zerstörungsverhältnisse, Entfremdungsverhältnisse und Verhältnislosigkeiten radikalisieren und potenzieren die Fragmentarität dramatisch. Verletzungen, Krisen, Brüche und Einschränkungen werden in und durch gestörte Beziehungen heraufbeschworen und verstärkt. Und sicher: Vor dem Hintergrund gestörter Beziehungsverhältnisse – im Grund-, Sozial- und Selbstverhältnis – verstärkt sich das Leiden an einschneidenden Widerfahrnissen des Lebens. Insbesondere die gestörte Beziehung zu Gott als Ursprung, Halt und Ziel ihres Lebens wirft Menschen auf sich zurück und lässt sie ihr Erleben der Einschränkung unverhältnismäßig steigern. Dennoch scheint es mir problematisch zu sein, wenn nach Jüngel „der dunkle Schatten, den der Tod faktisch auf das Leben wirft […] nichts anderes“ sein soll „als die unheimliche Vergrößerung des ursprünglicheren Schattens, der von unserem in die Verhältnislosigkeit drängenden Leben her auf unser Ende fällt und von daher dann als Angst vor dem Ende auf das Leben zurückfällt.“159 Die Leidensfähigkeit und das Leiden, die Angstfähigkeit und die reale Angst gehören m.E. bereits zum natürlichen Leben des Menschen. Gerade deshalb, gerade weil die Fragmentarität des Menschen ebenso wenig allein in der Sünde gründet wie das Leiden an ihr, bedarf ihre anthropologische Reflexion einer weiteren theologischen Vertiefung. Henning Luther hat dazu bereits einen wichtigen Hinweis gegeben, indem er die Gottebenbildlichkeit des Menschen von der Inkarnation Gottes aus interpretiert hat. Diesen Gedanken möchte ich im folgenden Abschnitt dahingehend erweitern, die menschliche Fragmentarität als Aspekt der trinitarisch zu erschließenden Gottebenbildlichkeit zu verstehen. ————— 157 158 159

Luther, Identität und Fragment, 168f. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 63. Jüngel, Meine Zeit steht in Deinen Händen, 67.

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8.7 Gottes Sein in Beziehung. Kurzer Exkurs zur Trinitätslehre (2) In der Trinitätslehre bedenkt die christliche Theologie die Einheit des Wesens Gottes im Verhältnis zur Verschiedenheit seines Handelns gegenüber der Welt und den Menschen. Dabei begreift sie die Werke Gottes als Ausdruck seines Seins und also das „trinitarische Handeln Gottes […] als die Selbstmanifestation des trinitarischen Seins Gottes“.160 Gott ist als derjenige zu denken, der in der dreimaligen Gleichheit der dreimalig Verschiedene ist: stets der eine Gott in der Unterschiedenheit seiner Seinsweisen als Schöpfer, Versöhner und Vollender. Gott wird so als „trinitarische Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins“161 verstanden. Vor diesem Hintergrund sind das Sein, Handeln sowie die Eigenschaften Gottes durchgängig auf einander zu beziehen und trinitarisch zu interpretieren. (1) Gottes Sein ist konsequent aus seinem Werk zu interpretieren. Dabei erweist sich sein Handeln in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung zugleich als ein Weg, den er mit der Welt und den Menschen geht und der ein Weg des ursprünglichen Beginnens, der Erniedrigung, Erhöhung und Vollendung ist. Es ist ein Weg extremer Gegensätze. Das Sein Gottes selbst erweist sich auf diesem Weg „als ein äußerster Gegensatz, […] als der Gegensatz des ewig lebenden und lebendig machenden Gottes einerseits und des den Tod erleidenden Gottes andererseits“.162 Es erweist sich darüber hinaus als das den Tod überwindende und das Leben erneuernde und vollendende Sein. An Gottes Handeln wird insofern ein Sein offenbar, das die Spannung der äußersten Gegensätze des Lebens und des Todes in sich selbst aufnimmt und austrägt. Diese Gegensätze dürfen jedoch, wie Eberhard Jüngel zu Recht betont hat, nicht zu einander verselbstständigt werden. Vielmehr ist das, „was sich unserer Erfahrung als reiner Widerspruch darstellt – Leben und Tod, Allmacht und Kreuz –, […] in der trinitarischen göttlichen Gemeinschaft von Gott dem allmächtigen Vater, Gott dem […] gekreuzigten Sohn […] und Gott dem lebendig machenden Geist von einer noch größeren Entsprechung überboten, so daß man […] von einer inmitten noch so großen Widerspruchs immer noch größeren (tieferen) Selbstentsprechung Gottes reden muß“.163 Gott hat sich in seinem heilsgeschichtlichen Handeln nicht nur dem Gegensatz des Todes ausgesetzt, sondern hat den Gegensatz des Lebens und des Todes in sein eigenes Sein aufgenommen, ausgetragen und überwunden. —————

160 Schwöbel, Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens, in: ders., Gott in Beziehung, 37. 161 Jüngel, Nemo contra deum nisi deus ipse, in: ders., Ganz werden, 251. 162 Ebd., 248. 163 Ebd., 251.

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(2) Darüber hinaus ist „jedes Handeln Gottes als trinitarisches Handeln […] zu interpretieren“.164 An Schöpfung, Versöhnung und Vollendung sind jeweils alle drei Seinsweisen Gottes beteiligt – wenn auch in je spezifischer Weise. Das bedeutet beispielsweise, dass die Schöpfung nicht allein als das Werk des Vaters zu denken ist, so sehr sein Handeln hier das bestimmende ist. Insofern aber die Schöpfung als das Werk des dreieinige Gottes zu denken ist, sind an ihm auch der Sohn und der Heilige Geist beteiligt. Bereits in seinem Schöpfungshandeln ist Gott deshalb als ein Gott zu verstehen, der seine eigene Macht begrenzt und seine Geschöpfe ermächtigt. Ein Gott, der „mit den Leidenden leidet“.165 Ein Gott, der sich der Schwachen annimmt „und stark macht, was daniederlag“.166 (3) Schließlich ist aber auch „jede Eigenschaft [Gottes] als trinitarische Eigenschaft zu interpretieren“.167 Sie ist nicht mehr linear zu verstehen sondern qualitativ – eben trinitarisch – zu differenzieren. Allmacht beispielsweise ist dann zu verstehen als „die Konkretion des Handelns Gottes in der Schöpfung, in Kreuz und Auferweckung Jesu Christi, in der Rechtfertigung des Sünders und der Vollendung der Gemeinschaft Gottes mit seiner versöhnten Schöpfung.“168 In jedem dieser Werke hat sie einen jeweils anderen Akzent: während sie sich in der Schöpfung als lebensschaffende und -erhaltende Macht erweist, nimmt sie im Kreuz Christi die Ohnmacht der Erniedrigung, der Folter und des Todes auf sich.169 In der Auferstehung wiederum erweist sie sich als eine den Tod überwindende Macht, in der Rechtfertigung als eine, die den glaubenden Sünder ermächtigt, in der Vollendung schließlich als gewissheitsschaffende und gemeinschaftsbildende Macht. Auch andere Eigenschaften Gottes lassen sich auf diese Weise trinitarisch erschließen: Gottes Heiligkeit, Gerechtigkeit und Freiheit, seine Barmherzigkeit, Geduld usw. Sie alle sind Eigenschaften des dreieinigen Gottes, die in jedem trinitarischen Werk eine je eigene inhaltliche Nuance erhalten. Zahlreiche theologische Entwürfe der Gegenwart sehen Gottes Wesen und Eigenschaften in der Aussage „Gott ist Liebe“ vereint. Für Wilfried Härle „drängt es sich geradezu auf, den Gedanken zu wagen, alle Eigenschaften Gottes seien Eigenschaften seines Wesens, also Eigenschaften ————— 164

Schwöbel, Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens, 37. Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung, in: ders., Wertlose Wahrheit, 161; hier auch das trinitarische Verständnis der Schöpfung als eines Aktes göttlicher Selbstbegrenzung (153f). 166 EG 184, Vers 2. 167 Schwöbel, Trinitätslehre als Rahmentheorie, 37 [Ergänzung von mir; U.L.]. 168 Ebd., 42. 169 Vgl. Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 1, 456: „Seine Allmacht ist in Jesus Christus […] als die Durchbrechung dessen qualifiziert, was wir überhaupt ‚Macht‘ nennen – sie ist ja auch sein Vermögen zur ‚Ohnmacht‘, zur Selbsterniedrigung“. 165

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seiner Liebe“.170 Auch und gerade für die Liebe ließe sich zeigen, dass sie in einer trinitarischen Interpretation erst konkret wird, ja ein Gesicht erhält: als lebensschaffende, sich hingebende, den Tod überwindende, sich schenkende und Menschen gewiss machende Liebe. Auf dem Hintergrund einer solchen trinitarischen Interpretation wird Gottes Wesen als dynamisches Sein-in-Beziehung erkennbar: sowohl in sich selbst als auch in Relation zur Welt. Ein solcher Gott ist nicht ewiges, in sich ruhendes, unveränderliches Sein, sondern ein Gott, der sich verändert, der eine Geschichte hat und in die Geschichte eingeht. Es ist ein leidenschaftlicher Gott, ein Gott mit einer Passion für die Welt, ein Gott auch, der für diese Weltleidenschaft selbst in die Passion geht, um das Leid der Menschen zu wenden. Gerade in seiner Seinsweise als Sohn wählt Gott den Weg in die Niedrigkeit und Entfremdung, den Weg in die Tiefe und Unkenntlichkeit. Martin Luther hat in Bezug auf Christus davon gesprochen, dass „in derselben Person die größten Gegensätze vereint“ sind und im gleichen Zusammenhang auch deutlich gemacht, dass „der Gott, der alles geschaffen hat und über allem ist, sowohl der Höchste als auch der Niedrigste ist“.171 Beides und mit einander vermittelt.

8.8 Fragmentarität und Gottebenbildlichkeit Menschen sind Bilder Gottes, „nach dem besten Bild gebild’t“ (EG 388). Diese Bildlichkeit Gottes ist auf dem Hintergrund der Trinitätslehre in relationaler Analogie als Entsprechung zu dessen trinitarischem Sein zu interpretieren. Damit wird klar: das Sein des gottebenbildlichen Menschen entspricht Gott auch darin, dass es selbst von einem Beziehungsreichtum geprägt ist, zu dem Macht und Ohnmacht, Leidenschaft und Leiden, Erhöhung und Entäußerung gehören. Aus der Perspektive der theologischen Anthropologie wäre demnach sowohl das Leitbild der perfekten, starken und „ganzen“ Persönlichkeit als Vereinseitigung zu kritisieren, wie umgekehrt auch die bspw. von Nietzsche bissig bekämpfte Leidensverherrlichung. Statt die conditio humana auf den Pol von Stärke oder Schwäche zu —————

170 Härle, Dogmatik, 256. Vgl. Gerhard Ebeling, Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften, 340: „Die strenge Unterscheidung zwischen Eigenschaften und Wesen Gottes wird in dem Satz ‚Gott ist die Liebe‘ aufgehoben. Allein die Liebe kann dem Wesen Gottes gleichgesetzt werden. Sie ist die einzige Eigenschaft Gottes, welche an die Stelle des Namens Gottes selbst gesetzt werden kann.“ Auch Wolfhart Pannenberg sieht in dem „Satz, daß Gott Liebe ist“ die „Zusammenfassung des ganzen Geschehens der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus“ (ders., Systematische Theologie, Bd. 1, 428). 171 Luther, Vorlesungen über 1. Mose von 1535–45, WA 43, 580, 3.6.14, zit. nach: Jüngel, Nemo contra deum nisi deus ipse, 247.

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reduzieren, ist es angemessner, sie in der Beziehung beider Aspekte anzusiedeln. Wohlbefinden, Gelingen und individuelle Stärken gehören demnach ebenso in eine individuelle Lebensgeschichte wie Erfahrungen des Leidens, des Scheiterns oder Schwächen. Beide Dimensionen sind im Übrigen keineswegs unbeeinflussbar oder unveränderlich. Genauso wenig lassen sie sich allein dem Individuum zuordnen. Sie werden vielmehr durch ein Wechselverhältnis unterschiedlicher Faktoren bedingt: sie hängen von der physischen bzw. psychischen Disposition, von Entwicklungs- und Bildungsprozessen, dem individuellen Selbstverständnis, Glaubens- und Sinndimensionen, sozialen und materiellen Ressourcen und nicht zuletzt von Partizipationsmöglichkeiten ab. Für die Reflexion des Menschseins unter dieser Perspektive erweist sich erneut der Gedanke der Gottebenbildlichkeit als instruktiv. Er besagt, dass Menschen auch darin dem Sein des dreieinigen Gottes entsprechen, dass sich in ihrem Dasein eine Bewegung vollzieht, zu der die Erfahrung von Schwäche und Leiden172 ebenso gehört wie die von Stärke und Wohlbefinden. Die Analogie zwischen dem Sein des dreieinigen Gottes und dem Menschsein hat dabei allerdings schöpfungstheologisch und soteriologisch jeweils spezifische Akzente. In Bezug auf die Schöpfung macht sie die Erkenntnis unausweichlich, dass Erfahrungen der Schmerzes und der Schwachheit genauso wie Glück und Stärkung zum Leben gehören. Gleichzeitig inspiriert sie zu Veränderungen, zur Stärkung von Menschen und zu einer realistischen Überwindung leidbestimmter Erfahrungen. Soteriologisch dagegen geht es um die Überwindung der Sünde. In der Begegnung mit dem Evangelium Jesu Christi wird Menschen ihre Entfremdung von Gott und vom Antlitz des Anderen erst in ihrer ganzen Tiefe und Tragweite bewusst. Bestimmte Formen des Leidens, des Scheiterns und des Schmerzes treten jetzt in ihrem Zusammenhang mit menschlicher Schuld hervor. Zugleich ermöglicht die Rechtfertigung des Sünders, dass die Schuld nicht das letzte Wort behält, sondern ein Neuanfang des gerechtfertigten Lebens möglich wird. Die Tiefendimension der Sündenerkenntnis und der Befreiung aus Schuld ist jedoch eine Erfahrung des Glaubens, die nicht ohne Weiteres anthropologisch verallgemeinert werden darf. Der Schöpfungsdimension kann dagegen allgemeine anthropologische Bedeutung zugesprochen werden. Die in der Gottebenbildlichkeit zum Ausdruck kommende Analogie zwischen Gott und dem Menschen ermöglicht in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Leid, Scheitern und Schwäche beides: Widerstand und Ergebung. Sie bringt es einerseits mit sich, zum —————

172 Den Aspekt der Selbstentäußerung und -erniedrigung Gottes in Christus betonen zahlreiche Autoren und ziehen daraus anthropologische Konsequenzen, u.a. Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament, 187.

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Schmerz immer auch seine Stillung hinzuzudenken, zur Schwäche die Stärkung, zum Scheitern das Gelingen, zum Tod das Leben. Das will nicht nur theoretisch erfasst sondern auch praktisch umgesetzt werden. Veränderungsimpulse, die Menschen in ihrer Würde achten und in der Verwirklichung ihrer Rechte stärken, erhalten damit eine Orientierung. Andererseits erleichtert sie die Annahme dessen, was sich nicht ändern lässt und gleichwohl getragen werden muss. Sie ermutigt dazu, dem Leiden und der Schwäche dort und darin nicht auszuweichen, wo es unvermeidlich ist und zum Leben hinzu gehört. Darüber hinaus wird in dem Umstand, dass der Mensch auch in seiner Schwachheit Gottes Ebenbild ist deutlich, dass das menschliche Leben gerade in seiner Zerbrechlichkeit und Fragilität, in seiner Unfertigkeit und Leidensanfälligkeit von Gott angenommen und bejaht ist. Das Entsprechungsverhältnis, das in der Gottebenbildlichkeit gedacht wird, ist niemals statisch sondern stets dynamisch zu denken: als Bewegung des Daseins in vielfältigen Beziehungen, als Sein in Veränderung, als in Bildung begriffenes Bildes Gottes. Gerade dadurch bewahrt der Gedanke der Gottebenbildlichkeit davor, Menschen auf ihre Schwäche oder Stärke festzulegen. Er verhindert den Verrat zu begehen, von dem Max Frisch gesprochen hat: sich ein Bildnis zu machen und damit das „Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel“173 in einer bestimmten Gestalt fest zu halten und damit unbeweglich, unveränderlich zu machen.

