125 115 47MB
German Pages 508 Year 1976
BETRIEBSJUSTIZ
STRAFRECHT UND KRIMINOLOGIE Untersuchungen und Forschungsherichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freihurg im Breisgau herausgegeben von den Direktoren Prof. Dr. Dr. h. c. H.·H. J escheck und Prof. Dr. G. Kaiser
Band 1
Betriebsjustiz Untersuchungen über die soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens in Industriebetrieben
Herausgegeben von Günther Kaiser und Gerhard Metzger-Pregizer
DUNCKER & HUMBLOT / BERLI N
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Betriebsjustiz: Untersuchungen über d.
soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens in Industriebetrieben / hrsg. von Günther Kaiser u. Gerhard Metzger-Pregizer.1. Auf!. - Berlin: Duncker und Humblot, 1976. (Strafrecht und Kriminologie; Bd. 1) ISBN 3-428-03715-4 NE: Kaiser, Günther [Hrsg.]
Verfasser:
J ohannes Feest Uta Krautkrämer Gerhard Metzger-Pregizer Richard Rosellen Rupert Scholz Michael Schönhals Marta Schönhals-Abrahamsohn Ekkehard Schulz Theo Vogler Ulrich Baumann (Exkurs)
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1976 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Prlnted In Germany
© 1976 Duncker
ISBN 3 428 03715 4
Geleitwort der Herausgeber Eine Einrichtung, die der Forschung auf den Gebieten der Strafrechtsvergleichung und Kriminologie dient, bedarf auch eines angemessenen Organs zur Veröffentlichung der umfangreichen Untersuchungsergebnisse. Herausgeber und Verlag haben sich daher entschlossen, die Schriftenreihe "Strafrecht und Kriminologie" zu schaffen und mit dem Band über die "Betriebsjustiz" der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorzustellen. Beiträge über "Ordnungswidrigkeiten", "Dunkelfeldkriminalität", "Affekt und Schuld", "Private Anzeigeerstattung", "Schwereeinschätzung von Delikten", "Funktion und Tätigkeit der Staatsanwaltschaft", "Wirtschaftskriminalität", "Geldstrafe" sowie "Behandlung und Prognose" werden folgen. Damit können die in dieser Reihe erscheinenden Abhandlungen als ein wesentlicher Teil des Ertrages der Institutsarbeit gelten. Vornehmlich sollen hier die Berichte der Kriminologischen Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts sowie die gemeinsamen Untersuchungen der Strafrechtlichen und der Kriminologischen Forschungsgruppe veröffentlicht werden. Dem Ziel der Integration der beiden Arbeitsgruppen folgt nicht erst die Auswahl von Forschungsprojekten, die ebenso für Rechtsvergleichung wie für Kriminologie fruchtbar sind, sondern schon das wissenschaftliche Programm*, das in den Schriften dieser Reihe seinen Ausdruck findet. Bei alledem sind sich Herausgeber und Autoren bewußt, daß das Forschungsprogramm von Projekt zu Projekt ständig neu erarbeitet und eingelöst werden muß. Auch verkennen sie nicht, daß die angestrebte Zielsetzung nicht immer und überall so verwirklicht werden kann, wie dies zu wünschen ist. Doch sind sie fest von der Notwendigkeit überzeugt, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen und durch interdisziplinäre Teamarbeit zu erfüllen. Weil die Untersuchungen den Arbeitsfeldern der Strafrechtsvergleichung und der Kriminologie entstammen, sind sie durchweg komparativ angelegt und interdisziplinär orientiert. Die kriminologischen Forschungsberichte folgen Fragestellungen, welche den unfruchtbaren Streit zwischen Täterorientierung und Instanzenanalyse hinter sich lassen zugunsten einer integrierenden Sichtweise. Auch sollen die Be• Siehe dazu die Beiträge der Herausgeber in der Schrift "Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg im Breisgau", Freiburg 1975.
VI
Geleitwort der Herausgeber
dürfnisse der Gesetzgebung ebenso wie der Praxis in Polizeiwesen, Strafrechtspflege und Strafvollzug mitberücksichtigt werden, ohne sich unkritisch der Praxis auszuliefern. Daß und wie sehr interdisziplinäre Forschung, wenn sie ernst genommen wird, noch immer einem riskanten Unternehmen gleicht, wird sich auch in den Untersuchungen und Forschungsberichten dieser Reihe äußern. Gleichwohl sind wir das Wagnis bewußt eingegangen. Wir sind davon ausgegangen, daß der zu erwartende Ertrag den Einsatz lohnt. Freiburg im Breisgau, im Mai 1976 H.-H. Jescheck
G. Kaiser
Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................ XIII Verfasserübersicht nach Kapiteln ........... ',' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. XVI Wissenschaftliche Mitarbeiter des Forschungsprojektes ................ XVII Abkürzungsverzeichnis ..... , ........................................ XVIII
Empirischer Teil 1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens
1
1.1 "Betriebsjustiz" als Begriff und soziale Erscheinung ............ 1.1.1 Begriffsbestimmung ....................................... 1.1.2 Abgrenzung der Betriebskriminalität von der Wirtschaftskriminalität ...............................................
1 1 3
1.2 Betriebsjustiz als soziale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
1.3 Bisheriger Erkenntnisstand ..................................... 1.3.1 Untersuchungen über Betriebskriminalität und Betriebsjustiz 1.3.1.1 Deutsche Erhebungen .............................. 1.3.1.2 Ausländische Untersuchungen ...................... 1.3.1.3 Studien über Gesellschaftsgerichtsbarkeit in der sozialistischen Gesellschaft .............................. 1.3.2 Problemstand der Betriebssoziologie zu abweichendem Verhalten im Betrieb .............................. '," . " . . . .. 1.3.3 Problemstand der Betriebspsychologie zu abweichendem Verhalten im Betrieb .... ' ....... ,......................... 1.3.4 Kritische Zusammenfassung ...............................
5 5 6 12
1.4 Forschungslücken und Notwendigkeit neuer Untersuchungen. . . .. 1.4.1 Repräsentative Verteilung ................................. 1.4.2 Organisation der Betriebsjustiz ............................ 1.4.3 Einstellung der Beteiligten zur Betriebsjustiz .............. 1.4.4 Vergleich betrieblicher und staatlicher Systeme der Normdurchsetzung ..............................................
19 20 20 21
1.5 Problemstellung und Konkretisierung des Untersuchungsziels .. ..
22
14 15 17 17
21
1.6 Arbeitshypothesen .............................. ',' . . . . . . . . . . . ..
26
1.7 übersicht über den Forschungsbericht
27
2. Methode und Ablauf der Untersuchung .............................
29
2.1 Vorbemerkungen ..............................................
29
VIII
Inhaltsverzeichnis
2.2 Beschreibung der drei Untersuchungsphasen .................... 2.2.1 Betriebsenquete ........................................... 2.2.2 Hauptstudie ........................... . ................ . . 2.2.3 Arbeitnehmeruntersuchung ............... . ........... . .... 2.2.3.1 'Qualitative Studie ................................. 2.2.3.2 Quantitative Studie ................................ 2.2.4 Methodische Probleme der Datenerhebung ..................
30 30 34 39 39 41 44
2.3 Zusammenfassung .............................................
46
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz - Ergebnisse der BetriebsEnquete .................. .......................................... 48 3.1 Registrierung von Verstößen (einschließlich Betriebskriminalität) .
48
3.2 Registrierte Täter ..............................................
52
3.3 Kontrolleinrichtungen ....................... ',' . . . . . . . . . . . . . . . ..
53
3.4 Ordnungs- und Disziplinarmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
56
3.5 Sanktionsorgane .............................. . ................
57
3.6 Sanktionspraxis ................................................
59
3.7 Betriebliche Reaktionsmuster .... . ......................... '.' . ..
61
3.8 Zusammenfassung ..............................................
64
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz ......................
68
4.1 Soziale Kontrolle im Industriebetrieb ............ ',' . . . . . . . . . . . .. 4.1.1 Kontrollmaßnahmen und Kontrollhäufigkeit ............... 4.1.2 Präventivmaßnahmen gegen abweichendes Verhalten im Betrieb ................................................ '," 4.1.3 Kontrollorgane ............................................ 4.1.4. Kontrollstile und Kontrollsystem ..........................
68 69
4.2 Verfahren bei der Betriebsjustiz ................................ 4.2.1 Aufdeckung und innerbetriebliche Meldung von Delikten und Verstößen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4.2.2 Untersuchungen von bekanntgewordenen Verstößen ........ 4.2.3 Entscheidungskompetenzen ................................. 4.2.4 Verfahrensnormen .........................................
79 80 84 85 89
4.3 Organisationsstruktur der Betriebsjustiz ........ "............... 4.3.1 Verselbständigung ........................................ 4.3.2 Formalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4.3.3 Mitbestimmung ...........................................
94 94 96 98
73 75 78
4.4 Zusammenfassung .............................................. 101
5.
Rel?~.trierung, Anzeigebereitschaft und Dunkelfeld bei Betriebskriminahtat ..................... " ....................................... 105
5.1 Dimensionen betrieblicher Kriminalität ......................... 105
Inhaltsverzeichnis
IX
5.2 Registrierte betriebliche Verstöße ................... . .......... 107 5.2.1 Umfang und Struktur betrieblicher Verstöße ............... 107 5.2.2 Erfragte Anzeigebereitschaft und das Anzeigeverhalten von Betrieben gegenüber der Polizei ........................... 111 5.3 Innerbetriebliches Dunkelfeld .......................... . ....... 5.3.1 Umfang des innerbetrieblichen Dunkelfeldes ............... 5.3.2 Struktur des Dunkelfelds am Beispiel des Diebstahls ...... 5.3.3 Erklärungsansätze zum Dunkelfeld ........................
115 117 123 125
5.4 Zusammenfassung ............................................. 130 6. Täter betriebUcher Verstöße ............ . ...... . .................... 133
6.1 Soziale Tätermerkmale ......................................... 6.1.1 Geschlecht der registrierten Täter .. , .............. '.' . . . . . .. 6.1.2 Altersverteilung der registrierten Täter .................... 6.1.3 Nationalität der registrierten Täter ........................
135 135 138 143
6.2 Betriebsbezogene Tätermerkmale ............................... 6.2.1 Dauer der Betriebszugehörigkeit .......................... 6.2.2 Berufliche Position ........................................ 6.2.3 Ersetzbarkeit und Beliebtheit 6.2.4 Gewerkschaftsmitgliedschaft ..............................
148 148 152 155 156
6.3 Situationsspezifische Tätermerkmale ............................ 6.3.1 Vorbelastung der registrierten Täter ....................... 6.3.2 Geständnis, Reue, Wiedergutmachung ...................... 6.3.3 Schadenshöhe .............................................
158 158 161 164
6.4 Zusammenfassung und Folgerungen ............................ 167 7. Betriebliche Sanktionierung ........................................ 173
7.1 Sanktionskatalog .......................... . .................... 174 7.2 Praxis betrieblicher Sanktionspolitik ..... . ................ . ..... 7.2.1 Sanktionsverzicht ......................................... 7.2.2 Innerbetriebliche Maßnahmen ............................. 7.2.3 Auflösung des Arbeitsverhältnisses ........... ',' ........... 7.2.4 Einschaltung staatlicher Strafverfolgungsorgane ............
180 182 184 190 198
7.3 Zusammenfassung und Folgerungen ............................ 203 8. Einstellungen von Arbeitnehmern zur BetriebskriminaUtät und Betriebsjustiz .......................................................... 210
8.1 Problemstellung und Methode .................................. 210 8.2 Einstellungen von Arbeitnehmern - eine qualitative Arbeitnehmerstudie ................................. ',' ................... 212 8.2.1 Die "Nicht-Existenz" von Kriminalität im Betrieb .......... 212
x
Inhaltsverzeichnis 8.2.2 "Illegitimität" im Betrieb ................................. 8.2.2.1 Das Nebeneinander von zwei Norm-Ebenen ......... 8.2.2.2 Die Inhalte der Norm-Ebenen ...................... 8.2.2.3 Die Eigentumsdelikte .............................. 8.2.2.4 Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit anderer ... 8.2.2.5 Beeinträchtigung der Arbeitsatmosphäre ............ 8.2.3 Reaktionen auf abweichendes Verhalten ................... 8.2.3.1 Selbstregulation und Selbsthilfe .................... 8.2.3.2 Grunde gegen das Melden .......................... 8.2.4 Die Ebene des tatsächlichen Verhaltens .................... 8.2.5 Zusammenfassung ........................................ 8.3 Einstellungen von Arbeitnehmern - eine quantitative Arbeitnehmerstudie ....................... .............................. 8.3.1 Einschätzung abweichenden Verhaltens im Betrieb ......... 8.3.2 Betriebs- und personenspezifische Unterschiede der Meldeneigung ................................................... 8.3.3 Informationen und Einstellungen von Arbeitnehmern zur betrieblichen Sanktionspolitik ............................. 8.3.4 Zusammenfassung ........................................
215 215 215 216 218 219 220 220 221 225 228 230 231 234 239 243
8.4 Vergleichende Zusammenfassung beider Arbeitnehmer-Befragungen ............................................................ 243 9. Vergleichende Analyse der Normdurchsetzung durch Betriebsjustiz und Straf justiz - Versuch eines Systemvergleichs ................... 247
9.1 Fragestellung und methodische Probleme der vergleichenden Analyse ....................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 247 9.2 Betriebsjustizielle und strafjustizielle Normenkataloge .......... 252 9.3 Organisation der Kont.rolle und Kontrollmaßnahmen ............ 257 9.3.1 Organisation der Kontrolle und Kontrollintensität ......... 258 9.3.2 Kontrollmaßnahmen und Kontrollintensität ................ 261 9.4 Sanktionierung durch Betriebsjustiz und Straf justiz: Organisation und Verfahren ................................................. 263 9.4.1 Organisation der Sanktionierung .......................... 264 9.4.2 Verfahren der Sanktionierung ............................. 270 9.5 Verhalten von Normadressaten, Verlauf und Ergebnisse von Sanktionsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... 9.5.1 Tat- und Täterstrukturen ...................... '.' ......... 9.5.2 Dunkelfeldbereiche und Normkonformität ................. 9.5.3 Verlauf und Ergebnisse von Sanktionsverfahren ...........
274 274 277 278
9.6 Zusammenfassung ............................................. 283 10. Zusammenfassung und kriminalpolitische Folgerungen .............. 286
10.1 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 286 10.1.1 Organisation und Verfahren ............................. 286 10.1.2 Häufigkeit von innerbetrieblichen Normverstößen und Dunkelfeld .............................................. 289
Inhal tsverzeichnis 10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.1.6
Täterstruktur Innerbetriebliche Sanktionierung ........................ Einstellungen von Arbeitnehmern ....................... Nonndurchsetzung bei Betriebsjustiz und Strafjustiz ......
XI 291 295 297 300
10.2 überprüfung der Arbeitshypothesen ........................... 302 10.3 Kriminalpolitische Folgerungen ................................ 306 10.4 Fragenkomplexe und Ausblick für weitergehende Forschungen 309
Juristischer Teil 11. Die rechtliche Ordnung der Betriebsjustiz ........................... 311
11.1 Grundstrukturen und rechtliche Grundproblematik der Betriebsjustiz ......................................................... 11.1.1 Allgemeines ............................................. 11.1.2 Entstehungsgeschichtliche Aspekte der Betriebsjustiz . . . .. 11.1.3 Systematischer Standort und rechtliche Kritik der Betriebsjustiz ............................................. 11.2 Rechtsgrundlagen der Betriebsjustiz ............... . .... . ...... 11.2.1 Betriebsjustiz kraft Gewohnheitsrechts? ............. . ... 11.2.2 Betriebsjustiz kraft kollektiven Arbeitsrechts? ........... 11.2.2.1 Betriebsjustiz und Tarifvertragsrecht ............ 11.2.2.2 Betriebsjustiz und Betriebsverfassungsrecht ..... 11.2.3 Betriebsjustiz kraft individualen Arbeitsrechts? .......... 11.2.3.1 Betriebsjustiz und arbeitgeberisches Eigentum sowie arbeitgeberisches Direktionsrecht ............ 11.2.3.2 Betriebsjustiz und Arbeitsvertrag ................ 11.2.3.3 Betriebsjustiz und Vertragsstrafe ............ . ... 11.2.4 Zusammenfassung und Folgerung ....................... 11.3 Rechtliche Grenzen der Betriebsjustiz im Verfassungs- und Arbeitsrecht ...................................................... 11.3.1 Betriebsjustiz und staatliche Rechtsprechung ............ 11.3.1.1 Staatliches Rechtsprechungsmonopol und private Gerichtsbarkeit ................................. 11.3.1.2 Betriebsjustiz, gesetzlicher Richter und Sondergericht ............. '.' ........................... 11.3.1.3 Betriebsjustiz und das Verbot der Doppelbestrafung ............................................ 11.3.1.4 Zusammenfassung und Folgerung .... . .......... 11.3.2 Betriebsjustiz im sozialen Rechtsstaat .................... 11.3.2.1 Sozialer Rechtsstaat und Arbeitsrecht ............ 11.3.2.2 Sozialer Rechtsstaat und Rechtsschutzgarantie ... 11.3.2.3 Rechtsstaatliche Verfassungsgarantien in der Betriebsjustiz ...................................... 11.3.3 Betriebsjustiz und Mitbestimmung ......................
311 311 313 315 316 316 318 318 319 329 330 332 332 336 337 337 337 341 342 342 343 343 344 350 354
XII
Inhal tsverzeichnis
12. Betriebsjustiz und Strafrechtspf1,ege ........................ : ........ 356
12.1 Materiell-strafrechtliche Aspekte der Betriebsjustiz ............ 12.1.1 Grundlagen und Grenzen der Betriebsjustiz ............. 12.1.1.1 Grundsätze staatlicher Kriminalpolitik und Betriebsjustiz ..................................... 12.1.1.2 Sachliche, zeitliche und persönliche Schranken der Betriebsjustiz ................................... 12.1.1.3 Allgemeine Strafrechtslehren und Betriebsjustiz .. 12.1.2 Das Sanktionensystem der Betriebsjustiz ................ 12.1.2.1 Rechtsnatur und Zu lässigkeit betriebsjustizieller Sanktionen ..................................... 12.1.2.2 Die einzelnen Sanktionen ....................... 12.1.2.3 Registereintrag und öffentliche Bekanntmachung
356 356 359 363 364 366 366 367 372
12.2 Formell-strafrechtliche Aspekte der Betriebsjustiz ............. 12.2.1 Die Organisation der Betriebsjustiz ...................... 12.2.2 Legalitäts- und Opportunitätsprinzip .................... 12.2.3 Verdachtsgrad und Grundsatz "in dubio pro reo" ........ 12.2.4 Beweisrecht, Verteidigung, rechtliches Gehör, Mündlichkeits- und Öffentlichkeitsgrundsatz, Begründungspflicht .. 12.2.5 Das Wiederholungsverbot ............................... 12.2.6 Rechtsbehelfe und Rechtsweg ...........................
373 373 374 375
12.3 Schlußbetrachtung
379
376 377 378
13. Summary .......................................................... 380
Anhang 1. Exkurs: Arbeitsordnungen 2. Forschungsmaterialien
Formalisierung der Betriebsjustiz ..... 397
............................................. 420
2.1 Fragebogen der Betriebsenquete, Anschreiben und Verweigererfragebogen der Betriebsenquete ................................ 420 2.2 Anschreiben der Hauptstudie, Fragebogen, Listen- und Kartensatz der Hauptstudie ........................................... 428 2.3 Fragebogen der Arbeitnehmerstudie ........... . ................ 456 3. Schrijttums1.'erzeichnis
461
Personenregister
478
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .................................... 483
Vorwort Betriebsjustiz und Betriebskriminalität betreffen ein altes Forschungsthema. Sie liefern seit geraumer Zeit Aufgaben für juristische und empirische Untersuchungen. Schon seit Mitte des letzten Jahrhunderts, besonders jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg, hat man sich mit diesem Gegenstand befaßt, obgleich unter sehr verschiedenen Fragestellungen. Die juristischen Analysen, die sich in den 60er Jahren häufen, stammen sowohl aus dem Strafrecht als aus dem Arbeits- und Verfassungs recht. In dieser langen und breit angelegten Wissenschaftstradition stehen auch Bericht und Ergebnis von Untersuchungen, die hier unter dem Titel "Betriebsjustiz" veröffentlicht werden. Anregungen, die mehr als fünf Jahre zurückreichen und aus dem Kreise des Kuratoriums am MPI stammen, sind aufgegriffen und in ein interdisziplinär angelegtes Forschungsvorhaben umgesetzt worden. Als erste empirische Arbeit der 1970 am MPI gegründeten Forschungsgruppe Kriminologie und als Gemeinschaftsarbeit mit der Strafrechtlichen Forschungsgruppe des MPI kommt der Arbeit zugleich programmatischer Charakter zu. Forschungsgegenstand ist abweichendes Verhalten in Industriebetrieben und dessen innerbetriebliche Erledigung. Damit wird auch ein Ausschnitt des weiten Bereiches der von der Polizei nicht registrierten Rechtsbrüche erfaßt. Die Aspekte der juristischen Würdigung reichen vom Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, dem Arbeits- und Betriebsverfassungsrecht bis hin zum Staatsrecht. Inzwischen wird die Betriebsjustiz in den Bereich rechtspolitischer Überlegungen und Reformbestrebungen einbezogen. Man denke besonders an die aktuellen Fragen der Behandlung von Massen- und Kleinkriminalität, die in diesem Jahr auch den Deutschen Juristentag beschäftigen werden. Nach dem Arbeitsprogramm unseres Hauses besonders wichtig erscheint der Versuch eines Systemvergleiches zwischen der staatlichen Strafrechtspftege und der Betriebsjustiz als Teilsystem privater Verbrechenskontrolle. Fragen der Alternative und Entlastung der Strafjustiz durch solche Subsysteme wie die Betriebsjustiz rücken dabei in den Vordergrund. Es handelt sich also um Aspekte, die im amerikanischen Rechtskreis neuerdings unter dem Stichwort der "diversion" zu einer lebhaften Erörterung im Schrifttum geführt haben. Über die
XIV
Vorwort
bisher regional oder national beschränkten Studien hinaus trägt die Einbeziehung von Untersuchungen aus Belgien, der DDR, aus England, Frankreich, den Niederlanden, Schweden und den USA nicht nur zur Bereicherung des empirischen Wissensstandes, sondern auch zum Systemvergleich bei. Die kriminologischen Aspekte beziehen sich neben den empirischen Analysen zur Organisation und den Handlungsmustern der Betriebsjustiz vor allem auf Umfang und Struktur der Kriminalität einschließlich des innerbetrieblichen Dunkelfeldes. Sie schließen ferner die informellen Ausleseprozesse und die Merkmale der von der Betriebsjustiz registrierten Täter ein. Selbst hier im Bereich der privaten Selektion von Rechtsbrechern begegnen wir Persönlichkeitszügen und -kennzeichen, die uns vergröbert und ausgeprägt von den amtlich als Straftäter registrierten Personen bekannt sind. Wie bei der offiziellen Strafverfolgung wird auch hier bei Eigentumsdelikten die Polizei häufiger eingeschaltet als bei Straftaten gegen die Person. Derartige Verfolgungsmuster setzen sich übrigens von der Einstellung der Bevölkerung bis zur Polizei fort, wie die neuere Forschung zeigt. Auch liefert die Untersuchung aussagekräftige Daten für die Dunkelfeldanalyse. Vor allem die Befragung der Arbeitnehmer nach ihrer Kenntnis von betriebsinternen Normverstößen und nach ihrer Einstellung zur Mitteilung und Anzeige solcher Rechtsbrüche vermittelt neue Einsichten. Informelle Gruppennormen in den Betrieben befinden entscheidend über die Einleitung von Definitions-, Selektions- und Sanktionsprozessen. Ähnlich den gegenwärtigen Befunden der Opferbefragung ergibt auch hier die Addition von entdeckten und nichtentdeckten Taten noch kein geschlossenes Bild der Gesamtkriminalität. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche Perzeptionen und damit Realitäten von Delinquenz. Demgemäß messen die verschiedenen Untersuchungswerkzeuge, sei es offizielle Kriminalstatistik oder sei es Täterbzw. Opferbefragung, auch unterschiedliche Wirklichkeiten des Verbrechens. Die Einzelbefunde und Einsichten reichen nach ihrer Tragweite erheblich über das engere Gebiet von Betriebsjustiz und Betriebskriminalität hinaus. Sie bereichern unser Wissen über die vielfältigen Beziehungen in dem Problemfeld von Verbrechen und Verbrechenskontrolle und können damit als Grundlage rechtspolitischer Bestrebungen dienen. Das einschlägige Schrifttum, soweit es bis zum 1. Mai 1976 erschien, ist berücksichtigt worden.
Vorwort
xv
Planung und Durchführung des Projekts sowie die Abfassung des Forschungsberichts sind in interdisziplinärer Teamarbeit in Angriff genommen und erledigt worden. Allen Mitarbeitern, die Teilberichte und Analysen erarbeitet oder durch Feldforschung und Schreibarbeiten beigetragen haben, möchte ich auch an dieser Stelle danken. Nicht zuletzt gilt mein Dank den Betriebsleitungen, Betriebsräten und Berufsverbänden, die unser Forschungsvorhaben stets hilfreich unterstützt haben, sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die in den Jahren 1971 bis 1974 das Forschungsprojekt in erheblichem Umfang finanziell gefördert hat. Freiburg, den 20. Mai 1976 Günther Kaiser
Verfasserübersicht nach Kapiteln Empirischer Teil: 1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens 2. Methode und Ablauf der Untersuchung 3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz - Ergebnisse der Betriebsenquete 4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz 5. Registrierung, Anzeigebereitschaft und Dunkelfeld bei Betriebskriminalität 6. Täter betrieblicher Verstöße 7. Betriebliche Sanktionierung 8. Einstellungen von Arbeitnehmern zur Betriebskriminalität und Betriebsjustiz 9. Vergleichende Analyse der Normdurchsetzung durch Betriebsjustiz und Strafjustiz Versuch eines Systemvergleichs 10. Zusammenfassung und kriminalpolitische Folgerungen luristischer Teil: 11. Die rechtliche Ordnung der Betriebsjustiz 12. Betriebsjustiz und Strafrechtspflege Anhang: Exkurs: Arbeitsordnungen Formalisierung der Betriebsjustiz
J ohannes Feest Gerhard Metzger-Pregizer Gerhard Metzger-Pregizer Richard Rosellen J ohannes Feest
Gerhard Metzger-Pregizer Johannes Feest Uta Krautkrämer Gerhard Metzger-Pregizer Gerhard Metzger-Pregizer Michael Schönhals Marta Schönhals-Abrahamsohn Uta Krautkrämer Richard Rosellen Ekkehard Schulz
Gerhard Metzger-Pregizer
Rupert Scholz Theo Vogler
Ulrich Baumann
Wissenschaftliche Mitarbeiter des Forschungsprojektes 1. Ständige Projektbetreuung: Johannes Feest, Prof. Dr. (bis Aug. 1974) Gerhard Metzger-Pregizer, Dr. phil., M. A.
2. Mitarbeiter der Forschungsgruppe KriminoZogie: Hansjörg Albrecht, Assessor, stud. phi!. Friedrich Helmut Berckhauer, Assessor Uta Krautkrämer, M. A. Rainer Kupke, M. A. Richard Rosellen, Dr. phi!. Ekkehard Schulz, Gerichtsreferendar Egon Stephan, Dr., Dip!. Psych. Bernd Villmow, Dr. iur., Gerichtsreferendar Brigitte Wehner, Dip!. Psych.
3. Weitere Mitarbeiter: Ulrich Baumann, stud. phi!. Emanuel Finkenwirth, Dr. med. Jörn Kühl, Gerichtsreferendar Hamlet Roth, Gerichtsreferendar Marta Schönhals-Abrahamsohn, Dip!. Psych. Michael Schönhals, Dip!. Psych. Axel Spengler, Gerichtsreferendar, stud. phi!. Werner Wittmann, Dip!. Psych.
4. Juristischer Teil: Rupert Scholz, Prof. Dr. Theo Vogler, Prof. Dr.
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. Abs. AE AfK AJK AJS Anm. AN AO AöR AOG AP Art. ASR AuR Aufl. BAG BAGE BB Bd. BDO bes. BetrVG BGB BGBI BGHZ BJ BjG BKA
BL
Blm BIStSozArbR BR BRV BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE B-W bzw.
anderer Auffassung am angegebenen Ort Absatz Alterna tiventwurf Arbeitskreis für Kommunikationsforschung Arbeitskreis Junger Kriminologen American Journal of Sociology. Chicago Anmerkung Arbeitnehmer Arbeitsordnung Archiv des öffentlichen Rechts. Tübingen Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit v. 20. 1. 1934 (RGBI I S.45) Arbeitsrechtliche Praxis (Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts). München Artikel American Sociological Review. Washington Arbeit und Recht. Zeitschrift für die Arbeitsrechtspraxis. Köln Auflage Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Der Betriebsberater. Heidelberg Band Bundesdisziplinarordnung besonders Betriebsverfassungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Betriebsjustiz Betriebsjustizgesetz Bundeskriminalamt Betriebsleitung Belegschaftsmitglieder Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht. Berlin Betriebsrat Betriebsratsvorsitzender Drucksachen des Deutschen Bundestags Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Baden-Württemberg beziehungsweise
ca.
cirka
DB DeI.
Der Betrieb. Düsseldorf Delikte
Abkürzungsverzeichnis
XIX
ders. df d.h. dies. DöV DVBl
derselbe degree of freedom (Freiheitsgrad im statistischen Sinne) das heißt dieselben Die öffentliche Verwaltung. stuttgart Deutsches Verwaltungsblait. Köln
ed. EGGVG et al. etc. evtl.
edited Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz etalii et cetera eventuell
FAZ FB f., ff. FN
Frankfurter Allgemeine Zeitung Fragebogen fortfolgende Fußnote
GewO GG gg.
Gewerbeordnung Grundgesetz gegen gegebenenfalls Gewerkschaftliche Monatshefte. Köln Gerich tsverfassungsgesetz
ggf.
GMH GVG h.M. Hrsg. HS HwbKrim
herrschende Meinung Herausgeber Hauptstudie Handwörterbuch der Kriminologie und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften. Berlin, Leipzig
i. d. F.
in der Fassung Industrie- und Handelskammern im eigentlichen Sinne
J. JBeitrO Jg. JR JResCrim
Jahre Justizbei treibungsordnung Jahrgang Juristische Rundschau. Berlin Journal of Research in Crime and Delinquency. Hackensack, N.J. Juristische Dissertation Juristische Schulung. München Juristenzeitung. Tübingen
IHK i. e. S.
Jur. Diss. Ju JZ k.A. Kat. Kap. KJ KKW KrimJ KZfSS
keine Angaben Kategorie Kapitel Kritische Justiz Kleines Kriminologisches Wörterbuch. Freiburg Kriminologisches Journal. München Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Köln, Opladen
LAG lit.
Landesarbeitsgericht litera (Buchstabe)
mat. MDR m.E. MPI
materiell Monatsschrift für Deutsches Recht. Blackede a. d. EIbe meines Erachtens Max-Planck-Institut
xx
Abkürzungsverzeichnis
MSchrKrim m.w.N.
Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. Köln mit weiteren Nachweisen
Nachw. NJ NJW ns
Nachweis Neue Justiz. Ost-Berlin Neue Juristische Wochenschrift. München, Frankfurt/M. nicht signifikant
OLG OV
Oberlandesgericht Ordnungsverstöße
p
Signifikanzniveau (Fehlerrisiko erster Art) Personalchef Personallei tung Polizeigesetz Baden-Württemberg Polizeiliche Kriminalstatistik
peh
PL PolGBa/Wü Pol. Krim. Stat.
=
RdA Rdnr. reg.
Recht der Arbeit. München Randnummer registriert Rangkorrelationskoeffizient (nach Spearman)
s
SeemG stat. sog. StGB StPO
signifikant siehe Seite Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen. Düsseldorf Seemannsgesetz v. 26.7.1957 (BGBl II S.1035) statistisch sogenannt Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung
Tab. TüV TVG Tz.
Tabelle Technischer überwachungsverein Tarifvertragsgesetz Textziffer
u.a. u.ä. u.v.a.
unter anderem und ähnliches und viele andere
verh. vgl. Vol. VwGO
verheiratet vergleiche Volume Verwal tungsgerichtsordnung
WDO Wttbg.
Wehrdisziplinarordnung Württemberg
z.B. ZfA ZRP ZStW
zum Beispiel Zeitschrift für Arbeitsrecht. Köln, Berlin, Bonn, München Zeitschrift für Rechtspolitik. Frankfurt/M. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Berlin, New York Zeitschrift für Zivilprozeß. Berlin
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S. SAE
ZZP
EMPIRISCHER TEIL
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens 1.1 "Betriebsjustiz" als Begriff und soziale Erscheinung Industrielle Gesellschaften weisen der Arbeitswelt und dem Arbeitsplatz ihrer Mitglieder einen hohen Stellenwert zu. Arbeitswelt und Arbeitsplatz gelten als Zentralbereiche menschlichen und damit sozialen Zusammenlebens, da sich dort der überwiegende Teil des außerfamiliären Lebens abspielt. Wenn sich in Einrichtungen, die diese Zentralbereiche beherrschen und verwalten, eigene Systeme privater Sozialkontrolle in Konkurrenz zur staatlichen Sozialkontrolle entwickelt haben oder Anhaltspunkte für die Existenz solcher Teilsysteme wie der sogenannten Betriebsjustiz vorliegen, so verdienen diese auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit!. 1.1.1 Begriffsbestimmung
Zunächst ist es erforderlich zu klären, was Betriebsjustiz eigentlich bedeutet. Der Begriff tauchte Mitte der 60er Jahre in der westdeutschen Diskussion ebenso selbstverständlich und unvermittelt auf2, wie zehn Jahre vorher in der ostdeutschen3• Es ist dabei weder klar, wer das Phänomen auf diesen Begriff gebracht hat, noch, was mit diesem Begriff genau gemeint ist. Überblickt man die einschlägige Literatur4, 1 Vgl. hierzu Kaiser, G., Probleme, Aufgaben und Strategie kriminologischer Forschung heute. ZStW 83 (1971 a), S. 881 ff. (S. 907). 2 Arndt, A., Private Betriebs-"Justiz"? NJW 1965, S. 26 ff.; Lederer, H., Betriebsjustiz etwas außerhalb der Legalität? Verfassungsrechtliche Aspekte zur Tätigkeit von Betriebsgerichten. Gewerkschaftliche Monatshefte 16 (1965), S. 215 ff.; Baur, F., Betriebsjustiz. JZ 1965, S. 163 ff.; Kienapfel, D., Betriebskriminalität und Betriebsstrafe. JZ 1965, S. 599 ff.; Baumann, J., Eine Sonderentwicklung des Arbeitsrechts? ZZP 1971, S. 297 ff. 3 "Wir haben faktisch zum Sturm gegen die "Betriebsjustiz" geblasen, ohne die Dinge richtig zu durchdenken. Die sog. Betriebsjustiz hat nicht nur negative Seiten". Schulze, W., Neue Maßstäbe! NJ 10 (1956), S. 645 ff.; Klitsch, H., Soll die "Betriebsjustiz" gefördert werden? NJ 10 (1956), S. 728 ff.; Leim, E., Probleme der "Betriebsjustiz". NJ 11 (1957), S. 38 ff.; Görner, K., Betriebsjustiz - ja oder nein? NJ 11 (1957), S. 111 f. 4 Vgl. die Bibliographie am Ende dieses Buches.
1 Betriebsjustiz
2
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
dann geht es um mindestens vier - mehr oder weniger trennbare Phänomene, deren Existenz behauptet und deren juristische Bewertung mit den Maßstäben des Verfassungs-, Straf- oder Arbeitsrechts versucht wird: -
Einige Autoren verstehen unter Betriebsjustiz die "Nichtanzeige" innerbetrieblicher Straftaten. Dabei wird davon ausgegangen, daß den Betriebsleitungen auf je 1000 Belegschaftsmitglieder jährlich zwischen 9 und 15 Straftaten bekannt werdens. Von diesen Straftaten wird - nach den üblichen Angaben - maximal die Hälfte zur Kenntnis der staatlichen Behörden gebracht. Der Rest wird der staatlichen Justiz "entzogen"6.
-
Problematischer erscheint den meisten Autoren ein zweites Phänomen: die selbständige betriebliche Ahndung innerbetrieblicher Verstöße. Dabei geht es zwar auch um die nichtangezeigten Straftaten. Hinzu kommen jedoch solche Verstöße, die außerhalb des Betriebes nicht mit einer Sanktion bedroht sind. Besondere Beachtung in der juristischen Literatur hat dabei die betriebliche Praxis gefunden, Geldbußen gegen innerbetriebliche Täter zu verhängen7 •
-
Manche Autoren beziehen den Begriff Betriebsjustiz jedoch nur auf bestimmte Organisationsformen betrieblicher Ahndung oder unterstellen, daß Betriebsjustiz sich wesentlich in solchen Formen abspielt: "Offenbar besteht in Großbetrieben eine Art von Gerichtsbarkeit", schrieb Baur 8 1965. Neuerdings finden wir folgende Vorstellung von der Organisation der Betriebsjustiz: "Die Täter werden meist vom Werkschutz gestellt und sodann von einem besonderen Ausschuß mit einer Buße nach Maßgabe von Arbeitsordnungen des Betriebes belegt9."
-
Schließlich gibt es eine noch engere Bestimmung des Phänomens. Bei einigen Autoren wird der Begriff Betriebsjustiz nur auf solche betriebliche Sanktionspraktiken bezogen, die eindeutig illegal und willkürlich erscheinen. Hierher gehört es, wenn gefordert wird,
5 Kienapfel, D., a.a.O. (Fn. 2); Pleyer, K. / Lieser, J., Zur Betriebsjustiz in beiden Teilen Deutschlands. Zentralplanung und Recht, Stuttgart 1969, S. 150 ff. (153). e Baur, F., a.a.O. (Fn. 2), S. 166: "Strafsachen sind der Betriebsjustiz entzogen: sie können auch nicht als Verstoß gegen die Arbeitsordnung durch die Betriebsgerichte abgeurteilt werden." 7 Vgl. Denkl, R., Die Zulässigkeit von Geldbußen im Betrieb. Jur. Diss. München 1970. 8 Baur, F., a.a.O. (Fn. 2), S. 163; Lederer, H., a.a.O. (Fn. 2). 9 Reiland, W., Die gesellschaftlichen Gerichte der DDR. Tübingen, Basel 1971, S. 15; ähnlich auch Lampe, E.-J., Eigentumsschutz im künftigen Strafrecht. In: Müller-Dietz, H. (Hrsg.), Strafrechts dogmatik und Kriminalpolitik. Köln 1971.
1.1 "Betriebsjustiz" als Begriff und soziale Erscheinung
3
"klar die Linie zwischen einer illegalen Betriebsjustiz und legitimen Ordnungsmaßnahmen zu ziehen"lo. Dabei wird insbesondere davon ausgegangen, daß bei der Betriebsjustiz anstelle von Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit ein "Prinzip der Wirtschaftlichkeit" vorherrschell. Hier und im folgenden wird Betriebsjustiz verstanden als die formelle betriebliche Reaktion auf innerbetriebliche Normverstöße von Belegschaftsangehörigen. Dabei gehen wir davon aus, daß diese Definition alle vier genannten "Beschreibungen" von Betriebsjustiz abdeckt. Damit ist der Gegenstand der Betriebsjustiz konkret bezeichnet: innerbetriebliche Normverstöße, also abweichendes Verhalten im Betrieb. Als Gegenstand der Betriebsjustiz wird somit nicht ausschließlich Betriebskriminalität bezeichnet. Es geht also nicht nur um die Reaktion auf jene Normverstöße, die allgemein strafbar sind.
White-Collar-Crimes sind durch diese Definition nicht generell ausgeschlossen, da Betriebe auch gegen Täter dieser Deliktsgruppe auf festgestellte Normbrüche reagieren können. Diese Tätergruppe wird aber tatsächlich nicht adäquat erfaßt, da die Chance, daß ein untergeordneter Stab (Kontrollorgan) eine ihm übergeordnete Person als Abweicher registriert, vergleichsweise gering ist. Zudem kann man annehmen, daß "sozial akzeptierte und gewürdigte hochstehende"1! Personen eher die formelle betriebliche Reaktion auf abweichendes Verhalten mitentscheiden, als daß sie von dieser betroffen werden. 1.1.2 Abgrenzung der Betriebskriminalität von der Wirtschaftskriminalität Gleichwohl bleibt die Frage, ob der Problembereich der Wirtschaftskriminalität zum Gegenstand der Betriebsjustiz zu rechnen ist. Aus unserer Definition von Betriebsjustiz läßt sich folgendes ableiten: Als abweichend im Sinne der Betriebsjustiz wird ein Verhalten dann gewertet, wenn es für die betrieblichen Kontrollorgane Anlaß für eine Reaktion gegen einen Betriebsangehörigen ist. Damit grenzen wir die Wirtschaftskriminalität aus diesem Problembereich aus, da Täter dieser Deliktsgruppe in der Regel nicht gegen innerbetriebliche Normen verstoßen, die Delikte vielmehr oft im vermeintlichen oder tatsächlichen Interesse des Betriebes gegen Betriebsfremde begangen werden. Es ist für den Betrieb also kein Anlaß zum Eingreifen. Zudem spielen sich solche Verhaltensweisen in seltenen Fällen gerade noch auf der 10 11
Arndt, A., a.a.O. (Fn. 2), S. 27. v. Hentig, H., Die unbekannte Straftat. Berlin, Göttingen, Heidelberg
1964, S. 59.
12 Sutherland, E. H., White-Collar Kriminalität. In: Sack, F. / König, R. (Hrsg.), Kriminalsoziologie. Frankfurt 1968, S. 191, Anm. 1.
4
1.
Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
Ebene der Kontrollorgane, meist jedoch auf einer höheren hierarchischen Ebene des Betriebes ab. Als Beispiele seien hier Steuerbetrug, Subventionsschwindel und Vergehen gegen das Kartellgesetz genannt13 . Wie die Sekundäranalyse des einschlägigen Schrifttums und die empirischen Untersuchungen zeigen, werden Wirtschaftsdelikte auch tatsächlich nur äußerst selten von der Betriebsjustiz erfaßt.
