Bewegung und Musikverstehen: Leibphänomenologische Perspektiven auf die musikalische Begriffsbildung bei Kindern 9783839450871

Kinder reagieren auf Musik spontan häufig mit Bewegungen. Was können uns diese zur Musik gebildeten Bewegungsgestalten ü

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German Pages 404 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Phänomenologie als Wesensforschung
2.1 Zu den Ursprüngen der philosophischen Strömung
2.2 Maurice Merleau-Ponty und die Wende von der Transzendentalphilosophie zur Wahrnehmungstheorie
2.3 Zusammenfassung der Ziele der Phänomenologie als Methode
3. Leibphänomenologische Perspektiven
3.1 Wesentliche Aspekte des phänomenologischen Leibbegriffs
3.2 Zum Verhältnis von Leib und Wahrnehmung
3.3 Der Leib, die Sprache und das Sprechen
4. Musik und Leiblichkeit
4.1 Wie begegnet uns Musik?
4.2 Musik und Bewegung
4.3 Zur Phänomenologie des Musik-Hörens
4.4 Musik als Lebenswelt
4.5 Zusammenfassung
5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?
Einleitung
5.1 Musik und leibphänomenologisches Verstehen
5.2 Musik und leibliches Lernen
5.3 Musik und sprachliches Begreifen
6. Bewegungen zu einem Orgelstück
6.1 Zur Konzeption und Methodik der Studie
6.2 Auswertung der Studie aus leibphänomenologischer Perspektive
7. Ausblick
8. Literatur
9. Danksagung
10. Anhang
Geschichten und Erlebnisberichte der Kinder
Notenbeispiele
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Bewegung und Musikverstehen: Leibphänomenologische Perspektiven auf die musikalische Begriffsbildung bei Kindern
 9783839450871

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Anna Unger-Rudroff Bewegung und Musikverstehen

Musik und Klangkultur  | Band 42

Meinen Kindern gewidmet

Anna Unger-Rudroff (Dr. phil.), geb. 1984, arbeitet als Lehrerin für Musik an einer Grundschule in Lübeck. Nach dem Studium der Musik- und Grundschulpädagogik und einer Weiterbildung im Fach Rhythmik promovierte sie im Fach Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« in Leipzig. Sie erhielt ein Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Anna Unger-Rudroff

Bewegung und Musikverstehen Leibphänomenologische Perspektiven auf die musikalische Begriffsbildung bei Kindern

Es handelt sich bei diesem Buch um die Veröffentlichung einer an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig angenommenen Dissertation.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

1.

Einleitung........................................................................... 9

2. Phänomenologie als Wesensforschung ............................................. 21 2.1 Zu den Ursprüngen der philosophischen Strömung ................................... 21 2.2 Maurice Merleau-Ponty und die Wende von der Transzendentalphilosophie zur Wahrnehmungstheorie ............................... 29 2.2.1 Merleau-Pontys kritische Auseinandersetzung mit der Husserl’schen Transzendentalphilosophie...................................... 31 2.2.2 Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie und die Überwindung von Empirismus und Intellektualismus............................................ 38 2.3 Zusammenfassung der Ziele der Phänomenologie als Methode ....................... 45 Leibphänomenologische Perspektiven ............................................ 53 Wesentliche Aspekte des phänomenologischen Leibbegriffs ......................... 53 3.1.1 Zur Unterscheidung von Leib und Körper ..................................... 54 3.1.2 Das Phänomen der Ambiguität ............................................... 56 3.1.3 Der Leib ist kein Gegenstand – Leib im Bereich des Zwischen ................. 57 3.1.4 Zum Verhältnis der Begriffe Leiblichkeit und Existenz bei Merleau-Ponty ........................................................... 58 3.1.5 Merleau-Pontys Bewegungsbegriff ........................................... 60 3.1.6 Habitueller und aktueller Leib – Gewohnheit und Spontaneität................. 64 3.1.7 Leib und Raum .............................................................. 68 3.1.8 Leib und Zeit – Leib und Geschichtlichkeit .................................... 72 3.2 Zum Verhältnis von Leib und Wahrnehmung ......................................... 73 3.2.1 Die Theorie des Leibes als Grundlegung einer Theorie der Wahrnehmung bei Merleau-Ponty......................................... 74 3.2.2 Aller Anfang liegt im Empfinden .............................................. 80 3.2.3 Wahrnehmung der eigenen Leiblichkeit – Wahrnehmung von Subjektivität.............................................. 82 3.2.4 Eigenleib und Fremdleib – Wahrnehmung im Bereich der Zwischenleiblichkeit ..................................................... 84

3. 3.1

3.2.5 Von der Wahrnehmung hin zum Erkennen .................................... 90 3.3 Der Leib, die Sprache und das Sprechen............................................. 99 3.3.1 Sprache aus phänomenologischer Sicht – die sprechende und die gesprochene Sprache bei Merleau-Ponty ................................. 99 3.3.2 Sprechen als Denken ....................................................... 104 3.3.3 Sprache als Geste .......................................................... 108 3.3.4 Die soziale Dimension von Sprache – Sprechen als Verhalten im Bereich des Zwischenleiblichen .......................................... 111 4. 4.1

4.2 4.3 4.4 4.5

Musik und Leiblichkeit ............................................................. 119 Wie begegnet uns Musik? ........................................................... 119 4.1.1 Musik, ein Gegenstand im Bewusstsein? ..................................... 120 4.1.2 Musik als Phänomen in Raum und Zeit....................................... 125 4.1.3 Musik und Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen........................... 126 Musik und Bewegung .............................................................. 139 Zur Phänomenologie des Musik-Hörens............................................. 152 Musik als Lebenswelt .............................................................. 164 Zusammenfassung ................................................................ 169

Leibphänomenologie und Musikpädagogik? ........................................ 177 Musik und leibphänomenologisches Verstehen ..................................... 178 5.1.1 Charakteristik eines (leib-)phänomenologischen Verstehensbegriffs ..........179 5.1.2 Musikverstehen aus (leib-)phänomenologischer Perspektive ................. 198 5.2 Musik und leibliches Lernen........................................................ 213 5.2.1 (Leib-)Phänomenologischer Lernbegriff ......................................214 5.2.2 Leibliches Lernen und Musik ................................................ 246 5.3 Musik und sprachliches Begreifen.................................................. 259 5.3.1 Gibt es ›leibliche‹ Begriffe? ................................................ 259 5.3.2 Exkurs: zur Symbol- und Sprachtheorie von Ernst Cassirer und Susanne K. Langer ..................................................... 274 5.3.3 Zur Anwendung eines phänomenologischen Sprachbegriffs auf einen Umgang mit Musik durch Sprache ................................. 296 5. 5.1

6. Bewegungen zu einem Orgelstück ................................................ 323 6.1 Zur Konzeption und Methodik der Studie ........................................... 323 6.2 Auswertung der Studie aus leibphänomenologischer Perspektive ................... 328 6.2.1 Wo zeigen sich Momente des leiblichen Lernens und des Verstehens aus phänomenologischer Sicht?............................................. 328 6.2.2 Zum Verhältnis von Verbalisierungen der Kinder zur Musik und vermuteten Prozessen des leiblichen Lernens und Verstehens ........................... 358

6.2.3 Zum Verhältnis vom Bewegen zur Musik und dem leiblichen Lernen und Verstehen von Musik ................................................... 363 6.2.4 Resümee ................................................................... 368 7.

Ausblick .......................................................................... 375

8.

Literatur .......................................................................... 381

9.

Danksagung ...................................................................... 395

10. Anhang ........................................................................... 397 Geschichten und Erlebnisberichte der Kinder ............................................ 397 Notenbeispiele .......................................................................... 400

1. Einleitung

Musik umgibt uns von Anfang an. Schon im Mutterleib vernimmt das Kind den musikalisch-rhythmischen Puls des Lebens. Die Welt, in die es hineinwächst, erlebt es als Klangwelt, das Musische als Wesensmerkmal unseres zwischenmenschlichen Miteinanders und als sinngebende Grundlage unserer Sprache. Es erfährt, dass Klänge durch eigenes Tun hervorgebracht und in einer bestimmten zeitlichen Ordnung zu etwas werden können, das Musik genannt wird. Kinder lassen sich von den Dingen herausfordern. Sie vertiefen sich unmittelbar in das, was sie anrührt. Auch Musik spricht sie ohne Umwege an. Das Lied, das zum Trost oder zum Einschlafen gesungen wird, kann oft sofort beruhigen; tänzerisch-rhythmische Musik beantworten Kinder gern spontan durch Bewegungen. Der erste volle Tutti-Akkord eines Orchesterkonzerts bringt ein Strahlen auf die Gesichter der jungen Konzertbesucher1 , die vielleicht in diesem Moment ahnen, dass ihnen etwas Einmaliges, Ereignishaftes widerfährt. Das Besondere an Musik ist, dass sie untrennbar an den Faktor Zeit gebunden ist. Musik ist, wenn sie sich ereignet, wenn wir ihr für die Dauer ihres Erklingens unsere Aufmerksamkeit schenken. Musikalische Wahrnehmungen stehen daher immer im Zusammenhang mit einem spezifischen Erleben von Zeitlichkeit. Das, was sich im zeitlichen Fluss ereignet, trägt einen Sinn in sich. Dieser bezieht sich auf eine der Musik innewohnende eigene Logik, deren Bezüge und Zusammenhänge im zeitlich klingenden Verlauf erst entstehen. Da wir sie als mit unserem Leben verwoben erleben, haftet der Musik ein Charakter des Selbstverständlichen an. Die Frage, was Musik eigentlich ist oder was sie ausmacht, drängt sich nicht auf – sie muss bewusst gestellt werden, zum Beispiel im Musikunterricht der Grundschule. Hier wird Musik als Lerngegenstand thematisiert. Dabei soll sie Kindern als etwas begreifbar werden, das ein eigenes Wesen, eine eigene Sinnstruktur hat. Die intuitiven Umgangsweisen, die der musikali-

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Aus Gründen der Lesbarkeit wird in der gesamten Arbeit für Personenpersonenbezeichnungen konsequent die maskuline Form verwendet. Diese Angaben beziehen sich dabei jedoch stets auf Angehörige der verschiedenen Geschlechter.

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Bewegung und Musikverstehen

schen Lebenswelt der Kinder entstammen und ein, in gewissem Grade, vorstrukturierter und reflektierter Umgang mit Musik werden hier einander angenähert. Doch wie zeigt sich nun in der musikpädagogischen Situation, dass ein Verstehen von Musik in Gang gesetzt wird? Wie nah ist das Kind der Musik, zu der es sich spontan bewegt, zu der es malt oder über die es frei spricht und assoziiert? Wie genau bezieht es sich mit seinem Handeln auf die untersuchte Musik? Jegliche Prozesse des Verstehens von Musik sind ohne ihren leiblichen Vollzug nicht denkbar. Um musikalische Wahrnehmungen zu thematisieren, bedarf es jedoch einer reflexiven Distanz zur Musik sowie zum eigenen Erleben. Da sie das Wahrgenommene nur in der ihr eigenen Diskursivität zur Darstellung bringen können, entfernen uns verbale Beschreibungen dabei besonders weit vom musikalischen Vollzug. Denn die zeitliche Ordnung von Sprache ist eine andere. Im Gegensatz zur Musik kann sie Strukturelemente nur in einem sukzessiven zeitlichen Ablauf wiedergeben. Die Komplexität des musikalischen Ereignisses kommt durch sprachliche Beschreibungen daher zwangsläufig abhanden. Sie können zudem nur nachträglich auf etwas Gestalthaftes in der Musik Bezug nehmen, das uns in Erinnerung geblieben ist. Nun ist jedoch die Wortsprache aus dem Grundschulunterricht nicht wegzudenken. Im Unterricht als sozialer Situation gilt sie als wichtigstes Mittel der Verständigung. Ob sich Prozesse des Lernens und Verstehens vollziehen, wird in der Regel mit sprachlichen Mitteln eruiert. Die zentrale Frage nach dem Verstehen von Musik ist impulsgebend für die Entwicklung zahlreicher musikdidaktischer Konzeptionen. Dabei wird Verstehen jedoch auf sehr unterschiedliche Weise im musikpädagogischen Kontext ausgelegt und verwendet. Frauke Heß zufolge ist um den Verstehensbegriff gar eine Art »musikpädagogischer Mythos« entstanden.2 Sie spricht vom Verstehen als von einem »fast schon inflationär benutzte[m] Terminus der Musikpädagogik«.3 Er werde zu häufig nur einseitig ausgelegt und daher in seiner Komplexität nicht durchdrungen. In musikpädagogischen Theorien, wie der von Wilfried Gruhn und Hans Heinrich Eggebrecht, würden beispielsweise Prozesse des Wahrnehmens, Beschreibens, Deutens oder Interpretierens bereits als Verstehen betrachtet. Dies habe zu Unklarheit beim Umgang mit dem Begriff geführt.4 Außerdem sei der Blick vieler Konzeptionen, die das Verstehen von Musik thematisieren, überwiegend auf Probleme und Defizite gerichtet.5 Die vorliegende Arbeit will an Heß‹ Kritik anknüpfen und Wege aufzeigen, wie den beklagten Mängeln begegnet werden kann. Im

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Heß 2003, 119ff. Heß 2003, 119. Vgl. Heß 2003, 122ff. Vgl. Heß 2003, 120.

1. Einleitung

Unterschied zu anderen Arbeiten wird der Verstehensbegriff hier aus dem Blickwinkel der Leibphänomenologie erarbeitet und in Bezug auf den Umgang mit Musik als Werkzeug zur Beschreibung musikpädagogischer Situationen verwendet. Dies führt zu einer Öffnung und Weitung des Verstehensbegriffs, einer kritischen Betrachtung des Umgangs mit Musik durch Sprache und der Betonung der Bedeutung der körperlich-leiblichen Bewegung für Prozesse des Wahrnehmens und Erkennens musikalischer Strukturierungen. Der Begriff Verstehen weist über die Grenzen des Faches Musikpädagogik hinaus. Aus diesem Grund ist im Laufe des nun bald 50 Jahre währenden Diskurses immer wieder auf Erkenntnisse von Nachbardisziplinen zurückgegriffen worden. Peter W. Schatt zufolge waren dies vor allem die Semiotik, Hermeneutik, Rezeptionsästhetik und Phänomenologie, aber auch die Psychologie sowie konstruktivistische Kommunikations- bzw. Interaktionstheorien.6 Als richtungsweisend für die Auseinandersetzung mit dem Verstehensbegriff gelten insbesondere die musikpädagogischen Schriften Musik verstehen von Hans Heinrich Eggebrecht, Karl Heinrich Ehrenforths Verstehen und Auslegen, von Christoph Richter zum Beispiel Musik verstehen, Hören und Verstehen – Theorie und Praxis handlungsorientierten Musikunterrichts von Hermann Rauhe, Hans Peter Reinecke und Wilfried Ribke, Verstehen – Hören – Handeln. Destruktion und Rekonstruktion der Begriffe von Mathias Flämig und neben anderen Der Musikverstand von Wilfried Gruhn.7 Die Fragen nach der Rolle der Handlung und der Verwendung der Wortsprache im Hinblick auf das Musikverstehen sind häufig ausschlaggebend für die Ausrichtung und Schwerpunktsetzung der verschiedenen Konzeptionen. Da er für pädagogisches Handeln und Alltagsgebrauch oftmals die Tarnkappe der Selbstverständlichkeit trägt, wird es als unerlässlich erachtet, auch mit diesem Buch die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Verstehens fortzuführen. Der Fokus liegt hier nun auf der Verwobenheit von »Verstehen« mit Begriffen wie Leib, Wahrnehmen, Lernen und Bewegen, da diese im Kontext musikalischer Verstehensprozesse bei Kindern im Grundschulalter eine bedeutende Rolle spielen. Einmal mehr soll hiermit der Dualismus von richtig und falsch im Hinblick auf das Verstehen überwunden und eine Ziel- beziehungsweise Erfolgsausrichtung des Verstehensbegriffs im musikpädagogischen Anwendungsgebiet kritisch hinterfragt werden. Gesucht wird vielmehr nach Wegen eines adäquaten Verstehens,8 bei dem das verstehende Kind und der Lerngegenstand Musik gleichwertig Beachtung finden. In diesem Zusammenhang soll aufgezeigt werden, dass sich die leiblich-

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Vgl. Schatt 2007, 41ff. Vgl. Ehrenforth 1971, Rauhe/Reinecke/Ribke 1975, Eggebrecht 1995, Flämig 1998, Richter 2012 und Gruhn 2014; zusammenfassend vgl. Schatt 2007, 41ff. Diese Frage findet beispielsweise bei der Theorie der mentalen Repräsentationen von Gruhn keine Berücksichtigung.

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Bewegung und Musikverstehen

körperliche Bewegung zur Musik als Zugangsweise besonders eignet. Denn sie kommt sowohl dem kindlichen (leiblichen) Lernen als auch dem Wesen der Musik besonders nahe. Zentral ist für die vorliegende Untersuchung daher der Vergleich des Umgangs mit Musik durch Wortsprache mit dem leiblich-bewegten Erschließen von Musik im Hinblick auf die Unterstützung von Verstehensprozessen. Leitend ist hierbei die Vermutung, dass sprachlich artikulierte Wahrnehmungen von musikalischen Sinnstrukturen erst einen späten und unvollständigen Einblick in die Art und Weise des Zugangs des Kindes zur Musik ermöglichen. Es ist anzunehmen, dass schon in Momenten des leiblich-bewegten Nachvollzugs, des Wahrnehmens und Empfindens, Wege des Verstehens von Musik eröffnet werden. Die Arbeit zeigt auf, dass für Prozesse des Bildens musikalischer Begriffe9 ein leiblich-bewegtes Erschließen von dem, was im musikalischen Vollzug als gestaltund strukturhaft hervortritt, von basaler Bedeutung ist. Hierfür wird der Bewegungsbegriff nach leibphänomenologischem Verständnis an den Verstehensbegriff angenähert, Verstehen als Bewegung und Bewegung als Weise der vorsprachlichen Reflexion begriffen. Angeknüpft wird dabei zum einen an Literatur aus dem Bereich der Rhythmik, Bewegungserziehung oder Tanzpädagogik, zum anderen an Konzeptionen zum Umgang mit Sprache im Musikunterricht und Theorien der Symbolbildung. Im Bereich der Bewegungserziehung und Rhythmik sind dies beispielsweise Publikationen, die der Frage nachgehen, wie das Bewegen zur Musik die Wahrnehmung von Musik zu differenzieren vermag. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang unter anderem Autoren wie Barbara Haselbach (vgl. 1993), Michaele Furgber (vgl. 2002), Marianne Steffen-Wittek und Eckart Lange (vgl. 2004), Eva Bannmüller und Peter Röthig (vgl. 2005), Helga Tervooren (vgl. 2005), Brigitta Stummer (vgl. 2006) oder Teresa Leonhardmair (vgl. 2014).10 Der Rolle der körperlich-leiblichen Bewegung bei Prozessen des Verstehens von Musik haben sich weiter bereits die wegweisenden Arbeiten der EmbodimentBewegung gewidmet. Dazu zählen beispielsweise Autoren wie Sabine C. Koch (vgl. 2013), Ivo Ignaz Berg (vgl. 2017) sowie die Autoren des von Lars Oberhaus und Christoph Stange herausgegebenen Sammelbandes Musik und Körper (vgl. 2017). Der Fokus liegt auf den jüngeren Embodiment-Konzepten, da sie nicht nur von der Musik als Verkörperung sprechen, sondern auch den Prozess der ›Einleibung‹ von Musik thematisieren. Sie verweisen auf die Verbindung von Prozessen des Inder-Musik-Seins und Zur-Musik-Seins bei der verstehenden Annäherung an Musik. Impulsgebend hierfür sei, so Berg, die Erkenntnis Christoph Richters, dass

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Hiermit sind auch vorsprachliche bzw. leibliche Begriffe gemeint. Die angeführten Veröffentlichungen beschäftigen sich besonders mit der genannten Fragestellung.

1. Einleitung

Verkörperung auf die Vorstellung zurückwirke.11 »Embodiment zeichnet sich aus durch den Doppelcharakter einer Einschreibung von Musik in den Leibkörper und von Leibkörperlichkeit in geformte Musik.«12 Wolfgang Rüdiger versteht daher das musikalische Erlebnis als »Ein- und Verkörperung von Musik«.13 Obwohl sich alle Ansätze der Embodiment-Theorie, so sagt Sabine C. Koch, auch auf MerleauPontys Leibphilosophie beziehen, gingen sie dennoch nicht ausreichend auf die »dynamischen und qualitativen Aspekte«14 von Bewegung ein. Es lohne sich daher, so Koch, die bestehenden Embodiment-Ansätze im Hinblick auf eine Vertiefung in den Leibbegriff weiterzuführen.15 Sie schlägt außerdem vor, Embodiment besser als »Leiblichkeit« zu übersetzen.16 »Embodiment bezeichnet Leibphänomene, bei denen dem Körper als lebendigem Organismus, seinen Bewegungen und Funktionen sowie der Interaktion von Leib und Umwelt eine zentrale Rolle im Rahmen der Erklärung von und den Wechselwirkungen mit Denken, Wahrnehmen, Lernen, Gedächtnis, Intelligenz, Problemlösen, Affekt, Einstellungen und Verhalten zugewiesen wird.«17 Als Konsequenz aus der beschriebenen Verwobenheit von Leib und Musik entwickelt Berg die entscheidende Frage, die auch für die vorliegende Arbeit ausschlaggebend ist: »Sind körperliche Bewegungen zur Musik und beim Musizieren auch Teil eines kognitiven, strukturellen Verstehens von Musik?«18 Auf der Suche nach einer Antwort hierauf, liegt der Fokus dieser Darstellung jedoch nicht, wie bei Berg, auf neuropsychologischen Erkenntnissen, sondern vielmehr auf Erkenntnissen der Leibphänomenologie und Symboltheorie, die für eine Anwendung im musikpädagogischen Praxisfeld handhabbar gemacht werden sollen. Interessant ist im Zusammenhang mit dieser Fragestellung auch ein Blick auf Nachbardisziplinen, wie der Tanz-, Sport- oder Bewegungspädagogik. Hier sind es unter anderem Publikationen von Andreas M. Marlovits (vgl. 2001), Ommo Grupe und Michael Krüger (vgl. 2007), Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke (vgl. 2007), Carla Hannaford (vgl. 2008) oder Beate Schüler (vgl. 2014), die für den musikpädagogischen Bereich wichtige Impulse geben. Auch die Frage, inwiefern sich Musik überhaupt durch das Medium der Wortsprache erschließen lässt, gilt längst als ein wichtiger Bestandteil des musikpäd11 12 13 14 15

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Vgl. Berg 2017, 12. Rüdiger 2017, 286. Rüdiger 2017, 287. Koch 2013, 4. Vgl. Koch 2013, 18. Koch fordert, »dass sich die Embodiment-Forschung noch umfassender in Richtung einer Leiblichkeitsforschung entwickeln muss, da dynamische und kinästhetische Aspekte noch nicht hinreichend berücksichtigt werden.« Koch 2013, 20. Vgl. Koch 2013, 19. Koch 2013, 22. Berg 2017, 13.

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Bewegung und Musikverstehen

agogischen Diskurses zum Musikverstehen. Insbesondere durch Ursula Brandstätters Theorie der »ästhetischen Transformationen«19 werden Möglichkeiten der Übersetzung musikalischer Sinnstrukturen in andere Symbolformen eruiert. Dabei verweist sie auf die Grenzen der sprachlichen Annäherung. Musik, so Brandstätter, nehme metaphorisch Bezug.20 Der einzig adäquate Weg der sprachlichen Beschreibung von Musik sei also im Metapherngebrauch zu sehen. »Musikalische Erfahrungen können mit nicht-musikalischen Erfahrungen verknüpft werden. Diese Verknüpfung beruht auf der Übertragung von musikalischen Merkmalen auf nicht-musikalische Merkmale. Diese Übertragung – sie beruht auf Analyse, Abstraktion, Vergleich und Zuordnung von Merkmalen – bedarf nicht notwendiger Weise der Sprache (viele Wahrnehmungsprozesse laufen unabhängig von begriffsbildenden sprachlichen Prozessen ab).«21 Der beschriebenen metaphorischen Bezugnahme steht Brandstätter zufolge ein »involvierendes Hören«22 gegenüber, bei dem wir uns als »Mittelpunkt der Wahrnehmung«23 und die Musik als »emotionale[n] Ausdruck«24 erleben. Diese These, dass allein der metaphorische Sprachgebrauch geeignet ist, um Erkenntnisse über Musik zu gewinnen, vertreten neben Brandstätter auch Jürgen Oberschmidt (vgl. 2011) sowie Bernd Enders und Gerhard Schmitt (vgl. 2013). Besonders Oberschmidt entwickelt eine Konzeption zum Umgang mit Metaphern für den musikpädagogischen Anwendungsbereich. In der vorliegenden Darstellung werden Erkenntnisse der phänomenologischen Sprachtheorie Merleau-Pontys sowie der Symboltheorie von Emil Cassirer und Susanne K. Langer in den Diskurs zum Umgang mit Musik durch Sprache eingeflochten. Damit soll einmal mehr begründet werden, warum der metaphorische Sprachgebrauch für ein Sprechen über Musik als adäquat betrachtet werden kann. Diese Arbeit zeigt auf, dass sich die leibphänomenologische Perspektive besonders eignet, um musikpädagogische Konzeptionen zur Rolle der Bewegung und Konzeptionen zum metaphorischen Sprachgebrauch fruchtbringend zusammenzuführen. Dies wird zum einen anhand einer Vertiefung in phänomenologische Kernbegriffe und zum anderen durch die Generierung einer, auf die Musikpädagogik bezogenen, Theorie des leiblichen Lernens verdeutlicht.

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Vgl. Brandstätter 2008 und 2013. Vgl. Brandstätter 2004, 148. Brandstätter 2004, 149f. Sie spricht auch vom »involvierende[n] Charakter der musikalischen Wahrnehmung«, Brandstätter 2004, 150. Brandstätter 2004, 151. Brandstätter 2004, 152.

1. Einleitung

Eine Ausweitung des Verstehensbegriffs auf den Bereich des Empfindens und Wahrnehmens erfolgt im Besonderen durch den französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty. Als dessen Hauptwerk zur Leib- und Wahrnehmungstheorie gilt die Phänomenologie der Wahrnehmung (1945, 1966 ins Deutsche übersetzt). Er ergründet darin das Wie von Verstehensprozessen, indem er aufzeigt, dass bei dem Verhältnis von Ich und Welt von Wechselwirkungen auszugehen ist. Dass das Sein des Menschen immer als ein Zur-Welt-Sein zu verstehen ist, bringt Merleau-Ponty mit dem Begriff des Leibes zum Ausdruck. Auf das Potential des Leibbegriffes für die Musikpädagogik haben bereits Autoren wie Werner Pütz (vgl. 1990), Rudolf zur Lippe (vgl. 1990), Christoph Richter (vgl. 1987 und 1995), Jürgen Vogt (vgl. 2001), Matthias Flämig (vgl. 2004), Christoph Khittl (vgl. 1997 und 2007), Lars Oberhaus25 (vgl. 2006 und 2017) und Constanze Rora (vgl. 2010 und 2014) aufmerksam gemacht.26 Mit Bezug auf phänomenologische sowie auf philosophisch-anthropologische Erkenntnisse beklagen sie mehrheitlich, dass der Begriff Leib beziehungsweise Körper27 im Kontext musikalischer und musikpädagogischer Praxis in den letzten Jahren zunehmend in Vergessenheit geraten und dass seine Bedeutung für Verstehensprozesse bisher unterschätzt worden ist. In ihren Forschungen beziehen sie sich auf deutschsprachige Theoretiker der letzten 20 Jahre aus den Bereichen Philosophie und Pädagogik/Erziehungswissenschaft wie Helmuth Plessner, Bernhard Waldenfels, Klaus Mollenhauer oder Käthe Meyer-Drawe. Insbesondere auf die Schriften von Waldenfels und Meyer-Drawe soll im Rahmen dieser Arbeit Bezug genommen werden, da diese Autoren philosophische Erkenntnisse zur Leiblichkeit im Bereich der (Musik-)Pädagogik zur Anwendung bringen. Dass wir die Welt nie »in völliger Transparenz vor Augen«28 haben und vielmehr immer mit ihr verwoben bleiben, darauf habe insbesondere die französische Phänomenologie aufmerksam gemacht, so Rüdiger Müller. Auch die philosophische Anthropologie in Deutschland – insbesondere mit Helmuth Plessner und seiner Unterscheidung in Körper-haben und Körper-sein – hat sich mit diesen Fragen beschäftigt.29 25 26

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Oberhaus bietet in seiner Schrift Musik als Vollzug von Leiblichkeit (2006) einen Überblick darüber, wer sich bisher mit dem Leibbegriff auseinandergesetzt hat. Auch hier beziehen sich die genannten Jahreszahlen lediglich auf Werke, bei denen der Leibbegriff eine besondere Rolle spielt. Die Leibtheorie beeinflusste jedoch auch weitere, hier nicht aufgezählte Arbeiten der genannten Autoren. In der musikpädagogischen Literatur ist sowohl von Leib als auch von Körper die Rede, wobei der Leibbegriff noch stärker betont, dass es gerade die Abgrenzung zwischen Körper und Musik ist, die im Hinblick auf Verstehensprozesse zu Missverständnissen geführt hat. Müller 2004, 63. Vgl. Müller 2004, 63. »Der Mensch ist zentrisch in einer Welt verankert, zu der er sich zum Zentrum seines Seins aus verhält, und er ist zugleich diesem Zentrum und der von ihm aus erschlossenen Welt gegenüber positioniert, exzentrisch.« Müller 2004, 64; Herv. im Original.

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Bewegung und Musikverstehen

»Sich des eigenen Lebens und Tuns bewusst werdend, greift das menschliche Subjekt strukturierend ein in diejenigen Prozesse, von denen es selbst strukturiert wird. In dieser wechselseitigen Verschränkung von Reflexion und Vollzug konstituiert sich die menschliche Erfahrungswelt als eine durch und durch gedeutete, gestaltete, künstliche Welt, d.h. als eine kulturelle Welt, die dennoch gebunden bleibt an unser leiblich-sinnliches Verhältnis zu den Dingen und zu uns selbst.«30 Symbolische Strukturierungen sind in einem Bereich anzusiedeln zwischen reflexiver Ordnung und Hingabe an die Wahrnehmung der Sachen (hier der Musik) in ihrem ursprünglichen Erscheinen und leiblichen Sein.31 Diesen Zwischenbereich gilt es im Hinblick auf Prozesse des Musikverstehens zu erschließen. Aus leibphänomenologischer Sicht ist Verstehen etwas Vorläufiges und Unabgeschlossenes. Dies erklärt, warum sich die Begriffe Lernen und Verstehen so nahestehen. Bildung wird hier nicht länger nur als beständiger Wissens- und Kompetenzzuwachs verstanden. Vielmehr spielen Momente des Infragestellens ebenso für das Verstehen eine Rolle. Diese Richtung wird bereits von der Theorie der ästhetischen Erfahrung, der ästhetischen Erziehung eingeschlagen (beispielsweise mit Gerhard Schneider 1988). Nach Hans-Rüdiger Müller ist ästhetische Erfahrung eher etwas, was Bildung negiert, indem sie Schon-Verstandenes wieder in Frage stellt. Daher fordert er zum Überdenken des Bildungsbegriffs auf und sucht nach einem Begriff, der Gewohnheiten und blindes Übernehmen ausschließt.32 In diesem Sinne fragt auch Eva Bannmüller: »Wie lassen sich Ausdrucksqualitäten entwickeln und freisetzen? Und wie lassen sich Kinder von Normen, Kopien, Gewohnheiten, Klischees wegführen und zu selbstständigen Darstellungsformen bringen?«33 Sie sieht die Aufgabe ästhetischer Erziehung darin, »sich als ein Stück didaktisch inszenierter Lebenswirklichkeit«34 zu verstehen. Insbesondere für eine leibphänomenologisch fundierte Musikpädagogik wird daher die Lebenswelt zu einem zentralen Begriff. Als Schlüssel für die Verbindung von Schule und Lebenswelt des Kindes lässt sich der Erfahrungsbegriff betrachten. Schon Karl Heinrich Ehrenforth rät, den »Schritt von der Hermeneutik des Text-Verstehens zur Phänomenologie der Lebenswelt«35 zu gehen. Die ästhetische Erziehung plädiert daher dafür, Fächer wie Musik und Sport als »ausgleichende Fächer« nicht mehr nur den »kopflastigen« Fächern gegenüberzustellen und stattdessen die Leiblichkeit als Grundlage jeglicher Wahrnehmungserziehung und ästhetischer Erziehung überhaupt zu

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Müller 2004, 65. Vgl. Müller 2004, 65. Vgl. Müller 2004, 75. Bannmüller 2005b, 111f. Bannmüller 2005b, 117. Ehrenforth 2001, 11.

1. Einleitung

verstehen.36 Umso sinnvoller erscheint es, dem Begriff der Wahrnehmung als Erkenntnisweise so auf den Grund zu gehen, wie die Phänomenologie es tut. Wie bereichernd philosophisch-phänomenologische Erkenntnisse für die Musikpädagogik sein können, zeigt die Dissertationsschrift Tonwahrnehmung und Musikhören von Josephine Geisler (vgl. 2016). Mit dem Ziel, »das musikalische Verstehen zu verstehen«,37 setzt sich die Autorin intensiv aus philosophischer Perspektive mit dem Begriff des Musikhörens und der »Tonwahrnehmung« auseinander. Aufbauend auf die These Edmund Husserls, dass der Wahrnehmung bei Erkenntnisakten eine Vorrangstellung einzuräumen ist, geht sie in phänomenologischer Manier mit der Frage: »Was ist Musik«38 auf die Sache selbst zurück. Sie befragt Theoretiker, die sich mit Husserls Schriften kritisch auseinandergesetzt haben, wie Martin Heidegger, Helmuth Plessner und Günther Anders, um letztlich die aus dem philosophischen Diskurs gewonnenen Erkenntnisse im Gebiet der Musik zum Tragen zu bringen. Dabei stellt auch sie heraus, dass Musikverstehen untrennbar an den leiblichen Vollzug gebunden und als eine Antwort auf die erlebte musikalische Bewegtheit zu verstehen ist. »Musikalisches Verstehen besteht in einer Bewegungsumsetzung von musikalischer Bewegung in leiblich-seelische Bewegtheit.«39 Auch die vorliegende Arbeit will die von Geisler beschriebene Bedeutung der Leiblichkeit für Fragen des Musikverstehens unterstreichen, tut dies jedoch in Bezugnahme auf die Leibtheorie von Maurice Merleau-Ponty,40 da sie sich besonders dem Zusammenhang zwischen leiblich-körperlicher Bewegung und Musikverstehen widmet. Der Bogen wird dabei bis hin zur konkreten musikpädagogischen Praxissituation gespannt, weshalb hier auch der Begriff des Lernens unter leibphänomenologischem Blickwinkel betrachtet wird. Mit dem Lernen als musikpädagogischem Kernthema haben sich bisher die Autoren Michael Dartsch, Georg Brunner und Mechthild Fuchs beschäftigt, Namen, die insbesondere im Zusammenhang mit der Konzeption des Aufbauenden Musikunterrichts zu nennen sind. Lina Oravec und Anne Weber-Krüger geben im Sammelband Musiklernen in der Grundschule (vgl. 2016) einen Überblick, welche musikpädagogischen Publikationen sich in den letzten Jahren dem Lernbegriff gewidmet haben. Im Rahmen dieser Arbeit soll an ihre Überlegungen angeknüpft, der Lernbegriff jedoch stärker mit dem Verstehensbegriff ins Verhältnis gesetzt und die leibphänomenologische Perspektive auf das Themenfeld erschlossen werden. Auf die Bedeutung des leiblichen Lernens beim Umgang mit Musik machen bereits 36 37 38 39 40

Bannmüller 1988, 50. Geisler 2016, 15. Geisler 2016, 11. Geisler 2016, 83. Auf die Leibtheorie Merleau-Pontys wird in der Arbeit von Josephine Geisler möglicherweise deswegen nicht eingegangen, weil sich Merleau-Ponty selbst nur sehr wenig mit dem Gebiet der Musik – eher mit dem dem der Malerei – befasst hat.

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Bewegung und Musikverstehen

Constanze Rora und Cathleen Wiese (vgl. 2014) in ihrer Weiterentwicklung der Verständigen Musikpraxis aufmerksam. Sie reflektieren das Verhältnis von Leiblichkeit und diskursivem Lernen mit Blick auf die konkrete Praxis des Grundschulmusikunterrichts. Weiter sind es insbesondere die Erkenntnisse der Pädagoginnen und Erziehungswissenschaftlerinnen Käthe Meyer-Drawe (vgl. 2008), Klaudia Schultheis (vgl. 1998) und Ursula Stenger (vgl. 2002), die im Hinblick auf eine Aufarbeitung des Themenfeldes des leiblichen Lernens im Kindesalter für die Musikpädagogik interessant sind. Zusammenfassend sollen nun einige Fragen für die Lektüre mit auf den Weg gegeben werden, die für das Verfassen dieser Dissertationsschrift handlungsleitend und strukturgebend waren: • •

• • • • •



Wie lässt sich unser Verstehen aus leibphänomenologischer Sicht erklären? Wie lässt sich Musik aus leibphänomenologischer Sicht beschreiben und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Art und Weise des Verstehens von Musik? Wie empfinden wir Musik, wie nehmen wir sie aus leibphänomenologischer Sicht wahr? Welche Rolle spielt die Sprache beim Begreifen von wahrgenommenen musikalischen Sinnzusammenhängen? Was bedeutet Lernen und Verstehen aus leibphänomenologischer Sicht und wie lässt sich dieser Betrachtungswinkel auf den Musikunterricht übertragen? Inwiefern kann durch den Bewegungsbegriff eine fruchtbringende Verbindung aus Leibphänomenologie und Musikpädagogik gelingen? Wie verhalten sich ein leiblich-bewegter Nachvollzug und eine reflexiv-sprachliche Distanz zum musikalischen Erleben im Prozess des Verstehens von Musik? Schließen sich Bewegen und Sprechen gegenseitig aus? Oder kann es auch ein Sprechen als Bewegung geben? Wie zeigen sich Momente des leiblichen Lernens und Verstehens von Musik und lassen sich diese in unterrichtlichen Situationen hervorrufen?

Im ersten Teil der Arbeit wird die Herkunft und Bedeutung des Leibbegriffes nachvollzogen. Weiter wird »Leib« ins Verhältnis gesetzt zu Begrifflichkeiten wie Wahrnehmen, Sprechen, Bewegen, Lebenswelt, Verstehen, Lernen und Begreifen, die für die Aufbereitung des Topos des Leibes und der Leiblichkeit für den musikpädagogischen Kontext relevant sind. Merleau-Ponty beschreibt den Umgang der Phänomenologie mit Begriffen als umkreisende Bewegung. Er spricht im Hinblick auf Themenkerne auch von konzentrischen Kreisen, die sich mit anderen Themenbereichen überschneiden. »Es gibt keine übergeordneten und keine untergeordneten Probleme: alle Probleme

1. Einleitung

sind konzentrische.«41 Merleau-Ponty bringt hier das Phänomen zum Ausdruck, dass eine gedankliche Vertiefung in ein Problem stets dazu führt, dass seine Bezüge zu anderen Themenfeldern umso vielfältiger werden. Da die Phänomenologie von diesen Verzweigungen ausgeht, kennt sie keine hierarchischen Strukturen von Begriffen. Einzelne Aspekte und Begriffe betrachtet sie daher wiederholt aus verschiedenen Blickwinkeln, in ihren variierenden Bezügen. Das Prinzip der Wiederholung ist nicht nur strukturgebend für die Musik, sondern auch im Hinblick auf musikalische Verstehensprozesse ohne Ersatz. Seine gestaltbildende und wesensbestimmende Wirkkraft wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung bewusst als Forschungsmethode eingesetzt. Begriffe wie Intentionalität, Bewegung, Lebenswelt, Gewohnheit und Spontaneität, Struktur und Gestalt werden wiederholt aufgegriffen, im Laufe des Textes in jeweils neuen Zusammenhängen eingebunden und erschlossen. Bevor die Ergebnisse der Begriffsarbeit im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit im Bereich der Musikpädagogik Anwendung finden, soll mit der Frage nach dem Phänomen Musik vorab geklärt werden, warum es wichtig ist, sich mit dem Verstehensbegriff im musikpädagogischen Kontext kritisch auseinanderzusetzen und welche Art des verstehenden Umgangs mit Musik überhaupt angemessen sein kann. Hier wird an Gedanken von Christian Grüny (vgl. 2014) und Susanne K. Langer (vgl. 2018) angeknüpft. Die Strukturierung, die dem pädagogischen Praxisfeld eigen ist, macht eine durch und durch leibphänomenologische Betrachtung der Prozesse Verstehen, Lernen und Begriffsbildung schwer. Nachdem die Begriffe in ihrer Bedeutung geweitet wurden, sollen sie jedoch nicht einem pädagogischen Fehlschluss anheimfallen, nicht durch die pragmatischen Rahmenvorgaben erneut als schulpädagogische Schlagwörter eine Einengung erfahren. Sie sollen weder für einseitige pädagogische Zwecke genutzt noch durch die Situation der Bewertung außer Kraft gesetzt werden. Im Rahmen dieser Untersuchung wird versucht, die Erkenntnisse der Symboltheorie von Ernst Cassirer und Susanne K. Langer zu nutzen, um eine Lösung für die gesuchte Verbindung von phänomenologischen Thesen mit der Struktur der pädagogischen Situation zu finden. Denn wenn Prozesse der Begriffsbildung allgemein als Symbolbildungen betrachtet werden, die bereits auf nichtdiskursiver Ebene beginnen, lässt sich die Begriffsbildung insgesamt auch auf den vorsprachlichen Bereich ausweiten. Musikalische Begriffsbildung ist, so betrachtet, nicht Ziel oder Endpunkt einer Auseinandersetzung mit Musik, sondern vielmehr Auslöser und Antrieb. Dies untermauert letztlich die These, dass Verstehen von Musik bereits im vorsprachlichen Bereich, mit dem Wahrnehmen und Empfinden von Musik, beginnt. »Durch die enge Umfassung von lebensweltlich Konkretem und wesensmäßig Allgemeinen, läßt sich die phänomenologische 41

Merleau-Ponty 1966, 466.

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Bewegung und Musikverstehen

Methode nicht von ihrem Gegenstand loslösen. […] Sie ist eine Bewegung und eher Weg als Ziel.«42 Das leibliche Lernen wird daher als Quelle und Weg musikalischer Begriffsbildung verstanden. Es handelt sich um Momente von musikalischen Verstehensbewegungen, die niemals zu einem Ende gelangen, die es vielmehr gilt in Bewegung zu halten. Die geschilderte Herangehensweise schlägt sich in folgender Struktur der Arbeit nieder: Das Kapitel 2 führt in die Denkströmung der Phänomenologie ein. Um im weiteren Verlauf den Schwerpunkt auf die Wahrnehmungs-, Leib- und Sprachtheorie von Merleau-Ponty zu legen, wird danach gefragt, wie sich Merleau-Pontys Ansatz zur gesamten Strömung und insbesondere zur Transzendentalphilosophie Husserls verhält. Aus phänomenologischer Sicht existiert Musik nur durch ihren Vollzug. Die Kapitel 3 und 4 sollen daher klären, ob es überhaupt möglich ist, Musik als Gegenstand zu begreifen. Da es das Phänomen Musik notwendig macht, werden hier die Vollzugsweisen Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen im Hinblick auf Musik phänomenologisch betrachtet. Weiter wird untersucht, worin die Nähe zwischen Leib und Musik begründet liegt. In diesem Zusammenhang werden die Aspekte Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Bewegung besonders vertieft. Die Frage, wie Umgangsweisen mit Musik bewusst so gestaltet werden können, dass leibliches Lernen und Verstehen bewirkt werden, ist Hintergrund der Kapitel 5 und 6. Es wird untersucht, welche Rolle der Sprache hierbei zukommt und welche Möglichkeiten der vorsprachlichen Begriffsbildung beim Umgang mit Musik bestehen. Kapitel 6 entfaltet beispielhaft konkrete Beobachtungen im musikpädagogischen Praxisfeld. Hierbei wird vor allem die Frage verfolgt, inwiefern die Beobachtungen im beschriebenen Praxisprojekt auf erfolgtes leibliches Lernen und Verstehen von Musik schließen lassen. Insbesondere die Möglichkeiten, Musik mit Hilfe von Wortsprache oder Bewegung zu erschließen, werden einander vergleichend gegenübergestellt und miteinander in Beziehung gebracht.

42

Seewald 1992, 200; Herv. im Original.

2. Phänomenologie als Wesensforschung1

2.1

Zu den Ursprüngen der philosophischen Strömung

»Phänomenologie – was ist das?«2 Mit dieser Frage beginnt das berühmte Vorwort zu Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung, ein Werk, das für die Phänomenologie als Wahrnehmungstheorie und Methode eine ganz wesentliche Grundlage darstellt. Merleau-Ponty führt hierin ein in das Wesen der Phänomenologie und macht mit dieser Frage zu Beginn des Werkes zugleich Folgendes deutlich: Phänomenologie lässt sich nur in phänomenologischer Manier beschreiben. Dies geschieht, indem man zunächst erst einmal fragt. Die Phänomenologie fragt nach dem Wesen, nach dem Wesen der Wahrnehmung, dem Wesen des Bewusstseins und dem Wesen der menschlichen Existenz. Sie gilt daher auch als »Philosophie des Wesens«.3 Dabei wird sie des Fragens nicht müde – im Gegenteil: Man könnte fast meinen, für die Phänomenologie ist das Fragen nicht nur Methode, sondern auch Ziel einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir leben und in der wir Sinn immer wieder neu stiften. Das unermüdliche Hinterfragen von bestehenden Theorien und Konzepten kommt zu keinem Abschluss, es bleibt eine ewig von Neuem beginnende Bewegung, ein »endloser Dialog«, eine »endlose Meditation«.4 Dan Zahavi betrachtet es als eines der wissenschaftlichen Verdienste der Phänomenologie, dass sie Analysen wichtiger philosophischer Begriffe »wie Wahrheit, Evidenz, Begründung, Fundierung, Auslegung, Intuition, Vorverständnis, Endlichkeit u.s.w.«5 hervorgebracht hat. Dabei setzen die einzelnen phänomenologischen

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Diese Überschrift nimmt Bezug auf Merleau-Pontys berühmtes Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung, in dem er eingangs behauptet: »Phänomenologie ist Wesensforschung – alle Probleme, so lehrt sie, wollen gelöst sein durch Wesensbestimmungen«. Merleau-Ponty 1966, 3. Merleau-Ponty 1966, 3. Störig 2006, 660. Merleau-Ponty 1966, 18. Zahavi 2007, 7.

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Bewegung und Musikverstehen

Philosophen in ihren Auseinandersetzungen mit basalen philosophischen Begrifflichkeiten jeweils eigene Schwerpunkte und Akzente. Phänomenologische Begriffe sind deshalb eher den einzelnen Denkern zuzuordnen, als dass sie sich als Begriffe einer einheitlichen, fertigen philosophischen Lehre verallgemeinern ließen. Merleau-Ponty hält die Phänomenologie zu seinen Lebzeiten längst nicht für eine abgeschlossene, fertige philosophische Lehre: »Phänomenologie ist vollziehbar und ist erkennbar als Manier oder Stil, sie existiert als Bewegung, aber noch ist sie nicht zu abgeschlossenem philosophischem Bewusstsein gelangt.«6 Woraus ist nun aber ihr Denkstil entstanden und wo liegen ihre gedanklichen Wurzeln? Paul Good behauptet: »Es gibt nicht eine Phänomenologie, es gibt auch nicht nur verschiedene Nuancen innerhalb einer einheitlichen phänomenologischen Philosophie, sondern es gibt geradezu widersprüchliche Definitionen der Phänomenologie.«7 Dies macht es auch schier unmöglich, eine klare Vor- oder Entstehungsgeschichte der Phänomenologie nachträglich zu zeichnen, wovon unter anderem auch Bernhard Waldenfels abrät. Er hält es sogar für verfänglich, von der Phänomenologie als einer Bewegung zu sprechen. Das Wort »Bewegung« suggeriere, es könne eine einheitliche Zielführung geben.8 Es scheint also lediglich möglich, mit Merleau-Ponty, von einem gemeinsamen Denkstil9 zu sprechen. Martin Heidegger beschreibt diesen auch als »die Entdeckung der Möglichkeit des Forschens in der Philosophie«.10 Gemeint ist damit letztlich die Phänomenologie als Methode, auf die ich später im Text noch zu sprechen kommen werde. Wenn man sich in die Geschichte der Phänomenologie als philosophischer Strömung vertieft, fällt auf, dass Forschungserkenntnisse einzelner Denker der phänomenologischen Tradition oft aufeinander aufbauen. So schlägt sich beispielsweise Merleau-Pontys intensives Studium des Werkes Edmund Husserls in der Phänomenologie der Wahrnehmung nieder. Zum einen werden hier Husserls Gedanken und Erkenntnisse weitergeführt, zum anderen grenzt sich MerleauPonty in diesem Werk aber auch klar von ihnen ab. Es scheint also zum Charakter dieser philosophischen Bewegung zu gehören, dass sich verschiedene und zum Teil parallel verlaufende geistige Strömungen in ihr vereinen. Um schließlich dennoch einen möglichen Ursprung der Phänomenologie als Strömung beschreiben zu können, möchte ich mich im Folgenden auf einen Aspekt

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Merleau-Ponty 1966, 4. Good 1998, 20f.; Herv. im Original. Vgl. Waldenfels 2010a, 46. »Phänomenologie ist vollziehbar und ist erkennbar als Manier oder Stil, sie existiert als Bewegung, aber noch ist sie nicht zu abgeschlossenem philosophischem Bewußtsein gelangt.« Merleau-Ponty 1966, 4. Heidegger 1925, zitiert nach Waldenfels 1992, 9.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

der Entstehung der geistigen Bewegung konzentrieren: auf die Kritik der Phänomenologie am Psychologismus. Das Ausgangsproblem, auf das die Phänomenologie, als dessen Vater sich Husserl selbst versteht, mit ihrer Entstehung eine Art Antwort gibt, bildet die bereits in der Renaissance erfolgte Trennung der Naturwissenschaften von den Sprach- und Geisteswissenschaften. Gegenüber der Unumstößlichkeit der sich auf ›wahre‹ natürliche Fakten beziehenden sogenannten positiven Einzelwissenschaften, die »unter der Führung der von Galilei begründeten exakten Naturwissenschaften«11 im 19. Jahrhundert entstehen, verlieren die Geisteswissenschaften ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit, da sie den neuen Kriterien von Wissenschaftlichkeit nicht mehr entsprechen.12 Sie beginnen sich auf den Bereich des Individuellen zu konzentrieren. Die Psychologie13 gilt als eine der ersten Disziplinen, die das menschliche Erleben und Verhalten erklärt und sich dennoch, als Wissenschaft der Erfahrung, der Wissenschaftlichkeit der Naturwissenschaften anzunähern versucht. Als empirisch orientierte Psychologie erhebt sie den Anspruch, die Grundlagen von Denken und Erkennen zu ergründen und somit der Philosophie ein ›Rückgrat‹ zu sein. Diese Auffassung, die Psychologie zur Grundwissenschaft zu erklären, wird rückblickend auch als ›Psychologismus‹ bezeichnet. Daraus folgt, dass nunmehr alle objektiven Sachverhalte auf psychische Prozesse des Denkens und Erkennens zurückgeführt werden.14 Die Psychologie droht so also die Philosophie gleichsam zu ersetzen, worauf nun von Seiten der Philosophie reagiert werden muss. Aufgrund der Nähe der Phänomenologie zur Psychologie – man könnte die Phänomenologie als eine Art Schnittstelle zwischen Philosophie und Psychologie bezeichnen – soll das Verhältnis von Phänomenologie und Psychologie im Folgenden kurz skizziert werden. Unter dem Motto: »zurück zu den Sachen selbst«,15 schlägt die Phänomenologie eine Richtung ein, die Husserl als »deskriptive Psychologie«16 bezeichnet. Nach Husserl beruft sich auch Merleau-Ponty auf eine deskriptive Methode und deklariert: »Es gilt zu beschreiben, nicht zu analysieren und zu erklären: diese

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Avé-Lallemant 1988, 64. Vgl. Avé-Lallemant 1988, 63f. »Die Psychologie spielte in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, da sie sich nicht nur den Rang einer positiven Wissenschaft erkämpfte, die unabhängig von der Philosophie ihren Bestand zu sichern lernte; sie versuchte überdies, das Denken, den Geist oder das Bewußtsein wissenschaftlich und empirisch zu erklären.« Bermes 1998, 17. Vgl. Prechtl 2006, 30. »Bedeutungen, die nur von entfernten, verschwommenen, uneigentlichen Anschauungen – wenn überhaupt von irgendwelchen – belebt sind, können uns nicht genug tun. Wir wollen auf die ›Sachen selbst‹ zurück gehen.« Husserl 1993c, 6. Merleau-Ponty 1966, 4, mit Bezug auf Husserl.

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Bewegung und Musikverstehen

von Husserl der anfangenden Phänomenologie gegebene erste Losung, ›deskriptive Psychologie‹ zu sein, zurückzugehen auf ›die Sachen selbst‹, ist zunächst eine Absage an ›die‹ Wissenschaft.«17 Damit steht die Phänomenologie den Ideen der Gestaltpsychologie nahe. Von der Psychologie im Allgemeinen will sie sich aufgrund ihrer tendentiell extremen Anschauungen jedoch abgrenzen. Waldenfels beschreibt die Haltung der Phänomenologie, die sich als deskriptive Psychologie versteht, wie folgt: »Der Schlüsselbegriff der Intentionalität öffnet den Weg zu einer phänomenologischen Psychologie, die sich weder auf eine Psychologie bloßer Seelenzustände noch auf eine Psychologie ohne Seele reduziert und die methodisch weder rein introspektiv oder mentalistisch noch rein behavioristisch verfährt.«18 Hieraus geht hervor, dass es als weitere Intention der phänomenologischen Strömung gilt, die damals vorherrschenden dualistischen Vorstellungen zu überwinden, »z.B. die Unterscheidungen zwischen Innen und Außen, zwischen Vordergrund und Hintergrund, zwischen Zeichen und Bedeutung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Ich und Du, zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen An-Sich und Für-Sich oder zwischen Leib und Seele.«19 Diese Dualismen werden überhaupt erst durch Reflexion und Analyse zu dem, was sie sind, denn im realen Lebensvollzug existieren diese Unterscheidungen so nicht. Schwerpunkt der Arbeit Merleau-Pontys ist es, das Verhältnis des Bewusstseins des Menschen zur Natur neu zu bestimmen und damit den alten Dualismus zu überwinden.20 Auch in Bezug auf ihr jeweiliges Verständnis vom Empfinden treten Unterschiede zwischen der empirischen Psychologie und der psychologisch orientierten Phänomenologie zu Tage: Letztere betrachtet das Phänomen des Empfindens neu, indem sie es nicht länger mit der Wahrnehmung an sich gleichsetzt. Die bis dahin existierende Vorstellung von Empfindungen als bloßen Reaktionen auf Sinnesreize, die das Bild eines Sinnesapparates als eines bloßen Leiters für von außen auf das Individuum einströmende Umweltreize prägte, wird in phänomenologischer Denktradition korrigiert. Empfindungen werden in ihr als Motor für ein intentionales Gerichtetsein zur Welt betrachtet, das auf ein Innewerden von weltlichen Phänomenen abzielt. Demzufolge steckt im Akt des Wahrnehmens und Empfindens bereits ein Teil der Erkenntnis – sie tritt nicht erst nach dem Empfinden ein.21 Oder, mit den Worten Merleau-Pontys gesagt: »Wahrnehmung ist keine Wiedererinnerung ewiger Wahrheiten, sondern ›Wahrnehmung als ursprüngliche Offenheit für Gegenstände überhaupt‹ [Hier bezieht

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Merleau-Ponty 1966, 4. Waldenfels 1992, 84. Bermes 1998, 14. Vgl. Good 1998, 33. Vgl. Good 1998, 36ff.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

sich Good auf Merleau-Ponty 1966, 36; Anm. A. U.-R.] stiftet allererst Erkenntnis. In dieser Stiftung liegt ihre wesentliche Funktion im Ganzen der Erkenntnis und als solche ist sie Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis.«22 Das Empfinden, in seinem »ursprünglichen Kontakt mit der Wirklichkeit«,23 ist also aus phänomenologischer Sicht bereits von intentionalem Charakter.24 Damit ist auf ein ›Schlagwort‹ der Phänomenologie als Wahrnehmungstheorie, das der Intentionalität, bereits verwiesen, mit dem sich gut zusammenfassen lässt, was den psychologischen Blickwinkel der Phänomenologie ausmacht. Sie fragt nach dem Wie der Bewusstseinsakte des Menschen und macht das Bewusstsein an sich, welches sich intentional auf die Welt richtet, zum Thema. Denn nur wenn es sich mit einem Grund auf etwas Äußeres beziehen kann, ist es Bewusstsein. Die uns umgebende Welt ist das, was sie ist, da sie als solche in unserem Bewusstsein entsteht.25 Husserl ist als einer der Protagonisten des sogenannten Psychologismusstreits26 zu nennen. In seiner Kritik an der Verallgemeinerung von deskriptiv gewonnenen empirisch-psychologischen Gesetzmäßigkeiten von psychischen Funktionen klingt seine spätere Hinwendung zur Transzendentalphilosophie an. Von der Mathematik kommend, ist er auf der Suche nach einem Fundament für die Logik auf die Psychologie gestoßen und setzt sich folglich, besonders im ersten Band der Logischen Untersuchungen27 , kritisch mit ihr auseinander.28 Dabei beabsichtigt er die Philosophie von der empirischen Psychologie abzugrenzen und tritt damit für die Philosophie als ›wahre‹ Wissenschaft ein. Sein Hauptvorwurf gegenüber der Psychologie ist der einer »Gebietsvermengung.«29 Nach Husserl können beispielsweise logische Prinzipien keineswegs von Zufälligkeiten, wie der Konstitution des Menschen, abgeleitet werden.30 ›Psychologisten‹ sehen in der Logik keine eigenständige Disziplin. Husserls Gegenargumentation ist hier wie folgt: »Die Logik, sagt man, kann auf der Psychologie ebensowenig ruhen, wie auf irgendeiner anderen Wissenschaft; denn eine jede ist Wissenschaft nur durch Harmonie mit den Regeln der Logik, sie setzt die Gültigkeit dieser Regeln schon

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Good 1998, 39. Waldenfels 2010a, 168. Vgl. Waldenfels 2010a, 168. Vgl. Danner 2006, 141. Es war im Besonderen die Transzendentalphilosophie, die der empirischen Psychologie außerdem die Verallgemeinerung von deskriptiv gewonnenen empirisch-psychologischen Gesetzmäßigkeiten von psychischen Funktionen zum Vorwurf machte. Vgl. Baumgartner 2008a, 494. Vgl. Husserl 1993b. Vgl. Waldenfels 1992, 13. Baumgartner 2008a, 493. Vgl. Prechtl 2006, 33.

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Bewegung und Musikverstehen

voraus.«31 Ziel der Logik sei die Wahrheit an sich, nicht lediglich auf Erfahrungen beruhende Vermutungen oder Wahrscheinlichkeiten.32 Außerdem sei das Erkennen als psychologischer Prozess abhängig von der Zeit, dem Beginn und Ende des Prozesses. Logische und objektive Gesetzmäßigkeiten fielen jedoch aus der Zeit heraus, seien von überdauerndem, ewigem Charakter.33 Husserl wirft dem Psychologismus eine Verwechselung von Idealität und Realität vor. Er selbst setzt hingegen das Ideale mit dem Unzeitlichen gleich. Wäre Idealität tatsächlich so abhängig von subjektiven Erfahrungen, so Husserls Schlussfolgerung, wären Bedeutungen nicht wiederholbar.34 Husserl macht bei seinem Streben nach Wissenschaftlichkeit der Philosophie die Logik der positiven Wissenschaften selbst zum Thema.35 Dabei eröffnet seine Kritik am Psychologismus einen phänomenologischen Fragehorizont: »Für eine Theorie der Erkenntnis, die den Rahmen seiner phänomenologischen Untersuchungen abgibt, gilt es, den Zusammenhang zwischen der Idealität eines Gesetzes bzw. der Idealität einer Erkenntnis, dem Denken bzw. Bewusstseinserlebnis und dem individuellen Denkakt zu klären.«36 Husserl erkennt, dass es nötig ist, sich dem Bewusstsein an sich zu widmen. Er zeigt auf, dass es nicht nur der Psychologie als wissenschaftlicher Disziplin obliegt, das menschliche Bewusstsein zu ergründen, sondern dass auch die phänomenologische Philosophie ein eigenes Interesse daran hat. Husserl beabsichtigt hierbei jedoch keine »neue Spielart des Psychologismus«,37 sondern grenzt sich damit nochmals deutlich von den Absichten der Psychologie ab, indem er später sogar so weit geht, zu behaupten, es sei ein Fehler gewesen, die Phänomenologie als »deskriptive Psychologie« zu bezeichnen – »denn es ging ihm weder um eine Analyse der psychophysischen Konstitution des Menschen noch um eine Erforschung des empirischen Bewusstseins, sondern um ein Verständnis dessen, was für Wahrnehmungen, Urteile, Gefühle usw. wesenhaft und grundsätzlich ist.«38 Husserl beabsichtigt zusammengefasst demnach nicht, das Objekt mit dem Akt des Erkennens gleichzusetzen, sondern das Verhältnis der Objekte zu ihren Verstehensakten zu beschreiben.39 Um 1900/1901 ist schließlich in den Logischen Untersuchungen erstmals überhaupt von einer »Phänomenologie« die Rede. Das Werk gilt als Boden für eine Arbeits- und Forschergemeinschaft, die sich in Husserls Göttinger Zeit formiert – »Sie verstand sich selbst als Phänomenologische Bewegung, und diese Bezeichnung 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Husserl 1993b, 57. Vgl. Husserl 1993b, 62f. Vgl. Zahavi 2009, 8. Vgl. Zahavi 2009, 9. Vgl. Avé-Lallemant 1988, 67. Prechtl 2006, 34. Zahavi 2009, 11. Zahavi 2009, 11. Vgl. Zahavi 2009, 12.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

ist ihr auch bis heute geblieben.«40 Es gilt deswegen als »Durchbruchswerk«41 der Phänomenologie, da in ihm wesentliche phänomenologische Schlüsselbegriffe erörtert werden. Mit der Gründung der Phänomenologie als »Wissenschaft von den Phänomenen«42 wird das Wort Phänomen überhaupt erst in die Wissenschaftssprache aufgenommen. Im wissenschaftlichen Alltag galt es zuvor lediglich als eine Bezeichnung für etwas Vorwissenschaftliches, noch nicht Erforschtes. Es diente als Ausdruck dafür, wie ein Gegenstand ›scheinbar‹ ist, und bedeutete das genaue Gegenteil von Wahrheit und Wesen.43 In der Phänomenologie meint »Phänomen« jedoch die Erscheinungsweise eines Gegenstandes schlechthin. So beschreibt Dan Zahavi die Phänomenologie wie folgt: »Ganz allgemein lässt sich die Phänomenologie also als eine philosophische Analyse der verschiedenen Erscheinungsweisen der Gegenstände begreifen und im Anschluss daran als eine reflexive Untersuchung der Verstehensstrukturen, die es den Gegenständen ermöglichen, sich als das zu zeigen, was sie sind.«44 Es geht ihr also nicht darum, Erscheinung mit Wahrheit gleichzusetzen, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass die Art und Weise, wie ein Gegenstand erscheint, nicht unwesentlich für den Gegenstand ist.45 Martin Heidegger zufolge macht es die Art und Weise des phänomenologischen Forschens aus, dem je eigenen Erscheinen der Dinge nachzugehen. »Das[,] was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen. Das ist der formale Sinn der Forschung, die sich den Namen Phänomenologie gibt.«46 Im Blickfeld der phänomenologischen Untesruchung stehen daher keine »konkreten, anfassbaren Ding[e] und Vorgäng[e]«,47 sondern vielmehr das Wie des Erscheines und das Wie des Gewahrwerdens von Phänomenen. Wie uns ein Gegenstand erscheint, wird dabei von der Intentionalität bestimmt, mit der ich mich einem Gegenstand zuwende. So gesehen ließe sich statt von »Phänomenen« auch von »intentionalen Gegenständen« sprechen, wenn Bewusstsein auf sie gerichtet ist.48 Husserl fordert einen deskriptiven Rückgang auf die »Sachen selbst«:49 »Er distanziert sich damit von der alles kausal erklärenden Einstellung der wissenschaft40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

Avé-Lallemant 1988, 62; Herv. im Original. Zahavi 2009, 6. Zahavi 2007, 13. Vgl. Zahavi 2007, 13. Zahavi 2007, 13. Vgl. Zahavi 2007, 15. Heidegger 1977, 46. Danner 2006, 133. Vgl. Danner 2006, 141. Merleau-Ponty 1966, 4.

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lichen Forschung und verlangt die einfache Beschreibung unserer ursprünglichen Welterfahrung.«50 Dabei prägt Husserl ein neues Verständnis vom menschlichen Bewusstsein. Es gilt ihm nicht länger als innere Welt des Subjekts, das, abhängig von den Vorstellungen von den Dingen, ein Verständnis von der äußeren Welt besitzt. Denn hierbei sei nicht sicher davon auszugehen, dass das Subjekt die Außenwelt überhaupt erkennt. Vielmehr spricht Husserl nun »von einer Korrelativität von Bewusstsein und Welt«.51 Das bedeutet, dass das real existierende Gegenständliche nur durch die jeweiligen subjektiven Bewusstseinserlebnisse zum dem wird, was es ist. »Es gilt allererst zu ermitteln«, so Prechtl über Husserls Einstellung, »welches die wahren Phänomene oder wirklichen Gegebenheiten sind. Nur wenn das hinreichend sichergestellt ist, kommt die Philosophie ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nach.«52 Ein schärferes Verständnis von der Beziehung zwischen dem Erlebnisakt und dem Gegenstand gelingt Husserl also mit seiner Intentionalitätslehre.53 Laut Zavahi ist die Einführung des Begriffs der Intentionalität als eine wesentliche Folge der Husserl’schen Kritik am Psychologismus zu betrachten.54 Es mag überraschen, dass Husserl sich trotz seiner Kritik am Psychologismus ebenfalls für die subjektiven Bedingungen von Erkenntnis interessiert, wenn er nach den »noetischen« Möglichkeiten fragt: »Das sind diejenigen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit wir von verwirklichter Erkenntnis im subjektiven Sinn sprechen können.«55 Wie Husserl durch seine Auseinandersetzung mit Themen des Psychologismus den Grundstein für die phänomenologische Bewegung legt und somit gleichzeitig das bisherige Verständnis von Wissenschaft erneuert, sei abschließend mit Worten von Lars Oberhaus zusammengefasst: »Husserl fordert einen Neubau der Wissenschaften aus absolut rationaler Begründung. Die einzige Sicherheit bietet nur das Ego, das sich durch den Zweifel an der objektiven Erscheinungsweise der Dinge auf das Bewusstsein stützt. Die Existenz einer Außenwelt wird allerdings nicht geleugnet, sondern nur hinsichtlich ihrer Wahrhaftigkeit angezweifelt. Sie besteht als Korrelat zum Bewusstsein, das sich intentional auf ›Dinge‹ richtet und so Sinnesdaten ›verinnerlicht‹. Im Rückgang auf das Ego ist es daher völlig irrelevant, ob die Welt ist, sondern nur wie sie vom Bewusstsein konstituiert wird. Hierdurch ist das Ego auf sich selbst allein gestellt (solus ipse).«56

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Good 1998, 22. Prechtl 2006, 27. Prechtl 2006, 27. Vgl. Waldenfels 1992, 15f. Vgl. Zahavi 2009, 6. Zahavi 2009, 9f. Oberhaus 2006, 102.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

Husserl und seine Nachfolger reagieren auf ein weiteres, zu Zeiten der Entstehung der phänomenologischen Strömung aktuelles, wissenschaftliches Problem. Die einzelnen Wissenschaften haben es sich zwar zur Aufgabe gemacht, das menschliche Leben zu erforschen, ordnen jedoch ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse lediglich ihren eigenen wissenschaftlichen Disziplinen zu und grenzen sich so voneinander ab, dass es zu keinem geschlossenen Bild vom Menschen kommen kann, wie unter anderem auch Max Scheler bemängelt.57 Kann nun aber die Phänomenologie dem eigenen Anspruch, eine strenge Wissenschaft zu sein, tatsächlich gerecht werden, wenn sie einerseits als Transzendentalphilosophie nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Erfahrung fragt und andererseits dem naiven Weltbezug nachgehen und die menschliche Erfahrung direkt beschreiben will?58 Paul Good sieht hierin ein Grundproblem der Phänomenologie und weist darauf hin, dass selbst Husserl in seinem eigenen Werk diese Hürde letztlich nie ganz überwindet: »Dieser Gegensatz ist der zwischen Konstruieren und Erklären auf der einen, Verstehen und Beschreiben auf der anderen Seite.«59 Die Phänomenologie erscheint uns also nicht als einheitlich und, wenn man so möchte, sogar als gegenläufig. Auf der einen Seite zielt sie auf beständige Erkenntnisse zu existentiellen Themenbereichen wie dem Verstehen, dem Bewusstsein oder der Leiblichkeit und distanziert sich dabei vom bloßen empirischen Forschen. Auf der anderen Seite sieht sie jedoch im Faktischen die Grundlage aller Erkenntnis. »Die Phänomenologie ist deswegen nicht bloß ein Essentialismus, sie ist auch eine Philosophie der Faktizität.«60 So gilt sie einerseits als Transzendentalphilosophie und betreibt Philosophie im Sinne einer strengen Wissenschaft, betont jedoch andererseits die Bedeutung des unmittelbaren Zur-Welt-Seins in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Lebenswelt.61 Damit untersucht sie gerade das, was uns eigentlich als vertraut und gewohnt erscheint.62

2.2

Maurice Merleau-Ponty und die Wende von der Transzendentalphilosophie zur Wahrnehmungstheorie

Nachdem zunächst Husserl als ›Vater‹ der phänomenologischen Strömung im Fokus stand, wird im Folgenden nun das Augenmerk auf die von Merleau-Ponty geprägte phänomenologische Wahrnehmungstheorie gelegt. Hier soll aufgezeigt werden, inwiefern Merleau-Ponty seinem Vordenker Husserl zunächst gedanklich 57 58 59 60 61 62

Vgl. Bermes 1998, 12. Vgl. Good 1998, 21. Good 1998, 21. Zahavi 2007, 36. Vgl. Zahavi 2007, 36f. Vgl. Zahavi 2007, 40.

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gefolgt ist und wie er sich schließlich von ihm abgrenzt, indem er phänomenologische Kernthemen anders weiterdenkt und eigene, neue Schwerpunkte setzt. Merleau-Ponty hat sich insgesamt von Empirismus und Intellektualismus distanziert. Dies soll hier anhand seiner Kritik der Transzendentalphilosophie des späten Husserl nachvollziehbar gemacht werden. Maurice Merleau-Ponty gilt als einer der bedeutendsten französischen Philosophen. Paul Ricœur bezeichnet ihn auch als den größten französischen Phänomenologen.63 Er ist zudem der erste französische Autor, der die Bezeichnung Phänomenologie überhaupt im Titel eines Buches nennt. Sein Schaffen wird von Waldenfels nicht nur als lebenslange »Arbeit in der Phänomenologie, sondern mehr noch als Arbeit an der Phänomenologie«64 bezeichnet. Dabei beschäftigt ihn die Suche nach einer dritten Dimension als Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bewusstsein und Natur, einer Dimension, die jenseits vom »Dualismus von physiologischen Mechanismen und psychologischen Bewusstseinsvorgängen«65 zu verorten ist. Merleau-Ponty ist Zeitgenosse, Freund und späterer Kontrahent von Jean-Paul Sartre und unter anderem als Professor für Kinderpsychologie und Pädagogik Vorgänger Piagets an der Sorbonne in Paris. Sein Leben lang hat er sich mit dem Werk Husserls auseinandergesetzt. Es müssen unter anderem die Vorlesungen Husserls zur »Einführung in die transzendentale Phänomenologie« an der Sorbonne 1929 gewesen sein, an denen Merleau-Ponty teilgenommen hat, die seine Aufmerksamkeit für dessen Schriften erregt haben. (Dabei sind Husserls Werke verhältnismäßig spät ins Französische – so beispielsweise die Ideen 1 erst 1950 von Paul Ricœur – übersetzt worden.) Sorgfältig setzt Merleau-Ponty sich mit den Kernthemen der Phänomenologie auseinander, die Husserl herausgearbeitet hat. Er tut dies jedoch nicht mit der analytischen Rigorosität und dem Ziel, zu endgültigen Lösungen zu gelangen, wie sie für Husserl typisch sind, sondern in seiner ganz eigenen Weise. So begegnet er den Themen in seinen Werken nicht mit »begrifflicher Strenge«,66 sondern entwickelt seinen ganz eigenen Stil des Schreibens und Denkens, den Bernhard Waldenfels wie folgt beschreibt: »Was diesen auszeichnet, ist nicht strenge Systematik und prägnante Kürze, sondern ein behutsames Umkreisen und Abtasten der Phänomene in all ihrer Vieldeutigkeit, wobei die Probleme nicht hierarchisch aufeinander aufbauen, sondern sich konzentrisch anordnen […]. Damit verbindet sich die Kunst, Zeichen zu lesen, am geringsten Detail einen Gesamtsinn zu entdecken, sei es ein alltägliches

63 64 65 66

Vgl. Waldenfels 2010a, 142. Waldenfels 1992, 59; Herv. im Original. Waldenfels 2000, 144. Vgl. Seewald 1992, 25.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

Ritual, eine Kindheitserinnerung, eine pathologische Merkwürdigkeit, ein Traumbefund, eine Malperspektive, eine neue Romantechnik oder ein historisches Ereignis.«67 Merleau-Ponty löst philosophische Probleme nicht, indem er einen klaren Standpunkt einnimmt. Für ihn gibt es »keine übergeordneten Probleme und keine untergeordneten Probleme: alle Probleme sind konzentrische.«68

2.2.1

Merleau-Pontys kritische Auseinandersetzung mit der Husserl’schen Transzendentalphilosophie

Im Einklang mit Husserl sieht Merleau-Ponty die Wissenschaft in einer Krisensituation, die Waldenfels wie folgt beschreibt: »Der lebendige Bezug zwischen Bewußtsein und Natur wird zerrieben zwischen äußerer wissenschaftlicher Explikation und innerer philosophischer Reflexion.«69 Merleau-Ponty sieht in Husserls Losung, »zurückzugehen auf ›die Sachen selbst‹«,70 eine Absage an die Wissenschaft. Letztere vermöge es nur, »sekundärer Ausdruck«71 jener allem zugrunde liegenden Welterfahrung zu sein, so der französische Phänomenologe. Er geht den von Husserl eingeschlagenen Weg weiter, indem er Phänomenologie als »deskriptive Psychologie«72 betreibt. Merleau-Ponty sieht die Strukturhaftigkeit des menschlichen Lebens und will die Spanne zwischen Psychologischem und Physischem überwinden, indem er das Leben als eine Bewegung mit dem Ziel der Herstellung eines Gleichgewichtes betrachtet. Wie der Neurologe und Gestaltpsychologe Kurt Goldstein hat auch Merleau-Ponty einen anderen Blick auf die ›Normalität‹. Beide stellen zum Beispiel heraus, wie wichtig es ist, sich mit pathologischen Befunden auseinanderzusetzen, um Normalität überhaupt verstehen zu können. Für sie ist Normalität nicht das, was selbstverständlich immer schon da ist, vielmehr versteht Merleau-Ponty Normalität »als Balanceakt, als beständiges Ringen um ein Gleichgewicht, das stets mit gewissen pathologischen Momenten durchsetzt ist, wie auch Freud und viele andere annehmen«,73 so Waldenfels. Das viel zitierte Beispiel des von Kurt Goldstein untersuchten neuropathologischen Falls »Schneider« macht dies anschaulich: Der Patient Schneider, der Verletzungen am Gehirn erlitten hat, kann zwar eine Mücke auf seiner Nase verscheuchen, ist jedoch nicht in der Lage, der verbalen Aufforderung zu folgen, sich an die Nase zu fassen.74 Merleau67 68 69 70 71 72 73 74

Waldenfels 2010a, 147. Merleau-Ponty 1966, 466. Waldenfels 2010a, 149. Merleau-Ponty 1966, 4. Merleau-Ponty 1966, 4. Merleau-Ponty 1966, 4. Waldenfels 2000, 134. Vgl. Waldenfels 2000, 134f.

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Ponty schließt hieraus, dass im Normalverhalten Greifen und Zeigen ineinander verzahnt sind. Dies führt ihn zum Begriff der Existenz: »Unter Existenz versteht er etwas Konkretes und Beziehungsreiches; Existenz ist für ihn ein dritter Term zwischen Physiologischem und Psychischem. Ausgehend von diesem Begriff der leiblichen Existenz vermeidet Merleau-Ponty den Dualismus von physiologischen Mechanismen und psychologischen Bewußtseinsvorgängen. Existenz ist somit eigentlich eine Explikation dessen, was bei MerleauPonty Leiblichkeit bedeutet.«75 Dadurch, dass in Merleau-Pontys Phänomenologie die leibliche Existenz an die Stelle des Bewusstseins tritt, schlägt er hier einen deutlich anderen Weg ein, als Husserl in seiner Transzendentalphilosophie. Die leibliche Existenz gehört nach dem Verständnis Merleau-Pontys selbst zu dem, was sie hervorbringt.76 Außerdem betrachtet Merleau-Ponty die Phänomenologie stärker als Methode, »die nicht Antworten liefert, sondern zu Antworten führen kann.«77 Er ist davon überzeugt, dass sich wissenschaftliche Erkenntnis nicht losgelöst vom Subjekt des Wissenschaftlers betrachten lässt. Andernfalls könne sie nicht Erkenntnis heißen, sondern würde ›absolutes Wissen‹ darstellen, und dieses sei nur Gott zuzutrauen.78 Merleau-Ponty schreibt hierbei, im Gegensatz zu Husserl, nicht dem Subjekt die letzte und einzige Erkenntnisgewissheit zu. Man sagt, er nehme dem Husserl’schen Solipsismus »seinen Stachel«.79 Denn die Befreiung des Bewusstseins aus dem alleinigen Besitz des einsamen Subjektes steht im Zentrum seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem späten Husserl. Für Merleau-Ponty ist die Ergründung von Sinn und Wesen keine Leistung eines alles konstituierenden Subjektes, das sich selbst den Dingen und der Welt gegenüberstehend sieht.80 Um aufzuzeigen, inwiefern sich Merleau-Ponty weiter von Husserls Transzendentalphilosophie absetzt, soll in einem kurzen Exkurs umrissen werden, was unter Transzendentalphilosophie im Husserl’schen Sinne überhaupt zu verstehen ist. Im Unterschied zum Begriff transzendent, bezieht sich »transzendental« nicht auf Seiendes, das vom Empirischen losgelöst ist, sondern fragt nach »Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Erkenntnis von Seiendem – welcher Art auch immer – möglich ist.«81 Es geht demnach nicht vordergründig um die zu erkennenden Gegenstände als vielmehr um den Akt der Erkenntnis selbst.82 Die Frage,

75 76 77 78 79 80 81 82

Waldenfels 2000, 144; Herv. im Original. Vgl. Waldenfels 1992, 59. Bermes 1998, 22. Vgl. Bermes 1998, 42. Waldenfels 2010a, 169. Vgl. Good 1998, 90. Esfeld 2008, 619. Vgl. Prechtl 2006, 78.

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die hierdurch provoziert wird und die sich Husserl selbst stellt, ist, »wie die Subjektivität als ein Teilbestand der Welt gleichzeitig diese Welt konstituieren kann.«83 Husserl beantwortet dies mit der Trennung zwischen empirischem und transzendentalem Ich. Seine philosophischen Überlegungen kreisen demnach um Kernthemen wie »Bewusstsein« und »Konstitution von Wirklichkeit«. Dabei begegnet er dem bewusstseinsphilosophischen Problem der Subjekt-Objekt-Spaltung, indem er darauf aufmerksam macht, dass unser Bewusstsein eine »Intentionalitätsstruktur«84 besitzt. Das bedeutet: »Bewusstsein ist immer schon Bewusstsein von etwas.«85 Husserl mahnt, die Vorgegebenheit der Welt (bei Husserl auch »natürliche Einstellung«86 ) nicht lediglich hinzunehmen, sondern sie zu hinterfragen. Damit sind für ihn die Grenzen einer rein deskriptiven Phänomenologie erreicht, wird eine Wende zur Transzendentalphilosophie für ihn unvermeidbar. Der Weg hin zur Theorie, zum transzendentalen Subjekt, muss jedoch bei den Gegebenheiten und Erscheinungen der Welt ansetzen, also von der Erfahrung des empirischen Subjekts ausgehen.87 Was ist nun aber das transzendentale Subjekt im Gegensatz zum natürlichen Subjekt oder Ich bei Husserl? »Das transzendentale Subjekt ist das Subjekt in seiner primären konstitutiven Funktion. Das empirische Subjekt ist dasselbe Subjekt, aber jetzt aufgefasst und interpretiert als ein Gegenstand in der Welt, d.h. als ein konstituiertes und mundanisiertes Seiendes.«88 Wenn wir also die »Vorgegebenheit«89 der Welt in Frage stellen, gelangen wir zum transzendentalen Subjekt. Dies ist zu verstehen als transzendentale Leistung des Subjektes. »Die Welt ist in bestimmten Gegebenheitsweisen dem Subjekt gegeben. Somit wird klar, dass die Vorgegebenheit gar nicht ohne die subjektiven Gegebenheitsweisen gedacht werden kann.«90 So sind auch Gegenstände nach Husserl weder schon im Bewusstsein enthalten noch allein abhängig vom subjektiven Erleben.91 »Es bedeutet, dass sie uns ständig überraschen können, indem sie sich selbst anders zeigen, als wir erwarten.«92 Transzendent sind Gegenstände, nach Husserl, also nur, insofern sie für uns transzendent sind.93 Die transzendentalphilosophische Position Husserls lässt sich demnach wie folgt zusammenfassen: Wirklichkeit und Welt können nicht ohne Erscheinungen in 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93

Prechtl 2006, 79. Gronke 2008, 79. Gronke 2008, 79. Danner 2006, 142. Vgl. Zahavi 2009, 46. Zahavi 2009, 51. Prechtl 2006, 59. Prechtl 2006, 59. Vgl. Zahavi 2009, 73. Zahavi 2009, 73; Herv. im Original. Vgl. Zahavi 2009, 73.

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der Erfahrung des Subjekts existieren.94 Um Phänomenologie als Wissenschaft zu betreiben und zu einem transzendentalen Subjekt sowie zu transzendentalen Gegenständen zu gelangen, muss dann jedoch der methodische Schritt der Reduktion gegangen werden.95 Einen weiteren Punkt möchte ich ansprechen, in dem sich beide Phänomenologen zunächst einig sind: in der Überwindung des Subjekt-Objekt-Dualismus durch eine Betonung der Intentionalitätsstruktur, der Weltzugewandtheit des Subjektes. Vor Merleau-Ponty plädiert schon Husserl dafür, nicht Subjekt und Welt einander gegenüberzustellen.96 Vielmehr ereignet sich das, was als »Konstitution«97 bezeichnet wird, »in der Struktur Subjektivität-Welt«, so Dan Zahavi.98 In den Ideen II spricht Husserl gar von der »dreifaltigen Struktur: Subjektivität-IntersubjektivitätWelt.«99 Was Husserl und Merleau-Ponty sich unter Intentionalität und Intersubjektivität vorstellen, geht schließlich jedoch weit auseinander. Von diesem gemeinsamen gedanklichen Ausgangspunkt der Überwindung des Dualismus betreten beide Phänomenologen unterschiedliche Wege zur Lösung. Bei Husserl bezieht sich Intentionalität auf Noesis und Noma des Bewusstseinsprozesses: »Die Welt ist [so gesehen also; Anm. A. U-R.] das Korrelat von Bewusstseinsleistungen. Die Sinnstiftungen des B[ewusstseins] ermöglichen erst das Verstehen der Welt in Bedeutungsdimensionen und hinsichtlich ihres Geltungscharakters als etwas Existierendes. […] Dabei wird die intentionale Struktur des B[ewusstseins] als Cogitatio dargestellt, die sich nach Vollzug (Noesis) und gemeintem Inhalt (Noema) gliedern lässt.«100 Somit bildet die »erkennende Subjektivität« für die transzendentale Phänomenologie Husserls die »Urstätte aller objektiven Sinnbildungen.«101 Hingegen fasst Merleau-Ponty Intentionalität stärker als Intentionalität des Leibes auf, die in der Weltgewandtheit des Leibes auch als Bewegungsintentionalität aufzufassen ist: »Merleau-Ponty führt den Leib als ›eigenen Leib‹ (corps propre) ein, der als fungierender und lebendiger Leib Erfahrungen zustande bringt und dabei in der Erfahrung selbst mitgegenwärtig ist. […] Sinnstrukturen ergeben sich auf der Grundlage

94 95 96 97

Vgl. Zahavi 2009, 55. Vgl. Prechtl 2006, 77. Vgl. Zahavi 2009, 77. »[O]b Konstitution eine Produktion oder Reproduktion der Wirklichkeit ist, uns nicht vor eine falsche Alternative stellt«, bleibt fraglich. Zahavi 2009, 76. 98 Zahavi 2009, 77. 99 Zahavi 2009, 80. 100 Tewes 2008, 76. 101 Tewes 2008, 76.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

von Bewegungen und Bewegungserfahrungen, ohne dass diese bewusst gesteuert sein müssten.«102 Auch im Hinblick auf den Aspekt der Intersubjektivität haben wir es mit deutlich unterschiedlichen Auffassungen bei Husserl und Merleau-Ponty zu tun. Indem Husserl vom einsamen Bewusstsein ausgeht, wird die Intersubjektivität zu einem unerklärlichen Phänomen.103 Merleau-Ponty nimmt Husserls Annahme einer transzendentalen Subjektivität zum Anlass, ihm im Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung »transzendentalen Idealismus«104 vorzuwerfen. Er kritisiert das Verschwimmen von Ich und den anderen (von »Peter und Paul«) und eine Vorstellung von einer Welt, die sich im Bewusstsein eines transzendentalen Subjekts allein besitzen lässt:105 »Der konsequente transzendentale Idealismus entledigt die Welt aller Undurchdringlichkeit und Transzendenz. Die Welt ist ganz das, was wir uns vorstellen, nicht freilich wir als Menschen oder empirische Subjekte, sondern sofern wir alle in eins nur ein einziges Weltlicht sind, teilhaben an diesem Einen, ohne es zu zerteilen. Die reflexive Analyse kennt kein Problem des Anderen und kein Problem der Welt, da sie in mir beim Aufleuchten schon des Bewußtseins das Vermögen des Zugangs zu einer de jure universalen Welt erblickt, im Ich und im Anderen aber, sofern dieser in Wahrheit nicht Diesheit, Ort oder Leib hat, ein und denselben, seiend in der wahren Welt, dem verbindenden Band aller Geister.«106 Durch Husserl ist man auf das sogenannte Solipsismusproblem aufmerksam geworden, dem Merleau-Ponty entschieden begegnet. Solipsismus meint die Existenz eines einzigen Bewusstseins – dem des Solipsisten. Der Solipsist muss demnach Zweifel daran haben, ob es tatsächlich Subjekte außer ihm gibt.107 Mit der transzendentalen Reduktion beschränkt Husserl das Bewusstsein also »auf das Bewusstsein des phänomenologisierenden Individuums.«108 Wenn ich den anderen nach diesem Verständnis nur selbst konstituieren kann, bleibt jedoch unklar, wie es überhaupt möglich ist, den anderen als Subjekt wahrzunehmen. Eine Lösung dieses Problems liefert uns Merleau-Ponty, indem er sich mit seiner Phänomenologie der Leiblichkeit auf die Suche nach einer »dritten Dimension«109 begibt. Das andere oder der andere bilde sich, so argumentiert er, in der

102 103 104 105 106 107 108 109

Prechtl 2006, 157. Vgl. Gronke 2008, 79. Merleau-Ponty 1966, 8. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 8. Merleau-Ponty 1966, 8f. Vgl. Zahavi 2009, 114. Zahavi 2009, 114. Waldenfels 2010a, 148.

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leiblichen Wahrnehmung und nicht als Leistung des transzendentalen Bewusstseins.110 Die Nähe zum Begriff der Appräsentation (bei Husserl) bleibe zwar erhalten, indem die eigene Existenz auf den anderen übertragen wird,111 Merleau-Ponty verstehe den eigenen Leib jedoch grundsätzlich als stärker verflochten mit dem fremden Leib, so Lars Oberhaus. Demnach spricht Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung von einer »wunderbare[n] Fortsetzung« des eigenen Leibes im Leib des anderen: »Meinen Leib erfahre ich als Vermögen gewisser Verhaltensweisen und einer gewissen Welt, ich bin mir selbst nicht anders gegeben denn als ein gewisser Anhalt an der Welt; und eben mein Leib ist es, der den Leib des Anderen wahrnimmt, und er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des Umgangs mit der Welt; und wie die Teile meines Leibes ein zusammenhängendes System bilden, bilden somit auch der fremde Leib und der meinige ein einziges Ganzes, zwei Seiten eines einzigen Phänomens, und die anonyme Existenz, deren Spur mein Leib in jedem Augenblicke ist, bewohnt nunmehr die beiden Leiber in eins.«112 Mit dem Begriff der Zwischenleiblichkeit (intercorporeité), geht Merleau-Ponty davon aus, dass sich »Welt« gemeinsam gestalten lässt.113 In dieser Zwischenwelt, so Oberhaus, finde sich Sozialisierung und Individualisierung als ein und dasselbe Phänomen wieder.114 Die Leiblichkeit bildet nach Merleau-Ponty eine verbindende Stelle zwischen mir und den anderen, mit denen ich in »anonymer Existenz«115 lebe. Dies bedeutet, dass wir immer schon mit anderen gemeinsam leben, ohne uns dieses Verhältnis bewusst zu machen.116 Aus dem transzendentalen wird also ein »leibliches Subjekt«117 bei Merleau-Pony. Mit der Absage Merleau-Pontys an ein konstituierendes Bewusstsein ändert sich auch sein Verständnis von Sinn. Dieser geht nach Merleau-Ponty nicht erst als Bewusstseinsleistung aus Empfindungseindrücken hervor, sondern ist bereits in ihnen enthalten.118 »Der Sinn zeigt sich schon in der Art, wie das Sinnliche sich unserem Leib darbietet.«119 Waldenfels bezeichnet Merleau-Pontys neuartiges Verständnis von Sinn daher auch als »Inkarnierung des Sinnes«120 . Sinn sei bei ihm 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120

Vgl. Oberhaus 2006, 126. Vgl. Oberhaus 2006, 126. Merleau-Ponty 1966, 405. Vgl. Oberhaus 2006, 127. Vgl. Oberhaus 2006, 127. Prechtl 2006, 161. Vgl. Prechtl 2006, 161. Danner 2006, 156. Vgl. Prechtl 2006, 156f. Prechtl 2006, 157. Waldenfels 2010a, 142.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

stärker an die Erfahrung des Subjekts gebunden und dadurch »nicht eindeutig vorgezeichnet.«121 Dass Merleau-Pontys Kritik am sogenannten Intellektualismus übt, hat genauso Konsequenzen für den Begriff des Bewusstseins: Das Bewusstsein allein bringe nicht Sinn und Sinnstrukturen hervor, sondern das Erwerben von Sinnstrukturen mache das Bewusstsein überhaupt zu dem, was es ist.122 Prozesse der Sinnbildung sind seinem Verständnis nach somit nicht lediglich Leistung des Bewusstseins, sondern als Prozesse »immer schon im Gange.«123 Die leibliche Existenz habe weiter vorpersonalen und präreflexiven Charakter.124 Der Sinn meines Verhaltens ist demnach durch meine Leiblichkeit vorgegeben und nicht durch mein Bewusstsein entworfen. Mit dem Leibbegriff Merleau-Pontys wird die Trennung zwischen Leib und Bewusstsein so gesehen hinfällig.125 Auch Sinn und Bedeutung von Gegenständen werden durch Merleau-Pontys Leibtheorie in ein anderes Licht gerückt: Er betrachtet den Leib als eigentliches Subjekt der Wahrnehmung. Der Leib fungiert dabei als Zwischenbereich oder dritter Bereich, in dem nicht zwischen dem Objektiven und Subjektiven, nicht zwischen Ding und Denken unterschieden wird. Diese Verzahnung von Wahrnehmung und Wahrgenommenem erläutert er am Beispiel der Doppelempfindung, dem Phänomen des Sich-selbst-Berührens. Hierbei würden Gegenstand des Berührens und eigener Leib zugleich empfunden.126 Die Sache ist also in den intentionalen Strukturen gefangen, in denen auch der Leib gefangen ist. Das bedeutet: »Das Ding hat einen Sinn, der nicht von den Empfindungen trennbar ist, in denen er ›inkarniert‹ ist.«127 Für Merleau-Ponty erhält demnach ein sinnliches Material nicht erst durch eine intellektuelle Bearbeitung eine Bedeutung, sondern entspringt, so Peter Prechtl, »der Vertrautheit meines Leibes mit ihnen.«128 Die Kritik des französischen Phänomenologen am Intellektualismus und der Vorstellung eines reinen, absoluten Bewusstseins lässt sich mit Christian Bermes daher wie folgt zusammenfassen: »Das Bewußtsein ist nicht anders denn als leiblich in der Welt engagiert und als intersubjektiv handelndes zu fassen, als losgelöstes bleibt es eine leerlaufende philosophische Spekulation.«129 Merleau-Ponty hat sich, so schreibt es Paul Good, bewusst von der Transzendentalphilosophie, »zugunsten einer radikaleren Reflexion«130 abgewendet. Dabei setzt er eigene, neue Schwerpunkte. Ein 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130

Waldenfels 2010a, 142. Vgl. Prechtl 2006, 159. Prechtl 2006, 159. Vgl. Prechtl 2006, 160, mit Bezug auf Waldenfels. Vgl. Prechtl 2006, 160f. Vgl. Prechtl 2006, 158f. Prechtl 2006, 159. Prechtl 2006, 159. Bermes 1998, 46. Good 1998, 90.

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zentrales Thema seiner phänomenologischen Untersuchungen, insbesondere vermittelt durch sein Werk Phänomenologie der Wahrnehmung, ist neben der leiblichen Existenz auch die Wahrnehmung und die Erfahrung als Basis aller Erkenntnis. Damit tritt eine Phänomenologie der Erfahrung an die Stelle einer reinen Bewusstseinsphilosophie.131 Statt die Geltung unserer faktischen Lebenswelt lediglich einzuklammern, betont Merleau-Ponty »die Priorität der Wahrnehmung und der Sinneseindrücke«.132 Helmut Danner bezeichnet seine Phänomenologie daher nicht als transzendentale Philosophie oder eine Methode, sondern als »Philosophie der Lebenswelt«133 , und hält sie im Kontext pädagogischer Fragestellungen daher für besser geeignet als die strenge Phänomenologie Husserls. Waldenfels betrachtet Merleau-Pontys »Bewegung der Verleiblichung«134 als die stärkste, wenn auch nicht restlos einzige Antwort auf den transzendentalphänomenologischen Ansatz Husserls.

2.2.2

Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie und die Überwindung von Empirismus und Intellektualismus

Merleau-Ponty distanziert sich entschieden von der empirischen Psychologie und generell von jeder Form des Empirismus und Intellektualismus mit der Absicht, die von ihnen hervorgebrachten Dualismen zu überwinden. Ein Grund für seine kritische Auseinandersetzung beispielsweise mit der empirischen und intellektualistischen Psychologie ist, dass Letztere sich zuvor ebenso den Themen Wahrnehmung und Leib widmet, mit denen sich Merleau-Ponty schließlich in anderer und neuer Weise auseinandersetzt.135 Er formuliert selbst als Ziel seiner phänomenologischen Bestrebungen, das Verhältnis des Menschen zur Natur zu ergründen.136 Dies gelingt seiner Ansicht nach nur dann, wenn die von Empirismus und Intellektualismus beschriebenen Dualismen – als Prominentesten nennt Christian Bermes die Trennung zwischen Leib und Seele137 – überwunden werden. Merleau-Pontys Kritik an der empiristischen Sichtweise Aus empiristischer Sicht ist Wahrnehmung gleichbedeutend mit der Empfindung. Paul Good kritisiert jedoch in Anlehnung an Merleau-Ponty, dass es unzulänglich

131 132 133 134 135 136 137

Vgl. Oberhaus 2006, 118. Oberhaus 2006, 119. Danner 2006, 136. Waldenfels 2010a, 50. Vgl. Good 1998, 33. Vgl. Bermes 1998, 12. Vgl. Bermes 1998, 14f.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

sei, Wahrnehmen auf Empfinden zu reduzieren. Denn es werde nicht nur Einzelnes wahrgenommen (nie ist uns bloß die einzelne Impression gegeben), sondern etwas erscheint uns stets im Verhältnis zu etwas anderem (so wie sich beispielsweise die Figur zum Hintergrund verhält). Für Merleau-Ponty hat Wahrnehmung demnach nicht ausschließlich etwas mit Eigenschaften von Gegenständen, sondern bereits mit Sinn zu tun. Wahrnehmung ist also nicht lediglich Wahrnehmung von Reizen und unsere Sinne sind nicht bloß Empfänger einzelner Signale.138 »Wird Wahrnehmung mit Empfindung gleichgesetzt und Empfindung als Impression, als Qualität oder als unmittelbare Folge eines Reizes bestimmt, dann wird das eigentliche Wahrnehmungsphänomen, wie es sich uns in der Erfahrung zeigt, verpaßt.«139 Hinter den Annahmen des Empirismus über Wahrnehmung und Empfindung verbirgt sich das Vorurteil einer objektiv beschreibbaren Welt. MerleauPontys neue Empfindungstheorie besagt jedoch, dass Wahrnehmung nicht länger als Empfindung verstanden und Empfindungen nicht losgelöst von Sinn und Bedeutung betrachtet werden dürfen. Während also für den Empirismus der Ort der Wahrheit nicht die Erfahrung, sondern die Konstruktion ist,140 stellt sich für Merleau-Ponty die wesentliche Frage, wie Sinn und Sinnlichkeit zusammengeführt werden können.141 Merleau-Pontys Kritik am Intellektualismus In welcher Weise sich Merleau-Ponty vom Intellektualismus absetzt, habe ich zum Teil bereits bei der Abgrenzung Merleau-Pontys von der Husserl’schen Transzendentalphilosophie anklingen lassen. Auch die intellektualistische Bestimmung beruht auf dem Vorurteil einer Welt an sich.142 Anders als der Empirismus geht der Intellektualismus jedoch von der Produktivität der Aufmerksamkeit aus und beschäftigt sich mit ihr intensiver als der Empirismus.143 Da aus intellektualistischer Sicht jedoch alle Konstitutionsleistungen letztlich allein dem Bewusstsein zugeschrieben werden, ist bei dieser Position die Aufmerksamkeit eigentlich ebenso unproduktiv.144 In welcher, für Merleau-Ponty unbefriedigenden, Weise sowohl der Empirismus als auch der Intellektualismus mit den Begriffen Bewusstsein und Aufmerksamkeit umgehen, fasst er in der Phänomenologie der Wahrnehmung zusammen:

138 139 140 141 142 143

Vgl. Good 1998, 37. Good 1998, 37. Vgl. Good 1998, 41. Vgl. Bermes 1998, 48. Vgl. Good 1998, 42. »Mit Hilfe des Begriffs der Aufmerksamkeit sucht der Intellektualismus die Unzulänglichkeiten des Empirismus zu überwinden.« Good 1998, 42. 144 Vgl. Merleau-Ponty 1966, 49.

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»Dem Empirismus mangelt es an der Möglichkeit einer Einsicht in den inneren Verband zwischen dem Gegenstand und dem von ihm ausgelösten Akt. Dem Intellektualismus mangelt es an der Möglichkeit einer Einsicht in die Kontingenz der Anlässe des Denkens. Im einen Falle ist das Bewußtsein zu arm, im zweiten zu reich, um es begreiflich zu machen, daß ein Phänomen vermöchte, es zu erregen. Der Empirismus sieht nicht, daß wir nichts suchten, wüßten wir nicht, was wir suchen; der Intellektualismus hingegen sieht nicht, daß wir gleichfalls nichts suchten, wüßten wir, was wir suchen.«145 Das, was Merleau-Ponty hier als »suchen« beschreibt, ist aus phänomenologischer Perspektive eher als intentionales Zur-Welt-gerichtet-Sein zu verstehen. Dies meint eine Bewegung, bei der das Gesuchte im gleichen Moment, in dem wir uns ihm bewusst-intentional zuwenden, unsere Aufmerksamkeit erregt.146 Sinnsuchen und Sinnfinden fallen nach seinem Verständnis also in der Wahrnehmung zusammen. »Aufmerken ist nicht lediglich, zuvor schon Gegebenes klarer ins Licht setzen; vielmehr ist es die Leistung der Aufmerksamkeit, solches Gegebene ursprünglich gestalthaft zu artikulieren.«147 Der Aufmerksamkeit wohnt nach Merleau-Ponty also ein schöpferischer Charakter inne. Sie ist damit nicht zu verstehen als bloßes Erinnern, sondern als »aktive Konstitution eines neuen Gegenstandes«,148 und eng mit dem Bewusstsein verbunden. »Dies ist das Wunder des Bewußtseins: durch Aufmerken Phänomene zum Erscheinen zu bringen, die die Einheit des Gegenstandes im gleichen Moment, in dem sie diese zerbrechen, in einer neuen Dimension wiederherstellen.«149 Zentral für Merleau-Pontys Verständnis vom Bewusstsein ist demnach eine ihm zugrunde liegende ›ursprüngliche Offenheit‹.150 Erkennen und Denken wiederum versteht Merleau-Ponty, in Abgrenzung zum Intellektualismus, als einen ständigen Übergang vom Unbestimmten zum Bestimmten: »Dieser Übergang vom Unbestimmten zum Bestimmten, die je und je erneute Wiederaufnahme seiner eigenen Geschichte in einer neuen Sinneseinheit ist das Denken selbst.«151 Merleau-Ponty ergründet also den Bereich zwischen den Dingen und dem Bewusstsein, anstatt beide Bereiche jeweils getrennt voneinander zu betrachten.152 145 Merleau-Ponty 1966, 49; Herv. im Original. 146 Diese Bewegung, bei der wir der Welt mit einem gewissen Vorurteil begegnen und zugleich dennoch offen für neue Erfahrungen und eine Begriffsbildung mit und an den Dingen sind, die wir erfahren, kommt nie zum Stillstand. 147 Merleau-Ponty 1966, 51; Herv. im Original. 148 Merleau-Ponty 1966, 52. 149 Merleau-Ponty 1966, 52. 150 Vgl. Good 1998, 44. 151 Merleau-Ponty 1966, 52. 152 Vgl. Bermes 1998, 16.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

Während der Intellektualismus davon ausgeht, dass Wahrnehmung erst durch ein gewisses Urteil, als Zugabe zur Empfindung, zustande kommt, macht MerleauPonty darauf aufmerksam, dass in der Wahrnehmung selbst schon Sinn enthalten ist.153 Mit Merleau-Ponty räumt die Phänomenologie also mit den Gesetzen der positiven Logik auf, indem sie im Wahrnehmungsakt von einer »wortlosen Logik«154 ausgeht. Nach Good kritisiere Merleau-Ponty hiermit nicht nur den Intellektualismus, sondern genauso das »Ideal der Wissenschaftlichkeit selbst.«155 Seine Untersuchung der Wahrnehmung zielt nicht darauf, die Objektivität von Gegenständen zu konstituieren, vielmehr wird der Leib bei Merleau-Ponty zum »Medium der Welterfahrung und Grundphänomen des menschlichen Seins schlechthin«:156 »Der Leib kennzeichnet sich daher nicht mehr wie bei Husserl durch den Rückgang auf ein absolutes Bewusstsein oder die Priorität der Tasterfahrung in der Doppelempfindung, sondern entwickelt sich zu einem mit allen Sinnen lebendig wahrnehmenden und handelnden Subjekt. [Der Leib; Anm. A. U.-R.] wird zum Darstellungsvermögen des Subjekts und sichtbaren Ausdruck eines wahrnehmenden Ichs.«157 Merleau-Pontys philosophische Phänomenologie wird von Seewald daher auch als Philosophie des »dritten Weges«158 bezeichnet. Mit Begriffen wie Struktur und Gestalt erörtert er diesen Zwischenweg zunächst aus äußerer Perspektive, später, in der Phänomenologie der Wahrnehmung, eher aus der inneren Perspektive.159 Darin sind zentrale Themen das Wahrnehmen, Empfinden sowie die leibliche Existenz. Was zunächst dem Strukturbegriff zugeschrieben wird,160 wird später durch den Begriff des Leibs ersetzt, der »weder in reiner Bedeutung noch in reiner Materialität aufgeht«. […] Die Leiblichkeit ist insofern der Modus des unmittelbaren ›Zur-Welt-seins‹, welcher sich nicht einfügt in die gängigen Dualismen von Subjekt und Objekt, Innen und Außen, res extensa und res cogitans.«161 In der Phänomenologie der Wahrnehmung wird Wahrnehmung als leibliches Verstehen und der Rückgang auf die anonyme Erfahrung als sinnvoller Boden aller Erkenntnis beschrieben. Die Theorie des Leibes bildet darin die Grundlegung einer Theorie der Wahrnehmung.162 Merleau-Ponty zufolge liegt der Sinn in der Erfahrung selbst be153 154 155 156 157 158 159 160 161 162

Vgl. Good 1998, 44. Merleau-Ponty 1966, 72. Good 1998, 48. Oberhaus 2006, 117. Oberhaus 2006, 123. Seewald 1992, 23; Vgl. auch Waldenfels 2010a, 148ff. Vgl. Waldenfels 2010a, 151. »Struktur erschöpft sich weder rein in der Bedeutung noch im Gegenständlichen, sie vermittelt vielmehr zwischen beidem.« Seewald 1992, 23. Seewald 1992, 23. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 239ff.

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Bewegung und Musikverstehen

gründet. Selbst dem Zufall gesteht er einen Sinn zu. Jede Handlung habe, und sei sie noch so zufällig, einen Sinn. Wir seien in unserer Zugewandtheit zur Welt dabei regelrecht »verurteilt zum Sinn«.163 Als Folge seiner Kritik am Intellektualismus setzt Merleau-Ponty sich außerdem mit dem Begriff der Intersubjektivität auseinander. Mit dem Terminus der Zwischenleiblichkeit beschrieben, betont er, dass wir der Existenz des anderen gewahr werden, ohne zuvor das andere Ich konstituieren zu müssen. In der Existenz der Lebenswelt ist Intersubjektivität immer schon gegeben, versteht sie sich als »Koexistenz«.164 Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie – einige Kernthemen und Schwerpunkte An dieser Stelle seien kurz einige165 zentrale Begriffe der Wahrnehmungstheorie Merleau-Pontys zusammengetragen, die deutlich machen, inwiefern er, angeregt durch die Kritik an Empirismus und Intellektualismus und als Folge seiner Abgrenzung von der Transzendentalphilosophie Husserls, einen eigenen phänomenologischen Weg beschreitet. Seiner Wahrnehmungs-, Leib- und Sprachtheorie widmet sich schließlich noch intensiver das Kapitel drei, da es insbesondere Erkenntnisse aus diesen drei Themenfeldern sind, die sich im Hinblick auf eine Anwendung auf den musikpädagogischen Bereich als aufschlussreich erweisen. Husserl und seine Nachfolger setzen sich besonders mit dem Begriff der Lebenswelt auseinander, denn sie sehen in ihr das Fundament aller Wissenschaften. »Was immer ich […] weiß von der Welt, weiß ich aus einer Sicht, die die meine ist, bzw. aus einer Welterfahrung, ohne die auch alle Symbole der Wissenschaft nichtssagend blieben oder vielmehr wären.«166 Merleau-Ponty erläutert die Bedeutung von Lebenswelt beispielhaft daran, dass sich die Menschen zunächst die Bedeutung von Landschaft, Wäldern, Wiesen und Flüssen erschlossen haben, bevor sie die Geographie erfanden. Die Lebenswelt kommt unserer Analyse also immer zuvor. »Die Wahrnehmung unterliegt nicht intellektualistischen Synthesen, sondern bleibt eine ständig neue, erfahrungsbildende Vollzugsleistung.«167 Der Begriff der Lebenswelt bezeichnet also »den Gesamthorizont menschlicher Erfahrung«.168 Sie ist zu verstehen als die Welt, in die der Mensch eingreift, in der er handelt und die »Zur Welt seiend, sind wirverurteilt zum Sinn, und nichts können wir tun oder sagen, was in der Geschichte nicht seinen Namen fände.« Merleau-Ponty 1966, 16; Herv. im Original. 164 Vgl. Oberhaus 2006, 120. 165 Diese Auswahl von Begriffen ist nicht als eine Darstellung Merleau-Pontys Schaffen gemeint, die einen Anspruch auf Vollständigkeit erhöbe. Vielmehr beschränke ich mich hier auf die Begriffe, die entweder geeignet sind, aufzeigen, was das Besondere an Merleau-Pontys Denken gegenüber anderen phänomenologischen Denkern ist, oder die bereits im Hinblick auf den Bereich Kunst und Musikverstehen relevant sind. 166 Merleau-Ponty 1966, 4. 167 Oberhaus 2006, 121. 168 Danner 2006, 153. 163

2. Phänomenologie als Wesensforschung

er sinnlich-leiblich erlebt. Nach Merleau-Ponty sind dabei Leib und Welt »aus demselben Fleisch gemacht«.169 Die Welt wird hier also genauso wenig wie der Leib als Gegenstand betrachtet. »Die Welt ist kein Gegenstand, dessen Konstitutionsgesetz sich im Voraus in meinem Besitz befände, jedoch das natürliche Feld und Milieu all meines Denkens und aller ausdrücklichen Wahrnehmung.«170 In seiner Weiterführung von Husserls Transzendentalphilosophie zu einer Existenzphilosophie erweitert er die Wesensforschung um den Begriff der Existenz. Dabei wird die leibliche Existenz zu einem Ausdruck des Bereichs des Zwischen. Merleau-Ponty versteht die leibliche Existenz als »Zur-Welt-Sein.«171 Durch unser leiblich-sinnliches Erleben werden die Dinge erst zu dem, was sie für uns sind. Demnach steht der Begriff der Existenz gleichsam für das Verstehen des Leibes. Nicht nur der Leibbegriff, sondern auch die Sprache und der Ausdruck rücken durch Merleau-Ponty stärker ins Blickfeld philosophischer Betrachtungen.172 Im Gegensatz zu Husserl, setzt Merleau-Ponty sich außerdem intensiv mit Fragestellungen der Kunst auseinander.173 Insbesondere in der Malerei zeige sich nach Merleau-Ponty der ursprüngliche, »noch stumme Ausdruck unseres Leibes«, den er als »Fundament des sprachlichen Ausdrucks« versteht.174 Merleau-Pontys Gedanken zur Malerei gehen aus einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk Paul Cézannes hervor. Denn auch Cézanne sucht den Dualismus zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie wir sie empfinden, zu überwinden. Sein künstlerisches Schaffen zielt darauf, den Gegenstand, wie er erscheint und wie er empfunden wird, in seiner Ganzheit darzustellen. »Cézanne unterscheidet nicht zwischen Empfindung und Denken wie zwischen Chaos und Ordnung, er trennt nicht, was im Akt des Sehens beieinander ist.«175 Für Merleau-Ponty gibt die Kunst wesentlich Aufschluss darüber, was Wahrnehmung und was Wahrheit ist. Im gelingenden künstlerischen Ausdruck entstehe ein Sinn, der, unabhängig vom Künstler und vom Kunstwerk, weitergetragen werde, so Good.176 »Die ästhetische Erfahrung wird damit zum Prototyp einer phänomenologischen Reduktion, die Wirkliches zum Erscheinen bringt.«177 Der Rückgang auf die Wahrnehmung und lebensweltliche Erfahrung wird bei Merleau-Ponty zu einer wissenschaftlichen Methode. »Es gilt zu beschreiben, nicht zu analysieren und zu erklären.«178 Die Erfahrung selbst soll zur Erkenntnis führen. Ihr soll nicht erst durch Erklärung und Analyse 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178

Merleau-Ponty, zitiert nach Bermes 1998, 64. Merleau-Ponty 1966, 7. Danner 2006, 157. Vgl. Waldenfels 2010a, 146. Vgl. Oberhaus 2006, 127ff. Vgl. Good 1998, 179. Good 1998, 182. Vgl. Good 1998, 183f. Waldenfels 1992, 109f. Merleau-Ponty 1966, 4.

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etwas hinzugefügt werden. »Die Welt ist da, vor aller Analyse; jeder Versuch, sie herzuleiten aus Reihen von Synthesen – zuerst der Empfindungen, dann der Wahrnehmungsaspekte des Gegenstandes – bleibt künstlich, da Empfindungen und Erscheinungen selbst erst Produkte der Analyse und nicht dieser zuvor zu realisieren sind.«179 Merleau-Ponty beschreibt weiter in der Phänomenologie der Wahrnehmung, wie der Rückgang auf die Erfahrung durch eine Beschreibung der Wahrnehmung gelingt. Dabei versteht er die Wahrnehmung als »Zugang zur Wahrheit.«180 Die »phänomenologische Beschreibung«181 hat somit bei ihm bereits den Rang einer wissenschaftlichen Methode. Hier unterscheidet er sich deutlich von Husserl. Dadurch, dass bei Merleau-Ponty im Vergleich zu Husserl die leibliche Existenz an die Stelle des Bewusstseins tritt, ist er von der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion überzeugt. Ich kann die Welt nicht durch mein Denken besitzen, mich jedoch durch Eidetik als Methode meiner Existenz vergewissern.182 »Die phänomenologische Welt ist nicht Auslegung eines vorgängigen Seins, sondern Gründung des Seins; die Philosophie nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern, der Kunst gleich, Realisierung von Wahrheit.«183 Zu den Methoden der Epoché und Reduktion werden noch nähere Erläuterungen folgen. Als Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses zwischen menschlichem Bewusstsein und Natur sei hier noch kurz auf einen weiteren Begriff vorweggegriffen, der für Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie eine entscheidende Rolle spielt: die Intentionalität. In Anlehnung an Husserl nutzt Merleau-Ponty den Begriff, um zu vermitteln, was Verstehen aus phänomenologischer Sicht bedeutet. Der von der Phänomenologie erweiterte Begriff der (fungierenden) Intentionalität ist Ausdruck für unser unermüdliches Verwobensein mit der Welt in all unserem Handeln und Denken, das durch keine Analyse zu gänzlich klarer Gestalt gebracht werden kann. »Wahrgenommene Dinge, Ereignisse in der Geschichte oder philosophische Lehren ›verstehen‹ heißt die Totalintention zu erfassen: nicht allein das, was etwas in der Vorstellung ist, die ›Eigenschaften‹ der wahrgenommenen Dinge, die Masse ›historischer Fakten‹, die ›Ideen‹ der philosophischen Lehren, sondern die einzigartige Weise des Seins, die je sich ausdrückt in den Beschaffenheiten des Kiesels, des Glases oder des Wachsstücks, in all den Tatsachen einer Revolution, in allen Gedanken des Philosophen.«184 Mit der Phänomenologie der Leiblichkeit, so lässt sich zusammenfassen, antwortet Merleau-Ponty auf Husserls Transzendentalphilosophie und entwickelt die Phäno179 180 181 182 183 184

Merleau-Ponty 1966, 6. Merleau-Ponty 1966, 13. Oberhaus 2006, 119. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 14. Merleau-Ponty 1966, 17. Merleau-Ponty 1966, 15.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

menologie hin zu einer »Existenzialphänomenologie«.185 Merleau-Ponty gelingt die Abkehr von Husserl in der Phänomenologie der Wahrnehmung aber nur bedingt, so sagt Waldenfels, da die »Theorie der gelebten Leiblichkeit« keinen ausreichenden Ersatz für die strenge Bewusstseinsphilosophie biete.186 Merleau-Pontys Denken ist nach seiner Einschätzung letztlich »eine Radikalisierung der Phänomenologie, die an deren Grenze führt.«187

2.3

Zusammenfassung der Ziele der Phänomenologie als Methode

An dieser Stelle sollen im Hinblick auf eine spätere Anwendung phänomenologischer Methoden auf pädagogische und musikpädagogische Fragestellungen einige Wesensmerkmale der Phänomenologie als Methode zusammengefasst werden.188 Bevor weiter unten die zentrale phänomenologische Methode der Reduktion in den Blick genommen wird, sollen hier zunächst die wesentlichen Hauptbegriffe der Phänomenologie angesprochen werden, unter denen sich die Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen phänomenologischen Theorien (vor allem von Husserl und Merleau-Ponty) zusammentragen lassen. Wenn man Phänomenologie als eine Methode bezeichnet, so mahnt Waldenfels, muss erwähnt werden, dass es sich hierbei nicht um ein »neutrales Werkzeug«189 handelt, das sich einfach auf die vorgegebenen Sachverhalte anwenden ließe. Außerdem scheiden sich auch im Hinblick auf die methodischen Schritte der Reduktion die Geister. So ist Merleau-Ponty beispielsweise keinesfalls der Meinung, dass die Dinge in unserem reinen Bewusstsein endgültige Evidenz erlangten. Etwas, das die verschiedenen phänomenologischen Positionen wiederum verbindet, ist, dass Phänomenologie stets einen Weg meint. Unser Bewegen auf diesen Wegen durch intentionale Denk- und Verstehensakte, die uns einen Zugang zu den Dingen eröffnen, ist Gegenstand phänomenologischer Untersuchungen.190 Phänomenologie als Art und Weise des Forschens meint keine Forschungstechnik als vielmehr eine Einstellung oder Haltung, die das Untersuchen von Phänomenen möglich macht. »Phänomenologie in diesem Sinne ist mehr als eine erkenntnistheoretische Technik. Sie ist eine Erkenntnishaltung, die sich der Welt ge-

185 186 187 188

Waldenfels 2010a, 165. Vgl. Waldenfels 2010a, 148. Waldenfels 2010a, 148. Es handelt sich hier lediglich um eine Zusammenstellung von Kernbegriffen, die zur Weiterarbeit dienen. Denn die Phänomenologie lässt sich, wie oben beschrieben, nicht als einheitliche und in sich geschlossene Methode darstellen. 189 Waldenfels 1992, 30. 190 Vgl. Waldenfels 1992, 30.

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genüber öffnet und Erfahrung einläßt.«191 Das, was als vermeintliches Wissen von der Welt bereits besteht, stellt der Philosoph zunächst in Frage. Merleau-Ponty beschreibt im Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung in Anlehnung an Husserl, dass der Philosoph sich selbst immer als »neuer Beginner« betrachtet und die Philosophie »nur immer erneute Erfahrung ihres eigenen Anfangens […] und gänzlich in der Beschreibung dieses Beginnens«192 sei. »Philosophie heißt in Wahrheit, von neuem lernen, die Welt zu sehen«.193 In diesem viel zitierten Ausspruch von Merleau-Ponty wird die Hauptintention der Phänomenologie als Methode zusammengefasst. Jeder Begegnung mit Welt soll der Charakter des Neuartigen innewohnen, in jedem Wahrnehmungs- und Verstehensakt das Entstehen von Sinn als eine Dynamik des Ursprungs lebendig gehalten werden. Hierzu bedarf es in erster Linie eines – so der berühmte Ausspruch Husserls – ›Rückgangs auf die Sachen selbst‹. Phänomenologie als wissenschaftliche Methode beginnt also mit der Beschreibung der Phänomene, so wie sie sich uns darbieten. Oberhaus spricht hierbei auch von »phänomenologischer Beschreibung«.194 Die Phänomenologie wird deshalb auch als »deskriptive Disziplin«195 bezeichnet. Sie beschreibt unsere Erfahrungen, so wie sie uns gegeben sind, ohne zuvor etwaige Kausalzusammenhänge ihrer Entstehung herzuleiten.196 »Im Gegensatz zu diesem überfliegenden Denken der Wissenschaft versucht die phänomenologische Philosophie, in die Dinge einzudringen, sie zu verstehen und nicht zu konstruieren, und indem sie zurückgeht auf die Sachen selbst, unsere primäre Begegnung mit den Dingen zu beschreiben.«197 Erkenntnis über die Dinge erhalten wir, so die phänomenologische Erkenntnishaltung, nicht durch »Anschauungsferne«198 , sondern nur in »absoluter Nähe«199 zum Erkenntnisgegenstand mit seiner jeweils eigenen Zugangsart. Im Rückgang auf die Erfahrung als Grundlage aller Erkenntnis und beim Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis erhält die Erste-Person-Perspektive für die Phänomenologen eine neue Bedeutung. Die Phänomenologie will nicht in psychologischer oder anthropologischer Absicht die Subjektivität ergründen.200 »Die Phänomenologie […] bringt uns nicht allein die Gegebenheit des Gegenstandes zu Bewusstsein, sondern auch das subjektive Korrelat seiner Erscheinung und damit die Art der Intentionalität, die am Werk ist und den

191 192 193 194 195 196 197 198 199 200

Seewald 1992, 26; Herv. im Original. Merleau-Ponty 1966, 11. Merleau-Ponty 1966, 18. Oberhaus 2006, 119. Zahavi 2007, 37. Vgl. Zahavi 2007, 37. Good 1998, 23; Herv. im Original. Waldenfels 1992, 19. Waldenfels 1992, 19. Vgl. Zahavi 2007, 17.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

Gegenstand erscheinen lässt, wie es jeweils der Fall ist.«201 Phänomenologisches Forschen bedeutet also, bei dem Erschließen von Phänomenen auch die Subjektivität in den Erkenntnisprozess mit einzubeziehen. Dabei interessiert insbesondere das Bewusstsein als Ort, an dem die Dinge der Welt erscheinen.202 Anstelle einer dichotomen Betrachtung von Subjekt und Objekt spricht Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung vom Verwobensein der Welt mit der Subjektivität: »Die Welt ist untrennbar vom Subjekt, von einem Subjekt jedoch, das selbst nichts anderes ist als Entwurf der Welt, und das Subjekt ist untrennbar von der Welt, doch von einer Welt, die es selbst entwirft.«203 Er warnt weiter davor, Subjektivität mit Innerlichkeit gleichzusetzen, denn sie meint vielmehr ein »offenes Weltverhältnis.«204 Der Mensch kann gar nicht verinnerlicht sein, da es Bedingung seiner leibhaftigen Existenz ist, dass seine Subjektivität weder von der Welt noch von der Intersubjektivität getrennt ist. So begreift er sich selbst nur im Gewahrwerden des anderen.205 Wie sehr das Bewusstsein mit den Dingen verwoben ist, die sich in ihm abbilden, verdeutlicht Waldenfels anhand folgender »Sinndimensionen«, die im Akt des Erkennens miteinander verschmelzen: »die Dingerfahrung, die Fremderfahrung und die Selbsterfahrung.«206 Der Moment, in dem Sinn entsteht, ist undenkbar ohne die Intentionalität und die von ihr nicht zu trennende Leiblichkeit. Angefangen mit Husserl, beschäftigt sich die Phänomenologie mit dem Gerichtetsein unseres Bewusstseins auf die Dinge, also mit der intentionalen Struktur des Bewusstseins. Dafür, wie sich ein Gegenstand in unserem Bewusstsein zeigt, ist stets die spezielle und passende Art des Zugangs zu diesem Gegenstand verantwortlich.207 Wir haben es hier also mit einem Korrelationsverhältnis zu tun. Der Begriff ›Korrelation‹ bedeutet in diesem Zusammenhang, in Bezug auf die intentionale Struktur des Bewusstseins: »Akte des Vermeinens stehen in einem Bezug zu dem vermeinten Gegenstand.«208 Husserl bezeichnete in seinen Ideen diese Akte des Vermeinens als »Noesis« und das Vermeinte an sich als »Noema«.209 Die Intentionalität zeigt sich somit in der Korrelation von Noesis und Noema. Wie noch erläutert werden wird, dient die Methode der phänomenologischen Reduktion zur Analyse der intentionalen Bewusstseinsstruktur.210 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210

Zahavi 2007, 19. Vgl. Zahavi 2007, 19. Merleau-Ponty 1966, 489. Zahavi 2007, 39. Vgl. Zahavi 2007, 39f. Waldenfels 1992, 32. Vgl. Godina 2012, 29. Prechtl 2008a, 275. Prechtl 2008a, 275. Vgl. Prechtl 2008a, 275.

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Den ›Nullpunkt‹ allen Gerichtetseins zur Welt bildet der Leib. Daher ist die Intentionalität nicht denkbar ohne den Leib in seiner »Vermittlungsrolle«211 zwischen Bewusstsein und Natur. Die »fungierende Intentionalität«212 des Leibes ist es also, die für alle sinnstiftenden Akte in unserer Auseinandersetzung mit der Welt und uns selbst die Grundlage bildet. Denn unsere Subjektivität ist leiblich verankert in einer Welt, die wir uns nur leiblich erschließen können.213 »Das Verhältnis zu den Dingen ist nicht zu denken, ohne eine konstitutive Leiblichkeit. Die Perspektivität, Beweglichkeit und Affektion der Dinge verweist auf den Leib, dessen Hier den Nullpunkt bildet, nach dem alles andere sich räumlich orientiert, der ferner anderes bewegt, indem er sich selbst bewegt, und der fremde Reize empfindet, indem er sich selbst spürt. Dieser Vermittlungsrolle, die ihn zur ›Umschlagstelle‹ zwischen Natur und Geist macht […], kann der Leib nur gerecht werden, sofern er zugleich Züge eines Körpers annimmt, der selbst unter die Dinge gerät, die er mitkonstituiert.«214 Mit dem Bereich des Leiblichen zeigt die Phänomenologie außerdem auf, dass es ein »nicht- theoretisches Weltverhältnis« gibt. Gemeint ist eine »nicht-objektivierende, vorsprachliche Weise des In-der-Welt-seins.«215 Ohne diese ursprüngliche Erfahrungswelt, in der wir leiblich Sinn erschließen, wäre, so die Überzeugung der Phänomenologen, auch Wissenschaft undenkbar. Die sogenannte Lebenswelt wird zu einem Bereich, der aus Philosophie und Wissenschaft nicht mehr wegzudenken ist – setzt doch die Dritte-Person-Perspektive auf die Welt, so die phänomenologische Haltung, immer eine Erste-PersonPerspektive voraus. Denn auch Wissenschaft wird von »leiblichen Subjekten«216 betrieben. Lebenswelt macht, so Zahavi, die »geschichtliche und systematische Sinngrundlage«217 von Wissenschaft aus. Dabei sei das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt ein dynamisches, denn Wissenschaft und Lebenswelt beeinflussten sich stets wechselseitig.218 Die Phänomenologie stellt jedoch nicht die Wissenschaft an sich in Frage, sie kritisiert lediglich den Szientizismus und den Objektivismus.219 Außerdem schützt sie die Lebenswelt als eine eigene vorwissenschaftliche Sphäre, die nicht erst einer Legitimierung durch die Wissenschaft bedarf: »Unsere gemeinsame Erfahrungswelt hat ihre eigenen (pragmatischen) 211 212 213 214 215 216 217 218 219

Waldenfels 1992, 32. Merleau-Ponty 1966, 474. Vgl. Zahavi 2007, 58. Waldenfels 1992, 32; Herv. im Original, »Nullpunkt« hier kursiv gesetzt, Original in halben Anführungszeichen. Zahavi 2007, 41. Zahavi 2007, 34. Zahavi 2007, 31. Vgl. Zahavi 2007, 32. Vgl. Zahavi 2007, 33f.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

Kriterien für Wahrheit und Gültigkeit und braucht nicht auf ihre Legitimierung durch die Wissenschaften zu warten.«220 Merleau-Ponty weist darauf hin, dass die Welt nicht etwas Fertiges ist, was ich besitzen kann. Der Mensch erschließt sich Welt lediglich darüber, dass er in ihr lebt und ihr erneut mit Offenheit begegnet. Das Bewusstsein wird als »Urstätte des Sinnes«221 durch die Phänomenologie viel stärker als zuvor mit den subjektiven Bedingungen von Erkenntnis, der Erfahrung und dem Erleben, in Verbindung gebracht. An dieser Stelle leistet die Phänomenologie ihren eigenen Beitrag zum Thema Evidenz und Wahrheit. »Das Bestreben aller Wissenschaften, zu Evidenz zu gelangen, erfährt in der Phänomenologie seine besondere Ausprägung. Es wird thematisiert in der Gestalt der Einheit von Erleben und Selbstgegebenheit des Erlebten. D.h., in Gestalt der originär gegebenen Anschauung ist das Entscheidungskriterium für jene Vernunftfragen, die sich auf die Wahrheit und Wirklichkeit richten, gegeben. […] In diesem Zusammenhang wird die besondere teleologische Struktur des Bewusstseinslebens herausgestellt: Das intentionale Bewusstseinsleben ist immer auf Erfüllung in Evidenz ausgerichtet.«222 So wie sich die Welt in unseren Erfahrungen immer wieder von Neuem zeigt, ist nach phänomenologischer Denkart auch der Sinn etwas, das sich stets neu konstituiert. Hinfällig ist damit auch die Vorstellung eines reinen Bewusstseins, das uns die Dinge verlässlich in ihrer Klarheit spiegelt, so Waldenfels: »Das Bewußtsein erweist sich nicht als ruhiger Ankerplatz, sondern als Unruheherd, der jede Sinnbekundung in ein Sinngefälle hineinzieht. Ein Bewußtsein, das aus der Erfahrung mit den Dingen, mit den Anderen und mit sich selbst entspringt, ist nicht rein, es reinigt sich erst in einem Prozeß der Bewußtwerdung«.223 Anhand der Begriffe Epoché und Reduktion wird schließlich deutlich, wie die beschriebenen phänomenologischen Kernthemen in einer Methodik des Weltverstehens zusammenwirken. Reduktion bedeutet innerhalb der phänomenologischen Philosophie eine methodische Schrittfolge, die im Wesentlichen auf Edmumd Husserl und Max Scheler zurückzuführen ist.224 Sie ist jedoch nur mit Vorsicht als allgemeine phänomenologische Methode zu bezeichnen. Zwar beschäftigen sich Husserls Nachfolger intensiv mit der Reduktion, vom Schritt hin zur transzendentalen Subjektivität grenzen sie sich jedoch teilweise scharf ab. Da der methodische Schritt der Epoché und Reduktion insgesamt jedoch gut anschaulich macht, auf welchem Wege die Phänomenologie einen Zugang zum Wesen der Dinge erlangen 220 221 222 223 224

Zahavi 2007, 30. Waldenfels 1992, 30. Prechtl 2006, 68. Waldenfels 1992, 32. Vgl. Prechtl 2008b, 516.

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möchte, soll der methodische Werdegang von Epoché und Reduktion hier kurz erläutert werden: »Was Husserl ›Reduktion‹ nennt, bedeutet Rückführung dessen, was sich zeigt, auf die Art und Weise, wie es sich zeigt.«225 Um zum Wesen von Phänomenen vorzudringen, rät uns die Phänomenologie, die vermeintlich existierende theoretische Welt, von der wir uns allzu oft leiten lassen, zu hinterfragen. Die Wirklichkeit soll also nicht als gegeben vorausgesetzt werden. Stattdessen gilt es (wieder) zu einer natürlichen Einstellung gegenüber der Welt zu gelangen. Dafür klammern wir ein (oder blenden wir aus), was wir vermeinen, bereits zu wissen. Dieses Einklammern wird als (erste) Epoché bezeichnet. »Bei der für Husserl unumgänglichen Ausschaltung der Welt handelt es sich im Grunde lediglich um die Ausschaltung einer voreingenommenen und letztlich inkonsistenten Theorie von der Welt.«226 In der so erreichten natürlichen Einstellung, in dieser vorwissenschaftlichen Welt, erleben wir die Welt unvoreingenommen, so wie sie uns gegeben ist, lassen wir Erfahrungen zu. Die Epoché sei somit nach Husserl die Möglichkeitsbedingung der Reduktion und »Eingangstor zur Philosophie«.227 Um letztlich zu Erkenntnis gelangen zu können, ist ein erster wesentlicher methodischer Schritt von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung – auch phänomenologische Reduktion genannt – notwendig. Dies bedeutet, die Welt nicht im naiven Weltglauben so zu belassen, wie sie ist, sondern zu ihr kritisch auf Distanz zu gehen. Dabei gilt es auch, sich selbst in seinem Verhalten zur Welt kritisch zu betrachten. Auf dieser Reflexionsstufe schaue man seinen eigenen DenkErlebnissen wie ein unbeteiligter Zuschauer zu.228 Der phänomenologische Blick richtet sich hier auf die Intentionalität, mit der wir uns einem Gegenstand zuwenden.229 Gegenstand der Betrachtung als das, was durch die Epoché übrig bleibt, wird die sinnstiftende Bewegung zwischen Bewusstsein und Gegenstand.230 Auf der Ebene der phänomenologischen Einstellung erfolgt schließlich die eidetische Reduktion. Es setzt dabei ein »aktives, schöpferisches Denken«231 ein, das sich wie folgt beschreiben lässt: Um sich dem Wesen der gegebenen Phänomene zu nähern, variiert man sie im Geiste so oft, bis ein invarianter Kern zum Vorschein kommt, und nur so oft, dass ihre Identität gewahrt bleibt. Dieser Schritt wird als eidetische Variation beziehungsweise eidetische Reduktion bezeichnet. Das, was als invariant hervortritt, wird als Eidos, als Wesen des Phänomens, bezeichnet. Der eidetischen Reduktion, als phänomenologische Methode, geht es also darum, das

225 Waldenfels 1992, 30; Herv. im Original. 226 Zahavi 2007, 23; Herv. im Original. 227 Zahavi 2007, 23. Aus diesem Grund werden die Begriffe Epoché und Reduktion unterschieden. Vgl. Zahavi 2007, 23. 228 Vgl. Danner 2006, 146. 229 Vgl. Danner 2006, 147. 230 Vgl. Abb. 12 in Godina 2012, 44. 231 Danner 2006, 148.

2. Phänomenologie als Wesensforschung

Wesen der Phänomene herauszustellen. »Phänomenologie ist Wesensforschung – alle Probleme, so lehrt sie, wollen gelöst sein durch Wesensbestimmung: Bestimmung des Wesens der Wahrnehmung etwa, des Wesens des Bewußtseins.«232 Gleichzeitig macht Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung darauf aufmerksam, dass wir durch eidetische Reduktion lediglich zu dem gelangen, was immer schon da, bisher nur noch nicht Gegenstand unserer bewussten Reflexion war: »Die eidetische Reduktion hingegen zielt auf nichts anderes ab, als die Welt so zur Erscheinung zu bringen, wie allem Rückgang auf uns selbst zuvor sie je schon ist, nichts anderes will sie, als reflektierend dem unreflektierten Bewußtseinsleben nahekommen. […] So ist die Eidetik Methode eines phänomenologischen Positivismus, der das Mögliche auf das Wirkliche gründet.«233 Die eidetische Reduktion wird von Danner auch als »nüchterne und harte Reflexionsarbeit« und »aktives, schöpferisches Denken« bezeichnet.234 Wie oben bereits angedeutet, geht Husserl in der sogenannten transzendentalen Reduktion nun weiter zum transzendentalen Ich, das Wirklichkeit konstituiert. Wirklichsein ist hier gleichzusetzen mit Transzendenz.235 Dieser Weg wird von Merleau-Ponty nicht mitgegangen, da er die vollständige Reduktion für unmöglich hält.236 Nach Merleau-Ponty gibt es kein Denken, das all unser Denken zu umfassen vermag.237 Husserl hingegen beschreibt die transzendentale Reduktion als einen Übergang von einer zwei- zu einer dreidimensionalen Welt, in der plötzlich eine verborgene »transzendentale Subjektivität« zum Vorschein kommt.238 Es wird »auf ein Ich zurückgegangen, dem in der Weise Welt vorgegeben ist, dass das Vorgegebene und die Weisen, wie es dem Subjekt gegeben ist, zusammengehören. Auf dieser Ebene der transzendentalen Subjektivität wird Welt konstituiert.«239 Für Husserl bildet die Phänomenologie somit ein sicheres Fundament für alle Wissenschaften. »Durch die Reduktion auf die Unhintergehbarkeit des Ichs und auf die Priorität des Bewusstseins bleibt nur die eigene Subjektivität als absolute und alleinige Gewissheit übrig.«240 Hier wird nachvollziehbar, warum sich Husserls Theorie an dieser Stelle dem Vorwurf des Solipsismus stellen muss.

232 233 234 235 236 237 238 239 240

Merleau-Ponty 1966, 3. Merleau-Ponty 1966, 13f. Danner 2006, 148. Vgl. Prechtl 2006, 77. »Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion.« Merleau-Ponty 1966, 11. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 11. Zahavi 2007, 24. Danner 2006, 152. Oberhaus 2006, 105.

51

52

Bewegung und Musikverstehen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Phänomenologie im methodischen Schritt der Reduktion danach fragt, wie und in welchen Wesensstrukturen uns die Welt in Bewusstsein und Erleben gegeben ist.241 Dabei geht es ihr nicht im psychologischen Sinne um Seelen-Erlebnisse, sondern im logischen Sinne um Denk-Erlebnisse.242 Aufgabe der Phänomenologie ist es, den Weg von einer Reflexionsstufe zur anderen zu weisen. Bis hierher sollten wichtige Merkmale der phänomenologischen Denkströmung beschrieben werden. Dies sollte nachvollziehbar machen, was die Phänomenologie untersucht und worauf insbesondere der phänomenologische Denkstil Merleau-Pontys seine Schwerpunkte legt. Nun soll dem in Merleau-Pontys Schaffen so zentralen Begriff, dem Leib, Raum gegeben werden. Im Hinblick auf das Potential einer Verwendung des Leibbegriffes zur Untersuchung pädagogischer und musikpädagogischer Situationen werden wichtige wesensbestimmende Merkmale des Leibes und der Leiblichkeit herausgegriffen und erklärt. Besondere Vertiefung erfahren dabei die Themenfelder Wahrnehmen und Sprechen.

241 Vgl. Danner 2006, 139. 242 Vgl. Danner 2006, 140.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

3.1

Wesentliche Aspekte des phänomenologischen Leibbegriffs

Mit der phänomenologischen Denkströmung wird ein ganzes Repertoire an philosophischen Basisbegriffen erarbeitet. Dieser Ertrag der Phänomenologie ist nicht nur für die Philosophie, sondern auch für viele Nachbardisziplinen von Bedeutung. Da sich die Phänomenologie aber nicht als einheitliche und abgeschlossene Denkschule beschreiben lässt, gilt auch der philosophische Diskurs über die zentralen phänomenologischen Kernbegriffe als nicht abgeschlossen. Vielmehr werden sie von jedem Denker aufs Neue geprägt und unter einer je eigenen personenbezogenen Sichtweise und Schwerpunktsetzung weiter reflektiert. Der Leibbegriff wird bereits von Husserl verwendet und in die phänomenologische Diskussion eingeführt. Merleau-Ponty nutzt ihn in seiner Wahrnehmungstheorie später jedoch umfassender und konsequenter. Er dient ihm insbesondere dazu, sich von Husserls transzendentaler Wende abzugrenzen. In Merleau-Pontys Theorie der leiblichen Existenz wird der Leibbegriff dazu genutzt, die menschliche Existenz in jenen Zwischenbereich zu verlagern, in dem es weder um ein verinnerlichtes Subjekt noch um den Menschen als einen lediglich auf äußere Reize reagierenden Körper geht. Die vorliegende Untersuchung bezieht sich zur Erarbeitung des Leibbegriffes vorrangig auf Merleau-Ponty, da er den Begriff Leib zu Themen ins Verhältnis setzt, die für seine spätere Verwendung im Kontext pädagogischer und musikpädagogischer Fragestellungen relevant sind. Hierzu zählen unter anderem das Empfinden, Wahrnehmen, Erkennen und Verstehen sowie die Intersubjektivität, die Sprache und der Ausdruck. Es soll außerdem auf die Autoren Bernhard Waldenfels und Käthe MeyerDrawe Bezug genommen werden, da beide sich nicht nur umfassend mit dem Leibbegriff bei Husserl und Merleau-Ponty auseinandergesetzt haben, sondern auch eine Brücke zu Nachbardisziplinen wie der Pädagogik schlagen. Als weitere Sekundärautoren haben Paul Good und Dan Zahavi das Gebiet der Leibphänomenologie erforscht. Auch für die Philosophie Hermann Schmitz‹ ist der Leibbegriff zentral. Da er jedoch eine gänzlich eigene Theorie des Leibes entwirft, die spezielle Schwerpunkte, wie den des räumlichen Aspekts des Leibes, entfaltet, würde es zu

54

Bewegung und Musikverstehen

weit führen, die Theorie des Leibes im Schmitz’schen Sinne explizit aufzuarbeiten. Dennoch wird an geeigneter Stelle auf seine Theorie sowie die seines Schülers Guido Rappe verwiesen werden. Im Folgenden soll nun der Begriff des Leibes und der Leiblichkeit aus variierenden Blickwinkeln betrachtet und dabei der phänomenologische Blick auf die Thematik nachvollzogen werden. Da die phänomenologische Erkenntnishaltung kein hierarchisches System von Themen und Begriffen vorsieht, sondern die einzelnen thematischen Kerne, nach Merleau-Pontys Beschreibung, wie ins Wasser geworfene Steine Kreise ziehen, werden diese sich oftmals einander annähern oder gar überschneiden. Probleme sind ihm zufolge immer »konzentrische«.1 Hieraus ergibt sich die Schwierigkeit, die einzelnen Begriffe klar voneinander zu trennen. Es wird also im folgenden Text immer wieder Verweise von einem zum nächsten thematischen Kern geben. Einzelne Begriffe werden daher wiederholt aufgegriffen. Den Bereichen Wahrnehmung und Sprache soll gegenüber den anderen zentralen Begriffen im Verhältnis zum Begriff des Leibes insgesamt etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, da sie für eine Anwendung der Leibphänomenologie auf den pädagogischen und musikpädagogischen Kontext von besonderer Bedeutung sind.

3.1.1

Zur Unterscheidung von Leib und Körper

Zunächst ist es für das Verständnis des Begriffes Leib wichtig, ihn bewusst vom Begriff Körper abzugrenzen. Dabei soll mit dem Begriffspaar Leib-Körper kein neuer Dualismus geprägt werden. Dient doch der Leibbegriff bei Merleau-Ponty gerade dazu, den Dualismus zwischen Körper und Geist zu überwinden. Beide Begriffe werden vielmehr als Rahmen für ein Spannungsfeld verstanden, in dem es auch fließende Übergänge gibt. So sind zwischen beiden Begriffspolen beispielsweise Begriffe wie »leiblicher Körper« oder »körperlicher Leib« und »Körperschema« anzusiedeln. Außerdem ist das Problem der Unterscheidung von Leib und Körper eines, das sich überhaupt erst durch die Verwendung von Sprache ergibt. Dabei ist es wesentlich, um welche Sprache es sich handelt. Während die Unterscheidung zwischen Leib und Körper in der deutschen Sprache existiert, ist sie in der französischen Sprache beispielsweise so nicht anzutreffen. Um den Begriff des Leibes vom Körperbegriff abzugrenzen, nutzt Merleau-Ponty Begriffe wie corps vivant, corps propre oder corps phénoménal.2 Warum ist eine Abgrenzung zwischen den Begriffen Leib und Körper überhaupt wichtig?

1 2

Merleau-Ponty 1966, 466. Vgl. Oberhaus 2006, 118.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Die Unterscheidung von Leib und Körper erfolgt zunächst durch Husserl und ist für die Phänomenologie wegweisend.3 Während der Begriff Körper vor allem der biologischen Sicht auf den Menschen entstammt und im naturwissenschaftlichen Verständnis eher ein Forschungsobjekt meint, das genau bestimmt und beschrieben werden kann – am besten gar im leblosen Zustand –, ist »Leib« die Bezeichnung für alles Lebendige, für das, was das Leben an sich ausmacht. »Es ist beim Thema Leiblichkeit also nicht an einen rein physiologischen Bereich zu denken, sondern an das, was überhaupt das Leben in der Welt ausmacht.«4 Gegenüber dem bloßen Körper ist der Leib, mit den Worten Waldenfels‹, ein »fungierender« Leib,5 der im Gegensatz zum Körper lebendig ist. Jörg Sternnagel, der den Gedanken Waldenfels‹ folgt, fasst den »Leib als Gesamtheit des Selbst und Körper als Materialität des Leibes«6 zusammen. Leiblichkeit erfahre ich nur durch Erleben meines eigenen Körpers. Sie existiert also nur in der ersten Person. Somit verweist der Begriff Leib wiederum auf den Begriff der (lebendigen) Erfahrung7 sowie auf den Begriff der Subjektivität. Guido Rappe zufolge ist Subjektivität nicht Thema der Naturwissenschaft, da diese sich lediglich mit Objekten und Objektivität beschäftige. Für die moderne Medizin und Psychologie bedeute der menschliche Körper ein Gegenstand, der bis in molekulare Teile erforscht wird. Hingegen mache es sich die philosophische Anthropologie zur Aufgabe, den Leib, gemeint als Subjekt in seiner »leiblichen Manifestation«, zu untersuchen.8 Letztlich ermögliche die leibphänomenologische Methode »die wissenschaftliche Erfassung von Subjektivität.«9 Nach Rappe beantwortet die Leibphänomenologie die Frage nach der Existenz eines subjektiven Körpers mit dem Leibbegriff.10 Subjektivität bedeutet dabei so viel wie »spürbare Lebendigkeit«.11 Die Begriffe Leib und Körper umrahmen also ein Forschungsfeld, das nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen des Spürens, Wahrnehmens und des Bewusstseins für die Dinge sowie für den eigenen Körper, die eigene Körperlichkeit, fragt. Der ursprüngliche Leib, der wir sind und der uns umgibt, der uns und unser Leben ausmacht, lässt sich selbst jedoch nie gänzlich ergründen. Betrachtungen eines reinen Körpermodells wiederum entfernen uns am weitesten von dem, was unsere individuelle menschliche Existenz ausmacht. Dies sei durch die »genetische Linie« nach Rappe, die den Weg von dem einen zum anderen Pol (vom reinen Leib zum Körpermodell) nachzeichnet, nochmals abschließend 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. Alloa/Depraz 2012, 7ff. Waldenfels 2000, 16. Waldenfels 2000, 40. Sternagel 2012, 119; Herv. im Original. Vgl. Alloa/Depraz 2012, 11f. Rappe 2012, 12. Rappe 2012, 19; Herv. Im Original. Vgl. Rappe 2012, 17. Vgl. Rappe 2012, 18.