8.9 Fragmentarität und Leiden Die Fragmentarität des menschlichen Lebens wird nicht nur erlebt sondern auch erlitten. Obwohl die Endlichkeit zunächst neutral die Bedingung der menschlichen Möglichkeiten ist, wird sie doch insbesondere in radikalen Einschränkungserfahrungen auch als leidvoll erfahren. Deshalb muss an dieser Stelle auch vom Leiden die Rede und dies aus der Perspektive des trinitarischen Gottesglaubens bedacht sein.174 (1) Angesichts erschütternder und radikal in Frage stellender Lebenserfahrungen sind in der Geschichte der Theologie und Philosophie immer wieder Versuche einer Theodizee, einer Rechtfertigung Gottes angesichts des menschlichen Leides unternommen worden. Meines Erachtens werden die angesichts der genannten Erfahrungen aufbrechenden Fragen verkannt, wenn sie im Rahmen einer so verstandenen Theodizee beantwortet werden sollen. Der ursprüngliche Ort dieser Fragen ist nämlich nicht ein Gerichts————— 173 174

Frisch, Tagebuch 1946–1949, 28. Vgl. Liedke, Wo warst du, Gott, wo bist du?

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forum sondern der Prozess der Krisenverarbeitung. Sie werden von Menschen gestellt, die sich selbst in Frage gestellt erleben. Ihre Bedeutung liegt deshalb in ihrem Beitrag zur Verarbeitung der Krise im Glauben. Ihr ursprünglicher Sinn lautet: wie kann ich eine erschütternde Lebenserfahrung im Glauben an Gott bewältigen? Wenn man den trinitarischen Gottesglauben mit den Fragen in Verbindung bringt, die im Prozess der Krisenverarbeitung hervorbrechen, wird m.E. deutlich, dass dieser Glaube nicht zu verstummen braucht. Glaube und Theologie dürfen dabei nicht intendieren, diese Fragen beantworten zu können. Selbst wenn sie sich rational lösen ließen, wären sie damit noch lange nicht gelöst. Deshalb muss die Theodizee offen bleiben. Die herausfordernden Fragen, Klagen und Zweifel gehören notwendig zum Prozess der Auseinandersetzung mit dem Widerfahrnis hinzu. Sie zu stellen, an ihnen fest zu halten und alle voreiligen Antwortversuche zurückzuweisen, ist von elementarer Bedeutung für die Verarbeitung der in Frage stellenden Lebenserfahrung. Theologisch von Interesse ist deshalb m.E. keine Theodizee sondern das Nachdenken darüber, was der christliche Glaube zur Bewältigung der Krisenerfahrung beitragen kann. (2) Erika Schuchardt hat auf der Grundlage von mehr als tausend ausgewerteten Autobiografien typische Themen, Fragen und Herausforderungen herausgearbeitet, die sich Menschen während des Durchlebens einer Krisenerfahrung stellen. Sie beschreibt diesen Prozess als eine Spirale mit acht Phasen: so wird nach einer anfänglichen Ungewissheit das krisenhafte Lebensereignis bald zur persönlichen Gewissheit, an die sich eine Phase der aufbrechenden Emotionen und der Aggression anschließt. Nach erfolglosen Versuchen zur Verhandlung folgt eine Zeit der Depression, die schließlich dem Prozess der Annahme der eigenen Krise weicht. Im glücklichen Verlauf mündet die Krisenverarbeitung in eine neue Aktivität, die sogar zur gesellschaftlichen Solidarität führen kann.175 Die theologische Reflexion kann an die innerhalb der jeweiligen Spiralphasen aufbrechenden Themen und Fragen anknüpfen. Mit ihnen brechen zugleich eminent theologische Fragen auf. So steht in den Spiralphasen „Ungewissheit“, „Gewissheit“ und „Aggression“ das erschütternde Widerfahrnis selbst im Mittelpunkt. Theologisch wird dabei eine Schöpfungserfahrung zum Gegenstand des Fragens. In den Phasen der „Verhandlung“ und „Depression“ werden dagegen Hilfe und Halt gesucht. Gottes Erbarmen wird erfleht. In der Verzweiflung erleben sich Menschen radikal auf sich selbst zurückgeworfen, haltlos, von einem schweren Mantel der Trauer bedeckt oder voller Angst, ins Bodenlose zu stürzen. Sie sehnen sich nach Errettung, Gnade und Erbarmen – und vermissen sie zugleich. In den Phasen „An————— 175

Schuchardt, Warum gerade ich ...?, 27–38.

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nahme“, „Aktivität“ und „Solidarität“ kommen neue Themen und Herausforderungen hinzu. Jetzt geht es um die Rückkehr ins Leben und die Gewinnung neuer Kraft. In der Gottesbeziehung kommen jetzt Aspekte der Stärkung und der Gewisswerdung zum Tragen. Die Fragen und Herausforderungen, die sich im Durchschreiten der Krise stellen, berühren die drei Artikel des christlichen Glaubensbekenntnisses und damit das trinitarische Handeln Gottes in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung. Der trinitarische Gottesglaube kann deshalb mit den Phasen des Krisenverarbeitungsprozesses in Verbindung gebracht werden und gegenüber den in ihnen aufbrechenden Fragen gesprächsfähig sein. (3) In den Spiralphasen, in denen die Schöpfungserfahrung im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht, wird Gottes lebensschaffende und erhaltende Macht angefragt. Der trinitarische Gottesglaube bringt Gott angesichts dieser Fragen als Adressaten von Klage, Anklage, Zweifel und Wut ins Gespräch. Für Erika Schuchardt kommt der Aggressionsphase sogar eine Schlüsselfunktion für den weiteren Verlauf des Krisenverarbeitungsprozesses zu. In der Klage und Anklage gegenüber Gott können Menschen ihre Wut gegen das Leiden freisetzen, „ihr sodann Raum […] geben, um sie schließlich im Dialog mit Gott gemeinsam ertragen zu lernen, als Fähigwerden zur bejahenden Annahme“.176 In der Reflexion der Schöpfungserfahrung kann die Theologie darüber hinaus Differenzierungen im Begriff von Gottes Macht anregen. Ein trinitarisches Verständnis der Schöpfung als Ausdruck der Macht Gottes begreift diese zugleich „als einen Akt göttlicher Selbstbegrenzung […], in welchem Gott sich zurücknimmt, ohne sich dadurch als Gott aufzugeben und ohne dadurch aufzuhören, als Schöpfer tätig zu bleiben“.177 Durch diese Selbstbegrenzung erkennt Gott seine Schöpfung als ihm gegenüber stehende an und gewährt ihr Zeit und Raum für ihre Geschöpflichkeit. Die Schöpfung hat deshalb eine trinitarische Dimension: sie ist das Werk des lebensschaffenden Vaters, des Sohnes, der die Machtlosigkeit erträgt, sowie des Geistes, der die Menschen gewiss macht. In den emotional-ungesteuerten Spiralphasen, besonders in der Depression, erreicht die Auseinandersetzung mit dem Krisenereignis ihren tiefsten Punkt. Jetzt stehen die Frage nach Gottes Erbarmen und die Gefühle von Ohnmacht, Leere und Sinnlosigkeit im Zentrum des Erlebens. Gerade in dieser Phase der tiefen Depression kann das Wissen um den (mit)leidenden Gott eine Hilfe sein. Der Glaube, dass Christus Knechtsgestalt angenommen und sich bis zum Kreuzestod erniedrigt hat (Phil 2,7f), kann die Be————— 176

Ebd., 42. Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung, in: ders., Wertlose Wahrheit, 161. 177

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troffenen darin gewiss machen, dass sie in der Tiefe ihrer Trauer nicht allein sind und ins Bodenlose stürzen. In der Gewissheit um das MitLeiden Gottes erfahren sie Solidarität mit ihrem eigenen Erleben von Sinnlosigkeit und Abgründigkeit. „Gottes Sein ist im Leiden […] und das Leiden ist in Gottes Sein selbst“.178 Menschen können so erfahren, dass ihnen Gott in der Nacht, die sich über ihr Leben gelegt hat, zur Seite ist. Der Sprachreichtum der biblischen Tradition kann ihnen darüber hinaus helfen, für ihr eigenes Erleben Worte zu finden: „Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist“ (Ps 69, 2f). Auch an Gottes Versöhnungs- und Gnadenhandeln zeigt sich dessen trinitarische Dimension: Gott, der den Weg in die Tiefe der Ohnmacht und Depression mitgeht, erweist sich zugleich als eine Macht des Lebens und stärkt die Leidenden durch die Gewissheit seiner Nähe im Geist. In den Phasen der „Annahme“, „Aktivität“ und „Solidarität“ treten neue Fragen ins Zentrum. Jetzt geht es um Stärkung und neue Handlungsfähigkeit. Auch dafür beinhaltet der trinitarische Gottesglaube wichtige Impulse. Er macht gewiss, dass Gottes Weg nicht mit der Kreuzigung endet. Der Vater hat ihn vielmehr von den Toten auferweckt und „hat ihn […] erhöht“ (Phil 2, 9). Gottes versöhnendes Handeln kommt erst in der Auferstehung Jesu und seiner Erhöhung zum Ziel. Als Heiliger Geist schließlich macht Gott Menschen im Glauben gewiss.179 Er geht ihren Weg so mit, dass er sie der Kraft des Lebens und der Liebe Gottes vergewissert. Das Werk des Heiligen Geistes besteht deshalb darin, dass er „stark macht, was daniederlag“ (EG 184). Menschen lernen sich im Glauben als Ebenbilder Gottes zu verstehen. Ebenbilder auch darin, dass sie in ihrem Leben Entsprechungen zu den Seinsweisen Gottes in Macht und Ohnmacht, Größe und Niedrigkeit erleben. Niederschmetternde Erfahrungen werden aber auch erlitten. Fragen brechen auf, Zorn, Klage und Trauer. Im Glauben an den dreieinigen Gott können diese Fragen gestellt: Gott gestellt werden. Menschen finden einen Raum, einen Sprach- und Beziehungsraum für ihre Gefühle und Gedanken. Dieser trinitarische Glaube erschließt zugleich das Bewusstsein dafür, dass der dreieinige Gott selbst den Weg in die Tiefe und den Schmerz gegangen ist und den Tod durch das Leben überwunden hat. Er kann Menschen deshalb auf ihrem Weg durch Schmerz und Trauer hindurch darin gewiss machen, dass er an ihrer Seite steht – auf ihrem Weg durch die Krise hindurch zum Leben. ————— 178 179

Moltmann, Der gekreuzigte Gott, 214. Vgl. Härle, Dogmatik, 394f.

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8.10 Behinderung und Fragmentarität „Der Behinderte ist das lebendige Beispiel für die Möglichkeit der Gefährdung, der jedes Menschenleben ausgesetzt ist. Er lehrt die anderen […] durch seine Existenz, wie dicht jeder Mensch am Rand der Hilfsbedürftigkeit, der Hilflosigkeit, ja des Ausgeliefertseins existiert.“180 Der Mensch mit einer Behinderung als Inbegriff der menschlichen Unvollkommenheit? Sätze wie dieser aus der Feder von Jürgen Seim verfolgen die gute Absicht, Solidarität zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zu begründen. In Wirklichkeit aber konstituieren sie eine anthropologische Differenz: zwischen Menschen, die exemplarische Beispiele für die menschliche Hilfsbedürftigkeit sind und solchen, an denen dies offenbar nicht in paradigmatischer Eindeutigkeit in Erscheinung tritt. Sätze dieser Art diskriminieren im buchstäblichen Sinn: sie stigmatisieren Personen mit dem Etikett der Hilflosigkeit – und lassen ihnen damit auch keine andere Wahl als hilflos zu sein. Demgegenüber habe ich in den zurückliegenden Abschnitten einerseits deutlich gemacht, dass Fragmentarität ein Charakteristikum des Menschseins als solchem ist und dass Fragmentarität darüber hinaus als Ausdruck des endlichen menschlichen Lebens mit seinen Möglichkeiten und Grenzen ist. Wenn am Ende dieses Kapitels mein Blick noch einmal zur Behindertenpädagogik wechselt, so auf der eben genannten Grundlage: weder ist das Menschsein mit einer Behinderung der Inbegriff menschlicher Fragmentarität noch kann es ausschließlich um Einschränkungen und Defizite gehen. (1) Menschen, die mit einer Behinderung leben, sind über lange Zeit in der theologischen und heilpädagogischen Literatur unter dem Blickpunkt ihrer Einschränkungen und Schädigungen betrachtet worden. Jürgen Seims Einschätzung steht für viele andere. Solche Urteile sind – so könnte man Seims Satz variieren – das lebendige Beispiel für die Möglichkeit der Gefährdung, der Einschätzungen ausgesetzt ist, die sich allein an Defiziten orientieren. Obwohl in den letzten Jahrzehnten hier ein Blickwechsel stattgefunden hat, finden sich auch in neueren theologischen Entwürfen noch Positionen, die Behinderung mit Leiden und Schwäche identifizieren.181 Solche Reduktionen sind sowohl aus sozialwissenschaftlicher wie auch aus theologischer Perspektive problematisch. (2) Die Sozialwissenschaften haben darauf aufmerksam gemacht, dass Behinderungen nicht als Körpermerkmale, sondern als komplexe soziale Interaktionsprozesse zu verstehen sind, in denen somatologische, entwicklungsbezogene, gesellschaftliche und subjektive Faktoren gleichermaßen ————— 180 181

Seim, Behindertsein als Menschsein, 345. Vgl. Teil A, Kap. 15, Thesen 18 und 19.

