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German Pages 377 Year 1975
ERNST RUDOLF HUBER
Bewahrung und Wandlung
Bewahrung und Wandlung Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte
Von
Emst Rudolf Huber
DUNCKER & HUMBLOT/BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1975 bel Berllner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Prtnted 1n Germany
© 1975 Dunelter
ISBN 3 428 03278 0
Für Tula Huber-Simons zum 3. März 1975
"Auch noch Verlieren ist unser; und selbst das Vergessen hat noch Gestalt in dem bleibenden Reich der Verwandlung." (R. M. R.
an H. C.)
Vorwort Die vierzehn Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, weit getrennten Zeita:bschnitten und unterschiedlichen Anlässen entstammend, sind in diesem Band nicht nur zu einer äußeren Einheit zusammengefaßt. So ungleich die Gegenstände sind, denen die Beiträge sich widmen, so auffällig die Abweichungen hervortreten mögen, die sich im Urteilsspektrum eines langen, der Wissenschaft zugewandten Lebens ergeben haben, im Ganzen wird im Rückblick doch deutlicll der Einklang des Fragens und Antwortens, der die einzelnen Stücke bestimmt. Thr einendes Hauptthema sind das Wesen, der Wert und das Schicksal der Verfassung, das heißt der Grundordnung, die in der Geschichte des modernen Staats in die Erscheinung und in der politischen Theorie ins Bewußtsein tritt, des Staats, in den wir gestellt sind und an dessen Selbstverwirklichung, an dessen Fehlentwicklungen und an dessen Wiederherstellung jeder auf seine Weise und in dem ihm zugewiesenen Maß handelnd und hinnehmend teilhat. Die Verfassung als das Medium der Selbstverwirklichung des Staats das war schon das Grundthema des Bandes "V erfassungsstaat und Nationalstaat", in dem der Autor vor einem Jahrzehnt zwölf Studien zum Thema der Selbstgestaltung der staatlich geeinten Nation in der Form des Verfassungsstaats zusammengefaßt hat. Für den jetzt vorgelegten weiteren Band von vierzehn Beiträgen ist der Titel "Bewahrung und Wandlung" nicllt von ungefähr gewählt. Die elementaren Institutionen des politischen Daseins - der Staat selbst und seine Verfassung, das Recht und die ihm zur Seite stehende öffentliche Ordnung, die Vorkehrungen der Selbstbehauptung und der Friedenssicherungsie sind in gleichem Maß bestimmt vom Moment der Bewahrung, nämlich der Garantie des überkommenen Bestands, als auch vom Moment der Wandlung, nämlich der fortschreitenden Entwicklung und Erneuerung. Dieses Ineinander von Obhut und Aufbrucll, in dem der Sinn der Verfassung :beschlossen ist, verbietet, diese entweder als bloßes Schutzsystem zur Erhaltung des status quo des erreichten Rechtsbesitzes oder aber als substanzleeren Mechanismus zur geregelten Anpassung der Rechtsordnung an die in ständigem Wandel begrüfenen faktischen Machtzustände zu begreüen. Weder die Starrheit einer dem Vergangenen verhafteten Status-Garantie noch die wirklichkeitsgefügige Formel von der "normativen Kraft des Faktischen" macht die Funktion der -
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Vorwort
Verfassung aus, wenn diese in ihrem Wesen und Wert, nämlich als zugleich rechtliche und reale Grundordnung des Gemeinwesens verstanden wird.
In ihrer Doppelfunktion ist die Verfassung sowohl dem Reich der daseinsbestimmenden Ideen als auch dem Reich der rechtsbestimmenden Wirklichkeit zugeordnet. Das Verhältnis von Verfassungsidee und Verfassungswirklichkeit dieses Kernproblem der Staatstheorie, des Staatsrechts und der Verfassungsgeschichte - hat den Autor seit dem Beginn seiner Studien ständig gefesselt. In jedem der vierzehn Beiträge scheint diese Kernfrage, bald unmittelbar, bald mittelbar, auf. Eben in Anbetracht dieses die Einheit der vierzehn Beiträge bestimmenden Grundzugs sind in die Sammlung auch die beiden frühen Arbeiten aus dem Jahr 1931 aufgenommen, die das Verhältnis von Verfassungsidee und Verfassungswirklichkeit unmittelbar in dem Zeitabschnitt behandelt haben, in dem dieses Thema durch Carl Schmitts Frage nach der "konkreten Verfassungslage" des Weimarer Staats in seiner staatstheoretischen und staatsrechtlichen Unumgänglichkeit ins allgemeine Bewußtsein gehoben worden war. Das unumgängliche Ineinander von Verfassungsidee, Verfassungsnorm und Verfassungsrealität bewirkt auch, daß Verfassungskrisen, Verfassungskonflikte und Verfassungsnotlagen in nicht geringerem Maß als die Normalfragen der Verfassungsauslegung und des Verfassungsvollzugs zu den Grundgegenständen der Verfassungswissenschaft gehören. In den in diesem Band vereinigten Studien ist daher von krisenhaft gestörten Verfassungslagen in nicht geringerem Maß als von wohlgeordneten und gefestigten Verfassungszuständen die Rede. Wenn gleichwohl diese Studien ·unter einem Titel vei1bunden sind, der nicht die permanente Bedrohung der V•erfassung durch die Kette der Krisenund Konfliktslagen des modernen Staats, sondern die allen Wechsel überhöhende Dauer heraushebt, so weil der Autor daran festhält, daß die Verfassung ein Mittel ist, das nicht der Einübung der gesellschaftlichen Gruppen in ihre Daseinskonflikte, sondern der Konfliktüberwindung durch Bewahrung und ordnungsimmanente Wandlung dient. Wegen des inneren Bezugs, in dem die vierzehn Beiträge stehen, sind sie nicht in der !Zeitlichen Reihenfolge ihres Ursprungs sondern in einer, wenn auch lockeren sachlichen Fügung zum AJbdruck gebracht. Über die Entstehungszeit, die Erstveröffentlichung und die geringfügigen Verbesserungen, Kürzungen und Zusätze ist das Erforderliche in den Hinweisen am Ende des Bandes gesagt. Freiburg-Zähringen, 24. Dezember 1974 E.R.H.
Inhalt Einführung 1. Vom Sinn verfassungsgeschichtlicher Forschung und Lehre
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A: Zur Verfassungstheorie der Weimarer Zeit 2. Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt . . . . . . . . 3. Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Zur Kontinuität des deutschen Verfassungsstaats 4. Die Bismarcksche Reichsverfassung im Zusammenhang der deutschen Verfassungsgeschichte .. . . ... ........ . .... ,. . . . . . . . . . . . . . . . 62 5. Das Verbandswesen des 19. Jahrhunderts und der Verfassungsstaat . . ......................................................... 106 6. Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 7. Walter Simons. Staatsmann und Richter in Kaiserreich und Republik ... ....................................................... . . 152 C. Zur Geschichte und Theorie des Verfassungsnotred:l.ts 8. Militärgewalt, Notstandsgewalt, Verfassungsschutzgewalt in den Konflikten zwischen Bayern und dem Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 9. Zur Lehre vom Verfassungsnotstand in der Staatstheorie der Weimarer Zeit ................................... . ............... . . 193 D. Verfassungsstaat und Wirtschaftsverfassung 10. Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 11. Die erweiterte wirtschaftliche Mitbestimmung und der Verfassungsstaat .... . ...... .. ........... . . . . ... ...................... 274 E. Verfassungsstaat, Kulturstaat und Kulturverfassung 12. Zur Problematik des Kulturstaats . .. . . .. . . .. . .......... . . .. .... 295 13. Vorsorge für das Dasein. Ein Grundbegriff der Staatslehre Hegels und Lorenz v. Steins .. ..... . ... .. ... . .......... . . . ............. 319 14. Kulturverfassung, Kulturkrise, Kulturkonflikt .. .. . .. ... ........ 343 Hinweise . ... ... . . . . . ... ... . . . ............... .. .. . .................... 375
Einführung 1. Vom Sinn verfassungsgeschichtlicher Forschung und Lehre Als im Sommer 1957 der erste Band der "Deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789" erschien1 , widerstand ich, um nicht mit einer weitläufigen Selbstinterpretation zu beginnen, der Versuchung, dem Buch ein Wort vorauszuschicken "über den Begriff, in dem Verfassungsgeschichte hier verstanden, über die Methode, mit der sie behandelt, über den Sinnzusammenhang, in den sie gestellt ist". Der Autor von Büchern hofft, daß das Buch für sich selber zeuge. Er ist in Verlegenheit, wenn er für sein Buch Zeugnis ablegen soll. So gab das damalige Vorwort der Hoffnung Ausdruck, die Darstellung selbst werde dem Leser deutlich machen, daß das historische, staatsrechtliche und politische Material in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit nicht um seiner selbst willen ausgebreitet sei, sondern "um siclltbar zu machen, wie sich im Widerstreit des vielgestaltigen und vielstrebigen Einzelnen das Ganze einer gefestigen und doch stets von neuem Widerstreit bedrohten Ordnung: eben die Verfassung erhebt". In verhaltener Zuversicht bekannte das Vorwort sich zu dem Ziel, in der Darstellung "wenigstens im Abglanz hervortreten zu lassen, wie das noch ungestaltete reale Sein und das Ordnungsgefüge der staatsrechtlichen Institutionen und Normen, wie die großen Ströme der Ideen und die bewegte Flut der Interessen, wie die Subjektivität der handelnden Kräfte und die Objektivität des sich selbst verwirklichenden Geistes im krisenreichen Ringen um Verfassung ineinander gebunden sind". Das Vorwort des zweiten Bandes (1960) hat diese andeutende Umschreibung dann doch um eine präzisere Definition ergänzt: Verfassung sei kein bloßes System des Staatsrechts, aber auch keine Erscheinung in der bloßen Welt des Seins. "Sie ist vielmehr ein Gesamtgefüge geistiger Bewegungen, sozialer Auseinandersetzungen und politischer Ordnungselemente - ein Inbegriff von Ideen, Interessen und Institutionen, die sich im Kampf, im Ausgleich und in wechselseitiger Durchdringung jeweils zum Ganzen der Verfassungswirklichkeit einer Epoche ver1 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 17&9; bisher erschienen Bd. I- IV (1957 -1969); Bd. I- III in 2. Auflage (1967 -70).