1.2 Betriebsjustiz als soziale Kontrolle14 Wenn Betriebe auf Normverstöße ihrer Mitglieder reagieren, üben sie damit zugleich Kontrollfunktionen aus. Es ist die Frage, ob dies als Teil der Sozialkontrolle zu sehen ist. Soziale Kontrolle wird allgemein definiert als "diejenigen Mechanismen, durch welche die Gesellschaft ihre Herrschaft über die sie zusammensetzenden Menschen ausübt (und umgekehrt) und es erreicht, daß diese ihren Normen Folge leisten"15. Daraus folgt, daß Betriebsjustiz ein Teil im Gesamtsystem sozialer Kontrolle ist. Definitions- und Kontrollaspekte bestimmen auch Umfang und Struktur von Kriminalität. Dies gilt ebenso für die Betriebsjustiz hinsichtlich der innerbetrieblichen Normverstöße. Da Betriebsjustiz eben nicht nur Normen, die der Legaldefinition des Verbrechens entsprechen, sondern darüber hinaus auch nur innerbetrieblich gültige Normen kontrolliert, ist es nicht zweckmäßig, sich ausschließlich vom Verbrechensbegriff leiten zu lassen. Deshalb stellen wir unser Forschungsvorhaben bewußt in den weiteren Rahmen "sozialer Kontrolle und abweichenden Verhaltens in Betrieben"16. Damit versuchen wir eine Festlegung auf die Legaldefinition vom Verbrechen zu 13 Zum Begriff der Wirtschaftskriminalität vgl. Sczostak, G., Begriff und Bedeutung der Wirtschaftsdelikte. JR 1965, S. 287; Zirpins, W. / Terstegen, 0., Wirtschaftskriminalität, Erscheinungsformen und ihre Bekämpfung. Lübeck 1963; Berckhauer, F. H., Kriminologie der Wirtschafts delinquenz. In: Jung, H. (Hrsg.), Fälle zum Wahlfach Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. München 1975, S. 138 ff. Der Forschungsplan einer neuen Untersuchung wird vorgestellt in: Berckhauer, F. H. / Kury, H., Die Strafverfolgung bei Wirtschafts delikten in der Bundesrepublik Deutschland. KrimJ 6 (1975), S. 203 ff. 14 Zum Konzept der Sozialkontrolle vgl. allgemein: Cohen, A., Abweichung und Kontrolle. München 1968; Lemert, E., Human Deviance, Social Problems and Social Control. Englewood Cliffs, N. J. 1967; ferner den Artikel von Sack, F., Recht und soziale Kontrolle. In: KKW. Freiburg 1974, S. 263 ff. 15 WoZff, K. H., Soziale Kontrolle. In: Bernsdorf, W. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie. 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 969 ff. 16 Feest, J., Soziale Kontrolle und abweichendes Verhalten in Betrieben ("Betriebsjustiz"). KrimJ 3 (1971 a), S. 229 ff. sowie Kaiser, G. a.a.O. 1971 a (Fn. 1) und Kaiser, G., Kriminologische Forschung in Deutschland und die empirischen Untersuchungen am Max-Planck-Institut. ZStW 83 (1971 b),
S. 1093 ff.
1.3 Bisheriger Erkenntnisstand
5
vermeiden und uns den Blick auf die gesamte Breite betrieblichen Sanktionshandelns offen zu halten. Versteht man unter Betriebsjustiz die formelle betriebliche Reaktion auf Normverstöße von Betriebsangehörigen, dann ergeben sich folgende Überlegungen: -
Normverstöße sind nicht mehr so eindeutig definiert wie in der juristischen Diskussion: "Unsere Fragen zielen darauf, was in einem bestimmten sozialen Felde, hier im Betrieb, ,Kriminalität' heißt und bedeutet. Wir haben Anhaltspunkte dafür, daß aus einer Fülle von Ordnungswidrigkeiten und Delikten selbst auf der betrieblichen Ebene der Sozialkontrolle nur wenige ermittelt, ausgelesen und sanktioniert werden ... Unsere Frage gilt nun der Klärung, welche Kriterien, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit auf der Ebene der betrieblichen und vergleichsweise auf jener der justizförmigen Kontrolle Kriminalität auch als solche verstanden, d. h. sanktioniert wird17." Betriebsjustiz ist ihrerseits nur eine von mehreren Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung im Betrieb. Daneben gibt es informelle Reaktionen auf Normverstöße (etwa durch die Arbeitskollegen), aber auch materielle wie immaterielle Anreizsysteme sowie technologische Arrangements mit verhaltenssteuernden Auswirkungen , (Automatisierung etc.). Betriebsjustiz deckt also nicht den ganzen Bereich sozialer Kontrolle in Betrieben.
1.3 Bisheriger Erkenntnisstand
1.3.1 Untersuchungen über Betriebskriminalität und Betriebsjustiz Wir wollen nun prüfen, welche Befunde das bisherige Schrifttum zu diesem Themenkomplex erbracht hat. Versucht man, sich einen Überblick zum Stand der Forschung zu verschaffen, dann läßt sich eine Unterscheidung zwischen solchen Arbeiten, welche direkt unser Thema betreffen, und anderen, welche in der Verfolgung anderer Ziele indirekt Berührungspunkte mit unserem Gegenstand aufweisen, kaum durchführen. Die einzelnen Arbeiten gehen von sehr verschiedenen forschungsleitenden Interessen unterschiedlicher juristischer und kriminologischer Richtungen aus. Wieweit dieser Fragenkreis schon zurückreicht, zeigen neue re sozialhistorische Arbeiten, die sich mit der "Fabrikdisziplin" befassen18 . Analytischer BezugsKaiser, G., a.a.O. 1971 b (Fn. 16), S. 1116. Gruner, E., Die Stellung des Schweizer Arbeiters in Fabrik und Familie während des 19. Jahrhunderts. In: Braun, R. (Hrsg.), Gesellschaft in der industriellen Revolution. Köln 1973, S. 127 ff.; Pollard, S., Die Fabrikdisziplin in der industriellen Revolution. In: Fischer, W.! Bayor, E. G .. Die soziale Frage. Stuttgart 1967, S. 159 ff.; McKendrick, N., Josiah Wedgwood and Factory Discipline. Historical Journal 4 (1961); Thompson, E. P., Zeit, Ar17 18
6
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
rahmen ist die These, "daß einer der kritischsten und schwierigsten Wandlungsvorgänge, die während der Industrialisierung in einem Volke vor sich gehen müßten, die Gewöhnung der Arbeiter an die Regelmäßigkeit und Disziplin der Fabrikarbeit ist"19. Die Untersuchungen beschränken sich fast durchwegs auf England und führen nicht über die Periode der Frühindustrialisierung hinaus. Für unseren Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist der Nachweis von innerbetrieblichen Belohnungs- und Strafsystemen2o, insbesondere die Bedeutung der körperlichen Züchtigung.
1.3.1.1 Deutsche Erhebungen Zum Problemfeld Betriebskriminalität und Betriebsjustiz existieren zahlreiche deutsche Untersuchungen, die man mit Zöllner und Luhmann 21 als rechtstatsächliche Arbeiten einstufen kann. Dabei handelt es sich überwiegend um juristische Dissertationen mit strafrechtlichkriminologischer22 bzw. arbeitsrechtlicher 23 Fragestellung. Die kriminologisch orientierten Abhandlungen sind insbesondere auf die Initiative des Bonner Kriminologen von Weber seit Mitte der 50er Jahre entstanden2'. beitsdisziplin und Industriekapitalismus. In: Braun, R, Gesellschaft in der industriellen Revolution. Köln 1973, S. 81 ff. 11 Pollard, S., a.a.O. (Fn. 18), S. 159. 20 So Gruner, E., a.a.O. (Fn. 18), S. 131 ff.; Pollard, S., a.a.O. (Fn. 18), S. 169 ff. und Thompson, E. P., a.a.O. (Fn. 18), S. 94. 21 Vgl. Zöllner, W., Betriebsjustiz. ZZP 83 (1970), S. 365 ff. (S. 371) und Luhmann, U., Betriebsjustiz und Rechtsstaat. München 1975, S. 35. !2 Beyer, G., Die Kriminalität in Betrieben der Schwerindustrie. Bonn 1963; Forsbach, W., Die Kriminalität in Betrieben der Großindustrie in den Jahren 1946 -1952. Bonn 1953; Goos, D., Die Kriminalität in Betrieben der Elektroindustrie. Bonn 1963; Haas, E., Die Kriminalität in Betrieben der Automobilindustrie einer Großstadt Norddeutschlands. Bonn 1964; Iversen, D., Die Kriminalität im Bereich zweier Großbetriebe der chemischen Industrie. Bonn 1966; Lisiecki, D., Reaktionsformen von Betrieben auf innerbetriebliche kriminelle Vorgänge. Hamburg 1965; Neuhoff, F.-J., Die Kriminalität bei der Deutschen Bundespost im Bezirke der Oberpostdirektion Köln. Bonn 1957; Schmidt, J. W., Kriminalität in der eisenschaffenden Industrie. Bonn 1963; Schmitz, J., Die Kriminalität in Betrieben der eisenschaffenden Industrie. Bonn 1959; Servatius, N., Ursachen und Bekämpfung der Kriminalität in einem Industriebetrieb. Hamburg 1964; sowie mit strafprozessualem Einschlag Dengler, D., Betriebsstrafe bei innerbetrieblichen Verstößen? Münster 1968. 23 Bovermann, W.-D., Die "Betriebsjustiz" in der Praxis Eine Untersuchung der betrieblichen Ordnungsrechte in Betrieben der Großindustrie. Köln 1969; Prüfer, R D., Betriebsjustiz - die betriebliche Sanktion gegenüber dem Arbeitnehmer nach deutschem Recht. St. Gallen 1972; Sarfert, E. C., Die Kriminalität in einem Betrieb der Automobilindustrie in einer Großstadt Süddeutschlands. Bonn 1972. U Vgl. v. Weber, H., Kriminalsoziologie. In: Hwb Krim, 2. Aufl., Berlin 1967, S. 77/78 sowie Kaiser, G., a.a.O. 1971 b (Fn. 16), S. 1117.
1.3 Bisheriger Erkenntnisstand
7
Als forschungsleitendes Interesse dieser Arbeiten kann man "allgemein die Kriminologie des Berufes, insbesondere des Arbeiters, die kriminalphänomenologische Beschreibung der Kriminalität in bestimmten Betrieben und die Frage des Dunkelfeldes" beschreiben25 • FOTsbach (1953) untersucht die Betriebskriminalität in 4 Betrieben zwischen 500 und 4500 Beschäftigten der eisenschaffenden Industrie. Er möchte "den Arbeitsbereich des Industriearbeiters als potentiellen Faktor (Umweltfaktor) für sein strafwidriges Verhalten aufzeigen". Als Quellen benützt FOTsbach Aufzeichnungen und Unterlagen der Rechtsabteilung und des Werks-Sicherheitsdienstes sowie Auskünfte der einzelnen Abteilungen, insbes. des Lohnbüros. Nach einer kurzen Beschreibung der einzelnen für einen Betrieb typischen Delikte (im wesentlichen Vermögens delikte), schildert FOTsbach eingehend die Maßnahmen der Betriebe gegen die Kriminalität, insbes. die Aufgaben, Zusammensetzung und Tätigkeit des Werkschutzes, den jedes der vier Werke besitzt. Dabei geht er auch auf die Reaktion der Betriebe auf bekanntgewordene Delikte ein. FOTsbach zieht folgende Schlußfolgerung: "Wir glauben, durch die Gegenüberstellung unserer Ergebnisse mit den allgemeinen kriminologischen Erkenntnissen gezeigt zu haben, daß die Kriminalität im Bereich der eisenschaffenden Industrie wesentliche Ähnlichkeiten mit der staatlich erfaßten Vermögenskriminalität aufweist25a." FOTsbach begründet darüber hinaus die Notwendigkeit betriebskriminologischer Forschung. Er führt aus, daß über die Thematik bisheriger kriminologischer Untersuchungen hinaus Betriebskriminologie sachlich (Gesamtkriminalität statt Deliktsmonographien), personell (Arbeitsbereich und Umweltfaktoren statt Einzelgruppenuntersuchung) sowie lokal (Betriebe statt Gerichtsbezirke, Gemeinden etc.) weitergreifende Informationen bieten könne. "Die vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, der Kriminologie eine neue Erkenntnisquelle zu erschließen." Die Notwendigkeit jener Erkenntnisquellen leitet er aus den bekannten Mängeln der Kriminalstatistik ab. Ein Vorzug dieser Untersuchung sei es, daß Mitglieder eines sozialen Lebensbereiches kriminologisch erfaßt würden, "deren Straftaten zu etwa 80 Ofo außerhalb der bisherigen kriminologischen Erkenntnismöglichkeiten liegen ... Alle diese Straftaten gehören somit dem Bereich der Dunkelziffer an" 25b. Neuhoff hat (1957) untersucht, welche und wie viele Vergehen und Verbrechen von Beamten einer Oberpostdirektion begangen werden. Außerdem erfaßt er Tätermerkmale und bezieht auch "postfremde" Täter mit ein. Als Ergebnis seiner Arbeit fordert er bessere Überwachung neu eingestellter Arbeitskräfte sowie eine höhere Bezahlung, um eine bessere "fachliche und charakterliche" Auswahl vornehmen zu können 2s • Die Untersuchung von Schmitz (1959) beschäftigt sich mit der Kriminalität in 6 Betrieben der Metallindustrie. Sein Material bezieht sich auf Aufzeichnungen des Werkschutzes und umfaßt Delikte, Tätermerkmale sowie innerbetriebliche Maßnahmen. Als Hauptergebnis der Arbeit nennt er die Erfahrung, daß "der Arbeitsplatz ein für die kriminelle Betätigung jedes Einzelnen wesentlicher Umweltfaktor" ist27 • KaiseT, G., a.a.O. 1971 b (Fn. 16), S. 1117. FOTS bach, W., a.a.O. (Fn. 22). 25b FOTsbach, W., a.a.O. (Fn. 22), S. 13.
25
25&
26 27
Neuhoff, F. J., a.a.O. (Fn. 22).
Schmitz, J., a.a.O. (Fn. 22).
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
8
Beyer (1963) behandelt die Kriminalität in Betrieben der Schwerindustrie und beschreibt innerbetriebliche Sanktionen, Umfang und Struktur der Kriminalität sowie Tätermerkmale 28 • Schmidt (1963) beschränkt sich in seiner Arbeit auf Art und Täter der Kriminalität in der eisenschaffenden Industrie. Er vergleicht die Kriminalitätsentwicklung in dem von ihm untersuchten Betrieb mit der des betreffenden Regionalkreises und zielt damit auf eine teilweise "Aufhellung des Dunkelfeldes, da das ... Material ... den Behörden ... weitgehend unbekannt ist"!9.
Goos (1963) untersucht die Kriminalität in Betrieben der Elektroindustrie nach Struktur, Aufklärungsquote und Tätermerkmalen. Auch gibt er Informationen über Kontrollorgane und Sanktionen. Als Hauptergebnis unterstreicht er, daß 90 Ufo aller betrieblichen Straftaten durch "werkseigene Maßnahmen geahndet wurden. Hauptgrund dafür war die Möglichkeit, die Täter unter Berücksichtigung eigener wirtschaftlicher und sozialer Interessen bestrafen zu können"3o. Servatius (1964) betont in seiner Untersuchung, die neben den Ursachen betrieblicher Kriminalität auch Maßnahmen gegen die Täter beschreibt, die überwiegende Bedeutung der Eigentums- und Vermögenskriminalität. Weiter ist seine Feststellung wichtig, daß "die besondere Lage in einem Wirtschaftsunternehmen auch ein elastischeres Strafverfahren ohne festen Strafrahmen und mit großer Bewegungsfreiheit für die entscheidenden Organe erfordert"31. Haas (1964), der die Kriminalität in der Autoindustrie einer Großstadt untersucht, ergänzt die Arbeiten von Schmitz (1959), 'Schmidt (1963) und Goos (1963), indem er das zur Untersuchung des "Problemkreises Zusammenhang der Kriminalität und der sozialen Umwelt des Arbeitsplatzes" verwertete Material bzw. dessen Erhebung vertieft und die Arbeitsweise des Werkschutzes genauer analysiert.
Als wichtige Ergebnisse belegt er einen "jahreszeitlichen Rhythmus der Kriminalität" (mit einem Delinquenzschwerpunkt im 2. Halbjahr) sowie einen "Einfluß von Konjunkturschwankungen auf das Kriminalitätsbild"32. Lisiecki (1965) behandelt vor allem Reaktionsformen von Betrieben auf innerbetriebliche kriminelle Vorgänge. Dieser Darstellung gehen kurze Beschreibungen der geschichtlichen Entwicklung der Betriebsstrafe und des Werkschutzes sowie eine Darstellung der Konfliktkommissionen der DDR voraus. Er untersucht neben den Sanktionen die Kriminalitätsstruktur und Täter verschiedener Wirtschaftsunternehmen. Abschließend gelangt er zu der Forderung, lIes sei eine dringende rechtspolitische Notwendigkeit, die rechtliche Zulässigkeit der Betriebsstrafen neu zu regeln". Dabei empfiehlt er, eine "künftige Regelung des Betriebsstrafrechts in das BetrVerfG einzufügen"33. Iversen (1966) setzt mit seiner Arbeit die Reihe betriebskriminologischer Arbeiten von Schmitz, Schmidt, Beyer, Goos, Haas und Servatius fort. Er Beyer, G., a.a.O. (Fn. 22). Schmidt, J. W., a.a.O. (Fn. 22). 30 Goos, D., a.a.O. (Fn. 22). 31 Servatius, N., a.a.O. (Fn. 22). 32 Haas, E., a.a.O. (Fn. 22). 33 Lisiecki, D., a.a.O. (Fn. 22). 28 20
1.3 Bisheriger Erkenntnisstand
9
untersucht Kriminalität, Täter und Sanktionen im Bereich zweier chemischer Großbetriebe und rechtfertigt diese Arbeit mit einer "im Hinblick auf die besonderen Arbeitsbedingungen in diesem Industriezweig Sonderstellung gegenüber Angehörigen anderer Industrien". Als Ergebnis stellt er die "überragende Bedeutung der Diebstahlskriminalität heraus; außerdem könne "befriedigend festgestellt werden, daß die Betriebe sich bei der Beurteilung des im Werksbereich auftretenden Unrechts ihrer verantwortungsvollen Aufgabe bewußt sind und die Einrichtung des Werkschutzes und der Werksgerichte sich bewährt" habe 34 . DengIer (1968) schildert im ersten Teil seiner Untersuchung über Betriebsstrafen bei innerbetrieblichen kriminellen Verstößen Arbeitsordnungen, Verfahrensweisen, Verstöße und Sanktionen in verschiedenen Unternehmen. Dabei schildert er auch hoch organisierte Betriebe, die über eigene Ordnungsausschüsse zur Regelung innerbetrieblicher Verstöße verfügen. Im zweiten Teil seiner Untersuchung prüft Dengier die Zulässigkeit und Grenzen der Betriebsjustiz unter juristischen Aspekten. Er kommt zu dem Schluß, daß die Betriebsstrafe rechtlich zulässig sej35. Bovermann (1969) behandelt das betriebliche Ordnungs recht in Großbetrieben der Stahlindustrie, indem er zunächst Grundlagen und Aufbau des betrieblichen Ordnungsrechts prüft, um dann anhand eigener empirischer Daten Normverstöße, die betriebliche Reaktion darauf und das Verfahren zu untersuchen. Er kommt zu einer insgesamt positiven Einschätzung der Betriebsjustiz, fordert jedoch zur Verbesserung, "die Tarifpartner sollten hier (im Tarifvertrag, d. Verf.) eine Art Gerüst schaffen, welches der Ausfüllung durch die Werke überlassen bleiben kann"36. Sarfert (1972) untersucht wie Haas (1964) die Kriminalität in einem süddeutschen Betrieb der Automobilindustrie von 1958 - 67. Er beschreibt kurz Werkschutz und vorgesehene Sanktionen und Verfahrensweisen, um dann ausführlich Einzeldelikte sowie Tätermerkmale zu untersuchen. Insgesamt kommt er zu dem Ergebnis, daß in dem untersuchten Betrieb die Kriminalität parallel zum allgemeinen Anstieg der Kriminalität stark zugenommen habe. Hinsichtlich der Tätermerkmale bestätigt er Befunde früherer Arbeiten, wonach "eheliche Bindung, längere Betriebszugehörigkeit und höheres Lebensalter die Kriminalität günstig beeinflussen"37. Prüfer (1972) legt die umfassendste Arbeit zum Thema Betriebsjustiz vor. Er beschreibt zunächst die Betriebsstrafe in rechtsvergleichender Sicht. Eigene empirische Erhebungen liefern Informationen zu Rechtstatsachen, worunter er den Werkschutz, Arbeitsordnungen, Betriebsgerichte sowie Erscheinungsformen der Kriminalität abhandelt. Nach einer Untersuchung der Rechtsgrundlagen der Strafbefugnis und der Betriebsstrafe überprüft er das Verhältnis des staatlichen Strafrechts zum Betriebsstrafrecht sowie Zulässigkeit und Grenzen der Betriebsjustiz. Einer Aufgliederung des materiellen Betriebsstrafrechts folgen schließlich eine Darstellung des Verhältnisses von Betriebsstrafrecht und rechtsstaatlicher Verfahren sowie die gerichtliche Nachprüfung von Betriebsstrafen. In einem sehr differenzierten rechtspolitischen Ausblick fordert er abschließend, "die Betriebsstrafe in einem Mu34 Iversen, D., a.a.O. (Fn. 22). 35 DengIer, D., a.a.O. (Fn. 22). 38 Bovermann, W. D., a.a.O. (Fn. 23). 37 Sarfert, E. C., a.a.O. (Fn. 23).
10
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
sterprozeß ... zu überprüfen und gegen das letztinstanzliche Urteil das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Diese Entscheidung würde die Grundlage für eine gesetzliche Normierung bilden"38. Löffler (1975) beschreibt die Betriebskriminalität in der norddeutschen Automobilindustrie in den Jahren 1969 -1973 anhand der Daten aus vier Großbetrieben. Er orientiert sich methodisch an den traditionellen betriebskriminologischen Arbeiten und analysiert hauptsächlich einzelne Delikte sowie Täterstrukturen. Weiter geht er kurz auf betriebliche Sanktionen und betriebliche Ermittlungsorgane ein. Als Datenbasis dienen ihm die Akten des Werkschutzes sowie Gespräche mit Werkschutzangehörigen, Angehörigen der Personalabteilung und Betriebsräten38a .
In Tabelle 1 sind die vergleichbaren empirischen Informationen erfaßt, welche diese deutschen Arbeiten erbracht haben: Angaben über die Branche, Belegschaftsstärke, Delinquenzbelastung und Anzeigenquote in den untersuchten Betrieben. Obwohl das primäre Forschungsziel an der Betriebskriminalität orientiert war39, enthalten diese Arbeiten zunehmend unterschiedlich bedeutsame Informationen 40 über Art und Umfang innerbetrieblicher Sanktionen (vgl. Tab. 1, S. 11). Eine Reihe von weiteren Arbeiten enthält kein empirisches Material, sondern untersucht in rechts dogmatisch-theoretischer Weise einige Aspekte der Betriebsjustiz. Gagel (1963) beschreibt die Betriebsbuße in der privaten Wirtschaft unter den Aspekten der Rechtsnatur, der Strafdrohung, Verhängung und Vollstreckung, wobei er insbesondere die Qualifizierung der Betriebsbuße als Vertragsstrafe ablehnt41 . Raser (1969) bezeichnet in seiner Arbeit über die Betriebsstrafe als Rechtstatsachen das betriebliche Ermittlungs- und das betriebliche Erkenntnisverfahren, wobei er im folgenden diese Rechtstatsachen einer rechtlichen Beurteilung unterzieht. Insgesamt plädiert er für eine Beibehaltung der Betriebsjustiz, da "die Betriebsstrafe zwar Strafe ... aber erziehende und keine peinigende Strafe" sei. Außerdem warnt er davor, auf diesem Gebiet einem "zu großen Perfektionismus nachzuhängen"42. Denkl (1970) untersucht die Zulässigkeit von Geldbußen im Betrieb, indem er deren Rechtsgrundlagen, Rechtsnatur und rechtliche Grenzen darstellt. Abschließend meint er, "die inhaltlichen Grenzen der Bußvereinbarungen Prüfer, R. D., a.a.O. (Fn. 23). 38a Löffler, W., Die Betriebskriminalität in der Automobilindustrie in den Jahren 1969 - 1973. Marburg 1975. 39 SO Z. B. Schmitz, J., a.a.O. (Fn. 22), der ausschließlich Betriebskriminalität abhandelt. 40 Am ausführlichsten in diesem Punkt Bovermann, W.-D., a.a.O. (Fn. 23); Dengler, D., a.a.O. (Fn. 22); Prüfer, R. D., a.a.O. (Fn. 23). 41 Gagel, A., Die Betriebsbuße in der privaten Wirtschaft. Heidelberg 1963. 42 Raser, A., Die Betriebsstrafe. Zürich 1969. 38
11
1.3 Bisheriger Erkenntnisstand
Tabelle 1: Untersuchungen über Betriebskriminalität und Betriebsjustiz Autor und Publikationsjahr
Untersuchter Betrieb (Jahr, auf das sich Daten beziehen)
Hüttenwerk Hüttenwerk Metallverarb. Betr. Metallverarb. Betr. (1951) Neuhoff Oberpostdirektion 1957 (1954) Schmitz Hüttenwerk 1959 Metallverarb. Betr. Walzwerk Metallverarb. Betr. Metallverarb. Betr. Metallverarb. Betr. (1956) Goos Vier Betriebe 1963 eines Großunternehmens der Elektroindustrie (1960) Schmidt Hüttenwerk 1963 (1954) Beyer Gemischtes Hüttenwerk ]963 Walzwerk (1959) Haas Drei Betriebe der 1964 Automobilindustrie (1957) Servatius Gummiverarb. Betrieb 1964 (1958/59) Lisiecki Kaufhaus 1965 Kaufhaus Kaufhaus Werft Werft (1963) Iversen ehern. Untern. 1966 ehern. Untern. (1960) Dengler Div. Unternehmen 1968 (1966/67) bis Bovermarm Drei unspez. 1969 Betriebe (1966) Sarfert Automobilindustrie 1972 (1967) Prüfer ehern. Unternehmen ]972 Hüttenwerk Automobilindustrie (1970/71) Löffler Automobilindustrie 1975 Automobil-Ind. (1973) Automobil-Ind. (1973) Automobil-Ind. (1973)
Forsbach
1953
Belegschaft
Delikte pro Jahr und pro 1000 AN
Delikte bzw. Täter, welche zur Anzeige gebracht wurden
Ofo
Ofo
.--~----------._--
10 48 39 17
4840 4360 2800 740
9 7 26 46
22800
4
13300 10 000 4400 700 640 500
19 15 20 4 8 2
28000 4000 6500 4000
8 12 4 2
11 700
42
17
14800 3500
7 4
16 6
10000 5000 2000 7700
9 12 15 5
6 21 18 12
1300 600 2400 4000 5000
55 45 41 43 8
16 4 7 11 3
33000 23000 4000 27000 9200 12000 16000 11540
11 9
11 12
12 17 2 45
1 25 1 11
13
7 27 12
4 6
30000 10000 40000 56549 18194 29108 4093
61
24 14 15 24
12
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
und die Mindestanforderungen an das Verfahren seien von den Gerichten im Wege wertender Konkretisierung der Generalklauseln des BGB zu finden"43. Schaper (1971) bezieht sich in seiner Arbeit auf die Zulässigkeit der Entlassung als Betriebsbuße. Nach einer allgemeinen Beschreibung der Rechtsgrundlagen der Betriebsbußen stellt er fest, daß "die Entlassung als Reaktion auf ein Verhalten des Arbeitnehmers, welches einen Verstoß gegen die Sicherheit und Ordnung des Betriebes im Sinne des Bußrechts darstellt, als solche keine Betriebsbuße ist". Vielmehr müßte die Entlassung "als Bußart dem Individualkündigungsrecht entliehen und in das kollektive Ordnungsrecht übernommen werden"44. Luhmann (1975) fragt in seiner Arbeit "Betriebsjustiz und Rechtsstaat" prinzipiell, ob das Betriebsbußenwesen vor dem geltenden Recht bestehen kann. Er will die Ordnungsgrundsätze herausarbeiten, die für die Zulässigkeitskontrolle der Betriebsbuße maßgebend sind. Er geht von dem betrieblichen Strafenwesen in der Praxis aus und prüft dann die geschichtliche Entwicklung der Betriebsbuße. Ausgehend von der Feststellung, daß nach der geltenden Gesetzeslage keine ausdrückliche positiv-rechtliche Regelung für das Betriebsbußenwesen bestehe, untersucht er die "autonome Strafgewalt der Betriebsgemeinschaft als Grundthese der herrschenden Betriebsstrafenlehre". Im zweiten Teil seiner Arbeit analysiert er Betriebsbußen als vertragsrechtliche Sanktionen und vergleicht abschließend das Betriebsbußenwesen in der BRD mit der Gesellschaftsgerichtsbarkeit in der DDR. Zusammenfassend stellt er fest, daß "die Ahndung dieser Delikte mit einer autonomen Vergeltungsstrafe im Sinne der herrschenden Betriebsstrafenlehre gegen das Strafmonopol des staatlichen Richters verstößt". Er folgert daraus: "Die Gefahren einer außerstaatlichen Straftätigkeit lassen sich nur vermeiden, wenn man das Sanktionssystem bei Ordnungsverstößen im Arbeitsverhältnis nach den vertragsrechtlichen Grundsätzen ausrichtet und sich von der Vorstellung einer betrieblichen Strafgewalt abwendet45."
1.3.1.2 Ausländische Untersuchungen Von ähnlich unmittelbarer Relevanz für unseren Problembereich sind nur wenige ausländische Untersuchungen: In einer Studie über die Chancen von Strafentlassenen, Arbeit zu finden, untersucht der britische Kriminologe Martin (1962) auch die Einstellungen und das Verhalten von Arbeitgebern gegenüber solchen Arbeitnehmern, "die wegen der Begehung von Straftaten verdächtigt oder verurteilt worden waren"46. Die Untersuchung beruht auf Interviews mit leitenden Angestellten von 94 überwiegend kleineren britischen Firmen (etwa die Hälfte dieser Firmen beschäftigte weniger als 20 Arbeitskräfte). In jedem Betrieb wurden detaillierte Informationen (Tätermerkmale, betriebliche Reaktion) über die letzten sechs der Betriebsleitung bekanntgewordenen Delikte erhoben. Darüber hinaus wurden die Befragten gebeten, eine Reihe von vorgegebenen Delikten nach ihrer Schwere zu ordnen. Dabei zeigte sich, daß Sexualdelikte 43 Denkl, R., a.a.O. (Fn. 7). 44 Schaper, W. R., Die Entlassung als Betriebsbuße. Köln 1971. 45 Luhmann, U., a.a.O. (Fn. 21). 46 Martin, J. P., Offenders as Employess. New York, London 1962, S. 2.
1.3 Bisheriger Erkenntnisstand
13
am schärfsten verurteilt werden, und daß der Kollegendiebstahl für verwerflicher gilt als der Betriebsdiebstahl. Der Untersuchung sind jedoch keine Angaben über innerbetriebliche Sanktionen zu entnehmen. Ebenfalls Anfang der 60er-Jahre führte die belgische Juristin RavetSchyns (1962)47 eine mündliche Umfrage bei 16 Betrieben der Gegend von Liege durch. Die Untersuchung erbrachte einen überblick über die dortige Praxis der Disziplinierung von Normbrechern (Delikte, Sanktionen, Verfahren). Die Arbeit zeigt, daß in Belgien ein differenziertes System innerbetrieblicher Reaktionsmaßnahmen vorhanden ist, enthält jedoch keine quantitativen Angaben. Eine Sonderstellung nimmt die Beobachtungsstudie der amerikanischen Soziologen Bensman und Gerver (1963)48 in einer Flugzeugfabrik (mit 26000 Beschäftigten) ein. Am Beispiel einer betriebsinternen Norm wird hier die Praxis und Funktion von deren übertretung und selektiven Sanktionierung beschrieben und analysiert. Die Autoren illustrieren die These, daß Normbrüche eine anerkannt positive Funktion im Rahmen eines sozialen Systems haben können. Die auf Interviews mit 88 männlichen Arbeitnehmern in einer großen Elektronikfabrik beruhende Arbeit des amerikanischen Soziologen Horning (1963)49 betont die Bedeutung informeller Kontrollmechanismen. Eine weitere Untersuchung wurde von dem amerikanischen Soziologen
Robin (1967)50 durchgeführt. Auf der Basis vertraulicher Sicherheitsakten von
drei großen Warenhausgesellschaften analysiert der Autor die betriebliche (und soweit einschlägig staatliche) Sanktionierung von 1681 Angestellten, welche durch Begehung einer Straftat ein finanzielles Vertrauen verletzten. Während zwei der untersuchten Unternehmen nur einen geringen Prozentsatz (2 Ufo bzw. 8 0/0) der Täter zur Anzeige brachten, lag dieser Prozentsatz bei dem dritten Unternehmen sehr viel höher (34 %). Außerordentlich wenige Täter (5 Ofo) behielten ihren Arbeitsplatz, die übrigen wurden entlassen. Ferner ist die auf Interviews und Tests in einem Stahlwerk mit 18000 Beschäftigten beruhende Arbeit des holländischen Kriminalpsychologen Mulder (1969)51 zu erwähnen, welche sich auf die psychologischen Merkmale der "übertreter von Betriebsregeln" konzentriert. Die schwedischen Wissenschaftler Kühlhom und Magnusson 52 führten 1971 eine Befragung von Personalchefs und Gewerkschaftsvertretern in 58 Be47 Ravet-Schyns, F., Enquete sur la pratique des sanctions disciplinaires dans 16 entreprises de la region liegeoise. In: Les sanctions civiles, disciplinaires et penales en droit du travail beIge, fran!;ais et italien. Universite de Liege 1962, S. 115 ff. 48 Bensman, J. / Gerver, J., Crime and Punishment in the Factory. ASR 28 (1963), S. 588 ff. Gekürzte deutsche Fassung: Vergehen und Bestrafung in der Fabrik. In: :Steinert, H. (Hrsg.), Symbolische Interaktion. Stuttgart 1973, S. 126 ff. 49 Horning, N. M., Blue Collar Theft: A Study of Pilfering by Industrial Workers. Indianapolis 1963. 50 Robin, G. D., The Corporate and Judicial Disposition of Employee Thieves. Wisconsin Law Review 1967. 51 Mulder, H. F., Overtreders van Bedrijfregels. Zaandijk 1969. 52 Kühlhorn, E. et al., Den privata justisen. Lund 1972 (hektogr. Manuskript des Rättssociologiska seminariet).
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
14
trieben mit insgesamt 7087 Beschäftigten durch. Untersucht wurden Delinquenzhäufigkeit, Maßnahmensystem und Einstellungen der Beteiligten. Der Schwerpunkt der Untersuchung lag auf Alkohol- und Drogenmißbrauch. Die Untersuchung zeigt, daß in Schweden ein differenziertes System innerbetrieblicher Maßnahmen mit Sanktionscharakter vorhanden ist, enthält jedoch keine Angaben über Anzeigequoten. 1973 erschien die Untersuchung des amerikanischen Soziologen GersunyG3. Sie beruht auf der Analyse von vier Jahrgängen der gewerkschaftlichen Beschwerdeakten einer Automobilfirma mit 1700 Beschäftigten. Die Delikte, Sanktionsmuster und Beschwerdefolgen dieser 255 Akten werden in Beziehung zu Arbeitsplatzunterschieden, Rasse, Alter und Anciennität der Täter gesetzt. Die Untersuchung zeigt, daß auch in den USA erhebliche Möglichkeiten interner Sanktionierung bestehen (insbesondere die auch in Belgien erwähnte befristete unbezahlte Aussperrung vom Arbeitsplatz). Die Untersuchung enthält keinerlei Angaben über Anzeigequoten. Weiter wird unser Themenbereich von zwei Untersuchungen berührt, welche Max Webers Bürokratietheorie am Beispiel betrieblicher Normierungs- und Disziplinierungspraktiken fortzuentwickeln versuchen. Gouldners Fallstudie (1954)54 eines amerikanischen Gipswerkes (mit 225 Beschäftigten) zeigt, daß Normen nicht notwendigerweise mit Hilfe von Strafen durchgesetzt werden ("punishment centered bureaucracy"), sondern daß überredung und Erziehung an ihre Stelle treten können ("representative bureaucracy"). Sie läßt jedoch die Frage offen, welche Bedingungen den einen oder anderen Kontrollstil generell begünstigen.
Eine Befragung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie eine Analyse von Schlichtungsentscheidungen hat der amerikanische Soziologe Selznick (1969)55 durchgeführt. Während seine empirischen Feststellungen nicht unmittelbar auf deutsche Verhältnisse übertragbar sind, verdient seine These Beachtung, wonach "die Geschichte des industriellen Managements zahlreiche Anzeichen einer Tendenz zu interner Legalität aufweist"58, was den Abbau willkürlicher Entscheidungen bedeutet. 1.3.1.3 Studien über Gesellschaftsgerichtsbarkeit in der sozialistischen Gesellschaft Eine weitere Gruppe von Arbeiten befaßt sich mit der GeselZschaftsgerichtsbarkeit in sozialistischen Ländern57 • Diese Arbeiten sehen ihren 53
Gersuny, C., Punishment and Redress in a Modern Factory. Lexington,
Mass.1973. 54 55
Gouldner, A., Patterns of Industrial Bureaucracy. New York 1954. Selznick, P., Law, Society and Industrial Justice. Berkeley, Cal., 1969,
S. 103 ff., 121 ff. und 183 ff. 56 Selznick, P., a.a.O. (Fn. 55), S. 82. 57 Benjamin, M., Konfliktkommissionen, Strafrecht, Demokratie. Berlin (Ost) 1968; Eser, A., Gesellschaftsgerichte in der Strafrechtspflege. Tübingen 1970; Schmidt, H. / Winkler, R., Die Tätigkeit der gesellschaftlichen Rechtspflegeorgane bei der Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten. NJ 1967, S.
1.3 Bisheriger Erkenntnisstand
15
Schwerpunkt in der Beschreibung und juristischen Darstellung, während die tatsächliche Handhabung (einschließlich Dunkelfeld und Selektion) fast völlig ignoriert wird. Empirische Daten legen in diesem Bereich lediglich Orschekowski et al. - hauptsächlich zur Kriminalitätsstruktur und zu Tätermerkmalen - vor S8 • Auf einige wichtige Unterschiede zwischen Betriebsjustiz und Gesellschaftsgerichtsbarkeit in Gestalt der betrieblichen Konfliktkommissionen sei hier kurz hingewiesen: Die Gesellschaftsgerichtsbarkeit ist gesetzlich verankert und stark formalisiert. Sie ist als der verlängerte Arm des Staates zu interpretieren und nicht, wie die Betriebsjustiz, als Rechtssprechung eines relativ autonomen Bereichs unter Umgehung des Staates59 • Außerdem ist die Gesellschaftsgerichtsbarkeit im Gegensatz zur Betriebsjustiz an genaue prozessuale Verfahrensvorschriften und Sanktionskataloge gebunden 60 • Als weiterer wichtiger formaler Strukturunterschied zur westlichen Betriebsjustiz erweist sich das Übergabeprinzip, d. h. die Tatsache, daß Konfliktkommissionen nur in solchen Fällen entscheiden können, welche ihnen von den staatlichen Verfolgungsbehörden überlassen werden. 1.3.2 Problemstand der Betriebssoziologie zu abweichendem Verhalten im Betrieb
Obwohl Abweichung und Sozialkontrolle in Betrieben schon vom Begriff her legitime Forschungsgegenstände der Soziologie sind, finden wir diesen Problemkreis in zahlreichen auch neueren deutschen industrie- und betriebssoziologischen Studien nicht behandelt. Zwar werden der betriebliche Konflikt, die Herrschafts- und Organisationsstruktur in den Betrieben breit erörtert. Die Autoren erwähnen aber bei Analysen der betrieblichen Herrschaftsstruktur und der Konflikte die Betriebsjustiz und die Betriebskriminalität nicht6!. Innerbetriebliche 730 ff.; Reiland, W., a.a.O. (Fn. 9); Güttler, H., Betriebsjustiz und gesellschaftliche Gerichtsbarkeit in Deutschland. Deutsche Studien 18 (1967), S. 137 ff.; Schroeder, F. C., Versagen der gesellschaftlichen Rechtspflege in der Sowjetunion. Recht in Ost und West 16 (1972), S. 265 ff.; Bericht der Bundesregierung und Materialien zur Lage der Nation 1972. Bonn 1972, S. 303 ff. sowie Orschekowski, W., et al., Kriminalitätsvorbeugung und -bekämpfung im Betrieb. Berlin (Ost) 1974; Metzger-Pregizer, G., Gesellschaftsgerichte. In: KKW. Freiburg 1974, S. 112 ff. mit weiteren Nachweisen. Vgl. hierzu im übrigen Fn. 3 und 9. 68 Orschekowski, W. et al., a.a.O. (Fn. 57), S. 57 ff. Sg Reiland, W., a.a.O. (Fn. 9). 80 Metzger-Pregizer, G., a.a.O. (Fn. 57), S. 115. 81 Schelsky, H., Industrie- und Betriebssoziologie. In: Gehlen, A. / Schelsky, H. (Hrsg.), Soziologie. Düsseldorf, Köln 1955, S. 157 ff.; Atteslander, P., Konflikt und Kooperation im Industriebetrieb. Köln, Opladen 1959; v. Friede-
16
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
Ordnungsverstöße bilden bestenfalls Anlaß zu allgemeinen Randbemerkungen62 • Gegenüber der betriebs wirtschaftlichen Auffassung, welche den Betrieb verkürzt nur als Stätte der technischen Herstellung von Gütern verstand, und gegenüber dem privatrechtlichen Unternehmensbegriff faßt die Soziologie den Betrieb als ein institutionelles Gebilde auf. In diesem kooperiert eine Mehrzahl von Menschen mit Hilfe eines Zweckmittelsystems für die laufende Bedarfsversorgung 63 • Für die Zweckerreichung wird zwei Seiten des Betriebes Bedeutung zuerkannt: der ökonomischen und der sozialen Seite. Struktur und Organisationsfragen betreffen primär nicht technische, sondern menschlich-soziale Belange. Um den Aufgaben gerecht zu werden, ist die Versachlichung und Stabilisierung von Spannungen notwendig. Ihre Lösungsmöglichkeiten liegen in der Herausbildung von Sitten, Gewohnheiten und - hier besonders wichtig - von Rechtsnormen64 • Daß sich Betriebs- bzw. Industriesoziologie unseres Themenbereichs bisher nicht angenommen hat, mag zum Teil darauf zurückzuführen sein, daß sie sich seit 1945 anderen Problemstellungen vordringlich gewidmet und sich an anderen Forschungsinteressen orientiert hat. Dazu gehörte zunächst die Human-Relations-Forschung, wobei die negativen Auswirkungen extremer Arbeitsteilung und starker Hierarchisierung im Betrieb, verstärkt durch die Erfahrungen mit totalitärer Zwangsarbeit in den Kriegsgebieten, das Interesse auf eine humane Gestaltung der mechanisierten Arbeitswelt richteten. Weiter waren es zwei Ansatzpunkte einer organisationssoziologischen Variante industriesoziologischen Problembewußtseins, die Industrie- und Betriebssoziologen beschäftigten: erstens die Untersuchung unterschiedlicher Systeme der industriellen Arbeitsteilung und ihrer Auswirkung auf die betriebliche Sozialorganisation und zweitens die Untersuchung von Organisationen mit unterschiedlichem Hierarchisierungsgrad sowie ihrer Konfliktpotentiale auf den verschiedenen Hierarchieebenen65 • burg, L., Soziologie des Betriebsklimas. Frankfurt/M. 1963; Kellner, W., Der moderne soziale Konflikt. 2. Auf!., Stuttgart 1968; Ziegter, H., Strukturen und Prozesse der Autorität in der Unternehmung. Stuttgart 1970; Burisch, W., Industrie- und Betriebssoziologie. 6. Auf!., Berlin 1971; AUmann, N./ BechHe, G., Betriebliche Herrschaftsstruktur und industrielle Gesellschaft. München 1971; Fürstenberg, F. (Hrsg.), Industriesoziologie 11. Die Entwicklung der Arbeits- und Betriebssoziologie seit dem 2. Weltkrieg. Darmstadt 1974; ders., Industriesoziologie III. Industrie und Gesellschaft. Darmstadt 1975. 62 Vgl. z. B. Mayntz, R., Die soziale Organisation des Industriebetriebes. Stuttgart 1966, S. 54; Setznick, Ph./ Vollmer, H., Rule of Law in Industry: Seniority Rights. Industrial Relations 1 (1962), S. 101 und Bosetzky, H., Grundzüge einer Soziologie der Industrieverwaltung. Stuttgart 1970, S. 290 ff. 63 Schetsky, H., a.a.O. (Fn. 61), S. 179 f.; Lepsius, R. M., Industrie und Betrieb. In: König, R., Soziologie. Frankfurt/M. 1958, S. 137 ff. 64 Schetsky, H., a.a.O. (Fn. 61), S. 180. 65 Fürstenberg, F., a.a.O. 1974 (Fn. 61), S. 13. Vgl. hierzu auch Herkommer, S., Vom Elend der Industriesoziologie. In: Fürstenberg, F. (Hrsg.), a.a.O. 1974 (Fn. 61), S. 227 ff.