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mit einander in Wechselwirkung stehen.182 Auf diesem Hintergrund ist die Identifikation von Behinderung und Leid bzw. Schwäche schon allein deshalb abzuweisen, weil sie die Kontextualität des Phänomens „Behinderung“ zu wenig berücksichtigt. Die vorschnelle Deutung von Behinderung als Paradigma menschlicher Schwäche schneidet hier Bildungsprozesse und Partizipationsmöglichkeiten ab. Die Identifizierung von Behinderung mit Schwäche, Leid und Begrenzung erschwert zudem die Erkenntnis unterschiedlicher Verursachungen. Sie macht die Schwäche zu einem Personenmerkmal anstatt die Begrenzungen aus dem Wechselspiel der somatologischen, entwicklungsbezogenen, sozialen und subjektiven Faktoren zu verstehen. Dieter Gröschke hat sich ausführlich mit der Interpretation von Behinderung als Ausdruck von Schwäche und Leiden auseinandergesetzt. Nach seiner Auffassung ist es nicht das Problem, „dass biophysische Schädigungen zu einer Behinderung gehören“183 sondern vielmehr dass diese negativ normativ eingefärbt sind und deshalb zum sozialen Stigma für die Betroffenen werden. „Aufgrund einer körperlichen Schädigung oder Einschränkung wird der ‚Behinderte‘ zum Mängelwesen; er wird auf seine geschädigte Natur festgelegt, auf eine biologisch-medizinisch begründete Identität. Eine pathologisierende und stigmatisierende Krankheitssemantik wird um ihn gesponnen, eine subtile Rhetorik von Schwäche, Gebrechlichkeit und Versehrtheit bespricht seinen Zustand. Der Mensch, der mit einer Behinderung lebt, wird unter der Hand zum ‚homo patiens‘, seine Lebensform wird als Leidensform wahrgenommen und zugeschrieben.“184 (3) Nicht minder problematisch ist die Identifizierung von Behinderung und Schwäche auch aus theologischer Perspektive. Sie erfolgt hier meist mit einem christologischen Akzent. Die Gottebenbildlichkeit sei – um es am Beispiel Julius Jensens zu verdeutlichen – „in dem in Jesus Christus erschienen Bild und Abbild Gottes [zu] finden“. An ihm schaue man jedoch ein „Haupt voll Blut und Wunden“. Deshalb, so schlussfolgert Jensen, „lassen uns“ die Schwachen „die wahre Gott-Ebenbildlichkeit im leidenden Menschen erkennen“.185 Eine solche Passionschristologie steigert einen – unverkennbar wichtigen! – Aspekt des Daseins Gottes zu seinem Wesen insgesamt und führt dadurch zu einer Leidensvereinseitigung. Im Gegensatz dazu berücksichtigt eine trinitarische Interpretation, wie ich sie oben skizziert habe, das Handeln Gottes in der Unterschiedlichkeit seiner Werke und kommt daher auch zu einer differenzierteren Interpretation der Gottebenbildlichkeit. ————— 182 Vgl. Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (1997), 23–40. Ich komme auf diese Faktoren in Teil B, Kap. 9.1 und 9.2 zurück. 183 Gröschke, Behinderung als „Leiden“?, 176. 184 Ebd., 177. 185 Jensen, Lebensrecht und Lebenssinn der Schwachen, 17.

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Die wahre Gottebenbildlichkeit findet sich deshalb keineswegs nur bei den Leidenden, Belasteten oder von Schmerzen Heimgesuchten, sondern auch bei den Glücklichen, Befreiten und dem Leid Entronnenen. Wenn Gottes Sein aus seinem trinitarischen Handeln in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung begriffen wird, dann ergibt sich ein Verständnis der imago, für das Schwäche und Stärke gleichermaßen charakteristisch sind. Meine Überlegungen zur menschlichen Fragmentarität dürfen deshalb nicht auf eine Menschengruppe fokussiert werden. Jedes Leben ist zerbrechlich und zart, verletzlich und fragmentarisch. Jedes menschliche Leben kann zugleich wachsen und erstarken, Wunden heilen lassen und Begrenzungen überwinden. Nur im Verzicht darauf, Behinderungen als Inbegriff menschlicher Schwachheit zu interpretieren, wird man eine Sonderanthropologie für Menschen mit Behinderung vermeiden können. (4) In der Behindertenpädagogik ist das Leitbild des perfekten Menschen vielfach kritisiert worden. Peter Singers Thesen zur Euthanasie haben Anlass für eine ausführliche Auseinandersetzung zu gesellschaftlichen Leitund Menschenbildern gegeben. Aber auch die biomedizinische Entwicklung ist in vielfacher Weise Grund zur Reflexion ihrer anthropologischen Implikationen. Nach Ulrich Bleidick erscheint als Idealbild dieser Entwicklungen „der leidensfreie Mensch, das störungsfreie gesunde Leben“.186 Er selbst hat diesem Leitbild die Wertentscheidung entgegengesetzt: „Den Begriff des lebensunwerten Lebens darf es nicht geben!“.187 Die vielfältige ethische Diskussion in der Behindertenpädagogik kann ich hier nicht darstellen. Erwähnung finden soll hier lediglich das Konzept eines „Ethos des Imperfekten“, das beispielsweise Dieter Gröschke vertritt. Gegen das gesellschaftliche Vorurteil, das behinderte Menschen mit ihrer Schädigung identifiziert und gegen die biomedizinische „‚Perfektibilisierung des imperfekten Menschen‘“188 setzt er eine heilpädagogische Ethik, die Behinderung als eine besondere und gleichwertige Lebensform versteht. „Eine solche heilpädagogische Ethik […] ist Bestandteil eines Ethos des Imperfekten, dem Unvollkommenheit in seinen leiblichen Gestalten als Verletzlichkeit, Versehrbarkeit, Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit und in seinen humanen Gestalten als Bedürftigkeit, Abhängigkeit und interpersonale Bezüglichkeit nach wie vor zum Wesen des Menschen gehören, in seinem Wesen als menschlicher Mensch begründet sind.“189 Ein verwandtes ethisches Konzept verfolgt auch Markus Dederich. Ihm geht es darum, den Blick für „Imperfektibilität, Bedürftigkeit, Leiden und Sterblichkeit des Menschen“ zu öff————— 186 187 188 189

Bleidick, Die Behinderung im Menschenbild, 519. Ebd., 532. Gröschke, Behinderung als „Leiden“?, 182. Ebd., 184.

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nen und „über eine „Phänomenologie des Imperfekten“ zu einer „Kritik der Perfektion“ […] zu gelangen“.190 Dederich geht allerdings über Gröschke hinaus, indem er sagt: „Die Frage ist nicht, ob der Mensch perfekt oder imperfekt ist. Eine nichtexkludierende Ethik ist nicht an einem abstrakten Allgemeinen orientiert, sondern nimmt ihren Ausgang beim konkreten Anderen, der nicht unter ein Allgemeines subsummierbar ist.“191 Vielmehr werde durch die konkrete Begegnung von Ich und Anderem eine Beziehung der Verantwortung begründet. Dederich verweist in der Tat auf eine grundlegende Schwierigkeit, vor die sich ein „Ethos des Imperfekten“ gestellt sieht: sie steht in der Gefahr, sich an Merkmalen statt an Relationen zu orientieren. Mich interessiert allerdings darüber hinaus auch die Einschätzung, die bei Gröschke und Dederich gleichermaßen vom Imperfekten selbst gegeben wird. Gröschke spricht von Verletzlichkeit und Bedürftigkeit, Gebrechlichkeit und Abhängigkeit. Bei Dederich ist vom Versehrten, der Kluft und dem Schmerz der Sterblichkeit die Rede. In beiden Fällen wird also das Imperfekte mit Aspekten von Schwäche ineins gesetzt. Gerade diese Identifizierung bleibt aber m.E. noch insgeheim dem Vollkommenheitsparadigma verhaftet: das Unvollkommene gilt als das Gebrechliche und Hinfällige. Will man aber stattdessen das Perfektionsideal tatsächlich als anthropologisches Merkmal verabschieden, so darf man den imperfekten Menschen nicht mit dem versehrten und gebrechlichen Menschen identifizieren. Endlichkeit und Begrenztheit, Unvollkommenheit und Befristung sind Bedingungen des fragmentarischen Menschseins überhaupt. Die menschlichen Möglichkeiten und Grenzen sind gleichermaßen in dieser seiner Imperfektibilität begründet.

8.11 Fragmentarität und Empowerment „Als geistigbehindert gilt, wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt ist, daß er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf.“192 So lautet die Definition, die der Deutsche Bildungsrat in seiner „Empfehlung der Bildungskommission“ von 1973 gegeben hat. Voraussichtlich lebenslanger Hilfebedarf – mit der scheinbar neutralen fachlichen Definition ist hier eine Prognose ————— 190

Dederich, Der imperfekte Mensch und das moderne Heilsdenken, 280. Ebd., 281. 192 Definition von Behinderung des Deutschen Bildungsrates (1973), zit. nach: Thimm, Das Normalisierungsprinzip, 13. 191

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verbunden worden, die über eine deskriptive Bestimmung hinausgeht und präskriptiven Charakter annimmt. Beschreibungen wie diese legen Menschen mit (geistiger) Behinderung von vornherein auf ihre Hilfsbedürftigkeit fest und erweisen sich in der Praxis nicht selten als self-fulfillingprophecy. Sie schreiben damit unbewusst eine lange Tradition fort, in der Menschen mit Behinderung über ihr Defizit definiert und in hohem Maße auf dieses Defizit festgelegt worden sind. Mit dieser lang geübten und weit verbreiteten Sichtweise, die Menschen mit Behinderung „ausschließlich im Lichte von Mängeln, Schwächen, Defiziten, Inkompetenzen, von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Hilfe-, Belieferungs- oder Anweisungsbedürftigkeit“193 wahrnimmt und behandelt, bricht das aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung stammende Konzept des Empowerment. Dieses politische und bürgerschaftliche Programm der „Ermächtigung“ ist im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend auch in Europa rezipiert worden und prägt mittlerweile vielerorts die Arbeit von Selbsthilfegruppen und die professionelle Praxis der Sozialen Arbeit. Mittlerweile ist es auch für die Behindertenpädagogik konkretisiert und weiterentwickelt worden. Kernpunkt seines Selbstverständnisses ist die Absage daran, Menschen mit Behinderung vor allem über ihre Schädigung, Funktionsbeeinträchtigung, Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit zu definieren. Dieser Defizitorientierung setzt die Philosophie des Empowerment ein Vertrauen in die Stärken und Problemlösungskompetenzen der Menschen entgegen. „Das SichBewusstwerden und die Selbst-Aneignung von Lebensgestaltungskräften dient […] dem Ziel, Verfügung und Kontrolle über die eigenen Lebensumstände und Zukunftsperspektiven (wieder-)zu gewinnen, um ein möglichst unabhängiges, selbstbestimmtes Leben verwirklichen zu können“.194 Weil das Empowerment-Konzept entschieden in die Debatte um Stärken und Schwächen eingreift, erscheint es mir sinnvoll zu sein, es in die Diskussion um Fragmentarität einzubeziehen. (1) Der Blickwechsel, den das Empowerment-Modell mit sich bringt, richtet sich auf die „Ressourcen und Stärken der Menschen auf ihre Potentiale zur Lebensbewältigung und Gestaltung – auch unter den eingeschränkten Bedingungen des Mangels oder vor dem Hintergrund vielfältiger persönlicher und sozialer Defizite“.195 Es ist orientiert sich deshalb an Leitprinzipien wie den folgenden:196

————— 193 194 195 196

Theunissen, Wege aus der Hospitalisierung, 104. Ebd., 101. Stark, Empowerment, 108, zit. nach: ebd., 108f. Ebd., 108–113.

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– Vertrauen in die Fähigkeiten des Einzelnen sein Leben in eigener Regie zu gestalten, – Vertrauen in die Fähigkeit des Einzelnen Krisen zu meistern (StigmaManagement; Coping), – Unbedingte Annahme des anderen, – Verzicht auf etikettierende, entmündigende und denunzierende Expertenurteile, – Respekt vor der Sicht des anderen und seinen Entscheidungen, – Orientierung an der Rechte-Perspektive, Bedürfnislage und Lebenszukunft der Betroffenen, – Beachtung der Lebenswelt und sozialen Ressourcen, – Respekt vor der Selbstverantwortung des Einzelnen. Georg Theunissen hat diese Basisannahmen des Empowerment-Modells zu Leitprinzipien für eine lebensweltbezogene Behindertenarbeit weiterentwickelt.197 Aus den insgesamt 15 Prinzipien wähle ich diejenigen aus, die mir für das hier zur Diskussion stehende Thema von besonderer Relevanz zu sein scheinen. Mit dem Stichwort „Entwicklungsorientierung“198 verbindet Theunissen die Aufgabe, „Lebenssituationen und Fördermaßnahmen […] so zu arrangieren, dass ein ‚Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung‘ (Wygotski) statthaben kann“.199 Assistentinnen und Assistenten sollten sich deshalb nicht nur am gegenwärtigen Niveau, sondern auch an den Möglichkeiten der kommenden Entwicklung orientieren. Weiterhin geht es darum, den Betroffenen eine „größtmögliche Selbstbestimmung im Alltag“200 zu ermöglichen sowie ihre „größtmögliche Mitsprache und Mitbestimmung“201 zu berücksichtigen. Darüber hinaus geht es um die „Respektierung und Sicherung der Rechte“,202 was in seiner konkreten Umsetzung beispielsweise bedeutet: „ein privates Bewohnerzimmer; private Kleidung und Bettwäsche; persönliches, frei verfügbares Eigentum; Akzeptanz eines Sexualverhaltens; […] Achtung des Schamgefühls“ ebenso aber auch Schutz vor „psychischer, physischer, sexueller oder institutioneller Gewalt“203 und anderes. Als Korrektiv gegenüber der Dominanz pädagogischer Imperative gehört für Theunissen auch das „Seinlassen und Vertrauen in die individuellen Ressourcen“204 zu den Prinzipien einer lebensweltbezogenen Behindertenarbeit. ————— 197 198 199 200 201 202 203 204

Vgl. ebd., 142–151. Ebd., 143. Ebd., 144. Ebd., 146. Ebd., 147. Ebd., 148. Ebd. Ebd., 149.

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Weil jeder Mensch ein Recht auf Eigenleben besitzt, muss Raum „für ein zweckfreies und selbstbestimmtes Leben“ bleiben. „Dies erfordert die Akzeptanz des Eigensinns, die Schaffung eines stimulierenden, entwicklungsfördernden Milieus, das offene Lernprozesse ermöglicht und genügend Gelegenheiten, die Lebenswelt selbstbestimmt zu erkunden.“205 (2) Das Modell des Empowerment ist mittlerweile auch in der Behindertenpädagogik ein breit angelegtes, theoretisch und methodisch ausdifferenziertes Konzept,206 das Menschen stärkt, Kompetenzen erschließt, Selbstbestimmung fördert und Rechte einklagt. Aus der Perspektive der theologischen Anthropologie verdient es eine differenzierte Beurteilung. Einerseits erscheint es auch theologisch fragwürdig, Menschen über ihre Defizite und Schwächen zu definieren. Was Dietrich Bonhoeffer über die Erkenntnis Gottes formuliert hat, impliziert zugleich ein Menschenbild: „nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muß Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden.“207 Der Mensch ist als Bild Gottes dazu bestimmt, als kompetentes, mit Stärken und Fähigkeiten begabtes Geschöpf Gott innerhalb der Schöpfung zu repräsentieren. Durch Gottes Selbsterniedrigung wird der gefallene Mensch erhöht und mit ihm versöhnt. Gottes Geist, der „stark macht, was daniederlag“, macht den Menschen im Glauben gewiss und erleuchtet ihn. Als imago trinitatis entspricht der Mensch deshalb dem Sein Gottes nicht nur dadurch, dass er Erfahrungen der Schwachheit macht, sondern auch im Erleben von Stärke und Kraft. Auf dem Hintergrund dieser anthropologischen Einsichten verdient das Konzept des Empowerment Unterstützung, weil es Bildungsprozesse ermöglicht und dazu beiträgt, dass Menschen ihre schöpfungsgemäßen Kompetenzen entwickeln. (3) Andererseits ist es aber auch nicht zu übersehen, dass das Empowerment-Modell den unterschiedlichen Facetten der Fragmentarität insgesamt zu wenig Rechnung trägt. Es zeichnet ein „Bild von Menschen“, „die kompetente Konstrukteure eines gelingenden Alltags sind, die handelnd das lähmende Gewicht von Fremdbestimmung und Abhängigkeit ablegen und in immer größeren Maßen Regisseure der eigenen Biografie werden“.208 Eine solche Anthropologie steht in der Gefahr, die Momente des Scheiterns auszublenden und die Subjekte unter einen Druck des Gelingens zu setzen. Menschen in kritischen Lebenssituationen haben aber Anspruch darauf, dass ihre Erfahrungen ernst genommen und bei der Erschließung von Lö————— 205 206 207 208

Ebd. Vgl. dazu bspw. Theunissen/Plaute, Handbuch Empowerment und Heilpädagogik. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, 455. Herriger, Empowerment in der sozialen Arbeit, 73.