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Einführung
binden." Gegenstand der Verfassungsgeschichte ist somit die Verfassung im substantiellen, nicht im formalen Sinn. Es ist der Wesensbegriff der Verfassung, der die Verfassungsgeschichte als Wissenschaft konstituiert. Die Erläuterung dieser These muß mit einer negativen Feststellung beginnen. Verfassungsgeschichte ist nicht Verfassungs-Rechtsgeschichte! Sie ist keine bloße Geschichte des Staatsrechts vergangener Epochen. Sie hat es nicht nur mit der Geschichte der geschriebenen Verfassungen, der staatsrechtlichen Normen, der verfassungsrechtlichen Einrichtungen zu tun. Verfassungsgeschichte ist nicht nur die Geschichte des Verfassungsrechts, sondern die Geschichte der Verfassung selbst. Die Verfassungals Gegenstand der Verfassungsgeschichte - ist die Grundordnung, in der ein Volk sich als Staat verwirklicht. Sie ist das gegliederte und gefügte System, in dem die im Raum der Gesellschaft rivalisierenden Ideen, Interessen und Kräfte durch Subordination oder Koordination zu einer existentiellen Gesamtordnung verbunden sind. Verfassung ist die Ordnung, in der die Vielheit der Kräfte unter Wahrung optimaler Freiheit zur optimalen Wirkungseinheit konstituiert ist. Der Verfassungsgeschichte geht es um das Begreifen solcher Ordnung in der konkreten Wirklichkeit einer vergangenen Zeit. Die Verfassung, von der die Verfassungsgeschichte handelt, hat universalen Charakter. Sie ist nicht auf die Rechtsordnung im engeren Sinn beschränkt, sondern umgreift auch die Wirtschaftsordnung wie das Sozialgefüge; es gehören zu ihr die Wehrverfassung wie die Kulturverfassung; sie umfaßt die Stellung der Kirchen, der Universitäten und Schulen wie die der Wirtschafts- und Sozialverbände im staatlichen Ganzen; in ihrem Kern steht die willensbildende Funktion der Parteien wie die administrative und exekutive Funktion der Bürokratie. Gegenstand der Verfassungsgeschichte ist daher nicht nur der Übergang von der absolutistischen zur konstitutionellen und von dieser zur parlamentarisch-demokratischen Herrschafts- und Regierungsform; ihr Gegenstand ist vielmehr in gleichem Maß die Bauernbefreiung und die Arbeiterbewegung, der Aufstieg und die Machtentfaltung der politischen Parteien, der Kampf zwischen freier Marktwirtschaft und staatlicher Wirtschaftsplanung, die Entwicklung vom Berufsheer zum Volksheer, der Kulturkampf und das Sozialistengesetz, der Kampf um Konfessions- oder Simultanschule, das Ringen um Universitätstradition und Hochschulreform. Im Mittelpunkt der Verfassungsgeschichte steht nicht nur die Entwicklung des modernen Staats zum Verfassungsstaat und zum Rechtsstaat, sondern ebenso seine Selbstverwirklichung als Industriestaat, als Sozialstaat und als Kulturstaat.
1. Vom Sinn verfassungsgeschichtlicher Forschung und Lehre
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Doch ist die Verfassungsgeschichte trotz dieses Ulliversalen Charakter ihres Gegenstandes von der politischen Geschichte Ullterschieden. "Deutsche VerfassUllgsgeschichte" ist nicht einfach "deutsche Geschichte". Das Besondere der Verfassungsgeschichte ist die FragestellUllg, mit der sie an das Geschehene herantritt. Die verfassUllgsgeschichtliche Darstellung schildert nicht die bloße Wirklichkeit der äußeren und inneren Abläufe unter dem Aspekt von Ursache Ulld WirkUllg, sondern begreift das Geschehen als ein Ringen um "Verfassung", das heißt als ein ständiges Bemühen um funktionsfähige Ulld zugleich sachgerechte, in diesem Sinn um gültige Ordnung. Verfassung im Sinn von gültiger OrdnUllg ist nicht nur der Rahmen der äußeren Legalität, in dem politisches Handeln sich vollzieht; VerfassUllg ist vielmehr zugleich der Sinn und das Ziel, durch welche die politische Aktion sich rechtfertigt. "Gültige OrdnUllg" - das heißt eben nicht nur die äußere legale Ordnung, wie sie auch der um Gesetzmäßigkeit Ulld Sicherheit bemühte Polizeistaat, ja auch der von Lassalle mit soviel Ironie bedachte "Nachtwächterstaat" erstrebt. "Gültige Ordnung" ist vielmehr die innere Ordnung, die auf Frieden, auf allgemeine Wohlfahrt, auf gerechtes Recht, auf Kultur Ulld GesittUllg sowohl gegründet als gerichtet ist. In der Kaiserproklamation von 1871, diesem großen verfassUllgsgestaltenden Akt, ist dieser Sinn von Verfassung in einer vollendeten Formel zum Ausdruck gelangt, indem der Kaiser gelobte: "Allzeit Mehrer des Reichs zu sein - nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung." Die SelbstverwirklichUllg des Volks in gültiger Ordnung, aber auch die Gefährdung Ulld Zerstörung wie die Erneuerung und WiederherstellUllg solcher Ordnung ist das spezifische Thema der verfassUllgsgeschichtlichen Forschung. Von diesem Besonderen der Verfassungsgeschichte her geurteilt, ist es nicht nur legitim, sondern auch notwendig, daß die Staatsrechtslehre sich der Verfassungsgeschichte annimmt. Zugleich aber ist der Unterschied evident, der zwischen verfassungsjuristischem und verfassungshistorischem Denken besteht. Der Verfassungsjurist ist in die eigene gegenwärtige Ordnung, die mit dem Anspruch auf Dauer auftritt, gestellt; ja, er ist dieser Ordnung verpflichtet. Selbst die Freiheit der Forschung Ulld Lehre, dieses Grundrecht der Wissenschaft, findet, wie das GrUlldgesetz sagt, an der Treue zur geltenden Verfassung ihre Grenze. Verfassungsrechtslehre ist nicht nur Refiektion, sondern zugleich Aktion. Der Verfassungshistoriker, der eine Vielzahl vergangener Verfassungsepochen überblickt, befindet sich dagegen in Distanz zu seinem Gegenstand. Er sieht die Ordnungen, trotz ihres jeweiligen Anspruchs
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Einführung
auf Dauer, in stetigem Wechsel. Er sieht die Verfassungssysteme im Werden und Vergehen; er sieht sie in dem bezwingenden Elan ihrer Gründung und in der Ermattung, der Zersetzung, der Mutlosigkeit ihres Untergangs; er sieht die Verfassungskräfte in Selbstverwirklichung, Selbstbehauptung, Selbstzerstörung und Wiederherstellung; er sieht die Verfassungsideen in der Faszinationskraft ihres Aufstiegs und Siegs wie in der Dekadenz oder Perversion ihrer Spätzeit. Verfassungsgeschichte ist eine Geschichte ständiger verfassungspolitischer Integration und Desintegration. Alle Verfassungsgeschichte ist, um ein berühmtes Wort zu variieren, eine Geschichte von Verfassungskämpfen, von Kämpfen um Aufrichtung, Behauptung, Fortbildung, Umgestaltung und Umsturz von Ordnung - und so fort in unendlichem Kreislauf. Unter dem Aspekt des Verfassungshiktorikers ist Verfassung eine Ordnung, die Gültigkeit und damit Dauer beansprucht und die doch dem ständigen Wandel unterworfen ist - dem Wandel durch Evolution oder durch Revolution. Aber es gilt auch das Umgekehrte: der Verfassungshistoriker erkennt im ständigen Wandel, selbst im Umsturz und Neubau das Bleibende, das sich bewahrt und wiederherstellt, auch wo die Form sich ändert. Verfassungswandel im scheinbar Dauernden, Verfassungsbewahrung im scheinbar Vergänglichen - das ist die Dialektik, mit der der Verfassungshistoriker sich ständig konfrontiert sieht. Von dieser Sicht der Dinge her wird zum Kernproblem der Verfassungsgeschichte die Frage nach der Verfassungsfähigkeit des Staats, die Frage also nach der Fähigkeit eines Staats, die Gesamtheit seiner Zustände in einer gültigen Ordnung auf Dauer zu formen. Der große Lorenz Stein hat 1852 in dem Aufsatz "Zur preußischen Verfassungsfrage''1 diese Frage nach der Verfassungsfähigkeit des preußischen Staats aufgeworfen und verneint, weil es in Preußen an den drei Voraussetzungen der Lebensfähigkeit einer Verfassung, nämlich der historischen, der wirtschaftlichen und der gesellschaftlichen Grundlage einer echten Volksrepräsentation fehle. Preußen sei zur Verfassung nicht fähig; gleichwohl sei ihm eine Verfassung notwendig. In einer solchen Situation schlage die Verfassungsunfähigkeit des einen Staats in die Verfassungsfähigkeiteines anderen Staatslebens um. Der Sinn dieser verfassungstheoretischen Aussage war die Feststellung, daß innerhalb Deutschlands eine Volksrepräsentation nur als deutsche Volksvertretung möglich sei. "Verfassungsfähigkeit" komme in Deutschland nicht den Einzelstaaten, selbst nicht dem bedeutendsten unter ihnen, sondern ! Lorenz (v.) Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage ~in: Deutsdle Vierteljahrsschrift, Heft 1, 1852). Neuausgabe, mit Nachwort von Carl Schmitt (1941); erneuter Albdruck in L. v. Stei.n, Gesellschaft-Staat-Recht, herausgegeben von Ernst Forsthoff (1972) S. 115 ff.
