Bernd A. Laska – Hermann Schmitz. Der Briefwechsel (1993–2016). Aus dem Vorlass von Bernd A. Laska [1. ed.] 9783826085062, 9783826085079


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Korrespondenz 4
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Bernd A. Laska – Hermann Schmitz. Der Briefwechsel (1993–2016). Aus dem Vorlass von Bernd A. Laska [1. ed.]
 9783826085062, 9783826085079

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Bernd A. Laska Hermann Schmitz Der Briefwechsel (1993–2016)

Herausgegeben von Christian Fernandes

Königshausen & Neumann

Christian Fernandes (Hrsg.) Bernd A. Laska Hermann Schmitz Der Briefwechsel (1993–2016)

Bernd A. Laska Hermann Schmitz Der Briefwechsel (1993–2016) Aus dem Vorlass von Bernd A. Laska Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Christian Fernandes

Königshausen & Neumann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2024 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics / coverart Umschlagabbildungen: links: Quelle: Elke Dietsch rechts: Dr. Alexander Risse: Hermann Schmitz, 15. November 2016 Wikicommons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hermann_Schmitz_Foto.jpg (Letzter Zugriff: 26.01.2024) Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany ISBN 978-3-8260-8506-2 eISBN 978-3-8260-8507-9 www.koenigshausen-neumann.de www.ebook.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

Vorwort Darin, fundamentale „Verfehlungen“ in der Vergangenheit als Orientierungshilfe in der Gegenwart aufzuspüren, stimmen wir überein – doch unsere Funde scheinen sich sehr zu unterscheiden, oder? (Laska am 9. Oktober 2000) Wir scheinen uns in den pessimistischen Zügen unseres Urteils über den Stand und die Entwicklungstendenz der gegenwärtigen westlicheuropäischen Zivilisation ziemlich nahe zu stehen, die von beiden anerkannte Bedeutung Stirners in diesem Prozeß aber gegensätzlich einzuschätzen. (Schmitz am 9. Oktober 2015)

Philosophie ist der Versuch, sich in einer als problematisch wahrgenommenen Gegenwart zu orientieren. So haben es – trotz großer Unterschiedlichkeit ihrer „Ur- und Bildungserlebnisse“ – die beiden Denker gesehen, deren Briefwechsel von Februar 1993 bis März 2016 in diesem Band erscheint. Der Orientierung im Hier und Jetzt dient auch ihre Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte: Hermann Schmitz (1928–2021), Begründer der „Neuen Phänomenologie“ und bekannt für seine Philosophie des Leibes und der Gefühle, spricht von folgenreichen „Verfehlungen des abendländischen Geistes“, beginnend bei Demokrit und Platon über das von Augustinus geprägte westkirchliche Christentum und die Aufklärung bis hin zur von Fichte angeregten Frühromantik eines Friedrich Schlegel und Novalis. Letztere habe das „ironistische Zeitalter“ schrankenloser Beliebigkeit eingeläutet, in dessen Zeichen auch das heute ubiquitäre „Zappen“ an den elektronischen Geräten stehe. Bernd A. Laska (1943–), der zur „Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte“ von La Mettrie, Stirner und Reich geforscht hat (siehe www.lsr-projekt.de), diagnostiziert eine ideengeschichtliche „Verdrängung“ seiner drei Helden durch den „demagogischen Erfolg“ ihrer jeweiligen Konkurrenten Diderot und Rousseau, Marx und Nietzsche, Freud und die Kritische Theorie. Beide stimmen weitgehend überein, wenn sie die aktuelle Problematik beschreiben, die durch jene „Verfehlungen“ bzw. „Verdrängungen“ entstanden sei: Der Liberalismus der westlichen Welt in seiner heutigen Gestalt spätkapitalistischer „Spaßkultur“ taumele mangels „unbedingtem Ernst der Lebensführung“ seinem einprogrammierten Ende entgegen.

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Diese als „Menschheitsmisere“ aufgefasste Entwicklung sei einem „Nihilismus“ geschuldet, der prinzipiell vermeidbar gewesen wäre. Wie er vermeidbar gewesen wäre und – zumindest theoretisch – für die Zukunft vermeidbar wird, ist allerdings der zentrale Streitpunkt des Briefwechsels. In Reaktion auf Schmitz’ umstrittenes Buch Adolf Hitler in der Geschichte von 1999, vornehmlich das achte Kapitel „Perspektiven nach Hitler“, schreibt Laska am 26. Juni 2000: „Ein Zurück scheint mir weder möglich noch wünschenswert.“ Schmitz verwahrt sich gegen diese Unterstellung eines bloßen Konservatismus, indem er sein Ideal einer „Kultur der Labilität“ umreißt. Erst jetzt nimmt die Diskussion Fahrt auf. In den meisten der insgesamt 339 Briefe geht es um die richtige Interpretation Max Stirners (1806-1856). Für den Kieler Professor verkörpert der Linkshegelianer mit seinem Buch Der Einzige und sein Eigentum (1844) die Gefahr des Nihilismus in Reinform. „Ehrlich“ und mit „blutigem Ernst“ zeige er, was droht: die totale „Verkindischung“. Der Nürnberger Privatgelehrte hingegen sieht in ihm eine „Schlüsselfigur“, die den Weg in eine „transnihilistische“ Zukunft und „Erwachsenheit“ der Menschheit weisen könnte, vor der aber Marx, Nietzsche und viele andere hochkarätige Denker zurückgeschreckt seien. Zur Erläuterung dieser „Vision“ weist Laska immer wieder auf einen scheinbar paradoxen Sachverhalt hin, den er bereits Mitte der 1970er Jahre (unter dem Pseudonym Barbara Lehmann in den von ihm selbst herausgegebenen Wilhelm-Reich-Blättern, Heft 1/76N, S. 32N) als „Jahrtausendentdeckung“ gepriesen hat: Hier liegt der Hund begraben. Dieses Gewissen, das seit eh und je das Verhalten der Menschen regulierte, hält Stirner wegen seiner „Nebenwirkungen“ für verderblich. Seine Erzeugung – so sinngemäß auch La Mettrie und Reich – erzeuge erst jene Regungen, die niederhalten zu können es vorgibt. Mit ihm fiele jedoch nicht generell der „unbedingte Ernst moralischer Normen“ – im Gegenteil. (Laska am 13. Dezember 2000)

Ähnlich äußert sich Laska am 6. April, 16. und 31. Mai, 4. und 16. Dezember 2001, 28. Dezember 2004, 8. Juli 2006 und 26. Oktober 2015. Am 16. Februar 2007 zitiert er seine Quelle, Reichs Diktum (aus Die Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen, Kopenhagen 1936, S. 17), „dass die moralische Regulierung des Trieblebens gerade das schafft, was sie bändigen zu können vorgibt: das asoziale Triebleben.“ Er projiziert also diese Einsicht des Psychoanalytikers Reich auf Stirner (und La Mettrie) zurück. Ihren gegensätzlichen Stirner-Deutungen entsprechend werfen sich die Gesprächspartner Verdrängung bzw. Nihilismus vor – mal mehr, meist weniger explizit, weil stets um Höflichkeit bemüht. Auffällig ist, wie oft sie beklagen, vom anderen missverstanden worden zu sein, „wieder einmal“

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aneinander vorbeigeredet zu haben und in der Diskussion nicht weiterzukommen. Als Metapher für diese fast schon absurde Situation führt Schmitz das Bild von der „Mühle“ ein, „die wir schon oft gedreht haben“ (Schmitz am 1. Februar 2007). Dass die Korrespondenz – „trotz guter Absichten und nicht ganz geringer Fähigkeit zum Formulieren“ (Schmitz am 22. April 2002) – scheinbar zur kommunikativen Sisyphusarbeit gerät, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Hinter den wechselseitigen Missverständnissen und Unterstellungen verbirgt sich jedoch ein fundamentaler anthropologischer „Dissens“, der von Anfang an mitschwingt und schließlich auch thematisiert wird. Laska argwöhnt einmal, „dass wir im Wesentlichen einigermaßen richtig verstehen, was der jeweils Andere meint. Nur manchmal hapert es, wie mir scheint, auf beiden Seiten mit dem Akzeptieren.“ (Laska am 30. April 2002) Wenn beide wiederholt neu ansetzen müssen, um (vermeintliche?) Verständigungsschwierigkeiten zu überwinden und den eigenen Standpunkt klarzustellen, führt das natürlich auch zur vertieften Darstellung zentraler Begriffe und Thesen. Dies gilt für Laskas „rationales Über-Ich“ ebenso wie für Schmitz’ Konzeptionen des „Heiligen“, des „starken Daimons“ und der „implantierenden Situation“. Kabinettstücke solcher Eristik sind die Diskussionen über Nietzsche und seine eventuelle „initiale Krise“ infolge Stirner (ab September 2001), Epikur und die Auslegung der Maxime „lathe biosas“ (ab 23. August 2003), Reichs „Charakterpanzer“ und Schmitz’ Begriff der „Fassung“ (ab 12. Mai 2005) sowie Laskas Vorschlag, den „Organismus des Neugeborenen als objektive Vorgabe des Menschseins“ zu betrachten, und, daran anknüpfend, die Frage der Erziehung (ab 20. September 2006), über die schon zuvor (ab 31. Oktober 2004) ausgiebig gestritten wurde. Die hohe Qualität ihres Gedankenaustauschs war beiden Philosophen bewusst. Im August 2015 hielten sie fest, dass er es verdient, eines Tages veröffentlicht zu werden. Ein Briefwechsel, selbst wenn es um „die tiefsten, grundsätzlichsten und dennoch anderswo kaum berührten Probleme der ‚Philosophie‘“ (Laska am 6. April 2001) geht, ist immer auch ein Dokument der Zeit. So werden tagesaktuelle Themen wie die Anschläge auf das World Trade Center, der zweite Irakkrieg und George W. Bush, der Kannibale von Rotenburg, der Dutroux-Prozess, die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre, der Vegan-Trend, die Flüchtlingskrise und Angela Merkel gestreift oder ausführlicher kommentiert. Privates kommt in dieser hauptsächlich wissenschaftlichen Korrespondenz nur ganz am Rande, meist als Entschuldigungsgrund für verspätetes Antworten, vor. Persönlich kennengelernt haben sich die Briefpartner nie. Zwei Einladungen von Schmitz zur Jahrestagung der „Gesellschaft für Neue Phäno-