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sungen nicht tabuisiert werden. Von Traumatisierungen, Ängsten oder Erfahrungen der Schuld kann nur befreit werden, wer diese thematisieren darf. Stärken kann nur entdecken und entwickeln, wer Schwachheit nicht verleugnen muss sondern annehmen kann. Das berechtigte Anliegen des Empowerment-Konzeptes darf nicht durch eine „Tyrannei des Gelingens“ (Schneider-Flume) zunichte gemacht werden. (4) Die Theologie kann das pädagogische Konzept des Empowerment korrigieren und präzisieren, indem sie spezifisch theologische Gesichtspunkte geltend macht. Ihre Rede vom Menschen erweist sich gerade darin als realistisch, dass sie Menschen in ihren Stärken ernst nimmt und ihre lebensgeschichtlichen Brüche gleichermaßen wahrnimmt. Dabei gilt es, auf beide Aspekte von Fragmentarität aufmerksam zu machen: auf die Endlichkeit ebenso wie auf die Gebrochenheit und Entfremdung. In beiden Hinsichten gilt es, Grenzen und Begrenzungen nicht zu übersehen. Zu einer realitätsgerechten Beschreibung des Menschseins gehört deshalb einerseits die Wahrnehmung der individuellen Leiblichkeit mit ihren Möglichkeiten und Grenzen. Andererseits bedarf es auch der Reflexion auf die Verfehlung menschlicher Beziehungen, auf Entfremdung und Selbstbezogenheit. Beides darf bei der Gewinnung von Ressourcen, Lösungen und CopingStrategien nicht übersehen werden sollte, wenn die pädagogischen Konzepte nachhaltig und realitätsgerecht sein sollen. Nur wenn individuelle Begrenzungen nicht übergangen werden, können Grenzen auch überschritten werden. Nur wo Ohnmachtserfahrungen nicht als unwirklich abgetan werden, kann Ermächtigung verwirklicht werden. Nur wo gestörte Beziehungen, verfehlte Liebe und verschlossene Selbstbezüglichkeit thematisiert werden, können tragfähige Beziehungen geknüpft, Liebe gelebt und eine Offenheit des Ich erschlossen werden. Theodor W. Adorno hat in den „Minima Moralia“ formuliert: „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.“209 Für das Empowerment gilt: Mensch sein kannst du dort, wo du Schwäche zeigen kannst, ohne Stärke zu revozieren.

————— 209

Adorno, Minima Moralia, GS 4, 216.

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9. Inklusion oder: „wir gehören zusammen“ (Ulrich Bach) Inklusion „Mir wurde immer klarer, daß Theologie sich verbieten muß, unterschiedliche Sätze über behinderte und nichtbehinderte Menschen zu formulieren; andernfalls landen wir bei einer spaltenden (und/oder gespaltenen) Theologie.“1 Ulrich Bachs Einsicht gilt auch für den theologischen Erkenntnisprozess, der hinter der vorliegenden Untersuchung steht. Ihr Arbeitstitel lautete anfänglich „Behinderung als Thema theologischer Anthropologie“. Im Verlauf meiner Studien wurde mir aber immer klarer, dass eine theologisch angemessene Erörterung des Themas „Behinderung“ nur im Rahmen einer im buchstäblichen Sinn nicht diskriminierenden, nur im Rahmen einer inklusiven Anthropologie erfolgen kann. Nur so lässt sich zugleich jedes herablassende „auch“ vermeiden: „auch“ für Menschen mit Behinderung gelten die anthropologischen Kennzeichnungen ...2 Statt dessen sind die verschiedenen Aspekte des Menschseins von vornherein und durchgängig so auszulegen, dass sie für Menschen mit und ohne Behinderung uneingeschränkt Geltung besitzen. Deshalb habe ich in den zurückliegenden Abschnitten den Menschen als beziehungsreiches Wesen beschrieben, als Person, die aus einem Grundverhältnis heraus und in einem Selbst- und Sozialverhältnis lebt, als leibliches, in Bildung begriffenes und zugleich fragmentarisches Wesen. Eine solche Kennzeichnung ist im Sinne Ulrich Bachs „inklusiv (wir gehören zusammen)“.3 Dem entspricht es auch, dass das Phänomen „Behinderung“ passagenweise gänzlich ungenannt bleiben konnte. Unausgesprochen stand es gleichwohl fortwährend in Rede und nötigte das Gesagte zur sprachlichen und sachlichen Genauigkeit. In meinen einleitenden Bemerkungen und abschließenden Erörterungen habe ich regelmäßig auf die Bedeutung des jeweiligen anthropologischen Aspekts für Menschen mit Behinderung und die Behindertenpädagogik aufmerksam gemacht. Eine inklusive Anthropologie bliebe allerdings abstrakt, wenn sich innerhalb ihrer nicht spezifische Lebenssituationen genauer bestimmen und ————— 1

Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz, 346. Vgl. zur Kritik an dieser Formulierung: Bach, Bausteine für ein theologisches Nachdenken über Menschenbild und Menschenwürde, 58. 3 Bach, ebd., 62. 2

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beschreiben ließen: charakteristische Aspekte der Lebensalter, sozialer Lebensformen, gesellschaftlicher Lebensbestimmungen, individueller Lebensherausforderungen usw. Im Sinn einer solchen konkretisierenden Kennzeichnung möchte ich mich zum Abschluss dieser Untersuchung noch einmal konzentriert dem Leben mit einer Behinderung zuwenden und einige charakteristische Aspekte innerhalb des Rahmens der inklusiven Anthropologie herausarbeiten.

9.1 Beziehungsweise. Leben mit Behinderung in Beziehungen Menschliches Leben realisiert sich beziehungsweise. Das ist eine der Pointen theologischer Anthropologie. Diese Relationalität humaner Existenz besteht nicht nur grundsätzlich, sondern auch konkret. Sie prägt die spezifischen Lebensphasen, -gestalten und -situationen. (1) Menschsein mit Behinderung lässt sich vor diesem Hintergrund als eine konkrete Gestalt eines Lebens in Beziehungen verstehen. Als Form relationalen Lebens ist es beides: Verwirklichung der Grundstruktur des Menschseins und zugleich deren konkrete Gestalt und Gestaltung. Beides ist bedeutungsvoll und bedarf der Erörterung. (2) Als eine (von zahlreichen) Realisierungsformen des Menschseins in Beziehung bedarf das Leben mit einer Behinderung keiner exklusiven anthropologischen oder theologischen Interpretation. Theologische Deutungen wie „beschädigte Schöpfung“ oder „Ausdruck der Macht des Nichtigen“ erweisen sich als unangemessen. Sie argumentieren ontologisch und nicht relational. Sie stellen die Einheit der Schöpfung und der Schöpfungstheologie in Frage. Sie orientieren sich an exklusiven statt an inklusiven Beschreibungen. Und: sie generalisieren eine „Abweichung“ zur anthropologischen Bestimmung. Die Erörterung des Lebens mit einer Behinderung innerhalb der Grundstruktur menschlicher Relationalität vermeidet dagegen die anthropologische Ontologisierung und Exklusion ebenso wie die Generalisierung eines Defizits. In Modifizierung eines bekannten Satzes von Paul Moor ließe sich lapidar sagen: „Menschsein mit Behinderung ist Menschsein und nichts anderes“. (3) Als konkrete Gestalt eines Lebens in Beziehungen ist das Leben mit einer Behinderung aber nicht nur in seiner allgemeinen Grundstruktur sondern auch mit Bezug auf seine spezifischen Aspekte zu charakterisieren. Dabei kann es allerdings nur um typische Momente gehen, die individuell jeweils verschieden zur Geltung kommen. Darüber hinaus ist es von erheblicher Bedeutung, solche Charakterisierungen nicht allein mit Blick auf ein jeweiliges Defizit vorzunehmen. Vielmehr sind spezifische Beeinträchti-

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gungen ebenso zu berücksichtigen wie die verbleibenden Möglichkeiten und die zu erschließenden Potentiale. In der Behindertenpädagogik wird deshalb mittlerweile der Versuch unternommen, „die das Etikett ‚geistig behindert‘ konstituierenden Faktoren zu neutralisieren, um sowohl positive als auch negative Wirkungen beschreiben zu können.“4 Dadurch lässt sich „eine dominant defizitorientierte Betrachtungsweise vermeiden, ohne dabei den Blick für den problembezogenen individuellen Lern- und Entwicklungsbedarf aus dem Auge zu verlieren“.5 (4) Behinderungen lassen sich auf diesem Hintergrund als spezifische Lebenserschwernisse6 verstehen, die Menschen in der Realisierung ihrer lebenstragenden Beziehungen bestimmen und zur Gestaltung unter diesen erschwerten Bedingungen herausfordern. Diese spezifische Bestimmungen und Herausforderungen gilt es differenziert herauszuarbeiten. Dimensionen des Behinderungsbegriffs, wie er in der heutigen Behindertenpädagogik gebraucht und verstanden wird, sind dabei durchgängig mit einzubeziehen. Gleichzeitig erscheint eine Orientierung an den zentralen Beziehungsdimensionen angemessen, die bereits meiner anthropologischen Skizze zu Grunde gelegen hat. (5) Ausgangspunkt jeder Behinderung ist ein Widerfahrnis bzw. eine Gegebenheit,7 die als ihre somatologische Dimension bezeichnet werden kann. Aufgrund einer prä-, peri- oder postnatalen Schädigung, durch Unfall oder in Folge von Krankheit können organische Schädigungen entstanden sein. Meist wird an dieser Stelle von physischen Schädigungen gesprochen.8 Diese können beispielsweise im Bereich des Sehens, Hörens, der Sprache, des körperlichen Stütz- und Bewegungssystems oder der Intelligenz auftreten. In der Behindertenpädagogik hat sich allerdings inzwischen die Einsicht durchgesetzt, den Blick über die Schädigung hinaus auf die allgemeine somatologische Konstitution zu richten. Die WHO spricht deshalb in ihrer „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF; 2001) allgemein von den Körperfunktionen und -strukturen. Dabei werden unter Körperfunktionen „die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich psychologische Funktionen)“9 verstanden. Körperstrukturen dagegen sind anatomische Körperteile (Organe, Gliedmaßen etc.). Um die einseitige Orientierung am Defizit zu vermeiden, sollte auch für Georg Theunissen „der Begriff der Schädigung durch den der biologi————— 4

Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 41. Ebd. 6 Vgl. Störmer, Behindertenhilfe, 506. 7 Auf diesen Aspekt komme ich im Verlaufe meiner theologischen Interpretation zurück. 8 Vgl. Speck, System Heilpädagogik (1991), 118ff; Fornefeld, Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik, 44–50; Bleidick, Art.: Behinderung, 59. 9 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Hg.), 16. 5

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schen Gegebenheit neutralisiert werden“.10 Eine solche erweiterte Sichtweise erlaubt es, die Körperfunktionen und -strukturen nach ihren konkreten Funktionsbereichen (z.B. mentale Funktionen, Sinnesfunktionen usw.) und Organsystemen (z.B. Nervensystem, Auge, Ohr, Bewegungssystem usw.) zu differenzieren und auf jeder Ebene sowohl das Maß individueller Funktionsbeeinträchtigungen als auch das jeweilige Funktionsvermögen zu bestimmen.11 Die somatologische Dimension der biologischen Gegebenheit darf allerdings nicht von der betreffenden Person getrennt werden. Die Körperfunktionen und -strukturen sind keine isolierbaren Funktionsmerkmale einer Körpermechanik sondern Aspekte der individuellen Leiblichkeit der Person. Als solche sind sie zugleich Dimensionen ihrer individuellen Subjektivität. Sie beeinflussen die konkrete Entwicklung des Individuums. Sie wirken sich in seinem Selbstverständnis aus und werden umgekehrt ebenfalls durch dieses beeinflusst. (6) Als zweiter Aspekt des Menschseins mit einer Behinderung ist der Lern- und Entwicklungsbereich zu erörtern. Auf ihm gilt es zu reflektieren, welchen Einfluss die Körperfunktionen und -strukturen auf die Entwicklung der betreffenden Person haben. In der Behindertenpädagogik ist in der Vergangenheit vielfach von den typischen Beeinträchtigungen der Lern-, Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit gesprochen worden. Die Weltgesundheitsorganisation hatte in ihrer Klassifikation von 1980 (ICIDH) von „disability“ (Beeinträchtigung) im Unterschied zu „impairment“ (Schädigung) gesprochen und darunter „die partielle oder vollständige Reduktion einer üblichen Fähigkeit oder Fertigkeit des Menschen“ verstanden, „die aufgrund einer Schädigung entstanden ist“.12 Mittlerweile ist diese Konzentration auf die Einschränkung von Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten überwunden worden. Georg Theunissen, der neutral vom Lern- und Entwicklungsbereich spricht, plädiert dafür, auf dieser Ebene nicht nur Leistungsminderungen, Entwicklungsverzögerungen, Wahrnehmungsstörungen oder psychomotrische Auffälligkeiten in den Blick zu nehmen sondern auch „generelle Entwicklungspotenziale, individuelle Stärken, positive Botschaften oder individuelle Ressourcen zu beschreiben“.13 Die ICF der WHO reflektiert diesen Bereich unter dem Begriff der Aktivität und versteht darunter „die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung (Aktion) durch einen Menschen“. Unter der Aktivitätsbeeinträch————— 10

Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 36. Die ICF enthält zu dieser konkreten Bestimmung ein sehr differenziert ausgearbeitetes Beurteilungssystem, mit dem die jeweiligen Funktionen und Strukturen auf einer 5-wertigen Skala bewertet werden; vgl. ICF, 51–94. 12 Fornefeld, Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik, 49. 13 Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 37. 11

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tigung (activity limitation) versteht sie die „Schwierigkeit oder […] Unmöglichkeit, die ein Mensch haben kann, die Aktivität durchzuführen“.14 Die ICF stellt den Aktivitätsbereich aber nicht isoliert dar, sondern verschränkt ihn durchgängig mit dem der Partizipation, d.h. des Einbezogenseins in Bereiche und Situationen. Lebensbereiche, in denen die jeweiligen Aktivitäten und die Partizipation weiter ausdifferenziert und beurteilt werden, sind beispielsweise Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, bedeutende Lebensbereiche sowie Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.15 Die ICF macht mit ihrer Verschränkung von Aktivität und Partizipation darauf aufmerksam, dass der Lern- und Entwicklungsbereich keineswegs aus den konkreten sozialen Interaktionsverhältnissen gelöst werden darf, in denen er steht. Seine konkrete Gestalt ist vielmehr abhängig von Förderung und Teilhabe, von Anregungen und Auseinandersetzungsmöglichkeiten, von Assistenzstrukturen und Rechten, von Kommunikationsverhältnissen, Mobilitätschancen usw. Ebenso wenig darf der Lern- und Entwicklungsbereich von der leiblichen Bestimmtheit des Subjekts getrennt werden. Vielmehr werden die Aktivitäten in diesem Bereich (neben ihrer interaktionalen Beeinflussung) durchgängig von der somatologischen Konstitution einerseits und vom Selbstverständnis der Person andererseits mitbestimmt. Auch die konkreten Entwicklungsprozesse eines Menschen sind Dimensionen seiner Leibsubjektivität. (7) Mehrfach angeklungen ist bereits der Aspekt des individuellen Selbstverständnisses der jeweiligen Person, die mit einer Behinderung lebt. Damit ist eine Dimension angesprochen, die Erving Goffmann als Ich-Identität und Hans-Peter Frey als das private Selbst bezeichnen. Hier geht es um die Gestalt des Selbstverhältnisses, mit der eine Antwort auf die Frage „Wie sehe ich mich selbst?“ verbunden ist. Diese Antwort findet sich nach Frey in den „internen Selbst-Erfahrungen, die eine Person als bewahrtes Wissen über sich selbst, als Teil ihrer Biographie ‚anerkannt‘ hat“.16 Im Unterschied zum Fremdbild und der Außenwahrnehmung eines Individuums geht es hier um ihre „biographisch akkumulierte Selbst-Erfahrung“.17 Es geht mithin um das Selbstverständnis einer Person, das in enger Verbindung mit ihrem Weltund Gottesverständnis steht und kognitive, emotionale sowie motivationale Aspekte umfasst: es ist zugleich Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Kontrollüberzeugung (Haltung).18 Es beeinflusst den Umgang eines Menschen ————— 14 15 16 17 18

ICF, 95. Vgl. ebd., 97–122. Frey/Haußer, Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, 18. Ebd. Vgl. ebd., 20.