1. Vom Sinn verfassungsgeschichtlicher Forschung und Lehre
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nur dem Gesamtstaat zu. "Die Widersprüche, die sich in Preußen zeigen, verschwinden, sobald man die preußische Verfassung als eine große und ernste Vorarbeit für eine Gesamtvertretung Deutschlands betrachtet." Die Einsicht, zu der diese verfassungstheoretische Abhandlung des großen Soziologen und Juristen führte, lautete also, daß in Deutschland der Verfassungsstaat nur als Nationalstaat möglich sei; den Einzelstaaten fehle die Fähigkeit zur Verfassung. Lorenz Stein bestimmte die Verfassungsfähigkeit eines Staats nach dessen Vermögen, den Pluralismus der gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine Volksvertretung aufzuheben. In der Tat hängt, wie die verfassungsgeschichtliche Forschung immer wieder erweist, die Verfassungsfähigkeit des modernen Staats davon ab, ob die Volksvertretung die Kraft, die Anpassungsfähigkeit, die Weisheit besitzt, die Vielheit der konkurrierenden Ideen und Interessen in sich zu sammeln und durch Deliberation und Dezision zur sich ständig erneuernden Einheit zu verbinden. Die Verfassungsfähigkeit und die Verfassungskontinuität des modernen Staats sind bedingt von der dauernden Kraft seiner Volksvertretung zur Integration und Repräsentation. Es wird stets auch von subjektiven Momenten abhängen, was in den Forschungsergebnissen eines einzelnen Verfassungshistorikers stärker hervortritt: die Stärke oder die Schwäche in der Verfassungsfähigkeit einer Nation, die Kontinuität oder die Diskontinuität in der Verfassungsentwicklung eines Staats. Nach so vielen Fehlschlägen im Gang der Geschichte neigen wir Deutsche dazu, unsere Verfassungsfähigkeit -jedenfalls für die Vergangenheit- zu verneinen und das Moment der Diskontinuität in unserer Verfassungsentwicklung weit stärker als das der Kontinuität ausgeprägt zu sehen. Schon als ich vor Jahrzehnten mit meinen Bemühungen um "Verfassungsgeschichte" begann, hatte ich Zweifel an der Richtigkeit dieses auch damals landläufigen Urteils. Wenn ich die jetzt fertiggestellten Teile meiner verfassungsgeschichtlichen Darstellung überblicke, so überwiegt, wie mir scheint, eher der Eindruck, daß die Verfassungsfähigkeit unserer Nation nicht geringer als die anderer großer Völker entwickelt und daß in allem Wandel unserer staatlichen Verhältnisse doch ein starkes Moment des Dauernden geborgen ist. Das gilt jedenfalls im Hinblick auf die Epoche des modernen Verfassungsstaats. Die staatenbündische Verfassung des Deutschen Bundes, die bundesstaatlich-konstitutionell-monarchische Verfassung des Bismarckschen Reichs, die parlamentarisch-demokratische Verfassung der Weimarer Republik waren, jede in ihrer Art, große und selbständig konzipierte Modelle der Verfassungsgestaltung. An Originalität, an systembildender Kraft, an Lebensfähigkeit standen sie hinter den Verfassungen anderer Nationen schwerlich zurück. Und trotz der je-
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Einführung
weils kurzen Dauer, die ihnen beschieden war, zeigte sich im vielfältigen Wechsel, in den permanenten Kämpfen, den schweren Krisen und Konflikten, den kühnen Errungenschaften und schlimmen Rückschlägen, die die Verfassungsepoche der letzten anderthalb Jahrhunderte kennzeichnen, doch eine erstaunliche Energie verfassungsstaatlichen Beharrens. Das Vorwort meines Aufsatzbandes "Nationalstaat und Verfassungsstaat"3 bestimmt den Begriff des modernen Verfassungsstaats so: Er sei nicht das bloße Organisationsschema eines auf Gesetzmäßigkeit, Gewaltenteilung, Grundrechtsschutz und unabhängige Gerichtsbarkeit gegründeten Legalitätsstaats, sondern das Fundamentalgefüge überpositiver Prinzipien, in deren fortschreitender Verwirklichung die Staatsordnung ihre substantielle Legitimität erlangt. In der Einheit widerstreitender Prinzipen, nämlich: in der Verbindung von Humanität und Nationalität, von Herrschaft und Freiheit, von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, von individueller Selbstbestimmung und sozialer Gesamtverantwortung bildet sich die "gültige Ordnung", die den Staat zum Verfassungsstaat, zum Rechtsstaat, zum Sozialstaat, zum Kulturstaat macht. In diesem substantiellen Sinn hat dieneuere Verfassungsgeschichte es mit der Entwicklung des Staats zum Verfassungsstaat zu tun. EineamBegriff der gültigen Ordnung orientierte, in diesem Sinn verfassungstheoretisch fundierte Verfassungsgeschichtsschreibung wird, wie mir scheint, zu dem am zuletzt genannten Ort formulierten Ergebnis führen, daß der als Einheit von Rechtsstaat und Sozialstaat verstandene Verfassungsstaat sich nicht in bloßer Rechts- und Sozialtechnik erschöpft, sondern daß er eine in Rechtskultur gegründete Erscheinung ist. "Nicht als ein System vollendeter Herrschafts-, Verwaltungsund Verfahrenstechnik, sondern als Kulturstaat entfaltet der Verfassungsstaat sich zu seinem wahren Sein." Verfassungsgeschichtliche Forschung und Lehre sind nicht möglich, ohne eine ihnen vorausgehende oder sie begleitende verfassungsgeschichtliche Dokumentation. Eine der Hauptschwierigkeiten bei den Bemühungen um die neuere deutsche Verfassungsgeschichte liegt im Fehlen hinreichender Dokumentations-Werke für das 19. und das gegenwärtige Jahrhundert. Die Quellensammlung "Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte" 4 versucht, diese Lücke zu schließen. Insbesondere der dritte Band der Sammlung, der ausschließlich der Novemberrevolution und der Weimarer Republik gewidmet ist, bringt in einer a E. R. Huber, Nationalstaat und Verfassung·s staat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee (1965). 4 E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1 - 3 (1961- 66).
1. Vom Sinn verfassungsgeschichtlicher Forschung und Lehre
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systematisch aufgebauten, durch einführende Hinweise erläuterten Dokumentation das geschlossene Bild dieser tragischen Verfassungsepoche. Zu den Stücken unverstandener Vergangenheit, die uns hindern, zu staatliclJ.em Selbstverständnis und zu staatlichem Selbstbewußtsein zu kommen, gehört vor allem die Geschichte dieser armen, zerrissenen, an Selbstzerstörung zugrunde gegangenen und doch an Ideen, an Entwürfen, an innerer Bereitschaft zu Wagnis und Opfer so reichen Weimarer Epoche. Nicht für diesen Geschiehtsahschnitt allein, sondern für jede Verfassungsepoche gilt, daß es, um ihren wahren Charakter aufzuschließen, der sachgetreuen Dokumentation bedarf, damit ins Licht gerückt wird, welche Ideen, welclJ.e Interessen, welche Kräfte jeweils im Kampf um gültige Ordnung begriffen sind, wie eine neue Ordnung sich als wirkliche Ordnung durchsetzt, behauptet, wandelt, welchen Angriffen, Gefährdungen, Konflikten sie ausgesetzt ist, wie oft nicht nur der Angriff der Verfassungsfeinde, sondern auch das Versagen der verfassungstreuen Gruppen zum Scheitern der Verfassung führt. In solcher Dokumentation wird das dramatische Ringen der Verfassungskräfte um Selbstbestimmung und Selbstbehauptung, um äußere Reform und innere Erneuerung, um Rettung des Reichs und des Rechts fast noch anschaulicher als in der reflektierenden Beschreibung. Die Dokumentation verzichtet auf Ursachenforschung, auf Situationsanalyse, auf Norminterpretation; aber sie wirkt um so stärker durch die Unmittelbarkeit, mit der sie Situationen, Konflikte und Aktionen gegenwärtig macht. Es ist der Sinn verfassungsgeschichtlicher Dokumentation, nicht nur Quellen für die wissenschaftliche Lehre und Forschung zugänglich zu machen, sondern zugleich dem gebildeten oder bildungsbedürftigen Laien die Möglichkeit zur unverstellten Information über vergangene Verfassungsepochen zu bieten, die uns brennend nahe und in vielem doch unbekannt sind. Der Entmythologisierung bedürfen wir auf allen Gebieten des Wissens und der Bildung. Vielleicht am stärksten ist das_ Geschichtsbewußtsein der Gefährdung durch glorifizierende, dämonisierende oder diffamierende Mythen ausgesetzt. Wenn es gelänge, durch verfassungsgeschichtliche Dokumentation etwas zum Abbau wirklichkeitsverfremdender Legenden im Bereich der vergangenen Verfassungsepochen beizutragen, so wäre eine der Hauptaufgaben verfassungsgeschichtlicher Forschung und Lehre erfüllt.
A. Zur Verfassungstheorie der Weimarer Zeit 2. VerfaBSung und Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt I. Föderalismus, Pluralismus, Polykratie Von den drei Kapiteln der Schrift Carl Schmitts "Der Hüter der Verfassung" 1 trägt das mittlere die Uberschrüt "Die konkrete Verfassungslage der Gegenwart". Es soll "den konkreten Verfassungszustand des heutigen deutschen Reiches" durch drei Begriffe charakterisieren, nämlich durch die Begrüfe Pluralismus, Polykratie und Föderalismus. Es handelt sich dabei um "drei voneinander unterscheidbare, auf verschiedenen Gebieten des staatlichen Lebens verschieden hervortretende Entwicklungserscheinungen unserer staatsrechtlichen Verhältnisse", die durch den "Gegensatz gegen eine geschlossene und durchgängige staatliche Einheit" verbunden sind. "Das Wort Föderalismus - so umschreibt Schmitt diese drei Begrüfe - soll hier nur das Neben- und Miteinander einer Mehrheit von Staaten .zum Ausdruck bringen, das innerhalb einer bundesstaatliehen Organisation besteht; hier steht eine Pluralität von staatlichen Gebilden auf staatlidlern Boden. Pluralismus dagegen bezeichnet eine Mehrheit fest organisierter, durch den Staat, d. h. sowohl durch verschiedene Gebiete des staatlichen Lebens, wie auch durch die territorialen Grenzen der Länder und die autonomen Gebietskörperschaften hindurchgehender sozialer Machtkomplexe, die sich als solche der staatlichen Willensbildung bemächtigen, ohne aufzuhören, nur soziale (nichtstaatliche) Gebilde zu sein. Die Polykratie endlich ist eine Mehrheit autonomer Träger der öffentlichen Wirtschaft, an deren Selbständigkeit der staatliche Wille eine Grenze findet." Kennzeichnend für die Funktion dieser drei Erscheinungen im Staate ist ihre Stellung gegenüber dem Staatswillen: "Der Pluralismus bezeichnet die Macht mehrerer sozialer Größen über die staatliche Willensbildung; die Polykratie ist möglich auf dem Boden einer Herausausnahme aus dem Staat und einer Verselbständigung gegenüber dem staatlichen Willen; im Föderalismus kommt beides zusammen: Einßuß auf die Willensbildung des Reichs und Freiheit vom Reiche in der Sphäre eigener Unabhängigkeit und Selbständigkeit1 .'' t
I
Carl Schmitt, Der Hüterder Verfassung (1930); im HdV, S. 71 f.
Fol~den
zitiert: HdV.
2. Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Carl Scbmitt
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Wenn diese Kennzeichnung der "konkreten politischen Situation", die Schmitt mit zahlreichen und ausführlichen Einzelangaben und Daten erläutert und belegt, hier zum Ausgangspunkt einer verfassungstheoretischen Betrachtung gemacht werden soll, so muß dabei dahingestellt bleiben, ob Schmitts Darstellung zutreffend und vollständig ist. Es kann sich für diese Skizze nur darum handeln, zu ergründen, in welchem Sinne überhaupt ein derartiger "Verfassungszustand" Gegenstand einer Verfassungstheorie sein kann. Dabei ist zunächst zu fragen, welches denn das Verhältnis eines solchen "Verfassungszustandes" zur "geschriebenen" Weimarer Verfassung ist. Eine flüchtige Vergleichung mit dem Verfassungstext zeigt, daß die drei genannten Erscheinungen in einer ganz verschiedenen Beziehung zur Weimarer Verfassung stehen. Der Föderalismus ist eines der wesentlichen Elemente der Weimarer Verfassung selbst; sie hat die Länder als staatliche Einheiten aufrechterhalten und ihnen eben die von Schmitt beschriebene Stellung ("Einfluß und Freiheit") zugewiesen. Die Polykratie ist nicht in diesem Sinne von der Verfassung geordnet; doch sind die wichtigsten Träger dieser Polykratie, die Gemeinden, durch die Gewährleistung der Selbstverwaltung (Art.l27 RV.) besonders gefestigt und sind andere Erscheinungen der Polykratie, die Sozialversicherungsverbände, durch die Festlegung des Reichs auf "ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten" (Art.l61 RV.) mit einer gewissen Garantie umgeben. Immerhin widerspricht die durch eine solclle Aufspaltung der staatlichen Funktionen gekennzeichnete Polykratie der von der Verfassung gewollten Einheit, so daß sich hier gewisse Kräfte unter dem Schutz der Verfassung gegen die Verfassung wenden. Der Pluralismus schließlich ist eine Auflösung und Zersetzung der verfassungsmäßigen Einheit des Staates; er ist eine unmittelbar gegen die Weimarer Verfassung gerichtete Tendenz innerhalb der politischen und sozialen Gruppen. Wenn nun in der Tat, wie Schmitt ausführt, Polykratie und Pluralismus den heutigen Verfassungszustand darstellen, so wird offenbar problematisch, welches denn eigentlich die geltende Verfassung ist: der geschriebene Text der Weimarer Verfassung oder diese realen Entwicklungserscheinungen des staatlichen Lebens. Und damit taucht das Kernproblem jeder Verfassungstheorie auf, die Frage danach, ob überhaupt eine Verfassung in dem Sinne "gelten" kann, daß sie als Norm dauernde Grundlage und fester Beziehungspunkt des staatlichen Lebens ist, ob es also Verfassungsrecht gi'bt, oder ob die Verfassung nicht vielmehr die wandelbare und ständig wechselnde politische Struktur, also die Verfassungswirklichkeit ist, in der eine Nation sich befindet.
A. Zur Verfassungsth~orie der Weimarer Zeit
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Diese Frage, die von Schmitt niemals ausdrücklich formuliert und beantwortet worden ist, erscheint doch als das immanente Problem seiner "Verfassungslehre", die er in ihrem systematischen Aufbau in seinem Hauptwerk dargestellt hat3 und deren weiterer Durchdringung seither eine Reihe seiner größeren und kleineren Arbeiten gewidmet sind.
ll. Der Begriff der Verfassung Wesentlich ist in erster Linie, welcherVerfassungsbegriffeinerechten Verfassungstheorie zugrunde liegen kann. Eine Staatstheorie, für die die Verfassung nichts anderes ist als eine Zusammenstellung von Rechtssätzen, in denen das Funktionieren des staatlichen Apparates, das Handeln der staatlichen Organe, das Tätigwerden der staatlichen Behörden seine rechtliche Grundlage findet, für die die Verfassung also ein "Gesetz" bedeutet, von dem das rechtliche ~schehen im Staate sich in legitimer Folge ableitet, kennt eine besondere Verfassungslehre nicht. Die Verfassung ist für diese Theorie ein ~setz neben anderen Gesetzen und damit der Gesetzgebung selbst unterworfen, wenn auch in der Regel für "Verfassungsgesetze" ein besonderes Verfahren vorgesehen ist. Die Verfassung ist ausschließlich Gegenstand des positiven Staatsrechts, das die Formen der Verfassungsgebung zu behandeln und den Inhalt der gegebenen Verfassung zu ermitteln hat. "Entwicklungserscheinungen des staatlichen Lebens" liegen außerhalb des Blickfeldes einer solchen "rein juristischen" Betrachtung. Wird die Verfassung zum Gegenstand einer besonderen und selbständigen Theorie, die sich als Verfassungslehre von der Allgemeinen Staatslehre wie vom positiven Staatsrecht unterscheidet, so ist damit vorausgesetzt, daß die Verfassung mehr als ein Gesetz ist, sei es auch ein Gesetz von besonderer formaler Kraft. So hat Schmitt es denn auch abgelehnt, diesen von ihm sogenannten "relativen Verfassungsbegriff" zum Gegenstand der Verfassungstheorie zu machen'. Er unterscheidet von diesem relativen den "absoluten Verfassungsbegriff", in dem die Verfassung ein ideales oder reales Ganzes bedeutet5 • Dabei lehnt er die Vorstellung der Verfassung als eines geschlossenen idealen Systems reiner Normativität als in sich unmöglich ab, weil sie auf dem entschwundenen Glauben an "die metaphysischen Voraussetzungen des bürgerlichen Naturrechts" beruht8 • Als existentielle Einheit bezeichnet 1
Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928);
' VL. S. 11 ff. 5 VL. S . 3. • VL. S. 10!.
im Folgenden critiert: VL.
2. Verfassung und Verfassung)swirklichkeit bei Carl Schmitt
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die Verfassung "die konkrete, mit jeder politischen Einheit von selbst gegebene Daseinsweise"; sie ist entweder "der konkrete Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung" des Staates und dann mit dem Staat identisch; oder sie bezeichnet "die konkrete Art der Überund Unterordnung" im Staate und ist dann die "Form der Herrschaft", die zu jedem Staat gehört; oder sie bedeutet "das Prinzip des dynamischen Werdens der politischen Einheit" 7 • Während in den beiden ersten Bedeutungen die Verfassung ein "Status" ist, ist sie in der dritten Bedeutung etwas Entstehendes und Werdendes, sich Erneuerndes und Vergehendes; sie ist "Integration" in dem von RudoZf Smend beschriebenen Sinn8 • Der Verfassungsbegrüf, der Gegenstand der Verfassungstheorie Schmitts ist, ist, wie er angibt, nicht dieser absolute Verfassungsbegrüf in einer seiner verschiedenen Ausprägungen, sondern der "positive Verfassungsbegriff". Verfassung bezeichnet hier die "Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit"'. Die Verfassung ist als Entscheidung ein einmaliger bewußter Willensakt. Sie setzt ein willens- und handlungsfähiges Subjekt voraus; das bedeutet, daß die politische Einheit, deren "Form und Art", deren "besondere Gesamtgestalt" durch die Verfassungsentscheidung bestimmt werden soll, selbst diese Entscheidung fällt, also ·bereits vorher vorhanden ist. Die Verfassung ist "eine Entscheidung, welche die politische Einheit durch den Träger der verfassunggebenden Gewalt für sich selber trifft und sich selber gibt" 10•
m. Der Akt der Verfassungsgestaltung In dieser Begrüfsbestimmung der Verfassung ist einmal jede rein normative Betrachtung der Verfassung verworfen - die Verfassung hat als reale Einheit eine Existenz und ist kein bloßes Sollen. Diese Definition wendet sich zum anderen gegen die dynamische Auflösung der Verfassung- die Verfassung hat als einmalige Entscheidung einen klaren Inhalt und kann nur durch eine neue bewußte Entscheidung aufgehoben oder abgeändert werden. Ist mit dieser prinzipiellen Abgrenzung von Theorien rein normativer und rein dynamischer Prägung der Standort Schmitts deutlich bestimmt, so scheinen mir in der Definition der Verfassung als "Entscheidung" einige Unklarheiten gegeben, 7 VL. S. 4!. s Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) S . 18. 11 VL. S. 20. 1o VL. S. 21.
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A. Zur Verfassungstheorie der Weimarer Zeit
die es zu beseitigen gilt. Zunächst ist, wenn man eine rein dynamische Betrachtung ablehnt, notwendig, die Verfassung als etwas Dauerndes zu bezeichnen. Sie ist daher nicht "Wille" und nicht "Entscheidung"; sie ist nicht ein Entstehungsvorgang, sondern der durch einen solchen Vorgang entstandene Zustand. So behandelt denn Schmitt selbst in einem besonderen Abschnitt die "Entstehung der Verfassung11 ; es ist dort gesagt, daß die Verfassung durch die "Entscheidung des Subjekts der verfassunggebenden Gewalt" entsteht, nicht daß sie diese Entscheidung ist. Damit stellt Schmitt seine ursprüngliche Definition selbst dahin richtig, daß die Verfassung auf einer Gesamtentscheidung beruht; sie ist nicht diese Entscheidung selbst, sondern das, was durch diese Entscheidung gestaltet worden ist. Aber auch in dieser Abwandlung ist die Definition nicht ganz zutreffend, wie sich aus den Ausführungen Schmitts am gleichen Orte und im folgenden Abschnitt ergibt12• Es ist dort gesagt, daß eine Verfassung außer auf einer einseitigen Entscheidung auf einem "Vertrag" beruhen kann. Als Beispiele sind der Bundesvertrag in einem Bundesstaat und der Verfassungsvertrag in einer konstitutionellen Monarchie genannt. Dabei wird allerdings darauf hingewiesen, daß nur im ersten Fall ein echter Vertrag (zwischen mindestens zwei bestehenden und fortbestehenden Parteien, die beide Subjekt der verfassunggebenden Gewalt sind) vorliegt, während es sich im zweiten Fall um eine "unechte Verfassungsvereinbarung" handelt, bei der ein Kompromiß gegeben ist, der den Konfliktsfall unentschieden läßt (weil es im Rahmen einer politischen Einheit nicht mehrere Subjekte der verfassunggebenden Gewalt geben kann). In beiden Fällen liegt offenbar auch nach der Auffassung Schmitts keine "Entscheidung" vor, im ersten Fall nibei Konjunkturüberhitzung die staatliche Lenkung notwendig werden kann, sei es auch zunächst nur in der Form einer von Sanktionsdrohungen begleiteten Mahnung zum "Maßhalten", zur gesamtwirtschaftlich motivierten Disziplin. Sechstens: Gesetzliche Maßnahmen wettbewerbsbeschränkenden Charakters sind schließlich zulässig, wo überragende Forderungen des Gemeinwohls eine besondere staatliche Wirtschaftsaufsicht notwendig machen, durch die. in Wirtschaftszweigen von ausgeprägtem Gemeininteresse, vor allem im Versicherungs-, Kredit- und Verkehrsgewerbe nicht nur die Gefahr von Mißbräuchen und anderen Störungen abgewehrt, sondern zugleich das Funktionieren unter Rücksicht auf die Gesamtinteressen sichergestellt wird. Die Tätigkeit der Behörden der Versicherungs-, Banken- und Verkehrsaufsicht geht über die A!bwehr und Verhütung von Störungen, also über "Gefahrenarbwehr", weit hinaus. Sie hat den Charakter einer planenden und ordnenden Aufsicht, ohne die daß Gemeinwohl nicht gewahrt werden könnte. 3. Die Vertragsfreiheit
Dem geltenden Wirtschaftsverfassungsrecht gehört der Grundsatz der Vertragsfreiheit zu, obwohl er, anders als in der Weimarer Reichsverfassung88, im Bonner Grundgesetz nicht ausdrücklich genannt ist. Daß seine heutige Geltung sich gleichfalls kraft der Ableitung aus der Entfaltungsfreiheit des Art. 2 Abs.1 ergibt, wird in der Regel nicht mehr bestritten. Das Gegenargument, Art. 2 Abs. 1 habe es mit einem hohen ethischen iPrinzip, aber nicht mit so nüchtern-profanen Dingen wie der Vertragsfreiheit zu tun37, verkennt, wie unmittelbar gerade die Vertragsfreiheit eine Ausstrahlung des Prinzips der persönlichen Autonomie ist, das in Art. 2 Abs. 1 Ausdruck ge:tunden hat. Auch die These, im Rahmen der Entfaltungsfreiheit besitze die Wettbewel'!bsfreiheit den Vorrang vor der Vertr.agsfreiheit, deren Garantie sei also ausgeschaltet, wo sie mit der Garantie der Wettbewerbsfreiheit kollidiert38, wird dem s& Über den Art.1512 Albs. 1 WRV: Heinrich Stoll, Vertragsfreiheit (in: H. C. Nipperdey, Grundrechte und Grundpfl.ichten, Bd. 3, 1930, S. 174 ff.). 37 Harold Rasch, Kartellver.bot und Grundgesetz (WuW 11955 S. 667 ff.).