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Bewegung und Musikverstehen

veranschaulicht und zusammengefasst: »›Reiner‹ (mystisch-ursprünglicher) Leib – körperlicher Leib, leiblicher Körper – lebensweltlich-individuelles Körper-Schema bzw. ›mein‹ Körper – ›der‹ Körper – wissenschaftlicher Körper bzw. wissenschaftliches Körper-Schema – Körpermodell als allgemeiner oder ›reiner‹ Körper«, oder verkürzt: »Leib – Körper – Körpermodell«.12

3.1.2

Das Phänomen der Ambiguität

Als typisches Merkmal wird dem Leib in phänomenologischen Theorien die Ambiguität (frz.: ambiguïté, dt.: Zweideutigkeit) zugeschrieben. Sie zieht sich als eine Art Leitmotiv durch die verschiedenen einzelnen Aspekte des Leibes und ist zudem wesentliches Merkmal der menschlichen Wahrnehmung. Von Darja Springstübe wird das Problem der Ambiguität in Anlehnung an Merleau-Ponty wie folgt beschrieben: »Da unser Leib weder ein Ding in der Welt ist noch vollkommen von uns bestimmt, da das Verhalten weder allein auf unseren Körper noch auf unseren Geist zurückzuführen ist, nimmt die leibliche Existenz eine mehrfache Zwischenposition ein.«13 Unser Leib ist also weder reines gegenständliches Etwas noch reines Bewusstsein.14 Vielmehr besteht dadurch eine duale Spannung, dass wir zum einen etwas in der Welt wahrnehmen und empfinden, dabei jedoch gleichzeitig in der Welt situiert sind, selbst wahrnehmbar sind. Am stärksten zeigt sich dieses Spannungsverhältnis im Phänomen der Selbstberührung bzw. der Doppelempfindung (wie oben beschrieben). Denn greifen wir beispielsweise mit der einen Hand unsere andere, so spüren wir die eigene Hand als etwas teilweise Gegenständliches, das wir berühren, und spüren doch im gleichen Augenblick die Berührung durch die eigene, berührende Hand. Dabei sind wir nie ganz nur berührter Körper und nie ganz nur Berührender, weder ganz in der inneren, noch in der äußeren Berührungserfahrung.15 »Da wir für uns weder reines Bewusstsein sind – denn dann würden wir uns gänzlich in unserer Fülle wahrnehmen – noch reines Ding – denn dann würden wir gänzlich in dem aufgehen, was wir sind –, ist unser Sein beides, wie die Erfahrung des Berührens zeigt.«16 In dieser Tatsache, dass wir weder ein reines inneres Bewusstsein besitzen, noch uns gänzlich äußerlich als Ding darstellen können, sehen Käte Meyer-Drawe und Lars Oberhaus wiederum auch den Aspekt der Offenheit und somit das Potential des Leibes im Hinblick auf das Zwischenmenschliche, das Lernen und die Verständigung.17 Nach Meyer-Drawe liegt in diesem Prinzip gar die Wurzel des sozialen Sinnes: »Sozialer Sinn entwickelt 12 13 14 15 16 17

Rappe 2012, 100. Springstübe 2013, 30. Vgl. Schüler 2014, 41. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 118. Schüler 2014, 41. Vgl. Oberhaus 2006, 140.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

sich in dieser Perspektive nicht erst nachträglich aus der Selbstbezüglichkeit eines nur seiner selbst sicheren Bewußtseins, sondern er ist fundierter Modus unserer Existenz.«18 Hier wird das ›Ich‹ also neu, als ein »non-egologisches« verstanden.19 Es ist ohne die soziale Struktur, in der es existiert, nicht als solches denkbar.

3.1.3

Der Leib ist kein Gegenstand – Leib im Bereich des Zwischen

Als Medium zwischen Ich und Mitwelt lässt sich unser Leib nicht als Ding oder Gegenstand erfassen.20 Denn nach Merleau-Ponty ist es Eigenschaft eines Gegenstandes, uns nie ohne die Möglichkeit seiner Abwesenheit zu erscheinen. Von seinem Leib jedoch kann der Mensch sich nicht trennen. »Vom Leib kann man sich nicht verabschieden, abwenden oder entfernen; er lässt sich nicht auf Distanz halten und ist gleichsam immer bei mir, auf meiner Seite.«21 Der Leib selbst ist überhaupt erst die Bedingung dafür, dass wir Gegenstände wahrnehmen können.22 Als fungierender und lebendiger Leib bringt er, so sagt Merleau-Ponty, zum einen Erfahrungen zustande und ist zugleich in der Erfahrung selbst mitgegenwärtig. »In dieser Weise ist er einerseits ein allgemeines Medium zur Welt und zugleich ein Situiertsein in der Welt.«23 An dieser Stelle berühren wir wieder den philosophischen Themenbereich der Existenz. Da sich der Leib weder verallgemeinern noch vergegenständlichen lässt, bezeichnet ihn schon Husserl auch als »Nullobjekt der Nähe«.24 »Der Leib ist also niemals per se gegeben, sondern quasi immer nur mitgegeben; als Bedingung von Erfahrung ist er stets nur miterfahren.«25 Er ist vielmehr zu verstehen als eine Art »Vor-Ich«. Dieser von Husserl eingeführte Begriff soll zum Ausdruck bringen, dass wir leiblich bereits in Sinnstrukturen leben, bevor wir uns bewusst als Ich erleben.26 Das Vor-Ich oder präpersonale Subjekt ist also noch anonym, ein ›man‹, das in mir erlebt – eine anonyme Existenz.27 Da sich der Leib außerdem erst im Ausdruck selbst realisiert, lässt sich nach Merleau-Ponty der Leib viel besser mit einem Kunstwerk als mit einem Gegenstand vergleichen. Denn auch das Kunstwerk wird erst im künstlerischen Ausdruck zu dem, was es ist. »Die Idee eines Bildes oder eines Musikstücks kann sich auf keine andere Weise mitteilen als durch die Entfaltung der Farben und Töne selbst.«28 An18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Meyer-Drawe 1987, 16. Meyer-Drawe 1987, 16. Vgl. Schüler 2014, 41. Kristensen 2012, 24. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 117. Koßler/Prechtl 2008, 333. Husserl, zitiert nach Alloa/Depraz 2012, 12. Alloa/Depraz 2012, 12; Herv. im Original. Vgl. Waldenfels 2010a, 166. Vgl. Waldenfels 2010a, 167. Merleau-Ponty 1966, 181.

57

58

Bewegung und Musikverstehen

dersherum erkennt Merleau-Ponty im Kunstwerk Eigenschaften des Leibes, weshalb er es auch als ein »Individuum« bezeichnet. »Ein Roman, ein Gedicht, ein Bild, ein Musikstück sind Individuen, d.h. Wesen, in denen Ausdruck und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind, deren Sinn nur in unmittelbarem Kontakt zugänglich ist und die ihre Bedeutung ausstrahlen, ohne ihren zeitlich-räumlichen Ort zu verlassen.«29

3.1.4

Zum Verhältnis der Begriffe Leiblichkeit und Existenz bei Merleau-Ponty

Im Vergleich zu Jean-Paul Sartre versteht Merleau-Ponty Existenz nicht als ein existentielles Geworfensein in die Welt, sondern als ein Zugeneigtsein zur Welt, in der wir durch unseren Leib »vor jeder Reflexion bereits verwurzelt sind«.30 Hierbei bildet der Leib einen existentiellen Ort, von dem aus alles seinen Sinn erhält.31 Unserem Sein zur Welt sind wir aber nicht lediglich schicksalhaft ausgeliefert, auch wenn dieses ursprüngliche Zur-Welt-Sein sich zunächst auf vorbewusste und präreflexive Verhaltensweisen stützt. »Nach Merleau-Ponty ist unser Leib die Verkörperung unserer Existenz, denn in ihm realisiert sich unser Verhalten. Daher kann der Leib nicht als Summe seiner Bestandteile betrachtet werden, vielmehr ist er ›ein Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen‹«.32 Merleau-Ponty spricht zunächst von Verhalten oder »Zur-Welt-sein«33 und nicht von Existenz. Es ist davon auzugehen, dass sich der französische Philosoph hier auf den Terminus »Inder-Welt-sein«34 aus Heideggers Sein und Zeit bezieht. Damit, dass er diesen Begriff jedoch in »Zur-Welt-sein« rückübersetzt, will er verhindern, dass Existenz auf die Reaktionen des Menschen auf äußere Reize reduziert oder das Zur-WeltSein35 als bloßer Akt des Bewusstseins verstanden wird. Somit ist der Terminus bei Merleau-Ponty von dynamischerer Natur als bei Heidegger.36 Das Bewusstsein steht, so Merleau-Ponty, nicht dem menschlichen Verhalten kontrastierend gegenüber, sondern begleitet es und ist immer schon Teil von ihm. Der Begriff Verhalten meint bei Merleau-Ponty also bereits die gesamte menschliche Existenz.37 Indem 29 30 31 32 33 34 35

36 37

Merleau-Ponty 1966, 181. Seewald 1992, 21. Vgl. Seewald 1992, 23. Springstübe 2013, 28, mit Bezug auf Merleau-Ponty 1966, 182. Merleau-Ponty 1966, 104. Heidegger 1977, 71. Bei Heidegger und Merleau-Ponty erscheint das Kompositum »In-der-Welt-sein« stets mit kleingeschriebenem »sein«. Im fortlaufenden Text soll dieser Terminus als Werkzeug verwendet und auf die Fragestellungen der Arbeit hin angewendet werden, sodass »Sein« als Nominalisierung aufgefasst und bewusst großgeschrieben wird. Vgl. Fopp 2003, 424. Vgl. Springstübe 2013, 23.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

er den Dingen Bedeutung verleiht, im Akt der Sinnstiftung also, greift der Leib aktiv in die Welt ein. »Als sinnvolle Einheit vermag der Leib auch seiner materiellen Umgebung Bedeutung zu geben, indem er sich in ihr verhält. […] Der Akt der Sinnstiftung geht nicht auf ein konstituierendes Bewusstsein zurück, sondern auf die leibliche Einheit von Bewusstsein und Körper.«38 Die Welt, zu der wir stets situiert sind, bedeutet für uns demnach keine Summe von Gegenständen, sondern das »Feld all unserer Erfahrung«.39 Mit unserem leiblichen Verhalten antworten wir, mit Waldenfels gesprochen, »auf den Anspruch der Situation und sind darin zu Neuem fähig.«40 Wie wir uns durch unseren Leib aktiv hin zur Welt entwerfen, beschreibt Merleau-Ponty später auch mit dem Begriffspaar der »fungierenden Intentionalität«,41 das er alternativ zum Existenzbegriff verwendet. Wichtig für das Verständnis dieser beiden Facetten der menschlichen Existenz – dem sich vorbewussten und vorreflexiven leiblichen Einwohnen in die Welt auf der einen und dem sich aktiv in die Welt entwerfenden Leib auf der anderen Seite – ist Merleau-Pontys Unterscheidung in habituellen und aktuellen Leib.42 Hier berühren wir bereits den Themenbereich Gewohnheit und Spontaneität, der an späterer Stelle noch wichtig wird. Diese Unterscheidung ist unter anderem das Ergebnis von Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit Formen des erkrankten Bewusstseins und des im Verhältnis zur Welt gestörten Verhaltens des Menschen. Merleau-Pontys Umgang mit dem Thema Krankheit ist, wie oben bereits erwähnt, ein anderer. Er betrachtet Krankheit nicht als das, was dem normalen Leben gegenübersteht, sondern als eine eigene, besondere Form der menschlichen Existenz. Ihn interessieren Phänomene wie der Phantomarm, die Anosognosie und das Verhalten von Menschen, die Gehirnverletzungen erlitten haben wie der Patient »Schneider« (von Adhémar Gelb und Kurt Goldstein). Die Fortbewegung mithilfe von Ersatzorganen oder auch die Aktivität unserer Reflexe betrachtet MerleauPonty nicht als blind oder als bloße Reaktionen auf äußere Reize. Vielmehr liegt auch ihnen die Bewegung des Zur-Welt-Seins zugrunde, denn sie entsprechen dem Sinn einer Situation: »Es gibt also eine gewisse von allen Reizen relativ unabhängige Konsistenz unserer ›Welt‹, die eine Reduktion des Zur-Welt-seins auf eine Summe von Reflexen ausschließt; es gibt eine gewisse von allem willentlichen Denken relativ unabhängige Kraft des Pulsschlages der Existenz, die ebenso eine Reduktion des Zur-Welt-seins auf einen Akt des Bewusstseins ausschließt.«43 In unserem Zur-Welt-Sein sind wir immer schon zur Welt hin gespannt, in der wir den Dingen

38 39 40 41 42 43

Springstübe 2013, 28. Merleau-Ponty 1966, 462. Waldenfels 1992, 60. Vgl. Waldenfels 1992, 60. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 107. Merleau-Ponty 1966, 104; Herv. im Original.

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60

Bewegung und Musikverstehen

durch unser Verhalten Bedeutung verleihen. Werden wir durch Krankheit in diesem intentionalen Sein physisch eingeschränkt, kann es sein, dass wir diese Einschränkung übergehen, da das uneingeschränkte Zur-Welt-Sein so ursprünglich in uns angelegt ist und unser habitueller Leib im Laufe unseres Lebens ein praktisches Wissen erworben hat, das trotz Einschränkung weiterbestehen kann. Wie Merleau-Ponty das Phänomen des Phantomarms beschreibt, macht dies deutlich: »Was in uns sich der Verstümmelung und dem Gebrechen verweigert, ist das in einer physischen und zwischenmenschlichen Welt engagierte Ich, das sich allen Mängeln oder der Amputation zum Trotz weiterhin auf die Welt hin spannt und insofern Amputation oder Mangel de jure nicht anerkennt. […] Den Phantomarm haben, heißt für alles Tun, dessen allein der Arm fähig ist, offen bleiben, heißt das vor der Verstümmelung besessene praktische Feld sich bewahren.«44 Die Bewegungserfahrung des amputierten Armes ist noch im habituellen Leib enthalten. Schließlich ist bei einer Amputation also die Frage, so Merleau-Ponty, »wie der habituelle Leib den aktuellen Leib zu gewährleisten vermag.«45 Der habituelle Leib steht dabei für einen »Aspekt der Allgemeinheit unpersönlichen Seins«. Denn durch die Gewohnheit ist das »Hantierbare« nicht mehr »hantierbar für mich«, sondern wird »hantierbar an sich.«46 Unsere Existenz ist daher anzusiedeln in einem Bereich zwischen Psychischem und Physischem47 und lässt sich im Grunde nicht vom Begriff des Leibs trennen. Denn mit dem Leibbegriff ist das beschrieben, was Existenz bedeutet. Existenz wiederum wird leiblich erlebt und erfahren.

3.1.5

Merleau-Pontys Bewegungsbegriff

Der Begriff der Bewegung wird aus leibphänomenologischer Perspektive in seiner Bedeutung weiter gefasst und ist als bloße Ortsveränderung nicht ausreichend beschrieben. Er ist in Bezug auf Leib und Leiblichkeit eher aufzufassen als Verhalten, Bewusstsein, Denken oder als Zur-Welt-Sein an sich. Merleau-Ponty interessiert vor allem, wie die so verstandene Bewegung zustande kommt.

3.1.5.1

Zum kinästhetischen Bewegungsbewusstsein

Der Bewegung sowie der leiblichen Beweglichkeit räumt Husserl in Bezug auf die Wahrnehmung eine besondere Rolle ein, indem er davon ausgeht, dass Wahrnehmung nicht ohne eine Form des leiblichen Selbstempfindens erfolgt.48 44 45 46 47 48

Merleau-Ponty 1966, 106. Merleau-Ponty 1966, 107. Merleau-Ponty 1966, 107. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 102. Vgl. Zahavi 2009, 103.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Das Bewusstsein der Position und der Bewegung des Leibes nennt er »kinästhetisches Bewegungsbewusstsein«49 . Es begleitet sowohl die eigene als auch die beobachtete Bewegung. Dies zeige sich beispielsweise am Klavierspiel, bei dem die Wahrnehmung der Position der Tasten mit der Empfindung der Fingerbewegung verbunden ist.50 Nach Husserl ist das kinästhetische Bewegungsbewusstsein unentbehrlich für Wahrnehmungsprozesse. Denn mit den visuell wahrgenommenen Bewegungen würden stets kinästhetische Empfindungen assoziiert, die die Wahrnehmung der jeweiligen Bewegungen auslösen.51 »Man kann sagen, dass die Wahrnehmungsintentionalität ein sich bewegendes und darum leibliches Subjekt voraussetzt […]. Husserls entscheidender Gedanke ist also nicht, dass wir Bewegung wahrnehmen können, sondern dass unsere Wahrnehmung selbst Bewegung voraussetzt.«52 Weiter lässt sich das kinästhetische Bewegungsbewusstsein auch als eine Fähigkeit des Leibes betrachten, die es ermöglicht, überhaupt die Räumlichkeit des Leibes wahrzunehmen: »Wenn mir bewusst wird, dass meine Hand etwas fühlt oder sich bewegt, dass mein Fußknöchel wehtut oder mein Rücken schmerzt, dann lokalisiere ich die Empfindungen in verschiedenen Leibesteilen.«53 Hier wird deutlich, wie eng die Bewegung als Aspekt des Leibes mit dem Empfinden verbunden ist. Dabei eröffnet der Aspekt der Bewegung zugleich eine räumliche Dimension, verweist auf das Konzept des Körperschemas bei Merleau-Ponty, das ich weiter unten noch besprechen werde. Bewegung wird leiblich immer als Bewegung im Raum vernommen. Somit ist auch mit dem Prozess des Empfindens (als Bewegung) eine gewisse Räumlichkeit verbunden.

3.1.5.2

Motorik als Intentionalität des Leibes

Um Merleau-Pontys Gedanken zur Motorik als Intentionalität des Leibes zu erläutern, soll an dieser Stelle auf das bereits erwähnte Krankheitsbild des ›Falls Schneider‹ eingegangen werden, da Merleau-Ponty hieran wichtige Erkenntnisse zur Motorik gewinnt. Schneider, der sich im Krieg eine Hirnverletzung zugezogen hat, ist nun nicht mehr in der Lage, bestimmte Bewegungen – wie zum Beispiel auf Befehl Arme und Beine zu heben – auszuführen, da diese Handlungen für ihn keiner konkreten Situation entsprechen. Ebenso wenig ist es ihm möglich, die Stellung seines Körpers oder die Position einzelner Glieder zu beschreiben. Wird er an einem Körperteil berührt, weiß er nicht, um welches es sich handelt. Bewusste Bewegungen von

49 50 51 52 53

Zahavi 2009, 103, mit Bezug auf Husserl, Herv. im Original. Vgl. Zahavi 2009, 103. Vgl. Zahavi 2009, 107. Zahavi 2009, 105, mit Bezug auf Husserl. Zahavi 2009, 107.

61

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Bewegung und Musikverstehen

Gliedmaßen kann er nur ausführen, wenn er diese vor Augen hat. Gewohnheitsmäßige Handlungen wiederum führt er schnell und sicher aus, so zum Beispiel mit dem Taschentuch die Nase zu putzen. »Akte des Zeigens«54 , Reaktionen des Fassens und Greifens sind wiederum verlangsamt. Jedoch »derselbe Kranke, der nicht imstande ist, auf Aufforderungen mit dem Finger einen Teil seines Körpers zu zeigen, fährt rasch mit der Hand an die Stelle, an der eine Mücke ihn sticht.«55 Angeregt von diesen Beobachtungen, unterscheidet Merleau-Ponty folglich die konkrete und die abstrakte Bewegung. Während die konkrete Bewegung an eine konkrete Situation gebunden ist und somit den habituellen Leib betrifft, bedeutet die abstrakte Bewegung eine Orientierung auf das Mögliche hin und bezieht sich auf den schöpferisch in die Welt sich hinein entwerfenden aktuellen Leib.56 Merleau-Ponty geht es, nach Seewald, demnach um folgende zwei Fähigkeiten des Leibes: »sich erworbenen Welten in einem präreflexiven Verstehen einzupassen und außerdem sich zur Welt hin zu entwerfen in einen Raum von Möglichkeiten.«57 Greifen, Fassen, Berühren und Zeigen können also je nachdem, ob sie als konkrete oder abstrakte Bewegung erfolgen, ganz unterschiedliche Handlungsvollzüge sein. »Die Greifbewegung ist von Anfang an auf magische Weise an ihrem Ziel, sie beginnt nur mit der Antizipation ihres Endes.«58 Hier beschreibt Merleau-Ponty den intentionalen Bogen einer Greifbewegung, der sich zwischen Greifendem und dem ZuErgreifenden spannt. Als eine solche Bewegung wäre sie Schneider nur möglich, wenn er sie bereits als ein Muster besäße, er sie also nicht in der Situation von Neuem, intentional auf den zu ergreifenden Gegenstand hin entwerfen müsste. Würde man ihn in einer gewohnheitsmäßigen Greifbewegung vor Erreichung des Zieles unterbrechen oder ihn gar auffordern, das Ziel auf andere Weise als mit der Hand greifend zu erreichen, wäre ihm diese Bewegung ebenso unmöglich.59 MerleauPonty schließt daraus: »Dem Kranken ist sein Körperraum bewußt als Schlacke seines habituellen Tuns, nicht aber als objektives Milieu, sein Leib ist ihm verfügbar als Mittel, sich einzufügen in eine vertraute Umgebung, nicht aber als Ausdrucksmittel zweckfreien räumlichen Denkens.«60 Weiter beschreibt Merleau-Ponty, dass der kranke Schneider nur in der Lage ist, den Soldatengruß auszuführen, wenn er sich gedanklich in die Situation versetzt, in der ein Soldatengruß üblicherweise verlangt wird. Ein Gesunder wäre wiederum in der Lage, die Soldatenrolle auch abseits der (vorgestellten) konkreten Situation auszuführen.61

54 55 56 57 58 59 60 61

Merleau-Ponty 1966, 129. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 129. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 132. Seewald 1992, 32. Merleau-Ponty 1966, 129. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 129. Merleau-Ponty 1966, 129. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 130.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Bei Schneider bedeutet Wahrnehmung eines Teiles seines Körpers, der Lage eines Körperteiles oder eines Gegenstandes in seiner Hand, dass er das Wahrgenommene in diesem Moment von Neuem spürt. Während beim gesunden Menschen jede Bewegung ihren Hintergrund hat, da sie von einem Bewegungsbewusstsein begleitet wird, bleibt für den Kranken die Bewegung eine bloß intellektuelle, hat sie keine motorische Bedeutung. »Der Kranke sucht und findet die Bewegung nicht selbst, er schüttelt nur seinen Leib, bis die Bewegung sich einstellt.«62 Bezüglich ihres Hintergrundes lassen sich nach Merleau-Ponty daher konkrete und abstrakte Bewegung auch wie folgt unterscheiden: »Die konkrete Bewegung ist zentripetal, die abstrakte Bewegung ist zentrifugal, die erste hat statt in der Wirklichkeit oder im Sein, die zweite im Möglichen oder im Nicht-sein, die erste heftet an einen gegebenen Hintergrund sich an, die zweite entfaltet ihren Hintergrund selbst.«63 Das Zeigen ist für den Kranken außerdem unmöglich geworden, da er sich nicht mehr als Subjekt einer objektiven Welt gegenüber in Distanz setzen kann – er ist »unfähig zur Einnahme einer ›kategorialen bewußten Einstellung‹ geworden«.64 Zusammenfassend lässt sich zur Motorik als der ursprünglichen Intentionalität des Leibes Folgendes sagen: Gegenstände und Räumlichkeit sind unserer Erkenntnis nur gegenwärtig, so sie es auch für unseren Leib sind.65 Im Normalfall fällt die Bewegung, nach Merleau-Ponty, mit dem »Bewußtsein der Bewegung«66 zusammen. Leibliche Bewegung ist Bewegung und Bewusstsein der Bewegung in einem. Waldenfels spricht mit Bezug auf Merleau-Ponty weiter nicht nur von »motorischer Intentionalität«, sondern auch von »motorischer Bedeutung«, davon, dass es »einen Bewegungsentwurf und eine Bewegungsintention«67 gibt. »Merleau-Ponty faßt die Einheit von Motorik, Sensorik und Denken als leibliche Bewegung oder als intentionalen Bogen.«68 Schneider kann zwar auch Bewegungsaufforderungen folgen, muss diese dann jedoch intellektuell verarbeiten, die verlangten Glieder »finden«69 und die Bewegung geplant ausführen. Ihm fehlt der natürliche, organische Übergang, also der »intentionale Bogen«.70 »Der ›intentionale Bogen‹ ist die dem Vorstellungsbewußtsein zugrunde liegende Einheit der Vergangenheit und Zukunft, von physischer und psychischer Welt.«71 Somit vereint der ›intentionale Bogen‹ Sinnlichkeit und Motorik.72 Motorik muss also verstanden werden als 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

Merleau-Ponty 1966, 136. Merleau-Ponty 1966, 137. Merleau-Ponty 1966, 148. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 169. Waldenfels 2000, 147. Waldenfels 2000, 147f. Waldenfels 2000, 148. Merleau-Ponty 1966, 130. Merleau-Ponty 1966, 164. Good 1998, 76. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 164f.

63

64

Bewegung und Musikverstehen

»ursprüngliche Intentionalität«.73 Bewegungsintentionalität bedeutet Antizipation des Bewegungsziels. Der Leib ist es, der das Bewegungsziel antizipiert.74 Waldenfels verbindet die ursprüngliche Intentionalität der Bewegung auch mit den Formulierungen: »ich kann« und »ich denke«. »Es gibt ein ›ich kann‹, das von vornherein mit dem ›ich denke‹ verbunden und ihm nicht unterstellt ist.«75 Dabei sei das Denken selbst ein »ich kann« und gleiche daher einer Bewegung.76 Der Leib ist unser »Mittler zur Welt«, ist zur Welt hin angelegt.77 Er ist demnach »unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben.«78 Die leibliche Bewegung in ihrer zentrifugalen Tendenz ist letztlich die Fähigkeit des Leibes, die Dinge »zum Sprechen zu bringen«.79 Merleau-Ponty spricht auch von einer »›Projektions‹Funktion«80 und meint damit die Fähigkeit des Subjektes, sich in die Dinge und die anderen hinein zu entwerfen und ihnen dadurch ein Dasein zu geben. »Dabei tritt das Entwerfende nicht von außen als Akt eines thetischen Bewusstseins oder einer assoziierten Idee an die Bewegung heran, vielmehr belebt und beseelt es sie und trägt sie in jedem Moment von innen heraus […]. Anders ausgedrückt: das Projektive ist eingebettet oder ›inkarniert‹ in der Bewegung.«81 Der Bewegungsentwurf bedeutet daher für Merleau-Ponty eine ebenso ursprüngliche Weise, sich auf die Welt zu beziehen, wie unsere Wahrnehmung an sich.82 Damit sei gezeigt, wie weit Merleau-Ponty den Begriff der Bewegung ausdeutet. Die Bedeutung von Bewegung reicht hier bis hin zur Bewegung als vollzogenes Weltverstehen.

3.1.6

Habitueller und aktueller Leib – Gewohnheit und Spontaneität

Die folgende Darstellung der zwei Modi des In-der-Welt-Seins – die Gewohnheit und die Spontaneität – knüpft an die Unterscheidung Merleau-Pontys zwischen habituellem und aktuellem Leib an, an die hier mit Waldenfels noch einmal kurz erinnert sei: »Der aktuelle Leib ist der fungierende Leib, der im Sehen, im Hantieren, im Hören usw. tätig ist, während der habituelle Leib bestimmte Dispositionen enthält, die je nach Situation aktiviert werden.«83 Entsprechend dieser Unterschei73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Good 1998, 78. Vgl. Good 1998, 69. Waldenfels 2000, 148. Vgl. Waldenfels 2000, 149. Vgl. Seewald 1992, 31. Merleau-Ponty 1966, 176. Seewald 1992, 31. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 137. Seewald 1992, 31, mit Bezug auf Merleau-Ponty 1966, 128. Vgl. Seewald 1992, 31. Waldenfels 2000, 188.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

dung deutet eine Gewohnheit eher auf etwas, das wir leiblich – mehr oder weniger bewusst – in der Vergangenheit erworben haben und uns die Welt strukturieren hilft, während die Spontaneität als Weise des aktuellen Leibes, der sich in der aktuellen Situation schöpferisch zur Welt hin entwirft, zu verstehen ist. Zunächst soll hier der Aspekt der Gewohnheit und der Gewöhnung betrachtet werden. Merleau-Ponty versteht unter Gewöhnung den (motorischen) Erwerb einer neuen Bedeutung. »Der Erwerb einer Gewohnheit ist die Erfassung einer Bedeutung, aber die motorische Erfassung einer Bewegungsbedeutung.«84 Geht es um den Erwerb einer motorischen Gewohnheit, so hat dies ihm zufolge zugleich etwas mit der »Verwandlung und Erneuerung des Körperschemas«85 zu tun, das weiter unten noch gesondert angesprochen wird. Gewohnheit bedeutet weder eine Kenntnis noch ein Automatismus – vielmehr ist sie nach Merleau-Ponty zu verstehen als einverleibtes Wissen, »[e]in Wissen, das in den Händen ist, das allein der leiblichen Betätigung zur Verfügung steht, ohne sich in objektive Bezeichnungen übertragen zu lassen.«86 Wenn es bei diesem Wissen also um Verstehen geht, so ist es unser Leib, der hier versteht.87 Dass Gewohnheit weder das Denken noch den »objektiven Leib«88 an sich betrifft, sondern der Leib dabei zwischen Welt und Leibsubjekt vermittelt, findet Merleau-Ponty in der Instrumentalmusik beispielhaft belegt. In der Phänomenologie der Wahrnehmung bezieht er sich hierfür auf die Praktiken eines Organisten. Er beschreibt die Situation, wie der Musiker sich vor einem Konzert an ein ihm unbekanntes Instrument gewöhnt. Anstatt zunächst die einzelnen Register der Orgel sowie alle Besonderheiten des fremden Instrumentes zu analysieren, setzt er sich an den Spieltisch und überträgt sein leibliches Wissen und seine Erfahrungen mit den jeweiligen Stücken auf das neue Instrument. Müsste er, um sich am fremden Instrument ›einzuwohnen‹, erst die Disposition der Orgel genau studieren, so wäre dies in der kurzen Zeit vor dem Konzert nicht möglich.89 Es ist kein Zufall, dass sich im Wort Gewohnheit das Wort »wohnen« verbirgt. Es erinnert an das Phänomen des ›Sich-Einwohnens‹. Nach Waldenfels hat die gesamte Geschichte von ›Institutionen‹ mit dem Ein-wohnen und der Gewohnheit zu tun. Man denke hier an das Heimischwerden in neuen vier Wänden oder die ›Eingewöhnung‹ eines Kindes in einer Kindertageseinrichtung. Um sich in einer neuen Wohnung – vielleicht sogar mit geschlossenen Augen – sicher bewegen zu können, muss man nicht die Maße des Grundrisses auswendig lernen, sondern einfach in ihr leben. Die gewohnten alltäglichen Handlungen und Abläufe werden 84 85 86 87 88 89

Merleau-Ponty 1966, 172. Merleau-Ponty 1966, 172. Merleau-Ponty 1966, 174. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 174. Merleau-Ponty 1966, 175. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 175.

65

66

Bewegung und Musikverstehen

auf die neue Umgebung übertragen. Diese wiederum gibt einen bestimmten Bewegungsraum vor, mit dem es umgehen zu lernen gilt. Merleau-Ponty dehnt das, was er über motorische Gewohnheiten feststellt, auf sämtliche Gewohnheiten aus. Waldenfels verbindet das Phänomen der Gewohnheit außerdem mit dem Begriff des Lernens. Er versteht »Lernen als Erwerb und als Ausübung von Gewohnheiten«.90 Dabei lässt sich inkorporiertes Wissen, das ›in den Händen‹ oder ›in den Füßen‹ liegt, so schreibt Waldenfels, nur bedingt explizit machen oder in Sprache übersetzen.91 »Etwas tun können, etwas gelernt haben heißt, sich in diesem Raum orientieren zu können. Man lernt also Strukturen und Gestalten, man lernt sich in einem Raum zurechtzufinden. Dies bedeutet weder, daß Einzelheiten additiv aneinander gefügt werden, noch daß ein intellektuell faßbares Wissen erworben wird, das man dann irgendwann, wenn man Glück hat, auch anwendet.«92 Gewöhnung bedeutet so verstanden also die Einverleibung von Strukturen. Dabei werden jedoch nicht ausschließlich bestehende Strukturen übernommen, sondern auch Strukturen verändert oder neu entworfen. »Zur Gewöhnung gehört zudem die Neuschöpfung, denn Lernen bedeutet nicht nur Anpassung an bestehende Strukturen, sondern auch deren Veränderung.«93 Der Begriff Gewöhnung lässt zunächst vor allem an die motorische Gewöhnung, also an Bewegung, denken. Waldenfels macht aber darauf aufmerksam, dass motorische Gewohnheiten nicht von perzeptiven Gewohnheiten zu trennen sind. Denn Bewegungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten beeinflussen sich gegenseitig. Generell lässt sich sagen, dass durch Gewöhnung eine Welt erworben wird.94 Es geht hier um das Werden der Dinge, wofür sich die sogenannte genetische Phänomenologie interessiert. Lernen bezieht sich aus dieser phänomenologischen Perspektive folglich sowohl auf kognitive als auch auf praktische Tätigkeiten, auf Kennen und Können, auf Kennenlernen und Gebrauchenlernen. In Bezug auf Husserl nennt Waldenfels den Begriff »Sedimentierung« für Dinge und den Begriff »Habitualisierung« für Tätigkeiten, die für uns Bedeutung erlangen.95 Dadurch, dass sich eine Bedeutung oder ein funktionaler Wert sedimentiert, erkenne ich etwas als etwas wieder. »Es entsteht eine Alltagswelt dadurch, daß es wiederkehrende Vorgänge im natürlichen Bereich ebenso gibt wie im sozialen Bereich, in der Wahrnehmung ebenso wie in 90 91 92 93 94 95

Waldenfels 2000, 167. Vgl. Waldenfels 2000, 169. Waldenfels 2000, 170. Waldenfels 2000, 171. Wenn es im 5. Kapitel um das leibliche Lernen geht, wird der Aspekt der Gewohnheit nochmals aufgegriffen werden. Vgl. Waldenfels 2000, 181. Waldenfels 2000, 183.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

der Sprache.«96 Husserl unterscheidet jedoch zwischen dem aktiven und passiven Erwerb von Welt: »Der aktive Erwerb betrifft die Geschichte einer Person, der passive Erwerb ihre Vorgeschichte.«97 Das In-der-Welt-Sein hat so gesehen genauso passive wie aktive Züge. »Die Welt tritt nicht von außen hinzu als bloße Ergänzung, sondern die Situation enthüllt sich selber als welthaft, insofern als das, was mir hier und jetzt begegnet, über sich hinausweist, auf eine Vergangenheit des Lernens oder auf zukünftige Möglichkeiten.«98 Was hier bereits anklingt, ist der der Gewohnheit polar gegenüberliegende Begriff der Spontaneität. Sie wird häufig verbunden mit dem Begriff der Freiheit. Gemeint ist die Freiheit der leiblichen Existenzweise als Möglichkeit, sich offen zur Welt hin zu verhalten, sich aktiv in Situationen hineinzuversetzen und diese durch Bewegungen und aktive Handlungen neu zu entwerfen. Während der Aspekt Gewöhnung eher etwas mit Vergangenheit und Geschichtlichkeit zu tun hat, verweisen Spontaneität und Freiheit eher in die Zukunft. Für Merleau-Ponty besteht Freiheit »in dem allgemeinen Vermögen […], sich in eine Situation zu versetzen«99 – also eine Freiheit, die dem Patienten Schneider abhandengekommen ist. Voraussetzung für die Fähigkeit, Situationen zu generieren, ist Waldenfels gemäß zunächst die Regelanwendung.100 Das bedeutet, um die Freiheit zu haben, sich in eine Situation zu versetzen, muss man diese zunächst kreieren können. So gesehen ist Freiheit eine »Spontaneität innerhalb von Strukturen«101 und lässt sich nur innerhalb von Regeln und Strukturen realisieren. Denn erst wenn wir diese erworben haben und daraufhin zu Situationen auf Distanz gehen können, sind wir auch in der Lage, sogenannte Spielräume zu entdecken, die uns Möglichkeiten für spontanes Handeln eröffnen.102 Dass sich für uns in jeder Situation die Möglichkeit verbirgt, diese abzuwandeln oder anders zu gestalten, bezieht sich auf ein Vermögen des Menschen, das ihn vom Tier unterscheidet. »[Z]um Menschen gehört immer das Bewußtsein oder Gefühl, die Wirklichkeit könnte auch anders sein. Unser Dasein ist nicht durch bestimmte Regeln und Ziele schlechthin definiert. Schon in diesem Möglichkeitssinn liegt etwas Befreiendes.«103 Aus diesem Grund ist der Mensch auch fähig, Kunst zu schaffen. Spontaneität ist zudem als ein Wesensmerkmal von Kunst zu nennen. Im Erfinderischen und Künstlerischen verbirgt sich die Fähigkeit, nicht nur bestehende 96 97 98 99 100 101 102

Waldenfels 2000, 184. Waldenfels 2000, 185. Waldenfels 2000, 184f. Merleau-Ponty 1966, 164. Vgl. Waldenfels 2000, 195. Waldenfels 2000, 201. »Freiheit taucht entschieden dann auf, wenn wir zur Situation auf Distanz gehen. Zur Situation gehört immer ein gewisser Rand nicht fest eingebundener Möglichkeiten: das, was wir Spielraum nennen.« Waldenfels 2000, 205. 103 Waldenfels 2000, 199.

67

68

Bewegung und Musikverstehen

Regeln anzuwenden, sondern Situationen neu auszudeuten und damit neue Perspektiven zu eröffnen.104

3.1.7 3.1.7.1

Leib und Raum Verortung des Leibes

Da unser Leib nicht einem Gegenstand gleicht, lässt sich genauso wenig behaupten, der Leib sei im Raum. Stattdessen ist der Leib zum Raum, im Sinne der Raumstiftung. Das heißt, unsere Leiblichkeit ist überhaupt erst die Bedingung dafür, dass wir Räumlichkeit wahrnehmen können.105 In Anlehnung an den oben beschriebenen Aspekt der Gewöhnung lässt sich mit Bezug auf Merleau-Ponty auch behaupten: Der Leib ist nicht im Raum, er wohnt ihm ein. »Nicht also dürfen wir sagen, unser Leib sei im Raume, wie übrigens ebensowenig, er sei in der Zeit. Er wohnt Raum und Zeit ein.«106 Aller Räumlichkeit liegt außerdem eine primordiale Räumlichkeit zugrunde. Paul Good spricht hierbei in Anlehnung an Merleau-Ponty von »ursprüngliche[r] Räumlichkeit«, die der Leib selbst stiftet, indem er sich ausgehend vom eigenen leiblichen Raum in den Raum hinein verlängert.107 Die Räumlichkeit des Leibes vermittle weiter zwischen Innen und Außen, so Good. Sie schlägt eine Brücke zwischen Subjekt und Objekt.108 Nach Husserl berührt die Frage nach dem Verhältnis von Leiblichkeit und Räumlichkeit auch die Frage nach der Perspektivität von Erscheinungen. »Es gibt keinen absoluten Standpunkt und es gibt keine Sicht von nirgendwo, sondern es gibt nur einen leiblichen Standpunkt.«109 Für das erfahrende, leibliche Subjekt bildet der Leib nach Husserl den »Nullpunkt«110 aller Orientierung, das absolute ›Hier‹. Voraussetzung für die Wahrnehmung jeglicher Perspektivität ist also, dass es ein erfahrendes Subjekt gibt, das sich zum Raum verhält.111 Räumlichkeit ist demnach etwas, das, genauso wie die Zeitlichkeit, immer wieder neu gestiftet wird. Dabei unterscheidet Merleau-Ponty zwischen Positions- und Situationsräumlichkeit. Das Erlebnis des absoluten ›Da‹ (»Situationsräumlichkeit«) ist ihm zufolge Voraussetzung für ein Verstehen des ›Dort‹ (»Positionsräumlichkeit«).112

104 105 106 107

Vgl. Waldenfels 2000, 207. Vgl. Good 1998, 82. Merleau-Ponty 1966, 169; Herv. im Original. »Diese ursprüngliche Räumlichkeit stiftet der Leib. Sie ist eine Verlängerung der Räumlichkeit des eigenen Leibes, die die Einheit der einzelnen Körperteile bildet.« Good 1998, 82. 108 Vgl. Good 1998, 82. 109 Zahavi 2009, 102. 110 Zahavi 2009, 102. 111 Vgl. Zahavi 2009, 102. 112 Merleau-Ponty 1966, 125.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Beide Aspekte spielen beim Begriff Körperschema als Ganzheit des Leibes in Bezug zum Raum eine Rolle. Für Hermann Schmitz‹ Theorie der Leiblichkeit ist der Aspekt der Räumlichkeit des Leibes zentral. Er verbindet ihn vor allem mit dem Phänomen des leiblichen Spürens, der leiblichen Regungen. Schmitz betrachtet die räumliche Verfasstheit des Leibes als das wesentliche Merkmal für seine Abgrenzung vom Körper.113 Dabei vergleicht er die räumliche Ausdehnung des Leibes mit der, die beim Hören stattfindet. Diese beschreibt er eher als eine »voluminöse Ausdehnung«114 statt einer Abgrenzung durch klare Flächen, wie bei der des Körpers. Ein Körper befände sich im Raum in einem relationalen System, in dem sich Lagen und Abstände stets aus Verhältnissen ergeben. Leibliche Regungen jedoch seien unabhängig von einer räumlichen Orientierung und somit vom Charakter der absoluten Räumlichkeit. Nach Schmitz gibt es also »Erfahrungsweisen absoluter Örtlichkeit«115 , so zum Beispiel bei überwältigender Angst oder starkem Schmerz. Aber auch in jedem anderen leiblichen Befinden sei ein absoluter Ort gegeben.116 »Leiblich ist das, dessen Örtlichkeit absolut ist. Körperlich ist das, dessen Örtlichkeit relativ ist.«117 Als eine Mischform zwischen reinem Leib und reiner Körperlichkeit verortet Schmitz den ›körperlichen Leib‹. Damit zeigt auch er, wie der Begriff der Leiblichkeit den Dualismus zwischen Leib und Körper überwindet.118 Es macht deutlich, wie stark das körperlich-leibliche Empfinden mit der Wahrnehmung von Räumlichkeit verbunden ist. Schmitz unterscheidet dabei »teilheitliche« leibliche Regungen (wie Kitzel oder Herzklopfen) und »ganzheitliche« leiblichen Regungen.119 Wesentlich für seine Analyse der leiblichen Regungen ist außerdem das Prinzip der Dynamik. Dabei verwendet er die Ausdrücke Enge und Weite, um das leibliche Geschehen in seinen Grundzügen zu beschreiben. Schmitz betont damit die Lebendigkeit der leiblichen Seinsweise an sich, so Kerstin Andermann. Mit den Dimensionen der »Spannung« und »Schwellung«120 , beschreibt er die Bewegung zwischen den Polen der Enge und Weite. Das leibliche Betroffensein versetzt uns nach Schmitz wiederum in die »primitive Gegenwart«.121 113 114 115 116 117 118

Vgl. Andermann 2012, 133. Andermann 2012, 133, mit Bezug auf Schmitz. Andermann 2012, 133, mit Bezug auf Schmitz. Vgl. Andermann 2012, 133. Schmitz 1965, 6, zitiert nach Andermann 2012, 133. »In der Mitte zwischen Beiden steht der körperliche Leib, der sowohl absolut-örtlich als auch relativ-örtlich ist.« Schmitz 1965, 54, zitiert nach Andermann 2012, 134; Herv. im Original. 119 In diesem Zusammenhang spricht er auch von »Leibesinseln«. Andermann mit Bezug auf Schmitz in Andermann 2012, 134f. 120 Andermann 2012, 136. 121 Schmitz 1990, 122, zitiert nach Andermann 2012, 137. Ein ähnliches Begriffspaar für die Qualität von Empfindungen, das sich auf die Räumlichkeit des Leibes bezieht, findet sich bei Henry Head: Er spricht von der protopathischen und der epikritischen Tendenz von Empfin-

69

70

Bewegung und Musikverstehen

Schmitz führt hier weiter, was durch Merleau-Ponty nicht ausreichend in den Blick gerät: Bei seinen Ausführungen zur Weltzugewandtheit komme MerleauPonty, so Seewald, der Blick für den Leib, dessen Befindlichkeiten sowie die Auswirkungen der Welt auf den Leib abhanden. Dieser mangelnden Berücksichtigung der Eigenbefindlichkeit des Leibes wirke Schmitz mit Begriffen, wie Engung und Weitung, Spannung, Schwellung sowie Richtung und Rhythmus entgegen.122

3.1.7.2

Zum Konzept des Körperschemas

Den Begriff des Körperschemas verwendet bereits die Neurologie und Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts, mit Vertretern wie Henry Head, Paul Schilder und Jean Lhermitte. Er steht für die »Einheit des Körpers als lebendiges, wahrnehmendes und sich bewegendes Wesen«.123 Auch Merleau-Ponty betont, dass wir unseren Körper nicht als die Summe der einzelnen Glieder und Organe wahrnehmen, deren Lage uns bewusst ist. Vielmehr vermittle uns unser persönliches Körperschema die Anordnung und Lage unserer Glieder.124 Dabei nehmen wir unsere Organe im Normalfall nicht als einzelne wahr. Das Körperschema als gelebte Leiblichkeit bilde die Grundlage dafür, dass wir Räumlichkeit oder, wie Merleau-Ponty differenziert, Positions- und Situationsräumlichkeit wahrnehmen können. Als erlebtes ›Hier‹ entspringen unserem Leib die ersten Koordinaten überhaupt. Somit verankert er uns in der Welt.125 Das Körperschema bildet dabei als Gesamtheit des leiblichen Spürens eine Art Bezugssystem, zu dem alles räumlich Wahrgenommene in Bezug gesetzt wird. »Das Körperschema wäre also eine dialektische Struktur, die einerseits mich in Kontakt mit dem Anderen setzt, und andererseits, durch eben diesen Kontakt, meine Identität entstehen lässt.«126 Es ist außerdem Grundlage für die Wahrnehmung von Bewegung. Als »seinsenthüllend«127 hat die Bewegung eine zentrale Bedeutung für das Körperschema. Denn aus ihr ergibt sich direkt ein Sinn, »ohne einen Akt der Auffassung oder Interpretation«.128 Sie besitzt bereits figurale Eigenschaften des zu erkennenden Objektes. Bewegung ist somit Werden einer Gestalt.129 dungen. Protopathisch meint die Tendenz des Diffusen, Ausstrahlenden und epikritisch die Tendenz der Schärfung oder Setzung von Umrissen. Beispielsweise kann die Erfahrung eines Schmerzes sowohl protopathisch als auch epikritisch wahrgenommen werden. Hier berühren wir nun aber schon deutlich den Aspekt des Empfindens und Spürens, auf den später, im Zusammenhang mit dem Phänomen der Wahrnehmung, nochmals zurückgekommen wird. 122 Vgl. Seewald 1992, 35f. 123 Kristensen 2012, 23. 124 Vgl. Merleau-Ponty 1966, 123. 125 Vgl. Merleau-Ponty 1966, 125f. 126 Kristensen 2012, 26. 127 Kristensen 2012, 29. 128 Kristensen 2012, 29. 129 Vgl. Kristensen 2012, 30.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Stefan Kristensen beschreibt mit Bezug auf Merleau-Ponty die Einheit der Sinne und der Glieder als eine motorische Einheit.130 Da diese Einheit durch die Notwendigkeit des Handelns angeregt und bestimmt wird, ist die Intentionalität hier wiederum auch Wesensmerkmal des Körperschemas. Es ist daher nicht als starr aufzufassen, sondern durch unsere Erfahrungen im stetigen Wandel begriffen. Die Tatsache, dass wir alles, was uns räumlich erscheint, zu den Koordinaten unseres eigenleiblichen Raumes in Bezug setzen, zeigt, wie sehr wir in der Wahrnehmung unserer Subjektivität verhaftet sind. Kristensen kommt zu dem Schluss: »Quer durch Merleau-Pontys Werk benennt der Begriff des Körperschemas den Ort der Frage nach der Subjektivität leiblicher Existenz.«131 Das Körperschema zeigt sich also als das, was unsere Subjektivität ausmacht. Für Merleau-Ponty ist die Theorie des Körperschemas außerdem implizit bereits eine Theorie der Wahrnehmung.132 Wie und unter welchen Umständen ich eine einheitliche Vorstellung von meinem Körper, ein Körperschema, erlange, ist zudem abhängig von kulturellen und sozialen Aspekten. So enthält das Körperschema beispielsweise immer auch Momente einer Körpersymbolik. »Selbstbilder und Verhaltensnormen«133 gehen, so schreibt Waldefels, in das Körperschema ein (zum Beispiel militärischer Drill, geschlechtsspezifische Gangweisen etc.). Dies habe etwas mit der Entstehung des Körperschemas zu tun: »Das Körperschema, die Vorstellung, die man vom Körper hat, ist nicht einfach angeboren, sondern wird auch erlernt.«134 Jacques Lacan weist darauf hin, dass der Mensch erst im Spiegel (im sogenannten Spiegelstadium) den Körper als Einheit betrachtet.135 Zuvor (so wie später auch noch in seinen Träumen) nimmt er seinen Körper in »Zerstückelung« wahr.136 Dabei spiele vor allem auch eine Rolle, wie man vom anderen gesehen werde. Denn der Mensch denkt sein Körperschema vor allem durch den anderen und vom anderen her, so Merleau-Ponty.137 »Das Körperschema, die Art und Weise, wie der Körper sich gliedert, ist zugleich ein Ausdruck dessen, wie Andere mich sehen.«138 Zu unterscheiden sind zuletzt noch die Begriffe Körperschema und Körperbild. Während das Körperschema für die Einheit von Motorik und Wahrnehmung steht, bezeichnet das Körperbild lediglich die Vorstellung des Subjekts vom ei-

130 131 132 133 134 135 136 137 138

Vgl. Kristensen 2012, 31f. Kristensen 2012, 23. Vgl. Good 1998, 94. Waldenfels 2000, 120. Waldenfels 2000, 121. Vgl. Waldenfels 2000, 121. »Diese Einheit hat immer auch etwas von einem Phantasma, von einer Vorstellung, die etwas Künstliches enthält.« Waldenfels 2000, 121. Gemäß Waldenfels zeige sich dies sich auch in der Kleiderkultur. Vgl. Waldenfels 2000, 122. Waldenfels 2000, 121.

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Bewegung und Musikverstehen

genen Leib.139 Der Begriff des Körperschemas ist nach Merleau-Ponty also ein umfassender, Ausdruck für die »gelebte[…] Leiblichkeit« und die »Einheit des Wahrgenommenen«.140

3.1.8

Leib und Zeit – Leib und Geschichtlichkeit

Der Leib ist, so Waldenfels, »durchtränkt mit Geschichte. […] Wie die Dinge, so hat auch der Leib seine Geschichte.«141 Dabei ist, nach Merleau-Ponty, jede Wahrnehmung von Zeit als ein Bewusstsein des Hier zu verstehen. Denn es sei uns weder möglich, Situationen der Vergangenheit im Hier und Jetzt genauso nochmals zu vergegenwärtigen, noch bereits bewusst in der Zukunft zu leben. »Ebenso, wie er notwendig ›hier‹ ist, existiert der Leib notwendig ›jetzt‹; nie kann er ›vergangen‹ werden, und wenn wir außerstande sind, in gesundem Zustande eine lebendige Erinnerung der Krankheit, in reifem Alter eine solche des Leibes aus unserer Kindheit zu bewahren, so sind diese ›Gedächtnislücken‹ nur Ausdruck der Zeitstruktur unseres Leibes.«142 Dennoch spielen Vergangenes und Künftiges für mein Handeln im Hier und Jetzt eine Rolle. Das Vorangegangene einer Bewegung ist uns in keinem Augenblick unbekannt. Es wird in die gegenwärtige Wahrnehmung eingeschlossen. Auch das Künftige ist in die aktuelle Situation – wie Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung am Beispiel der Bewegung darlegt – bereits eingeschlossen.143 Dies beschreibt er dort als die »Weite meiner Existenz.«144 Außerdem ist in der menschlichen Existenz der Horizont der Vergangenheit mit dem der Zukunft immer schon verschränkt. So gestaltet heutiges Handeln die künftige Vergangenheit – der Mensch lebt heute im Zukunftshorizont seiner Vergangenheit. Diese beiden Phänomene bezeichnet Merleau-Ponty als »Retention« und »Protention«.145 »Mit meiner unmittelbaren Vergangenheit habe ich aber auch den Zukunftshorizont, der sie umgab, habe ich also meine wirkliche Gegenwart unter dem Blickwinkel der Zukunft dieser Vergangenheit. Mit der unmittelbaren Zukunft habe ich

139 140 141 142 143 144 145

Vgl. Kristensen 2012, 25. Kristensen 2012, 23. Waldenfels 2000, 188. Merleau-Ponty 1966, 169. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 169. »Die Weite dieses Umfangens ist das Maß der Weite meiner Existenz.« Merleau-Ponty 1966, 170. Merleau-Ponty 1966, 93.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

den Vergangenheitshorizont, der ihr anhängen wird, habe ich also meine wirkliche Gegenwart als Vergangenheit dieser Zukunft.«146 Dass wir zum einen von einem Bewusstsein des Vergangenen im aktuellen Tun geleitet werden und zum anderen im aktuellen Tun Zukunft gestalten, leitet auch zum Kulturbegriff. Kultur wird bei Husserl zum »Inbegriff der Leistungen, die in den fortlaufenden Tätigkeiten vergemeinschafteter Menschen zustande kommen.«147 In der fortlaufenden Tradition eines Gemeinschaftsbewusstseins überdauern diese Leistungen die Gegenwart. Das Prinzip des Werdens von Kultur reicht sogar bis über die Grenzen der menschlichen Leben hinweg. In den »materiellen Sedimentierungen der Kultur«148 leben die geistigen Ideen des kulturellen Leibes weiter, auch wenn der Mensch nicht mehr als lebendiger Leib existiert. In diesem Sinne stiftet der Leib Zeitlichkeit und Kultur. Merleau-Ponty entfaltet die Idee des kulturellen Leibes weiter. Ihm zufolge ist der Leib Verkörperung einer »Vorgeschichte«149 und »ursprüngliche[n] Vergangenheit […], die niemals Gegenwart war.«150 Im Leib als kulturellem oder habituellem Leib wiederum lagerten sich »geschichtliche Errungenschaften« ab.151 Die Stiftung von Zeitlichkeit findet nach Merleau-Ponty im Wahrnehmungsakt selbst statt. In ihm wird die Synthese vollzogen aus einer »anonymen Wahrnehmungstradition«152 und dem aktuell Wahrzunehmenden. Damit ist die Brücke zur Wahrnehmung geschlagen, die nun im Folgenden ausführlicher in den Blick genommen werden soll.

3.2

Zum Verhältnis von Leib und Wahrnehmung

Anders als die Wahrnehmungspsychologie interessiert die Phänomenologie nicht der bloße Gegenstand der Wahrnehmung, sondern der Akt der Wahrnehmung an sich. Die Subjektperspektive wird im Wahrnehmungsakt aus phänomenologischem Blickwinkel demnach mit berücksichtigt.153 Merleau-Pontys Leibphänomenologie lässt sich auch als eine Phänomenologie der Wahrnehmung verstehen. Denn die Theorie des Leibes führt ihn zwangsläufig

146 147 148 149 150 151

152 153

Merleau-Ponty 1966, 93. Husserl, zitiert nach Alloa/Depraz 2012, 18. Alloa/Depraz 2012, 19. Merleau-Ponty 1966, 280. Merleau-Ponty 1966, 283. Waldenfels 2010a, 166f. Waldenfels erklärt weiter, dass sich die Zeit nur durch Zäsuren gliedert. Solche Zäsuren oder Pausen entstehen zum Beispiel durch Generationsgrenzen, folgenschwere politische Ereignisse oder Kriegsenden. Vgl. Waldenfels 2000, 131. Bermes 1998, 81. Vgl. Baumgartner 2008b, 670.

73

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Bewegung und Musikverstehen

zu der Frage, wie wir durch leibliche Vollzüge die Dinge, die anderen und uns selbst wahrnehmen und erkennen – somit zu einer Theorie der Wahrnehmung. MerleauPonty geht es, so Bermes, neben der genauen Bestimmung und Beschreibung des Leibes auch um Fragen des leiblichen Verhaltens, um das Wie – also um die Prozesse des Sprechens und Bewusstwerdens – sowie der menschlichen Wahrnehmung an sich.154 Im Sinne der phänomenologischen Erkenntnishaltung wird beim Wahrnehmungsakt »das Vorurteil einer fertigen Welt durchbrochen«155 und im Rückgang auf die »unreflektierte Welterfahrung«156 die Herkunft der Dinge neu gedacht. Damit hat also Wahrnehmung etwas Schöpferisches. Sie widerfährt uns nicht lediglich; etwas wird von uns wahrnehmend nicht bloß wiedererkannt oder -erinnert. Stattdessen werden uns die Dinge durch die Erfahrung zu etwas Bestimmtem, im Akt der Wahrnehmung erst kreiert.157 Bei der Wahrnehmung haben wir es also auch mit Gestalt- und Strukturbildung zu tun.158 So lässt sich allgemein, mit Paul Good, sagen, dass die Konstitution eines Gegenstandes nicht Sache des Denkens, sondern der leiblichen Erfahrung ist.159 Dies bedeute jedoch nicht, dass es Erfahrung ohne Denken gibt, sondern, dass das Denken als ein »Vermögen des Leibes«160 gegeben ist. Im Folgenden soll genauer erläutert werden, inwiefern Leiblichkeit und Wahrnehmung bei Merleau-Ponty zusammenhängen. Es wird der Frage nachgegangen, wie sich die Prozesse des Empfindens und Erkennens aus phänomenologischer Sicht mit dem Wahrnehmen verzahnen. Denn der phänomenologische Wahrnehmungsbegriff eröffnet den Bereich des Zwischen, in dem sich in strukturbildenden und strukturerschließenden Vollzügen Fremdes und Eigenes begegnen.

3.2.1

Die Theorie des Leibes als Grundlegung einer Theorie der Wahrnehmung bei Merleau-Ponty

Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie steht im Zusammenhang mit einer Kritik an herkömmlichen Theorien der Wahrnehmung der empiristischen und der intellektualistischen Position. Bisher ist Wahrnehmung entweder als Resultat äußerer Reize und das Wahrgenommene somit als »Eindruck der Welt«161 oder als Leis-

154 155 156 157 158 159 160 161

Vgl. Bermes 1998, 72. Waldenfels 2000, 62. Merleau-Ponty 1966, 282. Vgl. Waldenfels 2000, 63. Vgl. Waldenfels 2000, 62. Vgl. Good 1998, 85. Good 1998, 85. Springstübe 2013, 33.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

tung eines ordnenden Geistes, der ungeordneten Sinneseindrücken gegenübersteht, verstanden worden.162 Merleau-Ponty rät nun dazu, das Phänomen der Wahrnehmung allererst durch die Wahrnehmung selbst, die ursprüngliche oder »unreflektierte Welterfahrung«163 , wie er es nennt, zu erschließen. Er knüpft dabei an Husserl an, der auch davon ausgeht, dass unsere Wahrnehmung zwangsläufig immer eingeschränkt ist und uns nur einen Teil des Ganzen vermittelt. Denn sie sei stets von unserer individuellen, leiblichen Perspektive abhängig.164 Merleau-Ponty greift zur Beschreibung der perspektivischen Wahrnehmung auf den Husserl’schen Begriff der Abschattung zurück. Dieser beschreibt das Phänomen, dass ich mir bei der Wahrnehmung einer Seite eines Gegenstandes stets die verborgene Seite mit vergegenwärtige.165 Das Wahrgenommene trägt für Merleau-Ponty immer gestalthafte Züge. Er spricht niemals nur von Wahrnehmung von etwas, sondern stets von Wahrnehmung von etwas als etwas. Denn im Wahrgenommenen sei immer schon Sinn gegeben. Der Leib begreife die Welt um sich herum in ihrem Sinn in einem vorreflexiven Stadium, ohne zunächst, wie Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung schreibt, »den Durchgang durch ›Vorstellungen‹ nehmen zu müssen«.166 Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen intellektuell verstandenen Sinn, sondern um einen Sinn der aus einer »Vertrautheit«167 des Leibes mit den Dingen hervorgeht. Sinn zeigt sich in der Wahrnehmung im erschließenden, intentionalen Umgang mit den Dingen. Die Intentionalität gilt daher bei Merleau-Ponty als wesentliche Eigenschaft von Wahrnehmungsakten. »Der Leib ist vorgreifend bereits bei einem Gegenstand, auf den hin er sich doch selbst erst zu entwerfen hat, und er bedeutet, begreift oder umgeistert ihn dadurch, daß er fähig ist, sich ihm zu öffnen.«168 Hierbei handelt es sich um ein gewisses Paradox des Zur-Welt-Seins: Ich entwickle Intentionen gegenüber Gegenständen, die jedoch erst dadurch entstehen, dass ich mich zu ihnen (intentional) verhalte. Die Gegenstände existieren für mich nur, indem sie mein Wollen und Denken betreffen.169 Wie eingangs beschrieben, geht der phänomenologische Begriff Intentionalität zurück auf Husserl. Indem er Intentionalität als Eigenschaft des Bewusstseins beziehungsweise als auf den Gegenstand bezogenes Bewusstsein170 betrachtet, macht er sie zu einem Kernbegriff der phänomenologischen Bewusstseinstheo162 163 164 165 166 167 168 169 170

Vgl. Springstübe 2013, 33. Merleau-Ponty 1966, 282. Vgl. Springstübe 2013, 35f. Vgl. Springstübe 2013, 36. Merleau-Ponty 1966, 170. Koßler/Prechtl 2008, 334. Bermes 1998, 76. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 107. Vgl. Danner 2006, 33.

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Bewegung und Musikverstehen

rie. Er trennt Bewusstsein nicht mehr vom Gegenstand, sondern versteht Intentionalität als die Grundbedingung für die Entfaltung einer Struktur dazwischen, sowie zwischen Ich und Welt.171 Da ihm ein »bedeutungsintentionaler Charakter«172 innewohnt, wird der Intentionalitätsbegriff dem sprachlichen Zeichen zugrunde gelegt. Hier wird deutlich, wie nah sich die Begriffe Intentionalität und Bedeutung im phänomenologischen Verständnis sind. Bedeutung ist nach Husserl nicht an einem Gegenstand ablesbar, sondern generiert sich in der Bewegung der Intentionalität als Leistung oder Akt des menschlichen Bewusstseins und Denkens.173 Intentionale Zustände beziehungsweise Handlungen generieren demnach Bedeutung, denn das, wovon sie handeln – ihr intentionaler Inhalt –, kann mit Bedeutung gleichgesetzt werden.174 Besonders gut nachvollziehen lässt sich das Prinzip der Intentionalität an Gemütsakten, wie beispielsweise dem Lieben oder Hassen. Denn sie beziehen sich jeweils auf ein entsprechend intendiertes Objekt (wie die Liebe auf das geliebte Wesen) und erhalten so ihre spezifische Struktur. Zahavi spricht auch von intentionalen Qualitäten von Erfahrungen und nennt beispielhaft das Hoffen, Begehren, Erinnern, Bezweifeln oder Wundern.175 Die Intentionalität lässt sich daher insgesamt mit Prechtl auch als »Wesenszug des psychischen Lebens« bezeichnen.176 Das bedeutet, dass intendierte Objekte nur angemessen im Hinblick auf ihr »subjektives Korrelat«177 analysiert werden können. »Intentionalität ist keine externe Relation, die hervorgebracht wird, wenn das Bewusstsein von einem Objekt beeinflusst wird, sondern ist im Gegenteil eine intrinsische Eigenschaft des Bewusstseins.«178 Aus Sicht der Leibphänomenologie ist Intentionalität weiter eng mit dem Begriff der Aufmerksamkeit verbunden. Die Aufmerksamkeit bringe nicht nur die jeweilige Beschaffenheit von Dingen, sondern auch die »Zweideutigkeit ihres Sinnes«179 in Erscheinung. Merleau-Ponty kritisiert mit dem Intentionalitätsbegriff die Aufmerksamkeitstheorie seiner Zeit. Aufmerksamkeit sei nicht zu verstehen als »Scheinwerfer«180 , der etwas zur Erscheinung bringt, was schon da ist, sondern sie bedeute eine Umstrukturierung unseres Erfahrungsfeldes mit den Dingen. Er setzt sie also mit dem Denken, dem Bewusstwerden gleich. Im Akt des Aufmerkens seien Gegenständliches und Aufmerkender gleichermaßen beteiligt. Hierin liegt das Besondere an Merleau-Pontys Aufmerksamkeitstheorie.

171 172 173 174 175 176 177 178 179 180

Vgl. Zahavi 2009, 16ff. Prechtl 2006, 39. Vgl. Prechtl 2006, 42f. Vgl. Kemmerling 2009, 142. Vgl. Zahavi 2008, 150. Prechtl 2006 43. Zahavi 2008, 145f. Zahavi 2008, 148. Merleau-Ponty 1966, 52. Waldenfels 2000, 63.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Das Gegenständliche hat Qualitäten, die das Subjekt aufmerken lassen, jedoch bildet sich der eigentliche Gegenstand als Motiv des Aufmerkens erst als Ergebnis des Aufmerkens selbst. Er behauptet daher: »Das Ergebnis des aufmerkenden Aktes steht nicht schon an seinem Anfang.«181 Merleau-Pontys Theorie der Aufmerksamkeit lässt sich also nur mit Blick auf seine Erweiterung des Bewusstseinsbegriffs verstehen: Danach wird der präreflexive Umgang mit den Dingen bereits durch das Bewusstsein begleitet.182 Aufmerken bedeutet hier die Konstruktion von etwas Neuem im Bewusstsein: »Dies ist das Wunder des Bewußtseins: durch Aufmerken Phänomene zum Erscheinen zu bringen, die die Einheit des Gegenstandes im gleichen Moment, in dem sie diese zerbrechen, in einer neuen Dimension wiederherstellen.«183 Merleau-Ponty spricht auch vom »Wahrnehmungs- oder Erfahrungsbewusstsein«184 , betrachtet das Bewusstsein als den sinngebenden Aspekt, der mit unserem Leib untrennbar verwoben ist. Es lässt sich zusammenfassend Folgendes festhalten: Unsere Wahrnehmung wird durch die Aufmerksamkeit zur Wahrnehmung von etwas als etwas. Grundlegend sinnstiftend (und daher als Basis wichtig) ist unsere Wahrnehmung jedoch bereits im Bereich der leiblichen Wahrnehmung.185 Gemeint ist hier kein intellektueller Sinn, sondern die »Vertrautheit meines Leibes«186 mit den Gegenständen, ohne die eine spätere distanzierte, bewusste, analytische Wahrnehmung nicht denkbar ist. Merleau-Ponty beschreibt die Welt als den »latenten Horizonts all unserer Erfahrung«.187 Mit ihr werde unsere Wahrnehmung nie fertig. Folglich betrachtet er den Menschen als weltoffen. Für ihn bestünden unendliche Möglichkeiten von Umwelten. »Nicht der Geist bewirkt die Weltoffenheit des Menschen, der Wahrnehmung selbst eignet der Charakter der Weltoffenheit – der Mensch ist weltoffen kraft der Wahrnehmung.«188 Als zwei Weisen der Wahrnehmung unterscheidet Merleau-Ponty, so fasst es Darja Springstübe zusammen, die »empirische« oder »analytische« von der »natürlichen« oder »spontanen« Wahrnehmung.189 Erstere beschreibt den Blick des Wissenschaftlers und meint eine sekundäre Form der Wahrnehmung. Ihr liege die natürliche und spontane Form der Wahrnehmung zugrunde, denn nur diese ermögliche den eigentlichen, ursprünglichen Kontakt mit der Welt. Die sekundäre Form der Wahrnehmung mache den wahrnehmenden Blick selbst wiederum zum Gegenstand, was sie zu einer besonderen und zugleich 181 182 183 184 185 186 187 188 189

Merleau-Ponty 1966, 52. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 53. Merleau-Ponty 1966, 52. Springstübe 2013, 45. Vgl. Seewald 1992, 22. Koßler/Prechtl 2008, 334. Merleau-Ponty 1966, 118. Bermes 1998, 87. Springstübe 2013, 38.

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Bewegung und Musikverstehen

unnatürlichen Form der Wahrnehmung mache.190 Als Beispiel führt Springstübe an – und hier bezieht sie sich auf Merleau-Pontys Schrift Die Struktur des Verhaltens –, dass wir zunächst wahrnehmen, dass ein Mensch lächelt, bevor wir Details, wie etwa die hochgezogenen Mundwinkel, zum Gegenstand unseres Blickes machen. Auf Details würden wir erst in der sekundären Wahrnehmung aufmerksam.191 Mit seiner Theorie der Wahrnehmung führt Merleau-Ponty also ein anderes Verständnis vom Bewusstsein ein. Bei jeglichem Vollzug von Verhalten sei das Bewusstsein immer schon beteiligt. Springstübe spricht hier, mit Bezug auf MerleauPonty, daher auch von einem »Wahrnehmungs- oder Erfahrungsbewusstsein«.192 »Das Bewusstsein ist für ihn sozusagen der sinngebende Aspekt unseres Leibes, welcher mit dem Leibkörper immer schon eine Einheit bildet.«193 Wahrnehmung erscheint durch das Bewusstsein stets als sinnvoll. Der Sinn und die Bedeutung von Gegenständen entstehen im Vollzug der Wahrnehmung, der durch unser Bewusstsein begleitet wird und nicht bereits zuvor als theoretische Setzung des Bewusstseins existiert. Mit Springstübe lässt sich zusammenfassen: »Zentral für das Verständnis von Merleau-Pontys Philosophie ist also die Annahme, dass unser Verhalten immer von unserem Bewusstsein beeinflusst wird. Für ihn ist jedes Verhalten bewusstes Verhalten in dem Sinne, dass es sinnvolles und gestaltetes Verhalten ist.«194 Sie kritisiert jedoch auch, dass Merleau-Ponty in seiner Fokussierung auf die ursprüngliche, natürliche Wahrnehmung nicht berücksichtigt, dass auch leiblich-originäre Erfahrungen von uns weiterverarbeitet werden können. Diese würden später zu einem Bestandteil unseres theoretischen Bewusstseins. Es bliebe hierbei unerwähnt, welche Art des Bewusstseins mit der sekundären Wahrnehmung verknüpft ist. Springstübe schlägt hier den Begriff des theoretischen Bewusstseins vor. Gemeint ist ein Abwenden vom Fluss der Erfahrung in einem reflexiven Zurückwenden.195 Merleau-Ponty, so Springstübe, charakterisiere die Strukturierungen der sekundären Wahrnehmung lediglich als »ausdrückliche Akte«.196 Um jedoch zu einem »theoretischen Bewusstsein«197 zu gelangen, das zur sekundären Form der Wahrnehmung gehört, bedarf es – so Springstübe – der Momente der Erfahrung, die wiederholbar beziehungsweise reaktivierbar und damit erinnerbar sind. Hier spiele wiederum der Aspekt der Aufmerksamkeit eine Rolle. Mit Bezug auf Langer beschreibt Springstübe, wie sich bestimmte Erfahrungen für uns

190 191 192 193 194 195 196 197

Vgl. Springstübe 2013, 38ff. Vgl. Springstübe 2013, 41. Springstübe 2013, 45. Springstübe 2013, 45. Springstübe 2013, 46. Vgl. Springstübe 2013, 49. Springstübe 2013, 52. Springstübe 2013, 49.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

von anderen abheben, indem wir auf sie aufmerksam und sie dadurch von unserem Bewusstsein aktiv weiterverarbeitet werden.198 Dies sei der Moment, an dem die Ebene des bloßen ›Fühlens‹ verlassen und die Erfahrungen neu verstärkt und geformt würden.199 Springstübes Vorwurf gegenüber Merleau-Ponty an dieser Stelle ist, dass er die Eigenschaften und spezifischen Prozesse eines theoretischen Bewusstseins nicht beschreibt. So sei beispielsweise unter anderem unklar, inwiefern das Wahrgenommene durch die Umformung eines Wahrnehmungsbildes in ein Vorstellungsbild Veränderung erfährt.200 Inwiefern hier mit Blick auf die Symboltheorie auf die Kritik Springstübes geantwortet werden und die Wahrnehmungstheorie MerleauPontys eventuell an dieser Stelle noch etwas mehr geschärft werden kann, wird weiter unten, im Kapitel 5, erörtert. Wie steht es nun aber um das Verhältnis von Wahrnehmung und Wahrheit bei Merleau-Ponty? Merleau-Ponty geht davon aus, dass etwas nur wahrgenommen wird, wenn es für wahr gehalten wird und dieses Etwas in gewisser Weise auch wahr ist. Dabei spiele zunächst keine Rolle, ob das Wahrgenommene einer intersubjektiv geteilten (objektiven) Wahrheit entspricht. Denn jede Wahrnehmung – so auch eine Täuschung – sei als eine Bewegung zur Wahrheit hin zu verstehen.201 »Denn jede unserer Erfahrungen – sei sie wahr oder falsch – zeigt uns indirekt die ursprüngliche Wahrheit unserer Verbundenheit mit der Welt. […] Als Täuschung erkenne ich sie erst im Nachhinein[,] und zwar dann, wenn sie durch eine andere Wahrnehmung ersetzt wird. Da in der täuschenden Wahrnehmung die Möglichkeit ihrer Korrektur bereits angelegt ist, können auch Illusionen uns zur Wahrheit öffnen.«202 Das Sein-zur-Wahrheit unterscheidet sich Merleau-Ponty gemäß demnach nicht von einem Sein-zur-Welt.203

198 »Bestimmte Erfahrungen – denen aus verschiedensten Gründen eine stärkere Aufmerksamkeit zukommt – werden von unserem Bewusstsein aktiv weiterverarbeitet und erhalten so eine abgeschlossene Identität, die sie von ihrer Umgebung – dem Prozess des Fühlens – abhebt.« Springstübe 2013, 49f. 199 Vgl. Springstübe 2013, 50, die weiter angibt, dass diese Imaginationen erst die distanzierte Einstellung zum Erfahrungsbewusstsein und damit die analytische Perspektive der sekundären Wahrnehmung ermöglichen. 200 Vgl. Springstübe 2013, 51. 201 Vgl. Springstübe 2013, 40. 202 Springstübe 2013, 39f, mit Bezug auf Merleau-Ponty. 203 Vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 449.

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Bewegung und Musikverstehen

3.2.2

Aller Anfang liegt im Empfinden

Indem sie sich in neuer Weise mit dem Phänomen des Empfindens auseinandersetzt, fragt die Phänomenologie nach dem Subjekt der Wahrnehmung.204 Im Gegensatz zur empirischen Psychologie betrachtet sie das Empfinden aber nicht mehr als mit der Wahrnehmung gleichgesetzt. Die Vorstellung des Sinnesapparates als eines Leiters für Sinnesreize wird somit revidiert. Empfindungen gelten, aus phänomenologischer Sicht, nicht länger als bloße Reaktionen auf Sinnesreize. Vielmehr werden sie verstanden als eine Art Motor für ein intentionales Gewahrwerden der Welt. Im Akt des Empfindens und Wahrnehmens steckt bereits ein Teil der Erkenntnis; sie tritt nicht erst nach dem Empfinden ein.205 Dabei stellt die Empfindung eine Art Vorbedingung der Wahrnehmung dar. Etwas wird noch nicht als etwas aufgefasst, sondern im Empfinden fallen Empfinden und Empfundenes zusammen.206 Dieser »ursprüngliche Kontakt mit der Wirklichkeit«207 trägt bereits intentionale Züge, indem die Empfindung über sich hinausweist. Mit den Worten Merleau-Pontys sei beschrieben, wie sich die oder der Empfindende im Empfinden leiblich in die Dinge buchstäblich hinein-empfindet, wie also die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verschwimmen. Dies macht deutlich, wie stark Wahrnehmung und Empfinden aus leibphänomenologischer Perspektive miteinander verwoben sind: »Intentional ist die Empfindung, insofern im Sinnlichen der Vorschlag zu einem gewissen Rhythmus der Existenz uns begegnet – der Abduktion oder Adduktion – und wir, diesem Vorschlag Folge leistend, in die also uns nahegelegte Weise des Existierens gleiten und auf ein äußeres Sein uns beziehen, sei es uns ihm erschließend, sei es uns ihm verschließend. Von den Qualitäten selbst strahlt eine je bestimmte Weise des Existierens aus, es eignet ihnen ein Vermögen der Bezauberung von gleichsam sakramentaler Bedeutung, wie wir sagten, weil das empfindende Subjekt sie nicht als Gegenstände setzt, sondern mit ihnen sympathisiert, sie sich zu eigen macht und in ihnen sein Gesetz des Augenblickes findet. Genauer gesprochen: Empfindender und empfundenes Sinnliches sind nicht zwei äußerlich einander gegenüber stehende Terme, und die Empfindung nicht die Invasion des Sinnlichen in den Empfindenden. Die Farbe lehnt sich an meinen Blick, die Form des Gegenstandes an die Bewegung meiner Hand, oder vielmehr mein Blick paart sich mit der Farbe, meine Hand mit dem Harten und Weichen, und in diesem Austausch zwischen Empfindungssubjekt und Sinnlichem ist keine Rede davon, daß das eine wirkte, das andere litte, das eine dem anderen seinen Sinn 204 205 206 207

Vgl. Good 1998, 86. Vgl. Good 1998, 36ff. Vgl. Waldenfels 2000, 277. Waldenfels 2010a, 168.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

gäbe. Ohne meinen forschenden Blick, meine tastende Hand und ehe mein Leib sich mit ihm synchronisiert, ist das Sinnliche bloß eine vage Erregung.«208 Indem sich der Mensch intentional zur Welt hin verhält, paart sich sein Leib mit den Dingen. Das Empfinden begleitet das Sein mit den Qualitäten der Dinge in der Welt und bedeutet daher einen ersten Schlüssel zu Bedeutung und Sinn der Dinge bei Merleau-Ponty. Schon Husserl betrachtet die Empfindung als den ›Stoff‹, aus dem ein Gegenstand aufgebaut ist.209 Indem er sich stets selbst empfindet, sei der Empfindende im Empfinden außerdem auf sich selbst bezogen.210 Die Empfindung zeigt an, dass ihn etwas anruft, ihn etwas affiziert oder ihm ein Ding beziehungsweise eine Person ›etwas antut‹.211 Wenn man über Empfindungen spricht, so Waldenfels, spricht man daher nicht nur über sich selbst. »Das Empfinden ist ein komplexes Geschehen, das die Welt, die Natur und die soziale Welt mit betrifft.«212 Waldenfels will damit aufzeigen, dass Kontextualität nicht für Sprache und Texte, sondern auch für die Wahrnehmung eine Rolle spielt.213 Somit heißt Empfinden immer auch »Bezogensein auf Anderes.«214 Empfindungen, wie beispielsweise im Zusammenhang mit dem Wahrnehmen von bestimmten Farbqualitäten, werden nach Merleau-Ponty nicht als aktive Handlungen oder passives Erleiden verstanden, sondern als eine Existenzweise dazwischen. Er vergleicht es mit einem Sicheinlassen auf eine Situation, in die man gerät, ähnlich der Situation des Einschlafens. Hier benötigt man eine dem Schlafen zugeneigte Haltung. Man kann den Schlaf jedoch nicht willentlich herbeiführen, sondern muss ihn in gewisser Weise geschehen lassen.215 Das Empfinden stellt sich, nach Waldenfels, also dar als eine »ganz bestimmte Existenzweise, in die ich gerate«.216 Um diesen Prozesscharakter des Empfindens zu betonen, spricht Merleau-Ponty in der Regel eher vom Empfinden als von Empfindung. Damit weist er darauf hin, dass es sich beim Empfinden nicht um einen Zustand handelt.217 Abschließend sei nochmals an das Phänomen der Doppelempfindung erinnert. Das berühmte Beispiel vom Berühren der eigenen Hand durch die andere eigene 208 209 210 211

Merleau-Ponty 1966, 251. Vgl. Waldenfels 2000, 274f. Vgl. Waldenfels 2000, 275. Waldenfels schließt daraus, dass in der eigenen Wahrnehmung immer auch etwas Fremdes enthalten ist. »Schon in der einfachen Farbempfindung ist Ich-Fremdes im Spiel.« Waldenfels 2000, 275. 212 Waldenfels 2000, 76. 213 Vgl. Waldenfels 2000, 46. 214 Waldenfels 2000, 46. 215 Vgl. Waldenfels 2000, 84f. 216 Waldenfels 2000, 85. 217 Vgl. Waldenfels 2000, 78.

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Bewegung und Musikverstehen

Hand aus der Phänomenologie der Wahrnehmung von Merleau-Ponty wurde bereits zur Erläuterung des Phänomens der Ambiguität beschrieben. Hier werden zwei unterschiedliche Momente in einem empfunden, ohne dass es (nach dem Prinzip der Ambiguität) möglich wäre, diese voneinander zu trennen: die eigene Hand als berührter Gegenstand, die jedoch nicht gänzlich Gegenstand sein kann, da ich zugleich die Berührung der berührenden Hand spüre. Aus dem Phänomen der Doppelempfindung geht also der Moment des Zusammenfallens von Empfindendem und Empfundenem besonders hervor. Wie ist es uns nun aber möglich, uns selbst zu spüren und wahrzunehmen?

3.2.3

Wahrnehmung der eigenen Leiblichkeit – Wahrnehmung von Subjektivität

Unser Leib ist uns immer schon gegeben. Er bildet die Grundlage für all unsere Wahrnehmungsprozesse und tritt dabei selbst in den Hintergrund. Nur in sehr seltenen Momenten werden wir plötzlich überraschend der eigenen Leiblichkeit gewahr. Unserer eigenleiblichen Wahrnehmung können wir uns zum Teil bewusst werden. Aufgrund des Prinzips der Ambiguität können wir unseren Leib jedoch nie ganz, geschweige denn als ein Leib-Ding, spüren, als Ganzes betrachten oder erkennen. Am nächsten gelangen wir unserem Selbst, indem wir die Welt und die anderen wahrnehmen. Nach Merleau-Ponty braucht der Leib die Dinge also, um selbst spürbar zu werden: »Schließlich erfassen wir die Einheit unseres Leibes nur in der des Dinges, und von den Dingen her erst erscheinen uns unsere Hände, unsere Augen und all unsere Sinnesorgane als Werkzeuge, die eines für das andere einzutreten vermögen. Der Leib für sich genommen, der Leib im Ruhezustand, bleibt eine dunkle Masse, als bestimmtes und identifizierbares Sein nehmen wir ihn erst wahr, wenn er sich auf die Dinge zu bewegt, sich intentional dem Außen zu entwirft, und auch dann noch immer nur aus dem Augenwinkel und am Rande eines Bewußtseins, dessen Zentrum von den Dingen und der Welt besetzt ist.«218 Sich selbst wahrzunehmen entspricht also weniger einer normalen, gewöhnlichen Situation. Vielmehr betrifft es Momente des plötzlichen, unerwarteten Erkennens (zum Beispiel im Gespiegeltwerden), des körperlichen Entrückens oder aber auch des bewussten Thematisierens des Eigenen. »Der Leib ist immer schon da, bevor er von uns durchdacht wird, er ist bereits aktiv, ehe wir ihn erfassen können; der eigene Leib geht voraus, in einer Eigenbewegung, er fungiert auf vorgängige Weise und begrenzt Thematisierung und

218

Merleau-Ponty 1966, 372.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Versprachlichung: Im Anblick meiner Selbst im Spiegel überrasche ich mich selbst und sehe mich als Anderen, im Moment der Müdigkeit verselbständigt sich mein Leib und entzieht sich mir, im Augenblick des Echos höre ich meine Stimme und sie klingt für mich fremd.«219 Der Theorie der transzendentalen Leiblichkeit des Philosophen und Phänomenologen Michel Henry gemäß entspringt »die Gewissheit unserer Eigenleiblichkeit« einer »transzendentalen Wissensquelle«, also keiner empirischen. Leiblichkeit werde, so sagt Henry, erlebt als Erfahrung der »Identität von subjektivem Bewusstsein und subjektiver Leiblichkeit«.220 Aber welche Art der Erfahrung ist es nun, die uns Gewissheit über unsere transzendentale Subjektivität und Leiblichkeit verschafft? Henry bezeichnet sie auch als eine »Kraftempfindung« oder als ein »Ich kann«.221 Er verwendet dabei den Begriff der Kraftempfindung äquivalent zum Begriff der Bewegung. Dabei meint er nicht Bewegung als Möglichkeitsbedingung von Ortsbewegungen, sondern versteht sie als gewollte Tätigkeit entgegen einem Widerstand.222 Eine »willentliche Kraftempfindung«223 richte sich in intentionaler Weise auf einen Widerstand. In diesem Moment, so Henry, fallen Wille und Leib zusammen und bilden eine Einheit.224 Das Vermögen erhält, nach diesem Verständnis, also Anlass im Widerstand. »Für ein Vermögen ist der ihm korrelative Widerstand nur der immergleiche Anlass, um sich selbst zu aktualisieren. Das Sichtbare zum Beispiel ist für das entsprechende Vermögen der Anlass zum Sehen.«225 Daraus lässt sich schließen, dass im Moment der Wahrnehmung von etwas Gegenständlichem, das mir einen Widerstand entgegenbringt, indem es sich mir als etwas entgegenstellt oder gegen etwas anderes abhebt, die eigene Subjektivität erlebt wird. Die Frage ist hierbei nun, ob die Kraftempfindung (oder das Vermögen), von der Henry hier spricht, bewusst und willentlich gesteuert werden kann oder ob es sich dem bewussten Zugriff zum Teil auch entzieht. Beate Schüler erinnert in diesem Zusammenhang, mit Bezug auf Merleau-Ponty und Waldenfels, an die Spannung zwischen habituellem und aktuellem Leib. »Ich bringe das Sehen nicht hervor, aber ich kann es dirigieren und das Gesehene auswählen und begreifen. Hier wird die Dualität innerhalb des Leibes sichtbar: Wir stehen in unserem Leibsein zwischen der ursprünglichen Intentionalität des

219 220 221 222 223 224 225

Sternagel 2012, 122. Scheidegger 2012, 103. Scheidegger 2012, 103. Vgl. Scheidegger 2012, 104. Scheidegger 2012, 106. Vgl. Scheidegger 2012, 108. Scheidegger 2012, 108.

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Bewegung und Musikverstehen

Leibes und der freien Initiative, zwischen wirklicher Struktur und idealer Bedeutung, zwischen leiblicher Wahrnehmung und geistiger Erkenntnis.«226 Nach Schüler fallen in der leiblichen Eigenwahrnehmung Leib und Körper zusammen, so zum Beispiel bei der Erfahrung von Grenzen des Körpers (sie nennt hier Beispiele wie Schmerz, das Altern oder die Vergänglichkeit). Der Leib würde dann aus seiner unsichtbaren Rolle herausgehoben und der eigene Körper als Lebender und Fühlender wahrgenommen.227 Dies erinnert wieder an den Begriff des Körperschemas, bildet er doch nach Rappe die Mitte aus dem Spannungsfeld zwischen Leib und Köper und den Ort der Subjektivität an sich. Mit Bezug auf Merleau-Ponty lässt sich also zusammenfassen, dass die Eigenwahrnehmung generell die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Räumlichkeit und diese wiederum die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Objekten und Gegenständen ist. »Doch erläutert sie die Wahrnehmung des Gegenstandes durch die Raumwahrnehmung, indessen die Erfahrung des eigenen Leibes uns die Verwurzelung des Raumes in der Existenz lehrt.«228 Die Selbstwahrnehmung hat neben der Wahrnehmung von Räumlichkeit und der Welt der Dinge auch seine Wurzel in der Wahrnehmung des anderen oder des Fremden. So behauptet Waldenfels: »Das Sichempfinden hat einen Anlass in der Welt oder im Anderen; es veranschaulicht einen Bezug zum Selbst, zur Welt, zum Anderen und zum Fremden.«229 Daher soll nun im Folgenden die Wahrnehmung des Eigenen durch die Wahrnehmung des Fremden näher betrachtet werden.

3.2.4

Eigenleib und Fremdleib – Wahrnehmung im Bereich der Zwischenleiblichkeit

Nicht nur unser eigener Leib ist uns immer schon gegeben. Wir sind auch immer schon gemeinsam mit anderen in der Welt. Dabei ist der Leib des anderen für uns ebenso wenig gegenständlich wie der eigene Leib. Nach Merleau-Ponty ist seine leibliche Existenz Bestandteil der je eigenen Erfahrungswelt.230 Die Wahrnehmung des Fremden beginnt, nach Waldenfels, bereits bei uns selbst.231 Sieht man sich selbst, seine eigene Bewegung beispielsweise, im Spiegel, wird man sich zum Teil selbst fremd, da es der Spiegel ermöglicht, Perspektiven auf den eigenen Körper zu erschließen, die sonst nicht zugänglich wären. Ähnlich überrascht ist man, wenn einem der eigene Körper zu entgleiten scheint, wie

226 227 228 229 230 231

Schüler 2014, 59. Vgl. Schüler 2014, 52. Merleau-Ponty 1966, 178. Sternagel 2012, 120. Vgl. Springstübe 2013, 29. Vgl. Waldenfels 2000, 43f.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

beispielsweise in der Müdigkeit. Hier haben wir es wieder mit dem Ambiguitätsphänomen zu tun, also mit der Unmöglichkeit, den eigenen Körper gänzlich zu erfassen oder zu besitzen. Nicht nur die anderen sind uns teilweise fremd, es bleibt auch immer ein Teil des Selbst unerschließbar. Der andere kann auf unser Ich eine Perspektive haben, die uns selbst nicht zugänglich ist. Es braucht daher ein Gegenüber, den Blick des anderen, um diese verborgenen Momente im eignen Selbstbild zu ergänzen. »Fremdheit in mir und Fremdheit der Anderen würde heißen, daß ich von vornherein im Blickfeld der Anderen lebe. Die Anderen treten nicht zusätzlich in meine Eigenheitssphäre ein, sondern ich gehöre mir nie ganz selber.«232 Jeder Selbstbezug beginnt im Grunde mit einem Fremdbezug. Dabei geschieht ein Selbstentzug im Fremdbezug, so Waldenfels. »Selbstbezug ist nur im Fremdbezug zu fassen. Und umgekehrt: der Leibbezug ist zu fassen als innerer Entzug.«233 Der Mensch braucht, so Merleau-Ponty, ein Gegenüber, um sich selbst zu empfinden und zu verwirklichen. »Im System der inkarnierten Bewußtseine kann das einzelne sich nur dann bestätigen, wenn es die anderen zu Objekten macht.«234 Waldenfels beschreibt hierfür beispielhaft, wie das Kleinkind sich selbst zunächst noch nicht als Ich, sondern mit dem eigenen Namen benennt. Es sagt zu sich selbst, was die anderen in seinem Umfeld zu ihm sagen. Hieraus schlussfolgert Waldenfels, dass das Kind sich zunächst vom anderen her denkt.235 Das hier angesprochene Phänomen wird auch als Prinzip der Projektion und Introjektion bezeichnet: »Was ich selber bin, entsteht erst durch Projektion, ich finde mich und empfinde mich selbst zunächst im Anderen.«236 Meyer-Drawe rät daher dazu, das Ich neu, als »non-egologisches«237 zu begreifen. Als non-egologisches Ich wäre es zu verstehen »als eine Weise konkreter Inter-Subjektivität, als situiertes Ich, das in gewisser Weise immer schon vom anderen ›enteignet‹ ist.«238 Denn die anderen besitzen einen Blick auf mein eigenes Ich, der mir selbst verborgen bleibt. Merleau-Ponty findet hierfür auch das Bild der »Nischen« meines Ichs, die die anderen bewohnen: »Die Anderen brauche ich nicht erst anderswo zu suchen: ich finde sie innerhalb meiner Erfahrung, sie bewohnen die Nischen, die das enthalten, was mir verborgen, ihnen aber sichtbar ist.«239 Unser individuelles Leben hat seinen Ursprung also in einem anfänglichen, gemeinsamen Wir. Dies zeigt sich insbesondere auch am Mimetismus als einer ursprünglichen Art des Verhaltens und Lernens. Er bedeutet eine Art der unbewussten Übernahme von

232 233 234 235 236 237 238 239

Waldenfels 2000, 44. Waldenfels 2000, 266. Merleau-Ponty, zitiert nach Meyer-Drawe 1987, 153. Vgl. Waldenfels 2000, 308. Waldenfels 2000, 309. Meyer-Drawe 1987, 16. Meyer-Drawe 1987, 16. Merleau-Ponty, zitiert nach Meyer-Drawe 1987, 155.

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Verhaltensweisen, eine Art unbewusster Nachahmung. »Die ursprüngliche Art zu lernen ist ein Nachmachen, das noch nicht zwischen Eigenem und Fremden unterscheidet, weil Eigenes und Fremdes noch gar nicht unterscheidbar sind.«240 Nach Seewald schreiben sich bei dem Phänomen der Mimesis die Bewegungsintentionen der Interaktionspartner direkt in das Körperschema des Gegenübers ein, bevor überhaupt ein reflektierendes Bewusstsein zum Tragen kommt.241 Die Mimesis gilt daher als wichtige Grundbedingung für soziales Lernen. Schüler sieht in ihr gar die Grundbedingung »für die Weitergabe und Fortentwicklung von Kultur. Denn kulturelles Lernen ist mimetisches Lernen, das sich weitestgehend unbewusst vollzieht.«242 Dabei ergibt sich »Sinn im intersubjektiven Feld«243 dadurch, dass wir mit anderen in Kommunikation treten. Nur so sind die Genese und das Weiterbestehen einer Kultur überhaupt möglich.244 Die Bedeutung der Zwischenleiblichkeit für das Lernen sowie das Phänomen des mimetischen Lernens sollen im 5. Kapitel noch näher beschrieben werden. Der Bereich der Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) entspricht bei MerleauPonty der Zwischenwelt (intermonde). Er geht davon aus, dass uns diese Zwischenwelt als Bereich einer »anonymen leiblichen Existenz«245 immer schon gegeben ist. »Die Welt, in die ich hineingeboren bin, ist zunächst nicht meine Welt, sondern ein offenes, ungeschiedenes Feld, in dem eigene und fremde Perspektiven unmittelbar ineinandergreifen. Das gilt für die natürliche Ebene, wo eigener und fremder Leib infolge ihrer Strukturähnlichkeit ein einziges Ganzes bilden, wie auch für die kulturelle Ebene, wo im Dialog eigene und fremde Äußerungen in einem einzigen Gewebe verknüpft sind.«246 Die Zwischenleiblichkeit ist nach Waldenfels auf der Ebene der Wahrnehmung anzusetzen.247 Merleau-Ponty findet hierfür das Bild einer gemeinsamen ›Wahrnehmungsbühne‹, die wir immer schon miteinander teilen: »Dass es so etwas wie ein Ausdrucksgeschehen zwischen leiblichen Subjekten geben kann, setzt voraus, dass in der Mitteilung immer schon eine gemeinsame Wahrnehmungsbühne geteilt wird.«248 Wenn Waldenfels von »gelebte[r] Gemeinsamkeit«249 spricht, wird

240 241 242 243 244 245 246 247 248 249

Waldenfels 2000, 310. Vgl. Seewald 1966, 50. Schüler 2014, 62. Seewald 1992, 49. »Der Sinn wird nicht gesetzt von einem autonomen Bewußtsein, er ist eingebettet oder inkarniert in die Formen der direkten, leiblichen Kommunikation.« Seewald 1992, 50f. Waldenfels 2010a, 169. Waldenfels 2010a, 169. Vgl. Waldenfels 2000, 293. Kristensen 2012, 36, mit Bezug auf Merleau-Ponty. Waldenfels 2000, 292.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

nebenbei deutlich, dass auch dem Aspekt der Aufmerksamkeit eine soziale Dimension innewohnt. Aufmerksamkeit ist nicht nur etwas, das wir miteinander teilen, sondern auch Grundlage dafür, dass wir überhaupt etwas miteinander teilen können. Die Wahrnehmung des anderen wird hier als Aufmerken verstanden. Insgesamt handelt es sich, so schreibt Waldenfels, bei der Leiblichkeit im Prinzip um eine responsive Verhaltens- und Erlebensweise, also um eine »responsive Leiblichkeit«, da sie immer schon »auf fremde Ansprüche antwortet.«250 Auch die Empfindungen zählt er zu den Dingen, die wir nicht für uns allein erleben, sondern die wir immer schon mit den Dingen und mit den anderen teilen. »Die Freude ist nicht ein Zustand, in dem ich mich befinde oder den ich herbeiführe, sondern ein Sichbefinden mit den Anderen in der Welt.«251 Auch Handlungen wie gemeinsames Singen oder Musizieren seien dem Bereich der Zwischenleiblichkeit zuzuordnen. Eine besondere Form dieser geteilten Handlungen seien zum Beispiel sogenannte Synergien, bei denen nicht eindeutig getrennt werden kann, ob es meine eigene oder die fremde Handlung ist, die zu etwas führt.252 Eine gesellschaftliche Dimension erhalten Handlungen im Bereich der Zwischenleiblichkeit nach Merleau-Ponty, indem sie durch Kulturgegenstände und Sprachgesten vermittelt werden. »Im Kulturgegenstand erfahre ich die nächste Gegenwart von Anderen unter dem Schleier der Anonymität.«253 Der erste aller Kulturgegenstände sei dabei der Leib des anderen.254 Hier lässt sich daher eine Brücke schlagen zum Phänomen der Sprache als Medium der Zwischenleiblichkeit. Auch das Gespräch und der Dialog fußen auf einem basalen »leiblichen Verstehen«255 im Bereich des Zwischenleiblichen. Waldenfels vergleicht die Sprache generell mit einem Gespräch, denn sie fügt sich in eine zugrunde liegende soziale Situation ein. So geht dem Sprechen das Zuhören voraus. Es ist nie losgelöst von der erwarteten Antwort und ist zugleich immer selbst eine Antwort. »[D]as Sprechen selber entfaltet sich im Hören, im Antworten auf das, was der Andere sagt. Was ich jetzt sage, ist in sich selber bestimmt durch die Gesprächssituation, und zwar schon dadurch, daß der Andere mir zuhört.«256 Hier bezieht Waldenfels sich auf Merleau-Ponty, der davon ausgeht, dass die eigene Sprachhandlung bereits durch die Erwartung des Hörers (zum Beispiel durch einen möglichen Einwand) geprägt ist.257 »Deshalb ist meine Rede nicht einfach meine Rede, sondern

250 251 252 253 254

Waldenfels 2000, 365. Waldenfels 2000, 289. Vgl. Waldenfels 2000, 289. Merleau-Ponty 1966, 399. »Der erste aller Kulturgegenstände, derjenige, dem alle anderen ihr Dasein erst verdanken, ist der Leib eines Anderen, als Träger eines Verhaltens.« Merleau-Ponty 1966, 400. 255 Seewald 1992, 52. 256 Waldenfels 2000, 291. 257 Vgl. Waldenfels 2000, 301.

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die Anderen haben bereits an ihr Teil; in dem Sinne ist sie eine gemeinsame Tätigkeit, kein Wort gehört mir ganz.«258 Welche Rolle die Zwischenleiblichkeit beim Gebrauch von Sprache spielt, wird weiter unten, unter 3.3.4, noch ausführlicher erläutert werden. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden bildet einen Schwerpunkt der phänomenologischen Philosophie Waldenfels‹. Sie ist geprägt von einem »Denken radikaler Fremdheit« und fordert dazu auf, die »Herausforderung durch das Fremde«259 nicht zu verkennen, so Jörg Sternagel. Gleichzeitig erhält das Fremde bei ihm einen anderen Stellenwert. Es gilt nicht länger als das Unverstandene oder Unerschließbare. Für Waldenfels bedeutet das Fremde nicht vorwiegend etwas Negatives, ein Mangel oder eine Abweichung von der Norm.260 Durch die Verschränkung des Selbstentzuges mit dem Fremdbezug macht er zugleich auf die Fremdheit des eigenen Leibes aufmerksam. Dies nimmt der Fremdheit des Fremden das Gewicht. Außerdem setzt Waldenfels sich in diesem Zusammenhang auch kritisch mit der Theorie der Intentionalität bei Husserl auseinander. Im Gegensatz zu Husserl entfernt er sich von der Vorstellung einer »vorgängigen Hierarchie zwischen dem Ich und dem Anderen«.261 Bei Husserl tritt das Ich immer vor dem anderen in Erscheinung. Waldenfels wiederum macht darauf aufmerksam, dass der andere vom gleichen Ursprung ist wie das Ich, und spricht ihm genauso eine Eigenheitssphäre sowie Initiative zu.262 Damit geht die Erfahrung des Zwischenbereiches (zwischen dem Eigenen und dem Fremden) nicht mehr, wie bei Husserl, zuvorderst vom Subjekt aus, sondern wird durch den »unvorhergesehenen Anspruch des Fremden«263 angeregt. In seinen Studien weitet Waldenfels den Aspekt der Fremderfahrung auch auf die Kunst, den Tanz, das Theater und den Film aus. Er versteht die Grunderfahrung des Films beispielsweise als eine leibliche Fremderfahrung.264 Auch Merleau-Ponty hat die Bereiche Schauspiel und Film unter dem Aspekt der Zwischenleiblichkeit betrachtet. Die Anteilnahme des Filmzuschauers mit dem Filmschauspieler betrachtet er dabei als eine Weise der »Koexistenz«.265 Der Zuschauer nehme die Bewegungen des Filmschauspielers in seinen Leib auf und empfinde sie als eigene.266 Damit wird das Zuschauen zu einem aktiven Prozess, in dem sich das leibliche Selbst im Selbst des anderen versenkt. Jens Roselt schreibt hierzu: »Wahrnehmend 258 259 260 261 262 263

Waldenfels 2000, 301. Sternagel 2012, 116. Vgl. Sternagel 2012, 122, mit Bezug auf Waldenfels. Sternagel 2012, 118. Vgl. Sternagel 2012, 118. Durch die fremde Hand wird die eigene Hand bei Waldenfels zum Beispiel »getastetes Tastendes, ein angefasstes Anfassendes«. Sternagel 2012, 121. 264 Vgl. Sternagel 2012, 126. 265 Sternagel 2012, 127. 266 Vgl. Sternagel 2012, 128.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

kann der Zuschauer nicht bei sich bleiben, seine Erfahrung beginnt immer beim Anderen.«267 Hinsehen und Hinschauen im Theater oder Film wird also aus phänomenologischer Perspektive nicht länger als Reaktion auf Reize, sondern als ein aktives Tun verstanden. Das Sehen als Tun setzt dabei zuallererst voraus, dass ich mich auf etwas beziehe, worauf ich beim Zuschauen aufmerksam geworden bin.268 Schmitz verwendet hierfür den Begriff der Einleibung. Die wechselseitige Einleibung sei Voraussetzung dafür, den anderen wahrzunehmen und in seinem Tun zu verstehen. Aufgrund seiner Leiblichkeit sei der Mensch in der Lage, in Gesprächssituationen sich in sein Gegenüber einzufühlen und gegebenenfalls Haltung und Fassung zu ändern. »Leiblichkeit ist kein Raum innerer Natur und Ursprünglichkeit, seine leibliche Existenzweise macht den Menschen vielmehr höchst anpassungsfähig und offen für Einflüsse und Ansprüche, die sich an ihn richten.«269 Doch auch wenn wir offen sind für den anderen und das Fremde, es bleibt das Problem, dass wir den anderen – so wie uns selbst – nie gänzlich erschließen können; es bleibt die Gesetzmäßigkeit des Solipsismus. Unser Bemühen um zwischenmenschliche Verständigung beschreibt Merleau-Ponty daher auch als »Komödie eines Solipsismus zu vielen«.270 »Beides, Einsamkeit und Kommunikation sind ›zwei Momente eines Phänomens’[…], denn nur wenn der Andere mir gegeben ist, kann ich von Einsamkeit sprechen.«271 Auch Meyer-Drawe macht, mit Bezug auf Merleau-Ponty, darauf aufmerksam, dass der andere – wenn ich ihm auch begegnen und mich mit ihm in der Welt verhalten kann – nie ein »alter ego«272 werden kann. Denn die Existenz des anderen kann nie die gleiche Bedeutung erlangen wie die eigene. Die Leiblichkeit des Menschen ist Ort seines primordialen Erfahrungsvollzugs. Phänomene wie der Schmerz sind daher letztlich nie teilbar. Selbst zu meinen, man wolle das Wohl des anderen so wie das eigene, sei, so Merleau-Ponty, nicht ganz aufrichtig. Denn auch des anderen Wohls bliebe dem eigenen verhaftet. Man könne sich der Nähe zum anderen zuliebe nur daran orientieren, was Wohlsein für einen selbst bedeutet.273 Dennoch, aller Einsamkeit der menschlichen Existenz zum Trotz, die phänomenologische Sichtweise auf Intersubjektivität und Sozialität eröffnet Perspektiven. Vor allem im Hinblick auf die Generierung eines phänomenologischen Lernbegriffs ist die Erkenntnis, dass wir stets mit den anderen in der Welt sind, uns und die Welt nur durch die anderen begreifen, von großer Bedeutung. Die beschriebene

267 268 269 270 271 272 273

Roselt 2008, 239. Vgl. Sternagel 2012, 128. Andermann 2012, 140f. Merleau-Ponty 1966, 411. Seewald 1992, 52, mit Bezug auf Merleau-Ponty. Meyer-Drawe 1987, 152; Herv. im Original. Vgl. Meyer-Drawe 1987, 154.

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Offenheit für den anderen, das Generieren und Weiterführen von Kultur, die mögliche Verständigung und Annäherung an den anderen sowie die Generierung von gemeinsam geteiltem Wissen sind im Hinblick auf die Anwendung der phänomenologischen Sichtweise für pädagogische und musikpädagogische Fragestellungen von großem Interesse. Um zu betonen, dass in diesem Kontext die Möglichkeit, durch zwischenleibliche Verständigung gegenseitiges Verstehen und das Verstehen des eigenen Selbst anzubahnen, mehr wiegt als die Unmöglichkeit des vollständigen Erschließens des anderen und des eigenen Selbst, soll hier abschließend nochmals Merleau-Ponty zu Wort kommen. Er rät nicht nur zum Rückgang auf die ursprüngliche, vorreflexive Erfahrung, sondern postuliert ebenso den Rückgang auf die lebensweltliche Erfahrung einer vorgängigen anonymen Kollektivität.274 »[U]nd eben mein Leib ist es, der den Leib des Anderen wahrnimmt, und er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des Umgangs mit der Welt; und wie die Teile meines Leibes ein zusammenhängendes System bilden, bilden somit auch der fremde Leib und der meinige ein einziges Ganzes, zwei Seiten eines einzigen Phänomens, und die anonyme Existenz, deren Spur mein Leib in jedem Augenblicke ist, bewohnt nunmehr die beiden Leiber in eins.«275

3.2.5 3.2.5.1

Von der Wahrnehmung hin zum Erkennen Wahrnehmung von Struktur und Ordnung

Begriffe wie Struktur und Gestalt sind zentral für Merleau-Pontys Philosophie, die die Verbindung von Mensch und Welt zu ergründen sucht.276 Denn sie versteht sich als eine Philosophie des Zwischen, des Zur-Welt-Seins oder des dritten Weges. Um diesen Zwischenbereich zu beschreiben, nutzt Merleau-Ponty unter anderem den Begriff der Strukturen. Er beschreibt ihm zufolge unsere Weise zu existieren, da wir nur in Strukturen zur Welt sein können. Somit sind Strukturen für ihn Merkmal und Bedingung unserer Existenz.277 »Strukturen beschreiben also auch die Organisation unserer Existenz: Wir sind immer in Strukturen zur Welt, sie sind die ›grundlegende Realität‹.«278 Für Merleau-Ponty ist der Strukturbegriff daher eng verbunden mit den Begriffen Verhalten und Bedeutung, da wir in unserem strukturierten Verhalten stets

274 275 276 277 278

Vgl. Seewald 1992, 49. Merleau-Ponty 1966, 405. Vgl. Springstübe 2013, 24. Vgl. Springstübe 2013, 25. Springstübe 2013, 25; Herv. im Original, mit Bezug auf Merleau-Ponty 1976, 243, 209.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Bedeutungen279 generieren. »Wenn unser Verhalten kein bloß mechanisches Geschehen ist, sondern an ihm auch Bewusstseinsprozesse beteiligt sind, dann ist es stets bedeutungsvoll.«280 Dabei grenzt Merleau-Ponty diesen inkarnierten Bedeutungsbegriff deutlich von einem Konzept der ideellen Bedeutung oder der Idee im Sinne der intellektualistischen Tradition ab. »Bedeutungen haben keinen substanziellen Charakter, sie sind kein Ding oder Geschehen, sondern verkörpern die Organisation von Wirklichkeit, sie entstehen im Zwischen von Leib und Welt. Die Strukturen unseres Verhaltens sind die Voraussetzung für die Entstehung von Bedeutung, gleichzeitig ist eine konkrete Strukturierung innerhalb des gesamten Strukturgefüges bedeutungsvoll.«281 Bedeutungen können also nicht losgelöst von unserem strukturierenden Verhalten existieren.282 In diesem Zusammenhang sei nochmals daran erinnert, dass Merleau-Ponty die Wahrnehmung bereits als aktives, strukturierendes Verhalten versteht. In dem wir zur Welt und zu den Dingen sind, schöpfen wir stetig selbst Struktur und Ordnung. Bereits durch unsere Erfahrungen kommt es also zu Strukturveränderungen.283 Auch die Dinge sind uns immer in einer bestimmten Organisationsweise, Gestalt oder Struktur gegeben.284 Merleau-Ponty erläutert in der Phänomenologie der Wahrnehmung: »[U]nmittelbar ist nicht mehr die Impression, das mit dem Subjekt zusammenfallende Objekt, sondern der Sinn, die Struktur, der spontane Zusammenhang der Teile.«285 Struktur ist aus phänomenologischer Sicht zum einen etwas, in dem wir leben. Unser ganzes Verhalten, unser Wahrnehmen und Erfahren ist von Strukturen gezeichnet. Zum anderen ist das, was wir erkennen, strukturhaft. Denn Struktur ist die Bedingung für die Herausbildung von Gestalten und somit dafür, dass wir überhaupt etwas als etwas erkennen. Struktur ist somit immer zugleich Struktur, die sich (in der Wahrnehmung, im Verhalten, in der Erfahrung) bildet, und Struktur, die sich zeigt. Wahrnehmend erscheinen uns die Dinge, so Merleau-Ponty, stets in Strukturen und Ordnungen, zeigt sich uns »der spontane Zusammenhang der Teile«.286

279 Auch am oftmals für »Struktur« synonym verwendeten Begriff Sinngefüge lässt sich ablesen, wie eng »Sinn« und »Bedeutung« mit »Struktur« zusammenhängen. Etwas fügt sich für uns in einer bestimmten Weise zusammen, da es dadurch einen Sinn gewinnt. 280 Springstübe 2013, 26. 281 Springstübe 2013, 26, mit Bezug auf Merleau-Ponty 1976. 282 Vgl. Springstübe 2013, 27. 283 Vgl. Waldenfels 2000, 63. 284 Vgl. Schüler 2014, 71f. 285 Merleau-Ponty 1966, 82. 286 Merleau-Ponty 1966, 82.

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Bewegung und Musikverstehen

Weiter bedeutet Struktur nach phänomenologischem Verständnis stets eine (strukturierte) Ganzheit, die durch Verhältnisse der einzelnen Teile dieser Ganzheit zueinander entsteht.287 Die in Bezug zur Ganzheit sich zeigenden Verhältnisse sind ausschlaggebend für die Herausbildung von Gestalten. Diese versteht Merleau-Ponty ebenfalls als Strukturen, die sich herausbilden, indem sie sich als Struktur in Strukturen in bestimmter Weise zu einem strukturierten Kontext verhalten. So verstanden wird der Gestaltbegriff bereits zur Beschreibung einzelner Handlungen oder Wahrnehmungen verwendet. »Gestalten entstehen also immer in Verbindung und als Kontrast zur Gesamtstruktur, von welcher sie sich durch eine konkrete Form abheben, als eine ›Struktur von Strukturen‹«.288 Gestalten zeichnen sich demnach durch ihre innere Struktur aus, die es möglich macht, sie in andere Kontexte zu transportieren. Bedingung dafür ist, dass dabei ihre innere Struktur erhalten bleibt. Eine Melodie wird beispielsweise auch dann wiedererkannt, wenn sich die sie umgebende musikalische Struktur verändert, ihre innere Struktur aber konstant bleibt. Waldenfels weist darauf hin, dass beim Gewahrwerden von Strukturen und Gestalten die Aufmerksamkeit eine besondere Rolle spielt. Denn sie sei dafür verantwortlich, welche Strukturen beispielsweise stärker hervortreten als andere oder sich verändern.289 »Aufmerksamkeit stellt sich dar als eine Umgestaltung, eine Umorganisation des Feldes; plötzlich wird etwas wichtig, tritt etwas hervor und anderes zurück.«290 Der phänomenologische Aufmerksamkeitsbegriff betont dabei, dass Strukturen nicht schon fertig und abgeschlossen sind, bevor wir uns ihrer bewusst werden. Aus phänomenologischer Perspektive sind uns die Dinge, so Waldenfels, »immer nur in einer bestimmten Organisationsweise gegeben. Dies ändere sich mit dem Wechsel der Aufmerksamkeit.«291 Im Zusammenhang mit dem Strukturbegriff bringt der Begriff der Aufmerksamkeit zum Ausdruck, dass sich Wahrnehmen und Erkennen (von Struktur) in einem Zwischenbereich ereignen: Zu einem Teil treten uns Strukturen entgegen, zu einem anderen Teil bilden wir sie. Wir können Strukturen nur vernehmen, wenn wir uns wachsam dem zuwenden, wo sich Struktur bilden kann. Die Struktur der Dinge ist also davon abhängig, wie (in welcher Struktur) sie uns erscheinen und in welchen Strukturen wir uns zu den Dingen verhalten.292

287 »Es handelt sich um eine strukturierte Ganzheit, d.h. um eine Totalität, deren Elemente nicht einzeln für sich, sondern durch ihre Stellung zueinander im Ganzen bestimmt sind.« Waldenfels 2000, 65f. 288 Merleau-Ponty, zitiert nach Springstübe 2013, 25. 289 Vgl. Waldenfels 2000, 63. 290 Waldenfels 2000, 63. 291 Waldenfels 2000, 63. 292 Durch unser strukturierendes Verhalten erhalten die Dinge für uns Bedeutung, vgl. Springstübe 2013, 26f.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

3.2.5.2

Zur Wahrnehmung von Dingen – objektives Denken aus phänomenologischem Betrachtungswinkel

Husserl hat betont, dass uns mit den Wahrnehmungsgegenständen stets auch unser eigener Leib bewusst wird.293 Und auch umgekehrt gilt aus phänomenologischer Sicht: »Der Leib kann sich selbst nur erscheinen, indem er sich zu irgendetwas anderem verhält – oder zu sich selbst als Anderem.«294 Die Dinge und die anderen existieren für uns nur, wenn wir sie wahrnehmen, so Merleau-Ponty: »Nie ist das Ding von einem Wahrnehmenden zu trennen, nie kann es wirklich ganz an sich sein, denn all seine Artikulationen sind eben die unserer eigenen Existenz […]. Insofern ist jede Wahrnehmung Kommunikation oder Kommunion, Aufnahme und Vollendung einer fremden Intention in uns, oder umgekehrt äußere Vollendung unserer Wahrnehmungsvermögen, und also gleich einer Paarung unseres Leibes mit den Dingen.«295 Gegenstände bilden sich für uns heraus, indem etwas anderes in den Hintergrund tritt beziehungsweise verdeckt wird.296 Die Dinge erschließen sich uns jedoch nicht (allein) in der Reflexion – wir müssen die Dinge leiblich erleben. »In der Wahrnehmung denken wir nicht den Gegenstand und denken nicht uns als ihn denkend, wir sind vielmehr zum Gegenstand und gehen auf in unserem Leib, der mehr als wir selbst von der Welt und von den Motiven und Mitteln weiß, sie zur Synthese zu bringen.«297 Die Erfahrung spielt bei der Wahrnehmung von Gegenständen oder Dingen eine besondere Rolle. Als Sedimentation wirkt sie sich auf unsere Spontaneität aus, da sie Erwartungen generiert und somit unsere Wahrnehmung lenkt. Beide Aspekte – die Sedimentation sowie die Spontaneität – bilden die »doppelte[…] Charakteristik«298 , in der uns die Welt in unserem Bewusstsein gegeben ist. Nach Merleau-Ponty erscheinen uns die Dinge in ihrer Ganzheit, da im Wahrnehmungserleben die sinnlichen Eindrücke vermischt werden. Er spricht hier auch von »Synästhesien«.299 Seiner Ansicht nach geschieht die Verschmelzung der Sinne durch eine »›Urschicht‹ des Empfindens«300 , welche den Sinnen vorgelagert ist. Im Augenblick der Wahrnehmung, erlebt der Wahrnehmende eine Art Gesamtschauspiel, ohne bereits seine Wahrnehmung selbst zu analysieren.301 (Waldenfels beschreibt hierzu beispielhaft, wie wir eine Zitrone zunächst als Gesamtgestalt wahrnehmen, ohne im selben Moment bewusst ihre Eigenschaften zu addieren. 293 294 295 296 297 298 299 300 301

Vgl. Zahavi 2009, 109. Zahavi 2009, 109. Merleau-Ponty 1966, 370. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 91. Merleau-Ponty 1966, 279. Merleau-Ponty 1966, 158. Merleau-Ponty 1966, 267. Merleau-Ponty 1966, 266. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 264.

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Bewegung und Musikverstehen

Erst später spielen für uns ihre Form, Farbe oder ihr saurer Geschmack eine Rolle.) Aus diesem Grund nennt Merleau-Ponty den Leib auch ein »synergetisches System«.302 Dass uns das Ding als Ding erscheint, führt Seewald mit Bezug auf MerleauPonty darauf zurück, dass es für uns einen »Kern des Verborgenen«303 behält. »Doch das Ding ignoriert uns und ruht in sich«,304 schreibt Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung. Ihm zufolge setzt uns das Ding einen Widerstand entgegen, ist sogar abstoßend: »Daher erscheinen uns menschliche Gegenstände, Werkzeuge etwa, als gleichsam der Welt aufgesetzt, indessen die Dinge verwurzelt sind in einem Grunde unmenschlicher Natur. Das Ding ist für unsere Existenz weit mehr ein Abstoßungsals ein Anziehungspol. In ihm erkennen wir nicht uns selbst, und eben dies macht das Ding zum Ding.«305 Auch wird im Ding, so Merleau-Ponty, »das Wunder des Ausdrucks«306 verwirklicht. Den Terminus Ausdruck übernimmt er von Ernst Cassirer, der unter Ausdruck die Einheit von Sinn und äußerer Gestalt versteht.307 Ein Ding ist letztlich auch das Wort, als Medium des Ausdrucks. Denn auch das Wort bewahrt etwas Unerkennbares, etwas, was uns nicht gänzlich zugänglich ist.308 »Der Sinn des Dinges ist der intellektuellen Bedeutungszuweisung vorgängig. Dies gilt auch für sein Eingebundensein in die Sprache.«309 Wie verhält sich nun aber das Wahrnehmen eines Dinges zum objektiven Denken? Bei der Konstitution eines Gegenstandes überschreiten wir die Grenzen unserer eigenen, wirklichen Erfahrung, indem wir behaupten, dass wir es mit einem Gegenstand zu tun haben, der von intersubjektiv geteilter Bedeutung ist.310 Dies bezeichnet Merleau-Ponty in Anlehnung an Søren Kierkegaard als die Ausbildung des objektiven Denkens. »Ich löse mich von meiner Erfahrung und vollziehe den Übergang zur Idee. Diese behauptet als Gegenstand ein und dieselbe für jedermann, gültig für alle Zeit und für jeden Ort zu sein«.311 Wir begeben uns in der Wahrnehmung auf die Stufe der Dinge, indem wir einem

302 303 304 305 306

307 308 309 310 311

Waldenfels 2000, 92, mit Bezug auf Merleau-Ponty 1966, 274. Seewald 1992, 46. Merleau-Ponty 1966, 372. Merleau-Ponty 1966, 374f. »Schon dem Anderen zuvor verwirklicht das Ding das Wunder des Ausdrucks: im Äußeren ein Inneres zu offenbaren, eine Bedeutung, die in die Welt herabsteigt und in ihr zu existieren beginnt, und die wir nicht voll verstehen können, ohne sie mit dem Blick an ihrem Ort aufzusuchen.« Merleau-Ponty 1966, 370. Vgl. Seewald 1992, 48. Vgl. Seewald 1992, 48. Seewald 1992, 48f. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 94f. Merleau-Ponty 1966, 95.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Etwas konstante, relativ kontextunabhängige Eigenschaften zuschreiben und es somit überhaupt als etwas beziehungsweise als »Ding« bezeichnen.312 Die Wahrnehmung eines Gegenstandes ist dabei jedoch immer eine perspektivische. Für die Seiten eines Gegenstandes, die sich aufgrund unserer perspektivischen Wahrnehmung vor uns verbergen, die wir uns aufgrund unserer Erfahrung mit den Dingen jedoch vorstellen können, übernimmt Merleau-Ponty von Husserl den Begriff der Abschattung.313 Im Gegensatz zu Husserl hält er diese verborgene Ansicht jedoch nicht für eine »bewusste wahrnehmbare Möglichkeit« oder »logische Notwendigkeit«,314 sondern für eine Syntheseleistung des Leibes. Dadurch bleibt die Gesamtstruktur eines Dinges gleich, egal aus welcher Perspektive ich den Gegenstand betrachte. Sie habe den Wert einer »intersubjektiven Wahrheit«.315 Diese ließe sich jedoch nie losgelöst von der subjektiven Wahrnehmung betrachten. Springstübe macht daher auch in diesem Zusammenhang, mit Bezug auf Merleau-Pontys Struktur des Verhaltens, auf das Prinzip der Ambiguität aufmerksam: »Auch die Wahrnehmung besitzt also eine ›doppeldeutige Struktur‹ (frz.: structure ambiguë). Einerseits ist sie eine individuelle Perspektive auf die Welt, andererseits bietet nur sie uns einen Zugang zur Welt der ›interindividuellen Bedeutungen‹.«316 Trotz unserer unterschiedlichen individuellen und perspektivischen Wahrnehmungen sind wir dazu in der Lage, uns interindividuell auf die Existenz verschiedener Gegenstände oder Phänomene zu einigen. Ein Beispiel hierfür wäre, dass wir uns auf den Farbton Rot einigen können und diesen gemeinsam feststellen, obwohl es zwangsläufig die verschiedensten Wahrnehmungen dieses Farbtons geben muss. Generell gehen wir, wenn wir von einer intersubjektiv geteilten Wahrnehmung von Dingen und Phänomenen sprechen, so Waldenfels, von ›normalen‹ Bedingungen der Wahrnehmung, einer normalen Situation sowie einer normalen leiblichen Verfasstheit des Wahrnehmenden aus.317 Eine Tomate kann also unreif, auch grün sein, ihre Farbe unter unüblicherem als dem normalen Tageslicht auch anders wirken, und trotzdem nehmen wir sie als Tomate wahr. Husserl beschreibt dieses Phänomen mit dem Begriff der »Orthoästhesie«.318 Er meint damit die rechte oder richtige Wahrnehmung. Sie wird von der kulturellen Umwelt, der Lebenswelt, geprägt. Wir nehmen die Dinge in der Regel so wahr, wie wir sie für ideal halten und dementsprechend ihr Erscheinen gewohnheitsmäßig erwarten. Waldenfels spricht hier auch von »Idealwerten«, die aber nicht mit dem, was wirklich gegeben ist, übereinstimmen müssen. »Alles, was den Dingen, die wir sehen, Größenkonstanz, Farb312 313 314 315 316 317 318

Vgl. Waldenfels 2000, 97. Vgl. Springstübe 2013, 36. Springstübe 2013, 36f. Springstübe 2013, 37. Springstübe 2013, 37. Vgl. Waldenfels 2000, 98. Husserl 1993b, 173.

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konstanz, Formkonstanz verleiht, sind eigentlich nur Idealwerte, die nie wirklich auftreten.«319 Seit langer Zeit spricht man in der Psychologie in diesem Zusammenhang von einer »Konstanzannahme«.320 Diese wird jedoch von den Phänomenologen321 kritisiert. Merleau-Ponty rät dazu, nicht von einer konstant gegebenen Wirklichkeit auszugehen, sondern wieder stärker zurückzugehen auf die je individuelle Erfahrung. Denn aus phänomenologischer Sicht gehört das, was sich nicht genau bestimmen und deuten lässt, genauso zur Welt wie die gemeinsam geteilte Erfahrung. So nimmt Waldenfels stattdessen an, »daß das Unbestimmte und Vielfältige keine subjektive Verformung darstellt, sondern daß es eine positive Unbestimmtheit gibt.«322 Dies berührt letztlich wiederum die Frage nach dem Wahrheitsgehalt unserer Wahrnehmung. Wie bereits erwähnt, geht Merleau-Ponty davon aus, dass wir das, was wir wahrnehmen, für tatsächlich gegeben halten. Er geht so weit zu behaupten, dass das, was wir wahrnehmen, auch in gewisser Weise wahr ist; dies sogar, wenn es sich zunächst um Irrtümer handelt, die wir später korrigieren. Er hält die Wahrnehmung somit für eine »Bewegung zur Wahrheit hin.«323 Der Begriff der Bewegung unterstreicht hierbei, dass Wahrheit als etwas Dynamisches verstanden werden sollte. So gesehen sind auch die Dinge für uns in ihrer Bedeutung und ihrem Sinngehalt stets in einem Werden begriffen. Denn der phänomenologische Blick hinterfragt, regt zur Veränderung von Strukturen, zur Erfahrungsbewegung an.

3.2.5.3

Zusammenfassung: von der ursprünglichen Erfahrung von Sinn und Bedeutung zum objektiven Denken

Wesentlich für die phänomenologische Erkenntnishaltung ist, dass wir es beim Empfinden und all unserem ursprünglichen Sein zur Welt immer schon mit Sinn und Bedeutung zu tun haben. Nach Merleau-Ponty können wir uns nicht zur Welt verhalten, ohne dass es von Sinn ist. Wir sind regelrecht »verurteilt zum Sinn«.324 Diese ursprüngliche Sinnfindung erfolgt durch unseren Leib. Als »Organ einer ursprünglichen Sinnbildung«325 tritt er mit der Welt in Kommunikation und erschließt Sinn auf einer vorreflexiven Ebene.326 Dabei zeigt Sinn sich schon in der Weise, wie sich die Dinge unserem Leib darbieten. Ohne dass wir diese bereits 319 Waldenfels 2000, 55. 320 Waldenfels 2000, 55. 321 Hier sind insbesondere Husserl, Merleau-Ponty und, an sie anknüpfend, Waldenfels gemeint. 322 Waldenfels 2000, 56. 323 Springstübe 2013, 40, mit Bezug auf Merleau-Ponty 1966, 449. 324 »Zur Welt seiend, sind wir verurteilt zum Sinn, und nichts können wir tun oder sagen, was in der Geschichte nicht seinen Namen fände.« Merleau-Ponty 1966, 16. 325 Waldenfels 2010a, 168. 326 Vgl. Seewald 1992, 17.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

bewusst steuern, erschließen wir uns leiblich Sinnstrukturen ganz grundlegend durch Bewegungen und Bewegungserfahrungen.327 Hierbei spielt das Phänomen der Intentionalität eine entscheidende Rolle, denn unser Zur-Welt-Sein ist immer schon intentional. Daher ist der Begriff der Intentionalität wichtig im Zusammenhang mit der Generierung eines phänomenologischen Verstehensbegriffs. »Wahrgenommene Dinge, Ereignisse in der Geschichte oder philosophische Lehren ›verstehen‹ heißt die Totalintention erfassen: nicht allein das, was etwas in der Vorstellung ist, die ›Eigenschaften‹ der wahrgenommenen Dinge, die Masse ›historischer Fakten‹, die ›Ideen‹ der philosophischen Lehren, sondern die einzigartige Weise des Seins, die je sich ausdrückt in den Beschaffenheiten des Kiesels, des Glases oder des Wachsstückes, in all den Tatsachen einer Revolution, in allen Gedanken der Philosophen.«328 Eine, wie Merleau-Ponty es beschreibt, »Totalintention zu erfassen« ist demnach nur möglich, wenn wir zunächst zur »Beschaffenheit des Kiesels« zurückkehren. Wie bereits dargelegt, beginnt nach dem Prinzip der phänomenologischen Reduktion alles Erkennen mit einer Rückkehr hin zum Erleben des eigentlichen Phänomens. Durch eine vielfältige intentionale Auseinandersetzung mit dem Phänomen entwickeln wir schließlich die Idee eines relativ konstanten Dinges. Wie sich uns der Gegenstand zeigt, ist dabei von der Art und Weise unseres intentionalen Gerichtetseins auf diesen Gegenstand abhängig.329 Waldenfels bezeichnet Intentionalität daher insgesamt auch als »Woraufhin eines Verhaltens oder Erlebens«.330 Beim intentionalen Gerichtetsein auf die Welt bilden Empfindungen »Bewusstseinsinhalte« und sind aus diesem Grund wesentlich bei der »Konstitution«331 von Dingen beteiligt. Wenn wir die Dinge erkennen, weil sie für uns wiederkehren, bewegen wir uns, so Waldenfels mit Bezug auf Merleau-Ponty, auf der Stufe der Lebenswelt.332 Hier spricht man nicht mehr vom Empfinden, sondern vom Wahrnehmen. Die Dinge erscheinen uns auf dieser Stufe, aufgrund unserer Erfahrungen, schon in bestimmter Weise, als interpretiert. Wir betrachten das Ding als etwas, was konstante Eigenschaften hat und somit für uns relativ kontextunabhängig existiert.333 Diese relativen Konstanten beziehen sich auf »normale Situationen und normale Kontexte«334 unserer jeweiligen Lebenswelt.

327 328 329 330 331 332 333 334

Vgl. Koßler/Prechtl 2008, 333. Merleau-Ponty 1966, 15. Vgl. Waldenfels 1992, 16. Waldenfels 2000, 367. Vgl. Oberhaus 2006, 89f. Vgl. Waldenfels 2000, 100. Vgl. Waldenfels 2000, 97. Waldenfels 2000, 98.

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Nachdem wir die Dinge einem Abstraktionsverfahren unterzogen haben, erkennen wir sie, auf der letzten Erkenntnisstufe, als Gegenstände. Unabhängig von der eigenen Umwelt und unserer subjektiven Verfassung schreiben wir den Gegenständen dabei Prädikate zu.335 Während unser Wahrnehmungsurteil zum Ausdruck bringt, was für uns, also subjektiv wahr ist, handelt es sich, im Sinne Immanuel Kants, auf der Stufe des Erkennens um das sogenannte Erfahrungsurteil. Hier wird, nach Waldenfels, der sich auf Kant bezieht, »der Versuch gemacht, über die Gegenstände so zu sprechen, wie sie sich für jedes erkennende Wesen bestimmen.«336 Er spricht hier auch von einer »Natur an sich«.337 Von der Physik zum Beispiel, so Waldenfels, sagen wir nicht, es gäbe eine deutsche, chinesische oder amerikanische Physik, sondern meinen die Physik ›an sich‹.338 Erst erleben wir die Dinge, wie sie ›für uns‹, und später, wie sie ›an sich‹ sind.339 Sinn solcher Universalität ist die »Überschreitung von Situationen und Kontexten.«340 Kinder sind, so Waldenfels, in der Zuschreibung von konstanten Eigenschaften und Prädikaten noch offener als Erwachsene. Daher beschreibt er das Erwachsenwerden auch als »eine Vereindeutigung der Welt. Die Gegenstände werden identisch besetzt mit präzisen Funktionen und büßen damit ihre Polyvalenz ein, die sich in unseren Träumen zurückmeldet oder im Formenspiel der Kunst geduldet wird. Der Rückgang zur Wahrnehmung bedeutet deshalb den Rückgang zu einer Welt, in der die Dinge noch vieles bedeuten können.«341 Insgesamt, so lässt sich feststellen, geht es der Phänomenologie darum aufzuzeigen, dass es zwar eine Entwicklung vom Empfinden zum Erkennen gibt, die man unter anderem als Leistung des Menschen gegenüber dem Tier hervorheben kann. Sie regt jedoch an, Denkbewegungen in diese Richtung nicht lediglich als Fortschritt zu bewerten. Denn mit dem Hinbewegen zum Allgemeinen geht auch etwas von dem verloren, was uns die Dinge ganz grundlegend bedeuten. Sie sieht eine Gefahr darin, dass wir die Dinge für selbstverständlich halten und nicht mehr hinterfragen, also von ›ewigen Wahrheiten”342 ausgehen. Und auch wenn Waldenfels den Weg vom Empfinden über das Wahrnehmen hin zur Erkenntnis als die drei Stufen der Sinnlichkeit343 beschreibt, vergisst er nicht zu erwähnen, dass es der

335 336 337 338 339 340 341 342 343

Vgl. Waldenfels 2000, 99. Waldenfels 2000, 100. Waldenfels 2000, 100. Vgl. Waldenfels 2000, 100. Vgl. Waldenfels 2000, 105. Waldenfels 2000, 107. Waldenfels 2000, 106. Good 1998, 39, mit Bezug auf Merleau-Ponty 1966, 36. Vgl. Waldenfels 2000, 95ff.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Phänomenologie dennoch darum geht, »den Sinnen den Geruch des bloß Subjektiven zu nehmen«.344 Vor allem die erste Stufe, für die Merleau-Ponty den Begriff »Vorwelt«345 verwendet, wird als grundlegend betrachtet, denn alle Erkenntnis beginnt zunächst damit, dass die Phänomene und später Dinge etwas für mich bedeuten. Diese erste Stufe, in der wir es mit »Ausdrucksqualitäten«,346 nichtdinghaften und nichtabzählbaren Eigenschaften zu tun haben (wie beispielsweise die Elemente Wasser und Luft), geht, so Merleau-Ponty, der Welt, die der Mensch mit seinen Werken gestaltet hat, noch voraus.347 Die ursprüngliche Wahrnehmung stiftet erst die Erkenntnis. »In dieser Stiftung liegt ihre wesentliche Funktion im Ganzen der Erkenntnis und als solche ist sie Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis.«348 Nach Merleau-Ponty darf die schlichte Beschreibung des Phänomens nicht übergangen werden, da mit ihr der Weg hin zur Erkenntnis überhaupt erst beginnt. Er plädiert für eine offene Haltung den Dingen und der Welt gegenüber, die den Dingen eine letzte Unbestimmtheit lässt. Daraus ergibt sich auch sein kritischer Umgang mit dem Sprachbegriff, der im Folgenden in den Fokus der Betrachtung gerückt werden soll.

3.3 Der Leib, die Sprache und das Sprechen Zur Sprachtheorie Merleau-Pontys 3.3.1

Sprache aus phänomenologischer Sicht – die sprechende und die gesprochene Sprache bei Merleau-Ponty

Merleau-Ponty versteht Sprache als einen leiblichen Ausdruck. Er setzt diesen mit dem Tun, Denken und der Gebärde gleich. Auch wenn im Zusammenhang mit Merleau-Pontys Sprachtheorie des Öfteren von ›Sprache‹ die Rede ist, so ist im Wesentlichen das Sprechen beziehungsweise die Sprachlichkeit des Leibes gemeint. Entsprechend der phänomenologischen Erkenntnishaltung interessiert MerleauPonty die Sprache im Hinblick auf das Wie des menschlichen Weltverhältnisses und -verstehens. Daher führt die Untersuchung des Bereiches der Sprache zur Beschreibung des Prozesses des Sprechens an sich. Merleau-Ponty hat dem Phänomen des Ausdrucks und der Sprache in seinen Werken immer wieder besondere Aufmerksamkeit geschenkt, auch wenn seine Auseinandersetzung mit dem Leibbegriff deutlich umfangreicher ausfällt. Leonardo Verano Gamboa zufolge erhebt Merleau-Ponty die Sprache zum eigentlichen 344 345 346 347 348

Waldenfels 2000, 95. Merleau-Ponty 1966, 373. Waldenfels 2000, 96. Merleau-Ponty 1966, 372ff. Merleau-Ponty, zitiert nach Good 1998, 39.

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Thema der Philosophie. Da die Philosophie nach der Wahrheit fragt, also untersucht, wie wir die Welt sehen, muss auch das Erfassen der Welt durch unsere Sprache untersucht werden. Denn sie ist es, die uns hilft, die Welt zum Sprechen zu bringen.349 Wie für die Wahrnehmung fordert Merleau-Ponty auch für die Sprache einen Rückgang auf den Boden der Lebenswelt.350 »Hier handelt es sich um einen Rückgang von der objektiven Sprachbetrachtung zu den gelebten Vollzügen des Sprechens […]. Denn bevor wir die Sprache als gliederungsfähiges Objekt vor uns haben, leben wir sprechend in ihr, bzw. spricht die Sprache in uns.«351 Merleau-Ponty spricht in Die Prosa der Welt auch von »stummen Worten«,352 in denen das Sein uns zeigt. Wenn wir versuchen in Worte zu fassen, was gesagt werden möchte, so sind diese Worte im Bereich des Unaussprechlichen immer schon da gewesen. »Mag er nun mythisch oder intelligibel sein, es gibt einen Ort, wo alles, was ist oder sein wird, sich gleichzeitig darauf vorbereitet, gesagt zu werden.«353 Unser Sprechen wird, so sagt Merleau-Ponty, getrieben von der illusorischen Vorstellung, dass es für etwas Seiendes genau den einen richtigen sprachlichen Ausdruck gibt, der das Schweigen der Dinge in ein Sagen verwandelt. Auch als »Berufsglauben« des Schriftstellers bezeichnet, umschreibt er dieses Phänomen am Beispiel der Namensgebung: »Es kommt uns so vor, als könnten unsere Freunde, so wie sie sind, nicht anders heißen, so als hätte man, als man ihnen einen Namen gab, nur das entziffert, was sich wegen ihrer Augenfarbe, ihres Gesichtsausdrucks, ihrer Gangart aufdrängte – einige nur sind schlecht benannt und tragen ihr ganzes Leben lang wie eine Perücke oder eine Maske einen trügerischen Namen oder ein Pseudonym«.354 Im Vorwort zum Spätwerk des französischen Philosophen, Die Struktur des Verhaltens, vergleicht Waldenfels das Sprechen auch mit einem Tun was einmal mehr die Lebendigkeit und den Handlungscharakter von Sprache, im Sinne des MerleauPonty’schen Sprachbegriffs, unterstreicht. Merleau-Ponty stellt sich Sprache nicht als etwas vor, das fertig und geschlossen ist. Sprache sei vielmehr als »fungierende« und »gelebte«355 zu verstehen. »Sprechen bedeutet für Merleau-Ponty, wie übrigens auch schon das Wahrnehmen, ein mannigfaltiges Tun, das nicht bloß wiedergibt,

349 »Wenn es wahr ist, dass die Welt da ist, so wie wir sie sehen, dann ist nicht weniger wahr, dass die Philosophie ›sagen‹ soll, was dieses Sehen bedeutet«. Gamboa 2012, 23. 350 Zum phänomenologischen Begriff der Lebenswelt siehe Kapitel 2.1.2.2. 351 Bucher 1991, 140; Herv. im Original. 352 Vgl. Merleau-Ponty 1984, 30. 353 Merleau-Ponty 1984, 29. 354 Merleau-Ponty 1984, 30. 355 Waldenfels 1984, 7.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

sondern etwas zuwege bringt, eröffnet, verändert, anordnet.«356 Sprache kehrt bei Merleau-Ponty zurück zum sprechenden Subjekt. Um die Funktion der Sprache, im handelnden Vollzug sinnvolle Bezüge zwischen Ich und Welt zu stiften, hervorzuheben, trifft Merleau-Ponty eine Unterscheidung zwischen sprechender und gesprochener Sprache.357 Die sprechende Sprache bindet das Sprechen unmittelbar zurück an den leiblichen Ausdruck, an die »Sprachgeste«.358 Während es sich bei der gesprochenen Sprache um die Verwendung und den Austausch intersubjektiv geteilten Sinns,359 also um sozial und kulturell gesetzte, übermittelte wortsprachliche Bedeutungen, handelt, meint er mit der sprechenden Sprache einen verstehend handelnden Lebensvollzug durch Sprache. In der Phänomenologie der Wahrnehmung erläutert er diesen Unterschied am Beispiel der Aphasie. Bei dieser durch eine Hirnschädigung hervorgerufenen Sprachstörung ist der Kranke nur noch in der Lage, auf automatisiertes Sprechen zurückzugreifen. Das heißt, er kann gewohnheitsmäßig oft verwendete Wörter oder Floskeln wiedergeben. Dies jedoch nur, solange er nicht angehalten wird, diese zu hinterfragen oder auf eine bestimmte Situation neu anzuwenden. »Was der Normale besitzt und der Kranke verloren hat, ist nicht ein bestimmter Wortvorrat, sondern eine bestimmte Weise, sich dieses ›Vorrats‹ zu bedienen. Dasselbe Wort, das auf der Ebene automatischen Sprechens dem Kranken durchaus zur Verfügung steht, entzieht sich ihm auf der Ebene ungebundenen Sprechens. […] Man unterscheidet das Wort als Werkzeug des Handelns vom Wort als Mittel desinteressierter Benennung.«360 Man kann also auch sagen, im genannten Beispiel ist dem Kranken das intentionale Sprechen (der sprechenden Sprache) abhanden gekommen. Die beiden von Merleau-Ponty eingeteilten Sprachtypen lassen sich auch hinsichtlich ihrer Nähe zum leiblichen Ausdruck unterscheiden. Während die sprechende Sprache direkt mit einer leiblichen Geste oder einer leiblichen Gebärde verglichen werden kann,361 hat sich die gesprochene Sprache als begriffliche Ablagerung ehemals sprechender Sprache vom ursprünglichen leiblichen Ausdruck entfernt.362 Aus dieser Entfernung sind wir Menschen auch in der Lage, über Sprache sprechend zu reflektieren und »kontextungebundene instituierte Auffassungen

356 357 358 359 360 361 362

Waldenfels 1984, 7. Vgl. Gamboa 2012, 11. Meyer-Drawe 1987, 203, mit Bezug auf Waldenfels. Vgl. Meyer-Drawe 1987, 205. Merleau-Ponty 1966, 208. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 218. Vgl. Springstübe 2013, 61.