1.3 Bisheriger Erkenntnisstand
17
1.3.3 Problemstand der Betriebspsychologie zu abweichendem Verhalten im Betrieb Auch in der arbeits- und betriebspsychologischen Forschung spielen die Mechanismen sozialer Kontrolle sowie der Bereich innerbetrieblicher Normverstöße offenbar keine Rolle 66 • Ihr Interesse geht in die Richtung angewandter Technik; es werden die an einem Arbeitsplatz vorhandenen organisatorischen, gruppendynamischen und instrumentellen Bedingungen und Belastungen beschrieben. Primär stehen die optimalen Arbeitsbedingungen und deren Gestaltung 67 im Mittelpunkt. Selbst in umfassenden betriebspsychologischen Werken ist der Themenkomplex "abweichendes Verhalten im Betrieb" nahezu völlig aus geklammert6s •
1.3.4 Kritische Zusammenfassung Die beschriebenen deutschen Erhebungen betriebskriminologischer Ausrichtung ergeben eine Fülle von Einzelinformationen aus den verschiedensten Bereichen des Problemfeldes von Betriebskriminalität und Betriebsjustiz. Dabei ist als Verdienst dieser Arbeiten anzusehen, daß sie dieses Problemfeld "neu entdeckt" haben. Ihr materieller Ertrag besteht überwiegend in Informationen über Art und Umfang der Betriebskriminalität, über die Täterstruktur und Sanktionen sowie seltener über Verfahrensweisen. Dabei stützen sie sich hauptsächlich auf Einzelfallanalysen aus dem nordwestdeutschen Raum (Nordrhein-Westfalen, Hamburg). Kritisch ist vor allem anzumerken, daß diese Untersuchungen aus methodischen Gründen nicht verallgemeinerungsfähig sind, selbst die Ausdehnung einzelner Arbeiten auf die jeweilige Branche erscheint bedenklich. Fehlende (und wohl auch nicht angestrebte) statistische Signifikanz, die Auswahlmethoden nach dem "Prinzip des geringsten Widerstandes" sowie die unterschiedliche Aussagekraft des in den Be8S Vgl. Arnold, W., Angewandte Psychologie. Stuttgart 1970, S. 58 ff.; Mayer, A. / Herwig, B. (Hrsg.), Betriebspsychologie. 1. Aufl., Göttingen 1970; Plagemann, H., Untersuchung psychologischer Unfallforschung. In: Thomas, K. (Hrsg.), Analyse der Arbeit, Möglichkeiten einer interdisziplinären Erforschung industrialisierter Arbeitsvollzüge. Stuttgart 1969, S. 269 ff.; van Beinum, H. J. / de Pel, P., Improving Attitudes to Work especially by Parti-
cipation. In: Proceedings of the XVIth International Congress of Applied Psychology. Amsterdam 1969, S. 29 ff. n Stichwort Arbeitspsychologie (Verweis Betriebspsychologie). In: Drever, J. / Fröhlich, W. D., Wörterbuch zur Psychologie. 9. Aufl., München 1975, S. 55; sowie neuerdings Groskurth, P. / Volpert, W., Lohnarbeitspsychologie. Berufliche Sozialisation: Emanzipation zur Anpassung. Frankfurt 1975. 88 So in der "Betriebspsychologie" , dem 9. Band des Handbuchs der Psychologie, in dem negative Sanktionen lediglich am Rande im Zusammenhang mit dem Führungsverhalten in organisierten Gruppen erwähnt werden. Vgl. Mayer, A. / Herwig, B., a.a.O. (Fn. 66), S. 543. 2 Betriebsjustiz
18
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
trieben ausgewerteten Materials (überwiegend Werkschutzaufzeichnungen) sind hierbei die Haupteinwände69 • Dabei wird nicht verkannt, daß hier wichtige "Pionierarbeit" geleistet wurde. Gleichwohl hat sich die Einbeziehung von Kontrollaspekten, die betriebs kriminalistische zu betriebsjustiziellen Arbeiten macht, nur zögernd gegen Ende der 60er Jahre abgezeichnet70 • Die analysierten ausländischen Erhebungen haben andere, eher sozialwissenschaftlich orientierte Aspekte behandelt. Ein Schwerpunkt dieser Forschungen lag bisher in dem Versuch, die Zusammenhänge zwischen Gefährdungen der Arbeitswelt und dem kriminellen Verhalten zu analysieren. So hat etwa Mulder (1969) die Persönlichkeitsdimension in die Diskussion eingeführt, Kühlhorn und Magnusson (1972) haben die Alkoholund Drogenproblematik in Betrieben untersucht. Pinatel (1970F oasieht schließlich den Zusammenhang zwischen den Gefährdungen der Arbeitswelt und kriminellem Verhalten eher im sozialpathologischen Bereich angesiedelt. Weiter wurde im Ausland die Bedeutung informeller Normen herausgestellt (Bensman, Gerver 1963), während juristischdogmatische Probleme kaum diskutiert werden70b• Methodisch trifft diese Erhebungen teilweise dieselbe Kritik fehlender Signifikanz bzw. Verallgemeinerungsfähigkeit, wenngleich eingeräumt werden muß, daß dort eher mit sozialwissenschaftlichem Instrumentarium wie z. B. Befragungen gearbeitet wurde. Zudem lagen diese Erhebungen eher am Rande unserer Fragestellung. Auch von dort sind wichtige Erkenntnisse in unser Projekt eingegangen. Studien zur Gesellschaftsgerichtsbarkeit und sozialhistorische Arbeiten haben zusätzliche Informationen in den Bereichen rechtlich verankerter Betriebsjustiz (Konfliktkommissionen) sowie über historische Entstehungsbedingungen betrieblicher Reaktion auf abweichendes Verhalten geliefert.
88 Vgl. ZöHner, W., a.a.O. (Fn. 21), S. 371; Luhmann, U., a.a.O. (Fn. 21), S. 35 und Kaiser, G., a.a.O. 1971 b (Fn. 16), S. 1117. 70 Etwa bei Haas, E., a.a.O. (Fn. 22), Lisiecki, D., a.a.O. (Fn. 22), Iversen, D., a.a.O. (Fn. 22) sowie Prüfer, R. D., a.a.O. (Fn. 23). 70a Pinatel, J., La criminalite dans les differents cercles sociaux. Revue de science criminelle et de droit penal compare 25 (1970), S. 677 ff.; vgl. dazu kritisch Kaiser, G., a.a.O. 1971 b (Fn. 16), S. 1118. 70b Vgl. ausführlich Kap. 1.3.1.2.
1.4 Forschungslücken und Notwendigkeit neuer Untersuchungen
19
1.4 Forschungslücken und Notwendigkeit neuer Untersuchungen Danach wird deutlich, daß nach unserem oben beschriebenen Ansatz, Betriebsjustiz als Teil des Gesamtsystems sozialer Kontrolle zu betrachten, Forschungslücken bestehen. Die vorliegenden deutschen Arbeiten haben ihren regionalen Schwerpunkt in Nordwestdeutschland, beziehen sich überwiegend auf die Methode der Dokumentenanalyse und betreffen Großbetriebe. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, im südwestdeutschen Raum Daten auch für kleinere und mittlere Betriebe zu erheben, wobei wir nicht nur Akten des Betriebes, sondern Befragungen der Beteiligten als Informationsbasis benutzen wollen. Während sich, wie beschrieben, die deutschen Arbeiten auf Betriebskriminalität bzw. juristisch-dogmatische Fragen beschränken, haben die ausländischen Erhebungen isoliert sozialwissenschaftliche Einzelfragen behandelt. Wir versuchen, durch die Rezeption deutscher und ausländischer Erhebungen beide Aspekte aufzunehmen und zu verknüpfen. Kriminologische Forschung hat sich in der Vergangenheit mehr mit dem Studium der staatlich registrierten Rechtsbrecher, mit deren Ätiologie und Bekämpfung bzw. Behandlung beschäftigt. Neuerdings hat sich das kriminologische Erkenntnisinteresse den staatlichen Definitions- und Sanktionsprozessen zugewandt, was seinen Niederschlag in einer Reihe aufschlußreicher Studien über Strafverfolgungsinstitutionen (Polizei, Gerichte, etc.) gefunden hat. Unter diesen Aspekten unerforscht ist dagegen der Bereich der privaten Strafverfolgung und Sanktionierung von Normbrüchen. Dieser Fragenkreis ist zunehmend wichtiger geworden. Überlegungen zur partiellen Rückverlagerung der formellen Sozial kontrolle in den informellen Bereich sind durch die Diskussion über Diversionsmechanismen und die Alternativentwürfe zur Regelung der Ladendiebstähle sowie der Betriebsjustiz in den Blickpunkt gerückt7° o• Die Herstellung des Zusammenhangs zwischen Abweichung und sozialer Kontrolle ist es also, die unseren Problemhorizont von dem der beschriebenen Ansätze unterscheidet. Daraus haben wir die Notwendigkeit einer neuen Untersuchung hauptsächlich in folgenden Bereichen abgeleitet: 7 0 0 Vgl. hierzu Kaiser, G., Role and Reactions of the Victim and the Policy of Diversion in Criminal Justice Administration. In: Jasperse, C. u. a. (Hrsg.), Festschrift für W. Nagel. Deventer 1976; Arzt, G. u. a., Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl. Tübingen 1974 sowie Arzt, G. u. a., Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz. Tübingen 1975.
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1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
-
Repräsentative Verteilung von innerbetrieblichen Normverstößen nach Häufigkeit und Struktur sowie innerbetriebliche Kontrollsysteme.
-
Organisation der Betriebsjustiz in verschiedenen Wirtschaftsbereichen, Betriebsgrößen und Regionen. Einstellungen der Beteiligten zur Betriebsjustiz. Vergleich betrieblicher und staatlicher Systeme der Normdurchsetzung.
-
1.4.1 Repräsentative Verteilung
Es fehlt an präzisen empirischen Befunden über Art und Häufigkeit innerbetrieblicher Kriminalität und anderen innerbetrieblichen Normverstößen. Aus den beschriebenen Untersuchungen sind nur sehr widersprüchliche Angaben zu entnehmen71 • Darüber hinaus ist auch so gut wie nichts über den Zusammenhang zwischen betrieblichen Kontrollstilen und sonstigen Merkmalen der Betriebsorganisation bekannt. Unbekannt ist ferner, welche Rolle bei der betrieblichen Sanktionierung der Betriebsrat spielt, dem nach § 87 Abs. 1 BetrVerfG (1972) bei "Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb" ein Mitbestimmungsrecht zusteht. Die bisher vorliegenden Informationen sind durchweg auf einzelne Betriebe beschränkt, wobei es sich außerdem bei den untersuchten Betrieben überwiegend um Betriebe der Metallindustrie in Nord- und Nordwestdeutschland handelt. Es fehlt daher nach wie vor eine repräsentative Vorstellung von der
Verteilung innerbetrieblicher Kontrollsysteme.
1.4.2 Organisation der Betriebsjustiz
Aus den bisherigen Arbeiten sind zahlreiche Einzelheiten der innerbetrieblichen Strafverfolgung und Sanktionierung bekannt (Techniken der Aufdeckung von Straftaten und der Entdeckung von Tätern; Organe der Verfolgung und der Sanktionierung; Verfahrensweisen und Verfahrensnormen dieser Organe; Typen von Sanktionen; etc.). Dabei zeigen sich u. a. beachtliche Unterschiede in den Sanktionspraktiken der Betriebe. Während manche primär mit dem Mittel der Entlassung operieren72 , praktizieren andere eine reiche Auswahl unterschiedlicher Sanktionen, welche die weitere Betriebszugehörigkeit des Delinquenten implizieren73 • Dabei ist die Frage unterschiedlicher Betriebsgrößen sowie unterschiedlicher Branchen- bzw. Regionalzugehörigkeit offengeblieben. Vgl. Tabelle 1 in Kap. 1.3. Vgl. Haas, E., a.a.O. (Fn. 22), Robin, G. D., a.a.O. (Fn. 50). 73 Vgl. insbesondere Lisiecki, a.a.O. (Fn. 22), Dengler, a.a.O. (Fn. 22), Bovermann, a.a.O. (Fn. 23). 71
72
1.4 Forschungslücken und Notwendigkeit neuer Untersuchungen
21
1.4.3 Einstellung der Beteiligten zur Betriebsjustiz Nach den erwähnten Untersuchungen besitzen wir einige Kenntnisse über die Einstellungen der Arbeitnehmer, aber auch dieses Wissen ist mehr impressionistisch und kasuistisch als repräsentativ. Warum und wann bevorzugen Arbeitgeber die innerbetriebliche gegenüber der staatlichen Justiz? Dabei geht es sowohl um generelle Einstellungen und Strategien als auch um delikts- und personenspezifische Unterschiede. Welche Rolle spielt die jeweilige Arbeitsmarktsituation, die Rücksichtnahme auf das "Betriebsklima" bzw. auf den Status und das Prestige des betroffenen Arbeitnehmers? Während aber über Arbeitgeber-Attitüden wenigstens einzelne Daten bzw. Spekulationen existieren, wissen wir nichts über die Einstellungen der Arbeitnehmer zu diesem Fragenkomplex. Warum unterwerfen sie sich der privaten Strafverfolgung? Es ist zwar bekannt, daß die innerbetrieblichen Maßnahmen fast nie von den Betroffenen bei den Arbeitsgerichten angefochten werden 74 • Aber wir wissen nicht, ob diese Akzeptierung von betrieblichen Sanktionen auf der relativen Milde von Betriebsstrafen, auf der Angst vor Kündigung (und dem damit verbundenen Verlust freiwilliger Sozialleistungen des Betriebes) oder auf Rechtsunkenntnis der Betroffenen beruht.
1.4.4 Vergleich betrieblicher und staatlicher Systeme der Normdurchsetzung Die bisherigen Arbeiten haben sich zumeist darauf beschränkt, die betriebliche Strafverfolgung zu beschreiben sowie - soweit von Juristen verfaßt - an den Idealen und Grundsätzen der staatlichen Strafjustiz zu messen. Dabei ist jedoch die ebenso interessante wie schwer zu beantwortende Frage übergangen worden, worin sich staatliche und private Reaktionen auf Normverletzungen in der Praxis unterscheiden bzw. ähneln. Folgende Gesichtspunkte erscheinen hier von besonderem Interesse: Die Länge des Verfahrens von der Tat bis zur Sanktionierung; die Höhe und Gleichmäßigkeit der Bestrafung; die general- und spezialpräventiven Wirkungen der Sanktionspraxis (insbesondere Rückfall); die Folgen der Sanktionierung für die Familie des betroffenen Arbeitnehmers; und schließlich die stigmatisierende Wirkung der Bestrafung.
74
Vgl. Lisiecki, a.a.O. (Fn. 22), S. 88.
22
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
1.5 Problemstellung und Konkretisierung des Untersuchungsziels Um die beschriebenen Forschungslücken zu schließen, beschloß die am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht neu eingerichtete Forschungsgruppe Kriminologie im Jahre 1970, das Phänomen Betriebsjustiz zum Gegenstand ihres ersten Forschungsprojektes zu machen. Um neue Einsichten in den Zusammenhang zwischen Sozialkontrolle und abweichendem Verhalten zu gewinnen, war beabsichtigt, "Stück für Stück das Gesamtsystem sozialer Kontrolle, dessen Träger und die von ihm Betroffenen in bestimmten Situationen zu erforschen"75. Das Forschungsprojekt über die Betriebsjustiz ist daher nicht isoliert zu sehen, sondern steht in einer Reihe mit einigen bereits durchgeführten, noch in Arbeit befindlichen bzw. geplanten weiteren Vorhaben 76 . Um den neueren Ansatz konkretisieren und erforschen zu können, wurde die Forschungsgruppe interdisziplinär zusammengestellt. Nur so konnte versucht werden, nicht nur juristischkriminologische, sondern auch psychologische und soziologische Techni76 In der Kuratoriumssitzung des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br. am 6. 3. 1970 wurde als kriminologischer Forschungsbereich die "Betriebsgerichtsbarkeit" genannt und von P. Bockelmann und H.-H. Jescheck als bedeutsam hervorgehoben. (Vgl. Protokoll der Kuratoriumssitzung vom 6.3. 1970, S. 6, sowie ferner Jescheck, H.-H., Rechtsvergleichung als Grundlage der Strafprozeßreform. ZStW 86 (1974), S. 773. Diese Anregung wurde aufgegriffen. Vgl. Kaiser, G., a.a.O. 1971 b (Fn. 16), S. 1115; Kaiser, G., a.a.O. 1971 a (Fn. 1); Feest, J., "Betriebsjustiz": Internal Administration of Justice at the Place of Work. Abstracts on Criminology and Penology 1971 b, S. 6 ff. 78 Im einzelnen handelt es sich dabei um folgende Projekte: Die Dunkelfeldstudie (vgl. dazu: Stephan, E., Dunkelfeld und registrierte Kriminalität. KrimJ 2 (1972), S. 115 ff. sowie Kürzinger, J., Deliktfragebogen und schichtspezifisches Kriminalitätsvorverständnis Jugendlicher und Jungerwachsener. Recht der Jugend und des Bildungswesens 21 (1973), S. 147 ff.); die Stuttgarter Opferbefragung (vgl. hierzu: Stephan, E., Die Stuttgarter Opferbefragung - Eine viktimologische Analyse. Wiesbaden 1976); das Projekt Staatsanwaltschaft (vgl. hierzu insbesondere Blankenburg, E., Die Staatsanwaltschaft im Prozeß sozialer Kontrolle. KrimJ 3 (1973), S. 181 ff.; Sessar, K., Empirische Untersuchungen zu Funktion und Tätigkeit der Staatsanwaltschaft. ZStW 87 (1975), S. 1033 ff. sowie Steffen, W., Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit aus der Sicht des späteren Strafverfahrens. Wiesbaden 1976); das Projekt Wirtschaftskriminalität (vgl. hierzu Berckhauer, F. H. / Kury, H., a.a.O. (Fn. 13, 1975»; das Projekt "Geldstrafe" (vgl. hierzu den Antrag für das Schwerpunktprogramm "Empirische Kriminologie einschließlich Kriminalsoziologie" bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft; Kupke, R.. Die Geldstrafe im System strafrechtlicher Sanktionierung. Unveröffentlichtes Manuskript. Freiburg 1975); das Behandlungsforschungsprojekt (vgl. hierzu Kury, H., Zur Wirkungsweise gruppentherapeutischer Behandlungsformen bei jungen Untersuchungsgefangenen. Unveröffentlichter Forschungsplan. Freiburg 1975); das Projekt "Öffentlichkeit und Polizei" (vgl. hierzu Macnaughton-Smith, P .. Vorstellun~en der Bevölkerung über kriminalisierbare Situationen. KrimJ 3 (1974), S. 217 ff.); sowie das Projekt Anzeigeerstattung (vgl. hierzu Kürzinger, J., Private Strafanzeigen und polizeiliche Reaktion. Unveröffentlichtes Manuskript. Freiburg 1975).
1.5 Problemstellung und Konkretisierung des Untersuchungsziels
23
ken der empirischen Sozialforschung und neuere sozialwissenschaftliche Erkenntnisse einzubringen und adäquat zu nutzen. Weiter wird durch die Berücksichtigung ausländischer Untersuchungen versucht, über die ausschließlich nationale Sicht des Problemkreises hinaus ansatzweise vergleichende kriminologische Forschung durchzuführen76a • Angesichts der bis dahin vorwiegend juristisch-kriminologischen Fragestellung (siehe 1.3) hätte es nahegelegen, das Projekt primär als eine "fact finding mission", als Rechtstatsachenforschung zu verstehen. Für die Initiatoren des Projektes verbanden sich mit dem Thema jedoch weiterführende kriminologische Fragestellungen. Durch die Einbeziehung des Konzeptes sozialer Kontrolle und mit der Rezeption des "labeling approach" in der deutschen Kriminologie7; rückte eine Fülle von Fragestellungen ins Blickfeld, die die Problemstellung weiter konkretisieren: Fragen der Organisation der Betriebsjustiz, des innerbetrieblichen Dunkelfeldes, der Selektionskriterien, der Definitionsmacht der Beteiligten; aber auch des Stellenwertes der Betriebsjustiz sowohl im einzelnen Betrieb, als auch in der modernen Industriegesellschaft insgesamt. Insbesondere stellt sich das Problem, nach welchen Kriterien die betrieblichen Kontrollorgane registrieren bzw. definieren. Wir stoßen hier auf einen wichtigen Punkt kriminologischer Diskussion78 : Drückt sich in einer überrepräsentativen Registrierung bestimmter Merkmalsgruppen als Täter deren häufigere Delinquenz, größere kriminelle Energie bzw. Veranlagung aus, oder kommen hier Selektionsstrategien zur Auswirkung, die nach bestimmten Mustern bestimmte Merkmalsträger eher registrieren als andere, so daß diese also Gegenstand eines spezifischen Selektionsprozesses werden? 78a Grundlegend zur vergleichenden Kriminologie Mannheim, H., Vergleichende Kriminologie. Stuttgart 1974. Englische Originalfassung: Comparative Criminology. 2. Auf!., London 1966. 77 Sack, F., Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: Sack, F. / König, R. (Hrsg.), Kriminalsoziologie. Frankfurt a. M. 1968, S. 431 ff.; ders., Probleme der Kriminalsoziologie. In: König, R. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. 2, Stuttgart 1969; ders., Definition von Kriminalität als politisches Handeln: der Labeling Approach. KrimJ 4 (1972), s. 1 ff.; vgl. hierzu auch Rüther, W., Abweichendes Verhalten und Labeling Approach. Köln, Berlin, Bonn, München 1975 sowie Kürzinger, J., Die Kritik des Strafrechts aus der Sicht moderner kriminologischer Richtungen. ZStW 86 (1974), S. 211 ff. Kritisch dazu aus juristischer Sicht Jescheck, H. H., Die Kriminalpolitik der deutschen Strafrechtsreformgesetze im Vergleich mit der österreichischen Regierungsvorlage 1971. In: Lackner, K., u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Gallas. Berlin 1973, S. 28 ff. 78 Feest, J., Betriebsjustiz: Organisation, Anzeigebereitschaft und Sanktionsverhalten der formellen betrieblichen Sanktionsorgane. ZStW 85 (1973), S. 1143 ff.
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1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
Für die erste Annahme lassen sich eine Reihe von soziologischen, ökologischen, psychoanalytischen und psychologischen Kriminalitätstheorien anführen 79 , die von einer höheren Delinquenzbelastung bestimmter Gruppen ausgehen und diese erklären. Zu denken ist etwa an die Mertonsche AnomieTheorie 80 , die broken-home-Theorie81 , die psychoanalytische Kriminalitätstheorie der Persönlichkeitsstörungen82 , den ökologischen Ansatz8S u. v. a. Der Definitionsansatz geht dagegen davon aus, daß Kriminalität "zugeschrieben" wird; er behauptet die Schichtdeterminiertheit des Handeins der Vertreter der Kontrollinstanzen 84 • Das Dunkelfeld der Kriminalität - so Sack - ist demnach nicht nach den Regeln des Zufalls konstituiert, sondern ist als eine systematisch produzierte Größe zu verstehen85 • MacnaughtonSmith 86 macht darauf aufmerksam, daß sich diese Aussage allein aus den in der Kriminologie unbestrittenen Tatsachen der "Beinahe-Universalität" von Kriminalität unter den Mitgliedern einer Gesellschaft sowie der "Teil-Vorhersagbarkeit" krimineller Auffälligkeit aufgrund von bestimmten Vorhersagemethoden herleiten läßt. Integrationstheoretische Konzepte verbinden beide Ansätze miteinander: So führt Rosellen 87 z. B. an, daß in der Beziehung zwischen dem Grad der Normkonformität und der Sanktionshäufigkeit eine Reihe von Variablen eingreift, die wirksam werden können bei der Wahrnehmung und Interpretation des abweichenden Verhaltens sowie bei der Sanktionszumessung durch das Sanktionssubjekt. Ob ein bestimmtes Verhalten vom Sanktionssubjekt wahrgenommen wird, ob dieses Verhalten sanktioniert wird, ist nicht - in statistischem Sinne - dem Zufall überlassen, sondern abhängig sowohl von situativen Variablen wie auch von bestimmten Merkmalen des Abweichers und des Sanktionssubjekts. Auch Rüther definiert abweichendes Verhalten durch eine Verbindung von Verhalten und Definition: "Abweichendes Verhalten ist Verhalten, das von der Umwelt als solches definiert wird." In dieser Definition sind die bei den Hauptkomponenten abweichenden Verhaltens - der Dejinitionsaspekt und der Verhaltens aspekt - enthalten 88 • 79 U. a. Shaw, C. R. / McKay, H. D., Sodal Factors in Juvenile Delinquency. Washington 1931; Cohen, A., Delinquent Boys. New York 1955; Merton, R., Sodal Theory and Sodal Structure. New York 1957; Cloward, R. A. /Oh!in, L., Delinquency Opportunity. Landon 1961; Moser, T., Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur. Frankfurt 1970; Sutherland, E., Principles of Criminology. 9. Aufl., Philadelphia 1974. 80 Vgl. Merton, R., a.a.O. (Fn. 79) sowie als neuesten Diskussionsbeitrag hierzu Bohle, H., Soziale Abweichung und Erfolgschancen. Neuwied, Darmstadt 1975. 81 Vgl. zusammenfassend Sack, F., Familie. In: KKW. Freiburg 1975, S. 84 ff. 82 Vgl. zusammenfassend Dechene, H. C., Verwahrlosung und Delinquenz. Profil einer Kriminalpsychologie. München 1975, insbesondere S. 107 ff. sowie Breland, M., Präventive Kriminalitätsbekämpfung. Gießen 1974, S. 84. 83 Vgl. zusammenfassend Albrecht G., Kriminalgeographie. In: KKW. Freiburg 1974, S. 165 ff. 84 Bohle, H, a.a.O. (Fn. 80), S. 1. 85 Sack, F., Selektionsmechanismen. In: KKW. Freiburg 1974, S. 299 ff. 86 Macnaughton-Smith, P., The Second Code. JResCrim 5 (1968), S. 189 ff. 87 Rosellen, R., Disziplin und Notenerfolg. Phil. Diss. Freiburg 1975, S. 29 ff. 88 Rüther, W., a.a.O. (Fn. 77), S. 57.
1.5 Problemstellung und Konkretisierung des Untersuchungsziels
25
Das kann bedeuten, daß größere Delinquenzbelastung und durch AlItagstheorien und Erfahrungswissen von Kontrollinstitutionen gesteuertes selektives Vorgehen bei Registrierung und Sanktionierung von Normabweichern gemeinsam das produzieren, was in der gesellschaftlichen Bewertung als größere Kriminalitätsbelastung einzelner Gruppen gilt. Es kann nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein, diesen Theorienstreit zu entscheiden89, zumal der labeling-approach in jüngster Zeit möglicherweise zugunsten anderer, neuerer Fragestellungen etwas zurückgetreten ist. Wir versuchen vielmehr, im Bereich betrieblicher Sozialkontrolle systematisch Informationen zu sammeln, um damit möglicherweise eine integrative Betrachtung von Verhalten und Kontrollverhalten (bzw. von kriminellem Verhalten und Kriminalisierung) bei der Analyse abweichenden Verhaltens in Industriebetrieben anzubieten 90 • Dabei ist dieses Projekt keiner der beiden theoretischen Erklärungsrichtungen ausschließlich verbunden. Nicht alle Details der hier angesprochenen Fragestellungen sind unmittelbarer Gegenstand unserer Studie geworden. Sie bilden jedoch mit den Rahmen, in dem die Ergebnisse dieser Untersuchung analysiert werden müssen. Danach läßt sich schließlich unser F01·schungsziel wie folgt konkretisieren: Wir wollen in Anbetracht und unter Einbeziehung der neueren kriminologischen Diskussion den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Sozialkontrolle und abweichendem Verhalten in Betrieben untersuchen. Dieses Vorhaben richtet danach den Blick zunächst und hauptsächlich auf die Reaktion von Industriebetrieben auf Normverstöße ihrer Mitglieder in Absicht, Durchführung und Ergebnis. Dabei verstehen wir Betriebsjustiz als Teilsystem sozialer Kontrolle. Aus der Reaktion der Betriebe erwarten wir Ergebnisse zur Normstruktur, zur Täterstruktur, über Art und Umfang innerbetrieblicher Normverstöße sowie des innerbetrieblichen Dunkelfeldes. Weiter wollen wir die Einstellung der betroffenen Arbeitnehmer zur innerbetrieblichen Sozialkontrolle erfassen und analysieren. Aus der Diskussion von Definition, Erkenntnisstand, Forschungslükken und Problemstellung haben wir die folgenden Arbeitshypothesen 91 entwickelt. Diese sollen unser erkenntnisleitendes Interesse verdeutlichen und zugleich die Fragestellung spezifizieren: Bg Das um so weniger, als Sack für die "offizielle" Kontrolle abweichenden Verhaltens annimmt, daß das Funktionieren des Systems "von einer gewissen Oberflächenentrücktheit, Unsichtbarkeit und Leugbarkeit abhängt", was im Bereich betrieblicher Sozialkontrolle verstärkt gilt. Vgl. Sack, F., a.a.O. 1974 (Fn. 85), S. 301. 90 Vgl. hierzu Rüther, W., a.a.O. (Fn. 77), S 62. 91 Vgl. den Forschungsantrag bei der DFG 1971 (unveröffentlicht).
26
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
1.6 Arbeitshypothesen 1. Der (Groß-)Betrieb erfüllt in allen Industrieländern - unabhängig von der Art des politischen Systems - eine Aufgabe sozialer Kontrolle. Eine Dimension sozialer Kontrolle stellt die sog. Betriebsjustiz dar.
2. Formen der Betriebsjustiz finden sich in allen Industriezweigen, wobei jedoch sehr unterschiedliche Kontrollstile praktiziert werden. 3. Betriebsjustiz erfaßt vorrangig die ohnehin schon betrieblich und sozial Auffälligen und Desintegrierten und privilegiert andere Gruppen von Arbeitnehmern (etwa durch bevorzugte Zuteilung positiver Sanktionen). 4. Arbeitgeber bevorzugen Betriebsjustiz gegenüber staatlicher Justiz primär deshalb, weil sie nur mit Hilfe interner Sanktionen die Entscheidung über den Verbleib oder Verlust wertvoller Arbeitskräfte in der Hand behalten. Dementsprechend stehen sie in Zeiten der Hochkonjunktur und des Arbeitskräftemangels der innerbetrieblichen Regelung besonders positiv gegenüber, während sie in Krisenzeiten eher geneigt sind, sich des staatlichen Sanktionsapparates zu bedienen. 5.1 Arbeitnehmer bevorzugen Betriebsjustiz als das "kleinere Übel" gegenüber staatlicher Justiz, weil die letztere nicht nur schwerere Strafen vorsieht, sondern auch vielfach einschneidende Nebenfolgen haben kann (Verlust des Arbeitsplatzes, Publizität, Stigmatisierung, etc.). 5.2 Einstellungen der Arbeitnehmer zur Betriebsjustiz variieren darüber hinaus mit dem Ausmaß der Arbeitnehmerbeteiligung an den innerbetrieblichen Sanktionsorganen. 6. Die Betriebsjustiz in ihren zahlreichen verschiedenen Varianten kann als Naturexperiment mit alternativen Formen der Sozialverteidigung angesehen werden. Jeweils verglichen mit der ordentlichen Strafjustiz arbeitet die Betriebsjustiz vermutlich a) ökonomischer im Sinne der Zeit-Mittel-Relation, b) effektiver im Sinne von Befriedigung und Resozialisierung, c) willkürlicher im Sinne rechtsstaatlicher Kriterien. Dabei war von vornherein klar, daß nicht alle dieser Thesen in gleicher Weise einer empirischen Überprüfung zugänglich sind. So stellt These 1 eine theoretische Grundannahme dar, welche durch unsere Feldforschung nicht direkt bestätigt oder widerlegt werden kann. Hier liefert uns die Sekundäranalyse (1.3) Anhaltspunkte für die Verbrei-
1.7 übersicht über den Forschungsbericht
27
tung des Phänomens. Aber auch bei anderen Thesen war eine strenge Prüfung im Rahmen unserer Untersuchung nicht möglich92 . Andererseits ergaben sich während der Durchführung der Erhebung neue Fragestellungen und Einsichten, die wir bei der Planung der Untersuchung nicht vorausgesehen hatten. Aus diesen Gründen erscheint es uns unzweckmäßig, die Darstellung unserer Ergebnisse zu eng nach diesen Ausgangshypothesen zu ordnen. Vielmehr werden wir das von uns erhobene Material in der gebotenen Breite systematisch abhandeln. 1.7 Vbersicht über den Forschungsbericht Der Darstellung der Ergebnisse ist ein Kapitel vorangestellt, welches den Ablauf und die generelle Methodik der Untersuchung im Überblick darstellt (Kap. 2), während speziellere Angaben über die Vorgehensweise und ihre Probleme in die betreffenden Kapitel integriert sind. Anschließend finden sich - kurz zusammengefaßt - die Ergebnisse der Betriebsenquete (Kap. 3), welche die Begründung dafür liefern, warum wir uns in der Hauptstudie auf größere Betriebe konzentriert haben. Die Ergebnisse der Hauptstudie (Arbeitgeber-, Betriebsrat- und Arbeitnehmerbefragung) werden in den folgenden Kapiteln dargestellt: Wir beginnen mit einer Beschreibung der betrieblichen Kontrollorgane und -praktiken sowie deren unterschiedlicher formeller und informeller Organisation. Dabei wird insbesondere auch die Rolle und der Stellenwert des Betriebsrates im betrieblichen Kontrollsystem behandelt (Kap. 4). Die im Rahmen dieses Kontrollsystems registrierten Verstöße werden anschließend insgesamt analysiert; ein Vergleich der Anzeigeneigung bei verschiedenen Delikten ergibt Anhaltspunkte für die Struktur des Dunkelfeldes der polizeilich erfaßten Kriminalität. Aber auch innerhalb des Betriebes existiert ein Dunkelfeld von Verstößen, dessen Umfang und Struktur durch unsere Arbeitnehmerbefragung aufgehellt wird. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Frage des (Nicht-)Weitermeldens von Verstößen gewidmet (Kap. 5). Die Merkmale der betrieblich registrierten Täter sind Gegenstand des nächsten Kapitels (Kap. 6), wobei die Frage diskutiert wird, inwieweit Merkmalshäufungen auf besondere Delinquenzbelastung oder auf selektive Verfolgung zurückzuführen sind. Die im Betrieb vorgesehenen und die tatsächlich praktizierten Sanktionen werden einander in Kapitel 7 gegenübergestellt und anhand der letzteren die These selektiver Sanktionierung geprüft. War bisher wesentlich von den Kontroll- und 92 Bei einigen Punkten wurde dies von vornherein erwartet, so etwa bei der Frage der positiven Sanktionen (These 3). Vgl. dazu Kaiser, G., a.a.O. 1971 b (Fn. 16), S. 1120.
28
1. Betriebsjustiz als soziale Kontrolle
Sanktionsmustern der Betriebe und den sich darin niederschlagenden Einstellungen der Betriebsleitungen die Rede, so werden in Kap. 8 die Arbeitnehmereinstellungen zu innerbetrieblichen Verstößen und ihrer Ahndung behandelt. Im Rahmen unserer Untersuchung ließ sich ein systematisch-empirischer Vergleich zwischen System, Organisation, Verfahren sowie Ergebnissen staatlicher und betrieblicher Sanktionierung nicht so wie geplant durchführen. Gleichwohl haben wir uns um eine vergleichende Analyse bemüht. Einige vergleichbare Daten aus unserer und einer am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht parallel durchgeführten Untersuchung der Staatsanwaltschaft93 (Kap. 9) erlauben begrenzte Schlußfolgerungen für die Bedeutung, die Sanktionsstile und die Mängel der beiden Kontrollsysteme. In einer zusammenfassenden Würdigung (Kap. 10) werden sodann die ursprünglichen Thesen im Lichte der Untersuchungsbefunde überprüft, ergänzt und modifiziert sowie ihre kriminalpolitische Bedeutung angedeutet*. Im Anschluß daran werden die verfassungs- und arbeitsrechtlichen Aspekte der Betriebsjustiz überprüft (Kap. 11), während abschließend die strafrechtliche und strafprozessuale Problematik beleuchtet wird (Kap. 12).
Im Anhang findet sich als Exkurs eine qualitative Analyse von Arbeits- und Betriebsordnungen. Diese Dokumente werden ausgewertet unter dem Aspekt, inwieweit sie eine Formalisierung der Betriebsjustiz enthalten, welche Tatbestände mit welchen Sanktionen bedroht werden und welche Verfahrensweisen dabei vorgesehen sind.
93
Blankenburg, E., a.a.O.
(Fn. 76).
* Die Kapitell, 2, 4, 6, 7 und 10 dieser Veröffentlichung wurden der
Philosophischen Fakultät IV der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. als Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde von Gerhard Metzger aus Künzelsau vorgelegt. Erstreferent: Prof. Dr. H. Popitz; Zweitreferent: PD Dr. G. Spittler; Sprecher: Prof. Dr. B. Kienast; Tag der Promotion: 13. 2. 1976.
2. Methode und Ablauf der Untersuchung 2.1 Vorbemerkungen Zur Überprüfung der Hypothesen haben sich generell drei Forschungsmethoden der empirischen Sozialforschung angeboten: Dokumenten- bzw. Aktenanalyse, teilnehmende Beobachtung und Datenerhebung durch Befragung der Beteiligten (Interviewerhebung und Gruppendiskussionen). Da in einem frühen Stadium der Untersuchung sichtbar wurde, daß es konstant und detailliert geführte Akten nur in sehr wenigen Betrieben gibt, war keine repräsentative Aktenanalyse möglich1 • Die zweite Zugangsmöglichkeit wäre teilnehmende Beobachtung gewesen. Das hätte konkret bedeutet, auf verschiedenen Ebenen der Betriebshierarchie und in mehreren Betrieben verschiedener Struktur über einen längeren Zeitraum Beobachter einzusetzen. Ein solches Verfahren wäre sicherlich von den erwartbaren Ergebnissen her diskutabel gewesen. Aber aufgrund der mit der Durchführung verbundenen technischen, finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten erschien es nicht realisierbar!. Dennoch: Wären die genannten Probleme auszuräumen, so könnte dieses Instrument für Folgeuntersuchungen zweifellos neue Erkenntnisse und in einzelnen Bereichen reicheres Material bringen. Aus den genannten Gründen haben wir uns für die Befragung der Beteiligten entschieden. Die Schwächen der verschiedenen Formen von Befragungen sind uns genügend bewußt, um von vornherein eine ein1 Aktenanalyse war die bevorzugte Methode der älteren deutschen Erhebungen über Betriebskriminalität und Betriebsjustiz. Das führte jedoch dazu, daß diese Untersuchungen sich auf solche Betriebe beschränkten, welche über entsprechende Unterlagen verfügten (vgl. Kap. 1.3 sowie den überblick bei Feest 1971 a). Aus unserer eigenen Untersuchung wissen wir, daß selbst bei größeren Betrieben die Dokumentation von Verstößen quantitativ und qualitativ unzureichend für repräsentative Aussagen ist. Zu der Zahl der Betriebe, die Akten führen, vgl. Kapitel 3. Zur Methode der Dokumenten- bzw. Aktenanalyse vgl. im übrigen Atteslander, P., Methoden der empirischen Sozialforschung. Berlin, New York 1974, S. 53 -74. Die Methode der Dokumentenanalyse haben wir bei der im Exkurs (siehe Anhang) dargestellten Untersuchung von Arbeitsordnungen angewendet. 2 Vom Aufwand her ist dieses Verfahren eher für qualitative Vorstudien als für quantitative Repräsentativuntersuchungen geeignet. Zur Methode siehe Friedrichs, J. / Lüdtke, H., Teilnehmende Beobachtung. Weinheim, Basel 1973, S. 17 - 36.
30
2. Methode und Ablauf der Untersuchung
schränkende Bemerkung zu machen 3 : Wir haben mit den weiter unten beschriebenen Methoden bei den genannten Stichproben im angegebenen Zeitraum die Ergebnisse gefunden, über die wir hier berichten. Interpretationen, Folgerungen und Generalisierungen beziehen sich auf diesen Rahmen des von uns mit empirisch-sozialwissenschaftlichen Methoden erfaßten Datenmaterials. Weiter sind wir uns darüber im klaren, daß im Interview bei Faktfragen die Beziehung zwischen den Indikatoren und den zu messenden Variablen im allgemeinen schwächer ist als bei Einstellungsfragen. Diesen Nachteil haben wir in Kauf genommen, da uns kein anderer Zugang zu den interessierenden Sachverhalten zur Verfügung stand4 •
2.2 Beschreibung der drei Untersuchungsphasen -
Die Betriebsenquete (1971) bestand aus einer schriftlichen Umfrage bei den Betriebsleitungen von 540 Industriebetrieben in BadenWürttemberg.