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mit der eigenen Körperlichkeit, schlägt sich im Lern- und Entwicklungsbereich nieder und prägt den Umgang mit den individuellen Lebenserfahrungen. Indem es Fremderfahrungen bewertet und deutet, abweist oder übernimmt, steht es in Auseinandersetzung mit dem sozialen Selbst und muss im Identitätsverhältnis ausbalanciert werden. Das Selbstverständnis eines Menschen wird darüber hinaus auch von seinem Grundverhältnis mitbestimmt, vom Gottesbild, Glaubensverständnis und religiösen Selbst. Die Dimension des Selbstverständnisses wird interessanterweise in der Behindertenpädagogik noch immer wenig berücksichtigt. Wie ich im Abschnitt „Subjektivität“ ausgeführt habe, hat die Forschung und pädagogische Reflexion zur Rolle von Selbstkonzepten erst begonnen. In zahlreichen Erörterungen zum Verständnis von Behinderung bleibt die Subjekt-Perspektive weitgehend unberücksichtigt. Nur wenige pädagogische Entwürfe geben ihr Raum. Otto Speck reflektiert sie unter dem Stichwort des „personalen Selbst“.19 Georg Theunissen spricht von der „Subjekt-Perspektive“ und fasst darunter unterschiedliche Einzelaspekte wie „Selbst- und Fremdwahrnehmung, subjektive Ereigniswahrnehmung, Selbstbild, Selbsterfahrungen, Einschätzungen der eigenen Person, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, emotionale Befindlichkeiten, Krisenverarbeitungsprozesse, Erleben der Beeinträchtigung, Benachteiligung u.ä.“.20 Im Unterschied zu Theunissen halte ich es aber für sinnvoll, das Selbstverständnis nicht mit der Identität in eins zu setzen. Vielmehr kommt es mir darauf an, die Bedeutung des individuellen Selbstbildes zunächst als eigenständigen Faktor in den Blick zu nehmen, als der er anschließend in die Dynamik der Identitätsbildung eingeht. Als Identität bezeichne ich eine Relation: den nicht abschließbaren Deutungs- und Auseinandersetzungsprozess, innerhalb dessen eine Person ihr Selbstverständnis in ein Verhältnis zu ihren sozialen und religiösen SelbstErfahrungen setzt. Wird dagegen dieses Selbstverständnis von vornherein mit der Identität einer Person identifiziert, so geht ein zentraler Bedingungsfaktor verloren, der die individuelle Identitätsbildung mitbestimmt. Die Einbeziehung der Subjekt-Perspektive erlaubt es, die jeweils individuelle Deutung des eigenen Lebens mit einer Behinderung in deren Beeinflussung durch die übrigen Lebensverhältnisse und in ihrer Auswirkung auf sie zu berücksichtigen. Dadurch tritt beispielsweise die Wirkung kumulierender negativer Erfahrungen in Bezug auf das Selbstverständnis in den Blick. Theunissen hat darauf hingewiesen, dass „häufige Misserfolgserfahrungen, negative Zuschreibungen, Diskriminierungen sowie immer wiederkehrende Erfahrungen sozialer Entwertung […] zu Eigenschaften und zu einem negativen Selbstbild führen“ können, das seinerseits „Formen ‚er————— 19 20

Vgl. Speck, System Heilpädagogik (1991), 157–162. Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 37f.

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lernter Hilflosigkeit‘, Passivität, mangelndes Zutrauen, fehlendes Vertrauen in die eigenen Ressourcen oder sogar ‚psychopathologische‘ Auffälligkeiten befördern kann“.21 Die Auswirkungen eines entwertenden Sozialverhältnisses auf das Selbstverständnis und anschließend auf den Lern- und Entwicklungsbereich sind ebenso offensichtlich wie umgekehrt die Konsequenzen eines positiven Selbstbildes auf den persönlichen Entwicklungsprozess und die Auseinandersetzung mit Fremderfahrungen. (8) Die zentrale Bedeutsamkeit des Sozialverhältnisses in seinen Konsequenzen für das individuelle Leben mit einer Behinderung ist nach dem bisher Gesagten offensichtlich. In der Behindertenpädagogik hat sich diese Blickerweiterung in den 1970er Jahren durchgesetzt und in der Ablösung des „medizinischen“ durch das „sozialwissenschaftliche Paradigma“ von Behinderung niedergeschlagen. Vielfach ist diese soziale Perspektive als soziale Benachteiligung reflektiert worden. In der WHO-Klassifikation von 1980 (ICIDH) wurde sie als „handicap“ bezeichnet und als „soziale Benachteiligung“ verstanden, die sich „aus einer Behinderung und/oder Störung ergibt und […] die Wahrnehmung einer […] als normal angesehenen Rolle einschränkt oder unmöglich macht“.22 Die Bedeutsamkeit und Begrenztheit dieser Perspektive habe ich im Abschnitt „Sozialität“ erörtert. Georg Theunissen hält demgegenüber den Begriff „Kontextfaktoren“ für angemessener. Er versteht darunter einerseits gesellschaftliche Benachteiligungen, Vernachlässigungen und soziale Schädigungen. Andererseits gehören für ihn aber auch „protektive (soziale) Ressourcen“23 zu den Kontextfaktoren. Die aktuelle WHO-Klassifikation von 2001 (ICF) spricht ihrerseits von Umweltfaktoren, die die „materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt“ bilden, „in der Menschen leben und ihr Dasein entfalten“.24 Diese werden in verschiedene Bereiche differenziert und dort jeweils weiter entfaltet. Zu den Umweltfaktoren gehören nach der ICF Produkte und Technologien (bspw. Medikamente, Mobilitätshilfen, Kommunikationsunterstützung etc.), die natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt (Bevölkerungsdichte, demographische Situation, Licht, Geräusche etc.), Unterstützung und Beziehung (Netzwerke, Assistenz, professionelles Hilfesystem etc.), Einstellungen (individuelle Einstellungen, gesellschaftliche Einstellungen, Normen etc.) sowie Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze (Systeme der Versorgung, des Transports, der Kommunikation, des Rechtswesens etc.)25 Auch hier erfolgt die Bewertung des jeweiligen Merk————— 21 22 23 24 25

Ebd., 38f. Fornefeld, Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik, 49. Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 37. ICF, 123. Vgl. ebd., 125–142.

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mals auf einer fünfwertigen Skala, die von „nicht vorhanden“ (0) bis „voll ausgeprägt“ (4) reicht. Die Differenzierung, die die ICF vornimmt, macht in wünschenswerter Klarheit auf die Vielzahl der unterschiedlichen sachlichen Aspekte des Sozialverhältnisses aufmerksam, die das individuelle Menschsein beeinflussen. Um die Komplexität dieser Faktorenvielfalt etwas zu reduzieren, konzentriere ich mich in meinem Schema besonders auf zwei Faktorengruppen: die „personalen“ und „sozialstrukturellen Umweltfaktoren“. Unter ersteren verstehe ich die Dimensionen personaler sozialer Beziehungen, in denen Einstellungen, Erwartungen, Sichtweisen und Zuschreibungen kommuniziert werden. Dies wäre nach der ICF der Bereich „Einstellungen“. Unter dem Stichwort „sozialstrukturelle Umweltfaktoren“ dagegen fasse ich die politischen, rechtlichen, materiellen, professionellen und baulichen Faktoren zusammen, die das Leben mit einer Behinderung beeinflussen: fördern oder behindern. (9) Eine Dimension, die das Leben mit einer Behinderung in den unterschiedlichen menschlichen Lebensverhältnissen über die genannten hinaus beeinflusst, bleibt in der pädagogischen Diskussion fast durchgängig außer Betracht: das Grundverhältnis, in dem die tragende Lebensgewissheit und -orientierung eines Menschen gründen. In zahlreichen klassischen Entwürfen der Heilpädagogik ist die religiöse Dimension des Menschseins reflektiert worden: bei Heinrich Hanselmann ebenso wie bei Linus Bopp, Eduard Montalta oder Paul Moor. Seitdem sich das Selbstverständnis der anfänglich stark konfessionell geprägten Heilpädagogik in den 1970er Jahren pluralisiert, sozialwissenschaftlich geöffnet und wissenschaftstheoretisch ausgerichtet hat, ist dieser religiösen Dimension weniger Beachtung zuteil geworden. Unter den gegenwärtigen Entwürfen gehört derjenige von Urs Haeberlin zu den wenigen, die das Menschsein auch in seiner transzendentalen Verfassung reflektieren.26 Über eine biologische und gesellschaftliche Identität hinaus muss der Mensch nach Haeberlin auch eine sittlichreligiöse Identität entwickeln, eine „religiöse Haltung“, die in einer wertgeleiteten Emotionalität besteht und das menschliche Sinnbedürfnis stillt.27 Haeberlin hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die anthropologische Reflexion dieser religiösen Haltung von deren konkreter konfessioneller oder kirchlicher Prägung unterschieden werden müsse. Für ihn handelt es sich stattdessen um die grundsätzliche Orientierung der menschlichen Moralität und Sinnsuche. In diesem weitesten Sinn kann die religiöse Dimension als „Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Unbe————— 26 27

Vgl. Teil B, Kap. 6.8 (2). Vgl. Haeberlin, Das Menschenbild für die Heilpädagogik, 68–70.

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dingten“28 verstanden werden. Ohne Zweifel haben die jeweils konkreten religiösen Deutungen Einfluss auf die Identität einer Person, da sie deren Selbstverständnis beeinflussen und zur Auseinandersetzung nötigen. Das Gottesbild prägt das Selbstbild mit. Das Glaubensverständnis beeinflusst das Selbstverständnis. Zwei unterschiedliche Beispiele mögen das belegen: Ulrich Bach berichtet von der Begegnung mit einem schwer behinderten Mann, der „nur auf dem Bauch liegen kann. Über dem Kopfende seines Bettes ist ein Brett angebracht, darauf Telefon, Bücher und Schreibzeug; während ich bei ihm saß, schien er eine halbe Behinderten-Freizeit organisieren zu müssen. Und am Kopfteil des Bettes angebracht, ihm direkt vor der Nase, ein postkartengroßer Zettel, senkrecht, darauf ein Kreuz und das eine Wort ‚Jesus‘.“29 Wie in diesem Beispiel die Glaubensgewissheit dieses Mannes zu einer lebenstragenden Säule seiner Selbstgewissheit geworden ist, kann das Gottesbild umgekehrt auch das eigene Selbstbild in einen selbstzerstörerischen Strudel ziehen. Tilman Moser hat diese Art der „Gottesvergiftung“ in einem als Anklage formulierten Gebet zum Ausdruck gebracht: „Du haustest in mir wie ein Gift, von dem sich der Körper nie befreien konnte. Du wohntest in mir als mein Selbsthaß. Du bist in mich eingezogen wie eine schwer heilbare Krankheit“.30 „Du hast mir so gründlich die Gewißheit geraubt, mich jemals in Ordnung fühlen zu dürfen, mich mit mir aussöhnen, mich o.k. finden zu können.“31 Es ist also von erheblichem Belang, welche konkreten Inhalte das Gottesbild und Glaubensverständnis, das Weltbild und Sinnverständnis eines Menschen haben. In Bezug auf die theologische Deutung des Phänomens „Behinderung“ habe ich eine Reihe unterschiedlicher Interpretationen herausgearbeitet. Diese sind zunächst mit Blick auf ihre theologische Angemessenheit zu erörtern. Reflexionsbedürftig ist zugleich ihre Bedeutsamkeit für das Selbstverständnis, das sich aus ihnen für das Leben mit einer Behinderung ergeben kann. Behinderung als beschädigte Schöpfung? Behinderung als Vorbote des Todes und Ausdruck einer lebenszerstörenden, gottfeindlichen Macht? Ulrich Bach hat auf solche Deutungen geantwortet: „Keiner von uns will als personifizierte Beschädigung der göttlichen Schöpfung leben müssen.“32 Allen gespaltenen Anthropologien hat er das Bekenntnis entgegengesetzt: „‚Gott will, daß dieses Leben im Rollstuhl mein Leben ist‘“.33 Gottesbilder und Selbstbilder. Die konkrete Gestalt des individuellen Glaubens- und Sinnkonzeptes beeinflusst das persönliche Selbstkonzept. ————— 28 29 30 31 32 33

Barth, Was ist Religion?, in: ders., Religion in der Moderne, 2002, 10. Bach, Gottes vereinte Familie, in: ders., Kraft in leeren Händen, 42. Moser, Gottesvergiftung, 9f. Ebd., 17. Bach, Der behinderte Mensch als Thema der Theologie, 130. Bach, Der behinderte Mensch – ein Geschöpf Gottes, 95.

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Deshalb wird das Leben mit einer Behinderung nicht nur von den verschiedenen Aspekten des Selbst- und Sozialverhältnisses tangiert sondern auch von ihrem Grundverhältnis bzw. Transzendenzbezug. Eine sachlich angemessene Reflexion des Menschseins mit einer Behinderung macht deshalb die unverkürzte Berücksichtigung aller dieser menschlichen Beziehungsdimensionen erforderlich. Menschsein mit Behinderung ist eine konkrete Gestalt des Menschseins in Beziehungen. Diese eben erläuterte These bedarf der weitergehenden Präzisierung. Ich möchte sie in den folgenden Abschnitten vertiefen, indem ich sie zunächst mit dem Verständnis von Behinderung in Beziehung setze, wie es in der Behindertenpädagogik diskutiert wird (9.2). Anschließend will ich die Konsequenzen meines relationalen Ansatzes für das Thema der Identitätsbildung herausarbeiten (9.3). Ich werde die Frage reflektieren, wie sich das Menschsein mit einer Behinderung innerhalb des christlich verstandenen Gottesverhältnisses deuten lässt (9.4) und zum Abschluss einige wenige forschungsbezogene und sozialpädagogische Andeutungen machen (9.5).

9.2 Von der „Behinderung“ zum „Menschsein“ oder: Was bedeutet „Leben mit einer Behinderung?“ Theodor W. Adorno hat an vielen Stellen seiner Schriften das „Vertrauen auf die Definition als etwas, was man schwarz auf weiß besitzt und getrost nach Hause tragen kann“34, kritisiert. Das Bemühen, ein Phänomen begrifflich zu erfassen, sollte sich deshalb – eingedenk dieser Warnung – vor dem Selbstmissverständnis hüten, die Komplexität des Phänomens erfassen und objektiv beschreiben zu können. Das zeigt sich nicht zuletzt bei dem Versuch, das Phänomen einer Behinderung begrifflich zu bestimmen. Behinderung ist kein „objektiver Sachverhalt“, sondern ein relationales Phänomen, für dessen konkrete Gestalt die Dimensionen bestimmend sind, die ich eben dargestellt habe. Vor allem aber sind Definitionen abhängig von dem Kontext, in dem sie eine spezifische Funktion haben. So hat beispielsweise die juristische Definition von Behinderung im SGB IX die Funktion, einerseits den Zugang zu Unterstützungsleistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe (§§ 53–55 SGB XII) und andererseits die Praxis des darauf abgestellten professionellen Hilfesystems zu steuern: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ————— 34

Adorno, Philosophische Terminologie, Bd. 1, 21.