10. Der Streit um das Wlirtschaftsverfassungsrecht
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Sachverhalt nicht gerecht. ·Die aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleiteten Einzelfreiheitsrechte h~ben untereinander gleichen Rang. Im Kollisionsfall hängt der Vorrang des einen oder anderen davon ab, was überragende Forderungen des Gemeinwohls gebieten. Wie alle in der Entfaltungsfreiheit enthaltenen tEinzelrechte, so ist auch die Vertragsfreiheit nur durch die drei Vorbehalte des Art. 2 Abs. 1 begrenzt38 • Sie kann also nur durch Gesetze eingeschränkt werden, die dem Schutz der Rechte Anderer, des Sittengesetzes oder der verfassungsmäßigen Ordnung dienen. Anders als früher nach Art. 152 Abs. 1 WRV ist die Vertragsfreiheit heute dagegen nicht mehr dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterworfen'0. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 18. Februar 1955 zwar anerkannt, daß die Vertragsfreiheit zu den in Art. 2 Abs.1 mitenthaltenen Grundrechten gehört, jedoch ausgeführt, sie sei nicht nur durch die drei Vorbehalte des Art. 2 Abs. 1 GG, sondern auch durch den allgemeinen Gesetzesvorbehalt beschränkt41 • Diese Behauptung stützt das Bundeverwaltungsgericht auf ein argumentum a maiore ad minus. Nach Art. 2 Abs. 2 GG sei der Gesetzgeber zu Eingrüfen in die elementaren Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person kraftdes allgemeinen Gesetzesvorbehalts befugt ; er sei bei solchen 'Eingrüfen nur durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG .g ehemmt. Die Vertragsfreiheit als ein Rechtsgut geringeren Ranges könne nicht stärker als diese elementaren Rechtsgüter geschützt sein; sie sei daher gleichfalls dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt bis hin zur Grenze der Wesensgehaltsgarantie unterstellt. Diese Schlußfolgerung wird jedoch der gegebenen verfassun·gsrechtlichen Lage nicht gerecht. Erstens stößt die These des Bundesverwaltungsgerichts, und zwar offenbar nicht nur für die Vertragsfreiheit, sondern für alle aus der allgemeinen Entfaltungsfreiheit folgenden Freiheitsrechte, z. B. auch für die Wettbewerbsfreiheit, die Entscheidung des Grundgesetzes um, nach der Eingriffe in den durch Art. 2 Abs. 1 geschützten •Bereich nur gemäß den drei Sondervorbe'halten, nicht gemäß einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt statthaft sind. Nur gegenüber den "elementaren Rechtsgütern" des Abs. 2 sind die Entfaltungsrechte des Abs.l (auch die Wettbewerbsfreiheit) "Rechtsgüter minderen Ranges". Das argumentum a maiore ad minus wäre nur zur Klärung eines zweüe1haften Verfassungswortlauts zulässig. 'Es darf dagegen nicht benutzt werden, um eine klare Entscheias So H. C. Nipperdey, a.a.O . S. 19 f.
Insoweit zutreffend H. C. Nipperdey, a .a .O . S . 11. Anders vor al:lem Hans Wiirdinger, Freiheit der persönlichen Entfal·t ung, Kartell- und Wetllbewer.bsrecht (Wru.W 1953 S. 723). «t NJW 1955 S. 962 ff. at
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D. Verfassungsstaat und W.j,rtschaftsverfassung
dung des Grundgesetzes, die eine Begrenzung der Entfaltungsfreiheit nur nach Maßgabe der drei dem Schutz der "elementaren Rechtsgüter" dienenden Sondervorbehalte gestattet, durch richterliche Entscheidung zu korrigieren. Zweitens aber sind die "elementaren Rechtsgüter" des Art. 2 A:bs. 2 nicht schlechthin dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt ausgeantwortet, sondern durch zusätzliche Verfassungsnormen gesichert {Art. 102, 104 GG). Das Leben z. B. ist nach dem Grundgesetz keineswegs nur durch eine dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterworfene Gewährleistung, also durch eine "leerlaufende Garantie", geschützt. Es ist somit die Prämisse irrig, aouf die das Bundesverwaltungsgericht seine Argumentation gründet. Damit fällt aber die .ganze Schlußfolgerung in sich zusammen. Die Unterstellung der Vertragsfreiheit unter die drei Sondervorbehalte des Art. 2 Abs. 1 läßt ziemlich weitgehende gesetzliche Eingriffe zu, und zwar sowohl was die Abschlußfreiheit als auch was die Inhaltsfreiheit angeht. Die drei Vorbehalte legitimieren z. B. bei entsprechender Sachlage folgende Eingriffe in die Vertragsfreiheit: a) die Einführung eines Kontrahierungszwangs für Unternehmen der öffentlichen Hand, die der "Daseinsvorsorge" dienen, oder für privatwirtschaftliche Monopolunternehmen; ob) die Einführung von Anbietungs-, Ablieferungs- und Weiterveräußerungspflichten für Waren, für die in Krisenzeiten eine öffentliche Bewirtschaftung eingeführt wird;
c) die Festsetzung von Höchst-, Mindest- und Festpreisen, die bei A:bschluß von Verträgen über Waren oder Leistungen verbindlich sind, sofern das Gemeinwohl eine Preisregulierung zwingend erfordert; d) die Einführung eines Zwangs-Moratoriums für die Erfüllung vertraglicher Ansprüche oder einer Zwangs-Konversion zur Herabsetzung der Zins- und Tilgungsraten aus Anleihe- oder Darlehnsverträgen, sofern überragende Gesamtinteressen solche Maßnahmen zwingend verlangen; e) die Unterwerfung von Verträgen unter ein behördliches Genehmigungs- oder Beanstandungsrecht, wiederum unter der Voraussetzung, daß überragende Forderungen des Gemeinwohls einen solchen Eingriff unabdingbar gebieten. Nach diesen Grundsätzen bemißt sich auch, welchen gesetzlichen Beschränkungen der Abschluß von Kartellvereinbarungen unterworfen werden kann. Daß wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen horizontaler oder vertikaler Art, insbesondere also Kartellverträge und Reverse über die Preisbindung der zweiten Hand, an und für sich an dem Verfassungsschutz teilhaben, den die Vertragsfreiheit gemäß Art. 2 Abs.1
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GG genießt, kann füglieh nicht bestritten werden. Niemand steht außerhalb der Verfassung in dem Sinn, daß sein Verhalten anders als nach den Maßstäben der Verfassung beurteilt und verurteilt werden könnte. Fraglich kann allein sein, ob die drei Schutznormen des Art. 2 Abs. 1 es gestatten, wettbewerbsbeschränkende Verträge einem generellen Verbot mit individuellem Erlaubnisvorbehalt zu unterwerfen, oder ob kraft dieser Schutznormen nur eine generelle Erlaubnis mit individuellem Verbotsvorbehalt im Mißbrauchsfall zulässig ist. Das Verbotsprinzip setzt die Nichtigkeit von Kartellverträgenkraft der Verfassung selbst voraus; das Mißbrauchsprinzi.p .tührt zur Vernichtbarkeit von Kartellverträgen bei konkret festgestelltem Verstoß gegen das Sittengesetz, die Rechte Anderer oder die verfassungsmäßige Or-dnung. Um die Verein:barkeit eines generellen Verbots von Kartellverträgen mit Art. 2 Abs. 1 darzutun, bedarf es in der Tat der Zuflucht zu dem Satz, Art. 2 Abs. 1 räume im Kollisionsfall der Wettbewerbsfreiheit den Vorrang vor der Vertragsfreiheit ein'2• Aber dieser Satz ist unhaltbar. Nur durch Prüfung des Einzelfalls kann entschieden werden, ob in der konkreten Situation der Kartellvertrag und die auf ihn gestützten Beschlüsse und Maßnahmen das Gemeinwohl .gefährden oder aber ihm gerade dienlich sindta. 4. Die wirtsdlaftlidle Vereinigungsfreiheit
Art. 9 Abs. l GG verbürgt die Vereinigungsfreiheit auch für wirtschaftliche Vereinigungen aller Art. Dies kann nicht mit dem Hinweis widerlegt werden, dem Gesetzgeber müsse unbenommen sein, ·die Errichtung, Auflösung und Organisation der Wirtschaftsgesellschaften (AG, GmbH usw.} durch Gesetz zu regeln. Gewiß stellt der Staat durch das Gesellschafts- und Genossenschaftsrecht die Rechtsformen bereit, deren Benutzung jedermann bei Erfüllung der gesetzlichen Normativbestimmungen gestattet ist. Insbesondere stellt er die Voraussetzungen für den Erwerb und Verlust der Rechtsfähigkeit fest, wobei ihm auch unbenommen ist, sich nach Zweckmäßigkeit für das Registersystem oder das Lizenzierungssystem zu entscheiden. Die Vereinigungsfreiheit wird durch solche Organisationsgesetze nicht beschränkt; im Gegenteil: sie wird durch diese staatlichen Vorkehrungen erst zu einem .praktikabeln Recht. Durch keine der gesellschafts-und genossenschaftsrechtlichen Bestimmungen wird das Recht der Einzelnen beschränkt, sich zu beliebigen tt Vgl. H. C. Nipperdey, a.a.O. S. 20, wo ausgeführt ist, jeder Kartellvertrag stoße per se gegen die verfassungsmäßige Ordnung, was sich nur dadurch begründen läßt, daß diese irriger Weise mit dem absolut gesetzten Wettbewerbsprinzip identifiziert wird. " Vgl. E. R. Huber, Verfassungsproblematik eines Kartellverbots S. 10 ff.