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zu wiederholen.«363 Daher lässt sich mit Merleau-Ponty schlussfolgern: Die gesprochene Sprache geht aus der sprechenden Sprache hervor. Nach Liliane Grams kann aber auch die sprechende aus der gesprochenen Sprache entstehen. Denn die gesprochene Sprache regt zum Sprechen an, indem sie uns Worte als Werkzeuge bereit hält. »Diese sprechende Sprache muß sich auf die gesprochene Sprache stützen, um einen noch unformulierten Gedanken zunächst durch die verfügbaren Bedeutungen aufgreifen und verbalisieren zu können, und die gesprochene Sprache, die selbst das Produkt der sprechenden Sprache ist, muß sich auch weiterhin auf diese beziehen, wenn sie den Status einer lebendigen Sprache bewahren soll.«364 Dass sich die beiden Sprachtypen gegenseitig bedingen, gibt Grams jedoch auch Anlass zur Kritik an der so von Merleau-Ponty vorgenommenen Einteilung von sprechender und gesprochener Sprache. Sie bezweifelt, dass eine klare Trennung überhaupt möglich ist, räumt aber auch ein, dass man durch eine solche Trennung dem Wesen der sprechenden Sprache überhaupt erst näher kommen kann.365 Mit Blick auf das Wesen der sprechenden Sprache lässt sich etwa besonders gut erläutern, wie Leib und Sprache miteinander verwoben sind. Daher soll hier noch kurz der Frage nachgegangen werden, wie es überhaupt dazu kommt, dass wir etwas sagen wollen und letztlich im Sprechen der sprechenden Sprache zum Ausdruck bringen. Grams beschreibt die Intention des Sprechens mit Bezug auf Merleau-Ponty als ein Ausgleichenwollen eines Mangels. Hierzu sei ein »existentieller Anstoß« im Leben des leiblichen Subjektes vonnöten, bei dem es plötzlich einen »Überschuß an Sinn«366 empfinde. Gemeint ist damit, dass das Subjekt etwas erlebt, das es als in Sprache noch nicht oder nicht ausreichend übertragen empfindet.367 Das Artikulieren neuer Gedanken komme, so Merleau-Ponty, nur der sprechenden Sprache zu. In ihr formten sich auch Bedeutungen von Neuem. Waldenfels spricht mit Bezug auf Merleau-Ponty auch von »Bedeutungsintentionen«.368 Wird das Sagenwollen auch auf die zunächst ›stummen‹ Dinge übertragen, so wird aus einem Sagenwollen des Subjekts ein Bedeutenwollen der Dinge.369 Hier wird deutlich, dass das Sprechen aus phänomenologischer Sicht aus einem Wechselverhältnis zwischen dem Sprechen des schöpferisch wahrnehmenden Subjekts und den dem Subjekt als

363 364 365 366 367 368 369

Meyer-Drawe 1987, 214. Grams 1978, 58f. Vgl. Grams 1978, 58f. Grams 1978, 68. Vgl. Grams 1978, 68. Waldenfels 1976, 25. Vgl. Grams 1978, 68f., mit Bezug auf Waldenfels und Merleau-Ponty.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Aufforderung und Sprachanlass begegnenden Herausforderungen durch die Dinge entspringt.370 Das Sagenwollen des Subjektes wird außerdem, so Waldenfels, immer wieder von Neuem dadurch angeregt, dass es keine genaue Überführung von Ausdrucksinhalten in das Medium der Sprache geben kann. Dass wir die erlebten Phänomene nur unvollständig mit dem Mittel der Wortsprache beschreiben können, lässt uns den besagten Überschuss empfinden, so Waldenfels. Dieser kann auch durch die Sprache selbst erzeugt werden, indem sie mehr sagt, als das Subjekt zunächst zu sagen beabsichtigt. Das Phänomen des Überschusses bedeute zudem den Motor unserer sprachlichen Kommunikation. »Die Nichtkoinzidenz von Gemeintem, Gelebtem und Gesagtem, die Inadäquation von Ausgedrücktem und Ausdruck hält die Sprache in Bewegung. Dabei ergibt sich, genauer gesagt, ein wechselseitiger Überschuß: was man sagen will, kann über das hinausgehen, was man sagt, und was man sagt, kann über das hinausgehen, was man sagen will.«371 Grams schreibt letztlich der Leibtheorie Merleau-Pontys die Möglichkeit zu, die Sinngenese von begrifflichen Bedeutungen in der sprechenden Sprache zu verorten. Im Sprechen als leiblichem Zur-Welt-Sein bildet sich Sprache heraus, wird Denken durch Sprechen vollzogen. Merleau-Ponty selbst wählt für seine philosophischen Untersuchungen bewusst eine metaphorische Schreib- und Ausdrucksweise. Nur so wird er seinem eigenen Anspruch gerecht, dass Sprache zunächst auf unsere zugrunde liegenden existentiellen Wahrnehmungserfahrungen zurückgehen muss. Die phänomenologische Philosophie untersucht Wahrnehmungsprozesse und versucht damit einen Bereich sprachlich zu fassen, der vor der Sprache anzusiedeln ist. Ein bildhafter, eher bedeutungsoffener sprachlicher Ausdruck kommt dem Sein der noch ›stummen‹ Dinge hierbei näher als das gesetzte Wort der gesprochenen Sprache. Denn die Phänomene sollen durch ihre Beschreibungen einen Erlebnischarakter verliehen bekommen, so erscheinen, wie sie sich dem forschenden Blick zeigen. Die Verwendung von Metaphern ist bei Merleau-Ponty daher nicht lediglich als ein Verwenden literarischer Figuren, sondern eine philosophische Methode zu verstehen.372

370 Dass aus phänomenologischer Sicht Prozesse der Weltaneignung oftmals als solche responsiven Wechselverhältnisse verstanden werden, macht Waldenfels deutlich, indem er in verschiedenen Zusammenhängen auch von »Antwortgeschehen« spricht, so besonders in Waldenfels 2007. 371 Waldenfels 1976, 25. 372 Vgl. Gamboa 2012, 29.

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3.3.2

Sprechen als Denken

Gamboa verweist mit Bezug auf Merleau-Ponty auf das Prinzip der Zirkularität zwischen Sinn und Sprache: Sinn sei dort gegeben, wo es etwas zu sagen gibt.373 Er findet sich demnach nicht »jenseits« von Sprache, sondern gilt als »die Möglichkeit der Sprache selbst«.374 Er tritt nicht als bloßer Akt des Bewusstseins hervor, sondern hat seinen Ursprung im »vorprädikativen Sein der wahrnehmenden Erfahrung.«375 Nach Merleau-Ponty ereignet sich Sinn für uns bereits im Bereich der Wahrnehmung. Um ihn für uns greifbar zu machen, sprechen wir aus, was uns als sinnhaft erscheint. Wenn Merleau-Ponty, wie weiter unten noch erläutert wird, das Sprechen als Denken beschreibt, meint er damit, dass wir sprechend nicht schon fertige Gedanken hervorbringen, sondern sich der Gedanke erst durch unser Sprechen formt.376 Er macht damit deutlich, wie untrennbar Sprache und Denken zusammengehören. Sprache, die er als schöpferisch versteht, nimmt Bezug auf unsere ursprüngliche Wahrnehmungserfahrung. Den in ihr liegenden Sinn betrachtet er als Sinn unserer wahrnehmenden Erfahrung und nicht als einen »instituierten Sinn, der durch die Tradition gestiftet wird.«377 Somit wird die ursprüngliche Wahrnehmungserfahrung als ein spontanes Sinnereignis378 gesehen. »Die Wahrnehmung eines Dinges ist das Verständnis seines Sinnes […] Sinn taucht in dem Moment der Wahrnehmung selbst auf.«379 Der Akt der Wahrnehmung ist bedeutsam für das Sprechen. Denn Sinn existiert nach Merleau-Ponty nicht, bevor wir ihn wahrnehmen, und nicht erst, wenn wir das Wahrgenommene intellektuell verarbeiten.380 Sinn ergibt sich vielmehr in der Weise, wie sich das Sinnliche uns darbietet.381 Anstoß des Sprechens ist also das Erleben von Sinn in der Wahrnehmung. Das ursprüngliche Sprechen sei somit nicht als bloße Wiedergabe fertiger Gedanken zu verstehen, sondern mit dem Denken identisch. Denn durch das Sprechen forme sich erst der Gedanke.382 Wäre das Denken dem Sprechen vorgängig, bliebe ungeklärt, so Merleau-Ponty, was uns zum Sprechen bewege. »Setzte die Sprache das Denken voraus, hieße Sprechen zunächst, durch Vorstellungen oder Erkenntnisintentionen sich zum Gegenstand in Beziehung setzen, 373 374 375 376 377 378 379 380

Vgl. Gamboa 2012, 29ff. Gamboa 2012, 30. Gamboa 2012, 31. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 211. Gamboa 2012, 52; Herv. im Original. Vgl. Gamboa 2012, 52. Gamboa 2012, 67. In diesem Punkt kritisiert Merleau-Ponty den Intellektualismus: Sinn wird nach seiner Vorstellung zuvorderst leiblich erfahren, ist nicht erst Akt des Bewusstseins. Vgl. Prechtl 2006, 161. 381 Vgl. Prechtl 2006, 157. 382 Vgl. Merleau-Ponty 1966, 211, 232.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

so bliebe unverständlich, wieso alles Denken im Ausdruck gleichsam seine Vollendung sucht, warum der vertrauteste Gegenstand uns unbestimmt bleibt, solange wir seinen Namen nicht finden.«383 Der traditionellen Auffassung von Sprache stellt Merleau-Ponty also ein »Denken in der Sprache« gegenüber:384 »Ich spreche nicht von meinen Gedanken, sondern ich spreche sie aus.«385 In der Sprachtheorie Merleau-Pontys bedeutet Sprache nicht mehr Gegenstand des Denkens, sondern wird als ›lebendige‹ Sprache »in statu nascendi«386 , als ein Sprechen begriffen. Dabei wird aus phänomenologischer Sicht auch die begriffliche Bedeutung eines Wortes erst durch das Wort selbst hervorgebracht: »Und so muß denn hier der Sinn der Worte letzten Endes durch die Worte selber hervorgebracht sein, oder vielmehr genauer, deren begriffliche Bedeutung sich bilden auf Grund und aus ihrer gestischen Bedeutung, die ihrerseits der Sprache selbst immanent ist.«387 Dass sich im Sprechen die begriffliche Bedeutung eines Wortes bildet, gilt, so Meyer-Drawe, für die durch ein Kind erstmals ausgesprochenen Worte genauso wie für die schöpferisch verwendeten Worte eines Poeten.388 Ihr zufolge bleiben die Spracherwerbstheorien von Burrhus Frederic Skinner, Noam Chomsky und Jean Piaget Erklärungen schuldig, da sie auf die interaktive Situation, in der Sprache erlernt wird, kaum verweisen. So können sie nicht erklären, warum sich lexikalisches Wissen bei Kindern so explosionsartig steigert.389 Dies hält sie für ein eindeutiges Indiz dafür, dass Denken und Sprechen zusammengehören. Bereits Lew Semjonowitsch Wygotski übte mit seiner Schrift Denken und Sprechen Kritik an Piaget und behauptete: »Das Vorhandensein eines Begriffs und das Bewußtsein von diesem Begriff decken sich nicht […] Die Analyse der Wirklichkeit mit Hilfe von Begriffen entsteht bedeutend früher als die Analyse der Begriffe selbst.«390 Bedeutet dies im Umkehrschluss auch, dass begriffliche Bedeutungen zwingend an Sprache gebunden sind? Die Genese von Begriffen wird durch die Phänomenologie (und insbesondere durch Merleau-Ponty) mit einer Auffassung von Sprache verknüpft, nach der die Sprache als mit dem Leib untrennbar verbunden betrachtet wird. Demnach ist die Sprache der Leib des Denkens391 beziehungsweise das Wort so etwas wie ein »Wahr-

383 Merleau-Ponty 1966, 210. 384 Vgl. Merleau-Ponty 1966, 213ff. Auch hier zielt er auf eine Überwindung von Dualismen, indem er von einer Verflechtung, einem Chiasmus des Denkens und der Sprache ausgeht. 385 Bucher 1991, 139, mit Bezug auf Merleau-Ponty; Herv. im Original. 386 Merleau-Ponty 1966, 232. 387 Merleau-Ponty 1966, 212f.; Herv. im Original. 388 Vgl. Meyer-Drawe 1987, 205. 389 Vgl. Meyer-Drawe 1987, 198. 390 Wygotski 1977, 158; Herv. im Original. 391 Vgl. Gamboa 2012, 78.

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zeichen oder Leib des Denkens«.392 Merleau-Ponty gemäß kann es, so fasst Gamboa zusammen, »keinen reinen Gedanken ohne Sprache geben, währenddessen ein bloß reflexives Denken ein Denken »ohne Leib«393 sei. Demnach plädiert er für »das Denken eines leiblichen ›Zur-Welt-seins‹«.394 Gemeint ist hiermit eine neue Konzeption des Denkens, als Chiasmus – als eine »Verflechtung, die unsere ursprüngliche Verbindung mit der Welt ausmacht – zwischen dem Berühren und dem Berührten, dem Empfinden und dem Empfundenen, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren – […], zwischen dem Sagen und dem Gesagten, dem Sprechen und dem Gesprochenem.«395 Der Verflechtung von Sprechen und Denken liegt das neue Verständnis von Bewusstsein bei Merleau-Ponty zugrunde. Der Bewusstseinsbegriff berührt wiederum den Begriff der Erfahrung, da das Erlebnis von Sinn uns durch Sprache bewusst und damit zu einer Erfahrung des Sinnes wird. Merleau-Ponty verknüpft den Erfahrungsbegriff eng mit dem sinnerschließenden, reflektierenden Verhalten des Subjektes. Bewusstsein versteht er dabei als einen Modus des Verhaltens, der Erfahrung. Unser Verhalten steht demnach in bedeutsamer Beziehung zu unserem Bewusstsein.396 Gamboa schließt hieraus, dass es für Merleau-Ponty »weder eine Reflexion ohne leibliche Erfahrung noch eine reine Erfahrung ohne ›Reflexion‹«397 gibt. »Man kann mit Merleau-Ponty sagen, dass das Wort schon beim Kind beginnt, Verhalten zu sein, weil das Wort selbst eine ›Erfahrung der Sprache‹ ist und eben nicht etwas rein Gedachtes.«398 Darja Springstübe fehlt jedoch in Merleau-Pontys Sprachphilosophie, dass er nicht von einem »theoretischen Sprachbewusstsein« ausgeht. »Ein theoretisches Sprachbewusstsein im Sprechen findet in Merleau-Pontys Philosophie keinen Platz. Wenn er den Vorgang des Denkens thematisiert, dann beschreibt er ihn nicht als geistige Tätigkeit, sondern als das initiierende Moment des Ausdrückens. Demnach stellt Denken den Beginn einer leiblichen Handlung dar, ist für sich unvollständig und findet erst ›im Ausdruck gleichsam seine Vollendung‹«.399 Das Denken, das für Merleau-Ponty aus einem »ursprünglichen Schweigen«400 entspringt, sei gleich einer »Bedeutungsintention« und als diese Auslöser des Sprechens.401 Durch das Ausklammern eines theoretischen Bewusstseins bei 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401

Merleau-Ponty 1966, 216. Gamboa 2012, 32. Gamboa 2012, 32; Herv. im Original. Gamboa 2012, 32. Vgl. Gamboa 2012, 41. Gamboa 2012, 41. Gamboa 2012, 41f. Springstübe 2013, 66, mit Bezug auf Merleau-Ponty 1966, 210. Merleau-Ponty 1966, 218. Vgl. Springstübe 2013, 66f.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Merleau-Ponty, so die Kritik Springstübes, käme Sprache jedoch als komplexes System nicht angemessen zur Darstellung. Seine Kritik am Intellektualismus schösse, so Springstübe, damit übers Ziel hinaus. »Denn die Komplexität der Sprache – zugleich als System und als vollzogener Sprechakt – lässt sich nur beschreiben, wenn sowohl die leibliche als auch die begriffliche Wortbedeutung berücksichtigt werden.«402 Im Kapitel 5 soll mit Bezug auf die Symboltheorie Cassirers und Langers eruiert werden, wie im Hinblick auf diese Kritik die Sprachtheorie Merleau-Pontys weitergedacht beziehungsweise ergänzt werden kann. In der Tat erweckt es bei Merleau-Ponty den Anschein, als würde er eine Sprache, die sich als eigenes Begriffssystem versteht und an deren Logik sich das Subjekt im verstehenden Umgang mit den Dingen orientieren kann, fast ausklammern. Die gesprochene Sprache der »ausgesprochenen Welt«403 scheint für ihn eher das ungeliebte Stiefkind zu sein. Seine etwas provokante Schwerpunktsetzung auf den schöpferischen Aspekt von Sprache bewirkt jedoch – und hierin sehe ich den Hauptverdienst seiner Sprachtheorie – ein Aufmerksamwerden auf unseren selbstverständlichen und unhinterfragten Umgang mit Sprache. Er warnt uns davor, die Kontingenz unserer zwischenmenschlichen Verständigung und unseres sprachlichen Ausdrucks zu übersehen, indem wir an die letzten und richtigen Worte glauben. Dabei kann das ›ursprüngliche Schweigen‹ der Dinge nie in einen endgültigen sprachlichen Ausdruck überführt, nie gänzlich alle Dunkelheit durch den Lichtstrahl der Worte erhellt werden. Das Nachdenken über die Welt setzt bei Merleau-Ponty früher an. Es ist kein Denken in schon fertigen Begriffen, nach den Regeln einer konstituierten Sprache, sondern ein begreifendes, verstehendes Denken. Denn wenn wir die Welt mittels des Werkzeugs unserer Wortsprache verstehen wollen, so gelingt dies nur, wenn wir nicht einem Glauben an die Endlichkeit unserer Wortsprache verfallen. »Unser Begriff vom Menschen bleibt oberflächlich, solange wir nicht auf diesen Ursprung zurückgehen, diesseits des Lärms der Worte das ursprüngliche Schweigen ahnen und die Geste zu fassen vermögen, die dieses Schweigen bricht. Die Sprache ist Geste, ihre Bedeutung eine Welt.«404 Somit ist vermutlich da der Beginn eines tiefgehenden Verstehens gesetzt, wo wir noch keine Worte oder keine Worte mehr haben. Vermutlich beginnen wir da zu verstehen, wo uns ein Schweigen oder eine Sprachlosigkeit überfällt, die wir überwinden wollen. Dass der Zusammenhang von Sprechen und Denken auch heute noch Thema der Philosophie ist, zeigt der von Oswald Schwemmer 2011 veröffentlichte Band Das Ereignis der Form. Anknüpfend an Platon, phänomenologische Theorien des Sprechens und Denkens (unter anderem auch von Merleau-Ponty), Wittgensteins Trac-

402 Springstübe 2013, 67. 403 Merleau-Ponty 1966, 218. 404 Merleau-Ponty 1966, 218.

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Bewegung und Musikverstehen

tatus und an die Symboltheorie Cassirers verweist er unter anderem darauf, dass nicht alles Denken sprachliches Denken ist, und klärt auf über Risiken und Nebenwirkungen eines Umgangs mit Sprache.405 Im Kapitel 5 soll mit Bezug auf den Umgang mit Musik durch Sprache geklärt werden, inwiefern Sprechen auch Verstehen bedeuten kann.

3.3.3

Sprache als Geste

Da nach phänomenologischer Auffassung Sprache Sinn verkörpert und das Wort als Ausdruck des Denkens406 gilt, wird Sprache auch als »Ausdrucksgebärde«407 beschrieben. Nach Angehrn betrachtet die Phänomenologie Merleau-Pontys die Sprache bevorzugt unter dem Blickwinkel des Ausdrucks, da sie auch hier vom Phänomen der Leiblichkeit ausgeht.408 Jegliche menschliche Ausdrucksformen wie die »körperliche Gestik, Sprache, Malerei, Musik«409 seien, so Angehrn, aus Sicht des französischen Phänomenologen leiblich fundiert – so auch die Sprache. Als besondere Form des menschlichen Ausdrucks besitze sie ein leibliches Wesen. Um aufzuzeigen, wie eng die Sprache mit unserem Leib verbunden ist, spricht Merleau-Ponty vom gestischen Charakter der Sprache und von unserem Leib als einem Sprachleib. So sei jedes Wort leibliches Zur-Welt-Sein, Gebärde oder Geste.410 »In Wahrheit ist das Wort Gebärde, und es trägt seinen Sinn in sich wie die Geste den ihren. Eben das ist es, was Kommunikation möglich macht.«411 Er geht sogar so weit, den sprachlichen Ausdruck als leibliche Geste zu bezeichnen, da sich im Ausdruck – in diesem Falle im Sprechen – Sinn generiere.412 Die Leibtheorie Merleau-Pontys lässt sich, so argumentiert Liliane Grams, auf das Feld der Sprache übertragen, indem die Strukturen von Sprache und Geste als miteinander vergleichbar betrachtet werden. Sprache als Geste bringt einen schöpferischen Sinn hervor.413 Die ursprüngli-

405 Auf die Bedeutung der Form bei der Generierung von Sinn beim Übergang zur Sprache hat 2010 bereits Emil Angehrn aufmerksam gemacht: »Der Übergang zur Sprache vollzieht sich über eine bestimmte Formbildung, die einen reflexiven Umgang mit Sinn ermöglicht.« Angehrn 2010, 125. 406 Vgl. Gamboa 2012, 79. 407 Meyer-Drawe 1987, 196. 408 Vgl. Angehrn 2010, 140. 409 Angehrn 2010, 141. 410 Vgl. Gamboa 2012, 77. 411 Merleau-Ponty 1966, 217; Herv. im Original. 412 Vgl. Angehrn 2010, 141. 413 »Auf dieser Ebene also, wo die Sprache auf sich selbst angewiesen ist, diesen neuen Sinn hervorzubringen, wo also die innere Kraft und der eigene Beitrag der Sprache deutlich zum Vorschein kommen, zeichnet sich eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Geste ab.« Grams 1978, 19.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

che Ausdrucksgebärde wird im Medium des Leibes zur schöpferischen Geste, wenn leiblich Bedeutung gestiftet wird.414 So wie die Geste bedeutet die Rede für den Sprechenden die Realisierung von Gedanken oder Gefühlen, die ihm bisher noch nicht bewusst waren.415 Nach diesem Verständnis wird auch das Denken erst im Ausdruck (zum Beispiel im Sprechen) vollendet. Merleau-Ponty begründet dies damit, dass Gefühle wie beispielsweise die Zuneigung erst in der adäquaten Geste (dem herzlichen Lächeln) realisiert werden. Somit braucht es nach seinem Verständnis auch das Wort, um die Bedeutung der Rede hervorzubringen.416 »Das bedeutet, daß das Wort erst hervorgebracht werden muß, bevor diese latente, unterschwellige Bedeutung herauskristallisiert und objektiviert werden kann, und somit eine explizite Bedeutung erfahren kann.«417 An Merleau-Ponty anknüpfend behauptet Angehrn, dass beim Sprechen kein präexistenter Sinn in Sprache übersetzt wird, sondern dass es stets der Verkörperung durch Sprache bedarf, um Sinn und Bedeutung zu stiften.418 »Der Ausdruck ist nicht Übersetzung eines Vorgegebenen und Gewussten, sondern Medium des Suchens und Findens.«419 Auch Gamboa bringt in Bezug auf MerleauPonty die Begriffe Ausdruck und Ereignis zusammen. Seiner Ansicht nach wird das Wort zu einem »Ausdrucksereignis«420 , indem erst im Moment des Ausdrückens auch die Bedeutung der Rede hervortritt. Als Träger eines Sinnes weist die Geste dabei über sich selbst hinaus. Ihre eigene Gestalthaftigkeit tritt zu Gunsten der Bedeutung, die sie transportiert, in den Hintergrund. Diese Funktion des Trägers von Bedeutung ist es also, so Grams, die Wort und Geste einander gleichen lässt. »Wie bei der Geste weist auch das Wort als Klangphänomen über sich selbst hinaus auf den Sinn hin, den es in sich trägt.«421 Das bedeutet, dass sowohl das Sprachzeichen als auch die Geste an sich eine eigene Bedeutung besitzen. Das Wort selbst wird hier als Ausdruck des Denkens verstanden.422 Als gestischer Ausdruck ist der Sprache nach phänomenologischem Verständnis also eine gestische Bedeutung zuzusprechen.423

414 Vgl. Grams 1978, 40. 415 »Ebenso wie die Geste ist die Rede für das sprechende Subjekt zugleich Realisierung und Offenbarung eines bis dahin unausgesprochenen, noch nicht näher konkretisierten ›wilden‹ Gedankens, bzw. eines noch nicht mit Bewußtsein erfaßten Gefühls.« Grams 1978, 55. 416 »So ist für den Sprechenden das Wort nicht bloße Übersetzung schon fertiger Gedanken, sondern das, was den Gedanken erst wahrhaft vollbringt.« Merleau-Ponty 1966, 211. 417 Grams 1978, 80, mit Bezug auf Merleau-Ponty 1969, 22. 418 Vgl. Angehrn 2010, 142. 419 Angehrn 2010, 142. 420 Gamboa 2012, 109. 421 Grams 1978, 47. 422 Vgl. Gamboa 2012, 79. 423 Vgl. Angehrn 2010, 140f.

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Bewegung und Musikverstehen

Der gemeinsame Ursprung von (sprechender) Sprache und Geste sei, so schreibt Merleau-Ponty, das »ursprüngliche Schweigen«.424 In Situationen, in denen uns noch die Worte fehlen, um das Erlebte zu beschreiben, kann die leibliche Geste eine Brücke schlagen hin zur sprachlichen Beschreibung, da sie unserem Erleben näher kommt. »Oft ist es deshalb besser[,] allein den Leib in der Form einer Geste, einer Mimik, sprechen zu lassen oder in einer bestimmten schweigsamen Stimmung zu verbleiben«.425 Was Grams mit Bezug auf Merleau-Ponty meint, ist noch nicht die begriffliche Bedeutung von Wörtern. Gemeint ist eine ursprüngliche Bedeutung, eine »erste Bedeutungsschicht«, wie es Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung beschreibt.426 Springstübe sieht hier strukturelle Ähnlichkeiten zum Begriff der Ursprünglichkeit im Zusammenhang mit der Wahrnehmung bei Merleau-Ponty: »In Analogie zur ursprünglichen und sekundären Wahrnehmung spricht er bezüglich der Sprache von einer gestischen und einer begrifflichen Bedeutung.«427 Ihr zufolge zeige Merleau-Pontys Analogie von Geste und Begriff auf, worin sich die »ursprüngliche« und die »sekundäre begriffliche Bedeutung«428 unterscheiden: Die ursprüngliche Bedeutung lässt sich nur im leiblichen Erleben erschließen. Mit dem Begriff der Sprachgebärde als leiblichem Ausdruck verweist MerleauPonty auch auf den Aspekt der Verständigung, der untrennbar mit Sprache verbunden ist. In der Phänomenologie der Wahrnehmung beschreibt er, wie wir in der Lage sind, uns direkt mit dem anderen über den Sinn der Worte, auszutauschen: »Es gibt demnach so etwas wie die Übernahme der Gedanken eines Anderen im Durchgange durch das Wort.«429 Er spricht von der Möglichkeit, dem anderen »nach-zu-denken«,430 da unsere Worte wie Gesten im Bereich des Zwischenleiblichen fungieren. Es handelt sich hier jedoch um eine »Sprachgeste« und nicht um eine »Körpergeste«,431 denn die beschriebenen Gesten beziehen sich auf die Sprache als Struktur des Verhaltens zwischen Menschen. So gesehen knüpfen Worte an das an, was zwischen Menschen schon vor der Verwendung konkreter Begriffe gegeben ist.

424 Grams 1978, 60ff., mit Bezug auf Merleau-Ponty 1966, 218. 425 Grams 1978, 62. 426 »Sprache und Worte tragen in sich also eine erste Bedeutungsschicht, die ihnen unmittelbar anhängt, den Gedanken aber nicht so als begriffliche Aussage, sondern als Stil, als affektiven Wert, als existentielle Gebärde mitteilt. Wir entdecken hier eine aller begrifflichen Sprachbedeutungen zugrunde liegende existentielle Bedeutung, die sich in jene nicht lediglich überträgt, sondern ihr unablöslich innewohnt.« Merleau-Ponty 1966, 58. 427 Springstübe 2013, 58. 428 Springstübe 2013, 59. 429 Merleau-Ponty 1966, 212. 430 Merleau-Ponty 1966, 212; Herv. im Original. 431 Gamboa 2012, 79.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

Im Zusammenhang mit seiner Sprachtheorie ist auch Merleau-Pontys Kritik am Objektivismus der Wissenschaft zu verstehen. Mathematik und Physik operierten »in der idealen Welt.«432 Dabei sei nach Merleau-Ponty ein gänzlich objektives Forschen nahezu unmöglich – sind Forschende schließlich auch leibliche Subjekte, die in ihre Geschichte und ihren kulturellen Hintergrund eingebunden sind.433 Er macht uns auf die Gefahr aufmerksam, die es in sich birgt zu glauben, Wissenschaft biete ein Abbild von der Welt, wie sie ist, und würde die Welt in ihrem Sein genau erfassen.434 Denn, so lässt sich schlussfolgern, nach phänomenologischem Verständnis gibt es stets mehr zu sagen, als gesagt werden kann.

3.3.4

Die soziale Dimension von Sprache – Sprechen als Verhalten im Bereich des Zwischenleiblichen

Merleau-Ponty hat in der Schrift Das Sichtbare und das Unsichtbare herausgearbeitet, dass die Herkunft des Sprechens im Zwischenleiblichen liegt. Mit Bezug auf Merleau-Ponty versteht Angehrn Zwischenleiblichkeit als »Medium des geteilten Weltverhältnisses.«435 Schon das Kind, das Sprechen lernt, braucht ein Gegenüber, von dem es Wörter entlehnt und das auf seine Versuche, sich sprachlich mitzuteilen, sprachlich reagiert. Mit Bezug auf eine Studie von Roman Jakobson beschreibt Meyer-Drawe dieses Entlehnen von Wörtern in der sich generierenden Kindersprache als Nachahmung, bei der das Vorgesprochene nicht lediglich übernommen, sondern schöpferisch abgewandelt wird.436 Wie oben beschrieben, wird aus phänomenologischer Sicht von der Sprache im Allgemeinen als einem schöpferischen Phänomen ausgegangen. Wenn wir sprechen, greifen wir nicht lediglich auf schon Sedimentiertes, Gesagtes zurück oder nutzen ausschließlich fertige Begriffe. Vielmehr bedeutet Sprechen, dass ein vielfältiger schöpferischer Handlungsprozess zwischen den Menschen abläuft, und somit stellt es eine »soziale Praxis« dar: »Sprache ist in phänomenologischer Hinsicht ein genuin soziales Phänomen und nicht etwa das

432 Gamboa 2012, 36. 433 Vgl. Gamboa 2012, 36. 434 Merleau-Ponty kritisiert die objektiven Wissenschaften jedoch nicht nur, sondern setzt sich selbst mit ihnen, insbesondere mit dem mathematischen Algorithmus, auseinander. Er versteht mathematische Zeichen nicht als reine Abstraktionen, sondern als eine »Sprachkraft«, da ihre Logik für das verstehende Subjekt immer von Neuem bewiesen werden müsse. Vgl. Gamboa 2012, 49, mit Bezug auf Merleau-Ponty. 435 Angehrn 2013, 34. 436 »Beim Erlernen einer bestimmten Sprache wird das Vorgesprochene nicht einfach übernommen, es wird vielmehr mit ›einer schöpferischen Abweichung vom Modell‹ nachgeahmt.« Meyer-Drawe 1987, 206, mit Bezug auf Jakobson.

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Bewegung und Musikverstehen

bloße Reservoir lexikalischer Begriffe, aus dem man sich zum Zwecke der Informationsvermittlung bedient. Sie ist eine soziale Praxis wie das gesamte Handeln.«437 So lässt sich festhalten: Sprache entsteht als Handlung zwischen den Menschen und ist Ausdruck zwischenmenschlicher Beziehungen. Ohne einen Adressaten, den Wunsch etwas auszudrücken und mitzuteilen, würde Sprache sich nicht entwickeln oder lebendig bleiben. Gamboa geht so weit, mit Bezug auf Merleau-Ponty, allein schon das Wort als einen »Sprechakt« zu bezeichnen: »Das Wort beim Kind als auch beim erwachsenen Menschen muss im Gegenteil dazu als ein Sprechakt verstanden werden, welcher die ganze Struktur der Existenz mit einbezieht. Eben deshalb kann die Sprache nicht als bloßes Resultat oder Produkt einer Umwelt betrachtet werden, d.h. so[,] als sei sie eine Konsequenz der menschlichen Beziehungen.«438 Das Verhältnis zwischen Subjekt und Welt ist kein Ergebnis von Reflexion, sondern, so Gamboa mit Bezug auf Merleau-Ponty, ein »leibliches, fleischliches Verhältnis«.439 Sprache fußt auf diesem präreflexiven und leiblich-intentionalen ZurWelt-Sein.440 Um ihr Fungieren zwischen Körperlichkeit (Sprache als Verkörperung von Gedanken, Erfahrungen) und Welt zu betonen, eignet sich der Leibbegriff wiederum besonders gut.441 Der Leib ist dabei nicht als Gegenstand, sondern vielmehr als Träger von Sinn zu verstehen. Sinn erschließt sich im leiblichen Handeln, und die sich zwischen Subjekt und Welt bildenden Sinngebilde beziehungsweise Gestalten wahrzunehmen ist die Funktion des Leibes.442 Die Bedeutung des Zwischenleiblichen bei der Genese von Sprache lässt sich mit Meyer-Drawe wie folgt zusammenfassen: »Sprache gründet so ebenso wie die explizite Sozialität in einer präreflexiv fungierenden leiblichen Intentionalität, wie sich etwa konkret in unserem Körperschema, d.h. in unserem faktischen Zur-Welt-sein[,] zeigt.«443 Nach Angehrn sind die »kognitiven und gefühlsmäßigen Beziehungen zu anderen […] grundlegend leibvermittelt«.444 Das Vertrautsein mit solchen Beziehungen ermöglicht es uns beispielsweise, mit anderen zu kommunizieren, auch wenn wir sie nicht sehen. Aus diesem Grund funktioniere, so Angehrn, auch unser Austausch über die modernen Kommunikationsmedien. In dieser so beschriebenen leiblichen Koexistenz, dieser Gemeinschaft des Seins und Tuns durch Sprache spielt wiederum unsere Erfahrung eine Rolle. Zum

437 438 439 440 441 442 443 444

Meyer-Drawe 1987, 192. Gamboa 2012, 42. Gamboa 2012, 57. Vgl. Meyer-Drawe 1987, 202. Vgl. Alloa/Fischer 2013, 9. Vgl. Gamboa 2012, 57. Meyer-Drawe 1987, 202. Angehrn 2013, 30.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

einen bedeutet das Sprechen an sich eine leibliche Erfahrung,445 zum anderen haben wir beim Miteinandersprechen teil an den Erfahrungen anderer. Wie kommt es nun aber dazu, dass wir uns im Prozess der sprachlichen Verständigung der eigenen sowie der Erfahrung anderer gewahr werden? Wie gelingt eine Verständigung im Zwischenleiblichen? Die Rede ist mein aktives Zur-Welt-Sein. Indem ich rede, erkenne ich mein eigenes Verhältnis zur Welt, und durch die Rede des anderen wird dieser mir zu einem Gegenüber, zu einem anderen Subjekt. »Die Sprache als Rede (parole) ist stets meine eigene Rede, die ich mir aber nur in unserer Begegnung und Kommunikation mit dem Anderen, mit der Welt aneignen kann. Sie ist das gesamte, obgleich sedimentierte System von Bedeutungen der individuellen und kollektiven Geschichte.«446 Was Gamboa hier mit Bezug auf Merleau-Ponty betont, ist die Abhängigkeit der eigenen Rede von der Existenz eines Gegenübers, denn sie bedeutet den ursprünglichen Ausdruck der Differenz des anderen von mir. Die Rede zwischen dem anderen und mir ruht auf einem »Mit-wahrnehmen«447 . Gemeint ist damit nicht das bloße Nebeneinander zweier Wahrnehmungen, sondern, dass im Raum der Zwischenleiblichkeit die Wahrnehmung des anderen auch meine Wahrnehmung ist und umgekehrt.448 Wenn wir die Erfahrung eines anderen Leibes machen, dann scheint der andere genau dieser Welt anzugehören, der auch wir uns zugehörig fühlen. In der Phänomenologie der Wahrnehmung beschreibt MerleauPonty das Leben des anderen als in der Kommunikation für uns geöffnet,449 als eine Art »aufgeschlossenes Sein«.450 »Nach Merleau-Ponty zeigt die Erfahrung des Dialogs auf exemplarische Weise den wesentlich gemeinschaftlichen und intersubjektiven Charakter der Rede, demnach die Erwerbung Identifizierung unserer eigenen Rede durch die Rede des Anderen, Sprechen zugleich dem Anderen zuhören bedeutet. Indem wir sprechen, sprechen wir schon immer mit seiner Rede, d.h. Aktivität ist wesentlich Passivität und umgekehrt.«451 Beim Miteinanderreden hat es beispielsweise immer einen Einfluss auf uns, wie der andere uns zuhört. Zwar können wir nicht gleichzeitig reden, doch im Einander-zugewandt-Sein sind wir zur gleichen Zeit auf gewisse Weise aktiv. Meyer-

445 446 447 448 449 450 451

Vgl. Gamboa 2012, 58. Gamboa 2012, 154; Herv. im Original. Gamboa 2012, 135. Vgl. Gamboa 2012, 134f. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 405. Gamboa 2012, 137. Gamboa 2012, 160; Herv. im Original.

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Bewegung und Musikverstehen

Drawe spricht davon, dass wir zwar nicht zeitgleich reden, uns dafür jedoch zeitgleich ausdrücken können.452 Einem Chiasmus gleich, so Gamboa, verflechtet sich in der Rede die gesprochene mit der sprechenden Sprache, das schon Gesagte mit dem, was in der Situation erst zur Aussprache kommt. Die eigene Rede wird im Sprechakt gewissermaßen zu einer »Dezentrierungs-, Desubjektivierungserfahrung«.453 Sprache fungiert dabei zum einen als Ausdruck und zum anderen als Schon-Ausgedrücktes.454 Gamboa bezeichnet die Rede, mit Bezug auf Merleau-Pontys Schöpfungsbegriff, als schöpferisch. Damit ist gemeint, dass es das Vermögen der Rede ist, im zwischenleiblichen Bereich neuartige Bedeutungen hervorzubringen. Hintergrund hierfür sei der »Überschuss«, der beim Sagen gegeben ist und in seiner Bedeutung eine »Verwandlung«455 erfährt. Der schöpferische Charakter der Rede zeige sich unter anderem auch dann, wenn wir (erst) im Redeereignis verstehen, was wir sagen.456 Generell kann die Rede letztlich, so Gamboa, jedoch nie eines der beiden Extreme erreichen: Sie ist nie gänzlich Neuschöpfung, noch gänzlich Nachschöpfung.457 Im Dialog kommt es fortlaufend zu einer spontanen Sinnbildung. Etwas, was uns als ›wahr‹ gegeben ist, erschließt sich uns in dem Moment, indem wir es wahr-nehmen, immer auch in seinem Sinn. Dabei sind Gegenstände für uns nie bloß Summen von Daten.458 Es lässt sich mit Rückbezug auf Gamboa sagen, dass Wahrheit einen dialogischen Charakter hat.459 Die »Sprache begründet in uns die Idee einer Wahrheit«.460 Als Rede ermöglicht sie uns außerdem einen ursprünglichen Zugang zur Kultur.461 Denn indem wir diese Wahrheiten teilen, bilden wir Kultur. Merleau-Ponty spricht deshalb der Sprache bei der Entstehung von Kultur auch eine besondere Bedeutung zu: »Wahr ist allein – und dies rechtfertigt auch die Ausnahmestellung, die man der Sprache einzuräumen pflegt –, daß die Sprache der einzige Ausdrucksvollzug ist, der der Sedimentierung und der Konstitution intersubjektiver Erwerbe fähig ist.«462 Verglichen mit der Malerei und der Musik kommt, so Merleau-Ponty weiter, nur der Sprache als einzigem Ausdrucksvollzug das Privileg zu, unendlich wiederholbar zu sein und über sich selbst, durch sich selbst zu reflektieren.463 Auf diese Weise nä-

452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463

Vgl. Meyer-Drawe 1987, 196. Gamboa 2012, 160. Vgl. Gamboa 2012, 111. Gamboa 2012, 112. Vgl. Gamboa 2012, 117. Vgl. Gamboa 2012, 115f. Vgl. Gamboa 2012, 172. Vgl. Gamboa 2012, 182. Merleau-Ponty 1966, 225. Vgl. Gamboa 2012, 133. Merleau-Ponty 1966, 224f. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 225.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

hert sie sich dem Ideal der zwischenmenschlich geteilten Wahrheit. »[U]nd endlich haben die Philosophen alle von einem Worte geträumt, das allen anderen ein Ende setzte, indessen Maler und Musiker nie auf den Gedanken kämen, alle mögliche Malerei oder alle mögliche Musik zu erschöpfen.«464 So wie den Leib betrachtet Merleau-Ponty dabei auch Kultur als etwas, das nicht mit einem Gegenstand gleichzusetzen ist, denn sie ist nicht als abgeschlossenes System mit fertigen Prinzipien zu verstehen.465 Stattdessen kommt es in wechselseitiger Verflechtung von Traditionellem und Neugeschöpftem immerfort zur Konstitution von Sinnhaftigkeit. Kultur ist also mit den gleichen paradoxen Eigenschaften, wie mit denen der Sprache zu begreifen, als »wechselseitiges Verflechtungsphänomen von instituierten Bedeutungen und Bedeutungen in statu nascendi, als Erfahrung von vergangenen, abgeschlossenen Ereignissen und als lebendige, gegenwärtige Erfahrung vom Sinn einer Tradition.«466 Diese Offenheit und Strukturhaftigkeit von Kultur ergibt sich, so Gamboa, aus der Verflechtung von Natur und Kultur, die uns in unserer Wahrnehmungswelt gegeben ist. Dinge, Personen oder Phänomene können uns vertraut sein, da sie für uns einer Kultur zugehören. Es ist jedoch auch möglich, dass wir jene in unserer natürlichen Wahrnehmung hinterfragen. Auch können sie uns in einem anderen Licht als nicht gänzlich zugänglich erscheinen. Etwas, das wir von Kind auf kennen – einen Straßenzug, eine vertraute Stelle –, kann im Moment unserer Wahrnehmung plötzlich fremd oder neu erscheinen. Es ist uns unsere eine Welt also paradoxerweise zugleich als Natur und als Kultur gegeben.467 Daher kommt Gamboa zu dem Schluss: »Die einzige Welt ist eine Zwischenwelt«468 . Dabei handele es sich, wie er schreibt, »um eine leibliche, simultane, wechselseitige Beziehung zwischen uns und der Welt bzw. dem Anderen«.469 Dies erinnert daran, dass Merleau-Ponty den Leib des anderen als ersten Kulturgegenstand überhaupt bezeichnet.470 Gamboa zufolge ist daher die Zwischenleiblichkeit als ein »ursprüngliches, kulturelles Phänomen«471 zu verstehen. Er macht jedoch auch darauf aufmerksam, dass sich Sprache und Kultur nicht aufeinander zurückführen lassen: »Sprache ist nicht gleich Kultur, und Kultur ist kein Oberbegriff zu Sprache. Sie ist als sprechende, lebendige Sprache Schöpfung von Kultur, Ausdruck eines neuen Sinnes.«472 Beim intersubjektiven Sprechen der gesprochenen Sprache kommt es spontan zu Sinnbildungsprozessen, findet sich Sinn in statu nascendi. Somit führt uns der Begriff Verständigung wieder 464 465 466 467 468 469 470 471 472

Merleau-Ponty 1966, 225. Vgl. Gamboa 2012, 184, mit Bezug auf Merleau-Ponty. Gamboa 2012, 184. Vgl. Gamboa 2012, 187. Gamboa 2012, 188. Gamboa 2012, 188. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 400. Gamboa 2012, 188. Gamboa 2012, 195.

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Bewegung und Musikverstehen

zurück zum Begriff Sinn. Der Zusammenhang von Verständigung und Sinn, genauer zwischen dem Verstehen von Sprache und dem Erfassen eines Sinnes, wird von Merleau-Ponty wie folgt beschrieben: »Jederlei sprachliche Leistung erfordert die Erfassung eines Sinnes, doch ist der Sinn hier und dort gleichsam ein spezialisierter: es gibt verschiedene Schichten der Bedeutung, von der visuellen Wortbedeutung über den Wortbegriff bis hin zu der begrifflichen Bedeutung.«473 Wie wir Sinneinheiten in Sprache wahrnehmen, ist wesentlich abhängig von der sozialen Situation der Verständigung. Ob ein Satz als Satz erkannt wird, hängt nach Schwemmer zum einen davon ab, ob er dem Gegenüber als kleinste sprachliche Einheit verständlich ist, und zum anderen, ob er eine Antwort zulässt.474 Im Sprechen konzentrieren wir uns jedoch nur selten auf die Sprache selbst, meist – in einem gelungenen Gespräch – rückt die Sprache an sich in den Hintergrund. »Wir können mit den Anderen sprechen und kommunizieren, aber nicht weil wir an die Wörter denken, die wir aussprechen werden, sondern weil wir paradoxerweise sprechen, als ob wir keine Sprache hätten, d.h. als ob wir nur mit puren Gedanken kommunizierten; und dieses Vermögen der Sprache, unbemerkt für sich selbst zu bleiben, bedeutet gleichzeitig das Vermögen, über sich selbst hinauszugehen.«475 Hier bezieht Gamboa sich auf Merleau-Ponty. Er beschreibt das Phänomen des In-den-Hintergrund-Tretens der Sprache in Der Prosa der Welt auch als Stärke der Sprache. Sie könne beim Sprechen aus dem Blickfeld der Betrachtung entschwinden und uns so das Gefühl geben, uns mit unserem Gegenüber nicht lediglich durch Worte, sondern durch die bloßen Gedanken und Erfahrungen auszutauschen.476 Diese Eigenschaft von Sprache, Gemeinsamkeit zu stiften, weitet Merleau-Ponty auf die Vorstellung einer Gemeinsamkeit zwischen Leib und Welt aus. Er verwendet hierfür auch den Ausdruck des »Fleisches«477 , behauptet, Leib und Welt seien aus dem gleichen Fleisch beziehungsweise Stoff gemacht.478 Die Phänomenologie, insbesondere mit Merleau-Ponty, hat – so soll an dieser Stelle zusammengefasst werden – herausgearbeitet, dass sich Sinn weder im In-

473 Merleau-Ponty 1966, 231. 474 »Nicht Korrektheit – auf welcher sprachlichen Ebene auch immer –[,] sondern Akzeptanz und damit Verständlichkeit im Umgang entscheiden darüber, was ein Satz, nämlich die kleinste sprachliche Einheit, ist.« Schwemmer 2011, 15. 475 Gamboa 2012, 82. 476 Vgl. Merleau-Ponty 1984, 34. 477 Angehrn 2013, 32ff., mit Bezug auf Merleau-Ponty 1986, 168, 173. 478 Vgl. Angehrn 2013, 35.

3. Leibphänomenologische Perspektiven

neren noch im Äußeren, sondern »in der Durchdringung von Innen und Außen«479 befindet. Somit lässt sich mit Emil Angehrn sagen, dass der Leib zum einen als Ort unserer zwischenmenschlichen Kommunikation und unseres zwischenmenschlichen Verstehens und zum anderen als »Organ unseres sprachlichen Weltbezugs«480 zu sehen ist. Als unser Mittel des Welterschließens fungiere der Leib im Medium des Ausdrucks. Sprache im Sinne eines Sprechens lässt sich daher aus phänomenologischer Sicht auch als Ausdruck des Leibes begreifen.

479 Angehrn 2013, 37. 480 Vgl. Angehrn 2013, 29.

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4. Musik und Leiblichkeit Musik als leibnahes Phänomen

In diesem Kapitel wird das Phänomen Musik in den Fokus gerückt und aus leibphänomenologischer Perspektive betrachtet. Hier soll auch begonnen werden, eine Brücke zwischen Phänomenologie und Musikpädagogik zu schlagen. Dabei interessiert zunächst die Frage, inwiefern sich die Strukturen von Leib und Musik ähneln. Musik ist nur, wenn sie erklingt und wir uns ihr wahrnehmend zuwenden. Ihre Existenz ist abhängig von ihrem Vollzug. Aus diesem Grund können die Vollzugsweisen wie das Empfinden, Wahrnehmen (Hören) und Erkennen bei der Wesensbestimmung von Musik nicht außer Acht gelassen werden. Phänomenologisch betrachtet ist Musik ein Zwischengeschehen zwischen musikalischem Kunstwerk und wahrnehmendem Subjekt. In diesem Kapitel soll der Schwerpunkt der Betrachtung jedoch zunächst auf die Musik an sich gelegt und danach gefragt werden, wie und als was uns Musik erscheint. Im darauffolgenden 5. Kapitel wird der Blick dann wiederum stärker auf das lernende und verstehende Subjekt gerichtet, das mit Musik umgeht. Im Hinblick auf den musikpädagogischen Anwendungsbereich wird dort der Frage nachgegangen, wie wir Musik leiblich verstehen, an ihr lernen und Begriffe bilden können.

4.1

Wie begegnet uns Musik?

Begonnen soll hier mit der Frage werden, ob und wie sich Musik als Phänomen oder gar als Gegenstand beschreiben lässt? Phänomene erscheinen uns und wollen ergründet werden. Sie »bilden den Kern einer Erfahrung, in der uns etwas gegeben ist, was sich von sich aus zeigt.«1 Wie erscheint uns nun die Musik und wie weit lässt sie sich von uns erfassen und begreifen?

1

Waldenfels 2009, 196f.

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Bewegung und Musikverstehen

4.1.1

Musik , ein Gegenstand im Bewusstsein?

Wie im letzten Kapitel beschrieben, wird die Rolle des menschlichen Bewusstseins beim verstehenden Zur-Welt-Sein phänomenologisch neu gedacht. Welche Rolle spielt unser Bewusstsein, wenn uns Musik erscheint? Nach dem Dirigenten und Musikpädagogen Sergiu Celibidache zeigt sich eine phänomenologische Perspektive auf Musik in den Fragen, wie sich ein Klang objektivieren lässt und wie der Klang eindeutig in das menschliche Bewusstsein einwirkt.2 Auf der Suche nach dem objektiven Klang gelangen wir jedoch an kein Ende. Dagegen, dass wir mit der Musik ›fertig‹ werden können, spricht unter anderem, dass wir uns über Generationen hinweg immer wieder von Neuem mit ihr auseinandersetzen, sie immer wieder neu erschaffen und hervorbringen. Auch Waldenfels spricht von einer nicht enden wollenden Auseinandersetzung mit Musik: »Klangereignisse haben ihre Klanggesetze, sie schlagen sich nieder in Hörgewohnheiten, aber sie erschöpfen sich nicht darin. So wenig das stets neu zu entfachende Philosophieren in einer erlernbaren Philosophie aufgeht, so wenig geht das Musizieren in einer erlernbaren Musik auf.«3 Merleau-Ponty hat sich in seinen Beiträgen zur Ästhetik, so schreiben Waldenfels und Vogt, weniger mit dem Phänomen Musik an sich auseinandergesetzt. Vielmehr sei das Visuelle in seinen Texten (wie beispielsweise in seinen Ausführungen über das künstlerische Schaffen von Paul Cézanne) überrepräsentiert.4 Anhand der Stellen, an denen Merleau-Ponty auf die Musik verweist, kann jedoch gut nachvollzogen werden, wie sich seine leibphänomenologischen Erkenntnisse auf das Phänomen Musik übertragen lassen. Er spricht zunächst von einer besonderen Seinsweise der Musik – dies jedoch, indem er ihr im Grunde eine Seinsweise abspricht. Denn gegenüber den visuellen Formen der Kunst, wie der Malerei, sei sie noch weiter entfernt von dem, was für den Menschen begreifbar ist. »Die Musik ist dagegen zu sehr diesseits der Welt und des Bezeichenbaren, um etwas anderes darzustellen als Aufrisse des Seins, sein Aufwallen und Verebben, sein Wachsen und Bersten, seine Strudel.«5 Ihr Sein gleiche eher einem Nichtsein. Musik sei somit »eine gewisse Abwesenheit, eine Negativität, die nicht nichts ist.«6 Damit, dass es etwas ›gibt‹, was nicht ›ist‹, meint Merleau-Ponty die »musikalische Idee«7 , die sich nicht übersetzen oder musikwissenschaftlich auslegen lässt. Was jedoch unzweifelhaft ist, ist der musikalische Sinn. So schreibt Merleau-Ponty in seinem Werk Das Sichtbare und das Unsichtbare:

2 3 4 5 6 7

Vgl. Celibidache 2008, 11. Waldenfels 2010, 160. Vgl. Vogt 2001, 200. Merleau-Ponty 2003, 277. Merleau-Ponty 1986, 197. Vogt 2001, 202, mit Bezug auf Merleau-Ponty.

4. Musik und Leiblichkeit

»Gerade weil die musikalischen oder sinnlichen Ideen bestimmte Negativität oder/Abwesenheit sind, besitzen wir nicht sie, sondern sie besitzen uns. Nicht mehr der Musiker ist es, der die Sonate produziert oder reproduziert: sondern er fühlt sich und die Anderen fühlen ihn im Dienste der Sonate, sie ist es, die durch ihn hindurch singt oder brüsk aufschreit, daß er sich ›auf seinen Bogen stürzen muß‹, um ihr folgen zu können. Und diese offenen Wirbel in der Tonwelt machen daraus schließlich ein Ganzes, in dem die Ideen sich aufeinander abstimmen.«8 Merleau-Ponty geht also so weit zu behaupten, dass sich der musikalische Sinn oder die musikalische Idee so weit emanzipiert, dass letztlich nicht mehr der Musiker, sondern die Musik selbst über den Musiker bzw. den Hörenden bestimmt. Dieser sei leiblich mit der Musik verwoben, wobei sein Leib als Maßstab der vernommenen Musik fungiere: »Es gibt eine strenge Idealität in jenen Erfahrungen, die Erfahrungen des Fleisches sind: die Momente der Sonate und die Fragmente des Lichtfeldes haften aneinander durch einen begriffslosen Zusammenhang, der von derselben Art ist wie der Zusammenhang zwischen den Teilen meines Leibes oder wie der zwischen meinem Leib und der Welt. Ist mein Leib Ding, ist er Idee? Er ist weder das eine noch das andere, er ist Maßstab der Dinge. Es gibt also eine Idealität, die dem Fleisch nicht fremd ist, sondern ihm seine Achsen, seine Tiefe und seine Dimensionen verleiht.«9 Gemeinsam mit der Malerei habe die Musik als Kunstform die Fähigkeit, das Unsichtbare zu erforschen. Die Ideen, die sie verkörpere, unterschieden sich insofern von Ideen der Wissenschaft, als sie nicht von der sinnlichen Erfahrung losgelöst existieren können. Die musikalische Idee sei uns nur in der »leibhaftigen Erfahrung«10 gegeben. Die Kunst (insbesondere die Malerei) ist dabei, so Merleau-Ponty in Das Auge und der Geist, der Wissenschaft voraus, indem sie sich auf die »Schicht unverarbeiteter Sinneserfahrung«11 bezieht. Das, was beispielsweise durch Malerei sichtbar wird, ist zugleich das Unsichtbare.12 Ist es dann aber überhaupt möglich, Musik zu begreifen oder zu verstehen? 8 9 10 11 12

Merleau-Ponty 1986, 198. Merleau-Ponty 1986, 199. Merleau-Ponty 1986, 196. Vogt 2001, 200, mit Bezug auf Merleau-Ponty. Es gehe vor allem in der modernen Malerei bei Cézanne und Klee nicht mehr um die Abbildung von dem, was äußerlich ist, sondern im gleichen Maße um Darstellung des Inneren, des Sehenden, in einer Art Verflechtung von Innerem und Äußerem, die dem »wilden Sein« am nächsten komme – nach Merleau-Ponty sei Malen »eine Aktion und Passion, die so wenig voneinander zu unterscheiden sind, daß man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, wer malt und wer gemalt wird.« Merleau-Ponty 2003, zitiert nach Vogt 2001, 201.

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Bewegung und Musikverstehen

Nach oben beschriebener phänomenologischer Methode nähern wir uns dem Wesen von Phänomenen in der sogenannten eidetischen Reduktion (oder eidetischen Variation). Dabei zeigt sich durch variierende Erfahrungsvollzüge am untersuchten Phänomen ein invarianter Kern. Dieser wird auch als Eidos, das ist das Wesen des Phänomens, bezeichnet. Die Variation als Methode scheint der Musik wiederum ›wie auf den Leib geschneidert‹ zu sein – ist sie doch eine Zeitkunst und vom Prinzip der Wiederholung gekennzeichnet. So beschreibt es auch der Psychiater und Philosoph Erwin Straus in seiner Schrift Vom Sinn der Sinne: »In der Musik wird ein Thema vorangestellt, ihm folgen die Variationen. Wir können das Thema nicht selbst unmittelbar aussprechen, wir können es nur vermittels der Variationen darstellen; aus den Variationen muß man das Thema heraushören.«13 Auch dem Erfassen eines Stils einer Epoche beispielsweise legt Straus das Prinzip der Variation (hier eines Themas) zugrunde: »Die Lebensformen einer Zeit, der Renaissance, des Barocks, fassen wir als Variationen eines Themas. Daß sie Variationen eines Themas sind, Ausdrücke eines Grundverhaltens des Menschen zur Welt, das gibt ihnen bei aller Unvergleichbarkeit des Materials die Einheit eines Stils.«14 Wenn sich die Musik als Klanggebilde nun aber nicht endgültig objektivieren lässt, ist sie dann überhaupt als Gegenstand zwischen Natur und Kultur zu betrachten? Ist sie nicht vielmehr ein geronnener Moment unseres leiblichen Zur-WeltSeins, der sich nur annähernd ähnlich wiederholen lässt? Was begreifen wir dann, wenn wir meinen, Musik zu begreifen, und worüber tauschen wir uns aus? Um etwas zu erkennen und zu verstehen, suchen wir nach dem konstanten Wesen, das sich uns entgegenstellt und sich für uns greifen lässt. Musik ist jedoch aus keinem Material und lässt sich somit per se nicht greifen. Sie ist vielmehr Klang als Bewegung in Zeit und Raum und damit flüchtig und unsichtbar. Auch Celibidache betont, dass wir Musik nicht als etwas wahrnehmen. Sie sei vielmehr Klang, der im zeitlichen Strom der Musik immer im Werden begriffen ist und somit an den wahrnehmenden Vollzug gebunden bleibt: »Klang ist nicht Musik; Klang kann Musik werden.«15 Wenn es nun also der Klang ist, der die Musik ausmacht, warum lässt sich dieser nicht einfach als physikalische Größe messen und begreifen? Warum macht er die Musik nicht berechenbar? Der Klang an sich ist, phänomenologisch betrachtet, wiederum ein Phänomen im Zwischen – denn er existiert nicht an sich, er existiert, indem er wahrgenommen wird. Ob wir etwas als (musikalischen) Klang vernehmen, ist somit abhängig davon, wie wir den Klang empfinden, und demnach ein höchst subjektives Phänomen, das sich einer genauen Messung entzieht.

13 14 15

Straus 1956, 341. Straus 1956, 341. Celibidache 2008, 10.

4. Musik und Leiblichkeit

Begriffe wie Empfinden, Wahrnehmen, Aufmerken spielen daher für die Beschreibung der Existenzform von Musik eine bedeutende Rolle. Musik unterscheidet sich dabei wesentlich von anderen Kunstformen wie beispielsweise der bildenden Kunst. Ein gemeinsames Sprechen über Bilder beispielsweise findet auf einer ganz anderen Grundlage statt, da man das, worüber gesprochen wird, in gewisser Weise als eine Art Gegenstand der Auseinandersetzung tatsächlich ›vor Augen‹ hat.16 Bei dem Phänomen Musik haben wir es jedoch nicht mit einem eindeutigen, beständigen und greifbaren Gegenstand zu tun. Vielmehr befindet sie sich im Zwischen, als Medium zwischen Ich und Mitwelt.17 Hierin liegt auch die Nähe zwischen Musik und Leib begründet. Merleau-Ponty geht sogar so weit, Kunstwerke als »Individuen«18 zu bezeichnen. Leib und Musik sind aufgrund ihrer Strukturähnlichkeit geneigt, sich gegenseitig zu erschließen. Indem wir uns leiblich der Musik annähern, können wir die musikalischen Strukturen einverleiben und somit leiblich verstehen. Die Musik lässt uns wiederum unseren Leib spüren und erfahren. Dabei stehen sich Leib und Musik im musikalischen Vollzug nicht in gegenständlicher Weise gegenüber, sondern sie werden eins. Musik wird für uns zu etwas, indem wir sie am eigenen Leib spüren. Grundlage dafür ist, dass wir uns leiblich erfahrend zur Musik zeitlich und räumlich ins Verhältnis setzen. Dies verdeutlicht Celibidache am Beispiel des musikalischen Tones: Den Ton in der Musik versteht er nicht als Einzelphänomen. In Bezug zu seiner klingenden Umgebung (wie Obertöne, Geräusche) sowie auf alle vorangegangenen und kommenden Töne erhalte der musikalische Klang seine Bedeutung. Der Klang sei demnach auch nichts Statisches, sondern eine Bewegung,19 die an ihrem Anfang bereits auf ihr Ende Bezug nimmt. Beim »musikalischen Akt« ist, so Celibidache, »[d]as Ende […] im Anfang enthalten«.20 Auf die Frage, ob Musik ein Gegenstand ist, antwortet Vogt, indem er MerleauPontys Theorie von Musik21 kritisiert: Ihr zufolge fehle der Musik der Zeichencharakter, um sie als Gegenstand zu betrachten. Musik sei also entweder ein Etwas (Gegenstand) jenseits von Subjekt und Objekt, das wir nicht ergreifen, sondern das vielmehr uns ergreift – wie im geschilderten Beispiel die Sonate den Musiker22 –, oder aber gar kein Gegenstand und eher eine Art Klangereignis.23 Vogt fasst 16 17 18 19 20 21 22 23

Hiermit sei auch begründet, warum an dieser Stelle nicht allgemein von der Kunst gesprochen wird. Die Musik macht eine ganz eigene, besondere Betrachtungsweise erforderlich. Vgl. Schüler 2014, 41. Merleau-Ponty 1966, 181. Vgl. Celibidache 2008, 11. Celibidache 2008, 39. Auch wenn man hier eigentlich nicht von einer Theorie sprechen kann, da er verhältnismäßig wenig über Musik schreibt. »Dieses Etwas jenseits von Subjekt und Objekt wird auf diese Weise zum ausgezeichneten Beispiel für das ›wilde Sein‹ erklärt.« Vogt 2001, 202. Vgl. Vogt 2001, 203.

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Bewegung und Musikverstehen

daher Merleau-Pontys Theorie über die Musik wie folgt zusammen: »Die Existenz von Musik bleibt rätselhaft, nur eine bestimmte Negation, von der man aber nichts anderes sagen kann, als dass sie Etwas ist, das nicht Nichts ist.«24 Dass Merleau-Ponty der Musik eine Gegenständlichkeit abspricht, lässt sich auf seinen (oben beschriebenen) Existenzbegriff zurückführen: Merleau-Ponty versteht unter Existenz kein Geworfensein in die Welt, sondern ein handelndes ZurWelt-Sein. Existieren und Leibsein gleichen sich nach dieser Vorstellung. Waldenfels erklärt mit Bezug auf Merleau-Ponty daher, in der Welt zu sein bedeute nicht, einer Summe von Gegenständen zu begegnen, sondern dass wir uns auf einem Feld all unserer Erfahrungen bewegen.25 Leiblich antworten wir auf »den Anspruch der Situation und sind darin zu Neuem fähig«.26 Musik lässt sich danach weniger als Gegenstand als vielmehr als ein Feld von Erfahrungen verstehen. So sind wir, wenn wir uns auf die musikalische Situation einlassen, auch offen für neuartige musikalische Erfahrungen. Aus phänomenologischem Betrachtungswinkel ist Musik, so lässt sich zusammenfassend sagen, kein Gegenstand für sich. Dennoch macht die Betonung der Erfahrung als konstitutives Merkmal von Musik darauf aufmerksam, dass Musik für uns in ihrem Werden dennoch Gestalt annehmen kann. Denn sie erscheint uns, wenn wir auf sie aufmerksam werden, in ihrer Gestalt und Struktur als etwas. Musik ist nur dann ein Gegenstand, wenn sie uns zu einem Gegenstand wird beziehungsweise wir sie zum Gegenstand unserer Wahrnehmung machen. Dabei kann sich das, was die Musik ausmacht, auch ausbreiten, zu etwas, das als eine Art Prinzip übergreifend, in den verschiedensten Lebensbereichen und -situationen für uns existiert. Gemeint ist das Prinzip des »Musischen« oder »Musikalischen«, das Waldenfels wie folgt beschreibt: »Das Musikalische oder Musische […] durchdringt alles wie eine sich ausbreitende Atmosphäre, bis hin zur Musik, die wir laut Shakespeare in uns selbst finden. Das Musische in dem weiten Sinne, der das Musikalische umfaßt, bildet einen Bestandteil von Bildung und Alltagskultur, und es ist älter als jede Musik, die institutionell erlernt und professionell ausgeübt wird.«27 Ob als Musik in Form eines konkreten musikalischen Beispiels oder als übergreifendes allgemeines Prinzip des Musischen – sie ist an die leibliche Erfahrung gebunden. Oberhaus spricht ihr daher mit Bezug auf Vogt eine »grundsätzliche Negativität« zu: »Musik beinhaltet eine grundsätzliche Negativität im Sinne einer An-

24 25 26 27

Vogt 2001, 203; Herv. im Original. Vgl. Waldenfels 1992, 60. Waldenfels 1992, 60. Waldenfels 2013, 186.

4. Musik und Leiblichkeit

wesenheit, die abwesend ist.«28 Musik existiert dann für uns, wenn wir sie als etwas leiblich erleben und erfahren.

4.1.2

Musik als Phänomen in Raum und Zeit

Das, was wir als Musik wahrnehmen, ist entweder etwas Gewordenes oder etwas Werdendes. Alles musikalisch Gestalthafte und Strukturhafte ist also gebunden an den Faktor Zeit. Celibidache verdeutlicht, wie schon in der kleinsten musikalischen Sinneseinheit, dem Ton, eine zeitliche Struktur innewohnt: »Für eine bestimmte Zeiteinheit dieselbe Zahl an Schwingungen: Das ist das Wesen des musikalischen Tones.«29 Jegliches Entstehen von Sinneinheiten in der Musik ist an den Faktor Zeit gebunden. Die besondere zeitliche Struktur von Musik ist, so sagt MerleauPonty, vergleichbar mit der unseres Leibes. Denn sie bedeutet ein Sein im Hier und Jetzt. Zwar haben auch Vergangenheit und Zukunft Einfluss auf unser leibliches Verhalten, doch sind sie uns nicht in gleicher Weise gegenwärtig. Dies lässt den Leib der Musik näher sein als beispielsweise die Sprache. Letztere vermag lediglich in der Musik Vergangenes festzuhalten, während die Musik leiblich im Vollzug erlebt werden kann. Auch unser Empfinden hat eine zeitliche Dimension. Denn empfindend stellen wir im Hier und Jetzt eine Beziehung zwischen Vergangenem und Zukünftigem her.30 Celibidache macht die zeitliche Struktur des Empfindens daher dafür verantwortlich, dass Musik auf unsere Affektwelt Bezug nehmen kann. »Ist Musik nur die Wirkung des Klanges? […] Nein. Das Wesen der Musik ist in der Beziehung TonMensch und den Entsprechungen zwischen dieser zeitlichen Struktur des Klanges und der Struktur der menschlichen Affektwelt zu suchen.«31 Anders herum hat die zwischen den einzelnen Tönen entstehende Spannung, die beispielsweise davon abhängt, wie ähnlich, harmonisch nah oder fern die Töne einander sind, eine Auswirkung auf die zeitliche Wirkung von Musik. Zeitliche Größen, wie das Tempo, ergeben sich aus den Bezügen der einzelnen Struktureinheiten zur Gesamtstruktur der Musik. Sinn hat in der Musik also etwas mit zeitlichen Bezügen zu tun. Daher behauptet Johann Sebastian Bach, so die Überlieferung, auch: »Wer nicht aus dem Tonsatz das Tempo erkennen kann, soll es lieber lassen!«32

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Oberhaus 2006, 170. Celibidache 2008, 12. »Was ist das Wesen der menschlichen Affektwelt? Beziehungen im Jetzt zwischen Vergangenem und Kommenden.« Celibidache 2008, 15. Celibidache 2008, 14. Bach, zitiert nach Celibidache 2008, 32. Celibidache knüpft hieran seine These, Tempovorgaben seien überflüssig. Denn wie viel Zeit der Mensch braucht, um die Spannungen in der Struktur der Musik wahrzunehmen, ergebe sich von selbst, aus der Musik. Dabei bestimme letztlich der »Grad der Gegensätzlichkeit« das Tempo in der Musik. Dieses könne wiederum

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Bewegung und Musikverstehen

Der physikalische Ursprung der Klänge, ihre Ausbreitung und ihre Wirkung sind außerdem untrennbar verbunden mit dem Aspekt der Räumlichkeit. Musik besitzt eine eigene Räumlichkeit, die leiblich erlebt wird.33 Nach Schmitz ist auch das leibliche Spüren etwas Räumliches, denn im Spüren wird der ausgeglichene Zustand zwischen Engung und Weitung in eine der beiden Richtungen hin aufgehoben.34 Der Aspekt der Räumlichkeit in Merleau-Pontys Leibphänomenologie wurde bereits weiter oben betrachtet, auch mit dem Begriff des Körperschemas in Zusammenhang gebracht. Hinter dem Körperschema als phänomenologischem Begriff verbirgt sich die These, dass das Körperschema (in der Bedeutung der gelebten Leiblichkeit, des gelebten Zur-Welt-Seins oder der Einheit des Wahrgenommenen35 ) die Grundlage all unserer Bewegungswahrnehmung ist. Die Wahrnehmung von Bewegung wiederum wird als »seinsenthüllend«, ein »Werden einer Gestalt«36 aufgefasst. Da es für Musik wesensbestimmend ist, wie sie uns in ihrer zeitlichen und räumlichen Struktur erscheint, werden an dieser Stelle die oben aus leibphänomenologischer Perspektive betrachteten Begriffe Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen wieder aufgriffen. Mit ihnen soll nun im Gebiet der Musik gearbeitet werden.

4.1.3

Musik und Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen

Um zu klären, wie das Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen von Musik von einem phänomenologischen Standpunkt aus zu verstehen ist, soll jeweils einleitend kurz noch einmal an die phänomenologische Bedeutung der drei Kernbegriffe erinnert werden. Das Empfinden erfährt im phänomenologischen Denkstil einen neuen Stellenwert, indem es als Vorbedingung der Wahrnehmung betrachtet wird.37 Damit gilt es nicht länger als ein Ergebnis oder als nachträgliche Konstruktion,38 vielmehr bereits als ein Teil der Erkenntnis. Merleau-Ponty gemäß ist Empfinden dabei weder als reines aktives Handeln noch als passives Erleiden, sondern als ein Sicheinlassen im Dazwischen zu verstehen.39

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weder falsch noch richtig sein. Denn es existiere nicht für sich, sei lediglich »Bedingung« und genauso wenig gleichzusetzen mit Geschwindigkeit. Celibidache 2008, 32, 33, 36. Beide Aspekte, die Zeitlichkeit und die Räumlichkeit, bezeichnet Susanne K. Langer auch als durch die Musik hervorgerufene, ›primäre‹ und ›sekundäre Illusionen‹, worauf im fünften Kapitel nochmal gesondert eingegangen wird. Vgl. Grüny 2016, 13, mit Bezug auf Langer. Vgl. Seewald 1992, 35f. Vgl. Kristensen 2012, 23. Kristensen 2012, 29f. Vgl. Good 1998, 36ff. Vgl. Springstübe 2013, 33. Vgl. Waldenfels 2000, 84f.

4. Musik und Leiblichkeit

Gehen wir mit Musik um, setzen wir uns unweigerlich mit unserem Empfinden auseinander, denn in vielerlei Hinsicht ähnelt der Modus des Empfindens dem Wesen der Musik. Übertragen auf die Musik, stellt das phänomenologische Verständnis vom Empfinden die geläufige These,40 Musik sei die Sprache der Gefühle und löse lediglich Gefühle beim Zuhörer aus, in Frage. Denn wäre es so, dass Musik lediglich Gefühle auslöste, wäre das Empfinden hier wiederum lediglich als Ergebnis einer Einwirkung auf den ›erleidenden‹ Menschen zu verstehen.41 Aus phänomenologischer Sicht wird jedoch das Empfinden auch in Bezug auf Musik schon als eine Form der primären, vorsprachlichen Erkenntnis gesehen und aufgewertet. Es bedeutet nicht nur eine erste Schicht der Kontaktaufnahme zwischen Mensch und Musik, sondern generell die Vorbedingung von musikalischer Wahrnehmung schlechthin. Entscheidend für unseren ersten Zugang zum Wesen der Musik ist unser leibliches Mitempfinden der Bewegung der Musik in Spannungsfeldern, wie der zwischen Enge und Weite oder Spannung und Entspannung. Hierfür ist das leibliche Spüren der musikalischen Bewegung im Verhältnis zum eignen Körperschema eine grundlegende Voraussetzung. Räumlichkeit und Zeitlichkeit in der Musik werden ins Verhältnis zum eigenen Leib und Körperschema gesetzt und leiblich mitempfunden. Musik muss also zunächst gespürt, der eigene Leib im Sein-zur-Musik uns gewahr werden – nur so entsteht eine Beziehung zur Musik, die in ein Verstehen münden kann. Dies geschieht zum Teil bereits, ohne dass wir es bewusst steuern, indem wir uns leiblich Sinnstrukturen ganz grundlegend durch Bewegungen und Bewegungserfahrungen erschließen.42 Die Intentionalität unserer Bewegung spielt hierbei eine entscheidende Rolle. (Daher soll weiter unten nochmal gesondert auf den Aspekt der Bewegung geschaut werden, der sehr eng mit dem Empfinden zusammenhängt.) Die Nähe von Gefühlsbewegung und Bewegung in der Musik wird auch von Constanze Rora im Sammelband Musik und Gefühl43 beschrieben. Sie nennt hier beispielsweise drei Aspekte der Analogie von Musik und Gefühl: »Bewegung, Strömen und Unbestimmtheit«, in denen wiederum der Charakter der Leiblichkeit von Musik anklingt. »Sie deuten auf eine Fluidität beider Bereiche, die sich einer

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Auch Seewald spricht mit Bezug auf Plessner davon, dass Musik und Gefühl sich strukturell sehr ähneln und daher die Gefahr besteht, Gefühl und Musik gleichzusetzen. Vgl. Seewald 1992, 115. Wäre die Empfindung als ein Ergebnis der Einwirkung von etwas zu betrachten, würde das bedeuten, dass bereits ein nachträglicher Reflexionsprozess erfolgte – damit sei mit der Empfindung jedoch der Bereich des ganzheitlichen Spürens zu Gunsten einer kognitiven Konstruktion verlassen worden. Vgl. Springstübe 2013, 33, nach Merleau-Ponty 1966, 59. Vgl. Koßler/Prechtl, 2008, 333. Vgl. Rora 2012, 147ff.

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Bewegung und Musikverstehen

Fixierung und Bestimmbarkeit entziehen.«44 Das Fließende und nicht endgültig Greifbare, das Rora zufolge der Musik, wie auch dem Gefühl, eigen ist, findet sich auch wieder in der Beschreibung des Leibes und der Leiblichkeit durch MerleauPonty. Auch Empfinden meint aus phänomenologischer Sicht in Bezug auf Musik nicht Empfindung als Zustand, Ausgangs- oder Endpunkt einer Auseinandersetzung mit Musik, sondern das Empfinden als Prozess im Sinne eines zeitlichen Verlaufs. Empfinden und Wahrnehmen von Musik werden aus phänomenologischer Sicht als Bewegung begriffen, da sie stets an einen Vollzug gebunden sind. Auch das Wahrnehmen beziehungsweise Gewahrwerden von (musikalischer) Form erfolgt in einem gedanklichen oder authentisch-körperlichen Mitbewegen. Wenn das Augenmerk im Folgenden auf den Bereich der Wahrnehmung von Musik aus phänomenologischer Perspektive gelegt wird, zielt dies vor allem auf eine Untersuchung des Übergangsbereichs vom Musikempfinden zum Musikerkennen (als Verstehen von musikalischer Form und Struktur). Denn dieser gilt als Bereich, in dem Sinn und Gestalt vor einer Übertragung in Sprache bewusst werden. Hierbei sollen insbesondere die Merkmale von Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie aufgegriffen werden, die für einen verstehenden Umgang mit Musik von Bedeutung sind. Im Sinne einer Gestalt- und Strukturbildung begreift Merleau-Ponty Wahrnehmung als etwas Schöpferisches: »Jede Wahrnehmung ist insofern schöpferisch, als dass sie dem Wahrgenommenen einen Sinn gibt.«45 Genauso bringt jegliche Art der Wahrnehmung von Musik schöpferisch einen Sinn hervor. In der Wahrnehmung erscheinen uns musikalische Sinneinheiten als etwas. Dabei sind wir weder lediglich passive Empfänger, noch können wir unsere Wahrnehmung bei einem Umgang mit Musik allein selbst steuern. Denn für Merleau-Ponty ist das, was wahrgenommen wird, in gewisser Weise unabhängig von unseren aktiven Anstrengungen und so zu einem Teil schon vorbestimmt. Er spricht davon, dass wir die Dinge in einem gewissen »vor-angelegten Gefüge«46 , in einem Bereich des »Vorpersönlichen«47 wahrnehmen. »Zwar ist die Wahrnehmung ein schöpferischer Vorgang, doch dafür kann sie nur übernehmen, was sie bereits vorfindet.«48 Nach MerleauPonty hat jede Wahrnehmung demnach einen Aspekt des Unpersönlichen. In der Phänomenologie der Wahrnehmung spricht er auch von einem ›man‹, das »in mir wahrnimmt«.49 Auf die Musik (oder auch generell auf Kunst) übertragen, ist das, was von uns wahrnehmend vorgefunden wird, auch schon in besonderer Weise 44 45 46 47 48 49

Rora 2012, 149. Springstübe 2013, 42. Merleau-Ponty 1966, 487. Merleau-Ponty 1966, 254. Springstübe 2013, 44. »Wollte ich infolgedessen die Wahrnehmungserfahrung zum Ausdruck bringen, so müßte ich sagen, daß man in mir wahrnimmt, nicht, daß ich wahrnehme.« Merleau-Ponty 1966, 253.

4. Musik und Leiblichkeit

vorstrukturiert. Es ist nicht nur die Strukturhaftigkeit des Materials, des Klangs, sondern auch eine Vorstrukturierung des Wahrnehmungsfeldes in Form einer zum Ausdruck gebrachten geronnenen Wahrnehmungserfahrung eines anderen Subjektes. (Hier wird die Wahrnehmungserfahrung, die sich im Zwischen von musikschaffendem, musikrezipierendem Subjekt und der eigenen Materialität der Musik herausbildet, im Prinzip selbst zum Kunstwerk.) So lässt sich sagen, dass auch die musikalische Wahrnehmung aktive und passive Anteile hat und dass nur im Dazwischen Gestalt und Form gebildet und somit gewahr werden können. Waldenfels macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Wahrnehmung auch stets etwas Störbares ist. Denn die Richtung der Wahrnehmung könne jederzeit umgekehrt werden. So kann sich die Wahrnehmung plötzlich von einer aktiven, gnostischen in eine passive, pathische umkehren und anders herum.50 Wenn ich zum Beispiel etwas Helles sehe und es plötzlich so hell wird, dass es mich blendet, trifft mich die Wahrnehmung leiblich. (Wie oben beschrieben, würde Schmitz dies als Engung bezeichnen, zuvor von Weitung des Leibes durch die Wahrnehmung sprechen.) Auch beim Prinzip der Ambiguität haben wir es im Grunde mit diesem Wechsel der Wahrnehmungsrichtungen zu tun. Beim Phänomen der Doppelempfindung, wie beim Berühren des eigenen Armes beispielsweise, spüre ich Berühren (aktiv, gnostisch) und Berührtwerden (passiv, pathisch) in einem. Die Vorstellung eines Wechsels der Wahrnehmungsrichtung soll hier jedoch nicht den Eindruck entstehen lassen, es gäbe immer nur ein Entweder-oder. Stattdessen bilden sich für uns ja gerade nur dadurch Form, Gestalt und Struktur (zum Beispiel in der Musik) heraus, dass sowohl aktive als auch passive Wahrnehmungsmomente beteiligt sind. In welchem Verhältnis sie dabei zueinander stehen, ist uns vermutlich nur zu selten bewusst. Letztlich ist es uns weder möglich, unsere Wahrnehmung ausschließlich bewusst zu steuern. Denn dafür müssten wir die Musik schon kennen, bevor wir uns ihr wahrnehmend zuwenden. Musik kann für uns auch nicht zu ›etwas‹ werden, wenn sie lediglich auf unsere Sinne einströmt, ohne dass wir uns ihr bewusst zuwenden. Kurzum, Musikwahrnehmung geschieht zwischen einem unvoreingenommenen Sicheinlassen auf musikalische Wahrnehmungsereignisse51 und einer bewusst intentional ausgerichteten analytischen Wachheit für Form und Struktur. Sie ist Bedingung für die Existenz des Phänomens Musik. Spricht man von der Wahrnehmung von Musik so meint dies in erster Linie das Musikhören. Waldenfels hat den phänomenologischen Wahrnehmungsbegriff auf das Hören übertragen.52 Aufgrund der »Doppelstruktur der Leiblichkeit zwischen 50 51 52

Vgl. Waldenfels 2000, 66ff. Um Musik zu erschließen, bedarf es also auch eines Rückangs auf die ursprüngliche Erfahrung im phänomenologischen Sinne. Insbesondere von Vogt und Oberhaus wird dieser phänomenologische Begriff vom Musikhören aufgegriffen und auf den musikpädagogischen Kontext angewendet, wie weiter unten gezeigt werden wird.

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Bewegung und Musikverstehen

Vollzugs- und Wahrnehmungssinn«,53 spricht Vogt mit Bezug auf Waldenfels auch von einem ›antwortenden Hören‹. Es sei zu verorten im Bereich zwischen hörendem Subjekt und Kunstwerk, wo sich eine Differenz54 herausbilde. (Der Begriff »responsives Hören« wird weiter unten noch näher erläutert.) Die phänomenologische Perspektive zeigt hierbei auf, wie sich im Akt der (Musik-)Wahrnehmung aktive und passive Momente verschränken. Als was wir Musik begreifen, ist also abhängig davon, wie sie uns erscheint, indem wir uns ihr – im Spannungsfeld von Aktion und Passion – wahrnehmend zuwenden. Durch unsere Musikwahrnehmung werden Wesen, Struktur und Gestalt in der Musik gebildet. Doch wenn wir mit Merleau-Ponty davon ausgehen, dass das, was uns wahrnehmend (also vor allem hörend) in der Musik begegnet, wahr ist, da wir nur etwas wahrnehmen können, was sich uns als wahr zeigt, wie steht es dann um die musikalische Wahrheit? Wenn das Erkennen von Formen und Sinnzusammenhängen in der Musik nur auf subjektiven Musikwahrnehmungen aufruhen kann, wie können wir dann überhaupt zu objektiven Wahrnehmungsgestalten in der Musik gelangen? Die phänomenologische Beschreibung der Musikwahrnehmung lässt hier schon erahnen, wie problematisch eine Bewertung musikalischer Wahrnehmungen in ›richtige‹ oder ›falsche‹ ist. Denn etwas – jenseits von dualistischen Wertungen – als wahr in einer Musik zu erleben, bedeutet eine erste wichtige Kontaktaufnahme zwischen Subjekt und Musik und darf in seiner Bedeutung für den Verstehensprozess nicht unterschätzt werden. Folgen wir Springstübe, so findet der Wahrnehmende selbst zu einer ›musikalischen Wahrheit‹, indem er durch wiederholte Wahrnehmung gegebenenfalls korrigiert, was er zu Anfang für wahr hielt.55 Wie später gezeigt werden wird, spielt für das Einnehmen einer ersten kritischen Distanz zur eigenen Wahrnehmung auch der intersubjektive Austausch über Wahrnehmungen eine wichtige Rolle. Dabei kann der Nachvollzug der fremden Wahrnehmung für ein Erkennen des Invarianten sowie des Subjektiven der Wahrnehmung aufschlussreich sein. Insgesamt gilt, wollen wir das Wesen der Musikwahrnehmung ergründen, dass wir uns zunächst selbst in sie hineinbegeben müssen. Eine Untersuchung der eigenen (musikalischen) Wahrnehmung sollte daher von der eigenen (musikalischen) Wahrnehmungserfahrung ausgehen.56 »Was Wahrnehmung ist, kann einzig und 53 54 55

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Oberhaus 2006, 170. Vgl. Vogt 2001, 220. »Denn jede unserer Erfahrungen – sei sie wahr oder falsch – zeigt uns indirekt die ursprüngliche Wahrheit unserer Verbundenheit mit der Welt. […] Als Täuschung erkenne ich sie erst im Nachhinein[,] und zwar dann, wenn sie durch eine andere Wahrnehmung ersetzt wird. Da in der täuschenden Wahrnehmung die Möglichkeit ihrer Korrektur bereits angelegt ist, können auch Illusionen uns zur Wahrheit öffnen.« Springstübe 2013, 39f. Vgl. Springstübe 2013, 34f.

4. Musik und Leiblichkeit

allein die Struktur des wirklichen Wahrnehmens lehren.«57 Merleau-Ponty geht davon aus, dass wir die Welt nur vom Standpunkt unseres Leibes aus wahrnehmen. Demnach sollten wir auch im Bereich der Musik stärker den Blick auf die individuelle Perspektive von Wahrnehmung richten. Denn um zu ergründen, was Musik für uns ist, müssen wir zunächst untersuchen, wie sie uns in der Wahrnehmung erscheint. Zuallererst muss also der Prozess des Wahrnehmens von Musik überhaupt in Gang gesetzt werden, damit sowohl Eigenschaften des musikalischen Gegenstandes als auch die durch die Wahrnehmungserfahrungen des jeweiligen Subjekts bedingte Gerichtetheit und Offenheit für entsprechende Sinneseindrücke des Subjektes aufeinandertreffen können. Interessant ist hier nun die Frage, wie wir im Umgang mit Musik von einem Wahrnehmungs- zu einem Erfahrungsbewusstsein gelangen können, wie sich der Grad der Bewusstwerdung von einem noch vorreflexiven zu einem analytisch-reflexiven verändern kann und inwiefern die Bewusstwerdung beispielsweise mit dem Gebrauch der Verbalsprache zusammenhängt. Diesen Fragen soll in den Kapiteln 5 und 6 nachgegangen werden. Erwähnt wurde in diesem Zusammenhang bereits die Bedeutung von Prozessen der Variation und Wiederholung, die gestaltbildend wirken und somit dem Erkennen einen Boden bereiten. Weiter unten wird außerdem mit einem Exkurs in die Symboltheorie versucht zu klären, wie sich im Aufmerken Prägnanzen der symbolischen Formen herausbilden. An dieser Stelle soll zunächst an einen Kernbegriff der Phänomenologie erinnert werden, der oben bereits im Zusammenhang mit der Wahrnehmung beschrieben wurde: die Intentionalität. Sie spielt eine Rolle, wenn wir danach fragen, wie Wahrnehmung von etwas als etwas überhaupt geschieht. Zu prüfen ist, ob der Begriff auch dabei helfen kann, den Prozess des Musikverstehens zu strukturieren. Im Begriff der Intentionalität wird der psychologische Blickwinkel der Phänomenologie zusammengefasst,58 denn er fragt nach dem Wie von menschlichen Bewusstseinsakten. Intentionalität beschreibt die sinnstiftende Bewegung zwischen Bewusstsein und Gegenstand, die Zielgerichtetheit menschlichen Handelns und Fühlens, und begründet somit, warum es dem Menschen (im Gegensatz zum Tier) möglich ist, sich auf etwas zu beziehen. Geht man davon aus, dass die Intentionalität jegliches Vorkommen mentaler Prozesse anzeigt, lässt sich Intentionalität gar als »das entscheidende Merkmal menschlicher Geistigkeit«59 schlechthin betrachten. Weiter oben wurde mit Merleau-Ponty bereits auf das Paradox des ZurWelt-Seins verwiesen, das durch den Begriff der Intentionalität zum Ausdruck

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59

Merleau-Ponty 1966, 22. »In einem allgemeinen Verständnis bezeichnet I[ntentionalität] die Zielgerichtetheit des Handelns oder der Gefühle. Als philosophischer Terminus wurde er von Brentano zur Charakterisierung der psychischen Phänomene eingeführt.« Prechtl 2008a, 275f. Kemmerling 2009, 142.

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Bewegung und Musikverstehen

kommt: Das Subjekt entwickelt Intentionen gegenüber Gegenständen, die jedoch erst dadurch entstehen, dass es sich zu ihnen (intentional) verhält. Dabei kann sich Intentionalität auch auf Gegenstände beziehen, die nicht per se existieren, lediglich imaginiert werden. Wir können uns also sehr wohl intentional auf Musik beziehen, auch wenn diese kein sichtbarer und greifbarer Gegenstand im herkömmlichen Sinne ist. »Alles, was nötig ist, damit Intentionalität stattfindet, ist die Existenz einer Erfahrung mit der entsprechenden internen Struktur von ObjektGerichtetheit«.60 Im Hinblick auf die Frage, wie uns musikalische Gestalten bewusst werden, wäre nun also zu prüfen, inwiefern auch hier der Begriff der Intentionalität eine Rolle spielt. Zunächst muss mit Zahavi betont werden, dass es nicht darum geht, Intentionalität als zielgerichtetes Handeln (oder als Handeln mit Zweckabsicht) misszuverstehen, auch wenn der Begriff des Akts dazu verleitet. Vielmehr interessiert die Bedeutung von Intentionalität bei Husserl als Gerichtetheit des Bewusstseins im Sinne einer Denk- oder Verstehensleistung des Bewusstseins. Auch im Hinblick auf den Umgang mit Musik erscheint die Husserl’sche Abkehr von der heute noch immer stark verbreiteten Wahrnehmungstheorie des Repräsentationalismus, die Wahrnehmung lediglich als Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt beschreibt, als bedeutsam. Subjekt und Objekt werden nach repräsentationalistischen Theorien so lange als voneinander getrennt betrachtet, bis durch das Einwirken des Objekts auf das Bewusstsein des Subjekts eine Repräsentation des Objektes entsteht. (Zuvor besitzt das Subjekt nach diesem Verständnis noch keine Vorstellung des Objekts im Bewusstsein.61 ) Daher wendet Zahavi ein: »Das entscheidende Problem dieser Theorie bleibt, dass sie nicht erklären kann, wie die Repräsentation im Bewusstsein, die ja per Definition vom Gegenstand verschieden sein soll, uns zum Gegenstand selbst führen kann.«62 Denn phänomenologisch verstanden sind Subjekt und Objekt gleichermaßen für ein Gewahrwerden des Objekts im Bewusstsein des Subjekts verantwortlich und durch einen intentionalen Bogen (bei Merleau-Ponty) miteinander verbunden. Subjekt und Objekt voneinander getrennt zu betrachten ist aus phänomenologischer Sicht nicht tragbar. Denn, so ein Beispiel von Zahavi, schon wenn ich eine Rose betrachte, »dann ist diese Rose, und nichts anderes, der Gegenstand meiner Wahrnehmung. Zu behaupten, dass es hier außerdem noch eine immanente Rose gebe, ein mentales Bild oder eine mentale Repräsentation der Rose, ist ein bloßes Postulat und kann, wie Husserl mit Recht betont, nichts erklären.«63 Die Rose ist so, wie sie ist, im Moment meiner Wahrnehmung für mich wahr; dafür braucht es keinen Umweg über eine mentale

60 61 62 63

Zahavi 2008, 148. Vgl. Zahavi 2009, 16. Zahavi 2009, 17. Zahavi 2009, 17.

4. Musik und Leiblichkeit

Repräsentation, die ich aufgrund von einer Ähnlichkeitsbeziehung im Geiste aktiviere. Wahrnehmend bin ich bei den Sachen selbst, so das phänomenologische Verständnis. Während dem Repräsentationalismus gemäß Wahrnehmung überhaupt erst durch Repräsentation möglich ist, versteht Husserl eine Repräsentation selbst als eine Wahrnehmung, die allgemein Intentionalität voraussetzt. Darum kann eine Repräsentation nicht die Wahrnehmung erklären.64 Husserl spricht stattdessen davon, dass die Erfahrung an sich präsentierende Eigenschaften hat. »Anstatt zu sagen, dass wir Repräsentationen erleben, könnte man vielmehr sagen, dass unsere Erfahrungen präsentierend sind, und dass in ihnen die Welt jeweils in einer bestimmten Weise präsent ist.«65 Auch in der Musikpädagogik hält sich die insbesondere durch Wilfried Gruhn vermittelte Vorstellung, Musikverstehen beruhe lediglich auf der Bildung und dem Zugriff auf mentale Repräsentationen von musikalischen Sinneinheiten,66 bis heute. Unter Verwendung des phänomenologischen Intentionalitätsbegriffs lässt sich gegen diese Vorstellung vom Musikverstehen jedoch folgender Vorwurf erheben: Musikalische Repräsentationen, basierend auf dem Ähnlichkeitsprinzip, können niemals genau das im musikalischen Sinne Gemeinte abbilden.67 Außerdem lässt sich von phänomenologischer Position aus behaupten, dass nicht erst mentale Repräsentationen von Musik die Wahrnehmung von Musik ermöglichen. Die Wahrnehmung von Musik führt uns stattdessen ohne Umwege zur Musik. Wahrnehmend sind wir direkt im musikalischen Klangereignis. Als Konsequenz hieraus sollte im Zusammenhang mit Fragen des Musikverstehens nicht von Repräsentationen, die auf Ähnlichkeiten beruhen gesprochen, sondern vielmehr im Hinblick auf Bedeutungszuweisungen von Korrelationen ausgegangen werden.68 Der Korrelationsbegriff69 ist von Husserl im Zusammenhang mit den Fragen, warum uns die Dinge in der Weise gegeben sind, wie sie uns gegeben sind, und wie es uns

64 65 66

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Vgl. Zahavi 2009, 18. Zahavi 2009, 18; Herv. im Original. »[M]an kann in einem bestimmten formalen Rahmen improvisieren oder eine Melodie absingen; man kann wissen, was musikalische Symbole bedeuten – immer ist dazu aber erforderlich, daß eine musikalische Repräsentation vorhanden ist, die aktiviert werden kann.« Gruhn 1994, 13. Abgesehen davon, dass die Musik als Klangphänomen zur Darstellung in Repräsentationen viel zu komplex ist, bedeutet der Umgang mit musikalischen Repräsentationen einen Umweg, der aus phänomenologischer Sicht weder notwendig noch förderlich ist. Eine auf Musik bezogene repräsentationalistische Theorie erklärt zudem nicht ausreichend, wie es zur Bildung von Repräsentationen an der Musik kommt. Es wird hier daher vorgezogen, im Sinne der Leibphänomenologie und der Symboltheorie Langers stattdessen von der Bildung vorsprachlicher, leiblicher Begriffe auszugehen und so ein (Wieder-)Erkennen von Formen und Gestalten in der Musik zu erklären. Dies soll im Kapitel 5 genau dargelegt werden. Vgl. Godina 2012, S. 28f.

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Bewegung und Musikverstehen

möglich ist, den Gegenstand als solches überhaupt zu verstehen, wiederentdeckt worden.70 Er betont stärker den wechselseitigen Charakter des Prozesses des Gewahrwerdens, der Konstitution eines Objektes oder Gegenstandes im Gegensatz zum Begriff der Repräsentation. Letzterer gibt zudem einen zeitlichen Ablauf vor (erst Bild dann Abbild) und vermittelt somit die missverständliche Vorstellung, ein Gegenstand könne im Bewusstsein gespiegelt beziehungsweise ähnlich abgebildet werden. Außerdem betont der Begriff Korrelation stärker, dass es von der jeweiligen Zugangsweise zum Gegenstand und dem entsprechenden Bewusstseinsakt abhängt, wie mir etwas im Bewusstsein erscheint: »Korrelation ist die spezielle und passende Art des Zugangs zum Gegenstand.«71 Indem man die Begriffe Intentionalität und Korrelation auf einen Umgang mit Musik überträgt, wird betont, wie bedeutend die Art und Weise des passenden Zugangs (und der entsprechenden Art des Bewusstseins-Aktes) für das Verstehen von Musik ist.72 Husserl geht davon aus, dass, obwohl verschiedene Blickrichtungen beziehungsweise Zugangsweisen auf einen Gegenstand verschiedene Empfindungen beim Betrachtenden hervorrufen, es zur Konstitution eines (in sich geschlossenen) Gegenstandes im Bewusstsein kommt. Nach Husserl kann man ein Objekt nur intendieren, wenn es das Objekt unserer Intention ist.73 Zahavi verknüpft mit Bezug auf Husserl die Begriffe Bedeutung und Intentionalität, indem er davon ausgeht, dass wir etwas wahrnehmen, weil es uns etwas bedeutet. Im sprachlichen Ausdruck, indem wir den Dingen einen Namen geben, werde die Bedeutungsintentionalität schließlich realisiert, so Zahavi.74 So gesehen müssten also jegliche auf Musik bezogene Bedeutungszuschreibungen (auch die vorsprachlichen) den Vollzug intentionaler Akte an Musik anzeigen. Bei Merleau-Ponty bezieht sich Intentionalität stärker auf den Leib. Er spricht von der Intentionalität des Leibes und, wie oben beschrieben, von Bewegungsintentionalität. Bei der Erfahrung des intentionalen Zur-Welt-Seins sei der Mensch leiblich beteiligt und werde ihm sein Leib selbst gegenwärtig. Da der Leib das Medium ist, das eine größtmögliche Nähe zum Gegenstand Musik aufweist, kann es im Hinblick auf einen verstehenden Umgang mit Musik zur Anschauungserfüllung beitragen, wenn der Leib bei der Auseinandersetzung mit Musik selbst zum Gegenstand wird, an dem Verstehen möglich ist – so beispielsweise in der Bewegung, in der uns unser Leib selbst mit gegenwärtig wird. Ein leibliches Zur-MusikSein könnte demnach eine (besonders starke,) auf dem Prinzip der Intentionalität 70 71 72 73 74

Vgl. Godina 2012, 28. Godina 2012, 29, Abb. 5. Abb. 7 in Godina 2012, 33, zeigt außerdem, wie Bewusstsein, Gegenstand, Intentionalität, Korrelation und Phänomen zusammenhängen. Ob eine Zugangsweise als passend beurteilt werden kann, hängt dabei im gleichen Maße vom Subjekt und von der Musik ab. Zahavi 2008, 149. Vgl. Zahavi 2008, 148.

4. Musik und Leiblichkeit

beruhende Korrelation zwischen Subjekt und Musik herstellen. Dies betrifft das Sich-Ansprechen-Lassen von der Musik genauso wie die schöpferische Bewegung auf die Musik zu. Der Moment der Korrelation birgt also ein schöpferisches Moment in sich, indem zugleich die Wurzel für Begriffs- oder Symbolbildungsprozesse und somit Verstehen zu sehen ist. Mit den Worten Ursula Stengers sei bereits angedeutet, wie viel Potential die beschriebenen Aspekte der Wahrnehmung, die Intentionalität und Korrelation, im Hinblick auf pädagogische Situationen in sich bergen: »Das Sich-Ansprechen-Lassen von den Dingen, der Welt, von anderen Menschen bildet somit die Voraussetzung, in eine schöpferische Bewegung hineinzukommen. Dies ist kein Akt eines schon bestehenden kreativen Ichs, das den Dingen erst noch ihre Gestalt gibt, sondern in der Bewegung wird bestehendes aufgegriffen, überformt und zu neuen Möglichkeiten geführt. Diese Dynamik braucht ein neues Verhältnis zu den Dingen, aber auch ein Verständnis vom Ich, das nicht statisch, sondern schöpferisch gedacht wird.«75 Weiter oben wurde das Wahrnehmen von etwas als etwas bereits mit Bezug auf Merleau-Ponty als Erfahrung beschrieben, da der Wahrnehmung im phänomenologischen Verständnis bereits Aspekte der Reflexivität innewohnen. Merleau-Ponty geht davon aus, dass wir leiblich immer ganzheitliche Erfahrungen machen. »Seiner Meinung nach kann in der Erfahrung nicht streng zwischen den einzelnen Sinnen unterschieden werden, da ich mit meinem Leib immer eine ganzheitliche Erfahrung mache.«76 Weiter unten soll daher erläutert werden, warum auch das Hören von Musik in gewisser Weise aus phänomenologischer Sicht als Erfahrung verstanden werden kann. Wichtig im Hinblick auf den (musik-)pädagogischen Kontext ist, dass Erfahrung als phänomenologischer Begriff in den Bereich der Wahrnehmung vorverlagert wird. Bei der Wahrnehmung im Sinne Merleau-Pontys handelt es sich um einen Vorgang, der mehr erfasst, als sprachlich kommuniziert werden kann.77 (Dazu soll im Kapitel 5 noch mehr gesagt werden.)   Um auf die Verwendung des phänomenologisch verstandenen Begriffs des Erkennens, in Bezug auf das Erfassen musikalischer Strukturen, vorzubereiten, soll nun an dieser Stelle zunächst geprüft werden, inwiefern der phänomenologische Strukturbegriff sich eignet, um musikalische Wahrnehmungen zu beschreiben. Von Struktur in der Musik und von Musik als Struktur zu sprechen, betont, dass es Bedingung der Existenz des Phänomens Musik ist, dass ihre kleinsten Teile und

75 76 77

Stenger 2002, 181. Springstübe 2013, 43. Vgl. Springstübe 2013, 41f.

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Bewegung und Musikverstehen

Sinneinheiten aufeinander in spezifischen Wirkverhältnissen stehen. Genauer gesagt ist es sogar so, dass der Bezug an sich die kleinste Sinneinheit oder der kleinste Teil der Gesamtgestalt Musik ist, so Christian Grüny in der Kunst des Übergangs. Dabei gilt bereits ein einzelner Ton als Struktur in der Gesamtstruktur Musik, der uns aufgrund seiner Bezogenheit eine musikalische Entwicklung erwarten lässt.78 »Der einzelne Ton, der niemals ein einzelner ist, trägt den Selbstverweis in sich und eröffnet so von allein, quasi automatisch einen musikalischen Raum.«79 Der Strukturbegriff lässt sich jedoch auch zur Beschreibung des Vollzugs von Musik gebrauchen. So erklärt sich beispielsweise die Wirkung von Musik nur auf der Basis von Strukturwahrnehmungen. Denn Ausdrucksgestalten mit ihren entsprechend hervorgerufenen (leiblichen) Reaktionen bilden sich nur auf der Grundlage einer Struktur – in der Kunst als ein Spiel mit Freiräumen innerhalb von Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Die enge Verbindung von Struktur mit Verhalten und Bedeutung, wie sie Merleau-Ponty betont, lässt uns unser Der-Musik-zugewandt-Sein wie folgt verstehen: Wenn wir Musik begegnen, mit ihr umgehen, bedeutet dies stets ein aktives, strukturiertes und damit bedeutungsstiftendes musikbezogenes Verhalten. Das, was wir in der Musik erkennen, bezieht sich dabei immer auf eine Ganzheit, auf die Logik der immanenten Struktur – so zum Beispiel die Wahrnehmung einer Melodie: Sie wird auch wiedererkannt, wenn sich die sie umgebende musikalische Struktur verändert, da ihre innere Struktur für uns, in unserer Wahrnehmung konstant bleibt. Musikalische Wahrnehmung, so lässt sich schlussfolgern, ist immer Wahrnehmung von musikalischen Strukturen. Für eine Struktur, die in sich abgeschlossen ist und sich dadurch von einer sie umgebenden Gesamtstruktur abhebt, verwendet Merleau-Ponty, in Anlehnung an die Gestaltpsychologie, auch den Begriff der Gestalt. Auch Handlungen oder Wahrnehmungen bezeichnet er als Gestalten, da sie sich durch eine innere Struktur auszeichnen.80 Aufgrund dieser inneren Struktur, die in eine Gesamtstruktur eingebettet ist, lassen sich Gestalten auch in andere Kontexte übertragen. (Wie am Beispiel der Melodie weiter oben erläutert wurde.) Strukturen entstehen, so ließe sich festhalten, indem ihre Einzelteile sowohl aufeinander als auch auf einen Gesamtkontext Bezug nehmen. Damit sind sie Voraussetzung für die Bildung und das Erkennen von Gestalten. Strukturhaftigkeit wiederum ist Bedingung für die Kontextunabhängigkeit beziehungsweise Transponierbarkeit von Gestalten in andere Kontexte. Eine Struktur wirkt weiter über ihre eigenen Grenzen hinaus, indem sie ein entsprechendes Verhalten zu sich durch ihr Wesen mitstrukturiert.

78 79 80

Vgl. Grüny 2014, 59. Grüny 2014, 58. Vgl. Springstübe 2013, 25.

4. Musik und Leiblichkeit

Wie ich mich zur Musik verhalte, ist wesentlich abhängig von der wahrgenommenen musikalischen Struktur. Diese wird mir wiederum dadurch gegenwärtig, dass ich mich in einer bestimmten Weise zur Musik verhalte. Der phänomenologische Strukturbegriff kann hier also erneut deutlich machen, dass Erkennen als Wechselverhältnis oder Zwischengeschehen zwischen Musik und vollziehendem Subjekt zu verstehen ist. Dabei beschreibt er genauso die Musik an sich (als Struktur), wie auch unser Verhalten zur Musik (als strukturiert beziehungsweise von Strukturen beeinflusst). Ab wann lässt sich nun in Bezug auf Musik von Struktur und wann von Gestalt sprechen? Wie entstehen Gestalten in der Musik in unserer Wahrnehmung? Es ist zu vermuten, dass sich Gestalthaftes in der Musik nur vor einem Hintergrund abheben kann. Allein der einzelne Ton bedarf der Stille, vor dem er Kontur gewinnt. Für einen verstehenden Zugang zur Architektur eines Musikstückes ist es daher wichtig, die einzelnen strukturellen Sinneinheiten jeweils vor dem Hintergrund einer sinngebenden Gesamtgestalt des Musikstückes zu betrachten. Erst das Bewusstsein für das Musikstück als Ganzes lässt einzelne Gestalten in ihrer Funktion für die jeweilige Musik begreifbar werden. Dabei bilden sich auch in der Musik Sinneinheiten in einem Zwischen, weder allein durch das Herausbilden einzelner markanter Merkmale noch durch ein Aufgehen in einer Gesamtstruktur, sondern im stetigen Wechselspiel der sich fluide bildenden Strukturen. Denn, phänomenologisch betrachtet, bilden sich Gestalten und Strukturen erst in unserer Wahrnehmung und sind uns nicht schon als Fertige gegeben.81 Mit der Bedeutung der phänomenologischen Begriffe Struktur, Ganzheit und Gestalt lässt sich insgesamt erklären, was unter der dritten Stufe82 des verstehenden Zur-Welt-Seins, dem Prozess des Erkennens, zu verstehen ist. Denn es handelt sich im Wesentlichen um das Erfassen überdauernder, wesenhafter beziehungsweise allgemeiner Strukturen. Auf der Ebene des Erkennens bildet sich also schließlich das Gegenständliche für uns heraus. Das erkannte Etwas wird hier weitestgehend objektiv gedacht, seine Bedeutung nehmen wir als intersubjektiv Geteilte wahr. Somit erscheint hier beispielsweise ein Gegenstand »unabhängig von seinem Umfeld und von der Beschaffenheit des Subjekts«.83

81

82

83

Wie oben erwähnt, bringt Waldenfels im Zusammenhang mit der Bildung und der Wahrnehmung von Struktur und Gestalt auch den Aufmerksamkeitsbegriff ins Spiel. In welcher Gestalt und Struktur uns die Dinge erscheinen, zeige sich in der Art und Weise unserer Aufmerksamkeit. Vgl. Waldenfels 2000, 63. Das Bild der drei Stufen ist hierbei eventuell nicht ganz glücklich gewählt, da die Übergänge von der einen zur anderen Stufe fließend sind und es nicht dem phänomenologischen Verständnis entspräche, den durch das Bild der Stufen suggerierten ›Aufstieg‹ in irgendeiner Weise mit einer Wertigkeit der Erkenntnisstufen gleichzusetzen. Waldenfels 2000, 99.

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Bewegung und Musikverstehen

Den Weg hin zum Erkennen bildet die Erfahrung. Aufgrund meiner Erfahrung mit dem Gegenstand ist es mir möglich, diesen wiederzuerkennen und kontextunabhängig zu betrachten. Die Ebene des Erkennens ist es auch, auf der schließlich die Bildung eines Begriffes, als Ausdruck einer »Natur an sich«, gelungen ist. »Auf der dritten und letzten Stufe bildet sich mittels eines Abstraktionsverfahrens eine Natur an sich, die von jedem Bezug auf spezifische lebensweltliche Voraussetzungen frei ist, z.B. als physikalische Welt. Von der Physik sagen wir ja nicht, es gäbe eine deutsche, eine amerikanische oder eine chinesische, sondern die Physik überschreitet die Kulturen auf gewisse Weise.«84 Für Merleau-Ponty beginnt das Denken bereits im Bereich des Vorsprachlichen. Somit fasst er das Erkennen weiter, als einen Prozess, der bereits mit dem Wahrnehmen beginnt. Die Übergänge zwischen Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen seien dabei für ihn fließend, ließen Zwischenbereiche zu. Wann lässt sich also von einem Erkennen in Bezug auf Musik sprechen? »Das Erkennen bleibt vielmehr zurückbezogen auf einen sinnlichen Prozeß der Gestaltbildung und Strukturierung mit all seinen Kontingenzen, Vieldeutigkeiten und Unabgeschlossenheiten.«85 Diese These Waldenfels’ lässt vermuten, dass auch im Hinblick auf das Erkennen von Musik, davon ausgegangen werden muss, dass Erkennen immer an Wahrnehmung gebunden bleibt und somit nie endgültig abschließbar ist beziehungsweise zu absolut eindeutigen Ergebnissen führt. Merleau-Ponty zufolge sollten wir uns nicht auf die vermeintliche Wirklichkeit verlassen und stattdessen das Unbestimmte und Vielfältige zulassen. Denn aus phänomenologischer Sicht gehört es genauso zur Welt wie die gemeinsam geteilte Erfahrung.86 Auch Ursula Brandstätter beschäftigt sich mit der Wahrnehmung und dem Erkennen – insbesondere von und durch Kunst. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass eine Grenzziehung zwischen den Bereichen des Wahrnehmens, Erkennens und Verstehens generell problematisch ist. Auch sie betrachtet Wahrnehmung bereits als eine »Erkenntnisleistung«87 , da in ihr die verschiedensten sinnlich aufgenommenen Informationen miteinander verknüpft werden. »Etwas als etwas wahrnehmen bedeutet: etwas erkennen.«88 Sie fragt weiter, ob darin der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Erkennen liegt, dass uns im Erkennen die Dinge bewusst werden. Das Erkennen von Dingen wäre so gesehen mit dem Bewusstwerden einer Wahrnehmung vergleichbar.89 Generell betrachtet sie jedoch das Grenzziehen zwischen Bereichen, wie Wahrnehmen und Erkennen, als problematisch: 84 85 86 87 88 89

Waldenfels 2000, 100; Herv. im Original. Waldenfels 2000, 107. Vgl. Waldenfels 2000, 55f. Brandstätter 2008, 15. Brandstätter 2008, 16. Vgl. Brandstätter 2008, 16.

4. Musik und Leiblichkeit

»Wo immer man die Grenze ziehen möchte – zwischen sprachlich und nichtsprachlich, zwischen bewusst und unbewusst, zwischen kognitiv und sinnlich, oder auch zwischen intersubjektiv und subjektiv, zwischen logisch und assoziativ – man stößt immer wieder auf dasselbe Problem: Eine klare Grenzziehung ist nicht möglich, denn jeder Akt der Wahrnehmung impliziert Momente des Erkennens, so wie jede Erkenntnis in irgendeiner Weise auch auf Wahrnehmungserfahrungen beruht. [U]nser Denken in der Verbalsprache verleitet uns dazu, Grenzen zu ziehen, wo keine Grenzen sind.«90 Der Frage, wie es genau zum Erkennen und Verstehen von musikalisch Sinnhaftem oder Strukturhaftem kommt und welche Rolle das sprachliche Begreifen dabei spielt, soll sich das folgende, 5. Kapitel widmen. Zuvor werden abschließend drei weitere Aspekte betrachtet, mit denen sich im Besonderen die Nähe zwischen Leib und Musik beschreiben beziehungsweise begründen lassen: zunächst der Aspekt der Bewegung, dann das Musikhören als Sonderform der Wahrnehmung und schließlich der Aspekt der Lebenswelt, hinter dem sich die Frage verbirgt, welche Bezüge Musik zum Leben herstellt und inwiefern Musik als gelebte Leiblichkeit zu verstehen ist.

4.2

Musik und Bewegung

Wie bereits im 3. Kapitel erläutert, meint Bewegung als Begriff der Phänomenologie mehr als nur eine Ortsveränderung. Merleau-Ponty beschreibt Bewegung vielmehr als ein grundlegendes Wesensmerkmal des Leibes und Grundbedingung aller lebendigen Existenzweisen. Schon unser Verhalten, unser Sein zur Welt, ja schon unser Denken und Bewusstsein sind nach seinem Verständnis der Bewegung gleich. Die (Leib-)Phänomenologie interessiert insgesamt besonders das Wie dieser, in seiner Bedeutung weit gefassten, Bewegung. Für die Musik spielt die Bewegung eine zentrale, wesensbestimmende Rolle. Dies zeigt sich unter anderem im Vokabular, das zur Beschreibung von Musik seit jeher Verwendung findet.91 So ist beispielsweise die Geste ein Begriff, der im Hinblick auf den Bewegungsaspekt als Ausdruckskategorie der Musik viel diskutiert wird. Da sich zwischen Bewegung und Musik aus verschiedensten Blickwinkeln eine große Nähe feststellen lässt, wird oft behauptet, Musik sei Bewegung. Die dramaturgischen Entwicklungen, das Aufstauen und das Entladen von Spannungen oder schlicht der Fluss der Zeit in Musik suggeriert uns Bewegung. Genau betrachtet, ist die Bewegung in der Musik jedoch nicht de facto sichtbar, sie bewegt sich in 90 91

Brandstätter 2008, 16f. Vgl. Leonhardmair 2014, 17.

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Bewegung und Musikverstehen

unserer Vorstellung – wir empfinden eine Bewegung. Aus diesem Grund wird ein direktes Gleichsetzen von Musik und Bewegung in dieser Arbeit für ungenau erachtet. Sie betrachtet Bewegung vielmehr als eines der wichtigsten Wesensmerkmale von Musik oder mit Langer als durch Musik hervorgerufene ›primäre Illusion‹ (siehe Kapitel 5). Wie weit sich der Bewegungsbegriff im Hinblick auf den Umgang mit Musik entfalten lässt, soll hier zusammenfassend mit einer Unterscheidung in sichtbare und unsichtbare musikbezogene Bewegung veranschaulicht werden: Sichtbar sind Bewegungen, die Musik realisieren, wie die körperlich-motorische Bewegung am Instrument, die Bewegung des Dirigenten. Weiter kann etwa die (tänzerische) Bewegung zur Musik Bewegungen in der Musik teilweise sichtbar machen. Eher im Verborgenen verbleiben wiederum die durch Musik suggerierten Bewegungen der Töne sowie die beim hörenden Subjekt hervorgerufenen leiblichen Regungen. Phänomenologisch betrachtet, stellt auch der verstehende Vollzug, das Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen von Musik, eine Bewegung (die Subjekt und Objekt verbindet) dar. Auf Musik bezogen lässt sich Bewegung also nicht nur als ein Wesensmerkmal, sondern auch als die Weise des Untersuchens an sich begreifen. Musikalische Bewegungen als eigene zu spüren, nachzuvollziehen und sich bewusst zu machen, bedeutet Zugang zu Musik zu gewinnen, die Bewegung des Verstehens in Gang zu setzen. Indem wir innere, unsichtbare an äußere, sichtbare Bewegungen annähern, können wir zudem in Austausch über unsere eigenen musikalischen Wahrnehmungen gelangen. Dies macht die Nähe zwischen Leib und Musik für das Gebiet der Musikpädagogik so bedeutsam. (Die Bedeutung des bewegten Nachvollzugs von Musik für ein Musikverstehen wird später, im Kapitel 5, nochmals weiter vertieft und erläutert.) Bewegung gilt allgemein als Kennzeichen für alles Lebendige. Dies erinnert an den Unterschied zwischen den Begriffen Leib und Körper. Der Leibbegriff meint den lebendigen Körper, meint lebendige Vollzüge. Auch Musik wird aufgrund ihrer Leibähnlichkeit nur zu dem, was sie ist, wenn wir sie in unserem leiblichen Gewahrwerden sozusagen zum Leben erwecken. Musik und Musikverstehen hat daher in vielfacher Hinsicht immer etwas mit Bewegen, Bewegung und Bewegtwerden zu tun. In den Fachbereichen Musikpädagogik und Rhythmik existieren eine Vielzahl von Veröffentlichungen zum Thema »Musik und Bewegung« aus den letzten Jahrzehnten.92 Dies zeigt, welchen Stellenwert die Bewegung im Kontext der Musikvermittlung hat. Die vorliegende Studie will die Bedeutung der Bewegung aus phänomenologischem Blickwinkel herleiten und unterstreichen. Hierfür soll zunächst an den Bewegungsbegriff von Merleau-Ponty erinnert werden. 92

Zu nennen wären hier beispielsweise Autoren wie Leonhardmair (vgl. 2014), Furgber (vgl. 2002) oder Steffen-Wittek (vgl. 2004).

4. Musik und Leiblichkeit

Bewegung, im physikalischen Sinne, setze, so Merleau-Ponty, zunächst erst einmal voraus, dass etwas beweglich ist. Das bedeutet auch, dass etwas vom Anfangs- bis zum Endpunkt der Bewegung gleich beziehungsweise unverändert bleibt. Somit ist Bewegung an sich ein paradoxes Unterfangen – sie ist Bewegung und zugleich Verneinung der Bewegung. Außerdem hat Bewegung immer einen »äußeren Bezugspunkt«.93 »Ist einmal der Unterschied zwischen Beweglichem und Bewegung gemacht, so gibt es also keine Bewegung ohne Bewegliches, keine Bewegung ohne objektiven Bezugspunkt und keine absolute Bewegung. Indessen ist dieser Gedanke der Bewegung in Wahrheit die Verneinung der Bewegung: die strenge Unterscheidung von Beweglichem und Bewegung besagt, daß streng genommen das ›Bewegliche‹ sich nicht bewegt.«94 Die leibliche Bewegung stellt also einen Sonderfall dar. Denn nach Merleau-Ponty handelt es sich hierbei um eine Bewegung ohne Bewegliches. »Und wenn irgendwo von Bewegung ohne Bewegliches gesprochen werden kann, dann im Falle des eigenen Leibes.«95 Wenn wir beispielsweise einen Gegenstand mit den Augen verfolgen, dessen Bewegung wir leiblich nachvollziehen, so bewegt sich unser Auge nicht tatsächlich auf diesen Gegenstand zu. Er spricht daher stattdessen von einer Bewegung »auf das Wirkliche zu«.96 Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit dem Bewegungsbegriff zielt darauf, begründen zu können, warum wir etwas (im psychologischen Sinne) als Bewegung empfinden beziehungsweise wahrnehmen, was der Definition von Bewegung nicht entspricht, da zum Beispiel kein »Bewegliches« existiert.97 Dabei betrachtet er den Leib als Grundvoraussetzung der Wahrnehmung von Bewegung überhaupt. »Wenn der Leib aller Bewegungswahrnehmung den Untergrund oder Boden beistellt, dessen sie zu ihrer Begründung bedarf, so als das Vermögen des Wahrnehmens überhaupt, insofern er selbst gegründet ist in einem bestimmten Bereich und eingeführt in eine Welt. Ruhe und Bewegung erscheinen zwischen einem Gegenstand, der von sich aus nicht nach Ruhe und Bewegung bestimmt ist, und meinem Leib – der es ebensowenig als Gegenstand ist –, insofern er sich in bestimmten Gegenständen verankert.«98 Die Unterscheidung von Bewegung im eigentlichen oder naturwissenschaftlichen Sinne und der durch unseren Leib empfundenen Bewegung macht nachvollziehbar, 93 94 95 96 97 98

Merleau-Ponty 1966, 312. Merleau-Ponty 1966, 312; Herv. im Original. Merleau-Ponty 1966, 325. Merleau-Ponty 1966, 325. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 313ff. Merleau-Ponty 1966, 325; Herv. im Original.

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Bewegung und Musikverstehen

warum wir eine Bewegung in Musik empfinden. Bei der (unsichtbaren, wesenhaften) musikalischen Bewegung kann weder von Ortsveränderung gesprochen werden noch davon, dass es ein gleichbleibendes Bewegtes gibt. Dennoch hören und empfinden wir eine Bewegung, sogar einen Bezugspunkt der wahrgenommenen Bewegung, wie beispielsweise die erreichte Tonika am Ende einer Melodiebewegung. Ein im Zusammenhang mit Musik und musikalischen Umgangsweisen verwandter Bewegungsbegriff muss demnach weiter gefasst werden. Hier erweist sich das phänomenologische Verständnis von Bewegung als aufschlussreich. Danach ist nicht nur die körperliche Bewegung am Instrument, sondern auch die durch leibliche Regungen, als Antwort auf die Musik hervorgerufene Bewegung als Empfinden, Vorstellen oder Denken, in Bezug auf Musik als Bewegung zu begreifen. Die von diesem Denken angeregte, oben bereits erfolgte Gegenüberstellung von innerer und äußerer beziehungsweise sichtbarer und unsichtbarer Bewegung soll keinen neuen Dualismus kreieren, sondern lediglich das Spannungsfeld verdeutlichen, in dem Bewegung als fließendes Phänomen verschiedene Gestalten annehmen kann. Denn dass eine musikbezogene Bewegung stets verschiedene Aspekte von Bewegung gleichzeitig berührt, lässt sich zum Beispiel daran verdeutlichen, dass die am Instrument ausgeführte Bewegung eng mit einer innerlichen, der imaginierten und einverleibten Bewegung verwoben ist, so Zahavi: »Wenn ich Klavier spiele, sind die Tasten zusammen mit einer Empfindung der Fingerbewegung gegeben.«99 Dass wir Entwicklungen und Strukturierungen in Musik als und aufgrund von Bewegungen wahrnehmen, erklärt auch, warum sich musikbezogene verbale Beschreibungen häufig auf den Aspekt der Bewegung beziehen.100 Die Wortsprache macht sich hier zunutze, was der Bewegungsbegriff ermöglicht: ein direktes leibliches Nachvollziehen (hier in der Vorstellung als gedachtes Bewegen). Wenn es sich bei der musikalischen Bewegung um keine Bewegung im klassischen Sinne handelt, haben wir es dann bei der Bewegung in Musik mit einer Wahrnehmungstäuschung im Sinne Merleau-Pontys zu tun? Merleau-Ponty beschreibt das Phänomen der Wahrnehmungstäuschung als abhängig von einem jeweiligen fokussierten Bezugspunkt. Ihm zufolge hängt das, was wir als bewegt empfinden, davon ab, in welchen Gegenstand wir uns wahrnehmend vertiefen. Wir können auch eine Bewegung empfinden, wenn sich in Wirklichkeit nicht tatsächlich etwas bewegt. Als Beispiel hierfür nennt er das Phänomen der sich scheinbar bewegenden Kirchturmspitze.101 Diese bewegt sich, wenn wir sie, in den Himmel schauend, fokussieren. Auch kommt es uns so vor, als sei es der eigene Zug, der den Bahnhof

99 Zahavi 2009, 103. 100 Man denke beispielsweise an Beschreibungen kontrapunktischer Musikstücke. Hier werden die Entwicklungen der einzelnen Stimmen und ihre Verhältnisse zueinander gern als Bewegungen beschrieben. 101 Vgl. Merleau-Ponty 1966, 323.

4. Musik und Leiblichkeit

verlässt, obwohl sich lediglich der Zug auf dem gegenüberliegenden Gleis bewegt, den wir beobachten.102 »Die Wolke schwebt über den Kirchturm hin, wenn wir auf die Wolke hinblicken, der Fluß fließt unter der Brücke hindurch, wenn wir auf den Fluß hinsehen. Der Turm fällt quer über den Himmel, die Brücke gleitet über einen erstarrten Fluß hin, wenn wir auf den Turm bzw. die Brücke hinblicken. Was uns den einen Teil des Feldes als Bewegliches, den anderen als Hintergrund gelten läßt, ist die Art und Weise, in der wir durch den Akt des Blickens unser Verhältnis zu ihnen begründen.«103 Entscheidend für die wahrgenommene Bewegung ist, wie sich unser Leib zu den Wahrnehmungsgegenständen positioniert. Dies zeigt, wie stark der leibphänomenologische Bewegungsbegriff mit Aspekten des Raumes und der Zeit verwoben ist, wie bereits im Zusammenhang mit dem Körperschema erklärt wurde. Übertragen auf die Musik erfolgt das Gewahrwerden von musikalischen Gestalten und Strukturen auch auf der Grundlage eines räumlichen sich In-BezugSetzens, der Positionierung zu Bezugspunkten. Wie wir die Bewegung in der entsprechenden Musik empfinden, hängt dabei davon ab, in welche Gehalte wir uns wahrnehmend vertiefen. Das Phänomen der Bewegung eröffnet uns somit auch die raum-zeitliche Dimension von Musik. (Langer bezeichnet die aufgrund von Bewegungen in der Musik empfundene Räume als »sekundäre Illusionen«104 .) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die von uns in der Musik wahrgenommene und empfundene Bewegung im Prinzip den Charakter einer Illusion oder einer Täuschung hat, da sie de facto (im Sinne von sichtbar) nicht existiert. Bewegung in der Musik ist weder mess-105 noch konkret greif- oder sichtbar. Hinter ihr verbirgt sich eine nicht eindeutig bestimmbare Wahrheit von transportierten Bedeutungen. Ihre Existenz ist gebunden an ein sie leiblich gewahr werdendes Individuum, das sich der Wahrnehmung von Musik öffnet und diese als real existierende Bewegung empfindet. Ob und in welcher Intensität Bewegungen in der Musik wahrgenommen werden, ist dabei abhängig vom jeweiligen Erfahrungshorizont des Wahrnehmenden. Das betrifft nicht nur die Erfahrungen des Hörenden mit Musik, sondern auch seine eigenen leiblichen Erfahrungen mit Bewegung, mit dem Wechsel von Ruhe und Entwicklung, dem Aufladen und Entladen von Spannungen, dem Wiederkehren von Konstantem und dem Phänomen der Veränderung. ›Bewegung‹ als aus der Naturwissenschaft entlehnter Begriff ist also im Ur102 103 104 105

Vgl. Merleau-Ponty 1966, 325f. Merleau-Ponty 1966, 323. Grüny 2016, 13, mit Bezug auf Langer. Hier würden Physiker möglicherweise einwenden, dass sich Elemente wie Schallwellen durchaus messen ließen – nur dass diese Zahlenwerte nicht ausreichend zu erklären vermögen, warum wir diese Bewegung spüren.

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Bewegung und Musikverstehen

sprung kein musikalischer Begriff. Er wird in Bezug auf die Musik geweitet und unter anderem in metaphorischer Weise verwendet, um Ähnlichkeitsbeziehungen sichtbar zu machen. Die Wesensmerkmale des ursprünglichen Bewegungsbegriffs, wie beispielsweise Ruhe- und Orientierungspunkte, Unbewegtes im Bewegten etc, können dabei dazu beitragen, die Strukturen von Musik zu deuten, Verhältnisse und Sinnkerne in der Musik zu entdecken; dies, indem der Mensch seine eigenen leiblichen Bewegungserfahrungen außerhalb der Musik mit Erfahrungen verbindet und in Beziehung bringt, die nur im Gebiet der Musik gemacht werden können. An einen wichtigen phänomenologischen Begriff, der mit dem Bewegungsbegriff im Zusammenhang steht, sei hier noch einmal erinnert, da er erklärt, warum Vollzüge wie das Wahrnehmen (von Musik) phänomenologisch als Bewegung verstanden werden: die Intentionalität. Wie eng der phänomenologische Bewegungsbegriff mit dem Begriff der Intentionalität verwoben ist, lässt sich daran erkennen, dass beide Begriffe benutzt werden können, um den jeweils anderen zu beschreiben. So wird zum einen die Intentionalität als eine sinnstiftende Bewegung zwischen Bewusstsein und Gegenstand beschrieben und zum anderen der »intentionale Bogen«106 als Ursprung jeder Bewegung betrachtet. Wie oben beschrieben, klärt der Begriff der Intentionalität das Wie menschlicher Bewusstseinsakte. Da nach Merleau-Ponty im Normalfall die Bewegung immer mit einem »Bewußtsein der Bewegung«107 zusammenfällt, betrachtet er die leibliche Bewegung als in eins, Bewegung und Bewusstsein der Bewegung. Er spricht auch von »Bewegungsintentionalität« oder von »motorischer Bedeutung«108 (synonyme Verwendung). Denn »es gibt einen Bewegungsentwurf und eine Bewegungsintention«,109 so Waldenfels mit Bezug auf Merleau-Ponty. Wenn uns also Räume und Gegenstände nur ausgehend von unserer leiblichen Bewegung erkennbar werden, so ist Bewegung für uns die Bedingung von Welterschließung überhaupt und kann demnach mit dem Denken gleichgesetzt werden.110 Diesen Sachverhalt umschreibt Merleau-Ponty auch mit der Bezeichnung »intentionale[r] Bogen« in Bedeutung einer Antizipation des Bewegungsziels durch den Leib.111 »Merleau-Ponty faßt die Einheit von Motorik, Sensorik und Denken als leibliche Bewegung oder als intentionalen Bogen.«112 Ort dieser Verschmelzung von Bewegung, Bewusstsein und Denken ist unser Leib.

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Merleau-Ponty 1966, 164. Waldenfels 2000, 147. Merleau-Ponty 1966, 136. Waldenfels 2000, 147f. Vgl. Waldenfels 2000, 149. Vgl. Good 1998, 69. Waldenfels 2000, 148.

4. Musik und Leiblichkeit

Um zu unterstreichen, dass der leibphänomenologische Bewegungsbegriff mehr bedeutet als bloße Ortsveränderung, kann statt von Bewegung auch vom Bewegen gesprochen werden. Dies suggeriert außerdem weder eine Ausrichtung auf ein konkretes Ziel noch eine Abschließbarkeit oder genaue Fassbarkeit von Phänomenen. Auch legt es stärker den Fokus auf das Prozesshafte, wenn vom Empfinden statt von Empfindung – siehe oben – gesprochen wird. Bewegung im Sinne eines Bewegens lässt sich insgesamt als Fähigkeit beschreiben, die Dinge »zum Sprechen zu bringen«.113 Etwas, was dieser Fähigkeit wiederum zugrunde liegt (und den Menschen vom Tier unterscheidet), ist die »›Projektions‹-Funktion« nach Merleau-Ponty: »Die normale Funktion, die eine abstrakte Bewegung ermöglicht, ist eine ›Projektions‹-Funktion, durch die das Bewegungssubjekt vor sich einen freien Raum sich schafft, in dem, was im natürlichen Sinne nicht existiert, einen Anschein von Dasein gewinnen kann.«114 Das Projektive gilt als Wesensmerkmal von Bewegungen. Es sei, so schreibt Seewald, als in der Bewegung »inkarniert« zu verstehen.115 Merleau-Ponty beschreibt mit dem Bewegungsbegriff, so fasst Seewald zusammen, insgesamt folgende zwei Fähigkeiten des Leibes: »sich erworbenen Welten in einem präreflexiven Verstehen einzupassen und außerdem sich zur Welt hin zu entwerfen in einen Raum von Möglichkeiten.«116 Diese beiden Fähigkeiten (des habituellen und aktuellen Leibes) lassen sich auf den Umgang mit Musik übertragen. Zum einen besitzt unser Leib, wie oben beschrieben, die Fähigkeit, Musik leiblichbewegt nachzuvollziehen. Die durch Musik suggerierten Bewegungen werden leiblich gespürt und präreflexiv erfasst. Zum anderen bedeutet, nach Merleau-Ponty, jegliches schöpferische Erfassen von Sinnstrukturen in der Musik eine sinnstiftende Projektion im Sinne einer Bewegung auf die Musik zu. Es wurde bereits die Frage aufgeworfen, ob der Intentionalitätsbegriff auch Aufschluss darüber geben kann, wie musikalische Sinngestalten im Umgang mit Musik bewusst werden. Angeregt durch den Korrelationsbegriff, den Godina mit dem der Intentionalität in einen Kausalzusammenhang bringt, wurde bereits für die Musik abgeleitet, dass es eine Frage des passenden Zugangs (der zustande kommenden Korrelation) ist, ob Musik beziehungsweise etwas in der Musik den Menschen, der mit ihr umgeht, anspricht. In Bezug auf Musik soll der Intentionalitätsbegriff hier nun stärker auf den Bewegungsaspekt bezogen und somit die Intentionalität im Sinne Merleau-Pontys als Intentionalität des Leibes (im Sinne 113 114 115

116

Seewald 1992, 31. Merleau-Ponty 1966, 137. »Dabei tritt das Entwerfende nicht von außen als Akt eines thetischen Bewusstseins oder einer assoziierten Idee an die Bewegung heran, vielmehr belebt und beseelt es sie und trägt sie in jedem Moment von innen heraus«, Merleau-Ponty 1966, 128. Anders ausgedrückt: Das Projektive ist eingebettet oder »inkarniert« in der Bewegung. Seewald 1992, 31. Seewald 1992, 32.

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Bewegung und Musikverstehen

einer Bewegungsintentionalität) aufgefasst werden. Vorangestellt sei dafür nochmals die Behauptung, dass, indem uns Musik den Eindruck von Bewegung vermittelt, unsere leiblichen Bewegungserfahrungen mit Bewegungssuggestionen in der Musik korrelieren können. Diese Korrelationen können dabei Verknüpfungen bewusst machen, die ein rein sprachgebundenes, abstraktes Denken nicht hervorbringen kann. Der phänomenologische Bewegungsbegriff macht auch das Denken als etwas begreifbar, dass bereits in unserem leiblichen Zur-Welt-Sein geschieht. Besonders wichtig für den Umgang mit Musik ist hierbei die phänomenologische Einsicht, dass es vor einem Denken in sprachlichen Begriffen ein Denken in Bewegung gibt. Die beiden Richtungen, aus denen Merleau-Ponty die Bewegung betrachtet – die schöpferische, projizierende Bewegung zur Welt und den Dingen hin und die einverleibende präreflexiv verstandene Bewegung –, finden sich auch wieder in seiner Unterscheidung von konkreter und abstrakter Bewegung. Abschließend sollen diese beiden Arten der Bewegung auf einen Umgang mit Musik übertragen werden. Wenn die konkrete Bewegung das gewohnheitsmäßige, einverleibte Verhalten meint, so betrifft dies möglicherweise die Phase von Bewegungen zur Musik (wie beispielsweise bei der Produktion von Musik), bei der wir uns ganz als mit der Musik verwachsen fühlen. Die von der Musik vermittelte Bewegung wird als eigene empfunden. Einzelne Bewegungsabläufe werden hierbei nicht explizit bewusst gemacht. Beim eingeübten Spiel denken wir nicht mehr über die Bewegung oder Haltung des einzelnen Fingers am Instrument nach. Es scheint, als würden wir das Lied, das wir vortragen, selbst verkörpern – jegliche Gesangstechnik tritt in diesem Moment in den Hintergrund. Zwischen dem Singen als bewegter Handlung und dem Fließen des musikalischen Gedankens durch die Stimme tritt – im Idealfall – kein Hindernis. Genauso können wir körperliche Bewegungen zur Musik als so passend und stimmig empfinden, dass es uns scheint, als würden wir mit ihnen die musikalischen Sinngehalte direkt anzeigen können. Die Bewegungen des habituellen Leibes betreffen den Aspekt der Gewöhnung, der bei einem (verstehenden) Umgang mit Musik eine wichtige Rolle spielt (wie weiter unten in Kapitel 5 noch gezeigt werden wird). Die konkrete Bewegung im Sinne Merleau-Pontys meint eine Weise der Bewegung, die (von der Musik ausgehend) vom Leib übernommen, mitempfunden, direkt in das kinästhetische Bewegungsbewusstsein integriert und noch nicht hinterfragt wird. Mit der abstrakten Bewegung haben wir es widerum zu tun, wenn es im Rahmen schöpferischer Prozesse bei der Auseinandersetzung mit Musik zur bewussten Bildung von Sinnzusammenhängen kommt. Sie versteht sich daher eher eine Bewegung des Leibes zur Musik hin, als sinn-konstituierende Bewegung des Erkennens oder Verstehens.

4. Musik und Leiblichkeit

Die beschriebenen zwei Bewegungstypen nach Merleau-Ponty liegen bei dem Umgang mit Musik jedoch vermutlich nie in Reinform vor. Ihre Richtungen können sich stets ändern, die eine die andere Bewegungsweise beeinflussen. So beispielsweise im Moment der ästhetischen Erfahrung, in dem etwas grundlegend in Frage gestellt wird und sich in der Wahrnehmung neue Strukturen herausbilden. Dabei scheint insbesondere die abstrakte Bewegung aus der konkreten Bewegung hervor zu gehen. Denn es bedarf eines In-der-Musik-Seins (als Moment, in dem Leib Musik und Musik Leib ist), um etwas zu erleben, das hinterfragt und neu sortiert werden kann. Schließlich steht es um unseren bewegten Umgang mit Musik genau so, wie mit unserem Sein zur Welt: Zu Leben bedeutet ein stetiges Hin und Her zwischen einem sich Einfügen in das Gegebene und dem Entwerfen von Neuem beziehungsweise Hinterfragen des Gegebenen. Merleau-Ponty spricht auch von der »doppelten Charakteristik« der Welt, auf die er durch eben diese Trennung von konkreter und abstrakter Bewegung Bezug nimmt. »Im Zentrum des Bewußtseins liegt die Struktur Welt mit ihrer doppelten Charakteristik als Sedimantation und Spontaneität.«117 Musik, so lässt sich schlussfolgern, fordert beide Arten der Bewegung beim Menschen, der mit ihr umgeht, heraus. Sie vereint Verbindendes und Trennendes, Eigenes und Fremdes. Die große Nähe zwischen Leib und Musik zeigt sich daran, dass der Leib stets Anklänge an der Musik findet. Dies, indem Musik uns Strukturen nachempfinden lässt, die unserem eigenen Leben zu entspringen scheinen. Die konkrete Bewegung bildet, wird hier vermutet, die Grundlage für die abstrakte Bewegung. Denn die abstrakte Bewegung, die zu einem Benennen von Bedeutung führt, kann nur aus dem Bereich des Zwischen entspringen. Dieser wird durch konkrete Bewegungen (zum Beispiel durch die Grundschicht des Empfindens) eröffnet. Als ein Kunstwerk fordert Musik die abstrakte Bewegung heraus, indem sie uns nach ihrer Bedeutung fragt. Dabei enthebt sie uns aus der alltäglichen Welt, der Welt der Selbstverständlichkeiten und der unhinterfragten Vollzüge.   Mit der Unterscheidung von abstrakter und konkreter Bewegung konnte MerleauPonty die beiden Seiten des menschlichen Weltverhältnisses aufzeigen: die der erlebten Weltzugehörigkeit und die des reflexiv-schöpferischen und erkennenden Eingreifens in die Welt. Grundlegend für den Nachvollzug musikalischer Bewegung, ein musikalisches Denken als Bewegung, ist das kinästhetische Bewegungsbewusstsein, als Fähigkeit des Leibes, sich verstehend zur Welt hin zu verhalten.118 Letztere basiert auf der

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Merleau-Ponty 1966, 75. Aufschlussreich sind hierzu auch die Ausführungen Erwin Straus‹ zur Einheit von Empfinden und Sichbewegen in seinem Werk Vom im Sinn der Sinne, und die hierauf Bezug nehmende Arbeit von Marlovits, vgl. Marlovits 2001, 9ff, nach Straus 1956.

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Bewegung und Musikverstehen

Verbindung von Bewegen und Empfinden, die die Phänomenologie ans Licht gebracht hat. Aufgrund der Bedeutung dieses Zusammenhangs für das Verstehen von Musik wird an dieser Stelle noch einmal kurz auf das Zusammenspiel von körperlich-leiblicher Bewegung, Bewegungsempfindung und leiblicher Eigenerfahrung geschaut. Neben Merleau-Ponty und Erwin Straus untersucht auch Beate Schüler die Verbindung von Empfinden und Bewegen im Hinblick auf das eigenleibliche Spüren, die leibliche Eigenerfahrung. Sie fragt, in welchen Momenten wir im Vollzug von Bewegungen unseren Körper, die Körperhaftigkeit unseres Leibes spüren und wie Erkenntnisse von positiv und negativ erlebtem eigenleiblichen Spüren insbesondere in tanz-therapeutischen Kontexten von Nutzen sein können. »So wird unser Körper zunächst in aller weltlichen Erfahrung miterlebt und erst in einem zweiten Schritt, sozusagen in einer Rückbesinnung des Leibes auf sich selbst, wahrgenommen und erfahren. Zuerst höre ich und in einem zweiten Schritt verfolge ich das Hören zurück zu meinen Ohren, die mir das Hören ermöglichen.«119 Die Besinnung auf den eigenen Körper hat Schüler zufolge nicht nur einen einschränkenden Effekt auf das eigenleibliche Spüren, sondern kann auch (insbesondere, wenn ich es selbst wähle) als positiv, im Sinne einer Erweiterung der Wahrnehmungsmöglichkeiten erlebt werden. In Bezug auf das Wahrnehmen der eigenen Leiblichkeit, beschreibt sie Wahrnehmungsveränderung als Bewegungen.120 »Da aber wir und die Welt zusammenhängen, eins sind in unserer Entstehung, können wir unseren Leibkörper und unseren Weltleib durch jede wahrgenommene Bewegung erfahren.121 Schüler betont hierbei, dass das eigenleibliche Spüren nicht als erleidende Erfahrung, sondern bereits als Möglichkeit der Gestaltung von Leben und Welt verstanden werden sollte.122 Sie geht davon aus, dass Empfindungen nicht einfach schon bestehen, sondern als Prozess schöpferisch gebildet werden und dabei stets ein Auf-etwasbezogen-Sein123 bedeuten. Entsprechend werden all unsere Bewegungen durch unsere Umwelt geprägt. Aus diesem Grund hängt es, so schreibt Schüler, beispielswei-

119 Schüler 2014, 49. 120 »Dieses Gebären oder Entstehen von etwas gänzlich Neuem kann man auch als Bewegung sehen. Denn das Wahrnehmen einer Grenze ist auch das Wahrnehmen einer Veränderung, die notwendig wird.« Schüler 2014, 53. 121 Schüler 2014, 54. 122 »Es sei hier noch angemerkt, dass auch Merleau-Ponty Leiblichkeit nicht nur negativ als faktische Vorbefindlichkeit und die Begrenzung der eigenen Entwürfe betrachtet, sondern er sieht ebenfalls die erweiternden Aspekte wie Initiative, Intentionalität und Transzendenz und damit eine Offenheit für die Welt und die Anderen.« Schüler 2014, 56. 123 Vgl. Schüler 2014, 70.

4. Musik und Leiblichkeit

se auch von unserer jeweiligen Sozialisation und Kultur ab, worauf wir aufmerksam werden. Der unbewusste Teil unserer Bewegungen sei direkt abhängig von den uns prägenden sozialen und kulturellen Komponenten, so Schüler mit Bezug auf Gunter Gebauer: »Bewegungen sind also keine anthropologischen Urtatsachen, sondern sie sind erlernt, sozial geformt und werden in gesellschaftlichen Situationen aufgeführt: Das Subjekt bewegt sich nicht in einer amorphen Welt, sondern in einer kulturell geformten, von Kulturtechniken geprägten und von Machtbeziehungen durchzogenen Sozialwelt. In der Disziplinierung des Körpers geben wir Erziehung, Moralisierung, Bewertung, Ausdruck und Lebenslagen wieder.«124 Um Momente des eigenleiblichen Spürens zu untersuchen, setzt sie sich mit 3 Ansätzen aus den Bereichen Tanz und Tanztherapie auseinander: mit den Theorien von Rudolf von Laban, Frederick Alexander und Anna Halprin. Hier soll kurz zusammengetragen werden, wie die jeweiligen Ansätze das Zustandekommen von eigenleiblichem Spüren erklären. Nach Laban werden unsere leiblichen Eigenerfahrungen in unseren Bewegungen verkörpert und dadurch für uns erfahrbar.125 »Bei der Praktizierung einer bewussten Bewegung setzt ein Denken in Bewegungsbegriffen ein, welchem Laban das Denken in Wortbegriffen gegenüberstellt.«126 In der Wahrnehmung unserer eigenen Bewegung wird es uns demnach möglich, im vorsprachlichen Bereich einen verstehenden Zugang zu uns selbst zu bekommen. Laban betont jedoch auch, wie schwer es sein kann, gewohnheitsmäßige Bewegungen bewusst zu machen. Dies sei jedoch Voraussetzung dafür, überhaupt etwas verändern zu können. Die Änderung von Bewegungsgewohnheiten macht Alexander zum zentralen Thema seines Ansatzes. Er findet heraus, »dass die unbewusste, instinktive Steuerung, die auf das Auftreten eines Reizes und dem gewohnten Gebrauch des Körpers zur Erreichung des impliziten Ziels folgte, wesentlich stärker war, als eine bewusste, überlegte Steuerung des Körpergebrauchs«.127 Laban macht für die Schwierigkeiten der Änderung gewohnheitsmäßiger Bewegungen eine Täuschung unserer Sinneswahrnehmungen und somit Empfindungen verantwortlich. Diese würden uns bisweilen fälschlicher Weise suggerieren, mit der gewohnten Haltung das angestrebte Ziel zu erreichen. Da wir stets tun, was wir tun wollen, würden wir uns hier von unseren Empfindungen sozusagen täuschen lassen.128 Eine Lösung sieht er im ›Innehalten‹ und dem ›Geschehen-lassen‹ von Bewegungen, verbunden

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Schüler 2014, 80. Vgl. Schüler 2014, 103. Schüler 2014, 96. Schüler 2014, 105f. Vgl. Schüler 2014, 106.