-
Die Hauptstudie (1972) wurde in 68 Industriebetrieben in BadenWürttemberg mit je einem Interview eines Vertreters der Betriebsleitung und des Betriebsrats durchgeführt.
-
Die Arbeitnehmer-Untersuchung (1973) bestand aus zwei Teilen: einer quantitativ-orientierten Befragung von 260 Arbeitnehmern in 13 Betrieben und einer qualitativ-orientierten Befragung in 5 Betrieben mit 6 Gruppendiskussionen und 36 Einzelinterviews.
2.2.1 Betriebsenquete Ziel der Betriebsenquete war es, einen ersten repräsentativen Überblick über Umfang und Bedeutung der Phänomene Betriebsjustiz und Betriebskriminalität in Baden-Württemberg zu gewinnen. Dazu wurde eine systematische Zufallsstichprobe aller Betriebe des Landes BadenWürttemberg zur Ausgangsbasis genommen. Damit konnte einmal die geographisch ungleichmäßige Verteilung der Industrie in Baden-Württemberg berücksichtigt werden. Zum zweiten schien es wichtig, vor 3 Vgl. hier insbesondere Atteslander, P., a.a.O. (Fn. 1), S. 74 - 118; Kupke, R, Methoden der Kriminologie. In: KKW. Freiburg 1974, S. 215 - 223; Mayntz, RI Holm, K.I Hübner, P., Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie. Opladen 1971, S. 102 - 120 und 68 - 82; Noelle, E., Umfragen in der Massengesellschaft. Reinbek 1965, S. 32 ff. und Scheuch, E. K., Das Interview
in der Sozialforschung. In: König, R (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 2. Stuttgart 1974, S. 66 ff. (insbesondere auch S. 134 f.). 4 Unser Fragebogen trägt dem insofern Rechnung, als neben zahlreichen vorvercodeten Fragen immer wieder offene Fragen gestellt wurden, die es den Interviewten erlaubten, ihr eigenes Verständnis der Zusammenhänge darzulegen und damit unserer Interpretation Hinweise zu geben.
2.2 Beschreibung der drei Untersuchungsphasen
31
einer Beschränkung auf die uns primär interessierenden größeren Betriebe ein Bild von der Verteilung der Merkmale bei Betrieben aller Größenklassen zu erhalten.
Population und Stichprobe Unsere Interviewstichprobe wurde erhoben aus der Population aller Industriebetriebe im Sinne der baden-württembergischen Industriestatistik, in der alle Industriebetriebe mit 10 und mehr Beschäftigten erfaßt sind5• Für diese Grundgesamtheit stand uns eine vollständige Adressenkartei zur Verfügung 6• Es wurde eine systematische Zufallsstichprobe von 5 Ofo der 10838 Industriebetriebe in Baden-Württemberg konstruiert. Vor Ziehung dieser Stichprobe wurden die Adressenkarten nach folgenden Gesichtspunkten geordnet: zunächst nach den Industriezweigen (Branchen) der baden-württembergischen Industriestatistik7, innerhalb dieser Gruppen nach den vier Landesteilen von Baden-Württemberg (Nordwürttemberg, Nordbaden, Südbaden, Südwürttemberg-Hohenzollern). Bei 6 Betrieben fehlten diese Angaben, so daß sie aus der Grundgesamtheit ausgeschieden wurden. Aus der so geordneten Kartei wurde dann jede 20. Karte gezogen, wodurch wir ein Ausgangs-Sample von 540 Betrieben erhielten.
Methode und Ablauf der Enquete Die große Anzahl von Betrieben veranlaßte uns, den ersten Schritt der Untersuchung in Form einer schriftlichen Umfrage durchzuführen. Der von uns entworfene Fragebogen wurde in Expertengesprächen diskutiert und in seiner endgültigen FassungS Anfang Juni 1971 gemeinsam mit einem AnschreibenD und einem frankierten Rückkuvert an die Betriebe versandt 1o• Zur Vermeidung von Unklarheiten wurden die 5 Der Berichtskreis umfaßt 98 Ofo der Beschäftigten und des Umsatzes der baden-württembergischen Industrie. Nicht einbezogen sind die Betriebe der Bauwirtschaft. Quelle: Statistik von Baden-Württemberg. Die Industrie 1969. Stuttgart 1970, S. 4 (im folgenden zitiert als: Industriebericht). G Die Adressenkarten enthielten verschlüsselte Informationen über die Region und die Branche der betreffenden Betriebe, nicht jedoch über die Betriebsgröße. 7 Vgl. Industriebericht, S. 42 f. 8 s. Anhang. e s. Anhang. 10 Zur Methode der schriftlichen Umfrage vgl. Richter, H. J., Strategie schriftlicher Massenbefragungen. Bad Harzburg 1970, hier insbesondere Kapitel 3 (S. 87) und Kapitel 5 (S. 146), sowie Good, W. J. / Hatt, P. K., Die schriftliche Befragung. In: König, R. (Hrsg.), Das Interview, praktische Sozialforschung, Band 1, 2. Aufl., Köln 1957, S. 172 f.
2. Methode und Ablauf der Untersuchung
32
Briefe immer dann, wenn mehrere Betriebe ersichtlich zum gleichen Großunternehmen gehörten, an den Sitz der Geschäftsleitung mit der Bitte um Weiterleitung an den Zweigbetrieb geschickt. Nach einem Rücklauf von ca. 45 Ofo bis Ende Juli 1971 wurden die Betriebe Anfang August mit einem zweiten Anschreiben l l unter Beilage eines weiteren Exemplars des Fragebogens um Mitarbeit gebeten. Danach ergab sich folgende Rücklaufquote: Tabelle 1: Rücklaufquote der Euquete
Rücklauf
n
0/0
auswertbare Fragebogen ................... . "Verweigererfragebogen "12 •.•••...••.••.•••• keine Reaktion ............................. .
350 82 108
65 15 20
Stichprobe ................................. .
540
100
Diese Rücklaufquote einer schriftlichen Befragung mit einer Mahnaktion ist unter den erschwerten Bedingungen, die Zielpersonen vorher nicht identifizieren zu können und einer zu vermutenden Mehr-Personen-Entscheidung über die Mitarbeit, als hoch anzusehen 13 • Die Repräsentativität der Stichprobe wurde gemessen an dem in dieser Phase wichtigsten Merkmal, der Größe der Betriebe: Tabelle 2: Betriebsgrößen des Enquetematerials
Respondenten % n
Betriebsgröße 10- 49 Arbeitnehmer 50- 99 Arbeitnehmer 100-499 Arbeitnehmer 500 und mehr Arbeitnehmer
143 76 95 33
N
347 15
Z2
=
32.095, df
=
3,
S,
P
Population14 n Ufo
41 22 27 10
5890 2027 2345 576
54 19 22 5
100
10838
100
< .001
Der Chi2 -Test zur Güte der Anpassung ergab eine hochsignifikante Abweichung der Verteilung unserer Stichprobe von der Verteilung ins. Anhang. Anhang. 13 Vgl. Richter, H. J., a.a.O. (Fn. 10), S. 270 - 272 mit mehreren Beispielen. 14 Industriebericht, S. 49. 15 Für drei Betriebe der 350 Respondenten lagen keine Angaben zur Betriebsgröße vor. 11
12 S.
2.2
Beschreibung der drei Untersuchungsphasen
33
nerhalb der Population. Wie Tabelle 2 zeigt, wird die Verzerrung der Stichprobe verursacht durch Überrepräsentierung von Großbetrieben (500 und mehr Arbeitnehmer) und Unterrepräsentierung der Kleinbetriebe (10 - 49 Arbeitnehmer). Das heißt, daß bei der Angabe von Werten, die unsere Gesamtstichprobe beschreiben, die Daten der größeren Betriebe übergewichtet vertreten sind. Die Irrepräsentativität erscheint bei unserem Ansatz jedoch nicht so gravierend, da uns bei dem Enquetematerial vor allem die Beziehungen zwischen Betriebsgröße und davon abhängigen Variablen interessieren und weniger die quantitative Beschreibung der Gesamtstichprobe und die eindimensionale Deskription der Population. Bei Aussagen über diese Gesamtstichprobe muß allerdings immer bedacht werden, daß sich hier die fehlende Repräsentativität des SampIes verzerrend auswirkt. Zwei mögliche Erklärungen für die Unterrepräsentierung der kleineren Betriebe bieten sich an: -
Kleinere Betriebe waren im gezogenen Adressenmaterial bereits zu wenig vertreten. Diese Annahme ist nicht überprüfbar, da über die Betriebsgrößenverteilung der gesamten Stichprobe (n = 540) keine Informationen vorliegen.
-
Kleinere Betriebe reagieren generell weniger auf Umfragen; speziell bei einem problematischen Thema wie "Betriebskriminalität" könnte dieser Faktor verstärkt auftreten.
Um in diesem Bereich nicht nur auf Vermutungen angewiesen zu sein, haben wir versucht, durch eine zusätzliche Verweigererstudie Informationen über die Motivationen der Verweigerer zu erhalten: Im November 1971 wurde eine schriftliche Befragung derjenigen Betriebsleitungen durchgeführt, die uns bis dahin keine verwertbaren Fragebogen zurückgeschickt hatten. Auf einem kurzen Verweigererfragebogen t6 wurden diese Betriebsleitungen um Angabe der Betriebsgröße (Belegschaftsstärke) sowie um Angabe der Motive für die Nichtteilnahme an unserer Untersuchung gebeten. Da hierbei jedoch nur eine Rücklaufquote von 43 Ofo (82 von 190) erzielt werden konnte, also über mehr als die Hälfte der Verweigerer keine Informationen vorliegen, ist auf eine genaue Analyse verzichtet worden. Um jedoch einen Eindruck von den Ablehnungsbegründungen zu vermitteln, seien die zwei am häufigsten genannten Motive aufgeführt: 83 Ofo (n = 68) der Verweigerer, über die wir Informationen be18
s. Anhang.
3 Betriebsjustiz
34
2. Methode und Ablauf der Untersuchung
sitzen, gaben an, in ihrem Betrieb sei "keine Kriminalität feststellbar"17, weitere 10 % (n = 8) erklärten für ihren Betrieb: "Kriminalität ist kein Problem." 2.2.2 Hauptstudie Ziel der Hauptstudie war es, über die in der Betriebsenquete gewonnenen Ergebnisse hinaus weitergehende Daten zu erheben über Umfang und Art innerbetrieblicher Delinquenz, über innerbetriebliche Kontroll- und Sanktionsstile sowie über die Organisation der Betriebsjustiz.
Population, Stichprobe und Repräsentativitätskontrolle Wir haben uns aufgrund bereits vorliegender Untersuchungen, aber auch aufgrund unserer Betriebsenquete bei dieser Fragestellung auf größere Betriebe konzentriert. Dem lag die durch die oben genannten Untersuchungen und die Ergebnisse der Betriebsenquete gestützte Annahme zugrunde, daß in größeren Betrieben eher die Chance besteht, konkretes Material über Kontroll- und Sanktionsstile sowie über die Organisation der Betriebsjustiz zu erhalten. In Kapitel 3 wird dies ausführlicher dargestellt. Die Ausgangspopulation bildeten alle baden-württembergischen Großbetriebe mit mehr als 500 Arbeitnehmern, die in den Listen der Industrie- und Handelskammern erfaßt sind18. Diese Listen von insgesamt 19 Industrie- und Handelskammern umfaßten 604 Betriebe der interessierenden Größenklasse19. Die innerhalb der Listen alphabetisch aufgeführten Betriebe wurden zunächst nach der jeweiligen Region geordnet. Dann wurde eine systematische Zufallsstichprobe von 20 % der 604 Großbetriebe mit mehr als 500 Arbeitnehmern gezogen20, wodurch sich ein SampIe von 120 Betrieben ergab. Von diesen 120 Betrieben21 erklärten sich 68 (56 %) zur Mitarbeit an der Untersuchung bereit, so daß unser Datenmaterial aus einer Stichprobe gewonnen wurde, die 11 % aller baden-württembergischen Großbetriebe über 500 Arbeit11 Vgl. hierzu Kapitel 3.1: Bei insgesamt 76 % aller Betriebe wurden nach deren Aussagen keine Verstöße registriert. 18 Dazu gehören neben Industriebetrieben auch Banken, Energiewirtschaft, Fremdenverkehrsbetriebe, Groß- und Einzelhandel, Vertretungen, Verlage und Versicherungsunternehmen. 19 Ausgeschieden wurde die Liste der Geschäftsstelle Göppingen der IHK Stuttgart, da sie Betriebe ab 50 Arbeitnehmer umfaßte und hier durch die fehlenden Angaben zur Betriebsgröße keine zuverlässige Zuordnung möglich war. 20 Verfahren : Jeder fünfte Betrieb wurde gezogen. 21 Auf einen Samplefehler, der mit der Arbeitskräftefluktuation zusammenhängt, ist noch hinzuweisen: insgesamt vier Betriebe hatten zum Zeitpunkt der Auswahl das Kriterium der Betriebsgröße (über 500 AN) erfüllt, lagen jedoch zum Zeitpunkt der Untersuchung unter dieser Marke.
2.2 Beschreibung der drei Untersuchungsphasen
35
nehmer darstellt. Einige Betriebe erklärten ihre Bereitschaft zur Mitarbeit erst nach mehrmaligem Anschreiben22 • Ausfälle 23 lassen sich in der empirischen Sozialforschung bekannterweise nicht vermeiden. Die Ausfallquote von 44 Ofo (n = 52) erschien uns nicht allzu hoch, da einmal die Teilnahme an der Untersuchung für die Betriebe mit einigem Aufwand an Zeit und gutem Willen verbunden war. Zum zweiten spielt hier die Thematik der Untersuchung eine große Rolle: Betriebe geben ungern Auskunft in diesem Themenbereich24 • Zusätzlich spielt die bereits bei der Betriebsenquete erwähnte Tatsache einer Mehrpersonenentscheidung über die Beteiligung an dem Untersuchungsprojekt eine Rolle. Die Ausfälle unserer Untersuchung lassen sich nach unseren Informationen in drei Kategorien unterscheiden: 1. a) Offene
Verweigerung aus Opposition gegen die Sozialforschung25 • b) Offene Verweigerung mit der Begründung, daß im Betrieb keine Kriminalität vorkomme26 •
2. Verdeckte Verweigerung mit der Begründung, keinen Termin zur Verfügung zu haben. 3. Selektive Ausfallgründe wie - Unerreichbarkeit der zuständigen informierten Zielpersonen - Konkurs der Firma27 wirtschaftlich oder arbeitstechnisch angespannte Betriebssituation - keine Aussageerlaubnis durch die Unternehmensführung. s. Anhang. Scheuch, E. K., Auswahlverfahren in der Sozialforschung. In: König, R. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 3 a: Grundlegende Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung, 2. Teil. Stuttgart 1974, S. 61 ff. ebenso Mayntz, R. / HoLm, K. / Hübner, P., a.a.O. (Fn. 3), S 76. 2f Das hängt zum Teil mit der Diskussion über Werkschutzpraktiken und dem daraus resultierenden negativen Image betrieblicher Kriminalitätsbekämpfung zusammen. 25 Beispielhaft folgender Briefauszug: " ... wir haben uns gewundert, daß man öffentliche Mittel für solche Zwecke einsetzt, die unserer Meinung nach nichts Nützliches bringen ... möchten uns daher mit solchen Spielereien nicht weiter beschäftigen, ... so daß wir uns nur wundern können, wie mit unseren Steuergeldern verfahren wird. " Die vorangegangene Diskussion hatte ergeben, daß sich dies nicht speziell auf das Thema dieser Untersuchung bezog. 2' Beispielhaft folgender Auszug: "Sehr geehrte Herren, in unserer Firma wurden nur sehr wenige kriminelle Delikte festgestellt, deswegen sind wir der Meinung, daß sich weitere Gespräche erübrigen ... " 27 In n = 2 Fällen. 22
23
2. Methode und Ablauf der Untersuchung
36
Um zu überprüfen, inwieweit die beschriebene Ausfallquote die Repräsentativität der befragten 68 Betriebe verzerrt hat, stellen wir in den folgenden Tabellen die Verteilung der drei Merkmale Branche, regionale Verteilung und Betriebsgröße28 in unserer Stichprobe (N = 68) und in der Gesamtpopulation (N = 604) gegenüber. Tabelle 3: Branchengliederung" Stichprobe
Branche Chemie .................. Metallverarbeitende Betriebe, Maschinenbau und Feinmechanik ................ Elektrotechnik ............ Textilindustrie ............ Sonstige Branchen30 ...... Keine Angaben ..........
........................
N
x2
4.410, df
=
=
4, ns, .50
Population Ofo
n
Ofo
n
10
15
57
9
30 6 6 16
44 9 9 24
240 74 85 120 28
40 12 14 21 5
68
101
604
101
> p > .3031
Tabelle 4: Regionale Verteilung Region
Stichprobe n Ofo
Nordwürttemberg ....... . Nordbaden ............... . Südbaden ............... . Südwürttemberg ......... .
24 17 15 12
35 25 22 18
252 121 105 98
44 21 18 17
N
68
100
576
100
....................... .
x2 =
2.194, df = 3, ns, .80
Baden-Württemberg 32 n Ofo
> p > .70
Dabei ist mit Betriebsgröße generell Belegschaftsstärke gemeint. Für die Berechnung von Chi-Quadrat zur Güte d. Anpassung wurden die 28 Betriebe aus der Population, bei denen die Branche nicht ermittelt werden konnte, ausgeklammert. 30 Um den Chi-Quadrattest zu ermöglichen, wurden hier folgende Branchen mit folgender Verteilung zusammengefaßt: 28 29
Sonstige Branchen Bauindustrie ................... . Nahrungs- und Genußmittel ..... . Banken und Versicherungen ..... . Energiewirtschaft ............... . Druck- und Papierindustrie ..... . holzverarbeitende Industrie ..... . lederverarbeitende Industrie ... .
Hauptstudie n Ofo 2
1 3
1
3 5
1
Population Ofo
n
3 1
21 27
3 4
1 4 7
16
3
4
1
9 9
22
7
1 1
4 1
31 P bezeichnet hier die Wahrscheinlichkeit dafür, daß aus der beschriebenen Population eine Stichprobe gezogen wird, die hinsichtlich des erfaßten Merkmals so stark wie die unsere oder noch stärker von der Populationsverteilung abweicht. Ein hoher p-Wert indiziert also hohe Repräsentativität.
2.2 Beschreibung der drei Untersuchungsphasen
37
Tabelle 5: Betriebsgrößen
Stichprobe
Betriebsgröße
n
500-999 AN ............. . 1000 u. mehr AN ......... .
28
40
N ...................... ..
68
x2 =
.43, df
=
1, ns, .70
Baden-Württemberg 33 n
Ufo
59 41
361 215
63 37
100
576
100
Ufo
> p > .50
Wie die Tabellen zeigen, können die Verteilungen der Merkmale Branche, Region und Betriebsgröße innerhalb unserer Stichprobe als für die Ausgangspopulation repräsentativ betrachtet werden.
Methode und Ablauf der Hauptstudie Als Erhebungsmethode wurde die mündliche Befragung anhand standardisierter Fragebogen34 gewählt. In jedem Betrieb wurden zwei Interviews durchgeführt, einmal mit einem Vertreter der Betriebsleitung, im Normalfall mit dem Personalleiter (selten mit Betriebsleitern, Vorstandsmitgliedern oder dem Inhaber der Firma), zum anderen mit einem Mitglied des Betriebsrates, in aller Regel mit dem Vorsitzenden des Betriebsrates (seltener mit einem Stellvertreter oder mit "einfachen" Betriebsratsmitgliedern)35. Dabei sind wir von der Annahme ausgegangen, daß wir durch Parallelinterviews in einem Betrieb ein Maximum an Information sowie ein gewisses Maß an Kontrollmöglichkeiten der gegenseitigen Aussagen erreichen. Die Interviews dauerten im Durchschnitt zwischen einer und zwei Stunden, in Einzelfällen hielten wir uns jedoch bis zu einem Tag in dem betreffenden Betrieb auf. Die Interviewerhebung fand in der Zeit von April bis September 1972 statt. 32 Die Differenz zwischen den 576 Betrieben über 500 Arbeitnehmer im Industriebericht und den 604 Betrieben in den IHK-Listen resultiert aus der Einbeziehung der Sparten Banken und Versicherungen sowie Großhandelsbetriebe in den IHK-Listen, während sich der Industriebericht auf das .. produzierende" Gewerbe beschränkt. 33 Diese Daten entstammen ebenfalls aus dem Industriebericht BadenWürttemberg, da in den IHK-Listen diese Informationen nicht enthalten sind. So erklärt sich auch hier die Differenz im N der Populationen. 34 s. Anhang. 35 Auf Betriebsleitungsseite verteilten sich die Interviews wie folgt: 49 Interviews mit Leitern der Personalabteilung, 13 mit Mitgliedern der Geschäftsleitung, ein Interview mit einem Betriebsleiter (im technischen Sinne) und 3 Interviews mit Leitern der Werkschutzabteilung. Auf Betriebsratsseite war folgende Verteilung gegeben: 55 Interviews mit Betriebsratsvorsitzenden, 2 mit stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden und 9 mit Betriebsräten, die jedoch oft Spezialisten des Betriebsrats in diesem Themenbereich waren.
38
2. Methode und Ablauf der Untersuchung
Der von uns verwendete standardisierte Fragebogen wurde in zwei Preteststufen auf inhaltliche Vollständigkeit und Praktikabilität getestet: nach einer ersten Orientierungsstufe bei sechs Betrieben Baden-Württembergs wurden in einer zweiten Stufe 14 Betriebe Baden-Württembergs mit mehr als 250 Arbeitnehmern unter den gleichen Bedingungen wie in der Hauptstudie befragt. Die wichtigste Änderung, die nach dieser zweiten Preteststufe vorgenommen werden mußte, betraf eine Kürzung des Fragebogens, da die Interviews in dieser Preteststufe regelmäßig länger als vier Stunden dauerten. Durch diese so erzwungene Kürzung ergaben sich selbstverständlich Beschränkungen hinsichtlich der erfaßbaren Merkmale. Der Fragebogen war folgendermaßen strukturiert: -
allgemeine Betriebsmerkmale, betriebliche Kontrollorganisation, betrieblich registrierte Straftaten und Ordnungsverstöße, Angaben zu den jeweils letzten drei registrierten Verstößen und ihren Tätern38 •
Ein Teil der Variablen wurde durch Vorgabe von Listen und Kartensätzen erfaßt37 • Die Daten wurden in drei Stufen ergänzt: a) In einer vorstrukturierten "letzten Seite"38 des Interviews (die nach dem Interview ohne den Befragten ausgefüllt wurde), konnte der Interviewer seine Eindrücke zusammenfassen und die speziellen Probleme des Befragten darstellen. Gleichzeitig wurde hier die vermutete Eignung und Kooperationsbereitschaft der Betriebe für weitere U n tersuchungsschri tte festgehalten. b) In einem als Nacherhebung deklarierten Schritt wurden genaue Daten zur Belegschaftsstruktur und zur Fluktuation erhoben, Daten, die den Befragten zum Zeitpunkt des Interviews meist nicht detailliert zur Verfügung standen. c) Schließlich wurden von den Interviewern nach Abschluß der Interviews detaillierte Erfahrungsberichte über den Verlauf der Untersuchung in technischer (Fragebogen etc.) und inhaltlicher Hinsicht (Zusatzinformationen, Interpretationsvorschläge etc.) erstellt. 38 Dabei wurden die Interviewten gebeten, jeweils zwei Delikte im strafrechtlichen Sinne und einen betrieblichen Ordnungsverstoß zu beschreiben. Dieser Teil des Hauptstudienfragebogens wird im Folgenden als "TäterteU" bezeichnet. 37 s. Anhang. 38 s. Anhang.
2.2 Beschreibung der drei Untersuchungsphasen
39
Die wichtigsten Informationen aller drei zusätzlichen Stufen sind in die Auswertung der Daten mit eingegangen.
Interviewer Die Interviews wurden von Zwei-Mann-Teams durchgeführt. Dabei übernahm jeweils ein Mitarbeiter die Rolle des Interviewers, der andere die des Beobachters. Die Rollen wurden nach jedem Interview gewechselt. Dieses Vorgehen hatte sich nach den Erfahrungen der Preteststufen als sehr zweckmäßig erwiesen: durch die Anwesenheit des Beobachters war der Informationsverlust minimal, zudem waren die bei einer solchen Thematik nicht auszuschließenden kritischen Interviewsituationen so leichter zu überbrücken. Weiter wurde durch den Einsatz von Zwei-Mann-Teams das Interviewerverhalten bis zu einem gewissen Grade kontrolliert. In einigen Fällen mußten die Interviews von Betriebsleitung und Betriebsrat jedoch zeitlich parallel durchgeführt werden, so daß jeweils nur 1 Interviewer eingesetzt werden konnte. An der Feldarbeit waren 7 Interviewer beteiligt: vier Mitglieder der Forschungsgruppe (ein Jurist, ein Psychologe, ein Soziologe/Jurist, ein Soziologe) und drei freie Mitarbeiter (zwei Jurastudenten, ein Rechtsreferendar). Sie waren durch Teilnahme an den Pretests, die zugleich die Funktion des Interviewertrainings hatten, für ihre Aufgabe geschult worden.
2.2.3 Arbeitnehmeruntersuchung Ziel der Arbeitnehmeruntersuchung war die Klärung der folgenden Fragen: -
Was wissen Arbeitnehmer über die Phänomene Betriebskriminalität und Betriebsjustiz? Welche Einstellung haben Arbeitnehmer zur Betriebsjustiz und zur Betrieb:5kriminalität?
Die Befragung der Betriebsräte als den gewählten Vertretern der Arbeitnehmer konnte für diese Bereiche keine zuverlässigen Daten ergeben. Da jedoch zur Beurteilung des Gesamtphänomens die Beantwortung der obengenannten Fragen unerläßlich ist, haben wir spezielle Arbeitnehmerstudien durchzeführt. 2.2.3.1 Qualitative Studie Um unsere eigenen quantitativen Ergebnisse mit Informationen mehr qualitativer Art kombinieren zu können, wurde eine psychologische Forschungsgruppe aus München mit der Durchführung einer qualitativen Studie beauftragt39 •
40
2. Methode und Ablauf der Untersuchung
Ziele Im Rahmen dieser Teilstudie war zu klären, welche Tatbestände innerbetrieblich als Normverstöße aufgefaßt werden, welche Einstellungen und Motive gegenüber solchen Normverstößen wirksam werden und welche Sanktionen dabei unter welchen Gesichtspunkten zur Anwendung kommen. Im weiteren Umfeld dieses Fragenkomplexes war zu klären, worauf das im Betrieb geltende Rechtsempfinden basiert und in welcher Beziehung es zum "allgemeinen Rechtsempfinden" außerhalb des Betriebes steht, durch welche Vorstellungen und Normen die betrieblichen Sanktionen von der öffentlichen Strafverfolgung abgehoben werden und wer im Betrieb unter welchen Zielsetzungen die Funktion der Normgebung, des Anzeigens von Normverstößen und der Ahndung von Normverstößen innehat.
Auswahl der Betriebe und der Interviewpartner Die Betriebe wurden aus der Stichprobe der Hauptstudie ausgewählt. Es wurde eine nach dem Organisationsgrad in fünf Gruppen geschichtete Zufalls auswahl getroffen, wobei in jeder Gruppe ein Betrieb selektiert wurde40 • In diesen fünf Betrieben wurden dann insgesamt sechs Gruppendiskussionen und 36 Einzelinterviews durchgeführt. Da es uns in diesem Teil der Untersuchung um die Erhebung qualitativen Materials ging, konnten wir auf eine repräsentative Auswahl der Betriebe verzichten.
Instrument der Erhebung Für die Datenerhebung wurden zwei Methodenansätze gewählt: das nondirektive Einzelinterview und die nondirektiv geleitete Gruppendiskussion41 • Die Gemeinsamkeit beider Methoden, die nondirektive Datengewinnung, geht aus von der Annahme, daß motivationale und Einstellungsgesichtspunkte in der Regel den Befragten nicht unmittelbar gegenwärtig und bewußt verfügbar sind, sondern vielmehr erst im Gespräch reflektiert und artikuliert werden können. 39 Diese Forschungsgruppe hat in den letzten Jahren einige psychologische Studien zu unterschiedlichen Themenbereichen durchgeführt. Vgl. z. B.: Schönhals, M. und M., Politische Einstellungen und Orientierungen Münchener Jugendlicher. München 1972 (unveröffentlichtes Manuskript). Lautmann, R. I Schönhals-Abrahamsohn, M. I Schönhals, M., Zur Struktur von Stigmata. Das Bild des Blinden und Unehelichen. KZfSS 24 (1972), S. 83 ff. 40 Die an der quantitativen Arbeitnehmerstudie beteiligten Betriebe, die eine Kooperation dort abgelehnt hatten, wurden nicht berücksichtigt. Die fünf Gruppen verschiedener Organisationsgrade wurden wie in Fn. 44 beschrieben operationalisiert. 41 Vgl. Mangold, W., Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens. Frankfurt a. M. 1960, S. 232 ff.
2.2 Beschreibung der drei Untersuchungsphasen
41
Im non direktiven Einzelinterview wird daher eine entspannte Gesprächssituation geschaffen, die dem Befragten Raum gibt, auf eine kurze, allgemein gehaltene Themenvorgabe hin seine Vorstellungen, Bedürfnisse, Befürchtungen und Assoziationen zum Untersuchungsgegenstand zu entwickeln und zu äußern. In gleicher Weise wird bei der nondirektiv geleiteten Gruppendiskussion eine inhaltlich offene Diskussion dadurch angeregt, daß nach ebenso allgemeiner Themenvorgabe durch den Leiter nur mehr eine Einflußnahme auf die Gruppendynamik, nicht aber inhaltliche Stellungnahmen oder Fragen erfolgen. Während jedoch das Einzelinterview bevorzugt individuelle und motivationale Aspekte des Untersuchungsthemas erbringt, stehen in der Gruppendiskussion bevorzugt sozial und normativ determinierte Gesichtspunkte im Vordergrund. Die Auswertung der Informationen aus beiden Erhebungsformen erfolgte in Form einer psychologisch-qualitativen Analyse anhand der wörtlichen Schriftprotokolle (Übertragung vollständiger Tonbandmitschnitte). 2.2.3.2 Quantitative Studie
Stichprobe Angesichts der aus Kosten- und Zeitgründen nötigen Beschränkung auf eine geringe Anzahl von Betrieben war eine repräsentative Auswahl weder durchführbar noch sinnvoll. Vielmehr empfahl es sich, eine theoretische Stichprobe42 zu ziehen, d. h. Auswahlkriterien zu finden, die durch die zentrale Fragestellung nahegelegt wurden. Wir entschieden uns für zwei Merkmale, nach denen die Stichprobe konstruiert wurde: 1. Deliktbelastung:
Hier wurden die von den Betriebsleitungen angegebenen Zahlen zur Diebstahlskriminalität zugrunde gelegt. Diese Zahlen wurden jeweils auf 1000 Belegschaftsmitglieder umgerechnet und vier Gruppen unterschiedlicher Belastung erstellt43 • 42
Glaser, B. / Strauss, A., The Discovery of Grounded Theory. London 1968,
S. 45 -77.
43 Die Gruppen sind als sehr gering, nieder, mittel und hoch belastet definiert, wobei sehr gering als 0 - 0.9, nieder als 1 - 4.9, mittel als 5 - 9.9 und hoch als 10 und mehr Diebstähle pro 1000 Belegschaftsmitglieder operationalisiert wurde.
42
2. Methode und Ablauf der Untersuchung
2. Organisationsgrad: Als zweites Auswahlkriterium diente der Organisationsgrad der Betriebsjustiz, operationalisiert durch die Variablen Bürokratisierung, Formalisierung, Verselbständigung und Mitbestimmung. Hier wurden drei Gruppen gebildet: niedriger, mittlerer und hoher Organisa tionsgrad44 • Mit diesen beiden Merkmalen wurde ein Auswahlschema mit 12 Feldern gebildet. In jedes dieser Felder wurden die zugehörigen Betriebe nach einer Zufallsreihenfolge eingeordnet und in dieser Reihenfolge auch um ihre Teilnahme gebeten. In 8 Fällen hat sich jeweils der erste Betrieb aus einem der 12 Felder zur Mitarbeit bereit erklärt, in 3 Fällen der zweite innerhalb eines Feldes und in einem Fall der vierte Betrieb. Auswahl der Arbeitnehmer Innerhalb der jeweiligen Betriebe wurde eine repräsentative Auswahl aus der Belegschaft angestrebt. In jedem Betrieb wurden 20 Arbeitnehmer befragt. Die Zielpersonen wurden nach den Merkmalen Geschlecht, Position bzw. berufliche Ausbildung und Alter so bestimmt, daß die Zusammensetzung der jeweiligen Gruppen von Befragten der Belegschaftsstruktur in den einzelnen Betrieben weitestgehend entsprach 45 • Wir haben also pro Betriebstyp einen Betrieb zufällig ausgewählt und dann in jedem Betrieb jeweils 20 Arbeitnehmer nach der Verteilung der Merkmale Alter, Geschlecht und Position im jeweiligen Betrieb anteilmäßig bestimmt. Durch die gezielt disproportionale Auswahl der Betriebe können wir keine Aussagen über alle Arbeitnehmer in den 68 Betrieben der Hauptstudie machen. u Der Organisationsgrad wurde so operationalisiert: Bürokratisierung = Personalabteilung an der Sanktion beteiligt Formalisierung Eintragungen über delinquentes Verhalten in den Personalakten vorhanden und nach bestimmter Frist nicht mehr berücksichtigt. Verselbständigung "Werkschutz" vorhanden oder mindestens 5 Ofo Verfolgungspersonal (bezogen auf Gesamtbelegschaft). Mitbestimmung = Betriebsrat immer an der Sanktion beteiligt oder Mitentscheidungsrecht soweit beteiligt. Zur Definition des Organisationsgrades konnte jeder Betrieb von 0 bis maximal 4 Punkte erhalten. Die drei Gruppen waren so definiert: 0 und 1 Punkt: niedriger, 2 Punkte: mittlerer, 3 und 4 Punkte: hoher Organisationsgrad. 45 Die gen aue Verteilung der Befragten (sozioökonomische Stichprobenmerkmale) finden sich in Kapitel 8.3 als Randsummen der jeweiligen Tabelle.
2.2 Beschreibung der drei Untersuchungsphasen
43
Wenn wir trotz der nicht gegebenen Zufälligkeit der Auswahl der Merkmalsträger im folgenden auch für dieses Material Signifikanztests anwenden, so können die Ergebnisse dieser Tests nur mit Einschränkungen interpretiert werden. Sie sollen uns lediglich als Entscheidungshilfe für die Auswahl von Hypothesen aus der Vielzahl der sich aus dem empirischen Material ergebenden Interpretationsmöglichkeiten dienen, sie dürfen aber nicht verstanden werden als Hinweise auf die statistische Signifikanz unserer Ergebnisse. Weiter ist anzumerken, daß wir auf drei Gruppen von Arbeitnehmern generell verzichtet haben: Arbeitnehmer, die kürzer als 12 Monate dem Betrieb angehörten, weil wir ein Jahr als "Beobachtungszeitraum" nicht unterschreiten wollten und sich die Fragen nach der Zahl der beobachteten Verstöße im Betrieb auf ein Jahr bezogen. Leitende Angestellte wurden nicht befragt, weil dann nicht auszuschließen gewesen wäre, daß diese die Rolle von Aufpassern hätten übernehmen können. Analog dazu wurden auch Mitglieder des Betriebsrats ausgeschlossen. Ausländische Arbeitnehmer schließlich wurden hier ausgespart, weil sich nach den Erfahrungen des Pretests gezeigt hat, daß die Sprach- und Verständnisprobleme nur mit zu hohem Aufwand hätten gelöst werden können. Ablauf und Methode Wie bereits in der Hauptstudie wurden die jeweiligen Vertreter von Betriebsleitung und Betriebsrat angeschrieben und um Einverständnis bzw. Mitarbeit gebeten. Die Bereitschaft einzelner Betriebe, die Belegschaftsmitglieder zur Befragung während der Arbeitszeit freizustellen, war unerwartet groß. Lediglich bei vier Betrieben gab es Schwierigkeiten (Metalltarifverhandlungen, Streik, Modellwechsel, Jahresabschluß), so daß terminliche Vereinbarungen zum Teil um Monate verschoben wurden. Daraus erklärt sich auch die Länge des Untersuchungszeitraumes (von Juli bis Dezember 1973). Nach schriftlicher oder mündlicher Absprache mit der Betriebsleitung wurden die Betriebe von je zwei Mitgliedern der Forschungsgruppe aufgesucht. In Informationsgesprächen mit Personalleitung und Betriebsrat wurden gemeinsam mit diesen die nach dem oben genannten Quotenverfahren festgelegten Zielpersonen für die Befragung ausgewählt. Dadurch sollte vermieden werden, daß eine einseitige Selektion von seiten des Betriebes stattfand. Die Arbeitnehmer wurden gebeten, sich in einem für die Befragung vorgesehenen Raum (Kantine oder Lehrsaal) einzufinden. Nach einer kurzen Einführung in die
44
2. Methode und Ablauf der Untersuchung
Thematik und einem Hinweis auf garantierte Anonymität und Freiwilligkeit46 , wurde die Untersuchung durchgeführt.
Instrument der Erhebung Als Instrument wurde ein schriftliches Interview anhand eines standardisierten Fragebogens 47 gewählt. Fragebogen und Ablauf der Untersuchung wurden in einigen Betrieben getestet. Die Fragebogen wurden von den Beteiligten in Anwesenheit von zwei Teammitgliedern selbst ausgefüllt 48 • Die Interviewer standen für Zwischenfragen und "Einzelberatung" zur Verfügung. Es wurde streng darauf geachtet, daß sich während des Interviews kein Vertreter der Geschäfts- bzw. der Betriebsleitung und des Betriebsrats im Raum befand.
2.2.4 Methodische Probleme der Datenerhebung Abschließend sei hier auf einige Probleme im Zusammenhang mit der Datenerhebung eingegangen.
In der Betriebsenquete vermuten wir variierende Informationsqualität. Da bei einer schriftlichen Befragung nicht kontrollierbar ist, wer den Fragebogen ausfüllt, ist anzunehmen, daß die quantitativen Angaben unterschiedlich präzise sind. Ein bei allen empirischen Befragungen nicht vermeidbares Risiko ist weiter, daß Befragte besonders "gut" abschneiden wollen. Dies bedeutet, daß Betriebe durch den Versuch, ein möglichst idealisiertes Bild der Verhältnisse in ihrem Betrieb darzustellen, die Ergebnisse möglicherweise etwas verzerrt haben. Das läßt sich u. a. daran nachweisen, daß einige Betriebe, die im Enquetefragebogen vermerkten, im letzten Jahr keine Täter sanktioniert zu haben oder über kein Kontrollpersonal zu verfügen, in der Hauptstudie in der Interviewsituation sowohl die Existenz von Kontrollpersonal wie von sanktionierten Tätern bejahten49 • Ähnlich wie bei der Betriebsenquete bestand eines der Hauptprobleme in der Untersuchungsphase der Hauptstudie in der Unterschiedlichkeit der befragten Personen. Da wir auf die Auswahl unserer Interviewpartner keinen direkten Einfluß hatten, waren auf Betriebsleitungsseite sowohl promovierte Juristen wie zum Betriebsleiter aufgestiegene Arbeiter, auf Betriebsratsseite hochqualifizierte Betriebs48 In vier Fällen haben bereits anwesende Zielpersonen ihre Zusage zurückgezogen, sie wurden durch andere ersetzt. 47 s. Anhang. 48 Zur Methode der schriftlichen Gruppeninterviews siehe Mayntz, R. / Holm, K./ Hübner, P., a.a.O. (Fn. 3), S. 104 f. 49 Vgl. hierzu Kap. 3.1.
2.2 Beschreibung der drei Untersuchungsphasen
45
ratsvorsitzende, aber im Einzelfall auch ungeschulte Betriebsratsmitglieder unsere Gesprächspartner 5o • Somit dürften hier verschiedene Informations- und Beurteilungsebenen repräsentiert sein. Ein weiteres Problem ergibt sich bei der Interpretation der - oft sehr ergiebigen - "Gespräche danach". So war öfters festzustellen, daß unsere Gesprächspartner nach Beendigung des "offiziellen" Interviews in informellen Gesprächen beim Mittagessen oder beim Kaffee weitergehende oder auch einschränkende Bemerkungen machten. Da wir auf diese Informationen nicht verzichten wollten, sind sie als Anregungen in die Interpretation miteingegangen. Ein Problem in der qualitativen Arbeitnehmerstudie betrifft die Auswahl der an den Gruppen- und Einzeldiskussionen Beteiligten. Hier war der Einfluß der Betriebe auf die Bestimmung der Teilnehmer größer als bei der quantitativen Studie, da durch die längere Dauer dieser Diskussionen produktionstechnische Probleme eine zufällige Auswahl verhinderten. Ein zweites Problem bestand (wie in jeder Gruppendiskussion) in der Teilnahme von Personen, die die Rolle von "opinion-Ieaders" spielen und von den Diskussionsleitern nur unter Schwierigkeiten in ihrem Diskussionsverhalten gesteuert werden können s1 • Weiter konnte die geplante Quotierung nach innerbetrieblich sanktionierten und nichtsanktionierten Mitarbeitern von den betreffenden Betriebsräten und Geschäftsleitungen nur ansatzweise durchgeführt werden. Die Bereitschaft, überhaupt das Vorkommen von Sanktionierungen einzugestehen, war eher gering. Ebenso gab von den dennoch als sanktioniert ausgewiesenen Personen nur ein kleinerer Teil diesen Umstand im Interview zu, die Mehrzahl war bemüht, solche selbsterlittenen Sanktionen zu diminuieren oder zu übergehen. Zugleich waren aber auch unter den als nicht-sanktioniert Ausgewiesenen einige, die nach eigenen Darstellungen Sanktionierte waren. Das Kriterium der innerbetrieblichen Sanktionierung ist also innerbetrieblich nicht klar genug definiert, um eine eindeutige Auswahl zu ermöglichen. Bei der beschriebenen Konstruktion der Stichprobe der quantitativen Arbeitnehmerstudie liegt ein Risiko ähnlich wie bei der qualitativen Arbeitnehmerstudie in einer möglichen Verzerrung der Informationen durch eine gesteuerte Auswahl von Zielpersonen. (Die Steuerung wäre etwa so vorstellbar, daß ein Betrieb besonders "gute", besonders "betriebstreue", besonders "erfahrene" Arbeitnehmer in die Stichprobe "einschmuggelt"). Wir haben versucht, durch unsere aktive Teilnahme 50 51
Vgl. hier die Verteilung, die in Fn. 35 beschrieben ist. Vgl. Mangold, W., a.a.O. (Fn. 41).