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D. Verfassungsstaat und Wirtschaftsverfassung
wirtschaftlichen rZwecken zusammenzuschließen, um ihre ,vereinten Kräfte wirtschaftlich einzusetzen. Weder nach der !Entstehungsgeschichte noch nach dem Sinngehalt istdie Vereinigungsfreiheit ausschließlich politischen, kulturellen und geselligen Vereinigungen vo11behalten. Art. 9 A:bs. 1 gehört vielmehr zu den Wirtschafts-Grundrechten der Verfassung. Die wirtschaftsverfassungsrechtliche ·Bedeutung des Art. 9 Abs.l besteht darin, daß das wirtschaftliche Assoziationswesen im weitesten Sinn unter den Grundsatz der Organisationsfreiheit gestellt wird. Es ergeben sich daraus drei Folgerungen: Grundsätzlich verboten ist der vom Staat oder von .gesellschaftlichen Kollektivmächten ausgeh~mde Organisationszwang {Grundsatz der negativen Vereinigungsfreiheit); gewährleistet ist das Recht zum freien Zusammenschluß zu wirtschaftlichen Gesellschaften und Genossenschaften, zu Unternehmenszusammenfassungen mit Vereinigungscharakter und zu wirtschaftlichen Interessenverbänden (Grundsatz der positiven Vereinigungsfreiheit); gewährleistet ist damit auch das Recht, sich zu wirtschaftlichen Vereinigungen beliebigen Zwecks zusammenzuschließen {Grundsatz der freien Wahl des Vereinigungszwecks). Die Freiheit der Wahl des Vereinigungszwecks ist der sachliche Kern der Vereinigungsfreiheit. Man kann das Recht zur Wahl beliebiger Vereinigungszwecke als materielle Vereinigungsfreiheit ·bezeichnen, im Unterschied zur formellen Vereinigungsfreiheit, die dann das Recht zum organisatorischen Zusammenschluß und das Verbot des Organisationszwangs umfaßt. In der Kartelldiskussion der vergangenen Jahre ist allerdings .gerade diese materielle Vereinigungsfreiheit geleugnet worden; das Kartellverbot sei kein Verstoß gegen die Vereinigungsfreiheit, weil mit ihm nicht in die Freiheit der Vereinsbildung eingegriffen, sondern nur die Verfolgung bestimmter Vereinszwecke untersagt werde«. In Wahrheit gewährleistet Art. 9 Abs.l die Vereinigungsfreiheit nicht nur in dem formellen Sinn, daß alle das Recht haben, einen Verein zu gründen und mit Organen auszustatten, sondern zugleich in dem materiellen Sinn, daß alle das Recht besitzen, sich der Möglichkeit des organisatorischen Zusammenschlusses zu frei bestimmten Zwecken zu bedienen. Die Vereinigungsfreiheit wäre sonst eine Schale o'hne Kern, ein inhaltsleeres nudum jus. •Eine Organisationsfreiheit ohne das Recht zur freien Wahl des Vereinigungszwecks wäre ein Recht ohne Substanz und damit in Wahrheit keine Vereinigungsfreiheit mehr. Daß Art. 9 A:bs.l nicht nur die formelle, sondern auch die materielle Vereinigungsfreiheit .gewährleistet, wird durch Art. 9 Abs. 2 bestätigt, der drei bestimmte Zweckrichtungen von der Vereinigungsfreiheit ausnimmt {die Verfolgung von Zwecken, die mit der Völkerverständigung, den Strafgesetzen 44
Hans Würdinger, a.a.O. S . 723.
10. Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht
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oder der verfassungsmäßigen Ordnung unvereinbar sind). Diese Aufzählung der verbotenen Zweckrichtungen ist erschöpfend; aus anderen als den .genannten Gründen 'kann die Verfolgung bestimmter Vereinigungszwecke nicht untersagt werden. Auch die Vereinigungsfreiheit ist keinem allgemeinen Gesetzesvorbehalt mehr unterworfen, sondern nur den drei Sondervorbehalten des Art. 9 Abs. 2, deren wichtigster - entsprechend dem Art. 2 Abs. 1 - der Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung ist. E!.n gesetzliches Vereinigungsverbot auch gegenüber wirtschaftlichen Organisationen ist verfassungsrechtlich {abgesehen von den Fällen eines Verstoßes gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder die Strafgesetze) nur statthaft, wenn eine Vereinigung nach Zweck oder Tätigkeit die verfassungsmäßige Ordnung verletzt. Gleichviel ob man die Verfassungsmäßigkeit eines Kartellverbots an der Garantie der Vertragsfreiheit oder an der Garantie der Vereinigungsfreiheit mißt, im Kern steht stets die Frage, ob Kartelle mit der verfassungsmäßigen Ordnung vereinbar sind oder nicht. Eine vorurteilsfreie Antwort kann nur lauten, daß dies sich generell nicht entscheiden läßt. Ob Kartellvereinigungen die verfassungsmäßige Ordnung stören und deshalb an der Vereinigungsfreiheit nicht teilhaben, sondern gemäß Art. 9 Abs. 2 ipso jure verbotene Vereinigungen sind, läßt sich nur nach den Umständen des Einzelfalls ·beurteilen, also nach der konkreten wirtschaftlichen Situation, in der sie gebildet werden, nach den Verhältnissen des Wirtschaftszweigs, dem sie angehören, nach dem spezifischen Kartellzweck, den sie verfolgen, nach dem Grad der Kartellmacht, der sich in ihnen verkörpert, nach der Art und Intensität des Kartellzwangs, den sie gegenüber Mitgliedern, Außenseitern, Lieferanten und Abnehmern in Anspruch nehmen. Die Beurteilung des Einzelfalls aber kann in einem gewaltenteilenden Staat nicht Sache der Legislative, sondern nur Sache der Verwaltung sein. Auch vom Grundsatz der Vereinigungsfreiheit her ist ein Kartellverbot daher nur erlaubt, wenn es von der Verwaltung ausgesprochen wird, nachdem sie auf Grund gehöriger Pr.üfung im Einzelfall einen Verstoß des Kartellzwecks oder der Kartelltätigkeit .gegen ·die verfassungsmäßige Ordnung festgestellt hat. Somit ergibt sich auch aus Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2, daß verfassungsrechtlich kein Verbotsgesetz, sondern nur ein Mißbrauchsgesetz zulässig ist. 5. Die Berufs- und Gewerbefreiheit
Die in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Berufsfreiheit hat einen erheblich weiteren Umfang als die früheren Schutzbestimmungen zugunsten der Gewerbefreiheit. Erstens ist die Freiheit der Berufswahl und Berufsausübung nicht mehr auf die gewerblichen Berufe beschränkt, sondern umfaßt auch die 16 Huber
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D. Verfassungsstaat und Wi.rtschaftsverfassun·g
nicht-gewerblichen, insbesondere die "freien" Berufe, deren Freiheit allerdings kraft eines Herkommens, -das Art. 12 Abs. 1 nicht angetastet hat, in den Hauptfällen, nämlich denen des Anwalts und Arztes, mit einer besonderen öffentlichen Pflichtenstellung verbunden ist. Die "freien Berufe" sind gerade auch "öffentliche Berufe" in diesem spezifischen Sinn46. Zweitens ist die Freiheit -der Berufswahl und Berufsausübung nicht mehr auf die selbständigen Berufe begrenzt; sie gilt vielmehr auch für die abhängigen Berufsstellungen, umfaßt also auch die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer, was Art. 12 Abs. 1 und 2 für die freie Wahl der Ausbildungsstätte und des Arbeitsplatzes wie durch das Vel'bot des Arbeitszwangs ausdrücklich hervorhebt. eitnehmerorganen gegenÜberGesellschaftsbeschlüssen gewählt wirdu. Der Sache nach handelt es sich in beiden Grundmodellen um die Aufrichtung von halböffentlicher Gewalt kollektiver Organisationen über Einrichtungen der Privatwirtschaft. Denn auch wenn Großunternehmen Gebilde von "öffentlicher Bedeutung" sind2 ' , ändert da'S nichts an ihrer privatrechtliehen Natur. Vieles Privatrechtliche hat öffentliche !Erheblichkeit. Es mag sich daraus die Notwendigkeit der Staatsaufsicht ergeben. Dagegen läßt die Unterwerfung privatrechtlicher Einrichtungen unter die Macht gesellschaftlicher Kollektivorganisationen sich durch den Hinweis auf die "öffentliche Bedeutung" der betroffenen Gebilde nicht rechtfertigen. Denn sonst könnte jeder gesellschaftliche Freiheitsbereich von halbwegs erheblichem Rang unter Berufung auf seine öf22
Vgl. E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht (2. Aufl. 1.953/5-4), Bd. 2
s. 379 ff.
23 Vgl. E. R. Huber, Grund·gesetz und wirtschaftliche Mitbestimmung, S. 15 ff., 17 ff. 2c Vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre (1964), S. 418 und dazu E. R. Huber, a.a.O. S. 87 f.