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beeinträchtigt ist“ (§ 2, Abs. 1 SGB IX). Der Behinderungsbegriff ist in diesem Zusammenhang eine legitimatorische Kategorie: er klärt die Anspruchsberechtigung von Personen und reguliert die Leistungen eines darauf abgestellten Hilfesystems.35 Ein pädagogischer Begriff von Behinderung hat demgegenüber eine veränderte Funktion. Er muss all diejenigen Aspekte beinhalten, die zu berücksichtigen sind, um Entwicklungsprozesse (pädagogisch und politisch) initiieren und gestalten zu können. Im Übergang vom „medizinischen“ zum „sozialwissenschaftliche Paradigma“ von Behinderung sind solche begrifflichen Bestimmungen vertieft entwickelt worden. (1) Die WHO-Klassifikation von 1980 (ICIDH) war gerade durch die Dreidimensionalität ihres Behinderungsverständnisses einflussreich geworden (vgl. Schema 1). In pädagogischer Perspektive macht die ICIDH eine professionelle und politische Praxis auf allen drei Ebenen erforderlich: als rehabilitative Arbeit mit dem Ziel, die Auswirkungen der Beeinträchtigung zu vermindern (impairment; disability), als pädagogische Praxis mit dem Ziel, Entwicklungsprozesse auf individueller und sozialer Ebene zu gestalten (disability, handicap) sowie als politisches Handeln mit dem Ziel, die rehabilitative und pädagogische Praxis abzusichern sowie die soziale Benachteiligung nachhaltig zu vermindern (impairment, disability, handicap). Die Grenzen der ICIDH, die vor allem in der von ihr unterstellten Linearität von Entwicklungsprozessen bestehen, haben allerdings ihre Überarbeitung und Weiterentwicklung notwendig gemacht. Impairment Beeinträchtigung, Substanzverlust oder Veränderung einer psychischen, physischen oder anatomischen Struktur

Disability

Handicap

Störung bzw. Beeinträchtigung, die partielle oder vollständige Reduktion einer üblichen Fähigkeit oder Fertigkeit des Menschen, die aufgrund einer Schädigung entstanden ist

Behinderung, soziale Benachteiligung eines Individuums, welche sich aus einer Behinderung und/oder Störung ergibt und welche die Wahrnehmung einer (in Bezug auf Alter, Geschlecht, soziale und kulturelle Faktoren) als normal angesehenen Rolle einschränkt oder unmöglich macht

Schema 1: Behinderung im Verständnis der ICIDH (WHO, 1980).36

—————

35 Vgl. Ulrich H. Körtner zum Krankheitsbegriff: „Zielsetzung und Anlaß medizinischen Handelns werden durch die Begriffe ‚Gesundheit‘ und ‚Krankheit‘ benannt. ‚Gesundheit‘ ist die teleologische, ‚Krankheit‘ die legitimatorische Kategorie der Medizin“ (ders., Unverfügbarkeit des Lebens? 37). Analog ließe sich hier sagen: „Behindeurng“ ist die legitamatorische Kategorie des Systems von Rehabilitation und Sozialer Arbeit, „Leben mit der Behinderung“ als eine Form von „Gesundheit“ ist seine teleologische Kategorie. 36 Darstellung nach Fornefeld, Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik, 49.

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(2) Die neue Klassifikation der WHO aus dem Jahr 2001 (ICF) hat diese Weiterentwicklung vollzogen und zeichnet sich gegenüber ihrer Vorgängerin durch zahlreiche Vorzüge aus: – sie erweitert das begriffliche Instrumentarium, indem sie zwei Teile mit jeweils zwei Komponenten unterscheidet (Teil 1: Funktionsfähigkeit und Behinderung mit den Komponenten (a) Körperfunktionen und -strukturen und (b) Aktivitäten und Partizipation; Teil 2: Kontextfaktoren mit den Komponenten (a) Umweltfaktoren und (b) personenbezogene Faktoren),37 – sie differenziert die einzelnen Aspekte innerhalb der Hauptfaktoren aus und klärt dadurch in unvergleichlich höherem Maße die Möglichkeiten ihrer pädagogischen oder politischen Beeinflussung, – sie löst sich von der einseitigen Wahrnehmung des Defizits und stellt dadurch jeden Aspekt in seiner konkreten Ausprägung (auf einer fünfwertigen Skala) dar. Die ICF geht nach dem Urteil Georg Theunissens „von einem reziproken, prozesshaften Zusammenwirken individueller (biologischer, kognitiver, sensomotorischer, affektiver) und sozialer (zwischenmenschlicher, kontextueller, gesellschaftlicher) Faktoren“ aus und ermögliche damit „eine lebensweltbezogene, gemeindeintegrierte Behindertenarbeit“.38 Pädagogische und politische Handlungsansätze ergeben sich im Rahmen der ICF praktisch auf allen Beschreibungsebenen. Eindimensionale Kausalitäten werden vermieden. Vielmehr ist es möglich, die jeweils individuelle Lebenssituation innerhalb der Faktorenwechselwirkung zu erfassen und auf sie pädagogisch zu reagieren. Gesundheitsproblem

Körperfunktionen und -strukturen

Umweltfaktoren

Partizipation [Teilhabe]

Aktivitäten

Personenbezogene Faktoren

Schema 2: Behinderung im Verständnis der ICF (WHO, 2001).39

————— 37 38 39

Vgl. ICF, 16. Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 32. Darstellung nach ICF, 23.

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(3) Wie bereits deutlich gemacht, unterscheidet sich Georg Theunissens Verständnis von (geistiger) Behinderung von dem der ICF durch seine Berücksichtigung der Subjekt-Perspektive. Nach seiner Theorie lässt sich das Phänomen „geistige Behinderung“ aus der Verknüpfung von vier Faktoren verstehen: – Faktor A: biologische Gegebenheit, – Faktor B: Lern- und Entwicklungsbereich, – Faktor C: Kontextfaktoren, – Faktor D: Subjekt-Perspektive. Theunissen macht mit seiner Erweiterung die Dimension der SelbstKonzepte zu einem Thema pädagogischer und sozialer Arbeit. Dadurch wird das Verständnis von Behinderung in erheblichem Maß vertieft. Darüber hinaus macht Theunissen deutlich, dass „aus einzelnen Faktorenkombinationen nicht zwangsläufig auf geistige Behinderung geschlossen werden darf“.40 Solche Kombinationen seien zwar aufschlussreich mit Blick auf bestimmte Entwicklungs- und Risikofaktoren, die an der Ausprägung von Beeinträchtigungen beteiligt sein können, die als „geistige Behinderung“ wahrgenommen werden. Die „Komplexität und Relativität des Phänomens ‚geistige Behinderung‘“ könne aber nur „im dynamischen Wechselspiel der vier Faktoren ergründet und beschrieben werden“.41 Noch deutlicher gesagt: aller vier Faktoren. Auf dem Hintergrund dieser Faktorenverknüpfung „definiert“ Theunissen „geistige Behinderung als ein Etikett […], das Menschen auferlegt wird, die angesichts spezifischer Beeinträchtigungen auf kognitiver, motorischer, sensorischer, emotionaler, sozialer und aktionaler Ebene und darauf abgestimmter Bewältigungsstrategien einen entsprechenden ressourcenorientierten Unterstützungsbedarf (need support) zur Verwirklichung der Grundphänomene menschlichen Lebens benötigen, der von lebensweltbezogenen Maßnahmen (environmental changes) nicht losgelöst betrachtet werden darf“.42

————— 40 41 42

Theunissen, Pädagogik bei geistiger Behinderung (2005), 47. Ebd., 43. Ebd., 48.

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D BD

A AC

AD

ABD

AB

ACD

ABCD

ABC

CD

BCD

BC

AC

C

BD

B Schema 3: Behinderung als dynamisches Wechselspiel von vier Faktoren nach G. Theunissen43

(4) Die beiden letztgenannten Konzepte machen deutlich, dass mittlerweile theoretisch hoch differenzierte, methodisch anschlussfähige und multidimensionale Verständnisweisen von Behinderung vorliegen, auf deren Grundlage eine nachhaltige pädagogische, soziale und politische Praxis entwickelt werden kann. Trotz dieser unzweifelhaften Leistung halte ich die genannten Konzepte allerdings in doppelter Weise für ergänzungsbedürftig. Einerseits scheint es mir notwendig zu sein, das relationale Verständnis von Behinderung um die Dimension des Transzendenzverhältnisses zu erweitern. Der Einfluss von Sinnwelten und Glaubensgewissheiten auf das Selbst- und Weltverständnis von Menschen erscheint mir auf ungerechtfertigte Weise ausgeblendet zu sein. Diese Dimension ist deshalb sowohl analytisch als auch pädagogisch, sozial und politisch zu berücksichtigen. Andererseits scheint es mir sinnvoll zu sein, die traditionelle Frage „Was ist Behinderung?“ zu transformieren und stattdessen zu fragen: „Was heißt Menschsein mit einer Behinderung?“ Für die Steuerung individueller Anspruchsberechtigungen und professioneller Rehabilitations- und Assistenzleistungen ist die juristische Definition von Behinderung, wie sie § 2 SGB IX bietet, funktional angemessen. Für die pädagogische, soziale und politische Arbeit jedoch erscheint es mir ————— 43

Ebd.

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sinnvoll zu sein, den Behinderungsbegriff mehr in den Hintergrund treten zu lassen und sich stattdessen an einem Verständnis des Menschseins mit einer Behinderung zu orientieren. Gewiss: die Behinderung selbst ist ein multidimensionales, relationales Phänomen, dessen unterschiedliche Faktoren oben herausgearbeitet worden sind. Wenn vom „Menschsein mit einer Behinderung“ gesprochen wird, muss das multidimensionale Verständnis des Phänomens „Behinderung“ präsent gehalten werden. Wenn wir aber pädagogische Ziele wie z.B. Kompetenz reflektieren, geht es uns um Fähigkeiten eines Subjekts, das mehr ist als seine Behinderung. Weil es pädagogisch darum geht, dass sich Menschen Ressourcen erschließen, Bewältigungsformen entwickeln, Selbstbestimmungsfähigkeit gewinnen und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten erlangen, ist es sinnvoll, den Blick über das Phänomen Behinderung hinaus auf das beziehungsreiche Menschsein als ganzes zu richten. Darüber hinaus bedeutet die sog. Neutralisierung des Behinderungsbegriffs im Kern bereits den Übergang vom Phänomen „Behinderung“ hin zu der erweiterten Perspektive des „Menschseins mit einer Behinderung“. Das Phänomen „Behinderung“ ist eine konkrete Funktionsbeeinträchtigung, die in der Interdependenz mit individuellen, strukturellen und sozialen Faktoren auftritt. Sobald sich der Blick über diese Funktionsbeeinträchtigung hinaus erweitert und auch die Ressourcen, Fähigkeiten und Möglichkeiten einer Person wahrnimmt, steht bereits das Menschsein als ganzes, das Menschsein mit einer Behinderung in der Vielfalt seiner individuellen und sozialen Lebensbeziehungen vor Augen. In der Fachsprache ist die Bezeichnung „Behinderte“ längst durch „Menschen mit einer Behinderung“ abgelöst worden. Auch die Reflexion pädagogischer, sozialer und politischer Praxis sollte sich weniger am (multidimensionalen) Phänomen einer Behinderung ausrichten als vielmehr an den vielfältigen Beziehungsgestalten des Menschseins, zu denen unter anderen auch das Leben mit einer Behinderung gehört.

9.3 „Wer bin ich?“ Identitätsbildung in Beziehungen „Wer bin ich?“, fragt Dietrich Bonhoeffer in seinem gleichnamigen Gedicht. „Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? […] Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? […] / Wer bin ich? Der oder jener? / Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? / Bin ich beides zugleich? […] / Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, O Gott!“.44 Bonhoeffers Gedicht geht von der klassischen Gegenüberstellung von Fremdbild und Selbstbild aus. „Sie ————— 44

Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, 513f.

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sagen mir oft“ steht auf der einen Seite. Aber: „Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?“. Das Selbstbild ist dem Fremdbild gegenüber in völlig anderen Farben gezeichnet. Bis zu diesem Punkt lässt sich die „Dramaturgie“ des Gedichtes problemlos in die klassischen Identitätstheorien einzeichnen. In der Schlusszeile aber fügt Bonhoeffer der Spannung von Fremd- und Selbstbild eine Wendung hinzu, für die in den sozialwissenschaftlichen Identitätstheorien in der Regel kein Platz vorgesehen ist: „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, O Gott!“. Das im Glauben hergestellte Gottesverhältnis wird von Bonhoeffer nicht einfach nur als eine weitere Dimension eingeführt. Ihm kommt darüber hinaus auch eine erhebliche, für die Identitätsbildung zentrale Bedeutung zu: das Glaubensverhältnis ermöglicht es, die gegensätzlichen Erfahrungen, das „Unabgerundete“ und Spannungsvolle der Selbst- und Fremdwahrnehmung auszuhalten und anzunehmen. Das Gottesverhältnis vollendet die Identität nicht in einer harmonischen Abrundung, sondern ist buchstäblich der Grund dafür, ihre Fragmentarität annehmen zu können. Die in den vergangenen Abschnitten zusammenfassend dargestellte Beziehungsvielfalt des menschlichen Lebens legt es nahe, an dieser Stelle um eine Notiz zum Identitätsthema ergänzt zu werden. Eine Notiz. Ihr Anspruch kann nicht in der erschöpfenden Erörterung liegen. Vielmehr geht es mir lediglich darum, verschiedene Aspekte des Identitätsthemas, die ich in den einzelnen Kapiteln gestreift oder angesprochen habe, auf einander zu beziehen. Insbesondere möchte ich das in Kap. 3.6 dargestellte Identitätsmodell von Hans-Peter Frey noch einmal aufgreifen und die Dimension des menschlichen Grundverhältnisses erweitern. Hans-Peter Frey hat den Prozess der Herstellung und Darstellung von Identität an dem Modell des „personal being“ von Rom Harre erläutert. Dabei entsteht das Bild eines zirkulären Prozesses, der aus den folgenden vier Faktoren besteht:45 – Appropriation als „Aneignung der Außenperspektive zu einer Innenperspektive“; – Transformation als aktiver Entwicklungsprozess in der Innenperspektive von Personen, innerhalb dessen diese die Außenerfahrung und ihre „biographisch akkumulierte Selbst-Erfahrung voneinander scheiden und somit ihre Individualität entwickeln“; – Publication als Darstellung der durch den Transformationsprozess entwickelten persönlichen Identität nach Außen; – Conventionalization als allmähliche Gestaltung und Veränderung der soziokulturellen Ordnung durch die mit der persönlichen Identität verbun————— 45

Vgl. Frey/Haußer, Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, 17f.