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Bewegung und Musikverstehen

mit einem »Loslassen der Bewegungsvorstellung« gegenüber einem aktiven Tun.129 »Der Mensch hebt sich hier für kurze Momente aus seinem Kultur-sein heraus und taucht in eine unmittelbare Bewegung ein.« Auch Halprin sieht in der Bewegung eine Möglichkeit und Chance, zu einem Zugang zum Weltverständnis des Sich-Bewegenden zu gelangen, das im Ausdruck und durch die Bewegung für den Menschen vorsprachlich begreifbar wird. »Denn während die Sprache in einem Prozess der Selbsterkenntnis bezeichnet, was wir bereits wissen, so erschließt sich nach Halprin mittels Bewegungen das Unmittelbare.«130 Halprins Intention ist es daher, die Menschen zu ihrem ganz eigenen Ausdruck zu bewegen, um ihnen ihr eigenes Sein in seinen jeweiligen Strukturen bewusst zu machen.131 Alle drei Ansätze, so lässt sich zusammenfassen, verfolgen die Bewusstwerdung von Bewegung zum Zwecke des Selbst- und Weltverständnisses und der Möglichkeit des schöpferisch-gestaltenden Eingreifens in die Welt durch Bewegung. Bei jeder Verkörperung durch Bewegung, sowie bei der Schwierigkeit gewohnheitsmäßige Bewegungen zu verändern, zeigt sich außerdem ein im Körper angelegtes Gedächtnis (Leibgedächtnis).132 Kunst kann, so schlussfolgert Schüler, transformative Kräfte freisetzen und heilen, indem sie den Rezipienten aus seinem momentanen Wahrnehmungsfeld befreit und neue Wahrnehmungsmöglichkeiten zugänglich macht.133 Bewegung ermöglicht uns dabei auch, uns unseres eigenen Leibes bewusst zu werden. »So wird die Bewegung zu einem Spiegel der leiblichen Verkörperung von Selbst und Welt. Hier lässt sich der eigene Leib als unmittelbar gegeben erfahren, was bedeutet, dass Sinnstrukturen und Gestaltgebilde in der Verkörperung der Bewegung erfahrbar werden.«134 Erfahrbar wird uns unsere Bewegung, indem wir aufmerken, uns willentlich unserer Bewegung zuwenden. Dies kann auch unfreiwillig geschehen, wenn uns zum Beispiel negatives körperliches Befinden Grenzen unserer Bewegung aufzeigt. Neben positiven Körperwahrnehmungen, sind diese auch negative, wie Schmerz und Krankheit.135 Unser Denken, Wahrnehmen und Handeln kann wiederum auch bewirken, dass wir so etwas wie Schmerz oder ähnliche leibliche Regungen zu vergessen scheinen. Wir nehmen ein schmerzendes Knie während einer spannenden Ski-Abfahrt plötzlich nicht mehr wahr.136 Sind wir ganz in unsere Bewegung vertieft, da die Bewegung, die wir aus129 Vgl. Schüler 2014, 108. 130 Schüler 2014, 115. 131 »Es wird deutlich, dass der Mensch sich mittels des Ausdrucks selbst erfährt und gleichzeitig die Welt begreift, in der er lebt. Beide, Selbst und wahrgenommene Welt, verkörpern sich im Ausdruck, der sich in der Bewegung verkörpert.« Schüler 2014, 125. 132 Vgl. Schüler 2014, 145. 133 Vgl. Schüler 2014, 139f. 134 Schüler 2014, 154. 135 Vgl. Grupe/Krüger 2007, 238. 136 Vgl. Grupe/Krüger 2007, 238.

4. Musik und Leiblichkeit

üben, genau unserem Können entspricht und dementsprechend ohne Widerstände gelingt, wird uns unser Körper schier unsichtbar. Dann erleben wir diese Bewegung sogar als Freiheit und Möglichkeiten, der Grenzen der eigenen Existenz in diesem Moment zu entkommen. »Im Handeln und in der (gekonnten) Bewegung ›unterscheiden‹ wir uns nicht von unserem Leib. Wir ›sind‹ unser Leib, sagt man, sind mit ihm identisch.«137 Unser Körper bleibt für uns solange unsichtbar, solange wir uns nicht freiwillig oder unfreiwillig zu unserem Bewegen, sowie zu uns selbst, distanzieren. Auf Grund dieser Tatsache unterscheidet der Sportpädagoge Ommo Grupe Leibsein und Körperhaben in Anlehnung an Helmuth Plessner im Hinblick auf die Bewegung: »Die Unterscheidung des gelebten Leibes von einem erlebten Leib besagt, dass uns unser Körper und unsere körperlichen Reaktionen, Funktionen, Vollzüge in der Regel nicht bewusst und gegenwärtig sind. Man weiß, dass man sich bewegt, aber weiß eigentlich nicht wie. Wenn wir uns wohlbefinden, unsere Absichten mit unserem Können und unseren Möglichkeiten übereinstimmen, bleibt unser Körper sozusagen in der ›Anonymität‹ des Selbstverständlichen verborgen.«138 Für diesen Moment an dem wir auf unseren Körper aufmerksam werden, ihn erleben, er zum Gegenstand unserer Wahrnehmung wird, gebraucht Helmut Plessner die Begrifflichkeit »Körperhaben« und stellt dieses dem »Leibsein« gegenüber.139 Ein verändertes Körpererleben verändert auch das Erleben unserer Umwelt. Desgleichen kann eine veränderte Umwelt sich auf unser Körpererleben auswirken – denn: »Der Körper ist der ›Mittler‹ zwischen Person und Welt«140 , so Grupe. Es lässt sich schlussfolgernd feststellen: Wir erfahren unsere Körperlichkeit (im Sinne eines leiblichen Spürens unseres Körpers) sowie die Welt um uns über die Bewegung. Grupe bezeichnet die Bewegung folglich als »Vermittlungsorgan«: »Bewegung ist dabei als ›Handlung‹ und als ›Aufgabe‹ zu verstehen, über die sich der Mensch seine Welt erschließt. Er nimmt sie über Bewegung wahr, ›erkennt‹ sie, drückt sich ihr gegenüber aus und gestaltet sie. Bewegung ist deshalb zum einen ›Vermittlung zur Welt‹ und zum anderen ›Wahrnehmung der Welt‹, sie ist ›Organ‹ ihrer Erfahrung und ›Instrument‹ ihrer Gestaltung in einem. Da körperliche Bewegung ein solches Vermittlungsorgan ist, erfahren wir vieles von unserer Welt und von uns selbst durch sie, manches sogar ausschließlich.«141

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Grupe/Krüger 2007, 237. Grupe/Krüger 2007, 236. Vgl. Grupe/Krüger 2007, 237. Grupe/Krüger 2007, 257. Grupe/Krüger 2007, 245f.

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Bewegung und Musikverstehen

Auch Sportpädagogen, wie Marlovits und Grupe ist der naturwissenschaftliche Bewegungsbegriff zu eng. Sie beziehen sich ebenso auf leibphänomenologische Erkenntnisse. Dabei ist es ihr Anliegen, das Verständnis vom Begriff Bewegung von der bloßen Orts-und Lageveränderung hin zur Bewegung als Handlung zu erweitern.142 »Menschliche Bewegungen sind prinzipiell als Handlungen zu verstehen; dies besagt, dass sie intentional, zielgerichtet und regelgeleitet sind.«143 Das Gleichsetzen von Bewegung und Handlung betont, dass Bewegungen, stets einen Anlass haben, sich auf etwas beziehen und somit immer einen Sinn in sich tragen. Auch diese Arbeit untersucht, inwiefern Bewegungen in Bezug auf Musik Sinn enthalten und aufschließen. Als innere sinngenerierende musikbezogene Bewegung gilt das Empfinden und Wahrnehmen von Musik. Bevor der Frage weiter nachgegangen wird, inwiefern innere musikbezogene Bewegungen für ein Verstehen von Musik an eine sichtbare, leiblich-körperliche Bewegung gebunden sind, soll zunächst die, eher im Verborgenen sich ereignenden, innere Bewegung nähere Betrachtung finden. Mit ihr befasst sich auch der Philosoph Günther Anders in seiner Schrift Philosophische Untersuchungen zur musikalischen Situation (1930/31), in der er das Phänomen der »Umstimmung« des Menschen in der musikalischen Situation als innerlichen Mitvollzug musikalischer Bewegungsformen beschreibt.144 Durch den Vollzug von Musik begebe sich der Mensch, so Anders, nicht nur in eine andere Zeitstruktur (in die der Musik), sondern werde von der Musik »völlig umgestimmt und verwandelt«.145 Hierfür müsse er jedoch auch eine gewisse Bereitschaft, sich verwandeln zu lassen, aufbringen. »Die Verwandelbarkeit ist eo ipso ein Offensein für Bewegungsarten, die sonst dem Menschen verschlossen sind.«146 Um dem Verhältnis von Ton und Empfindung noch weiter nachzuspüren, soll an dieser Stelle nun das Hören von Musik aus phänomenologischer Perspektive thematisiert werden.

4.3

Zur Phänomenologie des Musik-Hörens

Bei keiner Kunstform ist das Hören als Wahrnehmungsform so bedeutsam, wie bei der Musik. Daher sollen im Folgenden nun wichtige Kerngedanken Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie auf das Hören von Musik übertragen werden. Mit Waldenfels, seinen Gedanken zum Musikhören als Zwischengeschehen, soll schließlich nachvollziehbar gemacht werden, wie sich aus dem, in phänomenologischer

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Vgl. Grupe/Krüger 2007, 246. Grupe/Krüger 2007, 246. Vgl. Anders 2017, 65f. Anders 2017, 68. Anders 2017, 64.

4. Musik und Leiblichkeit

Manier erweiterten Wahrnehmungsbegriff, der Begriff des responsiven Hörens entwickelt. Phänomenologen, wie Husserl und Merleau-Ponty machen nicht nur die Wahrnehmung im Allgemeinen zum philosophischen Untersuchungsgegenstand, sondern auch die auditive Wahrnehmung, die zuvor immer im Schatten der Visuellen stand. Daniel Schmicking zufolge hat sich allein die Phänomenologie so intensiv mit »perzeptiven Leistungen beim Hören, mit der auditiven Erfahrung« beschäftigt.147 In seinen Analysen der auditiven Wahrnehmung, beschreibt Husserl den Zusammenhang zwischen dem Hören und einem »[…] inneren Zeitbewusstseins, der affektiven Weckung, der gestalthaften Organisation und der perzeptiven Konstanzen.«148 Dabei formuliert er eine zukunftsweisende Auffassung von hierarchischen Strukturen in der auditiven Wahrnehmung. Sie wird von ihm als Ineinander von »starren« Merkmalen der Wahrnehmung und gestalthaften Momenten beschrieben, so Schmicking nach Husserl: »Dieses Moment gestalthafter Organisation einerseits und die ›starre Form‹ (s.o.) von Protention, Urimpression, Retention andererseits bilden zwei Momente oder Dimensionen der zeitlichen Organisation auditiver Wahrnehmung, die ineinander greifen, simultan wirksam sind.«149 In Bezug auf das Hören von Musik sei Husserl jedoch weit davon entfernt, »das Hören lediglich als emotionalen, sozialen oder ästhetischen Sinn zu behandeln.«150 Er argumentiere vielmehr im Sinne der Hörpsychologie, weniger als Ästhet. »Er lässt sich nirgends dazu verleiten, den Blick etwa allein auf die Schönheit, die Faszination oder den Erkenntniswert der Musik zu lenken, worüber vielen Philosophen vor und nach Husserl die auditive Dimension des Musikerlebnisses gar nicht in den Blick gerät«.151 Bezieht man sich auf Husserls Ausführungen zum Hören, so ist es insbesondere das Erschaffen von zeitlichen Ordnungen in der Wahrnehmung, was die spezifische Leistung dieser Sinnesmodalität ausmacht. Musik als Zeitkunst ist daher ohne Hören als wesentlicher Zugangsweise nicht denkbar. »Tatsächlich ist auch das Hören, das von allen Sinnesmodalitäten am präzisesten Sukzession und Dauer erfassen, messen, reproduzieren und vergleichen kann. Das Hören ist der Sinn der Zeit schlechthin.«152 Neben der Wahrnehmung von Zeitlichkeit, hat das Hören von Musik – wenn auch nur indirekt – mit der Wahrnehmung von Räumlichkeit zu tun. Die Raumwahrnehmung kommt, so sagt Husserl, durch die »Ordnung indivi-

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Schmicking 2003, 47. Schmicking 2003, 56. Schmicking 2003, 51, mit Bezug auf Husserl. Schmicking 2003, 57. Schmicking 2003, 57. Schmicking 2003, 50.

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Bewegung und Musikverstehen

dueller Gleichzeitigkeit sinnlich gegebener (materieller) Dinge«153 zustande. Dabei gelte der wahrnehmende Leib als »Zentrum« oder »Nullpunkt« des wahrgenommenen Raumes.154 Die Suche nach der Quelle des Klanges oder des Geräusches, unser Aufmerken macht die Gerichtetheit des Hörens aus. Das Besondere ist hierbei jedoch, dass wir uns nicht, wie beim Sehen, dem Ort der Klangquelle gegenüber befinden. Zum Gegenstand der intentionalen Gerichtetheit besteht keine vergleichbare örtliche Distanz. Obwohl der Hör-Sinn zusammen mit dem Seh-Sinn als ›Fern-Sinn”155 bezeichnet wird, gibt es also deutliche Unterschiede zwischen Sehen und Hören. Dies betrifft vor allem die Fähigkeit, Reizquellen zu lokalisieren. Im Unterschied zum Sehen, kann man sich im Hören beispielsweise nicht von dem, was man hört, abwenden. Das Gehörte trifft den Hörenden leiblich und kann als Engung oder Weitung des Leibes erlebt werden. Husserl hält eine tatsächlich räumliche Existenz beziehungsweise die räumliche Lokalisation von Klängen für unmöglich und spricht vom »tonalen Raumphantom«156 . Nur der visuelle und taktile Sinn könne real Existierendes wahrnehmen. »Husserl gesteht dem Hören damit kein eigenes (oder primäres) lokales Ordnungssystem zu. Die auditiven Bestimmungen fügen sich dem Ortssystem des visutaktilen Raums ein.«157 Waldenfels und Vogt machen auf einen weiteren Unterschied zwischen Sehen und Hören aufmerksam: Während die Eigenschaften des Gesehenen nicht vom Objekt des Gesehenen ablösbar sind, kann man hörend durchaus etwas vernehmen ohne seine Ursache beziehungsweise seinen Urheber vor sich zu haben. Dies wird an Formulierungen wie »es klingelt« oder »es rauscht« deutlich. Nach Vogt wohnt dem Gehörten stärker als dem Gesehenen ein Zeichencharakter inne.158 Der Raum in der Musik ist lediglich ein vorgestellter Raum. Und dennoch ist das Räumliche als konstituierende Eigenschaft (oder, im Sinne Langers, als sekundäre Illusion) aus der Musik nicht wegzudenken. Im Hinblick auf das Hören, bildet die Räumlichkeit ein Geheimnis, das bis zuletzt ungelüftet bleibt und das uns gerade deswegen immer wieder suchend-wahrnehmend in eine Auseinandersetzung mit der Musik gelangen lässt. Indem sich uns wahrnehmend in der Musik durch zeitliche und räumliche Sinnzusammenhänge Struktur und Gestalt herausbilden, hat unsere Wahrnehmung auch in Bezug auf Musik etwas Schöpferisches. Merleau-Ponty zufolge werden

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Husserl, zitiert nach Schmicking 2003, 51. Schmicking 2003, 51. Die Einteilung in Fern- und Nahsinne macht in diesem Zusammenhang deutlich, wie wichtig der Aspekt des Raumes für die Wahrnehmung ist. Vgl. Schmicking 2003, 53. Schmicking 2003, 52. Vgl. Vogt 2001, 221f.

4. Musik und Leiblichkeit

die Dinge uns erst in unserer Wahrnehmung zu dem, was wir für wahr halten. Danach wäre auch Musik nicht zu verstehen, als etwas, was schon da ist, sondern als etwas, das im Wahrnehmungsprozess entsteht.159 Entscheidend für die auditive Wahrnehmung der Gegenständlichkeit von Musik ist, dass sich das Gestalthafte für uns vor einem Hintergrund der Stille abbildet. Mit der Stille ist ein essentieller Bestandteil von Musik benannt, ohne den keine Strukturhaftigkeit von Musik denkbar wäre, ohne die Musik als Struktur nicht entstehen könnte. »Das Unhörbare im Hörbaren betrifft einmal den Hintergrund der Stille, von dem alle Tongestalten und Tonfolgen sich abheben. Dieser Hintergrund darf nicht verwechselt werden mit einem bloßen Mangel an akustischen Reizen, er gleicht vielmehr dem Schweigen in der Rede, dem leeren Schreibblatt oder der Leinwand, die sich mit Farbgestalten und Kontrasten füllt.«160 Waldenfels setzt das Hören einem Erleben von Stille161 entgegen – dabei bedeute Stille jedoch nicht, »daß nichts gehört wird, sondern vielmehr, daß nicht etwas gehört wird.«162 Waldenfels bezieht sich hier auf die These Merleau-Pontys, dass Wahrnehmung stets Wahrnehmung von etwas als etwas und somit immer schon sinnvoll ist. Er spricht weiter davon, »daß das, was im Hören auf unser Ohr trifft, nicht schon Musik ist, sondern sich in Musik verwandelt.«163 Damit ist auch gesagt, dass wir es sind, die einen Klang als musikalischen Klang beurteilen, ihn als einen Naturklang von kulturellen Tönen unterscheiden. Nicht selten macht uns gerade die Neue Musik auf diese Prozesse aufmerksam, wenn sie sich auf dem oft so schmalen Grad zwischen Natur- und Kulturklang bewegt. Da es für die Konstitution von MusikKunstwerken so entscheidend ist, dass und wie wir sie hören, rät Waldenfels dazu, nicht zu sagen, »wir hören Musik«, sondern: »wir hören etwas als Musik.«164 Etwas als etwas in der Musik zu hören bedeutet auch, in ihr Gestalten beziehungsweise sie als gestalthafte Struktur zu entdecken. Dies nicht, indem wir kleinste musikalische Einheiten aneinanderreihen, sondern dadurch dass wir Sinneinheiten, wie Melodien, simultan wahrnehmen. So geht schon Husserl davon aus, »daß die Melodiewahrnehmung in der Regel nicht mit der Wahrnehmung der kleinsten Teile beginnt.«165 Das bedeutet, »Einheiten unterschiedlicher hierar-

159 Vgl. Good 1998, 85. 160 Waldenfels 2013, 198. 161 »Wenn es einen Ort des Hörens gibt und nicht bloß des Gehörten, so als Nicht-Ort der Stille.« Waldenfels 2010b, 178f. 162 Waldenfels 2010b, 178. 163 Waldenfels 2010b, 174. 164 Waldenfels 2010b, 174. 165 Münch 1993, 151, mit Bezug auf Husserl 1993c, 258.

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Bewegung und Musikverstehen

chischer Ordnung werden simultan aufgefasst«166 . Somit kann vom Musik-Hören als einem beginnenden musikalischen Erkenntnisprozess gesprochen werden. Denn unsere Wahrnehmung (und somit auch die auditive Wahrnehmung von Musik) wird nach Merleau-Ponty immer schon von unserem Bewusstsein, als Wahrnehmungs- oder Erfahrungsbewusstsein, begleitet.167 Durch unser Bewusstsein als sinngebender Aspekt unseres Leibes wird jedes Verhalten (auch zur Musik) sinnvoll und bewusst. Elmar Lampson spricht in Bezug auf Musik von einem musikalischen Bewusstsein, das nicht zu einer begrifflichen Erkenntnis, jedoch aber bereits zur Wahrnehmung von Sinn im Sinnlichen führt. Mit Bezug auf Husserl dürfte dies insbesondere ein, für die auditive Wahrnehmung bestimmendes, Zeitbewusstsein sein, das in das musikalische Bewusstsein mit einfließt.168 Lampson spricht vom Hören auch als einem ganz besonderen »Aggregatszustand des Bewusstseins«, bei dem uns stets bereits etwas als (musikalisch) sinnvoll erscheint. Eine besondere Form des Hörens stellt für Lampson das Hören der eigenen Stimme dar. (Hier zeigt sich das Phänomen der Ambiguität, da man beim Sich-selbst-Hören nie nur ganz Hörender noch ganz Singender ist, sondern gerade eine Erfahrung im Dazwischen vollzieht. Singend oder Sprechend sind wir dabei direkt mit der Welt, zu der wir uns verhalten, verbunden.) »In dem Moment, in dem ich aber einen musikalischen Ton anstimme, verändert sich mein Bezug zur Welt grundlegend. Ich forme mit der Stimme weder einen Ausruf, der mein Erstaunen, meine Freude oder meinen Ärger ausdrückt, noch setze ich mich in Beziehung zu einem Gegenstand der Außenwelt, den ich bezeichnen will, und beginne auch keine direkte Kommunikation mit einer anderen Person, sondern die Stimme tritt in eine enge Wechselbeziehung zum Hören selbst. Die Stimme wird im Singen von mir selbst gehört und mein Hören wird ›gestimmt‹.«169 Oben habe ich bereits erwähnt, dass das Empfinden für Merleau-Ponty die Vorbedingung der Wahrnehmung darstellt. Welche Rolle spielt demnach das Empfinden für das Musikhören? Merleau-Ponty zufolge setzt im Empfinden bereits der Erkenntnisakt an, indem eine, für das Verstehen basale, offene Situation zwischen Subjekt und dem Gegenstand des Verstehens hergestellt wird. Wichtig ist dabei für das Empfinden, dass sich das Subjekt in einer ersten Kontaktaufnahme, im intentionalen Gerichtet-sein des Aufmerkens auf das Objekt auf das, was ihm begegnet (bisweilen auch 166 Schmicking 2003, 51. 167 Vgl. Springstübe 2013, 45. 168 »Die Synthesis des inneren Zeitbewusstseins stellt nach Husserls Auffassung die unterste basale Schicht konstitutiver Leistungen dar, in der alle höheren fundiert sind.« Schmicking 2003, 50. 169 Lampson 2010, 23.

4. Musik und Leiblichkeit

das Fremde und andere), einlässt. Empfinden ist nach diesem Verständnis ohne diesen beschriebenen aktiven Anteil des Subjekts nicht zu denken. Andernfalls hätten wir es lediglich mit einem Erleiden oder Reagieren zu tun. Nach phänomenologischem Verständnis wird im Empfinden noch nicht etwas als etwas vernommen, sondern fallen Empfinden und Empfundenes zusammen. Empfinden bedeutet nicht nur ein aktives Sich-Einlassen und Hinwenden, sondern auch dass mich etwas affiziert, mich etwas trifft. Waldenfels spricht davon, dass mir die Dinge etwas ›antun‹ – »etwas geht mich an, ruft mich an, rührt mich an.«170 Beim Empfinden sei immer auch etwas Ich-Fremdes im Spiel. Daher beschreibt er Empfinden, auf Grund des erlebten Ineinanders von Eigenem und Fremden, auch als ein »Sichempfinden im Anderen.«171 Er bemüht hier wieder den Begriff der Bewegung, in diesem Falle der Bewegungsempfindung, um zu veranschaulichen, wie sich im Empfinden hörendes Subjekt und Gehörtes miteinander verbinden. Er versteht das Hören als (empfundene) Bewegung zwischen Subjekt und Objekt des Hörens. Dabei beschreibt er die »Hörbewegung«, in der sich Aktion und Passion, Subjekt und Objekt, Ich und anderer ineinander verschränken wie folgt: »Im Aufhorchen und Sicheinhören geschieht etwas zwischen dem Gehörten und dem Hörenden, an dem der oder die Hörende beteiligt ist, aber eben nicht als Urheber eines Höraktes […]. Der eigene Leib nimmt Züge eines Fremdkörpers an. Nur so ist zu verstehen, daß wir uns immer wieder selbst überraschen, wenn wir etwa vor der eigenen Stimme oder den eigenen Schritten erschrecken.«172 Das hörende Sich-Einlassen bildet die Grundlage für einen verstehenden Umgang mit Musik. Indem ich Musik Aufmerksamkeit entgegenbringe, bin ich wach für ihre Struktur und werde zugleich getroffen von dem, was mich musikalisch anrührt. Die Grenzen zwischen Musik und meinem hörenden Selbst werden dabei scheinbar aufgelöst. In Sinne und Künste im Wechselspiel greift Waldenfels die geläufige Formulierung »Ich bin ganz Ohr«173 auf, um daran zu erläutern, wie wir uns im aufmerksamen, empfindenden Hören mit dem Gehörten verbinden und sich unser Sein im Hören zu weiten scheint. »Der hörende Leib ist kein bloßes Registriergerät, sondern ein mitschwingender Resonanzkörper. Hören bedeutet von vornherein mehr als die Tatsache, daß unsere Hörorgane kausalen Einwirkungen unterliegen, es bedeutet leibliches Sichbewegen, Erregung, Aufschrecken, Mitgerissenwerden, Mitgehen.«174

170 171 172 173 174

Waldenfels 2000, 275. Waldenfels 2000, 276. Waldenfels 2010b, 170. Waldenfels 2010b, 170. Waldenfels 2010b, 170.

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Bewegung und Musikverstehen

Waldenfels beschreibt weiter, wie im Hören das Fremde zum Eigenen und das Eigene zum Fremden wird: »Klänge, die wir hörend hervorbringen, sind immer auch Fremdklänge. Leibliches Musizieren wird inszeniert, in Gang gesetzt.«175 Er verfolgt mit seiner umfassenden Beschäftigung mit dem Begriff des Fremden das Anliegen, dem Fremden den Beigeschmack des Negativen zu nehmen. Er sieht hingegen im Gewahrwerden des Fremden, sowie im Fremdwerden des Eigenen, eine Entwicklungschance. Zum eigenen Erleben in Distanz zu gehen, es dabei mit neuen Augen zu sehen, im Zulassen des Neuen im Erleben sieht er den eigentlichen Schlüssel zum Verstehen. »Fremdes außer uns bedeutet uns nur dann etwas, wenn ihm ein Fremdwerden der eigenen Erfahrung entgegenkommt. Wird alles Fremde eingemeindet und angeeignet, so verschwindet auf die Dauer alles im Nebel der Gleichgültigkeit.«176 In diesem Sinn argumentiert Waldenfels auch in Bezug auf den Umgang mit Musik gegen die Dominanz des Gewöhnlichen. Es sei vielmehr wichtig, das »Unerhörte« zuzulassen und zu schützen. »In aller unausbleiblichen und unerlässlichen Wiederholung, ohne die es keine Musikkultur gäbe, bildet das Unerhörte ein Moment des Unwiederholbaren.«177 Um zusammenzufassen, inwiefern sich eine Phänomenologie des Hörens auf das Hören von Musik übertragen lässt, soll an dieser Stelle nochmal gesondert Waldenfels‹ Theorie des Hörens als »Zwischengeschehen«178 Erwähnung finden. Mit seiner Theorie des antwortenden Hörens179 richtet er selbst den Blick aus phänomenologischer Perspektive auf das Musikhören und den Umgang mit Musik. In den Sinnesschwellen, veröffentlicht er einen, wie Oberhaus schreibt, »für die Musikpädagogik maßgebliche[n] Aufsatz«,180 mit dem Titel Lebenswelt als Hörwelt.181 Kerngedanke seiner Phänomenologie des Musikhörens ist die Verortung des Hörens in einem Zwischenbereich. Musik wird von ihm in vielerlei Hinsicht als ein »[m]usikalisches Zwischengeschehen«182 betrachtet, als Geschehen zwischen Aktion und Passion, zwischen Natur und Kultur, zwischen Eigenem und Fremdem. »Unter einem Zwischengeschehen verstehen wir ein Geschehen, an dem mehrere Instanzen gleichzeitig beteiligt sind, ohne daß deren Mitwirkung sich säuberlich auf separate Faktoren wie Aktion und Passion oder Produktion und Rezeption aufteilen ließe.«183 Neu an seiner Phänomenologie des Musikhörens ist, dass das Mu-

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Waldenfels 2010b, 171. Waldenfels 2013, 199. Waldenfels 2013, 198. Waldenfels 2013, 195. Vgl. Waldenfels 2007, 188, 250. Oberhaus 2006, 159. Derselbe Aufsatz wurde auch im Sammelband Musik – unsere Welt als andere (vgl. Ehrenforth 2001, 17-31) abgedruckt. Waldenfels 2013, 195. Waldenfels 2013, 195.

4. Musik und Leiblichkeit

sikhören von ihm bereits als ein Tun aufgefasst wird.184 Indem er vom Hören als einem »antwortenden Hinhören«185 spricht, betont er den aktiven, willentlichen Teil des Musikhörens,186 der für die Musikpädagogik von großer Bedeutung ist. Denn gerade beim Hören scheint der passive Anteil der Wahrnehmung zu überwiegen – so trifft oder widerfährt uns die Musik auch gelegentlich, bevor wir uns entschieden haben ihr zuzuhören. Im Grunde täuscht der Begriff Hören eine Aktivität vor, die gar nicht in jedem Falle eine sein muss. Denn wir können unser Hören nicht willentlich abschalten, so wie wir einen Telefonhörer auflegen. Gegenüber dem antwortenden Hören187 gibt es also auch das Hören als »etwas[,] das uns geschieht, zustößt, zufällt«.188 Aus diesem Grund hält Waldenfels auch die Musik für ein Geschehen zwischen »Widerfahrnis«189 und willentlicher Antwort. Damit wehrt er sich auch gegen die Vorstellung, der menschliche Organismus sei ein »bloßes Registriergerät«,190 denn: »Musiktherapeutische Bemühungen würden wirkungslos bleiben ohne ein solches perzeptiv-motorisches Gesamtverhalten. Dies alles weist uns zurück auf den althergebrachten Zusammenhang von Musik und Tanz.«191 Indem Waldenfels das Hören als ein Antworten beschreibt, betont er nicht nur, dass wir willentlich agieren, sondern auch, dass wir uns immer auf das beziehen, was uns die Musik entgegenbringt. Eine Verzahnung dieser beiden Bewegungen geschieht dadurch, dass das, was Musik uns entgegenbringt, wiederum erst von uns selbst im Hören hervorgebracht wird. Daher formuliert Waldenfels: »Wir antworten nicht auf das, was wir hören, sondern wir antworten, indem wir etwas hören.«192 Dass Hören also nicht gleich Hören ist, kommt in anderen Sprachen durch die Verwendung entsprechend unterschiedlicher Begriffe zum Ausdruck: Beispielsweise entspricht im Französischen die Unterscheidung von écouter (hören) und entendre (etwas hören, vernehmen, verstehen) der Unterscheidung von to hear und to listen im Englischen. Besser würden also eventuell die Begriffe »hinhören« und »lauschen« das beschreiben, was Waldenfels dem bloßen Hören, als Aufnehmen auditiver Reize, gegenüberstellt – »ein Hören, das sich durch den Grad der Zuwendung (und der entsprechenden Abwendung) vom bloßen Hören auf ähnliche Weise unterscheidet wie das Hinsehen und Blicken sich vom bloßen Sehen unterscheidet.«193 184 Vgl. Waldenfels 2013, 195. 185 Waldenfels 2007, 250. 186 Da wir mit einem willentlichen Hinhören etwas tun, was wir auch lassen könnten, spricht er hier von einer anfänglichen Form des Tuns, vgl. Waldenfels 2007, 250. 187 Vgl. Waldenfels 2010b, 166. 188 Waldenfels 2010b, 165. 189 Waldenfels 2010b, 165. 190 Waldenfels 2013, 196. 191 Waldenfels 2013, 196. 192 Waldenfels 2007, 250. 193 Waldenfels 2007, 250; Herv. im Original.

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Bewegung und Musikverstehen

In seinem Antwortregister kritisiert Waldenfels außerdem im Allgemeinen das Primat der Frage und zeigt die oftmals übersehene Komplexität der Antwort auf: »Schließlich begegnet uns in allem, was wir hören, ein zu Hörendes, das sich nicht als kulturelle Errungenschaft, als technische Virtuosität oder als Konsumgut verbuchen läßt. Der Musik lassen sich gewiß bekömmliche, angenehme oder anregende Nebenffekte zuschreiben, doch geht sie selbst in diesen Effekten ebensowenig auf wie in den Regeln, an die sich das wiedererkennende Hören hält. Im zu Hörenden begegnet uns jenes radikal Fremde in Form eines fremden Anspruchs, der nur laut wird, indem wir, als Musikausübende sowohl wie als Musikhörer, hörend auf ihn antworten.«194 Ein antwortendes Hören im Sinne Waldenfels‹ bedeutet also mehr als ein hörendes Wiedererkennen von dem, was an Sinn in der Musik erwartet wird. Es lässt zu, dass sich musikalischer Sinn und Bedeutung im Moment des Hörens entfalten und verändern, uns jede Auseinandersetzung mit Musik etwas Neues vermitteln kann und damit eine wirkliche Bereicherung darstellt. In Bezug auf einen Umgang mit Musik rät Waldenfels daher auch dazu, das »Unhörbare im Hörbaren«195 mehr zu beachten. Dies betreffe beispielsweise die Stille, die bei einer Auseinandersetzung mit Musik immer auch eine Rolle spielen müsse, sowie die Thematisierung und das Zulassen von »Unerhörte[m]«.196 Damit regt Waldenfels, so Oberhaus, an, stets auf das Fremde und andere in der Musik zu hören und nicht lediglich »technischer Virtuosität zu verfallen«.197 Welche große Rolle das Hören als ein antwortendes Hören für das Selbst- und Weltverstehen hat, erläutert Waldenfels weiter beispielhaft am Spracherwerb des Kindes. Da sich das Eigene im (sprachlichen oder musikalischen) Ausdruck durch das Gewahrwerden des anderen und Fremden entwickelt, das wir hörend erfahren, spricht er auch vom »Primat des Hörens«.198 »Wie beim Sprechen der eigenen Sprache, die das Kind vom Erwachsenen lernt, und wie beim Erlernen einer Fremdsprache, die der Erwachsene von anderen übernimmt, so geht auch in der Musik die passive weit über die aktive Kompetenz hinaus. Auch das Musizieren erwächst aus dem Hören, und es entwächst ihm nie.«199

194 Waldenfels 2013, 198f. 195 Waldenfels 2013, 198. 196 Waldenfels 2013, 198. Gemeint ist beispielsweise ein offenes Begegnen der Neuen Musik im Sinne einer Offenheit für ungewohnte Klangkonstellationen. 197 Oberhaus 2006, 164. 198 Waldenfels 2013, 196. 199 Waldenfels 2013, 196.

4. Musik und Leiblichkeit

Es unterstreicht die Bedeutung der Zwischenleiblichkeit für das Musikhören, dass wir zum einen, so Waldenfels, beim Musizieren innerlich die Antwort der Zuhörenden antizipieren und zum andern beim hörenden Nachvollzug des Spieles eines anderen denkend seine Bewegung mitvollziehen. »Wie zum Gespräch so gehört auch zum Musizieren eine Art von implizitem Selbstgespräch. Umgekehrt geschieht das Andere-spielen-Hören, nicht ohne dass wir in eine fremde Bewegung einstimmen und auf diese Weise mitspielen.«200 Vogt greift Waldenfels‹ Theorie des antwortenden Hörens auf und führt sie weiter zu einer Theorie der »responsiven Erfahrung«, indem er das Hören als »leibliches Register«201 responsiver Erfahrung betrachtetund die ästhetische Erfahrung als im responsiven Akt des Hörens verwurzelt sieht.202 Das Subjekt wende sich fragend dem Kunstwerk zu, das aufgrund seines auffordernden Charakters Fragen beim Subjekt entstehen lasse und diese bis zu einem gewissen Grade beantworte. Zwischen Hören und Gehörtem bleibe dabei eine Differenz zurück, so Vogt. Er bezeichnet diese auch als »auditive« oder »auditorische Differenz«.203 Dadurch würde die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk, das sich auf Basis dieser Differenz herausbildet und somit immer einen Teil des Unergründbaren und Verborgenen behält, immer weiter angeregt.204 Vogt überträgt hier den Charakter des Zwischengeschehens auf die ästhetische Erfahrung. Durch die Öffnung für den Zwischenbereich, in dem sich Neues bilden kann, sei ästhetische Erfahrung also überhaupt erst möglich. Das responsive Hören erscheint bei Vogt, so Oberhaus, also als eine Bedingung von ästhetischer Erfahrung. »Zwischen Hören und Gehörtem entsteht eine produktive Differenz von Aktion und Passion. Sie ist bestimmt durch eine Differenz, die zeigt, dass ein Kunstwerk gerade im Hinblick auf eine kunstwerkorientierte Didaktik niemals völlig konstituiert werden kann […]. Diese Differenz verweist auch auf die in der Leiblichkeit enthaltene Überschneidung von Produktion und Rezeption innerhalb musikalischer Vollzüge.«205 Responsiv sei die musikalisch-ästhetische Erfahrung also deshalb, weil sie auf ein antwortendes Hören zurückzuführen ist. Dabei setzt Vogt die genannten Überlegungen zu einer Phänomenologie des Musikhörens fort und formuliert die These, »daß musikalisch-ästhetische Erfahrung vor allem deshalb als responsive Erfahrung zu kennzeichnen ist, weil das Hören, als leibliches Register der Wahrnehmung von Musik, immer auch als antwortendes Hören zu begreifen ist.«206 200 201 202 203 204 205 206

Waldenfels 2013, 196. Vogt 2001, 220. Vgl. Oberhaus 2006, 171. Vogt 2001, 220. Vgl. Oberhaus 2006, 171ff. Oberhaus 2006, 174f., mit Bezug auf Vogt 2001, 220. Vogt 2001, 220.

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Bewegung und Musikverstehen

Eine weitere Besonderheit der Responsivität des Musikhörens sowie der responsiven Erfahrung im Vogt’schen Sinne ist, dass die angestoßene Bewegung zwischen Musik und Verstehenssubjekt nie zu einem Ende gelangt.207 Das erste »aufhorchende Hören«208 sei hier von basaler Bedeutung. Denn der Anspruch des Hörenden an das Gehörte im antwortenden Hören ist etwas, das dem ersten, aufmerkenden Hören nachsteht: »Das Hören selbst ist vielmehr der blinde, oder besser: der taube Fleck der musikalischen Erfahrung, weil Hören, der Anspruch des Zu-Hörenden und Gehörtes niemals zusammenfallen. Das ›antwortende Hinhören‹, durch das erst die hermeneutische Erfahrung von Musik möglich ist, ist gegenüber einem ›aufhorchenden Hören‹ nachgängig, durch das erst der Anspruch des Zu-Hörenden laut wird.«209 Das Regelhafte oder Strukturhafte in der Musik vernehmen wir erst im antwortenden Hören. Denn nach Vogt befindet sich nicht bereits Regelhaftes in der Musik, bevor wir auf die Musik aufmerksam werden. Vielmehr entwickeln sich Ordnungen, Strukturen und Gestalten in der Musik erst, indem wir hörend auf die Musik antworten.210 Auch im Hinblick auf die Wahrnehmung von Eigenem und Fremdem im Musikhören spricht Waldenfels von der Musik als Zwischengeschehen. Er betrachtet das Musikhören aus dem Blickwinkel der Zwischenleiblichkeit. Spüren, Wahrnehmen und Erkennen des Eigenen sind wesentlich für ein Verstehen von Musik. Es bedarf also ebenso der Beachtung des Aspekts der Zwischenleiblichkeit, wenn es um Fragen des Musikhörens und Musikverstehens geht. Die Intersubjektivität basiert als Form der »›Zwischen-Leiblichkeit‹ […] auf dem Hören als leiblichem Register ästhetisch-musikalischer Erfahrung«211 , so schreibt Vogt. Wie wir Musik hörend wahrnehmen, ist auch Ergebnis der Einordnung unserer Erfahrungen in den Gesamtkontext Kultur bzw. abhängig von unserem jeweiligen kulturellen Kontext. Was wäre Musik, wenn sie lediglich hervorgebracht, nicht aber gehört und beurteilt würde? Durch das Hervorbringen und das Beschäftigen mit Kulturgegenständen, wie der Musik, wird Kultur überhaupt erschaffen und weitergetragen. Dabei beginnt Kultur aus phänomenologischer Perspektive da, wo wir dem Leib des anderen

207 208 209 210

211

Vgl. Oberhaus 2006, 169. Vogt 2001, 223 mit Bezug auf Waldenfels 2007, 250. Vogt 2001, 223. »Das, was uns in einer Musik aufhorchen läßt, entzieht sich den musikalischen Codes, Typiken und Relevanzsystemen, weil es diese überhaupt erst ermöglicht.« Vogt 2001, 223. In Dem schwankenden Boden der Lebenswelt versteht Vogt auch das pädagogische Handeln als antwortendes Handeln. Hierauf soll am Ende der Arbeit nochmal zurückgekommen werden. Vogt 2001, 252.

4. Musik und Leiblichkeit

begegnen. Denn, wie Merleau-Ponty erkannte, ist der allererste Kulturgegenstand für jeden Menschen der Leib des anderen.212 Bei allen Begegnungen zwischen Mensch und Musik und zwischen Menschen im Hören bildet der Leib eine von Waldenfels mit Bezug auf Husserl benannte »Umschlagstelle«.213 Der wechselseitige Charakter des unabschließbaren Prozesses des Musikhörens und Musizierens, in dem sich Musik ereignet, wird dadurch erneut zum Ausdruck gebracht. »Der Begriff ›Umschlagstelle‹ verdeutlicht, dass durch die Präsenz des Leibes auch der Musik ein Ereignischarakter zugesprochen wird.«214 Beim Musizieren und Musikhören bilde der Leib eine Umschlagstelle zwischen Natur und Kultur. Musik ereignet sich als ein Wechselverhältnis zwischen Ich und Welt und vermag damit die Dualismen zwischen eigen und fremd, Körper und Geist, Ich und Welt zu überwinden. »Im Sinne einer Verflechtung von Hören und Handeln wird die Musik somit zu einer Substanz, die durch das Medium der Leiblichkeit den Dualismus von Körper/Geist aufhebt.«215 Indem wir Musik hören – so lässt sich zusammenfassend sagen –, gelangen wir also in einen Zwischenbereich, in dem sich sowohl durch unser aktives Aufmerken und unser eher passives Aufnehmen von dem, was uns Musik entgegenbringt, das bildet, was wir als sinnvoll und gestalthaft in der Musik wahrnehmen. Hören stellt sich hier dar als ein musikbezogenes Tun, für das sich der Hörende zwar bewusst entscheidet, indem er aufmerksam und offen Klangereignissen ›entgegenhört‹, die er jedoch nie schon vorwegnehmen kann, da sie erst im Hören Gestalt annehmen. Anders beschreibt diese Haltung auch als »rein intensive, nirgendwohin gerichtete Aufmerksamkeit«, die zugleich eine »konzentrierte Passivität«216 darstellt. Er zieht hierbei das Lauschen dem Begriff des Hörens vor, da es die Bewegung des Sichhinwendens zum Ausdruck bringt. Diese Hinwendung geht einher mit einem Ahnen, das nicht auf Wissen beruht, sondern »Wissen im Erfahren«217 bedeutet. Die Situation des Lauschens, in der willentliche Ausrichtung und Ausgeliefertsein sich paaren, beschreibt Anders wie folgt: »Das Lauschen weiß nicht, wohin es lauschen soll. Es lauscht zwar dem Ertönen entgegen, aber wo nichts ertönt, kann noch immer etwas aus dem Nichts auftönen. Dieses Nichts, in das das Lauschen hineinlauscht, ist die Stille.«218 212

Vgl. Merleau-Ponty 1966, 400. Der Aspekt der Zwischenleiblichkeit kann im Rahmen dieser Arbeit nicht gesondert behandelt werden. Aufgrund seiner Bedeutung für die zu Beginn formulierte Fragestellung wird er jedoch immer wieder, in den einzelnen Kapiteln und thematischen Auseinandersetzungen – wie zum Beispiel bei einem verstehenden Umgang von Musik durch Sprache –, Erwähnung finden. 213 Waldenfels 2013, 192. 214 Oberhaus 2006, 161. 215 Oberhaus 2006, 161. 216 Anders 2017, 117. 217 Anders 2017, 119; Herv. im Original. 218 Anders 2017, 115; Herv. im Original.

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Bewegung und Musikverstehen

Elmar Lampson reflektiert über die Bedeutung des ›Zwischen‹ in Bezug auf das Verhältnis von Musikhören und dem aktiv-schöpferischen Umgang mit Musik. Er betrachtet dabei insbesondere das Zwischenintervall zwischen dem musikalischen Hören und Gestalten und dem sprachbegrifflichen Denken in Bezug auf Musik. Auf Basis seiner Erfahrungen als Komponist beschreibt er das Phänomen, dass in dieser Phase des Zwischen sowohl Klänge als auch begriffliche Gedanken nachwirken und sich in die eine oder andere Dimension verwandeln können. »›Gedankenklänge‹ in Form von ›sinnlichen Abstraktionen‹ spezifizieren die Intervalle zwischen Denken und Hören.«219 Musik zu betrachten als ein Zwischengeschehen zwischen Mensch und Kultur bewirkt die Aufhebung der Trennung zwischen rein produktiven und rein rezeptiven Umgangsweisen mit Musik. Es eröffnet die Diskussion darüber, ob Musik überhaupt ein Gegenstand ist, den man richtig oder falsch wahrnehmen und verstehen kann. Eine Existenz von Musik ist nicht denkbar ohne den Menschen, der mit ihr umgeht. Das Hören spielt hierbei eine besondere Rolle. Ein phänomenologisch verstandenes Hören fordert vom Menschen, der mit Musik umgeht, eine bestimmte Haltung. Zum einen bedarf es eines Sichöffnens für Ungeahntes, Unerhörtes und zum anderen eines Suchenwollens, eines bewussten Entscheidens, tatsächlich hinzuhören. Indem Waldenfels vom Primat des Hörens spricht, macht er die beschriebene Haltung zur Voraussetzung jedweder musikalischen Handlungen. Musik und Musikhören sind hierbei untrennbar miteinander verbunden.

4.4

Musik als Lebenswelt

Die »Lebenswelt« beschreibt die noch unhinterfragte Welt des unmittelbaren Lebensvollzugs. Sie bildet nach Danner den »Gesamthorizont menschlicher Erfahrung«220 im Kontext von Geschichte und Tradition. Die Lebenswelt als Welt der »Sinnlichkeit, Leiblichkeit und Erfahrung des Menschen«221 ist nach Merleau-Ponty jedoch nicht schon gegeben, sondern bildet sich erst in unserem Wahrnehmen und Denken.222 »Die Welt ist das universale Woher und Woraufhin alles dessen, was uns im einzelnen widerfährt und was wir im einzelnen tun.«223 Phänomenologen nutzen den Lebensweltbegriff um aufzuzeigen, wo die Grundlage aller Wissenschaft und allen Verstehens zu suchen ist. Er wird von Husserl in den 1920er Jahren aufgegriffen, um mit ihm auf eine Krise der Wissenschaft aufmerksam zu machen. Diese geht, so Waldenfels, daraus hervor, 219 220 221 222 223

Lampson 2010, 25. Danner 2006, 153. Danner 2006, 153. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 7. Waldenfels 2013, 181.

4. Musik und Leiblichkeit

»dass alles, was uns in der Erfahrung begegnet, auf bloße natürliche oder historische Tatsachen reduziert wird und dass der Zusammenhang zwischen diesen Tastsachen einzig durch Konstrukte, Formeln und Modelle hergestellt wird.«224 Nach phänomenologischer Denkart soll die Lebenswelt jedoch nicht länger einer Welt der Wissenschaft gegenübergestellt und somit als unwissenschaftlich abgewertet werden. Man will vielmehr darauf aufmerksam machen, dass die Wissenschaft aus der Lebenswelt entspringt und somit die Grundlage aller Wissenschaft bildet. Mit der »Rehabilitierung«225 der Lebenswelt wird nicht gegen die Wissenschaft an sich argumentiert, sondern lediglich vor Szientismus und Objektivismus gewarnt. Es wird betont, wie wichtig es für wissenschaftliche Erkenntnisse ist, dass in der Lebenswelt ein reicher Schatz an Erfahrungen gesammelt werden kann.226 Wie Waldenfels in seinem Aufsatz Lebenswelt als Hörwelt beschreibt, bedeutet ein Bezug auf die Lebenswelt immer ein Rückbezug, der jedoch zu keinem konkreten festen Punkt gelangt, da einem Wort stets ein anderes Wort vorausgeht und alle Anfänge immer schon vergessen scheinen.227 Alles, was wir erleben und erfahren, geht ihm zufolge auf etwas zuvor Erlebtes zurück. Auch können wir unsere Geburt nur als Wiedergeburt der eigenen Urvergangenheit vergegenwärtigen, aber nie erinnernd zu ihr zurückkehren. Ein In-den-Blick-Nehmen der Lebenswelt bedeutet aus phänomenologischer Perspektive demnach immer ein Zurück, eine »Rückbesinnung«.228 Waldenfels überträgt diesen Gedanken auch auf die auditive Wahrnehmung. Jeder Ton, den wir hören, ginge immer auf einen zuvor gehörten Ton, letztlich auf einen »Hintergrund der Stille«, zurück, der immer schon vor dem ersten Ton gegeben ist.229 In der Lebenswelt stoßen wir auf »Resultate von Wissenschaft und Technik, der Produkte der Kunst sowie der Welt- und Lebensbedeutungen von Mythos und Religion«,230 mit denen wir zunächst unhinterfragt umgehen. Spezifisches Hintergrundwissen und entsprechendes Können gehören nur bestimmten Berufswelten an. Waldenfels bezeichnet diese mit Bezug auf Husserl auch als »intrakulturel-

224 225 226 227

Waldenfels 2013, 180. Zahavi 2007, 31. Vgl. Zahavi 2007, 32ff. Zur Veranschaulichung entwirft er hier das Bild von der Lebenswelt als Raum, der endlos im Spiegel gespiegelt ist. »Doch die Anfänge sind immer schon vergessen.« Waldenfels 2013, 181. 228 Waldenfels 2013, 181. 229 »So wie es kein erstes Wort gibt, das nicht schon andere Worte voraussetzt, so gibt es auch keinen ersten Ton: denn jeder Ton steht in Relation zu anderen Tönen, auch ungehörten, und jedes Tongebilde hebt sich ab von einem Hintergrund der Stille.« Waldenfels 2013, 181. 230 Waldenfels 2013, 181.

165

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Bewegung und Musikverstehen

le Sonderwelten«.231 Aufgrund der »Pluralität von Lebenswelten«,232 ihrer historischen und geographischen Vielfalt, fragt er, ob es überhaupt die eine Lebenswelt geben kann? Seine Antwort hierauf ist, dass Lebenswelt nicht als Nebeneinander verschiedenster Welten, sondern als Ort, an dem sich Eigenes und Fremdes begegnen, zu verstehen ist.233 Der Lebenswelt wohnen außerdem spezifische Ordnungen inne, die der Logik der Dinge entspringen. Das bedeutet, dass das, was unsere Sinne aufnehmen, sich in eine schon vorhandene Ordnung einfügt. Als Beispiel nennt Waldenfels die Farbwahrnehmung. Ihr liege eine »Logik der Farben«234 zugrunde. »Eine Farbe tritt nicht als isolierter Sinneseindruck auf, er fügt sich ein in eine bestimmte Farbordnung, in der es warme und kalte Farben, Farbkontraste und Komplementärfarben gibt.«235 Auf die Wahrnehmung von musikalischen Sinneinheiten übertragen, bedeutet dies, dass wir genauso jeden einzelnen Ton (unhinterfragt) wahrnehmend in eine Ordnung, in die musikalische Logik, einfügen.236 Dieser Ordnungen gewahr zu werden und den Sinn, der allem zugrunde liegt, zu entdecken, würde, phänomenologisch betrachtet, die zunächst stummen Erfahrungen zum Sprechen bringen. Da das erste Einordnen in eine bestehende Ordnung bereits im Empfinden geschieht, schlussfolgert Waldenfels, dass Gefühle und Empfindungen nicht als irrational »der Rationalität des Verstandes«237 gegenübergestellt werden dürfen. Den Prozess des Ordnungentdeckens bezeichnet er auch als Differenzierung in Eigenes und Fremdes. Diese Unterscheidung bilde die Grundlage allen Erkennens von Ordnung und Struktur. »Am Anfang steht weder ein Ureigenes noch eine Ureinheit, sondern eine Unterscheidung in Eigenes und Fremdes.«238 Wenn man nach der Verbindung zwischen Musik und Lebenswelt fragt, so ähnelt dies nach Waldenfels der Frage nach »der Stellung der Musik im Fächerkanon des Schulunterrichts«.239 Schließlich impliziert dies wiederum allgemeine Fragen nach der Bedeutung der Musik für unser Leben, wie, warum wir ihr und

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»Sonderwelten unterliegen bestimmten Interessen, Zwecken, Techniken, und sofern sich ein bestimmtes Können in ihnen verkörpert, scheiden sich Experten von Laien.« Waldenfels 2013, 182. Waldenfels 2013, 182. Vgl. Waldenfels 2013, 182. »Wenn Cézanne von einer Logik der Farben spricht, so denkt er nicht an die Logik einer Farbtheorie, sondern an die Logik der Farben selbst. Ähnlich könnte man von einer Logik der Töne sprechen.« Waldenfels 2013, 183. Waldenfels 2013, 183. »Eine Quint wird zunächst nicht gehört als eine Zusammenfügung zweier individueller Töne, die in einem berechenbaren Abstand zueinander stehen, sondern als transponierbare Tondifferenz.« Waldenfels 2013, 183. Waldenfels 2013, 183. Waldenfels 2013, 184; Herv. im Original. Waldenfels 2013, 186.

4. Musik und Leiblichkeit

wie wir ihr begegnen. Musik ist auf vielfältigste Weise in unserem Leben verankert. Längst vor der Einschulung, von Geburt an (bzw. sogar schon im Mutterleib) begegnen Kinder Musik, und zwar nicht nur der »spezifischen Instanz«240 Musik, sondern auch dem Musischen als einem Prinzip, das unsere Lebenswelt gleich einer bestimmten Atmosphäre durchzieht.241 Unser erster lebensweltlicher Kontakt zur Musik zeichnet sich dadurch aus, dass wir das, was wir erleben, noch nicht als etwas spezifisch Musikalisches hinterfragen und erkennen, sei es beim Erleben des Musischen, in Sprachmelodie oder Rhythmus des Herzschlags oder dem beiläufigen Vernehmen von Musik, die in unserer Umgebung (zum Beispiel im Kaufhaus) spielt. Die Musik beziehungsweise das Musische erscheint uns vielmehr als etwas, das (je nach soziokulturellem Umfeld) selbstverständlich zu unserem Leben gehört. Auch in Bezug auf den Umgang mit Musik in der Lebenswelt spricht Vogt, der sich mit dem Lebensweltbegriff bei Husserl und Merleau-Ponty auseinandersetzt, von der noch »stummen Erfahrung«.242 Um zu klären, wie es zur »Geburt der Musik und ihrer Wirkkraft«243 kommt, unterscheidet Waldenfels in den Sinnesschwellen zwischen den »vormusikalischen, nachmusikalischen und übermusikalischen Aspekten der Musik«.244 Dabei versteht er unter »vormusikalisch« das, was uns begegnet, bevor wir es später bewusst als Prinzipien oder Wesensmerkmale in der Musik wiedererkennen (zum Beispiel Gangart, Wiegenlied, Kinderverse etc.). Als »nachmusikalisch« bezeichnet er Musik, die auf uns in unserer Lebenswelt einströmt, noch bevor wir uns im Musikunterricht mit ihr auseinandersetzen – so Waldenfels in den Sinnesschwellen: »Diese Vorprägung durch musikalische Töne und Klänge wirkt bei der Ausbildung des musikalischen Sinnes sowohl als Sprungbrett wie auch als mögliche Barriere.«245 Zum »Übermusikalische[n]«246 gelangen wir nach Waldenfels, indem wir die Bedeutsamkeit der Musik für uns thematisieren und uns auf die Suche nach dem ewig verborgenen Geheimnis begeben, das die Musik in sich trägt. Im Hinblick auf einen individuellen Zugang zu Musik sowie ein leib-fundiertes Verstehen hat der Lebensweltbegriff längst das Interesse der Musikpädagogik geweckt (insbesondere die Arbeit Vogts ist hier zu nennen). Waldenfels spricht von einer »Krise der Musik«247 , die er durch einen verloren gegangenen Lebensweltbezug verursacht sieht. »Die Musik büßt ihre Lebensbedeutsamkeit und Welthaltig-

240 241 242 243 244 245 246 247

Waldenfels 2013, 186. Vgl. Waldenfels 2013, 186. Oberhaus 2006, 166. Waldenfels 2013, 187. Waldenfels 2013, 187. Waldenfels 2013, 188. Waldenfels 2013, 188. Waldenfels 2013, 188.

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Bewegung und Musikverstehen

keit ein, wenn sie sich auf technischen und historischen Leistungen ausruht und wenn die Musikkunde sich auf einen ›grammatischen Fundamentalismus‹ zurückzieht.«248 Als Reaktion auf die von Waldenfels benannte Krise, die sich dementsprechend auch auf das Fach Musikpädagogik auswirkte, und um der Lebensweltvergessenheit im Umgang mit Musik zu begegnen, fasst Waldenfels alle drei Ebenen der Musik bzw. des Musikalischen im Begriff der Hörwelt zusammen.249 Dies soll zum einen anregen, dass auch unkonventionelle Klänge oder Naturlaute hörend dem Bereich der Musik zugeordnet werden können, und zum anderen, dass im Unterricht durch musikwissenschaftliche Analyse nicht lediglich eine »Klassifikation des Übermusikalischen«250 geschieht. Im Umgang mit Musik vollziehen wir, so Waldenfels, stets einen offenen Prozess der Abgrenzung zwischen Ton und Geräusch. Das, was dabei von uns nicht zum musikalischen Klang gezählt wird, ist zur Konstitution von Sinnhaftem und Gestalthaftem in der Musik jedoch ebenso wichtig. Denn Klänge und Töne bilden sich nur heraus, indem sie sich von anderem – beispielsweise von Geräuschhaftem – abgrenzen.251 »Musikalische Töne sind wie Edelsteine im gewöhnlichen Gestein, das nicht durchweg taub ist.«252 Geräusche sollten sich also nicht einfach als »Müll« oder »Unkraut«253 beiseiteschaffen lassen. Die Auseinandersetzung mit dem Lebensweltbegriff im Bereich der Musikpädagogik führt außerdem zu einer stärkeren Betonung der Subjektivität und der Bedeutung der individuellen Erfahrung im Hinblick auf das Musikverstehen. Dabei lässt sich der Zusammenhang zwischen Musik und Lebenswelt aus zwei Richtungen betrachten: Zum einen prägen lebensweltlich mit der Musik gesammelte Erfahrungen die Art und Weise, wie wir mit Musik umgehen, und bilden daher die Grundlage für unser Verstehen. Zum anderen kann Lebenswelt aber auch gestaltet und verändert werden. Musikalische Erfahrungen, die Kinder im Schulunterricht sammeln, wirken verändernd auf ihre Lebenswelt ein. Musik wird folglich nicht nur in die Lebenswelt eingebettet, ihr wohnt mit Waldenfels auch »ein Potential der Verfremdung, der Verwandlung, der Steigerung inne, das den Rahmen der jeweils etablierten Wirklichkeit durchbricht«.254 Sie vermag es, die gewohnten »Hörund Lebensbahnen«255 zu hinterfragen, indem sie in unser Leben in gewisser Weise störend eingreift und uns veranlasst, die Dinge neu zu betrachten. Es lässt sich

248 249 250 251 252 253 254 255

Waldenfels 2013, 189. Vgl. Oberhaus 2006, 160. Oberhaus 2006, 160, mit Bezug auf Waldenfels. Vgl. Waldenfels 2013, 193f. Waldenfels 2013, 193. Waldenfels 2013, 193. Waldenfels 2013, 197. Waldenfels 2013, 197.

4. Musik und Leiblichkeit

daher, so Waldenfels, in Bezug auf Musik auch von einer »Epoché« im phänomenologischen Sinne sprechen, die die Musik ermöglicht.256 Kunst und Musik führten uns nach diesem Verständnis nicht in eine gänzlich andere Welt, sondern lassen unsere Welt »als andere« erscheinen. »Die Kunst würde dann nicht in eine andere, höhere Welt fliehen, sondern die Welt der Kunst wäre diese unsere Welt, aber als andere. Sie wäre anders als jene Welt, mit der wir immer schon vertraut sind.«257 Eine Auseinandersetzung mit Musik aus phänomenologischer Perspektive bedeutet immer ein Rückbesinnen258 auf das eigene Erleben sowie ein Rückbesinnen auf die vergessene oder noch stumme Vorerfahrung. Musik befindet sich, als kulturelle Ausdrucksform, an der »Schwelle zwischen Kultur und Natur«,259 so Waldenfels. Da unser Leib selbst der Natur angehört, bildet er eine »Umschlagstelle«.260 Auch Musikinstrumente sind nach dieser Vorstellung keine bloßen Werkzeuge. Sie klingen als Ding aus einem spezifischen Material mit; sie »zehren von einer Musikalität der Dinge.«261 Musik ist genauso wie unser Leib immer schon mit der Welt verwoben.

4.5 Zusammenfassung Musik als vollzogene Leiblichkeit An dieser Stelle soll zunächst angedeutet werden, wie die beschriebenen leibphänomenologischen Erkenntnisse von einzelnen Musikphänomenologen aufgegriffen werden. Im Anschluss daran wird der Aspekt der Leiblichkeit in Bezug auf Musik als Brücke zwischen Phänomenologie und Musik nochmals gesondert herausgriffen. Dies soll schließlich den Zusammenhang zur musikpädagogischen Kernfrage der Arbeit sichtbar zu machen. Christian Grüny, der in seinem Buch Kunst des Übergangs als Philosoph der Frage nachgeht, was Musik eigentlich ist, hält Musik für einen idealen Gegenstand der Phänomenologie.262 Er macht darauf aufmerksam, dass man mit der Frage: »Was ist Musik?«, spätestens durch die Neue Musik an Grenzen gestoßen ist. Es sei daher zur Bestimmung von dem, was Musik ist, ebenso wichtig, zu fragen wann und wie Musik ist.263 Eine Philosophie, die nach dem Wesen der Musik fragt, ist nach Grünys Verständnis eine, »die vor die Selbstverständlichkeit zurückfragt, dabei aber ih-

256 257 258 259 260 261 262 263

Vgl. Waldenfels 2013, 197. Waldenfels 2013, 198; Herv. im Original. Vgl. Waldenfels 2013, 180f. Waldenfels 2013, 192. Waldenfels 2013, 192. Waldenfels 2013, 192. Vgl. Grüny 2010, 4. Vgl. Grüny 2014, 7.

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Bewegung und Musikverstehen

re Nachträglichkeit einbekennt.«264 Dies erinnert nicht nur an den beschriebenen phänomenologischen Umgang mit dem Lebensweltbegriff, an das phänomenologische Wissenschaftsverständnis. Er deutet hier bereits die Grenzen der kognitiven beziehungsweise kausallogischen Zugangsweisen, insbesondere durch die Wortsprache, in Bezug auf Musik an. Arne Blum trägt in seiner Promotionsschrift (Phänomenologie der Musik. Anfänge der musikalischen Phänomenologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts) zusammen, welche Philosophen oder Musikwissenschaftler beziehungsweise -psychologen sich mit dem Bereich der Musikphänomenologie bereits befasst haben. Er zeigt auf, dass sich die Ansichten der Musikwissenschaftler und -phänomenologen wie Ernst Kurth, Viktor Zuckerkandl, Albert Wellek, Carl Stumpf, Hugo Riemann, Paul Bekker und andere häufig da unterscheiden, wo unterschiedliche Einstellungen der Neuen Musik gegenüber bestehen. Die grundlegende musikphänomenologische Frage, was Musik eigentlich ist, sei insbesondere mit der Neuen Musik gestellt worden. Es ist schwierig, so Blum, eine eindeutige Chronologie einer Geschichte der Musikphänomenologie zu entwerfen. Da sich die Phänomenologie nicht als eine einheitliche philosophische Konzeption darstellt, lässt sie sich somit auch nicht eindeutig auf die Musik anwenden und in die Musikwissenschaft integrieren. Dennoch nennt er Carl Stumpfs musikphänomenologische Arbeiten den Beginn einer »Geschichte der Musikphänomenologie«.265 Blum zufolge vermittle Carl Stumpf als Musikphänomenologe »zwischen der Helmholtzschen Lehre von den Tonempfindungen und Kurths Musikpsychologie.«266 »Nach Stumpf hat somit die Phänomenologie als selbständige Disziplin die Aufgabe, jenseits einer kausalen naturwissenschaftlichen Herleitung die immanenten Strukturgesetze der Phänomene zu beschreiben.«267 Eine Musikphänomenologie im Stumpf’schen Sinne agiere daher weder rein mit Rückbezug auf physikalische noch auf psychologische Erklärungsansätze.268 Während Stumpfs Theorie jedoch, so die Kritik, Musik zu sehr auf das einzelne Intervall verkürze, wird durch Hugo Riemann (der an Stumpf anknüpfte) stärker der »Ton als Bestandteil eines musikalischen Kunstwerks, somit Musik als zeitliche Erscheinung«,269 thematisiert.270 Riemann macht, so Blum, mit seiner Musikphänomenologie der Musikpsychologie den

264 265 266 267 268

Grüny 2014, 9. Blum 2010, 8. Blum 2010, 8; Herv. im Original. Blum 2010, 8. Hier wird deutlich, wodurch sich die Phänomenologie von den naturwissenschaftlich geprägten Musiktheorien vor allem abgrenzt: Die Wahrnehmungsvorgänge spielen für die Phänomenologie eine besondere Rolle. 269 Blum 2010, 10. 270 Obwohl Riemann das Werk Husserls nicht gekannt haben soll, scheinen Husserls logische Untersuchungen gedankliche Grundlage Riemanns zu sein. Vgl. Blum 2010, 10.

4. Musik und Leiblichkeit

Vorwurf, das Phänomen der »Tonvorstellungen« nicht ausreichend erklären zu können.271 »Musik wird nicht als Resultat von Schallwellen oder Empfindungen angesehen, wie kompliziert auch immer gedacht, sondern als Ergebnis einer aktiven Betätigung des Geistes.«272 Ein musikalischer Ton bildet sich für uns, so Blum mit Bezug auf Riemann, dadurch zu einem »musikalischen Wahrnehmungsgegenstand«273 heraus, dass wir ihn in seiner Funktion wahrnehmen. Ich höre den Ton a‹ beispielsweise nicht stets nur mit der Frequenz 440 Hertz, sondern jeweils als »etwas wesentlich Verschiedenes«274 , zum Beispiel als Grundton von A-Dur oder Terz von F-Dur. Dies sei eine »im Hören stattfindende Bedeutungsänderung desselben Tones im Akkordzusammenhang«.275 Durch die »Intentionalität des Bewusstseins« wird hier ein zunächst »roher Empfindungsinhalt zu einem musikalischen Wahrnehmungsgegenstand.«276 Zur Wahrnehmung des funktionalen Zusammenhangs von Tönen und den sich daraus bildenden Formgestalten trägt aus phänomenologischer Sicht eine besondere Form des Erinnerns bei. Die Musikphänomenologie greift hier auf einen Begriff Husserls, den der Retention, zurück. Danach ist das Erinnern von verklungenen Tönen im Strom der Musik ein anderes, besonderes Erinnern: »Denn diese Art der Erinnerung zeichnet sich dadurch aus, dass man etwas vergegenwärtigt, was schon vergangen ist. Ein einzelner Ton, der noch anhält, kann sich aber nicht durch eine Er-innerung im Sinne einer Zurück-rufung konstituieren. Gegenüber dieser sekundären Erinnerung führt Husserl den Begriff der Retention ein, die sich dadurch auszeichnet, dass sie in das absolute Jetzt unmittelbar hineinragt. Das vergangene Jetzt ist nicht einfach verschwunden, sonst empfände man das neue als Anfang und nicht als Moment innerhalb eines kontinuierlichen Flusses.«277 Die Musikphänomenologie zieht den Husserl’schen Begriff der Retention dem des Erinnerns vor. Denn sich zu erinnern im klassischen Sinne bedeutet, lediglich etwas zurückzurufen, was schon da gewesen ist. Bei der Musikwahrnehmung wird jedoch das, was da ist, erst rückblickend (bzw. -hörend) im Zusammenhang gehört und somit als etwas konstituiert. Retention bezeichnet nach Husserl278 bezogen 271

272 273 274 275 276 277 278

Vgl. Blum 2010, 10. »Es ist der Begriff der Tonvorstellung, mit der sich Riemann endgültig von der Hoffnung verabschiedet, Probleme der Musiktheorie mithilfe physiologischer Untersuchungen zu beantworten.« Blum 2010, 10. Blum 2010, 10f. Blum 2010, 11, mit Bezug auf Riemann. Blum 2010, 11. Blum 2010, 11. Blum 2010, 11. Blum 2010, 14f. Vgl. Schmicking 2003, 51.

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Bewegung und Musikverstehen

auf das Musikhören eine Fähigkeit, den verklungenen Ton im Bewusstsein zu halten, um mit den nachfolgenden Tönen Zusammenhänge bilden zu können. Retention bezeichnet also im Vergleich zum Erinnern eine Fähigkeit, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Auch Cassirer greift den Begriff der Retention auf und nennt ihn im Zusammenhang mit der Symbolisierung als Teil des Prozesses der Prägnanzbildung. Im Kapitel 5 wird hierauf noch einmal gesondert eingegangen werden. Die Neue Musik hat Blums Ansicht nach die Musikphänomenologie weiter vorangebracht, da von ihr die Frage danach, was Musik eigentlich ist, mehr und mehr provoziert wird. So betreibt die Musique concréte als Musikrichtung im Grunde selbst Musikphänomenologie, indem sie, so Blum, »alltägliche Klangobjekte zu musikalisieren versucht und somit an einem Grenzfall den Bedingungen von Musikwahrnehmung nachspürt.«279 Grüny zeigt der Musikphänomenologie jedoch auch ihre Grenzen auf und kritisiert, dass sie die tonale Musik mit ihren »besonders prägnanten Organisationsverhältnissen und Sinnbeziehungen«280 zu generellen musikalischen Gesetzmäßigkeiten erhebe. Demgegenüber gebe es wiederum Musikphänomenologen, die allein die Beschaffenheit des Klanges zum Untersuchungsgegenstand machen und so der Komplexität und besonderen Sinnhaftigkeit von Musik nicht gerecht würden.281 Daher plädiert Grüny stattdessen dafür, die (auch außermusikalischen) Phänomene in ihren Funktionen als Bestandteil von Sinneinheiten, als »Strukturen« und »Sinnphänomene« zu beschreiben und den Dualismus der Beschreibung der Musik »von innen (psychische Erlebnisse) und außen (physikalische Ereignisse)«282 zu überwinden. Danach ist eine musikalische Werkanalyse dann phänomenologisch, wenn sie danach fragt, wie die Musik hörend aufgefasst wird. Hierbei räumt Grüny außerdem der »Selbstreflexion von Komponisten und Musikern«283 eine wichtige Rolle für den Zugang zum entsprechenden Musikstück ein. Die Phänomenologie als Methode zur Untersuchung von Musik anzuwenden, hat ihm zufolge zusammenfassend folgenden Vorteil: Die Phänomenologie

279 Blum 2010, 16. 280 Grüny 2010, 47. Musikphilosophen seien unterschiedlicher Einstellung der Neuen Musik gegenüber – so auch Grüny.) 281 »Wer demgegenüber von der bewegten Luft ausgeht, wird dort keine kategorialen Differenzen zwischen welchen Arten von Musik auch immer ausmachen können, sondern nur unterschiedliche Figurationen, angesichts derer über Sinn und Unsinn, Wert und Unwert noch nichts gesagt werden kann – um den Preis allerdings, dass dabei aus dem Blick gerät, dass es sich bei musikalischen Verhältnissen niemals um Naturverhältnisse, sondern immer um Sinnzusammenhänge handelt.« Grüny 2010, 47f. 282 Grüny 2010, 48f. 283 Grüny 2010, 51.

4. Musik und Leiblichkeit

»ist eine unverzichtbare Bereicherung, wenn sie als Ethos der Aufmerksamkeit und kategorialen Offenheit operiert, das sich seinem jeweiligen Gegenstand anmisst und seine Methoden und Gedankenfiguren aus ihm selbst entwickelt bzw. sich derjenigen Vorlagen der Tradition bedient, die ihm am ehesten gerecht zu werden versprechen.«284 Mit diesem kurzen Exkurs wurde der Frage nachgegangen, was aus phänomenologischer Sicht eine Wissenschaft der Musik bedeutet und wie die Kernthemen und -begriffe der phänomenologischen Strömung auf einen Umgang mit Musik bereits Übertragung gefunden haben.285 Die Frage nach dem Wesen von Musik ist eine der Kernfragen der Musikphänomenologie. Ihr wird jedoch nicht mittels naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze nachgegangen. Vielmehr ist ihr Anliegen, die der Musik innewohnenden Strukturen zu entdecken. Dies hat zur Folge – und hier kommen wir zur musikpädagogischen Intention der Untersuchung –, dass der Verstehensbegriff aus musikphänomenologischer Sicht neu bewertet wird. Der Musikphänomenologie geht es weder um ein richtiges oder falsches Verstehen vor der Vorlage der Gesetze einer fundamentalistischen Formanalyse noch darum, die Deutung von Musik der jeweils individuellen Gefühlswelt allein zu überlassen. Hingegen spricht sie für ein Sichöffnen für Neues und Fremdes ebenso wie für eine aktive Beteiligung eines schöpferischen Geistes beim Prozess des Musikverstehens. Diese Gegenüberstellung, die nebenbei bemerkt an die kritische Auseinandersetzung Merleau-Pontys mit dem Empirismus und Intellektualismus erinnert, lässt sich aus der Kritik der Musikphänomenologie an der Musikpsychologie und einer zu starren Formenlehre ableiten. Musik soll nicht länger lediglich als Ergebnis der Einwirkung von physikalischen Eigenschaften auf das pathisch wahrnehmende Subjekt, lediglich als Hervorrufen von Emotionen, verstanden werden. Vielmehr lautet die musikphänomenologische Forderung, in der Musikanalyse wieder ›zu den Sachen selbst‹ zurückzukehren und die Musik von ihrer je eigenen Logik her selbst sprechen zu lassen. Schließlich sind wir es nicht allein, die das Phänomen Musik im Bewusstsein konstituieren. Die Struktur, die der Musik innewohnt, spielt hierbei genauso eine Rolle. Sie wird als wandelbar, als Struktur im Zwischen beschrieben. »Es kann nicht darum gehen, die Musik in ein vorweg bestimmtes, festes Netz von Kategorien zu bannen, sondern zu versuchen, ihr in ihrer eigenen

284 Grüny 2010, 52f. 285 Die eher umrisshafte Beschreibung der musikphänomenologischen Strömung soll hier genügen. Eine auf Vollständigkeit basierende Darstellung musikphänomenologischer Arbeiten kann im Rahmen dieses Buches nicht geleistet werden. Auf Blum und Grüny sei an dieser Stelle verwiesen. Zudem scheint es eher unmöglich, von der Musikphänomenologie als einheitlicher Strömung zu sprechen.

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Bewegung und Musikverstehen

Erscheinungsweise und Logik auf die Spur zu kommen.«286 Die Leiblichkeit gilt als dritte Dimension, die es vermag, die genannten Dualismen (zum Beispiel dem von Sein und Bewusstsein)287 zu überwinden. Wie ist es nun also zu verstehen, wenn Oberhaus Musik als Vollzug von Leiblichkeit bezeichnet? Ersetzt man »Vollzug« durch Synonyme wie »Verwirklichung« oder »Realisierung«, wird deutlich, dass durch Musik unsere Leiblichkeit erfahrbar und durch unseren leiblichen Vollzug zu dem wird, was sie (für uns) ist. Darin, dass Oberhaus Musik als Vollzug von Leiblichkeit beschreibt, kommt diese Nähe von Leib und Musik zum Ausdruck und wird die Frage danach, was Musik ist, beantwortet. Musik ist kein Gegenstand im klassischen Sinne und gleich dem Leib ein Medium zwischen Ich und Mitwelt.288 Sie wird Musik für uns, zu einem Gegenstand, indem wir sie wahrnehmend zu einem Gegenstand machen. Mit dem Leibbegriff geht es der Phänomenologie, so Guido Rappe, um »die wissenschaftliche Erfassung von Subjektivität«289 sowie um die lebendige Erfahrung.290 Musik ist demnach ein Bereich des menschlichen Lebens, der ohne die Menschen, die sie produzieren und reproduzieren, und deren jeweilige Subjektivität nicht denkbar wäre. Musik gibt außerdem Anlass zum Spüren der eigenen Körperlichkeit, im Sinne unseres körperlichen Leibes oder leiblichen Körpers. Aus diesem Grund widmet sich eine leibphänomenologisch ausgerichtete Herangehensweise an Musik insbesondere Themen wie Wahrnehmung, Bewegung und Empfinden und zeigt deren Bedeutung für die Konstitution des ›Gegenstandes‹ Musik auf. Auch der Aspekt der Zwischenleiblichkeit wird stärker hervorgehoben, Musik als soziale Situation und Musikverstehen als Geschehen im Zwischen – zwischen Menschen, zwischen Musik und Mensch – begriffen. Wie oben erwähnt, liegt es der Musikphänomenologie am Herzen, Musik im Zwischen zu verorten. Gemeint ist der Bereich zwischen dem mit der Musik umgehenden Subjekt und der Musik, die mit ihrer je eigenen Logik und Beschaffenheit genauso Anteil am Prozess des Wahrnehmens und Verstehens hat. Der bei Waldenfels zentrale Begriff der Responsivität bringt dabei auch im Hinblick auf den musikpädagogischen Kontext besonders gut zum Ausdruck, wie sich in der Leiblichkeit sowohl pathische als auch gnostische Momente der Wahrnehmung von Musik begegnen.291 Besonders das Musikhören wird unter dem Blickwinkel der Responsivität als »Verflechtung zwischen Hören und Handeln«292 verstanden. Dabei ist der Leib der Ort, an dem Produktion

286 287 288 289 290 291

Grüny 2010, 49. Vgl. Oberhaus 2006, 167. Vgl. Schüler 2014, 41. Rappe 2012, 19; Herv. im Original. Vgl. Alloa/Depraz 2012, 11f. Zur responsiven Theorie Waldenfels‹ und den sechs Modi des Antwortens vgl. Waldenfels 2007, 334ff. 292 Oberhaus 2006, 161.

4. Musik und Leiblichkeit

und Rezeption sinnvoll verbunden werden. So sind auch »jegliche Musizier- und Wahrnehmungsvorgänge […] grundsätzlich leiblich fundiert«293 und miteinander verwoben. Musik, so lässt sich sagen, existiert nur durch leibliches Bezogensein. Waldenfels nennt drei Dimensionen leiblicher Bezüge: den Weltbezug, den Selbstbezug und den Fremdbezug.294 Auf den Umgang mit Musik übertragen, bedeutet das: Durch Musik wird Weltbezug, Selbstbezug und Fremdbezug vollzogen. Nachdem das Phänomen Musik aus leibphänomenologischer Perspektive betrachtet wurde, sollen im Folgenden die Prozesse des Musikverstehens und des Musiklernens unter dem Aspekt der Leiblichkeit näher untersucht werden. Damit wird hier nun der Bogen zum musikpädagogischen Kontext der Arbeit geschlagen.

293 Oberhaus 2006, 162. 294 Vgl. Waldenfels 2000, 11.

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5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik? Zum Ertrag einer Auseinandersetzung mit dem Leibbegriff für Fragen des Musikverstehens

Die Auseinandersetzung mit dem phänomenologischen Leibbegriff soll an dieser Stelle in die konkrete musikpädagogische Frage münden, welche Rolle der Leib beziehungsweise die Leiblichkeit beim Verstehen von Musik spielt. Bei der bisherigen Auseinandersetzung mit der Phänomenologie als Wahrnehmungstheorie wurden bereits die phänomenologischen Kernthemen herausgegriffen, die im Zusammenhang mit der Untersuchung des Phänomens Musik und im Hinblick auf das Verstehen von Musik relevant sind. Hier wird nun auf Begriffe geschaut, die mit der musikpädagogischen Fragestellung der Arbeit im nahen Zusammenhang stehen. Sie bilden Schnittpunkte zwischen den beiden Bereichen, der philosophischen Phänomenologie und der Musikpädagogik. Es sind Begriffe wie Verstehen oder Form, die im philosophischen Diskurs schon immer verankert, aber auch zu selbstverständlichen musikpädagogischen Begriffen geworden sind.1 Dass diese jedoch in beiden Disziplinen teilweise sehr unterschiedliche Bedeutungen in sich bergen, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Musikpädagogik vor allem auf die praktische Anwendung hin orientiert ist und die genannten Termini in der Regel auf einen konkreten Kontext bezieht. Daher haben viele dieser Begriffe zwar ihren Ursprung im reinen wissenschaftlichen Denken, sie scheinen sich aber in der Verwendung zu verselbständigen oder gar den Bezug zu ihrer ursprünglichen Herkunft zu verlieren. (Dies ähnelt der Entwicklung beziehungsweise dem Schicksal sogenannter Alltagsbegriffe.) Die Aufarbeitung von in der Musikpädagogik verwendeten Begriffen aus leibphänomenologischer Perspektive soll ursprüngliche Begriffsbedeutungen rekonstruieren und im Hinblick auf den Anwendungsbereich reflektieren. Dabei werden die Begriffe zunächst vom konkreten musikpädagogischen Kontext

1

Dies liegt nebenbei bemerkt sicherlich auch darin begründet, dass die Musikpädagogik im Gegensatz zur Philosophie keine reine Wissenschaft ist, sich immer schon auf Begriffe von Nachbardisziplinen wie beispielsweise der Pädagogik, der Psychologie oder der philosophischen Anthropologie berufen hat.

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Bewegung und Musikverstehen

gelöst und dann – neu und umfassender verstanden – wieder in der musikpädagogischen Situation verortet. Die Untersuchung konzentriert sich im Folgenden auf drei, der musikpädagogischen Praxis entspringende Kernbegriffe: Verstehen und Lernen im Hinblick auf Musik sowie die (leiblich-vorsprachliche und wortsprachliche) Begriffsbildung im Zusammenhang mit Verstehensprozessen. Dabei werden unausweichlich auch Fragen zur Bedeutung und zu allgemeinen Zielen des Schulfaches Musik berührt. Aus diesem Grund ließen sich unzählige bestehende musikpädagogische Konzeptionen unter dem Aspekt der Leiblichkeit (kritisch) betrachten.2 Hier wird zu jedem der drei Begriffe jeweils eine Anknüpfungsmöglichkeit an den bestehenden musikpädagogischen Diskurs herausgegriffen. So sollen zur Frage des Musikverstehens Jürgen Vogts und Frauke Heß‹ kritische Auseinandersetzung mit dem Verstehensbegriff, bei der Betrachtung des Themenbereichs (leibliches) Lernen der Ansatz der Verständigen Musikpraxis (hier insbesondere die Weiterführung der Konzeption von Hermann J. Kaiser durch Constanze Rora und Kathleen Wiese) sowie des Aufbauenden Musikunterrichts (primär bezugnehmend auf die Beschreibungen der Konzeption durch Georg Brunner, Stephan Gies und Christopher Wallbaum) und beim Themenbereich Begriffsbildung Jürgen Oberschmitts Metaphernkonzeption vergleichend Erwähnung finden.

5.1

Musik und leibphänomenologisches Verstehen

Um die leibphänomenologische Denkrichtung der Arbeit beizubehalten, soll hier zunächst geklärt werden, was Verstehen aus phänomenologischer Sicht bedeutet und dann der so generierte (leib-)phänomenologische Verstehensbegriff im zweiten Teil des Kapitels auf das Verstehen von Musik angewendet werden. Damit wird bewusst auf eine Bezugnahme auf den psychologischen und neuropsychologischen Diskurs zum Begriff des Verstehens – wie es in der Musikpädagogik bis heute überwiegend erfolgt – verzichtet. Was Verstehen bedeutet, wird zu Beginn aus allgemein philosophischer Blickrichtung hergeleitet. Mit einem kurzen Abriss zur Rezeption des Verstehensbegriffs soll gezeigt werden, wie sich bisher mit dem Verstehen auseinandergesetzt wurde, und klären, wie sich der phänomenologische Standpunkt in diesen philosophischen Diskurs einordnen lässt. Dabei wird angedeutet, wie vielfältig Bedeutung und Gebrauch des Begriffes sind. Eine Gegenüberstellung mit dem hermeneutischen Verstehensbegriff soll helfen, das Wesenhafte der phänomenologischen

2

Die Arbeit von Oberhaus liefert zum Beispiel einen Überblick über Konzeptionen, die auf diesem musikphilosophischen Untergrund aufruhen, direkt und konkret mit Fragen der Leiblichkeit zu tun haben.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Sichtweise herauszustellen. Schließlich führt die Übertragung des phänomenologischen Verstehensbegriffs auf den pädagogischen Kontext hin zur Frage, was Verstehen von Musik aus phänomenologischer Perspektive bedeutet.

5.1.1

Charakteristik eines (leib-)phänomenologischen Verstehensbegriffs

5.1.1.1

Wie hat sich der phänomenologische Verstehensbegriff vor dem Hintergrund des allgemeinen philosophischen Diskurses zum Begriff des Verstehens herausgebildet?

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verstehen wird bis ins 20. Jahrhundert hinein ausschließlich über die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gegenständen und den an sie geknüpften Techniken des Verstehens in den einzelnen Fachdisziplinen vollzogen. »Die Sache des Verstehens selbst wurde hingegen in dem Maße in unterschiedliche Gegenstände differenziert, in dem sich wissenschaftliche Disziplinen herausbildeten. Neben Theologie, Philosophie, Jura und Geschichte traten ab dem frühen 19. Jahrhundert nach und nach die Sprachwissenschaften, die Psychologie, die Soziologie und die Ethnologie. Sie entwickelten jeweils eigene Begriffe des Verstehens.«3 Erst die Phänomenologie nimmt das Verstehen selbst ins Visier und beginnt es systematisch zu untersuchen.4 Auch das Verstehen anderer Menschen wird durch die phänomenologische Denkbewegung erstmals zum Thema gemacht. (Zu nennen sei hier insbesondere die Dissertation von Edith Stein, Zum Problem der Einfühlung, 1917.) Um Verstehen an sich zu beschreiben und zu erklären, muss zuerst das Woraufhin des Verstehens geklärt werden. Denn der jeweilige Gegenstand bestimmt letztlich die Art und Weise des Verstehens. Daher existieren auch in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachdisziplinen und selbst innerhalb der Philosophie verschiedene Verstehensbegriffe. So bezieht sich die hermeneutische Verstehenslehre beispielsweise auf Texte.5 Um die Weite des Spektrums der zu verstehenden Gegenstände einmal anzudeuten, sei hier die Einteilung von Oliver R. Scholz in der Enzyklopädie Philosophie des Meiner-Verlags genannt: Nach Scholz verstehen wir Personen, Handlungen, Artefakte und Funktionsgegenstände, Zeichen aller Art und Regeln.6 Dabei handelt es sich um gänzlich unterschiedliche Weisen des Verstehens. Während wir Personen zunächst vermutlich im Gesamt ihrer Erscheinung, aufgrund von Einfühlung und Empathie und erst in einem zweiten 3 4 5 6

Rehbein/Saalmann 2009, 11. Vgl. Rehbein/Saalmann 2009, 11. Vgl. Rehbein 2009, 52. Vgl. Scholz 1999, 1700f.

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Bewegung und Musikverstehen

Schritt anhand von »empirischen oder normativen Theorien« verstehen, sei das Verstehen einer Handlung, so schreibt Scholz, ein eher rationaler Akt: Man versteht eine Handlung unter anderem dann, »wenn man erkennt, aus welchen Gründen es für den Akteur rational war, sie zu vollziehen.«7 Beim Verstehen von Artefakten und Funktionsgegenständen ginge es wiederum eher um das Verstehen und Entdecken der jeweiligen Funktion dieser Objekte für uns Menschen und bei Zeichen beispielsweise um das Verstehen eines spezifischen Regelsystems, wie der Wortsprache. Generell lässt sich mit Rüdiger Bittner sagen, dass alle Dinge verstehbar sind, also alles, was uns in der Wahrnehmung zu etwas wird, indem es sich von anderem abgrenzt, uns herausfordert – auch und insbesondere, wenn wir zunächst meinen, etwas nicht oder noch nicht (gut) zu verstehen. »Jedes Ding ist verstehbar. Der Versuch, qualitativ bessere Erkenntnis zu gewinnen, ist nirgends von vornherein verfehlt. Alles ist erkennbar, und alles ist qualitativ besser erkennbar.«8 Aber auch der bloße Gedanke, die Idee oder der Begriff können uns zum Gegenstand werden. Einig scheint man sich auch diesbezüglich zu sein, dass Verstehen von etwas davon abhängt, ob einzelne Elemente in einem Gesamtzusammenhang eingeordnet werden können. Wilhelm Dilthey nennt das Prinzip, dass wir die einzelnen Teile vom Ganzen her und das Ganze vom Zusammenspiel der einzelnen Teile her begreifen, auch »Bedeutungszusammenhang«.9 Es handelt sich beim Verstehen um einen Begriff, der über die Grenzen der Wissenschaften hinweg auch in der Alltagswelt der Menschen verschiedenste Verwendungen und Auslegungen findet. Dies macht es schwierig ihn klar zu umreißen. »›Verstehen‹ ist nicht nur eine wissenschaftliche Angelegenheit. Es bildet auch einen grundlegenden Bestandteil menschlichen Lebens.«10 Die unterschiedlichsten Konnotationen des Begriffs reichen aus linguistischer Sicht vom akustischen »jemanden verstehen« beziehungsweise »vernehmen«, über das mit Wissen, Erfassen und Erkennen gleichgesetzte Verstehen bis hin zu einem zwischenmenschlichen »verzeihen« oder »Verständnis haben«.11 Ob im alltäglichen oder wissenschaftlichen Gebrauch, die Art und Weise, wie mit dem Verstehensbegriff umgegangen wird, suggeriert, dass mit ihm immer auch eine Wertung, eine Zielausrichtung beziehungsweise Erwartung verbunden ist. ›Etwas verstehen‹ bedeutet in der Regel, dass etwas erfolgreich vonstattengeht, eine erwünschte Leistung vollbracht wurde bzw. wird. »Sowohl in der dispositionalen als auch in der episodischen Gebrauchsweise wird V[erstehen] als Erfolgs- und Leistungsverb verwendet. Ohne besonderen Zusatz heißt ›verstehen‹ stets soviel 7 8 9 10 11

Scholz 1999, 1700. Bittner 2009, 23. Vgl. Angehrn 2010, 22, mit Bezug auf Dilthey. Rehbein/Saalmann 2009, 7. Vgl. Rehbein/Saalmann 2009, 8f.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

wie ›richtig verstehen können‹ bzw. ›richtig verstanden haben‹«.12 Den Herausgebern des Sammelbandes Verstehen, Rehbein und Saalmann zufolge wird Verstehen vorwiegend als etwas Unabgeschlossenes beziehungsweise Unabschließbares beschrieben. Bezüglich der Frage, ob Verstehen »ein Prozess oder ein Resultat«13 ist, zeigen die einzelnen Beiträge über aktuelle Positionen zum Verstehensbegriff im Bereich der Philosophie hingegen Uneinigkeit. Das Verstehen wird als problematischer Begriff noch heute von den verschiedensten Disziplinen diskutiert. Dabei existieren unterschiedliche Ansichten darüber, inwiefern sich Verstehen von anderen Begriffen, wie beispielsweise dem Wahrnehmen und Erkennen, abgrenzen lässt, welche Ausrichtung (verbunden mit einer Erfolgserwartung) mit dem Begriff verbunden wird oder ob es Qualitätsunterschiede bezüglich eines ersten, spontanen Verstehens und eines zweiten analytischen Verstehens gibt. Emil Angehrn beispielsweise spricht in Sinn und Nicht-Sinn von zwei grundlegenden Weisen, wie wir uns der Welt verstehend nähern können: zum einen, indem wir Gegenstände in »spontaner Weise in ihrer Bedeutung erfassen bzw. zu erfassen versuchen«,14 und zum anderen, indem wir Sachverhalte »nach ihren natürlichen Elementen analysieren und in ihrem Funktionsgefüge zu begreifen versuchen.«15 Im ersten Fall unterstellen wir den Dingen eine Bedeutung. Hier geht es zum Beispiel um ein spontanes Verstehen von Sprachäußerungen, Gefühlszuständen oder Handlungen. Angehrn spricht in diesem Zusammenhang auch von »Einfühlung oder Nachvollzug«.16 Im zweiten Fall analysieren und systematisieren wir erst die von Natur aus gegebenen Gesetzmäßigkeiten. (Nach Angehrn lassen sich Naturprozesse nicht spontan in ihrem Sinn verstehen, andernfalls würde es sich um »anthropomorphe Projektion«17 oder einen Mythos handeln.) Mit diesem indirekten Verstehen oder einem Verstehen auf einer »zweiten Stufe«, meint Angehrn auch »die Rekonstruktion von Kontexten, die Übersetzung aus fremden Sprachen, die Deutung von Symbolen« und spricht von »Auslegung und Interpretation«.18 Seine Gegenüberstellung dieser beiden Verstehensarten ergänzt er weiter um das »kritisch[e] Verstehen«. Hierbei werde die »innere Falschheit und Verzerrung«19 von Verstehensobjekten aufgedeckt. Eine ähnliche Gegenüberstellung wie die der beiden Formen des direkten und indirekten Verstehens findet sich bei Ursula Brandstätter in Bezug auf das Denken.

12 13 14 15 16 17 18 19

Scholz 1999, 1699f. Rehbein/Saalmann 2009, 16. Angehrn 2010, 20. Angehrn 2010, 20f. Angehrn 2009, 288. Angehrn 2010, 21. Angehrn 2009, 288. Angehrn 2009, 288.

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Bewegung und Musikverstehen

Sie vergleicht die beiden Formen des analogen und kausalen Denkens miteinander. Dabei stellt sie dem kausallogischen Denken, das an Sprache geknüpft ist, ein analoges Denken – beispielsweise durch Aufspüren von Ähnlichkeitsbeziehungen in der Kunst –, die methaphorische Erkenntnis gegenüber.20 Auch Ernst Cassirer und Susanne K. Langer betonen in ihren Symboltheorien, dass (spontanes) Verstehen bereits in einem vorsprachlichen, vorkausalen Bereich stattfindet. Wo Merleau-Ponty das Verstehen des Leibes meint, spricht Cassirer von Ausdruckswahrnehmung (als einem Erfassen von Sinn schon auf der Ebene des Ausdrucks) und dem Prinzip der symbolischen Prägnanz.21 Langer wiederum beschreibt dies als Verstehen im Bereich präsentativer Symbolismen.22 (Hier erscheinen die Dinge in ihrer Ganzheit, der Gleichzeitigkeit ihrer Einzelelemente.23 ) Bereits das Verstehen von Gefühlen sei ihrer Auffassung nach ein geistiger Akt. Langer geht demnach, so Seewald, von verschiedenen Formen des Verstehens aus sowie davon, dass bereits im außersprachlichen Bereich von einem symbolisch vermittelten Verstehen gesprochen werden kann.24 Sie vertieft die Auseinandersetzung mit dem direkten Verstehen, in dem sie die Gegenstände, die diese Art des Verstehens herausfordern, als präsentative Symbolformen beschreibt und ihnen gegenüber den diskursiven Symbolformen eine gleichwertige Stellung einräumt. »Es gibt also für Langer verschiedene Formen des ›Verstehens‹, auch das Verstehen der Gefühle darf nicht aus dem geistigen Bereich exkommuniziert werden.«25 Insgesamt wird deutlich, dass beim philosophischen Diskurs zum Verstehen die Sprache beim Verstehensprozess eine zentrale Rolle spielt. Es handelt sich hier um eine Art ›Gretchenfrage‹, an der sich, besonders im Hinblick auf die Qualität von Verstehen, die Geister zu scheiden scheinen. Außerdem schwingt mit der Thematik der Sprache die soziale Dimension mit, die dem Verstehen als Begriff innewohnt. So ist nach Rehbein und Saalmann Verstehen auch als »kommunikativer Prozess«26 zu betrachten. Wichtig und wesensbestimmend – insbesondere im Hinblick auf eine Anwendung des Verstehensbegriffs im pädagogischen Kontext – ist weiter die Abgrenzung vom ›Verstehen‹ von anderen nahen Begriffen, wie Wahrnehmung, Interpretieren, Deuten und Erklären sowie Lernen.

20 21 22 23 24 25 26

Vgl. Brandstätter 2008, 21ff. Cassirer geht hier schon, so schreibt Springstübe, von einer »aktive[n] Leistung eines setzenden Subjektes« aus. Springstübe 2013, 129. Im Unterschied zu Merleau-Ponty geht es Cassirer und Langer jedoch eher um ein intellektuelles Erschließen von Symbolen. Vgl. Springstübe 2013, 147. Vgl. Seewald 1992, 111. Seewald 1992, 111. Rehbein/Saalmann 2009, 9.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Der Phänomenologe Henri Maldiney beispielsweise sieht die Begriffe Verstehen und Wahrnehmung im Begriff des Ausdrucks und des Sinns miteinander verbunden. Während wir wahrnehmend Sinn erfassen, verstehen wir den Ausdruck im Sinn. So beschreibt Maldiney die Verschränkung von Wahrnehmung und Verstehen: »Wahrnehmen bedeutet, den Sinn im Ausdruck zu erfassen; verstehen bedeutet, den Ausdruck im Sinn zu erfassen. Wir gelangen zu dieser paradoxen Formulierung, die zunächst der Korrelation von Sinn und Verstehen zu widersprechen scheint: in der Wahrnehmung nehmen wir den Sinn wahr; im Verständnis verstehen wir den Ausdruck.«27 Verstehen bedeutet, so schreibt Maldiney, »den Ausdruck im Sinn zu verstehen.«28 In der Alltagssprache wird Verstehen oft mit dem Interpretieren, Deuten oder Erklären gleichgesetzt. Jedoch meinen Letztere eher Prozesse, die zu einem Verstehen hinführen können. Was das Verstehen also von ihnen unterscheidet, ist die implizite Erfolgsausrichtung beziehungsweise das Verbundensein mit der Erwartung, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Die Begriffe können jedoch in einer Art Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. So kann beispielsweise eine interpretierende oder deutende Tätigkeit zu einem Verstehen hinführen. Scholz beschreibt dies als ein korrelatives Verhältnis: »Vielmehr liegt ein korrelates Verhältnis vor: In allen typischen Fällen geht V[erstehen] mit der Fähigkeit einher, Erklärungen geben zu können; und Erklärungen führen, wenn sie erfolgreich sind, zu V[erstehen].«29 Er warnt jedoch davor, »Verstehen« durch einen unzulässigen Vergleich mit »Interpretation« oder »Deutung« falsch zu verstehen:30 »Interpretieren ist eine bewußte und zielgerichtete Tätigkeit, die der Überwindung von V[erstehens]schwierigkeiten dient, um so zu einem angemessenen V[erstehen] zu gelangen. (Im Unterschied zu ›verstehen‹ werden ›interpretieren‹ und ›so-und-so-verstehen‹ nicht als Erfolgsverben verwendet.)«31 Interessant ist hierbei auch die Beschreibung des Interpretierens gegenüber dem Verstehen als einem bewusst ausgeführten Prozess. Verstehen kann man zwar wollen und indirekt auch über das Erklären oder Interpretieren bewusst herbeiführen, aber wann es geschieht und dass es überhaupt geschieht, können wir nicht immer bewusst entscheiden. So geschieht Verstehen auch manchmal plötzlich, ohne dass wir es zuvor geplant haben. Insbesondere beim direkten und spontanen Verstehen stellt es sich bisweilen einfach ein und überrascht uns selbst. Für das indirekte, kausale Verstehen sind Interpretationsund Auslegungshandlungen als Teil des Prozesses im Sinne eines Weges hin zum 27 28 29 30 31

Maldiney 2006, 35; Herv. im Original. Maldiney 2006, 71. Scholz 1999, 1698. Vgl. Scholz 1999, 1700. Scholz 1999, 1700.

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Verstehen zu betrachten. Hierbei kann es beispielsweise zur Theoriebildung oder zum Überprüfen einer bestehenden Theorie auf ihre Anwendbarkeit hin kommen. »Unsere vielfältigen Aktivitäten der Interpretation haben viel mit Theorienbildung gemeinsam, wenn sie nicht schlicht ein Fall davon sind. Man entwickelt und überprüft Hypothesen über Dinge, die man noch nicht verstanden hat, um sie in das einzupassen, was wir verstehen«.32 An dieser Stelle soll noch kurz ein Blick darauf geworfen werden, wie der Verstehensbegriff von Vertretern der Sozialwissenschaft diskutiert wird. Denn auch hier wird das Verstehen an sich thematisiert, sowohl als Leistung eines einzelnen Subjektes als auch als Bewegung zwischen Subjekten betrachtet. Boike Rehbein spricht dem Verstehen, aufgrund seines offenen Charakters, im sozialwissenschaftlichen Kontext einen »kaleidoskopische[n] Charakter«33 zu. Dem Blick durch ein Kaleidoskop gleich ließen sich die Dinge immer wieder neu, mit Fokus auf jeweils andere Sinnzusammenhänge betrachten. Typisch für die Sozialwissenschaft sei dabei, dass Verstehen immer an einen ersten Vollzug von Sinnhaftigkeit gebunden ist. Damit ist insbesondere der von den Subjekten hervorgerufene Sinn gemeint.34 In der sozialen Welt geht es, so Rehbein, dabei teilweise auch um Relationen zwischen realen Begriffen (und nicht nur zwischen Dingen), da Begriffe auch losgelöst zwischen den Menschen entstehen.35 Ronald Kurt beschreibt die Spezifik des sozialwissenschaftlichen Verstehens, indem er es einem alltäglichen Verstehen gegenüberstellt36 und die Bedeutung des Nichtverstehens für das Verstehen hervorhebt. Gegenüber einem alltäglichen Verstehen sei das sozialwissenschaftliche Verstehen an folgende Bedingungen geknüpft: Zunächst gelte es, »nicht schnell« zu verstehen, denn »[d]ie Entlastung vom Handlungs- und Zeitdruck des Alltagslebens ist eine notwendige Bedingung für wissenschaftliches Verstehen.«37 Sozialwissenschaftliches Verstehen bedeute weiter, nicht »pragmatisch und selbstbezogen« zu verstehen, denn »[d]er Alltag fordert Nähe, die Wissenschaft Distanz. Während im Alltag das eigene Ich den Ausgangs- und Endpunkt des Verstehens bildet, richtet sich im sozialwissenschaftlichen Verstehen das Interesse am Ich der Anderen aus.«38 Theorien und Antworten sollen »nicht fraglos« hingenommen werden, um die »entdeckerische Denkbewegung des Verstehens«39 in Gang zu setzen, so Kurt.

32 33 34 35 36 37 38 39

Scholz 1999, 1700. Rehbein 2009, 47. Vgl. Rehbein 2009, 47. Vgl. Rehbein 2009, 47. Vgl. Kurt 2009, 82. Kurt 2009, 82. Kurt 2009, 82. Kurt 2009, 83.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Voraussetzung für sozialwissenschaftliches Verstehen sei weiter, »nicht Unbekanntes mit Bekanntem«40 auszulegen. Denn im Gegensatz zum Alltag, in dem Unbekanntes auf Bekanntes zurückgeführt wird, sei es im Sozialwissenschaftlichen umgekehrt: Bekanntes wird zu Unbekanntem gemacht, indem es hinterfragt wird. So kann schließlich von Neuem verstanden werden, was einem zunächst als verstanden erscheint.41 Außerdem soll man, so sagt es Kurt, »nicht nach Eindeutigkeit streben.«42 Denn während es im Alltag um eindeutiges Verstehen geht, wird durch die Sozialwissenschaften systematisch Mehrdeutigkeit erzeugt. Ziel ist demnach vielmehr, zu fragen, wie man die Dinge noch anders verstehen kann.43 Kurt schlussfolgert hieraus: Nur durch eine Abkehr vom alltäglichen Verstehen ist ein Verstehen des Verstehens möglich.44 Dabei gehe es nicht um eine Einteilung der Menschen in Wissenschaftler und Nichtwissenschaftler, sondern um die beiden »Einstellungsmuster« beziehungsweise »Idealtypen der Selbst- und Weltorientierung«.45 Er rät überdies zur Akzeptanz und zum Verstehen des Nichtverstehens.46 Generell wird auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive davon ausgegangen, dass unterschiedliche Gegenstände unterschiedliche Weisen des Verstehens erfordern. Das liegt daran, dass manche Gegenstände sich eher spontan, direkt bzw. als Ganzes erschließen und andere wiederum erst eines längeren Erschließungs- bzw. Auslegungsprozesses bedürfen. Verstehen wird dabei generell als stufiger Prozess beschrieben, der bei der Wahrnehmung beginnt und – je nach Art des Gegenstandes – verschiedene unabhängige kognitive Leistungen umfasst.47 Mit Bezug auf Heidegger macht Kurt jedoch darauf aufmerksam, dass wir zwar einen Verstehensprozess auf verschiedenen Stufen vertiefen können, wir den Prozess des Verstehens jedoch nie bei ›Null‹ beginnen. Denn alles Verstehen basiere auf einem Immer-schon-verstanden-Haben. »Beim Verstehen gibt es kein erstes Mal, weil jedes Verstehen auf Vorverständnissen beruht. Die Vorstruktur des Verstehens, das Immer-schon-verstanden-Haben, gehört zu den unhintergehbaren Voraussetzungen des Verstehens.«48 Dies deutet bereits auf einen wichtigen Wesenszug des phänomenologischen Verstehensbegriffs: Verstehen (so wie auch die Wahrnehmung) wird hier immer als ein Verstehen von etwas-als-etwas aufgefasst.

40 41 42 43 44 45 46 47 48

Kurt 2009, 83. Vgl. Kurt 2009, 83. Kurt 2009, 83. Vgl. Kurt 2009, 83. Vgl. Kurt 2009, 83. Kurt 2009, 83. Vgl. Kurt 2009, 84f. Vgl. Scholz 1999, 1701. Kurt 2009, 81.

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Bewegung und Musikverstehen

5.1.1.2

Was ist das Phänomenologische am Verstehen? Der phänomenologische Blick auf den Verstehensprozess

Verstehen ist für die Phänomenologie ein sehr zentrales Thema. Dabei geht es ihr nicht nur darum, was im Bewusstsein erscheint, sondern vor allem, wie es erscheint. Die Impulse aus der phänomenologischen Denktradition führen erstmals dazu, dass »das Erscheinen der Welt im Bewußtsein selbst zum Problem«49 wird. So rückt weniger der Gegenstand an sich als vielmehr das korrelative Weltverhältnis, aus dem ein Verstehen erwächst, in den Fokus. Denn Husserl zufolge ist Welt nicht etwas, was schon als verstehbar vorgegeben ist, sondern sie entsteht als »Korrelat von Bewusstseinleistungen«. Dem zugrunde liegt Husserls Intentionalitätsbegriff, die These, dass alles Bewusstsein immer schon Bewusstsein von etwas ist. »Der grundlegende Begriff der Intentionalität des Bewusstseins zeigt an, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist. So ist alles raumzeitliche Sein der Wirklichkeit nur insofern, als es auf ein erfahrendes, wahrnehmendes, denkendes, sich erinnerndes Bewusstsein bezogen ist. Die Welt ist das Korrelat von Bewusstseinsleistungen. Die Sinnstiftungen des Bewusstseins ermöglichen erst das Verstehen der Welt in Bedeutungsdimensionen und hinsichtlich ihres Geltungscharakters als etwas Existierendes.«50 Das Verstehen wird daher aus phänomenologischer Perspektive als konstitutiv für die menschliche Existenz betrachtet.51 Merleau-Ponty sieht durch die Analyse des Intentionalen unserer Bewusstseinsakte die Aufhebung der Unterscheidung von innerer und äußerer Erfahrung gelungen.52 (Er kritisiert beispielsweise den veralteten Introspektionsbegriff der Psychologie, der dem inneren Aufzeichnen von Erlebnissen den Charakter von Tatsachen unterstelle.53 ) Aus phänomenologischer Sicht ist das verstehende Ich immer schon in der Welt verankert. Merleau-Ponty geht in seiner Lehre vom leiblichen Zur-Welt-Sein davon aus, dass der Wahrnehmung immer schon ein Sein in der Welt vorausgeht. Verstehen von etwas vollzieht sich demnach nur auf dem Boden einer Welt, deren Sinn ich erlebe, noch bevor ich ihn begreife. Als ein Beispiel hierfür beschreibt MerleauPonty das Phänomen, dass ich den Worten einer mir vertrauten Person Aspekte ihres Charakters entnehmen kann (weil sie mir vertraut ist). »Diese erworbenen Welten, die meiner Erfahrung einen zweiten Sinn geben, sind ihrerseits einer primordinalen Welt entnommen, die ihren ersten Sinn begründet.«54 Verstehen hat 49 50 51 52 53 54

Seewald 1992, 204. Prechtl/Burkard 2008, S. 449. Vgl. Scholz 1999, 1699, mit Bezug auf Heidegger. Vgl. Seewald 1992, 204. Vgl. Seewald 1992, 203. Merleau-Ponty 1966, 158.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

aus phänomenologischer Perspektive weiter etwas mit dem Umgang mit dem Vertrauten und dem Fremden zu tun. So beschreiben Merleau-Ponty und Waldenfels, wie wir erst in der Auseinandersetzung mit dem Fremden oder anderen das Eigene erkennen und verstehen. Dabei geht es dem phänomenologischen Verstehen nicht lediglich darum, sich das Fremde zu eigen zu machen. Vielmehr wird Verstehen als eine Bewegung im Spannungsfeld zwischen Vertrautheit und Fremdheit, zwischen Nähe und Distanz verstanden. Es braucht das Fremde, um einen Zugang zum Eigenen zu erlangen. Dabei wird uns das Vertraute im Hinterfragen zunächst fremd; in der Annäherung an das Fremde wird es uns wiederum zu etwas Vertrautem und Eigenem. Um noch näher auf das Wie des phänomenologischen Verstehens zu schauen, soll an dieser Stelle an drei Aspekte der Phänomenologie als Methode erinnert werden, die bereits im ersten Teil der Arbeit beschrieben wurden: den Rückgang auf die lebensweltliche Erfahrung, die in der phänomenologischen Erkenntnishaltung erforderte Distanz zur theoretischen Welt und zum eigenen Denken sowie die Wesensschau durch die Variation von Erfahrungen. Die erste Epoché und die phänomenologische Einstellung Das Zurückgehen auf die eigene lebensweltliche Erfahrung bedingt zunächst das Zulassen der subjektiven Perspektive auf die Dinge, das Eröffnen der IchPerspektive als Forschungsmethode. Die phänomenologische Methode verfolgt dabei das Ziel, gerade das Subjektive an dieser Perspektive herauszustellen, um sich schließlich davon wiederum zu distanzieren und einen möglichst unvoreingenommenen reinen Blick auf die Dinge zu erlangen. Da wir immer schon in der Welt verankert sind, wäre es, so die phänomenologische Haltung, unwissenschaftlich, die subjektive Perspektive zu übergehen. Vielmehr müsse von ihr ausgegangen werden, um zu höherer Erkenntnis, Wahrheit zu gelangen und dem Ideal der Objektivität näher zu kommen. Verstehen und Erkenntnis stoßen da an Grenzen, wo uns der vollkommen objektive Blick, aufgrund des eingangs beschriebenen Ambiguitätsprinzips, versagt ist. Da wir uns als leibliche Wesen stets selbst verborgen bleiben,55 können wir uns und unser Denken selbst nie gänzlich objektiv betrachten. Daraus schließt Merleau-Ponty: »Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion. Wären wir absoluter Geist, so wäre die Reduktion kein Problem.«56 Ein wichtiger Gedanke der Phänomenologie Merleau-Pontys ist hier, dass Verstehen nicht eine Leistung eines absoluten Geistes ist. Er will den Menschen aus seinem Solipsismus befreien, indem er behauptet, dass Erkenntnis ohne Verankerung in der Welt, ohne Gegenüber, Verstehen ohne Verständigung nicht möglich ist. Der Weg 55 56

Vgl. Seewald 1992, 195. Merleau-Ponty 1966, 11; Herv. im Original.

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könnte also sein, den eigenen Anspruch an ein gelingendes Verstehen in Bezug auf den jeweiligen Gegenstand des Verstehens kritisch zu hinterfragen. Dazu gehören Fragen wie: Entspricht die Art meiner Wahrnehmung dem Gegenstand? Verzerren möglicherweise eigene Vorurteile den unvoreingenommenen Blick auf den Gegenstand?57 Kann der Gegenstand überhaupt in der einen richtigen Weise endgültig verstanden werden? Auch in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass dem Verstehen stets eine soziale Dimension innewohnt. Wie gelingt es nun aus phänomenologischer Sicht, zur eigenen Subjektivität auf kritische Distanz zu gehen? Merleau-Ponty beschreibt die phänomenologische Methode der Epoché (= Enthaltung) als Lösung für dieses Problem. Wie eingangs beschrieben, soll hierbei das erkannte eigene Vorurteil in Bezug auf das zu erkennende Ding herausgestellt und ›eingeklammert‹ werden.58 So kann in einem nächsten Schritt geprüft werden, ob die eigene Wahrnehmung der Wahrheit entspricht und dem Gegenstand angemessen ist. Merleau-Ponty schafft hierfür das Kriterium der »Evidenz«, das uns anzeigt, ob unsere Wahrnehmung das Gemeinte wirklich »berührt.«59 Den Evidenzbegriff entlehnt Merleau-Ponty wiederum von Husserl. »Wir sind in der Wahrheit, und Evidenz ist ›das Erlebnis der Wahrheit‹«.60 Das Erlebnis der Wahrheit kann sich dabei auch einstellen, wenn sich uns im Rückgang auf die lebensweltliche Erfahrung etwas, was wir bereits zu verstehen glaubten, in neuem Licht zeigt.61 Eine phänomenologische Erkenntnishaltung einzunehmen bedeutet demnach immer unvoreingenommene Hingabe und Vollzug der ursprünglichen Wahrnehmung sowie bewusstes Abstandnehmen zu dieser natürlichen Einstellung und zur theoretischen Welt zugleich.62 Seewald deutet hier jedoch bereits auf ein Problem, das die Epoché in sich birgt: Das beschriebene Einklammern setzt voraus, dass man das Einzuklammernde kennt, dass man also zum Beispiel dazu in der Lage sein muss, eigenes von fremdem oder übernommenem Verstehen zu unterscheiden.63 Indem wir uns in phänomenologischer Denkbewegung auf die lebensweltliche Erfahrung einlassen, ergründen wir das Beispielhafte. Dass wir etwas als ein Beispiel von etwas erkennen, setzt voraus, dass wir das wesensmäßig Allgemeine immer schon erahnen. Seewald spricht hier, mit Bezug auf Wilhelm Pfeffer, auch vom »fungierenden Allgemeinen«, das dem »abstrakten Allgemeinen« gegenübersteht. Während Ersteres auf das konkrete lebensweltliche Beispiel angewiesen

57 58 59 60 61 62 63

Vgl. Seewald 1992, 194. Vgl. Seewald 1992, 195. Seewald 1992, 195. Merleau-Ponty 1966, 13. Erinnert sei hier an den Ausspruch Merleau-Pontys, »Philosophie heißt in Wahrheit, von neuem lernen, die Welt zu sehen«. Merleau-Ponty 1966, 18. Vgl. Seewald 1992, 197. Vgl. Seewald 1992, S. 195.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

bleibt, existiert die zweite Form von Allgemeinheit unabhängig von dem Beispiel, das sie auslegt.64 Generell, so lässt sich mit Seewald zusammenfassen, ist das Allgemeine immer angewiesen auf ein Beispiel, das es auslegt, und erscheint das Beispielhafte uns nur vor dem Hintergrund des Allgemeinen. Die Bewegung der phänomenologischen Erkenntnishaltung verbindet daher zwei verschiedene Richtungen miteinander: Sie zielt auf das Allgemeine im Konkreten und umgekehrt ebenso auf das Konkrete im Allgemeinen.65 »Im Vollzug der phänomenologischen Reduktion ist das implizite Wissen um das wesensmäßig Allgemeine immer schon enthalten.«66 Wie nähern wir uns nun also verstehend dem Wesen der Dinge? Die sogenannte Wesensschau als phänomenologische Methode bildet einen zweiten Schritt im Erkenntnisprozess, der an eine Begegnung mit dem Beispielhaften im lebensweltlichen Erfahrungsbereich anknüpft. Phänomenologische Erkenntnis und das Erkannte stehen folglich immer in einem gewissen Abstand zueinander. Es bedarf zunächst der Variation der Erfahrung mit dem untersuchten Gegenstand sowie der Beschreibung dieser Erfahrungen. Nur dadurch tritt das Invariante der Erfahrung als Wesen des untersuchten Gegenstandes hervor.67 »Zusammenfassend geht das wesensmäßige Allgemeine von Beispielen aus. Es unterliegt einer doppelten Abständigkeit: Zum einen erreicht es die erlebte Wirklichkeit nur in der Retrospektive, zum anderen schiebt sich die Sprache ermöglichend und verhindernd in den Prozeß. Das wesensmäßig Allgemeine geht dennoch nicht im begrifflich Allgemeinen auf, obwohl dies eine dauernde Gefahr darstellt. Als Wesen stellt sich das Invariante konkreter Erfahrungen heraus. Die Variation zielt auf die impliziten Sinndimensionen im Beispielhaften ab und versucht sie in einem vorrangig aktiven, schöpferischen Prozeß erscheinen zu lassen.«68 Die Wesensschau ist schließlich, so Seewald, an die Sprache gebunden, da im begrifflichen Allgemeinen der Sprache das wesensmäßig Allgemeine hervortreten kann. Da die Sprache immer auch auf einer Distanz zum Erlebten basiert, darf das begriffliche Allgemeine jedoch nicht mit dem wesensmäßig Allgemeinen verwechselt werden. So Seewald mit Bezug auf Merleau-Ponty: »Das wesensmäßige Allgemeine ist also auf das begriffliche Allgemeine der Sprache angewiesen, aber es geht in ihm nicht auf und fällt auch nicht damit zusammen. Es liegt allerdings eine dauernde Gefahr für die Wesensschau darin, daß sich das begriffliche als wesensmäßig 64 65 66 67 68

Vgl. Seewald 1992, 196. Vgl. Seewald 1992, 196. Seewald 1992, 198. Vgl. Seewald 1992, 199, mit Bezug auf Merleau-Ponty. Seewald 1992, 200.

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Allgemeine ausgibt.«69 Die beschriebene phänomenologische Denkbewegung existiert nur in Verbindung mit dem zu untersuchenden Phänomen, an das sie mithilfe der Deskription immer wieder sich anzulehnen versucht. Daher ist die phänomenologische Methode, so Seewald, »eine Bewegung und eher Weg als Ziel.«70 Verstehen, phänomenologisch verstanden, bedeutet insgesamt, mit den Dingen nicht fertig zu werden, immer wieder von Neuem das noch nicht Thematisierte und Reflektierte in den Blick zu nehmen und scheinbar Vertrautes neu zu hinterfragen. Husserl zufolge ist die phänomenologische Denkbewegung daher wie ein »endloser Dialog«.71 Diese philosophische Einstellung oder Haltung zeigt sich letztlich bereits im Wort Phänomen. Gemeint ist das Nichtkonkrete, das nicht direkt zu erfassende Ding. Ziel ist nicht die genaue Auslegung und Festschreibung des Verstehensobjektes. Stattdessen geht es vielmehr um das Bewusstmachen, Einstimmen auf das Problemhafte. Etwas zu einem Problem, zu einem Thema zu machen, stößt eine sinnlich-leibliche Erschließung an. Das ganzheitliche erste Erschließen in der sinnlichen Wahrnehmung, im leiblichen Erleben, wird dabei gegenüber dem vertiefenden distanzierenden Reflektieren als gleichrangig behandelt. Schließlich sind beide Arten des Verstehens für ein verstehendes Sein-zur-Welt von Bedeutung und je nach Wesen des Untersuchungsgegenstandes mehr oder weniger geeignet, um den jeweiligen Gegenstand zu erschließen. Die phänomenologische Erkenntnishaltung wahrt somit auch das Unerklärliche und Geheimnisvolle, schützt das zu untersuchende Ding und lässt es zunächst selbst zu Wort kommen. Lassen wir uns die Dinge von ihrem Wesen erzählen, kann sich Verstehen im Zwischenraum zwischen uns und den Dingen vollziehen. Denn die Dinge werden uns erst dadurch zu etwas, das wir thematisieren können, indem sie uns etwas Fremdes, Nichterschlossenes entgegenstellen. So wie wir uns nie endgültig selbst erschließen können, behalten auch die Dinge für uns, wie Merleau-Ponty es sagt, stets Reste von Unerschließbarem oder Verborgenem.

5.1.1.3

Phänomenologisches Verstehen versus hermeneutisches Verstehen

Das phänomenologische Anliegen, das Verstehen an sich zu verstehen, beeinflusst auch die Hermeneutik. So setzt sich Hans-Georg Gadamer beispielsweise mit Hei-

69 70 71

Seewald 1992, 198 Seewald 1992, 200. Merleau-Ponty 1966, 18, mit Bezug auf Husserl. Hinsichtlich der Beschreibung des Verstehens unterscheiden sich Husserl und Merleau-Ponty jedoch darin, dass Husserl Verstehen noch mehr als einen geistigen Akt begreift. Merleau-Ponty, der in der leiblichen Verankerung des Menschen die Grundlage allen Verstehens sieht, erhebt gegenüber der Husserl’schen Lehre der ›transzendentalen Reduktion‹ daher den Vorwurf der »Egologie« – ein Problem, das Husserl vermutlich selbst schon erkannte, im Gegensatz zu Merleau-Ponty aber akzeptierte. Vgl. hierzu auch Oberhaus 2006, 104f., mit Bezug auf Husserl.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

degger72 auseinander. Beide teilen das Interesse am Prozess des Verstehens. Heidegger betont dabei jedoch stärker den Zusammenhang vom Sein-in-der-Welt des Menschen mit dem Verstehen und betrachtet Verstehen auch als Existential des Menschen. Verstehen begreift er vielmehr »nicht als eine Erkenntnisform neben anderen, sondern als eine ursprüngliche Seinsweise des Menschen, der immer schon sich selbst und die Welt in bestimmter Weise versteht und auslegt.«73 Somit wird das Verstehen bei ihm zu einem fundamentalen »Existenzial«, da »es das menschliche Dasein mitkonstituier[t].«74 Gadamer wiederum hebt den Aspekt der Überlieferung hervor und bindet Verstehen stärker an die Sprache. Er fragt danach, wie Verstehen möglich ist, und kommt zu dem Schluss, dass »jedes V[erstehen] den Bedingungen der Geschichtlichkeit und der Sprachlichkeit« unterliege, versteht es sozusagen als »wirkungsgeschichtliche[n] Vorgang« und »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen«.75 (Die damit einhergehende Rehabilitierung von Vorurteilen, Tradition und Autorität durch Gadamer löst jedoch heftige Kritik aus.) Mit der Hermeneutik und der Phänomenologie wird nicht nur das Verstehen, sondern auch das Nichtverstehen zum Gegenstand eines philosophischen Diskurses. Während Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer das Verstehen, so Ronald Kurt, eher überschätzen und idealisieren, bilden die Arbeiten von Lévinas und Waldenfels das andere Extrem: Sie gehen von der Unmöglichkeit des Verstehens aus.76 Wenn bei der weiteren Gegenüberstellung von der hermeneutischen und der phänomenologischen Erkenntnishaltung die Rede ist, so geschieht dies im Bewusstsein, dass weder von der Phänomenologie noch von der Hermeneutik als von der einen Lehre oder Methode gesprochen werden kann. Immer gehen die theoretischen Annahmen zurück auf das Werk einzelner Denker, wie Heidegger und Gadamer. Außerdem lassen sich beide philosophische Strömungen teilweise schlecht voneinander abgrenzen, denn sie stehen sich in vielen wesentlichen Aspekten sehr nahe.77 Daher sollen nun zunächst wichtige Gemeinsamkeiten beider philosophischer Erkenntnishaltungen benannt werden: »Es geht in der Hermeneutik nicht darum, am Ende aller Verstehenswege alles verstanden zu haben. Es geht vielmehr darum, den unendlichen Weg des Verstehens als Selbstzweck zu betrachten.«78 Der Verstehensakt als solcher, der Verlauf des Verstehensprozesses, ähnelt sich in beiden Positionen. Beide gehen davon aus, dass Verstehen immer

72 73 74 75 76 77 78

Heideggers Gedankengut lässt sich sowohl der Phänomenologie als auch der Hermeneutik zuordnen. Angehrn 2009, 287, mit Bezug auf Heidegger. Scholz 1999, 1699. Scholz 1999, 1699, mit Bezug auf Gadamer. Vgl. Kurt 2009, 71. So sind unter anderem durch Heidegger wichtige phänomenologische Impulse in die Hermeneutik eingeflossen. Kurt 2009, 88.

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bei einem Kontakt mit der Lebenswelt, dem sinnlich-leiblichen Erleben von dem, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, beginnen muss. Indem Verstehen also aus dem Blickwinkel beider Positionen auf die »vorwissenschaftliche Verstehenserfahrung«79 zurückgehen muss, entsagt nicht nur die Phänomenologie, sondern auch die Hermeneutik der Vorherrschaft der naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise. Sinnverstehen sei nicht allein durch die »Zugriffsweisen der Wissenschaft«80 zu leisten. »So wird deutlich, daß Verstehen in jedem Fall im Spannungsfeld von Vertrautheit und Fremdheit stattfindet und daß Verstehen immer ein Mitbedenken der eigenen Vor-Urteile und der Erkenntnisinteressen, auf die hin verstanden wird, umfaßt.«81 Beide Erkenntnisweisen machen darauf aufmerksam, dass das Subjekt des Verstehens immer in den Verstehensakt involviert sein muss, betonen den Eigenanteil des Interpreten an der Situation des Verstehensvorgangs. Verstehen bleibe immer angebunden an die verstehende Person, »an dessen Vorverständnis und seine Sinnprojektion«.82 Sowohl aus phänomenologischer als auch aus hermeneutischer Perspektive ist es leiblich fundiert – alles Verstehen gründet auf dem elementaren Verstehen, das der Ausdrucksebene gleichgesetzt werden kann. Obwohl dem Verstehen von beiden Denkweisen ein subjektiver Grund zugesprochen wird, sehen beide die Unmöglichkeit des Subjektes, sich selbst objektiv zu betrachten, und positionieren das Verstehen in das Zwischenfeld zwischen Ich und Welt, Verstehenssubjekt und Verstehensobjekt. Gadamer lehnt beispielsweise den Kongenialitätsgedanken ab und spricht von der Unmöglichkeit, sich selbst endgültig zu verstehen (Selbstverborgenheit).83 Vertreter beider Positionen sprechen daher vom Verstehen als einem korrelativen Verhältnis. So spricht Seewald von folgenden Gemeinsamkeiten zwischen Gadamer und der phänomenologischen Erkenntnishaltung: »Weder Distanz noch vollkommenes Aufgehen in der Sache sind gefordert, sondern das Aushalten einer befremdlichen Spannung, die der Gegenstand zwischen den Polen der Vertrautheit und Fremdheit entfaltet.«84 Auch die Haltung des Verstehenssubjektes ist beiden Positionen gemäß passiv und aktiv zugleich, bedingt also ein »leibliches ›In-Situation-sein‹«.85 Ebenso gemeinsam ist ihnen die Ausrichtung des Verstehensprozesses auf ein Woraufhin, die Beschreibung des Verstehensprozesses als Weg, als intentionale Bewegung. Was in hermeneutischer Manier durch den Begriff des Vorurteils oder

79 80 81 82 83 84 85

Seewald 1992, S. 220. Vogt 2001, S. 210. Seewald 1992, 221. Seewald 1992, 221. Vgl. Seewald 1992, 211. Seewald 1992, 214; Herv. im Original. Seewald 1992, 217.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

der Anwendung benannt wird, ist die Intentionalität in phänomenologischer Haltung.86 Nach Seewald liegt in der Sprache »der gemeinsame Berührungspunkt von hermeneutischem und (leib-)phänomenologischem Verstehen«.87 Denn auch beim phänomenologischen Verstehen spielt die Sprache im Zusammenhang mit der Wesensschau eine Rolle. Der Umgang mit Sprache ist jedoch kritischer und von der Einsicht geprägt, dass sich die Dinge durch Sprache nie gänzlich erschließen lassen. »(Leib-)phänomenologisches Verstehen greift den impliziten Sinn im präsentativen Bereich niedriger Symbolisierungshöhe auf und transformiert ihn in Sprache. Hier ist Verstehen notgedrungen viel stärker leibgeprägt in dem Sinn, daß leibliche Regungen mitschwingen und daß es Reste von Verborgenheit und Unaussprechbarem gibt.«88 So wie sich beide Positionen also durch die Sprache berühren, beginnt hier auch deutlich zu werden, worin sie sich unterscheiden. Während die hermeneutische Erkenntnishaltung danach strebt, (sprachlich fixierten) Sinn auszulegen, verfolgt die phänomenologische Einstellung das Ziel, den sich bildenden Sinn zu bewahren.89 Phänomenologisch betrachtet, geht der Sprache ein leibliches Verstehen voraus und können die Dinge sprachlich nicht endgültig erschlossen werden. Der phänomenologische und der hermeneutische Ansatz sind sich im Hinblick auf den Verstehensbegriff, wie aufgezeigt wurde, in den wesentlichen Grundzügen des Verstehens einig – insbesondere hinsichtlich der Art und Weise und der Prozesshaftigkeit des Verstehensprozesses. Seewald zufolge unterscheiden sich beide Ansätze hauptsächlich darin, dass sich Verstehen jeweils auf etwas anderes richtet: »Hermeneutisches Verstehen hat in erster Linie mit überliefertem und hier nahezu ausschließlich mit schriftlich fixiertem Sinn zu tun. Phänomenologisches Verstehen im Sinne Merleau-Ponty’s fragt dagegen nach dem Sinn in ›statu nascendi‹.«90 So gesehen baut hermeneutisches Verstehen auf phänomenologischem Verstehen auf, indem es, so Seewald, »auf die Berichte solcher Erfahrungen angewiesen«91 ist. Daher ist auch die Überlieferung als zentraler Begriff der hermeneutischen Verstehenstheorie zu betrachten. Hauptsächlich der Sprache wird hier die Funktion der Überlieferung zugesprochen. Leibphänomenologisch betrachtet, kommt es jedoch zuvorderst auf die Empfänglichkeit für Überlieferung an, ist der leibliche An86 87 88 89 90 91

Vgl. Seewald 1992, 214. Seewald 1992, 221. Seewald 1992, 221. Vgl. Seewald 1992, 221f. Seewald 1992, 221. Seewald 1992, 221.

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Bewegung und Musikverstehen

teil am Phänomen der Überlieferung entscheidend. Merleau-Ponty begründet dies mit der leiblichen Verankerung des Menschen in der Welt und geht davon aus, dass der allererste Kulturgegenstand für den Menschen »der Leib eines Anderen, als Träger eines Verhaltens«92 , ist. Auch wenn die Hermeneutik die persönliche Erfahrung in den Verstehensprozess integriert, werden Erkenntnisse im vorsprachlichen Feld nicht als gleichwertig mit Formen des reflexiven Verstehens betrachtet. So sind Erfahrungen für Gadamer nicht »wissenschaftsfähig«.93 Auch werden sie nicht als intentionaler Akt (wie bei Husserl), sondern eher als passives »Erleiden einer Wirkung«94 verstanden. Aufgrund dieser Aufwertung der Auslegung der Dinge gegenüber den Erfahrungen mit ihnen stehen in hermeneutisch geprägten Verstehenstheorien im pädagogischen Kontext Dinge bzw. Gegenstände und ihre Auslegungen im Vordergrund, werden persönliche Erfahrungen hierfür zwar als notwendig, als Wissensquelle jedoch für unzureichend befunden. Beide Herangehensweisen – die sinnbewahrende und die sinnauslegende – können sich insgesamt, so Seewald, auch gegenseitig bereichern. Denn phänomenologisches Verstehen kann den »Rohstoff« dafür liefern, der in hermeneutischer Weise »›weiterverarbeitet‹ und dabei stärker durchgeformt und verändert«95 wird. Ob und inwiefern ein eher sprachgebundenes Untersuchen von Dingen an ein leibphänomenologisches Verstehen anknüpfen und dieses vertiefen kann, soll an späterer Stelle erörtert werden. Zunächst soll nun der generierte phänomenologische Verstehensbegriff für den pädagogischen Kontext handhabbar gemacht werden.

5.1.1.4

Verstehen im pädagogischen Kontext aus phänomenologischer Perspektive

Der deutschen Pädagogik ging es viele Jahre zu sehr um das Gegenständliche, um die Dinge.96 Inzwischen interessieren mehr die Prozesse des Verstehens zwischen Gegenstand und Ich. Nach phänomenologischer Erkenntnishaltung kann Verstehen nur damit beginnen, dass man sich seiner eigenen Erfahrungen und der mit ihnen verbundenen Vorurteile zunächst bewusst wird. Im Hinblick auf den pädagogischen Kontext gilt es daher, nicht länger nur die Dinge, sondern das Verstehen selbst in den Blick zu nehmen, es gemeinsam mit den Schülern zum Thema zu machen. 92 93 94 95 96

Merleau-Ponty 1966, 400. Vogt 2001, 210, mit Bezug auf Habermas. Waldenfels 2007, 123., mit Bezug auf Gadamer. Seewald 1992, 222. So lautete eine Aussage von Prof. Dr. Felicitas Thiel in ihrem Vortrag »Was ist guter Unterricht« am 31.1.2018 im Rahmen der Veranstaltungs- und Vortragsreihe »MittwochsBildung« der »Gemeinnützigen« in Lübeck.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Indem er das leibliche Zur-Welt-Sein des verstehenden Ichs, sein Verhalten und Handeln als notwendige Bedingung von Verstehen betrachtet, befreit MerleauPonty das Verstehen aus der Sphäre der (nicht zu erreichenden) reinen Geistigkeit.97 Oberhaus spricht daher auch von einem neuen phänomenologischen Verstehensbegriff, »der sich nicht einseitig am Verstand orientiert, sondern im leiblichen Verhalten immer schon ›verankert ist‹. Verstehensstrukturen werden entworfen und handelnd vollzogen.«98 Phänomenologisches Verstehen braucht demnach den Blick in beide Richtungen: in die Richtung des intentional handelnden Subjekts sowie in die der uns herausfordernden Dinge. Die Konstitution von Wirklichkeit als Dialog zwischen Verstehenssubjekt und Verstehensobjekt beschreibt Stenger mit Bezug auf Meyer-Drawe mit dem Wortpaar: »Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit«.99 Meyer-Drawe, die sich hierbei auf Humboldt bezieht, betont, dass es bei der Konstitution von Wirklichkeit stets auf beides ankommt: auf die eigene Aktivität des Welt erschließenden Individuums als Teil der Welt und auch auf die jeweiligen Eigenschaften der Dinge, die uns auf ihre je eigene Weise herausfordern. Denn dass es nicht die eine Wahrheit geben kann, bedeute nicht, dass wir die Welt um uns lediglich erfinden. Der Anteil der Dinge an Bildungsprozessen zeige sich in einem Finden im Sinne eines Antwortens auf den Anspruch der Dinge beziehungsweise auf die Herausforderungen durch die Dinge100 selbst. »Das Finden ist im Gegensatz zum Erfinden keine Einbahnstraße, sondern ein dialogisches Verhältnis von Subjekt und Ding, welches wahrgenommen und ernstgenommen werden muß – mit allen Sinnen, nicht nur als ein kognitiver Akt des Erkennens.«101 Meyer-Drawe und Stenger zufolge ist es wichtig, die Dinge sein zu lassen, wie sie wirklich sind, und nicht lediglich einer Idee vom Seienden oder dem eigenen Vorurteil zu verfallen.102 Den Kommunikationsprozess, unser Antworten auf die Dinge sieht Stenger durch die Sprache umgesetzt.103 Das, was uns Sprache ermöglicht, kann sie im gleichen Moment jedoch auch verhindern. Stenger beschreibt mit Bezug auf Heidegger, Erhart Kästner und Merleau-Ponty warnend, wie wir den Dingen ihr Eigenleben nehmen, sie abwerten, indem wir sie genau beschreiben und bestimmen wollen:104 »Die Dinge sind tot, und wir (das war richtig), waren es, die sie erforschten, erwürgten, umbrachten.«105 97

98 99 100 101 102 103 104 105

»Verstehen heißt, die Übereinstimmung erfahren zwischen Intention und Vollzug, zwischen dem, worauf wir abzielen, und dem, was gegeben ist; und der Leib ist unsere Verankerung in der Welt.« Merleau-Ponty 1966, 174. Oberhaus 2006, 128. Stenger 2002, 161. Vgl. Stenger 2002, 159. Stenger 2002, 159; Herv. im Original. Vgl. Stenger 2002, 164. Vgl. Stenger 2002, 161. Vgl. Stenger 2002, 159ff. Kästner 1973, 159.

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Bewegung und Musikverstehen

Dem stellen Merleau-Ponty und Joseph Beuys das Schaffen von (bildenden) Künstlern entgegen. Sie beschreiben es als ein Einlassen auf die Dinge. Die entstehende Kunst soll lediglich übermitteln, von welchen Wesensmerkmalen die abgebildeten Dinge selbst sprechen. In einem Gespräch, in dem Joseph Beuys erklären soll, wie Werke für ihn entstehen, schildert er: »Ich sage nie: Es ist für mich fertig, sondern ich sage, wenn’s fertig ist: Der Tisch, der will das so, daß er so ist. Also ich sage nie: Ich erkläre das Ding für fertig, sondern ich warte darauf, bis der Gegenstand sich meldet und sagt: Ich bin fertig (lacht).«106 Kinder antworten generell, so Stenger mit Bezug auf Martinus J. Langeveld, anders als Erwachsene auf die Dinge, die sie herausfordern. Sie verwenden noch keine endgültigen Bedeutungsbeschreibungen, variieren diese eher in einem offenen Spiel mit den Dingen, in denen sie alle Möglichkeiten ihrer Bedeutsamkeit ausloten.107 Kinder lassen sich von den Dingen noch herausfordern, plötzlich treffen – wir Erwachsenen müssen dies häufig erst wieder erlernen. Dieses Getroffenwerden von den Dingen beschreibt Stenger mit Bezug auf Merleau-Ponty als etwas, was den ganzen Körper betrifft. Es bedeute ein direktes leibliches Sein beim Ding, sei eine Bewegung der Wahrnehmung, in der sich uns plötzlich etwas auftut, von dem wir jäh getroffen werden.108 Wie kann es nun aber gelingen, das Sicheinlassen auf das Wesen der Dinge? Und ist dieses Getroffenwerden überhaupt in irgendeiner Weise planbar oder vorhersehbar in der pädagogischen Situation? Ein Umgang mit bildender Kunst und Musik beispielsweise, der Momente der Hingabe und Selbsttätigkeit verbindet, kann gelingen, indem wir uns sowohl treffen lassen als uns auch suchend und wach dem Kunstgegenstand zuwenden. Es erfordert also eine responsive Haltung, wie Friedrich Nietzsche sie beschrieben hat: »Die Dinge rühren unsere Saiten an, wir aber machen die Melodie daraus.«109 Sehend und Hörend sind wir dem Ausdruck der dargestellten Dinge in gewisser Weise ausgeliefert, wenn wir wahrnehmend unsere Sinneskanäle dafür öffnen.110 Im Sehen ließe sich der dialogische Charakter dieses Verstehensprozesses leichter nachvollziehen als beim Hören. Denn im Hören sind wir in besonderer Weise den Dingen ausgeliefert, so Meyer-Drawe. Hier fällt es eher schwer, den eigenen Anteil eines Erkennens zu sehen. Zu hören fordere die Hingabe an die Dinge in besonderem Maße.111 Der responsiven Theorie (Waldenfels, Vogt) gemäß bedeutet

106 107 108 109 110 111

Beuys 1986, zitiert nach Harlan 2001, 37. Vgl. Stenger 2002, 174ff. Vgl. Stenger 2002, 167. Nietzsche 1988, 311. Insbesondere die Kunst verlangt diese Öffnung und zugewandte Haltung von uns – nur dann kann sie uns etwas sagen. Vgl. Meyer-Drawe 1999, 334.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

das Hören, dass wir den Anspruch des Dinges (zum Beispiel des Gegenstands Musik) vernehmen und auf diesen hörend antworten. Hieran zeigt sich erneut, welche besondere Rolle dem Hören beim Prozess des Musikverstehens zukommt.112 Wie oben bereits beschrieben, spricht Vogt hier von einem Zwischenbereich zwischen Hören und Gehörtem, der durch das responsive Hören eröffnet wird. Er bezeichnet diesen auch als »auditive oder auditorische Differenz«.113 Zum Problem wird Verstehen, wenn wir uns durch den Verstehensbegriff einem Anspruch ausgesetzt sehen, der sich nicht erfüllen lässt, oder wenn die Weise, wie wir zu verstehen glauben, den Dingen, die wir verstehen wollen, nicht entspricht. Es gilt daher die Dinge zuallererst zu befragen, sie sprechen zu lassen, ihr je eigenes Wesen sein zu lassen und es nicht denkend oder durch wortsprachliche Regelzwänge zu übergehen. Meyer-Drawe rät außerdem zu einer kritischen Haltung der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung gegenüber und zur Vorsicht beim Umgang mit dem Wahrheitsbegriff: »Diese beiden Aspekte von Wirklichkeit, nämlich daß sie über sich schweigt, indem sie jeden eindeutigen Sinn verweigert, und daß es sie dennoch gibt, verschärft sich zu einem Problem, wenn man die Erfahrung der Dinge mit dem Anspruch auf Wahrheit verknüpft, so als läge der Mannigfaltigkeit unserer Wahrnehmungen eine Wirklichkeit zugrunde, die wir allerdings aufgrund unserer verschiedenen Perspektiven variieren.«114 Insbesondere im pädagogischen Kontext verknüpfen wir mit »Verstehen« eine Erfolgserwartung, scheinen wir das Erlangen einer angestrebten konkreten und messbaren Fertigkeit zu erwarten. Doch dies widerspricht der Besonderheit der Beschaffenheit insbesondere der präsentativen Symbolformen. So lässt sich auch Musik nicht eindeutig auslegen und endgültig verstehen. Das landläufige Verständnis von Verstehen soll hier vorausschauend auf den (musik-)pädagogischen Hintergrund der Arbeit wie folgt kritisch hinterfragt werden: Muss Verstehen immer an einen Erfolg, an das Erreichen von konkreten Zielen gebunden sein, oder geht es dem Verstehen nicht vielmehr um den Weg an sich als ein Aufrechterhalten einer Bewegung der Auseinandersetzung? Wenn man in phänomenologischer Erkenntnishaltung davon ausgeht, dass man mit den Dingen und Phänomenen nicht ›fertig‹ werden kann und insbesondere ein Phänomen wie die Musik immer Momente des Unerklärlichen und Unbegreifbaren behält, dann ist es nur konsequent, die althergebrachte Erfolgserwartung des Verstehensbegriffs zu hinterfragen. Ziel pädagogischen Handelns sollte es ein, Verstehen als Bewegung auszulösen und im Gange zu halten.

112 113 114

Vgl. Oberhaus 2006, 171. Vogt 2001, 220; Herv. im Original. Meyer-Drawe 1999, 329; Herv. im Original.

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Bewegung und Musikverstehen

5.1.2

Musikverstehen aus (leib-)phänomenologischer Perspektive

5.1.2.1

Anwendung eines phänomenologischen Verstehensbegriffs auf das Verstehen von Musik

Im musikpädagogischen Kontext ist man lange Zeit eher von einem hermeneutischen Verstehensbegriff ausgegangen. Das liegt vermutlich zum einen an der benannten Gegenstandsorientierung der Pädagogik und zum anderen daran, dass Verstehen in der Regel im pädagogischen Kontext vorrangig als ein Verstehen durch und von Sprache verstanden wird.115 In Bezug auf das Auslegen von Texten hat die Hermeneutik die Pädagogik durch wichtige Erkenntnisse dahingehend bereichert, dass sie mit Gadamer das verstehende Ich neben dem Verstehensobjekt als gleichbedeutend betrachtet und mit der Phänomenologie gemeinsam von einem korrelativen Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt ausgeht. Bei einer Anwendung des phänomenologischen Verstehensbegriffs im musikpädagogischen Kontext geht es dieser Untersuchung, wie oben beschrieben, um folgende drei Hauptforderungen der phänomenologischen Erkenntnishaltung: um den Rückgang auf die lebensweltliche Erfahrung, die in der phänomenologischen Erkenntnishaltung erforderte Distanz zur theoretischen Welt und zum eigenen Denken sowie um die Wesensschau durch die Variation von Erfahrungen. Aus phänomenologischer Perspektive ereignet sich Verstehen durch ein korrelatives Verhältnis von Ich und Welt. Das bedeutet übertragen auf den Umgang mit Musik: Verstehen sollte als Prozess betrachtet werden, bei dem die subjektive lebensweltgebundene Perspektive des Verstehenssubjektes genauso von Bedeutung ist wie die affizierenden und herausfordernden Wesenszüge des musikalischen Kunstwerkes als Gegenstand der Betrachtung. Der Begriff Korrelation deutet außerdem darauf hin, dass es auch beim Verstehen von Musik um ein Ins-VerhältnisSetzen und Einordnen in einen Gesamtzusammenhang geht. Beim verstehenden Umgang mit Musik setzt sich zuallererst der musikalisch Wahrnehmende selbst mit dem musikalisch Wahrgenommenen ins Verhältnis. Durch das Ins-VerhältnisSetzen von musikalischen Sinnstrukturen in der Wahrnehmung wird überhaupt etwas als etwas in der Musik erkannt. Schließlich wird das hieraus gewonnene eigene Verständnis auch zu dem Verständnis der anderen ins Verhältnis gesetzt. Denn Verstehen ist auch im Hinblick auf Musik an Verständigung gebunden. Zu fragen ist im Hinblick auf den musikpädagogischen Kontext daher, wie sich Verständigung über Verstandenes in Bezug auf Musik gestalten lässt beziehungsweise inwiefern wir Verstehen durch Verständigung bewirken können und ob es auch Möglichkeiten der Verständigung im vorsprachlichen Bereich gibt.