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D. Verfassungsstaat und Wirtschaftsverfassung
fentliche Relevanz der Kontrollmacht sozialer Gegengewalten ausgeantwortet werden --ein Prozeß, der nicht zur Rettung der Freiheit, sondern zum Ende der Freiheit führen würde. Ein Direktions- und Kontrollsystem der mit der erweiterten wirtschaftlichen Mitbestimmung vor.gesch1agenen Art wird seit dem Aufkommen der auf gesellschaftspolitische Umg-estaltung gerichteten Bewegungen des 19. Jahr!hunderts typologisch als Syndikalismus bezeichnet. Von PieTTe Joseph Proudhon Ibis Georges SoreZ wird unter dem Namen "Syndikalismus" die Überführung der Bestimmungsmacht über das wirtschaftliche Eigentum in die Hand von Arbeitn-ehmerorganisationen ("Syndikaten") gefordert26• Stets gilt dabei das syndikalisierte wirtschaftliche Eigentum als der eigentliche Sitz auch der politischen Macht. Die Syndikalisierung der Wirtschaftsmacht wird nicht nur als die Vorbereitung, sondern bereits als der entscheidende Durchbruch zur Syndikalisierung der Staatsmacht verstanden. Die Syndikate hoffen, mittels der Eroberung der wirtschaftlichen Macht auch die politische Macht ergreifen zu können; um dies IZU rechtfertigen, geben sie vor, daß die wirtschaftliche Macht schon bisher, also in privaten Händen, in Wahrheit politische Macht sei. Jedenfalls ist Syndikalismus keine modifizierte Form der auf Freiheit und Wettbewerb gegründeten Privatwirtschaft; vielmehr führt er zur politischen Herrschaft kollektiver Interessenverbände über Wirtschaft und Staat. Zwar liegt der Einwand nahe, daß der eigentliche Syndikalismus die uneingeschränkte Macht von Arbeitnehmerorganisationen über die gesamte Wirtschaft bedeute, während es sich bei der erweiterten wirtschaftlichen Mitbestimmung nur um eine partielle Kontrollgewalt der Arbeitnehmerorganisationen über Teilbereiche der Wirtschaft handele. Doch ergibt sich aus den entscheidenden Anfängen -einer auf die gesellschaftspolitische Machtveränderung gerichteten Konzeption notwendig der Charakter des eingeleiteten Prozesses. Der Teil-Syndikalismus ist V'Om Voll-Syndikalismus nur quantitativ, nicht qualitativ unterschieden. Daher würde in der historischen Entwicklung auch die Syndikalisierung der Großunternehmen nur eine erste Stufe sein, der sich nach der Logik der Sache eine Stufenfolge weiterer Syndikalisierungsakte anschließen würde, ·b is am Ende die hegemoruale Bestimmungsmacht über alle Schlüsselpositonen der Wirt26 Dazu Bertrand Russell, Roads to freedom (1918), dt. unter dem Titel: Wege zur Freiheit. Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus (197!1); Robert GoetzGirey, La pensee syndicale francaise (1948); George Douglas Howard Cole, A History of C)ocialist Thought (1953- 60); Georges Lefranc, Le syndicalisme dans le monde (1949); derselbe, Le mouvement syndical sous la Troisieme Republique (1967); Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus 1918-23 (1969); Henri Dubuif, Le syndicalisme revolutionaire. Textes choisis (1969); F. F . Ridley, Revolutionary Syndicalism in France. The direct action of its time (1970).
11. Wirtschaftliche Mitbestimmung im Verfassungsstaat
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schaft hergestellt wäre. "Syndikalismus" ist eben nicht nur in der Form der revolutionären "direkten Aktion", sondern auch in der Form der hegemonialen 'Bestimmungsmacht von Verbänden oder "Räten" über Wirtschaft, Gesellschaft und Staat möglich. VI. Die gewerkschaftliche Unternehmenskontrolle und die Aufgaben von Volksvertretung und Regierung in der parlamentarischen Demokratie Zur Begründung der erweiterten wirtschaftlichen Mitbestimmung wird im Zusammenhang solcher Erwägungen oft das Argument benutzt, in der modernen Industriegesellschaft h31be der Bereich der Großunternehmen und Konzerne ohnedies den Charakter einer marktwirtschaftliehen Einrichtung eingebüßt. Mit der Konzentration wirtschaftlicher Macht in der Hand der Großunternehmen und Konzerne sei die Grenze der freiheitlich-individuellen Daseinsgestaltung durch Leistungswettbewerb überschritten. Es sei eine "Vermachtung" der Wirtschaft eingetreten, mit der die moderne Unternehmensverfassung ihren wettbewerbswirtschaftlichen und damit ihren freiheitlichen ("privaten") Charakter verloren habe. Die Großunternehmen und Konzerne stünden als gesellschaftliche Machtkomplexe zwischen öffentlicher und privater Wirtschaft, also im Zwielicht der Halböffentlichkeit; die Voraussetzungen, unter denen sie an den Frei'heitsgai'Iantien des Grundgesetzes teilnehmen könnten, seien durch diese Entwicklung zerstört. Durch die Einführung der erweiterten wirtschaftlichen Mitbestimmung unterwerfe das Gesetz diese halböffentlichen Machtkomplexe einer zum Schutz der Freiheit gegen ihren Mißbrauch gebotenen Kontrollgewalt. Die erweiterte wirtschaftliche Mi1fbestimmung rechtfertigt sich nach d:eser Auffassung als gewerkschaftliche Unternehmenskontrolle zur Abwehr des Mißbrauchs privatmonopolistischer, aber in den Bereich des "institutionell Öffentlichen" a'Usstrahlender Wirtschaftsmacht. Die dieser polemischen Argumentation zugrunde liegende düstere Zeichnung .der "vermachten Monopolwirtschaft" spiegelt die Wirklichkeit des bestehenden Wirtschaftssystems gewiß nicht zutreffend w:der. Gleichwohl mag unter bestimmten VoraU\Ssetzungen die Gefahr eines Mißbrauchs der in Großunternehmen organisierten Wirtschaftsmacht hervortreten. In solchen Situationen, in denen d:e Gefahr eines Mißbrauchs der privatwirtschaftliehen Unternehmensmacht sich abzeichnen kann, besitzt die Staatsgewalt die verfassungsrechtliche Befugnis und Ve!'lpflichtung, gesetzliche Vorkehrungen zur Abwehr des drohenden Mißbrauchs zu treffen26 • Doch wie auch immer man über den gebotenen 26 Vgl. E. R. Huber, Die Verfassungsproblematik eines Kartellverbots (1955); ferner: Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht (oben Studie Nr. 10), Abschn. IV Ziff. 2, 3 und 4 (S. 232 ff.).
19 Huber
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D. Verfassungsstaat und Wirtsc.~aftsverfassung
Umfang und die sachgerechten Grenzen einer solchen durch Staatsgesetz eingeführten Kontrolle des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen denken mag, es ist sicher, daß in einem parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaat kompetente Träger einer solchen Wirtschaftskontrolle nur die politisch verantwortlichen Staatsorgane, nicht aber die Organe außerstaatlicher Interessenorganisationen sein können. Die Abwehr des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen ist, wie dies seit dem ersten Aufkommen solcher Machtgebilde in der modernen Industriewirtschaft in allen kritischen Untersuchungen .anerkannt ist, eine in politischer Verantwortlichkeit und in rechtlichen Grenzen auszuübende Staatsfunktion. In einer parlamentarischen Demokratie ist der legitime Träger einer solchen hoheitlichen Kontrollfunktion der durch seine verfassungsmäßigen Organe handelnde Staat. Die Zuständigkeit zur Abwehr eines Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen kann daher nur bei der demokratischen Volksvertretung, der von dieser albhängigen Regierung und den gesetzlich vorges~henen Verwaltungs- oder Gerichtsorganen liegen. Die verfassungrechtliche Legitimität der in solcher Weise geschaffenen Vorkehrungen zur Abwehr des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen ergibt sich aus der demokratischen Wahl des Parlaments, aus der Unterwerfung der ·Regierung unter die Parlamentskontrolle und aus der Bindung der Verwaltungs- und Gerichtsorgane an das parlamentsbeschlossene Gesetz. Nur eine Kontrolle durch die verfassungsmäßig eingesetzten parlamentarisch-demokratischen Organe entspricht den Grundsätzen des Verfassungsstaats, nach denen der in allgemeinen Wahlen berufenen Volksvertretungdie höchste politische Kontrollgewalt im Gemeinwesen vorbehalten ist. Die Folge der mit der erweiterten wirtschaftlichen Mitbestimmung begründeten gewerkschaftlichen Kontrollmacht a'ber würde gerade die Verdrängung des Staats ~aus seiner wirtschaftspolitischen Zuständigkeit und Verantwortlichkeit sein. Wie eng oder wie weit auch immer man den Bereich der wirtschaftlichen Zuständigkeit und Verantwortlichkeit der staatlichen Gesetzgebungs- und Regierungsgewalt verfassungsrechtlich ziehen mag, es ist gewiß, daß die staatliche Legislative und Exekutive auch in einem Verf.assungssystem, das auf der prinzipiellen Gewährleistung der Freiheit der Wirtschaft 'beruht, in den existentiellen Fragen der wirtschaftlichen Ordnung und Entwicklung ein unverzichtbares Entscheidungsrecht besitzen und .zugleich einer unaufhebbaren Verantwortung unterliegen müssen. In einem Wirtschaftssystem, das in der Gesamtheit seiner Großunternehmen und Großkonzerne durch die staatlich unkontrollierbare Kontrollmacht der Gewerkschaften bestimmt wäre, würde diese verfassungsrechtliche Kompetenz und Ver·a ntwortlichkeit der obersten Staatsorgane aufgehoben sein. Dies wäre jedoch mit den Grundsätzen des parlamentarisch-demokratischen Verfassungs-
11. Wirtschaftliche Mitbestimmung im Verfassungsstaat