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menologie“ 2002 und 2010, im letzteren Fall sogar zur Podiumsdiskussion, schlug Laska aus. Die vollständige Korrespondenz (mit Ausnahme des ersten Briefes vom 5. Februar 1993, den Jonas Puchta von der „Hermann-Schmitz-Forschungsstelle“ in Rostock dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat) lag mir in sechs schwarzen Schnellheftern aus dem Vorlass Laskas mit der Beschriftung „Hermann Schmitz (Korrespondenz 1–6)“ vor. Der Vorlass befindet sich im „LSR-Archiv“ zu Hamburg bei Peter Nasselstein. Schmitz hat seine Briefe handschriftlich verfasst, Laska benutzte, mit wenigen Ausnahmen aus der Anfangszeit, einen Computer und ging so vor: Abfassung am Computer, Ausdruck, Korrektur per Hand, Übernahme der Korrekturen in die Datei, erneuter Ausdruck, Versand. Ab 20. April 2003 liegen die korrigierten Briefe auch als Computerdatei vor. In der Transkription wurden die Rechtschreibgewohnheiten der beiden Autoren weitgehend bewahrt, lediglich Laskas Vermeidung des Eszett in den maschinenschriftlich verfassten Briefen gemäß den Regeln der neuen Rechtschreibung angepasst und seine variantenreiche Zeichensetzung für Gedankenstriche, Gänsefüßchen und Klammern vereinheitlicht. Hervorhebungen wurden kursiviert, im Falle einer doppelten Hervorhebung zusätzlich unterstrichen. Auf die Wiedergabe der diversen Beilagen (Aufsätze, Kopien aus Büchern, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Arbeitspapiere, Flugblätter, längere Zitate auf separaten Blättern etc.), die sich die Briefpartner im Laufe der Jahre geschickt haben, wurde aus Platzgründen verzichtet. Ein Verzeichnis der im Briefwechsel verwendeten Literatur – mit Ausnahme der Belletristik – sowie ein Personen- und Sachregister runden die Edition ab. Christian Fernandes, September 2023

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Inhalt

Korrespondenz 1: Februar 1993–Dezember 2000

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Korrespondenz 2: Januar–Dezember 2001

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Korrespondenz 3: Januar–Dezember 2002

165

Korrespondenz 4: Januar–Dezember 2003

225

Korrespondenz 5: Januar 2004–Dezember 2005

301

Korrespondenz 6: Januar 2006–März 2016

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Literaturverzeichnis

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Personenregister

507

Sachregister

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[Bernd A. Laska und] Hermann Schmitz (Korrespondenz 1) [Februar 1993–Dezember 2000]

5. Februar 1993 Sehr geehrter Herr Schmitz, im letzten Herbst bemerkte ich, daß Sie im WS ein Stirner-Seminar abhalten. Jetzt lese ich Ihren Aufsatz in „Integrative Therapie“, der mich veranlaßt, mir Ihre Theorie der Leiblichkeit demnächst näher zu bringen. Da ich in meiner persönlichen Entwicklung einst über Wilhelm Reich zur Philosophie, zu Stirner, gekommen bin, würde mich natürlich sehr interessieren, was in Ihrem Stirner-Seminar erarbeitet wurde. Gibt es da schriftliche Unterlagen, die Sie mir in Kopie zukommen lassen könnten? Ich würde mich freuen. 9. Februar 1993 Sehr geehrter Herr Laska, über mein Stirner-Seminar kann ich Ihnen im Augenblick nicht direkt Unterlagen schicken. Ihr Interesse an Stirner ist mir bekannt; Ihre Ausgabe seiner kleinen Schriften steht in meiner privaten Bibliothek. Mein Interesse an Stirner beruht auf einer Fragestellung, die für den deutschen Idealismus sehr detailliert ausgeführt wird in meinem Buch „Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel“. Dieses Buch ist gerade im Verlag Bouvier in Bonn erschienen, und Sie werden sicherlich Gelegenheit haben, es sich zu beschaffen; im Anschluß daran können Sie sich vielleicht schon einigermaßen zusammenreimen, wie sich die Fortsetzung zu Stirner für mich darstellt. Übrigens bereite ich jetzt ein Buch vor, in dem ich Stirner, Nietzsche und Wittgenstein im Hinblick auf die Bedeutung, die die Selbstdarstellung des Philosophen im Zeichen der entfremdeten Subjektivität erhält, behandeln will. Vermutlich werde ich aber erst gegen Ende des Jahres zur Abfassung einer Druckvorlage kommen, so daß Sie sich noch etwas gedulden müssen, um schriftlich etwas von mir über Stirner zu finden. Bis dahin ist aber ein Gedankenaustausch unter uns in diesem Zusammenhang durchaus möglich, wenn ich auch keine sehr große Lust habe, meine Absichten zu explizieren, ehe ich über das Ganze mit mir im reinen bin. 12. Februar 1993 Sehr geehrter Herr Schmitz, besten Dank für den Hinweis auf Ihr neuestes Buch. Ich habe es mir gestern allerdings nur ganz kurz ansehen können. Gefallen hat mir dabei

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zunächst, was Sie in der Einleitung über den „Stachel“ schreiben, den das Problem, mit dem Sie sich befassen, auch heute noch darstelle. Nur habe ich manchmal, eigentlich sehr oft, den Eindruck, dass dieser „Stachel“ gut eingewachsen ist und nicht mehr wirklich sticht. Sie scheinen dies, wenn ich Ihre leicht sarkastische Bemerkung über die hohe Kunst des Ignorierens in der Eile nicht missdeutet habe, nicht grundsätzlich anders zu sehen. Jedenfalls werde ich mir Ihr Buch demnächst besorgen und genauer ansehen. Ansonsten bin ich gespannt auf das angekündigte Werk, in dem Sie ja explizit auf Stirner eingehen wollen. Ihr Brief war mir Anlass, erneut darüber nachzudenken, ob es richtig war, dass ich seinerzeit darauf verzichtet habe, Stirners „Parerga …“ einen Begleittext zu geben. Von der Sache her hätte sich angeboten, die Reaktionen der Zeitgenossen auf den „Einzigen“, insbesondere die des später so wirkungsmächtigen Marx (und die Reaktion der Marx-Forscher aller Richtungen auf diese Marxsche Reaktion) zu beleuchten. Ich entschied mich gegen einen solchen Begleittext, der ein „brisanter“ geworden wäre (Sie kennen vielleicht die einschlägigen Untersuchungen von Wolfgang Eßbach – der allerdings m.E. auf halbem Wege aufgab und umkehrte), weil ich meine, dass es aufgrund der geistigen Prädisposition des Publikums ratsam ist, den „Fall Marx“ nicht isoliert, sondern zusammen mit den anderen „Fällen“ (von Feuerbach, Ruge, K. Fischer, Daumer, Lange, E. v. Hartmann über insbesondere Nietzsche zu C. Schmitt, Husserl, Klages, Löwith, Habermas, Kolakowski) zu präsentieren. Ein „harmloses“ Vor- oder Nachwort wollte ich aber, da es in meinen Augen ein „falsches“ wäre, auch nicht schreiben; also beließ ich es bei bibliographischen Angaben. Das erscheint mir, bei Abwägung der Vor- und Nachteile, auch heute noch als beste Lösung. Die genannten Denker und eine Reihe weiterer empfanden Stirner zweifellos eine Zeit lang, meist in jungen Jahren, als „Stachel“; wobei jetzt dahingestellt bleibe, wie „Stachel“ im konkreten Fall aufzufassen ist, mit welchen Mitteln sie den Stachel für sich und ihre dankbaren Leser stumpf machten etc. – natürlich auch, was der Stachel, den Sie beim deutschen Idealismus allgemein ausmachen, mit dem zu tun hat, als den manche speziell Stirner empfinden … Sie haben gewiss recht, wenn Sie sagen, dass ein brieflicher Gedankenaustausch über dieses Thema sehr schwierig wäre. Mir jedenfalls geht es immer so, dass ich befürchte, jede teilweise Diskussion „Stirners“ führe zwangsläufig zu Missverständnissen und einem Abgleiten in eben die ausgefahrenen Wege, die ich eigentlich zu verlassen beabsichtige (jene bequemen Wege, die vornehmlich Marx und Nietzsche durch „Bewältigung“ Stirners sich und ihrer Nachwelt geebnet haben). Deshalb arbeite ich seit einiger Zeit – und wohl auch noch für einige Zeit – an einer Gesamtdarstellung des Komplexes Stirner, den ich, wohl unprofessionell, aber aus heu-