46
2. Methode und Ablauf der Untersuchung
an der Zusammenstellung der Stichprobe dies zu verhindern. Andererseits ist eine Vorselektion der Befragten von seiten der Betriebe nicht völlig auszuschließen. Ein weiteres Problem war, daß zwar die Anordnung, während der Interviews keine Vertreter von Betriebsleitung und Betriebsrat dabeizuhaben, streng beachtet wurde. Trotzdem ist es möglich, daß einzelne Betriebe bestimmte Personen als "geheime Aufpasser" in die Stichprobe mitaufgenommen haben. Dieser Verdacht liegt vor allem deswegen nahe, weil die Betriebsleitungen und Betriebsräte überwiegend ein sehr starkes Interesse an den Angaben ihrer Arbeitnehmer gezeigt haben. Da Betriebe verständlicherweise nur bereit waren, Arbeitnehmer für kurze Zeit (maximal 30 Minuten) für die Befragung freizustellen, war die Menge der zu erhebenden Daten stark begrenzt. Außerdem wären durch längere Interviews Belegschaftsmitglieder, die im Akkord arbeiten, mehr als zumutbar belastet worden. Die Alternative, Arbeitnehmer in ihrer Freizeit außerhalb der Betriebe zu befragen, war aus organisatorischen Gründen nicht möglich. 2.3 Zusammenfassung
Die hier vorgelegte Untersuchung bietet eine weitgehende und differenzierte Bestandsaufnahme und Beschreibung betrieblicher Reaktionen auf innerbetriebliche Normverstöße an. Zur Überprüfung der Hypothesen haben wir die folgenden drei Forschungsphasen geplant, durchgeführt und ausgewertet: -
Betriebsenquete
-
Hauptstudie
-
Arbeitnehmerstudien
Zur Repräsentativität des Materials dieser drei Phasen ist festzustellen: In der Enquete gründen wir unsere Aussagen auf eine Zufallsstichprobe aus allen Betrieben Baden-Württembergs (350 Industriebetriebe), in der allerdings Kleinbetriebe gegenüber Großbetrieben unterrepräsentiert sind. In der Hauptstudie dagegen stützen wir uns auf eine hinsichtlich der von uns überprüften Merkmale nach strengen statistischen Maßstäben repräsentative Zufallsstichprobe aus der Population aller Großbetriebe Baden-Württembergs (68 Betriebe).
2.3 Zusammenfassung
47
Das Material der Arbeitnehmerstudien (260 Arbeitnehmerinterviews sowie 6 Gruppendiskussionen) dagegen kann nicht als repräsentativ gelten, da es nicht an Zufallsstichproben erhoben wurde. Diese Daten ziehen wir lediglich als Anregung für die Arbeitshypothesen in diesem Bereich heran 52 •
52 Abschließend scheint uns folgende Anmerkung wichtig: Wie nahezu jede empirische Forschung erbringt auch diese Studie Material, das in zwei Bereichen relativiert werden muß: Erstens haben wir nicht die Realität der Betriebsjustiz erfassen können, sondern ein Abbild der Realität, das sich zusammensetzt aus schriftlichen und mündlichen Informationen von Betriebsleitungen, Betriebsräten und Arbeitnehmern. Zweitens haben wir mit dem genannten Instrumentarium unser Material in den Jahren 1971 - 1973 erhoben. Eine neue Untersuchung würde von einem anderen, erweiterten Wissensstand ausgehen können und unter geänderten wirtschaftlichen Bedingungen sicherlich modifizierte Ergebnisse erbringen.
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz Ergebnisse der Betriebs-Enquete Was wir zu Beginn unserer Untersuchung über Umfang und Struktur von Betriebskriminalität und Betriebsjustiz in der BRD wußten, beruhte ausschließlich auf betrieblichen Einzelfallstudien. Betrachtet man die Belegschaftsstärken der dabei untersuchten Betriebe, dann fällt auf, daß es sich durchwegs um Betriebe mit mehr als 500 Belegschaftsmitgliedern handeW. Dies entspricht der durchaus plausiblen Annahme, daß die Besonderheiten betrieblicher Sozialkontrolle (gegenüber familiärer, schulischer etc.) sich mit zunehmender Betriebsgröße deutlicher zeigen. Vor einer Beschränkung auf größere Betriebe scheint es jedoch zweckmäßig, ein Bild von der Verteilung der Untersuchungsmerkmale in Betrieben mit unterschiedlichen Belegschaftsstärken (einschließlich Klein- und Mittelbetrieben) zu erhalten. Nur auf diese Weise kann der vermutete Zusammenhang zwischen betrieblicher Reaktion und Betriebsgröße empirisch überprüft und spezifiziert werden.
3.1 Registrierung von Verstößen (einschließlich Betriebskriminalität) Die betriebliche Reaktion auf abweichendes Verhalten beginnt damit, daß Verstöße überhaupt festgestellt werden. Schon eine Angabe darüber ermöglicht eine erste Einschätzung des Umfangs und der Bedeutung der Betriebsjustiz. Vorgespräche mit einigen Vertretern von Betriebsleitungen ergaben jedoch die Vermutung, daß keineswegs alle Betriebe eine dahingehende Frage exakt beantworten können, da sie keine oder nur unzureichende Unterlagen über bekanntgewordene Delikte besitzen. Wir fragten daher zunächst, ob und welche Unterlagen über die im vorhergehenden Jahre bekanntgewordenen innerbetrieblichen Verstöße existieren. Dabei zeigte sich, daß nur bei wenigen Betrieben Aufzeichnungen oder sonstige Unterlagen über bekanntgewordene Taten (9010) oder Täter (16010) vorhanden sind. Und auch bei solchen Unterlagen handelt es sich nur selten um leicht auswertbare wie z. B. Karteien, Ermittlungsberichte, jährliche Tätigkeitsberichte etc. Im Allgemeinen existieren nur Briefkopien, Vermerke in den Arbeitspapieren, Eintragungen in den Personalakten etc. 1
Vgl. die übersicht in Kapitell, Tab. 1.
3.1 Registrierung von Verstößen (einsch!. Betriebskriminalität)
49
Tabelle 1: Unterlagen über abweichendes Verhalten2 nach Betriebsgröße (Mehrfachnennungen)
10-49
Betriebsgröße (Belegschaftsstärke) 500 und 50-99 100-249 250-499 mehr
insges.
Unterlagen über Tat vorhanden ...... Unterlagen über Täter vorhanden ....
2%
4%
13 Ufo
17 %
33 °/0
9%
4%
12 %
23%
34%
46 %
16 %
..................
143
76
60
35
33
n
347 3
Zeile 1: X2 = 39.011, df = 4, s, P < .001 Zeile 2: X2 = 48.874, df = 4 s, p < .001
Mit steigender Betriebsgröße werden die Verstöße immer besser dokumentiert, und zwar sowohl für Taten wie für Täter. Aber selbst bei Betrieben mit über 500 Arbeitnehmern führt nur ein Drittel Unterlagen über Taten, etwa die Hälfte Unterlagen über Täter. Die Aussagekraft der aus diesen Unterlagen erhältlichen Angaben ist daher außerordentlich begrenzt. Insbesondere über Ordnungsverstöße wird offenbar nur in wenigen Betrieben genau Buch geführt. Dies zeigt sich etwa daran, daß selbst die Großbetriebe meist nur wenige solche Verstöße pro Jahr mitteilen, während ein einziger Betrieb (der über einen eigenen Sicherheitsbeauftragten verfügt) allein 3248 "Verstöße gegen die Werkstraßenverkehrsordnung" angab. Wir werden daher im folgenden keine Aussage über die Häufigkeit der in einzelnen Betrieben registrierten Verstöße machen, sondern uns darauf beschränken, zwischen solchen Betrieben zu unterscheiden, die überhaupt Verstöße angeben und solchen, die angeben, daß ihnen im vorangegangenen Jahr kein Verstoß bekanntgeworden sei. Nach Angaben der Betriebe sind nur bei ungefähr einem Viertel von ihnen (27 Ofo) im Jahre 1970 Verstöße irgendwelcher Art registriert worden. Dieses Ergebnis der schriftlichen Befragung darf nur als Zwischenstand verstanden werden; es unterschätzt die Häufigkeit, mit der in Betrieben Verstöße registriert werden. Dies liegt einmal dar an, daß unsere schriftliche Befragung primär auf "Betriebskriminalität" abstellte, so daß vermutlich gerade die häufigsten Verstöße, z. B. unentschuldigtes Fehlen, von vielen Betrieben als nicht zum Thema gehörig betrachtet wurde. Zum anderen zeigte 2 Vg!. für diese und die folgenden Tabellen den Fragebogen der Enquete im Anhang. Die Tabelle ist folgermaßen zu lesen: Zeile 1, Spalte 1 bedeutet: in 2 % der 143 Betriebe (die zwischen 10 und 49 Arbeitnehmer beschäftigen) sind Unterlagen über Taten vorhanden, in 98 Ofo der Betriebe ist dies nicht der Fall. 3 Drei Betriebe hatten keine Angaben zur Betriebsgröße gemacht, so daß sie in der Aufgliederung nach Betriebsgröße nicht mit aufgenommen werden konnten.
4 Bctrlebsjllstlz
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz
50
sich, daß das Instrument der schriftlichen im Vergleich zur mündlichen Befragung weniger Verstöße "hervorbrachte". Durch Nachfragen beim mündlichen Interview konnte ein wesentlich höheres Vorkommen von Verstößen ermittelt werden als bei der schriftlichen Befragung4• Tabelle 2: Registrierung von Verstößen, nach Betriebsgröße
Betriebsgröße (Belegschaftsstärke) 500 und insges. 10-49 50-99 100-249 250-499 mehr Verstöße registriert . . keine Verstöße registriert .......... n
..................
x2 =
46.313, df
=
4, s, P
11 Ofo
18 Ofo
28 Ofo
43 Ofo
610f0
24 Ofo
89 Ofo
82 Ofo
72 Ofo
57 Ofo
39 Ofo
76 Ofo
143
76
60
35
33
347
< .001
Mit der Belegschaftsstärke steigt der Anteil von Betrieben, in denen Verstöße registriert werden (Tabelle 2). Dieser Zusammenhang erscheint plausibel, ja trivial, da mit der Belegschaftsstärke auch die Zahl möglicher "Täter" steigt. Bedenkt man jedoch, daß die bloße Tatsache des Vorkommens von "Verstößen" noch nicht bedeutet, daß diese auch offiziell als Verstöße registriert (und nach einem Jahr noch erinnert und uns mitgeteilt) werden, dann erscheint der Zusammenhang etwas weniger trivial: Später soll geprüft werden, welche Rolle dabei die Existenz und Ausgestaltung der Kontrollorganisation des Betriebes spielt. Wenn wir auch wegen der oben beschriebenen Einschränkungen keine präzisen Angaben über die Häufigkeit registrierter Verstöße machen können, so scheint uns doch die Struktur der erhobenen Verstöße wichtig. Dabei berücksichtigen wir nur Delikte im strafrechtlichen Sinne (s. Tab. 3, S. 51). Es zeigt sich, daß Eigentumsdelikte die große Masse der ernsthafteren Verstöße ausmachen, die in Betrieben registriert werden. Körperverletzungsdelikte folgen in weitem Abstand, Sittlichkeitsdelikte werden nur äußerst selten registriert. Auffällig ist, daß diese Struktur sich bei den Großbetrieben sehr ähnlich darstellt. Zwar weichen die Minimalangaben voneinander ab, doch könnte dies an der besseren Unterlagenführung der Großbetriebe liegen. Die Maximalangaben zeigen jedenfalls eine bemerkenswerte Parallelität in bezug auf die Deliktsstruktur. Diese Struktur entspricht auch sehr genau derjenigen, die sich aus der Polizeistatistik für Baden-Württemberg (1969) errechnen läßt: 89 % (182662) Eigentumsdelikte, 7 Ufo (14298) Körperverletzungsdelikte und 4 Ufo (7879) Sittlichkeitsdelikte. 4
Vgl. Kapitel 5, Zahlen für 1970.
3.1 Registrierung von Verstößen (einschl. Betriebskriminalität)
51
Tabelle 3: Struktur der registrierten Betriebskriminalität Bekanntgewordene Delikte (Minimum)5 absolut
Bekanntgewordene Delikte (Maximum) absolut
A. Alle Betriebe
Eigentumsdelikte .......... Körperverletzungen ...... Sittlichkeitsdelikte ........
(248) (56)
........................
(309)
n
(1))
80- 89 18- 10 2- 1
(667)
100-100
(750)
(73)
(10)
B. Großbetriebe Eigentumsdelikte .......... Körperverletzungen ...... Si ttlichkei tsdelikte ........
(301) (19) (1)
94- 88 6- 9 0- 3
(395) (38) (14)
........................
(321)
100-100
(447)
n
Diese Delikte verteilen sich jedoch nicht gleichmäßig über alle Betriebe. Nur eine Minderheit von Betrieben gibt an, daß bei ihnen Verstöße vorgekommen sind. Berücksichtigt man die Maximalangaben (genaue Zahl und Schätzung von Deliktszahlen), dann geben 31 Ofo aller Betriebe Eigentumsdelikte an, 69 Ofo geben keine Eigentumsdelikte an. Körperverletzungsdelikte werden in 10 Ofo der befragten Betriebe angegeben, Sittlichkeitsdelikte in 2 Ofo. Das bedeutet, daß 90 Ofo der Betriebe angeben, daß bei ihnen keine Körperverletzungsdelikte vorgekommen sind, aus 98 Ofo aller Betriebe wurden keine Sittlichkeitsdelikte gemeldet. Bei Großbetrieben ist die Zahl der Betriebe, die keine Delikte angeben, wesentlich geringer: in 41% der Großbetriebe werden keine Eigentumsdelikte, in 74 Ofo keine Körperverletzungen und in 93 Ofo keine Sittlichkeits delikte angegeben. Insgesamt geben 73 Ofo aller Betriebe an, daß bei ihnen keine Verstöße bekanntgeworden sind. Dabei sinkt diese Quote von 89 Ofo bei Betrieben bis 50 Arbeitnehmer auf 39 Ofo bei Betrieben über 500 Arbeitnehmer. Als wichtiges Ergebnis der Betriebsenquete ist also festzuhalten, daß Betriebskriminalität von der großen Mehrzahl der Betriebe als kein bedeutendes Problem angesehen wird. 6 Bei der Frage nach den bekanntgewordenen Delikten haben wir den Betriebsleitungen zur Wahl gestellt, genaue Zahlen oder - davon getrennt Schätzungen abzugeben. Bei der Auswertung wurden die "Schätzungen" kumulativ verstanden: Hatte ein Betrieb keine Schätzung, sondern nur eine "genaue Zahl" angegeben, dann wurde die letztere auch als "Schätzung" herangezogen. Im folgenden sprechen wir der Einfachheit halber von "Minimum" (genaue Zahl) und "Maximum" (Schätzung).
4*
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz
52
3.2 Registrierte Täter Nur ein Teil der Betriebe (27 %) registriert im Laufe eines Jahres Verstöße gegen die Strafgesetze, ein noch kleinerer Teil (15 Ofo) identifiziert bestimmte Personen als Täter. Sind unter diesen registrierten Tätern bestimmte Gruppen der Belegschaft besonder stark vertreten? Im beschränkten Rahmen der Enquete konnten wir dieser Frage nur im Hinblick auf Geschlecht und Staatsangehörigkeit nachgehen. Dabei zeigt sich zunächst, daß männliche Arbeitnehmer das Gros (83 Ofo) der registrierten Täter bilden. Deutsche Arbeitnehmer stellen nur eine knappe Mehrheit (57 Ofo) der innerbetrieblich bekanntgewordenen Täter. Tabelle 4: Registrierte Täter und Gesamtbelegschaft nach Geschlecht und Nationalität 6
------------------------
Arbeitnehmerkategorie
Täter absolut (Ofo)
-----------
Gesamtbelegschaft (Ofo) absolut
A. Alle Betriebe
männl. deutsche Arbeitnehmer ....... . weibl. deutsche Arbeitnehmer ......... . männl. ausländische Arbeitnehmer ... . weibl. ausländische Arbeitnehmer ..... .
(113) (22) (84) (16)
n ..................................... .
35 7
47 33 10 10
(41 031) (28409) (9219) (8512)
(235)
99
100
(87171)
männl. deutsche Arbeitnehmer ....... . weibl. deutsche Arbeitnehmer ......... . männl. ausländische Arbeitnehmer ... . weibl. ausländische Arbeitnehmer ..... .
(68) (15) (35)
57 13 29 1
57 26 9 8
(65380) (30450) (10430) (9170)
n ..................................... .
(119)
100
100
(115430)
48
9
B. Großbetriebe
(1)
Betrachtet man allerdings die Täterzahlen im Vergleich zu den Belegschaftszahlen (Tabelle 4), dann ergeben sich einige neue Aspekte: männliche deutsche Arbeitnehmer stellen den gleichen Anteil an den registrierten Tätern wie an der Gesamtbelegschaft. Männliche Gastarbeiter sind dagegen mehr als dreimal so häufig bei den registrierten Tätern vertreten als in der Belegschaft. Deutsche wie ausländische Arbeitnehmerinnen sind unter den registrierten Tätern deutlich unterrepräsentiert. Diese Unterschiede finden sich in gleicher Weise auch a Bei dieser Tabelle bilden Täter, nicht Betriebe, die Grundgesamtheit. Wegen der geringen Zahl der insgesamt registrierten Täter verbot sich hier die Aufgliederung nach Betriebsgrößen. Statt dessen stellen wir hier der repräsentativen Stichprobe aller baden-württembergischen Betriebe eine unabhängige Stichprobe baden-württembergischer Großbetriebe (über 500 Arbeitnehmer) gegenüber.
3.3 Kontrolleinrichtungen
53
bei unserem Sam pie von Großbetrieben. Dabei muß vorläufig die Frage offenbleiben, ob es sich um echte Unterschiede in der delinquenten Aktivität oder um das Ergebnis selektiver Sozialkontrolle handelt.
3.3 Kontrolleinrichtungen Es ist einleuchtend, daß es für die betriebliche Reaktion einen Unterschied macht, ob spezialisierte Einrichtungen zur Kontrolle abweichenden Verhaltens vorhanden sind. In der Enquete sind wir dieser Frage sehr pauschal nachgegangen, indem wir zunächst nach den "Einrichtungen der Kriminalitätsvorbeugung und -abwehr bzw. -bekämpfung" fragten und dabei die drei aus der Literatur bekanntesten Möglichkeiten vorgaben. Dabei zeigt sich, daß nur sehr wenige Betriebe über einen Werkschutz (4 %) oder über eine Werksfeuerwehr mit Werkschutzaufgaben (5 0/0) verfügen. Etwas häufiger, aber immer noch nur bei einer kleinen Minderheit der Betriebe (15 %) vorhanden sind Torkontrollen. Fragt man nach der Zahl der mit Kontrollaufgaben betrauten Personen, dann zeigt sich, daß nahezu 80 Ofo der Betriebe über keinerlei Kontrollpersonal im obengenannten Sinne verfügen. Nur etwa 5 Ofo aller Betriebe beschäftigen 10 und mehr Personen mit derartigen Aufgaben. Tabelle 5: Zahl der Kontrollpersonen nach Betriebsgröße
Zahl der Kontrollpersonen 0 .................. 1- 4 .............. 5- 9 .............. 10-19 .............. 20 und mehr ........
n ..................
10-49 90 0/0 10%
(143)
Betriebsgröße (Belegschaftsstärke) 500 und Insges. 50-99 100-249 250-499 mehr 82 % 17 % 1% (76)
82 % 15% 2% 2% (60)
51 % 34 % 6% 6% 3% (35)
33 % 12 Ofo 18% 12 % 24 % (33)
77 ~/o 15 % 3% 2% 3% (347)
x,2 = 65.174, df = 4, s, P < .001 (berechnet in dichotomisierter Form: 0 Kontroll personen gegen 1 und mehr Kontrollpersonen)
Betrachtet man die Verteilung auf Betriebsgrößen, dann werden auch hier bedeutende Unterschiede sichtbar: die Zahl der Kontrollpersonen steigt mit der Betriebsgröße deutlich an. Die entscheidende Schwelle scheint in der Kategorie zwischen 250 und 499 Belegschaftsmitgliedern zu liegen: während von den kleineren Betrieben konsistent weniger als 20 Ofo über Kontrollpersonal verfügen, steigt der Prozentsatz hier auf 49 Ofo, bei den Betrieben über 500 Arbeitnehmer sogar auf 67 Ofo.
Die größeren Betriebe verfügen nach Tabelle 6 eher über organisatorisch verselbständigte Kontrollorgane wie Werkschutz und Werks-
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz
54
feuerwehr: über einen verselbständigten Werkschutz verfügt ungefähr jeder hundertste Kleinbetrieb, etwa jeder zwanzigste Mittelbetrieb, aber jeder fünfte Großbetrieb. Ebenso steigt der Anteil der Betriebe, die über Torkontrollen verfügen, mit der Betriebsgröße stark an. Tabelle 6: Art der Kontrollorgane (Mehrfacbnennungen)
10-49
Torkontrollen ...... Werksfeuerwehr .... Werkschutz ........ n (Betriebe)
Betriebsgröße (Belegschaftsstärke) 500 und 50-99 100-249 250-499 mehr Insges.
4% 1% 1%
........
__
(143)
----~----~----------_.-.
12 % 1% (76) .-
13 Ofo 2% 3% (60)
31 % 9% 6% (35)
---------------- ---_.. _._.
67 Ofo 36 Ofo 210f0 (33)
(347)
Wegen der zu schwachen Zellenbesetzung konnten keine Tests berechnet werden. Wir können nun zur Frage des Zusammenhanges von Betriebsgröße und Devianz-Registrierung zurückkehren. Das folgende Diagramm zeigt positive Zusammenhänge nicht nur zwischen diesen beiden Variablen, sondern jeweils auch mit der Stärke der Kontrollorganisation (vgl. die Korrelationskoeffizienten außerhalb des Dreiecks)1. Alle drei Zusammenhänge sind hochsignifikant (p = 0.001). Zahl der reg. Verstöße
.30/ /
/
/
/
/
//
.10
Be legschaftsstärke
--------+. .57
Zahl der Kontrollpersonen
7 Als Maß des Zusammenhangs wurde Pearsons r verwendet. In den Vorveröffentlichungen wurden diese Korrelationsmaße aus den ungruppierten Daten berechnet, während wir hier die Berechnung an gruppierten Daten vorgenommen haben. Daraus erklären sich auch die Unterschiede in den hier mitgeteilten zu den früher veröffentlichten Korrelationskoeffizienten, die noch auf der Basis der Rohdaten berechnet wurden. Vgl. Feest, J. / Metzger-Pregizer, G., Betriebskriminalität und Betriebsjustiz. KrimJ 2 (1972), S. 83 ff.
3.3 Kontrolleinrichtungen
55
Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Zusammenhang zwischen Belegschaftsstärke und Devianz-Registrierung unabhängig von der Kontroll organisation bzw. umgekehrt, ob der Zusammenhang zwischen Kontrollorganisation und Devianz-Registrierung unabhängig von der Belegschaftsstärke ist. Dies kann durch Ausschaltung der jeweils dritten Variablen geprüft werden (vgl. die partiellen Korrelationskoeffizienten innerhalb des Dreiecks). Hält man die Zahl der Kontrollpersonen konstant, dann reduziert sich der Zusammenhang zwischen der Belegschaftsstärke und der Zahl der registrierten Verstöße auf einen Wert, der (auch auf dem 5 Ofo-Niveau) nicht mehr signifikant ist. Hält man umgekehrt die Belegschaftsstärke konstant, dann nimmt der Zusammenhang zwischen Kriminalitätskontrolle und Devianz-Registrierung zwar etwas ab, bleibt jedoch weiterhin hochsignifikant (p< .001). Noch deutlicher wird die Bedeutung der Kontrollorganisation, wenn man die Analyse auf die Eigentumsdelikte beschränkt:
Zahl der registrierten Eigentu msverstöße .34/ /
/
.48
,
/
/
/
/ .10
.37
Belegschaftsstärke - - - - - - - - 1•• Zahl der Kontrollpersonen .57
Wiederum liegt sowohl für die Belegschaftsstärke wie für die Zahl der Kontrollpersonen ein deutlicher und (auf dem Niveau p = .001) signifikanter Zusammenhang mit der Zahl der registrierten Verstöße vor. Betrachtet man jedoch die partiellen Korrelationskoeffizienten (innerhalb des Dreiecks), dann ist hier nur noch der Zusammenhang zwischen Kontrollorganisation und Devianz-Registrierung deutlich (r = .37) und signifikant (p < .001). Zusammenfassend wird man aus dem Vorangegangenen den Schluß ziehen können, daß der Zusammenhang zwischen Belegschaftsstärke und registrierten Delikten im wesentlichen nicht direkt, sondern indirekt über die Zahl der Kontrollpersonen verläuft (vgl. die Pfeile in
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz
56
den Diagrammen): mit zunehmender Belegschaftsstärke steigt die Zahl der Kontrollpersonen und mit deren Ansteigen werden auch zunehmend mehr Verstöße aufgedeckt.
3.4 Ordnungs- und Disziplinarmaßnahmen Die betriebliche Reaktion auf Verstöße äußert sich letztlich in Ordnungs- und Disziplinarmaßnahmen. Derartige Maßnahmen werden von den meisten Arbeits- bzw. Betriebsordnungen angedroht (vgl. den Exkurs). Solche formellen Satzungen sind jedoch nur bei 29 Ofo der Betriebe vorhanden. Tabelle 7: Arbeitsordnungen, nach Betriebsgröße
Betriebsgröße (Belegschaftsstärke) 500 und 10--49 50-99 100-249 250--499 mehr Insges. Arbeitsordnung keine Arb.-Ordng. .. keine Angabe ...... n 1.. 2
.................. =
19.853, df
=
4, s, P
24 Ofo 74 % 2%
24% 73 Ofo 3%
28 % 69010 3010
23010 74% 3%
60 % 40 Ofo 0%
29 % 70010 2010
143
76
60
35
33
347
< .001
Unterscheidet man nach Betriebsgröße, dann zeigt sich, daß alle Klein- und Mittelbetriebe noch unter diesem Wert liegen. Größere Betriebe verfügen dagegen in etwa doppelt so häufig (in 60 Ofo der Fälle) über Arbeitsordnungen. Das Fehlen einer Arbeitsordnung besagt jedoch nicht, daß keine Sanktionen verhängt werden. Nach Auskunft der Betriebsleitungen, denen wir die wichtigsten, aus früheren Arbeiten bekannte Sanktionsmaßnahmen vorgegeben hatten, sind vor allem folgende Maßnahmen vorgesehen8 : mündliche Verwarnung (77 Ofo), schriftliche Verwarnung (42 Ofo), Geldbuße (8 Ofo) und Versetzung (6 Ofo). Nur 10f0 der befragten Betriebsleitungen gibt an, daß auch der zeitweilige oder dauernde Ausschluß von betrieblichen Sozialleistungen als Sanktionsmaßnahme vorgesehen ist. Nicht berücksichtigt wurde bei dieser Frage die "Sanktion" Kündigung bzw. fristlose Entlassung, da diese ja schon nach allgemeinem Recht für einen erheblichen Teil innerbetrieblicher Verstöße vorgesehen ist. Will man zwischen mehr oder weniger ausgebauten Sanktionssystemen unterscheiden, dann kann man sich jedoch nicht auf diese Angaben (mit ihren Mehrfachnennungen) beschränken, sondern muß jeweils die schwerste vorgesehene Sanktionsart ermitteln. 8
Zur Sanktionspraxis vgl. Kap. 3.6 sowie Kap. 7.2.
3.5 Sanktionsorgane
57
Tabelle 8: Disziplinarmaßnahmen, nach Betriebsgröße
10--49
Geldbuße, Versetzung u. ä. .......... höchstens schriftl. Verwarnung ........ höchstens mündl. Verwarnung ........ keine Angaben ...... n
................ ..
Betriebsgröße (Belegschaftsstärke) 500 und 50--99 100--249 250--499 mehr
Insges.
0/0
16 Ofo
20 Ofo
49 Ofo
13 Ofo
29 Ofo
29010
43 Ofo
51010
30 Ofo
34 °/0
62
0/0
45 Ofo 11010
35010 6010
14010 14010
6010 15010
44 '010 9010
143
76
60
35
33
350
1 0/0
7
0/0
16
= 88.971, df = 8, s, p < .001 (Auf die Kategorie "keine Angaben" wurde bei der Berechnung von ChiQuadratwerten verzichtet.)
'1.2
Die Geldbuße und ihre Äquivalente (hier: Versetzung und Ausschluß von betrieblichen Sozialleistungen) sind insgesamt nur relativ selten (13 0/0) vorgesehen, sehr viel häufiger bilden schriftliche Verweise (inkl. Kündigungsdrohungen) die schärfste innerbetriebliche Sanktionsmaßnahme (34 0/0). Ein beträchtlicher Teil der Betriebe behauptet, nur über mündliche Verweise oder über keinerlei Sanktionsmaßnahmen (44 0 / 0) zu verfügen. Betrachtet man die Aufgliederung nach Betriebsgrößenklassen, dann zeigt sich deutlich, daß das Reaktionsinstrumentarium mit steigender Betriebsgröße vielfältiger und differenzierter wird: während mehr als die Hälfte (62 0/ 0) der Kleinstbetriebe angibt, keine oder nur mündliche Sanktionen zu haben, ist dies bei den Großbetrieben nur sehr selten (6 Ofo) der Fall. Geldbußen oder ihre Äquivalente als schärfste angegebene Sanktion und damit ein relativ differenziertes Reaktionspotential finden sich in jedem zweiten Großbetrieb. 3.5 Sanktionsorgane Eine weitere Dimension der betrieblichen Reaktion auf Verstöße stellt die Organisation der tatsächlichen Sanktionierung dar. Wer ist im einzelnen Betrieb für die Verhängung der vorgesehenen Ordnungs- und Disziplinarmaßnahmen zuständig bzw. welche betrieblichen Organe sind am Prozeß der innerbetrieblichen Disziplinierung beteiligt? Die Ergebnisse der Enquete zeigen, daß nahezu immer die Betriebsleitung mit solchen Entscheidungen zu tun hat (89 Ofo), seltener die Personalabteilung (18 Ofo), fast nie der Werkschutz oder ein spezieller Ordnungsausschuß (je 1 Ofo). Dieses Bild ändert sich jedoch beträchtlich, wenn man nach Betriebsgrößen unterscheidet. Während die große Bedeutung der Betriebslei-
58
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz Tabelle 9: Sanktionsorgane, nach Betriebsgröße (Mehrfachnennungen)
10-49
Betriebsgröße (Belegschaftsstärke) 500 und 50-99 100-249 250--499 mehr
Betriebsleitung ...... Personalabteilung .. Werkschutz ........ Ordnungsausschuß .. Keine Angaben
90 % 7%
91 Ofo 11010
95 % 15 %
94010 29%
1% 7010
3% 7%
2010 2%
3010
..................
143
76
60
35
n
70010 73 % 6%
insges. 89010 18010 1% 1010 5%
-----------
33
347
Zeile 1: .;.2 = 15.830, df = 4, s, p < .001 Zeile 2: x2 = 86.133, df = 4, s, P < .001 (Für die restlichen Kategorien wurden keine Chi-Quadrattests berechnet, da die Zellen zu schwach besetzt sind.)
tung relativ konstant bleibt und nur bei den Großbetrieben etwas zurückgeht, nimmt die Bedeutung der Personalabteilung mit steigender Betriebsgröße kontinuierlich zu: bei den Großbetrieben ist sie oder eine eigene Werkschutzabteilung fast stets (79 %) an der Sanktionierung beteiligt, bei den mittleren Betrieben nur noch selten (etwa 20 %), bei den Kleinbetrieben fast nie (etwa 10 %). "Ordnungsausschüsse", die in der deutschen Dissertations-Literatur als ein relativ justizförmig organisiertes Sanktionsorgan häufig erwähnt werden9, haben wir nur in jedem hundertsten Betrieb gefunden. Selbst dieses Ergebnis ist jedoch zweifelhaft und wahrscheinlich überhöht, wenn man bedenkt, daß die im Schrifttum genauer dokumentierten Ordnungsausschüsse durchweg in sehr großen Betrieben vorkommen, während sie uns ausschließlich von kleinen und mittleren Betrieben gemeldet wurden. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß hier ein Mißverständnis auf Seiten der Befragten vorliegt, indem "Ordnungsausschuß" nicht in dem üblichen, technischen Sinne verstanden wurde lO • o Bovermann, W. D., Die "Betriebsjustiz" in der Praxis. Jur. Diss. Köln 1969; Dengler, D., Betriebsstrafe bei innerbetrieblichen Verstößen. Jur. Diss. Münster 1968; Iversen, D., Die Kriminalität im Bereich zweier Großbetriebe
der chemischen Industrie. Jur. Diss. Bonn 1966; Lisiecki, D., Reaktionsformen von Betrieben auf innerbetriebliche kriminelle Vorgänge. Jur. Diss. Hamburg 1965; Prüfer, R. D., Betriebsjustiz. Die betrieblichen Sanktionen gegenüber den Arbeitnehmern nach deutschem Recht. St. Gallen 1972; Schmidt, J. W., Kriminalität in der eisenschaffenden Industrie. Bonn 1963. 10 Unter Ordnungsausschüssen werden im allgemeinen paritätisch besetzte Gremien verstanden, welche regelmäßig über die Ahndung innerbetrieblicher Verstöße beraten. Solche Ordnungsausschüsse haben teilweise eigene Entscheidungsbefugnis (vgl. DengIer, D. und Prüfer, R., a.a.O. (Fn. 9», teilweise können sie nur Entscheidungsvorschläge an die Personalabteilung machen.
3.6 Sanktions praxis
59
Ausgespart haben wir bisher die Mitwirkung des Betriebsrates am Prozeß der betrieblichen Sozialkontrolle. Nach § 87 Abs. 1 BetrVerfGll hat dieser, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, ein Mitbestimmungsrecht in "Fragen der Ordnung des Betriebes und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb". Dennoch ist die Arbeitnehmervertretung nur relativ selten an der Entscheidung über innerbetriebliche Sanktionen beteiligt. Tabelle 10: Existenz und Mitwirkung des Betriebsrates, nach Betriebsgröße (Mehrfacbnennungen) ..
Betriebsrat vorhanden davon: Betriebsrat beteiligt
- __ . 0_- ....... __ .____.___ . _ _ _ _ _ _ _ _
Betriebsgröße (Belegschaftsstärke) 500 und 50-99 100-249 250-499 mehr insges. 10-49
-_._---~--_._-
17 Ofo (143)
33 Ofo (76)
75 Ofo (60)
83 Ofo (35)
100 Ofo (33)
45 Ofo (350)
Ofo 37 Ofo n (24)
70 Ofo (23)
46 Ofo (45)
76 Ofo (49)
76 Ofo (33)
58 Ofo (156)
%
n
Zeile 1: x. 2 = 129.088, df = 4, s, p < .001 Zeile 2: x. 2 = 16.426, df = 4, s, p < .01 Dies hat einmal damit zu tun, daß nur knapp die Hälfte aller Betriebe über einen Betriebsrat verfügt. Auch hier ist jedoch ein deutlicher Zusammenhang mit der Betriebsgröße festzustellen: Vorhanden ist ein Betriebsrat nur bei einer Minderheit der kleineren Betriebe, bei der Mehrzahl der mittleren Betriebe und bei sämtlichen Großbetrieben. Aber auch dort, wo ein Betriebsrat vorhanden ist, ist er nach Angaben der Betriebsleitung nur in gut der Hälfte der Betriebe (58 0/0) an der Sanktionierung beteiligt. Ein statistisch signifikanter, wenn auch nicht sehr starker Zusammenhang zwischen Betriebsgröße und Beteiligung des Betriebsrats an der Sanktionierung ist ebenfalls festzustellen 12 • 3.6 Sanktionspraxis
Die tatsächliche Sanktionspraxis der Betriebe wurde im Rahmen der Betriebsenquete nur für drei Sanktionsarten erhoben: Entlassung, Anzeige und Geldbuße. 25 % aller Betriebe haben im Jahr 1970 Betriebsangehörige wegen Delikten und Ordnungsverstößen entlassen. Von den Großbetrieben hat mehr als die Hälfte zu dieser Maßnahme gegriffen (60 0/0). Unter11 Diese Bestimmung ist identisch mit dem zur Zeit der Untersuchung geltenden § 56 Abs. 1 f. BetrVerfG (1952). 12 Zur Beteiligung des Betriebsrats an der Sanktionierung vgl. Kap. 4.
60
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz
sucht man den Anteil der registrierten Täter, der mit Entlassung sanktioniert wird und differenziert man nach Geschlecht und Nationalität, so ergibt sich folgendes: Tabelle 11: Entlassene Täter nach Geschlecht und Nationalität13 Arbeitnehmerkategorie männ!. deutsche Arbeitnehmer weib!. deutsche Arbeitnehmer männ!. ausländische Arbeitnehmer weib!. ausländische Arbeitnehmer Insgesamt
Alle Betriebe in Ofo aller absolut reg. Täter
Großbetriebe in Ofo aller reg. Täter absolut
(56) (13) (37) (13)
50 59 44 81
50 80 72 100*
(119)
51
61
(34) (12) (25) (1)
------_ ..
_
.. -.--
(72)
* = n kleiner als 10. Die Tabelle zeigt, daß insgesamt 50 % (n = 56) aller in Tabelle 4 genannten 113 männlichen deutschen Täter entlassen wurden. Etwa die Hälfte (51 %) aller registrierten Täter wird entlassen. In Großbetrieben ist die Wahrscheinlichkeit, entlassen zu werden, höher (61 %). Weibliche Straftäter werden weitaus häufiger (68 %) entlassen als ihre männlichen Kollegen (47 %), wobei dies auch bei Großbetrieben in gleicher Weise der Fall ist. Nur ein Achtel aller Betriebe (13 %) hat im Jahre 1970 Täter zur Anzeige gebracht, bei Großbetrieben liegt der Anteil allerdings mehr als doppelt so hoch (30 %). Tabelle 12: Polizeilich angezeigte Täter nach Geschlecht und Nationalität Arbeitnehmerkategorie männl. deutsche Arbeitnehmer weib!. deutsche Arbeitnehmer männl. ausländische Arbeitnehmer weib!. ausländische Arbeitnehmer Insgesamt
Alle Betriebe in % aller absolut. reg. Täter (38)
Großbetriebe in Ofo aller reg. Täter absolut
(16) (2)
34 5* 19 13*
19 7* 23* 0*
(13) (1) (8) (0)
(57)
24
18
(22)
(1)
* = n kleiner als 10. Etwa ein Viertel (24 %) der bekanntgewordenen Täter wird bei der Polizei zur Anzeige gebracht. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß bei dieser Befragung Straftaten, insbesondere Eigentumsdelikte im Vor13
Für die Tabellen 11, 12 und 13 gilt das in Fn. 6 Gesagte.
61
3.7 Betriebliche Reaktionsmuster
dergrund standen. Die Wahrscheinlichkeit, angezeigt zu werden, ist in Großbetrieben etwas geringer als in anderen. Männer, insbesondere männliche deutsche Arbeitnehmer, werden relativ häufiger angezeigt als Frauen; bei den Großbetrieben verschiebt sich dieses Bild etwas zuungunsten der männlichen Gastarbeiter. Bezogen auf den Anteil entlassener Täter bedeutet dies, daß jeder zweite entlassene Täter auch angezeigt wird. Wie wir oben gezeigt haben, ist in etwa jedem 10. Betrieb die Geldbuße als Sanktion vorgesehen. Nur jeder 20. Betrieb (5 0/0) hat diese Maßnahme im Jahre 1970 auch praktisch eingesetzt; bei Großbetrieben liegt diese Zahl mehr als doppelt so hoch (12 Ofo). Bei welchen Tätergruppen diese Sanktion verhängt wurde, zeigt die folgende Tabelle: Tabelle 13: Mit Geldbußen belegte Täter nach Geschlecht und Nationalität
Arbeitnehmerkategorie männl. deutsche Arbeitnehmer weibl. deutsche Arbeitnehmer männl. ausländische Arbeitnehmer weibl. ausländische Arbeitnehmer Insgesamt
* = n kleiner als
Alle Betriebe in Ofo aller absolut reg. Täter
Großbetriebe in Ofo aller reg. Täter absolut
(14) (5)
12 27" 17 31*
24 0* 14* 0*
(16) (0)
(39)
17
18
(21)
(14) (6)
(5)
(0)
10.
Etwa ein Sechstel (17 Ofo) der registrierten Täter wird mit einer betrieblichen Geldbuße belegt. Das ist etwa ein Drittel der Nicht-Entlassenen. Großbetriebe unterscheiden sich hier nicht von Klein- und Mittelbetrieben. Überdurchschnittlich oft von Geldbußen betroffen sind weibliche Täter (29 Ofo) im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen (14 Ofo), und Ausländer (19 Ofo) gegenüber Deutschen (14 Ofo). In Großbetrieben werden jedoch umgekehrt männliche deutsche Arbeitnehmer überdurchschnittlich oft mit Geldbußen belegt.
3.7 Betriebliche Reaktionsmuster Der Betriebsenquete können erste Hinweise auf unterscheidbare betriebliche Reaktionsmuster entnommen werden. So lassen sich bei der betrieblichen Reaktion auf Verstöße und Täter im folgenden vier Typen unterscheiden: Sanktionsabstinenz; innerbetriebliche Reaktionen (Betriebsjustiz i. e. S.); privatrechtliche Reaktionen (Entlassung); strafrechtliche Reaktion (Anzeige).