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staats unvereinbar. Unter der 'Motivation, eine "Vermachtung" der Wirtschaft abzuwehren, fände hier erst recht eine "Vermachtung", wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen statt. Während der parlamentarischdemokratische Verfassungsstaat verlangt, daß die Kompetenz zur Kontrolle privatwirtschaftlicher Machtstellungen dem Parlament und der Regierung als den politisch legitimierten und politisch verantwortl'chen Staatsorganen vor'beha'lten wird, würde die erweiterte wirtschaftliche Mitbestimmung zur Ausantwortung der Kontrollkompetenz an die Vertreter von Kollektivorganisationen führen, die kraft der Autonomie ihrer Stellung jeder verfassungsmäßigen Verantwortung entzogen sind. Fehlgriffe bei der AusUbung der Kontrollgewalt könnten weder durch die Entfesselung einer öffentlichen Parlamentsdebatte, noch durch ein Mißtrauens- oder Mißbilligungsvotum gegenüber einem verantwortlichen Regierun·gschef oder Regierungsmitglied gerügt werden. Bekanntlich ist der moderne Verfassungsstaat auch in anderen Bereichen dadurch gefährdet, daß durch eine Verlagerung von Herrschaftskompetenzen an außerstaatliche Instanzen das verfassungsmäßige Zuständigkeits- und Verantwortlichkeitssystem ausgeschaltet wird. Auch bei der erweiterten wirtschaftlichen Mitbestimmung fände dort, wo sie nach der Motivation ihrer Befürworter zur Abwehr des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen dienen soll, eine Verlagerung staatlicher Kontrollfunktionen an Kollektivorganisationen statt, die der staatl:chen Zuständigkeits- und Verantwortlichkeitsordnung entrückt und die daher für diese Aufgaben verfassungsrechtlich nicht qualifiziert sind. Die Gewerkschaften sind verfassungsmäßig legitimierte Organisationen im Rahmen der ihnen durch das Grundgesetz zugewiesenen Funkt'on der Wahrung der SCJIZialen Interessen ilhrer Mitglieder (Art. 9 Abs. 3 GG). Dagegen besitzen sie keine verfassungsmäßige Legitimation zur Ausübung staatlicher Kontrollaufgaben außerhalb ihres sozialpolWschen Aufgabenbereichs. Insbesondere fehlt ihnen die verfassungsmäßige Legitimation zur Ausübung einer staatlich delegierten Kontrollmacht gegenüber wirtschaftlichen Unternehmen, die ihnen als soziale Gegenspieler gleichgestellt sind und daher ihrer Hegemonie nicht unterworfen werden dürfen. Mit der Delegation einer solchen Kontrollfunktion an kollektive Interessenorganisationen gäbe daher das Parlament als oberstes verfassungsmäßig legitimiertes Staatsorgan unverzichtbare Kompetenzen aus der eigenen Hand und aus der Hand der von ihm abhängigen Regierungs- und Verwaltungsorgane. Wenn die erweiterte wirtschaftliche Mitbestimmung, wie oft betont wird, den Sinn ha:ben soll, die mitbestimmenden Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten mit der Aufgabe auszustatten, im Interesse der Gesamtheit den Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen zu verhüten, dann entzieht sie dem Parlament 19*
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D. Verfassungsstaat und Wirtschaftsverfassung
als der höchsten demokratisch legitimierten und verantwortlichen Institution ein Machtbefugnis, die nur ihm und den seiner Kontrolle unterworfenen Regierungs- und Verwaltungsorganen, aber nicht einer kollektiven Interessenorganisation zustehen kann. Insoweit enthebt das Parlament durch Einführung der erweiterten wirtschaftlichen Mitbestimmung sich selbst einer ihm durch die Verfassung anvertrauten Funktion. Zu den obersten Grundsätzen eines demokratischen Verfassungsstaats aber gehört, daß der Träger der gesetzgebenden Gewalt die ihm zukommenden Aufgaben und Verantwortlichkeiten nicht im Weg der gesetzlichen Delegation an außerstaatliche Instanzen abtreten darf, die seiner Kontrolle entzogen sind. Die staatlichen Zuständigkeiten umfassen nicht die Kompetenz zum Kompetenzverzicht. Durchaus zutreffend hat Martin Bullinger ausgeführt, daß der Staat sich -bei der ihm zum Schutz öffentlicher Interessen obliegenden Staatsaufsicht über die Wirtschaft zwar der Mithilfe von Verbänden bedienen kann, daß dabei jedoch die Gefahr einer Mediatisierung der auf diese Weise kontrollierten Unternehmen durch die mit Kontrollgewalt ausgestatteten Verbände entsteht; um diese mit den Grundsätzen des Verfassungsstaats wie des Rechtsstaats unvere~nbare Mediatisierung der Einzelunternehmen durch die Verbandsmacht zu verhüten, müsse die Staatsaufsicht mit Hilfe von Verbänden durch die Staatsaufsicht ilber die Verbände ergänzt werden27• Das bedeutet jedoch, daß der Staat sich zur Mithilfe bei der Staatsaufsicht über die Wirtschaft nur solcher Verbände bedienen darf, die er seiner spezifischen Staatsaufsicht unterwerfen kann. Die Gewerkschaften sind jedoch durch die ihnen gewährleistete Autonomie der Staatsaufsicht entzogen. Sie können vom Staat daher nicht mit einer im öffentlichen Interesse auszuübenden Aufsichtsgewalt ausgestattet werden. Wer selbst der staatlichen Aufsichtsgewalt entzogen ist, kann nicht im Weg der Delegation mit staatlicher Aufsichtsgewalt gegenüber Dritten beliehen werden. Mit Recht 'hat auch Werner Flume zum Problem der wirtschaftspolitischen Kontrolle der "Macht des Wirtschafts~Managements" festgestellt: "SchLießlich ist es die Sache der Wirtschaftspolitik der Regierung, daß sich die Entscheidungen in den Unternehmungen der Wirtschaftspolitik der Regierung einfügen. Man darf eben nur nidlt vergessen, daß es die Sache der Regierung ist, auch wirklich im Bereich der Wirtschaftspolitik zu regieren. Dieses Regieren steht jedoch wirklich nur der Regierung, nicht dem Management der Großunternehmen, nicht den Wirtschaftsverbänden, aber auch nicht den Gewerkschaften zu. Zum Kontrollieren der Ausübung ·v on W-irtschaftsmacht haben die Gewerkschaften der Möglichkeiten genu·g. Die Sachlogik der
!7
So Martin Bullinger, Staatsaufsicht in der Wirtschaft (VVDStRL, Heft 22,
1965),
s. 307.
11. Wirtschaftliche Mitbestimmung im Verfassungsstaat
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qualiftzierten Mitbestimmung geht aber, ·gleich ob dies beabsichtigt ist, dahin, nicht zu kontrollieren, sondern selbst Mamt auszuüben, zu regieren28 ."
Hinzuzusetzen ist nur, daß das mit der erweiterten wirtschaftlichen Mitbestimmung notwendig verbundene Regime des Gewerkschafts-Managements nicht nur die Regierung, sondern auch die Volksvertretung ihrer verfassungsrechtlichen Funktion an einer entscheidenden Stelle enthebt. Der Einwand, der Regierung wie der Volksvertretung bleibe es in einem System der erweiterten wirtschaftlichen Mitbestimmung unbenommen, auch gegenüber !den mitbestimmten Organen der Großunternehmen auf die oberste staatliche Entscheidungsmacht zurückzugreifen, wäre schwerlich ein Zeugnis großer Wirklichkeitserfa:hrung. In Wahrheit wäre die Entscheidung der erweitert mitbestimmten Aufsichtsräte und der entsprechend zusammengesetzten Vorstände, hinter denen die Macht der Gewerkschaften steht, für die staatliche Legislative unrl Exekutive praktisch unantastbar. Die der erweiterten wirtschaftlichen Mitbestimmung unterworfenen Unternehmen wären wirklich "mediatisiert", nämlich durch die Kontrollmacht der Gewerkschaften der unmittelbaren staatlichen Einwirkung entzogen. So wie sich im Sozialbereich der Satz von der Unantastbarkeit der Tarifautonomie der Verbände praktisch als eine verfassungsrechtliche Maxime durchgesetzt hat, obwohl der Art. 9 Abs. 3 GG kein Wort darüber enthält und der gleichlautende Art. 156 WeimRV von niemandem in diesem Sinn verstanden worden ist, so WÜI'Ide im Wirtschaftsbereich, wenn die erweiterte wirtschaftliche Mitbestimmung erst einmal für die Gesamtheit .der Großunternehmen durchgesetzt worden ist, unvermeidbar eine Autonomie der durch die erweiterte wirtschaftliche Mitbestimmung vermittelten gewerkschaftlichen Wirtschaftsmacht entstehen, durch die die Staatskontrolle de facto ausgeschaltet sein wÜI'Ide. :Das aber wäre das Ende jeder aktiven Wirtschaftspolitik des parlamentarisch-demokratischen Staats. Versuche einer Staatsintervention in den erweitert mitbestimmten Unternehmensbereich würden auf den impermeablen Autonomieanspruch der Gewerkschaften, ähnlich wie er sich in der Sozialverfassung durchgesetzt hat, stoßen. Nur in Krisenzeiten würde die Staatshilfe gefordert werden. Die wirtschaftspolitische Kompetenz des Staats wül'lde auf das "Recht" zur Staatssubvention zugunsten notleidend gewordener mitbestimmter Unternehmen und Unternehmenszweige beschränkt sein. Die Methode der Staatssubvention ohne Staatskontrolle erhielte in einem System erweitert mitbestimmter Wirtschaft einen staatspolitisch, ,wirtschaftspolitisch und verfassungsrechtlich .gleichermaßen bedenklichen Auftrieb. Die erweiterte wirt2s Werner Ftume, Die Forderung der Gewerkschaften auf Erweiterung der qualifizierten Mitbestimmung (DB 1967, 294 ff., bes. 300).
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D. Verfassungsstaat und Wirtschaftsverfassung
schaftliehe Mitbestimmung würde in ihrer effektiven Wirkung nicht nur die Depossedierung der privaten Anteilseigner und der als Unternehmensträger tätigen Gesellschaften .aus ihrer gesellschaftsrechtlichen Selbstbestimmung und aus ihrem Eigentum, sondern auch die Depossedierung des parlamentarisch-demokratischen Staats aus seinen verfassungsrechtlichen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten bedeuten.
E. Verfassungsstaat, Kulturstaat und Kulturverfassung 12. Zur Problematik des Kulturstaats I. Rechtsstaat, Sozialstaat, Kulturstaat Das Vorhaben, von der Problematik des Kulturstaats zu sprechen, setzt Klarheit darüber voraus, welcher Begriff des vieldeutigen Worts "Kulturstaat" solcher Rede zugrunde liegen soll. Diese Klärung des Begriffs aber stößt schon in die Mitte der Problematik des Kulturstaats hinein. Ja, man darf sagen, daß in der zulänglichen Definition bereits das Ganze der Problematik des Kulturstaats sich enthüllt. Eben deshalb wäre es vermessen zu meinen, der Begriff "Kulturstaat" lasse sich in einer knappen Betrachtung hinreichend bestimmen. Trotzdem wollen wir wagen, wenigstens den Anfang mit der Frage nach dem zu machen, was der Kulturstaat sei. Denn von der Antwort hängt zu einem guten Teile ab, was überhaupt der Staat uns Heutigen noch bedeuten kann. Das Wort "Kulturstaat" ist eines jener beziehungsreichen und in sich fragwürdigen, das heißt des Fragens bedürftigen und würdigen Doppelworte wie Machtstaat oder Wohlfahrtsstaat, Rechtsstaat oder Sozialstaat. Das 19. Jahrhundert hat diese Kunstworte geprägt, um sein Verhältnis zu einer bestimmten Art von Staatlichkeit durch Kampfansage oder Bekenntnis zu offenbaren. Die um politische Selbstverwirklichung in der Form des bürgerlichen Verfassungsstaats ringende Gesellschaft setzt sich im 19. Jahrhundert polemisch von dem als Machtstaat oder Wohlfahrtsstaat definierten Herrschaftsgefüge der absoluten Monarchie ab; sie umschreibt die eigene bürgerli