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ristischen Gründen geboten, mit seinem „Vorläufer“ La Mettrie (nicht der homme machine) und seinem „Nachfahren“ Reich (nicht der marxistische Psychoanalytiker oder Orgonforscher) verschmelzen will: daher der Name „LSR-Verlag“! Einen Prospekt über meine Edition La Mettries lege ich bei. Ich hoffe, dass ich mich mit diesen notwendigerweise andeutungsweisen Bemerkungen bei Ihnen nicht um Kopf und Kragen, sprich: um jeden intellektuellen Kredit geredet habe; dass Sie also nicht von vornherein abgeneigt sind, etwas Zeit für meinen beigelegten Aufsatz über Stirner als „anarchistischen“ „Pädagogen“, den ich trotz der erwähnten Vorbehalte drucken ließ, zu verwenden. 15. März 1995 Sehr geehrter Herr Schmitz, haben Sie herzlichen Dank für Ihr neues Buch, das vor einer Woche hier eintraf, wohl auf Ihre Veranlassung hin von Bouvier gesandt. Sie geben darin Stirner zwar wenig Raum, aber immerhin doch, wie mir scheint, viel Gewicht, erstaunlich viel sogar. Ich möchte und kann jetzt, da ich Ihr bisheriges Werk noch zu wenig kenne, inhaltlich nicht Stellung nehmen, nehme mir aber vor, dies in nicht allzu ferner Zukunft zu tun – vielleicht auch öffentlich, im Rahmen der „Stirner-Studien“, deren erstes, kürzlich aus Anlass eines Jubiläums (150 Jahre „Einziger“) erschienenes Heft ich beilege. Dieses Heft enthält zwar nur eine kurze Editionsgeschichte des „Einzigen“, aber schon die hat es – erst recht freilich „synergistisch“ im Kontext der gesamten Stirner-Rezeption betrachtet – in sich … Ich hoffe natürlich, das konzis gefasste Heftchen verführt Sie zur Lektüre – und lege gleich ein zweites bei (zu Carl Schmitts und Ernst Jüngers Reaktion auf Stirner). Dies zeigt einigermaßen exemplarisch, mit welcher Methode ich vorerst versuche, öffentlich das Problem „Stirner“ (hinter dem inhaltlich, wie Sie wissen, ein kaum zu überschätzendes steckt) häppchenweise zu präsentieren. Ich habe vor, weitere derartige Fallstudien (zu Marx, Nietzsche u.a.) auszuarbeiten – auch wenn ich mir über die zu erwartende Resonanz natürlich keine Illusionen erlaube. 27. März 1995 Sehr geehrter Herr Laska, für Ihren Brief vom 15. März und die beiden sehr informativen und für mich nützlichen Aufsätze über Stirner, die ich gleich nach der Rückkehr von einer 14 tägigen Reise gelesen habe, danke ich Ihnen verbindlich. Daß Stirner von Philosophen generell umgangen werde, brauchen Sie nach Lektüre meines Buches hoffentlich nicht zu wiederholen. Daß Husserl ihn sekretieren will, war mir eine hübsche Ergänzung zu meinem inzwischen geschriebenen, wenn auch noch nicht gedruckten Buch „Husserl und Heidegger“, da ich dort – u.a. in Fortsetzung von „Selbstdarstellung als Phi-

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losophie“ – im Zusammenhang mit Husserl auf Stirner zurückkomme. Besonders interessiert hat mich an Ihrer Carl Schmitt-Studie das Zitat auf S. 32 aus Schmitts Einleitung zu: Johann Arnold Kanne, Aus meinem Leben, Berlin 1919, S. 4. Wenn Sie die Seite gerade greifbar haben, können Sie mir vielleicht eine Fotokopie schicken; sonst kann ich mir früher oder später das Buch auch mal besorgen. Einen weiteren Gedankenaustausch über Stirner zwischen uns würde ich begrüßen. Der Verlag hat seine „Sünden“ an „Selbstdarstellung als Philosophie“ – auf S. 122 fehlt eine Zeile! – auf einem Korrekturzettel, den ich beilege, eingestanden. 29. März 1995 Sehr geehrter Herr Schmitz, Schmitts Einleitung zu Kanne kann ich Ihnen leider nicht kopieren, da ich sie nur als Microfiche habe; aber das Buch ist kürzlich neu aufgelegt worden (bei Karolinger, Wien) und wird daher bald leichter zugänglich sein. Was einen brieflichen Gedankenaustausch über Stirner angeht, so zögere ich ein wenig, wie ich schon früher sagte, weil ich Ihr Werk noch zu wenig kenne. Andererseits sagen Sie S. XIf. der „Selbstdarstellung“ ja, dass das Buch auch für sich genommen verständlich sei. Ihre Stirner-Deutung und -Kritik (S. 69f.) jedenfalls, wenn ich sie einmal isoliert betrachten darf, kommt mir in ihrem Grundzug nicht unbekannt vor. Abbagnano etwa (L’apologia del Nulla) oder Kolakowski (Vom Sinn der Tradition), die mir gerade einfallen, und eine Reihe anderer Denker argumentieren, wenn ich richtig erinnere, so ähnlich; viele andere indes, die durch die Brille des „Einzigen“ den „nihilistischen Abgrund“ erblickten, argumentierten erst gar nicht – aufgrund eigener Betroffenheit oder aus vermeintlichen Klugheitsgründen – und schufen stattdessen gewaltige (und dankbar akzeptierte, diskutierte, variierte) Gegen-Philosophien. Die Konsequenz dessen, was Sie mit „sittlicher Leerlauf“ andeutend umschreiben, der „Absturz [!] in schrankenlose Beliebigkeit“ (S. 428), scheint gerade diejenigen bis ins Mark zu schrecken, die sich die tiefsten Gedanken machen. Ich sehe indes in Stirner nicht nur den konsequenten Nihilisten, sondern darüberhinaus einen sozusagen transnihilistischen Denker, jemanden, der die von Ihnen eingangs erwähnte Epochenschwelle überstieg, während die großen Denker nach ihm, trotz grandioser Gestik, letztlich wieder zurückfielen. Ich merke jedoch, daß es kaum sinnvoll erscheint, sich in einem Brief zu diesem Thema global zu äußern – weshalb ich Sie, Herr Schmitz, bitten möchte, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. In dem Aufsatz „Max Stirner als ‚pädagogischer‘ ‚Anarchist‘“, den ich Ihnen früher einmal zusandte, habe ich auf den S. 37–41 versucht, in nuce das darzustellen, was

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mir als Kern der „Philosophie“ Stirners erscheint. Vielleicht, nein, mit Sicherheit ist dieser Text eine bessere Stellungnahme zu Ihrer Stirner-Deutung als ein ad hoc geschriebener Brief. Ich habe übrigens vor, diesen Kern in Heft #3 der „Stirner-Studien“ unter dem angekündigten Titel „Eine vakante Vision“ ausführlicher und genauer darzustellen. Jeder Kommentar, jede Anmerkung dazu ist mir deshalb – wie übrigens auch zu meinen anderen Veröffentlichungen – stets willkommen. (Anlage: Prospekt des LSRVerlags) 26. Juni 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, unser letzter Briefwechsel – betr. Stirner – liegt jetzt mehr als fünf Jahre zurück, soll aber hier nicht als Anknüpfungspunkt dienen. Ich möchte Ihnen eigentlich nur mitteilen, dass ich Ihr Hitler-Buch gelesen habe und es als sehr verständnisvoll und analytisch scharf – auch, im heutigen geistigen Klima, als mutig – empfand. Wenngleich ich Ihre Beurteilung der heutigen Situation in vielen Punkten mitvollziehen kann, kann ich dies für Ihr Fazit nicht. Ein Zurück scheint mir weder möglich noch wünschenswert. „Wir“, d.h. die Menschen, die nach mir/uns kommen, werden die gegenwärtige „Verfehlung“ überwinden müssen – oder nicht (was immer daraus folgt). Diese unterschiedliche „Perspektive nach Hitler“ scheint mir direkt aus unserer unterschiedlichen Deutung der Figur Stirner hervorzugehen (der bei Ihnen manchmal als Schlüsselfigur erscheint und manchmal als Glied in einer Kette). Um hier nicht allzu weitschweifig zu werden, lege ich Ihnen einen Artikel bei, den ich – mit strenger Begrenzung der Wortzahl – kürzlich für die ZEIT geschrieben habe. Aus ihm geht, so hoffe ich, die Bedeutung hervor, die ich Stirner in der Geistesgeschichte zumesse (obwohl ich mich wirklich auf ein Minimum an Text beschränken musste). Falls Sie Zeit und Interesse für die Lektüre fänden, würde mich das sehr freuen, mehr noch freilich ein Kommentar. PS: Wegen der schlechten Lesbarkeit der Kopie des Artikels lege ich einen Ausdruck desselben, wie er im Internet steht, bei. http://www.lsrprojekt.de/msinnuce.html 28. Juni 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Mit Befriedigung empfange ich Ihre Zuschrift vom 26.6. mit beigelegtem Artikel über Stirner. Sie zeigen sich als nachdenklicher und verständnisvoller Mitdenker, während Ihre aggressive Reaktion auf mein Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ – bloß deshalb, weil das Quantum der Seiten über Stirner darin Ihnen zu gering schien – mich etwas gewundert hatte. Daß es nicht mehr Seiten wurden, die ich für Stirner nötig hatte,