115

Im musikpädagogischen Bereich liegt dabei der seit vielen Jahren immer wieder neu belebte Diskurs um die Frage: »Ist Musik eine Sprache?«, zugrunde.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Wie oben beschrieben, hängt die Art des Verstehens vom Gegenstand des Verstehens ab. Da es sich bei Musik nicht um einen Gegenstand im herkömmlichen Sinne handelt, den wir schon vor uns haben, der sich anfassen und von allen Seiten betrachten ließe, sondern um ein Phänomen, das sich nur im Vollzug als etwas erfahren lässt, gilt es, den Verstehensbegriff entsprechend anzupassen. Der Verstehensbegriff ist aus Schule und Unterricht nicht wegzudenken. Er gilt als beliebtes Bewertungskriterium und übergeordnetes Ziel, das mit der Auseinandersetzung mit jeglichen Lerngegenständen verbunden wird. Dabei wird Verstehen in der Regel an die Wortsprache geknüpft – es wird erwartet, dass Verstehen sprachlich mitgeteilt und somit sprachlich überprüfbar und bewertbar gemacht wird. Was nun aber, wenn wir mit dem durch die Wortsprache geprägten Verstehen nur einen Bruchteil von dem erfassen, was Verstehen von Musik bedeutet? Im Folgenden soll geprüft werden, inwiefern das phänomenologische Verständnis helfen kann, den Verstehensbegriff im Hinblick auf eine Anwendung im musikpädagogischen Bereich so zu weiten, dass unter Verstehen auch leibliches und vorsprachliches Verstehen gefasst werden kann. Da, phänomenologisch betrachtet, Verstehen nicht erst mit dem konkreten Wortbegriff, sondern mit dem Erleben des Beispielhaften beginnt, soll nun insbesondere der Prozess des Verstehens vor dem Gebrauch der Wortsprache betrachtete werden. Hierfür wird versucht, die Begriffe der phänomenologischen Methode: »lebensweltliche Erfahrung«, »Epoché« und »Wesensschau«, auf den Umgang mit Musik zu übertragen. Rolle der lebensweltlichen Erfahrung für ein Verstehen von Musik Die Lebenswelt als unhinterfragte Welt, in der wir unmittelbar leben, ist, so schreibt Merleau-Ponty, nicht einfach schon gegeben. Sie bildet sich in unserer Wahrnehmung, in unserem Denken.116 Er sieht in der Lebenswelt eine Welt des Urtümlichen und Ursprünglichen, auf die wir reflektierend zurückgehen müssen. In der Phänomenologie der Wahrnehmung spricht er vom Reflektieren als einem »Rückgang auf das Unreflektierte«.117 Unter Lebensweltbezug ist daher die Aufforderung der Phänomenologen zu verstehen, zu den Dingen selbst zurückzukehren, sie so, wie sie sind, in wahrnehmender Hinwendung, in der wir noch nichts thematisieren, zu uns sprechen zu lassen.118 »Die Reflexion vermag also ihren eigenen vollen Sinn selbst nur dann zu erfassen, wenn sie des unreflektierten Untergrundes eingedenk bleibt, den sie voraussetzt,

116 117 118

Vgl. Merleau-Ponty 1966, 7. Merleau-Ponty 1966, 281. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 282.

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Bewegung und Musikverstehen

aus dem sie sich nährt und der für sie so etwas wie eine ursprüngliche Vergangenheit konstituiert, eine Vergangenheit nämlich, die niemals Gegenwart war.«119 Der Sinn, auf den wir wahrnehmend in der Lebenswelt treffen, könne nach Merleau-Ponty jedoch »niemals gänzlich eingeholt und damit stillgestellt werden, da er selbst vor-sprachlich, vor-gestalthaft, vor-normativ ist«.120 Das, was im Laufe des Verstehensprozesses als wesensmäßig Allgemeines hervortritt, ist uns in der Lebenswelt also zwar in seinem Sinn und in den zugrunde liegenden Sinnzusammenhängen gegeben, aber noch nicht thematisch beziehungsweise als Wesen greifbar. Mit der lebensweltlichen Erfahrung kehren wir vielmehr zurück auf die Ebene des Beispielhaften. Wie gestaltet sich nun ein Rückgang auf die lebensweltliche Erfahrung beim Umgang mit Musik? Nach Waldenfels findet die Begegnung mit dem spezifisch Musikalischen in der Lebenswelt in drei Bereichen statt: im Vor-, Nach- und Übermusikalischen.121 Diese Unterteilung zieht den Bogen von rhythmisch-musikalischen Urphänomenen unserer menschlichen Natur (wie zum Beispiel unserem Herzschlag) bis hin zur konkreten, bewussten Auseinandersetzung mit dem Phänomen Musik, ihrer Geschichte. Was mit einer zunächst unkritischen Wahrnehmung beginnt, führt, je mehr das Musikalische an sich thematisiert wird, zu einer bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen lebensweltlichen musikalischen Erfahrung.122 Anwendung auf den musikpädagogischen Bereich findet der Lebensweltbegriff indirekt durch Waldenfels‹ Theorie der Responsivität und direkt durch Vogts Begriff der »pädagogischen Differenz«.123 Dieser knüpft wiederum an Waldenfels‹ Theorie des antwortenden Hörens als leiblichen Registers der Wahrnehmung von Musik an.124 Mit Bezug auf Merleau-Ponty spricht Vogt von Lebenswelt als Ort der »stummen Erfahrung«.125 Die Idee der Responsivität und der pädagogischen Differenz bezieht sich bei Vogt auf die Situationshaftigkeit von Musikunterricht. »Anspruch und Antwort des pädagogischen Handelns treten aus einem pädagogischen Geschehen als solche erst im Geschehen selbst hervor und sind nicht vorab isolierbar.«126 Vogt betrachtet auch das pädagogische Handeln als ein responsives Handeln, das eine offene Beziehung zwischen Pädagogen und Schülern erfordert.127 Denn pädagogisches Handeln lässt sich nicht im Vorfeld genau vorausplanen und vorstrukturieren – es ist bedingt durch pädagogische Erfahrung und pädagogische 119 120 121 122 123 124 125 126 127

Merleau-Ponty 1966, 283. Vogt 2001, 114, mit Bezug auf Merleau-Ponty. Vgl. Oberhaus 2006, 159, mit Bezug auf Waldenfels. Vgl. Oberhaus 2006, 159f. Oberhaus 2006, 167. Vgl. Oberhaus 2006, 165ff. Vgl. Vogt 2001, 144ff. Vogt 2001, 132; Herv. im Original. Vgl. Vogt 2001, 132ff.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Situationen. Daher erfolge es Vogts Auffasung nach »immer nachträglich und immer zu spät«.128 Die »Situationsbezogenheit des Handelns«129 der Pädagogen entspricht dem Anspruch, den die noch stumme Erfahrung an Erziehung und Lernen stellt, so Oberhaus. Die pädagogische Praxis muss sich daher auszeichnen durch ein »Bereitstellen vielfältiger Antworten«.130 (Oberhaus sieht bei dieser Theorie der Responsivität jedoch die Gefahr, in »die absoluten Forderungen der pädagogischen Verantwortung«131 zurückzufallen.) Dass es kein richtiges und falsches Handeln auf Seiten der Lehrer oder Schüler im pädagogischen Kontext geben kann, begründet Vogt damit, dass hier nicht Handlungen gemeint sind, die sich auf konkrete Normen beziehen oder aus pragmatischer Sicht als ›geeignet‹ zu beurteilen sind. Es geht vielmehr darum, ›passend‹ zu handeln, dem Anspruch der Dinge und Situationen gerecht zu werden.132 Auch dem Anspruch der Vielfältigkeit und Heterogenität der Persönlichkeiten der einzelnen Schüler entsprechend zu handeln, fordert Vogt. Dabei ruft er generell, mit Bezug auf Waldenfels, zur Vorsicht auf, wenn es darum geht, mit Kindern oder im Rahmen von Erziehung über »etwas« zu sprechen: »Vom ›Kind‹ und von ›Erziehung‹ sprechen, heißt, über ›Etwas‹ umkreisend zu sprechen, ohne es dabei in ›Etwas‹ zu verwandeln, über das man einfachhin sprechen könnte.«133 Vogt macht in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam, dass das Wort Antwort nicht ohne Grund im Wort Verantwortung zu finden ist. Er spricht von der Verantwortung zur Antwort, aus der das responsive pädagogische Handeln erwachse.134 Mit Bezug auf Meyer-Drawe gibt er kritisch zu bedenken, dass der Erzieher scheinbar in einem Auftrag beziehungsweise orientiert an einer gewissen Zielvorgabe handle, die aber im Grunde gar nicht klar vorgezeichnet werden kann. »Der Erzieher handelt in einem Auftrag, der aber gar nicht ausformuliert sein kann, da er – fiktiv – von der Zukunft des Zöglings aus an ihn gerichtet wird.«135 Erzieher und Pädagogen seien hiermit überfordert, ihre Vermutungen bezüglich der Lern- und Verstehenswege der Schüler seien »Anmaßungen«.136 Vogt spricht von der »Geburt der Musik der Lebenswelt als Hörwelt.«137 Dabei wird das Hören von ihm als eine Art Haltung verstanden, die schon im Vorfeld des eigentlichen ästhetischen Akts eingenommen werden muss, um auf den Anspruch oder die Frage des Kunstwerks in entsprechender Höreinstellung antwor128 129 130 131 132 133 134 135 136 137

Vogt 2001, 132. Oberhaus 2006, 167. Oberhaus 2006, 167. Oberhaus 2006, 167. Vgl. Vogt 2001, 128. Vogt 2001, 120. Vgl. Vogt 2001, 121ff. Vogt 2001, 122, mit Bezug auf Meyer-Drawe. Vgl. Vogt 2001, 122, mit Bezug auf Meyer-Drawe. Vogt 2001, 231.

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Bewegung und Musikverstehen

ten zu können.138 Vogt spricht weiter von »Welt« als »Konstitutionsgrund«139 , auf dem sich Objekt und Subjekt (zum Beispiel hörend) zugleich bilden. Musikalische Bildung fuße somit auf einem hörenden Zur-Welt-Sein.140 Mit Oberhaus lässt sich hieraus demnach schlussfolgern, dass leibliche Wahrnehmungen generell die Basis für musikalische Bildung bedeuten.141 Dabei ist die musikalische Lebenswelt, so Oberhaus, auch Ort von »Selbst- und Fremderfahrung«.142 Der Rückgang auf die musikalische bzw. ästhetische Erfahrung im Musikunterricht wirft weiter die Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, im Kontext von Unterricht mit der subjektiven Erfahrung planvoll umzugehen, oder ob dabei nicht die Subjektivität auch ein gewisses unüberwindbares Problem darstellt. So wenig, wie sich die subjektive Erfahrung vorhersagen, nachweisen, geschweige denn bewerten beziehungsweise vergleichen lässt, passt sie auch nicht – um die viel zitierte Formulierung Mollenhauers an dieser Stelle auch wiederzugeben – in die »pädagogische Kiste«.143 Die musikalische lebensweltliche Erfahrung ist demnach in gewisser Weise nicht didaktisierbar.144 Dass man sich zunächst in den musikalischen Vollzug hineinbegeben muss, um sich seiner musikalischen Erfahrung bewusst zu werden, ist der besonderen Struktur musikalischer Erfahrung geschuldet: Sie ist abhängig vom Faktor Zeit. Die eigene Zeitlichkeit ist eines der prägenden Wesensmerkmale des Phänomens Musik und bedingt, wie oben beschrieben, die Existenz des musikalischen Kunstwerkes. Im Vollzug von Musik begibt sich der Hörende leiblich in die der Musik innewohnende zeitliche Struktur, bezieht er das Erklingende auf das schon Verklungene und auf das erwartete Erklingende. Da die musikalische Zeitlichkeit der unserer Alltagswelt gegenübersteht, bedarf es einer bewussten Abkehr vom alltäglichen Zeitempfinden und der bewussten Zuwendung zur musikalisch erlebten Zeit. Indem ich mich also in die Musik hineinbegebe, wende ich mich so gesehen bereits von der alltäglichen Welt und ihrer Zeitlichkeit ab und begebe mich in die Welt der Musik. In Bezug auf dieses Sein in einer anderen Zeitlichkeit beim Vollzug von Musik spricht Günther Anders auch von der »Ungeschichtlichkeit der musikalischen Situation«.145 Von außen betrachtet, sei sie »Enklave im geschichtlichen

138 139 140 141 142 143 144

145

Vgl. Oberhaus 2006, 172. Vogt 2001, 253. »Musikalische Bildung verdankt sich einem hörendem ›zur-Welt-Sein‹«. Vogt 2001, 253. Vgl. Oberhaus 2006, 173. Oberhaus 2006, 173. Mollenhauer 1990, 484. Vogt spricht von einer Auffassung Mollenhauers, »die ›Erfahrung‹ in unmittelbare Nähe zum ›Erlebnis‹ rückt. Dessen Subjektbezogenheit wiederum ist dann so ausschließlich, daß eine pädagogische Unterstützung, Anbahnung oder Vermittlung solcher Erfahrung ganz und gar ausgeschlossen bleiben muß.« Vogt 2001, 149. Anders 2017, 44.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Kontinuum des menschlichen Lebens.«146 Der Vollzug von Musik eröffnet einen eigenen Raum innerhalb und dennoch losgelöst vom menschlichen Leben. Für ein »Gestimmt- und Bewegt-sein durch den musikalischen Gegenstand« bedarf es jedoch einer »Bereitschaftshaltung«, so Anders.147 Ähnlich argumentiert auch Vogt, wenn er mit Bezug auf Alfred Schütz behauptet, dass man sich, will man eine wirkliche ästhetische Erfahrung an einem Kunstwerk machen, von der alltäglichen Bewusstseinsspannung entfernen müsse. Andernfalls handele es sich nur um die Wahrnehmung der materiellen Existenz eines Kunstwerks.148 »[E]ine musikalische Erfahrung ist für Schütz nur dann sinnvoll, wenn der Wahrnehmung akustischer Daten die Konstitution eines Musikwerkes in der inneren Zeit korreliert. Diese spezifische Sinnhaftigkeit ist nun dadurch gewährleistet, daß die intentionale Zuwendung des Zuhörers zu den akustischen Daten in Form von […] ›Protentionen‹ und ›Retentionen‹ stattfindet, durch ein In-Beziehung-Setzen der in der objektiven Zeit lediglich sukzessive ablaufenden Klangereignisse also, durch welches erst die Einheit eines Musikwerks im inneren Zeitbewußtsein entsteht.«149 Zu einer unvoreingenommenen, aber aufmerksamen Haltung der Musik gegenüber, wie sie eine Musikphänomenologie fordern könnte, gehört auch, dass uns im Vollzug des Kunstwerkes Musik die Musik als Ganzes erscheint. Denn ein Bewusstsein für das Ganze der musikalischen Form ermöglicht es erst, einzelne Gestalten und Sinnstrukturen vor dem Hintergrund des gesamten Werkes (rückblickend) zu erkennen. Insgesamt sollte es der Musikpädagogik darum gehen, der (unter anderem von Oberhaus) kritisierten Technisierung der Musik in der Musikausbildung sowie einer einseitigen Handlungsorientierung und einer »Kulturalisierung«150 , die den Blick hauptsächlich in die Vergangenheit richtet, entgegenzuwirken. Außerdem eröffnet der Lebensweltbegriff die Subjektseite, die im Hinblick auf das Musikverstehen untrennbar mit dem Objekt Musik verbunden ist. Unvoreingenommenheit sowie die vorsprachliche Erfahrung als Aspekte des Lebensweltbezugs sind wichtig, um für das, was Musik sein kann, offenzubleiben und dem Verstehen ein Feld zu säen. Lässt sich die musikalische Lebenswelt zusammenfassend als Ort der musikalischen Erfahrung beschreiben?

146 147 148 149 150

Anders 2017, 44. Anders 2017, 24; Herv. im Original. Vgl. Vogt 2001, 166. Vogt 2001, 167. Oberhaus 2006, 160.

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Bewegung und Musikverstehen

Oberhaus spricht mit Bezug auf Christoph Khittl von der »Aktivierung der musikalischen Erfahrung« als »Ziel eines leibbetonten Unterrichts«.151 Musikunterricht sollte ein Ort sein, der den Aspekt der Lebensweltlichkeit integriert. Der Ort für prägende musikalische und ästhetische Erfahrungen sollte nicht lediglich außerhalb der Schule liegen, allein den Familien, Musikschulen und Peers überlassen bleiben. Insbesondere im Musikunterricht der Grundschule sollte jedem Kind, egal welcher sozialen und kulturellen Herkunft, gleichermaßen ein ursprünglicher Kontakt mit dem Phänomen Musik ermöglicht werden. Das bedarf Zeit und Raum im Musikunterricht und ein Loslösen von einschränkenden Bewertungsmaßstäben und Verhaltensnormen. Im Musikunterricht kann die Wahrnehmung an sich thematisiert und somit auch die Abhängigkeit unserer Wahrnehmung von Überlieferung, der Verständigung im eigenen Kulturkreis oder den eigenen Gewohnheiten enthüllt werden. Mit dem Bewusstmachen lebensweltlicher Erfahrungen bildet Schulunterricht ein Scharnier zwischen der Lebenswelt des Kindes außerhalb von Schule, in der es der Musik hauptsächlich unbefragt begegnet, und dem bewussten, wachen Befragen der Musik als Gegenstand der Auseinandersetzung. Lebensweltbezüge auf wortsprachlicher Ebene herzustellen bedeutet wiederum, sich mit bestehenden, selbstverständlich verwendeten Begriffen auseinanderzusetzen. Denn diese sind in der Regel Kondensate eines allgemeinen gesellschaftlichen Verständnisses von Musik. Sie lediglich unhinterfragt (und unverstanden) zu übernehmen kann Lernen und Bildung (die ohne einen aktiven Eigenanteil des Subjektes nicht denkbar ist) in Bezug auf Musik im Weg stehen. Lebensweltlich orientiertes Lernen und Verstehen zielt nicht darauf ab, die Dinge lediglich beim Namen zu nennen. Vielmehr fordert die Phänomenologie als deskriptive Wissenschaft dazu auf, die Phänomene der Lebenswelt zu beschreiben. Merleau-Ponty wählt aus diesem Grund ganz bewusst die metaphorische Schreibweise. Er beschreibt die Lebenswelt selbst als »Welt des Schweigens«,152 für die es noch keine festen Begriffe geben kann.153 (Wie wir uns mit sprachlichen Mitteln im musikpädagogischen Kontext beschreibend einem lebensweltlichen Vollzug von Musik annähern können, soll mit Bezug auf die Metapherntheorie unter 5.3 beschrieben werden.) Die Lebenswelt als Begriff in die musikpädagogische Situation zu integrieren provoziert weiter die Frage, wie wir in der Musik Wahrgenommenes und Erkanntes mitteilen können. Hier berühren wir den Bereich der Intersubjektivität als eines Aspekts von Lebenswelt. Schütz spricht auch von der Intersubjektivität als einer »Gegebenheit der Lebenswelt«.154 »Die Möglichkeit der Reflexion auf das Selbst, die Entdeckung des Ich, die Fähigkeit zum Vollzug jeglicher Epoché, aber auch

151 152 153 154

Oberhaus 2006, 184, mit Bezug auf Khittl. Vogt 2001, 111. Vgl. Merleau-Ponty 1986, 221. Schütz 1971, 116, zitiert in Vogt 2001, 170.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

die Möglichkeit aller Kommunikation und die Etablierung einer kommunikativen Umwelt ist auf der Urerfahrung der Wirbeziehung fundiert.«155 Musik als eine lebendige und gelebte Praxis ist immer schon da, bevor das Subjekt sich mit ihr intentional auseinandersetzt. Nach Schütz ist es das gemeinsame musikbezogene Handeln, das so etwas wie ein »kollektives Gedächtnis« ermöglicht.156 Dabei bedeutet Lebensweltorientierung beim Umgang mit Musik immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden. Dies bezieht sich genauso auf musikalische Inhalte, die mir fremd oder vertraut erscheinen, wie auch auf den Austausch über die eigene und die fremde Erfahrung im Gesamtkontext des intra- und interkulturellen Austauschs.157 In dem Schwankenden Boden der Lebenswelt fasst Vogt zusammen, wie der Lebensweltbegriff bisher bereits in der Musikpädagogik rezipiert wurde. Er spricht von einer Alltagsorientierung der Musikpädagogik und plädiert für eine Verzahnung von musikpädagogischer Theorie und konkreter Unterrichtspraxis. »Vor allem die Oldenburger Gruppe um Ulrich Günther hat praktisch und theoretisch versucht, eine solche alltagsorientierte Musikpädagogik zu konstituieren, nicht zuletzt durch eine verstärkte Unterrichtsforschung, durch Partizipation von Musiklehrern an musikpädagogischer Theoriebildung und durch die didaktische Entwicklung eines Schülerorientierten Unterrichts.«158 Zentral für die von Vogt genannten Ansätze sowie generell für eine Lebensweltorientierung im Musikunterricht ist der Erfahrungsbegriff. (Der Erfahrungsbegriff soll demnach auch im Zusammenhang mit dem leiblichen Lernen und der Begriffsbildung erneut thematisiert werden.) Im Hinblick auf Musikverstehen gilt es nun, den musikalischen Erfahrungsbegriff dahingehend zu befragen, wie es möglich werden kann, die eigene lebensweltliche Erfahrung bewusst zu machen beziehungsweise die noch stumme Erfahrung zur Aussprache zu bringen. Waldenfels zufolge kann dies durch den ordnenden Charakter der Sprache gelingen. »Die Lebenswelt ist das Außerordentliche, das sich im Ordentlichen zur Sprache bringt, weil es genau das ist, was die Sprache und das Leben in Gang hält.«159 Etwas wahrnehmend zu ordnen geschieht, so sagt Waldenfels, jedoch bereits im Empfinden. Es bedarf also einer phänomenologischen Weitung des Verstehensbegriffs, der das Empfinden bereits als Beginn des Verstehens betrachtet. Verstehen ist bereits in der Sphäre der Lebenswelt verankert und beginnt schon vor dem sprachlichen, ordnenden Zugriff.160 Denn letztlich vermag es die Musik (eher als die Sprache) 155 156 157 158 159 160

Vogt 2001, 170, mit Bezug auf Schütz. Vgl. Vogt 2001, 170f. Vgl. Waldenfels 2013, 181f. Vogt 2001, 95. Waldenfels, zitiert nach Vogt 2001, 116. Vgl. Waldenfels 2013, 181.

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Bewegung und Musikverstehen

selbst, das Außerordentliche der Lebenswelt ›zur Sprache‹ zu bringen. Ohne der Musik unterstellen zu wollen, dass sie uns lediglich tönende menschlich-lebensweltliche Erfahrungen übermittle, sei zumindest hier noch die Vermutung geäußert, dass es eventuell lebensweltliche Erfahrungsinhalte gibt, die sich nicht durch Sprache, jedoch aber durch Musik darstellen beziehungsweise hörbar machen lassen. Ein Sich-in-Musik-Begeben wäre dann ein Sicheinlassen auf die »Musik als Hörwelt« (Waldenfels), einer anderen Welt. Sie bedingt ein Sicheinlassen auf die von der Musik zum Ausdruck gebrachten und durch ihren Vollzug ermöglichten Erfahrungen. Ein anschließendes Variieren musikbezogener Erfahrungen im phänomenologischen Sinne kann den Prozess des Verstehens weiter vertiefen und das musikalisch Wesenhafte vor dem Hintergrund lebensweltlicher Vollzüge hervortreten lassen. Im Spannungsfeld zwischen dem Konkreten und Allgemeinen in der Musik – musikalische Epoché und Wesensschau Mit Blick auf den phänomenologischen Verstehensbegriff zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen dem Lebensweltbegriff und der phänomenologischen Methode der Epoché. Denn im Begriff Epoché wird im Grunde der Prozess des Sicheinlassens auf die lebensweltliche Erfahrung zusammengefasst. Es ist der Moment, an dem die phänomenologische Methode der Reduktion beginnt. Die Epoché (der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet Zurückhaltung) soll dahin führen, dass das Phänomen oder der Gegenstand so erkannt wird, wie es oder er ist. Sie zielt also auf ein adäquates Verstehen in Bezug auf das Verstehensobjekt. Der Weg dahin beginnt mit der Einklammerung des eigenen Vorurteils beziehungsweise der eigenen Erfahrung, letztlich also der eigenen Subjektivität. Problematisch ist dabei, dass man das Einzuklammernde kennen muss, um es einzuklammern. Dies erfordert eine Distanz zum eigenen Erleben, zur eigenen Erfahrung. Es geht also nicht mehr nur um die Hingabe an den ursprünglichen Ausdruckscharakter der Dinge, sondern um das Erlangen eines neuen Bewusstseins von den Dingen, um ein neues Verstehen. Dieser vom Subjekt selbst aktiv gesteuerte Prozess ist vom Prinzip der Intentionalität geprägt. Er ist zu vergleichen mit einem ersten Wachwerden, einem Richten der Aufmerksamkeit, einer Art Achtsamkeit. Hierbei kann es beispielsweise passieren, dass wir plötzlich etwas von Neuem oder mit anderen Augen sehen, was uns zuvor so vertraut war und wir bisher noch nicht hinterfragt haben. In der Epoché verschmelzen also ein Sich-den-Dingen-Hingeben und ein Zu-den-Dingen-fragend-in-Distanz-Gehen. Auf Distanz gehen wir dabei zum einen zur »theoretischen Welt«161 sowie zur »natürlichen Einstellung«,162 in der wir die Dinge gewohnheitsmäßig erleben, ohne sie zu hinterfragen. 161 162

Seewald 1992, 194. Merleau-Ponty 1966, 10.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Die Epoché will das Beispielhafte ergründen. Nach phänomenologischem Verständnis erkennen wir jedoch nur etwas als Beispiel, wenn wir das wesensmäßig Allgemeine dahinter schon erahnen. Seewald spricht hier auch vom »fungierenden Allgemeinen«,163 dem wir uns wiederum nur nähern können, wenn wir uns auf die lebensweltliche Erfahrung einlassen. Das Konkrete im Allgemeinen und das Allgemeine im Konkreten beziehungsweise Beispielhaften sind so gesehen also miteinander verzahnt: Nur Beispiele eröffnen uns den allgemeinen Sinn sowie größere Zusammenhänge und lassen uns das Wesenhafte entdecken. Das Beispielhafte wiederum erscheint immer nur vor dem Hintergrund des Allgemeinen. Was ist nun das wesenhafte Allgemeine und was das Beispielhafte in der Musik? Vermutlich ist Musik beispielhaft, indem sie erklingt. Wenn wir im Vollzug etwas als etwas in der Musik erkennen, erfassen wir zugleich auch etwas Wesenhaftes, das sich vom konkreten Musikstück oder der musikalischen Passage loslösen und auf die Gesamtstruktur des Stückes, auf andere Musikstücke sowie auf andere Kunstformen und gar auf das Leben an sich übertragen lässt. Ein Beispiel hierfür wäre der Charakter des Fließens oder das Prinzip der Wiederholung beziehungsweise der Variation. Jegliches musikalisches Formelement kann vermutlich beispielhaft erscheinen oder auf verschiedene Ebenen der distanzierenden Betrachtung übertragen werden. Dies bedeutet, dass wir im Hinblick auf das Musikverstehen mit einem Gespür für das Allgemeine das Erkennen des Beispiels erleichtern und andererseits durch vielfältiges unmittelbares Musikerleben und variierende Vollzüge des musikalisch Beispielhaften zum Wesenhaften der musikalischen Sinnstruktur im Kleinen und Großem gelangen. Die musikpädagogische Situation kann der Ort sein, an dem sich Lehrpersonen und Lernende mit ihren eigenen musikalischen Vorurteilen auseinandersetzen. Auf ein zunächst möglichst unvoreingenommenes Hören sollten Handlungen folgen, die helfen, zur eigenen musikalischen Wahrnehmung kritisch auf Distanz zu gehen. Hierfür ist die soziale Situation mit der Möglichkeit des Austauschs über musikalische Erfahrungen von Vorteil. Auch generelle lebensweltgeprägte Hörerwartungen können hier thematisiert werden. Unser Ohr ist kulturspezifisch sozialisiert. Wir wachsen hörend in eine kulturelle Lebenswelt hinein, in der uns bestimmte musikalische Klänge und Ausdrucksweisen, von denen wir immer schon umgeben sind, als vertraut erscheinen. Wenn wir beispielsweise an die abendländische Harmonik gewöhnt sind, erwarten wir dementsprechende dramaturgische Wendungen und Lösungsfindungen im Musikstück. Wenn wir aber einer Musik begegnen, die uns fremd ist, oder wenn wir die uns vertraute Musik versuchen mit anderen Ohren zu hören, tritt die Musik an sich in den Vordergrund. Unter anderem durch Neue Musik gelangen wir beispielsweise in eine Situation, die wir möglicherweise zunächst nicht mithilfe unserer bisherigen Hörerfahrungen ordnen oder sortieren können. 163

Seewald 1992, 196.

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Bewegung und Musikverstehen

Dann sind wir also mehr oder weniger gezwungen, die Musik zu uns sprechen zu lassen. Nur wenn wir uns auf das Noch-Unbekannte oder Wieder-Fremde einlassen, zeigt sich die Musik als etwas, so wie sie ist. Dabei können wir im Hören uns auch an Neues gewöhnen. Haben wir uns beispielsweise in ein Messian-Stück hineingehört, uns ganz auf seine eigene Logik eingelassen, nehmen wir das, was in der Musik geschieht, vor dem Hintergrund der Sinnstruktur des Stückes entsprechend wahr. So kann ein einzeln erklingender Septakkord im Kontext der vielen unverbindlichen und offenen Klänge uns plötzlich Wärme und Geborgenheit spüren lassen, der uns sonst – in anderem musikalischen Kontext – eher als dissonant und widerstrebend erscheint. Im Musikunterricht können nicht nur die Lernenden, sondern auch die Lehrenden von der Wahrnehmung der Kinder an Erfahrung dazugewinnen. Sind Kinder doch genuin häufiger als Erwachsene dazu geneigt, sich auf etwas Neues einzulassen und sich den Dingen unvoreingenommen hinzugeben. Gerade das Vorstrukturieren von musikalischen Wahrnehmungen durch Bedeutungszuweisungen steht ihnen vergleichsweise nicht im Weg. Sie haben vielmehr geradezu eine Affinität für das Spiel mit den Bedeutungen der Dinge. So stehen sie mitunter der Neuen Musik offener gegenüber als viele Erwachsene. Was hier bereits anklingt, ist die Bedeutung der Gewohnheit und des Umgangs mit Eigenem und Fremdem für ein Verstehen von Musik. Auf diese Begriffe wird daher im Laufe der Arbeit hin und wieder erneut Bezug genommen. Wie und wodurch ereignet sich nun die Wesensschau beim Umgang mit Musik? Bei der phänomenologischen Wesensschau geht es, wie oben beschrieben, um die Variation der Erfahrung mit dem Ziel, das Invariante herauszustellen. In Bezug auf den Umgang mit Musik ließe sich die Variation von Erfahrung aus zwei Blickrichtungen betrachten: Wir können uns auf vielfältige Art und Weise mit ein und derselben Musik auseinandersetzen. Dann variieren wir also eher unsere Handlungs- und Umgangsweisen. Genauso bedeutet aber auch das variierende Musikhören, also das Hören verschiedenster beispielhafter Musikstücke oder -passagen, dass dabei etwas Unveränderliches und somit Wesenhaftes hervortritt, das all die verschiedenen musikalischen Beispiele betrifft. Entweder ereignet sich also Variation eher auf Seiten der Musik oder auf der Seite des Menschen, der mit ihr umgeht. Beide Perspektiven sind dabei als gleichbedeutend zu betrachten und sollten in der musikpädagogischen Praxis eine Rolle spielen. Ob ich ›erfahren‹ in Bezug auf Musik bin, hängt also davon ab, in welchem Bereich Variationen stattgefunden haben. So kann ich beispielsweise als erfahrener Hörer Musikstücke gut miteinander vergleichen oder erfahren sein in Bezug auf ein Musikstück, mit dem ich mich besonders intensiv und variantenreich auseinandergesetzt und dessen Struktur ich mir deswegen recht detailliert erschlossen habe.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Die Phänomenologie als deskriptive Wissenschaft geht davon aus, dass sich durch zahlreiche Beschreibungen das Invariante der Erfahrung und somit das Wesen des untersuchten Phänomens zeigt.164 Ob die Deskription in Bezug auf musikalische Erfahrungen allein an die Wortsprache gebunden ist oder ob beispielsweise auch Prozesse der Transformation dazu verhelfen können, etwas Invariantes und Wesenhaftes in der Musik herauszustellen, soll an späterer Stelle noch erörtert werden. In Kapitel 6 soll schließlich an konkreten Beispielen veranschaulicht werden, wie sich der Umgang mit dem Beispielhaft-Konkreten oder Musikalisch-Allgemeinen in der musikpädagogischen Situation gestalten lässt. Dabei soll insbesondere der variierende Umgang mit Musik durch Bewegung einem variierenden Umgang mit Musik durch Sprache vergleichend gegenübergestellt werden.

5.1.2.2

Zusammenfassung der Konsequenzen einer phänomenologischen Theorie des Verstehens für den Umgang mit Musik und kritische Rezeption des Verstehensbegriffs im musikpädagogischen Diskurs durch J. Vogt und F. Heß

Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle sagen, dass Begriffe der phänomenologischen Methode wie Lebensweltbezug, Epoché und Wesensschau Momente des Verstehens als Prozess beschreiben, die mit dem konkreten Vollzug und direkten Kontakt mit den Dingen (hier mit der Musik) beginnen. Sie initiieren eine weiter fortlaufende Bewegung zwischen Nähe und Distanz, Fremdem und Eigenem, Beispielhaftem und Allgemeinem. Verstehen als Bewegung zwischen Musik und Mensch bleibt immer an den Vollzug der Wahrnehmung gebunden und erreicht keinen Endpunkt. Können wir Musikverstehen dann überhaupt als Ziel von Musikunterricht betrachten? Müssten wir nicht vielmehr die musikalische Erfahrung und das In-GangSetzen von Musikverstehen als einem Prozess zum Ziel des Unterrichts erklären? Was genau meinen wir, wenn wir von der Qualität des Verstehens in Bezug auf Musik sprechen? Inwiefern lässt sich Verstehen von Musik steigern? Ist es nicht vielmehr die musikalische Erfahrung, um die wir reicher werden? Für ein tiefes Verständnis von Musik ist es nach phänomenologischer Denkart wichtig, in ausgeglichenem Maße zwischen Nähe und Distanz, Hingabe und 164 Folgendes könnten Beispiele für das heraustretende Invariante der variierten musikalischen Erfahrung sein: grundlegende musikalische Gestaltungsprinzipien wie Grundtönigkeit/Tonikalität, das Phänomen der Wiederholung, der Wechsel von Spannung und Entspannung, aber auch Stilmerkmale von musikhistorischen Epochen oder generelle gattungsspezifische Merkmale wie homophone und polyphone Satztechnik oder die Spezifik verschiedener Instrumentalgruppen etc. Hervortretende Wesensmerkmale ließen sich eventuell auch einordnen in die vier musikalischen Hauptkategorien, mit denen die Rhythmik umgeht: Kraft, Zeit, Raum und Form.

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Bewegung und Musikverstehen

Selbsttätigkeit in Bezug auf Musik zu wechseln und den Prozess des Verstehens immer weiter zu führen. Verstehen heißt nach phänomenologischem Verständnis auch, sich kritisch mit dem eigenen Verstehen auseinanderzusetzen, sich Prozesse des eigenen Verstehens selbst zu vergegenwärtigen. Dies ist zum Beispiel möglich, indem wir durch Rückbindung an das direkte Wahrnehmen und Erleben immer wieder prüfen, ob wir den Gegenstand so verstehen, wie es seinem Wesen entspricht. Auch im intersubjektiven Austausch über Erfahrungen kann das eigene Verstehen bewusst gemacht werden. Es ist nach den Erkenntnissen der Phänomenologie davon auszugehen, dass Verständnishaben stets etwas Dynamisches ist. Denn jedes neue Erleben von dem, was wir meinen verstanden zu haben, kann uns wieder neu und anders verstehen lassen. Lehrpersonen sollten stets kritisch hinterfragen, von welchem Verstehensbegriff ihr pädagogisches Handeln geleitet ist. Verstehen sollte dabei immer der zu verstehenden Sache angemessen sein. Musik als Gegenstand der Auseinandersetzung ist in der pädagogischen Situation besonders geeignet, um Verstehen an sich zu thematisieren. Denn sie ermöglicht unter anderem die Erfahrung, dass sich nicht immer alles eindeutig auslegen und bestimmen lässt. Musik behält immer Anteile von Verborgenem und unerklärlichem Sinn. All unser Auslegen, Deuten und Interpretieren sollte immer unter der Einsicht geschehen, dass letztlich die Musik das letzte Wort hat. Es ist daher problematisch, Verstehen im Rahmen von Musikunterricht zu bewerten.165 Etwas, das sich – wie die Musik – nicht endgültig begreifen lässt, sperrt sich auch gegen dualistische Bewertungskategorien wie richtig und falsch. Wenn Verstehen überhaupt bewertet werden kann, dann nur anhand von Kategorien aus der jeweiligen Musik heraus. So ließe sich zum Beispiel fragen, ob unsere Weise des Umgangs zu dem passt, wie sich die Musik uns zeigt. Dies kann nur geklärt werden, indem wir Musik immer wieder wachsam vollziehen und Verstehen als einen responsiven Akt zwischen Musik und Subjekt begreifen. In diesem Zusammenhang soll hier die Kritik Vogts an der musikpädagogischen »Normalisierung«166 Erwähnung finden. Er wendet ein, dass insbesondere durch den Ansatz von Wilfried Gruhn die Responsivität von Wahrnehmungsund Verstehensprozessen im Musikunterricht unbeachtet bleibt: »In musikpädagogisch motivierten Lerntheorien, wie z.B. in den am musikpsychologischen Konnektionismus orientierten Arbeiten W. Gruhns, spielt dieser responsive Grundzug des Hörens keine Rolle.«167 Musikpsychologie und Musikpädagogik würden zu ei-

165

Dies gilt auch, weil es sich nie endgültig von der subjektiven Perspektive des Wahrnehmenden und Verstehenden lösen lässt. 166 Vgl. Vogt 2001, 224. 167 Vogt 2001, 224.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

ner »Normalisierungsinstanz«,168 indem sie dem Außerordentlichen keinen Raum einräumen, obwohl es doch sowohl dem Phänomen Musik als auch dem Hören als leiblichem Register der Wahrnehmung eigen ist. »Musikalisch-ästhetische Erfahrung jedoch, die sich durch das leibliche Register des Hörens vollzieht, sprengt immer schon jede Hörordnung, weil das Hören selbst sich jeder Normalisierung entzieht.«169 Der Gruhn’schen Theorie zufolge kann es keine Intentionalität des Hörens als Suchbewegung geben. Es gehe hier lediglich um ein »Einschleifen«170 des in der Musik bereits vorhandenen Regelrechten, darum, dieses bloß wiederzuerkennen.171 Vogt räumt mit Bezug auf Schütz und Waldenfels zwar ein, dass auch der besondere »Erfahrungstypus«172 Musik nicht ohne Lernprozesse auskommt, die auf wiederholten Wahrnehmungen beruhen. Diese setzten beim Hörenden jedoch schon eine gewisse Vorstellung vom erwarteten musikalischen Ereignis voraus. Waldenfels beschreibt die Bedeutung von Wiederholungen in seinem Werk Antwortregister auch als »pränormative Ordnungsprozesse«.173 Da wir stets erst etwas vernehmen, von dem wir schon eine Ahnung haben, spiele es beim Hören eine Rolle, dass etwas wiederkehrt. Erst dann kann eine gewisse Ordnung als schon Vorausgegangene erkannt werden. Dies ist nach Vogts Ansicht als schöpferischer Prozess zu verstehen und nicht wie in Gruhns Theorie lediglich als Reproduktion von schon vorhandenen Ordnungsstrukturen. Dass ich etwas beziehungsweise etwas als Musik höre, bedeutet also, dass ich antwortend und erkennend zugleich höre, »denn ein Hören, das nicht antwortete, sondern einfach aufnähme, könnte gar keine Selektionsprozesse durchführen (und somit auch keine Musik konstituieren), da ihm alles gleich gälte.«174 Da wir zunächst leiblich ganz mit der Welt verwoben sind, bedarf es einer gewissen Distanz zu uns selbst und zu den Dingen, um uns ihnen antwortend zuzuwenden. Genauso können wir uns aber auch bewusst wieder leiblich mit ihnen verbinden. Im Kontext von Musikpädagogik spricht Oberhaus daher auch von einem bewusst-verstehenden Umgang mit Musik: »Verstehensstrukturen werden entworfen und handelnd vollzogen.«175 Demnach ist das Verstehen von Musik etwas Schöpferisches, ein sinn-kreativer Akt. So wie sich auch die Sprache aus dem Lebensvollzug heraus entwickelt, bedeutet auch Musikverstehen nach 168 »[W]enn es nämlich allein darum geht, vorgegebene Hör-Ordnungen zu rekonstruieren, sie zu reproduzieren oder zu erweitern.« Vogt 2001, 225. 169 Vogt 2001, 225. 170 Vogt 2001, 226. 171 »Von der fundamentalen Negativität der ästhetischen Erfahrung […] bleibt in diesem Lernmodell nichts mehr übrig«. Vogt 2001, 226. 172 Vogt 2001, 228. 173 Waldenfels 2007, 302. 174 Vogt 2001, 230. 175 Oberhaus 2006, 128.

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Bewegung und Musikverstehen

Vogt kein bloßes Nachmachen oder Reproduzieren, sondern es fußt auf einem Inder-Musik-Sein, einem tuning in.176 Verstehen als schöpferische Handlung lässt sich somit als eine Antwort auf die Musik betrachten. Im Gegensatz zum Deuten, Interpretieren oder Erklären – als Vorgänge, die in der musikpädagogischen Praxis allzu oft mit dem Verstehen verwechselt werden – liegt das Verstehen also nicht gänzlich in unserer Hand. Weder kann der Lehrende es genau vorausplanen oder diagnostizieren, noch kann der Lernende es immer willentlich herbeiführen. Vielmehr bedarf es nach phänomenologischem Verständnis auch eines Sichhingebens und Geschehenlassens. Bisweilen erleben wir plötzlich und unerwartet, mit einem »Aha!«, dass wir etwas als Musik verstehen. Neben Vogt hat sich auch Frauke Heß mit der Rezeption des Verstehensbegriffs in der Musikpädagogik kritisch auseinandergesetzt. Sie macht darauf aufmerksam, dass Verstehen in der Regel als Problem dargestellt wird, hingegen weniger die Rede von gelungenen Verstehensprozessen ist.177 In ihrem Artikel »Verstehen« – ein musikpädagogischer Mythos wirft sie der Musikpädagogik vor, mit dem Verstehensbegriff inflationär und hauptsächlich defizitorientiert umzugehen. Aufgrund seines homonymen Charakters sei der Begriff im musikpädagogischen Kontext nicht geeignet, um Ziele pädagogischen Handelns zu benennen. Er habe sich vielmehr zu einem Mythos entwickelt.178 Heß zufolge begegnen Gruhn und Eggebrecht dem Problem der Vieldeutigkeit des Verstehensbegriffs179 , indem sie das Verstehen von Musik in verschiedene Verstehensebenen unterteilen. Problematisch hieran ist aber, dass von den Zwischenprozessen oder Unterbegriffen wie »intuitives Verstehen« (Gruhn) oder »erkennendes Verstehen« (Eggebrecht) dennoch als von einem ›Verstehen‹ gesprochen wird, obwohl diese nur einen Teil von dem benennen, was Verstehen insgesamt bedeutet.180 Letztlich kommt Frauke Heß zu folgendem Schluss: »Die Betrachtungsperspektive von Musik muss also dualistisch sein.«181 Sie hält die der »individuell-sinnlichen Wahrnehmung« und der »begrifflich-diskursiven Auseinandersetzung«182 dabei für gleichbedeutend. Daher sollten sie in musikpädagogischer Praxis im Wechsel erfolgen. Mit der Aufarbeitung des phänomenologischen Verstehensbegriffs für die Musikpädagogik kann den Forderungen Heß‹ hier nachgekommen werden. Allerdings

176 177 178 179

Vgl. Vogt 2001, 241. Vgl. Heß 2003, 119. Vgl. Heß 2003, 121. Heß deutet daraufhin, dass unter »Verstehen« die verschiedensten Umgangsweisen mit Musik subsumiert werden. 180 Vgl. Heß 2003, 122ff. 181 Heß 2003, 133f. 182 Heß 2003, 133.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

sollte dabei stärker betont werden, wie wichtig es ist, die beiden genannten Perspektiven nicht dualistisch (als Entweder-oder), sondern als ineinander verzahnt zu verstehen. Weiter unten wird gefragt, was es für das Verstehen von Musik bedeutet, wenn der Musik mit Wortsprache begegnet wird. Dahinter verbirgt sich die These, dass nicht erst der Sprachgebrauch anzeigt, dass ein Verstehen von Musik in Gang gesetzt wurde. Um die Prozesshaftigkeit des Verstehens nochmals zu unterstreichen, wird nun zunächst erörtert, welche Verbindungen aus phänomenologischer Sicht zwischen den Begriffen Verstehen und Lernen bestehen.

5.2

Musik und leibliches Lernen

Hier soll nun das Lernen aus phänomenologischer Perspektive betrachtet werden. Im Hinblick auf Fragen des Musikverstehens interessiert dabei insbesondere das leibliche Lernen. Ein Umgang mit Musik, der Verstehen im offenen, phänomenologischen Sinne ermöglicht, basiert – so die zugrunde liegende These der Arbeit – auf leiblichen Lernprozessen. Im musikbezogenen leiblichen Lernen entstehen sinnstiftende Beziehungen zwischen lernenden Subjekten und musikalischen Phänomenen, die in ein prärationales Bedeutungserleben hineinreichen und somit die Grundlage für das Verstehen von Musik bilden. Leiblich stehen wir nicht einem Objekt Musik gegenüber. Wir werden in gleicher Weise von Musik bewegt und getroffen, in der wir uns ihr aufmerkend, intentional zuwenden. In der leiblich-körperlichen Bewegung zu Musik gelingt es, die Distanz zwischen Mensch und Musik so stark zu verringern, dass Bewegung und Musik als Einheit empfunden werden. Lernen und Verstehen rücken dabei so nahe, dass sich sagen ließe: Hier versteht der Leib, indem er lernt. Während Verstehen, wie oben beschrieben, nach geläufigem Verständnis auf einen erwarteten Erfolg ausgerichtet ist, beschreibt das Lernen einen Prozess, der da zu verorten ist, wo noch kein Ergebnis, lediglich eine Ausrichtung auf ein noch ungewisses Ergebnis, vorliegt.183 Eine Auseinandersetzung mit dem Lernen führt uns zwangsläufig in den schulischen Unterricht, ein für das Lernen wichtiger Ort. Pädagogisches Handeln zielt in der Regel insbesondere auf das In-Gang-Setzen, Beobachten und Bewerten von Lernprozessen. Die folgende Auseinandersetzung mit dem Lernbegriff aus phänomenologischer Sicht soll klären, welche Konsequenzen eine Phänomenologie des Verstehens und Lernens für den (Musik-)Unterricht haben kann. Insbesondere Merleau-Ponty, Waldenfels, Meyer-Drawe und Seewald sollen hierfür als Ba-

183

Vgl. Meyer-Drawe 2008, 15.

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Bewegung und Musikverstehen

sisautoren zur Generierung einer phänomenologischen Lerntheorie zur Sprache kommen.184

5.2.1 5.2.1.1

(Leib-)Phänomenologischer Lernbegriff Die phänomenologische Sichtweise auf das Lernen

Ein phänomenologischer Lernbegriff beginnt sich im Prinzip mit der Kritik an der rationalistischen und der empiristischen Lerntheorie herauszubilden. Zum einen wird die Vormacht des Wissens gegenüber dem Noch-nicht-Wissen, die Vorgängigkeit des Logos in der rationalistischen Denkweise kritisiert. Ihr gemäß zielt Lernen lediglich auf ein Anhäufen von Wissen und ein Verwirklichen von Ideen.185 Waldenfels geht jedoch davon aus, dass wir uns Wissen nie ohne seine konkrete Anwendung zu eigen machen: »Etwas tun können, etwas gelernt haben heißt, sich in diesem Raum orientieren zu können. Man lernt also Strukturen und Gestalten, man lernt sich in einem Raum zurechtzufinden. Dies bedeutet weder, daß Einzelheiten additiv aneinander gefügt werden, noch daß ein intellektuell faßbares Wissen erworben wird, das man dann irgendwann, wenn man Glück hat, auch anwendet.«186 Stattdessen gelte es, den Dualismus zwischen Logos und Trieb zu überwinden und die rationalistische These, dass verantwortungsvolles Handeln nur auf dem Grund eines vorgängigen Logos möglich ist, in Frage zu stellen.187 Zum anderen kritisiert Waldenfels in Anschluss an Merleau-Ponty die empiristische beziehungsweise behavioristische Lerntheorie, welche das Lernen lediglich als ein Reagieren eines in mechanischer Weise auf Lernreize antwortenden Individuums betrachtet. (So zum Beispiel bei der sogenannten klassischen Konditionierung.) Lernen geht dabei von einem blinden Tun aus, so seine Kritik. »Rationalistische und empirische Lerntheorie bilden zwei Extreme. Bei der ersten erwächst das Lernen primär aus einer Einsicht, die dann sekundär in Verhalten oder Bewegung umgesetzt wird. In der empirischen oder behavioristischen Variante hinwiederum vollzieht sich das Lernen primär mittels blinder Mechanismen: 184 Autoren wie Jean Piaget, auf dessen Lerntheorie sich die Pädagogik bis heute bezieht, sollen hingegen bewusst ausgelassen werden. Die phänomenologische Lerntheorie soll zur Theorie der Dezentralisierung von Piagets hier lediglich abgegrenzt werden. Dies betrifft insbesondere die These Piagets, Lernen bedeute eine Höherentwicklung, die die Phänomenologie nicht teilt. Sie geht vielmehr von einem Anderswerden, der Veränderung von Strukturen aus. Vgl. Waldenfels 2000, 174f. 185 »Eine rationalistische Lerntheorie forciert das Moment des Wissens, indem sie davon ausgeht, daß beim Lernen Einsichten oder Ideen realisiert werden.« Waldenfels 2000, 152. 186 Waldenfels 2000, 170. 187 Vgl. Waldenfels 2000, 153.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

es wird etwas gelernt, von dem man eigentlich gar nicht weiß, was es ist, und Können heißt nur, in der gewünschten Weise zu reagieren.«188 Phänomenologisch betrachtet bedarf es jedoch zuvorderst eines Sichöffnens und Einlassens auf das Neue oder Unerwartete. Denn nur dann ist Lernen nötig und überhaupt erst möglich. Hier zeigt sich ein erstes wichtiges Merkmal des phänomenologischen Lernbegriffs: Lernen setzt ein sowohl aktiv, intentional erschließendes wie auch ein pathisch-passives, aber zugewandt-geöffnetes Subjekt voraus. Mit dieser Positionierung des Lernenden im ›Zwischen‹ werden antagonistische oder einseitig ausgerichtete Sichtweisen vermieden. Meyer-Drawe macht außerdem darauf aufmerksam, dass der passive Anteil des Lernens in der Alltagsvorstellung des modernen Menschen eine vernachlässigte Rolle spielt. Sie sei orientiert am modernen Idealbild des Menschen, der seine Erfahrungen stets selbstbestimmt und eigeninitiativ erwirbt. Nun gibt es aber Wahrnehmungsformen, wie das Hören, bei der das Moment des Passiven charakterprägend ist, ja sogar überwiegt. In unserer auf Effizienz ausgerichteten Leistungsgesellschaft ist insbesondere im pädagogischen Kontext seit einiger Zeit dieser passive Aspekt des Lernens verdrängt worden. Meyer-Drawe zufolge wird Lernen jedoch nicht ausschließlich von der Eigeninitiative eines autonomen Subjekts hervorgerufen.189 Sie betrachtet es vielmehr auch als ein Antwortgeschehen. »Im Respondieren wird die Aufmerksamkeit des Lernenden von etwas anderem vereinnahmt, was einen Moment der Passivität voraussetzt, in dem sich der Lernende für das Andere frei machen kann, um es überhaupt wahrnehmen zu können.«190 Die beiden Aspekte des Lernens, der aktive und passive, finden sich auch bei Erwin Straus. Er zieht das Pathische und Gnostische zur Erklärung des Lernens heran:191 »Menschliches Lernen findet vor allem in zwei Formen statt, dem pathischen oder einengenden und dem gnostischen oder erweiternden Lernen.«192 Erweitertes beziehungsweise gnostisches Lernen beginne, so Straus, indem sich der Mensch durch Reflexion von der konkreten Situation löse. Gewohnheitsbildung beruhe hingegen auf dem pathischen, einengenden Lernen. Was hier so getrennt beschrieben wird, kommt in der Natur, so der Sportpsychologe Andreas Marlovits, jedoch nie in Reinform vor.193 Indem die Phänomenologie den bildenden Aspekt des Weltverstehens betont, richtet sie den Blick auf den statu nascendi als Moment, in dem Sinn entspringt.194 188 189 190 191 192 193

Waldenfels 2000, 156. Vgl. Meyer-Drawe 2010, 6. Eckart/Schratz 2017, 328. Vgl. Marlovits 2001, 53. Marlovits 2001, 53; Herv. im Original. »Niemals ist im menschlichen Lernen das eine oder andere allein und ausschließlich vorhanden.« Marlovits 2001, 54. 194 Vgl. Meyer-Drawe 2010, 7.

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Bewegung und Musikverstehen

Das Schöpfen von neuem Sinn in der bildenden Erfahrung ist dabei erst möglich auf dem Boden einer Verflochtenheit mit der Welt. »Lernen wird demnach als bildende Erfahrung verstanden, in der eine Person von der Welt in Anspruch genommen wird, respondiert, und in der Welt wirkmächtig wird […]. Ohne die faktische Verflochtenheit bzw. Verbundenheit mit Welt ist, Merleau-Ponty, Meyer-Drawe sowie weiteren Vertretern der Leibphänomenologie zufolge, Wahrnehmen resp. Lernen schlicht unmöglich.«195 Phänomenologische Forschung richtet ihr Augenmerk demnach nicht auf Resultate von Weltverstehen, sondern auf den »prozesshaften Erfahrungsvollzug« an sich. So sind beispielsweise ein »Aha-Moment«, ein »Staunen oder Stutzen«196 Ausdruck für den Vollzug von Lernen. In dem Leiblichen Selbst beschreibt Waldenfels das Lernen als »Erwerb perzeptiver Strukturen«.197 Mit dem Strukturbegriff veranschaulicht er, dass es (entgegen der Meinung behavioristischer Lerntheorien) nicht um den Erwerb punktueller Fähigkeiten geht. Lernen bedeute vielmehr stets ein Lernen in Kontexten, aufgrund von Zusammenhängen, die ermöglichen, dass der Lernende die erlernten Strukturen in entsprechenden typischen Situationen anwenden kann. »Lernen bedeutet stets eine Ausbildung allgemeiner Strukturen.«198 Lernen meint nach Waldenfels somit den »Erwerb genereller Fertigkeiten«199 und nicht nur das Aneignen von Können zum Lösen einer bestimmten Situation.200 (Damit argumentiert er auch gegen das Trial-and-Error-Modell der Behavioristen.) Das Einverleiben von Gewohnheiten (dies betrifft unter anderem auch das Erlernen des Körperschemas201 ) ist dabei stets mit dem schöpferischen Moment, der »Neuschöpfung«202 verwoben. Denn Lernen bedeute nicht nur, dass sich das lernende Subjekt an bestehende Strukturen anpasst, sondern dass es diese auch verändert.203 Um die Verflechtung des Lernens von Strukturen und deren Neuschöpfung zu veranschaulichen, erwähnt Waldenfels wiederum mit Bezug auf Merleau-Ponty das Beispiel des Organisten, der sich an einem, ihm unbekannten, Instrument ›einrichtet‹. Anstatt im Vorfeld

195 196 197 198 199 200

Eckart/Schratz 2017, 329. Eckart/Schratz 2017, 334. Waldenfels 2000, 171ff. Waldenfels 2000, 167; Herv. im Original. Waldenfels 2000, 166. »Lernen bedeutet, daß man generelle Funktionen erlernt, daß man also lernt, auf typische Situationen zu antworten und nicht Punkt für Punkt vorgeht oder am Nullpunkt anfängt.« Waldenfels 2000, 171; Herv. im Original. 201 »Lernen bedeutet eine Bereicherung und eine Neuordnung des Körperschemas«. Waldenfels 2000, 173. 202 Waldenfels 2000, 167. 203 Vgl. Waldenfels 2000, 171.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

ausschließlich die Disposition des Instrumentes zu studieren, überträgt der Organist die andernorts erlernten Strukturen im Spiel direkt auf die neue räumliche Situation. Waldenfels schließt daraus, dass man insbesondere komplexe Handlungen wie das Musizieren oder allein schon das Laufen nicht erlernen würde, müsste man sich zuvor jeden einzelnen Teilschritt des gesamten Prozesses bewusst machen – damit wäre man schlicht überfordert.204 Stattdessen meint der phänomenologische Lernbegriff den teils bewussten und teils unbewussten Erwerb sowie die Neuschöpfung von Strukturen. In Bezug auf das Wissen, das wir vorsprachlich, leiblich lernend erwerben, spricht Waldenfels auch von einem »inkorporierten Wissen«205 . Genauso ließe sich sagen, dass es sich hierbei um Wissen handelt, das der Leib erlernt. Sprachlich lässt sich dieses inkorporierte Wissen wiederum nur bedingt vergegenwärtigen.206 Die Wortsprache an sich betrachtet Waldenfels im Übrigen ebenso als ein komplexes und inkorporiertes Wissen, das wir uns nicht nur bewusst reflektierend erwerben. »Daß das Erlernte ein inkorporiertes Wissen ist, gilt auch für den Spracherwerb und für das Sprechen. Müßten wir bei jedem Satz überlegen, welche Regeln gelten, so würden wir bald nicht mehr sprechen.«207 Schon bei Husserl hat Lernen etwas mit Sedimentierung und Habitualisierung zu tun, also mit Gewohnheiten und dem Entstehen unserer Alltagswelt. Nach der oben beschriebenen phänomenologischen Auslegung des Verstehensbegriffs begeben wir uns auf den Weg hin zu einem Versehen, indem wir uns mit unseren Gewohnheiten und alltagsweltlichen Erfahrungen kritisch auseinandersetzen. Der phänomenologische Blick auf das Lernen rückt daher die Krisenhaftigkeit der Lernerfahrung in den Fokus. Etwas neu zu verstehen hat auch immer etwas mit Verlernen beziehungsweise Umlernen zu tun. Das Krisenhafte im Lernen wird oft mit dem Begriff der Erfahrung in Zusammenhang gebracht. Der Erfahrungsbegriff ist demnach auch für die phänomenologische Lerntheorie zentral. Er bildet den Schnittpunkt von Phänomenologie und Pädagogik.208 Indem auch der Anteil des Lernens thematisiert wird, den das Subjekt nicht selbst beeinflussen kann, findet ein Umdenken bezüglich des Verhältnisses von Lernen und Erfahrung statt: Erfahrung wird nicht länger verstanden als Resultat oder Ergebnis des Lernens, sondern das Lernen selbst wird als Erfahrung betrachtet. »Phänomenologischen Betrachtungen des menschlichen Lernens ist es eigentümlich, dass sie diesen Entzug im Ler-

204 Vgl. Waldenfels 2000, 168, mit Bezug auf Valérie. 205 Waldenfels 2000, 169. 206 »Dieses inkorporierte Wissen läßt sich nur begrenzt explizit machen und in Worte fassen.« Waldenfels 2000, 169. 207 Waldenfels 2000, 169. 208 »Erfahrung ist der gemeinsame Nenner von Phänomenologie und Pädagogik, deren Verhältnis die Disziplin und Tradition der phänomenologischen Erziehungswissenschaft hervorbrachte und bis heute prägt.« Eckart/Schratz, 324; Herv. im Original.

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nen selbst betonen. Nicht Lernen aus Erfahrung, sondern Lernen als Erfahrung steht im Mittelpunkt des Interesses.«209 Mit dem phänomenologischen Erfahrungsbegriff wird auch das Verborgene und Unlernbare im Lernen thematisiert. Ein Dilemma, mit dem sich die Phänomenologie seit Husserl auseinandersetzt, ist dabei, dass wir zwar den Bereich der lebensweltlichen Erfahrung erreichen, wenn wir uns den Sachen selbst zuwenden, dort aber nicht verbleiben können, wollen wir die Dinge erkennen oder beim Namen nennen: »Das Eigentümliche an konkreten Erfahrungsvollzügen ist, dass sie uns als vertraute nah, aber als erkannte fern sind. Die Reflexion kommt niemals an den Ort ihres Entspringens zurück. Sie ist stets verspätet im Hinblick auf sich selbst.«210 Wie kann nun aber eine forschende Annäherung an den Begriff der Erfahrung im pädagogischen Kontext gelingen? Die phänomenologische Forschungsmethodik im Hinblick auf das Lernen ist auch hier die Deskription211 von Erfahrungsvollzügen. Es wird danach gefragt, wie und warum uns etwas als etwas im Lernen, in der Erfahrung begegnet. Im Hinblick auf das Lernen wird zum Beispiel davon ausgegangen, dass uns das erste Etwas erst durch das zweite Etwas gegeben ist. Die Wiederholung wird somit als ein Wesenszug der Erfahrung betrachtet.212 (Da die Erfahrung für die phänomenologische Lerntheorie eine so zentrale Rolle spielt, wird sie weiter unten nochmal gesondert in den Fokus der Betrachtung gerückt.) Es wurde bereits erwähnt, dass die Wiederholung für das Lernen von Bedeutung ist. Dies deutet auf einen weiteren Aspekt des phänomenologischen Lernbegriffes: dem der Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit. Hierbei spielt die Einsicht eine Rolle, dass Lernen auch immer ein Verlernen bedeutet. Den Aspekt des Zeitlichen betont Waldenfels, wenn er im Zusammenhang mit dem Lernen von einem »Zurückschauen« spricht: »Wir verlernen ständig, wenn wir lernen, und gerade deshalb können wir von Kindern lernen. Wäre das kindliche Verhalten nur eine vorläufige oder vorrationale Stufe, so könnten die Kinder zwar von uns, aber nicht umgekehrt wir von ihnen lernen. Wenn jedes Lernen also nicht nur Gewinn, sondern auch Verluste bringt, so bedeutet das Zurückblicken auf sogenannte frühere Stufen kein Zurückschauen auf etwas, das wir überwunden hätten, sondern ein Zurückschauen auf etwas, das auch Möglichkeiten enthält, die einer bestimmten Rationalität zum Opfer gebracht oder von ihr an den Rand gedrängt worden sind.«213

209 Meyer-Drawe 2012, 206; Herv. im Original. 210 Meyer-Drawe 2012, 211. 211 »Das methodische Mittel, die Wirklichkeitserfahrung zu erfassen, ist die Deskription.« Brinkmann 2017, 19. 212 Vgl. Meyer-Drawe/Schwarz 2015, 129. 213 Waldenfels 2000, 180.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Waldenfels verwirft das althergebrachte Bild vom Kind, das dem Erwachsenen gegenüber unfertig und minderwertig ist. Er weist darauf hin, dass die Weltwahrnehmungen von Kindern nicht erst höherwertig werden, wenn sie Dinge erlernen oder lernen, sich zivilisiert zu verhalten. Vielmehr können auch wir von Kindern lernen. Unser Handeln und Erfahren ist immer eingebettet in den zeitlichen Rahmen zwischen Vergangenem und Zukünftigem. Da wir uns handelnd auf unsere Vorerfahrung beziehen und mit der aktuellen Erfahrung die Vorerfahrung einer zukünftigen Erfahrung generieren, ist unser Lernen in den Fluss der Geschichtlichkeit integriert. Unser Leib spielt in seinen aktuellen Vollzügen dabei, so Waldenfels, eine Art Vermittlerrolle. »[E]r ist die Instanz, die in der aktuellen Situation zwischen dem, was uns jetzt begegnet, und der abgelagerten Geschichte, die wir schon durchgemacht haben, vermittelt.«214 Er beschreibt unseren Leib auch als »durchtränkt mit Geschichte«.215 Zur Geschichtlichkeit gehören auch der Begriff des Gedächtnisses und mit ihm die Phänomene »Vergessen« und »Verlernen« als zwei unterschiedliche Weisen des Verlustes. Hier fragt die Phänomenologie nach dem Wie des Vergessens.216 Wie wir verlernen oder vergessen, hängt mit der Art und Weise zusammen, wie wir gelernt haben. Waldenfels verdeutlicht dies am Beispiel der Muttersprache. Da wir sie auf andere Weise erlernen – nämlich dadurch, dass sie ein Teil unseres Selbst und unseres Lebens ist –, wird sie durch Lebensvollzüge im Geflecht der Zwischenleiblichkeit erworben. Gegenüber der Fremdsprache, deren Wortbegriffe wir für gewöhnlich erst mit Bedeutungen anreichern müssen, um sie zu erlernen, ist die Muttersprache nicht so gefährdet, einem Vergessen anheimzufallen.217 Nach Merleau-Ponty ist uns die Erinnerung nicht als eine Sammlung von Wissen gegeben, der wir uns bewusst bedienen können. Vielmehr konstituieren sich Erinnerungen und Vergangenheit erst aus der Gegenwart heraus. Indem wir zum Beispiel ein gewisses Bild in der Gegenwart denken, findet es plötzlich Anklang an ein vergangenes Bild, erleben wir eine Ähnlichkeitsbeziehung beider Bilder.218 Auf Schule und Unterricht übertragen bedeutet das, je mehr Bilder im Erleben von einem Lerngegenstand gebildet werden, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit eines späteren Erinnerns. (Interessant ist, nebenbei bemerkt, die Nähe der Wörter Bildung und Bild, die sich durch den beschriebenen Zusammenhang begründen lässt.)

214 Waldenfels 2000, 188. 215 Waldenfels 2000, 188. 216 »Es macht einen Unterschied, wie man vergißt, und es fragt sich, wieweit man überhaupt etwas vergessen oder verlernen kann.« Waldenfels 2000, 186. 217 Vgl. Waldenfels 2000, 186. 218 Vgl. Good 1998, 40f.

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Bewegung und Musikverstehen

An dieser Stelle soll die Aufmerksamkeit nun auf folgenden zentralen Kernaspekten des phänomenologischen Lernbegriffs gerichtet werden: dem Leib als Fundament des Lernens – und somit dem leiblichen Lernen, der Gewöhnung, der Bewegung, der Erfahrung sowie der Zwischenleiblichkeit.

5.2.1.2

Der Leib als Fundament des Lernens – zum Begriff des leiblichen Lernens

Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern der Leib aus phänomenologischer Perspektive das Fundament des Lernens bildet und was unter »leiblichem Lernen« zu verstehen ist. Worte wie erfahren, erlaufen oder erklettern, die oftmals im Zusammenhang mit Lernprozessen Verwendung finden, deuten darauf, dass Lernen sich stets auf Wege bezieht.219 Dabei bringt die Wegmetapher nicht nur den Zusammenhang von Lernen mit den Faktoren Zeit und Bewegung zum Ausdruck, sondern sie vermittelt auch, dass Lernen niemals Stillstand bedeutet. Denn die Dinge, mit denen wir umgehen, verändern sich durch unser Lernen. Haben wir einen Weg zurückgelegt, bietet sich uns ein anderer Standpunkt, ein anderer, neuer Blickwinkel. Lernend werden wir in Mitleidenschaft gezogen – wir kommen nicht umhin, uns lernend zu bewegen und bewegt zu werden. Lernen betrifft uns, trifft unseren Leib. Klaudia Schultheis betrachtet daher den Leib als Fundament des Lernens. Er verankert uns in der Welt und bildet somit im Lernprozess die Umschlagstelle zwischen Ich und Umwelt. Waldenfels betrachtet gar das Sein-in-der-Welt selbst als einen Lernprozess. Diesen bezeichnet er auch als Einverleibung und meint damit, »daß die Dinge der Welt selber im Leib zur Erscheinung und zur Darstellung kommen. Das Inder-Welt-sein will gelernt sein.«220 Schultheis‹ Ausführungen zum leiblichen Lernen fußen auf Hermann Schmitz‹ Theorie der leiblichen Kommunikation. Insbesondere der Aspekt der »Einleibung«221 kommt auch bei ihm zur Anwendung. Die »leibliche Kommunikation« des Ichs mit den Dingen in der Welt und seinen Mitmenschen durch »Einleibung«, »Ausleibung« und »leibliche Richtung« bilden nach Schmitz die »Basis des leiblichen Weltzugangs«.222 Dabei wird mit dem Begriff Leiblichkeit nach Schmitz das »eigenleibliche Spüren«223 (innere, leibliche Regungen) benannt. Besonders im frühkindlichen Lernen spielt der Aspekt der Einleibung eine Rolle. Kinder gehen von Natur aus noch distanzlos mit den Dingen um. Ihre Betrachtungen und Wahrnehmungen sind noch nicht losgelöst von der eigenen Person, dem eigenen erfahrenden Umgang. Sie stehen den Dingen nicht bloß betrachtend gegenüber. Sie fühlen sich so in sie 219 220 221 222 223

Vgl. Schultheis 1998, 52. Waldenfels 2000, 173. Schultheis 1998, 93, mit Bezug auf Schmitz. Schultheis 1998, 93, mit Bezug auf Schmitz. Vgl. Schultheis 1998, 97, mit Bezug auf Schmitz.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

hinein, dass sie die beobachteten Bewegungen unmittelbar als eigene empfinden. Diese Mitbewegung ist, so Schultheis mit Bezug auf Alfred Nitschke, genauso wie die Ausdrucksbewegung angeboren.224 Für diese kindliche Hingabe an etwas, verwendet Klaudia Schultheis den Schmitz’schen Begriff der Einleibung.225 Schultheis spricht mit Bezug auf Martinus J. Langeveld bei der Beschreibung des kindlichen Lernraumes auch vom »›pathischen‹ Verhältnis des Kindes zur Wirklichkeit«:226 Zwar geht das Kind auch neugierig auf die Dinge und die Umwelt zu, seine explorativen Handlungen werden jedoch auch durch die Anmutungen der Dinge hervorgerufen. Die Dinge forderten es auf, erklettert, umgeworfen, ausgekippt oder gefüllt zu werden.227 »Kinder lassen sich von Atmosphären, Räumen, räumlichen Gestalten, Qualitäten, anderen Personen oder Verhaltensweisen anstecken.«228 Durch die Projektion eigener Gefühle, Vorstellungen und Gedanken in die Dinge werden diese für das Kind lebendig.229 Durch eine handelnde Auseinandersetzung mit ihnen, gewinnen sie Bedeutung, erfährt das Kind Sinn.230 Indem es eigene Wünsche, Gefühle und Vorstellungen in die Dinge hineinprojiziert, kommuniziert es mit ihnen wie mit Mitmenschen.231 So kann es beispielsweise passieren, dass ein Kleinkind mit einem Tisch schimpft, an dessen Ecke es sich gestoßen hat, oder den Tisch als »böse« bezeichnet und empfindet. Aber nicht nur Gegenstände und Mitmenschen nimmt das Kind auf distanzlose Weise wahr, auch »Veränderungen in Raum und Zeit, Bewegungen an und mit Dingen, Vorgänge und Tätigkeiten« oder »inszenierte Welten«232 , wie Geschichten und Filme sprechen es an und werden von ihm in leiblicher Kommunikation erschlossen. Schultheis untergliedert die Einflussfaktoren auf das Lernen des Kindes aus der Perspektive der Leiblichkeit insgesamt in folgende Topoi: Räume, Zeit beziehungsweise Zeiträume oder -verläufe und -strukturen, materielle Objekte und Sachverhalte, Personen, Tätigkeiten, Handlungen oder Vorgänge, Interaktionen sowie mediale Inszenierungen.233 Dabei seien die frühesten Erfahrungen des Kindes Erfahrungen im Raum, da die Entwicklung seiner Bewegungsfähigkeit eng an das Erleben von Räumlichkeit geknüpft ist.234 Erste Kausalitätserfahrungen sind, so

224 »Mitbewegung werde nicht erlernt, sondern beruhe auf der natürlichen Fähigkeit des Menschen, Bewegungsgestalten jeder Art in sich mitvollziehen zu können.« Schultheis 1998, 90, mit Bezug auf Nitschke. 225 Vgl. Schultheis 1998, 104. 226 Schultheis 1998, 57. 227 Vgl. Schultheis 1998, 57f. 228 Schultheis 1998, 58. 229 Vgl. Schultheis 1998, 58. 230 Vgl. Schultheis 1998, 63. 231 Vgl. Schultheis 1998, 72. 232 Schultheis 1998, 63. 233 Vgl. Schultheis 1998, 64ff. 234 Vgl. Schultheis 1998, 64.

221

222

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Schultheis, wiederum an Zeiterfahrungen geknüpft. Zwar verfügen Kinder bis ins Grundschulalter hinein noch über keine »objektive zeitliche Orientierung«235 , doch durch wiederholte Handlungen (wie zum Beispiel im Wo?-Da!-Spiel) entstehen in ihnen Erwartungen von Abfolgen und Zusammenhängen, die zu einem Aufbau einer inneren kognitiven Spannung führen236 , so Schultheis mit Bezug auf die Pädagogen Günther Schorch und Werner Loch. Der kindliche Umgang mit Zeit, die kindliche Zeiterfahrung, ist insbesondere abhängig beziehungsweise wird strukturiert durch den »konkreten Situationszusammenhang.«237 Hierzu zählen Erlebnisse, Rituale oder Ereignisse mit emotionaler Bedeutung. Der Zusammenhang von Kausalität und Zeitlichkeit beispielsweise zeigt sich auch da, wo das Kind Zusammenhänge begreift, wie: »Ich muss mich beeilen, sonst komme ich zu spät«. Dann richtet es seine Handlung – in diesem Fall das schnelle Laufen – auf ein in der Zukunft liegendes, im Handeln antizipiertes Ereignis (hier das pünktliche Ankommen). So erlebt es Zeit und Kausalität in direktem Zusammenhang. Auch Tätigkeiten und Vorgänge erschließen sich dem Kind aus dem konkreten Tun, dem handelnden Nachvollzug. (Ein hinter Handlungsvollzügen liegender Sinn, der die konkrete Situation übersteigt, erschließt sich ihnen jedoch noch nicht, so Schultheis.238 Hier spielen wieder die sinnerschließenden Handlungen der Erwachsenen, wie ihre Kommunikation mit den Kindern über Handlungen, aber auch die Beobachtung von Zusammenhängen zwischen Sinn und Handlung sowie die Erziehung, eine wichtige Rolle.) Insgesamt, so lässt sich zusammenfassen, bedeutet die leibliche Kommunikation (nach Schmitz) das Äußern und Verstehen von Ausdruck.239 Es sind insbesondere die »Gestaltverläufe« (als Bewegungssuggestionen) sowie »die synästhetischen Charaktere der Dinge«, von denen der Lernende getroffen wird.240 Werden Kinder vom Ausdruck einer Sache (der Gestalt, Form oder einer gewissen leiblichen Anmutung) berührt, wenden sie sich ihr mit ganzer Aufmerksamkeit zu. Andere Umweltaspekte geraten dabei in den Hintergrund.241 Schultheis beschreibt den dialogischen Charakter der leiblichen Kommunikation mit Bezug auf Schmitz als Wechsel der Richtung, als Wechsel zwischen Enge und Weite: »Das Kind läßt sich in Bann ziehen (die leibliche Ökonomie schlägt zum Pol der Enge hin aus, das Kind

235 236 237 238 239 240

Schultheis 1998, 68, mit Bezug auf Schorch. Schultheis 1998, 68, mit Bezug auf Loch. Schultheis 1998, 68. Vgl. Schultheis 1998, 79. Vgl. Schultheis 1998, 96. »Sie sind es, die den Bezug zum spürbaren leiblichen Empfinden des Wahrnehmenden herstellen […] und damit leibliche Kommunikation ermöglichen […].« Schultheis 1998, 105, mit Bezug auf Schmitz. 241 Vgl. Schultheis 1998, 116.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

spürt die Spannung als Enge), oder es antwortet mit eigenen Aktivitäten und geht auf die Umweltobjekte zu (es reagiert mit Weitung und leiblicher Richtung).«242 »Ausdrucksbewegungen, Mitbewegungen und Aufmerksamkeit« fasst Schultheis dabei als »leibliche Potentiale«243 zusammen. Mitbewegen im Sinne der Einleibung beruht nicht auf kognitiven Prozessen, sondern auf »gefühlsmäßigen Anmutungen«,244 so Schultheis. Der Mensch wird genauso von seiner Umwelt bewegt (pathisches Moment), wie er sich selbst bewegt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Mensch sich zur Musik bewegt, so Schultheis mit Bezug auf Erwin Straus: »Der Mensch bewege sich selbst und er werde bewegt. Er gerate in ein gleichsam symbiotisches Verhältnis zu seiner Umwelt, indem er ihr nicht gegenüberstehe, sondern eine Einheit mit ihr bilde.«245 Dabei handelt es sich bei der Musik nicht um Bewegungen im eigentlichen Sinne, sondern um Bewegungssuggestionen (oder, mit Langer gesprochen, um Illusionen). Auch metaphorische Ausdrücke in der dichterischen Sprache können beispielsweise Bewegungssuggestionen auslösen. Den emotionalen und kognitiven Prozessen (als spezifische Qualitäten der Verarbeitung von Erlebtem) geht die Bewegung an sich als Grundfähigkeit zu einem Weltverstehen voraus.246 Auch die Aufmerksamkeit ist als leibliches Potential nicht kognitiver Art, sondern dem Menschen von Geburt an als Mittel des Leibes gegeben. »Sie wird nicht bewußt gesteuert, sondern stellt vielmehr eine Form des Erlebens dar.«247 Aufmerksamkeit hat besondere Bedeutung für die Erziehung, denn sie kann von Erwachsenen beim Kind hervorgerufen werden. (So zum Beispiel durch ein Ansprechen auf besondere Weise sowie das Zeigen auf etwas). Wie gewinnen Kinder nun aber eine Distanz zu den Dingen, wie erfolgt die Objektivierung als Lernprozess? Einer zunehmend distanzierten Haltung des Kindes den Dingen gegenüber liegt seine Auseinandersetzung mit der eigenen Subjektivität zugrunde. Dies kann im kindlichen Spiel erfolgen. Ein wichtiger Entwicklungsschritt dabei ist, wenn Kinder die Erfahrung machen, den Dingen als Subjekte gegenüberzustehen. Dabei entfalten sie die Fähigkeit, über die reale Wirklichkeit hinauszudenken und die Dinge als von ihnen loslösbar wahrzunehmen. Diese Entdeckung zeigt sich beispielsweise in Spielen, in denen die Rollen der Dinge variiert werden.248 »Wenn wir Schmitz folgen, so heben sich also für das Kind bereits im leiblichen Erleben der Welt subjektive Sachverhalte ab und werden erfahrbar, bevor es die 242 243 244 245 246 247 248

Schultheis 1998, 119. Schultheis 1998, 84. Schultheis 1998, 91. Schultheis 1998, 92. Schultheis 1998, 121. Schultheis 1998, 92. Vgl. Schultheis 1998, 113.

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Bewegung und Musikverstehen

Fähigkeiten zur sprachlich-kognitiven Explikation von Sachverhalten ausgebildet hat. Auf der Basis dieses leiblichen Zugangs zur Welt ist dem Kind Lernen möglich und an ihn kann die elementare Erziehung anknüpfen, um dieses Lernen zu unterstützen.«249 Anhand des Lernens des Kindes im Spiel als Annäherung an die eigene Identität sowie die der Dinge und Phänomene wird deutlich, dass affektiv-leibliche Prozesse nicht kognitiven Entwicklungen vorausgehen, sondern dass diese niemals getrennt voneinander ablaufen.250 Lernen ist ohne das geistige Moment im leiblichen Umgang nicht zu denken – dieser zeigt sich daran, dass wir leiblich allgemeine Momente erfahren, die sich aus dem situativen Kontext lösen und auf andere Situationen übertragen lassen, so Schultheis.251 Am Beispiel des Erlernens einer Bewegung kann dies deutlich gemacht werden: Ein Kind hat dann eine Bewegung erlernt, wenn es sie wiederholen beziehungsweise zu einem bestimmten Zwecke einsetzen kann (zum Beispiel Einreißen eines Bauklötzeturmes). Dafür ist es notwendig, »daß das Kind die Form oder den Gestaltverlauf der Bewegung erfasst hat.«252 Auch das Sprachlernen – dem häufig allein die kognitive Komponente zugedacht wird – beruhe, so Schultheis, auf einem Bewegungslernen: »So lernen Kinder die Sprache, weil sie Laut- und Bewegungsbilder erfassen und durch Gedächtnisleistungen reproduzieren können.«253 (Auf die Bedeutung der Bewegung sowie den Zusammenhang von eigenleiblichem Spüren und Bewegung wird weiter unten noch näher eingegangen werden.) Um schulisches Lernen an das frühkindliche, leibliche Lernen anschlussfähig zu machen, sollten die hier dargelegten Erkenntnisse bezüglich der leiblichen Potentiale der Mitbewegung, des Ausdrucksverstehens und der Aufmerksamkeit bei der Frage der Vermittlung von Lerninhalten eine wichtige Rolle spielen.Das elementare kindliche Lernen beruht auf der leiblichen Kommunikation, auf Prozessen der Einleibung, Ausleibung und der leiblichen Richtung.254 Als vorsprachliches, prärationales Bedeutungserleben bildet das leibliche Lernen die Grundlage für ein kognitives Bedeutungsverstehen. Denn im leiblichen Umgang mit der Welt hebt sich, so Schultheis, bereits etwas als Allgemeines, als Form ab, »das auf andere Situationen übertragbar ist und damit Lernen ermöglicht. […] Dabei findet ein leiblich-kommunikativer Austausch mit der sinnlich erfahrbaren Umgebung statt, auf dessen Basis ein erstes Bedeutungserleben entsteht, das die Grundlage 249 Schultheis 1998, 115. 250 Mit Bezug auf Robert Kegan geht sie vielmehr davon aus, dass wir Erfahrungen lediglich im Laufe unserer Entwicklung auf qualitativ unterschiedliche Art verarbeiten. Vgl. Schultheis, 121. 251 Vgl. Schultheis 1998, 121. 252 Schultheis 1998, 122. 253 Schultheis 1998, 123. 254 Vgl. Schultheis 1998, 120.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

für alles weitere kognitive Bedeutungsverstehen bildet.«255 Was Schultheis mit Bezug auf Schmitz als Einleibung und Ausleibung beschreibt, wird von Seewald als leiborientiertes Lernen im weiteren Sinne beschrieben. Er ergänzt dies mit Blick auf die pädagogische Praxis (speziell auf eine »Wahrnehmungs- und Bewegungserziehung«256 ) jedoch noch um das leiborientierte Lernen im engeren Sinne, das den Leib an sich thematisiert.257 Leiborientiertes Lernen meint nach Seewald im weiten Sinne generell »ein Lernen auf niedrigem symbolischen Niveau« und im engen Sinne »ein Lernen, bei dem der Leib/Körper in seinen verschiedenen Dimensionen selbst thematisiert wird.«258 Beide Akzente des leiborientierten Lernens unterscheiden sich somit im Wesentlichen durch die Richtungen des Vollzugs: Im weiten Sinne bedeutet leibliches Lernen eine Bewegung vom Leib zu den Dingen hin (das Affiziertwerden durch die Dinge mit eingeschlossen). Es betrifft also den Aspekt der leiblichen Wahrnehmung von Dingen und Phänomenen, die den Leib umgeben, mit denen er in einer gemeinsamen Welt verflochten ist. »Mit dem Leib hat es deshalb zu tun, weil sich – analytisch ausgedrückt – leibliche Regungen wie Bewegungsphantasien, Rhythmen, Weitungen und Engungen des Leibphantasmas etc. auf die Wahrnehmung übertragen bzw. umgekehrt durch die Wahrnehmungen affiziert werden.«259 Indem das Kind eine Beziehung zu den Dingen eingeht, die die Dinge für das Kind lebendig macht, kann es zu einer wirklichen »Bildungserfahrung«260 kommen, so Seewald. Im engen Sinne meint leibliches Lernen hingegen eine Bewegung zum Leib hin – hier wird der Leib an sich erfahren und bewusst gemacht.261 Beide Aspekte der Leiborientierung überschneiden sich Seewald zufolge jedoch auch. Lernen meint stets einen Vollzug im Zwischenbereich. Immer ist das lernende Subjekt leiblich in der Welt verankert, entwirft es sich in gleicher Weise wahrnehmend zu den Dingen hin, wie es die Dinge dazu herausfordern. Leiborientiertes Lernen findet im Spannungsfeld zwischen Gewöhnung und Spontaneität statt. Die beschriebene Gegenüberstellung Seewalds von leiborientiertem Lernen im weiten und im engen Sinne beruht lediglich auf einer analytischen Betrachtung des Woraufhin des Lernens. Seewald nimmt damit das Erfahren von etwas in der Welt sowie die Erfahrung des eigenen Leibes in den Blick. Welche Konsequenzen die Erkenntnisse über das leibliche frühkindliche Lernen von Schultheis oder das leiborientierte Lernen von Seewald für eine Didaktik

255 Schultheis 1998, 120f. 256 Seewald 1992, 481. 257 »Thematisieren« meint in diesem Zusammenhang noch kein wortbegriffliches Reflektieren, vielmehr eine erfahrene Richtung im Vollzug des Lernens auf den Leib zu. 258 Seewald 1992, 476. 259 Seewald 1992, 476. 260 Seewald 1992, 476. 261 Vgl. Seewald 1992, 485.

225

226

Bewegung und Musikverstehen

des Lernens hat, soll weiter unten beschrieben werden. Zunächst wird an dieser Stelle nochmal gesondert auf die beiden Pole Spontaneität und Gewöhnung eingegangen, zwischen denen das leibliche Lernen erfolgt.

5.2.1.3

Lernen im Spannungsfeld zwischen Spontaneität und Gewöhnung

Lernen hat insofern etwas mit Gewöhnung zu tun, als es darauf zielt, entweder etwas zur Gewohnheit werden zu lassen – dies meint die Gewöhnung als Einverleibung von Strukturen262 – oder Gewohnheiten zu hinterfragen, zu überwinden und neu zu erwerben. Letzteres meint die Gewohnheit als Erweiterung unserer Existenz.263 Der Leibbegriff eignet sich im Besonderen, um das Phänomen der Gewohnheit zu erklären, da mit ihm veranschaulicht werden kann, wie wir Dinge aufgrund unseres Verwurzeltseins, unserer (noch unhinterfragten) Lebensvollzüge erlernen. Er bringt zum Ausdruck, dass Gewohnheitsbildung immer durch ein Wechselspiel aus dem, was die Dinge uns ›antun‹, und unserem bewussten, aktiven und intentionalen Tun entstehen. »Der Leib ist es, so sagen wir, der im Erwerb einer Gewohnheit ›versteht‹ […] Verstehen heißt, die Übereinstimmung erfahren zwischen Intention und Vollzug, zwischen dem, worauf wir abzielen, und dem, was gegeben ist; und der Leib ist unsere Verankerung in der Welt.«264 Wie im Kapitel 3 beschrieben, benutzt Merleau-Ponty für das räumliche und zeitliche Einwohnen in die Welt auch den Begriff des Körperschemas. Dieser bringt zum Ausdruck, dass das Spüren des eigenen Körperraumes nie ohne Bezug zu einem äußeren Raum, in dem wir leben, möglich ist und umgekehrt, dass ein spürendes Wahrnehmen des Raumes, der uns umgibt, auch immer ein Spüren der eigenen leiblich-körperlichen Räumlichkeit bedeutet. Merleau-Ponty betrachtet daher die Herausbildung des Körperschemas, als »Erwerb einer Welt« und als Lernaufgabe.265 Gewohnheiten können perzeptueller oder motorischer Natur sein.266 So ist beispielsweise unser Wahrnehmungslernen bezogen auf die Farbwahrnehmung als etwas zu verstehen, was mit perzeptueller Gewöhnung einhergeht. Waldenfels 262 263 264 265

Vgl. Waldenfels 2000, 166f. Vgl. Good 1998, 80. Merleau-Ponty 1966, 174. Vgl. Orlikowski 2017, 149. »Die Orte des Raumes bestimmen sich nicht als objektive Positionen im Verhältnis zur objektiven Stelle unseres Leibes, sondern zeichnen um uns her die wandelbare Reichweite unserer Gesten und Abzweckungen in unsere Umgebung ein. Sich an einen Hut, an ein Automobil oder an einen Stock gewöhnen heißt, sich in ihnen einrichten, oder umgekehrt, sie an der Voluminosität des eigenen Leibes teilhaben lassen. Die Gewohnheit ist der Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern oder unsere Existenz durch Einbeziehung neuer Werkzeuge in sie zu verwandeln.« Merleau-Ponty 1966, 173. 266 Vgl. Oberhaus 2006, 129.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

nimmt an, dass unserer Farbwahrnehmung Prozesse der Eingewöhnung zugrunde liegen. Es geht ihm hierbei nicht um das Erlernen und Benennen der einzelnen Farbtöne, sondern um das Differenzieren, darum, Kontraste zu erkennen.267 Ein Zusammenhang von Gewohnheit und Bewegung ist da gegeben, wo Bewegungsbedeutungen motorisch, also durch die Bewegung selbst (leiblich) erlernt und verstanden werden.268 Bewegung und Perzeption sind im Hinblick auf ein Gewohnheitslernen jedoch nicht getrennt voneinander zu betrachten. Waldenfels beschreibt dies wie folgt: »Das Gewahren und Bemerken in der Welt ist verbunden mit einer motorischen Eingewöhnung und Einspielung. […] Die Hand wird geleitet vom Blick und der Blick selber erprobt sich im Umgang und in der Berührung mit den Dingen.«269 Beiden Weisen der Gewohnheit ist eines gemeinsam: Das Verwurzeltsein in einer »primordinalen Welt«270 , die für Wahrnehmungen und Symbolfunktionen den Boden bildet. Husserl verwendet zur Unterscheidung des einverleibten Wissens durch Gewöhnung (und somit durch Lernen) auch die Begriffe Sedimentierung (dies betrifft die erworbene Bedeutung von Dingen) und Habitualisierung (gemeint ist die erworbene Bedeutung von Handlungen).271 Beide Prozesse beruhen auf dem Prinzip der Wiederholung: Das Sedimentierte kann ich immer wieder ›als etwas‹ erkennen. Eine Handlung habitualisiere sich wiederum durch wiederholtes Tun. Durch »wiederkehrende Vorgänge« bildet sich letztlich unsere Alltagswelt, so Waldenfels: »Es entsteht eine Alltagswelt dadurch, daß es wiederkehrende Vorgänge im natürlichen Bereich ebenso gibt wie im sozialen Bereich, in der Wahrnehmung ebenso wie in der Sprache.«272 Wie oben bereits mit Meyer-Drawe erwähnt, bedeutet Lernen jedoch auch, mit den eigenen Gewohnheiten zu brechen. Dabei werden sie uns zunächst fremd, indem wir sie überdenken. Nach Meyer-Drawe kann ein »Stachel des Fremden«273 Lernprozesse in Gang setzen. »Dem Lernenden wird vertrauter Boden entzogen, bestehende Annahmen in Bezug auf eine Sache, Welt oder das eigene Selbst werden irritiert. Unvertrautes, Neues bricht herein, wodurch Gewohnheiten, die durch bereits durchlebte Erfahrungen einverleibt worden sind, entzogen werden.«274

267 Vgl. Waldenfels 2000, 171f. 268 »Der Erwerb einer Gewohnheit ist die Erfassung einer Bedeutung, aber die motorische Erfassung einer Bewegungsbedeutung.« Merleau-Ponty 1966, 172. 269 Waldenfels 2000, 171. 270 Seewald 1992, 33, mit Bezug auf Merleau-Ponty. 271 Vgl. Waldenfels 2000, 183. 272 Waldenfels 2000, 184; Herv. im Original. 273 Eckart/Schratz 2017, 328, mit Bezug auf Meyer-Drawe. 274 Eckart/Schratz 2017, 328.

227

228

Bewegung und Musikverstehen

Doch warum fällt es uns so schwer, Gewohnheiten aufzuspüren? Und warum beschreibt Frederick Alexander das Bewusstwerden und Ändern von Gewohnheit als etwas, das den Menschen vor eine besondere Herausforderung stellt?275 Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass gewohnheitsmäßig vollführte Handlungen einverleibte Handlungen sind, die uns daher im Vollzug nicht bewusst durch Reflexion zugängig sind. Oberhaus nennt in diesem Zusammenhang, mit Bezug auf Mollenhauer, beispielhaft das Phänomen der »Kopplungen«.276 Hierbei sind verschiedene Verhaltensweisen und Tätigkeiten so miteinander verkoppelt, dass sie einander wie automatisch begleiten. So wird beispielsweise leises Sprechen spontan eher von langsamen, sanften Bewegungen, lautes Sprechen wiederum eher von hektischen und großen Bewegungen begleitet. In einer »Entkoppelung« kann man sich mit diesen Gewohnheiten beziehungsweise einverleibten Handlungsmustern kritisch-distanziert auseinandersetzen.277 Ein Beispiel hierfür wäre, Kinder in einem Bewegungsspiel aufzufordern, eine stereotype, gewohnheitsmäßige Bewegung einmal bewusst anders (zum Beispiel ›in Zeitlupe‹) zu vollziehen. Was hier in der Analyse wieder auseinandertritt (die Gewöhnung als Einverleibung und der Bruch mit der Gewohnheit), ist jedoch im Leben miteinander verflochten. Waldenfels schreibt dem Leib mit Bezug auf Husserl hier auch eine »Vermittlungsrolle«278 zu: indem er sich entweder als aktueller oder als habitueller Leib neu zur Welt hin entwirft oder bestehende Strukturen auf die Welt überträgt. Auch wenn Lernen mit Gewöhnung zu tun hat, lässt es sich nicht mit Gewöhnung gleichsetzen. Denn Gewöhnung ist nur ein Aspekt des Lernens – Lernen ist hingegen in gleicher Weise vom Aspekt der Spontaneität und Freiheit geprägt. Die Spontaneität spielt für das leibliche Lernen als Gegenpol zur Gewöhnung eine gleich wichtige Rolle. Sie ist nicht ohne die Gewöhnung denkbar, da es der Strukturen bedarf, um Freiheit und Spontaneität zu erfahren. Zu Lernen heißt nicht nur, sich an bestehende Strukturen anzupassen oder vertraute Situationen nach gewohnten Schemata zu bewältigen,279 sondern diese auch zu verändern. Hierbei kann das eine nur vor dem Hintergrund des anderen hervortreten.280 So lässt sich auch Freiheit im Allgemeinen nicht außerhalb von Regeln realisieren. »Freiheit ist eine Spontanität innerhalb von Strukturen.«281 Für Merleau-Ponty ist der Leib

275 Vgl. Schüler 2014, 104ff. 276 Oberhaus 2006, 180. 277 »Durch die Entkoppelungen von klanglichen und leiblichen Zusammenhängen können auch Autonomieerfahrungen bereitgestellt werden, die über alltägliche Selbstverständlichkeiten hinausgehen.« Oberhaus 2006, 180. 278 Waldenfels 2000, 188. 279 So beschreibt Waldenfels die Gewöhnung. Vgl. Waldenfels 2000, 201. 280 Vgl. Waldenfels 2000, 171. 281 Waldenfels 2000, 201; Herv. im Original.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

sowohl aktueller als auch habitueller Leib. Er spricht von natürlichem und kulturellem Leib, wobei beide Weisen als miteinander verzahnt zu verstehen sind.282 Waldenfels zufolge ist in jeder Ordnung die Möglichkeit ihrer »Umordnung« und »Umgestaltung«283 enthalten. Dies beschreibt er auch mit dem Begriff der »Kontingenz«.284 Der Mensch kann in verschiedenen Graden einer Ordnung zuwiderhandeln. Die »leibliche Freiheit des Verhaltens«285 ist dabei einem Spiel mit Möglichkeiten gleich. Als Beispiele nennt er den Wortwitz, der uns damit überrascht, dass er sich in einem konkreten Falle nicht an gewohnte Regeln in Form von semantischen Bedeutungen hält.286 Beim Tanz wiederum wird der tatsächliche Raum als Spielraum von Bewegungsmöglichkeiten erfahren.287 Oft sprechen wir auch von ›künstlerischer Freiheit‹ und benennen damit den wohl wichtigsten Wesenszug der Kunst. Das künstlerische Moment ist, so schreibt Waldenfels, jedoch nicht nur dort zu finden, wo es explizit um bildende Kunst oder Musik geht: »[J]eder Arbeit und jeder Handlung ist ein Moment der Erfindung, ein künstlerisches Moment beigemischt […], sobald es darum geht, nicht bloß bestimmte Regeln anzuwenden oder Programme durchzuführen.«288 Indem also beispielsweise die Musik bisweilen mit unseren (Hör-)Gewohnheiten bricht, stiftet sie zum Lernen an.

5.2.1.4

Leibliches Lernen und Bewegung

In den vorangegangenen Kapiteln wurden bereits die phänomenologischen Kernbegriffe »Intentionalität« und »Bewegung« näher betrachtet. An dieser Stelle sollen die phänomenologischen Sichtweisen auf das Thema Bewegung nun in Zusammenhang mit dem Lernbegriff und insbesondere mit dem Phänomen des leiblichen Lernens gebracht werden. Der phänomenologische Bewegungsbegriff ist offen. Er umfasst nicht nur die Bewegung als konkrete, sichtbare Bewegung im Sinne einer Ortsveränderung. Bewegung wird vielmehr auch als Wesenszug der Seinsweise des Leibes in der Welt aufgefasst. Prozesse wie Wahrnehmen, Lernen und Verstehen werden dabei generell als Bewegung begriffen. Im Hinblick auf den Zusammenhang von Bewegung und Lernen ist der Begriff der Empfindung für die phänomenologische Sichtweise zentral. Er verbindet die Wahrnehmung, das eigenleibliche Spüren mit der Bewegung und verortet den sich bewegenden Leib in den Zwischenbereich der Inter-

282 283 284 285 286 287 288

Vgl. Waldenfels 2000, 188. Waldenfels 2000, 201. Waldenfels 2000, 201. Waldenfels 2000, 202. Vgl. Waldenfels 2000, 206. Vgl. Waldenfels 2000, 205f. Waldenfels 2000, 207.

229

230

Bewegung und Musikverstehen

subjektivität und als Verankerung in der Welt. Dem Erlernen einer Bewegung liegt nach diesem Verständnis die Bewegungsempfindung zugrunde.289 In der Bewegungsempfindung werden Bewegung und Empfindung als eins und als Eigenes erlebt. Dieser Zusammenhang wurde bereits mit dem Begriff des Körperschemas beschrieben. Auch das Lernen von Bewegungen ist also auf unser eigenleibliches Spüren, auf unser kinästhetisches Bewegungsbewusstsein zurückzuführen. Wir erfahren unsere Körperlichkeit sowie die Welt um uns herum durch Bewegung. Daher bezeichnen Ommo Grupe und Michael Krüger die Bewegung auch als »Vermittlungsorgan«.290 Im Hinblick auf das Lernen dürfen daher Bewegung und Wahrnehmung nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Waldenfels beschreibt dies mit dem Zusammenspiel von Auge und Hand: »Die Hand wird geleitet vom Blick, und der Blick selber erprobt sich im Umgang und in der Berührung mit den Dingen.«291 Nach Merleau-Ponty fallen Bewegung und Bewusstsein der Bewegung zusammen. Die oben beschriebenen Weisen des Lernens durch Gewohnheit und Spontaneität auf der Basis des habituellen und aktuellen Leibes lassen sich auch auf das Lernen von Bewegung übertragen. Wie unter 3.1.5 beschrieben, unterscheidet Merleau-Ponty die konkrete, also an bestimmte Situationen gebundene, Bewegung (sie betrifft den habituellen Leib) von der abstrakten Bewegung als Bewegung des schöpferischen, aktuellen Leibes auf das Mögliche hin. So hat auch das Lernen im Hinblick auf die Bewegung zwei Seiten: Zum einen bedeutet es das noch unbewusste Einverleiben des habituellen Leibes und zum anderen das bewusste, explorative und schöpferisch-aktive Erwerben von Bewegung. Beide Aspekte sind miteinander verwoben, sodass sich auch im Hinblick auf die Bewegung Lernen im Spannungsfeld zwischen Tun und Erleiden ereignet. Dies führt uns wieder zu Meyer-Drawes Erfahrungsbegriff, der den erleidenden Aspekt des Lernens mitberücksichtigt. »Lernen als Bewegung ist Lernen als Erfahrung (Meyer-Drawe). Es ist eine Bewegung, die von einem alten zu einem neuen Erfahrungshorizont führt. Im Vollzug des Umlernens durchdringt die Doppelbewegung von Pathos und Response das Erleben und Verhalten des leiblichen Selbst […]. Zu diesem Prozess eines vorreflexiven und responsiven Erfahrungsgeschehens können sich Lernende nicht als autonom Handelnde erschließen.«292 Dass etwas gelernt wurde, die Bewegung des Lernens erfolgte, lässt sich erst zeitlich versetzt, nachträglich erkennen. Das hat auch etwas damit zu tun, dass das Lernen vom Lernenden selbst nicht ausschließlich aktiv und bewusst gesteuert 289 Diese Grundthese teilt die phänomenologische Lerntheorie auch mit Ansätzen der Embodiment-Theorie. Vgl. Koch 2013. 290 Grupe/Krüger 2007, 245f. 291 Waldenfels 2000, 171. 292 Eckart/Mian 2015, 184f., mit Bezug auf Waldenfels; Herv. im Original.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

werden kann. »Lernende können nicht sagen: ich beginne zu lernen, sondern der Anfang wird mit ihnen gemacht.«293 Gerade das Lernen im Kindesalter ist ein Lernen, das zum großen Teil noch unbewusste Anteile enthält. In diesem Zusammenhang soll noch einmal auf Schultheis zurückgekommen werden, die dem Prozess der Einleibung beim frühkindlichen Lernen besondere Bedeutung beimisst. Bewegung bedeutet für das Kind die allererste Möglichkeit des Welterwerbs. Dabei bewegt es sich nicht nur auf die Dinge zu, sondern wird gleichsam von ihnen bewegt. »Bei Kindern basiert das Lernen von Bewegungen auf Wahrnehmungen und leiblicher Mitbewegung.«294 Mit Schultheis lässt sich also Bewegung als Wesen insbesondere des frühkindlichen, lebensweltlichen und leiblichen Lernens benennen. (Denn sogar das Sprachlernen beruhe, so Schultheis, auf einem Bewegungslernen.295 ) Beim Kind sind also Wahrnehmung und Bewegung von Natur aus noch so eng miteinander verbunden, dass sie das, was sie wahrnehmen, als Bewegung wahrnehmen.296 Dieses Wissen kann sich die Pädagogik zunutze machen, indem sie entsprechende Zugänge gestaltet. Ein Beispiel hierfür wäre, Kinder dazu aufzufordern, sich zu einer Sache angemessen zu bewegen, um das Wesen des entsprechenden Lerngegenstandes leiblich-bewegt nachvollziehen und erfassen zu können. (Dies könnten zum Beispiel Aufforderungen wie: »Bewege dich, wie eine Katze!«, oder: »Bewege dich passend zur Musik!«, sein.) Das Einverleiben von Dingen und Phänomenen durch Bewegung bewirkt eine Verringerung der Distanz zwischen Kind und Ding in der Welt, macht sie für das Kind erleb- und erfahrbar. Die Fähigkeit, Bewegungen unmittelbar aufzufassen und dadurch eine große Nähe zu den Dingen aufzubauen, geht, so Schultheis, im Laufe der Entwicklung geistiger Fähigkeiten immer weiter zurück.297 Erwachsenen fällt es im Vergleich oft schwerer, sich Bewegungsfolgen einzuverleiben. Bewegung kann uns jedoch, so Beate Schüler mit Bezug auf die Tänzerin Anna Halprin, in die vorreflexive Sphäre des Erlebens immer wieder – auch im Erwachsenenalter – zurückversetzen und uns Phänomene sowie uns selbst durch Einverleibung unmittelbar verstehen helfen. Halprins Entdeckung ist, dass das Spüren des eigenen Selbst durch die Bewegung ermöglicht, in »vorbewusste Bereiche jenseits der Worte«298 vorzudringen und auf diesem Wege zu Selbst- und Welterkenntnis zu gelangen.

293 Eckart/Mian 2015, 185, mit Bezug auf Meyer-Drawe. 294 Schultheis 1998, 122. 295 »So lernen Kinder die Sprache, weil sie Laut- und Bewegungsbilder erfassen und durch Gedächtnisleistungen reproduzieren können.« Schultheis 1998, 123. 296 Vgl. Schultheis 1998, 123. 297 »Mit der zunehmenden kognitiven Entwicklung geht die Fähigkeit, in der Mitbewegung Bewegungsgestalten aufzufassen und reproduzieren zu können, stark zurück.« Schultheis 1998, 123. 298 Schüler 2014, 115.

231

232

Bewegung und Musikverstehen

  Abschließend sei der Zusammenhang von Lernen und Bewegung hier nochmal unter vier Gesichtspunkten zusammenfassend genannt. 1

2

3

4

Das (unbewusste) Erlernen von Bewegung als ein Einverleiben von Strukturen und der Gewohnheitsbildung: Dieses Lernen betrifft den noch vorreflexiven und unbewussten Bereich der konkreten Bewegung. Der Lernende erlebt die Bewegung als sein Leibsein. Das (bewusste) Um- oder Neulernen von Bewegung: Gemeint ist ein Lernen, das sich auf den Vollzug abstrakter Bewegung bezieht. Hier wird der schöpferische Moment des sich durch den aktuellen Leib vollziehenden Lernens angesprochen. Der Lernende erlebt seinen Körper (im Sinne des Körperhabens299 ) im Erkunden der Möglichkeiten seiner Bewegung. Seine Bewegung ist eine Bewegung hin zum Bilden neuer Strukturen. Bewegung als Lernen – Bewegung als Erfahrung: Der Lernende befindet sich im Übergang von der gewohnheitsmäßig einverleibten Bewegung zur bewusst erfahrenen und abstrakten Bewegung. Beide Weisen der Bewegung (1. und 2.) begegnen hier einander. Es ist der Ort, an dem das Lernen als Erfahrung seinen Ursprung hat. Oder mit Meyer-Drawe: »Lernen beginnt […], wo und wenn das Vertraute seinen Dienst versagt und das Neue noch nicht zur Verfügung steht«.300 Bewegung im weiten Sinne als erkennendes Zur-Welt-Sein oder Bewegung als Welterwerb: Gemeint ist der Vollzug von Wahrnehmung, Lernen und Verstehen als Bewegung – sowohl Bewegung zur Welt als auch zum Leib hin. (Hierzu zählen auch die Erkenntnisse der Kinästhetik [Husserl], dass Wahrnehmung und Bewegungsempfindung untrennbar miteinander verbunden sind.)

Lernen ist demnach Bewegung. Bewegung kann zum Lernen führen und Lernen kann Bewegung bewirken. Wir lernen, weil wir uns bewegen und uns bewegen lassen.

5.2.1.5

Leibliches Lernen und Erfahrung

Meyer-Drawe nennt die Phänomenologie auch die »Philosophie der Erfahrung«.301 Sie betrachtet die Erfahrung als dem Bereich der Rationalität zugehörig.302 Die

299 Grupe und Krüger beziehen sich hier auf die Gegenüberstellung Helmuth Plessners von »Körper haben« und »Leib sein«. Grupe/Krüger 2007, 237, mit Bezug auf Plessner. 300 Meyer-Drawe 2008, 15. 301 Meyer-Drawe 2012, 212. 302 Vgl. Meyer-Drawe 2012, 212.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Forderung Husserls, »zu den Sachen selbst« zurückzukehren, lässt sich in der Erfahrung realisieren. Verstehen beginnt demnach mit dem Lernen als Erfahrung, als bewusstes Sein bei den Dingen selbst.303 Wie ist das zu verstehen? Wie oben bereits erwähnt, hebt Meyer-Drawe vor allem den krisenhaften, schmerzhaften Aspekt der Erfahrung in Bezug auf das Lernen hervor. Sie stellt bisweilen nicht nur das bisherige Wissen des lernenden Subjekts, sondern gar »die eigene Person zur Disposition«.304 Dies erklärt, warum sie nicht vom Lernen aus Erfahrung, sondern vom Lernen als Erfahrung spricht. Mit dem phänomenologischen Grundsatz Merleau-Pontys, Philosophie hieße, von Neuem lernen, die Welt zu sehen,305 geht Meyer-Drawes Verständnis von der Erfahrung als Lernen demnach Hand in Hand. Im Lernen gelangen wir stets »von einem bekannten zu einem neuen Erfahrungshorizont«.306 Horizont als phänomenologischer Begriff, wird auch vom Philosophen und Pädagogen Günther Buck in Bezug auf das Lernen als Erfahrung verwendet. Er ist es, der zuerst vom Lernen als Erfahrung307 spricht. Seine Lerntheorie, in der die Erfahrung ein zentraler Begriff ist, wird insbesondere von Meyer-Drawe rezipiert und nimmt Einfluss auf die Phänomenologie des Lernens. Buck geht von der Horizonthaftigkeit der Erfahrung aus. Gemeint ist ein Erwartungshorizont, dem das Phänomen der Intentionalität als Bewegung durch Antizipation von Erfüllung oder Enttäuschung308 von Erwartungen zugrunde liegt.309 Mit dem Begriff der Erfahrung wird also wiederum die Zeitlichkeit des Lernens angesprochen. Brinkmann beschreibt mit Bezug auf Buck, dass sich in der Erfahrung das Lernen auf sich selbst bezieht beziehungsweise zurückwendet: »Lernen ist damit sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft bezogen. Durch die negativen Erfahrungen wird eine ›Bewusstwerdung‹ latenter Horizonte und Erfahrungen möglich […]. Lernen ist damit im Erfahrensprozess selbst reflexiv, d.h. auf sich selbst zurückgebeugt.«310 Der Aspekt der Rückbezüglichkeit findet sich auch bei Husserls Beschreibung von Wahrnehmungsprozessen. Er geht davon aus, dass

303 »Mit dem Begriff ›Erfahrung‹ verweist Husserl zunächst auf das Bewusstsein bei den ›Sachen selbst‹ zu sein«. Orlikowski 2017, 144, mit Bezug auf Husserl. 304 Meyer-Drawe 2012, 206. 305 Vgl. Merleau-Ponty 1966, 18. 306 Eckart/Schratz 2017, 328. 307 Vgl. Brinkmann 2017, 24ff. 308 Besonders Bucks These von der ›Negativität der Erfahrung‹, die die Enttäuschung von Erwartungen und somit die Krisenhaftigkeit der Erfahrung als Lernantrieb betont, wird von Meyer-Drawe aufgegriffen. Vgl. Meyer-Drawe 2012, 187ff., mit Bezug auf Buck. 309 Vgl. Brinkmann 2017, 24. »Denn mit einer enttäuschten Erwartung wandeln sich nicht nur weitere künftige Erwartungen, sondern auch bereits ›gemachte‹ Erfahrungen […]. Das Lernen aus Erfahrung ist damit zuerst ein Lernen als Erfahrung.« Brinkmann 2017, 25; Herv. im Original. 310 Brinkmann 2017, 25.

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234

Bewegung und Musikverstehen

wir uns wahrnehmend nie auf die reine Gegenwart beziehen, sondern auf das, was eben gerade gewesen ist. Somit ist aus phänomenologischer Sicht bereits die Wahrnehmung vom Faktor des Zeitlichen geprägt. »Zeit wird als ein dynamischer Prozess gedacht, der die reine Gegenwart ausschließt.«311 Erinnerungen an Vergangenes bedeuten immer, dass man sich zur eben erlebten Gegenwart distanziert. Lernen als Erfahrung meint eine ständige Bewegung, einen ständigen Wandel im Fluss der Zeit. Denn selbst in der Wiederholung bleiben die Dinge nicht das, was sie für uns schon immer waren. Jedes Erkennen von etwas als etwas bedeutet immer ein neues Schöpfen von Bedeutung auf einem immer veränderten Grund vorausgehender Erfahrungen. Hieraus resultiert nach Buck auch der Unterschied zwischen kindlichem und erwachsenem Lernen. »Am besten vermag durch Erfahrung zu lernen der schon Erfahrene.«312 Dass Erwachsene dem Kind gegenüber einen gewissen Vorsprung haben, besagt jedoch nichts über die Qualität der einzelnen Erfahrung. Der Erfahrung ist nach Waldenfels ein schöpferischer Charakter eigen, da es in ihr zu Strukturveränderungen kommt.313 Die Dinge sind nicht von selbst das, was sie sind – sie sind es immer für uns. Daher enthält jede Bestimmung von etwas als etwas, so schreibt Waldenfels, bereits »Momente einer Kreation«.314 Struktur und Gestalt werden dabei schöpferisch entworfen. Wie oben dargelegt, betrachtet Waldenfels Strukturen als Ganzheiten, deren Elemente sich aufeinander beziehen und zum Gesamt der Struktur verhalten.315 Auch Gestalten gehen, nach seiner Vorstellung, nicht durch Addition aus einzelnen Gestaltelementen hervor – eine Bewegungsgestalt wie beispielsweise der Gang von Personen ergibt sich nicht durch Hinzukommen oder Weglassen bestimmter Bewegungselemente. Sie zeichnet sich vielmehr durch eine gewisse Spannung aus, die erzeugt wird (wie Eiligkeit oder Zögern).316 Waldenfels beschreibt das »Grundmoment der Gestaltbildung« insgesamt als ein Differenzieren in »Figur und Grund«.317 Hören (als bewusstes Hinhören) bedeutet danach das Heraushören von Strukturen, das Vernehmen von Gestalten vor einem Hintergrund.318 Dies gilt auch für das Sehen: »Sehen lernen heißt, daß man lernt, Differenzen zu sehen, und das gilt für alles Lernen.«319 Aus phänomenologischer Sicht rücken, wie hier ersichtlich wird, die Prozesse der Wahrnehmung und der Erfahrung eng zusammen. Erfahrung bedeutet so

311 312 313 314 315 316 317 318 319

Eckart/Schratz 2017, 337. Buck 1967, 19. Vgl. Waldenfels 2000, 63. Waldenfels 2000, 63. Vgl. Waldenfels 2000, 65f. Vgl. Waldenfels 2000, 67. Waldenfels 2000, 67. Vgl. Waldenfels 2000, 68. Waldenfels 2000, 68.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

gesehen das Wahrnehmen von Struktur und Gestalt. Dass wir Strukturen und Gestalten in der Erfahrung wahrnehmen, ist Bedingung für den transformatorischen Charakter beziehungsweise die transformatorische Potenz des Erfahrenen.320 Wiederholen sich bestimmte Situationen, transformieren wir das Erfahrene auf die aktuelle Situation. Dies kann gelingen oder aber meine, aus vergangenen Erfahrungen entstandene, Erwartung enttäuschen. Dann führt dies zu einer Veränderung oder Neuschöpfung von Strukturen und somit zum Lernen. So gesehen unterscheiden sich Wahrnehmung und Erfahrung darin, dass Erfahrung den Umgang mit Wahrnehmungen beschreibt, der an Zeitlichkeit geknüpft ist. Durch das Wahrnehmen von Zusammenhängen und Beziehungen lässt uns die Erfahrung bereits Sinn und Bedeutung vernehmen, noch bevor diese in Sprache transformiert werden. »Diese Begriffe werden zumeist auf Handlung und Sprache bezogen, doch sie spielen auch schon in der Erfahrung und in der Wahrnehmung eine Rolle.«321 Meyer-Drawe spricht der Sprache jedoch für die Reflexion von Erfahrung eine wichtige Bedeutung zu: »Erfahrung ist dabei vor allem die zur Sprache gebrachte Erfahrung; denn Sprache setzt den Artikulationsversuch des Vorsprachlichen fort. Habitualisierungen der gelehrigen Körper, die gesellschaftliche Spielregeln einhalten, sittliche Erwartungen erfüllen und Wahrnehmungsgewohnheiten aufrechterhalten, kommen nur als in Worte gefasst ins Bewusstsein und öffnen sich der Reflexion.«322 (Über die Rolle des Wortes für die Erfahrung und das Lernen soll unter 5.3 noch weiter reflektiert werden.) Zusammenfassend lässt sich mit Meyer-Drawe sagen, Erfahrungen sind zum einen etwas, was der Mensch hat, zum anderen etwas, was er macht. Lernen als Erfahrung beruht auf Wiederholungen, da Erfahrungen auf »ständige Bestätigung«323 angewiesen sind. »Es ist daher einerseits möglich, dass sich Erfahrungen verstetigen, konventionalisieren und habitualisieren. Der Wiederholungscharakter der Erfahrung verbürgt andererseits die Möglichkeit, sich für neue Erfahrungen zu öffnen und die bestehenden Erfahrungen zu übersteigen.«324 Für den pädagogischen Kontext betrachtet es Meyer-Drawe als problematisch, dass wir zwar genau die Ziele des Lernens bestimmen, der Lernprozess selbst sich jedoch unserem forschenden Blick entzieht.325 Da das Lernen immer als etwas Zu320 »Gestalt und Strukturen lassen Transpositionen und Transformationen zu.« Waldenfels 2000, 66. 321 Waldenfels 2000, 70. 322 Meyer-Drawe 2003, 206. 323 Brinkmann 2015, 44. 324 Brinkmann 2015, 44. 325 »Es gehört vielmehr als Struktureigentümlichkeit zum Lernen selbst dazu, dass sich der Vollzug ins Dunkle zurückzieht.« Meyer-Drawe 2012, 193.

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236

Bewegung und Musikverstehen

rückgewandtes zu begreifen ist, lässt es sich nach Meyer-Drawe stets auch erst rückblickend feststellen. »Lernen beginnt mit einem Aufmerken, einem Aufwachen aus dem Schlummer des Gewohnten.«326 Welche Konsequenzen sich für einen Schulunterricht ableiten lassen, der Lernen als Erfahrung versteht, soll weiter unten zusammengetragen werden. Hier sei zunächst mit Buck Folgendes vorweggenommen: Lernen als Erfahrung betont, dass Lernen eine unabdingbare Konsequenz von Erfahrung ist, denn: »Eine Erfahrung, die ohne Konsequenz bleibt, aus der man nichts gelernt hat, ist keine gewesen.«327 Leibliches Lernen im Musikunterricht ist also nur möglich, wenn wir Wege eröffnen, musikalische Erfahrungen zu vollziehen und das Lernen als Erfahrung zu erleben.

5.2.1.6

Zwischenleiblichkeit und Lernen – die soziale Dimension des Lernens

Das Lernen als Erfahrung ist untrennbar mit dem Aspekt der Zwischenleiblichkeit verbunden. Merleau-Ponty geht davon aus, dass wir vorreflexiv immer schon mit unseren Mitmenschen und den Dingen in der Welt verflochten sind.328 Daher sind auch jegliche Erfahrungsvollzüge immer schon eingebettet in ein intersubjektives Feld. In diesem begegnen sich eigene und fremde Erfahrungen, werden sie bestätigt oder hinterfragt. Dabei brauchen wir das Gegenüber, um uns überhaupt unserer Erfahrung bewusst zu werden. Denn erst im Sagen, so Meyer-Drawe, bildet sich das, was wir zu sagen haben. »Lernen ist ein intersubjektiver Vollzug, in dem sich Erfahrungsmöglichkeiten begegnen und gegeneinander durchsetzen, in dem der Sinnüberschuß, den ich durch die Mehrdeutigkeit meines Sagens und Handelns hervorbringe, vom anderen aufgegriffen und in seinem Sinne zur Sprache gebracht werden kann. Darum kann es geschehen, daß ich erst im Sagen und Handeln erfahre, was ich wußte, daß erst die Frage eines anderen meine Antwortmöglichkeiten hervorbringen und nicht nur abrufen.«329 Jürgen Vogt zufolge gilt dies für Schüler und Lehrer gleichermaßen. Was die Interaktion im Unterricht angeht, so machen Meyer-Drawe und Johanna F. Schwarz darauf aufmerksam, wie stark unterrichtliche Prozesse und Lernatmosphären davon beeinflusst werden, wie sich Schüler und Lehrer gegenseitig

326 327 328 329

Meyer-Drawe 2012, 193. Buck 1967, 17f. Vgl. Meyer-Drawe/Schwarz 2015, 127. Meyer-Drawe, zitiert nach Vogt 2001, 143.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

wahrnehmen. Sie thematisieren das (Über-)Sehen, (Über-)Hören des anderen sowie das Phänomen der Zuschreibung. Letzteres meint beispielsweise, dass Lehrende den Lernenden durch mündliche, mimische oder gestische Ausdrücke oftmals spüren lassen, was sie für ein (oft festes) Bild von ihnen haben. Dies hat nach Ansicht der Autorinnen Einfluss auf das Selbstbild des Lernenden und daher oft fatale Wirkung.330 Brinkmann stellt in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Verkörperung, Antwortgeschehen und Zeigen im Unterricht heraus.331 Er betont damit einmal mehr, dass in der pädagogischen Situation, mit ihrem spezifischen zwischenleiblichen Raum, längst vor einem Gebrauch von Wortsprache auf der Basis leiblicher Kommunikation Bedeutungen generiert werden. Meyer-Drawe ruft weiter in pädagogischen Situationen dazu auf, nicht einseitig Macht (seitens der Lehrenden) auszuüben und zugleich Belehrbarkeit anzunehmen: »Der Offenheit gegenüber der Belehrbarkeit des Lehrenden entspricht auf der Seite des Lernenden die Anerkennung der Belehrung.«332 Das Problem bei der Reflexion und Theoriebildung im pädagogischen Feld besteht in der von den Phänomenologen so oft betonten Krux, dass jedes Reflektieren über Vollzüge zwangsläufig eine Distanz aufbaut, die das untersuchte Phänomen letztlich nicht gänzlich erreichbar macht. Daher sollten, so sagt Meyer-Drawe, pädagogisches Handeln und pädagogische Situationen auf einer »mittleren Reflexionsebene«333 reflektiert werden. Das bedeutet, dass nicht auf eine rationalsprachliche Betrachtung verzichtet, jedoch immer die Nähe zur konkreten Situation hergestellt wird.334 Was den Umgang mit Erfahrung im Schulunterricht betrifft, so rät MeyerDrawe dazu, Rationalität nicht zu früh – insbesondere nicht vor der zu machenden Erfahrung – zu vermitteln. Stattdessen solle Rationalität als etwas verstanden und vermittelt werden, was in der Erfahrung entsteht. Hierbei sei es wichtig, dass die Lehrperson auf die sich zeigende Rationalität des Lernenden eingehe.335 Abschließend sei noch kurz auf den für das frühkindliche leibliche Lernen wichtigen Begriff der Mimesis eingegangen, der wiederum mit dem Begriff der Zwischenleiblichkeit eng verbunden ist. Mit Mimesis ist die Nachahmung (und 330 331 332 333 334

335

Vgl. Meyer-Drawe/Schwarz 2015, 125ff. Vgl. Brinkmann 2015, 46ff. Meyer-Drawe 1987, 218. Meyer-Drawe 1987, 231. »Pädagogische Thematisierung von konkreten Handlungsvollzügen kann sich aufgrund dieser Einsicht in die Kontingenz, die Ambiguität und Opazität pädagogischer Verständigungsund Verstehensprozesse auf einer mittleren Reflexionsebene ansiedeln, die im Hinblick auf die Vollzüge der Reetablierung zwischenleiblicher Beziehungen den Kontakt zur konkreten Wirklichkeit nicht aufgibt, aber auch nicht auf rationale Erkenntnis überhaupt verzichtet.« Meyer-Drawe 1987, 231. Vgl. Meyer-Drawe 1987, 242.

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Bewegung und Musikverstehen

nicht Imitation!) von Bewegungen oder Verhaltensweisen durch Prozesse des leiblichen Lernens, wie zum Beispiel die Annahme eines fremden Tonfalls, einer Haltung etc., gemeint.336 Christoph Wulf betont, mimetisches Lernen sei nicht nur passives Lernen, sondern »produktiv«:”[E]s ist körperbezogen und verbindet den Einzelnen mit der Welt und anderen Menschen; es schafft ein praktisches Wissen und ist daher für soziales, künstlerisches und praktisches Handeln konstitutiv.«337 Waldenfels beschreibt diese Bewegung zwischen passivem und aktivem Vollzug, indem er »Projektion« und »Introjektion« für das mimetische Lernen verantwortlich macht: »Was ich selber bin, entsteht erst durch Projektion, ich finde mich und empfinde mich selbst zunächst im Anderen.«338 Er nennt den Mimetismus die »ursprüngliche Art zu lernen«, in der noch nicht zwischen Eigenem und Fremdem unterschieden wird.339 Dies veranschaulicht er am Beispiel des Kleinkindes, das sich selbst zunächst mit dem eigenen Namen340 benennt und noch nicht das Wörtchen »ich« verwendet. Hintergrund hierfür sei, dass es sich selbst quasi durch die Augen der anderen sieht und zudem befürchtet, verwechselt zu werden, wenn es von sich selbst als »ich« spricht. (Schließlich trifft die Bezeichnung »ich« in der Vorstellung des Kindes auf unzählige Menschen zu.) Daher nenne es sich so, wie es die anderen benennen und erkennen. (Benannt- und Erkanntwerden werden hier vom Kind gleichgesetzt.)341 Auch der Spracherwerb beruht auf einem anfänglichen Nachmachen als einem Nachsprechen, so Waldenfels: »Das Machen ist ursprünglich ein Nachmachen, man lernt eine Sprache, indem man sie hört. Die gehörte Sprache ist immer die Sprache des Anderen: sprechen lernt man sie, indem man spricht wie die Anderen.«342 Dies gilt ebenso für den Umgang mit Gefühlen.343 Im Miteinander mit anderen Menschen lernen wir Gefühle zu äußern, zu erkennen und zu kontrollieren. Nach Guido Rappe beruht auch die Mimesis auf Wiederholungen. Situationen kehren wieder und werden zurückgerufen. Dabei bleiben Ablagerungen sowie Spuren des Lernens im Leib zurück. Rappe zufolge bedeute die Mimesis auch einen Schlüssel zum

336 337 338 339

Vgl. Waldenfels 2000, 310. Wulf 2007, 91. Waldenfels 2000, 309. »Die ursprüngliche Art zu lernen ist ein Nachmachen, das noch nicht zwischen Eigenem und Fremdem unterscheidet, weil Eigenes und Fremdes noch gar nicht unterscheidbar sind.« Waldenfels 2000, 310. 340 Oder es benennt sich mit seinem Kosenamen – je nachdem, wie es im nächsten Umfeld genannt wird. 341 Vgl. Waldenfels 2000, 308. 342 Waldenfels 2000, 310. 343 »Entsprechendes gilt für die Sprache der Gefühle: auch Gefühlsäußerungen lernt man; man lernt, mit Gefühlen umzugehen, sie zu äußern, anzudeuten oder zurückzuhalten.« Waldenfels 2000, 310.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Gedächtnis des Menschen.344 Der Zusammenhang des mimetischen Lernens mit dem Gedächtnis hat wiederum mit der geschichtlichen Dimension des leiblichen Lernens, mit dem Lernen des kulturellen Leibes zu tun. Lernen, so lässt sich also zusammenfassend sagen, geschieht immer in einem Raum der Zwischenleiblichkeit. Denn Lernen beginnt mit unserem leiblichen Verwurzeltsein und bezieht sich als Antwortgeschehen immer schon auf das und den andere(n) und Fremde(n).

5.2.1.7

Pädagogische Konsequenzen – wie lässt sich leibliches Lernen in Schulunterricht und Unterrichtsforschung integrieren?

Wie oben erwähnt, wird der passive Anteil des Lernens nach Ansicht Meyer-Drawes im pädagogischen Kontext bisher zu wenig beachtet. Stattdessen konzentriert sich pädagogisches Handeln seit Jahren hauptsächlich auf das Lernen von technischen und funktionellen Fertigkeiten, geleitet vom Ideal eines selbstbestimmt (und ausschließlich aktiv) lernenden Subjekts. Das Lernen jedoch, das sich als Antwortgeschehen begreift, ist nicht direkt greif- und planbar. Der phänomenologische Lernbegriff stellt den Pädagogen daher im Wesentlichen vor zwei Probleme:345 1 2

Lernen aus phänomenologischer Sicht findet im Verborgenen statt. Lernen hat nicht nur aktive, sondern auch passive Anteile, die sich nicht planen oder voraussehen lassen.

Wie gehen wir damit um? Wie können wir Lernen als Erfahrung im Unterricht ermöglichen? Das Verständnis vom Lernen als Erfahrung hat uns auf den krisenhaften Aspekt des Lernens hingewiesen. Lassen sich krisenhafte Momente im pädagogischen Kontext auch auslösen oder provozieren? Wenn das leibliche, vorsprachliche Lernen durch prärationales Bedeutungserleben die Grundlage für kognitives Bedeutungsverstehen bildet, wie lässt sich das leibliche Lernen (zum Beispiel das mimetische Lernen) so in den Unterricht integrieren, dass es den Lernenden Zugänge zu Lerngegenständen eröffnet? Bevor mögliche Lösungsansätze für die aufgeworfenen Fragen vorgeschlagen werden, wird zunächst noch ein kurzer Exkurs in die phänomenologische Unterrichtsforschung gewagt. Denn wenn wir unseren gewohnten Lernbegriff im Kontext von Schule und Unterricht hinterfragen, sollte dies damit beginnen, dass wir unser unterrichtliches Handeln selbst untersuchen. Das verwendete Forschungswerkzeug muss dabei jedoch zum Gegenstand unserer Untersuchung passen. Die

344 Vgl. Rappe 2012, 235f. 345 Damit ist nicht gemeint, dass sich die Phänomenologie diese Probleme generiert, sondern dass sie schon immer bestanden haben und vom phänomenologischen Blick lediglich ins Bewusstsein gerückt werden.

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Bewegung und Musikverstehen

gefragte phänomenologische Methode ist auch hier wieder die der Deskription. »Nach dem Durchgang durch die phänomenologische Reduktion […] kann Deskription eine ›theoriefreie‹ […], voraussetzungslose und damit vorurteilsfreie Beschreibung garantieren.«346 Denn nur eine wirklichkeitsnahe und dadurch sachliche und unvoreingenommene Sichtweise auf die pädagogische Situation, die immer auch das Subjektive am forschenden Blick thematisiert (und dadurch versucht auszuklammern), wird dem pädagogischen Feld gerecht. »Phänomenologisches Fragen dimensioniert pädagogische Theorien, indem es sie in permanenter Kritik auf konkrete Erfahrungsvollzüge zurückbezieht, denen sie entstammen und für die sie verbindlich zu werden anstreben.«347 Phänomenologische Forschung im pädagogischen Bereich bedeutet daher, sein bisheriges Wissen sowie die eigenen Erwartungen an Lernprozesse zu hinterfragen und stattdessen vielmehr zu beschreiben, was sich in pädagogischer Praxis tatsächlich zeigt.348 Im Folgenden seien zwei Methoden der Unterrichtsforschung vorgestellt, die Lernen mittels einer phänomenologischen Methodik untersuchen: die sogenannte Vignettenforschung und die Phänomenographie. Mit Bezug auf Meyer-Drawe stellen sich auch Evi Agostini, Evelyn Eckart, Hans Karl Peterlini und Michael Schratz die Frage nach einer möglichen Verbindung zwischen Phänomenologie und Pädagogik. Sie entwickelten den Ansatz der Vignettenforschung, deren Ziel die Erfahrung im Lesen von Vignetten ist.349 Als »Vignetten« werden von den AutorInnen Erzählungen bezeichnet, die als phänomenologische Texte auf Protokollen von »teilnehmender Miterfahrung« beruhen. Diese werden im Anschluss von einer Forschergruppe »angereichert und verdichtet«, um sich vom subjektiven Blick des einzelnen Beobachters distanzieren zu können.350 »Als verdichtete Erzählungen von Miterfahrung tatsächlichen Handelns von Lernenden sind sie wie Beispiele, die ›jemanden auf eine Spur‹ bringen können«.351 Durch die Forschergruppe entstehen im Anschluss daran sogenannte Lektüren als Zusammenfassungen, die die durchlebten Erfahrungsmomente unter einem gewissen Gesichtspunkt auswerten und interpretieren. So können sie zum Beispiel zwischen Lehrer- und Schülererfahrung vermitteln. Diese Verschränkung der beiden Erfahrungsdimensionen soll dem von der Phänomenologie geforderten Prinzip der Responsivität gerecht werden.352 Mit der Vignette wird beabsichtigt, Erfahrungen

346 347 348 349 350 351 352

Brinkmann 2017, 20. Meyer-Drawe 1987, 39. Vgl. Danner 2006, 132. Vgl. Agostini/Eckart/Peterlini/Schratz 2017, 323ff. Vgl. Bauer/Schratz 2015, 168. Bauer/Schratz 2015, 168, mit Bezug auf Buck. Vgl. Agostini/Eckart/Peterlini/Schratz 2017, 323ff.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

im pädagogischen Kontext bewusst zu machen und zu einem bewussten Umgang mit der Subjektivität von Lernprozessen beizutragen.353 Die Vignettenforschung stellt einen Versuch dar, den Moment der Erfahrung der Schüler einzufangen. Sie bezieht sich auf Michael Schratz, der 2009 das Begriffspaar lehrseits und lernseits354 für die phänomenologisch ausgerichtete Unterrichtsforschung einführt. Was es bedeutet, Unterricht lernseits zu betrachten, erläutern Bauer und Schratz wie folgt: »Unterricht lernseits betrachtet bedingt, dass Bildung sich erst in der Auseinandersetzung mit Welt ereignet. Wer im Modus des Lernens lehrt, d.h., wer auf den einzelnen Schüler/die einzelne Schülerin ausgerichtet ist und nicht auf die Klasse oder auf den konstituierten Standardschüler, sucht den bildenden Wert im Vollzug des Lernens zu erkennen und so verantwortungsvoll zu handeln.«355 Zum Ansatz der Vignettenforschung soll an dieser Stelle noch kritisch angemerkt werden, dass die geschilderten Untersuchungen allesamt auf wortsprachlichen Beschreibungen beruhen. Gerade im Musikunterricht steht man vor dem Problem, dass sich Lernprozesse teilweise im Verborgenen abspielen und sich daher nur bedingt beschreiben lassen. Zudem entzieht sich auch die Musik selbst einer endgültigen sprachlichen Beschreibung. Ob sich der vorgestellte Ansatz also überhaupt auf den musikpädagogischen Kontext übertragen lässt, ist fraglich. Dennoch sind Beobachtungen, wie sie durch die Vignettenforschung erfolgen, hilfreich im Hinblick auf das Anknüpfen von pädagogischem Handeln an die beobachtete Situation. Zu prüfen wäre, ob sich die Beobachtungsergebnisse nicht auch direkt mit den beobachteten Lernenden gemeinsam diskutieren und so mit den Erfahrungen der Lernenden selbst abgleichen lassen. Auch der in den 1970er Jahren in Schweden entwickelte didaktische Forschungsansatz Phänomenographie wurzelt in der Phänomenologie.356 Die Phänomenographie zielt auf die Erfassung von Lernprozessen und fragt nach dem Wie des Erlebens (als ihr zentraler Begriff und Forschungsgegenstand) im Lernen: »Der Untersuchungsgegenstand der Phänomenographie ist die Variation zwischen verschiedenen Möglichkeiten, Phänomene zu erleben.«357 Die Begründer des Ansatzes berufen sich dabei auf Husserls Grundsatz der Intentionalität, darauf, dass uns die Dinge im Bewusstsein immer als etwas gegeben sind. Die Phänomenographie bezieht sich weiter auf die Horizonthaftigkeit unserer Vollzüge. Sie geht davon aus, dass wir immer etwas vor einem Hintergrund des Un-Thematischen 353 354 355 356 357

Vgl. Bauer/Schratz 2015, 169. Vgl. Bauer/Schratz 2015, 160. Bauer/Schratz 2015, 163. Das gilt unabhängig davon, dass sie zudem eine gewisse Nähe zu konstruktivistischen Ansätzen aufweist. Marton/Booth 2014, 173.

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Bewegung und Musikverstehen

thematisieren. Auch dieser Ansatz widmet sich somit der Frage, wie Thematisierungen in unserer Wahrnehmung erfolgen. Dass wir immer etwas als Gestalt oder Figur vor einem Hintergrund wahrnehmen, macht sich die Phänomenographie zunutze, indem sie konkrete Gestaltungsmöglichkeiten für den Unterricht zu entwerfen sucht, bei denen die Erlebenskomponenten eines Hintergrundes verändert werden. Dadurch kann der Lernende gleichsam seine Wahrnehmungen verwandeln. Hier geht es insbesondere darum, das bisher noch nicht Bemerkte oder das als selbstverständlich oder vertraut in den Hintergrund Gerückte in das Licht der Aufmerksamkeit zu befördern.358 Am Beispiel des Lernens von Grundschulkindern im Sachunterricht macht Murmann darauf aufmerksam, dass ein Anschluss an die lebensweltlichen Vorerfahrungen der Kinder und ihrem daraus resultierenden Verständnis der Dinge,359 nur gelingen kann, wenn zuallererst die Logik der kindlichen Wahrnehmung nachvollzogen wird. Denn Kinder gilt es in ihren Wahrnehmungen ernst zu nehmen. Für das Lernen ist es effektiver, alternative Erlebnisse zu ermöglichen, anstatt bestehende Konzepte der Kinder zu negieren. Denn diese können ihnen helfen, die eigenen Konzepte zu hinterfragen. Man kann sie beispielsweise auf Phänomene aufmerksam machen, die für sie bisher nur im Hintergrund existierten, so Murmann.360 Der Ansatz der Phänomenographie grenzt sich von Piaget und dem Konstruktivismus ab, indem behauptet wird, dass »Wissenszuwachs« allein nicht hilft, die »Relevanzstruktur eines Phänomens«361 zu verändern. Der Schlüssel zum Lernen liegt vielmehr darin, das Bekannte »mit neuen Augen«362 zu sehen. Lernen beziehungsweise Umlernen wird hier als Verwandlung von Phänomenen in der Wahrnehmung verstanden. Das Phänomenologische dieser Erkenntnis steckt in der Annahme, dass in der Wahrnehmung Erleben und Verstehen verbunden sind. Murmann spricht mit Bezug auf Husserl vom »Erleben als Einheit von Wahrnehmung und Erkenntnis«.363 Es geht in der Phänomenographie demnach auch um Varianten des Erlebens und die Variation von Erfahrung.364 Marton und Booth halten es jedoch nicht für richtig, die Phänomenographie gänzlich der Phänomenologie zuzuordnen, denn während die Phänomenologie eine philosophische Disziplin, also auch Philosophie der Erfahrung, ist, untersucht die Phänomenographie als empirische Wissenschaft das Erleben und Erfahren der Menschen ganz konkret.365 Sie fokussiert sich auf

358 Vgl. Murmann 2008, 190. 359 Dieses hält sich oft sehr hartnäckig, da es für die Kinder immer auch mit emotionalen Bedeutungen verknüpft ist. 360 Vgl. Murmann 2008, 190ff. 361 Murmann 2008, 193. 362 Murmann 2008, 193. 363 Murmann 2008, 190; Herv. im Original. 364 Vgl. Marton/Booth 2014, 174ff. 365 Vgl. Marton/Booth 2014, 181.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

das konkrete Erleben, wohingegen dies nur ein Begriff der Phänomenologie ist. Während Letztere Begriffe wie Lernen und Verstehen bewusst öffnet, mit gleicher Gewichtung das Erleben einer Person sowie die Eigenschaften ihrer Lebenswelt zu ergründen sucht, beschränkt die Phänomenographie ihren Blick bewusst auf konkrete Erlebensvollzüge und ihre differenzierende Beschreibung gegenüber anderen Möglichkeiten des Erlebens.366 Das Wesenhafte von Phänomenen ist hierbei also weniger Gegenstand des Interesses. Phänomene werden vielmehr lediglich als Vorübergehende verstanden.367 Die Ansätze der Vignettenforschung und der Phänomenographie haben dennoch beispielhaft gezeigt, wie eine Antwort auf den phänomenologischen Lernbegriff zu geben versucht wurde. Nun sollen abschließend Möglichkeiten zusammengetragen werden, die sich noch stärker auf das konkrete Unterrichtshandeln beziehen. Dies ist als Versuch zu verstehen, die Erkenntnisse zum phänomenologischen Lernbegriff nun auf die pädagogische Situation zu übertragen. Pädagogisches Handeln, hinter dem ein phänomenologisches Verständnis des Lernens steht, kann sich beispielsweise den Moment der Krisenhaftigkeit des Lernens zunutze machen, indem sie den Lernenden vor eine wirkliche Herausforderung stellt und dazu bewegt, Neues zu lernen.368 Dies setzt jedoch eine gewisse Affinität für offene und verunsichernde Momente bei der Lehrkraft selbst voraus. Denn es gibt keine Versicherung dafür, dass immer ein Weg aus der Krise gefunden wird. (Aber nur der Bruch mit der Sicherheit kann überhaupt Neues entstehen lassen.) Verunsicherungen können beispielsweise auch durch Fragen seitens der Schüler bei der Lehrkraft ausgelöst werden. Wenn pädagogisches Handeln sich vom phänomenologischen Standpunkt aus als ein Responsives versteht, so gilt es stets an die Situation anzuknüpfen. Eine Unterrichtsplanung kann sich dann spontan auch als unpassend erweisen. Zu Gunsten eines Eingehenkönnens auf entstandene Ungereimtheiten oder Fragen gilt es diese nun abzuändern, an die Situation anzupassen. Dies setzt eine Offenheit für Irritationen und eine Sensibilität für das Gehemnisvolle voraus.369 Wichtig für die genannte Haltung ist auch das Entwickeln von Interesse, einem Begehren, einem Brennen für die Sache. Dies gilt für Lehrende und Lernende gleichermaßen. Etwas weiterzugeben gelingt der Lehrkraft dann besonders gut, wenn sie selbst für die entsprechende Sache ›brennt‹.370 Lehrende und Lernende müssen sich ganz auf eine Sache einlassen, fordert Waldenfels, denn: »Erst durch

366 Dabei geht es der Phänomenographie immer um die Verschiedenheit und Vielfalt von Erlebensvollzügen der jeweils untersuchten Gruppe. Vgl. Marton/Booth 2014, 193. 367 Vgl. Marton/Booth 2014, 182. 368 Vgl. Liebau 2007, 105. 369 Vgl. Eckart/Mian 2015, 188, mit Bezug auf Meyer-Drawe. 370 Vgl. Eckart/Mian 2015, 189.