62
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz
Sanktionsabstinenz kann einerseits darauf beruhen, daß tatsächlich keine Delikte vorkommen (etwa aufgrund präventiver Maßnahmen), andererseits darauf, daß vorkommende Verstöße wegdefiniert werden (Sanktionsverzicht). Über den ersten Aspekt ist uns bisher relativ wenig bekannt, der zweite Aspekt ist dagegen offensichtlich von großer praktischer Bedeutung. Eine große Zahl von Betriebsleitungen gibt an, daß ihnen keinerlei Delikte bzw. Täter bekannt geworden seien. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, daß in vielen dieser Betriebe relativ leicht Delikte oder auch Täter produziert werden könnten, wenn die Betriebsleitung daran interessiert wäre. Die Neigung, einen Vorfall als Delikt zu definieren, dürfte jedoch heute in vielen Betrieben gering sein. Dies hängt einmal mit der Arbeitsmarktlage zusammen14 : "Kleinere und mittlere Diebstähle von Material, die praktisch infolge Argroßzügig geduldet werden müssen!" (Betrieb Nr. 451: Möbelbranche)
beitnehmermangels
"Bei kleineren Vergehen ist es klüger, wenn der Unternehmer großzügig darüber hinweggeht, da sonst das Betriebsklima gefährdet und der Verlust der wenigen Arbeitskräfte zu befürchten ist." (Betrieb Nr. 129: Marmorwerk) "Die Täter konnten in keinem Fall ermittelt werden. Man muß auch mit Verdächtigungen vorsichtig sein, bei dem heutigen Facharbeitermangel." (Betrieb Nr. 211 : Maschinenbaubranche) Zum anderen ist es für viele Betriebe billiger, kleinere Eigentumsdelikte zu bagatellisieren, als eine Organisation zu ihrer Aufdeckung und Bekämpfung zu schaffen: "Die Kriminalität in unserem Betrieb ist, wie aus den Zahlen ersichtlich, sehr gering. Die Abstellung von Kontrollpersonal und der dadurch erforderliche Kostenaufwand steht in keinem Verhältnis zum Erfolg." (Betrieb Nr. 68: Textilindustrie) "Pro Jahr werden für circa 3000,- DM bis 5000,- DM Uhren bzw. Uhrenrohteile gestohlen. Diese Diebstähle könnten ziemlich einfach durch eine wirksame Torkontrolle abgestellt werden. Diese Kontrolle würde jedoch einen Geldaufwand von circa 12 000,- DM bis 15 000,- DM erfordern. Wir sparen also 10000,- DM pro Jahr." (Betrieb Nr. 311: Feinmechanik) Eine andere Strategie besteht darin, Delikte so weit wie möglich aufzudecken und aufzuklären, die Täter jedoch innerbetrieblich zu sanktionieren (Betriebsjustiz im engeren Sinne). Viele der oben angeführ14 Antworten auf die Frage 16 des Enquete-Fragebogens (s. Anhang): "Welches sind die größten Probleme bei der Bekämpfung der Kriminalität in ihrem Betrieb?"
3.7 Betriebliche Reaktionsmuster
63
ten Argumente (Arbeitsmarktlage etc.) gelten auch hier. Hinzu kommt das Argument, daß fristlose Kündigungen eventuell ein arbeitsgerichtliches Nachspiel haben können: "Eine wirklich effektvolle Bekämpfung solcher Delikte wird außerdem durch das bestehende Arbeitsrecht praktisch unmöglich gemacht, denn jeder Arbeitgeber überlegt sich sehr gen au und sehr lange, ob er eine fristlose Kündigung ausspricht, da die Arbeitsgerichte in den weitaus meisten Fällen zugunsten des sozial Schwächeren urteilen." (Betrieb Nr. 233: Apparatebau) Die Konsequenz ist die Aufstellung eines differenzierten Systems innerbetrieblicher Sanktionen, die es dem Betrieb gestatten, mit seinen Problemen auch innerbetrieblich fertig zu werden. Eine dritte Strategie besteht darin, die "Täter" jedenfalls bestimmter Verstöße (z. B. Eigentumsdelikte) grundsätzlich zu entlassen. Dieser Kontrollstil scheint in den USA große Bedeutung zu haben15 , wo die Struktur des Arbeitsrechts Betriebsjustiz im engeren Sinne praktisch ausschließt. Diese Strategie wird regelmäßig nur dort verwendet werden, wo eine "industrielle Reservearmee" vorhanden ist, mit deren Hilfe man die entstehenden Lücken wieder füllen kann. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, Verstöße durch Übergabe an staatliche Strafverfolgungsorgane zu sanktionieren. Diese Strategie wird jedoch kaum als sinnvoll betrachtet, soweit es sich um nicht aufgeklärte Delikte handelt: "Die örtliche Polizei ist durch die steigende Kriminalität einerseits, durch die personelle Unterbesetzung andererseits, nicht in der Lage, bei innerbetrieblichen Delikten so zu ermitteln wie dies an sich erforderlich wäre." (Betrieb Nr. 290: Elektronik) "Bei der Bekämpfung der Kriminalität kann von der Kriminalpolizei keine Hilfe erwartet werden, da diese die Delikte für unbedeutend hält." (Betrieb Nr. 305: Optische Industrie) Gerade in Großbetrieben kann dies zur Aufstellung polizei ähnlicher Werkschutzorganisationen führen.
15 Vgl. hierzu etwa Robin, G. D., The Corporate and Judicial Disposition of Employee Thieves. Wisconsin Law Review 1967.
64
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz
3.8 Zusammenfassung
Die Ergebnisse der Betriebsenquete ergeben thesenhaft zusammengefaßt folgendes Bild: 1. Nur in 9 Ufo der befragten Betriebe waren Unterlagen über bekanntge-
wordene Taten, in 16 Ufo über Täter vorhanden.
2. Mit steigender Betriebsgröße werden Verstöße besser dokumentiert, aber selbst in größeren Betrieben mit über 500 Arbeitnehmern werden nur in 33 Ufo Unterlagen über Taten, in 46 Ufo über Täter geführt. 3. über Ordnungsverstöße wird nur in wenigen Betrieben genau Buch geführt. 4. Bei der schriftlichen Befragung gaben nur 27 Ufo aller befragten Betriebe an, im Jahre 1970 Verstöße irgendwelcher Art registriert zu haben. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die schriftliche Befragung primär auf "Betriebskriminalität" abgestellt war, so daß Ordnungsverstöße von vielen Betrieben als nicht zum Thema gehörig betrachtet wurden. 5. Mit der Belegschaftsstärke steigt der Anteil von Betrieben, in denen Verstöße registriert wurden. 6. Die Struktur der erfaßten Betriebskriminalität weist die überragende Bedeutung der Eigentumskriminalität (80 Ufo, Minimalangabe) aus, während es sich bei 18 % der Fälle um Körperverletzungen und bei 2 % um Sittlichkeitsdelikte handelt. Diese Kriminalitätsstruktur entspricht in etwa derjenigen der staatlichen Strafverfolgung ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik von Baden-Württemberg. 7. Nur ein kleiner Teil (15 Ufo) der Betriebe hat angegeben, bestimmte Personen als Täter registriert zu haben. Eine Differenzierung nach Nationalität und Geschlecht hat ergeben, daß männliche deutsche Arbeitnehmer den gleichen Anteil an den registrierten Tätern stellen wie an der Gesamtbelegschaft. Männliche ausländische Arbeitnehmer sind dagegen mehr als dreimal so häufig bei den registrierten Tätern vertreten als in der Belegschaft. Deutsche wie ausländische weibliche Arbeitnehmer sind unter den registrierten Tätern deutlich unterrepräsentiert. 8. 15 Ufo aller befragten Betriebe verfügen über Torkontrollen, 5 Ofo über eine Werksfeuerwehr mit Werkschutzaufgaben, nur 4 % über einen Werkschutz. Insgesamt 80 Ufo der befragten Betriebe verfügen über kein Kontrollpersonal im obengenannten Sinne. Die Existenz von Kontrollpersonal ist abhängig von der Betriebsgröße: Während von den kleineren Betrieben generell weniger als 20 Ufo über Kontrollpersonal verfügen, steigt der Prozentsatz bei Betrieben mit 250 - 499 Arbeitnehmern auf 49 Ufo, bei Betrieben über 500 Arbeitnehmern auf 67 Ufo an. 9. Mit zunehmender Belegschaftsstärke steigt die Zahl der Kontrollpersonen und mit deren Ansteigen werden auch zunehmend mehr Verstöße aufgedeckt. 10. Formelle Satzungen wie Arbeits- oder Betriebsordnungen sind nur in 29 % aller Betriebe vorhanden; größere Betriebe über 500 Arbeitnehmer verfügen dagegen etwa doppelt so häufig (in 60 Ufo der Fälle) über Arbeitsordnungen.
3.8 Zusammenfassung
65
11. Im einzelnen sehen Betriebe folgende Sanktionsmaßnahmen vor: mündliche Verwarnung (77 0/0), schriftliche Verwarnung (42 0/0), Geldbuße (8 Ofo), Versetzung (6 Ofo) und Ausschluß von betrieblichen Sozialleistungen (10f0). 12. Das Reaktionsinstrumentarium der Betriebe wird mit steigender Betriebsgröße vielfältiger und differenzierter: Während mehr als die Hälfte (62 Ofo) der Kleinstbetriebe angibt, über keine oder nur mündliche Sanktionen zu verfügen, ist dies bei Großbetrieben nur in 6 Ofo der Fall. Geldbußen oder ihre Äquivalente als schärfste angegebene Sanktion und damit ein relativ differenziertes Reaktionspotential findet sich in jedem 2. Großbetrieb. 13. In 89 Ofo aller befragten Betriebe ist die Betriebsleitung (im Sinne von Betriebsführung) als Sanktionsorgan an der Sanktionierung beteiligt, seltener die Personalabteilung (18 Ofo), fast nie der Werkschutz oder ein spezieller Ordnungsausschuß. Allerdings verändert sich dies mit der Betriebsgröße: So ist die Personalabteilung in 73 Ofo aller größeren Betriebe als Sanktionsorgan zu sehen, nur noch in 7 Ofo bei Betrieben unter 50 Arbeitnehmern. Ordnungsausschüsse, die in der Literatur als ein relativ justizförmig organisiertes Sanktionsorgan häufig erwähnt werden, haben wir nur in jedem 100. Betrieb gefunden. 14. Im Gegensatz zu der gesetzlichen Bestimmung im Betriebsverfassungsgesetz, nach der der Betriebsrat in "Fragen der Ordnung des Betriebes und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb" ein Mitbestimmungsrecht hat, ist die Arbeitnehmervertretung nur relativ selten an der Entscheidung über innerbetriebliche Sanktionen beteiligt. Das hängt damit zusammen, daß nur knapp die Hälfte aller untersuchten Betriebe über einen Betriebsrat verfügt. Aber auch dort, wo ein Betriebsrat vorhanden ist, ist er nach Angaben der Betriebsleitung nur in 58 Ofo der Betriebe an der Sanktionierung beteiligt. Auch hier ist der Zusammenhang mit der Betriebsgröße nachgewiesen: je größer der Betrieb, um so eher ist der Betriebsrat an der Sanktionierung beteiligt. 15. 25 Ofo aller Betriebe haben 1970 Betriebsangehörige wegen Delikten und Ordnungsverstößen entlassen, 13 Ofo haben Täter angezeigt, Geldbußen wurden 1970 nur von jedem 5. Betrieb verhängt. Bei Großbetrieben gelten für das Jahr 1970 für die einzelnen Reaktionen etwa doppelt so hohe Quoten. 16. Entlassungen werden in 51 Ofo aller Fälle ausgesprochen; diese Quote liegt bei Großbetrieben noch höher (61 Ofo). Der Polizei angezeigt wird etwa jeder 4. Täter, bei Großbetrieben nur jeder 5. Etwa ein Drittel der nichtentlassenen Täter (etwa ein Sechstel aller Fälle) wird mit einer betrieblichen Geldbuße belegt, wobei die Betriebsgröße auf diese Quote keinen Einfluß hat. 17. Die Differenzierung der genannten drei Reaktionsformen nach Geschlecht und Nationalität ergab folgende Befunde: Weibliche Täter werden weitaus häufiger entlassen als ihre männlichen Kollegen (68 Ofo zu 47 Ofo); dagegen werden männliche Täter häufiger angezeigt als weibliche. Häufiger von Geldbußen betroffen sind weibliche Täter im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen, und ausländische Arbeitnehmer gegenüber Deutschen. In Großbetrieben werden jedoch umgekehrt männliche deutsche Arbeitnehmer häufiger mit Geldbußen belegt. 5 DetriebsJustlz
3. Betriebskriminalität und Betriebsjustiz
66
18. Nach dem Enquetematerial kann man vier Typen betrieblicher Reaktion unterscheiden: a) Sanktionsabstinenz (es werden keine Delikte registriert, weil keine begangen werden oder weil vorkommende Verstöße wegdefiniert werden), b) "Betriebsjustiz" im engeren Sinne durch Verhängung rein innerbetrieblicher Sanktionen, c) Entlassung, die bei bestimmten Delikten grundsätzlich verhängt wird, als Betriebsjustiz im weiteren Sinne und d) Anzeige bei den staatlichen Strafverfolgungsorganen.
Für eine detaillierte Überprüfung der Arbeitshypothesen ist das Datenmaterial der Betriebsenquete nicht differenziert genug. Aus diesem Material ergibt sich jedoch eine sehr wichtige neue Hypothese: Faßt man die in diesem Kapitel dargestellten Ergebnisse der Enquete zusammen, dann kann man sagen, daß die Organisation der betrieblichen Reaktion auf Verstöße in deutlichem Zusammenhang mit der Betriebsgröße steht. Man kann nicht von "der Betriebsjustiz" ausgehen, sondern muß ein Kontinuum von relativ unentwickelten zu relativ entwickelten Organisationsformen der Betriebsjustiz unterscheiden 16 • Während in der Literatur zumeist von relativ verselbständigten, den staatlichen Justizbehörden ähnlichen Organen (Betriebsgerichte, Betriebspolizei) ausgegangen wird, bilden diese in Wirklichkeit die Ausnahme. Das Gleiche gilt von der Mitwirkung des Betriebsrates bei der Verfolgung und Sanktionierung von Verstößen. Parallel zur Ausdifferenzierung spezialisierter Kontroll- und Sanktionsorgane ist ferner eine Formalisierung der betrieblichen Reaktion (Arbeitsordnungen, Verfahrensregeln, Aktenführung) zu verzeichnen. Verselbständigung und Formalisierung der betrieblichen Reaktion gehen ihrerseits einher mit verstärkter offizieller Registrierung von Verstößen. Diese These spricht forschungsökonomisch für eine Beschränkung der Untersuchung auf größere Betriebe, da wir hier eher erwarten können, eine ausreichende Anzahl von Verstößen vorzufinden, deren Behandlung durch die betrieblichen Organe wir untersuchen wollen. Dabei ist zu bedenken, daß wir daran interessiert sein müssen, uns auf möglichst nahe zurückliegende Vorfälle zu konzentrieren, um nicht allzusehr auf das Gedächtnis unserer Informanten angewiesen zu sein. Hinzu kommt, daß in einem für die Betriebe aller Belegschaftsstärken repräsentativen Sampie die kleineren Betriebe und somit die undifferenzierten Formen betrieblicher Reaktion weit überwiegen würden, so daß man mit sehr großen Stichproben hätte arbeiten müssen, um auch eine angemessene Anzahl von Betrieben mit hochorganisier18 Diese These wurde erstmals vertreten von Feest, J., Betriebsjustiz: Organisation, Anzeigebereitschaft und Sanktionsverhalten der formellen betrieblichen Sanktionsorgane. ZStW 85 (1973), S. 130 ff. Eine detailliertere Darstellung der Dimensionen Verselbständigung, Formalisierung und Mitbestimmung findet sich in Kapitel 4 des vorliegenden Buches.
3.8 Zusammenfassung
67
ter Betriebsjustiz zu erfassen. Wenn wir uns in der Hauptuntersuchung, deren Ergebnisse in den folgenden Kapiteln mitgeteilt werden, auf größere Betriebe beschränkt haben, dann erscheint dies vergleichsweise unproblematisch. Denn diese Betriebe repräsentieren immer noch naheZU 17 das ganze Spektrum von Kontrollstilen und Organisationsgraden18 •
17 Aus der Untersuchung herausgefallen ist durch die Beschränkung auf Großbetriebe im wesentlichen der Typ des betriebsratIosen Betriebes. Die Tatsache, daß jeder der in der Hauptuntersuchung untersuchten Betriebe über einen gewählten Betriebsrat verfügte, eröffnete uns jedoch andererseits die Möglichkeit, parallel sowohl Vertreter der Betriebsleitung als auch des Betriebsrates zu befragen. 18 Wenn wir uns retrospektiv einen Vorwurf machen müssen, dann den, daß wir die Grenze für unsere Hauptuntersuchung mit 500 Belegschaftsmitgliedern immer noch zu niedrig angesetzt hatten. Auf diese Weise haben wir möglicherweise die höchstorganisierten Formen der Betriebsjustiz, wie sie in einzelnen Dissertationen beschrieben werden, unzureichend erfaßt.
S"
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz Die Beschreibung der Organisation der Betriebsjustiz anhand der Daten unserer Hauptstudie 1 beantwortet die Frage, mit welchen Mitteln und in welcher Weise Betriebe auf abweichendes Verhalten reagieren bzw. wie sie dieses Verhalten überhaupt feststellen. Dabei werden überwiegend Einstellungen der Befragten referiert, über die betriebliche Realität wird später berichtet. Es sollen hier zunächst Kontrollsysteme und dann Verfahrensweisen beschrieben werden, wobei wir hier unsere zweite Ausgangshypothese überprüfen wollen, die die Praktizierung sehr unterschiedlicher Kontrollstile annimmt.
4.1 Soziale Kontrolle im Industriebetrieb Industriebetriebe wurden eingangs als Teilsysteme sozialer Kontrolle beschrieben. Dabei gehen wir davon aus, daß diese Kontrolle sich in Industriebetrieben zum Teil auf die Einhaltung anderer Normen bezieht und sich anderer Mittel bedient als dies in anderen gesellschaftlichen Systemen wie z. B. der Schule, der Kirche oder der Familie der Fall ist 2 • Weiter wurden als Sozialkontrolle diejenigen Mechanismen bezeichnet, durch welche die Gesellschaft ihre Herrschaft über die sie zusammensetzenden Menschen ausübt (und umgekehrt) und es erreicht, daß diese ihren Normen Folge leisten 3 • Um die betriebliche Reaktion besser zu erfassen, haben wir diesen allgemeinen Begriff der sozialen Kontrolle für unsere Zwecke eingeVgl. Kap. 2.2.2. So gibt es Verhaltensweisen, die im Betrieb geduldet, erwünscht oder gefordert werden, die außerhalb des Betriebes als unerwünscht und nicht zulässig gelten und umgekehrt. Aus diesem Widerspruch können auch Rollenkonflikte resultieren. Ein Beispiel für eine im Betrieb geforderte, außerhalb als unzulässig geltende Verhaltensweise führen Bensman und Gerver an. Vgl. Bensman, J. / Gerver, J., Vergehen und Bestrafung in der Fabrik. In: Steinert, H. (Hrsg.), Symbolische Interaktion. Stuttgart 1973, S. 126. Vgl. hierzu auch Kap. 1. 3 Vgl. Wolff, K. H., Soziale Kontrolle. In: Bernsdorf, W. (Hrsg.), Wörterbnch der Soziologie. 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 969 ff. 1
2
4.1 Soziale Kontrolle im Industriebetrieb
69
engt, indem wir die informelle Kontrolle durch Arbeitskollegen 4 vorläufig nicht berücksichtigen. Wir verstehen unter sozialer Kontrolle jedes Verhalten von Betriebsleitungen, das auf die Aufrechterhaltung sozialer Normen im Betrieb abzielt. Unter sozialen Normen im Betrieb verstehen wir folgende Verhaltensvorschriften: 1. Generell gültige gesetzliche Vorschriften, die durch das Strafgesetzbuch
und die strafrechtlichen Nebengesetze definiert sind. 2. Nur innerbetrieblich gültige gesetzliche Normen wie Unfallverhütungsvorschriften, Arbeitsrecht, Verbot parteipolitischer Tätigkeit im Betrieb usw. sowie 3. Normen, die nicht durch staatliche Gesetze gestützt werden wie Sauberkeit, Kollegialität, z. T. Ehrlichkeit usw. Als soziale Normen verstehen wir also nicht die Einhaltung von technischen Qualitätsstandards und Handelsbräuchen sowie von ökonomischen Standards (wie z. B. der Produktionsmenge und Liefertermine), wenngleich die Grenze zwischen den Bereichen nicht immer ganz eindeutig zu bestimmen sein wird 5 • Wenn wir im folgenden Reaktionen auf abweichendes Verhalten untersuchen, so differenzieren wir dabei nach
a) Delikten, also "kriminellen" Handlungen (innerbetriebliche Verstöße gegen Strafgesetze) und 6 b) Ordnungsverstößen, also nur im Betrieb als abweichend defininierten Handlungen (innerbetriebliche Ordnungswidrigkeiten wie z. B. Zuspätkommen).
4.1.1 Kontrollmaßnahmen und Kontrollhäujigkeit Die von uns im Fragebogen vorgegebenen Kontrollmaßnahmen wiesen bei den befragten Betrieben folgende Verteilungen auf:
Siehe auch Kap. 8.2. So verstößt z. B. ein Arbeitnehmer, der bei der Produktion Material einspart, um es unberechtigterweise mit nach Hause zu nehmen, gegen Normen aus beiden Bereichen. a Dabei ist zu bedenken, daß zwischen der realen Definition der Verstöße durch die Betriebe und der legalen Definition durch das Gesetz Unterschiede bestehen; wir müssen uns im allgemeinen auf die betriebliche Definition beziehen. 4
5
70
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz
Tabelle 1: Kontrollmaßnahmen (von der Betriebsleitung vorgesehen)7 (in 'I,) Rundgänge
Ofo
Sonstige Kontrollmaßnahmen Torkon- Spindrevi- Pkw/Lkw- KontrolltrollenS sionen Kontrollen maßnahmen Ofo Ofo Ofo Ofo
nicht vorgesehen: vorgesehen:
12 88
34 66
54
51
49
60 40
n
68
68
68
68
68
46
"Sonstige Maßnahmen" sind eher deliktsspezifisch orientiert, wie die folgende Aufstellung zeigt9 : Gegen Eigentumsdelikte:
Gegen "Krankfeiern"
Material- und Werkzeugbestandsrevision Warenausgangsscheine Quittungen für Betriebseinkäufe Lagerüberwachung Revisionen Fahrtenschreiber, Fahrtenbuchüberwachung überprüfung von Spesen und Belegabrechnungen Leihwerkzeugbescheinigungen Leibesvisitationen Taschenkontrollen Verschluß von Narkotika Krankenbesuche überprüfung von Krankmeldungen
7 Es wurden hier (wie übrigens auch bei der Darstellung der Kontrollmaßnahmen) die Angaben der Betriebsleitung zugrunde gelegt. Wir sind davon ausgegangen, daß die Betriebsleitungen über die besseren Informationen verfügen. Die Betriebsräte zeigen sich hier tendenziell uninformierter über Kontrollmaßnahmen und Anwendungshäufigkeit. Vgl. hierzu Frage 8.1 des Hauptstudiefragebogens S. 3. B Der Begriff "Torkontrollen" reicht von einer überprüfung jedes Arbeitnehmers, der durch ein Zufallssystem bestimmt wird (Lichtzeichen, akustische Signale) über gelegentliche Stichproben bis zur überprüfung nur bei Verdacht gegen einen Kontrollierten. Dabei kommen auch Leibesvisitationen vor. D Die Häufigkeit der Betriebe, die diese Maßnahmen vorsehen, variierte von n = 1 bis n = 3. Deswegen wurde auf eine genaue Quantifizierung verzichtet.
4.1 Soziale Kontrolle im Industriebetrieb
71
Verspätungslisten Ausgehscheine Stechkartenkontrollen Gegen Verletzung der Geheimhaltung bei Staats- elektronischer Codetüröffaufträgen ner Schlüsselbücher Lichtbildausweise mit Codekarte Gegen Verstöße gegen die Unfallschutzbestim- Unfallschutzinspektionen Gegen Nichteinhalten der Arbeitszeit
mungen
Allgemeinerer Natur dagegen sind noch die folgenden genannten Maßnahmen: Vorgesetztenkontrollen, Überwachung des Werksgeländes, Hausmeisterkontrollen nach Arbeitsschluß, Ausweiskontrollen, Passierscheine für Betriebsfremde, vorläufige Festnahme auf frischer Tat. Sehr selten wurden folgende Maßnahmen genannt: Telefonüberwachung, Fernsehüberwachung der Ausgänge, Kontrollen in hygienischer Hinsicht. Was hier aufgezählt wurde, umfaßt den Bereich der von der Betriebsleitung vorgesehenen formellen Kontrollmaßnahmen, die nicht unbedingt auch praktiziert werden 10 • Dabei ist zu bedenken, daß allein die Tatsache, daß bestimmte Kontrollmaßnahmen vorgesehen sind, generalpräventive Auswirkungen haben kann, und zwar auch dann, wenn diese Maßnahmen nicht angewendet werden. Voraussetzung dafür allerdings ist, daß die Betroffenen Informationen über das Arsenal an vorgesehenen Maßnahmen haben. Tabelle 2: Anwendungshäufigkeit von vorgesehenen Kontrollmaßnahmen (in 'I,)
Rundgänge Ufo
Torkontrollen Ufo
täglich mehrmals pro Woche bis monatlich seltener nie K.A.
92
33
6 2
16 35 9 7
81 16 3
26 23 3 3
n
60
45
37
35
Spindrevisionen Ofo
Pkw/LkwKontrollen Ufo 45
10 Vgl. zu den informellen Kontrollen der Arbeitskollegen und der Arbeitsgruppe Kap. 8.
72
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz
Die Tabelle zeigt, daß die allgemeinste Kontrollmaßnahme "Rundgänge", wenn sie vorgesehen ist, auch überwiegend täglich praktiziert wird. Dagegen wird die speziell gegen Eigentumsdelikte gezielte Kontrollmaßnahme "Spindrevision" in keinem der von uns untersuchten Betriebe routinemäßig, sondern in 81 0/0 der Betriebe "seltener" praktiziert (was bedeutet: im Verdachtsfall bzw. aus konkretem Anlaß). Außerdem wird sie in 16 Ofo der Betriebe, die sie als Maßnahme vorsehen, nie praktiziert; es wird nur damit gedroht. Zwischen diesen beiden Maßnahmen nehmen hinsichtlich der Häufigkeit ihrer Anwendung Pkw/Lkw- und Torkontrollen eine mittlere Position ein. Die Häufigkeit der Anwendung der einzelnen Kontrollmaßnahmen ist allerdings nicht nur ein Indikator für die Kontrollpotenz der Betriebe, sondern auch für das perzipierte Ausmaß von abweichendem Verhalten: Kontrollen kosten Geld, und kein Betrieb würde dieses Geld investieren, würde er nicht glauben, durch diese Investition repressiv oder präventiv normgerechtes Verhalten zu bewirkenl1 . Schließlich werden in jedem Betrieb Routineüberprüfungen wie Überprüfung von Inventarverzeichnissen, von Produktionsziffern und Kassenbeständen durchgeführt, die wir als Kontrollmaßnahmen verstehen können. Sie werden zwar nicht speziell zur Aufdeckung von Verstößen durchgeführt, da sie in erster Linie betriebstechnische (betriebswirtschaftliche) Funktion haben. Weil aber durch diese Routinekontrollen tatsächlich Delikte aufgedeckt werden, sind sie in diesem Bereich den Kontrollmaßnahmen zuzurechnen. Auf die entsprechende Frage gaben 43 Ofo (n = 29)12 der befragten Betriebsleitungen an, in ihrem Betrieb wären schon Delikte durch solche Routinekontrollen aufgedeckt worden13 • Allerdings zeigen unsere Gespräche nach den Interviews, daß Betriebe dazu neigen, bei rechnerischen Unstimmigkeiten zunächst kriminelles Verhalten zu unterstellen. So sind uns einige Fälle bekannt, in denen von fehlenden Lagerbeständen oder Diskrepanzen zwischen Materialverbrauch und Produktionsziffer auf kriminelles Verhalten von 11 Zum Zusammenhang zwischen Deliktshäufigkeit und Kontrollorganisationen vgl. Kap. 8. 12 Es ist hier eine bemerkenswerte übereinstimmung zwischen Betriebsleitung und Betriebsrat festzustellen. Möglicherweise ist der Betriebsrat bei normalen betrieblichen Routinehandlungen besser informiert als in dem Bereich "kriminellen" Verhaltens von Arbeitnehmern. 13 Durch die überprüfung von Lagerbeständen wurden in 18 (26 0 /0) der Betriebe nach Angaben der Betriebsleitung Delikte aufgedeckt, durch die überprüfung von Inventarverzeichnissen in 14 (21 °/0) der Betriebe, durch überprüfung von Produktionsziffern in 10 (15 0/ 0) der Betriebe und durch die Überprüfung von Kassenbeständen in 9 (13 %) der Betriebe.
4.1 Soziale Kontrolle im Industriebetrieb
73
Arbeitnehmern geschlossen wurde, was lange und peinliche Untersuchungen zur Folge hatte. Später entpuppte sich der Fehler dann jeweils als Rechen- bzw. Aufzeichnungsirrtum.
4.1.2 Präventivmaßnahmen gegen abweichendes Verhalten im Betrieb Kontrollmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhinderung von abweichendem Verhalten (Präventivmaßnahmen) lassen sich weder in der Praxis noch in der Theorie scharf trennen: Torkontrollen können sowohl der Aufdeckung von abweichendem Verhalten als auch dessen Verhinderung dienen. Betriebliche Maßnahmen haben in der Regel diese Doppelfunktion; führt die Kontrolle zur Feststellung eines Delikts, hat die präventive Wirkung offensichtlich versagt, gleichzeitig jedoch hat die Aufdeckung wieder präventive Wirkung auf die Arbeitskollegen, die davon erfahren. Diese Doppelbedeutung wird von vielen Betrieben so nicht gesehen: zwar konnten uns alle Betriebe Kontrollmaßnahmen nennen; aber nur 45 Betriebe nannten Präventivmaßnahmen. Möglicherweise sehen Betriebe Präventivmaßnahmen als antizipierte Kontrollen und zählen sie deswegen zu diesen. So fließen hier die beiden in der staatlichen Kriminalpolitik prinzipiell verschiedenen Strategien der Sozialkontrolle - Prävention und Repression14 - ineinander: Präventivmaßnahmen können ebenso repressiv wirken wie repressive Maßnahmen präventiv wirken können (z. B. die oben beschriebenen Torkontrollen)15. Unter den im folgenden aufgeführten Maßnahmen befinden sich natürlich einige, die man selbst bei weitgehender Begriffsdefinition nicht als Präventivmaßnahmen im eigentlichen Sinne wird bezeichnen können. Das war jedoch nicht unsere Frage, wir wollten vielmehr wissen, was uns Betriebe als Präventivmaßnahmen angeben bzw. definieren. Die Antworten auf die Frage: "Was tun Sie, um Betriebskriminalität zu verhindern bzw. zu bekämpfen (Präventivmaßnahmen)?"16, kann man in fünf verschiedene Gruppen einteilen: 1. Präventive Maßnahmen technischer Art versuchen durch Absiche-
rung kriminelles Verhalten zu verhindern. Dazu zählen im einzelnen folgende Maßnahmen:
Vgl. Kaiser, G., Kriminalpolitik. In: KKW. Freiburg 1974, S. 178 ff. Wobei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß dies in der staatlichen Kriminalpolitik ebenso wirkt. 16 Die Frage war offen gestellt (keine Vorgaben, siehe Frage Nr. 7 Fragebogen Hauptstudie S. 2). Dabei werden die Gruppen in der Reihenfolge der Häufigkeit ihrer Nennungen beschrieben. 14
15
74
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz
abschließbare Spinde, Kleiderschränke, Umkleideräume; generelles Abschließen von Räumen nach Arbeitsschluß; eingezäuntes Betriebsgelände; Alarmsysteme und elektronische Kontrollen 17.
2. Präventive Maßnahmen appelativer Art sollen die Arbeitnehmer an die Existenz von Normen erinnern und normgerechtes Verhalten auf freiwilliger Basis erreichen. Im einzelnen wurden folgende Maßnahmen genannt: Aufklärung in Werkszeitungen, in Betriebsversammlungen oder durch Anschläge am Schwarzen Brett; Verbreitung und Bekanntmachung der Arbeitsordnungen; Hinweise für neueingestellte Arbeitnehmer. 3. Die Präventivwirkung durch Abschreckung will dem Betroffenen die Folgen abweichenden Verhaltens verdeutlichen: es werden durch "drakonische Strafen Exempel statuiert"18; es werden Hinweise auf zu erwartende hohe Strafen gegeben; man schaltet die Polizei ein; Sanktionen werden anonym oder mit Namen des Täters öffentlich bekanntgemacht. 4. Anreizmindernde Präventivmaßnahmen sollen hauptsächlich bei
Eigentumsdelikten das Erreichen eines Handlungsziels auf legale Weise ermöglichen bzw. die Tatbegehung ausschließen. Dazu gehören der verbilligte Betriebsverkauf von Produkten und Material; der Werkzeugverleih; die Benutzung der Maschinen im Betrieb nach Arbeitsschluß und die bargeldlose Lohnzahlung.
5. Präventivmaßnahmen betriebsstruktureller Art: Man versucht, bessere Bedingungen für ein normkonformes Verhalten zu schaffen: angenehmere Arbeitsbedingungen 19 ; Verbesserung des sozialen Klimas; Schulung von Vorgesetzten.
Die letzte Gruppe von Maßnahmen hat am ehesten in einem weiteren Sinne general präventiven Charakter20 , sie ist im eigentlichen Sinne präventive Sozialkontrolle. 17 Die Häufigkeiten variierten von n = 14 bis n = 1, wobei sie in den meisten Fällen zwischen 1 und 3 streuten. Deswegen verzichten wir auf eine genaue Quantifizierung. Außerdem sind diese Zahlenangaben als lVIinimalangaben zu verstehen: sicherlich gibt es mehr Betriebe mit eingezäuntem Betriebsgelände oder bargeldloser Lohnzahlung. Nur definieren nicht alle Gesprächspartner dies als Präventivmaßnahme. 18 Diese Einstellung wird nicht nur an dieser Stelle als Antwort auf die Frage nach Präventivmaßnahmen genannt. Damit werden auch einzelne Sanktionsentscheidungen bei Verstößen im Täterteil begründet. 19 Zitat eines Personalchefs: "Zufriedene Leute delinquieren seltener." 20 Wir verstehen Generalprävention hier also nicht nur als Abschreckung, sondern erweitern den Begriff in dem obengenannten Sinne. Vgl. die neueste juristische und kriminologische Diskussion hierzu bei Kaiser, G., General Deterrence or General Prevention. Stockholm 1975 b.
4.1 Soziale Kontrolle im Industriebetrieb
75
4.1.3 Kontrollorgane Kontrollorgane und Kontrollmaßnahmen hängen eng miteinander zusammen. Es gibt Kontrollmaßnahmen, die nur durchgeführt werden, weil man das betreffende Kontrollpersonal sowieso beschäftigt (z. B. in vielen Betrieben Pförtner/Torkontrollen), umgekehrt gibt es spezielles Kontrollpersonal, das nur die Durchführung bestimmter Kontrollmaßnahmen als Aufgabe hat (z. B. Werkschutz). Spezielle hauptberufliche Kontrollorgane sind in der Regel nur in sehr großen Betrieben zu finden 21 • Als allgemeine Kontrollorgane kann man generell Mitglieder der Geschäfts- und Betriebsleitung, Betriebsratsmitglieder und Vorgesetzte auf jeder hierarchischen Ebene bezeichnen. Sie überwachen den ganzen Bereich von Verhaltensvorschriften (s. 4.1).
Spezielle Kontrollorgane zur Verhinderung, Bekämpfung bzw. Aufdeckung von Delikten und Ordnungsverstößen im Betrieb sind in den befragten Betrieben in folgender Verteilung vorhanden: Tabelle 3: Innerbetriebliche Kontrollorgane Kontrollorgane 1. Sicherheitsingenieur/Sicherheitsbeauftragter mit Kriminalitätsbekämpfungsaufgaben ............ 2. Pförtner mit Kontrollbefugnis ...................... 3. Pförtner ohne Kontrollbefugnis .................... 4. Werkschutz ........................................ 5. Torkontrolleure .................................... 6. Werksfeuerwehr mit Werkschutzaufgaben .......... 7. Sonstige Kontrollorgane ............................
69 68 30 15 12 9 22
Mehrfachnennungen; Basis der Prozentuierung: n ......
68
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - _..-
Pförtner ohne Kontrollbefugnis haben wir deshalb hier mitaufgeführt, weil man davon ausgehen muß, daß selbst ein Pförtner ohne besondere Kontrollbefugnis qua definitionem immer eine latente Kontrollfunktion innehat, während bei der Kategorie "Pförtner mit Kontrollbefugnis" diese Kontrollfunktion ausdrücklich formalisiert ist. Bei dem von den meisten Betrieben genannten Kontrollorgan "Sicherheitsingenieur" läßt sich erkennen, daß eine Trennung in ausschließlich gegen Delikte und Ordnungsverstöße eingesetzte Kontrollorgane und sozusagen nebenamtliche Kontrollorgane schwierig ist: Der in erster Linie für die Arbeitssicherheit, die Einhaltung der Unfall21 Mit der Ausnahme von kleineren Betrieben mit staatlichen Rüstungsaufträgen. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Betriebsgröße und Kontrollorganisation auch Kap. 3.2.
76
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz
schutzbestimmungen und der technischen Arbeitsvorschriften (TÜVNormen) zuständige Sicherheitsingenieur ist in ca. 70 % der Betriebe gleichzeitig für die Kriminalitätsbekämpfung zuständig. Diese Personalunion ist ein Indikator für die Einordnung des Problems "abweichendes Verhalten" von seiten der funktionsbestimmenden Betriebsleitung: die Zuordnung zum Bereich "Betriebssicherheit". Auch bei den übrigen Kontrollorganen zeigt sich, daß die als "speziell" bezeichneten Kontrollorgane so speziell nicht sind: die Pförtner haben im Regelfall Verkehrsüberwachungsfunktion, die Torkontrolleure kontrollieren normalerweise nur bei Schichtwechsel oder Arbeitsende, die Werksfeuerwehr mit Werkschutzaufgaben ist in ihrem hauptsächlichen Aufgabenbereich Feuerwehr, und die Bekämpfung von Betriebskriminalität ist nur Nebenfunktion. Obwohl es nur in etwa jedem siebten der von uns untersuchten Betriebe einen Werkschutz als Betriebspolizei gibt, darf seine Bedeutung dort, wo er existiert, nicht unterschätzt werden 22 • Die von uns erhobenen Daten zeigen jedoch, daß wir auf diesem Sektor noch weit von amerikanischen Verhältnissen entfernt sind. Nach einer Studie der Rand Corporation 23 kommt dort auf zwei staatliche Polizisten ein betriebseigener Werkschutzmann. Ein einziger Großbetrieb schließlich hat über den Werkschutz hinaus eine Werksfahndung, die, mit zwei Mann besetzt, reine Werks-Polizeifunktion hat. Unter der Rubrik "Sonstige Kontrollorgane" wurden im wesentlichen vier Gruppen genannt: 1. Nachtwächter, die entweder vom Betrieb angestellt oder über einen
Wach- und Schließdienst "gemietet" sind. Wichtig scheint hier, daß bei Nachtwächtern nur ein kleiner Teil der Kontrolltätigkeit auf das Verhalten von Betriebsangehörigen gerichtet ist, während der Hauptteil der Tätigkeit in der Sicherung gegen außerbetriebliche Störung und Brandsicherung liegt.
2. Hausmeister und Hausverwalter, bei denen die obige Einschränkung
ähnlich gilt. Problematisch ist, wie Kommentare zu Interviewfragen
22 Vgl. einerseits die werkschutzfreundliche bzw. werkschutzeigene Literatur, z. B. Amelunxen, C., Werkschutz und Betriebskriminalität. Hamburg 1960; Heinrichs, L., Ratgeber für den Werkschutz. Wiesbaden 1966; Franzheim, H., Werkschutzrecht. Köln 1966; ders., Werkschutz, Aufbau und Aufgaben. 2. Aufl., Möhnesee 1970. Kritische Stellungnahmen finden sich vor allem in journalistischen Arbeiten, für die die kritische Reportage von Wallraff, G., "Wehe, wenn sie losgelassen!" In: Wallraff, G., 13 unerwünschte Reportagen. Köln 1971, S. 195 ff. als Beispiel gelten kann. 23 Kakalik, J. S. / WHdhorn, S., Private Police in the Uni ted States. Vol. 1, U. S. Department of Justice. Washington 1971, S. 15.
4.1 Soziale Kontrolle im Industriebetrieb
77
zeigen, die Rolle der Hausmeister gelegentlich in Wohnheimen für ausländische Arbeitnehmer der Betriebe, wo nach Angaben von Betriebsräten Hausmeister in einigen Fällen ihre Kontrollbefugnis ohne Wissen der Betriebsleitung überschritten haben. 3. Eine dritte Gruppe von Kontrollorganen wird am besten mit dem Begriff "Nachtchef" beschrieben. Die Kontrollfunktion ist zeitlich begrenzt auf die Nachtarbeitszeit, in der die sonst zuständigen Kontrollorgane nicht im Dienst sind (hauptsächlich also in Betrieben mit Tag- und Nachtschicht). 4. Schließlich ist hier noch der Bereich der innerbetrieblichen Revision zu nennen, der über relativ gute Kontrollmöglichkeiten verfügt. Dieses Kontrollorgan ist am ehesten in Banken und Versicherungen für die Aufdeckung und Bekämpfung von Kriminalität im Betrieb zuständig. In den meisten Betrieben ist diese spezielle Kontrollfunktion erstaunlicherweise allenfalls ein Nebenprodukt der Hauptaufgabe der Überprüfung organisationstechnischer Bereiche wie Rechnungswesen, Buchhaltung, Personalplanung etc. Hier zeigt sich auch die Macht der Definition: Revision kontrolliert generell Abweichung von erwartetem Normalverhalten, jedoch werden die von Revisoren manchmal festgestellten Tatbestände wie z. B. "unkorrekte Berechnung des Urlaubsgeldanspruchs" oder "fehlerhafte Lohnsteuerberechnung"24 nicht als kriminelles Fehlverhalten interpretiert.
Allerdings ist hier zu bemerken, daß wir mit unserem Untersuchungsansatz generell den Bereich der Angestelltendelinquenz25 relativ seltener erfaßt haben dürften als Delikte von Arbeitern. Eine von nur einem Betrieb genannte Kontrollinstitution sei hier noch besonders erwähnt: das Kontrollorgan des UmweZtschutzbeaujtragten. Die Betriebsleitung kontrolliert sich über diesen Beauftragten quasi selbst. Dieses System der Selbstkontrolle kann dort funktionieren, wo etwa ein Meister oder Abteilungsleiter aus Bequemlichkeit oder zur Beschleunigung eines Arbeitsprogramms ohne Wissen oder ohne "offizielles Wissen" der Betriebsleitung Umweltschutzbestimmungen verletzt. Es kann dort nicht mehr funktionieren, wo die Betriebsleitung selbst wegen echter oder vorgetäuschter technischer Probleme oder aus ökonomischen Gründen ihr aufgegebene Umweltschutzbestimmungen nicht beachtet. 24 Dies könnte man als Beispiel abweichenden Verhaltens der Betriebsleitung interpretieren. 25 Zu dieser Problematik vgl. Kap. 6.2.2 sowie Kap. 7.2.