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hängt mit dessen klarer Konsequenz zusammen, für die ich ihn hoch schätze. Er gilt mir als der reichste und mutigste Vertreter des Standpunktes jener eigentümlichen Mischung von Entdeckung und Verkennung, die ich im Hitlerbuch als die ironistische Verfehlung des abendländischen Geistes bezeichnet habe. Es handelt sich darum, dass die Subjektivität der subjektiven Tatsachen – die strikte Subjektivität im Sinne meines Buches „Husserl und Heidegger“ – zwar entdeckt ist (durch intellektuelle Anschauung bei Fichte), aber nicht, daß es sich um echte, integre Tatsachen handelt, so daß die Welt als „alles, was der Fall ist“ in distanzierte Objektivität abrückt und darin kein Platz für Subjektivität (mein Der-sein-der-ichbin) bleibt. Fazit: „Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.“ Wittgenstein ist ein kokett gewordener Stirner (Koketterie mit dem Unsagbaren). Urform dieser Koketterie ist die romantische Ironie, Ausnützung der vermeintlichen Entbindung aus der Welt zur schrankenlosen Wendigkeit der nach Fichte zwischen Unvereinbaren schwebenden Einbildungskraft. Die Radikalisierung dieser Schwebehaltung zu humorlos unerbittlichem Ernst ist die Leistung Stirners, wie ich sie sehe. Dessen Naivität finde ich darin, daß bei ihm die Kehrseite der romantischen Ironie ganz fehlt, die Ichangst oder Angst, ich zu sein, ohne Rücksicht darauf, welche Gefahren dem Menschen, der ich bin, drohen mögen – die Hinfälligkeit als andere Seite der Freiheit des Schwebens. Nach dieser Richtung hat Kierkegaard Stirner ergänzt. Die absolut spontane Autonomie meines Lebens aus dem Nichts, auf das ich mein’ Sach’ gestellt habe, halte ich für aussichtslos, weil ich als selbstherrliches Subjekt gar nicht mehr da, nämlich nicht mehr ich, wäre (selbst wenn es dann noch einen Mach’schen Elementkomplex namens „Hermann Schmitz“ gäbe). Die Selbstzuschreibung, mich für etwas oder etwas für mich zu halten, ist ein ewiger Spagat, weil das, wofür ich mich halte, in eine gewiße Objektivität oder Neutralität entfremdet sein muß, damit ich mich dafür halten kann, während die Gewißheit, daß ich es bin, dem ich das zuschreibe, aus dem affektiven Betroffensein stammt, dem Sitz der Subjektivität, zu dem stets eine Abhängigkeit gehört, ein Ausgeliefertsein an etwas, das meiner Autonomie spottet. Die Einholung der in der abendländischen Intellektualkultur versäumten Subjektivität in das menschliche Welt- und Selbstverständnis erhoffe ich mir demgemäß nicht vom Einzigen, der auf sein Eigentum pocht, sondern von einer Kultur der Labilität der Person im Spielraum zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart. In diesem Zusammenhang darf ich Sie vielleicht auf mein Buch „Der Spielraum der Gegenwart“ aufmerksam machen, das ein halbes Jahr nach dem Hitlerbuch, gleichfalls bei Bouvier, erschienen ist. Auch in meinem Buch „Die Liebe“ (Bonn 1993) habe ich ein Ideal skizziert, das ich dem Stirner’schen vorziehe (Seite 9–14). Zu einer solchen Kultur der Labilität gehört, um es mit meinen technischen termini zu sagen, eine gewisse Ausgewogenheit personaler Eman-

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zipation und personaler Regression, ein Erfolg, der freilich nicht durch planmäßige Konstruktion, sondern nur mit Anschmiegung an das Widerfahrende erreicht werden kann. Stirner will dagegen einseitig die personale Emanzipation maximieren, bis hin zur Löschung jeder Autorität mit unbedingtem Ernst. (Eine Autorität, d.h. eine Macht, die gewissen Normen für jemand unwegdenkbar verbindliche Geltung verleiht, hat unbedingten Ernst, wenn der Betreffende sich ihr nicht einmal auf dem höchsten ihm erreichbaren Niveau personaler Emanzipation entziehen kann.) Ich halte dieses Ziel für unsinnig in Bezug auf die Autorität des Seins oder der Wirklichkeit in der Evidenz (auch darüber zuletzt in „Der Spielraum der Gegenwart“, S. 66ff., nach früheren Darstellungen). Wer sich dem unbedingten Ernst dieser Autorität entziehen wollte, wäre reif fürs Irrenhaus oder die Intensivstation; er könnte nicht unentmündigt leben. Dagegen halte ich es prinzipiell für möglich, daß jemand sich dem unbedingten Ernst der Autorität von Gefühlen (z.B. im Gewissen – „moral insanity“) vollkommen zu entziehen vermag. Ein solcher Mensch wäre aber sehr unglücklich. Er hätte nichts mehr, das ihn führte. Sein Leben wäre einem hemmungslosen Taumeln ähnlich. Viele Menschen kommen heute diesem Schicksal nahe. Ich habe gegen Ende vorigen Jahres darüber in der Zeitschrift „Sinn und Form“ einen Essay unter dem Titel „Ironie und Pathos im nachromantischen Zeitalter“ geschrieben. Sie mögen daran sehen, daß ich Stirner, bei allem Respekt vor ihm, nicht als dem Führer zu einer neuen Aufklärung zu folgen vermag. 2. Juli 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, besten Dank für Ihren Bf. v. 28.6. und den Hinweis auf zwei neuere Publikationen von Ihnen, die ich noch nicht kannte. Was Stirner betrifft, den Gegenstand unseres Austauschs, so habe ich nach Ihren brieflichen Ausführungen den Verdacht, dass wir in der Ablehnung bestimmter Interpretationen seines Textes (bzw. von Teilen davon) sogar übereinstimmen. Mir fiele es jedoch schwer, dies hier genauer (und ohne neue Quellen des Missverständnisses zu produzieren) zu beschreiben. Deshalb lege ich – auf die Gefahr, aufdringlich zu erscheinen – noch einmal einen Text von mir bei, in dem ich versuche, die Problematik, die mir bei Stirner wesentlich erscheint, einzukreisen. Ich hoffe, dass damit meine Sicht der Dinge etwas deutlicher wird. Jedenfalls werden Sie sehen, dass ich nicht, wie Sie gegen Ende Ihres Briefes anzudeuten scheinen, Stirner als Propheten der „moral insanity“ sehe (verdeutlichend wären noch meine parallelen Artikel zu La Mettrie und Reich, die mein Argument „synergistisch“ verstärken). Im Gegenteil: In meiner Interpretation ist Stirner (antizipiert von La Mettrie und weitergeführt von Reich) der einzige Wegweiser zur Weiterentwicklung heraus aus der derzeitigen Situation (die Sie als

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„sehr unglücklich“, „hemmungsloses Taumeln“ umschreiben). Allerdings, das gebe ich durchaus zu, stehen die Chancen schlecht, dass er als ein solcher von einer nennenswerten Anzahl von Menschen erkannt werden wird (die feiern lieber Leute wie Wittgenstein, den Sie recht apart einen „kokett gewordenen Stirner“ nennen). Ein Einzelner kann eben, wie ein kluger Kopf mal sagte, die Welt nicht retten; er kann ihr nur sagen, woran sie zugrunde gehen wird. 4. Juli 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Obwohl ein Jahresurlaub kurz bevorsteht, gehe ich gern auf Ihre neuerliche Stellungnahme ein, da ich das gemeinsame Bemühen um das Richtige von entgegengesetzten Standpunkten aus sehr wichtig nehme. Ich schätze Stirner als den Ausformulierer der ethischen Konsequenzen einer noch unreifen, mit Fichte und der Frühromantik einsetzenden Besinnung auf Subjektivität, in der deren Überschuß über die bloß objektiven und neutralen Tatsachen und die bloß objektiv „an sich“ gelten sollenden Programme bereits entdeckt ist, aber noch nicht der Sitz der Subjektivität in den subjektiven Tatsachen des leiblich-affektiven Betroffenseins. Mit der Konsequenz, die Stirner aus dieser Zwischenlage zieht, setzt er sich an die Spitze des forcierten Bemühens um Selbstbemächtigung und Selbstherrlichkeit, das ich als die eine Seite der dynamistischen Verfehlung (neben dem Weltbemächtigungsstreben) in meinem Hitlerbuch dem abendländischen Geist angekreidet habe. Dabei ist er den Junghegelianern, die „den Menschen“ aus den Zwängen metaphysischer Dogmatik erlösen wollen, ohne Zweifel weit überlegen, denn die wissen nichts von der seit Kant (noch nicht bei Kant) aufgebrochenen Thematik und Problematik der (strikten) Subjektivität; daher habe ich mich in „Selbstdarstellung als Philosophie“ nicht gescheut, die Polemik von Marx und Engels gegen Stirner wegen „ihrer vollendeten Verständnislosigkeit für Subjektivität“ als „dümmlich“ zu bezeichnen. (S. 83) Meiner Überzeugung nach hat Stirner völlig recht mit seinem Vorwurf gegen die Junghegelianer, daß deren anthropozentrische Religionskritik und Heilsvision auf einem dogmatisch fixierten Ideal beruht, im Sinne der von mir so genannten paradigmatischen Ethik, deren Blüte und Sturz (nebst Versuchen, sie danach wiederherzustellen) ich unter dem etwas allgemeineren Titel der kanonischen Ethik in § 208 meines Werkes „System der Philosophie“ (Band III Teil 3 S. 675– 698) mitverfolgt habe; zum Leitbild des Menschen als Paradigma dort S. 683 (vgl. auch die Gegenüberstellung Kant-Stirner in „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 1f.). Was Stirner dieser (in ihrer Zeit freilich auch sinnvollen) Naivität der Junghegelianer entgegensetzt, nämlich die einseitige Maximierung personaler Emanzipation, ist aber nicht besser. Die endlich erlangte Autonomie der selbständigen Person, auch wenn sie nicht mehr