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Bewegung und Musikverstehen

das Sich-Einlassen wird etwas zu meiner Sache.«371 Damit dies möglich ist, muss zunächst (nach phänomenologischer Manier) gefragt werden, ob die Art und Weise, sich dem Lerngegenstand zuzuwenden, auch dem Gegenstand an sich gerecht wird. Abschließend seien mit Seewald für folgende zwei Aspekte des leiborientierten Lernens jeweilige Lösungsansätze formuliert: für das leiborientierte Lernen vom Leib hin zu den Dingen (im weiten Sinne) und umgekehrt für das Lernen als Bewegung zum Leib hin, das den Leib an sich thematisiert (im engen Sinne). Für das leiborientierte Lernen im weiten Sinne rät Seewald dazu, im pädagogischen Kontext daran anzuknüpfen, wie Kindern die Dinge in ihrer Lebenswelt erscheinen. Zu fragen sei dabei, aufgrund welcher Eigenschaften sie von ihnen angesprochen werden und welche Bedeutungen sie ihnen in der Wahrnehmung verleihen. Seewald fordert ein Anknüpfen an die »präreflexiven Erfahrungen der Kinder«.372 Symboltheoretisch gesagt, geht es also um das Ausdruckshafte der Welt.373 Lebensweltliche Erfahrungen des Kindes sind generell mit einem »Grundgefühl des Bedeutungsvollen« verbunden, so Seewald. Dies gilt es auf schulische Lerngegenstände zu übertragen.374 »Weiteres Lernen ist eine Umstrukturierung dieser Erfahrungen, aber kein Neuanfang. In der Konsequenz der Wertschätzung naiver lebensweltlicher Erfahrungen fällt es dann leichter, daß die Schule selbst in die kindliche Lebenswelt integriert wird.«375 Während Seewald für das leiborientierte Lernen im weiten Sinne Umgangsweisen fordert, die über die Fächergrenzen hinaus von Bedeutung sind, nennt er für das leiborientierte Lernen im engen Sinne Möglichkeiten aus den Bereichen der Wahrnehmungs- und Bewegungserziehung, die den Leib an sich thematisieren helfen. »Im Unterschied zum vorcurricularen Charakter der ersten Bedeutung von Leiborientiertheit, ließe sich die zweite und engere zum curricularen Bestandteil einer integrierten Wahrnehmungs- und Bewegungserziehung machen. Bewegungs-, Musik- und Kunsterziehung kennzeichnen den präsentativ-symbolischen Bereich schulischen Lernens und böten den Rahmen für leiborientiertes Lernen im engeren Sinne.«376 Als Beispiele nennt er hier »Situationen lustvoller Bewegungserfahrung«, »Situationen des Erfahrens der eigenen Körpergrenzen«, »Situationen der Sensibilisierung einzelner Körperteile«, »Situationen des Erfahrens von Tonusunterschieden«

371 372 373 374 375 376

Eckart/Mian 2015, 189, mit Bezug auf Waldenfels; Herv. im Original. Seewald 1992, 476. Vgl. Seewald 1992, 476. Vgl. Seewald 1992, 477. Seewald 1992, 477. Seewald 1992, 481.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

(Spannung, Entspannung etc.), »Situationen des Erfahrens von Gestaltmerkmalen des Leib- und Bewegungsgefühls«, »Situationen des sich Bewegens zur Musik«, »Situationen der Körper/Leibphantasien«, »Situationen der kommunikativen Funktion des Körpers« (betrifft die nonverbale Kommunikation) sowie »Situationen ungewöhnlicher Wahrnehmungserfahrungen«.377 Seewald betont dabei aber, dass sich beide Aspekte der Leiborientierung in der realen Situation auch überschneiden. Wichtig ist daher für beide Formen des leiborientierten Lernens, dass sie Prozesse meinen, bei denen der Lernende in »Mitleidenschaft« gezogen wird.378 Er fordert somit für die Schule ein Lernen, dass das Kind leiblich betrifft. Aufgrund der Krisenhaftigkeit von Erfahrung raten Meyer-Drawe und Seewald zu einem behutsamen Umgang mit dem Lernen. Denn Lerninhalte zu vermitteln, kann bewirken, dass der kindliche Glaube an das, was die Welt für das Kind bedeutet, erschüttert wird. Meyer-Drawe zufolge wird durch das Lernen die Weltsicht des Kindes Stück für Stück enttäuscht, da die Dinge ihm unabhängig, mit eigenem Willen entgegentreten. (Dies betrifft mit Bezug auf Meyer-Drawe die besagte »Negativität der Erfahrung«.379 ) Die Trennung beziehungsweise der Verlust des bisherigen Weltbildes wird, so Seewald, jedoch nur solange als Verlust an Geborgenheit beim Kind empfunden, bis es Wissen neu schafft und »die Erscheinung auf höherem Niveau symbolisch repräsentiert.«380 Dies wird auch als Geborgenheit auf neuer Stufe erlebt. Ein Übergang im Sinne eines Anknüpfens an die kindliche Vorerfahrung beziehungsweise Lebenswelterfahrung kann über Sprache gelingen. Dies ist beispielsweise möglich, wenn – so Seewald mit Bezug auf den Pädagogen Martin Wagenschein – die Phänomene, die als schulischer Lerngegenstand gelten, zunächst in kindgerechter Sprache beschrieben werden. Das Anknüpfen an die kindliche Muttersprache kann Geborgenheit vermitteln, das Zulernende und Zuverstehende als etwas Vertrautes erscheinen lassen. Es erleichtert dem Kind, sich die Dinge zu eigen zu machen. Das Lernen des Kindes wird außerdem, so schreibt Seewald, durch sein »Bedürfnis nach Selbstsymbolen oder selbstsymbolischen Bedeutungen«381 beeinflusst. Selbstsymbole haben für das Kind die Funktion, etwas über sich selbst zu lernen. (Als Beispiel hierfür nennt er ein besonderes Interesse des Kindes für die Aufzucht von Tierbabys, weil es sich dabei an seine eigene elterliche Pflege erinnert fühlt.) Dieser Aspekt sei im pädagogischen Kontext noch zu wenig beachtet worden, so Seewald. Den präsentativen Symbolbereich hält er im Hinblick auf den Umgang mit Selbstsymbolen jedoch für besonders geeignet. 377 378 379 380 381

Seewald 1992, 482f. Seewald 1992, 485. Seewald 1992, 486, mit Bezug auf Meyer-Drawe. Seewald 1992, 486. Seewald 1992, 487.

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Bewegung und Musikverstehen

»Leiborientiertes Lernen, besonders im engeren Sinne, bereitet Felder für den selbstsymbolischen Ausdruck. Im präsentativen Bereich ist es möglich, dem Bedürfnis nach Selbstsymbolen viel stärker nachzukommen, weil dort – symboltheoretisch gesprochen – das Symbolniveau niedriger ist und mehr Raum für Nebenbedeutungen und Mitgemeintes offen bleibt.«382 Leiborientiertes Lernen, so lässt sich mit Seewald zusammenfassen, betrifft ein Lernen über Fächergrenzen hinaus. Es beschreibt eher eine generelle, phänomenologische Erkenntnishaltung, die bei den Sachen selbst, mit der Sicht aus Kinderaugen beginnt.383 Die lebensweltlichen Erfahrungen der Kinder gilt es aufzuspüren und aufzugreifen, denn sie bilden »den unverzichtbaren Ausgangspunkt schulischen Lernens.«384 Leibliches Lernen im schulischen Rahmen bedeutet demnach Raum zu geben, um den Ausdruck, der den Dingen, die wir verstehen wollen, innewohnt, zu verstehen. Dies soll zugleich bewirken, dass die Schüler lernen, sich selbst auszudrücken und sich dabei selbst zu verstehen. Voraussetzung dafür ist ein Lernen, das die eigene Leiblichkeit spüren und wahrnehmen lässt. »Wenn also von leiblichem Lernen die Rede sein soll, geht es immer um die Bildung und Entwicklung der sinnlichen Wahrnehmung, der aktiven Handlungsfähigkeit, der Fähigkeit zur Stilisierung und Gestaltung des Auftritts, um die Fähigkeit zu körperlich-sprachlichem Ausdruck und um die Fähigkeit zur Intersubjektivität.«385 Schlagwörter für einen Unterricht, der leibliches Lernen fest verankert, sollten Begriffe sein wie Wachsamkeit, Aufmerksamkeit, Sicheinlassen oder Offenheit. Denn leibliches Lernen bedeutet kein funktionales Lernen im Sinne einer alleinigen Anpassung an Situationen, Normalisierung und Optimierung des Subjekts, sondern eine »Bildungsbewegung«.386

5.2.2

Leibliches Lernen und Musik

Auch das musikalische Lernen hat zugleich aktive und passive Anteile. Es erfordert eine wache, aufnehmende Haltung, ein Geöffnetsein für das Unerwartete, Nichtvorhersehbare oder Neue. Andernfalls würde uns im Hören von Musik nur das gewahr werden, was wir bereits kennen. Weiter entspricht auch ein musikalisches Lernen, das allein auf das Anhäufen von musikwissenschaftlichem Wissen

382 383 384 385 386

Seewald 1992, 488. Vgl. Seewald 1992, 479. Seewald 1992, 481. Liebau 2007, 102. Eckart/Mian 2015, 189.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

oder dem Trainieren bestimmter musikpraktischer beziehungsweise technischer Fertigkeiten zielt, nicht dem Bild, das die Leibphänomenologie vom Lernen hat. Wie oben beschrieben, hat leibnahes Lernen immer auch etwas mit dem Erleben von Zeitlichkeit zu tun. Für das Lernen in Bezug auf Musik als Zeit-Kunst ist die Zeitlichkeit eine zentrale Dimension. Musik lässt uns das Prinzip der Kausalität am eigenen Leib spüren, da jedes einzelne Element der Musik, jedes einzelne Klangereignis auf ein Davor und ein Danach kausal bezogen ist. Die Bildung und Entladung von Spannung in der Musik ist an ihren zeitlichen Fluss gebunden. Nur im Verlauf entstehen Zusammenhänge und Sinnbezüge – Musik lässt sich nicht anhalten und hinterlässt uns nach ihrem Verklingen nichts greifbar Bleibendes. Form in der Musik lässt sich daher nur im Vollzug erleben. Dabei können die in zeitlicher Dimension entstandenen Sinnzusammenhänge auch auf andere Dimensionen übertragen werden. Dies betrifft sinnliche Wahrnehmungen, die beim Erleben von Musik mitempfunden werden können, wie die Räumlichkeit.387 Wie wir Musik in ihrer vermittelten Räumlichkeit wahrnehmen, lässt sich zum Beispiel durch die Bewegung zur Musik (im Raum) teilweise sichtbar machen. Auf diese Weise können empfundene Verhältnisse und Sinnbezüge bewusst gemacht werden. (Später, im Kapitel 6, werden hierfür Beispiele beschrieben.) Insgesamt lässt sich mit Bezug auf Schultheis und Schmitz388 davon sprechen, dass wir Musik in leiblicher Kommunikation erfahren. Wir erleben in der Musik Situationen der Weite und der Enge und somit den Zusammenhang von Kausalität und Zeitlichkeit. Da wir erst im Nachhinein, erst dem eben schon Erklungenen Bedeutungen verleihen und immer im Hinblick auf einen erwarteten weiteren Verlauf der Musik hören, lässt sich die Musik an sich schon als ein Vollzug von Erfahrungen beschreiben. Wie musikalisches Erleben tatsächlich zu einer Erfahrung wird, die Lernen zur Folge hat, soll im Folgenden erörtert werden. Wie oben erwähnt, werden durch den phänomenologischen Blick Lernen und Verstehen sehr nahe aneinandergerückt und teilweise sogar gleichgesetzt. Auch in Bezug auf einen verstehenden Umgang mit Musik soll nun gezeigt werden, dass das leibliche Lernen als ein Verstehen des Leibes eine Tiefenschicht des Verstehens bildet, die durch kognitive Prozesse allein nicht erreicht werden würde. Mit der Beschreibung des elementaren frühkindlichen Lernens hat Schultheis aufgezeigt, welche leiblichen Potentiale ein von Natur aus gegebenes leibliches Lernen bereithält. Neben der Bewegung als grundlegendem Mittel der Welterschließung sowie dem Wahrnehmen und Empfinden ist beispielsweise auch die Aufmerksamkeit als vorrationales elementares leibliches Potential des Lernens zu betrachten. Dem kognitiven Lernen, das im klassischen Verständnis mit der Schule beginnt, 387 Die Rhythmik spricht zum Beispiel insgesamt von vier Erlebensdimensionen von Musik: Zeit, Raum, Kraft, Form. 388 Vgl. Schultheis 1998, 119.

247

248

Bewegung und Musikverstehen

soll hier nicht ein Empfindungslernen gegenübergestellt werden. Vielmehr wird dem leiblichen Lernen, nach phänomenologischer Manier, ein geistiges Moment zugestanden. Denn im Mit- und Nachvollzug von Musik erfahren wir Momente, die wir aus ihrem Kontext lösen und auf neue musikalische Situationen übertragen können. Das wiederholte Erleben führt zu einem Erkennen von musikalischen Strukturen, die zugleich gesucht und gefunden werden, noch bevor wir sie sprachlich benennen. Das wiederholte Erleben ist dabei Voraussetzung für ein Erkennen von Figur und Gestalt vor einem kontextuellen Hintergrund. Neben dem leiblichen Lernen im weiten Sinne eignet sich Musik – und Musikunterricht – auch besonders für ein leibliches Lernen im engen Sinne (nach Seewald). Gemeint sind hier beispielsweise Situationen, in denen die eigene Körperlichkeit erlebt werden kann. So können beim Bewegen zur Musik beispielsweise Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten durch Bewegung des eigenen Körpers erfahren und im Mitvollzug der Bewegungssuggestionen der Musik die Räumlichkeit des eigenen Körpers gespürt werden. Aber auch schon die angesprochene leibliche Kommunikation, das Getroffensein von Musik im Sinne des Hervorrufens und Spürens eigener leiblicher Regungen, lässt den eigenen Leib erfahren. Die im ersten Teil des Kapitels ausgewählten zentralen Begriffe des leiblichen Lernens, der Gewöhnung, Bewegung, Erfahrung und Zwischenleiblichkeit sollen im Folgenden nun auf das Lernen von Musik übertragen werden.

5.2.2.1

Zur Bedeutung des Gewöhnt-Seins und Gewöhnt-Werdens für musikbezogenes Lernen

Wir sind an Musik gewöhnt und wir gewöhnen uns an Musik. Die Voraussetzung für ein Gewöhnen ist das wiederholte Hören von Musik oder das wiederholte bewusste Tun in Bezug auf Musik (auch das Hören wird leibphänomenologisch schon als ein Tun verstanden). Beginnen wir mit der Betrachtung des Bewegens zur Musik: Durch Bewegung ist es uns möglich, uns in der Musik wie in einem Raum einzurichten, uns an die Musik als Raum, in dem wir uns zurechtfinden, zu gewöhnen. Andererseits kann auch die Bewegung helfen, unsere gewohnheitsmäßige Wahrnehmung zu überwinden. Dies ist möglich, indem wir uns zum Beispiel fragen, ob die Art und Weise, in der wir uns zur Musik bewegen, wirklich etwas mit der entsprechenden Musik zu tun hat, ob wir uns ganz auf die Musik einlassen oder uns lediglich in gewohnter oder gar stereotyper Weise parallel zur Musik bewegen und kein wirklicher, sinnstiftender Kontakt zur Musik besteht. Musik kann uns dazu veranlassen, die gewohnte Bewegungsweise aufzubrechen und dabei zugleich unsere Wahrnehmung der Musik erweitern. Ein Umgang mit dem Aspekt der Gewohnheit im musikpädagogischen Kontext stellt folglich zugleich Ziel- und Endpunkt der phänomenologischen Erkenntnishaltung in Bezug

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

auf Musik dar. Wir haben es nicht mit einer endlichen Bewegung zu tun, sondern mit einer Bewegung, die dort beginnt, wo sie zu enden scheint. So kann es zunächst Ziel von musikalischem Lernen sein, sich Strukturen einzuverleiben und sie auf diese Weise zu verstehen. Es kann aber genauso durch ein Aufspüren des jeweils Subjektiven der jeweiligen Zugangsweise zu einem Hinterfragen des Vertrauten und Gewohnten führen. Im Sinne der Epoché kann uns ein kritischer Umgang mit der eigenen Wahrnehmungsgewohnheit – das Thematisieren von Gewohnheiten und somit der eigenen Subjektivität – helfen, zur Musik an sich zu gelangen. Wie tief der Aspekt der Gewohnheit im Leib wurzelt, ist, so Merleau-Ponty, vor allem im Bereich der Instrumentalmusik zu sehen. Das oben beschriebene Beispiel vom Organisten, der sich an einem ihm noch unbekannten Instrument ›einrichtet‹, lässt den Prozess des musikalischen leiblichen Lernens in Abhängigkeit vom Aspekt der Gewöhnung nachvollziehbar werden: Sein allgemeines inkorporiertes Erfahrungswissen über den Umgang mit dem Instrument Orgel überträgt er auf die neue Situation, wobei er sich im Tun die neue Struktur des Spiels an einem anderen Instrument einverleibt. Auch hier lässt sich die Gleichzeitigkeit der beiden Bewegungsrichtungen des Lernens erkennen: Es ist immer ein Einverleiben, Sedimentieren und Sich-setzen-Lassen von Erfahrungswissen sowie das Neuschöpfen oder Verändern von Strukturen im Sinne eines Neu- oder Umlernens. Habitueller und aktueller Leib sind demnach auch im Hinblick auf den Umgang mit Musik im Vollzug des Lernens miteinander verbunden. Wichtig ist hierbei, dass dieses Lernen im Zusammenhang mit der Gewöhnung ein leibliches Lernen ist. Es erfolgt durch motorisches Tun und findet im vorreflexiven und vorsprachlichen Milieu statt. Merleau-Ponty spricht davon, dass der Musiker sein Wissen »in den Händen« hat, »das allein der leiblichen Betätigung zur Verfügung steht, ohne sich in objektive Bezeichnungen übertragen zu lassen.«389 Aus diesem Grund braucht der Organist nicht im Vorfeld die Disposition der Orgel zu studieren oder auswendig zu lernen. Waldenfels betrachtet es gar als problematisch, ein solches inkorporiertes Wissen in Sprache zu übertragen.390 (Damit benennt er eine der größten Herausforderungen des Instrumental- und Gesangsunterrichts.) Es geht hier also um ein Wissen, »das in der Tätigkeit, im Sprechen oder im Handeln selbst wirksam ist.«391 Die Wiederholung ist auch deswegen ein zentraler Begriff für musikalisches Lernen, weil sie leibliches Lernen als Erwerb und Veränderung von Gewohnheiten ermöglicht. Hierbei wird Bedeutung von etwas leiblich erfahren und so gesehen leiblich verstanden.

389 Merleau-Ponty 1966, 174. 390 Vgl. Waldenfels 2000, 169. 391 Waldenfels 2000, 170.

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Bewegung und Musikverstehen

Nun ist es jedoch auch die Intention der Kunst beziehungsweise der schaffenden KünstlerInnen mit dem Aspekt der Gewohnheit so umzugehen, dass ein Bruch mit den gewohnten Wahrnehmungs- und Verstehensweisen provoziert wird. Auch im Hinblick auf das musikalische Lernen ist das Prinzip der Gewohnheit nie ohne seinen Gegenspieler, die Spontaneität und Freiheit, zu denken. Spontaneität ist Waldenfels zufolge als ein Wesensmerkmal von Kunst zu nennen, da das Erfinderische und Künstlerische die Eigenschaft besitzt, nicht nur bestehende Regeln anzuwenden, »sondern [auch] Situationen zu definieren, neue Perspektiven zu gewinnen.«392

5.2.2.2

Zur Bedeutung des Sichbewegens für das musikbezogene leibliche Lernen

Die Bewegung als elementarste Form des kindlichen Lernens vermag es auch in Bezug auf Musik, den Dualismus zwischen Musik und Mensch, der mit ihr umgeht, zu überwinden. Denn die von der Musik suggerierte Bewegung wird als eigene empfunden. Lernen und Verstehen gehen hierbei fließend ineinander über. Musik, die zu Bewegung in jeglicher Hinsicht anregt, eignet sich also im Besonderen, um an ihr leiblich zu lernen. Über die in der Musik empfundene Bewegung ist es möglich, sich distanzlos in die Musik hineinzubegeben und hineinzufühlen, Musik zu erleben. Kinder werden beispielsweise oft sofort von rhythmisch-perkussiven Eigenschaften von Musik ergriffen, die sie direkt in eigene motorische Bewegung umsetzen. Den Zusammenhang von Empfinden und Bewegen mit dem Lernen in Bezug auf Musik beschreibt Erwin Straus wie folgt:393 Das Empfinden eines gewissen Maßes in der Musik, beeinflusst meine Bewegung und somit mein Lernen. Halte ich beispielsweise einen Ton für unsauber, werde ich etwas dafür tun (zum Beispiel meine Finger entsprechend bewegen), damit der Ton besser ›stimmt‹. Auch für die Darstellung von musikalischen Bewegungen ist in erster Linie mein Empfinden dieser dynamischen Bewegungen verantwortlich.394 Da aus phänomenologischer Sicht Bewegung und Bewegungsempfindung untrennbar miteinander verbunden sind, bildet das (Bewegungs-)Empfinden auch für einen verstehenden Umgang mit Musik die basale Zugangs- und Erkenntnisweise. Die von der Musik ausgehende Bewegungssuggestion wird empfunden und somit einverleibt beziehungsweise leiblich nachvollzogen. Empfindend antworten wir auf die musikalische Bewegung. Wie oben bereits mit Schultheis beschrieben, gilt die Bewegung als die ursprünglichste Form kindlichen Lernens. Das Medium der Bewegung ist Kindern

392 Waldenfels 2000, 207. 393 Vgl. Straus 1956, 263f. 394 Vgl. Marlovits 2001, 83.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

vertraut und kann ihnen auch eine ihnen zunächst unbekannte Musik aufschließen helfen. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass der vorliegenden Schrift die Annahme zugrunde liegt, es sei ungenau, Musik direkt mit Bewegung gleichzusetzen, wie es manche Autoren tun, die von den beschriebenen positiven Effekten des Sichbewegens zur Musik auf das Lernen und Verstehen von Musik überzeugt sind. Musik ist nicht gleich Bewegung. Sie suggeriert Bewegung als eine der Musik inhärente Illusion. Damit macht sie Einverleibung möglich und trifft den leiblich lernenden Menschen. Es lässt sich somit höchstens der Zugang zu Musik generell als Bewegung bezeichnen. Die durch Musik vermittelte Bewegung ist demnach eine subjektiv empfundene oder auch als Ausdruck dafür zu verstehen, dass Musik passiert und einen an den Faktor Zeit gebundenen Verlauf hat. Musik an sich ist wie schon oft erwähnt nicht endgültig greifbar, auch nicht im Begriff der Bewegung. Insbesondere die Rhythmik, aber auch an der Theorie des Embodiment orientierte musikpädagogische Ansätze haben bisher bereits diesen Zusammenhang vom leiblichen Lernen von Musik und Bewegung erkannt und Möglichkeiten für eine konkrete Umsetzung in der Praxis entwickelt. Auf die Autorinnen Birgitta Stummer, Helga Tervooren, Michaele Furgber, Teresa Leonhardmair, Marianne SteffenWittek oder Sabine C. Koch sei in diesem Zusammenhang beispielhaft verwiesen. Zusammenfassend lässt sich die Bewegung als Grundelement des leiblichen Lernens in Bezug auf Musik aus folgenden verschiedenen Blickrichtungen betrachten: •





die Bewegung als Denkbewegung bzw. die Prozesshaftigkeit von Vollzügen wie Wahrnehmen, Empfinden, Lernen, Erkennen und Verstehen in Bezug auf Musik (in diesem Sinne betrifft sie die unsichtbare Bewegung zwischen Musik und Mensch), die Bewegung als unsichtbarer Bestandteil oder Aspekt der Musik im Sinne einer von der Musik hervorgerufenen Bewegungssuggestion oder der Bewegungsillusion nach Langer sowie die sichtbare oder sichtbar (und somit auch bewusst) gemachte konkrete körperliche Bewegung zur Musik (wie zum Beispiel die Bewegung am Instrument, die Bewegung des Dirigierens oder die tänzerische Bewegung zur Musik).

Im Lernen sind die drei genannten Bewegungsaspekte stets miteinander in Berührung – so löst beispielsweise die Bewegung als implizite Eigenschaft von Musik die konkrete sichtbare Bewegung des Menschen aus, die wiederum dabei ein Lernen und Verstehen der Musik als Bewegung bewirkt. Im Hinblick auf das Lernen fungiert Bewegung also, um noch einmal mit Grupe und Krüger zu sprechen,

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252

Bewegung und Musikverstehen

als »Vermittlungsorgan«.395 Musikbezogenes Lernen ist Bewegung, geht aus Bewegung hervor und bewirkt Bewegung. Nach Meyer-Drawe ist der Bewegungsbegriff mit dem Erfahrungsbegriff verknüpft. Denn Lernen als Bewegung ist Lernen als Erfahrung. Im Folgenden soll auch das musikbezogene Lernen mit dem Erfahrungsbegriff in Zusammenhang gebracht werden.

5.2.2.3

Musikalische Erfahrung und Lernen aus phänomenologischer Sicht

Musikunterricht, der musikalische Erfahrungen ermöglicht, setzt Lernen als Bewegung in Gang. Dabei stellt das Lernen im Grunde unter Beweis, dass es sich um bildende Erfahrungen handelt. Folgt man der phänomenologischen Lerntheorie, so erscheint es also auch im Kontext von Musikunterricht sinnvoll, den Begriff der (musikalischen) Erfahrung ins Zentrum zu rücken. Hierbei fällt wieder ein Aspekt besonders ins Auge, der mit der Musik in wesensbestimmender Weise verbunden ist: die Wiederholung. »Die Gedächtniskunst Musik hat zunächst immer gerne die Wiederholung, die zugleich einen Lerneffekt wie eine ganzheitsbildende Symmetrie enthält.«396 In der Wiederholung erfahren wir etwas als etwas. Der Erfahrungsbegriff lässt uns bewusst werden, wie – insbesondere im Hinblick auf Musik – Lernen von Zeitlichkeit geprägt ist. Der Gegenstand des Lernens – hier die Musik, als Zeitkunst – hat immer auch etwas Vorübergehendes. Denn indem ich etwas Neues lerne, verlerne ich das bisher Gelernte. Auch ein Musikstück, das uns am Instrument ›in den Fingern‹ ist, bleibt uns beispielsweise, wenn wir es nicht immer wieder spielen, nicht als solches oder als ein spezifisches Können für immer erhalten. Somit lässt sich auch verstehen, warum Lernen im phänomenologischen Verständnis keine stete Aufwärtsbewegung im Sinne eines Noch-besser-Lernens bedeutet: Lernen ist immer Gewinn und Verlust zu gleich. Dabei ist das frühere Lernen nicht weniger wert als das aktuelle, es bedeutet vielmehr immer eine Entscheidung vor einer Vielfalt an Möglichkeiten. Somit können wir als Lehrkräfte auch von Kindern lernen – im Besonderen, was die Wahrnehmung von Musik anbelangt. Waldenfels bezweifelt jedoch, dass wir überhaupt etwas verlernen und vergessen können, da sich unsere Erfahrungen stets auf Vorerfahrungen beziehen. Das Vergangene wird von uns immer mit in die Zukunft getragen, auch wenn wir den bewussten Zugriff verlieren. Jedes Hören von Musik ist stets in einer Folge von Hörerlebnissen zu betrachten, die sich gegenseitig (vorwärts und rückwärts gewandt) beeinflussen. Wie oben beschrieben, spricht Waldenfels jedoch auch davon, dass wir unterschiedlich vergessen – dies hängt von der Intensität des Erlebens ab. Musikalische Lerninhalte, die wir intensiv leiblich erworben haben, sind danach weniger der Gefahr des Vergessens ausgesetzt. 395 Grupe/Krüger 2007, 246. 396 Dobberstein 2010, 215f.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Weiter oben wurde bereits von der Horizonthaftigkeit von Erfahrung gesprochen. Auch musikalische Erfahrungen sind immer eingebettet in ein Vorher (aller lebensweltlichen musikbezogenen Erfahrungen) und ein Nachher (aller darauffolgenden musikalischen Erfahrungen innerhalb und außerhalb von Schule und Unterricht). Auch unsere musikalische Erfahrung ist also in einem ständigen Wandel begriffen, immer in Bewegung. Folgt man Husserl, seiner Beschreibung der Zeitlichkeit von Wahrnehmung, so gehört der Erfahrungsvollzug bereits zum Wesen der Musik (siehe oben). Da musikalische Wahrnehmung und musikalische Erfahrung nach diesem Verständnis nah beieinander liegen, lässt sich folgende Bedeutung eines phänomenologisch ausgerichteten, musikbezogenen Erfahrungsbegriffs festhalten: Musikalische Erfahrungen zu machen bedeutet, Struktur und Gestalt in der Musik wahrzunehmen. Diesen Erfahrungen ist ein transformatorischer Charakter eigen, indem das Wahrgenommene unser Wahrnehmen und Erkennen in darauffolgenden Situationen beeinflusst. Diesen transformatorischen Charakter beschreibt Waldenfels auch als Potenz des Erfahrens, da erst das Wahrnehmen von Strukturen und Gestalten überhaupt Transformationen möglich macht.397 Ob jemand musikalisch erfahren ist, zeigt sich folglich an seinem Umgang mit seinen musikbezogenen Wahrnehmungen. (Welche Rolle die Wortsprache dabei spielt, soll im nächsten Kapitel erörtert werden.) Mit dem phänomenologischen Erfahrungsbegriff lässt sich außerdem beschreiben, dass Wiederholung in der Musik nicht bedeutet, dass etwas identisch wiederkehrt. Denn das, was sich wiederholt, erscheint uns in der Wiederholung (auch wenn sie gänzlich identisch mit der ersten Situation zu sein scheint) als etwas Neues, da unser Erleben immer an den zeitlichen Verlauf gebunden ist. Es ist somit immer ein anderes, erfahreneres Erleben. Dem zweiten Erleben geht ein erstes voraus und ist demnach kein, noch einmal in gleicher Weise sich ereignendes, erstes Erleben. Auf ein Beispiel aus dem Praxisprojekt, das dieser Studie zugrunde liegt, soll an dieser Stelle bereits vorweggegriffen werden: Zu einem Musikstück beschreibt ein Kind mit folgender Geschichte, wie es die Wiederholungen in der Musik erlebt: »Die musikalische Freude. Einst war das Leben in einer Stadt sehr langweilig und leer. Doch eines Tages kamen Musikanten in die Stadt und erfüllten die Stadt voller Freude. Sie tanzten und lachten. Die Musikanten lehrten manchen das, was sie taten. Eines Morgens waren sie weg. Es war wieder langweilig, leer und matt. Da dachten die Gelehrten der Musikanten daran, dass sie die Musik auch spielen können. Und so spielten sie. Die Bewohner tanzten und lachten. Und es war so schön wie niemals davor.«

397 Vgl. Waldenfels 2000, 66.

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Bewegung und Musikverstehen

Diese Geschichte zeugt von einer musikalischen Erfahrung und dokumentiert das eigene musikbezogene Lernen eines Kindes. Sie spricht für sich, dennoch sei hier Folgendes hervorgehoben: Die vom Prinzip der Wiederholung geprägte Geschichte scheint das Lernen selbst zu thematisieren. (»Die Musikanten lehrten manchen das, was sie taten.«) Die Bedeutung dieses Lernens wird den Betreffenden jedoch erst in einer neuen anderen Situation bewusst: (»Da dachten die Gelehrten der Musikanten daran, dass sie die Musik auch spielen können.«) Das Kind beschreibt damit den Aspekt der Zeitlichkeit von Lernen und die Horizonthaftigkeit von Erfahrung in eigenen Worten. Was, musikalisch gesehen, am Ende erklingt, ist die Wiederholung des ersten Teils. In der Geschichte kommt zum Ausdruck, dass das Erleben der Wiederholung keine zwei gleichen Ereignisse meint. Denn offensichtlich ist der Hörer bei der Wiederholung des musikalischen Abschnitts um eine Erfahrung reicher. An der Formulierung: »Und es war so schön wie niemals davor«, lässt sich diese andere Qualität des Erlebens des wiederholten Teiles ablesen. Mit Buck kann hier von einer tatsächlichen, bildenden musikalischen Erfahrung gesprochen werden. Es hat sich musikbezogenes Lernen vollzogen. Vogt versteht das Einfügen neuer musikalischer Erlebnisse in den Erfahrungshorizont der Kinder als Antwort auf das Erlebte. Musikunterricht sollte sich nicht das Übermitteln tradierter Hörerwartungen398 zur Aufgabe machen, sondern vielmehr zu einem schöpferischen, bewussten Umgang mit eigenen musikalischen Erfahrungen anregen.

5.2.2.4

Zusammenfassung: leibliches Lernen und Musik

Mit den folgenden Thesen sollen Möglichkeiten zusammengetragen werden, wie eine Theorie des leiblichen Lernens in den Musikunterricht integriert werden kann. •



Der Umgang mit Musik im Musikunterricht sollte für die Lernenden eine wirkliche Herausforderung bedeuten, die auch zu einem Umlernen und Hinterfragen des Gewohnten führt. (Lernen im Hinblick auf Musik als Erfahrung zu verstehen, bedeutet, dass auch im Kontext von Musikunterricht die Negativität von Erfahrung in den Vordergrund gerückt wird.) So können beispielsweise krisenhafte Situationen inszeniert werden. Musikpädagogisches Handeln versteht sich hier als responsives, das auf die Situation, die Musik und das Kind flexibel reagiert. Ein Umgang mit Musik, der ein leibliches Lernen bewirkt, fordert ein Einlassen auf die Musik als Ganzes. Mit Musik also keine ›halben Sachen‹ zu machen, bedeutet unter anderem, Musik im Ganzen hören zu lassen. Dies ist wichtig, um die einzelnen Formelemente und Sinnzusammenhänge vor dem Hintergrund einer Gesamtgestalt eines musikalischen Kunstwerks adäquat wahrzunehmen.

398 Vgl. Oberhaus 2006, 174.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?









Es wäre weiter wünschenswert, dass sich Lehrende sowie Lernende die jeweilige Musik zur eigenen Sache machten. Sie sollte für sie so bedeutungsvoll sein, dass sie sich tatsächlich für sie interessieren oder sogar ›brennen‹. Denn das leibliche natürliche Lernen des Kindes ist immer mit dem Erleben von Bedeutsamkeit verbunden. Generell ist leibliches Lernen daran zu erkennen, dass die Lernenden »in Mitleidenschaft«399 gezogen werden. Musikpädagogen sollten demnach aufmerksam auf Anzeichen achten, die darauf hindeuten, dass die Lernenden vom Lerngegenstand ›getroffen‹ beziehungsweise persönlich angesprochen werden. Hierfür benötigt die Lehrkraft neben einer guten Beobachtungsgabe auch Geduld und Zuversicht, da nicht jedes Kind im gleichen Moment und auf gleichem Wege erreicht werden kann. Jedes pädagogische Handeln muss unter diesem Gesichtspunkt als versuchsweise oder vorläufig, als ›zu erproben‹ betrachtet werden. Denn häufig zeigt sich erst im Nachhinein, welche Spuren der jeweilige Umgang mit Musik hinterlassen hat. Je intensiver das Erleben, umso größer die Wahrscheinlichkeit eines späteren Erinnerns, umso größer also das Erfahrungspotential. Über die Intensität des Vollzugs entscheidet das leibliche Involviertsein. Generell sollten sich Musikpädagogen immer fragen, ob die angebotene Art und Weise des Zugangs der Sache Musik angemessen ist. (Fraglich ist beispielsweise, ob das Ausfüllen eines Lückentextes zum historischen Kontext der Entstehung des Werkes für die Kinder auch das Werk an sich erleben lässt.) Dabei gibt es wahrscheinlich nicht den einen Zugang, der für alle Kinder gleich ansprechend ist. Es sollten daher vielfältige Zugangsmöglichkeiten angeboten werden, um die Variation von Erfahrung zu ermöglichen. Im Hinblick auf das leibliche Lernen spielen die lebensweltlichen (Vor-)Erfahrungen der Kinder eine wichtige Rolle. Sie sollten frei von jeglichen Wertungen zunächst ernst genommen und so entfaltet werden, dass sie für andere nachvollziehbar werden und das Kind selbst bewusst reflexiv mit ihnen umzugehen lernt. Auf diese Weise wird ein Lernen als Erfahrung im Sinne des Einfügens von Erlebnissen in einen Erfahrungshorizont als Umlernen und Neulernen vorbereitet. Musikunterricht sollte auch den Raum, den insbesondere das Fach Musik bietet, für leibliches Lernen im engen Sinne nutzen. Besonders geeignet sind hierfür musikalische Bewegungsspiele, in denen das Spüren des eigenen Körpers durch das Spüren von Tonusunterschieden, wie beispielsweise von Weite/Enge, Spannung/Entspannung, Begrenzung/Freiheit, in der Musik oder durch den bewegten Mitvollzug ermöglicht wird. Ein Musikunterricht, der leibliches Lernen im weiten Sinne integriert, macht immer auch leibliches Lernen im engen

399 Seewald 1992, 485.

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Bewegung und Musikverstehen



Sinne möglich, da beispielsweise durch das leibliche Getroffensein die leibliche Kommunikation, die Wahrnehmung des eigenleiblichen Spürens angeregt werden kann. Zum Umgang mit Sprache sei an dieser Stelle schon vorweggegriffen: Auch im Musikunterricht gilt es, die lebensweltnahe Alltagssprache der Kinder aufzugreifen. Besonders geeignet ist ein bildhaft-umschreibender Umgang mit Musik durch Sprache. Durch metaphorisches Sprechen beispielsweise kann Raum für vielfältige persönliche Ausdeutungen eröffnet und auch das Finden und der Umgang mit Selbstsymbolen ermöglicht werden.

5.2.2.5

Exkurs: zur Konzeption der Verständigen Musikpraxis und des Aufbauenden Musikunterrichts

Verständige Musikpraxis Die Konzeption entsteht aus einer kritischen Fortführung des handlungsorientierten Ansatzes, insbesondere durch die Arbeiten von Hermann J. Kaiser. Sie räumt dem Musikmachen im Musikunterricht einen hohen Stellenwert ein, will sich dabei jedoch von einer »blinden« oder bloß »werkelnden«400 musikalische Tätigkeit distanzieren. Als Ziel des Ansatzes betrachtet Kaiser den unbewussten »usuellen«401 , praktischen Umgang von Kindern mit Musik in einer ›verständigen‹ Musikpraxis. Musik wird dabei zuallererst als Tätigkeit verstanden. Die Konzeption macht sich also unter anderem den Umgang mit der lebensweltlichen Erfahrung der Kinder zur Aufgabe. »Im Musikunterricht soll also eine musikalisch-produktive Tätigkeit angeregt werden, die an die musikpraktischen Vorerfahrungen der Kinder anknüpft.«402 Dabei kommt es bei der Auseinandersetzung der Kinder mit ihren lebensweltlichen musikalischen Erfahrungen auch zum Umlernen und Erwerben von neuen Strukturen. Als ein Beispiel hierfür nennen Constanze Rora und Cathleen Wiese, die an den Ansatz der verständigen Musikpraxis anknüpfen und diesen im Hinblick auf die konkrete Unterrichtspraxis weiter ausdifferenzieren, das Kanonsingen. Das Singen des Liedes als bisher vertraute Tätigkeit wird beim Singen des Liedes als Kanon zu einer neuen Herausforderung.403 Rora und Wiese zufolge findet musikalische Praxis im Musikunterricht im Spannungsfeld von kognitiver und leiblicher Aktivierung statt. Als Schlüsselkategorien zur Untersuchung des Musikunterrichts im Hinblick auf Lernprozesse nennen sie das Praktizieren, Thematisieren, Unterbrechen, Auffordern404 Dabei leitet das Thematisieren kognitive und das Auffordern leibliche Prozesse des Lernens ein.405 Das Praktizieren wird 400 401 402 403 404 405

Kaiser 2001, 97. Rora/Wiese 2014, 178. Rora/Wiese 2014, 176f. Vgl. Rora/Wiese 2014, 178. Rora/Wiese 2014, 185. Vgl. Rora/Wiese 2014, 182.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

als das leibliche Lernen in Gestalt eines unhinterfragten musikalischen Tuns gesehen, das, typischerweise, ohne sprachliche Kommunikation auskommt.406 Ein »Verständis für die eigene Musikpraxis«407 erlangen die Schüler, so schreiben Rora und Wiese, wenn Praktizieren und Thematisieren im ständigen Wechsel erfolgen. Durch Unterbrechen und Auffordern wird der jeweilige Wechsel zwischen beiden Vollzugsweisen veranlasst.408 Damit zeigt die Verständige Musikpraxis in der Weiterführung durch Rora und Wiese konkrete Möglichkeiten für die Integration des leiblichen Lernens in den Musikunterricht auf. Die Begriffe für die Handlungskategorien (Praktizieren, Thematisieren, Unterbrechen und Auffordern) dienen der Strukturierung der musikpädagogischen Situation. Sie helfen, im Blick zu behalten, ob der Musikunterricht der phänomenologischen Forderung nachkommt, Lernen und Verstehen als Wechselbewegung zwischen konkretem musikalischen Vollzug und dem Einnehmen einer kritischen Distanz zum eigenen musikalischen Erleben in Gang zu setzen und fortzuführen. Diese Strukturierungshilfe ist dabei offen genug, um situativ zu handeln, Lernaktivitäten der Schüler aufspüren zu können sowie der Musik selbst bei der Strukturierung von Unterricht ein gewisses Mitspracherecht einzuräumen. Konzeption des Aufbauenden Musikunterrichts (AMU) Auch die Konzeption409 des AMU rückt das Lernen in den Fokus. Einer ihrer wichtigsten Leitsätze ist: »Lernen von Musik steht über dem Lernen über Musik«.410 Beeinflusst vom (gemäßigten) Konstruktivismus und anknüpfend an Konzeptionen des handlungsorientierten Unterrichts, steht auch beim AMU das konkrete Handeln und musikalische Tun im Vordergrund. Es wird als Grundlage für jegliches Lernen im Musikunterricht verstanden. Der Ansatz des AMU geht davon aus, dass sich Lernen im Musikunterricht in einzelne, aufeinander aufbauende Lernsequenzen aufgliedern lässt. Diese werden im Unterrichtsverlauf aneinander gereiht und somit für eine konkrete Unterrichtsplanung handhabbar gemacht. Es wird vorausgesetzt, dass sich das Lernen im Vorfeld in entsprechende Stufen unterteilen und vorausplanen lässt. Dabei wird teilweise auf übermittelte musikpsychologische Erkenntnisse sowie unter anderem auf Gruhn Bezug genommen. Der vorgegebene Lernweg bindet Schüler und Lehrer an einen Fahrplan von detailliert vorstrukturierten Unterrichtssequenzen, die an genaue Lernzielerwartungen geknüpft sind. Hierbei beruft sich der AMU auf einen Begriff von Musik, der Musik als Vermittlerin tradierter Muster begreift, 406 407 408 409

Vgl. Rora/Wiese 2014, 182f. Rora/Wiese 2014, 185. Vgl. Rora/Wiese 2014, 185. Der AMU begreift sich selbst eher nicht als abgeschlossene Konzeption, er ist vom gemäßigten Konstruktivismus beeinflusst worden. 410 Brunner 2016, 72.

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Bewegung und Musikverstehen

die losgelöst vom einzelnen Musikstück, ja sogar des Genres, als solche erlernt und angewendet werden können. Stefan Gies und Christopher Wallbaum zufolge spielen beim Umgang mit jenen Mustern Prozesse der intersubjektiven Verständigung eine entscheidende Rolle, da diese die musikalischen Muster hervorbringen. (Sie fordern deswegen auch einen offenen Umgang mit Musik, der subjektive Auslegungen, das subjektive Verständnis genauso berücksichtigt.)411 Nun werden jene Muster jedoch im Vorfeld bereits im Rahmen der Unterrichtsplanung festgelegt, was zu den Fragen veranlasst, ob man auf diese Weise der Sache Musik wirklich gerecht werden und im Umgang mit Musik tatsächlich subjektorientiert agieren kann? Gies und Wallbaum kritisieren das Konstrukt der durch Musik vermittelten und erlernbaren Muster als zu eng. Es lasse weder die Eigenaktivität und tatsächliche Beteiligung am Lernen seitens der Schüler zu, noch öffne es für einen Musikbegriff, der das Verstehen von Musik auch außerhalb des eigenen Kulturkreises fördere.412 Ein stufenweises Erlernen konkreter Muster, wie es der AMU praktiziert, widerspricht zudem gerade der Forderung der Phänomenologen, Musik als ›ganze‹ Sache zu erleben. Um den schöpferischen Charakter des Lernens, das Lernen als Erfahrung zu unterstützen, sollte Kindern ermöglicht werden, vor dem erlebten Hintergrund der ganzen Sache Musik selbst zu bemerken, wie sich einzelne Muster gestalthaft hervorheben. Sind ihnen stattdessen diese Muster bereits vorgegeben, ist anzuzweifeln, ob hier tatsächlich Erkenntnisprozesse in Gang gesetzt werden. »Der Lehrer und die Lerngruppe bleiben an eine bestimmte Sachlogik (incl. Musikbegriff) gebunden, die im wöchentlichen Üben der Muster besteht und auf die darauf bezogenen Vorhaben durchschlagen muss.«413 Situative Handlungskompetenz und Begleitung des leiblichen Lernens durch die Lehrkraft werden vom AMU eher unterbelichtet. Zwar betont auch er die Bedeutung der Erfahrung für Bildungsprozesse im Musikunterricht, doch wird der Ausgang des Lernens als Erfahrung sowie das Ziel des Weges des Lernens von den Autoren des AMU schon vorbestimmt. Lernen von Musik wird hier durch und durch didaktisiert. Es wird in die Struktur des Unterrichts hineingedacht, bevor es überhaupt stattgefunden hat. Dies erweckt außerdem den Eindruck, als würde dem Kind keinerlei eigene Lernkompetenz zugestanden. Unklar erscheint nebenbei, warum man Kinder für ein »emotionales Hören«414 vorbereiten soll, denn ihre Rezeptionsweise ist ja, phänomenologisch betrachtet, per se eine vom Empfinden geprägte. Die Fähigkeit zum leiblichen Lernen bringen Kinder als eine Gabe mit. Das Nutzen dieser natürlichen kindlichen Begabung zur distanzlosen Bezugnahme

411 412 413 414

Vgl. Gies/Wallbaum 2010, 2f. Vgl. Gies/Wallbaum 2010, 5f. Gies/Wallbaum 2010, 6. Brunner 2016, 88.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

zu einem Gegenstand, wie der Musik, sollte im Rahmen von Musikunterricht als Chance begriffen werden. Dies erfordert jedoch ein responsives musikpädagogischen Agieren, das sich nur entfalten kann, wenn es nicht durch ein Zuviel an vorgegebener Struktur (und vorweggenommener Erfahrung) verhindert wird. Es gilt vielmehr den Schwerpunkt auf das Umlernen, Neulernen und einen Umgang mit Sprache zu legen, der Kindern hilft, ihre musikalischen Erfahrungen hervorzubringen. Auch das Bild der Spirale »Handeln – Können – Wissen – Begriff«415 , auf das sich die Konzeption des AMU bezieht, kann hier nur – mit Blick auf das leibphänomenologische Lernen – kritisiert werden: Die sukzessive Reihung, bei der dem Begriff die letzte Position eingeräumt wird, suggeriert, dass es im Handeln noch keinen Begriff von etwas geben kann, sich Wissen immer erst aus einem Können ergibt. Dem steht die Annahme gegenüber, dass es leibliches Wissen und Können sowie leibliche vorrationale Begriffe gibt. Das Prinzip der Intentionalität von Handlungen begründet, warum sich im Handeln und nicht erst als eine Folge des Handelns, Begriffliches bildet. Was überhaupt unter »Begriff« in phänomenologischer Denkart zu verstehen ist und wie sich eine leibphänomenologische Sprachtheorie auf den Umgang mit Musik durch Sprache übertragen lässt, soll im nun folgenden Kapitel erörtert werden.

5.3 Musik und sprachliches Begreifen Zum Umgang mit Musik durch Sprache aus leibphänomenologischem Betrachtungswinkel 5.3.1

Gibt es ›leibliche‹ Begriffe?

Die Sprachtheorie von Merleau-Ponty wurde weiter oben (unter 3.3, »Der Leib, die Sprache und das Sprechen«) bereits umrissen. An dieser Stelle soll nun versucht werden, die aufgeführten Erkenntnisse der phänomenologischen Sprachtheorie mit denen der phänomenologischen Verstehens- und Lerntheorie zusammenzubringen. Zentral ist dabei die Frage, inwiefern »Begriff« und »Begreifen« aus phänomenologischer Sicht überhaupt an den Gebrauch der Wortsprache geknüpft sind. Der Exkurs zur Symbol- und Sprachtheorie Susanne K. Langers im zweiten Teil des Kapitels soll aufzeigen, wie sich eine phänomenologische Sprachtheorie mit Erkenntnissen der Symboltheorie nutzbringend für eine Anwendung im Kontext des Musikunterrichts ergänzen lässt.

415

Jank 2005, 102, Abb. 6.3.

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Mit der grundlegenden Einsicht der Phänomenologie, dass sich Sprache zwar der lebensweltlichen Erfahrung annähern kann, sie unserem zugrunde liegenden Erfahrungsbewusstsein jedoch immer nachsteht,416 wird eine der größten Herausforderungen für Lehrende und Lernende in pädagogischen Situationen artikuliert. Alles, was wir sprachlich zum Ausdruck bringen, ist aus phänomenologischer Sicht immer schon für uns existent, das Zur-Sprache-Bringen ein spätes Zeugnis eines schon früher ansetzenden Verstehens. Wie lässt sich im pädagogischen Kontext durch Wortsprache ein Zugang zu früheren, vorsprachlichen Erfahrungen gewinnen und inwiefern ist ein intersubjektiver, sprachlicher Austausch über individuelle Erfahrungen überhaupt möglich?

5.3.1.1

Zum phänomenologischen Begriff »Begriff«

Um etwas Licht in das Dunkel des Prozesses der Begriffsbildung zu bringen, soll zunächst geklärt werden, was unter dem Begriff »Begriff« überhaupt zu verstehen ist. In der Regel denken wir zuerst an einen sprachlichen beziehungsweise wortgebundenen Begriff. Ein Wort wird zu einem Begriff, wenn wir eine Bedeutung entfalten sowie Beziehungen und Zusammenhänge zu anderen Worten beschreiben können. Häufig wird in den Kognitionswissenschaften auch dann der Terminus »Begriff« verwendet, wenn mit diesem mentale Repräsentationen verbunden sind, die jeweils Verbindungen zu anderen Repräsentationen aufweisen.417 Ob ein Wort für uns ein Begriff ist, hat etwas mit Verstehen zu tun. Denn einen Begriff von etwas zu haben gilt in der Regel als Ergebnis des Begreifens. Dabei ist der Wortbegriff nicht mit dem Anzeichen gleichzusetzen. Denn dieses vertritt nur ein Phänomen in seinem sinnlichen Erscheinen. Der Begriff »Begriff« führt uns vielmehr zu einem Verstehen der Dinge.418 Nach Angehrn bezieht sich wirkliche Erkenntnis somit auf ein Was-etwas-ist und nicht lediglich auf ein Dass-etwas-ist. Sie ist also nur durch den Begriff möglich.419 Aus Begriffen spricht unsere Erfahrung mit dem Phänomen. So gesehen sind Begriffe wie Gefäße, in denen sich Erfahrungsniederschläge sammeln. Im Hinblick auf den bewussten Umgang mit unseren Erfahrungen können wir Begriffe wie Werkzeuge gebrauchen. Denn unser Gebrauch von Worten ist, so schreibt Angehrn, von Wiederholungen geprägt. Wir können den gleichen Begriff in einer neuen Situation erneut verwenden.420 »Verstehbar ist ein Wort, das wir nicht nur hier und jetzt verwenden, sondern das wir prinzipiell unter anderen Umständen erneut verwenden können. Sein Gebrauch ist auf Wiederholung hin

416 417 418 419 420

Vgl. Springstübe 2013, 54. Vgl. Rey 2009, 53. Vgl. Angehrn 2010, 133. Vgl. Angehrn 2010, 134. Die Phänomenologie nennt das Phänomen der Wiederholung im Zusammenhang mit der Begriffsbildung auch »Iteration« und »Idealisierung«. Vgl. Angehrn 2010, 133.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

angelegt.«421 Wir haben demnach einen Begriff von etwas, das Situationen überdauert, von einem Wesen, das sich als verbindendes Element aus verschiedenen Erfahrungsvollzügen herausbildet. Somit gelingt im Begriff der Zugang zum Allgemeinen.422 Wie ist nun aber der Begriff »Begriff« aus phänomenologischer Perspektive zu verstehen? Der Prozess des Herausbildens des Konstanten und Wesenhaften in der Variation von Erfahrungen beschreibt die Phänomenologie als Wesensschau. Im Folgenden soll nun erläutert werden, warum die Wesensschau nach Merleau-Ponty und Waldenfels immer an den Gebrauch von Sprache gebunden ist. Die Wesensschau, mit der die Begriffsbildung Hand in Hand geht, geschieht nie im Vollzug der Wahrnehmung, sondern erst im Rückblick. Sie ist als ein zweiter Schritt nach der Epoché, dem Kontakt mit der Wirklichkeit, zu verstehen. Die Distanz, die wir benötigen, um das Wesen der Dinge zu erkennen, entsteht dadurch, dass wir Sprache gebrauchen. Merleau-Ponty macht jedoch darauf aufmerksam, dass »die Wesen auch in der Sprache noch auf dem Grunde des vorprädikativen Bewußtseinslebens ruhen«.423 Er kritisiert die empiristischen und intellektualistischen Sprachtheorien hinsichtlich ihrer Behauptung, dass erst das Wort einen Sinn habe.424 Sinn werde wiederum bereits leiblich und somit vorsprachlich erfasst. So spricht er von einer Zirkularität zwischen Sinn und Sprache: Sinn ist dort gegeben, wo es etwas zu sagen gibt. Gamboa bezeichnet den Sinn deshalb, mit Bezug auf Merleau-Ponty, als »die Möglichkeit der Sprache selbst«.425 Aufgrund dieser untrennbaren Einheit von Sinn und Sprache geht Merleau-Ponty sogar so weit, das Sprechen mit dem Denken gleichzusetzen. Denn erst im Sprechen forme sich der Gedanke. Das Wort sei somit lebendige Erfahrung und nicht lediglich Zeichen eines Gedankens.426 Würde das Denken (wie von Vertretern der intellektualistischen Sprachtheorie angenommen) dem Sprechen vorausgehen, hätten wir keinen Antrieb zum Sprechen.427 Vielmehr bildet sich im Sprechen die begriffliche Bedeutung eines Wortes. Der Wortbegriff ist also nicht ohne den Vollzug von Sprache zu denken.428 Das Wort ist nach Merleau-Ponty immer »Erfahrung der Sprache« und 421 422 423 424 425

Angehrn 2010, 133. Vgl. Angehrn 2012, 133. Merleau-Ponty 1966, 12. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 210. Gamboa 2012, 30. Ähnlich argumentiert auch Emil Angehrn, wenn er behauptet: »Sprache gilt als die Instanz des Sinns par excellence. Sinn zu bilden, Sinn mitzuteilen, Sinn zu verstehen – all dies geschieht in bevorzugter Weise im Medium der Sprache.« Angehrn 2010, 138f. 426 Vgl. Gamboa 2012, 66f. 427 Vgl. Merleau-Ponty 1966, 210. 428 Selbst die Wahrheiten der Logik, wie der mathematische Algorithmus, seien erst im Vollzug, nicht bevor sie bewiesen sind, für uns existent. Vgl. Gamboa 2012, 47.

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»nicht etwas rein Gedachtes«.429 Er versteht Worte als Zeugnisse unseres leiblichen Zur-Welt-Seins und Sprache als den Leib des Denkens.430 Ihm zufolge gibt es also keinen reinen Gedanken ohne Sprache und wäre ein bloß reflexives Denken ein Denken »ohne Leib«.431 Sprache ist so gesehen also ein unverzichtbares Element unseres denkenden und verstehenden Seins zur Welt. Dies unterstreicht MerleauPonty, indem er sie mit einer leiblichen Gebärde oder Geste vergleicht.432 Da Begriffe nach phänomenologischem Verständnis immer gelebte Begriffe sind, werden sie als offen und stets wandelbar verstanden. Dies erfordert einen entsprechenden Umgang mit Begriffen, der, wie Merleau-Ponty es formuliert, ein schöpferischer sein sollte. Gamboa bezeichnet das Finden von Begriffen mit Bezug auf Merleau-Ponty daher auch als »Schöpfungsarbeit«.433 Dies erinnert an Merleau-Pontys Ausführungen zur sprechenden und gesprochenen Sprache. Sedimentierte, übermittelte Begriffe gehören der gesprochenen Sprache an. Wird jedoch ein Umgang mit Sprache gefordert, der Verstehen im Sinne von Begriffsbildung ermöglicht, Begriffe der gesprochenen Sprache immer wieder aufs Neue prüft und gegebenenfalls hinterfragt, darf die sprechende Sprache in ihrer Bedeutung der gesprochenen nicht nachstehen. In diesem Denken liegt auch Merleau-Pontys Haltung gegenüber Philosophie und Wissenschaft begründet. »Das philosophische Denken begnügt sich nicht mit den verfügbaren Bedeutungen, sondern schöpft neue Ausdrücke, um seine Erfahrung zu benennen, gerade indem es eine ›Arbeit an Begriffen‹ leistet.«434 Dabei gelangt die Philosophie mit ihrem »zu sagen haben«435 zu keinem Ende – jeglicher Gedanke eines Philosophen gilt nach dieser Vorstellung als Entwurf und ist nie fertig gedacht, so Gamboa mit Bezug auf Merleau-Ponty.436 Hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass Sprache zwar notwendig ist, um uns Erfahrungen bewusst zu machen und strukturiert, diskursiv-kausal denken zu können, dass wir die Dinge jedoch vorsprachlich bereits begreifen und verstehen. So wie uns also nur ein Sprechen als Denken die Dinge wirklich begreifen lässt, bildet nur die sprechende Sprache tatsächlich Begriffe. Nach Angehrn ist es ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, die Dinge beim Namen zu nennen, Begriffe zu bilden.437 Bei Kleinkindern spricht er gar von einem »Namenhunger«438 und beschreibt ihr Sprechenlernen als eine Phase, in der sie explosionsartig Wortschatz erwerben. »Die Lust am Finden der Worte und am 429 430 431 432 433 434 435 436 437 438

Gamboa 2012, 41f., mit Bezug auf Merlau-Ponty. Vgl. Gamboa 2012, 78. Gamboa 2012, 32. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 217. Gamboa 2012, 23. Gamboa 2012, 23. Gamboa 2012, 25. Vgl. Gamboa 2012, 25. Vgl. Angehrn 2010, 132. Angehrn 2010, 132.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Erkunden des Sprachraums ist Ausdruck des Wunsches, die Welt zu entdecken, in sie einzudringen und in ihr zu Hause zu sein.«439 Unser Erschließen der Welt durch Sprache zielt auf konstante Begriffe. Die Suche nach den ›richtigen‹ Worten wird dabei von dem Wunsch geleitet, der objektiven Wahrheit näher zu kommen. Dies ist nur in einer sozial geteilten Wirklichkeit, im Raum des Zwischenleiblichen möglich. Denn Begriffsbildung ist ohne den Aspekt der zwischenmenschlichen Verständigung (auch wenn diese nur imaginiert wird) nicht realisierbar. Mit Bezug auf Cassirers Versuch über den Menschen schreibt Angehrn: Die Sprache »bewirkt […] das Hinausgehen aus dem subjektiven Erleben in die Welt der Dinge, den Übergang von einer subjektiven zu einer objektiven Haltung im Kontakt mit der Welt.«440 Begriffe sind letztendlich erst dann Begriffe, wenn sie geteilt werden können. (Andernfalls handele es sich Georges Rey zufolge nur um »mentale Bilder«441 im Kopf eines Einzelnen.) Im Prozess der Verständigung überschreiten wir den Bereich des bloßen Erlebens und werden uns unserer eigenen Subjektivität bewusst.442 Aus diesem Grund bezeichnet Angehrn die Sprache auch als »Organ des Erkennens« und Verstehens: »Über Worte zu verfügen heißt nachdenken zu können, zu sich kommen, sich über sich und die Welt verständigen zu können. Sprache ist nicht nur Organ des Erkennens, sondern des Verstehens.«443 Seewald bezieht die phänomenologische Suche nach dem »wesensmäßigen Allgemeinen«444 daher auf die zwischenmenschliche Sprachpraxis. Er betont jedoch, dass dabei das wesensmäßig Allgemeine nicht dem begrifflichen Allgemeinen der Sprache gleichgesetzt werden darf.445 Denn da das wesensmäßig Allgemeine auf das begrifflich Allgemeine der Sprache angewiesen ist, besteht die Gefahr, dass sich das begrifflich Allgemeine der Sprache als das wesensmäßig Allgemeine an sich ausgibt. Merleau-Ponty plädiert daher für einen behutsamen Umgang mit Sprache, der das Erleben nachzeichnet und einer phänomenologischen Erkenntnishaltung verhaftet bleibt. Hier stoßen wir wieder auf die Grenzen von Sprache, die Angehrn 439 440 441 442 443 444 445

Angehrn 2010, 134. Angehrn 2010, 134. Rey 2009, 53. Vgl. Angehrn 2010, 134. Angehrn 2010, 134. Seewald 1992, 200. »Das wesensmäßig Allgemeine geht dennoch nicht im begrifflich Allgemeinen auf, obwohl dies eine dauernde Gefahr darstellt. Als Wesen stellt sich das Invariante in der Variation konkreter Erfahrung heraus. Die Variation zielt auf eine implizite Sinndimension im Beispielhaften ab und versucht sie in einem vorrangig aktiven, schöpferischen Prozeß erscheinen zu lassen. Zuweilen gibt es Umschwünge bei der Wesenserfassung, wenn sich bis dahin vereinzelter Sinn zu verbundenem Sinn zusammenfügt. Die phänomenologische Methode bleibt mit ihrem Gegenstand verbunden, sie ist eher eine Bewegung als ein festes System oder eine Technik. Als solche muß sie eingeübt werden.« Seewald 1992, 200.

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mit Bezug auf Hegel auch als Unmöglichkeit beschreibt, das wahrhaft Erscheinende, so wie es uns erscheint, zu beschreiben. »Die diskursive Verfassung unseres Erkennens verwehrt uns die Schau des Ganzen. Sprache ist als unfähig bezeichnet worden, Wahrheit zu erkennen und das wahrhaft Seiende zu beschreiben.«446 Angehrn rät daher – und diese Forderung lässt sich so auch an die Pädagogik und Musikpädagogik herantragen: »Nicht das letzte Wort zu haben, sondern das Gespräch zu öffnen, ist der Weg des Verstehens.«447 Obwohl Angehrn als Vertreter einer hermeneutischen Sprachtheorie zu nennen ist, sollte er in diesem Absatz zu Wort kommen, denn in seinem Werk Sinn und Nicht-Sinn ist der Einfluss des Denkens Merleau-Pontys deutlich zu spüren. Dennoch macht er die Sprache an sich zum Schwerpunkt seiner Untersuchung – bei Merleau-Ponty ist und bleibt es das leibliche Zur-Welt-Sein, auf das er sein Verständnis vom Wesen der Sprache zurückführt. Im Hinblick auf einen verstehenden Umgang mit Musik durch Sprache erscheint eine Betrachtung der Leiblichkeit des Sprechens beziehungsweise der Sprachlichkeit des Leibes, wie sie Merleau-Ponty betreibt, geeigneter. Insbesondere den schöpferischen Charakter der sprechenden Sprache gilt es beim Sprechen über Musik und musikalische Erfahrungen zu nutzen. Denn nur wenn Sprache als Prozess, als Denken aufgefasst wird, kann sie sich – so die These der vorliegenden Untersuchung – auch an ein musikalisches Denken anpassen.

5.3.1.2

Wort und Lernen, Wort und Erfahrung

Sprache kann dann Lernen als Erfahrung ermöglichen, wenn sie, wie Waldenfels es beschreibt, als ein »Tun«448 als Handlung und intentionale Sprachgeste zwischen Menschen begriffen wird. So wie wir mit dem Lernen nicht fertig werden, kommt auch unser Suchen nach (neuen) Worten, unser Reflektieren über Sprache zu keinem Ende. Daher versteht die Phänomenologie Sprache als (leibliche) Erfahrung – als leibliche Erfahrung des Sprechens an sich sowie als leibliche Teilhabe an den Erfahrungen anderer.449 Meyer-Drawe geht zudem davon aus, dass sich unsere Erfahrungen in der Regel sprachlich mitteilen. »Die Transitivität des Ich und des Anderen wird im gemeinsamen Sprechen besonders deutlich. Zum bevorzugten Paradigma leiblicher Koexistenz wird die Sprache deshalb, weil sich unsere Erfahrung in der Regel sprachlich mitteilt.«450 Bisweilen ist der sprachliche Austausch zwischen Menschen gerade da besonders intensiv, wo es der Sprache schwerfällt, die entsprechenden Phänomene genau zu treffen. Dies zeigt sich auch beim Gespräch über Musik. Die Sprache will 446 447 448 449

Angehrn 2010, 156. Angehrn 2010, 177. Waldenfels 1984, 7. »In konkreten sprachlichen Verständigungsvollzügen konstituiert sich eine koexistenzielle Erfahrung«. Meyer-Drawe 1987, 197. 450 Meyer-Drawe 1987, 192.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

genau festlegen und die Musik wehrt sich mehr oder weniger stark dagegen. Unsere sprachliche Auseinandersetzung mit Musik kann hier nicht zu einem Ende gelangen. Oben haben wir von der Krisenhaftigkeit, der Negativität von Erfahrung gesprochen. Lässt sich nun auch von einer Krisenhaftigkeit oder Negativität von Sprache sprechen? Lernen und Verstehen beginnen oft da, wo uns die Sprache versagt, wo wir keine Worte für das haben, was uns begegnet. Der Sinn in statu nascendi ist noch ohne Worte. Mit dem Moment der Sprachlosigkeit beginnt jedoch auch die Bewegung, die die Sprachlosigkeit überwinden will. Denn oftmals fühlen wir uns von dem, was uns zum Sprechen anregt, dazu aufgefordert, unser Schweigen zu beenden. Das, was hier als Krise beschrieben wird, birgt also genauso eine Chance in sich, denn es kann Lernen zur Folge haben. Interessant wäre nun, ob sich dieser fruchtbare Moment der Sprachlosigkeit auch im Kontext von Musikunterricht nutzen oder bewusst inszenieren lässt.451 (Im Kapitel 6 werden später beispielhaft Momente der Sprachlosigkeit beim Umgang mit Musik beschrieben.) Sprache ist zum einen also ein Medium für das Hervorbringen von Erfahrung und Erfahrung an sich. Letzteres meint damit stärker das Sprechen als die Sprache. Hier geht es um die Erfahrung des Dialogs oder um die Erfahrung des Schöpferischen an sich im Sprechen der sprechenden Sprache.452 So zeige sich, nach Gamboa mit Bezug auf Merleau-Ponty, im Dialog beispielhaft »das Wesen der Sprache als Rede«.453 Denn Sprechen bedeutet in gleicher Weise dem anderen zuzuhören. Sprache ist daher, phänomenologisch betrachtet, als ein Antwortgeschehen zu verstehen. Der Spracherwerb beim Kind geht mit dem Verstehen von Dingen in der Welt einher. Es findet Orientierung und Halt in einer Welt, in der es zunehmend eigenständig agiert und sich selbst als in seiner Lebenswelt verwurzelt erfährt. Daher erwächst Sprache scheinbar wie von selbst als Lust am Wachsen und dem Bedürfnis zu verstehen. Der frühkindliche Umgang mit Sprache, der mit dem elementaren leiblichen Lernen des Kindes verknüpft ist, hat vermutlich noch überwiegend unbewussten Charakter. Es ist vielmehr ein Tun, das sich im Tun selbst überprüft. Sprache ist dem Kind dabei vertraut und wird als etwas Organisches empfunden. Sie steht nicht als etwas, das zunächst überwunden oder bearbeitet werden muss, zwischen dem Gegenstand und dem Kind. Vielmehr fühlt sich das Kind direkt durch Sprache mit den Dingen verbunden.

451

Ein erster Schritt dahin, den Moment der Sprachlosigkeit im pädagogischen Kontext zu nutzen, ist, sein Potential zu erkennen und anzuerkennen. 452 Vgl. Gamboa 2012, 114ff. 453 Gamboa 2012, 160.

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Bewegung und Musikverstehen

Spätestens durch den Schriftspracherwerb in der Grundschule wird Sprache an sich thematisiert. Nicht selten kann man erleben, wie Kinder nun eisern an ihrem gewohnten Sprachbild, ihren gewohnten Sprachregeln festhalten wollen und es nahezu als verletzend empfinden, die ›richtige Schreibweise‹ – von ihnen als fremd empfunden – zu erlernen. Behutsam müssen hier nun Lehrer und Schüler aufeinander zugehen. Ein Anknüpfen an die lebensweltliche Erfahrung, wie oben gefordert, ist auch in Bezug auf den Umgang mit Sprache im Unterricht zu verfolgen. Denn für das leibliche Lernen, das eng mit dem konkreten Beispiel verknüpft ist, bedarf es einer Sprache, die dem Lernenden vertraut ist. Dies ist in der Regel die Mutter- und Alltagssprache. Leibliches Lernen hat weiter in der Regel Phänomene (wie die Musik) zum Gegenstand, die sich nur durch eine bildhafte metaphorische Sprache adäquat beschreiben lassen. Auch über Sprache an sich und insbesondere über die oben genannten Grenzen von Sprache sollte im pädagogischen Kontext reflektiert werden. Unterricht ist ein Ort, an dem die Lust am Verstehen durch Sprache geweckt werden kann.

5.3.1.3

Zur Sozialität von Sprache »Das Gespräch ist der Ort der Sprache.«454

Aus phänomenologischer Perspektive braucht Sprache als menschlicher Ausdruck den sozialen Raum. Denn sie ruht auf einem prärationalen und leiblich-intentionalen Zur-Welt-Sein und somit auch auf dem Sein zum jeweiligen sozialen Gefüge von Welt und Lebenswelt. Phänomenologisch wird Sprache daher als eine Handlung, ein Tun zwischen Menschen betrachtet. Merleau-Ponty bringt dies mit dem Begriff der Geste zum Ausdruck. Indem er Sprache als Geste oder leibliche Gebärde beschreibt, betont er, dass sie stets auf den anderen, stets auf ein Gegenüber bezogen ist. Er spricht von der »Übernahme der Gedanken eines Anderen im Durchgange durch das Wort«.455 So gesehen lässt sich die Sprache zum einen als Ausdruck menschlicher Beziehungen betrachten. Zum anderen spielt sie bei der Gestaltung von Beziehungen eine entscheidende Rolle, indem sie diese überhaupt entstehen lässt.456 Unsere sprachliche Kommunikation ist außerdem dadurch leibvermittelt, dass ihr eine gefühlte Beziehung (zum Beispiel das Gefühl des Vertrauens) zugrunde liegt.457 Beweis dafür ist, nach Angehrn, dass wir auch miteinander kommunizieren können, wenn wir uns nicht sehen oder uns nicht aktuell am selben Ort befinden. Dies ist beispielsweise in der Kommunikation über soziale Medien der Fall. Auch wenn wir nicht gleichzeitig sprechen können, sind doch alle Teilnehmenden 454 Angehrn 2010, 143; Herv. im Original. 455 Merleau-Ponty 1966, 212. 456 Ohne Adressaten, den Wunsch etwas mitzuteilen, würde Sprache sich nicht entwickeln, lebendig bleiben. 457 Vgl. Angehrn 2010, 147f.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

im Gespräch immer zugleich beteiligt. Grund hierfür ist, dass wir uns zeitgleich ausdrücken können. Die Art und Weise, wie sich mir jemand zuwendet, mir zuhört, beeinflusst dabei meine Rede. Denn in ihr antworte ich auf die Erwartung oder Haltung meines Gegenübers. Es agieren im Reden also immer alle Gesprächspartner aktiv, solange gesprochen wird.458 Das, was Beziehung stiftet und gestaltet, ist der Sinn, der im Ausdruck generiert wird. Mit Angehrn lässt sich sagen, der (sprachliche) Ausdruck ist Ort der Transformation unserer Erfahrung in Sinn.459 Erfahrung wird hierbei für andere und mich selbst zugänglich. Angehrn geht gar so weit zu behaupten, dass jeglicher erfahrene Sinn die soziale Dimension braucht: »Sinn wird geäußert und aufgenommen. Es gibt keine Sinnproduktion ohne (tatsächliche oder mögliche) Sinnrezeption.«460 Unser »Ausdruckswillen«461 im Sinne eines Sagen- und Bedeutenwollens, geht ihm zufolge zurück auf einen Wunsch des Selbst- und Fremdverstehens, als Motor unseres Sagenwollens und Anlass von Sprache überhaupt.462 Er spricht hier auch vom »Sinnbedürfnis« des Menschen, davon, dass die Sprache einem »Begehren« und »Versprechen« gleicht.463 »Sprechen ist von einem Wollen – und einem Vertrauen – getragen, Sinn zu stiften und Sinn zu erkennen.«464 Sprachlicher Ausdruck bedeutet für den Menschen jedoch nicht nur ein Medium der Welterschließung, sondern genauso Medium des Selbstverstehens. Denn, so legen Merleau-Ponty und Waldenfels es nahe, er kann sich nur selbst verstehen, indem er verstehend zu anderen ist. Leiblicher Ausdruck entsteht daher durch ein Verstehenwollen. Er ist dabei weder pure aktive Neuschöpfung noch pure rezeptive Nachschöpfung. Ausdruck kommt durch unseren Leib zustande – der Ausdruck ist Leib.465 Als Ort der »Selbstvergegenwärtigung« lässt sich der sprachliche Ausdruck, mit Angehrn, auch als »Ort der Reflexion«466 bezeichnen. Verstehen fungiert dabei (nach hermeneutischem Ansatz) als eine Art Erwartung. Wir begegnen einem Text oder einem Gespräch beispielsweise grundsätzlich mit der Erwartung, diesen oder dieses zu verstehen. In diese Haltung ist genauso die Möglichkeit des Scheiterns von Verstehen integriert. Angehrn bezieht sich hier auf Hans-Georg Gadamer, der

458 459 460 461 462

463 464 465 466

Vgl. Meyer-Drawe 1987, 196. Vgl. Angehrn 2010, 143. Angehrn 2010, 139. Angehrn 2010, 141. »Sein Grund [des Sprechens; Anm. A. U.-R.] ist ein Ausdruckswillen, der zugleich ein Sagenwollen und Bedeutenwollen beinhaltet, das erst den Sinn konkretisiert und entstehen lässt.« Angehrn 2010, 141. Angehrn 2010, 171ff. Angehrn 2010, 171. Vgl. Schüler 2014, 136. Angehrn 2010, 142.

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diesen von ihm so benannten »Vorgriff auf Vollkommenheit«467 als grundlegend für Verstehensprozesse betrachtet. Der Wunsch nach gänzlichem Verstehen, das Streben nach vollkommener Wahrheit basiert jedoch auf einer idealen Vorstellung, deren Umsetzung im sozialen Raum an Grenzen stößt, die Angehrn wie folgt beschreibt: »Sprache geht nicht im Ausdruck auf, sondern öffnet sich auf die ideale Dimension des Diskurses, der Objektivität und der Wahrheit.«468 Auch der Erkenntnisprozess ist abhängig vom zwischenmenschlichen Austausch – wie bereits beschrieben können Lernprozesse durch sprachliche Kommunikation angeregt werden. Wie im Lernen immer habitueller und aktueller Leib zugleich agieren, werden auch beim Sprechen sprechende und gesprochene Sprache stets miteinander verflochten. Eine Reinform beider Sprachtypen kann im Gespräch nicht existieren – nie komme es bloß zur »Nachschöpfung«, nie bloß zur »Neuschöpfung«.469 Letztlich – so lässt sich mit Gamboa hieraus schlussfolgern – bildet sich unsere Kultur im Bereich des Zwischenmenschlichen und Zwischenleiblichen aus einer wechselseitigen Verflechtung von Traditionellem und Neugeschöpftem.470

5.3.1.4

Exkurs: die Metapher – Ursprung aller Begriffe?

An dieser Stelle wird kurz auf die Metapher, als besondere Sprach- und Denkform eingegangen. Eine auf Vollständigkeit zielende Aufarbeitung der Metaphernforschung kann jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen. Es soll lediglich geprüft werden, inwiefern die Metapherntheorie mit Blick auf die (musik-)pädagogische Praxis eine Antwort auf den oben entfalteten phänomenologischen Sprachbegriff und der damit verbundenen Forderung nach einem entsprechenden schöpferischen Umgang mit Sprache im Unterricht geben kann. Als Konsequenz aus den oben genannten Erkenntnissen zum leiblichen Lernen und Verstehen sollte einem schöpferischen Umgang mit Sprache und Prozessen der Begriffsbildung im Musikunterricht besondere Beachtung geschenkt werden. Wortbegriffe sind dabei als wandelbar und offen zu verstehen. Durch das Aufgreifen und Bewusstmachen lebensweltlicher Erfahrung kann Sprache einen individuellen Zugang zu Musik ermöglichen. Ein kritisch-reflektierter Umgang mit Wortbegriffen macht die ihnen zugrunde liegende eigene und fremde Erfahrung nachvollziehbar und somit zugleich die intersubjektive Verständigung möglich. Kann dies durch den Gebrauch und die Untersuchung von Metaphern gelingen? Nach Oberschmidt gibt es keine einheitliche Metaphernforschung.471 Als Hauptströmungen nennt er die »Substitutions- oder Vergleichstheorie, die In467 468 469 470 471

Angehrn 2010, 176. Angehrn 2010, 143. Gamboa 2012, 115. Vgl. Gamboa 2012, 184. Vgl. Oberschmidt 2011, 25.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

teraktionstheorie und kognitive Metapherntheorie.«472 Der Substitutionstheorie gemäß wird mit einer Metapher das eigentliche Wort durch ein anderes ausgedrückt und somit ersetzt.473 Gemäß der Interaktionstheorie wiederum wirken Metaphern wie Filter auf unsere Wahrnehmung. Unsere Wahrnehmung wird hierbei durch die Metapher gelenkt. Indem ich beispielsweise einen Menschen als einen Wolf bezeichne, fallen mir nur bestimmte Wesensmerkmale ins Auge und treten andere dabei in den Hintergrund.474 Mit der kognitiven Metapherntheorie wird der Metapher eine neue Rolle als Erscheinung des Denkens zugesprochen. Ihre Vertreter, wie George Lakoff und Mark Johnson, sehen die Metapher als mit dem Denken unmittelbar verbunden, als Denkfigur. Sie gehen davon aus, dass metaphorische Konzepte eine Erfahrung anhand der Begriffe anderer Erfahrungsbereiche strukturieren und somit verständlich machen.475 »Das Wesen der Metapher ist das Verstehen und Erleben des einen Dings oder Vorgangs mit den Begriffen eines anderen Dings oder Vorgangs.«476 inen Überblick über den aktuellen Stand der Metaphernforschung sowie das Spektrum ihrer Rezeption in den verschiedensten Fachbereichen hat neben Oberschmidt auch Gerhard Schmitt zusammengestellt.477 Auch er beschreibt es als Verdienst Lakoffs und Johnsons, nachzuweisen, »dass der Mensch all sein Wissen und Verstehen auf der Basis basaler Grunderfahrungen generiert«.478 Da diese Erfahrungen mittels Metaphern in Konzepte transferiert werden, ist nicht die Metapher an sich, als konkretes Wort oder Sprachbild, sondern das jeweils dahinter liegende Konzept von Bedeutung, so Schmitt.479 Die durch Metaphern generierten Konzepte, als »Konzeptualisierung von Ereignissen, Handlungen, Tätigkeiten und Zuständen«,480 bilden ein Verbindungsglied zwischen schon (und unbewusst) Verstandenem und noch nicht Verstandenem.481 Sie sind, so stellen es Lakoff und Johnson heraus, vor allem in der Alltagssprache anzutreffen.482 Somit rückt die kognitive Metapherntheorie der phänomenologischen Sprachtheorie sowie dem Denken Cassirers sehr nahe. Denn auch sie geht davon aus, dass im Ursprung Denken und Sprache sowie das handelnde Zur-Welt-Sein unmittelbar miteinander verbunden sind. »Die Metapher ist primär eine Sache des Denkens

472 473 474 475 476 477 478 479 480 481 482

Oberschmidt 2011, 29. Vgl. Oberschmidt 2011, 30. Vgl. Oberschmidt 2011, 33f. Vgl. Oberschmidt 2011, 36, mit Bezug auf Lakoff/Johnson 2004. Lakoff/Johnson 2004, 13. Vgl. Schmitt 2013, 11ff. Schmitt 2013, 11. Vgl. Schmitt 2013, 11. Schmitt 2013, 12; Herv. im Original. Vgl. Schmitt 2013, 11. Vgl. Schmitt 2013, 13.

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und Handelns und erst sekundär eine sprachliche Angelegenheit.«483 Indem sie die Metapher als Denkfigur versteht und den Metaphernbegriff eng mit dem der Erfahrung verbindet, weist die Metapherntheorie von Lakoff und Johnson eine gewisse Ähnlichkeit zur phänomenologischen Sprachtheorie und zum phänomenologischen Verständnis vom Begriff »Begriff« auf. Dass sich hinter dem Begriff Metapher nicht nur ein sprachliches Ausdrucksmittel verbirgt, sondern auch die ursprüngliche Art unseres Denkens, betont schon Cassirer, indem er die sogenannte »radikale Metapher« als Grundform der sprachlichen Begriffsbildung bezeichnet. Gemeint ist, dass Sprache da entspringt, wo etwas (beispielsweise seelische Regungen) in ein dem Wahrgenommenen ursprünglich fremden Medium, dem Laut, übersetzt wird.484 Inhalte in ein ›fremdes Medium‹, wie die Sprache, zu übertragen, sei für das Hervorbringen und Verstehen von Bedeutungen unerlässlich, so Birgit Recki mit Bezug auf Cassirer.485 Auf der Ebene des Erlebens entsprechen unsere vorsprachlichen, leiblichen Erfahrungen noch nicht der kausalen, diskursiven Struktur der Sprache. Unser Empfinden, Wahrnehmen und Denken ist zunächst durchzogen von bildhaften, ganzheitlichen Vorstellungen. Auch Lakoff und Johnson zufolge sind die meisten unserer Begriffe daher bildhaften Ursprungs. »Unser Denken und Sprechen ist von impliziten und expliziten bildlichen Vorstellungen, von Imaginationen geprägt.«486 Jeder Begriff sei nach Brandstätter daher »im Ursprung als Metapher zu verstehen, insofern er auf Übertragungsprozessen beruht, die das Ähnliche zwischen Phänomenen als Verbindendes wirksam werden lassen«.487 All unsere Begriffe ruhen auf unserem Erleben auf – darin sind sich also Phänomenologie, Symbol- und Metapherntheorie einig. Im Übergang von der noch unausgesprochenen Erfahrung zum Begriff durchziehen zunächst Erinnerungsniederschläge beziehungsweise Sedimente des Erlebens unsere Gedanken. Im Übergang zum konkreten Wortbegriff fungiert die Metapher, so Jürgen Oberschmidt, als »Transportmittel«488 auf unseren Denkwegen und Gedankengängen. » Die Metapher bleibt ein Transportmittel, das lediglich Ausblicke ermöglicht und diese Ausblicke auf die begriffliche Unerreichbarkeit stets vergegenwärtigt.«489 Kehrt man die Richtung um, so können Metaphern wiederum einen Weg in das Unbewusste eröffnen, indem sie bisher noch nicht zu Bewusstsein gelangte Erfahrungen

483 Lakoff/Johnson 2004, 177. 484 Vgl. Recki 2013, 39f. 485 »Die radikale Metapher ist das in der Frage nach der Einheit der symbolischen Formen gesuchte funktionelle Prinzip der Kultur.« Recki 2013, 41. 486 Brandstätter 2008, 26. 487 Brandstätter 2008, 26. 488 Oberschmidt 2011, 15. So lautet auch die Ableitung vom Ursprung des Begriffs aus dem Neugriechischen, methaphorikos. Vgl. Oberschmidt 2011, 15. 489 Oberschmidt 2011, 15.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

vergegenwärtigen.490 Nach Ursula Brandstätter ermöglicht uns die Metapher daher, eine Art der Erfahrung durch eine andere teilweise verstehen zu können.491 Von metaphorischer Erkenntnis spricht sie vor allem in Bezug auf den verstehenden Umgang mit Kunst. Die Metapher als Denkfigur sei hier »nicht auf die Verbalsprache angewiesen«.492 Es handelt sich vielmehr um Prozesse des Erfahrens im Bereich des Handelns und Denkens.493 Lässt sich die metaphorische Sprache demnach auch als Sprache der Erfahrung und des Lernens bezeichnen? Der Transfer von (unbewussten) Konzepten auf »kognitive Sprachmuster«494 erinnert an die Beschreibungen der Prozesse des Lernens als Erfahrung. (Etwas Neues wird durch bereits Erlebtes gedeutet und dadurch fortwährend verändert.) Hier geht es um das Herstellen einer Verbindung von früheren, unbewussten, vorbegrifflichen Erfahrungen mit neuen Erfahrungsbereichen.495 Es handelt es sich beim Bilden eines metaphorischen Begriffs also um einen Lernprozess. Wie wird nun aber aus der Metapher ein Wortbegriff mit fester Denotation beziehungsweise eindeutiger Bedeutung? »Tatsächlich ist es sehr schwierig, eine klare Grenze zwischen der eigentlichen und der uneigentlichen Verwendung von Begriffen zu ziehen, da die Bedeutung von Begriffen ständig im Fluss ist, man also die ›eigentliche‹ Bedeutung eines Begriffs niemals ein für allemal fixieren kann.«496 Brandstätter beschreibt den Vorgang, wenn aus einer Metapher ein allgemeiner Begriff wird, als das »Verblassen von Metaphern«: »Durch oftmalige Verwendung werden Metaphern abgeschliffen und wandeln sich zu feststehenden Begriffen mit einer eigentlichen, das heißt neuen, wörtlichen Bedeutung.«497 Die Phänomenologie versteht Begriffe als stets offen und veränderbar. Auch Brandstätter erwähnt im Zusammenhang mit der Bildung von Metaphern, dass Begriffe im Grunde genommen einem ständigen Wandel unterliegen. Im pädagogischen Kontext scheint daher der Umgang mit Metaphern verschiedenen Forderungen der phänomenologischen Lern-, Verstehens- und Sprachtheorie gerecht zu werden. Er ermöglicht ein Anknüpfen an lebensweltliche Erfahrungen, wodurch diese überhaupt bewusst gemacht werden. Er bedeutet weiter einen Umgang mit Begriffen, der Lernen als Erfahrung ermöglicht und seinen Schwerpunkt auf die Begriffsbildung legt, die Verstehen zum Ziel hat. Auch Oberschmidt fordert mit Bezug auf Martin Wageschein ein sprachliches Agieren im Unterricht, das Lernen

490 491 492 493 494 495 496 497

Vgl. Oberschmidt 2011, 28. Vgl. Brandstätter 2008, 27, mit Bezug auf Jakoff/Johnson. Brandstätter 2008, 27. Vgl. Brandstätter 2008, 27. Schmitt 2013, 13. Vgl. Schmitt 2013, 14. Brandstätter 2008, 25. Brandstätter 2008, 25.

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ermöglicht, indem es ›neue Gleise‹ befahren hilft. Er beruft sich mit dieser Metapher auf Wagenschein, der propagiert: »Wir wollen Geleisleger erwecken, nicht Geleisfahrer machen.«498 Beim Umgang mit Metaphern im Musikunterricht kann erfahren werden, wie Sprache unser Verstehen unterstützt. Denn Metaphern können helfen, unser Denken zu strukturieren und dadurch den Weg zu einem kausaldiskursiven Denken und Verstehen ebnen.499 Ziel ist ein Unterricht, der die Schüler integriert und zu Subjekten ihres Lernens und Verstehens macht. Durch die Möglichkeit der Anknüpfung an den Bereich lebensweltlicher Erfahrung wird das Interesse der Lernenden geweckt. Sie können sich das Neue auf vertraute Weise, im Rückgriff auf Bekanntes erschließen.500 Die Metapher ermöglicht auch, den Weg von der Sprache zurück zum Erleben und zur Anschauung als »Sinneserkenntnis«501 des Erlebten zu gehen. (Wo also keine Anschauung beim Lernenden vorhanden ist, kann eine Metapher helfen und entsprechendes sinnliches Erleben und Erfahren – sozusagen nachträglich – ermöglichen). Eine hieran ansetzende Reflexion kann dann die Anschauung in einen Begriff überführen.502 In der Kunst gelangt dieser Reflexionsprozess jedoch zu keinem Ende. Daher darf der Umgang mit Metaphern nicht auf die Funktion der Veranschaulichung reduziert werden. Denn die Metapher kann sich, so warnt uns Oberschmidt, auch umkehren in ein: »Man weiß nur, was man sieht«, wenn sich die Begriffe vor die Dinge stellen.503 »Der Prozess der Wahrnehmung, das Erfüllen des Geistes mit ›mannigfaltigen Bildern‹ darf nicht durch den Versuch, die Welt auf den Begriff zu bringen, zerstört werden. […] Die Begriffe werden dabei nicht gefunden, sondern geschaffen.«504 Der phänomenologischen Forderung nach einem schöpferischen Umgang mit Sprache kann eine Theorie der Metapher, die die Metapher als schöpferischen Ausdruck versteht, gerecht werden. Die metaphorische Sprache ermöglicht zudem auch eine Reflexion über Sprache. Als schöpferischer Denkakt verstanden, ist die Metapher selbst schon eine Reflexion. Die in ihr zum Ausdruck gebrachte Anschauung ist immer schon eine reflektierte, da alte und neue Erfahrungen in Beziehung gebracht, konzeptionalisiert und interpretiert werden.

498 499 500 501 502 503 504

Wagenschein, zitiert nach Oberschmidt 2011, 15. Vgl. Oberschmidt 2011, 43. Vgl. Oberschmidt 2011, 44. Oberschmidt 2011, 240. Vgl. Oberschmidt 2011, 244. Vgl. Oberschmidt 2011, 247. Oberschmidt 2011, 249.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

5.3.1.5

Zusammenfassung: zum Verhältnis von Sprechen und Verstehen aus phänomenologischer Sicht

Nach Gadamer vollzieht sich Verstehen nur im Medium der Sprache.505 Auch Merleau-Ponty hat betont, dass uns nur im Sprechen das Wesen der Dinge habhaft wird. Der phänomenologischen Sprachtheorie gemäß liefert Sprache uns ein Mittel zum Bewusstwerden unserer noch unbewussten lebensweltlichen Erfahrungen. Sie ermöglicht uns, über das Lernen als Erfahrung an sich zu reflektieren, letztlich also über das Lernen zu lernen. »Der Übergang zur Sprache vollzieht sich über eine bestimmte Formbildung, die einen reflexiven Umgang mit Sinn ermöglicht.«506 Was Angehrn hier hervorhebt, ist, dass die Sprache den Menschen zur Reflexion befähigt. Damit eröffnet sie uns zugleich den sozialen Raum als Raum der Verständigung, des Fremd- und Selbstverstehens. Sprechen ermöglicht Angehrn zufolge somit eine »Verflüssigung des Sinns«507 , dies, indem Sinn im sozialen Feld zur Diskussion steht, aushandelbar beziehungsweise interpretierbar wird. »Im Medium der Sprache werden Sinngebilde – Werke, Theorien, Interpretationen – in kritischer Reflexion auf ihren Gehalt, ihre Konsistenz und existenzielle Bedeutsamkeit hin überprüft.«508 Sprache kann aus phänomenologischer Sicht aber nur dann zu einem Verstehen hinführen, wenn sie als sprechende beziehungsweise schöpferische Sprache lebendig bleibt. Nur dann können wir sie tatsächlich als Werkzeug zur Welterschließung nutzen, bildet sie eine Art organisches Vehikel, das uns mit der Welt verbindet. Sprache lässt sich folglich als eine Bewegung, zwischen Ich und Welt, zwischen Ich und Mit-Ich, verstehen. Die durch die Sprache erlangte Freiheit des Menschen, sich von Situationen zu lösen und Bedeutungen stiften zu können, sollte nicht einem dualistischen Denken in den Kategorien richtig und falsch zum Opfer fallen. Denn auch wenn sie uns glauben lässt, dass wir durch sie zur Wahrheit gelangen und uns aus den Fängen unserer Subjektivität befreien können, kann sie ihr Versprechen, uns eine letzte Antwort zu geben, nicht halten. Dies betrifft insbesondere den Umgang mit Musik durch Sprache. Sprache kann, wie nun aufgezeigt werden soll, uns zur Musik hinführen, sich ihr aber nicht gänzlich angleichen. Dadurch behält die Musik ihre letzten Geheimnisse immer für sich. Dennoch spielt das Sprechen über Musik für das Verstehen von Musik eine entscheidende Rolle. Im Hinblick auf den (musik-)pädagogischen Kontext, auf das Lernen in der Grundschule, interessiert hier besonders der Prozess der Begriffsbildung. In der Regel ist es die Lern- und Entwicklungspsychologie, die autorisiert

505 506 507 508

Vgl. Angehrn 2010, 128. Angehrn 2010, 125. Angehrn 2010, 128. Angehrn 2010, 128.

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wird, Fragen zur Begriffsbildung bei Kindern zu beantworten.509 Befragt man hierzu die Philosophie und insbesondere die Phänomenologie bekommt man weniger klare Antworten als vielmehr eine Hilfestellung dahingehend, noch genauer zu fragen. An dieser Stelle sei betont, dass mit den bisher gestellten Fragen eine Suche nach Möglichkeiten und nicht nach Rezepten aufgenommen wurde. Das Fragen an sich ist eine basale pädagogische Methode. In einem Unterricht, der Begriffsbildung und Verstehen bewirken will, sollten die Lehrpersonen eher gemeinsam mit den Kindern fragen, als eindeutige Antworten zu geben – insbesondere dann, wenn es keine klaren Antworten geben kann. Denn im Fragen selbst ist bereits die Antwort angelegt – bedeutet sie doch eine Antwort auf das Phänomen, das mich zum Fragen veranlasst. Fragend eröffnen wir außerdem zugleich einen weiten Raum von Möglichkeiten. In der musikpädagogischen Situation kann das Fragen eine Atmosphäre erzeugen, die Offenheit für verschiedenste individuelle Zugänge und vielfältigste Verstehensweisen vermittelt und damit jedem einzelnen Kind die Chance bietet, sich auf die Musik einzulassen. Fragen und Hinterfragen bereiten einen nahrhaften Boden, auf dem Begriffe wachsen können – um es einmal metaphorisch auszudrücken. Zur Begriffsbildung bei Kindern sollen an dieser Stelle neben der Phänomenologie kurz auch die Symboltheorien von Ernst Cassirer und Susanne K. Langer befragt werden. Es wird untersucht, inwiefern sich beide Positionen mit Blick auf eine Anwendbarkeit im musikpädagogischen Kontext möglicherweise gegenseitig ergänzen.

5.3.2

Exkurs: zur Symbol- und Sprachtheorie von Ernst Cassirer und Susanne K. Langer

Merleau-Ponty, Cassirer und Langer verbindet die Einsicht, dass das Erfassen von Sinn bereits im Bereich des Ausdrucks stattfindet. Während es bei Merleau-Ponty bereits der Leib ist, der versteht, betrachtet Cassirer die Ausdruckswahrnehmung als Boden aller Symbolfunktion. Ihm zufolge beginnt Verstehen erst mit der Ausdruckswahrnehmung als einem ersten intellektuellen Erschließen von Symbolen. Um Merleau-Pontys Leib- und Sprachtheorie mit der Symboltheorie zu verbinden, soll zunächst kurz auf das Phänomen des Ausdrucks eingegangen werden. Denn im Zusammenhang mit dem Ausdrucksbegriff lassen sich die wichtigsten Gemeinsamkeiten im Denken von Merleau-Ponty, Cassirer und Langer herausstellen. Es ist zu prüfen, inwiefern sich die Symboltheorie im Hinblick auf den oben beschriebenen Umgang mit Sprache im Kontext des leiblichen Lernens und Musikverstehens 509 Es ist vermutlich ihr naturwissenschaftlicher Bezug, der es zu erlauben scheint, konkrete Antworten geben zu können.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

eignet, die phänomenologische Sprachtheorie zu ergänzen bzw. weiterzudenken. Die Sprachtheorie Merleau-Pontys soll in diesem Zusammenhang auch kritisch betrachtet werden.

5.3.2.1

Zum Begriff des Ausdrucks als verbindenden Elements zwischen phänomenologischer und symboltheoretischer Sprachtheorie

Allen Ausdrucksformen ist gemeinsam, dass durch sie überhaupt erst Sinn generiert wird. Denn das, was zum Ausdruck gelangt, gewinnt erst im Vorgang des Ausdrückens an sinnhafter Gestalt. Man kann auch sagen, im Ausdruck geschieht die Verkörperung einer Bedeutung, die dadurch, dass sie verkörpert wird, überhaupt fassbar wird. Indem sich der Mensch ausdrückt, verlässt er den Bereich des bloßen Erlebens, womit Sinn und Bedeutung für ihn überhaupt greifbar werden. »Ausdruck ist das konkrete Medium der Selbstvergegenwärtigung wie des sinnhaften Weltbezugs. Im Ausdruck gibt der Mensch seinen Gedanken konkrete Gestalt, eignet er sich sein Denken, sein Wollen und Fühlen, den Bewandtniszusammenhang seines Weltbezuges und den Sinn seines Verhaltens an. Ausdruck ist nicht die Transposition eines präexistenten Sinns in ein äußeres Zeichensystem, sondern erst die konkrete Stiftung und Aktualisierung des Sinns; der Ausdruckswille artikuliert ein Sagen- und Bedeutenwollen, das den Sinn erst konkretisiert und für das Subjekt wirklich hervorbringt. Die Verbalisierung vollzieht sich darin in ähnlicher Weise wie die gestische Äußerung oder die Artikulation im Bild oder in der Musik; sie realisiert eine analoge Verkörperung der Bedeutung, die nur im Medium ihrer materiellen Gestaltung präsent und fassbar wird. Sich den gedanklichen Sinn unabhängig von der sprachlichen Äußerung vorzustellen wäre nach Merleau-Ponty ähnlich wie die musikalische Bedeutung einer Sonate von den sie tragenden Tönen und Rhythmen (oder den Sinn eines Bildes von den Farben und Formen) ablösen zu wollen.«510 So wie Angehrn sieht auch Merleau-Ponty im Ereignis des leiblichen Ausdrucks einen Hinweis auf ein Sinngeschehen.511 Er bezeichnet schon das Bewohnen des Raumes, das Zur-Welt-Sein des Leibes als »ursprüngliches Ausdrucksvermögen«512 . Denn jede Wahrnehmung, jedes Handeln und Verhalten und jegliche Gewohnheiten sind schon Ausdruck unserer Existenz. Dabei besitzt jeder Ausdruck eine Bedeutung, die sich im Vollzug, also im Ausdruck selbst, realisiert, ihm also nicht einfach zugeordnet ist, so Springstübe mit Bezug auf Merleau-Ponty.513 Es bedarf zuvorderst der leiblichen Erfahrung des

510 511 512 513

Angehrn 2013, 31. Vgl. Alloa/Depraz 2012, 17. Gamboa 2012, 66, mit Bezug auf Merleau-Ponty. Vgl. Springstübe 2013, 56f.

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Ausdrucks, um Bedeutungen zu erfahren.514 Auch der musikalische Ausdruck ist zunächst im Medium des Leibes erfahrbar. Merleau-Ponty nennt das Beispiel einer Sonate, deren musikalischer Bedeutung wir nur gewahr werden, wenn wir sie hören und erleben. Ohne die sie ›tragenden‹ Töne, allein durch eine (sprachbasierte) Analyse, ist uns diese Bedeutung nicht zugänglich.515 Wie gestaltet sich nun das Generieren von Sinn durch Sprache? Im sprachlichen Ausdruck wird, wie Merleau-Ponty es beschreibt, das Wort selbst zu einer Erfahrung. Damit setzt er die Erfahrung mit dem Ereignis eines neuen Sinnes gleich.516 Auch Waldenfels spricht beim Ausdruck von einem Ereignis. Denn hierbei tritt dadurch eine Bedeutung hervor, dass etwas nicht lediglich gedacht, sondern ›getätigt‹ wird.517 In diesem Sinne ist der Ausdruck – und damit auch die Sprache – generell als schöpferisch zu verstehen.518 Sinn tritt im Ausdruck in Abhängigkeit von verschiedenen Situationen und Kontexten immer wieder neu hervor.519 Denn auch, wenn durch einen sprachlichen Ausdruck Bekanntes wiederholt wird, bedeutet dies eine Veränderung beziehungsweise Neuformulierung des Bestehenden. Dies macht außerdem deutlich, wie nah sich aus phänomenologischer Sicht die Bereiche des Ausdrucks und der Wahrnehmung sind. Indem Merleau-Ponty die Wahrnehmungshandlung in die Nähe des Ausdrucks rückt, unterstreicht er genauso den schöpferischen Charakter von Wahrnehmungen. Wie im Ausdruck Ausdruck und Ausgedrücktes untrennbar zusammengehören, sind auch in der Wahrnehmung Wahrnehmung und Wahrgenommenes miteinander verbunden. »Ein Roman, ein Gedicht, ein Bild, ein Musikstück sind Individuen, d.h. Wesen, in denen Ausdruck und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind, deren Sinn nur in unmittelbarem Kontakt zugänglich ist und die ihre Bedeutung ausstrahlen, ohne ihren zeitlich-räumlichen Ort zu verlassen.«520 In seinem Spätwerk nimmt Merleau-Ponty jedoch von dieser These Abstand und räumt ein, dass ein direkter Vergleich von Ausdruck und Wahrnehmung nicht unproblematisch ist. Als kritisch ließe sich betrachten, dass Merleau-Ponty dem Ausdruck keine eigene Materialität zuspricht. Nach Springstübe liegt hierin jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen Wahrnehmung und Ausdruck: »Es

514

»Die Erfahrung der Bedeutung ist an die leibliche Erfahrung des Ausdrucks gebunden.« Springstübe 2013, 57. 515 Vgl. Merleau-Ponty 1966, 216f. 516 Vgl. Gamboa 2012, 66. 517 Vgl. Gamboa 2012, 117, mit Bezug auf Waldenfels. 518 Vgl. Gamboa 2012, 68. 519 Gamboa spricht hier mit Bezug auf Merleau-Ponty auch von der »Modulation« des Sinns unserer Wahrnehmungen in Abhängigkeit vom Kontext unserer Erfahrungen. Vgl. Gamboa 2012, 68f. 520 Merleau-Ponty 1966, 181.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

kann nicht zwischen einer Wahrnehmung und ihrem Wahrnehmungsinhalt getrennt werden […], Ausdrücke hingegen besitzen eine Materialität, welche vom Inhalt getrennt betrachtet werden kann.«521 Außerdem erkennt schon MerleauPonty, dass sich Wahrnehmung und Ausdruck dahingehend unterscheiden, dass Wahrnehmung als »Erwerb einer Welt«522 Grundlage für das Ausdrucksgeschehen ist, der Ausdruck die Wahrnehmung also überschreitet beziehungsweise erweitert. Wahrnehmungen sind noch an die individuelle Perspektive gebunden, während sich der Ausdruck zum Feld des Zwischenmenschlichen hin öffnet. Springstübe versteht daher den Ausdruck als Ereignis zwischen Leib und Welt.523 Hierbei beruft sie sich auf Cassirer und Langer. »Im Gegensatz zur Wahrnehmung machen Ausdrücke den symbolischen Weltbezug in einer Formulierung zugänglich und deshalb auch nachvollziehbar.«524 (Der Philosoph László Tengelyi spricht in diesem Zusammenhang auch von »Sinnbildung« bei Wahrnehmungserfahrungen und »Sinnstiftungen« bei Ausdrücken.525 ) Auch Cassirer und Langer sehen zwischen Wahrnehmungen und Ausdruckshandlungen einen engen Zusammenhang. Dies begründen sie damit, dass beide Vollzüge symbolisch strukturiert sind.526 Durch die Beschreibung von Symbolisierungen, so Springstübe, kann »auch das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Ausdruck verstanden werden«.527 Dabei sind schöpferische Ausdrücke, wie Kunstwerke, Ausdrücke auf niedrigem Symbolisierungsniveau unseren Wahrnehmungen und Welterfahrungen näher als sprachliche Ausdrücke. Sie können uns zu einem verstehenden Gebrauch von Sprache hinführen, indem sie uns, vor dem sprachlichen Zugriff auf das Erlebte, unsere Erfahrungen schon in einem anderen, vorsprachlichen, Medium strukturieren. Wenn Ausdruck und Wahrnehmung also so eng zusammengehören, wie verhält sich dann der Ausdruck zur Wahrheit? Wie nah können wir der Wirklichkeit im Bereich des Ausdrucks sein? Ausdrücke, so Springstübe, können die Wahrheit nie vollkommen wiedergeben. Sie müssen immer von Neuem formuliert und weitergeführt werden. Sie können sich der Wahrheit nur annähern. Wahrheit existiert also nicht per se. Auch durch den Ausdruck haben wir es lediglich mit einer Bewegung zur Wahrheit hin zu tun – sie ist stets »Wahrheit in ihrem Werden«.528 Außerdem geschieht Wahrheitsbildung nur im sozialen Raum. Denn der Ausdruck des anderen kann uns neue

521 522 523 524 525 526 527 528

Springstübe 2013, 183. Merleau-Ponty 1966, 182. Vgl. Springstübe 2013, 75. Springstübe 2013, 183. Tengelyi, zitiert nach Springstübe 2013, 184. Vgl. Springstübe 2013, 181. Springstübe 2013, 181. Springstübe 2013, 92.

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Erfahrungsdimensionen eröffnen.529 Dies erkennt auch Merleau-Ponty, indem er den Leib im Anschluss an Husserl als Ausdrucksleib bezeichnet.530 Für Norbert Meuter, der sich als Vertreter der philosophischen Anthropologie besonders intensiv mit dem menschlichen Ausdruck auseinandergesetzt hat, ist die Existenz des Menschen von expressiver Art. Ort des Ausdrucks ist ihm zufolge die Zwischenleiblichkeit. Er nennt in diesem Zusammenhang beispielsweise das Phänomen der Empathie als Basis von Moralität. »Die Existenz des Menschen ist expressiv. Der leibliche Ausdruck verbindet ihn ebenso mit seinem natürlichen Organismus wie mit seinen kulturellen Lebensformen. Der leibliche Ausdruck ist zudem Quelle seiner moralischen Existenz.«531 Das Wort erweist sich bei MerleauPonty als »Ausdrucksereignis«532 und »Ausdruck des Denkens«.533 Im zwischenmenschlichen Austausch erfassen wir leiblich eine erste Bedeutungsschicht, die erst später als eine sprachbegriffliche erkannt wird.534 Springstübe kritisiert jedoch auch Merleau-Pontys Gleichsetzung des sprachlichen Ausdrucks mit der Geste und widerspricht ihm. Denn ihrer Meinung nach verweist ein Wort, wie beispielsweise »Zorn«, lediglich auf die selbige Empfindung, ist jedoch nicht identisch mit dieser.535 Sie macht hingegen darauf aufmerksam, dass das Wort auch losgelöst vom Moment des Empfindens und Realisierens seiner Bedeutung existieren kann. Damit zweifelt sie an, dass Worte immer dem leiblichen Ausdruckserleben auf diese Weise nahekommen. Da Merleau-Ponty Worte so nah mit unserem Empfinden und Erleben verbindet, entsteht der Eindruck, Sprache sei so etwas wie ein Organ des Menschen, das ihn, einem Werkzeug gleich, mit der Welt verbindet. Man könnte daher meinen, Worten wohne eine gewisse Körperlichkeit inne. Warum das Wort im Sinne Merleau-Pontys zwar als Gebärde, jedoch nicht als Element einer Körpersprache aufgefasst werden soll, sei an dieser Stelle kurz erläutert: Merleau-Ponty grenzt seinen Begriff des Sprachleibs536 vom Begriff der Körpersprache klar ab. Bei dem Wort als Gebärde des Denkens handelt es sich, nach seinem Verständnis, um eine »Sprachgeste« und nicht um eine »Körpergeste«.537 »Denn es ist hier nicht von einer ›Körpersprache‹ die Rede, sondern von einem ›Sprachleib‹, d.h. von der leiblichen Bedeutung des Sprachzeichens. In diesem Sinne wollen wir hervorheben, dass es sich mit der Auffassung des Wortes als 529 530 531 532 533 534 535 536 537

Vgl. Merleau-Ponty 1966, 216. Vgl. Alloa/Depraz 2012, 17. Meuter 2006, 28. Gamboa 2012, 109. Gamboa 2012, 79. Vgl. Springstübe 2013, 59. Vgl. Springstübe 2013, 63. Vgl. Gamboa 2012, 77. Gamboa 2012, 79.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Geste nicht um eine bloße Metapher handelt, sondern um die Behauptung eines leiblichen Wesens der Sprache.«538 Auch Waldenfels rät in Antwortregister, die Sprache des Körpers nicht lediglich als eine Umsetzung von Sprache durch den Körper zu verstehen. Vielmehr besitzt der Leib seine eigene Sprache. Denn so wie die Dinge uns, will auch der Leib etwas sagen.539 Wenn er behauptet, nicht die Geste des Zorns, sondern den Zorn selbst zu sehen, so meint Merleau-Ponty damit, dass der Körper uns Gefühle nicht lediglich anzeigt. Ich muss nicht erst an ein Gefühl denken, ich werde ihm direkt beim Betrachten der entsprechenden gestischen Körperbewegung meines Gegenübers gewahr. Dies veranlasst Waldenfels mit Bezug auf Merleau-Ponty zu behaupten, dass hier eine »Einheit und Selbigkeit von ausdrückender Gebärde und ausgedrücktem Gefühl«540 existiert. Eine Gleichsetzung des sprachlichen Ausdrucks mit der Geste, die ein Gefühl realisiert, suggeriert jedoch, Wortsprache könne dem Erleben des Gefühls so nah sein wie der leiblich-gestische Ausdruck selbst. An dieser Stelle warnt Springstübe zurecht vor einem Widerspruch. Ist es nicht lediglich die sprechende Sprache als fungierende, leibliche Sprache, der Merleau-Ponty zuspricht, dem Ausdruck des Gefühls gleich zu sein? Denn es ist weder Körpersprache noch gesprochene begriffliche Sprache, sondern die Sprache des Leibes, in der sich Gedanken und Gefühle direkt realisieren. Anknüpfend an Springstübes Kritik soll hier vorgeschlagen werden, statt von Sprache von Sprachlichkeit zu sprechen, um dem vorzubeugen, dass uns der Begriff Sprache zu sehr ausschließlich an konkrete Wortbegriffe denken lässt. Merleau-Ponty wird mit dem Vergleich von Wort und Geste bewusst eine spannungsgeladene Metapher verwendet haben. Er führt hierbei im Prinzip Symbolisierungsniveaus zusammen, die eigentlich – im Verständnis der Symboltheorie von Cassirer und Langer – einander sogar ausschließen. Dies führt zur kritisierten Unschärfe in Merleau-Pontys Sprachtheorie. Dieser Widerspruch dient ihm jedoch als eine Art sprachliches Mittel, um einmal mehr zu betonen, dass Worte generell auf einem ursprünglichen leiblichen Erleben aufruhen. Er macht damit also vor allem auf die Art und Weise der Entstehung von Wortbegriffen aufmerksam, was an dieser Stelle als ein Verdienst seiner Sprachtheorie hervorgehoben werden soll: Indem Merleau-Ponty das Wort als Geste bezeichnet, hebt er hervor, dass jeglicher menschlicher Ausdruck auf einem leiblichen, präreflexiven Urgrund aufruht und demnach auch Sprache als Ausdruck des Leibes zu verstehen ist. Der Vergleich von Wort und Gebärde hat also, so lässt sich zusammenfassend sagen, zwei Gesichter: Zum einen betont es die Leiblichkeit der Sprache und zum anderen spricht es dem Leib eine eigene Sprachlichkeit zu. Der

538 Gamboa 2012, 77. 539 Vgl. Waldenfels 2007, 476. 540 Waldenfels 2007, 475.

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Leib als Ausdrucksmedium zeigt Gefühle, zeigt »sprachliche Geste[n]«541 an. Er ist somit kein bloß subjektives Phänomen und eröffnet auf diese Weise den Raum der Zwischenleiblichkeit. Springstübe wirft Merleau-Ponty außerdem vor, mit der Gleichsetzung von Sprache und leiblichem Ausdruck der besonderen eigenen Struktur von Sprache zu wenig Beachtung zu schenken. Als ein »Gefüge von Relationen«542 ist sie jedoch von anderen Formen des menschlichen Ausdrucks zu unterscheiden, so Springstübe. Dabei bezieht sie sich auf Ferdinand de Saussure, mit dem sich auch Merleau-Ponty auseinandersetzt. Nach Saussure lässt sich der Gedanke nicht vom Laut trennen.543 Merleau-Ponty geht jedoch davon aus, dass Bedeutungen von Ausdrücken stets nur aus den Beziehungen verschiedener Ausdrücke untereinander entstehen.544 In Der Prosa der Welt 545 beschreibt er am Beispiel der Malerei, wie die einzelnen Elemente alle zur Gesamtbedeutung des Ausdrucks des Bildes beitragen – und zwar auch die weißen Flecken oder die Pinselstriche, die der Künstler nicht setzt. Merleau-Ponty überträgt dieses Prinzip auf die Wortsprache, indem er behauptet, dass in einem Text ebenso die Wörter von Bedeutung sind, die nicht gesagt wurden.546 Springstübe zufolge wird hier von Merleau-Ponty jedoch zu wenig berücksichtigt, dass Sprache als System auch eine gewisse Eigendynamik aufweist. Unsere Verständigung wird durch ihr Regelsystem maßgeblich beeinflusst.547 Auch in diesem Zusammenhang verweist Springstübe daher auf die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks: »In der Sprache kann nie vollständig von der linguistischen Bedeutung der Wörter abgesehen werden. Deshalb kann sie auch nicht wie die Malerei die vorbegriffliche Sinnbildung der Wahrnehmung veranschaulichen.«548 Sie wirft Merleau-Ponty vor, »die unterschiedliche symbolische Struktur von Malerei und Sprache«549 zu übergehen. Wörter ohne eine linguistische Bedeutung sind nach Springstübe lediglich Laute und keine Wörter. Aus diesem Grund sieht sie die Sprachtheorie MerleauPontys als in der Symboltheorie Cassirers und Langers sinnvoll fortgesetzt. Im Folgenden werden daher nun die genannten Symboltheorien mit der Sprachtheorie Merleau-Pontys ins Verhältnis gesetzt. Hierbei soll herausgestellt werden, wie die Frage nach der Möglichkeit der Überführung einer Sprache des Leibes in konkrete Sprachbegriffe bei Cassirer und Langer Beantwortung erfährt.

541 Merleau-Ponty 1966, 220. 542 Springstübe 2013, 102ff. 543 »Das Zeichen ist die Verbindung der lautlichen mit der inhaltlichen Vorstellung.« Springstübe 2013, 103, mit Bezug auf de Saussure. 544 Vgl. Springstübe 2013, 105. 545 Vgl. Merleau-Ponty 1984, 65ff. 546 Vgl. Springstübe 2013, 106. 547 Vgl. Springstübe 2013, 107f. 548 Springstübe 2013, 153. 549 Springstübe 2013, 153.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

5.3.2.2

Zur Bildung von Begriffen aus Sicht der Symboltheorie Cassirers

Nach Springstübe werden viele Ausführungen Merleau-Pontys erst durch die Beschreibung eines theoretischen Bewusstseins verständlich. »Denn eine Gestaltung der auf uns einwirkenden Welt und somit ein Abstand zum Fluss unserer Erfahrungen ist nur möglich, wenn wir die aktuellen Erfahrungen auf vergangene Erlebnisse beziehen können.«550 Es ist aus ihrer Sicht aufschlussreich, Cassirer mit Merleau-Ponty in Verbindung zu bringen, da es so möglich wird, Merleau-Pontys Ausdruckstheorie zu differenzieren beziehungsweise konkreter zu fassen. Beide Theorien schlagen, so Springstübe, im Grunde die gleiche Richtung ein. MerleauPonty und Cassirer scheinen sich darin einig zu sein, dass »die Erfahrung der Welt keine Abbildung des Gegebenen ist«551 und mit der sinnlichen Wahrnehmung beginnt. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass es nach Cassirers Auffassung die kognitive Leistung des gestaltenden Geistes ist, die uns im Strom des Erlebens die Welt durch Bilder vermittelt. Was also bei Merleau-Ponty eine Gestaltung der Welt durch das leibliche Verhalten ist, ist bei Cassirer allein »die geistige Strukturierung unserer Welterfahrung«.552 Das Sinnliche ist bei Cassirer lediglich »Vehikel« für den geistigen Gebrauch, an sich jedoch »unsinnlich«.553 Dabei geht er mit seiner konsequenten Symboltheorie möglicherweise etwas weit. Seewald spricht auch von einer »extensiven Auslegung des Symbolbegriffs«554 durch Cassirer. Er wirft ihm vor, in jedem kleinsten phänomenalen Bereich, in jeder kleinsten Formung des Sinnlichen das Symbolische zu sehen und somit das Prinzip des Symbolischen zu konsequent zu behandeln.555 Alles spitzt sich da zu, wo Cassirer sogar den Ausdruck als symbolisch bezeichnet. »Das Dilemma kulminiert nun darin, den Ausdruck symbolisch zu nennen. […] Ist der Ausdruck symbolisch, so wird er bereits relativiert und als ›Urphänomen‹ unglaubwürdig. Ist er nicht symbolisch, so ist die Kontinuität des ideellen Orientierungsschemas gefährdet.«556 Sinnliches verschmilzt bei Cassirer zu sehr mit Sinnhaftem, wodurch die Abgrenzung beider Begriffe voneinander unklar wird, so die Kritik Seewalds.557 Hier eignet sich nun wiederum Merleau-Pontys Leibtheorie, um die Bedeutung des Sinnlich-Leiblichen wieder mehr zu betonen. »Aufgrund dieses methodischen Vorgehens eignet sich Cassirer, […] eine Brücke zu schlagen zwischen einer von ›innen‹ erfolgenden leibphänomenologischen Annäherung an das Sinnproblem und einer formalisierten, symboltheoretischen ›Außen’betrachtungsweise.«558 550 551 552 553 554 555 556 557 558

Springstübe 2013, 191. Springstübe 2013, 173. Springstübe 2013, 173. Springstübe 2013, 174. Seewald 1992, 70. Vgl. Seewald 1992, 70. Seewald 1992, 95; Herv. im Original. Vgl. Seewald 1992, 70. Seewald 1992, 71.

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Welche Erkenntnisse der Cassirer’schen Symboltheorie sind es, die die Leibphänomenologie im Hinblick auf Fragen der Begriffsbildung und des Verstehens ergänzen könnten? Bisher ließ sich durch die Vertiefung in den phänomenologischen Begriff von »Begriff« herausstellen, dass Begriffsbildung bereits im Bereich des Vorsprachlichen, im Bereich der Wahrnehmung beginnt. Etwas (Sinn, Bedeutung, Wesen) tritt für uns durch variierende Erfahrungsvollzüge hervor und bildet bereits im Übergang zum Sprachlichen eine gewisse Struktur. Auch Cassirer beschreibt dieses Phänomen und verwendet hierfür den Begriff der »symbolischen Prägnanz«.559 Mit diesem Begriff, den Springstübe als Schlüsselbegriff des Cassirer’schen Werks bezeichnet, benennt er die untrennbare Verbindung von Sinn und Sinnlichem. Das, was wir wahrnehmen, so Cassirer, trägt für uns immer eine Bedeutung in sich und ist immer auf ein Sinnganzes bezogen.560 Symbolische Prägnanz bezeichnet dabei die Art und Weise, einen nichtanschaulichen Sinn in einem sinnlichen Wahrnehmungsereignis zu erfassen. »Der Begriff der symbolischen Prägnanz läßt sich somit insgesamt als Cassirers Antwort auf die genetische Frage nach der Entstehung der Symbolisierung (im Sinne einer Strukturentwicklung) auffassen, er zielt auf den Prozeß, an dessen Ende die uns vertraute sinnhaft-symbolische Bezugnahme auf Wirklichkeit steht.«561 Das Erfassen der symbolischen Prägnanz in der Ausdruckswahrnehmung betrachtet Cassirer als die Grundvoraussetzung zur Bildung von symbolischen Formen – diese ist zu verstehen als »eine aktive kognitive Leistung eines setzenden Subjekts«,562 so Springstübe mit Bezug auf Cassirer. Bevor es zum Hervortreten einer die Situation überdauernden Gestalt kommen kann, bedarf es nach seiner Vorstellung eines Aktes der »Verdichtung« beziehungsweise »Konzentration«.563 »Die unmittelbare Erfahrung intensiviert sich zu Gestalten und erhält so eine Ordnung.«564 Cassirer betrachtet dies als den Anfang von Symbolisierungen. Meuter spricht auch von der »Kondensierung von Ausdrucksqualitäten«565 und beruft sich dabei ebenso auf Cassirer. Die hierbei hervortretenden Gestalten werden in einem nächsten Schritt, auf der Stufe der sogenannten Relationierung,566 zu anderen in Verbindung beziehungsweise Relation gesetzt. In dem Moment, wo sich dabei Inhalte vom kon-

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Cassirer 1997, 222ff., 235. Vgl. Springstübe 2013, 127. Meuter 2006, 166; Herv. im Original. Springstübe 2013, 129. Springstübe 2013, 124, mit Bezug auf Cassirer. Springstübe 2013, 124, mit Bezug auf Cassirer. Meuter 2006, 160. Vgl. Springstübe 2013, 124.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

kreten Einzelbeispiel lösen, übertragbar sowie vergleichbar werden und dadurch »nicht mehr gegenwärtige Bewusstseinsinhalte«567 zu vergegenwärtigen vermögen, haben wir es schließlich mit der »Repräsentation«568 und dem Symbol im eigentlichen Sinne zu tun. Hierfür ist nun, nach Cassirer, die Sprache ausschlaggebend. »Die Sprache ist das eigenständige und hinreichend homogenisierende Medium, das die in ihrer Eigenheit und Singularität ja durchaus unterschiedlichen Ausdrucksgestalten so weit schematisiert, daß sie sämtlich aufeinander bezogen werden können.«569 Die Sprache ist nach Cassirer daher vielmehr Mittel zur Symbolisierung und kein symbolischer Ausdruck an sich.570 Hier zeigt sich nebenbei ein neuer Bewusstseinsbegriff auch bei Cassirer: Bewusstsein setzt nach seinem Verständnis eine beginnende Symbolisierung voraus. Denn es kann nur etwas zu Bewusstsein kommen, das sich so vergegenständlichen lässt, dass es mit anderen Phänomenen vergleichbar ist. »Bewusstsein ist als solches immer nur in der Realisierung von Gegenständlichkeit und insofern bezogen auf die Materialität des Sinnlichen.«571 Mit Cassirers ausdifferenzierten Beschreibung der Symbolbildung kann das Augenmerk besonders auf den Prozess des Bildens von Symbolen gelegt werden. Der Begriff »symbolische Form« erhält hier letztlich eine doppelte Bedeutung: Zum einen betont Cassirer, dass sich in Kondensierung und Relationierung eine Form herausbildet, zum anderen weist er aber auch darauf hin, dass Symbole – und dies erinnert an das phänomenologische Verständnis von Begriff – immer Symbole in ihrem Werden sind. »Formwerden und Formgebung bilden insofern den Mittelpunkt des Cassirerschen Denkens, weil jede geistige Leistung als ein solches ›Werden zu Form‹ begriffen wird.«572 Wie hängen nun nach Cassirers Symboltheorie der Gebrauch von Sprache und das Verstehen zusammen? Indem wir das Medium Sprache gebrauchen, bewegen wir uns in dem ihr eigenen Bedeutungssystem. Wenn wir sie nutzen, um uns der erlebten Phänomene bewusst zu werden, kann es jedoch zu einer Übertragung der sprachlichen Struktur auf das Erlebte kommen. Damit beeinflusst Cassirer zufolge das diskursivkausale Denken die Wahrnehmung von Phänomenen. Diese Problematik, auf die

567 »Die Repräsentation ist also eine Vergegenwärtigung von nicht mehr gegenwärtigen Bewusstseinsinhalten, wobei ein Teil für das Ganze steht.« Springstübe 2013, 125. 568 Cassirer 1997, 127. 569 Meuter 2006, 163. 570 »Die Sprache selbst ist für Cassirer kein symbolischer Ausdruck, sondern die Form, die den konkreten Symbolen zugrunde liegt und die nur durch diese Symbolisierungen erfahrbar ist.« Springstübe 2013, 155. 571 Recki 2013, 36f. 572 Springstübe 2013, 130.

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neben Cassirer auch Merleau-Ponty hinweist, wird von Cassirer als »genetischer Fehlschluß«573 bezeichnet. »Denn nicht erst die Gegenstandswelt der Physik, sondern bereits die Dingwelt der vorwissenschaftlichen Erfahrung ist mit bestimmten Motiven der Reflexion, insbesondere mit Motiven der kausalen Deutung der Phänomene durchsetzt. So setzt sich schon hier, in einer kaum merklichen Umbildung, der genetische Gesichtspunkt an Stelle des rein phänomenalen: ein wirklicher oder vermeinter Unterschied des Ursprungs wird unmittelbar in die Struktur der Wahrnehmung hineingesehen. Die empirische Differenz in den Entstehungsbedingungen der Wahrnehmungen wird als ihr ›natürliches‹, ja als ihr einziges Klassifikationsprinzip angesehen. Die philosophische Kritik indessen, die das ›natürliche Weltbild‹ nicht einfach hinnehmen kann, sondern die nach den ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹ fragen muß, hat allen Anlaß, dieses Prinzip in Frage zu stellen, und es zum mindesten in seiner Einzigkeit und Selbstverständlichkeit zu bezweifeln.«574 Auf den sprachlichen Bereich übertragen, spricht Seewald auch vom »grammatischen«575 Fehlschluss. Er macht darauf aufmerksam, dass bei der Deutung von Phänomenen des Ausdrucks häufig auf Kategorien der Darstellungsebene zurückgegriffen wird. Dabei werden, so schreibt Seewald, »Erklärungsformen eines höheren symbolischen Niveaus unbemerkt auf Erscheinungsformen eines niedrigeren symbolischen Niveaus angewandt«.576 An dieser Stelle bleibt mit Seewald zu fragen, ob nicht auch Cassirer selbst dem genetischen beziehungsweise grammatischen Fehlschluss unterliegt, indem er über das Phänomen des Ausdrucks spricht? Nach Seewald lässt sich der Ausdruck daher nur endgültig erschließen, wenn er vollzogen wird. Neuartig bei Cassirer und auch bei Merleau-Ponty sind im Hinblick auf das Problem des genetischen Fehlschlusses Gedanken zur Fremdwahrnehmung: Anstatt das Wahrnehmen des anderen als einen Prozess der Verinnerlichung zu beschreiben, kehren sie die Richtung um. Das Fremde wird zuerst als eins mit dem Eigenen erlebt. Beide verstehen es als eine Bewegung der Äußerung, dass aus dem Fremden das Eigene hervorgeht.577 Abschließend soll kurz erwähnt werden, wie Cassirers Symboltheorie kritisiert und weitergeführt worden ist. Kritik erfolgt unter anderem durch Helmuth Plessner. Er kritisiert Cassirer dahingehend, dass »die organisch-natürliche Dimension

573 Seewald 1992, 88, mit Bezug auf Cassirer. 574 Cassirer 1997, 33f. Cassirers kritisiert hier auch den Empfindungsbegriff von Ernst Mach; Herv. im Original. 575 Vgl. Seewald 1992, 88. 576 Seewald 1992, 88. 577 Vgl. Seewald 1992, 91ff.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

des Lebens«578 für ihn im Gegensatz zur geistig-kulturellen Dimension eine untergeordnete Rolle spielt. Ähnlich lautet der Vorwurf Merleau-Pontys am Intellektualismus, in den zurückzuverfallen er Cassirer bezichtigt. In der Phänomenologie der Wahrnehmung legt Merleau-Ponty dar, warum unser Verstehen eben nicht erst durch ein Kategorienbilden und ins Verhältnissetzen von Wahrnehmungsinhalten, sondern immer zuerst durch unser leibliches Zur-Welt-Sein erfolgt.579 Seewald wirft Cassirer aus diesem Grunde vor, sein Verständnis vom Symbolischen kollidiere mit dem konventionellen Verständnis vom Symbol »als Vermittler und Stellvertreter des Symbolisierten und als Ausdruck einer gedanklichen Formung«.580 Cassirers Symboltheorie bleibt daher, so Seewald, »auf eine (leib-)phänomenologische Ausbalancierung angewiesen«.581 Cassirers Theorie der Symbolbildung, das Prinzip der symbolischen Prägnanz und seine Gedanken zur Form sind unter anderem durch Oswald Schwemmer aufgegriffen und weitergedacht worden. In seinem Werk Das Ereignis der Form macht er die Erkenntnis der Phänomenologie und Cassirers Symboltheorie, dass Sinn in der Formbildung bereits im Bereich der Wahrnehmung geschieht, zur zentralen These. Er hebt dabei genauso hervor, dass die Sinnstiftung und Formbildung ein erster Schritt dahingehend ist, dass sich das jeweilige Subjekt von den eigenen Intentionen löst.582 Dieses Phänomen erklärt er mit Bezug auf Cassirer damit, dass der Selbstheit der Subjekte eine »Eigenheit« beziehungsweise »Andersheit«583 der Form gegenübersteht. Sinnlichkeit und Sinn sind dabei ineinander verschränkt.584 Das Ausdrücken und Erfassen von Sinn ist demnach an eine »sinnliche Verkörperung«585 von Sinn gebunden. Schwemmer geht schließlich so weit, zu behaupten: »Wahrnehmung […] ist Formbildung. Ohne Form ist überhaupt keine Wahrnehmung möglich.«586 Für das Herausbilden von Form im Ereignis der Wahrnehmung macht Schwemmer »korrespondierende Momente« verantwortlich. »Das Ereignis des Wahrnehmens wird zu einer Form, wenn sich im Wahrnehmen korrespondierende Momente entwickeln, die aufeinander verweisen. Die Linie, die sich krümmt, der Farbtupfer, der sich ausbreitet, sind dynamische Spannungen.«587 Das Prinzip des Korrespondierens erläutert er am Beispiel des Tons beziehungsweise Klanges. Einen bestimmten Klang können wir deshalb als Formereignis wahrnehmen, da

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Meuter 2006, 130. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 155ff. Seewald 1992, 94. Seewald 1992, 95f. Vgl. Schwemmer 2011, 107. Schwemmer 2011, 107. Vgl. Schwemmer 2011, 107. Schwemmer 2011, 107. Schwemmer 2011, 111. Schwemmer 2011, 124; Herv. im Original.

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dieser sich für uns auf andere Hörereignisse bezieht, im Verhältnis zu diesen bestimmte Klangeigenschaften aufweist.588 Das, was wir als formbildendes Moment in der Wahrnehmung bezeichnen können, ist demnach ein dynamisches. Dies betont erneut den schöpferischen Charakter von Wahrnehmungen und erklärt zugleich, warum sich Form (und somit auch der Begriff) immer wieder neu bildet: Jeder Situation wohnen neue Korrespondenzverhältnisse inne. Sprache bietet uns nun ein System, in dem die kleinsten Sinneinheiten ebenso durch Korrespondenzverhältnisse ins Verhältnis zu anderen Elementen und dem Ganzen der jeweiligen sprachlichen Form gesetzt werden. Daher eignet sich Sprache, um entsprechende Korrespondenzverhältnisse bewusst zu machen. Sie sollte dabei jedoch so nah an der Wahrnehmung bleiben, dass sie Prozesse der Formbildung begleitet und nicht – wie bei Cassirer mit dem Prinzip des genetischen Fehlschlusses erwähnt – dem Wahrgenommenen lediglich eine Form überstülpt. Um zu einer möglichen Übertragung der Symbolbildung, der sprachlichen Formbildung und des Herausstellens von Korrespondenzverhältnissen durch Sprache nach Cassirer und Schwemmer auf einen Umgang mit Musik durch Sprache hinzuführen, soll an dieser Stelle nun auf die Symboltheorie von Susanne K. Langer eingegangen werden. Denn ihr Verdienst ist, neben der Beschreibung der Symbolmodi (präsentativer und diskursiver Symbolismus), die Theorie der Symbolbildung auf den Bereich der Kunst – insbesondere der Musik – auszuweiten. Dabei wird es im Rahmen dieser Studie als gewinnbringend erachtet, mit Langer die Symbolformen Sprache und Musik genau zu beschreiben und dabei wichtige Unterschiede zwischen beiden herauszustellen. Im Hinblick auf die sprachliche Begriffsbildung an Musik ist bedeutsam, dass Langer (vorsprachlichen) Begriffen auf gleichem Symbolisierungsniveau die Funktion zuspricht, Strukturen in verschiedene Erfahrungsmodi zu transferieren und somit bewusst machen zu können. Dies bestätigt, dass die leiblichen, an Musik gebildeten, vorsprachlichen Begriffe für spätere konkrete Wortbegriffe Grundvoraussetzung sind.

5.3.2.3

Zu Langers Sprach-und Symboltheorie

Die Symboltheorie von Susanne K. Langer nimmt zwischen Merleau-Ponty und Cassirer eine Art Vermittlerrolle ein. Im Gegensatz zu Merleau-Ponty geht sie nicht davon aus, dass sich die menschliche Existenz allein durch sein leibliches Zur-WeltSein erklärt. Stattdessen ist sie mit Cassirer der Meinung, dass der Prozess der Symbolisierung für das Verstehen von Weltverhältnissen grundlegend ist.589 Besonders intensiv beschäftigt sich Langer mit dem Bereich der Symbolisierungen, der vor einem Erschließen von Bedeutung durch das Medium der Sprache 588 Vgl. Schwemmer 2011, 125. 589 Vgl. Seewald 1992, 97.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

liegt. Dabei ist sie sich zunächst mit Cassirer einig, dass nicht nur das erkennbar ist, was für unser diskursives und sprachgebundenes Denken greifbar ist.590 Als eine der wenigen Philosophinnen beschäftigt sie sich mit dem Gebiet der Musik – insbesondere mit dem Zusammenhang von leiblichen Regungen und Musik –, aber auch, wie Cassirer, mit dem Mythos. Mit Cassirer ist sie hierbei generell der Ansicht, dass die jeweiligen symbolischen Modi die ausgedrückten Inhalte prägen.591 Anders als Cassirer – und damit nähert sich Langer wiederum dem leibphänomenologischen Ansatz – dehnt sie jedoch den »logischen Rationalitätsbegriff«592 auf Bereiche nichtdiskursiver Symbolisierungen aus. Insgesamt bereitet sie somit, so Seewald, »eine Zusammenschau von leibphänomenologischen und symboltheoretischen Perspektiven vor«.593 Außerdem lässt sich durch Langers Theorie das Cassirer’sche Orientierungsschema vertiefen und erweitern.594 Es gilt als Ertrag ihrer Symboltheorie, mit der Unterteilung und Beschreibung der präsentativen und diskursiven Symbolformen aufzuzeigen, dass den verschiedenen Symbolmodi verschiedene Erfahrungsmodi zugrunde liegen. Erfahrungen werden ihr zufolge in den verschiedenen Symbolformen unterschiedlich konzeptionalisiert.595 Sie spürt weiter das Wesen des Symbols auf, indem sie es vom Anzeichen abgrenzt. Damit fasst sie den Begriff enger, als Cassirer dies tut:596 Nach Langer zeigt das Anzeichen das Vorhandensein einer Sache an. Ein Anzeichen muss sich also auf etwas Reales beziehen und bleibt kontextabhängig. Es wird zum Stellvertreter der gemeinten Situation, des gemeinten Dinges. Dabei lässt es sich in drei Glieder aufteilen: in »das Subjekt, das Anzeichen und den Gegenstand/die Situation«.597 Diese Beziehung von Anzeichen und Gegenstand bezeichnet Langer auch als »Signifikation.«598 Dass die Anzeichenfunktion nicht mit dem Ausdruck gleichgesetzt werden kann, begründet Seewald mit Bezug auf Langer damit, dass der Ausdruck im Gegensatz zum Anzeichen vom Ausdrückenden nicht zu trennen ist. Auf Basis der Anzeichenfunktion lässt sich mit Langer beispielsweise begründen, warum Affen keine Sprache entwickeln: Alle lautlichen Äußerungen von Affen besitzen ausnahmslos die Bedeutung von Anzeichen, da sie pragmatisch und emotional sind und ansonsten keinen Bedeutungsgehalt besitzen.599 Was dem Affen hier 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599

Vgl. Seewald 1992, 97. Vgl. Seewald 1992, 97. Seewald 1992, 97. Seewald 1992, 118. Vgl. Seewald 1992, 121. Vgl. Seewald 1992, 121. Vgl. Seewald 1992, 98. Seewald 1992, 99. Seewald 1992, 100. Vgl. Langer 1984, 120.

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fehlt, ist die Vorstellung von Dingen und Sachverhalten. Das Vorhandensein einer Vorstellung ist wiederum aber Wesensmerkmal des Symbolischen, so Langer. Symbole sind ein »Vehikel für die Vorstellung von Dingen und Sachverhalten.«600 Da die Symbolfunktion im Vergleich zum Anzeichen also um das Merkmal der Vorstellung ergänzt wird, setzt sie sich nach Langer aus folgenden Gliedern zusammen: »das Subjekt, das Symbol, die Vorstellung und der Gegenstand oder Umweltreferent«.601 Die Zuordnung von Symbol und Gegenstand bezeichnet Langer dabei als »Denotation«, die von Symbol und Vorstellung wiederum als »Konnotation«.602 Zu einem Symbol können die Dinge oder »Hervorbringungen« gemacht werden, deren Eigenschaften so in den Hintergrund treten, dass sie gut mit anderem Verbindung aufnehmen können. »Als Symbole eignen sich dabei besonders gut alle Hervorbringungen, die leicht erzeugbar, unterscheidbar, kombinierbar und dennoch flüchtig und uninteressant genug sind, um die Aufmerksamkeit nicht voll auf sich zu lenken.«603 Zum Unterschied zwischen diskursiven und präsentativen Symbolformen Langer unterteilt Symbole im Wesentlichen in zwei Arten von Symbolen: die diskursiven und die präsentativen Symbolformen. Der Unterschied zwischen ihnen besteht vor allem darin, dass ihnen bei der Darstellung von Inhalten ein unterschiedlicher Umgang mit dem Faktor Zeit eigen ist. Während präsentative Symbole, wie beispielsweise Bilder, sich als Phänomene in ihrer Ganzheit, also der Gleichzeitigkeit ihrer Einzelelemente zeigen, können diskursive Symbole etwas nur in einer sukzessiven Reihenfolge und einem zeitlichen Nacheinander darstellen. Langer beschreibt die Eigenschaften diskursiver Symbole anhand der Sprache. Die Darstellung von Inhalten oder Zusammenhängen ist ihr nur möglich, indem sie Wörter in bestimmter, sinngebender Weise aneinanderreiht. Daraus ergibt sich die Problematik, dass das, was wir leiblich und ganzheitlich erfahren, durch Sprache nur in einer anderen – ihr eigenen – Ordnung zur Darstellung gebracht werden kann. Somit kann sich Sprache dem ursprünglichen, ausdruckshaft organisierten Phänomen immer nur annähern, es jedoch nie so wiedergeben, wie es erscheint. Die Symbolformen sind jedoch nicht eindeutig auf ihre ausschließlich diskursiven oder präsentativen Eigenschaften festgelegt. Während präsentative Symbolformen ihren Schwerpunkt im Spannungsfeld zwischen Ausdruck und Darstellung

600 Seewald 1992, 100; Herv. im Original. 601 Seewald 1992, 100. 602 Mit den drei Verhältnisbeschreibungen »Signifikation, Konnotation und Denotation« seien nach Langer die drei Formen genannt, in denen in der Regel Bedeutungen auftreten. Vgl. Seewald 1992, 100. 603 Seewald 1992, 100, mit Bezug auf Langer.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

unterschiedlich setzen und verschieben können, reichen auch sprachliche Äußerungen unterschiedlich stark in den Bereich des Ausdrucks oder der Bedeutung hinein. »Kein sprachlicher Ausdruck ist nur diskursiv oder präsentativ, wohl aber kann sich die Gewichtung der beiden Aspekte verschieben […] Je diskursiver ein sprachlicher Ausdruck ist, desto mehr wird mit den Wörtern, aus denen er sich zusammensetzt, eine Bedeutung transportiert.«604 Seewald zufolge weisen die beiden, von Langer beschriebenen, Symboltypen ihre charakteristische Struktur erst auf der Darstellungsebene auf. »Beide Symboltypen überspannen mehrere symbolische Niveaus, wobei von präsentativen bzw. diskursiven Symbolismen im logischen Sinn erst ab der Darstellungsebene die Rede ist«605 Im Hinblick auf den Ertrag der Unterscheidung der Symbolmodi für einen (musik-)pädagogischen Kontext ist es besonders interessant, dass nach Langer beide Symbolformen auf gleichem Symbolisierungsniveau eine gewisse Empfänglichkeit aufweisen. Diese macht es möglich, Inhalte von der einen in die andere Symbolform zu übertragen. Medium dafür ist die Vorstellung. Langer versteht sie wiederum als Kern eines Begriffes von etwas. »Beide symbolische Typen […] zeigen jeweils auf demselben symbolischen Niveau die größte Transponierbarkeit bzw. Durchlässigkeit gegenüber dem anderen symbolischen Typ. Das Medium ihrer Transponierbarkeit sind die Vorstellungen im Sinne Langers«.606 Für Langer sind beide Symboltypen nur formal unterschiedlich, logisch aber gleichwertig, da sie beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, Vorstellungen vermitteln.607 Im Hinblick auf die jeweiligen Erfahrungen, die sie konzeptualisieren, unterscheiden sie sich lediglich in ihrer Funktion: Während diskursive Symbolmodi ein auf Präzision ausgerichtetes Denken ermöglichen, kann mittels präsentativer Symbolmodi die Vergegenwärtigung von Erfahrungen, die im Bereich des Außer- oder Vorsprachlichen liegen, erfolgen.608 So gesehen brauchen beide Symbolformen einander: »Jedes detaillierte Wissen, jede exakte Unterscheidung, jede Maßbestimmung und jede praktische Manipulation ist nur auf der Grundlage wirklich abstrakter Begriffe möglich, und ein System solcher Begriffe liegt einer philosophischen Betrachtung der Natur zugrunde, die wortgebunden, denotativ und systematisch ist. Nur die Sprache vermag diese Art von Analyse der Erfahrung, diese Rationalisierung von Erkenntnis zu leisten. Die Regeln des wörtlichen Denkens aber kön-

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Springstübe 2013, 157f. Seewald 1992, 122; Herv. im Original. Seewald 1992, 122. Vgl. Seewald 1992, 110. »Es geht hier um außersprachliche Bereiche des Verstehens, um Bereiche der ›Intuition‹ und des ›Gefühlslebens‹« Seewald 1992, 111, mit Bezug auf Langer.

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nen nur dort Anwendung finden, wo die Erfahrung vorher schon – geformt durch ein anderes zur Auffassung und Bewahrung geeignetes Medium – präsentativ dargeboten wurde. Wir müssen Ideen haben, bevor wir an ihre wörtliche Analyse gehen können; und wirklich neue Ideen haben ihre eigene Erscheinungsweise im unberechenbaren, schöpferischen Geist.«609 Indem Langer davon ausgeht, dass wir keine geistige Vorstellung von etwas haben können, ohne dass es sich uns zuvor in der Erfahrung präsentativ dargeboten hat, wird jedoch zweifelhaft, ob beide Symbolisierungstypen für sie tatsächlich gleichrangig sind. So wirft ihr Seewald vor, der präsentativen gegenüber der diskursiven Symbolform eine Vorrangstellung einzuräumen.610 Damit unterliegt sie, so Seewald, wiederum auch dem genetischen Fehlschluss. Er warnt davor, präsentativ mit niedrigem Symbolisierungsniveau und dikursiv mit hohem Symbolisierungsniveau generell gleichzusetzen: »Die Schwierigkeit besteht darin, daß im diskursiven Medium der Sprache Bilder, Stimmungen und Atmosphären erzeugt werden können, die nicht diskursiv, sondern präsentativ organisiert sind. Dies kann in Gedichten der Fall sein, ebenso wie in Märchen und Mythen, sofern diese sprachlich überliefert werden. Umgekehrt lassen sich im präsentativen Medium geometrische Berechnungen anstellen, die eher diskursiv verstanden werden müssen.«611 Denn auch die übermittelten Vorstellungen gehören nach Seewald unterschiedlichen Symbolisierungsniveaus an.612 Wie lässt sich mit Langers Symboltheorie die Bildung von Symbolen erklären? Die Entstehung von Symbolen hat nach Langers Theorie, so Seewald, insbesondere etwas mit der Frage zu tun, wie präsentative Symbolismen mit Aspekten des Leibseins zusammenhängen. Hier verbindet sich durch Langer die leibtheoretische mit der symboltheoretischen Perspektive.613 Den Ursprung präsentativer Symbole sieht Langer in der Verinnerlichung von Erlebnissen anhand von Bildern beziehungsweise »Phantasien«.614 Ganzheitlich und leiblich in ihrer Struktur gehen sie auf »erlebte Ereignisse« zurück und stellen deren »innere Veranschaulichung«615 dar. Hier wirkt sich nach Seewalds Ansicht der von Merleau-Ponty beschriebene, leibliche Charakter der Wahrnehmung aus.

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Langer 1984, 201f. Vgl. Seewald 1992, 112. Seewald 1992, 113. Vgl. Seewald 1992, 113. Vgl. Seewald 1992, 118. Langer 1984, 148. Seewald 1992, 118, mit Bezug auf Langer.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Um als Symbolisierungen aus leiblichen Erlebnissen hervorzugehen, müssen die Vorstellungen, die sich bilden, etwas bezeichnen.616 Wie bilden sich diese Vorstellungen und wie kommt es dazu, dass aus, »präsentativ strukturierten, unmittelbaren Erlebnissen und Szenen […] Symbole im logischen Sinne«617 hervorgehen? Von jeder erlebten Szene bleibt, so schreibt es Langer, eine Art »Erinnerungsniederschlag« zurück, der uns, in einer sich später in ähnlicher Weise abspielenden Szene, als »Maßstab«618 dient. »Dadurch entwickelt sich nach und nach eine Vorstellung, die das Wesentliche und Gemeinsame verschiedener ähnlicher Szenen umfaßt.«619 Diese Vorstellungen beziehungsweise Phantasien vermögen es, »metaphorische Bedeutungen zu übertragen«,620 so Langer. Indem sie auf etwas jenseits der erlebten konkreten Szene hinweisen, werden sie symbolisch. Hierfür nennt sie das Beispiel einer vorbeifahrenden Eisenbahn, die die Phantasie von Gewalt entstehen lässt.621 Durch die Bildung von Vorstellungen und Phantasien kommt letztlich zum Vorschein, worin sich die verglichenen Szenen ähneln.622 Insgesamt stellt Langer den Prozess der Symbolbildung als einen »vorrangig passiven Sedimentierungsvorgang«623 dar. Im Unterschied zu Merleau-Ponty und Cassirer gilt das Symbolhafte bei ihr als etwas, was erst in einem Prozess der Ablagerung hinzukommt. Für Merleau-Ponty und Cassirer ist das Ausdruckshafte unserer Welt jedoch schon vor der beschriebenen Symbolisierungsleistung des Geistes symbolisch strukturiert. (Erinnert sei hier an den Linienzug bei Cassirer.) Zur Ausbildung von Phantasien und einer »Semantik präsentativer Symbole«624 tragen nach Langer zum einen die nachahmende Bewegung als Geste und zum anderen Wunsch und Angst – Seewald spricht hier mit Bezug auf Langer von wichtigen »Antriebskräften«625 – zur Symbolbildung bei. Leibliche Phantasien, die auf die beschriebene Weise aus erlebten Szenen hervorgehen, sind Langer zufolge »Ausgangsorte präsentativer Symbolismen«.626 Springstübe sieht hier die Wahrnehmungs- und Sprachtheorie Merleau-Pontys durch Langer erweitert. »Doch Susanne Langer beschreibt nicht nur wie die Imaginationen sich durch eine erneute Formung aus dem Erlebten bilden; sie zeigt ebenfalls auf, dass diese Imaginationen die Grundlage unseres Ausdrucksvermögens bilden.«627 Nach Lan-

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Vgl. Seewald 1992, 119. Seewald 1992, 119. Seewald 1992, 119. Seewald 1992, 119, mit Bezug auf Langer. Langer 1984, 149. Vgl. Langer 1984, 149. Vgl. Seewald 1992, 119. Seewald 1992, 120. Seewald 1992, 120. Seewald 1992, 121. Seewald 1992, 120; Herv. im Original. Springstübe 2013, 165.