78
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz
4.1.4 KontrollstiZe und Kontrollsystem Nach unserer Arbeitshypothese 2 werden in Betrieben sehr unterschiedliche Kontrollstile praktiziert. Erste Hinweise dafür konnten wir bereits der Betriebsenquete entnehmen. Dies läßt sich auch mit unserem Material der Hauptstudie belegen. Allerdings ist eine eindeutige Zuordnung der Betriebe zu bestimmten Kontrollstilen und damit eine Quantifizierung schwierig. Erstens schließen sich verschiedene Kontrollstile in einem Betrieb gegenseitig nicht aus; in einem Betrieb können in verschiedenen Abteilungen durchaus verschiedene Kontrollstile praktiziert werden.
Zweitens ändern Betriebe die Praxis ihres Kontrollstils mitunter sehr schnell: unter geänderten wirtschaftlichen Bedingungen, in anderen Konjunktursituationen, bei einem Eigentümerwechsel des Betriebes, beim Nichtfunktionieren eines Stils passen die Betriebsleitungen ihren Kontrollstil in der Regel sehr schnell der geänderten Situation an 26 • Ein Beispiel: in einem mittelgroßen Unternehmen wurde ein informeller Kontrollstil in sehr legerer Form praktiziert; der Firmenchef lief mit brennender Zigarette durch feuergefährdete Räume, Mitarbeiter nahmen nach Lust und Laune Material mit nach Hause. Nach einem Eigentümerwechsel, bei dem gleichzeitig das Top-Management ausgetauscht wurde, war innerhalb weniger Wochen ein repressiver Kontrollstil eingeführt worden, um, wie der zuständige neue Mann sagte, "den Saustall auszuräumen". Nach wenigen Wochen der Unruhe im Betrieb waren die neuen "Herren und Sitten" akzeptiert; man ging zu einem präventiven Stil über. So unterscheiden wir drei Kontrollstile eher idealtypisch: 1. Ein informeller KontrollstiZ 27 ; man verzichtet aus ökonomischen
Gründen auf die Einrichtung und Unterhaltung eines Kontrollapparates und verläßt sich auf das Funktionieren der Vorgesetztenkontrollen, unterstützt diese Strategie noch durch die häufige öffentliche Versicherung, daß "man seinen Leuten vertrauen kann" und rechnet im übrigen damit, daß die Schäden geringer sind als die Kosten zu ihrer Verhinderung.
2. Ein Kontrollstil, dessen Strategie darin besteht, durch gelegentliche, unvermutet durchgeführte Kontrollen allen Kontrollierten 28 Das gilt ähnlich auch für den Organisationsgrad der Betriebsjustiz, da diese Bereiche eng voneinander abhängen. Beim Organisationsgrad dürfte allerdings der Prozeß der Umstellung länger dauern. 27 Informell bezieht sich hier nur auf die Ebene der offiziellen betrieblichen Kontrolle; daneben bzw. darunter existiert ein weiter Bereich informeller Kontrollen auf der Ebene der Arbeitskollegen (vgl. hierzu Kapitel 8).
4.2 Verfahren bei der Betriebsjustiz
79
klarzumachen, daß sie jederzeit mit Kontrollen zu rechnen haben - ein eher präventiver Stil also. 3. Ein repressiver Kontrollstil mit der Aufgabe, Verstöße durch regelmäßige und häufige Aktivitäten festzustellen, eher auf Aufdeckung und Verfolgung gerichtet. Ziel der Kontrollsysteme dürfte primär die Garantie eines störungsfrei ablaufenden Produktionsprozesses sein. Das kann nur geleistet werden durch die Aufrechterhaltung der betrieblichen Ordnung bzw. deren Wiederherstellung bei Störungen. Damit ist auch die Orientierung der Betriebsjustiz an ökonomischen statt an rechtlichen Kategorien vorgegeben. Somit wird es auch verständlich, daß Betriebe auf bestimmte kriminelle Verhaltensweisen (z. B. Diebstahl) mit gleichen Mitteln reagieren wie auf sogenannte Ordnungsverstöße (wie z. B. Krankfeiern)28. Kleinere Diebstähle von Werkzeug, Produkten oder Material sind im Endeffekt (solange sie im - selbstdefinierten - Rahmen bleiben) weniger kostspielig als ein hoher Krankenstand, bei dem Betriebe immer einen nicht geringen Prozentsatz sogenannter "Krankfeierer" vermuten. Wie oben dargelegt, existiert kein einheitliches Kontrollsystem der Betriebsjustiz. Die Problematik des abweichenden Verhaltens stellt sich für jeden einzelnen Betrieb je nach Größe, Branche und Organisationsgrad unterschiedlich dar. 4.2 Verfahren bei der Betriebsjustiz
Wir müssen hier unterscheiden zwischen -
in Arbeitsordnungen oder Betriebsvereinbarungen festgelegten Verfahrensregeln und informellen Verfahrensregeln, die nicht kodifiziert sind sowie der Verfahrenspraxis.
Es soll hier also nicht nur um formalisierte Verfahrensgrundsätze in Analogie zur staatlichen Justiz gehen. Verfahrensnormen sind nur in etwa jeder zweiten Arbeitsordnung zu finden 29 . Sie betreffen einerseits das Verfahren bei Kontrollen und 28 Von Kritikern der Betriebsjustiz wird allerdings mit Recht immer wieder die Anwendung unterschiedlicher Sanktionssysteme für kriminelles Verhalten einerseits und leichte Ordnungswidrigkeiten andererseits verlangt. 29 Dies hat eine überprüfung aller uns zur Verfügung stehenden AO der Betriebe erbracht, die in der HS erfaßt worden sind. Vgl. im übrigen hierzu die Auswertung der Arbeitsordnungen im Exkurs.
30
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz
Durchsuchungen (Anwesenheit des Betriebsrats ist vorgeschrieben oder kann verlangt werden), andererseits - seltener - das rechtliche Gehör. So wird hier in erster Linie dargestellt, welche Verfahrensweisen in den Betrieben vorgesehen sind, darüber hinaus haben wir versucht, Anhaltspunkte für die tatsächliche Praxis zu finden.
4.2.1 Aufdeckung und innerbetriebliche Meldung von Delikten und Verstößen Wie erfahren Betriebsleitungen und Betriebsräte von Verstößen? Das unter 4.1 beschriebene Kontrollsystem liefert nur einen kleinen Teil der Informationen, da es nur selektiv zu bestimmten Zeiten, in bestimmten Situationen oder in bestimmten Bereichen wirksam werden kann. Es muß also eine Anzahl zusätzlicher Informationskanäle geben, die Betriebsleitung und Betriebsrat mit Meldungen über Verstöße versorgen 30 • Dazu haben wir folgende Daten erhoben: Tabelle 4: Hauptinformationsquellen der Betriebsleitung31
Hauptinformationsquelle für die Betriebsleitung
Ufo
direkter Vorgesetzter .............................. 50 Abteilungsleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 31 spezielles betriebliches Kontrollorgan .............. 6 Betriebsrat ........................................ 6 Personal-Betriebsleitung32 ••••••••••••••••.••••••••• 3 sonstige Quellen .................................. 1 Arbeitskollegen ................................... . ------K.A ................................................... 3 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
insgesamt
68
Es zeigt sich, daß die beiden Gruppen "direkter Vorgesetzter" und "Abteilungsleiter" für die Betriebsleitungen die wichtigsten Informationsquellen darstellen, während "spezielle betriebliche Kontrollorgane" und der Betriebsrat jeweils nur von 6 % der Betriebsleitungen als Hauptinformationsquelle genannt werden. 30 Vgl. hierzu auch Kap. 8 über die Einstellung von Arbeitnehmern zur Meldung von Verstößen. 31 Die Frage lautete: Wer informiert Sie in den meisten Fällen über innerbetriebliche Delikte? Siehe Anhang, Fragebogen Hauptstudie Frage Nr. 10,
S.4.
S2 Betriebsleitung hier im Sinne eines technischen Produktionsleiters; vgl. im übrigen Anm. 34, Kap. 4.
81
4.2 Verfahren bei der Betriebsjustiz Tabelle 5: Hauptinformationsquellen für den Betriebsrat
Hauptinformationsquelle für den Betriebsrat
---------------
1. Betriebs-/Personalleitung32
2. 3. 4. 5. 6.
• • • • • • • • • . • • • • • • • • • • • • •• 48 Arbeitskollege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 20 Abteilungsleiter .................................... 9 direkter Vorgesetzter .............................. 5 sonstige Quellen .................................. 3 spezielle betriebliche Kontrollorgane ............. .
K.A.
insgesamt
--------_._-------
15
66
Für den Betriebsrat sind die Betriebsleitung und die Arbeitskollegen die wichtigsten Informanten. Aus diesen Daten könnte man schließen, daß die hier als Hauptinformationsquellen bezeichneten Gruppen, nämlich für die Betriebsleitung direkter Vorgesetzter und Abteilungsleiter, für den Betriebsrat Betriebsleitung und Arbeitskollegen, den entscheidenden Selektionsfilter darstellen. Sie entscheiden darüber, was als Verstoß bezeichnet und den beiden Instanzen zur Kenntnis gebracht wird. Es ist jedoch ebenso möglich, daß die anderen Informationsquellen die weitaus stärkere Selektionswirkung haben, indem sie eben viele Verstöße nicht weiterrneiden, also Informationen zurückhalten. So zeigen unsere Daten z. B., daß die Betriebsleitung über mehr Verstöße Bescheid weiß als der Betriebsrat. Da der Betriebsrat aber die Betriebsleitung als Hauptinformationsquelle angibt, ist für ihn sicherlich die Betriebsleitung der entscheidende Selektionsfilter. Vergleichen wir dies mit den Ergebnissen aus dem "Täterteil" des Fragebogens33 (siehe Tab. 6, S. 82). Dieses Ergebnis kann man für die Betriebsleitung als tendenzielle Übereinstimmung mit den vorigen Tabellen zur Informationsstruktur interpretieren. Für den Betriebsrat dagegen gilt dies nur partiell. Wir fassen hier die Nennungen in den Kategorien "Vorgesetzte" und "sonstige Quellen" zusammen, da wir wissen 34, daß der Betriebsrat Informationen Vgl. Kap. 2.2.3. Die Nennungen in der Kategorie "sonstige Quellen" verteilen sich folgendermaßen: BR nennen hier weit überwiegend (in 31 Fällen) die Geschäftsleitung bzw. die Personalleitung, da wir hierfür keine spezielle Kategorie vorgesehen hatten. In 4 Fällen erfuhr der BR von der Tat durch Informationen von außerhalb des Betriebes (Zeitungsartikel, Vater des Opfers, Käufer des gestohlenen Gegenstandes, Arzt). Durch normale innerbetrieb33
34
6 BetriebsjustIz
82
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz Tabelle 6: Meldung der genannten Verstöße
Delikte Betriebs- Betriebsleitung rat °/0 Ofo Meldung durch: Meister, Vorgesetzte Spez. betriebliche Kontrollorgane Arbeitskollegen Opfer Sonstige Quellen34 Polizei Täter selbst Informationen durch Gerüchte im Betrieb
27
24
62
42
17 16 15 15 6 2
19 20 16 2
11
7 10
3 16
10
34 2
2
5 3
2
105
96
68
K.A. N
Ordnungsverstöße Betriebs- Betriebsleitung rat Ofo °/0
2 7
3 64
von der Betriebsleitung mangels einer speziellen Kategorie in diesen Kategorien nennt. Ebenso sind die Nennungen der Kategorien "Arbeitskollegen" und "Opfer" zusammengefaßt zu interpretieren, da Opfer im allgemeinen Arbeitskollegen sind. Danach ergibt sich für diese beiden zusammengefaßten Gruppen ein Anteil von jeweils ca. 40 % der Meldungen über Verstöße. Der Betriebsrat erhält also in der Praxis mehr Informationen von seiten der Arbeitskollegen, als dies nach den Einstellungen von Tab. 5 zu vermuten wäre 35• Signifikant höher sind Meister und Vorgesetzte als Informationsquellen bei Ordnungsverstößen als bei Delikten genannt (sowohl von Betriebsleitung wie von Betriebsrat)36. Das bedeutet umgekehrt, daß die anderen Informationsquellen bei Delikten eher als bei Ordnungsverstößen genannt werden. Besonders wird dies deutlich, allerdings liche Kontrolleinrichtungen ("Krankenbesucher", Refa-Experte) erfuhr der BR in 3 Fällen von einem Verstoß. Die Nennungen der BL verteilen sich wie folgt: In 6 Fällen wurden sie von außerhalb des Betriebes informiert (z. B. vom Wirtschaftsprüfer einer Konkurrenzfirma, von einer Fremdfirrna, Verwandten des Täters, einem anonymen Brief, dem Nachbarn des Täters); in 6 Fällen wurden sie von betrieblichen Stellen (z. B. Sanitätsstation, Werkschwester, durch die EDVAbteilung, die Buchhaltung) informiert. In 6 Fällen war der BR Informant, in 3 weiteren die übergeordnete Unternehmens- und Geschäftsleitung. 35 Zum tatsächlichen Meldeverhalten der Arbeitnehmer vgl. Kap. 5.3 sowie Kap.8. 36 Ein Vier-Felder-Chi-Quadrat-Test ergab für die Betriebsleitung: '/..2 = 21.104, df = 1, s, p < .001; für den Betriebsrat: '1. 2 = 5.933, df = 1, s, p < .05. Generell wurde für alle Chi-Quadrat-Berechnungen auf die Kategorie K. A. verzichtet.
83
4.2 Verfahren bei der Betriebsjustiz
nicht signifikant nachweisbar, bei speziellen betrieblichen Kontrollorganen und Opfern als Informanten. Hier stellt sich die Frage nach dem offiziellen Ermessensspielraum, den man Vorarbeitern, Meistern und Abteilungsleitern zubilligt, nämlich einen Vorfall ohne Weitergabe an übergeordnete Stellen (Betriebsleitung) zu erledigen. Tabelle 7: Ermessensspielraum37 für untergeordnete Stellen zur selbständigen Erledigung von Verstößen
Ermessensspielraum
Betriebsleitung Ofo
1. sehr groß ............................. .
2. groß ................................. . 3. mittel ............................... . 4. gering ............................... . 5. keine eigene Erledigung ............... . K.A. N
....................................... .
x2 =
4.713 38 , df
o
19 31
34 13
Betriebsrat Ofo 6 29 26 29 8
3
101
68
66
= 3, ns bei p = .05
Die Tabelle zeigt, daß untergeordneten Stellen die Erledigung von Verstößen übertragen wird39• Daraus kann man schließen, daß den untergeordneten Stellen ein unterschiedlich großer eigener Ermessensspielraum zugebilligt und damit zwangsläufig ein Dunkelfeld in Kauf genommen wird40 • 37 s. Anhang Frage Nr. 22 Fragebogen Hauptstudie, S. 7. Zwar sind unterschiedliche Definitionen von z. B. "großem Ermessensspielraum" anzunehmen. Unsere Vorgabe entsprach folgendem Muster: Großer Ermessensspielraum: Die untergeordnete Stelle kann auch relativ schwere Vorfälle selbst erledigen, wie z. B. Diebstähle mit 100,- DM Schaden oder Körperverletzungen. Mittlerer Ermessensspielraum: Verstöße wie kleinere Diebstähle oder unregelmäßiges Erscheinen müssen nicht unbedingt gemeldet werden. Geringer Ermessensspielraum: Nur Minimalverstöße wie Rauchen im Rauchverbot oder einmaliges Zuspätkommen fallen in die Entscheidungskompetenz der untergeordneten Stelle. 38 Für die Berechnung von X2 wurden die beiden ersten Zeilen der Tabelle zusammengefaßt und die Zeile K. A. ausgeklammert. 39 Die Kategorien 1 - 4 der Tabelle sind hier zusammengefaßt. 40 Dieses Ergebnis kann zusätzlich als Hinweis darauf verstanden werden, warum uns manche Betriebe bei der Nennung konkreter Delikte ausschließlich schwere Vergehen, manche dagegen vor allem Bagatellverstöße berichten: in manchen Betrieben gelangen den Betriebsleitungen eben nur selten kleinere Verstöße zur Kenntnis, da die untergeordneten Stellen diese selbst erledigen.
84
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz
Unterschiede zwischen den Aussagen der Betriebsleitungen und der Betriebsräte konnten wir hier nicht nachweisen. Beide Gruppen scheinen also in der Einschätzung des Ermessensspielraums weitgehend übereinzustimmen. Der "offizielle Ermessensspielraum " ist im übrigen in keinem Betrieb formalisiert, d. h. schriftlich mit genauen Grenzen fixiert und wird in der Realität je nach Position und Persönlichkeit des jeweiligen Vorgesetzten weiter oder enger ausgefüllt41 • Ein weiterer Aspekt des Informationssystems ist die "Anzeigeverpflichtung" der Arbeitskollegen. In immerhin 18 Ufo der Betriebe geben die Betriebsleitungen an (Betriebsrat: in 17 %), in ihrem Betrieb seien die Betriebsangehörigen formal verpflichtet, Delikte und Verstöße von Kollegen zu melden42 • Weiter unten (Kap. 8) wird nachgewiesen, daß Arbeitnehmer selbst das Melden von Verstößen situationsspezifisch beurteilen, aber Denunziation ablehnen. Das Melden wird sogar selbst gelegentlich zum unerwünschten Verhalten. Außerdem finden sich dort Hinweise, daß auch die "mittleren" Instanzen, Abteilungsleiter und Meister, sich eher ungern mit solchen Meldungen befassen. Belohnungen oder Prämien für Anzeigen wurden uns allerdings nur aus einem einzigen Betrieb berichtet43 •
4.2.2 Untersuchungen von bekanntgewordenen Verstößen Nach unseren Erhebungen fallen auch bei der Aufklärung eines Verstoßes Entscheidungen darüber, wie dieses Verhalten zu definieren ist. Daher scheint uns die Frage nach der Beteiligung der verschiedenen betrieblichen "Institutionen" an dieser Untersuchung wichtige Informationen über die Machtverteilung im Bereich der Betriebsjustiz zu liefern. In Tab. 8 sind nur die Angaben zu "normalen" Vorkommnissen angeführt. Angaben wie "selten" oder "nur in besonders schweren Fällen" werden ausgespart, um nicht ein verzerrtes, einseitig auf eben diese schweren Fälle gerichtetes Bild zu bekommen. 41 So ist mit Sicherheit anzunehmen, daß auch in den 13 Ofo der Betriebe, die "keinen Ermessensspielraum" angeben, Verstöße auf unteren hierarchischen Ebenen erledigt werden. 42 s. Anhang Frage Nr. 9.1 Fragebogen Hauptstudie, S. 4; vgl. hierzu auch Kap. 8. Wir haben allerdings kein Material darüber erhoben, ob Verstöße gegen diese Anzeigeverpflichtung sanktioniert werden. 43 s. Anhang Frage Nr. 9.2 Fragebogen Hauptstudie, S. 4; es ist hier etwa an die Parallele bei Ladendiebstahl zu denken, wo neuerdings "Fangprämien" bis zu 100,- DM für die Aufdeckung von Ladendiebstählen gezahlt werden.
4.2 Verfahren bei der Betriebsjustiz
85
Tabelle 8: Beteiligung innerbetrieblicher "Instanzen" an der Untersuchung von Vorfällen
Beteiligte
Betriebsleitung Ofo
Betriebsrat Ofo
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Betriebsrat ........................... . 81 86 Personalleitung ..................... . 78 68 unmittelbarer Vorgesetzter ........... . 63 59 58 Betriebsleitung44 •••••••••••••••••••••. 56 14 Sonstige Beteiligte ................... . 19 13 Ranghöchster im Betrieb ............. . 8 überbetriebliche Unternehmensleitung 1 ---------------------------_._Mehrfachnennungen ; Basis der Prozentuierung: N ............. . 66 68 Aus der Tabelle ist erkennbar, daß an der Untersuchung normalerweise Betriebsrat, Personal- und Betriebsleitung sowie der unmittelbare Vorgesetzte des Verdächtigen beteiligt sind. Der "Chef" (Ranghöchster im Betrieb) sowie die für 50 % der Betriebe in Frage kommende überbetriebliche Unternehmensleitung schalten sich selten ein. Die Angaben des Betriebsrats zeigen hier keinen signifikanten Unterschied zu denen der Betriebsleitung45 • (So sind auch die Rangreihen identisch.)
4.2.3 Entscheidungskompetenzen Bei der Frage nach der Verteilung der Kompetenzen bei der Entscheidung über die Sanktionierung von Tätern haben wir wegen der unterschiedlichen Funktion unterschiedliche Angaben zwischen Betriebsleitung und Betriebsrat angenommen (s. Tab. 9, S. 86). Zunächst fällt auf, daß Personalleitung und Betriebsrat auch hier die zwei Gruppen bilden, die als am häufigsten beteiligt angegeben werden. Weiter ist ein "Rollentausch" zwischen dem Ranghöchsten im Be44 Wenn wir hier von Betriebsleitung sprechen, meinen wir die technische Betriebsleitung im Sinne eines Betriebsleiters, der für die Produktion verantwortlich ist; nicht jedoch die Unternehmensführung. Sprachregelung und Kompetenzverteilung sind in den Betrieben so unterschiedlich, daß wir uns hier für eine Vereinfachung entscheiden mußten. 45 Ein Vier-Felder-Chi-Quadrat-Test ergab für die Einzelzeilen unter df = 1 folgende Werte: Betriebsrat X2 = .733 Personalleitung X2 = 1.624 unmittelbarer Vorgesetzter x2 = .242 Betriebsleitung X2 = .039 sonstige Beteiligte x2 = .733 Ranghöchster im Betrieb x2 = 1.147 Die Zeile überbetriebliche Unternehmensleitung wurde wegen der zu geringen Besetzung nicht berechnet.
4. Organisation und Verfahren der Betriebsjustiz
86
Tabelle 9: Beteiligung innerbetrieblicher Instanzen an der Sanktionsentscheidung
Angaben der Betriebsleitung Ofo
Beteiligte 1. Personalchef/Personalleitung
2. 3. 4. 5. 6. 7.
......... . Betriebsrat ........................... . Betriebsleitung ....................... . Ranghöchster im Betrieb ............. . Sonstige ............................. . unmittelbarer Vorgesetzter ........... . überbetriebliche Unternehmensleitung
Mehrfachnennungen ; Basis der Prozentuierung: N
59
46
44
40 9 6 3
68
Angaben des Betriebsrats Ofo
58 83
59 21
6 3 66
trieb und dem unmittelbaren Vorgesetzten festzustellen: War der unmittelbare Vorgesetzte des Täters bei der Untersuchung noch in 63 % aller Betriebe beteiligt, so sinkt diese Rate bei der Entscheidungsbeteiligung auf 6 %. Umgekehrt ist die Tendenz beim Ranghöchsten: bei der Untersuchung wirkt er nur in 13 Ufo der Betriebe mit, an der Entschei,.. dung ist er bereits in 40 Ufo der Betriebe beteiligt. Die überbetriebliche Unternehmensleitung spielt auch hier keine Rolle. Der Unterschied zwischen den Angaben von Betriebsleitung und Betriebsrat bei der Frage der Entscheidungskompetenz des Betriebsrats ist hochsignifikant46 • Während der Betriebsrat sich in 83 Ufo der Betriebe für entscheidungsbeteiligt hält, wird ihm diese Rolle nur in 46 Ufo der Betriebe von den Betriebsleitungen zugebilligt. Offensichtlich behandelt die Betriebsleitung einige Fälle ohne den Betriebsrat. Das sind nach unseren Erfahrungen in erster Linie Verstöße von Angestellten. Das Faktum sei hier lediglich festgestellt, Interpretationen folgen bei der Diskussion über die Mitbestimmung des Betriebsrats (Kap. 4.3.3). Ebenfalls signifikante Unterschiede finden sich beim "Ranghöchsten im Betrieb". Der Betriebsrat unterschätzt offensichtlich dessen Rolle oder ist schlecht informiert. Keine signifikanten Zusammenhänge finden sich dagegen bei der Einschätzung der Entscheidungskompetenz der Personalleitung und der Betriebsleitung. Nicht nur die Beteiligung an einer Entscheidung ist wichtig, sondern auch (wenn nicht mehr) der Grad dieser Entscheidungsbeteiligung. Wir 46
x2
=
20.7 unter df =
1, p
< .001; die Werte für Personalleitung
I-j
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38 3
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o
6.1 Soziale Tätermerkmale
141
wahl in etwa entspricht. Vergleicht man anhand der Belastungsindizes die Registrierung von Tätern bei der Betriebsjustiz (bezogen auf Delikte) und der staatlichen Justiz, so läßt sich ein gemeinsamer Trend erkennen: Mit steigendem Alter sinken die Belastungsziffern. Allerdings sind die Belastungsindizes der beiden jüngeren Alterskategorien bei der staatlichen Justiz deutlich höher als bei der Betriebsjustiz. Das bedeutet, daß nach unserem Material die staatliche Justiz tatsächlich eher jüngere Täter registriert als die Betriebsjustiz. Dagegen zeigen die Belastungsziffern bei Ordnungsverstößen innerhalb der Betriebe einen anderen Verlauf: Die Belastung steigt zunächst bis zu der Altersgruppe 26 - 30 und sinkt von dort kontinuierlich ab. Das bedeutet, daß Arbeitnehmer bis 20 und über 40 Jahre unterrepräsentativ registriert werden, während in der Altersgruppe zwischen 20 und 40 Jahren Täter von Ordnungsverstößen häufiger registriert werden als ihrem Belegschaftsanteil entspräche. Unterteilt man die Delikte in Eigentumsdelikte und Personendelikte, so ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 5: Deliktsgruppen und Altersverteilung
Deliktsgruppen
Altersgruppen 21- 25 26 - 30 31- 40
41- 50
über 50
61
70
40
24
39
30
60
33
54
46
15
bis 18
18 - 20
Eigentumsdelikte Delikte geg. Personen
87
87
68
76
13
13
32
n
15
15
22
'1.2
= 12.432, df = 6, ns
Es besteht also kein signifikanter Unterschied in der Altersverteilung von registrierten Tätern zwischen den beiden Deliktsgruppen, aber man kann folgende Tendenz erkennen: Die Registrierung wegen Eigentumsdelikten nimmt tendenziell mit steigendem Alter ab, während bei Delikten gegen Personen eher eine umgekehrte Tendenz festzustellen ist. Dieses Ergebnis scheint anzudeuten, daß ältere Arbeitnehmer weniger Diebstähle, aber häufiger Beleidigungen und Körperverletzungen begehen. Es ist jedoch denkbar, daß hier die intervenierende Variable der Selektion durch Arbeitskollegen und Meister bzw. Vorgesetzte auf das Ergebnis einwirkt: man meldet ältere Arbeitnehmer bei Eigentumsdelikten nicht so häufig, möglicherweise im Wissen um die Folgen: z. B. kann Entlassung bei älteren Arbeitnehmern eine weitaus härtere Sanktion sein als bei jüngeren Arbeitnehmern. Ein Vergleich mit der Polizeilichen Kriminalstatistik ergibt für den Bereich staatlicher Strafverfolgung sehr ähnliche Relationen 30 •
142
6. Täter betrieblicher Verstöße
Überprüft man die Altersgruppe der über 50jährigen registrierten Täter3!, so ergeben sich folgende wichtige Abweichungen von der gesamten Täterpopulation: Es handelt sich fast ausschließlich um männliche, immer um deutsche Täter, die sowohl bei Delikten wie bei Ordnungsverstößen tendenziell sehr viel häufiger früher schon negativ aufgefallen waren. Bei Deliktstätern scheint überdies die Zahl der Vorbestraften höher zu liegen als bei den anderen Altersgruppen. Es ist also zu vermuten, daß bei älteren Arbeitnehmern eher eine Verhaltensbilanz gezogen wird. Kollegen und Vorgesetzte melden einen Verstoß dann eher, wenn der Täter bereits negativ in Erscheinung getreten ist, die Betriebsleitung registriert solche Täter dann auch eher. Dies gilt vor allem im Bereich der Ordnungsverstöße, wo der weit überwiegende Teil registrierter Täter bereits negativ aufgefallen war. Die Kreuztabellierung der Altersgruppen mit dem Faktor Schadenshöhe (erhoben nur für Delikte) ergibt folgendes: Tabelle 6: Altersstruktur und Schadenshöhe
Schadenshöhe32 kein materiellerSchaden unter DM 100,DM 100,- bis DM 999,über DM 1000,n
bis 18
Anteil der Altersgruppen in Ofo 18 - 20 21- 25 26 - 30 31- 40 41- 50
über 50
13
13
30
22
36
38
46
53
60
35
31
19
8
15
33
27
25
38
36
38
23
0
0
10
9
9
15
15
15
15
20
32
47
39
13
Chi -Test nicht anwendbar. 2
so So ergaben sich nach der Polizeilichen Kriminalstatistik von BadenWürttemberg 1971 folgende Daten:
Deliktsgruppen Eigentumsdelikte Personendelikte n
Altersgruppen 14-17 18-20 21-24 25-29 30--39 40--49
50u. älter
89 11
80 20
73
27
68 32
63 37
62 38
63 37
16749
16000
16722
16149
24224
11917
10449
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik des Landes Baden-Württemberg 1971,
S. T 10. Für diese Tabelle wurden die Tatverdächtigten unter 14 Jahren sowie einige Delikte, deren Zuordnung nicht eindeutig möglich war, nicht berücksichtigt. So beziehen sich die Zahlen auf etwa 93 Ofo des Gesamtmaterials. Weiter ist einschränkend zu bemerken, daß ab der Kategorie 21 - 25 die Alterskategorien der Polizeilichen Kriminalstatistik und unseres Materials jeweils um einen Jahrgang differieren. 81 Wegen der geringen Zellenbesetzung ist hier eine Prozentuierung nicht sinnvoll.
6.1 Soziale Tätermerkmale
143
In der Kategorie "kein materieller Schaden" steigt tendenziell der Täteranteil mit steigendem Alter. Das hängt mit der beschriebenen häufigeren Registrierung von älteren Arbeitnehmern bei Delikten gegen Personen zusammen, die sich hier in dieser Kategorie niederschlägt. In der niederen Schadenskategorie bis 100,- DM nimmt der Anteil mit steigendem Alter ab. Umgekehrt: In den höheren Schadenskategorien sind ältere Arbeitnehmer tendenziell häufiger vertreten. An diesem Beispiel soll kurz auf den Faktor Zugangs- bzw. Begehungschance 33 eingegangen werden. Verschiedene Gruppen haben im Betrieb wie in der Öffentlichkeit unterschiedliche Chancen, bestimmte Delikte und bestimmte Tatformen zu begehen. Dies trifft überwiegend für Delikte im Bereich der Eigentumskriminalität zu. So kann man davon ausgehen, daß z. B. ungelernte und angelernte Arbeiter im Betrieb weniger für Unterschlagungen und Betrügereien in Betracht kommen, während es für Angestellte schwieriger ist, Produkte bzw. Werkzeug zu stehlen. Derselbe Zusammenhang dürfte das Ergebnis hier beeinflussen: jüngere Arbeitnehmer haben möglicherweise eben nicht diese Zugangschance zu Delikten mit höheren Schadensbeträgen34• 6.1.3 Nationalität der registrierten Täter Ausländische Arbeitnehmer weisen den Angaben von Kaiser zufolge sowohl nach der Polizeilichen Kriminalstatistik als auch nach der Verurteiltenziffer der Strafrechtspflege eine niedrigere Deliktsrate auf als die deutsche Vergleichspopulation35 • Andererseits wurde in der Betriebsenquete eine überrepräsentative Registrierung der männlichen ausländischen Arbeitnehmer festgestellt 36 • Diese Tendenz deutet sich schon in der erwähnten größeren Meldeneigung von Arbeitnehmern gegenüber ihren ausländischen Kollegen an37 • Unsere dritte Ausgangsthese steht hier zur Diskussion, wenn man ausländische Arbeitnehmer als "sozial Auffällige und Desintegrierte" versteht. Hinweise auf die Emotionalität, die in der Diskussion über die Problematik der Delinquenz ausländischer Arbeitnehmer zu finden 32 Da in den einzelnen Altersgruppen sehr unterschiedliche Häufigkeiten von "K. A." auftraten, sind diese hier nicht mitaufgeführt. 33 Vgl. hierzu Metzger-Pregizer, G., a.a.O. (Fn. 14), S. 1166 ff. mit der Diskussion zwischen HUde Kaufmann und Johannes Feest. 84 Ausgenommen fahrlässige Brandstiftung bzw. generell fahrlässige Sachbeschädigung mit höherem Schaden. 3& Kaiser, G., a.a.O. 1973 (Fn. 3), S. 16I. 88 Vgl. Kap. 3.2. 37 V gl. Kap. 5, Tabelle 8.
144
6. Täter betrieblicher Verstöße
ist, gibt Villmow an38 • Ausländische Arbeitnehmer werden danach als Minderheit leicht diskriminiert, Vorurteile führen schnell zu Beschuldigung und Verdächtigung - am Arbeitsplatz wie in der Öffentlichkeit39• Um zu überprüfen, ob sich dies direkt auf die Einstellungen der Betriebsleitungen und Betriebsräte zur Delinquenz ausländischer Arbeitnehmer auswirkt, wurden sie gefragt, ob sie die These von der überhöhten Kriminalität ausländischer Arbeitnehmer in ihrem Betrieb für richtig hielten40 • Dies bejahten nur 10 Ufo (n = 7) der befragten Betriebsleitungen und 9 Ufo (n = 6) der Betriebsräte, meist mit Einschränkungen auf bestimmte Deliktsbereiche, z. B. Schlägereien bzw. bestimmte Situationen, z. B. "wenn ihre Familie nicht in Deutschland ist". Die weit überwiegende Mehrzahl der Befragten (Betriebsleitungen: 90 Ufo, n = 61; Betriebsräte: 91 Ufo, n = 60) hielten die These für ihren Betrieb für nicht zutreffend. Dieser Einstellung wird nun die betriebliche Realität gegenübergestellt, soweit sie sich aus der Hauptstudie ergibt. Damit wird untersucht, ob sich die oben angeführten Hinweise auf eine im Vergleich zur deutschen Vergleichsgruppe erhöhte Registrierung ausländischer Arbeitnehmer auf der Ebene der Betriebsspitze bestätigen oder nicht. Tabelle 7: Nationalität von registrierten Tätern der Betriebsjustiz (in "e) 1.
Nationalität Deutsche Ausländer K.A. N
2.
3.
Anteil reg. Täter BJ (Delikte)
Anteil reg. Täter BJ (Ordnungsverstöße)
Anteil Belegschaft
78 21 1
75 25
83 16
201
132
----------------102822
x2 = .68641 , df = 1, ns (berechnet zwischen den Spalten 1 und 2) x2 = 3.99842 , df = 1, s (berechnet zwischen den Spalten 1 und 3) p < .05 '1. 2 = 37.957 43 , df = 1, s (berechnet zwischen den Spalten 2 und 3) p < .001 38 Vgl. hier Villmow, B., Gastarbeiterkriminalität Vorurteile und Realität. Vorgänge 10 (1974), S. 124. Zur Problematik von ausländischen Arbeitnehmern in Betrieben generell vgl. Stirn, H., Ausländische Arbeitnehmer in der BRD. Opladen 1974, S. 28 sowie Woltereck, F., Gastarbeiter im Betrieb. München 1974. In: Ansay, T. / Gessner, V. (Hrsg.), Gastarbeiter in Gesellschaft und Recht. München 1974. 89 Ähnlich auch Sack: Sack, F., Minderheiten und Vorurteile. In: KKW. Freiburg 1974, S. 223 sowie Albrecht, G., Wandel und Mobilität. In: KKW. Freiburg 1974, S. 386 sowie ViHmow, B., a.a.O. (Fn. 38), S. 124. 40 s. Frage Nr. 27.1 Fragebogen Hauptstudie, S. 9.
145
6.1 Soziale Tätermerkmale
Ausländische Arbeitnehmer sind sowohl bei Delikten wie bei Ordnungsverstößen signifikant häufiger als Täter registriert als es ihrem Belegschaftsanteil entspräche. Für den Bereich der betrieblichen Sozialkontrolle scheint also die von Kaiser und Villmow 44 beschriebene geringere Delinquenzbelastung ausländischer Arbeitnehmer außerhalb der Betriebe nicht zuzutreffen45 • So modifiziert Kaiser seine Aussage auch in dieser Richtung. Daß diese überrepräsentative Registrierung hauptsächlich an den männlichen ausländischen Arbeitnehmern liegt, zeigt Tabelle 7 a: Tabelle 7a: Nationalität, Geschlecht und Belastungsindizes4s Tätergruppen
Anteil bei registrierten Tätern der Betriebsjustiz Delikte BI* OV BI· (in Ofo) (in Ofo)
Männliche deutsche Täter ................ Männliche ausländische Täter .................. Weibliche deutsche Täter Weibliche ausländische Täter ..................
....................
N
* BI =
Belegschaftsanteil (in Ofo)
71
1.2
65
1.1
60
18 9
1.6 0.4
21 10
1.9 0.5
22
3
0.4
4
0.6
7
195
132
11
102.275
Belastungsindex.
Am meisten überrepräsentiert sind also ausländische Arbeitnehmer bei Ordnungsverstößen, etwas weniger ausländische Arbeitnehmer bei Delikten. Zwischen deutschen und ausländischen weiblichen ArbeitnehHier wurde der normale Chi-Quadrattest verwendet. Hier wurde der Chi-Quadrattest zur Güte der Anpassung verwendet. 43 Hier wurde der Chi-Quadrattest zur Güte der Anpassung verwendet. " Villmow, B., a.a.O. (Fn. 38), S. 126. Kaiser verweist allerdings auf eben diese eingeschränkte Geltung seiner Aussage und konstatiert eine "geringfügige überrepräsentation der Gastarbeiter ... bei betriebskriminologischen Erhebungen". Kaiser, G., a.a.O. 1973 (Fn. 3), S. 161. 45 Allerdings ist in diesem Zusammenhang anzumerken, daß Kaiser und Villmow deswegen zu einer geringeren Delinquenzbelastung ausländischer Arbeitnehmer in der BRD kommen, weil sie zu Recht nach den Variablen Alter, Geschlecht und Aufenthaltsgrund bei Nicht-Deutschen differenzieren und also nur 18 - 50jährige männliche Arbeitnehmer in den Vergleich miteinbeziehen. Ein detaillierter Vergleich mit unserem Material scheitert an der geringen Anzahl ausländischer weiblicher Täter in Betrieben. 4S Die Belastungsindizes sind so zu interpretieren: Ein Belastungsindex mit dem Wert 1 bedeutet, daß der Anteil dieser Gruppe an den registrierten Tätern dem Belegschaftsanteil genau entspricht; ein Wert über 1 bedeutet eine überrepräsentative Registrierung, ein Wert unter 1 eine unterrepräsentative Registrierung. Cl
4!
10 Betriebsjustiz
6. Täter betrieblicher Verstöße
146
mern scheint dagegen kein großer Unterschied zu bestehen: Sie sind bei Delikten und Ordnungsverstößen stark unterrepräsentiert. Geht man von der These geringerer Delinquenzbelastung ausländischer Arbeitnehmer nach der Kriminalstatistik aus, so folgt daraus, daß die Betriebsjustiz im Gegensatz zur staatlichen Justiz ausländische Arbeitnehmer in ihrem Einflußbereich überrepräsentativ und damit selektiv registriert. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß Arbeitnehmer durch ihre erhöhte Meldeneigung gegenüber ausländischen Arbeitnehmern zu diesem Ergebnis beitragen47 • Insgesamt ist dies als Teilbeleg unserer dritten Ausgangsthese zu werten, wonach Betriebsjustiz vorrangig die ohnehin schon betrieblich und sozial auffälligen und desintegrierten Arbeitnehmer erfaßt. Dieser Zusammenhang ist allerdings deliktsspezifisch unterschiedlich: Die Differenzierung in Delikte und Ordnungsverstöße zeigt keinen signifikanten Unterschied zwischen Deutschen und Ausländern. Die Verteilung von Tätern über beide Deliktsgruppen gleicht sich. Unterscheidet man die Delikte nach den Bereichen Eigentumsdelikte und Delikte gegen Personen, so ergibt sich allerdings ein hochsignifikanter Unterschied: Tabelle 8: Nationalität der Täter und innerbetriebliche Deliktsstruktur
Nationalität Deutsche Ausländer
Delikte Eigentumsdelikte ................... . Delikte gegen Personen ............. .
n
XZ
= 13.134, df = 1, s,
P
75 25 157
45 55
42
< .001
Deutsche Täter werden häufiger wegen Eigentumsdelikten registriert, ausländische Täter öfter wegen Delikten gegen Personen. Hier stimmen unsere Ergebnisse mit den von Kaiser 48 und Villmow 41 genannten überein: Beide stellen eine mehr oder weniger stark erhöhte Belastung ausländischer Arbeitnehmer durch Delikte gegen Per47 Wir nehmen an, daß die später dargestellte, von Arbeitnehmern bevorzugte Reaktion der Selbstregulation bei Konflikten mit ausländischen Arbeitnehmern weniger gut funktioniert (möglicherweise hauptsächlich wegen Sprachproblemen). 48 Kaiser, G., Gastarbeiterkriminalität und ihre Erklärung als Kulturkonflikt. In: Ansay, T. / Gessner, V. (Hrsg.): Gastarbeiter in Gesellschaft und Recht. München 1974, S. 218. 49 Villmow, B., a.a.O. (Fn. 38), S. 126.