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wie bei Kant zur Heteronomie im Raum eines transzendentalen Gesetzgebers (Vernunft, homo noumenon) entartet, läßt den Menschen ratlos, weil sie durch Abarbeiten aller Ergriffenheiten erkauft ist und nun, wo die Wahl seiner Ziele ihm frei steht, kein Richtmaß mehr da ist, das das Wollen führen könnte. So kommt es zu dem haltlosen Taumeln, auch ohne moral insanity. Dies ist die Problemlage der heutigen Jugend, die nicht mehr mit den tyrannischen Zwängen eines Überich zu kämpfen hat, sondern mit einer Störung der Ergreifbarkeit, mit Kompensation durch krampfhafte Rausch- und Ekstaseversuche (Rock und Techno, Jugendsekten, noch schlimmer: politischer Fanatismus). „Man erdrücke des Kindes Stolz nicht, seinen Freimut.“ Eine herrliche Maxime Stirners (S. /39/ Ihrer Beilage)! Aber was hat das zu tun mit Verachtung und Verpönung der Ehrfurcht, des Heiligen (S. /40/)? Der Mensch, dem nichts mehr heilig ist, ist ein unglücklicher Mensch, überhaupt nicht mehr autonom, sondern steuerlos seinen Launen ausgeliefert. Die „frechen Buben“ unserer antiautoritären Erziehung, von denen Stirner schwärmt (S. /41/ bei Ihnen), werden, wenn nichts ihnen ihre Frechheit austreibt, zu Menschen, denen nichts mehr wichtig ist als der Protest, und der lohnt sich nur so lange, wie noch etwas da ist, woran man seine Kräfte wenigstens im Protestieren üben kann, und auch diese Gelegenheit schwindet, weil sich das moderne Fürsorgesystem universaler Sozialtechnik in der Kunst vervollkommnet, die Hegel’schen „Krallen von Samt“ (pattes de velours, siehe mein Buch „Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte bis Hegel“ S. 247) virtuos zu gebrauchen. Souverän kann die menschliche Person nur sein, wenn sie sich darauf versteht, sich kritisch prüfend einer das Wollen führenden Macht als Medium anzuvertrauen, aber nicht blind, sondern bereit zu einer gestaltenden und umgestaltenden Auseinandersetzung, an der sich das eigene Wollen bildet. Eine solche Macht kann der Nomos einer gemeinsamen implantierenden Situation (einer Kultur, eines Standes, einer Familie usw.) sein, oder ein individuelles Gesetz („So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen“) wie bei einem Künstler oder einer Mutter in der Sorge für ihre Kinder, oder ein Gefühl als ergreifende Atmosphäre wie der heilige Geist im Urchristentum usw. Ich habe als Symbol solchen Könnens, das sich mit Einklang von Mensch und Tier in der Person im „Spielraum der Gegenwart“ zurechtfindet, auf den Einbanddeckel des gleichnamigen Buches den Bamberger Reiter setzen lassen und erinnere zur Erläuterung, wie schon im vorigen Brief, an meine Ausführungen in „Die Liebe“ S. 9–14 (und die entsprechenden in „Leib und Gefühl“ S. 98–102). Vielleicht wirkt es etwas sonderbar, wenn ich so oft auf etwas verweise, das ich anderswo geschrieben habe, aber mir ist das so lebhaft gegenwärtig, daß ich meine Gedanken, während ich schreibe, nicht künstlich aus diesem Zusammenhang herausreißen will, und jetzt geht es mir besonders darum, daß wir uns nicht im Kreise drehen, sondern uns unsere Überzeugungen so deutlich machen, daß für Beide die Klarheit wächst.

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7. Juli 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, nein, ich finde es keineswegs sonderbar, wenn Sie auf etwas verweisen, das Sie andernorts geschrieben haben; nur habe ich diese Schriften nicht in jedem Falle parat, kann z.B. „Sinn und Form“ in der hiesigen Bibliothek, da der Jg. 1999 beim Buchbinder ist, nicht einsehen. Ich möchte deshalb direkt auf die Briefinhalte eingehen, soweit ich dies ohne Heranziehung jener Texte für möglich halte. Sie schreiben am 28.6., meine „aggressive“ Reaktion auf Ihr Buch „Selbstdarstellung …“ habe Sie gewundert, dies, weil ich in einer Fußnote festgestellt habe, dass Sie einen Ihrer drei Protagonisten der „Selbstdarstellung“, nämlich Stirner, auf 13 Seiten, Nietzsche dagegen auf 225 und Wittgenstein auf 135 Seiten abgehandelt haben. Ich sehe darin eigentlich keine Aggressivität, sondern die nüchterne Feststellung eines hervorstechenden Datums Ihres Buches, eines, das Sie in ihm nicht so begründen, wie dann in Ihrem Brief (Stirners „klare Konsequenz“ habe diese Kürze ermöglicht). Ebenso hervorstechend und erklärungsbedürftig finde ich das Fehlen einer Diskussion möglicher Gründe, warum alle Welt die (nicht nur) im Vergleich zum „klaren“ Stirner konfusen Nietzsche und Wittgenstein feiert, jener aber meist beschwiegen, manchmal bekämpft und gelegentlich belächelt wird (vgl. http://www.lsr-projekt.de/mskempski.html – Laska: „Stirner, der so gern Verlachte.“ Über Jürgen von Kempski, Sartre und Stirner / nur im Internet veröffentlicht). – Sie schreiben dann am 4.7., dass Sie Marx’ Polemik gegen Stirner als „dümmlich“ bezeichnet hätten. Ja, gewiss, aber ist dies die treffendste Charakteristik von Marx’ Agieren? Ist aus „Sankt Max“ und seinem Schicksal nicht viel mehr über die geistigen Kämpfe jener und noch unserer Zeit zu entnehmen? Ebenso Nietzsche: natürlich war er kein Plagiator Stirners; sein „Fall“ ist von mindestens so großer Bedeutung wie der von Marx. Sie schreiben am 4.7., Stirner sei den Junghegelianern in der Konsequenz seines Denkens „weit überlegen“ gewesen, habe gegen sie „völlig recht“ gehabt; andererseits sei deren „Naivität“ damals sinnvoll gewesen, und was Stirner dieser entgegengesetzt habe, sei auch „nicht besser“ gewesen. Sie nennen dann Stirners Ideal die „einseitige Maximierung personaler Emanzipation“ und beschreiben diese bzw. deren Folgen in Symptomen, wie sie im heutigen Leben oft feststellbar sind: Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit, haltloses Taumeln, zwanghafte Ekstaseversuche usw. Als habe sich Stirner trotz aller Unterdrückungsversuche der Marx, Nietzsche & Co. (siehe mein Buch „Ein dauerhafter Dissident“) zumindest „im Westen“ praktisch durchgesetzt. Viele der heutigen Jugendlichen hätten kein ÜberIch mehr und seien deshalb ihren Launen ausgeliefert und in diesem Zustand äußerst unglücklich.