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denen individuellen Innovationen. Frey macht deutlich, dass dieser vierte Faktor nicht mehr zum Gegenstand der Identitätsforschung gehöre. Für die angemessene Analyse des Transformationsprozesses hält es Frey für entscheidend, die beiden Aspekte des „sozialen“ und des „privaten Selbst“ strikt zu unterscheiden. Während das „soziale Selbst“ diejenige „Konfiguration an Selbsterfahrungen bezeichnet […], die der einzelne unmittelbar aus seiner Umwelt ableitet“,46 stellt das „private Selbst“ das biografisch akkumulierte Wissen über sich selbst dar. Der Prozess der Identitätsbildung lässt sich vor diesem Hintergrund als die Herstellung einer Balance „zwischen wahrgenommenen sozialen und internen Selbst-Erfahrungen“47 begreifen. Gerade dieses Verständnis der Identitätsdynamik bedarf der Ergänzung durch die Einbeziehung des menschlichen Transzendenzbezugs. Menschen nehmen sich nicht nur in dem Blick wahr, den andere Menschen auf sie werfen und den sie – selektiv – in ihr soziales Selbst aufgenommen haben. Sie nehmen sich auch im Horizont ihres Grundverhältnisses wahr, im Horizont ihres Glaubens bzw. eines – im weitesten Sinn zu verstehenden – religiösen Sinns. Diese Dimension habe ich in oben ausführlich erörtert. Hier möchte ich sie insbesondere im Horizont christlicher Theologie noch einmal aufnehmen. In ihrem Selbstbewusstsein sind sich Menschen erschlossen als passiv zur Freiheit bestimmt. Das Grundverhältnis ist deshalb bereits in ihrem Selbstverhältnis vorausgesetzt und enthalten. Die konkrete Gestalt und Gestaltung dieses Verhältnisses einschließlich des dabei zum Tragen kommenden Gottes- und Glaubensverständnisses ist aber vermittelt. Gottes- und Glaubensverständnisse werden durch religiöse Kommunikation und durch individuelle religiöse Erfahrung gebildet. Der kirchlichen Verkündigung und Praxis (oder allgemeiner: der Kommunikation und Praxis der jeweiligen religiösen Glaubensgemeinschaft) kommt dafür entscheidende Bedeutung zu. Ebenso der religiösen Kommunikation in relevanten Familien- und Freundschaftsbezügen sowie in sozialisierenden Institutionen (Kindergarten, Schule etc.). Diesen Aspekt des kommunikativ hergestellten Verständnisses über die Stellung des Selbst gegenüber Gott (bzw. allgemeiner: einem transzendenten Grund) kann man als das „religiöse Selbst“ eines Menschen bezeichnen. Diese Dimension wird zwar durch soziale Interaktion vermittelt, fällt aber keineswegs mit dem „sozialen Selbst“ zusammen. In ihr geht es vielmehr um eine Konfiguration von Selbsterfahrungen, in denen sich das Subjekt im Horizont seines Gottesverhältnisses (allgemeiner: eines transzendenten Sinn-Grundes) wahrnimmt. Theologisch konkret: im „religiösen Selbst“ geht es um die Selbstwahrnehmung des Subjekts in der Per————— 46 47

Ebd., 18. Ebd.

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spektive des Glaubens an den dreieinigen Gott. Analog zum „sozialen Selbst“ geht es aber auch hier nicht um eine unveränderte Übernahme der Inhalte des „religiösen Selbst“. Vielmehr geht es erneut um deren Transformation, um einen Entwicklungsprozess mithin, in dem die Person die im „religiösen Selbst“ präsentierten Inhalte mit den in ihrer biografischen Selbsterfahrung akkumulierten Bildern vergleicht und selektiv aneignet. Die theologische Reflexion von Sünde kann im Übrigen an dieser Stelle ansetzen, indem sie thematisiert, ob der durch „Selektion, Attribution, Vergessen, Verdrängen, Erinnern, Vergleichen, Assimilieren“48 usw. zu Stande kommende Auseinandersetzungsprozess mit Blick auf das im Evangelium offenbare Gottes-, Selbst- und Weltverständnis angemessen ist. Die Dynamik der Identitätsbildung besteht deshalb in der Herstellung einer Balance zwischen dem sozialen Selbst, dem religiösen Selbst und dem Selbstverständnis des Ich. Diese Balance ist keine Identität – sofern deren Begriff wörtlich und ernst genommen wird. Sie ist weder abschließbar noch harmonisch. Sie ist eine Relation, kein dauerhafter Besitz und keine gelungene Ganzheit. Gerade in dem Moment, in dem das „religiöse Selbst“ in die Dynamik der Identitätsbildung einbezogen und theologisch konkret reflektiert wird, treten die Diskrepanzen, die Frey bereits zwischen „sozialem“ und „privatem Selbst“ wahrgenommen und als normal gekennzeichnet hatte, umso deutlicher hervor. Im Entfremdungsverhältnis der Sünde wird die Spannung, die Diskrepanz forciert und vom Selbst als Drama des personalen Lebens erfahren. Umgekehrt ermöglicht der Glaube die Überwindung der Diskrepanz im Verhältnis zu Gott und zugleich die Annahme des spannungsreichen Verhältnisses zwischen „sozialem Selbst“ und individuellem Selbstverständnis. Aber auch im Glauben wird keine harmonische IchIdentität hergestellt. Die „Identität“ bleibt vielmehr von der Entfremdung durch die Sünde bedroht und auf Erneuerung angewiesen. Sie bleibt mithin Fragment. „Erst wenn wir uns als Fragmente verstehen, erkennen wir unser Angewiesensein auf Vollendung, auf Ergänzung an. Erst und nur wenn wir aus diesem Verwiesensein unserer fragmentarischen Existenz leben, sind wir gerechtfertigt“.49

9.4 „Wer bin ich?“ Und als Mensch mit einer Behinderung? „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, O Gott!“, lautet die Schlusszeile in Bonhoeffers Gedicht. Die christliche Theologie rückt das Identitätsthema in eine erweiterte Perspektive. Indem sie auf die Entfrem————— 48 49

Ebd. Luther, Identität und Fragment, 173.

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dung durch die Sünde aufmerksam macht, verschärft sie das Identitätsdilemma. Sie macht deutlich, dass durch die Sünde die Diskrepanz zwischen dem im „religiösen Selbst“ präsentierten Entsprechungsverhältnis von Gott und Mensch und seinem tatsächlichen Selbstverständnis radikalisiert wird. Das im „religiösen Selbst“ präsentierte Wort Gottes wird für das Ich zum Gesetz. Auf der anderen Seite macht die christliche Theologie in der Rechtfertigungslehre deutlich, dass das durch Gott erneuerte Grundverhältnis Menschen zu einem Glauben inspiriert, der gerade in der Annahme der eigenen fragmentarischen Identität besteht. Das im „religiösen Selbst“ präsentierte Wort Gottes wird für das Ich zum Evangelium. Wer bin ich? Die christliche Theologie antwortet darauf: jeder Mensch ist Gottes Bild, von Gott geschaffen und zur Entsprechung zu ihm bestimmt – seine tragenden Lebensbeziehungen sind durch die Sünde gestört und sein Identitätsdilemma dadurch radikalisiert – im Glauben an das Evangelium Jesu Christi erfährt er Annahme durch Gott und die Erneuerung seiner tragenden Lebensbeziehungen – in der eschatologischen Vollendung wird seine fragmentarische Identität von Gott zu einem „geistlichen Leib“ (1Kor 15,44) verwandelt, zu einer Person, die Gott „von Angesicht zu Angesicht“ (1Kor 13,12) schaut. Und als Mensch mit einer Behinderung? In der christlichen Theologie sind die eben beschriebenen anthropologischen Aussagen unstrittig – in Bezug auf alle Menschen. Zwischen den von mir analysierten theologischen Entwürfen bestehen an dieser Stelle lediglich Nuancen in den Formulierungen nicht aber in der Sache. Dennoch aber haben die gleichen Entwürfe zu erkennbar verschiedenen theologischen Interpretationen gefunden: Behinderung als Teil der guten Schöpfung Gottes, als Charisma, als Last, als Prüfung, als Ausdruck der gottwidrigen Macht des Nichtigen? Ich habe eingangs deutlich gemacht, dass jede besondere theologische Interpretation m.E. verfehlt ist. Menschsein mit einer Behinderung ist eine spezifische Gestalt des Menschseins in Beziehung. Dennoch stellen Menschen die Frage „wer bin ich?“ mit Blick auf ihre eigene, individuelle Lebenssituation. Und erwarten eine Antwort. Auch und gerade im Glauben. Menschen mit und ohne Behinderung.50 Ist es unter dieser Voraussetzung möglich, die Aussage, dass Menschsein mit einer Behinderung eine spezifische Gestalt des Menschseins in Beziehung ist, zu vertiefen? Um dies zu reflektieren, möchte ich zunächst die Bedingungen —————

50 Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung, die sich nicht verbal artikulieren können, stellen zwar die Frage „Wer bin ich?“ nicht explizit. In der konkreten Art ihrer Gestik, Mimik, leibbestimmten Interaktion usw. stellen sie gleichwohl Beziehungen her und gewinnen in diesen lebenstragenden Relationen ihre Identität. Die Frage „Wer bin ich?“ kann deshalb auch ohne Worte gestellt und beantwortet werden.

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klären, die eine Konkretisierung und Vertiefung erfüllen müsste. Folgende Aspekte halte ich für wesentlich: (1) In einer solchen Interpretation muss der relationale Charakter des Phänomens „Behinderung“ und die relationale Struktur des Menschseins mit einer Behinderung aufgenommen sein. Sie muss m.a.W. dem Charakter einer relationalen theologischen Anthropologie entsprechen. Damit scheiden m.E. Interpretationen aus, die das Menschsein mit einer Behinderung als ein besonderes ontologisches Phänomen deuten: als geschädigte Schöpfung, als Ausdruck der Macht des Nichtigen usw. (2) Sie muss inklusiv formuliert sein, darf also mit Blick auf Menschen mit einer Behinderung theologisch nichts anderes sagen als etwas, was sie – mit einer spezifischen Konkretion, aber doch grundsätzlich – analog für andere Gestalten des Menschseins in Beziehung sagen würde. (3) Sie muss darüber hinaus so formuliert sein, dass sie durch eine trinitarische Interpretation ihrerseits differenziert und weitergeführt werden kann. Sie muss m.a.W. nicht nur für eine Deutung des Menschseins als imago trinitatis offen sein, sondern durch diese auch vertieft verstanden werden können. (4) Schließlich muss sie aber auch so offen sein, dass sie unterschiedliche Selbstdeutungen der eigenen Lebenssituation möglich macht. Sie muss m.a.W. eine Balance zwischen der möglichen Konkretion und der nötigen Offenheit wahren. So muss sie beispielsweise in der Lage sein, Raum für zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Deutungen wie die von Fredi Saal und Karl-Hermann Kandler zu geben. „Warum sollte ich ein anderer sein wollen?“, fragt Fredi Saal und deutet sein eigenes Leben mit einer Behinderung im Horizont des Wortes Gottes „und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31). Karl-Hermann Kandler dagegen versteht seine Behinderung als eine „von Gott auferlegte Last“,51 die zur Bewährung des Glaubens und der Liebe herausfordert.52 Beide Interpretationen sind relational verfasst. Ich glaube, dass den von mir genannten Bedingungen dann am besten entsprochen wird, wenn man das Menschsein mit einer Behinderung als ein beziehungsbestimmtes Leben mit einer individuellen Gegebenheit versteht. Dabei ist der Begriff „Gegebenheit“ neutral zu verstehen – er darf nicht von vornherein mit „Charisma“ oder „Last“ konnotiert sein. Darüber hinaus müssen die verschiedenen Dimensionen des relationalen Phänomens „Behinderung“ gut unterschieden werden können. Selbstverständlich gehören zu jedem individuellen Leben zahlreiche „Gegebenheiten“: Faktoren physopsychischer, sozialer, gesellschaftlicher, ————— 51 52

Kandler, Behindertenethik, 112 [Hervorhebung von mir; U.L.]. Vgl. ebd., 113.

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kultureller – und anderer – Art, die zu den Bedingungen gehören, unter denen sich ein individuelles Leben vorfindet und mit denen es sich in seiner Entwicklung auseinandersetzt. Diese Bedingungen sind in unterschiedlicher Weise veränderbar. Sie bilden aber gleichwohl die Gegebenheiten, die einer individuellen Entwicklung vorgegeben sind und die zugleich – und zwar im Rahmen der menschlichen Lebensbeziehungen – gestaltet, beeinflusst und verändert werden. Der Begriff „Gegebenheit“ ist also weder statisch zu verstehen noch auf das Phänomen einer Behinderung einzuschränken. Die jeweilige „Gegebenheit“ muss daher stets konkret beschrieben und bestimmt werden, damit die Formulierung „beziehungsbestimmtes Leben mit einer individuellen Gegebenheit“ konkret und aussagefähig wird. Dies ist in den ersten beiden Abschnitten dieses Kapitels erfolgt. Behinderung als „beziehungsbestimmtes Leben mit einer individuellen Gegebenheit“. Diesen theologischen Deutungsversuch möchte ich differenzieren, indem ich ihn auf meine oben genannten vier Bedingungen zurückbeziehe. (1) Die Interpretation „beziehungsbestimmtes Leben mit einer individuellen Gegebenheit“ ist relational. Sie wahrt nicht nur den relationalen Charakter menschlicher Existenz überhaupt – auch das Phänomen der „Behinderung“ im engeren Sinn bleibt in seinem relationalen Charakter berücksichtigt. Der Begriff der „Gegebenheit“ bezieht sich zunächst auf die somatologische Dimension des Menschseins. Er macht deutlich, dass es sich hier um eine konkrete Gegebenheit bzw. ein Widerfahrnis handelt, die als Moment der eigenen Körperlichkeit die individuelle Leiblichkeit und alle Lebensbeziehungen eines Menschen bestimmt. Menschliches Leben ist als individuelles, d.h. einzigartiges und unverwechselbares Leben unhintergehbar durch die eigene Leiblichkeit bestimmt. Es ist das Leben mit einem eigenen Körper als individueller Leib. Die passive Bestimmung des Menschen zur (relationalen) Selbstbestimmung ist als individuelle Bestimmung unhintergehbar leiblich bestimmt und deshalb mit konkreten Körperfunktionen und –strukturen verbunden. Für Menschen mit einer Behinderung bedeutet dies, zu einem selbstbestimmten Leben bestimmt zu sein, das – je individuell – mit körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionsbeeinträchtigungen verbunden ist. Als Menschsein in Beziehung ist es aber nicht nur von diesen Erschwernissen, sondern zugleich von Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten geprägt. Die Funktionsbeeinträchtigung der Behinderung ist ein Aspekt der persönlich konkreten Bestimmung zu einem selbstbestimmten Leben in Beziehungen. Insofern ist sie individuelle Gegebenheit. Die darin zum Ausdruck kommende Passivität macht deutlich, dass es sich um eine Bestimmung handelt, die der jeweiligen Person vorgegeben ist. Dabei kann offen bleiben, ob die soma-