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ger können solcherlei Imaginationen eine hohe expressive Prägnanz erlangen, indem sie Träger einer hohen emotionalen, da werthaften Bedeutung sind. Als beispielhaft hierfür nennt sie expressive Bewusstseinsbilder, wie Traumbilder.628 Diese steigern sich so sehr, »dass sie keinen direkten Bezug zu praktischen Verhaltenszusammenhängen mehr besitzen«.629 Somit sind sie zur Dekontextualisierung fähig, was laut Meuter die Bedingung für die Entstehung von Symbolisierungen darstellt. (Meuter drückt es mit Bezug auf Lachmann noch stärker aus: »Bedeutung ist Dekontextualisierung.«630 ) »Die Ausbildung eines bildhaften Bewusstseins ist für Langer der erste Schritt zur Entwicklung eines symbolischen Ausdrucksvermögens. Der nächste Schritt besteht nun darin, die Imaginationen mehr und mehr kontrollieren zu können.«631 Die Zunahme von Kontrolle über die Vorstellungsbilder wird begleitet von einem Prozess der Veröffentlichung. Dies erfolge beispielsweise, so Springstübe nach Langer, durch die Übertragung dieser Vorstellungsbilder in Körperbewegungen beziehungsweise »leibliche Bewegungen«.632 Durch diesen Vorgang verändern sich die Imaginationen jedoch auch.633 (Schwemmer beschreibt diese Bewegungen daher später nicht als individuelle, sondern als gemeinschaftliche Akte.634 ) Langer ist insgesamt davon überzeugt, »dass symbolische Ausdrücke aus einer Ritualisierung oder Standardisierung von primären und mimetischen Ausdrücken entstanden sind«.635 Sobald wir eine Ausdruckshandlung vollführen, die in der Situation nicht mehr unmittelbar an die ursprüngliche »Gemütsbewegung« geknüpft ist, sondern sich von der Situation befreit hat, aus der sie einst hervorging, haben wir es, im Sinne Langers, mit einem symbolisch aufgeladenen mimetischen Akt zu tun. Dieser kann zur »rituellen Geste«636 werden. Somit spricht Langer auch gegen sogenannte »instrumentalistische Theorien der Sprachentstehung«637 , die davon ausgehen, dass Symbolisierungen aus einem reinen Kommunikationsbedürfnis hervorgehen. Indem Langer aufzeigt, dass sich auch die Sprache als diskursive Symbolform im Spannungsfeld zwischen Ausdruck und Bedeutung bewegt und somit auch weit in den Bereich des Ausdrucks reichen kann, zeichnet sie nicht nur ein sehr differenziertes Bild von Sprache, sondern zeigt auch auf, dass sich die Symbolformen

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Vgl. Springstübe 2013, 166. Springstübe 2013, 166. Meuter 2006, 342, Anm. 213; Herv. im Original. Springstübe 2013, 166, mit Bezug auf Meuter. Springstübe 2013, 166. Vgl. Springstübe 2013, 167. Vgl. Springstübe 2013, 166. Springstübe 2013, 137. Meuter 2006, 345. Springstübe 2013, 136.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Sprache und Musik auf gleichem Symbolisierungsniveau durchaus einander annähern können. Sie nennt hierbei beispielhaft die Sprache des Schriftstellers beziehungsweise eine metaphorische Sprechweise, durch die allein sich überhaupt musikalische Phänomene beschreiben lassen. Sprache nimmt auf unterschiedlichen Symbolisierungsniveaus auf unterschiedliche Weise auf Bedeutungen Bezug. So gehen uns aus Prosatexten Bedeutungen in der Regel klarer und eindeutiger hervor als aus den verschlüsselten Textkunstwerken der Poesie. »Prosa sagt etwas aus, während Poesie, Kunst und Musik stets mehrdeutig bleiben.«638 Seewald macht damit darauf aufmerksam, dass sich die Symboltypen nur auf derselben Symbolstufe gegenseitig angemessen darstellen können. Es ist allein die bildhafte Sprache, die sich für die Beschreibung bildhafter Darstellungen eignet, nicht aber die formalisierte und bis ins kleinste auf ihre Bedeutung festgelegte Wissenschaftssprache. »So kommt dem Erlebniswert bildender Kunst eine Sprache am nächsten, die selbst bildhaft ist. Für die hochformalisierte und affektgereinigte Wissenschaftssprache wird die Gefahr deutlich, ihren Gegenstand dann zu verfehlen, wenn sich dieser auf einem niedrigen präsentativen Niveau bewegt. Dies hat Auswirkungen auf eine Hermeneutik von außersprachlichen Symbolismen, sollen hier Zeichenrelationen vermieden werden, die dem darzustellenden Feld fremd sind.«639 Was unterscheidet die Sprache als diskursiven Symbolismus nach Langer von Formen des präsentativen Symbolismus? Wie bereits erwähnt, obliegt es der Struktur der Sprache, dass sie erst Bedeutungen zum Ausdruck bringen kann, wenn ihre Einzelelemente in eine sinnstiftende sukzessive Abfolge gebracht werden. Langer macht dies mit dem Vergleich der Logik eines Bildes mit der eines sprachlichen Satzes deutlich: »Es [das Bild; Anm. A. U.-R.] wird auch dann erkannt, wenn es seinen Gegenstand sehr schematisch zeigt. Wichtig ist nur, daß die Struktur eines Sachverhaltes durch die richtige Anordnung der Elemente wiedergegeben wird.«640 Unterschiede zwischen Bildern und Worten ergeben sich, so Seewald mit Bezug auf Langer, aus folgender Tatsache: Worte können Situationen offener und vieldeutiger gestalten. Dabei sind sie jedoch an ihre zeitlich sukzessive Anordnung gebunden, wobei im Bild Gleichzeitigkeit zur Darstellung gebracht werden kann.641 Hochkomplexe Sachverhalte sind daher schwer in Sprache zu übertragen, ohne die Leistung des menschlichen Gedächtnisses damit überzubeanspruchen.642

638 639 640 641 642

Springstübe 2013, 145. Seewald 1992, 123. Seewald 1992, 107, mit Bezug auf Langer. Vgl. Seewald 1992, 107f. Vgl. Seewald 1992, 108.

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Bewegung und Musikverstehen

Im Gegensatz zum Bild ist die Sprache nach Langer weiter auf festgelegte Bedeutungen, ihre »Allgemeinheit und Permanenz«,643 angewiesen. Dies macht Sprache wiederum übersetzbar in andere Sprachen. Präsentative Symbolismen hingegen kennen keine genau festgelegten Bedeutungen, keine Wahrheit, kein richtig und falsch.644 Insgesamt wird durch Langer der Sprache allein als Symbolform die Funktion des Übergangs zur Darstellungsebene zugesprochen. »Die bewußte, darstellende Funktion ist auch in ihrer elementarsten Ausprägung an die Existenz der Sprache gebunden.«645 Welche Konsequenzen hat nun Langers Symboltheorie im Hinblick auf Fragen des Verstehens? Seewald zufolge geht Langer nicht nur von verschiedenen Formen des Verstehens aus, sondern auch davon, dass es bereits im außersprachlichen Bereich ein symbolisch vermitteltes Verstehen gibt. So ist auch das Verstehen von Gefühlen ihrer Auffassung nach bereits ein geistiger Akt.646 Verstehen verlagert Langer demnach auch bereits in den vorsprachlichen Bereich. »Hier liegt der Schwerpunkt in der Symboltheorie Langers: Es gibt ein symbolisch vermitteltes Verstehen außerhalb der Sprache.«647 Seewald befragt die Langer’sche Symboltheorie weiter danach, wie es überhaupt möglich ist, dass die Symbolmodi der verschiedenen Erfahrungsbereiche miteinander kommunizieren können, und findet im Phänomen des Begriffs eine Antwort. Er ist der »gemeinsame Teil der Vorstellungen, der diskursive und präsentative Symbolismen verbindet«,648 so Seewald nach Langer. Dabei haftet Begriffen stets ein persönlicher Hintergrund an. Denn sie sind mit persönlichen Vorstellungen verbunden. Dies erklärt mit Seewald auch, warum eine Verständigung über Begriffe nicht immer gelingt. »Durch diese lebensgeschichtliche Anbindung ergeben sich die facettenreichen Konnotationen der Begriffe, die unter Umständen auch die Verständigung scheitern lassen können, sofern das notwendige allgemeine Moment vom privaten überschattet wird.«649 Auf der einen Seite fungiert Sprache also aufgrund ihrer Eigenschaften (insbesondere der »allgemein geteilten Konnotationen«) als ideale Mittlerin zwischen den verschiedenen Erfahrungsbereichen und Symbolmodi. Auf der anderen Seite kann Sprache den konkreten Erfahrungsvollzug nicht ersetzen.

643 644 645 646

Seewald 1992, 108. Vgl. Seewald 1992, 108. Seewald 1992, 123. »Es gibt also für Langer verschiedene Formen des ›Verstehens‹, auch das Verstehen der Gefühle darf nicht aus dem geistigen Bereich exkommuniziert werden.« Seewald 1992, 111. 647 Seewald 1992, 111. 648 Seewald 1992, 111. 649 Seewald 1992, 112.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

»Die Sprache ist wegen ihrer allgemein geteilten Konnotationen die ideale Mittlerin zwischen den verschiedenen Symbolmodi. Deshalb lässt sich über ein Bild sprechen wie über ein Musikstück, ohne daß die Sprache jedoch das spezifische Erfahrungspotential voll ausschöpfen oder angemessen darstellen könnte. Anders ausgedrückt: Sprachliche Begriffe vermitteln zwischen dem, was sich nur nichtsprachlich begreifen läßt.«650 Abschließend soll mit Langer die Begriffs- und Symbolbildung noch einmal mit Blick auf die Genese der Sprache beim Kleinkind betrachtet werden. Langer spricht von einem ersten Schritt hin zur Symbolisierung, wenn im kindlichen Spiel Gefühle in Gegenstände projiziert werden. »Die Projektion von Gefühlen in Gegenstände der äußeren Welt ist die erste Weise des Symbolisierens und somit des Begreifens dieser Gefühle. […] Die Vorstellung des ›Selbst‹, die gewöhnlich als Kennzeichen für den Beginn des eigentlichen Gedächtnisses gilt, hängt möglicherweise von diesem Vorgang des symbolischen Zusammenfassens unserer Gefühle ab.«651 Als Folge dieses ersten Schrittes der Symbolisierung bildet der Mensch immer mehr Kategorien, wodurch Sinnesdaten immer weniger emotional, durch »irrelevante Gefühle und Phantasien«652 , besetzt werden. Dadurch fügen sie sich zunehmend besser in eine objektive Ordnung wie die der Sprache ein.653 Um die Kommunikation durch Sprache geht es dabei nur sekundär. Vielmehr ist der eigentliche Beweggrund zur Ausbildung von Begriffen das Erschließen der Dingwelt und dient vor allem »dem Benennen, Fixieren, Begreifen von Gegenständen«.654 Langer bezeichnet in diesem Zusammenhang auch die Verwendung von Metaphern als etwas Ursprüngliches.655 Zusammenfassend lässt sich mit Langer sagen, dass unser Sprechen da beginnt, wo wir Vorstellungen bilden, aus denen Begriffe hervorgehen. Während Vorstellungen zwischen verschiedenen Erfahrungs- und Symbolisierungsmodi auf gleichem Symbolisierungsniveau vermitteln können, bildet der vorsprachliche Begriff das verbindende Element zwischen präsentativen und diskursiven Symbolformen. Langer erweitert hier also ebenso den Begriff »Begriff«. Er steht uns ihrer Überzeugung nach als Werkzeug des Verstehens schon zur Verfügung, bevor wir ihn als konkreten Wortbegriff sprachlich festlegen. Begriffe sind in ihrem Ur-

650 651 652 653 654 655

Seewald 1992, 112. Langer 1984, 127. Langer 1984, 127. Vgl. Langer 1984, 127. Langer 1984, 134. Vgl. Langer 1984, 134f.

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Bewegung und Musikverstehen

sprung vorsprachlich, gehen Symbolisierungen voraus und dienen dem Verstehen von Welt.

5.3.3

Zur Anwendung eines phänomenologischen Sprachbegriffs auf einen Umgang mit Musik durch Sprache

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie und ob es überhaupt möglich ist, Musik durch Sprache so zu begegnen, dass es hilft, sie zu erschließen. Die Sprache kann sich selbst zum Gegenstand machen. Anders steht es um die Symbolformen der Kunst: Weder kann Musik durch Musik erklärt werden, noch kann über Bilder gemalt werden. In zweierlei Hinsicht soll daher im folgenden Kapitel Klarheit geschaffen werden: zum einen darüber, was Sprache von Musik unterscheidet und warum Musik nicht mit Sprache gleichgesetzt werden darf. Zum anderen soll aufgezeigt werden, dass musikalische Begriffsbildung nicht ausschließlich den Wortbegriff, sondern auch den vorsprachlichen, leiblichen Begriff meint, der für den späteren Wortbegriff die Grundvoraussetzung bildet. Hierfür wird zunächst erläutert, inwiefern der Begriff »Begriff« aus phänomenologischer Perspektive als offener verstanden wird. In diesem Zusammenhang wird auf Erkenntnisse der Symboltheorien Cassirers und Langers verwiesen, die darlegen, was Begriffsbildung im Hinblick auf das Verstehen (von Musik) bedeutet.

Begreifen und musikalischer Begriff aus phänomenologischer Perspektive Wie kommt es aus phänomenologischer Sicht zur Bildung von Begriffen über musikalische Wahrnehmungen? Was ist überhaupt unter einem musikalischen oder musikbezogenen Begriff zu verstehen? Aus phänomenologischer Sicht gilt der Begriff als Zeugnis und Urheber von Erfahrungen. Das Bewusstwerden von Erfahrungen im Begriff deutet wiederum auf ein Verstehen. Ein musikalischer Begriff ist so gesehen Zeugnis eines früheren musikalischen Verstehens und kann als Werkzeug im Hinblick auf ein späteres Verstehen fungieren. Er entsteht als hervortretendes verbindendes Moment verschiedener, variierender musikalischer Erfahrungsvollzüge und betrifft das sich im Vergleich verschiedener ähnlicher Situationen sich zeigende Wesen einer musikalischen Sinneinheit. Wichtiges Prinzip der musikalischen Begriffsbildung Musik ist daher insbesondere die Wiederholung. Wie oben beschrieben, bildet die Wiederholung einen wichtigen Wesenszug der Musik als Zeitkunst. Denn durch sie können überhaupt so etwas wie Form und innerer Zusammenhalt sowie die Beziehungen der Einzelelemente zueinander und zum Gesamt des musikalischen Werkes vernommen werden. Formen, Gestalten und Sinnzusammenhänge sind im zeitlichen Verlauf von Musik immer im Entstehen begriffen. Diese Dynamik des Bedeutens endet erst, wenn der letzte Ton verklungen ist. Erst dann kann die Gesamtgestalt der entsprechenden Musik endgültig erkannt werden (zuvor hören wir im-

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

mer in der Erwartung eines bestimmten Ausgangs, somit in der Antizipation des Gesamtwesens der Musik). Begriffsbildung im Sinne der Wesensschau aus phänomenologischer Perspektive geschieht nie im Vollzug der Wahrnehmung, sondern erst in ihrem Rückblick. Um musikalische Begriffe zu bilden, bedarf es also eines Erinnerns des verklungenen Klanges, eines In-Distanz-Gehen zum eigenen musikalischen Erleben, in welchem uns bereits Sinn als Ereignis der Wahrnehmung begegnet ist. Das Erleben des Sinnes ist demnach Grundvoraussetzung jeglicher Begriffsbildung. Auch musikalische Begriffsbildung braucht dabei zuallererst ein In-der-Musik-Sein. Nach Angehrn ist musikalische Hermeneutik, gemeint als ein Nachvollzug von Musik, nur möglich durch ein »Einschwingen« in Musik: »Die Erweckung von Gesten, das Einschwingen in eine Verlaufsfigur sind Formen eines responsiven Verhaltens, in welchem das Hören an der gleichen Bewegtheit partizipiert, die sich im Ausüben von Musik ereignet und in der allein ein Verständnis möglich ist.«656 Um also etwas über Musik sagen zu können, müssen wir erst etwas über Musik zu sagen haben. Hier sei an das von Merleau-Ponty beschriebene Prinzip der Zirkularität zwischen Sinn und Sprache erinnert: Sprache entspringt einem Sinn, der zum Ausdruck gelangen will, und befördert im gleichen Moment das Erfassen von Sinn.657 Im Übergang von einem Erleben von Musik (und musikalischem Sinn) zu einem Sprechen über Musik sollte Sprache daher im Sinne Merleau-Pontys als Leib des Denkens – in diesem Fall also des musikalischen Denkens – verstanden werden. Das Gleichsetzen Merleau-Pontys von Sprache und Denken kann das Wechselverhältnis von Sinn und Sprache erklären. Auf die Musik übertragen lässt sich daher folgendes Wechselverhältnis vermuten: Dem Sprechen über Musik liegt ein Denken in Musik zugrunde, und genauso kann ein Sprechen über Musik im Sinne der sprechenden Sprache nach Merleau-Ponty musikalisches Denken bewirken. Nun besteht jedoch, so Angehrn, das Problem, dass kein Text den musikalischen Sinn angemessen auslegen oder ersetzen kann.658 Abhilfe schafft hier nur zum einen eine Sprache zu gebrauchen, die flexibel genug ist, Musik zu begleiten (wie beispielsweise die metaphorische Sprache), und zum anderen auch den musikalischen Begriff in phänomenologischer Manier als stets wandelbar und im Prinzip unabgeschlossen zu betrachten. Damit ist nicht gemeint, dass mit jedem Musikstück neue Begriffe erfunden werden sollten. (Die Übermittlung von musikalischen Fachbegriffen und somit eine Theorie der musikalischen Formanalyse wären sonst nicht vorstellbar.) Vielmehr soll hier die Wandelbarkeit der Bedeutung musikalischer Begriffe für notwendig erklärt werden. Wenn ein verwendeter musikalischer Begriff als Momentaufnahme eines aktuellen Stands der Erfahrung

656 Angehrn 2010, 211. 657 Vgl. Gamboa 2012, 30. 658 Vgl. Angehrn 2010, 212.

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des jeweiligen Hörers zu verstehen ist, so müssen auch Wortbegriffe für Wandlung und Veränderung offenbleiben. Denn, wie oben beschrieben, auch der Umgang mit überlieferten, sedimentierten, sozial geteilten und somit scheinbar ›fertigen‹ Begriffen ist in phänomenologischer Manier als schöpferischer Akt zu verstehen. Dazu gehört, dass die übermittelten, gewohnten Begriffe bei jeder Anwendung schon durch die Anwendung an sich neu hinterfragt werden. Im Grunde geschieht dies durch die Musik wie von selbst, indem sie mal mehr, mal weniger eine sprachliche Beschreibung durch bestehende Begriffe zulässt. Bisweilen dehnt sie den übermittelten Begriff so weit, dass er an der Musik zu scheitern droht. Den Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit dem musikalischen Begriff wird in dieser Untersuchung weniger auf die Verwendung übermittelter musikalischer Begriffe als vielmehr auf den Moment der Begriffsbildung gelegt. Denn dieser deutet auf Prozesse des Lernens und Verstehens. Wie oben beschrieben, erfolgt das kindliche elementare – und somit leibliche – Lernen dadurch, dass Kindern etwas bedeutsam wird. Im Zusammenhang mit dem phänomenologischen Begriff des Empfindens wurde deutlich, dass wir dadurch wahrnehmen und lernen, dass uns die Dinge zum einen affizieren (in diesem Zusammenhang wurde auch von den Anmutungen der Dinge gesprochen), und zum anderen, dass wir uns empfindend in die Dinge hineinversetzen, sie mit Gefühlen aufladen, ihre Bewegungen als eigene empfinden. Das Wahrnehmen einer empfundenen Bedeutung kann nun dazu führen, dass wir diesen erlebten Sinn nach außen hin – sprachlich – artikulieren wollen. Musik ist in besonderem Maße affizierend. Vielfach wird sie als die Kunstform beschrieben, die unser Gefühlsleben am nächsten beschreiben kann. Ihre suggerierten Bewegungen rufen in uns direkt entsprechende leibliche Regungen hervor. Lassen wir uns auf sie ein, trifft Musik uns, lässt sie uns Erfahrungen an und in ihr machen. Sind es nicht diese Erlebnisse und Erfahrungen, die uns veranlassen über Musik zu sprechen – da sie etwas in uns anspricht, was wir begreifen wollen? Hier wird ganz bewusst von einem »Wir« gesprochen. Denn auch die musikalische Begriffsbildung braucht den sozialen Raum. Begriffe werden zu Begriffen, indem sie geteilt werden. Jegliches Sprechen als Denken wird immer auf ein – wenn auch nur imaginiertes – Gegenüber bezogen. Das Eigene am musikalisch Erlebten, das gefunden und ausgesprochen werden will, wird uns erst durch das andere und Fremde bewusst. So gesehen ist die musikalische Begriffsbildung zu verstehen als gemeinsame Suche nach dem Subjektiven der Wahrnehmung und dem wesensmäßig Allgemeinen der Musik. Da, wie aufgezeigt wurde, das wesensmäßig Allgemeine der Sprache jedoch nicht dem der Musik entsprechen kann, sollte unser Sprechen immer im Kontakt zum eigentlichen Gegenstand – der Musik – verbleiben. Um Prozesse der Begriffsbildung an Musik zu beschreiben, soll hier deshalb weniger die Sprache an sich als vielmehr die musikalische Erfahrung in den Fo-

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

kus gerückt werden. Denn zu einem musikalischen Begriff gehört immer die entsprechende musikalische Erfahrung. Zu fragen ist also, wie man angemessen über die musikalische Erfahrung im Medium der Sprache reflektieren kann. Betrachtet man die musikalische Begriffsbildung aus phänomenologischer Perspektive, so erscheint sie uns als Erfahrung. Der Umgang mit bestehenden Begriffen, das Teilen von Begriffen im sozialen Kontext, lässt sich danach auch als Anteilnahme an den Erfahrungen anderer bzw. als Nachvollzug der fremden Erfahrung (indem die fremde Erfahrung zur eigenen wird) beschreiben. In der sozialen Situation des Unterrichts werden durch ein Zur-Sprache-Bringen die eigenen und die Erfahrungen anderer überhaupt erst bewusst. Denn Sprache ist nach Meyer-Drawe das Medium, in dem wir Erfahrungen mitteilen und vergegenwärtigen.659 Konsequenterweise lässt sich behaupten, dass Bewusstwerden von musikalischem Sinn nur im Austausch möglich und daher an die Verständigung gebunden ist. Musikalische Begriffsbildung als Erfahrung, als Prozess des Lernens und Verstehens hat dabei auch etwas mit der oben beschriebenen Krisenhaftigkeit beziehungsweise Negativität von Erfahrung zu tun. Ausgangssituation ist, dass ich etwas in der Musik erlebe, das mich womöglich sprachlos macht, wofür ich noch keine Worte habe. Die Begriffsbildung ist als Antwort auf unser Erleben von Sinnhaftigkeit in der Musik zu verstehen. Dabei ist sie immer schon selbst eine Erfahrung.

5.3.3.2

Annäherung an Musik mittels metaphorischer Sprache

Nelson Goodman führt Cassirers Gedanken zur Metapher als ursprünglichstem Symbol und Denkform fort. Auch für ihn sind metaphorische Prozesse nicht ausschließlich an Sprache und Schrift gebunden. Vielmehr begreift er sie generell als Ausdruck von Erkenntnis.660 Langer sieht in der Metapher nicht nur den Bereich des Präsentativen auf die Sprache ausgeweitet, sondern auch den gemeinsamen »Ursprung aller Symbolisierung« und »Grundlage der Abstraktion«.661 Chistian Grüny zufolge schließt die Metapherntheorie (Goodmanns) an die Symboltheorie von Langer an.662 Auch Oberschmidt geht mit Bezug auf Brandstätter und Franz Koppe davon aus, dass Kunst an sich – und somit auch die Musik – eine verkörperte Metapher darstellt, indem sie die Wirklichkeit in ihre Mittel der Darstellung übersetzt. Er vermutet, dass sich unser metaphorisches Sprechen über Musik immer auf die nonverbale Metaphorik der Musik bezieht.663 Das Bilden einer musikbezogenen Metapher als metaphorische Erkenntnis entspricht dabei, so schreibt Brandstätter, einem direkten, ästhetischen Erkennen, das in einer verstehenden Auseinan659 660 661 662 663

Vgl. Meyer-Drawe 1987, 192. Vgl. Oberschmidt 2011, 38f. Grüny 2018, 22. Vgl. Grüny 2018, 21f. Vgl. Oberschmidt 2009, 166f.

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dersetzung mit Musik überwiegt. »Das ästhetische Verstehen der phänomenalen Aspekte eines Kunstwerks aktiviert in der sinnlichen Wahrnehmung das analoge Denken – das ästhetische Verstehen seiner zeichenhaften Aspekte führt zu metaphorischer Erkenntnis.«664 Sie macht jedoch auch darauf aufmerksam, dass sich analoges und kausales Denken nicht eindeutig trennen und jeweils den Bereichen Kunst oder Wissenschaft zuordnen lassen, sondern vielmehr ständig ineinander wirken.665 Beim Denken in Metaphern gibt es nicht die beiden Welten (das Sinnliche, das Geistige) – beide Welten werden zu einer verbunden.666 Oberschmidt spricht deshalb auch von der Metapher als einer eigenständigen Erkenntnisform. Er beschreibt es als das Besondere der Metapher, dass sie nicht erst eine Anschauung vermittelt, sondern diese bereits als reflektierte Anschauung in sich trägt. Wenn wir Musik also stets metaphorisch verstehen:667 Inwiefern unterscheidet sich das Verstehen mittels Metaphern dann von einem Verstehen durch den Gebrauch anderer, nicht vergleichbar bildhafter Wortbegriffe? Die Metapher ermöglicht es uns im Gegensatz zu Wortbegriffen, die auf Eindeutigkeit der Bedeutung zielen, die Möglichkeiten des Bedeutens vielfältig zu halten und den musikalischen Sinn zu bewahren anstatt ihn auszudeuten. Sie kann unserem Erleben näher sein, indem sie das Erlebte nachzuzeichnen und somit für andere nachvollziehbar und miterlebbar zu machen vermag. Zwar geht auch sie als sprachliche Form bereits auf eine reflexive Distanz zum musikalischen Erleben. Dabei hält sie jedoch immer noch einen Hinweis für einen Weg bereit, der zurück zum Erleben führt. Im metaphorischen Sprechen nähern wir uns, so Seewald, dem Symbolisierungsniveau der Musik. Dadurch wird es möglich, Inhalte von der Musik ins Medium der Sprache zu transponieren. Die Musik wird also in gewisser Weise für die bildhafte Sprache durchlässig. So lassen sich beispielsweise durch die Musik hervorgerufene leibliche Regungen in Sprache übersetzen.668 Die unausgesprochenen Gedanken beziehungsweise vorsprachlichen Erfahrungen zur Musik sind an sich schon bildhafter Natur und müssen nicht erst ins Bildhafte übersetzt werden.669 Wie oben beschrieben, liegen Metaphern nach Lakoff und Johnson konzeptualisierte Erfahrungen zugrunde. Für Metaphern, die in Bezug auf Musik gebildet werden, sind daher entsprechende musikalische Erfahrungen grundlegend. Handelt es sich bei musikbezogenen Metaphern nun eher um Beschreibungen von mu-

664 Brandstätter 2008, 36. 665 »Phänomenales und zeichenhaftes Verstehen wirken ständig ineinander ebenso wie analoges und kausales Denken.« Brandstätter 2008, 36. 666 Vgl. Oberschmidt 2009, 257 667 Vgl. Schmitt 2013, 19. 668 Vgl. Seewald 1992, 122. 669 Vgl. Brandstätter 2008, 26.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

sikalischen Strukturen oder lediglich um Strukturen musikbezogener subjektiver Erfahrungen? Oberschmidts Antwort hierauf ist eine Unterteilung der musikbezogenen Metapher in interne und externe Metaphern zur Musik. Dabei beziehen sich interne Metaphern wie beispielsweise die Begriffe »streben« oder »auf- und absteigen« ausschließlich auf »innermusikalische Prozesse«, hauptsächlich auf räumliche und »energetische Qualitäten«.670 Externe Metaphern wiederum haften der Musik persönliche, subjektive Eigenschaften an, generieren Bilder, die in vielfältiger Weise zur Musik entfaltet und ausgestaltet werden können. (Oberschmidt nennt als ein Beispiel für die Übertragung des Subjekts einer Person auf die Musik die Beschreibung: »Da kommt jemand nicht in die Gänge.«671 ) Externe Metaphern können jedoch jederzeit in interne zurückgeführt werden.672 Was beide Formen verbindet, ist, dass sie sich beide auf die Kategorie der Bewegung beziehen. (Bewegung gilt hier als Kategorie, Erfahrungen zu konzeptualisieren.) Metaphern können uns also Erfahrungen bewusst werden lassen, die sich direkt oder indirekt auf die musikalische Struktur beziehen. So gesehen fungieren sie als »Transportmittel«673 für Erinnerungen und Erfahrungskonzepte. Metaphern ermöglichen es uns dabei, immer wieder neue Bilder zu entwerfen oder nachzuzeichnen und somit das zu beschreibende Phänomen von verschiedensten Seiten, aus verschiedensten Blickwinkeln heraus zu betrachten. Hierbei findet die Variation von Erfahrung also auf der wortsprachlichen Ebene statt. Je intensiver und variantenreicher wir auf das Phänomen Musik schauen, umso mehr bildet sich vermutlich in uns eine Ahnung oder Idee vom gesuchten musikalischen Wesen, umso besser können wir umstellen, was sich nicht greifen lässt. Dabei wahrt die metaphorische Sprache aber auch einen Freiraum für das Persönliche und Uneindeutige. Die Metapher kann so gesehen als Sprache der Erfahrung fungieren. Der Umgang mit Metaphern meint folglich einen Umgang mit Wortbegriffen, der ein Lernen als Erfahrung ermöglicht. Insgesamt lässt sich sagen, dass mit dem Metapherngebrauch bereits der Schritt hin zu einer Reflexion über Musik gegangen wird. Denn die Metapher als Denkfigur ist selbst als Form der Reflexion zu verstehen. Dabei ist die durch sie vermittelte Anschauung immer schon eine reflektierte Anschauung. Anschauung und Begriff sind, so Oberschmidt, in der Metapher durch »das selektierende und fokussierende Hervorheben von Sinneseindrücken«674 verbunden. Viele der übermittelten musikalischen Fachtermini sind bildhafter, also per se metaphorischer Natur. Dies macht sie anwendbar auf verschiedenste Arten von 670 671 672 673 674

Oberschmidt 2009, 154. Oberschmidt 2009, 157. Vgl. Oberschmidt 2009, 157. Oberschmidt 2009, 15. Oberschmidt 2009, 250.

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Musik. »Metaphern tragen den Begriff häufig bereits in sich«.675 Mit Oberschmidt lässt sich daraus schließen, dass wir es dann mit einer Metapher zu tun haben, wenn sie schon Begriffliches enthält. Doch wie kommunizierbar sind Metaphern, wenn Brandstätter doch meint, dass ästhetische Erkenntnis nur bedingt intersubjektiv nachvollziehbar ist?676 Können sie überhaupt als allgemeine objektive, geteilte Begriffe fungieren? Wie oben beschrieben, brauchen Begriffe – und so auch Metaphern – den sozialen Raum. Sie können beispielsweise in der intersubjektiven Situation des Musikunterrichts gebildet, vermittelt, nachvollzogen oder gemeinsam entfaltet werden. Dabei geht es nicht nur um einen Umgang mit Metaphern als reflektierendem Umgang mit Wortbegriffen, sondern genauso um ein Miteinanderumgehen und Verstehen sowie um ein intensives, wachsames gemeinsames Hören und Verfolgen von Musik. »Das für das Unterrichtsgeschehen wichtige verstehende Mitvollziehen von Höreindrücken ist angewiesen auf einen kommunikativen Kontext, in dem allein es möglich wird, das, was ich verstanden zu haben glaube, auf das zu beziehen, was andere verstanden haben.«677 Die fremde Metapher (des Mitschülers oder der Lehrperson) als konzeptualisierte fremde Erfahrung kann dabei Momente in sich bergen, die das Kind möglicherweise direkter anspricht oder affiziert. Der Nachvollzug des Sprachbildes ermöglicht dann den Nachvollzug eines musikalischen Erfahrungskonzepts. Hierfür braucht es allerdings direkten sinnlichen Kontakt zu der Musik, auf die sich diese Metapher bezieht. Die Metapher ermöglicht durch ihre Lebensweltnähe weiter, das Neue mit der Sprache des Vertrauten zu erschließen. Kindern fällt es in der Regel nicht schwer, Assoziationen und bildhafte Vorstellungen zu entwickeln, vielmehr scheinen Kinder gerade im Grundschulalter für jene Gedankenspiele, das Anwenden, Ausschmücken und Durchdeklinieren von (Sprach-)Bildern, besonders empfänglich zu sein. Ein Umgang mit Musik durch Sprache wird von ihnen jedoch nur als spielerischer empfunden, wird dieses Spiel nicht durch ein Zuviel an Begriffsvorgaben verhindert. Denn spielerisch kann mit Sprache nur umgegangen werden, wenn die Rahmenbedingungen dafür Freiheit und Spontaneität ermöglichen, schöpferische Eigenaktivitäten der Kinder zulassen. Außerdem setzen sie sich, sollen sie erst an Wortbegriffen arbeiten, nicht zuerst mit Musik auseinander. In diesem Sinne mahnt auch Clemens Kühn: »Worte versperren den Weg zur Musik, wenn sie selbst erst einer Übersetzung bedürfen«678 Musikbezogenes Wahrnehmen und musikbezogenes Sprechen beeinflussen sich gegenseitig. Sprechend werden wir uns unserer vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeiten selbst bewusst. Sprache kann uns wahrnehmend wiederum auch auf et-

675 676 677 678

Oberschmidt 2009, 251 Vgl. Brandstätter 2008, 37. Oberschmidt 2009, 92. Kühn, zitiert nach Oberschmidt 2009, 93.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

was in der Musik aufmerken lassen, das wir sonst überhört hätten. Umso begrenzter also die sprachlichen Mittel sind, umso begrenzter sind auch die Möglichkeiten der Wahrnehmung beziehungsweise umso begrenzter ist es, das Wahrgenommene zum Ausdruck zu bringen. »Für Hans Christian Schmidt beruht die Sprachlosigkeit nicht auf einer erblindeten Wahrnehmungsfähigkeit, sondern auf einem Sprach- und Formulierungsproblem und stellt daher fest, ›daß es sprachliche Barrieren sind, an denen die Wahrnehmungsvielfalt der Kinder hängen bleibt‹«.679 Die Möglichkeiten von Grundschulkindern, Musik sprachlich zu beschreiben, sind vielfältig – genauso ihre Fähigkeiten, Musik wahrzunehmen. Damit sie zum Ausdruck bringen können, was sie in der Musik wahrnehmen, muss ihnen ein Umgang mit einer Sprache gewährt werden, die ihnen vertraut ist. Weniger vertraut ist ihnen die musikalische Fachsprache. Ein Unterricht, der lediglich auf den Erwerb der übermittelten musikalischen Fachbegriffe zielt, bringt vermutlich weniger hervor, was Kinder von sich aus in der Musik wahrnehmen. Oberschmidt, der sich mit seinem musikpädagogischen Ansatz zum metaphorischen Sprachgebrauch beim Umgang mit Musik vorrangig auf die Sekundarstufe bezieht, beschreibt musikbezogenes metaphorisches Sprechen im Musikunterricht als »Sprechen im Fahrwasser des ›Sozusagens‹«.680 Mit dem Wort »sozusagen« betont er, dass das, was sich in Sprache ausdrücken lässt, oft nur ein Teil von dem ist, was sich sagen – und wahrnehmen – lässt. »›Sozusagen‹ schafft eine Verbindung in Form einer Analogie. […] ›Sozusagen‹ ist der sprachliche Ausdruck dafür, dass sich die Metapher der Logizität entzieht.«681 Außerdem trifft ›Sozusagen‹ das Ungewöhnliche, das sich einer sprachlichen Etikettierung entzieht.682 Oberschmidt spricht weiter von einem »Beiseitesprechen«683 zur Musik – einem Umgang mit Sprache, der zulässt, dass Assoziationen, vage und flüchtige Eindrücke artikuliert und festgehalten werden. Auf diese Weise biete sich ein erster roher Stoff, der später durch Reflexion bearbeitet werden kann.684 Er bezieht sich hier unter anderem auf die »fließende[n] Begriffe« bei Merleau-Ponty. »In diesem Beiseitesprechen gibt es ›fließende Begriffe‹ […], ein Sprechen, das sich selbst (noch) nicht sicher ist, in seiner ganzen Denkbewegung ein Fragen darstellt.«685 Gemeint sind hier Begriffe, die Gewohntes aufbrechen und hinterfragen helfen, »semantische Sinnbrüche, Irritationen und Diskontinuitäten«686 zeigen. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie eng (im phänomenologischen Verständnis) das Sprechen der sprechenden Sprache

679 680 681 682 683 684 685 686

Oberschmidt 2009, 93, mit Bezug auf Schmidt 1979, 107. Oberschmidt 2009, 93ff. Oberschmidt 2009, 94. Oberschmidt 2009, 96. Oberschmidt 2009, 96. Vgl. Oberschmidt 2009, 96ff. Oberschmidt 2009, 98; mit Bezug auf Merlau-Ponty 1966, 73. Oberschmidt 2009, 98.

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mit dem Lernen (als Erfahrung) und Verstehen zusammenhängt. Es ist möglich, durch Metaphern etwas anhand der Musik zu lernen und zu verstehen. Dafür gilt es jedoch, so Oberschmidt, Metaphern im pädagogischen Kontext aufzugreifen und zu entfalten. Insbesondere die externen Metaphern sollten auf ihren Bezug zur Musik hin befragt werden, um ein Sichtbarwerden musikalischer Strukturen zu bewirken.687 Die durch die Metaphern entwickelten Sprachbilder lassen sich dabei weiter entfalten, indem die dazu erlebte Musik diese Bilder lebendig werden lässt. Jede erlebte Veränderung in der Musik lässt Veränderungen im Bild erleben und umgekehrt. »Das Sagen verändert das Wahrnehmen, aber auch das Wahrnehmen, vor allem das metaphorische Tasten, verformt das Sagen: Metaphorisches Sprechen verleiht Sinn, der sich erst im Vergewissern, Aufspüren und Einfühlen in die Metapher bemerkbar macht«.688 Die durch sprachliche Bilder suggerierten Eindrücke bleiben uns zudem länger im Gedächtnis als die rein musikalischen Eindrücke, die für uns von eher flüchtigem Charakter sind. Oberschmidt nennt in diesem Zusammenhang Metaphern auch »externe[s] Gedächtnis« und spricht davon, dass sie uns helfen, die Musik zu »entschleunigen«.689 Letzten Endes macht der Umgang mit Metaphern auch die »Unabgeschlossenheit des Verstehens«690 deutlich. Mit dem Entfalten von Metaphern setzt bisweilen ein schier endloser Prozess ein, so Oberschmidt. Wenn man sie jedoch nicht ausdeutet oder entfaltet, wirken sie wie Etiketten, was einem unreflektierten Umgang mit ihnen, einem Richtig-falsch-Denken gleichkommt.691 Der Umgang mit Metaphern in Bezug auf Musik, wie ihn Oberschmidt beschreibt, wird den oben genannten Forderungen nach einem Musikunterricht, der leibliches Lernen ermöglicht, gerecht. Denn er fordert einen schöpferischen Umgang mit Sprache heraus und knüpft an die lebensweltlichen Erfahrungen der Schüler an. Damit steht er jedoch auch jenen Problemen gegenüber, die für einen schülerorientierten Unterricht, in dem situativ gelernt wird, bezeichnend sind: Es handelt sich hier um pädagogische Prozesse, die nicht genau plan- und berechenbar sind. Dennoch versucht Oberschmidt die Arbeit mit und an der Metapher im Musikunterricht zu systematisieren. Er bezieht sich hierbei unter anderem auf die systematische Darstellung des metaphorischen Prozesses durch Anil K. Jain (2002): Ausgangspunkt ist hier die »initiale Metapher«, die über eine »Verdichtung« hin zu einer »Rückübertragung« (auch »Retransfer«) führt.692 687 Oberschmidt nennt als Beispiel die Metapher eines vorbeihuschenden Tieres, die ein Schüler zur Musik fand. Hier ließe sich beispielsweise damit beginnen, zu fragen, wasvorbeihuschen in diesem Zusammenhang bedeutet. Vgl. Oberschmidt 2009, 100f. 688 Oberschmidt 2009, 102. 689 Vgl. Oberschmidt 2009, 260ff. 690 Oberschmidt 2009, 102. 691 Vgl. Oberschmidt 2009, 135. 692 Vgl. Oberschmidt 2009, 111.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

»Eine initiale Metapher bildet den Ausgangspunkt des Prozesses; ein erstes Schlüsselloch, durch das man in die bisher unbekannte Welt hineinblicken kann. Diese wird anschließend assoziativ ausgestaltet und damit verdichtet, abschließend werden die neuen Erkenntnisse auf den zugrunde liegenden Gegenstand gespiegelt«.693 Es wird deutlich, was der Autor bereits mit Bezug auf Bernhard Debatin aufgezeigt hat: Die Metapher leistet einen intuitiven rationalen Vorgriff, dessen Potential für ein begriffliches Denken für den pädagogischen Kontext durch Reflexion nutzbar gemacht werden kann.694 In der Metapher gelingt eine Zusammenschau, in der ein erstes (direktes) Verstehen möglich ist. Die Reflexion der Metapher sollte dabei, so Oberschmidt, die Grenzen der verwendeten Begriffe ausreizen (zum Beispiel, indem Gegenmetaphern gefunden oder sie konsequent ausgedeutet werden).695 Der Weg zurück kann hinwiederum schwer oder gar unmöglich sein, denn, so Arnold Schönberg: »Je genauer wir beobachten, umso rätselhafter wird für uns die einfachste Sache. […] Aber wenn wir die Teile auseinandergenommen haben, sind wir meist nicht mehr imstande, sie wieder genau zusammenzusetzen, und haben verloren, was wir vorher schon besessen hatten: das Ganze mit allen Details und seiner Seele.«696 Ziel eines metaphorischen Sprechens über Musik im Musikunterricht ist, so lässt sich zusammenfassend sagen, weniger der genau festgelegte, geteilte und somit möglichst objektive Wortbegriff, sondern der Weg im Sinne eines Sichannäherns an die musikalische Struktur. Diese wird dabei für den Sprechenden immer differenzierter wahrnehmbar und bewusst. Versucht man den metaphorischen Sprachgebrauch im Hinblick auf eine konkrete Praxis des Musikunterrichts zu systematisieren, treten im Wesentlichen zwei Richtungen für Wege eines Umgangs mit Metaphern hervor: der Weg von der Musik zur Metapher, der das direkte Erleben der Musik und das Bilden einer Metapher initiiert, und der Weg von der Metapher zur Musik, auf dem der Nachvollzug der Bedeutung einer Metapher eine ihr entsprechende musikalische Struktur wahrnehmen lässt und bewusst macht. Es geht entweder um eine direkte oder eine indirekte Begriffsbildung im Sinne eines Nachvollzuges eines (nicht selbst gebildeten) Begriffes, der jedoch (wie oben bei Prozessen der Mimesis beschrieben) auch einen schöpferischen Aspekt in sich birgt. Dies sei mit folgender Darstellung nochmal veranschaulicht.

693 694 695 696

Oberschmidt 2009, 110f. Vgl. Oberschmidt 2009, 110. Vgl. Oberschmidt 2009, 117ff., mit Bezug auf Debatin. Schönberg, zitiert nach Oberschmidt 2009, 126.

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306

Bewegung und Musikverstehen

Abbildung 1: 2 Vermittlungswege zwischen Metapher und Musik

Musik

Begriffsbildung durch Bewusstwerdung der eigenen musikalischen Erfahrung

Metapher

      Vermittlung von Anschauung durch Bereitstellung eines Konzeptes aus einem anderen Erfahrungsbereich, dadurch   Metapher Nachvollzug der entsprechenden Musik Erfahrungsstruktur   (Begriffs-Nachvollzug)         Beide dargestellten Vermittlungswege sollten, um einem phänomenologischen Begriff von »Begriff« gerecht zu werden, jedoch im Wechsel erfolgen. Eventuell lässt sich hier auch von einer Kreis- oder Spiralbewegung sprechen. Durch den reflektierenden Umgang mit Metaphern im sozialen Feld kann die vermittelte Anschauung in einen allgemeinen, geteilten Begriff überführt werden. Dabei sollte der Metaphernbegriff immer wieder aufs Neue hinterfragt werden. Dies geschieht quasi schon von selbst in der Anwendung auf die nächste musikalische Situation oder in der Übernahme durch ein anderes Ich. Die Bedeutungen von Metaphern unterliegen somit einem ständigen Wandel; die vermittelten Sprachbilder werden stets weiterentfaltet und verändert.697 Der Umgang mit Metaphern ist schöpferisch und setzend zugleich, gelangt nie zum Stillstand. Generell sollte im musikpädagogischen Kontext – darauf weist auch Oberschmidt hin – der Weg von der Metapher (über die Anschauung) hin zur Musik nicht überwiegen. Wir hätten es hier sonst wieder mit dem Problem des genetischen Fehlschlusses zu tun. Zwar kann die sprachliche Metapher weit in den Bereich des Erlebens, der präsentativen Symbolformen vordringen, doch letztendlich bleibt auch sie ein sprachliches Mittel. Somit lassen sich die oft benannten Grenzen der Wortsprache im Hinblick auf eine Annäherung an die Musik auch durch Metaphern nicht gänzlich überwinden. Dennoch kann sie die oben beschriebenen, in diesem Zusammenhang hervortretenden 697 Eventuell eignet sich das Bild der Spiralbewegung, um zu veranschaulichen, wie durch die Kreisbewegung der Reflexion zunehmend Distanz zum Untersuchungsgegenstand Musik beziehungsweise zum eigenen Erleben gewonnen wird. Dieser Prozess kann jedoch immer wieder von einer anderen Warte aus von neuem beginnen, wieder ›unten‹ bei einem Erleben ansetzen.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Defizite von Sprache abmildern, und zwar, indem sie versucht, das Nichtsagbare zum Ausdruck zu bringen, ohne es genau zu benennen. »Die Metapher bleibt also Ergebnis einer ›Überschreitung‹ und Ausdruck für die Unvollkommenheit unserer begrifflichen Sprache.«698 Oberschmidt zufolge ist die Metapher demnach eine paradoxe Erscheinung: »Die Metapher hat – einmal in die Welt gesetzt – die Verbindung gesprengt, die sie selbst gestiftet hat.«699 Im Erschaffen von Verbindungen zwischen Kind und Musik liegt das pädagogische Potential von Metaphern. Im Sinne eines »konstruktivistischen Zugangs«700 sollten beim metaphorischen Sprechen im Musikunterricht die Schüler, so Oberschmidt, selbst zu Subjekten ihres Verstehens von Musik werden, ihr eigenes Verstehen verstehen.

5.3.3.3

Musik als Symbolform? Fragen an die Symboltheorie von Susanne K. Langer

Die bisher zusammengetragenen Erkenntnisse der Symboltheorien von Cassirer und Langer werden in diesem Kapitel nun auf den Umgang mit Sprache im Musikunterricht übertragen. Hierbei wird geprüft, inwiefern sich das Herausbilden von Begriffen in der Auseinandersetzung mit Musik auch als Symbolbildung beschreiben lässt. »Symbolbildung« und »Begriffsbildung« sollen dabei nicht miteinander gleichgesetzt werden. Vielmehr wird Begriffsbildung hier als eine spezifische Art und Weise der Symbolbildung verstanden. Es wird in diesem Zusammenhang auch von Symbolbildung gesprochen, um zu betonen, dass, bezogen auf den Umgang mit Musik, Begriffe als vorsprachliche Begriffe und Werkzeuge des Verstehens betrachtet werden. Von musikalischen Begriffen im Hinblick auf einen verstehenden Umgang mit Musik zu sprechen, könnte den Eindruck erwecken, der konkrete Wortbegriff würde als Ziel- und Endpunkt des Verstehens betrachtet werden. Stattdessen wird Verstehen von Musik vielmehr als Bewegung, die immer wieder zu Symbolbildung führt, verstanden. Der Prozess des Bildens von Formen ist für das Verstehen zentral. Zwischen dem Herausbilden musikalischer Formen in der Wahrnehmung und dem Bilden von vorsprachlichen und wortsprachlichen Begriffen besteht dabei ein ständiges Wechselverhältnis. Musikalische Begriffsbildung ist somit als dynamisch zu begreifen. Sie beschreibt den Weg und nicht das Ziel der Auseinandersetzung mit Musik. Susanne Langer legt detailliert dar, worin die Unterschiede zwischen Sprache und Musik bestehen. Aus Trennendem und Verbindendem zwischen Musik und Sprache lassen sich Schlüsse für die Möglichkeiten und Grenzen eines Sprechens über Musik mit dem Ziel des Musikverstehens eruieren.

698 Oberschmidt 2009, 137. 699 Oberschmidt 2009, 137. 700 Oberschmidt 2009, 23.

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Bewegung und Musikverstehen

Grundlegend ist zunächst Langers Erkenntnis, dass verschiedenen Symbolformen auch verschiedene Erfahrungsmodi zugrunde liegen. Die musikalische Erfahrung lässt sich daher primär nur durch den direkten musikalischen Vollzug oder sekundär durch die Übertragung ihrer Erfahrungsstruktur auf eine symbolische Form auf gleichem Symbolisierungsniveau nachvollziehen. Sprache bezieht sich nicht direkt auf Musik, sondern auf die subjektive und die, durch den Prozess der Verständigung geteilte, musikalische Erfahrung. Mit der Unterteilung in präsentative und diskursive Symboltypen begründet Langer, warum man Musik nicht als eine Sprache (also als diskursive Symbolform) bezeichnen kann. Durch ihre Bindung an einen zeitlichen Verlauf ist Musik als Symbolform der Sprache jedoch näher als andere präsentative Symbolformen. »Und doch ist sie [die Musik; Anm. A. R.-U.], logisch betrachtet, keine Sprache, denn sie besitzt kein Vokabular. Die Töne einer Tonleiter als ›Wörter‹, die Harmonie als ›Grammatik‹ und die thematische Entwicklung als ›Syntax‹ zu bezeichnen, ist eine überflüssige Allegorie, denn den Tönen fehlt gerade das, was das Wort von der bloßen Vokabel unterscheidet: die fixierte Konnotation oder ›lexikalische Bedeutung‹.«701 Musik als Symbolform ist nach Langer dem Diskursiven näher als beispielsweise das Bild. Denn auch in der Musik als Zeitkunst, werden musikalische Gedanken in einer zeitlich sukzessiven Abfolge zur Darstellung gebracht. Daher erfüllen, so Seewald, »die tonalen Elemente alle strukturellen Bedingungen der diskursiven Symbolform. Sie lassen sich frei kombinieren und ändern in der Kombination ihren Charakter. Sie sind gut zu unterscheiden, zu wiederholen und im Gedächtnis zu behalten. Sie sind als symbolisches Medium leicht erzeugbar und flüchtig genug, um auf das Symbolisierte zu verweisen. Außerdem sind die tonalen Elemente sequentiell angeordnet.«702 In Anlehnung an die Gestalttheorie behauptet Langer jedoch, eine Melodie ist mehr als die Aneinanderreihung von Tönen.703 Außerdem vermag Musik, Gefühle unmittelbar darzustellen, ohne sich dabei lediglich auf fertige Erfahrungen zu beziehen (wie es die Sprache tut). Sie vermittelt »Ausdruckskraft«, nicht lediglich »Ausdruck«.704 Langer verweist auch auf den Zusammenhang von Musik und leiblichen Regungen als einem Wechselspiel von Spannung und Entspannung, bei der innere Bewegungsabläufe eine dazugehörige »psychische Resonanz« erzeugen:

701 702 703 704

Langer 1984, 225. Seewald 1992, 114. Vgl. Seewald 1992, 114f. Seewald 1992, 115.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

»Die Grundbeziehungen in der Musik sind Spannungen und Entspannungen, und die durch diese Funktion erzeugten inneren Bewegungsabläufe sind die gleichen in aller Kunst und auch in der dazugehörigen psychischen Resonanz. Überall[,] wo bloße Gegensätze von Ideen eine Resonanz hervorrufen, überall[,] wo Erfahrungen reiner Form eine geistige Spannung erzeugen, haben wir das Wesen der Melodie vor uns«.705 Diese emotionale Erfahrungstiefe ist durch Sprache, so Langer, nie erreichbar.706 Seewald macht jedoch auf einen Widerspruch bei Langer aufmerksam. Sie bezeichnet Musik als symbolische Form, behauptet aber, bei Musik gibt es weder feste Denotationen, noch feste Konnotationen.707 Er wendet daher ein: »Musik erfüllt damit aber nicht die Bedingung des Symbolischen im logischen Sinne, weil ihr eine umgrenzte Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem fehlt.«708 Langer selbst bezeichnet Musik auch als »unvollendetes Symbol«.709 Den Sinngehalt der Musik nennt sie »implizit«, da er nicht außerhalb der Musik existiert.710 In späteren Werken ist Langer vorsichtiger geworden, Kunst überhaupt als Symbolismus zu bezeichnen, so Grüny: »Ein Symbolismus wäre ein Symbolsystem, ein entwickeltes Gefüge identifizierbarer Elemente und benennbarer Kombinationsregeln – also genau das, was den diskursiven Symboltyp ausmacht und dem präsentativen gerade fehlt. Man müsste dann sagen, dass die Kunst Symbole produziert, ohne eines Symbolismus zu bedürfen.«711 In der Weise, wie sie die Symbolform Kunst und Musik untersucht, zielt Langer dennoch weiter auf die »Erweiterung des Rationalitätsbegriffs.«712 Unter anderem stellt sie in Feeling and Form (1953) folgende Besonderheit der Kunst in Bezug auf das Fühlen heraus: Nur die Kunst allein vermag es, das Fühlen des Menschen darzustellen. Diskursive Symbolismen hingegen scheitern hieran.713 Nach Langer ist Kunst (und somit auch Musik) also »das Erschaffen von Formen, die menschliches Fühlen symbolisieren«.714 Dabei spricht sie bewusst von

705 706 707 708 709 710 711 712 713 714

Langer 1984, 224. Vgl. Seewald 1992, 116. Vgl. Seewald 1992, 116. Seewald 1992, 116. Langer 1984, 236. »Implizit nennt Langer diese Bedeutung deshalb, weil sie nur im Gegenstand der Kunst erlebt wird und nicht getrennt von ihm erfaßt werden kann«. Seewald 1992, 117; Herv. im Original. Grüny 2018, 20. Grüny 2018, 20. Vgl. Grüny 2018, 24. Langer 2018, 120.

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Bewegung und Musikverstehen

feeling beziehungsweise Fühlen, um den verbalen Charakter des Begriffs zu unterstreichen. Denn sie versteht Fühlen stets als ein Tun und nicht als ein Haben.715 »Gefühle und Emotionen sind nur ein Teil dessen, was der Begriff bezeichnen soll, vielmehr geht es um die Dynamik innerer Erfahrung überhaupt.«716 Der Kunst teilt sie dabei die Rolle zu, unser Erfahrungserleben zu beschreiben und es uns somit überhaupt erst bewusst zu machen.717 Dies tut sie, indem sie uns Illusionen vermittelt, an denen wir etwas erfahren. »Sie zeigt Dinge, die nicht wirklich da sind, die aber auch nicht lediglich Aspekte der Welt illusionär verdoppeln, und macht so etwas auf neue Weise erfahrbar.«718 Langer spricht dabei von verschiedenen »primären« und »sekundären Illusionen«719 in den verschiedenen Künsten: So ordnet sie der bildenden Kunst als primäre Illusion die Räumlichkeit und als sekundäre Illusion die Zeitlichkeit, der Musik hingegen als primärer Illusion die Zeitlichkeit und als sekundäre Illusion die Räumlichkeit zu.720 Der Kunst schreibt Langer gegenüber anderen Symbolformen den Charakter des Transformativen zu. Während einige Erlebnisse nebenher Bilder hervorrufen, die eine Bedeutung übertragen – so zum Beispiel die oben erwähnte Phantasie der Aggression durch einen vorbeifahrenden Zug oder einen Sturm –, macht sich die Kunst gerade diese Transformation quasi zur Aufgabe.721 Langer fasst das Wesen »aller«722 Musik generell wie folgt in prägnanter Weise zusammen: »Die Schöpfung einer virtuellen Zeit und ihre vollständige Bestimmung durch die Bewegung der hörbaren Formen.«723 Der Kompositionsprozess ist ihr zufolge geprägt von Entscheidungen, die zugleich immer auch ein »Opfer«724 bedeuten, da in der musikalischen Matrix ein Reichtum an Möglichkeiten enthalten ist. Als strukturgebend und somit von essentieller Bedeutung hebt Langer den Rhythmus von Musik hervor. Denn ihm obliegt es hauptsächlich, den Eindruck von Zeitlichkeit zu vermitteln. So geht Musik, nach Langer, gar in ihrer ursprünglichsten Form auf den bloßen Rhythmus zurück.725 Auch das für die Musik so essentielle Prinzip der Wiederholung gehört dem Rhythmus an, wie aus Langers Beschreibung vom Wesen des Rhythmus deutlich hervorgeht:

715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725

Vgl. Grüny 2018, 25. Grüny 2018, 26. Vgl. Grüny 2018, 28. Grüny 2018, 31. Grüny 2018, 32. Vgl. Grüny 2018, 32. Vgl. Grüny 2018, 36. Langer 2018, 241. Langer 2018, 241. Langer 2018, 238. Vgl. Langer 2018, 244.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

»Das Wesen des Rhythmus ist die Vorbereitung eines neuen Ereignisses durch das Beenden eines vorangegangenen. Wer sich rhythmisch bewegt, braucht keine einzelne Bewegung exakt zu wiederholen. Wohl aber müssen seine Bewegungen vollständige Gesten sein, so dass man Anfang, Absicht und Vollendung und in der Schlussphase der einen Bedingung, ja das Entstehen einer anderen erkennt. Rhythmus ist das Erzeugen neuer Spannungen durch die Auflösung früherer. Diese müssen in keiner Weise von gleicher Dauer sein, doch die Situation, die eine neue Krise heraustreibt, muss in der Auflösung ihrer Vorgängerin enthalten sein.«726 Langer beschreibt den Rhythmus hier nicht nur als wesensbildend für die Musik, sondern auch als Wesen des Lebendigen schlechthin. Sie macht damit einmal mehr deutlich, dass Musik stets als Gesamtstruktur zu verstehen ist, bei der sich jedes einzelne Element auf ein Vorher und Nachher sowie auf ein Ganzes bezieht. Auch das Fühlen ist, nach Langer, vom Aspekt des Zeitlichen gezeichnet. »Alles, was eine Zukunft vorbereitet, erschafft einen Rhythmus; alles, was eine Erwartung erzeugt oder steigert, die Erwartung schierer Fortdauer eingeschlossen, bereitet eine Zukunft vor […] und alles, was die verheißende Zukunft auf vorhersehbare oder nicht vorhersehbare Weise erfüllt, artikuliert das Symbol des Fühlens.«727 Die Nähe zum Begriff des Lebens zeigt somit wiederum die Möglichkeit des verstehenden Zugangs zu Musik auf: Im leiblichen Nachvollzug, im leiblichen Spüren, wird Musik für uns lebendig. (Langer macht damit also auch deutlich, wie nahe sich Leib – als Begriff für das Lebendige schlechthin – und Musik sind.) Wenn uns Musik im Fühlen, im leiblichen Mitvollzug so nah sein kann, warum artikuliert die Musikpädagogik das Verstehen von Musik seit Jahr und Tag als Problem? Langers Antwort hierauf ist, dass die Musik ein Eigenleben besitzt, das uns mit einer gewissen Objektivität entgegentritt. Schon in ihrem Entstehen hält die Musik dem Komponisten eine eigene »Leitform«728 entgegen, so Langer. Nach ihrer Vorstellung besitzt sie etwas Organisches, womit sie sich von dem Menschen, der mit ihr umgeht, abgrenzt.729 Dieses eigene Leben muss der Musik auch in ihrer Reproduktion stets zugestanden werden, fordert Langer. Damit spricht auch sie gegen eine Musikpraxis, bei der es nur um das mechanische Reagieren und um technische Höchstleistung geht. Die Musik an sich wird dann nicht getroffen, wenn die Technik des Spielens oder die persönlichen Gefühle des Spielers zu sehr 726 727 728 729

Langer 2018, 244. Langer 2018, 247. Langer 2018, 237. Vgl. Langer 2018, 236ff., 251.

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Bewegung und Musikverstehen

in den Vordergrund geraten, wenn er sie gar als Ventil eines gänzlich subjektiven Ausdrucksbedürfnisses benutzt.730 Auch beim Musikhören sollte es, so schreibt Langer, immer um die Musik an sich gehen, nämlich darum, »die primäre Illusion zu erfahren, die zusammenhängende Bewegung zu fühlen und sofort die Leitform zu erkennen, die das Stück zu einem unantastbaren Ganzen macht.«731 Nach Langer bedarf es zunächst des eigenen persönlichen Fühlens, um Musik als etwas Lebendiges zu erkennen und zu verstehen. Das Verstehen sollte sich dann jedoch auf die Musik an sich richten. Damit meint sie alles Tun, das bewirkt, dass das Wesen der Musik sich zeigt und gleichsam als organisches Eigenes geschützt wird. »Es geht um die Wahrnehmung des Fühlens durch einen rein scheinhaften Fluss des Lebens, der nur in der Zeit existiert. Alles, was der Zuhörer tut oder denkt, um diese Erfahrung lebendiger zu machen, ist musikalisch gut.«732 Ein Hören, das wiederum nur auf ein Selbsterleben ausgerichtet ist, in dem Sinne, dass Musik dabei lediglich ein Selbsterleben möglich macht, ist kein Hören, das ein Verstehen von Musik bewirkt. Für Langer ist nur ein Tun zur Musik dem verstehenden Hören zuträglich, »was der Konzentration und dem Aufrechterhalten der Illusion hilft – sei es inneres Mitsingen, sei es das Verfolgen einer halbverstandenen Partitur oder das Träumen in dramatischen Bildern«.733 Generell misst sie dem Zuhören für das Verstehen von Musik eine große Bedeutung zu, bezeichnet es als die »primäre musikalische Tätigkeit«, da aus ihr jegliche Musik entspringt.734 »Zuhören ist nämlich die primäre musikalische Tätigkeit. Der Musiker hört seiner eigenen Idee zu, bevor er sie spielt und niederschreibt. Die Grundlage eines jeden musikalischen Fortschritts ist verständigeres Hören. Und worauf wirklich jeder Künstler angewiesen ist, will er weiterhin Musik erschaffen, ist eine Welt, die zuhört.«735

730 731 732 733 734

735

Vgl. Langer 2018, 270f. Langer 2018, 272. Langer 2018, 272f. Langer 2018, 273. Interessant sind auch Langers Ausführungen zum inneren Hören beziehungsweise Lesen von Musik. Sie vergleicht es mit dem stillen Lesen von Schrift und macht einmal mehr den Unterschied zwischen beiden Symbolformen daran deutlich: Wörter sind gegenüber Tönen bereits als abgeschlossene Symbole zu verstehen – die auch allein ohne Zusammenhang oder Kontext ihre Bedeutung entfalten – anders beim einzelnen Ton. Zwar kann sich ein Musiker auch gedanklich Musik zum Klingen bringen, jedoch werden hierbei Momente ausgespart, die sich nur in einem tatsächlichen Erleben von Musik ereignen und für ein Gesamtverständnis von Bedeutung sind, so Langer. Ein plötzlicher lauter Klang erzielt beispielsweise beim Hören eine andere Wirkung als in der Vorstellung. Vgl. Langer 2018, 257ff. Langer 2018, 273; Herv. im Original.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Aufschlussreich ist auch Langers Beschreibung des Verhältnisses von Musik und Sprache, wenn es um Werke geht, bei denen beide Symbolformen direkt miteinander verbunden sind, wie beispielsweise in Kompositionen, die Texte enthalten. Langer räumt der Musik hier eine absolute Vorrangstellung ein, die sie wiederum im charakteristischen Wesen von Musik begründet sieht. Sie stellt die These auf, dass alles, was die Musik in ihren Ausdruck einverleibt, zu einem musikalischen Mittel wird. Unter anderem am Beispiel von Bachs Kirchenmusik schildert sie in Feeling and Form, wie die Sprache im Dienste der Musik Bachs fungiert.736 Damit will Langer die Sprache nicht der Musik gegenüber abwerten, sondern lediglich auf das Phänomen aufmerksam machen, dass die Ausdruckskraft der Worte durch ihre Einbindung in die Musik zu einer musikalischen Ausdruckskraft wird. Die Sprache wird, nach Langer, durch die Komposition, die Sprache integriert, selbst zur Musik. »Alles, was sich dem vitalen Symbolismus der Musik einfügt, gehört zur Musik, und alles, was das nicht leistet, hat mit Musik nichts zu schaffen.«737 Langer zufolge trifft dies auch für das Lied zu: »Wenn Worte und Musik im Lied zusammenkommen, verschluckt die Musik die Worte, und nicht nur Worte und Sätze in ihrer schlichten Bedeutung, sondern auch literarische Wortstrukturen, Poesie. Das Lied ist kein Kompromiss zwischen Musik und Dichtung, auch wenn der Text für sich genommen ein großartiges Gedicht sein mag; ein Lied ist Musik.«738 Mit Langer wird somit ein neuer Blickwinkel auf das Problem der Vertonung von Texten und das Verhältnis von Wort und Ton geöffnet. Dabei bezieht sie sich auf Robert Schumann, der bei der Komposition seiner Liederzyklen bereits Folgendes als Problem herausstellt: Je eigenständiger und gelungener Gedichte sind, umso schwieriger ist es, sie zu vertonen. »Wenn ein Komponist ein Gedicht in Töne setzt, löscht er das Gedicht aus und schafft ein Lied.«739 Schumann erlebt dies, als er unter anderem Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe in seinen Liederzyklen zu musikalischen Kompositionen umwandelt. Dabei steht er vor dem Problem, etwas auflösen oder sogar in Frage stellen zu müssen, was ihm bereits als vollkommen und gelungen erscheint.740 Anders wird diese Problematik, so Langer, im Kirchengesang behandelt. Hier wird die Bedeutung der Worte zwar auch zu einer musikalischen, doch beugt sich die Musik hier bewusst der Schwere der Bedeutung der Worte und unterlegt diese nicht zusätzlich mit musikalischer Spannkraft.741

736 737 738 739 740 741

Vgl. Langer 2018, 274ff. Langer 2018, 278. Langer 2018, 279. Langer 2018, 279. Vgl. Langer 2018, 280f. Vgl. Langer 2018, 277f.

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Bewegung und Musikverstehen

Langer spricht insgesamt von der »Assimilation« der Sprache an die Musik und sieht in diesem Prinzip »auch eine Lösung für die ganze Kontroverse über reine und unreine Musik, die Vorzüge und Mängel von Programmmusik und die Verurteilung der Oper«.742 Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus Langers Symboltheorie und Langers Beschreibung der Symbolform Musik für die musikpädagogische Praxis? Beide Symbolmodi und die ihnen zugrunde liegenden Erfahrungsmodi können nach Langer über den Begriff miteinander kommunizieren.743 Dabei liegt den sprachlichen Begriffen ein Bewusstwerden der jeweiligen Erfahrungsvollzüge zugrunde. Denn nach Langer können wir keine geistige Vorstellung von etwas haben, das nicht zuvor in Erfahrungen präsentativ dargeboten wurde. Obwohl Wortbegriffe den Bereich der musikalischen Erfahrung nicht direkt berühren, können sie zu einem verstehenden Umgang mit Musik führen, indem sie Verständigung und Strukturierung des Erlebten ermöglichen. Durch Sprache erhalten wir eine distanzierte Sicht auf das im Fühlen und Erfahren Verstandene. Diesen Abstand zu ermöglichen vermag nur die Sprache. »Die Sprache ist wegen ihrer allgemein geteilten Konnotationen die ideale Mittlerin zwischen den verschiedenen Symbolmodi. Deshalb lässt sich über ein Bild sprechen wie über ein Musikstück, ohne daß die Sprache jedoch das spezifische Erfahrungspotential voll ausschöpfen oder angemessen darstellen könnte. Anders ausgedrückt: Sprachliche Begriffe vermitteln zwischen dem, was sich nur nichtsprachlich begreifen läßt.«744 Für die musikalische Begriffsbildung außerdem relevant ist die von Langer beschriebene Empfänglichkeit unterschiedlicher Symboltypen füreinander auf gleichem Symbolisierungsniveau. Das Transferieren von symbolischen Inhalten beziehungsweise Erfahrungskonzepten gelingt, so Langer, über Vorstellungen. Da aus diesen Vorstellungen letztlich Begriffe hervorgehen, die in Sprache überführt werden können, ist es wichtig, im Musikunterricht transformatorische Prozesse zwischen Musik und Symbolformen, die sich der Musik auf gleichem Symbolisierungsniveau annähern können, zu unterstützen. Dies geschieht beispielsweise durch das Übertragen wahrgenommener musikalischer Sinnstrukturen in bildhafte Sprache, das gemalte Bild, die nachahmende Bewegung, in künstlerischen Objekten jeglicher Art oder das Pantomimespiel. Im Moment des Nachbildens als Erfahrung im Medium einer nahen Symbolform treten die durch musikalische Erlebnisse gebildeten Phantasien hervor. Wenn diese als Verbindungsglied zwischen

742 Langer 2018, 285. Anstelle von unreiner oder minderwertiger Musik gäbe es Langer gemäß nur gute oder schlechte Musik. Vgl. Langer 2018, 285. 743 Vgl. Seewald 1992, 111. 744 Seewald 1992, 112.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

den verschiedenen Symbolformen fungieren, werden sie zu Vorstellungen, auf die sich ein späteres Benennen durch Wortsprache beziehen kann. Indem also Symbolgehalte zwischen den verschiedenen Symbolformen hin und her wandern, werden die wesenhaften Kerne der sich bildenden Symbole sichtbarer und greifbarer, somit also auch der Sprache zugänglich. Langer hat diesen Prozess als eher passiven Sedimentierungsvorgang beschrieben. Im Hinblick auf die musikpädagogische Situation wird der Fokus in der vorliegenden Arbeit jedoch stärker auf die aktiven Anteile des Prozesses, der Schwerpunkt mit Cassirer und Merleau-Ponty auf die Dynamik der Wahrnehmung gelegt. Dennoch wird mit Langer die Vermutung geteilt, dass das Symbolhafte noch nicht in der ersten Wahrnehmung gegeben ist. Insgesamt sollte es auch im Musikunterricht zunächst um die Ausbildung eines bildhaften Bewusstseins gehen. Musikalische Begriffsbildung erfolgt dann zunächst über die zunehmende Kontrolle über die entstandenen Imaginationen, begleitet vom Prozess der Veröffentlichung, wie zum Beispiel durch Übertragung in körperliche Bewegung. Auf diese Weise werden Imaginationen von individuellen zu gemeinschaftlichen Akten.745 Dabei löst sich die zum Ausdruck gebrachte Vorstellung vom Erleben sowie von der konkreten Situation und wird dadurch symbolisch aufgeladen. Um musikalische Imaginationen oder Phantasien zum Ausdruck zu bringen und zu veröffentlichen, bedarf es jedoch eines geeigneten Mediums. Im Hinblick auf die Sprache kann dies hier (noch) nicht die formalisierte Musikfachsprache leisten, da sie in der Regel (noch) nicht von den Kindern selbst gebildet wird und demnach eine zu große Distanz zum musikalischen Phänomen aufbaut. Sie lässt Musik weniger erfahren beziehungsweise nachvollziehen. Hier kann nur ein bildhaftes, metaphorisches und somit für Kinder lebensweltnahes Sprechen über Musik flexibel genug sein, um Symbolisierungs- und Verstehensprozesse adäquat zu begleiten und zu unterstützen. Mit Blick auf die musikpädagogische Situation wird die Variation von Erfahrungsvollzügen mit dem Ziel der Wesensschau sowie die »innere Veranschaulichung«746 von Erlebnissen durch Erinnerungsniederschläge in Form von »Phantasien«747 im Langer’schen Sinne für inszenierbar gehalten, auch wenn der Ausgang sowie der Prozess der Symbol- und Begriffsbildung an sich für den Pädagogen letztlich unzugänglich bleibt. Wichtig ist – und dies konnte auch mit Langer noch einmal bestätigt werden –, dass der Ursprung aller Symbolbildung und somit auch der sprachlichen Begriffsbildung im Leibsein, dem leiblichen Erleben liegt. Um »Erinnerungsniederschläge« nach Langer zu begünstigen und ein weiteres Mal an Cassirer und Schwemmer anzuschließen, sollte außerdem der Aspekt der Wiederholung im Musikunterricht eine besondere Rolle spielen. Zum einen lässt es sich als ein wesensbestimmendes Merkmal von Musik an der Musik selbst

745 Vgl. Springstübe 2013, 116. 746 Seewald 1992, 118. 747 Seewald 1992, 100.

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Bewegung und Musikverstehen

erfahrbar machen. Zum anderen sollten die, im Umgang mit Musik gebildeten, Begriffe (seien sie vorsprachlicher oder sprachlicher Natur) immer wieder in neuen Situationen angewendet und somit auf ihre Bedeutung hin neu hinterfragt werden. Symbolbildung am Phänomen Musik kann nur gelingen, indem das Erkannte von der konkreten Situation abgelöst wird, denn Vorstellungen werden dann symbolisch, wenn sie auf etwas jenseits der Situation hinweisen.748 Dafür müssen sie uns zunächst als Strukturen begreifbar werden. Dies ist durch Wiederholungen möglich, da sie ein Ins-Verhältnis-Setzen des Wahrgenommenen ermöglichen. Zusammenfassend lässt sich mit Cassirer und Langer feststellen: Musikalische Begriffsbildung vollzieht sich schwerpunktmäßig im Übergangsbereich zwischen Ausdruck und Darstellung.749 Musikverstehen findet also auch aus der Perspektive der Symboltheorie im vorsprachlichen Bereich und dennoch, durch das Herausbilden von Phantasien und Vorstellungen, bereits als geistiger Akt statt. Da Verstehen so weit in den Bereich des Ausdruckserlebens hineinreicht, haftet Begriffen, die unser Verstehen ans Licht bringen nach Langer immer ein persönlicher Hintergrund an, denn sie sind stets mit persönlichen Vorstellungen verbunden.750 Dies stellt eine Herausforderung für die sprachliche Verständigung über Musik im Musikunterricht dar, birgt jedoch auch folgende wichtige Chance in sich: Mit dem Stiften von persönlichen Bedeutungen können Impulse für Prozesse der musikalischen Begriffsbildung gesetzt werden.

5.3.3.4

Zusammenfassung: zur Bedeutung von Verbalisierungen bei Prozessen der Annäherung an Musik

Da sich Prozesse des musikalischen Verstehens, Lernens und der Begriffsbildung vorwiegend im Verborgenen vollziehen, stellt es eine Herausforderung für die pädagogische Praxis dar, diese geplant in die Unterrichtsstruktur zu integrieren. Wir wollen musikalische Begriffsbildung bewirken, können aber weder genau dokumentieren noch vorhersagen, wann Begriffsbildung beginnt, wie sie erfolgt und wo sie genau endet (beziehungsweise gehen wir davon aus, dass sie überhaupt nicht endet). Und dennoch gibt es sie, die musikalischen Wortbegriffe, mit denen wir umgehen, und erweist uns die Sprache einen unersetzlichen Dienst im Hinblick auf das Musikverstehen. Die in diesem Kapitel aus dem Bereich der Phänomenologie und der Symboltheorie zusammengetragenen Möglichkeiten und Grenzen von Sprache, Musikverstehen zu begleiten oder hervorzurufen, sollen an dieser Stelle nun miteinander verbunden werden.

748 Vgl. Seewald 1992, 119. 749 Vgl. Seewald 1992, 117. 750 Vgl. Seewald 1992, 112.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Sprache kann unser eigenes musikalisches Erleben zu einer Erfahrung werden lassen, uns diese bewusst machen. Der Wortbegriff ist also (im Idealfall) Träger unseres Erfahrungswissens sowie Werkzeug, um mit den eigenen musikalischen Erfahrungen umzugehen und dabei stets neue Erfahrungen zu vollziehen. Daher ist es prinzipiell für die pädagogische Situation wichtig, zum (sprachlichen) Ausdrücken über Musik anzuregen. Der Anlass des Verbalisierens sollte aber als Wunsch oder gar Bedürfnis aus dem direkten sinnlichen Kontakt mit Musik entspringen. Um der erlebten Erfahrungsstruktur so nah wie möglich sein zu können, bedarf es dabei einer Sprache, die dem sprechenden Kind vertraut ist und das Potential einer bildhaften Beschreibung hat.751 Aus phänomenologischer sowie symboltheoretischer Sicht ist Sprache aufgrund ihrer Gabe, uns das Erlebte in eine diskursive Struktur zu überführen, für das Denken ohne Ersatz. Sie kann Symbolisierungsprozesse begleiten, indem sie ein Ins-Verhältnis-Setzen, den Moment der Relationierung ermöglicht. Wenn Sprache also Denken und Bewusstsein für die wahrgenommenen symbolischen Formen hervorbringen kann, ist zu vermuten, dass an Sprache das Denken an sich erlernt und das Denken als Fähigkeit eines bewussten erkennenden Umgangs auf die Musik übertragen werden kann. Aus dem Wechselspiel zwischen Erleben und sprachlicher Beschreibung sowie aus einem Sprachgebrauch, der sich antwortend zur Musik verhält, kann sich ein Denken-in-Musik entwickeln. Dieses kann sich vom Denken in Sprache lösen, denn es beruht auf der Fähigkeit, musikalische Erfahrungen – noch unausgesprochen – zu reflektieren. Den diskursiven Charakter von Sprache bewusst meiden oder umgehen zu wollen und Musik lediglich mit einer Silbensprache zu begegnen, die die Musik direkt begleiten kann, wie es im Ansatz des AMU durch Rhythmussprache oder Solmisation Umsetzung erfährt,752 wird hier im Hinblick auf die Bildung von musikalischen Begriffen als nicht ausreichend betrachtet. Rhythmussprache und Solmisation entsprechen nicht der Sprache auf diskursivem Symbolisierungsniveau. Die Schwelle zur Diskursivität und die Formen des kausallogischen Denkens werden hierbei nicht überwunden. Stattdessen verbleiben sie auf der Stufe des Erlebens im Bereich präsentativer Symbolismen und schaffen keine Ordnung und erkennende Distanz. Dies ist im Hinblick auf eine Unterstützung des Erlebens des oben genannten Herausbildens von Vorstellungen und der Sensibilisierung der Wahrnehmung natürlich gewinnbringend, darf jedoch nicht mit sprachlicher Reflexion gleichgesetzt beziehungsweise verwechselt werden. Für die Bildung von musikalischen Wortbegriffen wird hier Material gesammelt, eine mögliche Brücke zur Dis-

751

Wenn man Begriffe zur Beschreibung anbietet, sollte auf Vielfältigkeit geachtet werden, damit nicht der Eindruck des einen ›richtigen‹ Begriffes entsteht, das Kind eine Wahlmöglichkeit hat und somit im fremden Begriff etwas Eigenes finden kann. 752 Vgl. Brunner 2016, 82f.

317

318

Bewegung und Musikverstehen

kursivität der Sprache jedoch noch nicht erschaffen. Die sprachähnlichen Gebilde gleichen sich der Musik an und verweisen somit auf keine eigene Materialität, die sich von der konkreten musikalischen Situation lösen ließe. Die musikalische Begriffsbildung wird dabei nicht hin zum öffentlichen und geteilten Wortbegriff geführt. Dabei gilt es doch gerade als Potential von Sprache, dass sie uns den sozialen Raum der Verständigung eröffnet und gemeinsames Lernen ermöglicht. Eine weitere Besonderheit von Sprache, die für den musikpädagogischen Kontext von Bedeutung ist, ist die, dass Sprache nicht nur über etwas wie Musik, sondern auch über sich selbst sprechen kann. Über den eigenen Sprachgebrauch zu reflektieren kann die Lernenden zu Subjekten ihrer eigenen Begriffsbildung machen. Außerdem schafft es ein Bewusstsein dafür, dass Lernen und Verstehen auch im Hinblick auf Musik nie als abgeschlossen betrachtet werden dürfen und auch Wortbegriffe immer wieder auf ihre Bedeutung hin kritisch betrachtet werden müssen. Sprachgebrauch muss im pädagogischen Kontext also generell offen und flexibel bleiben. Begriffe gemeinsam sprachlich zu entfalten, lässt Erfahrungsstrukturen für den Sprechenden selbst sowie für die anderen sichtbar und bewusst werden. Ein schülerorientierter Unterricht sollte daher Nutzen aus der Tatsache ziehen, dass Begriffe immer mit persönlichen Vorstellungen verbunden sind und demnach einen ganz persönlichen Zugang zum Lerngegenstand hervorrufen, der wiederum die Basis für jegliches Lernen und Verstehen bildet. Dies verlangt nach einem Unterricht, in dem das Bilden von Begriffen im Vordergrund steht. Im Sinne MerleauPontys braucht dies ausreichend Raum für das Sprechen der sprechenden Sprache. Das Sprechen der gesprochenen Sprache sollte wiederum immer in einem Wechselverhältnis mit dem Sprechen der sprechenden Sprache geschehen. Denn wenn, so Merleau-Ponty, die gesprochene Sprache aus der sprechenden Sprache hervorgeht, kann auch die gesprochene Sprache zum Sprechen der sprechenden Sprache anregen.753 Der gesuchte Umgang mit der gesprochenen Sprache soll daher mit dem Prozess des mimetischen Lernens verglichen werden: Es geht hierbei nicht um ein Nachsprechen im Sinne eines Imitierens, sondern um einen sich im Sprechen ereignenden Nachvollzug, der (wie oben zum mimetischen Lernen beschrieben) auch aktive, schöpferische Anteile eines verstehenden Subjektes meint. Beim Umgang mit sedimentierten Begriffen sollte es sich also stets um schöpferische Lernprozesse auch im Sinne eines Umlernens handeln. So können musikbezogene Begriffe beispielsweise zu Aufgaben und Herausforderungen werden und die oben beschriebenen ›Krisen‹ auslösen, die ein Lernen als Erfahrung bewirken können. Wenn wir über den Umgang mit Sprache im Musikunterricht nachdenken, stoßen wir unausweichlich auf einen Begriff, der zugleich mit ins Blickfeld einer kritischen Betrachtung rückt: die Reflexion. Wie oben beschrieben ist die Reflexion

753

Vgl. Grams 1978, 58f.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

etwas, wozu uns die Sprache befähigt, da sie uns die benötigte distanzierte Haltung einnehmen lässt. Sie setzt uns das Wahrgenommene in ihrem Regelsystem ins Verhältnis, ordnet es dadurch und macht es uns bewusst. Da jedoch Phänomenologie und Symboltheorie sich darin einig sind, dass Bewusstwerden und Erkennen bereits vor einem Zugriff durch Sprache erfolgen, muss davon ausgegangen werden, dass wir auch musikalische Strukturen bereits reflektieren, bevor wir über sie sprechen. Denn wie oben beschrieben wohnt bereits der Wahrnehmung von Musik ein Charakter des Reflexiven inne. Schließlich müssen wir, um musikalischer Gestalten gewahr werden zu können, uns zurückwenden, re-flektieren auf das im zeitlichen Strom Erklungene. Wir setzen es ins Verhältnis zu einem Kontext, der uns erst mit dem Verklingen des letzten Tones vollständig gegeben ist. Dieses InsVerhältnis-Setzen ist dabei noch nicht an Sprache gebunden und bezieht sich direkt auf unsere leibliche Erfahrung. Nach Merleau-Ponty reicht unser Bewusstsein in diesen Bereich der vorsprachlichen Reflexion hinein. Er versteht Bewusstsein als einen Modus des Verhaltens, der Erfahrung und betrachtet daher unser Verhalten als stets verbunden mit unserem Bewusstsein.754 Nach dieser Vorstellung kann es weder eine leibliche Erfahrung ohne Reflexion noch eine Reflexion ohne leibliche Erfahrung geben.755 Dies begründet, warum der Wortbegriff Dokument unserer Erfahrung ist. Musikbezogene wortsprachliche Begriffe sollten generell als Transportmittel unserer persönlichen und geteilten musikalischen Erfahrung verstanden werden. Unser sinnliches Erleben, unser Tun und Verhalten, unsere Erfahrung mit Musik kann uns Sprache jedoch nicht ersetzen. Musikalische Begriffsbildung beginnt bei der Musik selbst. Nach Langer projizieren Kinder zunächst Gefühle in Gegenstände, laden sie somit mit persönlicher Bedeutung auf, bevor sie die Dinge benennen. Ein Sprechen über Musik wurzelt daher im Empfinden, im Mitvollzug der als eigene leibliche Regungen empfundenen Ausdrucksgebärden der Musik. Hieraus geht ein Aufmerken, gehen bewusste persönliche Bedeutungszuschreibungen hervor, die der musikalischen Struktur nicht entsprechen, uns aber zu ihr hinführen, bleibt sie an den musikalischen Vollzug zurückgebunden. Diesen Schritt darf ein Sprachgebrauch nicht übergehen. Betrachtet man die Grenzen von Sprache, so erscheint die Ausrichtung des Prozesses der musikalischen Begriffsbildung auf ein konkretes sprachliches Ziel hin als fragwürdig. Sprache kann zum einen nicht in den Bereich des leiblichen Erlebens, des Ausdrucks, hineinreichen und zum anderen aber auch nicht in Bezug auf Musik im Wortbegriff zu einem Ende gelangen. Wir erwarten vom musikbezogenen Wort, dass es unabhängig von konkreten Situationen Bestand hat und mit seiner

754 Vgl. Gamboa 2012, 41. 755 Vgl. Gamboa 2012, 41.

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Bewegung und Musikverstehen

überdauernden Bedeutung zur Strukturierung von Erlebtem und Erfahrenem angewendet werden kann.756 Im Zusammenhang mit der Verbalisierung von Musik kann das Wort diesem Anspruch jedoch nicht gerecht werden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die These von Jin Hyun Kim, die besagt, dass Musik im Grunde ein »nicht-repräsentationales Embodiment«757 ist. »Ein Sinn, der jenseits der Zeit gilt, lässt sich als repräsentational beschreiben: Ein Sachverhalt, der repräsentiert wird, kann zwar in der Zeit ausgedrückt, aber gleichzeitig aus der Zeit herausgelöst werden.«758 Da musikalische Konzepte jedoch nicht losgelöst vom zeitlichen Vollzug Bestand haben, kann Kim mit dieser Feststellung einmal mehr begründen, warum es auch keine festen Wortbegriffe zur Beschreibung von Musik geben kann. Schaut man auf den aktuellen Diskurs zur Frage, wie Kinder Begriffe bilden, zeigt sich, wie wegweisend die Erkenntnisse der Phänomenologie und Symboltheorie sind. Denn sie haben noch heute Bestand. So bestätigt beispielsweise Ingelore Oomen-Welke, dass Begriffsbildung schon vor dem Gebrauch der Wortsprache ansetzt. Hintergrund dieser Behauptung ist die Beobachtung Oomen-Welkes, dass Kinder Phänomene bereits genau zu verstehen scheinen, bevor sie dieses Verstehen zur Sprache bringen. Sie schließt daraus, dass beim sprechenden Kind die für das Sprechen notwendigen »Kategorien« bereits vorhanden sind und plädiert für eine »Verzahnung von Begriff und Gebrauch im Spracherwerb«.759 »Kinder haben beim Beginn des Sprechens schon Begriffe gebildet, es gibt also offenbar vorsprachliche Begriffe; gleichzeitig gilt das Gegenteil: Kinder gebrauchen Wörter, ohne deren begriffliche Bedeutung (genau) zu kennen. Begriffe liegen also vor der Sprache, und sie werden mittels Sprache gelernt (und erweitert).«760 Dass sie Bewertungen für grundlegend für die Begriffsbildung hält, erinnert wiederum an Langers Erkenntnis, dass Begriffsbildung mit dem persönlichen Bedeuten, dem Projizieren von Gefühlen, beginnt. »Bewertungen gehören von Anfang an zur sprachlichen Sozialisation, daher sind die zwei ersten antonymischen Bewertungen für gut – schlecht/ekelig bei fast allen Kindern am Anfang des Sprechens zu finden.«761 Letztlich beschreibt auch Oomen-Welke den engen Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken, wie er schon durch Merleau-Ponty artikuliert wurde (ohne sich dabei jedoch auf Merleau-Ponty zu beziehen).

756 757 758 759 760 761

Vgl. Lachmann 2000, 221. Kim 2017, 158. Kim 2017, 148. Oomen-Welke 2007, 157f. Oomen-Welke 2007, 158. Oomen-Welke 2007, 167; Herv. im Original.

5. Leibphänomenologie und Musikpädagogik?

Dass Kinder denken (Dinge erinnern und hinsichtlich ihrer Eigenschaften vergleichen), bevor sie sprechen beziehungsweise dieses Denken mit Worten belegen, beschreibt auch Sabina Pauen in ihrem Aufsatz Denken vor dem Sprechen. Der Linguist Ludwig Jäger wiederum vergleicht das Sprachverständnis von Kindern vor dem Sprechen mit einer quasi angeborenen »Sprache des Geistes«762 , die unabhängig sei von den einzelnen Sprachen und der jeweiligen kulturellen Erfahrungshorizonte. Als »elementare Bedeutungsbausteine« beschreibt er Begriffe wie »männlich« und »weiblich« beziehungsweise »universelle Metaphern«.763 Von der Körperlichkeit der Sprache beziehungsweise der Sprachlichkeit des Leibes (Merleau-Ponty) sprechen sinngemäß auch Jäger und das Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation«764 der Universität Köln Im Zusammenhang mit Untersuchungen zur Gebärdensprache nennen sie das Prinzip der »Inkorporation«: Gebärdensprecher verschmelzen beim ›Sprechen‹ Nomen und Verb in einer Geste. (Sie zeigen beispielsweise in einer Geste den Sachverhalt: »Der Fisch schwimmt.«) Auch ihnen wird dabei die Verbindung von Sprechen und Denken ersichtlich. »Unsere Ergebnisse weisen also darauf hin, dass die Materialität der Sprache – also visuell-gestisch oder vokal-auditiv – tatsächlich auf die Struktur des Denkens wirkt.«765 So kommen wir letztlich also immer wieder auf die Phänomenologie zurück, die uns auch für den Umgang mit Musik durch Sprache den richtigen methodischen Hinweis gegeben hat: Sprache kann und sollte zur adäquaten Untersuchung des Gegenstands Musik der Deskription dienen. Ein Sprechen über Musik darf demnach nur ein Sprechen sein, das die Musik in den vielfältigsten Nuancen zu beschreiben vermag. Sprache darf Musik nicht verstummen lassen, denn Musik will sich immer weiter wandeln und lebendig bleiben. Da, wo Sprache nicht mehr weiter weiß, hat Musik – zum Glück – das letzte Wort. Im Hinblick auf den musikpädagogischen Kontext soll daher noch einmal mit Angehrn proklamiert werden: »Nicht das letzte Wort zu haben, sondern das Gespräch zu öffnen, ist der Weg des Verstehens.«766 Dies gilt für das Gespräch zwischen Kind und Musik, Kind und Kind genauso wie zwischen Kindern und Pädagogen.767 Es ist unumgänglich für einen Musikunterricht, in dem es um Begriffsbildung und Verstehen von Musik gehen soll, dass er das Unaussprechliche der Musik schützt und Momente der Sprachlosigkeit nicht fürchtet, sondern als Chance für das Lernen als Erfahrung begreift. 762 763 764 765 766 767

Jäger 2003, 36. Jäger 2003, 36. Jäger 2003, 40 Jäger 2003, 40. Angehrn 2010, 177. Waldenfels betont in Antwortregister, dass wir auch vom Kind und von Erziehung nur in »umkreisender« Art und Weise von »etwas« sprechen, Kinder nicht zu »etwas« machen sollten. Vgl. Waldenfels 2007, 15.

321

6. Bewegungen zu einem Orgelstück Leibliches Lernen und musikalische Begriffsbildung im Rahmen einer musikpädagogischen Impulsstudie

Da sich die Phänomenologie als die Wissenschaft des Beispielhaften versteht, sollen die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Leibphänomenologie der vorangegangenen Kapitel hier nun auch im konkreten Beispiel münden und dadurch mit der musikpädagogischen Fragestellung der Arbeit zusammengebracht werden. Das dargestellte Projekt wird dabei als eine von vielen Möglichkeiten betrachtet, die artikulierten Forderungen zum leiblichen Lernen und Verstehen im phänomenologischen Sinne in die musikpädagogische Praxis umzusetzen. Während das Geschichtenschreiben und Malen zur Musik längst zur gängigen musikpädagogischen Praxis gehören, ist insbesondere durch die Rhythmik das Umsetzen von Musik in Bewegung bereits thematisiert worden. Das Projekt, das hier nun vorgestellt werden soll, unterscheidet sich von anderen musikpädagogischen Praxen, in denen es um die Bewegung zur Musik geht, im Wesentlichen in zwei Punkten: Zum einen werden hier musikpädagogische und konzertpädagogische Absichten im Hinblick auf die Vermittlung von Orgelmusik miteinander verbunden, und zum anderen ist die Auswertung und Interpretation der Ergebnisse von der phänomenologischen Methode geprägt. Es wird insbesondere die Methode der Deskription gewählt, um die so vertraut scheinenden musikpädagogischen Situationen zu entfalten und zu hinterfragen. Anliegen der Schilderungen ist es dabei, aufzeigen, wie vielschichtig musikpädagogische Situationen sind und wie sehr es sich lohnt, einen Moment zu verweilen und genau hinzuschauen.

6.1

Zur Konzeption und Methodik der Studie

Organisatorische Rahmenbedingungen Das Projekt »Orgelmusik in Kinderohren« ist an die Veranstaltung eines Kinderorgelkonzertes am 28.4.2012 in St. Marien Lübeck geknüpft. Es erstreckt sich über einen zeitlichen Rahmen von zwei Monaten (vom 3.3. bis zum 28.4.2012) und be-

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Bewegung und Musikverstehen

trifft den Zeitraum vor dem Konzert. Die Kinder treffen sich jeweils am Samstag von 14:00 bis 16:45 Uhr, also außerhalb des Schulalltags, in der Kirche, um sich mit der Orgelmusik auseinanderzusetzen, die später im Konzert erklingen soll. Dabei werden die Kinder in die Konzertplanung insofern eingebunden, als sie selbst Ideen entwickeln, wie sich die ausgewählte Orgelmusik ›für Kinderohren‹ vermitteln und aufbereiten lässt. Das Projekt wird an einer Lübecker Grundschule vorgestellt, woraufhin sich 12 Kinder, aus den Klassenstufen 2 (ein Kind), 3 (vier Kinder) und 4 (sieben Kinder) freiwillig zur Teilnahme anmelden. Es handelt sich hierbei um neun Mädchen und drei Jungen.1 Am Projekt sind außerdem der Organist der Marienkirche, Johannes Unger, und eine Assistentin (zu diesem Zeitpunkt in der Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin) beteiligt. Die Leitung und Umsetzung des Projektes liegt in den Händen der Autorin. Zur Auswahl des Musikstückes Von den Orgelstücken, die später im Konzert erklingen, setzen sich die Kinder zuvor besonders intensiv mit einem Orgelstück auseinander. Es handelt sich hierbei um das Scherzo2 aus den 10 pièces pour orgue (1890) von Eugène Gigout. Dieses ca. vierminütige Orgelstück in romantischem Stil gilt auch unabhängig von der Sammlung als ein in sich geschlossenes, eigenständiges Vortragsstück. Neben dem Orgelstück an sich musste auch eine Entscheidung für eine bestimmte Interpretationsweise getroffen werden. Denn das Scherzo kann von sehr kurz und schnellvirtuos bis hin zu länger und stärker ausdruckshaft-tänzerisch auf sehr verschiedene Weisen musiziert werden. Im Rahmen des Projektes wurde eine Interpretation von Johannes Unger, die zu diesem Zwecke an der Totentanzorgel der Marienkirche eingespielt wurde, verwendet. Die Kinder haben es also sowohl bei der Erarbeitung (vor allem vom Tonträger) als auch im Konzert (live) mit der gleichen Interpretation zu tun. Über die Auswahl des Stückes wurde intensiv nachgedacht. Denn es war klar, dass mit dieser Entscheidung der Werdegang der gesamten Untersuchung beeinflusst werden würde. Zudem vermutete die Autorin aufgrund eigener Erfahrungen im Vorfeld, dass es kaum eine Musik gibt, zu denen Kinder im Grundschulalter keinen Zugang finden können. Somit sah sie sich einer unüberschaubaren Fülle von Möglichkeiten gegenüber: im Bereich der Orgelmusik einem Spektrum von Buxtehude bis Messiaen. 1

2

Es wurde bewusst darauf verzichtet, bei der Beschreibung der Beobachtungen von Mädchen und Jungen zu sprechen. Wenn allgemein von Kindern oder Schülern gesprochen wird, so kann sich dies sowohl auf Mädchen als auch auf Jungen beziehen. Damit soll vermieden werden, die Verhaltensweisen geschlechtsspezifisch auszudeuten, da dies nicht Gegenstand der vorliegenden Fragestellung ist und somit das erhobene Material hierfür nicht aussagekräftig genug ist. Der musikalische Formbegriff »Scherzo« ist hier zugleich der Titel des Orgelstückes.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

Für die Auswahl des Musikstückes haben letztlich drei Wesensmerkmale des Scherzos von Gigout überzeugt: Zunächst ließ der fröhlich-ansprechende Charakter der Musik im tänzerischen 6/8-Takt vermuten, dass die Kinder diese Stimmung schnell aufnehmen und sich gut ansprechen lassen. Außerdem wird die Musik durchgehend von schnellen Achtelbewegungen (im Puls punktierter Viertel) geprägt und wirkt dadurch motorisch anregend. Es war also davon auszugehen, dass eine solche Musik gute Impulse für eine tänzerische Umsetzung gibt. Auch die recht offensichtliche und deutliche ›Bauart‹ des Stückes, seine klare Formsprache, ließ vermuten, dass diese Musik für Kinder gut zugänglich ist. Die ABA‹-Form, die vielen deutlichen Wiederholungen oder Sequenzen, die klare Untergliederung in vorwiegend achttaktige Phrasen und die klaren Verhältnisse zwischen den einzelnen Stimmen, die in der gut zu erschließenden Architektur des Scherzos sehr leicht vernehmbar sind, machten es wahrscheinlich, dass die Kinder hier Form und Sinnstruktur in der Musik würden wahrnehmen können. Da das Augenmerk der Untersuchung insbesondere darauf liegt, angelehnt an die phänomenologische Erkenntnishaltung zu ergründen, wie Kinder Struktur und Form wahrnehmen beziehungsweise erkennen, wurde dieses Stück dem Forschungszweck entsprechend für geeignet gehalten. Denn gerade an einem Musikstück von so klarer Form und Struktur, das in seiner Struktur wahrscheinlich leicht zu begreifen ist, lässt sich das gängige Verständnis von ›Musikverstehen‹ aus phänomenologischer Perspektive auch kritisch hinterfragen. Konzeption und Umsetzung Die Möglichkeiten, sich mit den Musikstücken auseinanderzusetzen, sind bewusst vielfältig gehalten. Den Kindern wird das Sprechen und Schreiben über die Musik sowie das Malen und Bewegen zur Musik angeboten. Dabei agieren die Schüler frei von jeglichen Vorgaben. Die Aufgabe besteht lediglich darin, sich beim Schreiben, Malen und Tanzen an der Musik zu orientieren. Während dieses freie, schöpferische Koproduzieren hauptsächlich an dem oben genannten Orgelstück erfolgt, werden zu den anderen Orgelstücken vereinzelt auch bereits vorgefertigte Spiele oder Bewegungsfolgen eingeübt. Insgesamt liegt der Schwerpunkt jedoch auf der Erarbeitung einer Bewegungsfolge zu Gigouts Scherzo, das somit im Vergleich zu den anderen Orgelstücken besonders intensiv untersucht wird. Das Projekt beginnt mit dem Hören des Musikstückes in der Marienkirche und einem spielerischen ersten Sprechen über die Musik an der Orgel und im Kirchenraum. Noch am ersten Tag verfassen die Kinder nach erneutem Hören der Aufnahme des Orgelstückes im Gemeindesaal eine Geschichte zu diesem Orgelstück. Die darauffolgenden Projekttage sind in ihrem Ablauf alle ähnlich strukturiert: Es wird jeweils mit einem Warm-up aus dem Bereich der Rhythmik begonnen, das in die Thematik des Tages einführen soll. So bereitet beispielsweise ein Spiel zu

325

326

Bewegung und Musikverstehen

den verschiedensten Bewegungsqualitäten auf die Erarbeitung der Bewegungsstudie vor. Es folgt die freie, vom Handeln der Kinder bestimmte Auseinandersetzung mit dem Orgelstück. Abgeschlossen werden die Projekttage damit, dass jedes Kind noch einmal zehn Minuten im Projekttagebuch eigene persönliche Eindrücke vom Umgang mit der Musik niederschreiben darf. Die Erarbeitungsphase des Stückes wird jeweils für ca. zehn bis 15 Minuten für eine Erholungspause unterbrochen. Insgesamt folgen die Umgangsweisen in den Erarbeitungsphasen im Laufe des Projektes wie folgt aufeinander: Begonnen wird mit dem spontanen freien Sprechen über die Musik und dem Geschichtenverfassen zur Musik. Es folgt das freie Malen und schließlich das Entwerfen und Einüben einer Bewegungsfolge zur Musik. An den letzten beiden Projekttagen werden außerdem der Ablauf und die Ausgestaltung des Konzerts gemeinsam besprochen. Hier treffen die Kinder unter anderem Entscheidungen, ob sie Geschichten oder Erlebnisberichte vortragen und Bilder im Konzert zeigen wollen. Bei diesem Anlass wird beispielsweise auch von den Kindern entschieden, den erfundenen Tanz zur Musik aufzuführen. Um die verschiedenen Umgangsweisen auch miteinander zu verbinden, wird außerdem beispielsweise dazu angeregt, über die Bilder zu sprechen3 oder sich zu den Bildern zu bewegen. Ab und an werden außerdem die räumlichen Gegebenheiten sowie die personelle Unterstützung durch die Assistentin genutzt, um die Gruppe zu teilen. Auf diese Weise kann darauf reagiert werden, dass die einzelnen Kinder unterschiedlich viel Zeit für ihre Arbeit an der Musik benötigen oder ihnen die verschiedenen Umgangsweisen unterschiedlich liegen. Auch für die Erarbeitung der Bewegung zur Musik erweist es sich bisweilen als förderlich, bestimmte Bewegungsideen zunächst in einer kleineren Gruppe zu untersuchen und einzuüben. An den letzten beiden Projekttagen finden in der Kirche Durchlaufproben statt. Spätestens jetzt wird nur noch gemeinsam als Gruppe agiert und zum Kirchenraum als originärem Ort der Orgelmusik zurückgekehrt. Als (sichtbare) Ergebnisse des Projektes sind unter anderem Geschichten, Erlebnisberichte, sowie Bilder (in Temperafarbe auf A3-Format) und die entwickelte Bewegungsstudie (von den Kindern selbst als Tanz bezeichnet) zum Scherzo zu nennen. Im Konzert werden schließlich zwischen den Orgelstücken die Geschichten einzelner Kinder (von den Kindern selbst) vorgelesen und einige Bilder (von den Kindern, die bereit waren, diese zu veröffentlichen) im Programmheft abgedruckt. Auch der von den Kindern erfundene Tanz sowie ein weiterer einstudierter Tanz4 zu einem weiteren Orgelstück gelangen zur Aufführung.

3 4

Hierbei wird ein Rundgang durch eine Ausstellung inszeniert, werden die einzelnen Künstler zu ihren Bildern befragt. Dieser Tanz wurde von der Autorin selbst entworfen, den Kindern also sozusagen schon ›fertig‹ mitgebracht.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

Zur Art und Weise der Untersuchung und Datenerhebung Um Prozesse des leiblichen Lernens und der Begriffsbildung untersuchen und rekonstruieren zu können, werden folgende Mittel genutzt, die nicht nur die Ergebnisse, sondern auch den Verlauf der Auseinandersetzung der Kinder mit der Orgelmusik dokumentieren: Spontane verbale Äußerungen der Kinder, zum Beispiel zur Musik nach dem ersten Hören oder zu ihren eigenen Bildern, halten die Ausführenden zu verschiedenen Zeitpunkten im Projekt in Form von Audioaufnahmen fest. Außerdem werden Prozesse der Erarbeitung der Bewegungsstudie videographisch dokumentiert. Neben den genannten konkreten Ergebnissen dienen außerdem die schriftlichen Auswertungen der einzelnen Projekttage sowie die kurzen Sprachmitteilungen der Kinder im Projekttagebuch zur Reflexion über den Studienverlauf. Insbesondere die Ton- und Videoaufnahmen sowie anschließende auswertende Gespräche mit der Assistentin helfen dabei, sowohl zur eigenen subjektiven Perspektive auf Distanz zu gehen,5 als auch den Fokus der Auswertung immer wieder neu zu legen und somit die Ergebnisse der Impulsstudie immer unter anderen Gesichtspunkten und Fragestellungen neu zu betrachten. Besonders die videographierten Situationen ermöglichen es schließlich, die phänomenologische Methode der Deskription am Projekt beispielhaft anzuwenden. Hierbei wird das Ziel verfolgt, die erlebte pädagogische Situation so genau wie möglich zu beschreiben und somit verschiedenste Interpretationen zuzulassen. Wenn im Folgenden Situationen bewertet oder interpretiert werden, so ist dies lediglich als eine Möglichkeit zu verstehen, auf das Aufeinandertreffen von musikpädagogischer Situation und Fragestellung zu antworten. Es handelt sich somit um eine qualitative Erhebung,6 die durch das In-die-Tiefe-Gehen bei der Beobachtung einzelner Situationen Klarheit über Zusammenhänge gewinnen will. Dabei ist das Anliegen nicht, die beobachteten Sinnzusammenhänge zu verallgemeinern, denn sie haben nur Gültigkeit für die jeweilige geschilderte Situation und nur für die jeweils beobachteten Kinder und ihre Handlungen. Ziel ist vielmehr, die aus der Leibphänomenologie und Symboltheorie gewonnenen Erkenntnisse für musikpädagogische Situationen handhabbar zu machen. Daher sollen hier theoretische Überlegungen mit konkreten Beobachtungen zusammengeführt werden. Das vorgestellte Impulsprojekt bildet auf diese Weise den Anfangs- und Endpunkt im Rahmen dieser Arbeit. So haben die Beobachtungen im Rahmen des Projektes zunächst zu einer Vertiefung insbesondere in die Wahrnehmungs-, Sprach- und Leibtheorie 5 6

Eine Schwierigkeit bestand darin, dass die Studie im Wesentlichen von ein und derselben Person entworfen, durchgeführt und ausgewertet wurde. Ursprünglich war es die Absicht der Autorin, der Methodik der grounded theory zu folgen. Dies trifft nur noch insofern zu, als durch die Beobachtungen in der Praxis die theoretische Vertiefung und die daraus erfolgende Generierung einer Theorie für den Anwendungsbereich in der praktischen Untersuchung wurzeln. Der Umgang mit den erhobenen Daten entspricht insgesamt jedoch eher dem phänomenologischen Forschungsstil.

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Bewegung und Musikverstehen

Merleau-Pontys sowie in die Symboltheorie Cassirers und Langers angeregt. Um die erarbeiteten Erkenntnisse bezüglich einer gewinnbringenden Verbindung von Leibphänomenologie und Musikpädagogik hinsichtlich der Fragen zum leiblichen Lernen und dem Verstehen von Musik sowie zur musikalischen Begriffsbildung auf eine Anwendbarkeit im Praxisfeld hin zu prüfen, sollen hier nun konkrete Situationen des Projektes als Vorlage beziehungsweise Diskussionsgrundlage dienen.

6.2

Auswertung der Studie aus leibphänomenologischer Perspektive

6.2.1

Wo zeigen sich Momente des leiblichen Lernens und des Verstehens aus phänomenologischer Sicht?

Das Projekt »Orgelmusik in Kinderohren« beginnt mit dem Hören des Scherzos von Gigout in der Marienkirche Lübeck. Dieser Moment des ersten sinnlich-wahrnehmenden Kontakts mit dem Musikstück soll zuerst etwas genauer betrachtet werden, da er im Hinblick auf Prozesse des leiblichen Lernens und Verstehens von ausschlaggebender Bedeutung ist. Die 12 Grundschulkinder werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe hört das Stück zuerst auf der Orgelempore. Sie dürfen beim ersten Hören gleichzeitig dem Organisten beim Musizieren über die Schulter schauen. Die andere Gruppe hört zunächst ›von unten‹, im Kirchenraum, mit Blick auf die Orgel. Nach dem ersten Erklingen des Stückes werden unten kurz, in Form eines Interviewspiels,7 erste Eindrücke der Kinder zum Orgelstück gesammelt. Währenddessen darf die Kindergruppe an der Orgel dem Organisten Fragen zur Orgel stellen. Danach wird für ein zweites Hören getauscht. Im Anschluss an dieses zweite Hören werden die Kinder nochmals zu verbalen Kommentaren – diesmal vor dem Hintergrund eines vorherigen ersten Hörens direkt an der Orgel – angeregt. Dieser Beginn des Projektes, das erste und zweite Hören, ist für die Kinder ein Ereignis von nachhaltiger Wirkung: Es beginnt schon mit dem Eintreten und Sichpositionieren in dem beeindruckenden, großen Kirchenraum für das Hören der Musik.8 Dabei erleben sie, wie die Musik diesen Raum prägt, indem sie, noch bevor sie erklingt, dazu auffordert, sich in bestimmter Weise an diesem Ort zu verhalten: Obwohl es unendlich viele Möglichkeiten zu geben scheint, in diesem Raum zu verweilen, wird eine Kindergruppe dazu angehalten, sich im Altarraum 7 8

Kinder interviewen sich gegenseitig. Dabei spielt immer ein Kind den Reporter vom Sender »Orgelmusik in Kinderohren« und befragt zum ersten Eindruck. Vermutlich haben die Kinder bisher nur selten oder nur zu besonderen Anlässen einen Kirchenraum betreten. Dies lassen ihre neugierigen Blicke und ihr vorsichtiger Gang vermuten. Es spricht dafür, dass sie das Ereignis des Betretens des Kirchenraumes mit der Qualität des Seltenen und Neuartigen verbinden.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

mit Ausrichtung zur Orgel zu positionieren. Dass die Orgel an sich auch räumliche Eigenschaften besitzt, erleben die Kinder, die die Musik direkt an der Orgel verfolgen. Die anderen betrachten die Orgel von außen, erleben sie als ein architektonisches Bauwerk, das sich in den Gesamtkontext des Kirchenraumes einfügt, sich zu diesem verhält.9 Neuartiges verbirgt sich für die Kinder auch in der sozialen Dimension dieser Situation. Denn sie teilen sie mit anderen, mit Kindern, die sie zum Teil nur vom Sehen aus der Schule kennen, und mit den für sie neuen Personen (dem Organisten sowie den beiden weiteren Bezugspersonen im Projekt). Insgesamt bietet sich ihnen eine nichtalltägliche Situation, in der sie deswegen auch erwarten, etwas Neues zu erleben. Sie sind gespannt, man sieht freudige und staunende Gesichter. In diesen komplexen Kontext – der noch viel komplexer ist, als mit dieser kurzen Beschreibung angedeutet werden kann, denkt man etwa daran, dass ein Kirchenraum auch immer von einem besonderen Geruch geprägt ist, um nur einen weiteren Aspekt zu nennen – fügt sich schließlich die Musik ein. Durch das Sicheinstellen auf die unbekannte neue Situation scheinen die Kinder wach und offen für die Musik zu sein. Ihr wohnt für die Kinder, insbesondere beim ersten Hören, noch bevor sie erklingt, also ein Ereignischarakter inne. Als die Musik erklingt, werden die Kinder still. Was dann geschieht, spielt sich im Verborgenen ab, lässt sich hin und wieder an einem Gesichtsausdruck, an einer Körperhaltung erahnen. Am Ende des Stückes klatschen die Kinder sofort. Wovon zeugen die ersten verbalen Äußerungen der Kinder zur Musik? Sie sind im Wesentlichen kurz, beschränken sich häufig zunächst auf die Aussage, dass die Musik für sie »schön« oder »gut« war. Manche erste Kommentare der Kinder zeigen, dass sie an lebensweltliche Vorerfahrungen anknüpfen, aus denen sie gewisse Vorurteile mitbringen. Diese scheinen als eine Art Vorlage zu dienen, die gehörte Musik zu bewerten. Äußerungen wie: »Die Musik klingt orglich«, oder: »Die Musik klingt kirchlich«, könnten davon zeugen, dass sie das Erlebte bisher nicht problematisieren: Sie sehen (noch) keinen Anlass, gewohnte Einstellungen oder vertraute Erfahrungskonzepte zu hinterfragen. Andere wiederum bringen das Gehörte zwar genauso mit einem schon vertrauten Erfahrungskonzept in Verbindung, dieses enthält aber bereits Hinweise auf strukturelle Eigenschaften der Musik. So klingt die Musik für ein Kind beispielsweise wie ein »Handyklingelton«. Möglicherweise hat es den Klang streckenweise als sehr direkt, durchdringend und gleichmäßig empfunden oder viele Wiederholungen wahrgenommen. Ein anderes Kind fühlt sich an manchen Stellen an ein Schlagzeug erinnert. Dieses Kind spielt

9

So gesehen erleben die Kinder, noch bevor die Musik erklingt, eine Funktion von Musik als Kirchenmusik – denn sie lässt uns eine bestimmte Haltung im Kirchenraum einnehmen, uns in gewisser Weise zum Kirchenraum verhalten. Zugleich ist sie aber auch Teil von dem, was Kirche bedeutet, ist die Orgel als Instrument ein architektonisches Bauwerk, was sich in einmaliger Art in den jeweiligen Kirchenraum einfügt.

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selbst Schlagzeug, rhythmische und perkussive Eigenschaften von Musik sind ihm also vertraut. Auch die Anmerkung, dass die Musik »einen richtigen Rhythmus« hat, lässt vermuten, dass das betreffende Kind schon eine Struktur der Musik erkennt. Einem weiteren Kind wird seine Erwartung, die es bisher gegenüber Orgelmusik hatte, nicht bestätigt: »Ich wusste gar nicht, dass das so leise ist, ich dachte, es wäre viel lauter«. Es zeigt sich bereit, in der Auseinandersetzung mit der Musik etwas zu lernen, gesteht der Musik etwas noch Unbekanntes zu. Einige wenige Kinder antworten auch schon mit kleinen Geschichten oder assoziativen Sprachbildern auf die Situation des ersten Hörens. Sie beziehen sich bereits in Ansätzen auf die musikalische Struktur, den Gesamtgestus des Stückes, auf formgebende Elemente, wie Kontraste oder Wiederholungen, wie die folgenden sprachlichen Mitteilungen zeigen: »Ich habe es so empfunden, dass im Stück ein Bär tanzt.« – »An manchen Stellen kam es mir so vor, als ob die Menschen da weggerannt sind vor irgendwelchen bösen Leuten.« – »Ich fand das Stück irgendwie … ähm ein bisschen wie eine Geschichte, weil da ist erst was fröhlich und dann klang’s irgendwie’n bissel anders, als wenn die Menschen halt auch’n bissel Angst haben oder so …«10 Interessant ist auch, dass sich die Äußerungen der Kinder nach dem ersten und dem zweiten Hören unterscheiden. Einige Kinder der Gruppe, die zuerst den Prozess des Musizierens an der Orgel beim Hören beobachten durften, teilen spontan und ungefragt mit, dass es unterschiedlich gewesen sei, das Stück an der Orgel oder unten im Kirchenraum zu hören. Manchen erschien es oben länger, anderen wiederum kürzer als unten. Hieran lässt sich bereits erkennen, dass den Kindern die Musik auch als ein besonderes Erleben von Zeit begegnet. Schon an dieser Situation des Projektbeginns lassen sich sowohl der passivaufnehmende als auch der aktiv-schöpferische Aspekt der musikalischen Wahrnehmung beschreiben. Hören die Kinder mit Blick auf die Orgel, bleibt für sie der Prozess des Musizierens unsichtbar. Der Organist verschwindet hinter dem Rückpositiv. Die Musik erklingt wie von Geisterhand, sie ereignet sich, ohne dass die Kinder sich sehend darauf einstellen könnten. Vielmehr werden sie von der erklingenden Musik getroffen, was für sie den passiven Moment der musikalischen Wahrnehmung verstärkt.11 Wiederum mit Blick auf das Handwerk des Musikers wird den Kindern bewusst, dass diese Musik sich nicht nur ereignet, sondern der Mensch einen wesentlichen, aktiven Anteil am Phänomen Musik hat. Die Bewegungen des praktizierenden Musikers werden vom Kind vermutlich direkt mit den

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Es handelt sich hierbei um transkribierte Audioaufnahmen vom 3.3.2012. Es wird zum Beispiel häufig davon gesprochen, dass »die Orgel spielt.« Dies zeigt, dass die musikpraktischen Handlungen des Organisten häufig in den Hintergrund rücken und Orgelmusik generell eher als eine Art Widerfahrnis erlebt wird.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

Bewegungen der Musik in Zusammenhang gebracht. Dies bewirkt einen Nachvollzug der musikalischen Bewegung in dem Sinne, dass die Bewegung des Organisten leiblich mitempfunden wird. Dies macht die erklingende Musik gedanklich nachvollziehbar, als musikalische Handlung sichtbar und greifbar.12 Der schöpferische Aspekt der Wahrnehmung tritt also vermutlich da stärker hervor, wo das Verfolgen des Spiels eines Musikers im Nach- und Mitvollzug als eigene musikalische Tätigkeit empfunden wird. Auch wenn mit dem schöpferisch-aktiven Anteil des Musikhörens mehr gemeint ist als die beobachtete Bewegung des Musikers, nämlich auch die Wahrnehmung, im Sinne des strukturerkennenden Hörens von Musik als aktiver Handlung, so kann doch die beobachtete Bewegung des Musikers dabei helfen, die Bewegung in der Musik zu vernehmen. Der beschriebene Moment des ersten Hörens hat im Rahmen des Projektes die Basis dafür gelegt, dass sich die Schüler in eine vertiefende weitere Auseinandersetzung mit diesem Musikstück begeben. Der Prozess des Musikverstehens wird hier also in Gang gesetzt. Weiter sollen nun die beiden Aspekte des Musikhörens im Wechsel, als ein Pendeln zwischen »Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit«13 (Sprenger) sowie zwischen Nähe und Distanz zur Musik erlebt werden. Die verschiedenen Angebote der Verhaltensweisen zur Musik im Anschluss an dieses erste Hören bringen die Kinder noch mehr in die Situation, auf die Musik zu antworten und sich zur Musik selbst leiblich zu positionieren. Da beim Hören (also auch beim Hören von Musik), wie oben beschrieben, Meyer-Drawe zufolge das »Ausgeliefertsein« überwiegt, unterstützen die gegebenen Handlungsmöglichkeiten am Musikstück den Modus des aktiven Suchens und Findens gegenüber dem Getroffenwerden. Dies soll auch zu einem gewissen Ausgleich zwischen Nähe und Distanz führen. Grundbedingung dafür ist das Sichhineinbegeben der Kinder in die Musik, das In-der-Musik-Sein. Wie oben zum leiblichen Lernen beschrieben, vollzieht sich eine erste Bezugnahme, ein erster Zugang zu den Dingen stets über das Empfinden. Insbesondere Kinder verfügen über die Fähigkeit, sich besonders schnell in Situationen, Mitmenschen und Dinge hineinfühlen zu können. Dies fällt besonders zu Beginn des Projektes auf. Denn es zeigt sich – wie später an konkreten Beispielen nachvollziehbar wird –, dass das Empfinden für ihren ersten Bezug zur Musik eine entscheidende Rolle spielt. Oben wurde beschrieben, dass für leibliches Lernen ausschlaggebend ist, dass uns etwas bedeutsam erscheint. Wenn wir etwas in besonderer Qualität erleben, nehmen wir unser Erleben nicht nur selbst wahr, sondern behalten es zudem besser

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Dies kann durch das eigenleibliche Spüren bei der beobachteten Bewegung zu einer Identifikation mit dem Produzierten führen. Vergleichbar wäre eventuell das Beobachten eines Fußballspieles, bei dem es die Zuschauer kaum auf den Stühlen hält, weil sie sich mitverantwortlich für die beobachtete Bewegung des Balles und der Spieler fühlen. Stenger 2002, 161.

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in Erinnerung. Dem ersten Kontakt der Kinder mit der Musik wird deswegen hier besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es wird geprüft, ob ihnen dieses erste Hören als ein Ereignis von Bedeutung erscheint und was es ihnen bedeutet. Die kurzen Aussagen der Kinder sowie ihre Verhaltensweisen bezeugen zuallererst, dass ihnen in ihrer auditiven Wahrnehmung etwas als etwas – in diesem Falle als Musik – erscheint. Das Phänomen Musik in Gestalt eines Orgelstückes hat sich ihnen gezeigt, ihre auditive Wahrnehmung hat es für die jungen Hörer sozusagen zum Leben erweckt. Es erklingt durch das Spiel an einem besonderen Instrument in einem besonderen Raum, hat eine gewisse Dauer, verströmt eine gewisse Stimmung und weckt gelegentlich Vorstellungsbilder. Es handelt sich zu diesem Zeitpunkt um etwas, das noch recht geheimnisvoll und fremd (im Sinne Waldenfels‹ wird »fremd« hier nicht negativ besetzt) genug ist, um in der wiederholten Auseinandersetzung entdeckt zu werden.14 Mit dem hörenden Sicheinlassen der Kinder auf die Musik ist hier ein erster Schritt getan. Es fällt auf, dass die ersten Äußerungen der Kinder zur Musik vorwiegend mit Wertungen verbunden sind. Sie beurteilen sie als »gut« oder »schön« oder meinen, die Musik habe ihnen gefallen. Auch ihre Geschichten und andere verbale Äußerungen zeugen vom Empfinden als erster grundlegender Kontaktaufnahme zur Musik. So auch der Grundgestus der Bilder, die später zur Musik entstehen. Es fällt auf, dass sie durchweg farbenfroh gestaltet werden, was die geäußerten Empfindungen bestätigt. (Dies betrifft dabei vermutlich den Grundgestus der Musik genauso, wie das Empfinden der Kinder beim Musikhören.) Sie sprechen sogar auch selbst vom »Spüren« und »Empfinden«. So äußert ein Kind nach dem ersten Hören: »Ich habe es so empfunden, dass im Stück ein Bär tanzt.« In einer weiteren Situation spricht ein anderes direkt vom »Fühlen« der Musik: Als später eine Geschichte zur Musik verfasst werden soll, schreibt dieses Kind nicht und sitzt etwas unglücklich vor seiner leeren Heftseite. Als gefragt wird, warum es nichts aufschreibt, entgegnet es: »Ich kann bei der Musik nichts fühlen … Normalerweise kann ich ja bei Musik was fühlen …« (Autorin:) »Liegt das an dieser Musik, dass du dabei nichts fühlen kannst?« (Kind:) »… Nein, ich kann doch nur nichts fühlen, da ich nur meinen Magen spüre … ich habe seit heute Morgen nicht gegessen.« Dieser kurze Austausch bestätigt, wie grundlegend es für Kinder ist, die Musik zu empfinden. Empfinden und Wahrnehmen scheinen hier beim Bezugnehmen des Kindes zur Musik zusammenzufallen. Dabei fühlen Kinder nicht nur die Musik, sondern sich selbst in der Musik. Das Finden von etwas Eigenem in der Musik, das sie nachempfinden können, fungiert als ein Herstellen eines persönlichen Bezugs und somit als Öffnen eines Tores zur Musik. Dies gelingt beispielsweise da14

Nebenbei erwähnt, sind aus meiner Erfahrung gerade Kinder im Grundschulalter besonders geneigt, ›Fälle‹ oder Rätsel zu lösen. Sie widmen sich gerne dem Problematischen und Uneindeutigen, da es sie zu einem forschenden Handeln anregt.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

durch, dass die Musik ein dem Kind eigenes Erfahrungskonzept berührt. Folgende Geschichte macht nachvollziehbar, welche Resonanz das Erleben der Musik beim Kind insofern hervorbringt, als dass es das musikalisch Erlebte mit einer anderen persönlichen Erfahrung – der Erfahrung des Frühlingsbeginns – verbindet: »Frühlings Stimme15   Die ersten Blumen blühen, der Schnee taute und die Sonne schien, es war Frühling. Eines Morgens wachte die kleine Luisa auf, ihr war warm. ›Es ist Frühling!‹, rief Luisa und zog sich so schnell sie konnte an. Sie packte sich ein wenig Brot und Speck ein und zog in den Wald hinaus. Luisa war so glücklich. Endlich war es nicht mehr so kalt. ›Die Tiere freuen sich auch‹, dachte Luisa, als sie die Vögel singen hörte.« Die Geschichte beschreibt nicht nur den fröhlichen Charakter der Musik, sondern auch, was dem Kind diese Fröhlichkeit bedeutet und wie es selbst Fröhlichkeit erlebt. Es greift dabei auf ein eigenes Erfahrungskonzept zurück, das ihm vergleichbar erscheint: die Freude über den Frühlingsbeginn. Dadurch wird die Freude in der Geschichte zu einem nachvollziehbaren Prozess: Die Protagonistin Luisa wird getroffen von dem, was ihr in der Wahrnehmung erscheint (»die ersten Blumen blühen« etc.) und schließt auf die Bedeutung dessen, was sich ereignet. Das Getroffenwerden bleibt dabei nicht ohne Folge – es bewirkt eine Handlung in Form der bewussten Entscheidung, sich in diese Situation weiter hineinzubegeben, sie zu genießen. Da sie ahnt, dass der Gang in den Wald ihm eine gewisse Anstrengung abverlangt, denkt sie vorsorglich an »Brot und Speck«. Sie wendet sich wohlwollend und aufmerksam ihrer Umwelt zu und bemerkt auf diese Weise, dass sie die Freude auch mit anderen – hier mit den Vögeln – teilen kann. Es ist nahezu verführerisch, diese Geschichte des Kindes mit pädagogischem Blick weiter auszudeuten, sie soll aber dennoch die Geschichte des Kindes bleiben. Wenn hier also ein gewisser Symbolgebrauch unterstellt wird, geschieht dies nur unter Vorbehalt und mit Vorsicht, lediglich als Vermutung in Bezug auf das kindliche Verständnis. Da die Symbole beziehungsweise Metaphern »Wald« (insbesondere vom »Weg in den Wald«) und »Tier« auch in den anderen Geschichten der Kinder zur Musik des Öfteren Verwendung finden, soll hier dennoch kurz gewagt werden, die verwendeten Symbole im Hinblick darauf, was das Kind vermutlich als Eigenes oder Fremdes in der Musik empfindet, auszudeuten. Denn es erscheint als eine Möglichkeit, den Wald sowie den Weg in den Wald mit der Musik beziehungsweise als Gehen in den Wald mit einem Sich-der-Musik-Zuwenden zu vergleichen. Möglicherweise erscheint dem Kind diese Musik als etwas, das sich 15

Die Schreibweise wurde bewusst vom Kind übernommen. Alle hier abgedruckten Geschichten der Kinder wurden ansonsten orthograhisch korrigiert.

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aufgrund seiner Weite oder Komplexität nur zum Teil erschließen lässt, also auch viele unerreichbare und dunkle, versteckte Winkel in sich birgt. Den Wald kennt es vermutlich als einen Raum, den man auf bestimmten Wegen oder auch in einem gewagteren Klettern durchs Dickicht betreten kann, der sich aufgrund seiner Ausdehnung und teilweise unzugänglichen Bereiche nicht gänzlich erschließen lässt. Wichtig, um überhaupt in den Wald hineinzugehen, ist offenbar ein durch Empfinden und Bewerten hervorgerufenes intentionales Gerichtetsein zum Wald hin, wie es sich in der Geschichte findet. Im Wald, dem Lebensraum der Tiere, findet sich für das Kind Eigenes und Fremdes. Das Tier erscheint dem Kind vermutlich teilweise als etwas Fremdes, da es ein Tier ist, nicht spricht und anders lebt als der Mensch. Es fühlt sich ihm wiederum aber auch insofern nah, als es ein Lebewesen ist und das Kind somit seine grundlegenden leiblichen Weisen des Zur-Welt-Seins nachempfinden kann. So zeugt die Geschichte von einer gewissen Empathie Luisas den Tieren und insbesondere den Vögeln gegenüber, die sie hört: »›Die Tiere freuen sich auch‹, dachte Luisa, als sie die Vögel singen hörte.« Der Titel der Geschichte erinnert an die phänomenologische Beschreibung der Musik als Zwischengeschehen. Denn bei dem Begriff Stimme (hier als Frühlingsstimme verwendet) handelt es sich beinahe um den Inbegriff der Verzahnung von innen und außen, Eigenem und Fremdem: Hören wir uns selbst, werden wir uns dadurch zu einem Teil selbst fremd, indem wir uns zuhören. Die Musik als Ort (Wald) erscheint in dieser Geschichte als Ort, an dem sich Eigenes und Fremdes verbindet. Wie eng ist nun aber dieser erste Bezug des Kindes zur Musik? Inwiefern hat die Erfahrung des Kindes schon etwas mit der musikalischen Struktur zu tun? (Ließe sich doch behaupten, dass es sich bei der geschilderten Freude über den beginnenden Frühling um eine außermusikalische Erfahrung handelt.) Auch wenn das Erleben des Frühlings als Erfahrung, die das Kind unabhängig von der Musik bereits hat, originär nichts mit dieser Musik zu tun hat, so wurde doch die Erinnerung an diese eigene Erfahrung durch das Erleben der Musik zurück ins Bewusstsein gerufen. Außerdem ist zu vermuten, dass sich die geschilderte Handlung (Luisa, die in den Wald geht) zumindest grob an dem Verlauf der Musik orientiert. Somit bedeutet das durch die Musik hervorgerufene Erinnern an den Frühlingsbeginn keine bloße gedankliche Wiederholung des bereits Erlebten. Das Erfahrungskonzept des Frühlingsbeginns wird hier modifiziert und in Bezug zur erklingenden Musik gebracht, indem es sich vermutlich schemenhaft an die musikalische Struktur angleicht. Aus der Erfahrung, die das Kind früher gemacht hat, wird so gesehen in dem Moment, in dem es das vertraute Erfahrungskonzept für einen Bezug zur Musik öffnet, wieder eine Erfahrung, die es macht. Da dem Empfinden für die aktive Kontaktaufnahme des Kindes mit der Musik hier eine bedeutende Rolle beigemessen wird, erscheint es nicht ganz so entscheidend, wie genau das Kind im ersten Moment die Struktur der Musik nachzeichnet. Vielmehr ist es wichtig, dass es überhaupt diesen Bezug zum eigenen Erleben herstellt und sich somit in die

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

Musik hineinfühlen kann, was seinem musikalischen Erleben zugleich einen Sinn verleiht. Von diesem Moment an ist der Weg dafür bereitet, den Bezug zur Musik immer weiter zu entfalten. Hierfür schließt sich im Projekt an das beschriebene erste Hören nun der aktive schöpferische Umgang mit dem Musikstück an. Dies bewirkt, dass die Kinder sowohl selbst die Musik befragen als auch auf die Musik hörend und handelnd antworten. Bei dieser handelnden Auseinandersetzung der Kinder mit der Musik ist zu beobachten, dass es das Pendeln zwischen Nähe und Distanz ist, das ihnen hilft, sich die musikalische Struktur immer weiter zu erschließen. Bedeutet das Verfassen einer Geschichte zur Musik nun auch schon ein erstes reflektierendes Distanznehmen? Beim Ausdenken einer Geschichte zur Musik agieren die Kinder auf einem der Musik nahen Symbolisierungsniveau. Sprache wird hier im künstlerischen Sinne verwandt, ihre Begriffe und Bedeutungen sind vielfältig und eher uneindeutig. Zudem bildet der Gesamttext eine künstlerische Ausdrucksform an sich. Die Kinder vertiefen sich in eine virtuelle beziehungsweise mediale Welt, verfolgen eine erdachte Handlung, projizieren Empfindungen und Verhaltensweisen auf fiktive Figuren. Mit dem Schreiben einer Geschichte begeben sie sich somit erneut in eine Art des (vermittelten) Erlebens sowie in eine für sich eigene, abgeschlossene Welt. Ihr Umgang mit Sprache ist nicht in dem Sinne distanzierend, als hier noch nicht der Bezug der Geschichte zur Musik an sich sprachlich reflektiert wird, sondern sprachlich nur das Feld für ein erneutes Erleben, in anderer Farbe, bereitet wird. Indem das Kind aber sprachlich klar eine Situation (re-)konstruiert und dafür aus einer Fülle an Eindrücken und Möglichkeiten des Ausdrückens auswählt, distanziert es sich durchaus ein erstes Mal zum Erleben der Musik. Das entfaltete Erfahrungskonzept des Frühlingsbeginns beispielsweise verleiht dem musikalischen Erleben eine Gestalt, einen Kontext, in dem es sich noch weiter entfalten und ausdeuten lässt. Es handelt sich hier im Grunde um die Variation einer Erfahrung, in der etwas Wesenhaftes (zum Beispiel die Dynamik eines schönen beglückenden Ereignisses) hervortritt. Phänomenologisch betrachtet wird demnach durchaus der Schritt hin zu einer erkennenden Distanznahme gegangen. Zu fragen wäre hier vielmehr, wie klar beziehungsweise bewusst dieses Wesen bereits gegeben ist und ob durch eine wiederholte Auseinandersetzung mit dem Musikstück und die weitere Transformation in eine verwandte Symbolform (also eine weitere Variation der Erfahrung) der Wesenskern des untersuchten Phänomens noch prägnanter herausgearbeitet werden kann. Eine erste Distanz zum erlebten Musikstück wird im Projekt zunächst schon durch den zeitlichen und räumlichen Abstand zum beschriebenen ersten Erleben der Musik im Kirchenraum hergestellt. Noch am selben Tag verlassen die Kinder die Kirche, um sich – mit etwas Abstand – in den Räumlichkeiten der Gemeinde mit demselben Orgelstück, in Form einer vom Tonträger erklingenden Einspie-

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lung des Organisten, nochmals zu beschäftigen. Dort erhalten sie die Aufgabe, zu dem Stück nun eine Geschichte zu schreiben. Es blickt sie ein weißes Papier an, ein Stift fordert sie zur Handlung heraus. Die Musik erscheint nun losgelöst von ihrem Kontext und will als Geschichte beschrieben werden. Mit dieser Situation gehen die Kinder unterschiedlich um. Während einige sofort und schließlich über die Dauer des Stückes hinaus in die Welt ihrer Geschichte versinken, suchen andere bis zuletzt nach wenigstens ein paar für sie passenden Worten zur Musik. Manche wollen sich scheinbar von ihrem ersten Erleben noch nicht lösen und verfassen prompt statt einer Geschichte einen Erlebnisbericht, um sich das Erlebte nochmals zu vergegenwärtigen und zu bewahren.16 Das Hören der Musik mit der konkreten Aufgabenstellung, zur Musik eine (passende) Geschichte zu verfassen, hat für die Kinder jetzt eine andere Qualität. Die Aufforderung zur aktiven Handlung an der Musik lässt den selbsttätigen Teil des Hörens gegenüber der zunächst eher aufnehmenden Haltung nun stärker hervortreten. Sie stellen Fragen an die Musik, beginnen nach etwas in der Musik zu suchen, wovon sie schreiben können. Dabei scheint der erste Eindruck von der Gesamtstimmung des Stückes oder zu dominanten Wesenszügen der Musik recht schnell grundlegende Entscheidungen treffen zu lassen: Es handelt sich um Schilderungen über Handlungen von Tieren, Menschen, in welcher Umgebung (oft Wald), wer ist gut, wer böse, endet alles gut, im Frieden oder im Ungewissen etc. Diese Entscheidungen fungieren vermutlich als Weichenstellungen – denn nun, nach der Auswahl der Protagonisten, entscheidet die Musik, wie sie mit ihnen spielt. (Weiter unten werden einige Ergebnisse genannt und die Art und Weise der verwendeten Sprachbegriffe auf ihren Bezug zur Musik hin untersucht.) Dass die sprachlichen Äußerungen der Kinder, wie bereits beschrieben, von Schilderungen des Fühlens, des Spürens, der Empfindungen sowie von Bewertungen durchzogen sind, zeugt wiederum davon, dass sie die Klänge nicht nur passiv aufnehmen oder registrieren, sondern dass sie empfindend antworten. Die Musik rührt sie an, sie wird von ihnen mit einer persönlichen, emotionalen Bedeutung aufgeladen. Dies erinnert an Stengers Beschreibung der Grundlagen des leiblichen Lernens und Suanne Langers Beschreibung vom Beginn von Symbolisierungsprozessen. Um den Prozess der Begriffsbildung weiterzuführen, wird das beschriebene Pendeln zwischen Nähe und Distanz bei der handelnden Auseinandersetzung mit der Musik nun mit den verschiedensten Weisen, die Musik zu untersuchen, weiter in Gang gehalten. Dabei bewirken die konkreten Handlungen an der Musik wie das Schreiben von Geschichten, das Malen von Bildern und insbesondere das Bewegen zur Musik auch immer wieder Momente des Erlebens, des In-derMusik-Seins, während beispielsweise das Sprechen über die entstandenen Bilder 16

Ein Kind wird damit bis zum Ende des Projekttages nicht fertig und bittet darum, den Bericht zu Hause zu Ende schreiben zu können. Beim nächsten Mal hat es den Text, wie versprochen, fertig verfasst dabei.