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Wenn ich Ihnen – cum grano salis bzw. „tendenziell“ – in Ihrer Diagnose der geistigen Lage der Gegenwart zwar zustimme, so wird es Sie jedoch sicher nicht überraschen, dass ich diese nicht auf ein klandestines Obsiegen von Stirners Ideen zurückführe, sondern vielmehr als eine Folge von deren „Primär-“ und „Sekundärverdrängung“ durch die universale Einheitsfront aller „Kulturträger“ („Linke“ wie „Rechte“, „Religiöse“ wie „Atheisten“ usw., sowie den Launen dazwischen) erkläre. Sie preisen Stirners „herrliche Maxime“: „Man erdrücke des Kindes Stolz nicht, seinen Freimut!“ (vgl. Sie dazu Hegels, aber auch modernerer Erzieher wie F.W. Foersters oberste Maxime von der notwendigen Brechung des Naturwillens des Kindes zwecks Herstellung von Kulturfähigkeit) und setzen dann Stirners „freche Buben“ den heutigen verwahrlosten Produkten einer permissiven Erziehung gleich. Das erscheint mir, mit Verlaub, unfair bzw., anders gesagt, nicht verständnisförderlich. Wenn der ethische „Nihilist“ Stirner eine „Norm“ aufgestellt hat – was oft ja, nicht unbedingt zu Unrecht, abgestritten wird – dann die in obigem Zitat enthaltene. Stirners Programm, die frühkindliche Introjektion eines (irrationalen) Über-Ichs [zu vermeiden] – was die spätere Aufrichtung eines (rationalen) Über-Ichs nicht ausschließt, sondern im Grunde erst ermöglicht – ist freilich alles andere als das, was die von Ihnen herbeizitierten „Antiautoritären“ verzapft haben. In der Stirner’schen nur evolutionär approximierbaren Utopie, wenn ich mich mal so ausdrücken darf, würde es vermutlich auch „implantierende Situationen“ geben, doch wären diese wohl qualitativ anders als die aus der Vergangenheit bekannten, deren Zersetzung die jetzigen und wahrscheinlich noch einige weitere Generationen zu durchleben haben (wenn nicht … „was Gott verhüten möge“). Ich kann, wie ich schon einmal sagte, ein Zurück, wie Sie es in Ihrem „Ausblick“ des Hitlerbuches andeuten, realistischerweise nicht erwarten, aber auch nicht einmal wünschen. Ich hoffe, mit diesen Erläuterungen zu meiner Position wenigstens einigermaßen Ihrer Erwartung entsprochen zu haben, etwas mehr Klarheit zu schaffen, und sende Ihnen, falls dieser Brief Sie noch vor Ihrem angekündigten Jahresurlaub erreicht, meine besten Wünsche für diesen. 11. Juli 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, allein Ihr Hitlerbuch bietet viele und vielerlei Gedanken und Ansatzpunkte für eine ausführliche Diskussion; diese, in brieflicher Form geführt, muss sich freilich auf einige Kernpunkte beschränken, wobei die Verständigung über die (potentielle) Bedeutung von Stirners Ideen gewiss ziemlich genau den Kern der Problematik anvisiert. Dazu noch ein paar Worte im Nachgang zu meinem Brief vom 7.7. Sie sagen S. 386, dass aus der verfahrenen Lage der Gegenwart, nachdem die autistische Verfehlung schon eine so massenhafte, zersetzende

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Wirkung gezeitigt hat, der Ausweg, wenn überhaupt, nur in der Regeneration implantierender zuständlicher gemeinsamer Situationen gemäß dem Programm der Gegenaufklärung bestehen kann. Ich glaube dies, wie Sie wissen, nicht; denn ich würde auch diese Geistesrichtung als eine „Verfehlung“ ansehen. Jetzt habe ich in Ihrem Hitlerbuch, S. 380, eine Bemerkung entdeckt, die mir vielleicht ermöglicht, Ihnen meine Gründe besser verständlich zu machen. Sie schreiben, es gäbe einige wenige Menschen – haben Sie konkrete Personen im Auge? –, die einen „starken Daimon“ haben und deshalb ohne die Führkraft des Nomos einer implantierenden gemeinsamen Situation ein sinnerfülltes Leben finden. Das wirft Fragen auf, die Sie möglicherweise an anderen Stellen Ihres Werkes behandelt haben (?). Gehören diese Menschen sozusagen zu einer anderen Gattung? Bleibt ihre Anzahl stets gering (analog zum, sagen wir, Hoch/Niedrig-IQ-Prozentsatz)? Woher haben diese Menschen ihren Daimon? Wie verhalten sie sich zu den Anderen, die gemäß einem Nomos leben? Haben sie deren Nomos intellektuell analysiert? Und – für die Anderen – als nötig/nützlich befunden? Handeln sie wie die Anderen, aber aus „Einsicht“? Wären viele von ihnen in der Lage, ohne gemeinsame implantierende Situation eine funktionierende Gemeinschaft zu bilden? Wäre ggf. von dieser zu erwarten, dass sie „besser“ ist als die aus der Geschichte bekannten? Etc. Sie verstehen, wohin diese Fragen zielen? Aus diesen Fragen bzw. aus Ihren Erläuterungen zu ihnen ergäbe sich vielleicht eine Möglichkeit, Ihnen meine Interpretation Stirners besser verständlich zu machen. Stirners „Eigner“, wie ich ihn z.B. in meinem Buch „Katechon und Anarch“ (S. 40–49) umreiße, könnte jenem Menschen nahekommen, von dem Sie sagen, er habe einen „starken Daimon“; denn er ist keineswegs der „autistisch freigelassene Mensch“ (385) des westlichen „Individualismus“. Er ist aber auch nicht das aus der Gattung fallende „Monstrum“, das nur in vereinzelten Exemplaren auftreten kann. 2. August 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Unsere Erörterung braucht nicht unergiebig zu sein, auch wenn wir uns nicht einigen können. Bei meiner Rückkehr am 31.07. lagen mir zwei Briefe von Ihnen vom 7. und 11. Juli vor. In dem zweiten greifen Sie eine Bemerkung in meinem „Hitlerbuch“ S. 380 auf, wo ich von Menschen „mit starkem Daimon“ spreche, die keinen Nomos einer ihre persönliche Situation implantierenden gemeinsamen Situation zur Führung ihres Wollens nötig haben, und dabei durch Wiederholung der Anmerkungsziffer 1320 auf S. 324 zurückverweise, wo das Gemeinte durch Bezug auf Goethes Daimonstrophe etwas veranschaulicht wird; zu den betreffenden Goetheversen bringe ich in meinem Brief vom 4. Juli, auf den Sie am 7. geantwortet

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haben, einige Beispiele solcher Menschen „mit starkem Daimon“: den von seinem Genius geführten Künstler (wie in Zolas „L’Œuvre“ mit Cézanne als Modell) und die Mutter, für die das Eintreten für ihre Kinder selbstverständlich verbindlich ist (was den jungen Frauen von der „herrschenden Meinung“ unserer Tage zu ihrem Unglück allmählich abgewöhnt wird). Man kann auch an die Wandervögel der anbrechenden Jugendbewegung um 1900 oder an J.J. Winckelmann im 18. Jahrhundert denken. Um das Gemeinte etwas präziser zu fassen, muß ich auf meine Analyse des Wollens zurückgreifen („Der Spielraum der Gegenwart“ S. 116–119; ein längerer Aufsatz ist noch unveröffentlicht). Zu jeder Person (d.h. jedem Bewußthaber mit der Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, sich für etwas zu halten) gehört als Hülle und Partner eine persönliche Situation („Situation“ im Sinne einer mehr oder weniger binnendiffusen Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen, die vielerlei Verschiedenartiges ganzheitlich zusammenhält), in der über einer mehr oder weniger beharrlichen persönlichen leiblichen Disposition unzählige partielle Situationen gleiten, während sie selbst in überpersönliche Situationen teils oberflächlich eingetaucht, teils tief eingewachsen („implantiert“) ist. Wegen der Binnendiffusion bedarf es einer Explikationsleistung, um aus dem Programmgehalt der persönlichen Situation (ihrem „Nomos“) einzelne Programme herauszuholen. Dazu bedarf es einer spezifischen Intelligenz, und wer sie innehat, der weiß, was er will. Zum gelingenden Wollen gehört außer diesem Wissen die Zuwendung des vitalen Antriebs aus der persönlichen leiblichen Disposition zu den so stimmig explizierten Programmen. Wer auf solche Weise dauerhaft zu gelingendem Wollen befähigt ist, ist ein Mensch mit starkem Daimon. Er braucht kein durchaus gelungenes Exemplar der Menschennatur zu sein; es kann sich auch um einen paranoiden Fanatiker handeln, wie bei dem Helden des „Hitlerbuches“. Aber so ein Mensch hat es in gewisser Weise leichter als die meisten Menschen, die entweder nicht wissen, was sie wollen, weil sich die partiellen Situationen in ihrer persönlichen Situation in undurchsichtiger Weise an einander reiben und die Explikation einer dominanten Richtung des Wollens verhindern – typisches Schicksal vieler junger und auch älterer Frauen heute –, oder weil sie nach einigermaßen geglückter Explikation von Programmen aus dem Nomos ihrer persönlichen Situation die nötige Sammlung des vitalen Antriebs auf diese Explikate nicht zu Stande bringen. Solche Menschen bedürfen einer Stützung ihres Wollens durch den Nomos einer überpersönlichen, ihre persönliche Situation implantierenden Situation, damit sie sich nicht haltlos herumtreiben, sondern an dieser Einbettung die Stützung und Schienung gewinnen, deren sie bedürfen, um in einem solchen Rahmen auch aus Eigenem und auf eigene Weise ein gediegenes Wollen zu gewinnen. Man könnte sie als sekundäre Eigner bezeichnen und die Menschen mit starkem Daimon als primäre Eigner dem Ideal Stirners vergleichen, wie Sie es versuchen, aber das wäre