6.1 Soziale Tätermerkmale
147
sonen fest. Für diesen Bereich läßt Kaiser auch die Kulturkonflikthypothese eher als Begründung für abweichendes Verhalten gelten, die er für andere Deliktsbereiche als "wenig ergiebig" bezeichnet50 • Ob mit diesen Daten allerdings tatsächlich eine höhere Auffälligkeit ausländischer Arbeitnehmer z. B. bei Körperverletzung nachgewiesen ist, oder ob nicht vielmehr die betrieblichen Kontrollinstanzen sowie Arbeitskollegen bei Körperverletzungen, Schlägereien etc., an denen ausländische Arbeitnehmer beteiligt sind, "sensibler" reagieren, läßt sich hier nicht entscheiden. Allerdings lassen sich für beide Thesen Hinweise aufzeigen: Gessner 51 begründet abweichendes Sozialverhalten ausländischer Arbeitnehmer mit folgenden Problemfeldern: Unterschichtszugehörigkeit, Entfremdung in der Arbeitssituation, Wohnungsnot, Familientrennung, Sprachbzw. Verständigungsproblematik. Daraus folgert er: "Es ist keine Frage, daß die Situation der Gastarbeiter in der Bundesrepublik Verhaltensstörungen geradezu herausfordert 52." Nun sind zwar Aggressivität und daraus folgend Kriminalität in Form von Personendelikten nicht die einzig möglichen Reaktionen von Individuen auf Verhaltensstörungen, aber es ist plausibel, daß bei der oben beschriebenen Situation die Chance für ausländische Arbeitnehmer steigt, Täter von Personendelikten zu werden. Ein Hinweis für die Beantwortung der Frage, ob die höhere Delinquenzbelastung ausländischer Arbeitnehmer in diesem Bereich auch Folge eines selektiven Vorgehens der Kontrollinstanzen ist, findet sich in den weiter oben beschriebenen Einstellungen mancher Betriebsleitungen, die die These von der überhöhten Kriminalität ausländischer Arbeitnehmer meistens beschränken auf eben Delikte gegen Personen. Solche Einstellungen können sich in selektiven Verfolgungs- bzw. Registrierungsstrategien auswirken, unabhängig davon, ob es sich hierbei um Vorurteile oder um Erfahrungswissen handelt. Solche negativen Einstellungen beeinflussen möglicherweise auch die oben beschriebene erhöhte Meldebereitschaft der Arbeitskollegen gegenüber ausländischen Arbeitnehmern53•
Differenzieren wir noch nach der Höhe des angerichteten Schadens, die nur für Delikte erhoben wurde:
Kaiser, G., a.a.O. 1974 (Fn. 48), S. 230. Gessner, V., Das soziale Verhalten der Gastarbeiter. In: Ansay, T.t Gessner, V. (Hrsg.): Gastarbeiter in Gesellschaft und Recht. München 1974, S.l1. 52 Gessner, V., a.a.O. (Fn. 51), S. 34. Dazu muß allerdings bemerkt werden, daß Gessner im Gegensatz zu uns die geringere Delinquenzbelastung ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik interpretiert. 53 Vgl. hierzu Fn. 47. 60
51
10·
6. Täter betrieblicher Verstöße
148
Tabelle 9: Nationalität des Täters und Schadenshöhe (in ',.)
Schadenshöhe
Deutscher Täter
Ausländischer Täter
24 24
26
kein materieller Schaden ........... . bis 100,- DM ....................... . 100,- bis 1000,- DM ............... . über 1000,- DM ..................... .
32 19
K.A. N
................................... .
x2 = 11.661, df = 3, s,
p
45
21
5
2
2
157
42
< .01
Es ergibt sich der signifikante Unterschied, daß ausländische Arbeitnehmer wegen geringerer Schäden registriert werden als ihre deutschen Kollegen. Dies liegt an dem hohen Anteil ausländischer Arbeitnehmer an Personendelikten, bei denen, wie oben beschrieben54 , sehr häufig kein materieller Schaden von den Betrieben angegeben worden war; zum zweiten dürfte hier der Faktor Zugangschance wieder eine Rolle spielen: Ausländische Arbeitnehmer haben in Betrieben selten höhere Positionen55 und damit eine geringere Zugangschance zu höheren materiellen Werten. Weiter wurde oben nachgewiesen, daß sich in der Gruppe der über 50jährigen Täter kein ausländischer Arbeitnehmer befindet. Da ein Zusammenhang zwischen höherem Alter von Tätern und hoher Schadensbeträge gezeigt wurde, ist anzunehmen, daß das Alter hier als intervenierende Variable dieses Ergebnis mitbeeinflußt.
6.2 Betriebsbezogene Tätermerkmale Es handelt sich hier um Tätermerkmale, die den registrierten Täter in seiner Rolle als Betriebsangehöriger charakterisieren. Wir stehen hier vor dem Problem, daß uns die Merkmalsverteilung der Gesamtpopulation (Arbeitnehmer in Baden-Württemberg) nicht bekannt ist, wir also nur beschreiben können, wie die Verteilung der Täterpopulation in den untersuchten Betrieben ist.
6.2.1 Dauer der Betriebszugehörigkeit Interpretiert man die dritte Ausgangsthese, dann müßten Arbeitnehmer, die durch lange Betriebszugehörigkeit stärker im Betrieb integriert sind, weniger häufig erfaßt werden als "desintegrierte" bzw. noch nicht voll integrierte Arbeitnehmer, wobei der Grad der Integra54 55
Vgl. hierzu Kap. 6.1.3 sowie 6.3.3. Vgl. hierzu Gessner, V., a.a.O. (Fn. 51), S. 27 f.
149
6.2 Betriebsbezogene Tätermerkmale
tion sicher auch mit der Dauer der Betriebszugehörigkeit in Beziehung steht. Daher scheint uns die Dauer der Betriebszugehörigkeit ein wichtiges Merkmal zu sein: Tabelle 10: Registrierung als Täter und Dauer der Betriebszugehörigkeit (in ',.) Betriebszugehörigkeit
unter 1 Jahr .......................... 1-4 Jahre............................ 5 - 9 Jahre ............................ 10 - 19 Jahre .......................... 20 und mehr Jahre.................... K.A. N
Täter der Betriebsjustiz (Delikte)
Täter der Betriebsjustiz (Ordnungsverstöße)
18 37 22 16
21 39 20 12
6
8
1
................................... .
x2 = 2.05756,
201
132
df = 4, ns
Täter von Delikten unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Dauer der Betriebszugehörigkeit nicht von Tätern von Ordnungsverstößen. Die von der Betriebsjustiz erfaßten Täter weisen eher eine kürzere Betriebszugehörigkeit auf. Stellt man sich die in Tab. 10 angeführten Daten in fiktiven Ein-Jahres-Quoten vor, so ist dieser Trend eindeutig. Das bedeutet allerdings nicht, daß zwischen der Dauer der Betriebszugehörigkeit und der Registrierung ein Zusammenhang nachgewiesen wäre. Um diesen Zusammenhang herzustellen, müßten wir die Quoten der registrierten Täter mit der im Betrieb vorliegenden Struktur der Beschäftigungsdauer (Dauer der Betriebszugehörigkeit) vergleichen. Darüber war uns jedoch kein Material zugänglich. Wir verfügen aber über die genaue Zahl der Zugänge des letzten Jahres, so daß wir für die Kategorie "Betriebszugehörigkeit unter 1 Jahr" die entsprechende Vergleichszahl haben: Tabelle 10a: Dauer der Betriebszugehörigkeit und Belegschaftsanteil Betriebszugehörigkeit unter 1 Jahr ....... . über 1 Jahr ....... . N
................. .
Täter der Betriebsjustiz (Delikte)
Täter der Betriebsjustiz (Ordnungsverstöße)
Anteil an der Belegschaft51
18 82
21 79
82
201
132
100245
18
Chi2- Test: ns (zwischen Spalte 1 und 2,1 und 3 und 2 und 3) 56 Die Kategorie "K. A." wurde bei der Berechnung von Chi-Quadrat nicht berücksichtigt.
150
6. Täter betrieblicher Verstöße
Der Anteil der Arbeitnehmer mit einer Betriebszugehörigkeit bis zu einem Jahr bei den registrierten Tätern von Delikten entspricht genau deren Belegschaftsanteil. Bei Ordnungsverstößen ist der Täteranteil dieser Gruppe geringfügig höher als ihr Belegschaftsanteil (allerdings nicht signifikant). Das ist plausibel: Neu eingestellte Arbeitnehmer stehen zu Beginn ihrer Tätigkeit unter einer stärkeren sozialen Kontrolle durch ihre Kollegen, ihre Vorgesetzten und die Betriebsleitung. Außerdem spricht die teilweise Unkenntnis bzw. die Gewöhnung an betriebliche Normen eher für eine häufigere Registrierung. Für den Bereich der Delikte scheint sich dies jedoch nicht auszuwirken. Unterstellt man, daß z. B. ein Faktor wie erhöhte Anpassungsbereitschaft in der Probe- bzw. Anfangszeit abweichendes Verhalten im Betrieb im ersten Jahr der Betriebszugehörigkeit eher bremst, so ist folgender Prozeß denkbar: Die Delinquenzbelastung der Arbeitnehmer steigt nach Ablauf des 1. Jahres an, um dann kontinuierlich, dem oben beschriebenen Trend folgend, mit steigendem "Dienstalter" abzusinken. Aus der Arbeitnehmer-Befragung wissen wir, daß für die Arbeitnehmer ein höheres "Dienstalter" ein wichtiger Faktor für mildere Beurteilung bzw. geringere Meldeneigung eines Vorfalls ist 58 • Dieser Faktor wird allerdings in vielen Fällen von dem Faktor "höherer sozialer Status" überlagert. Obwohl wir wegen des Fehlens von Vergleichsmaterial keinen Zusammenhang nachweisen können, scheint uns daher folgende Hypothese sinnvoll: Je länger Arbeitnehmer in einem Betrieb beschäftigt sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie als Täter registriert werden.
67 Wir haben hierfür die genaue Zahl der Zugänge für ein Jahr erhoben. Da ein Betrieb nur die Fluktuationsquote angegeben hat, aus der die genaue Zahl der Zugänge nicht berechnet werden konnte, bezieht sich das Gesamt-N nur auf 67 Betriebe. 68 Da die Verteilung der Gesamtbelegschaft nicht bekannt ist, sind die Aussagen in diesem Bereich nur mit Vorbehalt zu interpretieren. Vgl. hier Kap. 8.2.2.3.
151
6.2 Betriebsbezogene Tätermerkmale Die Differenzierung nach Deliktsgruppen ergibt folgendes: Tabelle 11: Deliktsgruppen und Dauer der Betriebszugehörigkeit (in 'I,) Detiktsgruppen
unt.l J.
Eigentumsdelikte Delikte gegen Personen
69
73
31
27 75
36
N
x2
Dauer der Betriebszugehörigkeit 1-4 J. 5-9 J. 10-19 J. 20 J. u. mehr
= 2.402,
df
= 4,
66
55
36
34
45
44
32
11
64
ns
Hier läßt sich kein Unterschied zwischen Tätern von Eigentumsdelikten und Tätern von Delikten gegen Personen nach der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit nachweisen. Dagegen scheint die Schadenshöhe durch die Dauer der Betriebszugehörigkeit beeinflußt zu werden: Tabelle 12: Schadenshöbe und Dauer der Betriebszugehörigkeit (in '/.) Schadenshöhe
unt.l J.
2. 1-4J.
3. 5-9J.
28 36
23 24
32 20
31 22
45 9
25 8
39 13
25 20
22 25
36 9
3
1
2
36
75
44
32
11
kein materieller Schaden 2. bis 100,-DM 3. 100,- bis 1000,-DM 4. üb. 1000,- DM 1.
K.A. N Xi
= 4.81659,
df
Betriebszugehörigkeit
1.
= 2,
s, P
5. 4. 10-19J. 20 J.u. mehr
< .05
Dichotomisiert man die Dauer der Betriebszugehörigkeit in die zwei Gruppen "bis 4 Jahre" und ,,5 und mehr Jahre", dann ergibt sich ein signifikanter Unterschied: Täter mit einer längeren Dauer der Betriebszugehörigkeit werden wegen höherer Schäden registriert als Täter, die weniger als 5 Jahre im Betrieb sind. Zwei Faktoren sind bei der Interpretation zu berücksichtigen: ein höheres "Betriebsalter" erhöht Zugangschancen; Betriebsangehörige mit langer Betriebszugehö59 Chi-Quadrattest berechnet für die zusammengefaßte Tabelle: Betriebszugehörigkeit dichotomisiert in Kategorie 1 und 2 sowie Kategorie 3, 4 und 5. Die Schadenskategorie "kein materieller Schaden" wurde nicht berücksichtigt.
6. Täter betrieblicher Verstöße
152
rigkeit werden selektiv überwiegend bei schwereren Delikten registriert, Bagatelldiebstähle zum Beispiel liegen unter der Toleranzschwelle der Arbeitskollegen und der direkten Vorgesetzten.
6.2.2 Berufliche Position Ein weiterer sehr wichtiger Faktor ist die Stellung des Täters im hierarchischen System des Betriebs. Wir haben dafür als Indikator die berufliche Position gewählt 60 • Tabelle 13: Berufliche Position und Registrierung als Täter (in "0)
berufliche
Position
Lehrling ............ ungelernter Arbeiter angelernter Arbeiter Facharbeiter ........ Angestellter ........ leit. Angestellter ....
1. Anteil reg. Täter BJ (Delikte)
2. Anteil reg. Täter BJ (Ordnungsverstöße)
3. Anteil an der Belegschaft
3 23 25 25 17
2 23 42 23
5 20 24 20 28 2
6
8
3
132 102822 .................. 201 X2 = 13.732, df = 5, P < .025, s (berechnet für die Beziehung zw. Spalte 1 u.2) X2 = 32.513, df = 5, P < .001, s (x2-Test für die Güte der Anpassung, berechnet für die Beziehung zw. Spalte 1 u. 3) Xl = 41.798, df = 5, p < .001, s (X 2-Test für die Güte der Anpassung, berechnet N
für die Beziehung zw. Spalte 2 u. 3)
Zunächst ist eine signifikant unterschiedliche Verteilung der Täter von Delikten und von Ordnungsverstößen zwischen den folgenden Positionen festzustellen: angelernte Arbeiter werden häufiger wegen Ordnungsverstößen als wegen Delikten registriert, Angestellte mehr wegen Delikten als wegen Ordnungsverstößen. Unserer Interpretation nach liegt das nicht daran, daß diese Gruppen in beiden Bereichen abweichenden Verhaltens unterschiedliche Delinquenzbelastung aufweisen. Es ist vielmehr anzunehmen, daß Angestellte im Bereich der Ordnungsverstöße weniger starken Kontrollen unterliegen und möglicherweise auch unterschiedliche informelle Normsysteme bzw. Toleranzwerte diese Verteilung bestimmen: Angestellte haben in vielen Betrieben andere, d. h. günstigere Vorschriften der Krankmeldung (betrifft den Ordnungsverstoß "Krankfeiern"), Rauchverbote werden in Büros Vgl. hier auch Kap. 8.3.2. Eine weitere Zuordnungsmöglichkeit nach funktionaler Position in die vier Klassen "untergeordnet", "beigeordnet", "übergeordnet" und "leitend" wurde nicht weiter ausgewertet, da die Zuordnung zu den einzelnen Klassen zu wenig objektivierbar war. 80
153
6.2 Betriebsbezogene Tätennerkmale
weniger stark kontrolliert als im Produktionsbereich, Arbeitszeitbestimmungen sind für Angestellte in Einzelfällen leichter informell zu ändern bzw. schließen bei gleitender Arbeitszeit diesen Ordnungsverstoß weitgehend aus usw. Mit anderen Worten: Unterschiedliche Verhaltensforderungen und unterschiedliche Möglichkeiten der Umgehung solcher Verhaltensforderungen scheinen die unterschiedliche Registrierungshäufigkeit auch zu bestimmen. Ein Vergleich zwischen der Verteilung der Positionen über die beiden Verstoßbereiche (Delikte und Ordnungsverstöße) mit der Verteilung der Positionen innerhalb der Belegschaft zeigt hochsignifikante Abweichungen: Bei der Registrierung von Delikten sind die ungelernten Arbeiter sowie die Facharbeiter und die leitenden Angestellten überrepräsentiert, während Angestellte seltener registriert werden als es ihrem Belegschaftsanteil entspräche. Bei Ordnungsverstößen werden Arbeiter generell häufiger registriert, gemessen an ihrem Belegschaftsanteil, während bei Angestellten die umgekehrte Tendenz festzustellen ist. Das stimmt mit der obengenannten Interpretation überein. Die relativ häufige Registrierung leitender Angestellter als Täter innerbetrieblicher Delikte hängt mit dem bereits genannten Fehlereinfluß der selektiven Erinnerung spektakulärer Fälle zusammen. Eine weitere Erklärung bieten die kontroll- bzw. deliktsspezifischen Unterschiede der Art der Aufklärung, die zeigen, daß leitende Angestellte sehr häufig durch Routineüberprüfung als Täter auffallen. Häufigere Registrierung in hohen Schadensbereichen (s. unten) weist auf spezielle Deliktsbereiche, z. B. Unterschlagung, hin, die bei regelmäßigen Routinekontrollen, z. B. Buchprüfung, eine höhere Aufklärungswahrscheinlichkeit als z. B. Bagatelldiebstähle aufweisen. So zeigt eine Überprüfung der in unserem Material vorhandenen Eigentumsdelikte, die von leitenden Angestellten begangen wurden, daß es sich ausschließlich um Betrug und Unterschlagung handelt, nicht jedoch um Diebstahl. Zwischen Position und innerbetrieblicher Deliktsstruktur ist kein signifikanter Unterschied nachzuweisen: Tabelle 14: Berufliclte Position und Deliktsbereiclte61 (in
DeZiktsbereiche
"0)
ungelernt
Position angelernt
Facharb.
Angest.
leit. Ang.
62
69
63
79
75
Eigentumsdelikte Delikte gegen Personen
38
31
37
21
25
n
47
51
51
34
12
'1..2
= 3.791,
df
= 4, ns
154
6. Täter betrieblicher Verstöße
Während sich die Verteilung über die beiden Deliktsbereiche Eigentumsdelikte und Delikte gegen Personen nach der Position des Täters nicht signifikant unterscheidet, zeigt die Differenzierung nach der Schadenshöhe durchaus Unterschiede: Tabelle 15: Berufliche Position und Schadenshöhe6! (in Schadenskategorie
Position ungelernt
kein materieller Schaden bis 100,-DM 100,- bis 1000,-DM üb. 1000,- DM
angelernt
Facharb.
Angest.
leit. Ang.
34 38
22 20
31 27
24 12
25
28
45 14
27 10
26 38
8 58
47
51
51
34
12
K.A. n X2
I/e)
4
= 50.387, df = 12, s,
P
8
< .001
Die Tabelle macht deutlich, daß mit steigender Position des Täters83 die Schadenshöhe zunimmt. Das stützt unsere These der unterschiedlichen Zugangschance. Darüber hinaus können wir annehmen, daß hier ein Prozeß der Selektion durch Definition eingreift, der im einleitenden Kapitel beschrieben wurde und der an einem Beispiel aus unserem Material demonstriert werden soll: Der Forschungsleiter (leitender Angestellter) eines Betriebes bestellt auf Kosten des Betriebes spezielle Fachliteratur für private Forschungszwecke im Wert von ca. 800,- DM. Das Verhalten, durch Zufall bei einer Revision entdeckt, wird von der Betriebsleitung zwar als "nicht der feine Stil" empfunden, führt aber lediglich zur höflichen Aufforderung, das in Zukunft zu unterlassen. Ein Facharbeiter desselben Betriebes kauft durch einen Trick Werkzeug auf Rechnung des Betriebes, das er überwiegend am Arbeitsplatz verwendet. Bei derselben Revision entdeckt, wird er wegen Betrugs und Urkundenfälschung entlassen. Mit diesem Definitionsprozeß werden also zwei vom Tatbestand her ähnliche Verhaltensweisen in zwei unterschiedliche Verhaltensweisen Si Auf die Kategorie "Lehrling" wird wegen der geringen Zellenbesetzung im weiteren verzichtet; dieses Spezialproblem wäre allerdings eine eigene Untersuchung wert. 62 s. Fn. 61. 63 Wir unterstellen hier, daß unsere Anordnung "ungelernt", "angelernt", "Facharbeiter", "Angestellte", "leitende Angestellte" ein Ansteigen der Position bedeutet.
6.2 Betriebsbezogene Tätermerkmale
155
uminterpretiert, die gegensätzliche Reaktionen des Betriebes zur Folge haben: einerseits eine schwache informelle Sanktion durch Ausdruck der Mißbilligung, andererseits die harte Sanktion der Entlassung.
6.2.3 Ersetzbarkeit und Beliebtheit Faßt man wichtige Informationen und Erfahrungen aus den inoffiziellen Gesprächen und vielen wörtlichen Zitaten von Interviewten zusammen, so stellt sich die Ersetzbarkeit eines Arbeitnehmers als ein wichtiger Faktor dar. Allerdings ist dieser Faktor schwer meßbar 64 • Da wir die Informationen für "Nichttäter" nicht erheben konnten, können wir nur eine generelle Trendaussage vorsichtig formulieren: registrierte Täter der Betriebsjustiz (bei Delikten) wurden eher als leicht ersetzbar eingeschätzt65 • Die Ersetzbarkeit eines Arbeitnehmers hängt nicht nur von der Position und Funktion ab, sondern auch von seiner Arbeitsleistung, seiner Qualifikation, dem betrieblichen Bedarf sowie von außerbetrieblichen Faktoren wie der jeweiligen Arbeitsmarkt- und Konjunktursituation. So zeigt eine Überprüfung aller in unserem Material vorkommenden Fälle von "sehr leicht ersetzbaren" Tätern eine breite Streuung über sämtliche betriebliche Positionen. Außerdem lassen sich aus der Einzelauswertung der Gruppe der "sehr leicht ersetzbaren" Täter folgende Trends formulieren, die allerdings der weiteren Überprüfung bedürfen: Jugendliche unter 18 Jahren, 18 - 20jährige Arbeitnehmer, Ausländer und Frauen werden häufiger als "sehr leicht ersetzbar" eingeschätzt als es ihrem jeweiligen Anteil an der Täterpopulation entspricht. Ähnliche methodische Einschränkungen wie für die Ersetzbarkeit eines Arbeitnehmers gelten für die Beliebtheit eines Arbeitnehmers. Hier wäre als Trend festzuhalten, daß registrierte Täter sowohl bei Delikten wie bei Ordnungsverstößen eher als unbeliebt bezeichnet werden66• 8C Einmal handelt es sich hier um eine nicht objektivierbare Einschätzung von seiten der Informanten (Betriebsleitung und Betriebsrat). Zweitens muß eine unterschiedliche Einschätzungsfähigkeit verschiedener Informantengruppen unterstellt werden (auf seiten der Betriebsleitung z. B. Unterschiede zwischen spezialisierten Personalfachleuten und Werkschutzleitern). Vgl. Frage Nr. 53 Fragebogen Hauptstudie, S. f. es So werden 54 % aller registrierten Täter bei Delikten als eher leicht ersetzbar bezeichnet. Dies scheint unsere oben dargestellten Befunde zu bestätigen, nach denen Ausländer und un- und angelernte Arbeiter überrepräsentativ registriert werden, da diese Arbeitnehmer-Gruppen nach der Arbeitsmarktsituation 1971 tatsächlich als leichter ersetzbar eingeschätzt werden können. Vgl. hierzu auch Kap. 7.2.3. 88 Vgl. Frage Nr. 54 Fragebogen Hauptstudie, S. f. Die subjektive Einschätzung unserer Informanten gilt hier der Einstellung von Arbeitskollegen zum registrierten Täter, die sie (die Informanten) nur vermuten bzw. unterstellen können.
6. Täter betrieblicher Verstöße
156
6.2.4 Gew er kschaftsmitg liedschaft Die Hypothese, daß die Mitgliedschaft eines Arbeitnehmers in einer Gewerkschaft ihm auf der Ebene der Registrierung Vorteile verschafft gegenüber seinem nicht-organisierten Kollegen, d. h. daß seine Chance, registriert zu werden, sich verringert, läßt sich differenziert belegen: Tabelle 16: Gewerkschaftsmitgliedschaft und Registrierung als Täter (in Oll) 1.
Gewerkschaftsmitgliedschaft
2.
3.
reg. Täter der BJ (Delikte)
reg. Täter der BJ (Ordnungsverstöße)
Gesamtbelegschaft
ja .................. nein ................
27 43
43 30
48 52
.............. ..................
30
27
201
132
K.A. N
XZ = 9.506, df
= 1,
= 4.468,
= 1,
X2
df
< .01, P < .05, P
X! = 4.977, df = 1, P
< .05,
S67 S68
s
102882
(berechnet für die Beziehung zwischen Spalte 1 u.2)
(Chi-Quadrat-Test für die Güte der Anpassung berechnet für die Beziehung zwischen den Spalten 1 u. 3) (Chi-Quadrat-Test für die Güte der Anpassung berechnet für die Beziehung zwischen den Spalten 2 u. 3)
Unter den registrierten Tätern von Delikten finden sich weniger Gewerkschaftsmitglieder als unter den Tätern von Ordnungsverstößen. Da die Zahl von Tätern, über die unsere Informanten keine Angaben zur Gewerkschaftsmitgliedschaft machten, relativ hoch ist (30 Ofo bei Delikten bzw. 27 Ofo bei OV), ist die folgende Aussage nur mit Vorsicht zu interpretieren: -
Es könnte sein, daß Gewerkschaftsmitglieder bei Delikten deswegen weniger häufig registriert erscheinen, weil die Betriebe hier eine größere Beschwerdemacht als bei nichtorganisierten Arbeitnehmern vermuten. Hinzu kommt wahrscheinlich der gleiche Effekt auf der Ebene der Arbeitnehmer: Gewerkschaftsmitglieder werden von Kollegen möglicherweise seltener weitergemeldet. Als intervenierende Variable könnte aber auch die berufliche Qualifikation der Gewerkschaftsmitglieder zu sehen sein. Erfahrungsgemäß sind z. B. Frauen und ausländische Arbeitnehmer weniger organisiert, qualifizierte Fachkräfte dagegen häufiger. Das könnte bedeuten, daß der obige
67 Für die Berechnung von Chi-Quadrat wurde auf die Kategorie "K. A." verzichtet. ~8 Hier gilt das gleiche wie in Fn. 67.
6.2 Betriebsbezogene Tätermerkmale
157
Befund durch die seltenere Registrierung der Gruppe der höher organisierten qualifizierten Fachkräfte verursacht wird. Dies läßt sich durch die weiter oben dargestellten Ergebnisse zur Position der Täter nicht stützen, da die qualifizierteren Arbeiter (Facharbeiter) im Vergleich zu ihrem Belegschaftsanteil überrepräsentativ registriert wurden. Vergleicht man diese Daten mit der Quote von 48 Ofo Gewerkschaftsmitgliedschaft in unseren untersuchten 68 Betrieben69 , dann zeigt der Chi-Quadrat-Test zur Güte der Anpassung eine signifikante Abweichung der Verteilung der Gewerkschaftsmitglieder in den beiden Verstoßbereichen (Delikte und Ordnungsverstöße) gegenüber der Belegschaft: Gewerkschaftsmitglieder sind unter den registrierten Tätern seltener vertreten, als es ihrem Belegschaftsanteil entspräche. Das läßt sich teilweise erklären durch den Einfluß des Alters: Oben wurde nachgewiesen, daß die Belastung mit steigendem Alter tendenziell abnimmt. Unterstellt man, daß jüngere Arbeitnehmer noch nicht so häufig organisiert sind wie ältere Arbeitnehmer, dann kann man vermuten, daß Gewerkschaftsmitglieder seltener registriert werden, weil es sich eher um ältere Arbeitnehmer handelt. So zeigt eine Differenzierung aller Altersgruppen von registrierten Tätern nach der jeweiligen Gewerkschaftsmitgliedschaft, daß im Bereich der Delikte die Quote derjenigen Täter einer Altersgruppe, die Gewerkschaftsmitglieder sind, in den höheren Altersgruppen größer ist im Vergleich zu dem Anteil der Nicht-Gewerkschaftsmitglieder in der jeweiligen Altersgruppe. Für den Bereich der Ordnungsverstöße gilt dies tendenziell ebenso. Das bedeutet, daß registrierte Täter höherer Altersgruppen eher Gewerkschaftsmitglieder sind, als Täter jüngerer Altersgruppen. Da, wie beschrieben, die Zahl derjenigen Täter relativ hoch ist, über die keine Informationen bezüglich ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit vorhanden sind, außerdem über die Verteilung aller Gewerkschaftsmitglieder über die verschiedenen Alters- und Positionskategorien innerhalb der Belegschaft keine Informationen vorliegen, müssen wir auf eine genauere Analyse hier verzichten. Es wäre interessant, die Gruppe von Tätern, die neben ihrer Arbeitsfunktion noch zusätzlich Ämter oder Ehrenämter im Betrieb (z. B. Betriebsrat, Betriebssportgemeinschaft etc.) innehaben, zu vergleichen mit denjenigen, bei denen das nicht der Fall ist. Da jedoch in unserer Stichprobe nur 5 Ofo (n = 17) solcher Täter vertreten sind, haben wir diese Variable nicht weiter untersuchPo. 88 Arithmetischer Mittelwert, berechnet nach den als präziser eingeschätzten Angaben der Betriebsräte.
158
6. Täter betrieblicher Verstöße
6.3 Situationsspezifische Tätermerkmale Wir haben bisher soziale und betriebsbezogene Tätermerkmale behandelt. Die situationsspezifischen Tätermerkmale dagegen beschreiben auf einer noch spezielleren Ebene71 Merkmale, die vor allem dann, wenn der betreffende Arbeitnehmer abweichendes Verhalten zeigt, für die Betriebsleitung an Bedeutung gewinnen. Zunächst soll der Bereich der Vorbelastungen erörtert werden.
6.3.1 Vorbelastung der registrierten Täter Vorstrafen der staatlichen Justiz waren den Betrieben bei Delikten in 6 % (n = 13) der registrierten Täter bekannt, bei Ordnungsverstößen in 3 % (n = 4) der Fälle. Zieht man hier die Schätzungen von Kaiser 72 sowie die Ergebnisse einer neueren Untersuchung 73 zum Vergleich hinzu, wonach ein Drittel der gesamten männlichen Bevölkerung am Ende des 24. Lebensjahres mindestens einmal verurteilt worden war, so läßt sich eines feststellen: eine Verurteilung durch die staatliche Strafjustiz scheint für die Betriebsjustiz kein Auslesekriterium zu sein. Man muß zwar berücksichtigen, daß Betriebe bei ca. 30 % aller Täter angeben, sie wüßten nicht, ob der von ihnen registrierte Täter außerbetrieblich vorbestraft sei oder nicht. Gleichzeitig muß man davon ausgehen, daß Betriebe, wenn dies für sie ein wichtiges Kriterium wäre, sich diese Informationen auch beschaffen würden 74 • Sehr viel wichtiger dagegen scheint die negative Auffälligkeit des
Täters im Betrieb vor der Tat zu sein:
70 Vgl. Frage 56 Fragebogen Hauptstudie, S. f. Wenn hier Vergleichszahlen vorliegen würden, wäre die Prüfung folgender Hypothesen interessant: a) Arbeitnehmer, die solche zusätzlichen Funktionen freiwillig übernehmen, verhalten sich normkonformer als ihre Kollegen. b) Die Betreffenden profitieren von einem "Vertrauens"- bzw. einem "Verhaltensbonus"; die Kontrolle ist weniger intensiv und abweichendes Verhalten wird noch akzeptiert, das bei anderen Arbeitnehmern Sanktionen bewirken würde. c) Durch diese Funktionen ist andererseits die Zugangs chance zu bestimmten Deliktsformen größer. 71 Die drei Ebenen wären folgendermaßen zu beschreiben: soziale Tätermerkmale: Individuum betriebsbezogene Tätermerkmale: Arbeitnehmer situationsspezifische Tätermerkmale: Täter 72 Vgl. Kaiser, G., a.a.O. 1973 (Fn. 3), S. 133. 73 So Kürzinger, J., Kriminelle Belastung der Probanden und Teilnahme an der Dunkelfelduntersuchung. Freiburg 1975 (Unveröffentlichtes Manuskript), S. 5. Danach sind 32 % aller 21 - 27jährigen Erwachsenen als Tatverdächtige bei der Staatsanwaltschaft registriert. 7' z. B. durch Verschärfung der Einstellungsvoraussetzungen durch die Forderung der Unterschrift unter den Einstellungspersonalfragebogen oder durch den Versuch, sich ein polizeiliches Führungszeugnis des Bewerbers vorlegen zu lassen.
6.3 Situationsspezifische Tätermerkmale
159
Tabelle 17: Negative Auffälligkeit im Betrieb vor der Tat (in ".)15
negative Auffälligkeit vor der Registrierung ja ....................... . nein ..................... . K.A. n
reg. Täter der Betriebsjustiz (Delikte) 1. Eigen- 2. Personen- 3. instumsdelikte delikte gesamt
4. reg. Täter der Betriebsjustiz (Ordnungsverstöße)
31 63
42
55
60
35
60 38
6
3
5
2
137
64
201
132
x! = 19.249, df = 1, P < .001, s (berechnet für Beziehung zw. Spalte 3 + 4) .;.! = 1.882, df = 1, ns (berechnet für Beziehung zw. Spalte 1 + 2) Ein Drittel der innerbetrieblichen Deliktstäter war vor der Registrierung der Tat bereits negativ aufgefallen, während es bei Tätern von Ordnungsverstößen knapp 2/3 waren. Innerhalb des Deliktsbereiches war zwischen Eigentumsdelikten und Delikten gegen Personen kein signifikanter Unterschied nachzuweisen. Danach scheint es, als ob das von Kaise1· 76 als ein Bestandteil einer "Schlüsselnorm" angenommene negative Arbeitsverhalten ("Arbeitsscheu") sich hauptsächlich auf den Bereich der innerbetrieblichen Ordnungsverstöße bezieht. Um das zu überprüfen, ist die Differenzierung von "negativer Auffälligkeit" erforderlich: Tabelle 18: Art der Auffälligkeit vor der Tat (in ',.)
Auffälligkeit wegen: Wiederholungsfall ....... . pers. Eigenschaften ....... . schlechte Arbeitsleistung .. Sonstiges ............... .
reg. Täter der Betriebsjustiz (Delikte) 1. Eigen- 2. Personen- 3. instumsdelikte delikte gesamt 26
44 21 9
48 44
34
7
44 16 6
27
70
K.A.
73 14 8 4
2
43
n
4. reg. Täter der Betriebsjustiz (Ordnungsverstöße)
80
x! = 24.875, df = 3, s (Spalte 3 u. 4) p < .001 X2 ch 6.496, df = 2, S77 (Spalte 1 und 2), p < .05 Vgl. Frage 60 des Hauptstudiefragebogens, S. g. Vgl. Kaiser, G., a.a.O. 1972 (Fn. 24), S. 102. 77 Wegen der zu kleinen Zellenbesetzung wurden die Kategorien "schlechte Arbeitsleistung" sowie "sonstige Auffälligkeit" hier zusammengefaßt. 75
75
160
6. Täter betrieblicher Verstöße
Dabei zeigt sich, daß diese Annahme nur bedingt zutrifft: wegen Ordnungsverstößen registrierte Täter sind lediglich in 8 % der Fälle wegen schlechter Arbeitsleistung aufgefallen. In 73 % aller Fälle, in denen sie überhaupt negativ aufgefallen sind, war es wegen des gleichen Verstoßes. Für den Bereich der Delikte gilt folgendes: 34 0J0 der bereits negativ registrierten Täter sind als "Wiederholungstäter" (also als Rückfalltäter) aufgefallen. Das entspricht, bezogen auf die Zahl aller 201 Deliktstäter, einer Vorbelastungsquote von 12 %. Vergleicht man dies mit den Vorbestraftenquoten der staatlichen Justiz78, dann zeigt sich der deutliche Trend der geringeren Vorbelastung der Täter der Betriebsjustiz. Im übrigen kann diese Aussage jedoch nur als Trend verstanden werden, da ein Fehlereinfluß diesen Vergleich verzerrt: Die von der Betriebsjustiz bei der ersten Tat entlassenen Täter konnten hier nicht berücksichtigt werden. Innerhalb der Delikte ist ein signifikanter Unterschied zwischen Eigentumsdelikten und Delikten gegen Personen festzustellen: Eigentumstäter sind seltener Rückfalltäter als Täter von Delikten gegen Personen, während sie sehr viel häufiger wegen schlechter Arbeitsleistung als negativ auffällig beschrieben werden. Dies bestätigt Kaisers Vermutung eines "beim Zusammentreffen von Diebstahl und negativem Arbeitsverhalten ("arbeitsscheu") starken Stigmatisierungs- und Ausstoßungsprozesses gegen den Abweicher", jedenfalls auf der Ebene der betrieblichen Registrierung 79 • In diesem Zusammenhang ist weiter anzuführen, daß etwa die Hälfte (47 %)80 der registrierten Täter wegen mehrerer Vorfälle (Serientäter) registriert wurde. Daß von den registrierten Tätern etwa ein Drittel (bei Delikten) und zwei Drittel (bei Ordnungsverstößen) als "vorher negativ auffällig" beschrieben wurde, muß nicht auf deren größere Delinquenzbelastung im Vergleich zu nichtregistrierten Belegschaftsmitgliedern zurückzuführen sein. Eine Interpretation, die neuerer kriminologischer Theorie nahesteht, wäre: negativ aufgefallene Arbeitnehmer werden 78 So ergibt sich für alle wegen Verbrechen und Vergehen (ohne Vergehen im Straßenverkehr) Verurteilten eine Vorbelastungsquote von 48 %. Quelle: Statistik von Baden-Württemberg. Das Rechtswesen 1971. Stuttgart 1971, S.44f. Bezieht man die Straßenverkehrsdelikte mit ein, so ergibt sich eine Vorbelastungsquote von 40 0/ 0• Quelle: Statistik von Baden-Württemberg. Das Rechtswesen 1971. Stuttgart 1971, S. 50 f. Vgl. hierzu im übrigen Kerner H. J., Rückfalltäter. In: KKW. Freiburg 1974, S. 275. 79 Kaiser, G., a.a.O. 1972 (Fn. 24), S. 104. 80 Vgl. Frage Nr. 33 Fragebogen Hauptstudie, S. a.
6.3 Situationsspezifische Tätermerkmale
161
sowohl von Betriebsleitung und Betriebsrat wie von ihren Arbeitskollegen stärker kontrolliert, ihr Verhalten wird eher als "abweichend" definiert. Dadurch ergibt sich zwangsläufig eine erhöhte Chance der Registrierung. Diese Hypothese wird durch unsere Gespräche im Zusammenhang mit der Hauptstudie nahegelegt, in denen sich oft gezeigt hat, daß sowohl Personalchef wie Betriebsratsvorsitzender aus ihrem Alltagswissen und der Perzeption ihrer Erfahrung bzw. der Bewertung von Kriminalität durchaus bestimmte Gruppen eher der Delinquenz verdächtigen als andere, seien diese nun als "linke Lehrlinge", als die "bekanntermaßen kriminellen Ausländer" oder ganz einfach als die "Leute aus der Siedlung"81 bezeichnet, besser: gezeichnet; auch wenn diese Perzeption mit der von ihnen selbst geschilderten betrieblichen Realität nicht übereinstimmt.
6.3.2 Geständnis, Reue, Wiedergutmachung Der zweite Bereich situationsspezifischer Tätermerkmale betrifft die Reaktion des Täters auf die Tatverdächtigung bzw. die Registrierung. Dabei ist zunächst die Frage nach dem Geständnis von Bedeutung: Tabelle 19: Geständnis registrierter Täter8! Geständnis ja ........... . nein ......... . K.A........ . n
........... .
1.
2.
reg. Täter der BJ (Delikte)
reg. Täter der BJ (Ordnungsverstöße)
80 8
12
75 12 13
201
132
x2 = 1.697, df = 1, ns Zwischen den Tätern von Delikten und Tätern von Ordnungsverstößen läßt sich in der Frage des Geständnisses kein signifikanter Unterschied nachweisen. Die im Vergleich zur "Geständnisfreudigkeit" bei der staatlichen Justiz83 relativ hohe, in Tabelle 19 nachgewiesene Rate läßt sich so erklären: Einmal handelt es sich bei vielen Verstößen um ausgesprochene 81 Wörtliche Zitate aus den Interviewer-Erfahrungsberichten. Es handelt sich hierbei allerdings um allgemeine Vorurteile gegenüber bestimmten Minderheiten, latente negative Auffälligkeit sozusagen im Gegensatz zu manifester negativer Auffälligkeit, die in der Tabelle 17 beschrieben ist. 82 Frage Nr. 39, Fragebogen Hauptstudie S. c. 83 VgI. hierzu die Ergebnisse des Staatsanwaltschaftsprojektes der Forschungsgruppe Kriminologie am Max-Planck-Institut in Freiburg i. Br. Steffen, W., Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit aus der Sicht des späteren Strafverfahrens. Wiesbaden 1976.
11 Betriebsjustiz
6. Täter betrieblicher Verstöße
162
Bagatellen. Zweitens werden den Entscheidungsorganen in Betrieben fast ausschließlich relativ sichere Verdächtige gemeldet, die entweder in flagranti "erwischt" wurden oder bei denen der Tatnachweis eindeutig ist. Das bedeutet, daß die Definition als Täter weitgehend abhängig ist vom Vorliegen eines Geständnisses. Drittens haben wir in informellen Gesprächen ein innerbetriebliches "plea bargaining" festgestellt, das allerdings in den Interviews nicht erfragt werden konnte. Dies bedeutet, daß zwischen Betriebsleitung, Betriebsrat und dem Beschuldigten ein Handel stattfinden kann über Schuldeingeständnis und Sanktionsschwere. Genauere Informationen hierüber wird man nur durch verdeckte teilnehmende Beobachtung gewinnen können.
Emsthafte Reue nahmen unsere Informanten bei 44 % (n = 147) der registrierten Täter an, während sie dies bei 42 % (n = 140) ausdrücklich verneinten. Keine Angaben wurden in 14 % (n = 46) der Fälle gemacht 84 • Sozusagen "tätige Reue" durch teilweise oder vollständige Wiedergutmachung des entstandenen Schadens übten immerhin 70 0/0 85 der registrierten Täter: Tabelle 20: Wiedergutmachung von materiellen Schäden
Wiedergutmachung
Ofo
Ja ..................... ..................... teilweise .................................... nein ........................................
52 18 26
K.A. N
..........................................
4
141
Von innerbetrieblichen Tätern angerichtete Schäden werden überwiegend wiedergutgemacht. Ob aus freiwilligen Stücken oder unter Druck, muß allerdings offen bleiben. In der Kategorie "teilweise" Wiedergutmachung handelt es sich oft um symbolische Beteiligung des Täters am Schadensersatz. Ein Beispiel: Ein der fahrlässigen Brandstiftung mit einem Sachschaden von ca. DM
150000,- überführter Angestellter zahlte zwei Jahre lang monatlich DM 50,-
als "Schadensersatz". Hier nicht miteinbezogen sind Schadensersatzansprüche, die vom Opfer, z. B. bei Körperverletzung, zivilrechtlich geltend gemacht wurden. Vgl. Frage Nr. 40, Fragebogen Hauptstudie, S. c. Vgl. Frage Nr. 34.1 Fragebogen Hauptstudie, S. a. Bezieht sich nur auf Delikte, bei denen ein materieller Schaden angegeben wurde. 84
85
6.3 Situationsspezifische Tätermerkmale
163
Finanzielle Schwierigkeiten ihrer Arbeitnehmer können Betrieben z. B. durch Lohnpfändungen oder durch häufige Auszahlung von Lohnvorschüssen bekannt werden. Relevant wird dies für den Betrieb erst, wenn ein Arbeitnehmer, bei dem dies zutrifft, als Täter in Frage kommt. Tabelle 20a: Finanzielle Schwierigkeiten (in 'I,) Finanzielle Schwierigkeiten bekannt
ja ........................ weiß nicht ................ nein ....................... n
.........................
Eigentums- Personendelikte delikte
Delikte Ordnungsinsgesamt verstöße
2