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tologische Dimension der Behinderung prä-, peri- oder postnatal, durch einen Unfall oder in Folge einer Krankheit entstanden ist. Als Widerfahrnis gehört sie zu den konkreten Bedingungen unter denen das jeweilige individuelle Leben zu gestalten ist. Das schließt ein, dass die Gegebenheit der Behinderung innerhalb der verschiedenen Beziehungsdimensionen des menschlichen Lebens beeinflusst wird und zugleich beeinflusst werden kann. Deshalb ist sie nicht nur ein somatologisches, sondern ein multidimensionales und relational konstituiertes Phänomen. Ich habe oben deutlich gemacht, dass die konkrete Gestalt des Lebens mit einer Behinderung durch die Vielzahl der Beziehungsdimensionen mitbestimmt, beispielsweise durch konkrete Förderung, Bildung und Teilhabe. Meine Formulierung „beziehungsbestimmtes Leben mit einer individuellen Gegebenheit“ bedeutet deshalb keineswegs die passive Hinnahme der eigenen Beeinträchtigung als eines unveränderlichen „Schicksals“. Vielmehr ist die Gegebenheit zugleich eine Aufgabe, eine Herausforderung – eben zu einem selbstbestimmten Leben in Beziehungen mit dieser spezifischen Gegebenheit. (2) Die Formulierung „beziehungsbestimmtes Leben mit einer individuellen Gegebenheit“ ist darüber hinaus auch inklusiv. Auch andere Gestalten und Situationen individuell gelebten Lebens lassen sich so verstehen: Lebensphasen wie die Jugend oder das Alter, das Leben mit besonderen Begabungen oder unter dem Eindruck von Krankheit, die Bestimmtheit durch das eigene Geschlecht oder die individuelle Zugehörigkeit zu einer Nation sowie einem Kultur- und Geschichtsraum. In jeder dieser spezifischen Gestalten des Lebens ist das jeweils konkret zu beschreibende Phänomen Moment einer Gegebenheit, die einerseits vorgegeben ist und andererseits der aktiven Gestaltung offen steht. (3) Der Begriff „Gegebenheit“ impliziert darüber hinaus einen Geber und macht damit auf die theologische Dimension der Interpretation aufmerksam. Sie deutet die konkrete Existenz aus ihrem Grundverhältnis heraus und unterscheidet sich gerade dadurch von anderen Interpretationen. Mit dem Begriff der „Gegebenheit“ wird Gott als der Geber des Lebens, als die „Quelle des Lebens“ (Ps 36,10) impliziert. Als Geber und Quelle des Lebens schlechthin – nicht als unmittelbarer Verursacher der konkreten Einschränkung und Lebenserschwernis. Gott ist der Schöpfer, Erhalter, Versöhner und Vollender des Lebens. Obwohl für die konkrete „Behinderung“ sehr unterschiedliche Ursachen verantwortlich sind, bringt die Formulierung „Gegebenheit“ das individuell konkret erfahrene Widerfahrnis mittelbar mit Gott in Verbindung. Behinderungen sind Bestandteile der geschaffenen, entfremdeten, versöhnten und ihrer Vollendung harrenden Welt. Sie sind keine Schöpfungspannen und kei-

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ne Wirkungen widergöttlicher und dämonischer Kräfte. „Wer hat dem Menschen den Mund geschaffen? Oder wer hat den Stummen oder Tauben oder Sehenden oder Blinden gemacht? Habe ich’s nicht getan, der Herr?“ (Ex 4,11). Sehende und Blinde, Sprechende und Stumme gehören gleichermaßen zur Schöpfung Gottes. Menschen mit und ohne geistige Behinderung. „Roller“ und „Latscher“. Luthers Auslegung des ersten Artikels gilt für die ganz konkrete Existenz eines jeden Menschen: „Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat, mir Leib und Seele, Vernunft und alle Glieder gegeben hat und noch erhält“. Mit oder ohne Behinderung. Immer aber als Bestimmtheit der konkreten Existenz. Mit ihren Gaben und Gegebenheiten. Auch mit der Herausforderung, dieses Leben in Beziehung mit einer Behinderung zu führen. Als die Zumutung: „Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist“.53 Menschsein mit einer Behinderung wird, wenn es als das beziehungsbestimmte Leben mit einer individuellen Gegebenheit verstanden wird, zugleich als eine bestimmte Gestalt des fragmentarischen menschlichen Lebens gedeutet. Als eine Gestalt. Nicht: als ihr Inbegriff. Jedes individuelle Leben ist fragmentarisch. Es ist begrenzt und begabt, endlich und entwicklungsoffen, unvollkommen und unausgeschöpft. Jeweils konkret. Deshalb auch: mehr oder weniger. Daher kann auch dem Satz: „alle Menschen sind irgendwie behindert“ nur widersprochen werden. Sätze solcher Art werden von Menschen mit Behinderung zu Recht als zynisch kritisiert. Es ist unverkennbar, dass das Leben mit einer Behinderung von Lebenserschwernissen geprägt ist, die für Nichtbetroffene nur schwer nachzuvollziehen sind. Will man allerdings Sonderanthropologien vermeiden, so ist es wiederum unvermeidlich, das Leben mit einer Behinderung als konkrete Gestalt fragmentarischen Lebens zu verstehen. „Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist“. Gerade diese Formulierung Ulrich Bachs scheint mir theologisch angemessen zur Geltung zu bringen, wie sich das Sein Gottes auf das beziehungsbestimmte Sein mit einer Behinderung bezieht. Gott ist nicht der Verursacher einer Behinderung. Genauso wenig wie einer Krankheit. Dennoch gehören Behinderungen zur Schöpfung – ohne dass sie mit Sünde konnotiert sind. Die Ursachen von Behinderungen bestehen – das ist bereits angeklungen – in prä-, peri- oder postnatalen Komplikationen, Unfällen oder Krankheiten. Manche von ihnen werden durch – eigene oder fremde – menschliche Schuld herbeigeführt. Zahlreiche sind das Ergebnis biologischer Prozesse, für die weder ein Versagen noch eine Einflussmöglichkeit namhaft zu machen ist. Gott ist nicht der Verursacher einer Be————— 53

Bach, Der behinderte Mensch – ein Geschöpf Gottes, 95.

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hinderung – weder der biologisch noch der sozial induzierten. Und doch sind Behinderungen Schöpfungswirklichkeit. Das trinitarische Gottesverständnis erschließt Gottes Werk in der Schöpfung „als einen Akt göttlicher Selbstbegrenzung […], in welchem Gott sich zurücknimmt, ohne sich dadurch als Gott aufzugeben und ohne dadurch aufzuhören, als Schöpfer tätig zu bleiben“.54 Der Schöpfer konstituiert so einen Wirklichkeitsraum, in dem natürliche und soziale Prozesse wirksam werden (können). Indem Gott sich selbst begrenzt, gibt er der Wirklichkeit Wirksamkeit. Zugleich bleibt er aber auf das Gegenüber seiner Schöpfung bezogen, nimmt Teil an ihrem Leben und lässt sich von ihm berühren. In seiner Passion für die Schöpfung leidet er an ihrem Erleiden mit und lässt sie immer wieder neu Leben erleben. Im Werk des Schöpfers ist so bereits der versöhnende Gott mit präsent, der niedrige und machtlose Gott, dessen Weg durch das Leiden hindurch zum Leben führt und der deshalb zur einer Lebenskraft für die erschöpften und schöpferischen Menschen wird. „Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist“. Er leidet mit an dem, was Menschen erleiden. Er stärkt sie aber auch, dass sie ihr Leben als ihr Leben annehmen und gestalten können. Indem die christliche Theologie Gottes Sein und Handeln trinitarisch versteht, legt sich ihr auch ein analoges anthropologisches Verständnis nahe. Sie deutet den Menschen als imago trinitatis. Das hat Auswirkungen auf die Deutung humaner Lebenswege. Gottes Wirken, durch das er der Wirklichkeit Wirksamkeit gibt, bleibt auf die Welt bezogen und lässt sich in ihr Wirken hineinziehen. Gott geht dabei einen Weg, der ihn in die Tiefe der Erniedrigung und Entfremdung, des Leidens und des Todes führt. Er überwindet auf seinem Weg allerdings auch den Tod durch das Leben und die Erniedrigung in seiner Erhöhung. Er nimmt die Spannung der äußersten Gegensätze des Lebens und des Todes in sich selbst auf und trägt sie in der Einheit seiner verschiedenen Seinsweisen aus. Menschen können sich in der Analogie zu diesem Sein Gottes als fragmentarische Menschen verstehen, zu deren Leben Erfahrungen des Schmerzes und der Schwachheit ebenso gehören wie Glück und Stärkung. Sie können sich sowohl in der Tiefe der Erniedrigung als auch in der Stärkung als Bilder Gottes, als Gott entsprechende, von ihm angenommene, getröstete, begleitete und aufgerichtete Personen verstehen. Dies gilt wiederum für alle. Und es gilt für den Umgang mit der Vielzahl von Gaben und Gegebenheiten, durch die das jeweils konkrete menschliche Leben bestimmt ist. Für seine Erschwernisse und Möglichkeiten. Menschen mit einer Behinderung können ihre Lebensgegebenheiten, zu denen auch die ihre Behinderung gehört, möglicherweise ————— 54

Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung, 161.

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dadurch leichter aus der Hand Gottes annehmen, wenn sie gewiss sind, dass dieser beziehungsreiche Gott selbst Schwäche und Stärke, Erniedrigung und Erhöhung, Tod und Leben in sich selbst aufgenommen hat. Sie können dadurch gewiss sein, dass sie mit ihrer Situation, insbesondere mit derjenigen, die ihr Leben vielfach erschwert, nicht allein gelassen sind.55 (4) Ich habe die letzten Sätze bewusst als Möglichkeit formuliert. Es wäre anmaßend, wollte sie ein nichtbehinderter Mensch verallgemeinert als wirklich setzen. Menschen mit Behinderung verstehen ihr eigenes Leben aus ihrem Glauben heraus unterschiedlich. Und nicht zu jeder Zeit gleich. Erika Schuchardt hat in der Analyse von mehr als tausend autobiografischen Zeugnissen gezeigt, dass sich Menschen in der Auseinandersetzung mit Krisenerfahrungen regelmäßig verschiedene existenzielle Fragen und Herausforderungen zeigen: Ungewissheit, Gewissheit, Aggression, Verhandlung, Depression, Annahme, Aktivität und Solidarität.56 Allein deshalb kann es keine universalisierbare und zugleich individuell annehmbare Deutung von Behinderung geben. Dazu kommt, dass die jeweiligen Deutungen im Horizont eines je eigenen Gottes- und Glaubensverständnisses vollzogen werden. Die Deutung des Menschseins mit einer Behinderung als eines „beziehungsbestimmten Lebens mit einer individuellen Gegebenheit“ erweist sich aber auf dem Hintergrund des oben Gesagten als Interpretation, die für unterschiedliche persönliche Reaktions- und Ausdrucksformen Raum gibt. Eine Gegebenheit kann als neutrale Gabe, als gutes Geschenk oder leidvolle Zumutung erlebt werden. Sie kann Anlass zur Klage, ja zur zornigen Anklage, aber auch zur Verzweiflung, zur Frage oder zum Dank sein. All diese Möglichkeiten sind realistisch und als legitime Formen individueller Auseinandersetzung zu verteidigen. Tatsächlich spiegeln sie sich ja auch in den Selbstzeugnissen von Menschen mit Behinderung. Christian Judith spricht beispielsweise ausdrücklich von „Behinderung als Geschenk“,57 Karl-Hermann Kandler nennt sie eine „von Gott auferlegte Last“.58 Ähnliches dürfte auch von anderen Deutungen gelten, die in der theologischen Diskussion eine Rolle spielen: Behinderung als „Charisma“59 (Moltmann), als „Bewährungsfall des Lebens“60 (Turre). Alle diese Deutungen sind möglich. Sie können verstanden werden als jeweils individuelle Deutungen der eigenen Existenz als eines Seins in Beziehungen mit einer ————— 55 56 57 58 59 60

Vgl. zu diesen Überlegungen auch die Ausführungen in Teil B, Kap. 8.6 bis 8.9. Schuchardt, Warum gerade ich? Judith, Behinderung als Geschenk, in: Kodalle (Hg.), Homo perfectus?, 111–116. Kandler, Behindertenethik, 112. Moltmann, Die Quelle des Lebens, 71. Turre, Diakonik, 53.

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spezifischen Lebensgegebenheit. Sie sollten aber nicht generalisiert werden, weil sie gerade dadurch ihre Stärke einbüßen: die Deutungskraft für das jeweils individuelle Leben vor Gott. Die evangelische Theologie deutet das Menschsein als ein Leben in Beziehungen. Aus der Beziehung zu Gott und in der Beziehung zur sozialen und ökologischen Umwelt sowie zu sich selbst führen Menschen ihr Leben. Als Individuen, d.h. als unverwechselbare und in ihrer Einmaligkeit von Gott angenommene Personen. Vor Gott ist es normal, einmalig zu sein. Das Pendant dieser Einmaligkeit besteht darin, dass es damit ebenso normal ist, verschieden zu sein. Für Menschen aber, denen Verschiedenheit zugeschrieben und die in Folge dessen primär als anders wahrgenommen werden, ist es wichtig, dass es ebenso normal ist, unmittelbar zugehörig zu sein. Individualität und Inklusion, Einmaligkeit und Zugehörigkeit sind daher auf einander bezogen. In anthropologischen Entwürfen, auch in theologischen, sind Menschen mit einer Behinderung über lange Zeit über ihre Behinderung, d.h. über ihre Abweichung verstanden worden. Interpretationen von Behinderung als einem „Sonderfall von menschlichem Leben“ oder als „Beschädigungen der Schöpfung“ machen dies deutlich. Ebenso wie in der Behindertenpädagogik hat sich aber auch in der theologischen Anthropologie mittlerweile ein inklusives Verständnis angebahnt und durchgesetzt. Wie auch anders? Gottebenbildlichkeit ist stets inklusiv. Ebenso der Glaube an den dreieinigen Gott, der Menschen als sein Bild geschaffen hat. Im Gottesdienst bekennen Menschen mit und ohne Behinderung ihren Glauben an diesen Gott der Schöpfung, Versöhnung und Vollendung. In diesem Glauben sind alle inkludiert: „Menschen mit und ohne Behinderung: beide jeweils so von Gott geschaffen; beide in der gefallenen Schöpfung lebend; beide (als ‚geschädigte Schöpfung‘) auf die Heilstat Christi angewiesen; beide durch Christus mit Gott versöhnt; beide Glieder am Leibe Christi, beide defizitär und auf andere angewiesen; beide mit göttlichen Gaben begabt, beide auf die Erlösung wartend. – Wo ist da eigentlich theologisch der Unterschied?“61

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Bach, Der behinderte Mensch als Thema der Theologie, 134f.

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Kirchenbindung Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation 2007. 384 Seiten mit 1 Grafik und mehreren Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-62398-5

52: Harald Beutel Die Sozialtheologie Thomas Chalmers (1780–1847) und ihre Bedeutung für die Freikirchen Eine Studie zur Diakonie der Erweckungsbewegung 2007. 320 Seiten mit 2 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62396-1

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50: Constanze Thierfelder Durch den Spiegel der Anderen Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz in Seelsorge und Beratung 2009. 256 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62394-7

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53: Gerald Kretzschmar 48: Alexander Deeg

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Predigt und Derascha Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum 2006. 608 Seiten mit 1 Grafik, 8 Tab. und 3 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62390-9

47: Eike Kohler Mit Absicht rhetorisch Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche 2006. 320 Seiten mit 5 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-62389-3

46: Thomas Böttrich Schuld bekennen – Versöhnung feiern Die Beichte im lutherischen Gottesdienst 2008. 319 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62388-6

45: Ralf Günther Seelsorge auf der Schwelle Eine linguistische Analyse von Seelsorgegesprächen im Gefängnis 2005. 357 Seiten mit beigelegter Begleit-CD, kartoniert ISBN 978-3-525-62382-4

44: Christian Stäblein Predigen nach dem Holocaust Das jüdische Gegenüber in der evangelischen Predigtlehre nach 1945 2004. 360 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62381-7

43: Barbara Städtler-Mach Kinderseelsorge Seelsorge mit Kindern und ihre pastoralpsychologische Bedeutung 2004. 229 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62378-7

42: Hellmut Santer Persönlichkeit und Gottesbild Religionspsychologische Impulse für eine Praktische Theologie 2003. 336 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62377-0

Band 41 ist vergriffen. 40: Christoph Schneider-Harpprecht Interkulturelle Seelsorge 2001. 386 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62367-1

39: Jochen Cornelius-Bundschuh Die Kirche des Wortes Zum evangelischen Predigt- und Gemeindeverständnis 2001. 352 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62366-4

38: Jan Hermelink Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft Interdisziplinäre Untersuchungen zur Gestaltung kirchlicher Beteiligung 2000. 413 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62362-6

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