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meines Erachtens vermessen, weil kein Mensch Eigner seiner persönlichen Situation und ihres Nomos ist, sondern jeder diese (diesen) nicht nur als Hülle (als Kokon für lebenslange Verpuppung) um sich, sondern auch als rätselhaften Partner sich gegenüber hat, dem er z.B. bei schwierigen Lebensentscheidungen mit qualvollem Kneten des Für und Wider das Orakel abringen muß, was zu ihr und damit zu ihm paßt. In der Vorrede von Band V (Bonn 1980) meines Werkes „System der Philosophie“ habe ich geschrieben: „Menschen sind aber wichtig als Medien der Darbietung von etwas, das an und mit ihnen geschieht, dem sie dienen oder sich widersetzen können, nicht dadurch, daß sie sich selber wichtig nehmen.“ Das haben die Menschen unserer Tage vergessen, und ich glaube nicht, daß Stirner sie eines Besseren belehren könnte. 16. August 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, nachdem auch ich eine kleine Pause eingelegt habe, nahm ich mir zur Beantwortung Ihres Briefes vom 2.8. noch einmal meine diesem vorausgehenden Briefe vor und bemerkte einen möglicherweise sinnumkehrend wirkenden Fehler in dem vom 7.7., wo ich im vorletzten Absatz lese: Stirners Programm, die frühkindliche Introjektion eines (irrationalen) Über-Ichs* – was die spätere Aufrichtung eines (rationalen) Über-Ichs nicht ausschließt, sondern im Grunde erst ermöglicht – ist freilich alles andere als das, was die von Ihnen herbeizitierten „Antiautoritären“ verzapft haben. Hier fehlt natürlich an der mit * gekennzeichneten Stelle: zu verhindern. Ich denke, Sie kennen meine Position inzwischen so gut, dass Sie das in Gedanken ergänzt haben; und auch, dass Sie mich wegen der Verwendung des „Über-Ich“ nicht für einen Freudianer nehmen. Nun zu Ihrem Brief vom 2.8.: Ich hatte um Erläuterungen zu Ihren „Menschen mit starkem Daimon“ gebeten. Sie nennen als Beispiele den Künstler und die Mutter, Menschen, die auch ohne eine implantierende Situation „wissen, was sie wollen“. Diese Menschen brauchten, wie Sie weiter sagen, kein durchaus gelungenes Exemplar der Menschennatur zu sein – Sie nennen Adolf Hitler, der ebenfalls gewiss einen starken Daimon gehabt habe, auch wenn er „paranoider Fanatiker“ gewesen sei. Dies sieht zunächst sehr heterogen aus, aber ich hoffe, Sie aufgrund Ihrer weiteren Ausführungen im Brief und in den Schriften, die ich kenne, einigermaßen zu verstehen. Was diese Menschen gemein haben, schreiben Sie, sei eine „spezifische Intelligenz“ und eine gelingende Lenkung ihres „vitalen Antriebs“. Mit Vorbehalt könnten sie auch in Anlehnung an die Stirner’sche Terminologie „primäre Eigner“ genannt werden – wobei all die anderen, die einer implantierenden Situation zur „Stützung ihres Wollens“ bedürfen, „sekundäre Eigner“ genannt werden könnten.

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Wenn ich jetzt erläuterte, warum ich Ihre Position, wenngleich ich sie modo grosso zu verstehen glaube, selbst nicht einzunehmen vermag, würden wir uns im Kreise drehen. Ich hatte in meinem Brief vom 11.7., im vorletzten Absatz, einige Fragen zu Ihren beiden Menschentypen aufgeworfen, die mir nach wie vor offen erscheinen. Das mag aber auch an meiner lückenhaften Kenntnis Ihrer Schriften liegen, und deshalb will ich sehen, dass ich einige Ihrer jüngsten Publikationen, die Sie in früheren Briefen genannt haben, bald bekomme. Sie schließen Ihren Brief mit der Bemerkung, dass Sie nicht glauben, dass Stirner die Heutigen eines Besseren belehren könnte. Sie werden vielleicht überrascht sein, dass ich Ihnen darin zustimme. Auf direkte Weise wird Stirner niemanden belehren. Er wird schließlich seit hundert Jahren gelesen – ohne dass seine „Lehre“ verstanden wurde. Näherhin: wenn sie doch, eher ahnend, verstanden wurde, wurde sie sogleich mit den praktisch wirksamsten Mitteln abgewehrt (Marx, Nietzsche, aber auch viele andere). Dies, diese beispiellose „Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte“, gilt es zu begreifen, bevor man in den Schriften Stirners die verborgenen Gründe dafür suchen wird. Dann erst wird eine Chance bestehen, dass man sie finden, ihre welthistorische Bedeutung erkennen und eine Lehre aus ihnen (und ihm) ziehen wird. Dass es je so kommen wird, mag man realistischerweise allerdings bezweifeln. 29. August 2000 Sehr geehrter Herr Laska, wegen einer Reise fand ich Ihren Brief vom 16.08. erst am 27. abends. Ihre Antithese zum Über-Ich hatte ich gleich richtig verstanden. Ihre Fragen im vorletzten Absatz Ihres Briefes vom 11. Juli habe ich nicht explizit beantwortet, weil ich glaubte, daß sie sich durch meine Erläuterung zum Sinn meiner Rede von Menschen mit starkem Dämon mehr oder weniger erübrigten. Ich denke nicht an einen „höheren Typus Mensch“, von dessen Züchtung Nietzsche träumte (mein Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 248–251). Ich glaube namentlich nicht an die Möglichkeit, aus Einsicht sich selbst in der Hand zu haben (wie es die Psychoanalytiker von ihren Lehranalysen erhoffen). Ich habe mehrfach die These vertreten: „Von sich selbst kann man keinen Eindruck haben.“ Damit meine ich: Der Mitmensch hat vor mir den Vorrang, daß sich ihm meine Persönlichkeit, die eine segmentierte Situation (zuständliche persönliche Situation) ist, zum Plakat in Gestalt einer impressiven Situation, die intuitiv mit einem Schlage da ist, zusammenziehen kann, zu einem vielsagenden Eindruck, der zwar trügen, aber analytisch absteigend an korrigierenden Erfahrungen verbessert werden kann, während ich nur synthetisch, von einzelnen Erfahrungen mit mir aufsteigend, mich an das Ganze meiner Persönlichkeit herantasten

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kann (vgl. „Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie“ S. 196–204). Das Entsprechende gilt m.E. für Jeden. Am Schluß Ihres Briefes malen Sie die Erwartung aus, durch Studium der Geschichte der Abwehr der Gedanken Stirners bei Autoren wie Marx und Nietzsche (der sich indessen meines Wissens nie zu Stirner geäußert hat) eine Chance zur Erkenntnis einer welthistorischen Bedeutung der Schriften Stirners zu gewinnen. Entschuldigen Sie, aber das kommt mir etwas phantastisch vor. Gewiß muß man die Bemerkung Jacob Burckhardts ernst nehmen, daß vielleicht im Thukydides eine Tatsache ersten Ranges liegt, die erst in hundert Jahren jemand bemerken wird; ich habe das einmal auf Aristoteles angewandt. Aber man sollte jedem Schriftsteller die Ehre antun, sich für das Entsprechende an seine eigenen Schriften zu halten. Die Reflexe der Späteren verschatten und verzerren eher das Bild; denken Sie nur an Jesus (der leider kein Schriftsteller war) in der Beleuchtung meines Hitlerbuches. 2. September 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, bei der – m.E. zentralen – Frage der Existenz von „Menschen mit starkem Daimon“ kommt unser Gedankenaustausch, wie mir scheint, nicht recht weiter. Sie denken, wie Sie am 29.8. erklären, weder an den zu züchtenden Übermenschen à la Nietzsche noch an den Absolventen einer Lehranalyse gleich welcher psychologischen Schule. So hatte ich Sie auch nicht verstanden. So sehe ich im übrigen auch nicht den Stirner’schen „Eigner“ (vgl. z.B. Kap. 4 in meinem „‚Katechon‘ und ‚Anarch‘“, S. 40–49). Meine Fragen im Brief vom 11.7. zielten auf die Genese eines solchen Menschen und darauf, ob solche Menschen (die keiner Stützung ihres Wollens durch eine implantierende Situation bedürfen) ein „besseres“ Zusammenleben realisieren würden als jene mit schwachem oder fehlendem Daimon – wobei wohl zu unterscheiden ist zwischen 2 Fällen: Leben in einer impl. S. oder in einem Zustand von deren Zerfall (wie in unserer Zeit). Entsteht der starke Daimon in einem Menschen „zufällig“? Oder ist seine Entstehung bei jedem angelegt und wird bei den meisten durch die Bedingungen des Heranwachsens verkrüppelt oder erstickt? (Ich will aber nicht alle Fragen hier wiederholen). Sie schreiben ferner, Ihnen käme meine „Methode“ zu philosophieren bzw. mich in der nun einmal vorgefundenen (geistigen) Welt zu orientieren, namentlich das Verfahren, aus der grotesken Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte Stirners den Schluss auf dessen (potentielle) „welthistorische“ Bedeutung zu ziehen, „etwas phantastisch“ vor. Ich gebe zu, dass dieser Eindruck leicht entstehen kann; dass dies sehr nach dem Fall eines hoffnungslos verblendeten aficionados aussieht. Aber ich weiß nicht, wie ich diesem Eindruck zunächst anders begegnen kann als mit dem