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oder das Zeigen und Erklären der zur Musik gefundenen Bewegung bewusst Momente des Auf-Distanz-Gehens bilden. Diese Vorgehensweise lässt sich, mit Bezug auf die verständige Musikpraxis von Kaiser und der Anwendung von Rora/Wiese, auch durch die Begriffe Praktizieren, Unterbrechen, Thematisieren und Auffordern strukturieren. Besonders gut lässt sich diese Pendel- oder Kreisbewegung an der Erarbeitung der Bewegungsstudie zur Musik beschreiben. Während beim Malen und Schreiben zur Musik im Prinzip nur einmal, nach der Fertigstellung der Werke, unterbrochen und das Entstandene thematisiert wird, wird beim Bewegen zur Musik schon während der Erarbeitung des Tanzes mehrfach (auch die Musik an sich) unterbrochen. Dadurch kann hier auch beobachtet werden, wie Erleben und Distanznahme einander gegenseitig beeinflussen. Dass das häufige Unterbrechen beispielsweise auch zu Störungen des Erlebens und Praktizierens führen kann, soll weiter unten noch Erwähnung finden. Das Distanznehmen ist für die TeilnehmerInnen des Projektes insbesondere im Hinblick auf verbale Beschreibungen der eigenen musikalischen Wahrnehmungen auch von einigen Schwierigkeiten gezeichnet. Insgesamt scheint sich das musikbezogene Reflektieren im Rahmen des Projektes schwerpunktmäßig eher im vorsprachlichen Bereich abzuspielen. Es sind insbesondere Momente der Transformation sowie des gemeinsamen Tuns, bei denen das Erlebte und Wahrgenommene auf einer Art Zwischenstufe in einer ersten, vorsprachlichen Weise verarbeitet wird. Dieses Reflektieren löst sich noch nicht gänzlich vom Erleben, bleibt an die ursprüngliche Erfahrung angebunden. So lässt sich beispielsweise beobachten, dass das Sicheinigen auf eine gemeinsame Bewegungsfolge eher auf mimetischen Prozessen beziehungsweise auf mimetischem Lernen und nur bruchstückhaft auf verbalen Beschreibungen beruht. Es ist zu vermuten, dass den Kindern selbst ihr Distanznehmen weniger bewusst ist, da sie es scheinbar nicht als ein Erkennen empfinden. Sie stellen nicht fest, sie zeigen, sie denken weniger über ihre Bewegungen nach, sie bewegen sich einfach und probieren. Das eigene Erleben bewusst zu reflektieren, soll durch das Projekttagebuch angeregt werden. Rückblickend auf den Projekttag dienen die kurzen Einträge (häufig aus Zeitgründen nur Beantworten von Fragen) dazu, aus der zeitlichen Distanz heraus dem Erlebten eine persönliche Bedeutung zu geben und sich somit reflektierend zum eigenen Erleben, zur eigenen Erfahrung zu verhalten. In der Auswertung der Ergebnisse des Projektes (insbesondere der videographierten Situationen der Erarbeitung der Bewegungsstudie) wird das Augenmerk besonders auf Situationen gelegt, in denen die Kinder vermutlich neue Erfahrungen machen beziehungsweise lernen. Gesucht wird nach Momenten des leiblichen Lernens im Sinne des Lernens als Erfahrung. Insbesondere krisenhafte Momente haben dabei den Beginn von Lernprozessen vermuten lassen. Hierbei handelt es sich um Situationen, in denen die Kinder vor einem Problem stehen, bei dem sie sich gezwungen sehen, ihr bisheriges Verhalten zu verändern, etwas Neues

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zu erwerben. Gegenüber diesen Krisenmomenten ließen sich jedoch auch AhaErlebnisse verzeichnen, in denen die Schüler beispielsweise merken, dass sich eine von ihnen bereits erworbene Verhaltensweise auf eine neue Situation übertragen beziehungsweise anwenden lässt. Für diese Lernanlässe aus den genannten beiden Blickrichtungen seien hier kurz Beispiele aus dem Projekt aufgeführt. Krisenmomente Folgendes Problem ergibt sich für die TeilnehmerInnen bei der Umsetzung einer achttaktigen Phrase in Bewegung: Eine aufstrebende Achtellinie wird nach vier Takten eine Terz tiefer in Moll wiederholt. Es handelt sich also um eine Sequenz. Problematisch daran ist, dass beide Abschnitte (vier Takte) vom Gestus und der Gesamtgestalt im Grunde einander gleichen, wobei die abgesenkte Tonstufe insgesamt den Eindruck einer Eintrübung vermittelt. (Siehe Notenbeispiel 1 im Anhang.) Die Kinder bewegen sich zunächst zu den gesamten acht Takten in gleicher Weise. Schließlich fällt ihnen jedoch auf, dass sie mit den gleichbleibenden Bewegungen nicht anzeigen können, was sie wahrnehmen. Denn die Musik wiederholt sich nicht einfach nach vier Takten, sondern verändert sich in ihrem Charakter. Bei einem ersten Versuch, die Bewegung spontan an diese Entwicklung anzupassen, verfallen die Kinder jedoch in ihre inzwischen gewohnte Bewegung zurück. Sie besteht im Wesentlichen aus dem Hintereinanderlaufen im Kreis, das mit rhythmischen (halbtaktigen) Winkbewegungen in den Armen begleitet wird. Als unterbrochen und festgestellt wird, dass noch keine deutlichen Veränderungen zu sehen sind, reagieren die Kinder überrascht und teilweise verärgert. Das, was sie hier als Problem empfinden, ist aus Sicht des Lernens jedoch eine günstige Situation: Sie hinterfragen selbst die Bewegungen, die ihnen bereits zur Gewohnheit geworden sind, und machen sie sich dadurch wieder bewusst. Sie müssen sich fragen: Was tun wir da genau? Lässt sich unser Bewegungskonzept variieren? In einer anschließenden kurzen, lebhaften Diskussion wird die bisherige Bewegungsweise im Hinblick auf Möglichkeiten der Veränderung besprochen. Zunächst meinen einige, die Bewegung eigne sich nicht gut für eine Steigerung. Ein Kind zeigt bewusst riesengroße Winkbewegungen, will damit andeuten, wie ›übertrieben‹ dieses Winken wirkt. Dem stimmen die anderen im Grunde zu. Denn ihnen wird vermutlich bewusst, dass sie mit der Bewegung des Winkens eher Charaktereigenschaften, wie Leichtigkeit, aber dennoch auch Präzision verbinden. Diese Eigenschaften verlieren sich jedoch in der gesteigerten Variante: Statt freudig zu winken, wirkt das übertriebene Winken des Kindes nun eher wie ein Um-Hilfe-Winken in einer Situation der Not. Dabei fällt ihm vermutlich auch auf, dass die Musik sich durch die eingetrübte Wiederholung in ihrer Wirkung eher abschwächt, als zuspitzt. Außerdem merkt es, wie es deutlich anstrengender wird, die großen Bewegungen in derselben knappen Zeit rhythmisch exakt auszuführen – was den angestreng-

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ten Charakter der Bewegung zur Folge hat. Daraufhin äußern einige Kinder neue Bewegungsideen für den sequenzierten Abschnitt. Da dadurch der empfundene Zusammenhalt der gesamten Phrase (Gleichförmigkeit des Gestus durch durchlaufende Achtelbewegungen) aufgebrochen werden würde, finden sie schließlich eine andere Lösung: Bis auf zwei Kinder bewegen sich alle Kinder im Kreis weiter (also unverändert) in der ursprünglich spontan gefundenen Bewegungsweise. Zur gleichen Zeit setzen dem zwei Kinder in der Mitte des Kreises jedoch eine aufeinander abgestimmte (gespiegelte) Bewegung als Kontrapunkt entgegen. Diese zeigt nun tatsächlich eine Veränderung an: Ihre Armbewegungen steigern sich, zur Mitte hin wird eine Drehung vollführt. Hiermit haben die Kinder nun also eine Möglichkeit gefunden, anzuzeigen, dass die gehörte Sequenz für sie nicht einfach nur eine Wiederholung, sondern auch eine Weiterentwicklung bedeutet. Diese Lösung beruht auf einem Lernprozess. Dabei war ihnen vermutlich die zuvor bereits im Projekt gemachte Erfahrung nützlich, dass es durchaus möglich ist, gegensätzliche Bewegungsweisen miteinander zu vereinen. Denn im Vorfeld hatte sich folgende Situation ereignet. Sechs Kinder bewegen sich in gleicher, eingeübter Weise zu dem Beginn des Orgelstückes durch den Raum, als sie zu einem Abschnitt des Musikstückes gelangen, den sie sich bisher noch nicht durch Bewegung zur Musik erschlossen haben. Es erklingt eine achttaktige Phrase, in der eine aufstrebende Achtellinie sequenzierend nach vier Takten, um einen Ganzton nach oben versetzt, von Neuem beginnt. Dieser Abschnitt des Orgelstückes im 6/8-Takt ist in seinem Aufbau zweistimmig. Die einstimmige Begleitstimme hat harmonisierende, aber auch rhythmische Funktion. Nach Anweisung des Komponisten erklingen diese acht Takte des Stückes in einer Registrierung, die Grund- und Zungenstimmen mischt. (Siehe Notenbeispiel 2 im Anhang.) Die Kinder werden angeregt, sich zu dem noch unbekannten Abschnitt des Stückes weiter spontan tänzerisch zur Musik zu bewegen, zu improvisieren. Sofort greift ein Kind die schnelle Bewegung der Achtel auf und wirbelt regelrecht durch den Raum. Während sich die anderen zunächst etwas zögerlich in die Musik hineinhören, um dann langsam und bedächtig zu beginnen, den weiten Bogen der Achtelläufe mit den Armen nachzuzeichnen, fährt dieses Kind mit hektischen Bewegungen durch ihre Mitte, bewegt dabei zeitgleich Kopf, Arme und Beine. Es lacht in die Runde, wartet auf Antwort und prüft, was sein impulsiver Einsatz für einen Eindruck auf die Mittanzenden macht. Prompt stimmt ein anderes Kind mit ein, versucht diese Bewegungen aufzugreifen und nachzuahmen. Doch obwohl es im Raum unruhiger wird, scheint die schnelle Bewegungsweise sich nicht durchzusetzen. Zwar beobachten auch die anderen Kinder die von der Achtelbewegung der Musik geprägten wilden Gesten, doch mit einem Lächeln halten sie mit ihren ruhigen wellenartigen Armbewegungen den Bewegungen der anderen stand. Ein Kind wirkt, als würde es von dem ganzen Geschehen nichts weiter bemerken. Ganz

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in sich versunken läuft es ganztaktig rückwärts und lässt seine Arme dazu langsam und gleichmäßig immer höher steigen. Zwei weitere Kinder scheinen sich schnell aufeinander abgestimmt zu haben. Während sie im Blickkontakt bleiben, schwingen sie die Arme parallel ebenfalls ganztaktig hin und her. Im Raum stehen nun also im Wesentlichen zwei unterschiedliche Bewegungsideen: eine eher am schnellen Puls der Achtelnoten orientierte Bewegung und eine ruhigere Bewegung, die ganze Takte zu Einheiten zusammenfasst. Als die Kinder später versuchen, diese beiden verschiedenen Bewegungsweisen zu verbinden, stellen sie erstaunt fest, dass sich die ›zackigen Blitze‹ mit den wogenden ›Wellen‹ gut verbinden lassen. Obwohl jeder schließlich ganz in seiner eigenen Bewegung vertieft ist, spüren die Kinder das Miteinander. Jeder für sich bildet dabei einen Teil eines sinnvollen Ganzen, alle werden durch die musikalische Struktur verbunden und geführt.17 Der anfängliche Augenblick der Krise, der ein Suchen und Probieren auslöst, mündet hier in ein Aha-Erlebnis. Die Erfahrungen der Kinder sind hierbei vielschichtig: Sie erfahren die zunächst fremde Bewegung des anderen als ebenso passend zur Musik. Somit wird sie für sie nachvollziehbar und verliert durch die Musik, die immer mehr zu etwas Eigenem wird, an Fremdheit. Die Bewegungen der anderen machen ihnen dabei vermutlich auch Eigenschaften oder Formmerkmale der Musik bewusst, die sie zuvor noch nicht als solche wahrgenommen beziehungsweise erkannt haben. Sie erfahren weiter den Aspekt der Komplexität an sich als einen Wesenszug, der der Musik – und insbesondere der Orgelmusik – eigen ist, indem sie beispielhaft die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichem erleben. Dies ist zugleich wiederum eine räumliche Erfahrung. Denn es bedarf bei gleichzeitiger, unterschiedlicher Bewegung eines gewissen Korrelationsverhältnisses, um sich bei der Ausführung der jeweiligen Bewegung sowie der Gesamtbewegung nicht zu behindern. (Hiermit sind nur einige Erfahrungsmöglichkeiten des geschilderten Beispiels genannt.) Was macht die beschriebene Erfahrung zu einem Aha-Erlebnis? Das Eintreten eines Aha-Erlebnisses ist hier verbunden mit dem Finden einer Lösung oder dem Erkennen von zuvor noch nicht erfahrenen und somit nicht erwarteten Möglichkeiten. (Hier wird eine Lösung als Lösung empfunden.) Außerdem scheinen sich den Kindern in diesen Aha-Momenten ebenso spontan Sinnzusammenhänge aufzutun, die ihnen zuvor noch nicht zum Gegenstand ihrer Wahrnehmung geworden waren. Daher lässt sich hier mit Vorsicht18 eventuell von einer Art Zwischenergebnis des Lernens sprechen. Bei der bewegten Auseinandersetzung mit dem Orgelstück widerfahren den Kindern offenbar des Öfteren Aha-Erlebnisse.

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Dieses Beispiel wird auch in einem Artikel zu diesem Promotionsprojekt geschildert, vgl. Unger-Rudroff 2016. Denn es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass das Lernen nach dem Erreichen eines konkreten Zieles beendet ist.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

So bedeutet es für sie bereits eine neue, überraschende Erfahrung oder gar Erkenntnis, dass ihre aus anderen Kontexten vertrauten Bewegungen sich sinnvoll und sogar sinnstiftend mit der Musik verbinden lassen. Außerdem scheint es sie immer wieder zu überraschen, dass ihre eigenen Bewegungen nicht nur mit der Musik, sondern auch mit den Bewegungen der anderen zusammenpassen können – auch wenn sie recht gegensätzlicher Natur sind. Bei dem Aha-Erlebnis handelt es sich also vermutlich um den Moment, in dem den Kindern die Musik oder die Bewegung (die eigene oder die der anderen) als vertraut, bekannt oder als etwas Eigenes erscheint, das ihnen entweder bisher noch nicht oder noch nicht auf diese Weise bewusst war. Dabei wird also vermutlich entweder etwas tatsächlich zum ersten Mal erkannt oder etwas bisher Vertrautes unter neuen Vorzeichen gesehen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die zunächst noch fremde Musik ihnen zum ersten Mal vertraut erscheint, indem sie wiederholt erklingt, die Kinder sich also spontan erinnern, diesen Abschnitt schon zu kennen. Oder wenn sie, eventuell angeregt durch die Bewegung eines anderen Kindes, etwas an der musikalischen Struktur erkennen, das ihnen bisher nicht aufgefallen war. Insofern beschreibt das Aha-Erlebnis also den Moment des Er-Kennens. Es ist der Augenblick, in denen den Kindern bewusst wird, was sie erworben oder sich zu eigen gemacht haben. Der Aspekt der Plötzlichkeit erinnert dabei wieder insofern an die phänomenologische Erkenntnishaltung, da er unterstreicht, dass sich Wahrnehmen und Erkennen in einem Zwischenbereich ereignen. Es braucht das wache Suchen genauso wie das Sich-Treffen-Lassen durch die Dinge. Somit zeigt sich auch hier, dass Verstehen ein Prozess ist, den wir nicht endgültig selbst bestimmen – und somit auch nicht genau vorausplanen können, dass er aber dann eintreffen kann, wenn der Weg für ein Lernen geebnet wird. Dies können wir tun, indem wir das Kind selbst finden lassen, was sich finden lässt. Erst wenn es beispielsweise das Prinzip der Wiederholung durch sein Tun an der Musik plötzlich selbst entdeckt, wird es mit einem »Aha!« reagieren. Zusammenfassend lässt sich über das beobachtete Aha-Erlebnis sagen, dass es einen Augenblick der Bewusstwerdung, des verstehenden Erkennens von etwas als etwas beschreibt, das von positiven Gefühlsäußerungen begleitet wird. Es ist ein Moment, in dem sich etwas ändert, in dem ein Weitergehen, ein Weiterlernen oder beispielsweise Weiterbewegen zur Musik nun andere Rahmenbedingungen hat. Dies zeigt außerdem wieder, wie stark das leibliche Lernen mit dem Empfinden verbunden ist. Denn wie die geschilderten Beobachtungen zeigen, gehen Lernen und Verstehen mit einem starken positiven – oder auch negativen – Empfinden einher. Die These der Phänomenologie (insbesondere Merleau-Pontys), dass die Empfindung nicht erst als Reaktion auf das Wahrgenommene eintritt, sondern bereits dadurch Teil des Erkenntnisprozesses ist, dass sie die Vorbedingung19 der 19

Denn im Moment des Empfindens fallen Empfinden und Empfundenes zusammen.

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Wahrnehmung bildet, können die beschriebenen Beobachtungen bestätigen (siehe Kapitel 3.2.2). Um beispielhaft aufzuzeigen, dass es neben den von positiven Empfindungen begleiteten Aha-Erlebnissen auch Momente des Erkennens gibt, in denen zeitgleich eher Empfindungen wie Verwunderung oder Verärgerung sichtbar werden, soll hier noch eine weitere Situation im Projekt kurz beschrieben werden. Sie zeigt, wie die an die Musik gerichteten Erwartungen der Kinder zerrüttet werden und sich bei ihnen eine Art Aha-Erlebnis der negativen Art ereignet. Als die Kinder im Laufe des B-Teils frei zu dem ›Rest‹ des Stückes Bewegungen improvisieren, beginnen sie spontan die gleichen Bewegungen des Anfangsteils wieder aufzugreifen. Entsprechend erwarten sie auch den Abschluss des Teils an bekannter Stelle. Doch hier überrascht sie Gigout, indem er noch einen kurzen Nachsatz, eine kurze, flüchtige Erinnerung an den B-Teil anhängt. Den Kindern, die sich zufrieden in einer Abschlusspose zum Raum positionieren, entgleist plötzlich das Gesicht, ein Raunen, ein »Hä??« ist zu hören. Kurze Zeit später haben sie in die Bewegungen des B-Teils gefunden. Das, was ihnen zuvor sinnvoll erschien, war nur für kurze Zeit zerrüttet, jetzt lassen sie sich vom Vertrauten wieder beruhigen. Doch sie bleiben ein wenig vorsichtig, zeigen – aus gutem Grund, beziehungsweise aus Erfahrung – das Ende nun weniger deutlich an, so als würden sie erst einen Moment lauschend abwarten, ob sich ihre Erfahrung bestätigt. Dass Aha-Erlebnisse sich in Erlebnisse des positiven und des negativen Empfindens unterscheiden lassen, liegt vermutlich daran, dass hierbei entweder das Neue in etwas Vertrautes umschlägt (dies wird eher als angenehm empfunden) oder das Vertraute plötzlich unerwartet fremd oder neuartig erscheint (was eher negativ empfunden wird). So ist den Beispielen zu Krisenmomenten und Aha-Erlebnissen insgesamt gemeinsam, dass sie von einem Wechsel zwischen dem Erfahren des Eigenen und Fremden sowie zwischen Selbsttätigkeit und Getroffenwerden zeugen. Die Musik wird ihnen zum einen immer vertrauter und dennoch erleben sie sie immer wieder als verschlossen oder herausfordernd – zeigt sich ihnen das Fremde und Unerschließbare. In der Metapher des »Wunders«, verwendet als »Waldwunder« in der Beschreibung eines Kindes im Projekttagebuch am Ende des ersten Tages,20 findet sich dieses Phänomen wieder: Der Wald (mit Vorsicht als Sinnbild für die Musik betrachtet) lädt die Kinder zum Erkunden ein. Da es sich jedoch um ein Waldwunder handelt, werden sie immer wieder aufs Neue überrascht und halten sie ihn möglicherweise auch für nicht endgültig erschließbar. Das Ganze

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Nach dem dritten Treffen wird im Projekttagebuch folgender Dialog dokumentiert. (Autorin:) »Du hast das Orgelstück nun schon oft gehört. Meinst Du, dass Du es schon gut kennst und es beschreiben kannst?« (Kind:) »Ich habe es so empfunden, dass im Stück ein Bär tanzt und alle Waldtiere singen.« (Autorin:) »Was passiert in dem Orgelstück?« (Kind:) »Ein Waldwunder eigentlich, weil es so laut und leise, hoch und tief …«.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

scheint für das Kind jedoch positiv besetzt zu sein. Der Begriff des Wunders suggeriert, dass die Erwartungen des Kindes im positiven Sinne überstiegen werden. Das Neue, das das Kind sich noch nicht erklären kann, wofür es noch keine Worte findet, wovon es überrascht ist, scheint demnach etwas zu sein, worauf sich das Kind in diesem Fall gern einlässt. Die bisher geschilderten Situationen lassen folglich davon ausgehen, dass sich im Rahmen des Projektes musikbezogenes leibliches Lernen vollzieht. Es wurden hierfür Augenblicke nachgezeichnet, in denen die Kinder auf verschiedene Weise Erfahrungen machen oder mit eigenen Erfahrungen umgehen. Dabei wurde beschrieben, wie die Musik den Kindern zunächst bewusst macht, welche Erfahrungen sie bereits haben, indem sie im Umgang mit der Musik eigene vertraute Erfahrungskonzepte entfalten (wie am Beispiel der Geschichte »Frühlings Stimme« dargelegt). Nun soll zusammengetragen werden, welche Erfahrungen sie im Laufe des Projektes machen. Erfahrungen haben und machen wird generell als miteinander verwoben verstanden. Hier soll lediglich der Schwerpunkt auf das jeweils eine oder andere gelegt werden, um die Weite des Spektrums von Erfahrung in Bezug auf den Umgang mit Musik zu verdeutlichen. Erfahrungen ›im Kleinsten‹ Aus phänomenologischer Sicht rücken, wie oben beschrieben, Wahrnehmung und Erfahrung zusammen, sodass Wahrnehmen von Struktur und Gestalt schon als Erfahrung verstanden wird. Jegliche Handlung der Kinder, die auf eine wahrgenommene Struktur oder Gestalt in der Musik antwortend Bezug nimmt, kann aus dieser Blickrichtung als Erfahrung, als musikalische Erfahrung, betrachtet werden. Denn hierbei handelt es sich um einen Prozess, bei dem sich Erfahrungsstrukturen verändern. Das Kind erwirbt beziehungsweise lernt etwas in der Auseinandersetzung mit der Musik, indem es sich zu gleichen Teilen aufnehmend und aktiv suchend zur Musik verhält. Die Phänomenologie betrachtet bereits die Wahrnehmung von etwas als etwas als eine erste Form der Reflexion. Insbesondere in Bezug auf Musik bedeutet das Erkennen von Struktur- oder Gestalthaftem vor dem Hintergrund des komplex sich im zeitlichen Strom ereignenden Phänomens Musik ein Sichzurückwenden und Auswählen. Erfahrung im Zwischen Da die Musik nur als Musik ihre Komplexität zum Ausdruck bringen kann, bedeutet jedes Übertragen von musikalischen Wahrnehmungen in eine andere verwandte, symbolische Ausdrucksweise ein Herausgreifen einzelner Elemente, wodurch immer andere nicht benannt werden. Grundlegend für die Darstellung des wahrgenommenen etwas als etwas in der Musik ist dabei zuerst die Einteilung in Gestalt, Form oder Figur und Hintergrund sowie das Darstellen von Begrenzungen.

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Daraus ergibt sich wiederum die Darstellung von Verhältnissen beziehungsweise Korrelationen, wodurch die Transformationen in sich zu geschlossenen Sinngebilden werden und sich vom Ursprungsphänomen Musik distanzieren. Dieser Prozess soll hier als eine zweite Phase der (vorsprachlichen) Reflexion bezeichnet werden. Diese Erfahrung im Zwischen ist insbesondere für Prozesse der Begriffsbildung von Bedeutung. Erfahrung ›im Großen und Ganzen‹ Hiermit ist im Prinzip die Erfahrung der Erfahrung, eine Reflexion also, die sich auf die eigene Erfahrung bezieht und die Erfahrung selbst thematisiert, gemeint. Hierzu wird jedoch der Abstand zum Erleben und den damit einhergehenden, unter anderem durch Aha-Erlebnisse strukturierten oder unterteilten, Lernabschnitten benötigt. In diesem Falle sind dies Erfahrungen, die den Kindern das Projekt ›im Großen und Ganzen‹ mit auf ihren weiteren Weg gibt. Sie haben beispielsweise die generelle Erfahrung gemacht, dass sich Orgelmusik vertanzen lässt. Allgemein auf die Musik bezogen, lässt sich behaupten, sie haben die Erfahrung gemacht, sich in einer Musik sehr gut (im Sinne von genau) zurechtfinden und orientieren zu können – und noch allgemeiner, dass sich auch ein Phänomen, das zunächst als großes Geheimnis oder Wunder erscheint, durch eine handelnde, fragende Auseinandersetzung immer tiefer erschließen lässt. Sie haben erfahren, dass die eigenen Erwartungen übertroffen wurden und sich für das, was zunächst unmöglich schien, Lösungen finden ließen. Etwas, das zunächst als fremd erschien, wurde mehr und mehr zu etwas Eigenem. Auf dem Weg von der Erfahrung im Kleinen, Konkreten zur Erfahrung im Großen, Allgemeinen rückt das Erfahrene oder Gelernte scheinbar immer weiter weg von der Musik an sich. Am engsten mit der Musik als musikalische Erfahrung verwoben ist die allererste Form der Reflexion in der Wahrnehmung. Währenddessen entfernen sich die Erfahrungen, je allgemeiner sie werden, desto weiter von dem Musikstück, der konkreten Situation des musikalischen Erlebens. Und dennoch gehen sie aus dem konkreten Umgang mit der Musik hervor. Eben diese vielschichtigen Anlässe zur Reflexion, zum Lernen als Erfahrung, begründen, nebenbei, warum Musik auch über die Fachgrenze hinaus einen wesentlichen Anteil an Bildung im Allgemeinen hat. Auf die Frage, welche Rolle die Sprache bei den verschiedenen Phasen der musikalischen und musikbezogenen Erfahrung spielt, soll weiter unten eingegangen werden. Es wurde mit Blick auf den Erfahrungsaspekt bereits vom Lernen als Erfahrung gesprochen. Damit jedoch nicht der Eindruck entsteht, der Lernbegriff ließe sich im Begriff der Erfahrung auflösen, soll hier noch kurz erläutert werden, warum bei Momenten der Erfahrung ebenso auf ein erfolgtes Lernen geschlossen wurde. Der Erfahrungsbegriff wird in der vorliegenden Untersuchung für geeignet gehal-

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ten, um Prozesse des Lernens zu strukturieren. Denn in dem Moment, in dem uns bewusst wird, dass wir eine Erfahrung gemacht haben, blicken wir auf den Weg des Lernens zurück, merken wir überhaupt, dass wir gelernt haben. Da die erworbenen Erfahrungen jedoch auch für zukünftiges Lernen eine Rolle spielen, indem sie unser Lernen anregen und beeinflussen, bedeuten Erfahrungen Endpunkte und Anfänge zugleich. So helfen den Kindern im Projekt die konkreten, am Phänomen Musik erworbenen Erfahrungen in den Situationen, in denen die Musik erneut erklingt, sicherer und selbstbestimmter mit der Musik umzugehen. Ein Beispiel hierfür: Das Finden von Bewegungsbildern zur Musik bedeutet eine Erfahrung (eine Erfahrung im Zwischen). Diese Erfahrung wird mit jeder Wiederholung der Musik erneut geprüft, zum Teil auch hinterfragt. An folgendem Beispiel, am Problem der Umsetzung, wird dies deutlich: Die Kinder haben sich dafür entschieden, im B-Teil den Rhythmus ›in die Füße‹ zu nehmen. Das rhythmischtänzerische Laufen zum in diesem Abschnitt homophon erklingenden Rhythmus als passend zu erleben, bildet die hierfür zugrunde liegende Erfahrung einiger Kinder. Folglich soll dieses Bewegungsbild von allen erlernt werden. Dazu machen sich alle den Rhythmus zunächst bewusst. Der Rhythmus wird gesondert thematisiert und dabei zeitlich gedehnt. Dabei rückt die Musik, mit der er verwoben ist, immer mehr in den Hintergrund. Um die Struktur der Rhythmusgestalt mitvollziehen zu können, wird den Kindern zur Unterstützung kurzzeitig folgender Sprechvers angeboten: »Ein Tanz, dazu Musik.   Ein Tanz, zu Orgelmusik.   Eins-zwei, drei-vier, fünf-sechs, sieben-acht,   ein Tanz, von uns allein ausgedacht.« Dieser soll helfen, die Struktur im Gedächtnis zu behalten. Sobald sich alle sprechend gekonnt zum Rhythmus bewegen, wird dieses Sprechen zur Musik beendet, damit der Rhythmus an sich wieder in den Vordergrund tritt. (Siehe Notenbeispiel 3 im Anhang.) Als der Rhythmus (als Bewegungsfolge) erworben scheint, wird wieder die Musik hinzugenommen. Sofort fällt allen auf, dass die Musik viel schneller läuft als erwartet. In der Auseinandersetzung mit dem Rhythmus an sich haben sie in der Zwischenzeit immer mehr den Bezug zum Originaltempo der Musik verloren, ihn deutlich langsamer empfunden. Alle müssen nun zusehen, dass sie mit ihren Schritten hinterherkommen, die Wechsel der beiden Gruppen gut klappen. Die Bewegungen wirken zunächst etwas hastig und unausgeglichen. Es dauert einen

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Moment, bis die Kinder den eigentlichen Puls der Musik wieder aufnehmen und ihr erworbenes Bewegungskonzept ihm angleichen. Hieran zeigt sich beispielhaft, dass, wie oben mit Bezug auf Meyer-Drawe beschrieben, Erfahrungen auf ständige Bestätigung angewiesen sind und dabei immer wieder aufs Neue zum Lernen anregen. Lernen wird in diesem Falle durch die wiederholte Auseinandersetzung mit dem Musikstück provoziert. Die Kinder erleben im Projekt, insbesondere bei der Erarbeitung der Bewegungsstudie, den ständigen Wechsel zwischen Erfahrung haben und Erfahrung machen. Dabei betrifft die bewegte Auseinandersetzung mit der Musik den habituellen sowie den aktuellen Leib: Da die Musik in jeder neuen Situation, in der sie erklingt, im Grunde wieder ein neues Erleben bedeutet, werden Kinder immer wieder zu Wachsamkeit angeregt: Wachsamkeit gegenüber der Musik wie auch gegenüber ihrer Handlung zur Musik. Denn sobald sie die Bewegungen zur Musik erworben, sie zu etwas Eigenem, Gewohnten gemacht haben, gleiten sie ins Unbewusste, was bisweilen dazu führt, dass sie ihren Bezug zur Musik verlieren. Um die Musik in jedem Moment flexibel, wachsam antwortend begleiten zu können, werden sie immer wieder angeregt zu hinterfragen: Was tue ich da? Und warum tue ich das? Warum passt es zur Musik? Als schließlich das Ziel der Arbeit an der Bewegung und an der Musik erreicht zu sein scheint, stehen die Kinder vor einer neuen, letzten Herausforderung. Die Bewegungsfolge ist bis zum Ende der Musik festgelegt, das Projekt hat sich dem Ende zugeneigt, die Kinder beurteilen ihre Bewegungsstudie als ›fertig‹, um vor Publikum aufgeführt zu werden, und nun muss der Tanz zur Orgelmusik auf den originären Ort der Musik, den Kirchenraum, übertragen werden. Erstaunlicherweise scheinen diese Adaptionen kaum problematisch zu sein. Vermutlich ruft die Situation bei den Kindern so eine innere Spannung hervor, dass sie sehr aufmerksam und konzentriert agieren; zudem können sie auf ein mittlerweile so großes Repertoire von im Projekt gemachten Erfahrungen mit dem Musikstück zurückgreifen, dass sie auch in diesen letzten neuartigen Situationen Sicherheit beim Umgang mit der Musik verspüren und zeigen. Schließlich werden ihnen beim Tanz im Kirchenraum ihre Erfahrungen im Großen und Ganzen bewusst: Am Tanz der Kinder lässt sich sehen oder zumindest erahnen, was sie in der Auseinandersetzung mit der Musik gelernt haben. Es wird sichtbar, wie differenziert die Kinder inzwischen die Musik wahrnehmen. Sie können sie bereits in einem weiteren Reflexionsschritt ausdeuten und mit Bedeutung versehen. Hier zeigt sich leibliches Lernen als Konsequenz vielfältiger Erfahrungen. Zwei Aspekte seien zur Betrachtung des Projektes aus Sicht des Erfahrungsund Lernbegriffs abschließend nochmals aufgegriffen und angewendet, die für das leibliche Lernen, für das Lernen aus phänomenologischem Blickwinkel von Bedeutung sind: die Gewöhnung und die Wiederholung.

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Wie lässt sich der Prozess des Gewöhnens (an das Musikstück) im Laufe der Studie beschreiben und welchen Einfluss hat nach Einschätzung der Kinder das An-die-Musik-gewöhnt-Sein auf ihr Verstehen oder Nichtverstehen der Musik? Wie oben beschrieben, wird im Projekt beobachtet, wie beim Bewegen zur Musik das Erwerben von Strukturen im Sinne einer Gewöhnung oder Einverleibung dazu führt, dass die erworbenen Strukturen, die Bewegungsabfolgen wieder eher ins Unbewusste oder Unthematisierte abrücken. Dabei lässt sich auch feststellen, dass diese Prozesse der Gewöhnung in der Regel von positiven Stimmungen begleitet werden. Dies ist wiederum Grundlage dafür, dass die Kinder der Musik gegenüber wohlgesonnen sind und sich in Situationen, in denen ihnen Neuartiges begegnet, nicht ablehnend oder ausweichend verhalten. Die eingeübten und beherrschten Bewegungen zur Musik scheinen bei ihnen das Gefühl der Erleichterung, der Beruhigung hervorzurufen. Auffallend ist auch, dass mit Fertigstellung der Bewegungsstudie die Durchlaufproben viel ruhiger und konzentrierter verlaufen. Die Kinder genießen es, die Musik nun wieder als Ganzes zu erleben, ohne sich immer wieder erneut auf Distanz begeben und das eigene Tun öffentlich reflektieren zu müssen. Diese Arbeit hat den Kindern einiges abverlangt. Sie erleben aber vor allem auch, dass sie sich nun in der Musik auskennen. Es scheint, als ob sie genau wissen, was zu tun ist, ohne dass sie darüber explizit sprechen oder nachdenken müssen. Das Neue, das sie zunächst vor Probleme gestellt und in Krisen gestürzt hat, ist nun zum Eigenen, zum Vertrauten, geworden. Diese Freude ist in unterschiedlichen Momenten zu sehen: Beim Suchen einer geeigneten Stelle in der Tonaufnahme beispielsweise entdecken die Kinder vor der gesuchten Stelle einen Abschnitt, den sie bereits kennen, für den sie bereits Bewegungen gefunden haben. Sofort springen einige mit einem lauten »Haha!« auf und tanzen einfach in vertrauter Weise los. Also steigen alle doch früher wieder in die Bewegung zum Musikstück ein. Die Bewegungen der Kinder ereignen sich beinahe schon fast wie von allein, so haben sie nun auch Kapazitäten, um sich miteinander zu freuen, sich ganz auf die Musik einzulassen und sich von ihr treiben zu lassen. Ihre Aufmerksamkeit wird jetzt nicht mehr nur von der Bewegung an sich beansprucht. Ein anderes Mal summen die Kinder beim wiederholten Hören und Tanzen der vertrauten Bewegung zur Musik mit fröhlichen Gesichtern spontan die Melodie mit. Insgesamt macht dies auch deutlich, wie nah sich die Aspekte Gewohnheit und Wiederholung im Hinblick auf das Lernen sind. Denn die Wiederholung bringt Gewohnheit hervor und kann uns unsere Gewohnheit als Gewohnheit erleben lassen. Der Aspekt der Wiederholung lässt sich mit Bezug auf das Projekt unter drei Gesichtspunkten betrachten: Erstens ist die Wiederholung ein hervortretendes Wesensmerkmal des ausgewählten Scherzos. Dies führt zweitens dazu, dass die Kinder sich mit dem Prinzip der Wiederholung intensiv auseinandersetzen, und

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drittens wird die Wiederholung bewusst in das pädagogische Handeln im Rahmen des Projektes integriert. Wie erleben die Kinder den Aspekt der Wiederholung beim Umgang mit der Musik? Dass die Wiederholung ein dominantes Wesensmerkmal des untersuchten Musikstückes ist, erfassen sie bereits beim ersten Hören, wie aus ihren Notizen zum Musikstück im Projekttagebuch am ersten Projekttag hervorgeht. So schreibt ein Kind: »Ganz oft wird auch wiederholt.« Ein anderes: »Das Orgelstück ist am Anfang schön, dann wird es wieder tiefer. Sie [die Musik; Anm. A. U.-R.] geht wieder höher und dann tiefer, am Ende wird es immer anders. Die Musik wird schön, dann klingt sie kurz dunkler, dann wieder schön und wieder dunkel. Am Ende ist es beides.« Unter anderem Worte wie »immer« und »wieder« machen die Wahrnehmung der Wiederholung hier deutlich. Weiter ist in den Bildern und Geschichten der Kinder das Motiv der Wiederholung zu verzeichnen: Formen wiederholen sich, Muster entstehen, Symmetrie und serielle Darstellungen sind zu erkennen. In den Geschichten ereignen sich manche Situationen erneut. Das Interessante ist hier, dass die Kinder den wiederholten Teil der Geschichte in der Regel weiter entfalten oder variieren. Daraus lässt sich schließen, dass hier Erfahrungen zugrunde liegen, auf die das Kind schreibend Bezug nimmt. Diese Erfahrungen gehen aus den Wiederholungen hervor und bewirken, dass es sich bei dem Wiederholten in der Regel um etwas Identisches (mit der Vorlage beziehungsweise der ersten Situation) handelt. Weiter oben wurde die folgende Geschichte schon einmal genannt. Da sie sehr schön beispielhaft hervorbringt, wie die Wiederholung vom Kind als Lernprozess erfahren wird, sei sie hier nochmals wiedergegeben: »Die musikalische Freude   Einst war das Leben in einer Stadt sehr langweilig und leer. Doch eines Tages kamen Musikanten in die Stadt und erfüllten die Stadt voller Freude. Sie tanzten und lachten. Die Musikanten lehrten manchen das, was sie taten.   Eines Morgens waren sie weg. Es war wieder langweilig, leer und matt.   Da dachten die Gelehrten21 der Musikanten daran, dass sie die Musik auch spielen können. Und so spielten sie. Die Bewohner tanzten und lachten. Und es war so schön wie niemals davor.« Das, was vorher als schön empfunden wurde, wird durch die Wiederholung in dieser Geschichte noch schöner. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass es hier die 21

Das Kind meint mit »Gelehrten« die Menschen, die von den Musikanten gelernt haben.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

Wiederholung braucht, um bewusst zu machen, wie schön das Schöne doch ist. Es lässt zudem vermuten, dass das bewusste Erleben des Schönen für das Kind noch schöner ist – die Qualität des Erlebens also verstärkt. Interessant ist auch, dass das Kind hier selbst vom Lernen spricht beziehungsweise den Prozess des Lernens beschreibt. Nur weil es Menschen gab, die von den Musikern gelernt haben, konnten sie am Ende der Geschichte doch wieder musizieren, lachen und tanzen. Dass die Schüler in der Musik Wiederholungen wahrnehmen, ist im Projekt besonders deutlich an ihren Bewegungen zur Musik abzulesen: Beim spontanen Bewegen zur Musik wiederholen sie Bewegungsbilder. Außerdem zeigen sie Wiederholungen, indem sie sich mit ihren Bewegungen zum entsprechenden Musikabschnitt gegenseitig abwechseln. Auch hierbei sind die Wiederholungen teilweise von kleinen Abweichungen oder Steigerungen gekennzeichnet (siehe das Beispiel von der Sequenz oben). Das Musikstück führt den Kindern das Prinzip der Wiederholung im Kleinen und im Großen vor: Während schon im Anfangsmotiv immer wieder der Grundton wiederholt wird – dieses Kreisen um den Grundton setzen die Kinder spontan in das Bewegungsbild der »Spirale« um22 –, weist auch die Gesamtstruktur des Stückes als ABA‹-Form eine Wiederholung auf. Hier sei kurz nachgezeichnet, wie die Kinder das Wiederkehren des A-Teils als A‹-Teil spontan mit Bewegungen beantworten. Vom B-Teil an wird die Musik ohne Unterbrechung weiterlaufen gelassen. Die Kinder werden aufgefordert, nun zur Musik frei zu tanzen. Als der A‹-Teil erklingt, begegnen sie diesem zunächst unvoreingenommen. (Sie sind bewusst nicht darüber informiert worden, dass sich der A-Teil als A‹-Teil wiederholt.) Ihre Bewegungen sind zaghaft, da sich ihre Aufmerksamkeit nun wieder stärker auf die Musik richtet. Während sie so lauschen und vorsichtig prüfen, ob sie ihr bisherigen Bewegungsweisen beibehalten können oder ob die neuen Bewegungsideen zur Musik passen, beginnt ein Kind plötzlich aus der Mitte des Raumes heraus zu rufen: »Jetzt drehen!«, und sich sehr ausladend, mit viel Körperspannung im Anfangsbild der Spiralen zu drehen. Seine Position ist so exponiert, seine Bewegung so deutlich, dass es dabei kein Kind übersehen kann. Sofort steckt es ein anderes Kind an. Dieses dreht sich mit. Nun versucht es, auch die anderen von seiner Bewegung zu überzeugen, dreht sich nun schon so wild, dass es die anderen zum Teil anrempelt oder anstößt. Bald scheint es fast den gesamten Raum für sich erobert zu haben. Doch dann nehmen sich die anderen Kinder wieder Stück für Stück etwas vom gemeinsamen Raum zurück, indem sie vorsichtig Lücken zu finden versuchen, die sie nutzen, um andere, kleinere Bewegungen den Spiralbewegungen entgegenzusetzen. Alles erscheint, als läge der beobachteten Situation die Frage zugrunde, ob man dem Schicksal der Wiederholung hier überhaupt in irgendeiner Weise entkommen kann. Noch prüfen sie, ob es also zwingend auch für die Bewegung be22

Dabei drehen sie sich mit ausgebreiteten Armen im Stehen um die eigene Achse.

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deutet, dass sie sich wiederholen muss, oder ob es hier Abweichungen zum A-Teil gibt. (Später entscheiden sich die Kinder tatsächlich dazu, nach dem B-Teil wieder mit dem Tanzen der zum A-Teil einstudierten Bewegungsbilder zu beginnen.) Folgender Umgang der Kinder mit Wiederholungen wird beobachtet: Sie machen es sich in der Regel nicht leicht. Dass sich etwas in der Musik wiederholt, führt nicht dazu, dass sie die entsprechend bekannten Bewegungen gleich wiederholt aufgreifen. Dies kann zum einen bedeuten, dass sie die Wiederholung als Wiederholung noch nicht wahrnehmen (dem widersprechen aber eigentlich ihre Hervorbringungen zur Musik, in denen die Wiederholung sichtbar wird) oder dass ihnen die Wiederholung dennoch ein neuartiges Erlebnis bedeutet. Es wird davon ausgegangen, dass die im Stück auskomponierten Wiederholungen bei den Kindern Lernprozesse in Gang setzen. Abschließend soll noch darauf eingegangen werden, inwiefern die Wiederholung im Projekt auch zu einem Prinzip der pädagogischen Situation wird. Durch das wiederholte Hören des Musikstückes, das Wiederholen ausgewählter Abschnitte und die wiederholte Aufforderung, passende Bewegungen zur Musik zu finden, wird bewusst eine Situation inszeniert, in der Erfahrung möglich ist. Bei jedem erneuten Tanzen werden zum Beispiel Bewegungserfahrungen des vorausgegangenen Nach- und Mitvollzugs der Musik durch tänzerische Bewegungen aktualisiert. Dadurch wird zum einen die Bewegung als Bewegungserfahrung mit der Musik bewusst. Zum anderen dient die neue Situation, in der auf die bekannte Bewegungserfahrung zurückgegriffen wird, dazu, das erworbene Bewegungskonzept zu hinterfragen, eventuell an neue Wahrnehmungen anzupassen oder noch weiter zu entfalten. Wie oben beschrieben, werden die Bewegungen durch wiederholtes Tun auch habitualisiert, werden die Kinder in ihrer Ausführung sicherer und können ihre Aufmerksamkeit wieder auf andere Aspekte der Musik oder der sozialen Situation richten. Sie nehmen diese von Wiederholungen geprägte Arbeitsweise gut an. Anfängliche Bedenken, die Kinder könnten sich die Musik durch zu viel Hören ›überhören‹, wurden nicht bestätigt. Obwohl mich tatsächlich ein Kind am ersten Tag fragt, ob sie das Musikstück nun immer und immer wieder hören »müssen«, fordern die Kinder die Wiederholung des Musikstückes zu Beginn des Projektes sogar selbst ein, als sie zur Musik malen. Dies liegt sicherlich auch darin begründet, dass sich zwar das Musikstück wiederholt, die Umgangsweisen der Kinder mit der Musik jedoch variieren. Aber auch wenn es sich um dieselbe Tätigkeit zur Musik (wie das Malen) handelt, erbitten die Kinder die Musik wiederholt hören zu dürfen, dies vermutlich, um die Musik genauer fassen können, die sich sonst zu flüchtig im Strom der Zeit ereignet. Insgesamt hat es sich im Hinblick auf die Frage, inwiefern das Lernen vom Aspekt der Wiederholung beeinflusst wird, als aufschlussreich erwiesen, ein Stück zur Untersuchung auszuwählen, das vom Prinzip der Wiederholung so intensiv durchdrungen ist. Oben wurde beschrieben, dass aus phänomenologischer Sicht Wahrnehmung von etwas als etwas, von

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Struktur und Gestalt, ebenso mit dem Prinzip der Wiederholung zusammenhängt. Ein auf diese Weise durch Wiederholungen klar strukturiertes Musikstückt dürfte den Kindern die Strukturbildung in der Wahrnehmung vermutlich erleichtert haben. Der Grund hierfür ist, dass die durch Wiederholung sich bildende Strukturhaftigkeit der Musik als zum Klingen gebrachte Verhältnisse klarer hervortritt. Denn für das Erkennen von Form und Gestalt, Struktur, zur Symbolbildung also, ist ein Ins-Verhältnis-Setzen – wie oben beschrieben – notwendige Voraussetzung. Im Projekt ließ sich verfolgen, wie die wiederholte Auseinandersetzung mit dem Musikstück den Kindern das Wahrnehmen von Verhältnissen in der Musik erleichtert. Dass es ihnen dadurch gelingt, Verhältnisse herauszustellen, zeigt sich unter anderem beim Malen in der Differenzierung in Hintergrund und, sich als Vordergrund abhebenden, Gestalten sowie im Verhältnis verschiedener Farben und Farbflächen zueinander. Aber auch die Darstellung von räumlichen Verhältnissen, die räumliche Anordnung der Elemente auf dem Papier, lässt Rückschlüsse auf Verhältniswahrnehmungen in der Musik zu. Beim Bewegen verhalten sich die Kinder zum einen zueinander und zum anderen ebenso im Raum. Auch hier lassen sich Bezugnahmen auf in der Musik wahrgenommene Verhältnisse vermuten. Dabei ist das erste Verhältnissetzen – sei es auf dem Papier oder ein erstes Verhalten zur Musik im Raum durch eine Bewegung – eine Entscheidung mit Folgen: Für die weitere Wahrnehmung der Musik wird dadurch bereits ein Selektionsprozess angeregt. Das entworfene Verhältnis wird zur Musik weiter entfaltet oder gegebenenfalls korrigiert. Die Musik wird dann unter dem Blickwinkel betrachtet, ob sie der entworfenen Struktur (verstanden als flexible Struktur in der Entwicklung) entsprechen kann. Je nachdem, wie genau sich das Malen oder Tanzen auf die Musik bezieht, werden hier nun die entworfene Struktur und die Struktur der Musik miteinander abgeglichen, wodurch die Wahrnehmung der Musik in entsprechender Weise für die vermutete Struktur sensibilisiert wird. Das häufige Wiederholen von Abschnitten der Musik ist jedoch auch nicht unproblematisch. Denn durch die Erarbeitung der einzelnen kleinen Abschnitte der Bewegungsstudie geht hin und wieder das Gefühl für das Ganze des Musikstückes bei den Kindern verloren. Dadurch scheinen für sie bisweilen einzelne musikalische Abschnitte aus dem Gesamtzusammenhang herauszufallen. Um dem zu begegnen, wird das Stück hin und wieder im Ganzen gehört.23 Nachdem hier nun einige Momente des vermuteten Lernens und der Erfahrung geschildert wurden, soll abschließend geprüft werden, wie sich die Ergebnisse des Projektes unter Anwendung des phänomenologischen Verstehensbegriffs betrachten lassen. Insgesamt werden dabei zwei Wege verfolgt, dem Musikverstehen im Rahmen des Projektes auf die Spur zu kommen: das direkte verbale Be23

Bei einer Länge des Stückes von reichlich vier Minuten war das jedoch aus Zeitgründen leider nicht immer möglich.

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fragen der Kinder zu ihrem selbst eingeschätzten Verständnis der Musik sowie die Beobachtung und Untersuchung ihrer Hervorbringungen zur Musik. Hierbei interessiert insbesondere, wie genau sich die Hervorbringungen der Kinder zur Musik tatsächlich auf die Musik beziehen. Weiter unten wird noch näher auf die Problematik der wortsprachlichen Äußerungen der Kinder zur Musik eingegangen werden. Hier sei lediglich vorweggenommen, dass ihre spontanen sprachlichen Äußerungen mit den anderen Hervorbringungen zur Musik im Hinblick auf Umfang und Genauigkeit nicht korrelieren. Während sie beispielsweise im Projekttagebuch nur sehr zögerlich, kurz oder gar verneinend auf die Frage: »Du hast das Orgelstück nun schon oft gehört. Meinst Du, dass Du es schon gut kennst und es beschreiben kannst?«, antworten, zeigen ihre Bewegungen und Handlungen zur Musik, dass sie in einem Intervall von etwa acht Takten auf Veränderungen und Entwicklungen in der Musik reagieren. Daraus lässt sich schließen, dass es sich hier durchaus um Prozesse des Verstehens von Musik handelt. Diese spielen sich aber vermutlich schwerpunktmäßig im vorsprachlichen Bereich ab. Daher sind die Erkenntnisse der Kinder (noch) nicht adäquat in Wortsprache übertragbar. Wenn also von einem Verstehen von Musik der Kinder im Projekt ausgegangen wird, so ist im phänomenologischen Sinne ein Verstehen gemeint, das mit dem Prozess des Lernens eng verwoben ist. Verstehen wird hier eher als Weg oder Prozess, der in Gang gesetzt wird, aufgefasst. Mit ihren spontanen Bewegungen antworten die Kinder auf das, was sie in der Musik wahrnehmen. (Denn sie folgen der Aufgabenstellung beziehungsweise Aufforderung, passende Bewegungen zur Musik zu finden.) Folglich lassen sich aus ihren Bewegungen Rückschlüsse auf ihre musikalischen Wahrnehmungen ziehen. Die Beobachtungen im Rahmen des Projektes haben die These bekräftigt, dass Verstehen von Musik da beginnt, wo etwas als etwas in der Musik wahrgenommen wird. Durch das Sichtbarmachen der gehörten Verhältnisse wird den Grundschülern (zunächst vorsprachlich) bewusst, dass sie und was sie musikalisch wahrnehmen. Durch die Übertragung der Musik in Bewegung eröffnet sich ihnen beispielsweise die Dimension des Raumes, durch die wahrgenommene Verhältnisse in der Musik sichtbar werden. So lässt sich am Tanz der Kinder nahezu ›ablesen‹, dass die Musik zu Beginn des Stückes um immer mehr Klangfarben und Stimmen reicher, immer dichter wird. Adäquat dazu stoßen nach und nach (nach jeweils acht Takten) immer mehr Kinder zur tanzenden Gruppe hinzu und steigen in das am Anfang vorherrschende Bewegungsbild der Spirale mit ein. Während die Spirale förmlich anzeigt, wie das Grundmotiv des Scherzos immer um den Grundton kreist, vom Prinzip der Wiederholung und vom schnellen Achtelpuls bestimmt ist, lässt das wellenartige Hin- und Zurückgleiten vermuten, dass sie zudem die harmonische Spannung des Melodieverlaufs wahrnehmen. (Nach acht Takten endet die Phrase auf der Dominante, nach wiederum acht Takten kehrt die Melodie zum Grundton zurück.) Die Kinder verhalten sich durch ihr Bewegen zur Musik nicht nur in gewisser Weise zum Raum, sondern ih-

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re teilweise sehr unterschiedlichen Bewegungen zeigen Beziehungen untereinander auf. Dabei erkennen sie, wie oben beschrieben, beispielsweise, dass die Musik nicht nur aus mechanischen Achtelläufen besteht (viele greifen immer wieder die Achtelbewegungen durch schnelle Schritte oder zügige Armbewegungen auf), sondern erleben, wie durch Betonungen und Phrasierungen diese kleinsten Einheiten (einzelne Töne, einzelne Achtelwerte) in der Musik zu größeren Sinneinheiten zusammengefasst werden. Dies zeigt sich besonders in Teilen, in denen die Kinder gegensätzliche Bewegungsweisen zugleich vollführen. Gerade durch die Gleichzeitigkeit verschiedener Bewegungsweisen werden sie dazu veranlasst, ihre eigene Bewegungsweise von denen der anderen abzugrenzen, wodurch diese an Klarheit und Gestalt gewinnt. Es zeigt, dass sie ihre eigene Bewegungsweise als abgeschlossenes Sinngefüge empfinden. Als beispielsweise ein Kind gefragt wird, wie es seine Bewegungsweise (die es gemeinsam mit anderen in einer kleinen Gruppe ausführt) zum Raum und zu den anderen positionieren möchte, ruft es spontan: »Wir sind Planet!« Das deutet darauf, dass das Kind die eigene Bewegung als abgeschlossene Sinngestalt empfindet. Es hat vermutlich aber auch wahrgenommen, dass die Bewegungen der anderen in sich geschlossene Sinneinheiten darstellen. Denn wenn man das Bild des Planeten weiter entfaltet, so existiert der einzelne Planet in einem System von Planeten, die jeweils abgeschlossene Welten darstellen und doch alle in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Insgesamt ist zu beobachten, dass die Kinder das Phänomen der Komplexität erleben und einen Weg finden, es zum Ausdruck zu bringen. So zeigen beispielsweise schon die Bewegungen eines einzelnen Kindes auf folgende Weise die Wahrnehmung von komplexen, vielschichtigen (im Sinne von polyphonen) Strukturen in der Musik an. Das Kind bewegt zur Musik24 auf unterschiedliche Weise gleichzeitig seinen Kopf, seine Arme und Beine. Mit Kopf und Füßen zeigt es ein gerades Metrum, indem es den Kopf jeweils auf halbe Notenwerte vor- und zurückbewegt und dazu mit den Füßen abwechselnd auf Viertelnotenwerte auftritt. Dagegen schiebt es seine Arme abwechselnd in waagerechter Position vor und zurück. Da es dabei jede zweite Achtel im 6/8tel Takt betont, verschiebt es insgesamt den Akzent und setzt – sozusagen in hemiolischer Betonung – zwei gegen drei. Da diese komplexe Bewegung für die anderen zunächst zu kompliziert und unerschließbar erscheint, wird dieses Kind angehalten, seine Bewegungen mit Worten zu begleiten. Daraufhin entgegnet es lachend: »Na, Breakdance!«, und wiederholt seine Bewegungen. Erst als es merkt, dass der Begriff Breakdance nicht dazu verhilft, dass die anderen Kinder seine Bewegungen nachahmen können, spricht es weiter: »Abwechselnd so!« (zeigt seine Armbewegungen), geht dann wieder in die gesamte Bewegung und 24

Die beschriebenen Bewegungen des Kindes beziehen sich erneut auf den im Notenbeispiel 2 im Anhang dargestellten Abschnitt des Orgelstückes.

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begleitet sie mit: »Mumatschatscha, Mumatschatscha!« Hier fragt sich nun, wie bewusst dem Kind seine Bewegungen selbst sind beziehungsweise ob das fehlende sprachliche Beschreibenkönnen oder -wollen davon zeugt, dass es seine Bewegungen noch nicht selbst zum Gegenstand der Betrachtung gemacht hat? Es ist zu beobachten, dass das Kind sehr sicher und gleichmäßig in Armen, Kopf und Beinen Unterschiedliches tut und dieses auch auf Aufforderung genau so wiederholen kann. Außerdem spricht das von ihm erfundene Rhythmuswort Mumatschatscha25 zumindest davon, dass sich Kopf- und Beinbewegungen auf ein gerades Taktmaß beziehen. Es wird hier daher auf ein verinnerlichtes oder leibliches Verstehen der komplexen Bewegungsgestalt geschlossen. An diesen Beispielen zeigt sich erneut, wie nah die Kinder beim Bewegen zur Musik an der Struktur der Musik agieren und wie vergleichsweise wenig sich zur gleichen Zeit dieses leibliche Verstehen von Struktur und Form in ihren sprachlichen Äußerungen widerspiegelt. Der von ihnen zur Musik entwickelte Tanz zeigt Strukturen, Sinngebilde, Gestalten, dynamische Entwicklungen, Stimmungen (somit vermutlich indirekt Klangfarben) und Verhältnisse der verschiedensten Art (wie beispielsweise das Verhältnis der Einzelstimmen zueinander oder unterschiedliche Nuancen, die sich im Spannungsfeld zwischen den ›leisesten‹ und den ›lautesten‹ Momenten herausbilden) wie auch den zeitlichen Verlauf an sich, durch das Einanderfolgen in Schlängellinien oder in Kreisformen. Dass ihnen die gefundenen Bewegungsbilder schließlich helfen, sich in der Musik genau orientieren zu können, ist daran zu sehen, wie aufmerksam sie schließlich im Konzert die Musik, zunächst hörend, verfolgen. Als sich an einer Stelle der Organist beispielsweise kurz verspielt und ein paar andere Töne als die erwarteten erklingen, schauen sich die Kinder verwundert an, lächeln sich zu. Da ein solcher kurzer Patzer vermutlich nur einem Hörer auffällt, der das Stück wirklich kennt, können die Kinder am Ende dieser Auseinandersetzung in Bezug auf das Scherzo von Gigout wohl als Experten gelten. Da das Projekt leider mit Fertigstellung des Tanzes endet, bleibt die Frage offen, wie an dieses vorsprachliche Verstehen der Kinder angeknüpft werden kann, dass es ihnen möglich wird, ihre musikalischen Wahrnehmungen genauso differenziert wortsprachlich zum Ausdruck zu bringen. Für einen weiteren Weg hin zur musikalischen Begriffsbildung sollen an dieser Stelle jedoch noch folgende Vorschläge unterbreitet werden. Die Basis für einen verstehenden Umgang mit Musik durch Sprache wird im Projekt durch das Finden der so differenzierten Bewegungen, die auf eine differenzierte Musikwahrnehmung schließen lassen, gelegt. Ein nächster Schritt wäre nun das Bewusstmachen des eigenen Strukturerkennens als eine Bewegung vom

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Es erinnert an eine Rhythmussprache, die sich ganz dem Aussagegehalt der Musik angleicht, keinen eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

Strukturempfinden über ein Strukturzeigen zu einem Bewusstmachen des Zeigens und somit zugleich dessen, was gezeigt wird. Auch dies ist im Projekt durch das Miteinanderbewegen der Kinder, das Aushandeln einer gemeinsamen Bewegungsabfolge bereits im vorrangig vorsprachlichen Feld erfolgt. Hier ließe sich mit etwas mehr Zeit noch ansetzen. Die noch vorrangig nonverbal begleitete Situation könnte durch Fragen wie: »Wie genau verläuft deine Bewegung – kannst du sie beschreiben?«, und: »Warum empfindest du gerade diese Bewegung als passend zur Musik?«, noch einen Grad bewusster gemacht werden. Als hilfreich für das Bewusstmachen von Bewegungen hat sich im Rahmen des Projekts das Spiegeln der Bewegung des Einzelnen, die nachmachende Bewegung des anderen erwiesen. Denn hierbei konnte der Einzelne überprüfen, wie genau er seine Bewegung zeigt und ob sie zu verstehen ist. Aufgrund der organisatorischen Rahmenbedingungen war es nicht möglich, sich mit jedem einzelnen Kind in ein Gespräch über seine musikalischen Wahrnehmungen zu vertiefen. Außerdem war das Projekt von vornherein so konzipiert, dass die nonverbalen Vollzüge von Musik im Vordergrund standen. Es ließ sich aber bemerken, dass die Kinder, je tiefer sie sich in die Auseinandersetzung mit der Musik begeben haben, häufig umso weniger bereit waren, über ihre musikalischen Wahrnehmungen zu sprechen und ihre Verhaltensweisen zur Musik zu begründen. Die Versuche, im Sitzkreis über die gefundenen Bewegungen zu sprechen, wurden von den Kindern vielmehr häufig von einem konkreten Zeigen und Tun unterbrochen. Oft genug brachten sie zum Ausdruck, dass sie ihre Fähigkeiten, sich sprachlich zu ihren Bewegungen oder zu etwas in der Musik Wahrgenommenem zu äußern, als nicht ausreichend empfanden. Das zeigt deutlich, dass sie selbst die geschilderte Diskrepanz empfinden: Sie spüren, wie viel ihnen die Musik sagt und wie wenig die ihnen bisher verfügbare Sprache ihrer musikbezogenen Erfahrungen dies wiederzugeben vermag. Ausgehend von diesen Beobachtungen kann daher gar nicht mit Sicherheit behauptet werden, dass es überhaupt möglich ist, diese so intensive Auseinandersetzung mit der Musik auch im Medium der Wortsprache (bei Kindern im Grundschulalter) so weiter zu führen. Dennoch wird es für möglich gehalten, mit Kindern gemeinsam, im Anschluss an wichtige grundlegende Erfahrungen, musikalische Wortbegriffe dahingehend zu untersuchen, ob sie ihnen – genauso wie zunächst die Bewegung – nutzen können, um anzuzeigen, was sie hören. Dafür sollten die Kinder jedoch selbst bereit sein, Wortbegriffe in Bezug auf die Untersuchung von Musik als Werkzeuge zu benutzen. Dies geschieht vermutlich dann, wenn sie erfahren, dass ein Begriff dabei helfen kann, die erworbene musikalische Erfahrung zu benennen und mitzuteilen sowie im nächsten Moment in einer neuen musikalischen Situation wiederzuerkennen. In jedem Fall sollten diese Werkzeuge – ganz im phänomenologischen Sinne – dem entsprechen, womit umgegangen wird. Erinnert sei hier noch einmal an Maldiney, der Verstehen auch mit einem »Greifen-nach« vergleicht und darauf aufmerksam macht, dass dieses Nach-etwas-Greifen nur dann gelin-

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Bewegung und Musikverstehen

gen kann, wenn die Art des Greifens zur zu greifenden Sache passt. Darum bedarf es, übertragen auf die musikpädagogische Situation, zunächst einer Herstellung des Zu-Greifenden in einer möglichst differenzierten Auseinandersetzung mit der Musik. Nebenbei gilt nicht nur für Kinder, sondern auch für den musikalisch gebildeten Erwachsenen, dass unsere sprachlichen Mittel, Musik zu beschreiben, nie vollkommen dem entsprechen können, was sich in Musik wahrnehmen lässt. Dennoch kann uns Sprache unsere Wahrnehmungen bewusst machen. Dafür muss sie jedoch immer wieder an den musikalischen Vollzug gebunden bleiben. Die leiblich-körperliche Bewegung, das Malen oder bildhafte Schreiben liegt dem Grundschulkind näher als das analytische Sprechen über etwas, was ihnen noch nicht zugänglich geworden ist. Die beschriebenen Transformationsprozesse (Transformation des in der Musik Wahrgenommenen in Bewegung, in Bild oder schöpferischbildhafte Sprache) können einen ersten Schritt der Reflexion, der Bewusstwerdung leisten. Die geschilderten Beobachtungen im Rahmen des Projektes geben Anlass zu der Behauptung, dass es diese vorsprachlichen, symbolbildenden Prozesse an der Musik braucht, um Sprache später im Umgang zur Musik zu gebrauchen. Denn wir zielen nicht auf einen Umgang mit Musik durch Sprache, der einzelne musikalische Sinngebilde mit Wortbegriffen lediglich etikettiert. Dadurch werden nicht nur komplexe Sinnzusammenhänge verzerrt, sondern auch verdeckt, was nicht benannt wurde. Sprache darf Musik nicht anhalten und verstummen lassen. Um dem vorzubeugen, gilt es, Kinder zunächst erfahren zu lassen, was Musik alles zu sagen hat. Verstehen von Musik beginnt nicht erst da, wo mit konkreten musikalischen Wortbegriffen umgegangen wird. Verstehen setzt vielmehr bereits da an, wo die eigene Wahrnehmung von Sinn und Struktur in der Musik zum (vorsprachlichen) Ausdruck gebracht und für das Kind selbst, sowie für andere, erkennbar wird. Zusammenfassend zeigt sich hier an konkreten Beispielen, wie aufschlussreich es sein kann, Verstehen als ein erfolgtes Lernen als Erfahrung zu begreifen. Denn es ist das Pendeln zwischen Nähe und Distanz, Erfahrung machen und Erfahrung haben, das Verstehen als Prozess in Gang setzt und das es auch dann aufrechtzuerhalten gilt, wenn der konkrete Wortbegriff in die verstehende Auseinandersetzung mit der Musik eingebunden wird. Weiter werden die genannten Prozesse der Transformation sowie das insbesondere durch die Bewegung zur Musik ermöglichte Ins-Verhältnis-Setzen zur Musik als grundlegend betrachtet, um Prozesse der Symbolbildung und der vorsprachlichen Begriffsbildung in Gang zu setzen. Schöpferische Umgangsweisen mit Musik ermöglichen Kindern, begriffsbildend auf Musik zu antworten. Verstehen kann dann als Antwort auf Musik betrachtet werden. Auch die Ergebnisse des Projektes regen also dazu an, die Zielorientierung, die dem Begriff Verstehen für gewöhnlich innewohnt, zu überdenken. Ziel musikpädagogischen Handelns sollte allgemein sein, Prozesse des Verstehens anzufachen und nicht zu beenden. Da Verstehen ein lebenslanger Prozess ist, haben wir

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

nur innerhalb eines durch die pädagogische Situation gesetzten Rahmens Einfluss auf das Musikverstehen, indem wir Prozesse des Verstehens anregen und den Boden für vielfältige Erfahrungen bereiten können. Die Ergebnisse von Musiklernen und -verstehen zeigen sich jedoch wahrscheinlich zu einem großen Teil außerhalb von Schule und Unterricht. Dennoch kann es uns gelingen, kleine (wichtige) Zwischenergebnisse oder Zwischenbilanzen für das lernende Kind in der musikpädagogischen Situation zu bewirken. In den beschriebenen Aha-Erlebnissen, in Momenten des plötzlichen (Wieder-)Erkennens oder des empfundenen Könnens, kann auf Lernwege zurückgeblickt werden. Das Lernen als Weg entspringt aus dem ganzheitlichen vorsprachlichen Verstehen und mündet wiederum in Augenblicke des Erkennens. Mitunter sind es Aha-Erlebnisse wie die beschriebenen, in denen die Kinder ihr eigenes Verstehen erleben. Auch Wortbegriffe können zu AhaErlebnissen führen. Wenn sie die eigene Erfahrung artikulieren, lassen sie uns erkennen, was wir haben und was wir können. Als der Tanz zum Orgelstück ›fertig‹ ist, kehrt Erleichterung ein. Hinter den Kindern liegt ein teilweise recht herausfordernder Weg der Auseinandersetzung mit diesem Musikstück. Die detaillierte Ausgestaltung der Musik durch Bewegungen macht nicht nur die Musik zu Teilen sichtbar, sondern lässt die Kinder sehen und spüren, was sie im Umgang mit der Musik gelernt haben. Bei der Erarbeitung der Bewegungsstudie zur Musik hat sich gezeigt, dass es ein Wechsel aus Gewöhnung (Einverleibung) und Umgang mit dem Neuen und Unbekannten26 ist, der Prozesse des leiblichen Lernens bewirken kann. Hierbei spielt die Wiederholung eine wichtige Rolle. Denn sie führt zum einen dazu, dass sich Verhaltensweisen und erworbene Strukturen setzen, zum anderen wird das Erworbene immer wieder aufs Neue hinterfragt und auf seine Anwendbarkeit hin überprüft. Die Wiederholung zeigt sich hier als wesentliches Prinzip der Erfahrung und als grundlegend für das Erkennen von Strukturen (wie beispielsweise das Differenzieren in Figur und Hintergrund). Schließlich lässt sich sagen, die Kinder haben sich in einen Verstehensprozess mit dem Musikstück begeben. Dieser hat sich zum beobachteten Zeitpunkt (Ende des Projektes, Vorführung des Tanzes) schon sehr vertieft, ist aber als nicht abgeschlossen zu betrachten. An dieser Stelle soll nun der Frage nachgegangen werden, welche Rolle zum einen die Sprache und zum anderen die Bewegung im Hinblick auf beobachtete Prozesse des leiblichen Lernens und des Verstehens im Rahmen des Projektes spielen.

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Dies erfordert auch das In-Frage-Stellen oder Prüfen der bisherigen Erfahrungen.

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Bewegung und Musikverstehen

6.2.2

Zum Verhältnis von Verbalisierungen der Kinder zur Musik und vermuteten Prozessen des leiblichen Lernens und Verstehens

Pädagogische Situationen sind häufig vom Umgang mit Sprache dominiert. Die Lehrperson artikuliert in der Regel verbalsprachlich Aufforderungen an die Lernenden oder erklärt und bewertet sprachlich. Sie erhofft sich zumeist mithilfe des Mittels der Sprache einen Zugang zum kindlichen Lernen und Verstehen. Nicht jeder Lerngegenstand eignet sich, um ihm sprachlich zu begegnen. Warum das Verhältnis zwischen Musik und Verbalsprache ein problematisches ist, wurde bereits oben ausführlich beschrieben. Dennoch hilft uns die Sprache beim Denken, beim Ins-Verhältnis-Setzen des Wahrgenommenen, und somit kann uns Sprache ein Erkennen und Verstehen ermöglichen. Der oben geführte Diskurs zur Frage, ob sich Musik mithilfe der Sprache erschließen lässt, hat jedoch ergeben: Auf die Art des Umganges mit Sprache kommt es an. Sprache kann auch im Hinblick auf die Wahrnehmung von Musik aus einer passiv aufnehmenden Haltung herausführen und uns aktiv erkennend mit Musik umgehen lassen. Ein Sprechen, das die Musik genauso wie unser Denken begleitet, kann zu einer schöpferischen Handlung an Musik werden, uns ermöglichen, sprechend auf die Musik zu antworten. Dabei wird unser Sprechen über Musik umso genauer, je weiter wir unsere sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten in der Auseinandersetzung mit der Musik entfalten. Dieser Weg muss gegangen werden, soll der Umgang mit Sprache von einem Verstehen zeugen.27 Denn es braucht den Prozess des Anhand-der-MusikLernens (und -Wachsens) auch im Hinblick auf antwortende Handlungsweisen wie das Sprechen, Malen oder Bewegen zur Musik, soll es das Denken des Kindes begleiten und zu einem musikalischen Denken hinführen. Dies kann an jeder Musik erfolgen, auch an sehr komplexer, vielschichtiger Musik wie der Orgelmusik. Um langfristig die Fähigkeiten der Kinder, Musik mit Mitteln der Verbalsprache zu beschreiben, zu verfeinern und auszubauen, gilt es, Kinder dahingehend zu begleiten, zunehmend bewusster und selbstbestimmter mit den eigenen musikalischen Erfahrungen umzugehen, um schließlich Worte finden zu können, die die eigenen Erfahrungen berühren und somit die eigenen Erfahrungskonzepte konkretisieren. Der Umgang mit Musik durch Sprache sollte also den Prozess des Mu27

Wir sollten also genauso wenig Kinder einen musikalischen Wortschatz wie Vokabeln pauken noch zusammenhangslos Bewegungsweisen trainieren lassen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie dies befähigen würde, die eingetrichterten Wortbegriffe oder umgesetzten (fremden) Bewegungsideen als eigene auf ein Phänomen wie die Musik anzuwenden. Genauso wenig sollte man Kinder nur mit einer Musik umgehen lassen, der sie sprachlich ›gewachsen‹ sind. Denn im Hinblick auf ihre Fähigkeiten der Wahrnehmung sowie ihre Möglichkeiten, leiblich-vorsprachliche Begriffe zu bilden, können sie mit jeglicher Art der Musik umgehen. Auch der erwachsene Musikexperte ist nicht jeglicher Musik ›gewachsen‹, da sich Musik, wie schon erwähnt, nicht endgültig mit Hilfe der Sprache begreifen lässt.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

sikwahrnehmens und -erfahrens nicht überspringen. Aus den Beobachtungen im Rahmen der Impulsstudie lässt sich außerdem schließen, dass die Möglichkeiten von Grundschulkindern, Musik sprachlich zu beschreiben, nicht mit ihren Möglichkeiten, Musik wahrzunehmen, gleichgesetzt werden dürfen. Aus den genannten Gründen wurde im Projekt zunächst bewusst darauf verzichtet, vor und während der Auseinandersetzung mit dem Musikstück den Kindern wortsprachliche Informationen oder gar fertige, ›gesprochene‹ musikalische Wortbegriffe mit an die Hand zu geben. Dennoch wird das Sprechen über Musik durchaus angeregt. Dabei steht das Sprechen der sprechenden Sprache (MerleauPonty) beziehungsweise ein schöpferischer Umgang mit Sprache (verstanden als ein Denken) im Vordergrund. Ziel ist es, der Musik eher sinnbewahrend und weniger sinnauslegend zu begegnen. Folgende konkrete Anlässe haben die Kinder zum Sprechen beziehungsweise zu einem Umgang mit Musik und den eigenen musikalischen Erfahrungen durch Sprache angeregt: Sie werden zu ihren spontanen Eindrücken beim ersten Musikhören in der Kirche befragt und zu einem interessegeleiteten (freiwilligen) Gespräch mit dem Organisten angeregt. Mit dem Führen eines Projekttagebuches erhalten sie die Möglichkeit, ihr eigenes Erleben zu reflektieren, indem sie dort – teilweise in Form freier Erlebnisberichte oder als Antwort auf konkrete Fragen – verbalsprachliche Notizen niederschreiben können. Das Geschichtenschreiben zur Musik soll ihnen die Möglichkeit bieten, sich sprachlich auf die Musik an sich (weniger direkt auf das eigene Erleben) zu beziehen. Im Beschreiben ihrer Bewegungen zur Musik und der gemalten Bilder beziehen sich die Kinder eher indirekt auf die Musik und reflektieren zugleich ihr Tun an der Musik. Außerdem werden sie dazu angeregt, sich verbalsprachlich untereinander über ihre musikbezogenen Handlungen (insbesondere über die Bewegung) und somit auch über die Musik an sich zu verständigen. Auf die genannten Sprachanlässe wurde der Umgang mit Sprache, der ansonsten im Projekt nicht weiter explizit thematisiert wurde, reduziert. Damit sollte zum einen herausgestellt werden, wie intensiv die Kinder selbst wortsprachlich agieren – wann sie es beispielsweise vorziehen, im Tun zu sein, und wann sie ein eigenes Bedürfnis entwickeln, über das Erlebte zu sprechen. Zum anderen wurde verglichen, wie genau Kinder musikalische Situationen mit ihrer eigenen, noch stärker alltagsweltlichen Sprache beschreiben und wie sich ihr sprachlicher Umgang zu anderen Handlungsweisen zur Musik verhält. Zuerst soll zusammengefasst werden, wie weit sich die Spanne der selbstbestimmten sprachlichen Äußerungen der Kinder im Projekt erstreckt: Ihre verbalsprachlichen Äußerungen reichen von Momenten der Sprachlosigkeit über sehr

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Bewegung und Musikverstehen

kurze, prägnante Kommentare nach dem ersten Hören28 und skizzenhafte Kommentare, bei denen in Ansätzen verwendete Metaphern entfaltet werden, bis hin zu in sich geschlossenen und somit fertigen Geschichten zur Musik. Die von den Kindern verwendeten Wortbegriffe wurden im Hinblick auf ihren Bezug zur Musik untersucht. Da die Bewegungen zur Musik vergleichsweise differenzierter ausfallen als die verbalsprachlichen Beschreibungen, soll hier bewusst zurückhaltend von den sprachlichen Beschreibungen der Musik auf ihre musikalischen Wahrnehmungen der Kinder geschlossen werden. Dennoch lassen sich insbesondere in den Geschichten reichliche Bezüge zur musikalischen Struktur vermuten.29 Insgesamt wird davon ausgegangen, dass die verbalsprachlichen Äußerungen der Kinder Bezug auf die musikalische Struktur nehmen, dies jedoch mit unterschiedlicher Nähe zur Musik. Bisweilen ordnen sie nur einzelne Begriffe der gesamten Musik oder größeren Abschnitten zu. Diese Begriffe enthalten dabei unterschiedlich viel Entfaltungspotential. Mal bewerten sie das Stück und lassen keine weiteren Fragen zu, mal handelt es sich um aussagekräftige Symbole, die, werden sie entfaltet, mehr über die musikalische Struktur verraten, als dem Kind womöglich schon bewusst ist. Ein Beispiel hierfür wäre die folgende Notiz eines Kindes: »Blume, geht auf, schön   Die Blume geht auf   Die Blume geht immer weiter auf weiter und weiter auf.« Die vom Kind gefundene Metapher der aufblühenden Blume, die Wahl der drei Zeilen, die als Stilmittel verwendete Wiederholung – all das ließe sich im Hinblick auf die Nähe zur musikalischen Struktur entfalten und (gemeinsam mit dem Kind) ausdeuten. Sobald die Beschreibungen sich auf die Länge von Sätzen ausdehnen, werden scheinbar konkrete Handlungen oder Verläufe von den Kindern schon selbst mit dem Lauf der Musik in Verbindung gebracht. Hierbei zeigt sich häufig ein erstes Darstellen von (vermutlich in der Musik wahrgenommenen) Verhältnissen. Durch umfassendere Verschriftlichungen, wie Geschichten, werden wiederum Situationen konstruiert, deren Gesamtaussage oder Stimmung auf die Gesamtwirkung

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Oben wurden hierzu einige Beispiele genannt. Diese zeigen zum einen, wie die Kinder hier an ihre lebensweltliche Vorerfahrung anknüpfen (»Die Musik klingt orglich …« oder »… kirchlich«) oder wie sie in Form von Wertungen einen ersten emotionalen Bezug zur Musik herstellen (zum Beispiel: Die Musik klingt »gut«). Vorsicht ist hier auch geboten, da die Geschichten eine in sich geschlossene Struktur bilden, hier also Ausdrucksgestalten auch eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen, die nicht unbedingt denen der Musik ähneln müssen.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

der Musik auf das jeweilige Kind schließen lässt. Sie könnten auch davon sprechen, welche Erfahrungskonzepte der Kinder durch die Musik berührt wurden. Die sprachliche Entfaltung dieser Erfahrungskonzepte ist vermutlich unterschiedlich nah an der musikalischen Struktur orientiert. Bisweilen scheinen sie eher von der Musik ausgelöst, dann jedoch eigenen Gesetzen zu folgen. Mitunter weisen die Geschichten aber schon einen sehr deutlichen Bezug zum Aufbau des Musikstückes auf. Generell ist zu spüren, dass sich die Kinder für das Wesenhafte und Fremde, das ihnen durch die Musik entgegenkommt, öffnen. Die Geschichten zeugen von einem Sicheinlassen auf die Musik und einem ersten Bezugnehmen durch ein Mitempfinden. Am konkreten Beispiel der folgenden Geschichte30 eines Kindes soll gezeigt werden, worauf die verwendeten wortsprachlichen Begriffe in der Musik möglicherweise Bezug nehmen beziehungsweise inwiefern (wie nah) das Kind auf die von ihm wahrgenommene musikalische Struktur antwortet: »Scherzo: Das Lied der Tiere   Ein Vogel tanzt in der Luft. Dabei zwitschert er eine fröhliche Melodie vor sich hin. Mal laut und mal leise. Unten auf dem Boden läuft ein kleiner Bär und brummt genau die gleiche Melodie vor sich hin, wie es zuvor der Vogel getan hatte. Auch mal laut und auch mal leise.   Eine Biene, die in ihrem Bienenstock herumflattert, summt auch genau die gleiche Melodie, wie es auch die beiden anderen Tiere tun. Plötzlich macht der ganze Wald eine wunderschöne Melodie. Alle Tierstimmen zusammen hören sich so toll an, dass die Melodie zu einem richtigen Lied wurde. Das Lied heißt: Scherzo!« In dieser Geschichte finden sich zahlreiche Metaphern – die genannten Tiere, der Wald und die Luft sowie der versteckte Begriff der Stimme sind hier zu nennen. Weiter sprechen einige Begriffe für wahrgenommene Stimmungen. Diese betreffen vermutlich sowohl Charakterzüge der Musik als auch Empfindungen des Kindes beim Musikhören. Beispiele hierfür sind: »fröhlich« (in Bezug auf »zwitschern«), »brummt« (eine Melodie) oder »wunderschöne Melodie«. Ebenso verbergen sich in der Geschichte Hinweise auf dynamische Entwicklungen in der Musik. Diese reichen von einzelnen Begriffen, wie »herumflattert« oder »plötzlich«, bis hin zu größere sprachlichen Sinneinheiten, wie: »dass die Melodie zu einem richtigen Lied wurde«, oder die Beschreibung, dass am Ende alle Tiere die gleiche Melodie singen. Es finden sich weiter Hinweise auf Verhältnisse in der 30

Die Geschichten der Kinder wurden im Konzert von den Kindern selbst dem Konzertpublikum vorgetragen. In der Vorbereitung hierauf hatten sie Gelegenheit, sich mit den eigenen sprachlichen Äußerungen zur Musik selbst noch einmal mit etwas Abstand zu beschäftigen.

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Bewegung und Musikverstehen

Musik, die Kategorien Kraft, Zeit, Raum und Form betreffend, wie »dabei« (im Sinne von »zur gleichen Zeit«), »auf dem Boden«, »läuft ein kleiner Bär«, »der ganze Wald«, »genau die gleiche« oder »alle […] zusammen«, »laut« und »leise«, um nur einige zu nennen. Auch vereinzelte Form- beziehungsweise Fachbegriffe lässt das Kind in seine Geschichte einfließen, wie »Lied«, »Melodie« oder »Scherzo«. Hierzu sei noch erwähnt, dass sich dieses Kind im Vorfeld nach der Bezeichnung des Orgelstückes erkundigt hat. Ohne zunächst eine genaue Vorstellung davon zu haben, was sich hinter dem Begriff Scherzo verbirgt, scheint es sich mit seiner Geschichte den Begriff selbst zu erklären, indem es seine eigenen Erfahrungen mit dem Musikstück mit dem Begriff des Scherzos verbindet. Es nutzt den Begriff als Antwort auf das musikalisch Erlebte. So schildert es unter anderem, wie sich eine Melodie (das Leitmotiv) immer wieder durch die verschiedensten Stimmen und Tonlagen hindurch wiederholt, wie das Stück von verschiedenen kontrastierenden Darstellungen (laut, leise oder oben, unten, kleine und große Tiere) durchzogen ist. Mit dem Begriff Lied verbindet das Kind möglicherweise Eigenschaften des Vertrauten und Eingängigen, die es auch in diesem Musikstück wiederfindet. Ob diese Wesenszüge allgemein der Kompositionsform Scherzo eigen sind, wird das Kind vermutlich dann feststellen, wenn es erneut auf ein Musikstück trifft, das sich Scherzo nennt und mit dem es die gemachten Erfahrungen abgleichen kann. Hier zeigt sich, wie Sprache es vermag, der musikalischen Wahrnehmung eine Möglichkeit des Ordnens zu entleihen. Sie macht regelrecht nachvollziehbar, welche musikalischen Eindrücke dem Kind zum sprachlichen Ausdruck werden. Dennoch können dies nur Vermutungen bleiben, denn der eigentliche Weg des Verstehens bleibt opak. Nur das Kind selbst kann letztlich die Vermutungen über die versprachlichten Bezüge zur Struktur der Musik bestätigen. Hierfür wäre es aufschlussreich, das Kind selbst zu befragen und zu prüfen, inwiefern die einzelnen Elemente der Geschichte auf Elemente in der Musik antworten und ob dem Kind die beschriebenen Strukturen als musikalische Strukturen selbst bewusst sind.31 Auch im Hinblick auf den verstehenden Umgang mit Musik durch Sprache wird ein Pendeln zwischen Nähe und Distanz als Voraussetzung betrachtet. Das In-Distanz-Treten durch Sprache braucht stets eine Rückbindung an das konkrete Erleben, auf das die Verbalsprache Bezug nimmt. Nun stehen wir jedoch vor dem Problem, dass sich Erleben und Über-Erleben-Sprechen im Grunde gegenseitig ausschließen. Auch im Projekt ist des Öfteren zu erleben, wie das Sprechen das Erleben regelrecht unterbricht beziehungsweise stört. Aufforderungen, über die gemalten Bilder oder gefundenen Bewegungen zur Musik zu sprechen, führen nicht selten zu Achselzucken und Sprachlosigkeit oder sehr knappen Kommentaren, die in ihrer Genauigkeit die ihrer Bildsprache oder Bewegungsbilder nicht 31

Im Anhang finden sich weitere Beispiele für zur Musik erfundene Geschichten der Kinder. Diese dürfen dort frei von jeglicher Interpretation für sich selbst stehen.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

erreichen. Es scheint zudem nicht ihrem Wunsch zu entsprechen, über ihre vorsprachlichen Äußerungen zur Musik zu sprechen – lieber gehen die Grundschüler gleich wieder in die Bewegung und zeigen durch wiederholtes Tun, was ihnen der Ausdruck bedeutet. Als einzige Möglichkeit, den Momenten des eigenen Erlebens sprachlich so nahe wie möglich zu kommen, erscheint hier das vorsprachliche Reflektieren und Bilden vorsprachlicher Begriffe. Umso intensiver das Erlebte mit Bedeutung versehen wird und umso vielfältiger die Möglichkeiten der vorsprachlichen Reflexion (hier spielen transformatorische Prozesse eine wichtige Rolle), umso länger halten sich die Erlebnisse als Erinnerungsspuren und können auch zu einem späteren Zeitpunkt noch sprachlich explizit bewusst und öffentlich gemacht werden. Der Moment der vorsprachlichen Begriffsbildung wird im Rahmen der Studie insbesondere durch die Bewegung zur Musik näher untersucht.

6.2.3

Zum Verhältnis vom Bewegen zur Musik und dem leiblichen Lernen und Verstehen von Musik

Im Hinblick auf das leibliche Lernen sind es zwei Perspektiven, aus denen die Bewegungen der Kinder zur Musik beobachtet wurden: die der eher unbewussten Einverleibung von Bewegungen, der Gewöhnung, und die des bewussten Neu- oder Umlernens von Bewegungen sowie der schöpferischen Bewegung. In der bewegten Auseinandersetzung mit dem Musikstück sollen beide Weisen der Bewegung im Wechsel vollzogen werden, um mit der Musik Prozesse des leiblichen Lernens in Gang zu setzen und in Bewegung zu halten. Um die Kinder beim Finden einer Bewegungsfolge zur Musik zu unterstützen, wurde folgende Herangehensweise gewählt. Zunächst hören die Kinder das Musikstück (entweder im Ganzen oder in größeren Abschnitten) und dürfen dabei mit Handzeichen kundtun, wenn sich etwas für sie merklich in der Musik verändert. Die Musik wird folglich in den gefundenen Abschnitten wiederholt gehört, dazu werden spontan Bewegungen zu den jeweiligen Ausschnitten aus dem Musikstück probiert. Kinder, die ihre Bewegungen zeigen wollen, führen diese anschließend den anderen Kindern vor. Dann wird gemeinsam entschieden, welche Bewegungsideen in die gemeinsame Bewegungsstudie aufgenommen und von allen einstudiert werden. Bisweilen werden auch mehrere Ideen übernommen, dann werden die Kinder in Gruppen eingeteilt und können sich aussuchen, welche Bewegung sie mittanzen möchten. In diesem Falle wird dann noch besprochen und ausprobiert, wie die verschiedenen Bewegungsbilder sich gleichzeitig im Raum zur erklingenden Musik verhalten (zum Beispiel gleichzeitiges, unterschiedliches Bewegen im Innen- und Außenkreis). Sind die Bewegungsfolgen mit allen einstudiert, werden die verschiedenen Abschnitte mit den bereits erarbeiteten aneinandergefügt und getanzt. Nach Ende des neuesten

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Bewegung und Musikverstehen

Abschnittes erklingt die Musik von da an ohne Unterbrechung. Dazu können sich die Kinder zunächst wieder frei bewegen, tänzerische Bewegungen zur Musik ausprobieren. Oben wurde bereits beschrieben, dass das Gewöhnen an die von allen festgelegte Bewegung in der Regel dazu führt, dass die Kinder ihre Aufmerksamkeit wieder stärker auf die Musik oder das Miteinander mit den anderen Tänzern richten. Die Bewegungen scheinen sich dann wie von selbst zu ereignen. Interessant ist der Moment des Findens von Bewegungen: Zu neuen Abschnitten bewegen sich die Kinder vorwiegend verhalten und vorsichtig. Sie lauschen der Musik aufmerksam. Möglicherweise halten sie deswegen bisweilen auch ihre Bewegungen an. Diese sind zu Anfang eher zögerlich und wenig ausladend. Alles wirkt, als wollten sie die Musik und die Bewegung vorsichtig einander angleichen. Einige wenige greifen spontan eine – wahrscheinlich von der Musik angeregte – Bewegungsidee auf und führen diese deutlich und konsequent so lange durch, bis sie entweder nicht mehr zur Musik zu passen scheint oder sie mit ihrer Bewegung beginnen die anderen zu stören. Insgesamt ist festzustellen, dass das Zeigen der Bewegung vor den anderen schließlich dazu führt, dass die Bewegungen viel klarer vollführt werden als in der Probierphase. Es ist davon auszugehen, dass sie ihnen zum Teil erst beim Vorführen tatsächlich selbst bis in jede Feinheit hinein bewusst werden. Denn nun müssen sie sich selbst fragen, was ihre Bewegung klar, nachvollziehbar und wiederholbar macht. Hier zeigt sich also die wichtige Rolle des anderen für das Erkennen, wie Merleau-Ponty und Waldenfels sie beschreiben: Im Sich-selbst-Sehen durch die Augen des anderen werden sie sich selbst erst des Eigenen bewusst. Inwiefern erlenen die Kinder hierbei nun leiblich etwas am Phänomen Musik? Der Untersuchung liegt die Ansicht zugrunde, dass sich Lernen und Verstehen in einem Sich-ins-Verhältnis-Setzen zum untersuchten Phänomen vollziehen. Der phänomenologische Blick auf die Bewegung und das eigenleibliche Spüren hat aufgezeigt, dass die Bewegung insbesondere dazu geeignet ist, sich verstehend in Phänomene zu vertiefen. Denn in der Bewegung stellen wir durch unser Körperkonzept einen direkten räumlichen Bezug zum untersuchten Objekt her. Die wahrgenommene musikalische Bewegung wird als die eigene empfunden. Dies ist möglich, weil es zum Wesen der Musik gehört, Bewegung zu suggerieren. Musikalische Verläufe und Strukturen werden ›am eigenen Leib‹ gespürt. Voraussetzung dafür ist ein Sicheinlassen auf die Musik. Da es sich nach phänomenologischem Verständnis bei der Bewegung zur Musik nicht nur um eine konkret ausgeführte Bewegung, sondern auch um eine vorgestellte Bewegung beziehungsweise um den Mitvollzug der musikalischen Bewegung als Bewegung, dem musikalischen Denken als Bewegung handelt, ist davon auszugehen, dass sich bei den Kindern, die sich zum Orgelstück bewegen, innerlich noch viel mehr bewegt, als äußerlich sichtbar wird. Es ist insgesamt zu beobachten, dass sich bei der beschriebenen bewegten Umgangsweise mit Musik die Bewegungen der Kinder sowie die Musik

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

an sich gegenseitig beeinflussen: Während die Bewegung ein Lichtkegel auf die in der Musik (und der Wahrnehmung der Kinder) hervortretenden Gestalten und Strukturen wirft, markante Merkmale der Musik also in der Bewegung eine weitere Betonung und Ausdeutung erfahren, veranlasst umgekehrt die Musik die Kinder dazu, sich auf die gefundene Weise im Raum zu bewegen. Insgesamt entsteht ein gemeinsamer bewegter, sichtbarer Ausdruck, der die Kinder in vielfacher Weise aufmerken lässt: Er lässt sie eigenleiblich die eigene Bewegung, den eigenen Körper spüren, sie empfinden Bewegung und Musik gemeinsam mit den anderen im sozialen Raum, und sie werden auf Strukturelemente der Musik aufmerksam, die ihnen beim Hören eventuell im Fluss der Zeit entronnen wären. Dabei sind auch Momente des mimetischen Lernens zu verzeichnen. Die Kinder reagieren außergewöhnlich schnell auf Bewegung der anderen, machen sich die Bewegung des anderen zur eigenen. Dies macht es bisweilen sogar schwer, herauszufinden, wer mit der Bewegung angefangen hat, von wem die Idee zum Bewegungsbild ausging. Wie kommt es zur Herausbildung von vorsprachlichen Begriffen durch die Bewegung zur Musik? Oben wurde das Bewegungsbild der ›Spirale”32 beschrieben. Das Drehen um die eigene Achse mit ausgestreckten Armen wird spontan zur Kernfigur (durchgehende, um den Grundton E kreisende Achtelbewegung) des Eingangsmotives des Scherzos gefunden. Dass sie dieses Bild bereits als einen vorsprachlichen Begriff oder ein Symbol gebrauchen, zeigt sich daran, dass sie dieses Bewegungsbild spontan wieder aufgreifen, als die Figur erneut erklingt. Diese erkennen sie vermutlich wieder, weil sie mithilfe des vorsprachlichen Begriffs konzeptualisiert wurde. Interessanterweise zeigt sich auch in den zur Musik gemalten Bildern der Kinder die Kreis- oder Spiralform, was die Annahme bestätigt, dass sich hier durch variierende Erfahrung Wesenskerne der Musik zeigen, die sich symbolhaft von der konkreten musikalischen Situation lösen und in andere Ausdrucksbereiche und Symbolmodi übertragen lassen. Beobachtungen dieser Art im Rahmen des Projektes bestätigen demnach die Annahme, dass sich vorsprachliche Begriffe an gleichen Verhaltensweisen in wiederholten musikalischen Situationen erkennen lassen. Obwohl noch nicht zu konkreten Wortsprachbegriffen ›vereindeutigt‹, werden die leiblich-vorsprachlichen Begriffe von den Kindern als Werkzeuge genutzt, um sich in der Musik zu orientieren.33 Es ermöglicht ihnen außerdem, ihr Hören der Musik immer weiter zu differenzieren und sich immer tiefer in die Musik hineinzubegeben.

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Die Bezeichnung Spirale entsteht, als wir zu Anfang versuchen, die gefundenen Bewegungen in Form von gemalten Symbolen auf einer Papierbahn festzuhalten. Dabei wird die Anfangsbewegung von den Kindern als Spirale gemalt. Die Kinder sprechen bei der Erarbeitung der Bewegungsstudie nicht selbst von »Spiralen«, sie setzen sie um, gebrauchen sie einfach.

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Bewegung und Musikverstehen

Auf die Frage, ob es ihnen leichtfällt und gefällt, sich zur Orgelmusik zu bewegen, reagieren die Kinder mit kurzen schriftlichen Kommentaren im Projekttagebuch unterschiedlich. Diejenigen, denen es offensichtlich eher leichtfällt, zur Musik zu tanzen, begründen dies häufig damit, dass sie generell gern tanzen beziehungsweise dass ihnen die Musik so gut gefällt. Diejenigen, die meinen, dass es ihnen eher schwerfällt, räumen bisweilen ein, dass es ihnen etwas peinlich ist, sich zur Musik vor den anderen zu bewegen. Trotz aller Vorzüge, die die Bewegung gegenüber anderen Umgangsweisen mit Musik aufweist, ist eine Umsetzung in der pädagogischen Situation also nicht ganz unproblematisch. Da das Bewegen nicht nur dazu führt, dass etwas Fremdes verinnerlicht und zu etwas Eigenem wird, sondern sich auch das Eigene einem selbst und den anderen zeigt, gilt es sensibel mit dem Thema Bewegung umzugehen. Dem einzelnen Kind sollte dabei immer die Möglichkeit gegeben werden, sich zurückzuziehen, nur so viel zu zeigen, wie es zeigen möchte, oder gar stattdessen eine andere Zugangsweise zu wählen. Dass Bewegungen für Kinder etwas sehr Persönliches sind, wurde auch daran deutlich, dass sie einzelne Bewegungsbilder personalisiert als »Lisas Teil« oder »Georgs Teil«34 bezeichnet haben. Möglicherweise lässt sich damit auch begründen, warum sich Kinder meist generell so gern bewegen. Sie sind bei sich, können sich selbst, ihre eigenen Bewegungsmöglichkeiten entdecken und entfalten. Sie nehmen bewegt wahr und fühlen sich zugleich von den anderen wahrgenommen. Sie können sich einbringen – und in diesem Falle der Musik etwas Eigenes hinzufügen. Insgesamt haben die Kinder im Rahmen des Projekts immer wieder zurückgemeldet, dass es ihnen viel Freude bereitet, sich zu bewegen. Deswegen waren alle Kinder vermutlich auch bereit, die Bewegungsstudie zur Orgelmusik mitzutanzen und sogar aufzuführen (auch dies war freiwillig, wurde gemeinsam beschlossen). Für manche stand jedoch auch die Musik an sich und weniger das Tanzen im Vordergrund. So beantwortet ein Kind die Frage, ob es ihm leichtgefallen ist, zur Musik zu tanzen: »Es kommt darauf an, wie das Orgelstück ist.«35 Letztlich wird die Frage, ob sich Orgelmusik denn überhaupt zum Tanzen eignet, von allen Kindern durchweg, wie selbstverständlich, mit »Ja!« beantwortet. Sie sehen, wohin ihre bewegte Auseinandersetzung mit dem Orgelstück führt, und stellen folglich nicht in Frage, dass sich Orgelmusik durch Bewegung erschließen lässt. Abschließend sei auch hier noch einmal kurz die Problematik des Sprechens über Bewegung erwähnt. Die Aufforderung, zur eigenen Bewegung sprechend auf Distanz zu gehen, wurde von den Kindern häufig als störende Unterbrechung empfunden oder als nicht umsetzbar abgetan. Äußerungen wie: »Was die Beine machen, ist egal …«, oder: »Na eben so …«, die sofort wieder im Tun münden, zeigen, 34 35

Die Namen wurden geändert. Dies erinnert an die phänomenologische Forderung, dass die Methode des Forschens und Erschließens zu den Eigenschaften des Gegenstandes passt.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

wie sich die Kinder geforderten verbalen Beschreibungen der Bewegungen gegenüber eher entziehen wollen. Auch die Aufforderung, sich die Bewegung zunächst vorzustellen,36 führt des Öfteren zu Unruhe. Die Kinder bleiben teilweise nicht mehr ›bei der Sache‹, driften ab, da sie die Aufgabe möglicherweise überfordert. Wenn sie sich hingegen bewegen, wissen sie offenbar genau, was sie zu tun haben. Die gleiche Aufgabe verbalsprachlich formuliert scheint ihnen bisweilen eher als Hindernis im Weg zu stehen, dies umso mehr, je länger das tatsächliche Erklingen der Musik und das direkte Tun und Bewegen zurückliegt. Die Aufmerksamkeit aller Schüler lässt sich oft dann erst wieder zurückgewinnen, wenn anstelle des Reflektierens durch Sprache Momente des mimetischen Lernens in die Auseinandersetzung mit der Musik einfließen.37 Wenn hier beschrieben wird, dass die Kinder mehr oder weniger aufmerksam der Musik folgen oder Bewegungen erlernen, so können dies natürlich nur Vermutungen sein. Es ist als Versuch zu verstehen, aus den Hervorbringungen der Kinder, ihrem sichtbaren Verhalten zur Musik, Prozesse der Wahrnehmung, des Lernens und Verstehens durch Bewegung zu rekonstruieren. Hierzu ist alles aufschlussreich, was im untersuchten Zusammenhang beobachtbar ist, wie beispielsweise die Gesichtsausdrücke oder die Körperspannung der Kinder. So ließ sich bemerken, dass ein Können eher von freudigen, gelösten Gesichtern begleitet wird, während ihnen das Problematisieren, das krisenhafte Moment des Neulernens ebenso buchstäblich wie ins Gesicht geschrieben steht.38 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Körpersprache der Kinder, insbesondere ihre sichtbare Körperspannung. Da in Momenten des Zeigens oder bewussten Ausprobierens deutlich mehr Körperspannung bei den Kindern zu beobachten ist als beispielsweise in Momenten des Folgens oder beinahe automatisierten Wiederholens der (gewohnten und einverleibten) Bewegung, kann geschlussfolgert werden, dass die Körperspannung der Kinder umso größer ist, je bewusster ihnen die ausgeführte Bewegung ist. So, wie sich dennoch nicht endgültig ermitteln lässt, was die Kinder durch die Musik im Inneren bewegt, so lassen auch die hervorgebrachten Bewegungen der Kinder zur Musik wiederum andere Aspekte der Musik im Dunkeln. Abgesehen davon, dass Musik nicht Musik wäre, wenn sie sich eins zu eins in Bewegung umsetzen ließe, kann man davon ausgehen, dass die entworfene Bewegungsstudie eher einer Momentaufnahme gleicht, in die einzelne Aspekte der musikalischen Wahrnehmung einfließen. Auch wenn sich die Musik ohne Frage in ihren wesenhaften 36 37 38

Dies wurde angeregt durch die Ansprache: »Hört euch die Musik an und überlegt mal, wie man sich dazu bewegen könnte.« Hierbei wurde beispielsweise eine Bewegungsidee aufgegriffen, die direkt durch das Einanderfolgen in der Reihe vom jeweils vorderen Kind nachgeahmt werden sollte. Ein Kind beißt sich beispielsweise immer auf die Lippe, wenn es sich besonders zu konzentrieren scheint.

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Bewegung und Musikverstehen

Zügen überraschend detailliert in den Bewegungen der Kinder wiedererkennen lässt, so hätte eine zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort, durch andere Kinder entworfene Bewegungsstudie zum selben Musikstück womöglich andere Bewegungsbilder ergeben. Interessant wäre auch, die Arbeit an der Bewegung zur Musik mit den Kindern noch weiter zu vertiefen. Obwohl sich die Kinder im Vorfeld in Bewegungsspielen mit den eigenen Möglichkeiten ihrer Bewegung auseinandersetzen durften, die Möglichkeiten der Bewegungen (bezogen auf verschiedene Ausweitungen und Lagen im Raum, verschiedene Körperteile oder allgemeine Qualitäten der Bewegung) zuvor gemeinsam spielerisch erkundet wurden, wählen die Kinder auffallend häufig recht alltägliche, ihnen vertraute (weniger tänzerische) Bewegungsweisen zur Musik. Möglicherweise steht für sie hier eher die Musik als die Bewegung an sich im Vordergrund. Das Aufgreifen von vorwiegend vertrauten Bewegungen könnte zudem für eine erste persönliche Bezugnahme zur Musik, ein Anschließen an die eigene lebensweltliche Bewegungserfahrung sprechen.39 Als der Tanz am Ende des Projektes in den Kirchenraum übertragen wird, scheint alles überraschenderweise wie von selbst, fast selbstverständlich zu gelingen. Die Musik erklingt – die Kinder tanzen und wissen, wo es in der Musik ›lang geht‹. Und obwohl alle offenbar die erlernten Bewegungen als Können empfinden, bleiben sie bis zuletzt sehr konzentriert und lauschen aufmerksam der Musik. Dies zeigt rückblickend, dass bei der Erarbeitung der Bewegungsstudie die Musik (und weniger die Bewegung an sich) im Vordergrund steht. Denn anstatt die Tanzschritte genau abzuzählen, orientieren sich die Kinder an jenen hörbaren Bedeutungskernen, denen die Kinder Bewegungsbilder zugeordnet haben. Daher sind sie wach dabei, die erworbenen vorsprachlichen Begriffe im musikalischen Vollzug wieder zu erkennen und in Bewegung umzusetzen. Keine Phase der Erprobung der Bewegungsfolge erfolgt ohne Musik. Auf diese Weise bleiben die Bewegungen der Kinder immer an die Musik zurückgebunden, auf die sie sich beziehen. Die Bewegungen der Kinder haben somit bis zuletzt antwortenden Charakter.

6.2.4

Resümee

Bei der Auswertung der Ergebnisse des Projektes im Rahmen der Untersuchung wurde das Augenmerk besonders auf den Aspekt der Bewegung und der verbalsprachlichen Äußerungen der Kinder zur Musik gelegt. Dabei war das Anliegen, 39

Dennoch ließen sich sicherlich auch hier, mit etwas mehr Zeit, die Möglichkeiten der Bewegung weiter vertiefen. Dazu müsste man die Bewegungen mit den Kindern am konkreten Beispiel der Musik stärker thematisieren. Dadurch könnten den Kindern eventuell auch weitere Möglichkeiten der Bewegung aufgezeigt werden. Da dies hier jedoch nicht Schwerpunkt der Untersuchung war, tritt die Arbeit an der Bewegung zu Gunsten einer Beobachtung der kindlichen Wahrnehmung der Musik in den Hintergrund.

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

herauszuarbeiten, wie sich Verbalsprache und Bewegung im Vergleich zu Prozessen des leiblichen Lernens und Verstehens verhalten. Auf die vielen interessanten Bilder der Kinder, die zur Musik entstanden, konnte nicht näher eingegangen werden, denn sie hätten eine umfassende Betrachtung verdient. Zusammenfassend seien hier jedoch noch einmal Gemeinsamkeiten der verschiedenen Umgangsweisen (auch das Malen) mit dem Orgelstück im Projekt im Hinblick auf die Bildung vorsprachlicher Begriffe beziehungsweise auf symbolbildende Prozesse genannt. Alle drei Umgangsweisen haben die Kinder ihre musikalischen Erfahrungen am Orgelstück strukturieren lassen. Sie werden durch die Musik angeregt, die als strukturhaft erlebten musikalischen Momente durch ein Ins-Verhältnis-Setzen mit den Mitteln der drei unterschiedlichen Symbolmodi zum Ausdruck zu bringen und somit zu transformieren. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass die Kinder insbesondere ihre durch die Musik hervorgerufene Erfahrung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit in den Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Symbolform strukturieren. So zeigt sich der Faktor Zeit in der Darstellung des Flusses (beispielsweise durch serielle Aufstellungen) oder der Linienführung beim Malen, in der Schilderung von Handlungen und Verläufen in den Geschichten der Kinder und in der Folge sowie dem Grundpuls oder Charakter der Bewegungen der Kinder zur Musik. Insgesamt tritt die Zeitlichkeit in allen drei Umgangsformen wieder durch den Aspekt der Wiederholung hervor: Bildelemente werden wiederholt aufgegriffen, es werden Wörter wie »immer« oder »wieder« verwendet oder die Wiederholung an sich im Verlauf der Geschichte ›auskomponiert‹. Auch die Bewegung strukturiert sich in ihrem zeitlichen Verlauf ganz wesentlich durch Wiederholungen. Insgesamt zeigt sich an den Hervorbringungen der Kinder zur Musik, dass das Erleben von Zeit auch eine Erfahrung des Prinzips der Kausalität bedeutet. Die bildhaften Darstellungen des Folgens, die geschilderten Verläufe in den Geschichten oder die Bewegungsfolgen machen deutlich, dass die den zeitlichen Abfolgen innewohnende Kausalität von den Kindern wahrgenommen wird. So wird in ihnen beispielsweise eine Spannung aufgebaut und wieder entladen. Es scheint, als biete der zeitliche Fluss der Musik einen allgemeinen Hintergrund, vor dem sich etwas gestalthaft abheben und der Musik auch einen räumlichen Charakter verleihen kann. Der Aspekt der Räumlichkeit zeigt sich in den Bildern durch das Verhältnis von abgebildeten Gestalten zum Format des Blattes (also zum Gesamtkontext des Bildes) sowie durch das Verhältnis von Vordergrund und Hintergrund beziehungsweise durch das Herstellen einer Bildperspektive. In den Geschichten prägt der Raum beispielsweise den Charakter der geschilderten Situation (hier oft verwendet der Raum »Wald«). Die Bewegungen wiederum machen die durch die Musik vermittelte Räumlichkeit insofern sichtbar, als sich die Kinder sowohl zum Raum, der zum Tanz zur Verfügung steht, als auch zu sich untereinander verhalten beziehungsweise räumlich positionieren. Mal weiten sie die Bewegungen auf den gesamten Raum aus, mal konzentrieren sie sich eher auf das Zentrum des Raumes, mal stehen sich

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die Kinder gegenüber (wie im Innen- und Außenkreis), mal folgen sie einander durch den Raum. Wie oben beschrieben zählen Schultheis zufolge Erfahrungen von Zeit und Raum zu den Dimensionen des kindlichen leiblichen Lernens. Durch die Bewegung zur Musik im Raum wird Musik nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich erfahrbar. Die musikalische Struktur wird somit leiblich gelernt. Insgesamt erscheinen die Dimensionen Räumlichkeit und Zeitlichkeit auch als Grundbedingung, um Strukturen und Gestalten überhaupt sichtbar zu machen. So lässt sich unter anderem am Beispiel der Wiederholung feststellen, welche strukturbildenden Wirkungen die dargestellten zeitlichen Strukturen haben. Wiederholung kann beispielsweise verstärkend wirken oder dazu führen, dass sich Muster bilden. Denn wiederholte Elemente treten gegenüber nichtwiederholten Elementen in der Wahrnehmung stärker hervor. Dazu verfügt jede Symbolform über eine je eigene Ausdruckskraft, um die entsprechenden Anordnungen und Darstellungen von (zeitlichen und räumlichen) Verhältnissen, die entstehenden Spannungen oder Betonungen durch spezifische Qualitäten weiter auszugestalten oder zu verstärken: In den Bildern tritt beispielsweise durch die Farbanordnung sowie durch die Farbe an sich eine gewisse Spannung hervor. Dabei ist entscheidend, wie welche Farben ins Verhältnis gesetzt werden und somit aufeinander einwirken. Dies führt auch zur Bildung von Kontrasten oder der Differenzierung in Vordergrund und Hintergrund. In den Geschichten entscheidet die Komposition der Situation beziehungsweise des Rahmens der Geschichte (Ort, Zeit, Hauptfiguren) über Möglichkeiten der Entfaltung und Entwicklung der Handlungen der einzelnen Spieler oder führen die gegebenen Bedingungen zur Darstellung von Problemen und deren Lösungen. Zeitliche und räumliche Vorgaben sind auch für die Bewegungen entscheidend – die Bewegungen der Kinder passen sich beispielsweise entweder an den schnellen Fluss, den Achtelpuls, an oder können auch durch die Darstellung von Schwere und Langsamkeit bewusst einen Kontrast erzeugen. Das, was das einzelne Musikstück einmalig, zu einem Individuum, oder – wie Merleau-Ponty es sagt – zu einem Leib macht, scheint seine Antwort in Bildern, Geschichten oder Bewegungen der Kinder zu finden. Dabei wird das Ausgedrückte in den Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Symbolform zu etwas Sinnhaftem an sich. Der dargestellte Sinn hat auch ohne die klingende Musik Bestand. Um Aufschluss über die musikalische Struktur zu erhalten, muss der Rückbezug aber wieder hergestellt werden, ein Prozess des wechselhaften Aufeinanderwirkens in Gang gesetzt werden. Die Bilder sollten demnach zur Musik betrachtet und die Geschichten in zeitlicher Nähe zur Musik gelesen werden. Die Bewegung lässt sich am unmittelbarsten mit der Musik verbinden.40 40

Daher lassen sich auch nur bedingt die Bilder und Geschichten mit den Bewegungen der Kinder zur Musik vergleichen. Denn während die Bewegungen direkter an die Struktur der Musik anschließen, indem sie an den gleichen zeitlichen Verlauf gebunden sind, beziehen

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

Je nachdem, wie nah das Kind an der Musik agiert, folgen seine Hervorbringungen (der jeweiligen drei Umgangsweisen) stärker der Musik oder stärker den Gesetzmäßigkeiten der benachbarten Symbolform. Dabei wurde festgestellt, dass die Ergebnisse umso aufschlussreicher sind, je ausgewogener ihr Verhältnis zwischen den, durch das Kind einander begegnenden Symbolmodi zu sein scheint. Denn dann ist zum einen ausreichend Distanz zum Erleben der Musik gegeben, um Formen zu erkennen, und zum anderen verliert sich der schöpferische Ausdruck nicht gänzlich im Regelsystem des benachbarten symbolhaften Ausdrucks. Er zeigt dann noch ausreichend Bezüge zur Musik auf, um an ihr Symbolhaftes herauszustellen. Die Hervorbringungen geben sowohl Aufschluss über die musikalische Struktur als auch darüber, wie das jeweilige Kind die Musik wahrnimmt. Unter diesem Aspekt sind die Bilder der Kinder besonders interessant, die sich nicht nur auf die konkrete Umsetzung des aktuell Gehörten in Gestalt einer graphischen Notation und nicht nur auf eine in sich abgeschlossene eigene Welt, zum Beispiel der Darstellung von Tieren, beziehen. Auch ihre Geschichten verraten dann besonders viel über ihre musikalischen Wahrnehmungen, wenn sie sich nicht verselbständigen beziehungsweise mit eigenen Sinnstrukturen gänzlich von denen der Musik ablösen.41 Die Umsetzung der Musik in Bewegung unterscheidet sich insofern von der Umsetzung in Bilder oder Geschichten, als sie (im Falle der beschriebenen Impulsstudie) nicht darauf zielt, ein eigenes Sinngebilde hervorzubringen, das auch ohne die Musik Bestand hat. Vielmehr ist die Bewegung erst vollständig, wenn sie zur Musik vollzogen wird. Die gefundenen Bewegungsbilder sollten direkt in ihrem zeitlichen Verlauf an die Musik angepasst und an ihr weiterentwickelt werden. Je weniger die Bewegung als eigene, in sich geschlossene Sinngestalt fungiert, umso eher koproduziert sie Aspekte der musikalischen Struktur und lässt diese sichtbar werden. Im Gegensatz zu einem Tun zur Musik, das ein Malen oder Geschichtenschreiben meint, endet das Tun im Sinne eines Bewegens zur Musik mit dem Verklingen des letzten Tones. Es bleibt an den unmittelbaren musikalischen Vollzug gebunden. Währenddessen entstehen Bilder und Geschichten häufig in einer Zeitspanne, die das Musikstück überschreitet, beziehen sie sich teilweise auch auf Erinnerungen an die schon verklungene Musik. Dies bewirkt die bei diesen Umgangsweisen stärkere Distanz zum Erleben und zur Musik. Ziel ist beim Bewegen zur Musik hingegen, durch das Pendeln zwischen Musik und Bewegung jene

41

sich die Bilder und Geschichten auf das gesamte Musikstück, dauert das Schreiben oder Malen in der Regel länger, werden die dargestellten Gestalten eher in der Erinnerung gebildet als im direkten Mitvollzug. Aufschlussreich sind besonders Geschichten, bei denen die Musik Anlass für Entscheidungen gibt (für Hauptfiguren, Orte oder Haupthandlungen), die sich dann in eigenen Sinnstrukturen weiterentwickeln und dabei dennoch an die Musik zurückgebunden bleiben.

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durchlässigen Momente zwischen Symbolformen auf gleichem Symbolisierungsniveau aufzuspüren, wie sie Langer beschreibt. Die zur Musik gefundenen Bewegungsweisen werden immer wieder auf ihre Form und ihren Bezug zur Musik hin befragt und bewusst gemacht, auch wenn dies teilweise noch nicht verbalsprachlich, eher über ein Zeigen oder Nachahmen geschieht. Hier wird vielmehr ein nährreicher Boden für ein späteres verbalsprachliches Reflektieren bereitet. Denn es bewirkt eine Differenzierung der Wahrnehmung sowie die Bildung vorsprachlicher, leiblicher Begriffe. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass den Kindern im Rahmen der Studie durch die verschiedenen Umgangsweisen mit der Musik wesenhafte Eigenschaften, Sinnstrukturen und Gestalten in der Musik gewahr geworden sind. Dies belegen die Ergebnisse ihrer Transformationen von Musik in Bewegung, Musik in bildhafte und schöpferische Sprache oder Musik in Bild. Durch die Herausbildung von vorsprachlichen, leiblichen Begriffen haben sie sich in die Musik sowie in einen Prozess des immer wieder erneuten In-Bezug-Setzens im Sinne eines Antwortens auf die Musik begeben. Insbesondere durch die Bewegung zur Musik bei der Erarbeitung der Bewegungsstudie wurden sie auch dazu angeregt, diese vorsprachlichen Begriffe zu gebrauchen und sich somit schließlich noch vor einem konkreten Sprachgebrauch bewusst zu machen. Wie ließe sich hier nun der Gebrauch von konkreten wortsprachlichen musikalischen Begriffen anschließen? Welche Möglichkeiten der weiteren Entfaltung der vorsprachlichen, leiblichen Begriffe hin zu einem Umgang mit konkreten Wortbegriffen sind vorstellbar? Kann es einen fließenden Übergang zum Wortbegriff geben oder gestaltet er sich eher stufenartig, so plötzlich wie ein Aha-Erlebnis, in dem schließlich etwas rückblickend erkannt wird? Ein Hinführen zu musikalischen Wortbegriffen kann im Hinblick auf die Ergebnisse der Studie nur als ein Weiterführen, als ein In-Bewegung-Bleiben und InBewegung-Halten des ständigen Pendelns zwischen Nähe und Distanz, zwischen Eigenem und Fremdem beim Umgang mit der Musik gedacht werden. Wenn dies dazu führt, dass die Kinder sich sichtbar in der Musik auskennen, lässt sich vermutlich auch eine musikbezogene Wortsprache in diesen Prozess einbinden. Dabei können in der entsprechenden Situation die sich zeigenden vorsprachlichen Begriffe aufgegriffen und vorsichtig verbalsprachlich betastet werden. In Situationen wie dieser wäre ein solches Anknüpfen beispielsweise vorstellbar: Ein Kind, das zur Musik Sterne malt, äußert später, es habe Sterne gemalt, da sich die Töne so »zackig« angehört hätten. Hier ließe sich nun eventuell mit der Frage anschließen, warum die Töne »zackig« klingen und welche es genau betrifft. Vielleicht ließe sich hier vorsichtig – mit Rückbindung an die konkrete Musik – ein Sprechen über Musik weiterführen und zeitgleich das Untersuchen der Musik vertiefen. Erst wenn das Kind die musikalischen Zusammenhänge erlebt und erfahren hat, lassen sich auch Worte finden, die das Erfahrene bewusst machen. Der Musik-

6. Bewegungen zu einem Orgelstück

pädagoge sollte daher stets wachsam für Hinweise sein, die auf Prozesse des erfolgten Lernens und Verstehens beim Kind schließen lassen. Möglicherweise können dann auch gezielt musikalische Wortbegriffe als Angebote unterbreitet werden. Ob sie von Kindern angenommen werden, hängt vermutlich davon ab, inwiefern sie bereit sind, die sprachliche Distanz zum Erleben einzunehmen und die vorgeschlagenen Wortbegriffe zur bewusst gemachten Erfahrung als passend und somit als eigene zu empfinden. Dies erfordert jedoch auch den Blick auf das einzelne Kind, der in der pädagogischen Situation nicht immer ausreichend Platz hat. Denn jedes Kind ist vermutlich zu einem je eigenen Zeitpunkt bereit, die Sprache als strukturgebend für sich zu entdecken und sie zu verwenden. Denn blickt man auf die Art und Weise, wie Kinder generell das Sprechen erlernen, so ist festzustellen, dass jedes Kind im Grunde selbst den geeigneten Zeitpunkt zum Sprechen auswählt. Es lernt Begriffe an konkreten Situationen und erlebt Sprache als Möglichkeit des Umgangs mit Erfahrungen. Voraussetzung für einen Wortgebrauch, der von einem Verstehen der entsprechenden Begriffe zeugt, ist auch beim allgemeinen Spracherwerb die zugrunde liegende, im Moment des Begriffslernens bewusst gewordene Erfahrung. Es scheint, als wollten sich die Kinder, die im Rahmen des Projektes zum Sprechen über Musik aufgefordert werden, noch nicht auf eine rein sprachliche Untersuchung der Musik einlassen. Für sie ist vermutlich das konkrete Handeln an der Musik im Moment noch sinnstiftender. Die beschriebenen Beobachtungen bestätigen somit die Annahme, dass Momenten des tiefen, an der musikalischen Struktur orientierten Tuns an der Musik im Grundschulmusikunterricht sprachlichen Auseinandersetzungen mit der Musik Vorrang eingeräumt werden sollte. Denn musikalisches Lernen zielt nicht auf den Wortbegriff an sich, nicht auf das Pauken von musikalischen Vokabeln, sondern auf ein Verstehen von Musik, für das der Gebrauch eines musikalischen Begriffs Ausdruck sein sollte. Es geht vielmehr um die Strukturierung von Erfahrung, die auf ein späteres wortsprachliches Anknüpfen vorbereitet. Da die Sprache ein Gegenüber braucht, eine wesentliche Rolle zur Verständigung im zwischenmenschlichen Feld spielt, können im pädagogischen Kontext Situationen geschaffen werden, in denen Kinder erfahren, welche Funktion Sprache beim Umgang mit Musik haben kann. Im Projekt waren die Kinder in der Situation, sich gegenseitig Bewegungen zur Musik zu zeigen. Dabei wurden ihnen die Bewegungen selbst bewusst, indem das Vorhandensein eines Gegenübers Fragen provozierte wie: »Ist meine Bewegung in Bezug auf die Musik verstehbar?«, oder: »Weiß ich selbst, was ich da tue und warum ich mich in dieser Weise bewege?« Auf diese Weise ließe sich auch ein Umgang mit Wortsprache gestalten und somit hieran sinnvoll anschließen. Zu fragen wäre dann: »Ist der von mir gewählte Begriff in Bezug auf Musik nachvollziehbar?«, und: »Was bedeutet für mich der Begriff in Bezug auf die wahrgenommene Struktur, was genau soll er beschreiben?«

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Bewegung und Musikverstehen

Hier kann ein Gegenüber dem zur Musik Sprechenden das eigene Verstehen des verwendeten Begriffs spiegeln und bewusst machen. Sprechen über Musik im Sinne der Verwendung konkreter musikalischer oder musikbezogener Wortbegriffe sollte demnach im phänomenologischen Sinne einer Variation der Erfahrung und Wesensschau entspringen. Sprache kann uns helfen, das Wesenhafte und Allgemeine zu benennen, dafür muss sich für uns das Wesenhafte jedoch zunächst zeigen. Wie die Auswertung des Projektes hervorgebracht hat, können Bewegen, Malen oder bildhaftes/schöpferisches Sprechen zur Musik dabei helfen, das Allgemeine am konkreten Beispiel herauszustellen.42 Dabei begegnen die Kinder zugleich dem jeweils Subjektiven ihrer Wahrnehmung und können sich im Austausch mit anderen dazu distanzieren lernen. Die Untersuchung hat auch gezeigt, wie bereichernd es ist, ein Musikstück einmal mit den Ohren der Kinder zu hören. Dies kann auch den Musikpädagogen neue und ungewohnte Perspektiven auf die Musik eröffnen. Verstehen als Begriff hat eine gewisse Zielausrichtung. Diese lässt sich auch durch phänomenologisches Hinterfragen nicht aus der Welt schaffen. Doch diese Zielausrichtung sollte in Hinblick auf den Musikunterricht im Grundschulalter dringend hinterfragt werden. Die Ausrichtung von Prozessen des Verstehens in der musikpädagogischen Situation sollte weniger auf dem einzelnen konkreten Ziel als vielmehr auf dem Weg zur Musik als ganzheitlichem komplexen Sinngebilde liegen. Es gilt vielmehr die Bewegung des Verstehens überhaupt als Prozess in Gang zu setzen und immer weiter fortzusetzen. Es geht um ein Weiter, ein Weiterschreiten auf einem Weg, dessen genaue Destination im Verborgenen, im noch Unbekannten und noch nicht Erlebten liegt. Es ist ein Weg, den wir nur zu einem Teil selbst bereiten – er zeigt sich, indem wir uns den Dingen und Phänomenen zuwenden und öffnen. Auf diesem Weg gibt es bisweilen Momente, in denen wir plötzlich meinen, etwas verstanden zu haben, uns zurückwenden und sehen, welche Wegstrecke wir geschafft haben. Es sind Momente, in denen wir empfinden, dass wir verstanden haben. Empfindend werden wir uns dessen bewusst, was wir haben, was wir mit anderen teilen. In dem Moment, in dem ein musikalischer Wortbegriff uns unsere (vorsprachlichen) begriffsbildenden, leiblichen Erfahrungen bewusst werden lässt, können wir auf einen Weg des Lernens und des Verstehens zurückschauen. Nur wenn dies der sprachliche Begriff leistet, regt er uns dazu an, mit der konkret-beispielhaften Musik den Weg zur Musik im Allgemeinen weiterzugehen.

42

Nebenbei wurde festgestellt, dass sich das wesenhaft Allgemeine vermutlich auch daran zeigt, dass sich in der Artikulation des Wahrgenommenen verschiedene Sinnesbereiche vermischen. Hiermit sind synästhetische Wahrnehmungen der Kinder wie »zackige Töne« gemeint. (Bei der Wahrnehmung der Form werden Sehen, Hören und Fühlen vermischt.)

7. Ausblick

»Kunst befreit die Wahrnehmung, d.h. sie befreit das Sehen und Hören, das Bewegen und Fühlen von den Verkrustungen des gewohnheitsmäßigen Wahrnehmens im Alltagsleben, indem sie auch die unerwarteten und ungewohnten Reize des Alltags an den Menschen heranträgt und in ihm zur Wirkung bringt.«1 Auch die Musik als Kunst vermag es, uns, die wir wahrnehmen, neue Wege zu eröffnen. Das Besondere an der Musik – im Vergleich zu anderen Formen der Kunst – ist, dass wir uns nicht zuvor sehend oder greifend darauf einstellen können, was uns widerfahren wird. Es ist vielmehr ungewiss, wohin die Reise geht, wenn wir uns auf das musikalische Erlebnis einlassen. Mal wiegen wir uns in vertraut anmutenden Klängen, in einem Gefühl der Geborgenheit, mal trifft uns das Fremde und Neue, von dem wir nie vermuteten, dass wir ihm einst begegnen würden. Die Worte Bannmüllers machen deutlich, dass uns der Vollzug von Kunst in Situationen bringen kann, in denen wir das Eigene erweitern, in denen wir lernen. Ästhetische Erfahrung als Initialereignis des Lernens beginnt mit dem sinnlichen Erlebnis, dem Erlebnis von Sinn in der Wahrnehmung. Auch das philosophische und insbesondere das phänomenologische Fragen, das Zurückgehen auf die ursprüngliche Wahrnehmung der Dinge, kann den Boden unseres Alltagsverständnisses zum Wanken bringen. Das, was uns bereits als sicher verstanden galt, kann uns plötzlich in einem anderen, neuen Licht erscheinen. Wie passt nun das musikalisch-ästhetische Erfahren und das philosophischphänomenologische Hinterfragen zur Situation des Musikunterrichts in der Grundschule? Das alltägliche Handeln im Kontext von Schule und Unterricht zwängt sich nicht nur in ein zeitliches Korsett und ist dadurch vorrangig praktisch ausgerichtet, sondern wird von unzähligen Rahmenbedingungen dominiert, die oftmals wenig Raum zu lassen scheinen, Neues zu schöpfen und Bestehendes zu hinterfragen. Und dennoch wäre es für die musikpädagogische Praxis wünschenswert, dass sie sich als eine ›Bewegung im Zwischen‹ versteht. Den leibphänomenologischen Blick

1

Bannmüller 2005b, 109.

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Bewegung und Musikverstehen

auf die Begriffe Lernen, Verstehen, Leib und Bewegung gilt es auch in den Musikunterricht an Grundschulen – und nicht nur in außerschulische Projekte – zu integrieren. Dabei ist es nicht nötig, bestehende Strukturen von Unterricht gänzlich zu hinterfragen, als vielmehr die sich ereignenden Prozesse in der pädagogischen Situation aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und auszulegen. Die phänomenologische Verstehens- und Lerntheorie sowie die Beobachtungen im Rahmen des beschriebenen Praxisprojektes haben gezeigt, dass die Prozesse des Lernens und Verstehens der Kinder nicht nur für uns musikpädagogisch Agierende oftmals im Verborgenen liegen, sondern auch für die Kinder selbst nur bedingt greifund mitteilbar sind. Dabei ist möglicherweise mehr in Bewegung, als wir erahnen. Der Musikunterricht der Grundschule ist ein Ort des Übergangs vom unreflektierten Erleben von Musik zum bewussten selbstbestimmten und erschließenden Umgang mit Musik. Wird die kindliche Entdeckungsfreude, die Fähigkeit, sich von den Dingen auffordern zu lassen und sich in sie zu vertiefen, auch im Musikunterricht erhalten und als kindliches Potential eingebunden, eröffnet sich hier ein breites Feld von Möglichkeiten. Dies bedingt jedoch ein situatives Lehrerhandeln, ein variantenreiches Agieren zur Musik sowie Reflexionsarbeit, die immer an die ›Sache‹ Musik selbst zurückgebunden bleibt. Diese Studie stimmt so gesehen einer der zentralen Thesen aus David J. Elliotts Praxial Music Education zu, dass Musikverstehen unmittelbar an eine Musikpraxis gebunden sein muss2 und dass Lernen und Verstehen nur da geschieht, wo sich in musikalischen Situationen musikalisches Problemlösen durch die Schüler selbst vollzieht. »[M]usic making places the student-as-listener inside the musical works and practices he or she is endeavoring to learn.«3 Auch die Bedeutung eines wachen, reflexiven Hörens, das an ein musikalisches Tun geknüpft sein sollte, wird mit dem leibphänomenologischen Argumentationsverlauf der Arbeit betont.4 Der Begriff der Praxis wird hier jedoch nicht im Sinne Elliots hauptsächlich mit sozialen musikalischen Praxen, wie »perform, improvise, compose, arrange and conduct«5 in Verbindung gebracht. Vielmehr werden der wahrnehmende Mitvollzug und das Verstehen als Bewegung selbst schon als musikalische Praxis verstanden. Insbesondere die partielle Verkörperung als Bewegung empfundener musikalischer Verläufe anhand konkreter körperlich-leiblicher Bewegungen wird als eine Musikpraxis begriffen, die musikalische Strukturierungen vergegenwärtigen hilft. Während Elliott behauptet, dass Musikverstehen mit der Fähigkeit, die mu-

2 3 4

5

Vgl. Elliott 2008, 50. Elliott 1995, 99, zitiert in Elliott 2003, 52. Musik als soziale Praxis soll nach Elliott immer an das Hören gebunden sein. »How? Basically, by engaging students in: performing-and-listening, improvising-and-listening, composingand-listening, conducting-and-listening«. Elliott 2008, 50f. Elliott 2003, 51.

7. Ausblick

sikalische Praxis gelingen zu lassen, korrelieren sollte,6 wird hier zum einen nicht davon ausgegangen, dass sich Musik endgültig – auch nicht durch eine gelingende Musikpraxis – verstehen lässt, und zum anderen wird gerade mit Blick auf die Grundschulmusik nicht nur eine Musik für verstehbar gehalten, die zugleich (im Sinne eines prozeduralen Wissens7 ) für die Kinder erlernbar ist.8 Kindern innerhalb der vorgegebenen Unterrichtsstruktur und unter Berücksichtigung ihrer je individuellen Ausgangslagen Freiraum für eigene, bildende Erfahrungen zu geben, ist anspruchsvoll. Bei allem Aufruf zum kritischen Hinterfragen der in der Schulpraxis gewohnheitsmäßig verwendeten Begriffe, wie Verstehen und Lernen, soll die Struktur von Musikunterricht nicht generell verworfen oder gar auf eine ›Entdidaktisierung‹ gedrängt werden. Wie unter anderem Oravec und Weber-Krüger beklagen, leiden deutsche Grundschulen derzeit unter einem starken »Mangel an Fachkräften«,9 insbesondere für das Fach Musik. Der von Elliott geforderte qualifizierte Musiklehrer, der den Kindern mit seinem musikalischen Erfahrungsvorsprung als »coach, mentor, advisor, coordinator, model, conductorleader, resource person«10 an der Seite steht, scheint besonders in der Grundschule in diesen Tagen ein eher seltenes Glück zu sein. Die Unterrichtsrealität ist geprägt von Ausfällen oder fachfremd erteiltem Unterricht. Kein guter Zeitpunkt also, um die Struktur des Faches Musik generell in Frage zu stellen. Vielmehr muss diese Situation ernst genommen und die Bedeutung des Musikunterrichts im Grundschulalter immer wieder hervorgehoben werden. Interessant wäre in diesem Zusammenhang beispielsweise auch, durch weitere Studien zu erheben, wie der Grundschulmusikunterricht das Kind langfristig prägt, wie Erinnerungsspuren oder bedeutende ästhetische Erfahrungen in sein späteres Leben hineinreichen und sein Verhältnis zur Musik nachhaltig beeinflussen. Um abschließend einige Anregungen zu geben, wie die Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit in den Musikunterricht an Grundschulen integriert werden können, soll noch einmal auf den Begriff der Struktur zurückgekommen und an seine Bedeutung für den leibphänomenologischen Lernbegriff erinnert werden: Schon das Wahrnehmen und Erkennen von Strukturierungen wird als Strukturbildung verstanden. Wahrnehmung als Strukturbildung ist jedoch nur denkbar, wenn der

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9 10

»I would suggest, first, that when teachers enable students to achieve a balance between (a) their levels of musical understanding (however nascent or advanced) and (b) the musical challanges of a piece«. Elliott 2008, 51. Vgl. Vogt 1999, 39. Auch wenn sie durch eigenes Tun nur partiell an einem Musikstück ein eigenes Können oder Im-Griff-Haben erleben, kann Kindern ein Musikverstehen eröffnet werden, das sie in späteren musikpädagogischen Situationen oder bildenden musikalischen Ereignissen außerhalb von Schule und Unterricht weiter vertiefen können. Oravec/Weber-Krüger 2016, 10. Elliott 2008, 51.

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Bewegung und Musikverstehen

Wahrnehmende mit Strukturen umgeht, in denen er selbst einen Sinn entdecken darf. Wortbegriffe sollten daher an Musik gebildet und nicht schon losgelöst vom musikalischen Vollzug zur Untersuchung der Musik als fertige ›an die Hand‹ gegeben werden. Andernfalls dient das Wort im Musikunterricht lediglich als ›Begriffsbrille‹, durch die das Kind auf die Musik schaut. Es wird somit schon vorgegeben, was gefunden werden soll, bevor überhaupt gesucht wird. Dies engt die musikalische Wahrnehmung ein, führt zu einer selektiven Wahrnehmung von Musik. Im beschriebenen Projekt konnte beobachtet werden, dass Sprache nicht das Medium ist, in dem Kinder erleben. Sprache stört sie vielmehr häufig, indem sie sich dazwischen drängt und ihnen bisweilen gerade bei der vergeblichen Suche nach passenden Wörtern etwas wieder abhanden kommt, das ihnen vorsprachlich bereits greifbar schien. Über Musik sprechen zu können setzt voraus, dass das Kind bereit ist, zur eigenen Wahrnehmung kritisch auf Distanz zu gehen. Das Sprechen über Musik braucht, wie jedes andere Sprechen auch, einen Anlass. Es wird in der Regel nicht nur des Sprechens wegen gesprochen – Grund des Sprechens ist, dass es etwas zu sagen gibt. Der Anlass ergibt sich also aus der Sache selbst. Wenn es um Musik geht, sollte daher nicht die Sprache, sondern die Musik an sich im Vordergrund stehen. Die Phänomenologen plädieren für ein Sprechen, das dem Denken gleicht, in seinem Wesen responsiv ist. Auf den Umgang mit Musik übertragen, würde dies bedeuten, dass wir sprechend mit Musik mitdenken, auf sie antworten. Ein Über-Musik-Nachdenken setzt also zuallererst ein musikalisches Mitdenken voraus, dass von der Verbalsprache nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten eher nachempfunden als begleitet werden kann. Wichtiger als das fertige Wort erscheint hier daher der Prozess der Transformation, das Verhalten und schöpferische Tun zur Musik. Dennoch spielt die Verbalsprache auch im Musikunterricht eine wichtige Rolle. Wenn es seinen Anlass in der Wahrnehmung von musikalischen Strukturierungen hat, dann kann das Sprechen einen wichtigen Zugang zur Musik und zum Kind, das mit Musik umgeht, eröffnen. Denn Sprache leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, die wahrgenommenen Strukturen bewusst zu machen. Angeregt durch die Beobachtungen im Rahmen des Projektes und die Vertiefung in die phänomenologische Erkenntnistheorie wird in dieser Studie jedoch davon ausgegangen, dass es sich bereits vor oder auch auf dem Weg zur sprachlichen Artikulation um ein Bewusstwerden der eigenen Wahrnehmung handelt. Wenn wir beispielsweise nach phänomenologischem Verständnis davon ausgehen, dass Bewegung immer begleitet wird von einem Bewegungsbewusstsein, so macht uns bereits der leiblichbewegte Nach- bzw. Mitvollzug von Musik ihre Struktur bewusst. Die Bewegung zu Musik wird daher bereits als eine vorsprachliche Weise der Reflexion über Musik betrachtet. Demnach wird davon ausgegangen, dass wir leiblich Begriffe bilden, die für ein späteres Sprechen über Musik den Boden bereiten.

7. Ausblick

Sprache kann im Kontext von Musikunterricht als etwas entdeckt werden, dass dazu anregt, sich stets weiter in Musik zu vertiefen, da jegliche wortsprachliche Beschreibungen von Musik lediglich vorläufig sein können. Außerdem ermöglicht sie den Zugang zur Erfahrung anderer. Und hier zeigt sich eine Chance, die der spezifischen Situation von Unterricht innewohnt: Der Nachvollzug der Erfahrung anderer kann als Variation der eigenen Erfahrung erlebt werden, die hilft, das Wesen des Phänomens Musik zu erschließen. Dazu braucht es die soziale Situation der Verständigung, als Ort der Sprache. Eine weitere Chance wird in der beschriebenen Situationshaftigkeit von Unterricht gesehen: Musik, ihre Struktur und die an ihr gebildeten Wortbegriffe sind stets wandelbar, können in neuen Unterrichtssituationen in anderem Licht erscheinen. Jedes Kind, jede Lerngruppe geht anders mit ihr um und jeder neue Zeitpunkt der Auseinandersetzung bringt neue Bedingungen hervor. (Dies ist allein schon durch den Umstand gegeben, dass uns unsere bereits gemachten musikalischen Erfahrungen stets neue Ausgangssituationen für den Umgang mit Musik generieren.) Musik ist im Moment einmalig und kann – da sie an die Situation des Vollzugs gebunden ist – nur scheinbar wiederholt werden. Die Erkenntnis, dass Zeit für Musik wesensbestimmendes Existential ist, kann helfen, Musikunterricht zu strukturieren. Der Nachvollzug von Musik durch Bewegung macht Zeit als musikalische Materie erlebbar, in seiner Gestalthaftigkeit sichtbar und bewusst. Wachsam zu sein für den Verlauf und die Entwicklung von Musik bedeutet weiter, sich auf Veränderungen einzulassen. Erkennen in Bezug auf Musik wird hier verstanden als Wiedererkennen. Denn die (empfundene) Wiederholung stiftet Form und Gestalt in der Musik. Wahrnehmung bedeutet aus phänomenologischer Sicht bereits Reflexion. Alles, was Kinder also anregt, musikalische Strukturen, als im zeitlichen Verlauf entstehende Sinngebilde, differenzierter wahrzunehmen, kann Beweggrund sein für musikalische Verstehensprozesse und musikbezogene verbalsprachliche Artikulationen. Dem leiblichen Lernen und dem leiblich-bewegten Nach- und Mitvollzug kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Erkennbar wird die musikalische Bewegung, die musikalische Form in ihrer Entfaltung durch Veränderung und ihrer Konturierung durch Wiederholung. Es geschieht in Momenten, in denen Verstehen und Empfinden zusammenfallen, die von Kindern mitunter durch ein »Hä?!« oder ein »Aha!« angezeigt werden. Kinder und Lehrkräfte gilt es gleichermaßen zu ermutigen, sich beim Umgang mit Musik nicht von Augenblicken der Sprachlosigkeit beunruhigen zu lassen. Können sie doch Vorboten für ein Verstehen als Bewegung sein, die in diesem Augenblick entspringt und womöglich für längere Zeit aus sich selbst Kraft gewinnt.

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8. Literatur

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Bewegung und Musikverstehen

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8. Literatur

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9. Danksagung

Diesem Buch liegt meine Dissertation zugrunde, die ich im Frühjahr 2019 an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« in Leipzig verteidigt habe. Ich möchte mich bei allen Personen bedanken, die mich beim Verfassen dieser Arbeit unterstützt haben. Mein tiefer Dank gilt meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Constanze Rora für ihre stete Unterstützung, die bereichernden Gespräche und ihren wichtigen Hinweis auf den Leibbegriff. Damit gab sie mir den Impuls, mich mit der Leibphänomenologie Maurice Merleau-Pontys auseinanderzusetzen und mit Begeisterung ihren Ertrag für musikpädagogische Fragestellungen zu entdecken. Für viele wichtige Denkanstöße, kritische Nachfragen und die großartige Unterstützung in der Endphase meiner Arbeit, danke ich herzlich meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Christoph Khittl. Dankbar bin ich für die musikpädagogischen und interdisziplinären Doktorandenkolloquien der HMT Leipzig, von denen ich sehr profitieren konnte. Ich danke außerdem der Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Marien Lübeck, die mir 2012 die Umsetzung des konzertpädagogischen Projektes Orgelmusik in Kinderohren ermöglichte. Es war für meine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung der Bewegung für das Musikverstehens bei Kindern impulsgebend. Bei der Konrad-Adenauer-Stiftung bedanke ich mich für ein Promotionsstipendium, das mir den Rücken für meine Forschungstätigkeit frei gehalten und mir den interessanten Kontakt mit Promovierenden anderer Disziplinen ermöglicht hat. Ich bedanke mich bei dem Lektor Jan Wenke für das zuverlässige Korrektorat und viele helfende Hinweise. In all den Jahren hat mich meine liebe Freundin Friederike mental unterstützt und war mir eine wichtige Gesprächspartnerin, wenn es um das Schreiben und Textgestalten ging. Mein herzlicher Dank gilt auch meiner Freundin Franziska, die den Scherenschnitt für das Buchcover anfertigte, der sich so wunderbar auf meine Arbeit bezieht. Für den wertvollen Austausch zu musikpädagogischen Fragen danke ich außerdem Prof. Dr. Christoph Richter, Prof. Dr. Hans Joachim Köhler, Dr. Lukas Bugiel, Cecilia und Martin Gelland.

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Bewegung und Musikverstehen

Zu guter Letzt danke ich meiner Familie, insbesondere meiner Mutter Claudia und meinen Großeltern, die mich an die Musik herangeführt haben. Meinem Mann Johannes danke ich für seine fortwährende Ermutigung, dafür dass er mir so oft geduldig zuhörte, Rückfragen stellte und mir dadurch half, meine Gedanken zu sortieren. Ganz besonders herzlich danke ich meinen beiden Töchtern Carla und Valerie, die mir auf dem langen Weg hin zu diesem Buch viel Kraft geschenkt und mich oft zum Weiter- und Anders-Denken inspiriert haben. Aus den scheinbar endlosen Phasen des Nachdenkens haben sie mich immer wieder in das ›ganz normale‹ Leben zurückgeholt und mir mit ihren Fragen an die Welt gezeigt, dass es sich ganz besonders lohnt, dahin zu schauen, wo etwas selbstverständlich erscheint und die Dinge zu hinterfragen.

10. Anhang

Geschichten und Erlebnisberichte der Kinder1   Die musikalische Freude   Einst war das Leben in einer Stadt sehr langweilig und leer. Doch eines Tages kamen Musikanten in die Stadt und erfüllten die Stadt voller Freude. Sie tanzten und lachten. Die Musikanten lehrten manchen das, was sie taten. Eines Morgens waren sie weg. Es war wieder langweilig, leer und matt. Da dachten die, die von den Musikanten gelernt hatten, daran, dass sie die Musik auch spielen können. Und so spielten sie. Die Bewohner tanzten und lachten. Und es war so schön wie niemals davor. (Lisa, 4. Klasse)   Die Jagd der Bären   Eines schönen Sommertages kamen Bärenjäger in den Wald der Bären. Sie gingen auf die Jagd. Da sahen die Jäger eine Bärenfamilie, die sich ihr Futter suchte. Aber die Jäger hatten kein Mitleid. Sie pfiffen auf ihrem Jagdhorn und erschossen die Bären. Die Bären konnten sich aber noch wehren. Die brummten und liefen weg. (Susann, 3. Klasse)   Scherzo: Das Lied der Tiere   Ein Vogel tanzt in der Luft. Dabei zwitschert er eine fröhliche Melodie vor sich hin. Mal laut und mal leise. Unten auf dem Boden läuft ein kleiner Bär und brummt genau die gleiche Melodie vor sich hin, wie es zuvor der Vogel getan hatte. Auch mal laut und auch mal leise. Eine Biene, die in ihrem Bienenstock herumflattert, summt auch genau die gleiche Melodie, wie es auch die beiden anderen Tiere tun. Plötzlich macht der

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Verfasst am ersten Projekttag, Namen wurden geändert.

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Bewegung und Musikverstehen

ganze Wald eine wunderschöne Melodie. Alle Tierstimmen zusammen hören sich so toll an, dass die Melodie zu einem richtigen Lied wurde. Das Lied heißt: Scherzo! (Paula, 4. Klasse)   Frühlings Stimme   Die ersten Blumen blühen, der Schnee taute und die Sonne schien, es war Frühling. Eines Morgens wachte die kleine Luisa auf. Ihr war warm. »Es ist Frühling!«, rief Luisa und zog sich so schnell sie konnte an. Sie packte sich ein wenig Brot und Speck ein und zog in den Wald hinaus. Luisa war so glücklich. Endlich war es nicht mehr so kalt. »Die Tiere freuen sich auch«, dachte Luisa, als sie die Vögel singen hörte. (Henriette, 4. Klasse)   Es war ein schöner Samstagnachmittag   Ich war heute in der Marienkirche. Da habe ich im Vorraum meine Sachen abgelegt. Dann bin ich mit Susann, Paula, Oskar, Henriette, Ida und dem Orgelspieler ganz viele Treppen nach oben gegangen. Nach ein paar Minuten sind wir bei den Orgeln angekommen. Der Orgelspieler hat uns ein Stück vorgespielt, das er extra für uns geübt hat. Als das Stück vorbei war, haben wir geklatscht. Dann hat er uns gezeigt, was die ganzen Knöpfe bedeuten. Danach hat er uns tiefe und hohe Töne vorgespielt. Dann waren die anderen dran. Dann haben wir »Reporter« und »Ich baue eine Orgel« gespielt. Dann sind die anderen wieder nach unten gekommen. Zusammen sind wir dann rüber ins Marienwerkhaus gegangen und haben unsere Jacken ausgezogen. Dann haben Anna und Frau Paul Tagebücher ausgeteilt. Dann durften wir schreiben. Danach haben wir einen Stuhlkreis gemacht. Einige haben eine Geschichte vorgelesen und dann war Schluss. (Lotta, 2. Klasse)   Der bunte Wald   Ein bunter Schmetterling hüpft fröhlich in der warmen klaren Luft umher. Da kommen noch ein Vogel und eine Libelle dazu. Der Vogel singt ein fröhliches Lied, die Libelle und der Schmetterling tanzen dazu. Am Ende sind alle Vögel, Bienen, Wespen und Fliegen vom Wald versammelt und tanzen. (Ida, 4. Klasse)   Orgelmusik   Es ist eine sehr schöne fröhliche Musik. Sie wird auf der kleinen Orgel in der Marienkirche gespielt. An manchen Stellen ist sie ein bisschen traurig und sie ist mal

10. Anhang

laut, mal leise. Wir haben sie viermal gehört, zweimal in der Kirche und zweimal im Gemeindehaus von der Marienkirche. Die Marienkirche ist ziemlich groß. Noch viel größer als der Dom. Also klingt die Musik auch ziemlich gut. Heute ist gutes Wetter. (Marie, 3. Klasse)   Die Musik der Marienkirche von der Orgel war fröhlich. Das Stück hieß Scherzo. Die Treppe zur Orgel war steil. Von oben hatte man eine gute Aussicht. Die zwei Spiele waren witzig. (Oskar, 4. Klasse)   Blume, geht auf, schön. Die Blume geht auf. Die Blume geht immer weiter auf, weiter und weiter auf. (Leonhard, 4. Klasse)

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Bewegung und Musikverstehen

Notenbeispiele

Notenbeispiel 1

E. Gigout aus Dix Piece pour Orgue, Nr. 8 Scherzo, (Leduc 2006, 54f.; Markierungen von A. U.-R.)

10. Anhang

Notenbeispiel 2

E. Gigout aus Dix Piece pour Orgue, Nr. 8 Scherzo, (Leduc 2006, 54; Markierungen von A. U.-R.)

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Bewegung und Musikverstehen

Notenbeispiel 3

E. Gigout aus Dix Piece pour Orgue, Nr. 8 Scherzo, (Leduc 2006, 57; Markierungen von A. U.-R.)

Musikwissenschaft Dagobert Höllein, Nils Lehnert, Felix Woitkowski (Hg.)

Rap – Text – Analyse Deutschsprachiger Rap seit 2000. 20 Einzeltextanalysen Februar 2020, 282 S., kart., 24 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4628-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4628-7

Helen Geyer, Kiril Georgiev, Stefan Alschner (Hg.)

Wagner – Weimar – Eisenach Richard Wagner im Spannungsfeld von Kultur und Politik Januar 2020, 220 S., kart., 6 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4865-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4865-6

Rainer Bayreuther

Was sind Sounds? Eine Ontologie des Klangs 2019, 250 S., kart., 5 SW-Abbildungen 27,99 € (DE), 978-3-8376-4707-5 E-Book: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4707-9

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Musikwissenschaft Eva-Maria Houben

Musical Practice as a Form of Life How Making Music Can be Meaningful and Real 2019, 240 p., pb., ill. 44,99 € (DE), 978-3-8376-4573-6 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4573-0

Marianne Steffen-Wittek, Dorothea Weise, Dierk Zaiser (Hg.)

Rhythmik – Musik und Bewegung Transdisziplinäre Perspektiven 2019, 446 S., kart., 13 Farbabbildungen, 37 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4371-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4371-2

Johannes Müske, Golo Föllmer, Thomas Hengartner (verst.), Walter Leimgruber (Hg.)

Radio und Identitätspolitiken Kulturwissenschaftliche Perspektiven 2019, 290 S., kart., 22 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4057-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4057-5

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