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Hinweis auf die von mir in den bisher 3 Bänden „Stirner-Studien“, in der ZEIT und im Internet veröffentlichten Beiträge – wobei ich in den drei Aufsätzen zur „Negation des irrationalen Über-Ichs bei …“ versuche, die Kernidee zu bestimmen, die so allgemein Repulsion hervorruft und so stereotyp mittels (Auto-)Dezeption abgewehrt wird. 4. September 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Wenn wir uns in das Thema der „Menschen mit starkem Daimon“, das Sie in Ihrem Brief vom 2.09. als zentral ausgeben, vertiefen wollen, bleibt mir nichts übrig, als in der Sprache meiner etwas komplizierten Anthropologie zu sprechen, deren jüngste Darstellung in meinem Buch „Der Spielraum der Gegenwart“ zu finden ist, wozu „Der Leib, der Raum und die Gefühle“ sowie etwa „Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie“ hinzugenommen werden können (was nicht heißen soll, daß ich die umfangreichen älteren Darstellungen ausschließen wollte). Jede menschliche Person (Bewußthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung) lebt in ihrer zuständlichen persönlichen Situation (vulgo „Persönlichkeit“), die ihr zugleich Hülle und Partner (der Auseinandersetzung) ist und sich an begegnenden vielsagenden Eindrücken in personaler Emanzipation und personaler Regression, Explikation und Implikation beständig umbildet. In ihr gleiten, wie zähflüssige Massen in einer zähflüssigen Masse, unzählige partielle Situationen, von denen die Psychoanalyse nur die retrospektiven (die – z.T. vergessenen oder verdrängten – Kristallisationskerne der Erinnerung) berücksichtigt, während die prospektiven (z.B. die anima des Mannes nach C.G. Jung) und die weder retrospektiven noch prospektiven (z.B. der Entwurf in eine Rolle, die Lebenstechnik als habituelle Form des Umgangs mit Problemen der Lebensführung, die Gesinnung als die Weise des Sich-einlassens auf das affektive Betroffensein) ebenso wichtig sind. Die Person will, was zu ihrer persönlichen Situation jeweils paßt; das zu merken, ist aber gar nicht so leicht und ähnelt mitunter der Befragung des delphischen Orakels – wenn die Person an dieser Frage nicht einfach vorbeilebt. Ihre Lage wird dadurch noch komplizierter und labiler, daß sie gar nicht ganz in der Hülle ihrer Persönlichkeit stecken bleibt, sondern immer auch präpersonal in leiblich-affektivem Betroffensein und leiblicher Kommunikation existiert (eklatant in der Fassungslosigkeit, unwillkürlich aber in jedem Augenblick ihres Personseins), wodurch sie Gelegenheit hat, in ständig neu sich bildende gemeinsame Situationen einzugehen, ebenso, wie sie andererseits auch ohne das in solche eingehüllt und eingewachsen ist. Aus der präpersonalen Leiblichkeit stammt der vitale Antrieb, ohne dessen Zuwendung es zu keinem Wollen kommt; aus der Inspiration durch die persönliche Situation (und die diese etwa führenden und stützenden gemeinsamen Situationen) stammen die Programme, ohne die die Person nicht einmal

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weiß, was sie will. Durch diesen doppelten Zwiespalt – einerseits die zweideutige Stellung zur eigenen persönlichen Situation als Hülle, aber auch Partner, andererseits die Überschiebung personaler Selbstzuschreibung und präpersonaler Leiblichkeit – wird die Person doppelt labil, und der „starke Daimon“ ist das Vermögen, dieser doppelten Unsicherheit eine in der Grundlinie feste, auch in Abweichungen sich durchhaltende Richtung des eigenen Wollens abzugewinnen, ohne die Kraft dazu überwiegend aus dem die persönliche Situation implantierenden Nomos gemeinsamer Situationen schöpfen zu müssen. Dieses Vermögen halte ich für eine Begabung, die wohl geübt, aber nicht regelrecht einstudiert werden kann, besonders nicht im Spielraum von personaler Emanzipation und personaler Regression, deren planmäßige Steuerung von Goethes Mephistopheles beispielsweise als die Kunst, sich nach einem Plane zu verlieben, verspottet wird. Die Integration personaler und präpersonaler Existenz (im Spielraum von personaler Emanzipation und personaler Regression) wird den Menschen durch ihre natürliche Begabung zu Lachen und Weinen erleichtert, und darauf bauen kulturelle Techniken wie Komik und Lyrik auf, diesen Erfolg vertiefend. Dennoch möchte ich Ihre Frage verneinen, ob die Entstehung des starken Daimons bei jedem Menschen angelegt und nur durch Bedingungen des Heranwachsens verkrüppelt werde (bis Rousseau kommt und seinen Emil rettet). In beiden Dimensionen, die ich eben als Zonen der Unsicherheit für die Person gekennzeichnet habe, gehören Reibungen, die die Einheitlichkeit und Festigkeit des Wollens erschweren, ganz wesentlich zu dessen lebendiger Kraft, die aus der diesen Hemmungen abzugewinnenden Selbstsicherheit stammt, und es bleibt bei Goethes Mahnung: Eines schickt sich nicht für alle. Sehe jeder, wie er’s treibe, Sehe jeder, wo er bleibe, Und wer steht, daß er nicht falle. 5.09. Der Mensch hat den Tieren ungeheure Chancen voraus, die ich als Entfaltung der Gegenwart beschrieben habe, aber er gerät dadurch in eine unsichere, zwiespältige Zwischenlage, die ihn ständig mit Entgleisungen bedroht. Es ist wie ein Wellenreiten, in dem sich, wer oben bleiben will, selbst Könnerschaft erwerben und immer neu einüben muß. Diese prekäre Situation wird verkannt, wenn man jedem Menschen die Anlage zu einem starken Daimon zutraut, der nur „bei den meisten durch die Bedingungen des Heranwachsens verkrüppelt oder erstickt“ würde. 15. September 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, Ihr Brief vom 4. und 5.9., gestempelt am 5.9., kam erst gestern hier an, möglicherweise, weil er an meine in meinem letzten Brief angegebene Straßenadresse gerichtet war, was die neue, „private“ Post Ihren „Kunden“ auf diese Weise austreiben will. Deshalb oben wieder meine Postfachadresse.

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Sie beginnen: „Wenn wir uns in das Thema der Menschen ‚mit starkem Daimon‘, das Sie … als zentral ausgeben, vertiefen wollen …“ – Kann ich daraus entnehmen, dass Sie dieses Thema nicht als zentral ansehen? – „… bleibt mir nichts anderes übrig, als in der Sprache meiner etwas komplizierten Anthropologie zu sprechen …“ und nennen drei Ihrer Titel. Ich glaube, obwohl ich bisher nur einige Ihrer Titel gelesen habe, einigermaßen richtig zu verstehen (im Sinne des passiven Wortschatzes), was Sie in Ihren Briefen ausführen. Sie sprechen am 4.9. vom doppelten Zwiespalt, von der doppelten Labilität, von der doppelten Unsicherheit, der der Mensch im Gegensatz zum Tier ausgesetzt sei. Menschen mit starkem Daimon seien in der Lage, trotz dieser Situation, sozusagen „aus sich heraus“, ein stabiles, nicht dauerhaft erschütterbares Wollen zu leben. Die anderen Menschen – die ganz überwiegende Mehrheit? – benötigten zu einem solchen Wollen – wäre das dann überhaupt ein Wollen gleicher „Qualität“? – einen „die persönliche Situation implantierenden Nomos gemeinsamer Situationen.“ Der starke Daimon sei eine Begabung, etwas, was zwar geübt, aber nicht einstudiert werden kann; sei außerdem nicht, wie man vermuten könnte, bei jedem angelegt und in der Regel im Enkulturationsprozess beschädigt oder zerstört. Hmmm, ich kann diesen Gedanken – zumindest glaube ich’s – verstehen, nachvollziehen, aber nicht akzeptieren, nicht mir aneignen. Die Beispiele, die Sie früher für Menschen mit starkem Daimon nannten – der Künstler, die Mutter, auch eine Einzelperson: Hitler – machen mir die Sache nicht leichter. Schwer verständlich ist mir zudem, dass Sie die Problematik der Menschen mit starkem Daimon als eine periphere ansehen (Sie schrieben am 2.8., ich griffe eine bloße „Bemerkung“ aus dem Hitlerbuch S. 380 auf; & s. oben – oder gehen Sie andernorts ausführlich auf sie ein?). Wenn ich in diesen Begriffen denke, dann beziehe ich sie doch zuerst einmal auf mich. Bin ich ein Mensch mit starkem Daimon? Wenn ja: Wie stehe ich – als solcher – zu der Welt der Vielen ohne Daimon, deren – intakte oder sich zersetzende – gemeinsame Situation doch stark in mein Leben eingreift? Wenn nein: Kann ich überhaupt meine Situation reflektieren? Richtiger: Ist mein Reflektieren über meine daimonlose Existenz nur möglich, wenn ich mich aus der gemeinsamen Situation, in die meine persönliche Situation implantiert war, entfernt habe? … usw. usf. Ich bin doch sehr bald auf die Frage nach den tiefsten persönlichen Motiven meines „Philosophierens“ verwiesen. Kurz: die Sache wird sehr diffizil und in Briefen immer schwieriger zu behandeln. Aber natürlich wird sie damit nur interessanter.

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16. September 2000 Sehr geehrter Herr Laska, bei philosophischen Problemen ist der Mittelpunkt überall und die Peripherie nirgends. Es kommt nur auf die Perspektive oder, wie man heute gern sagt, den Ansatz an, ob man den „starken Daimon“ für ein zentrales Thema hält. Der Grund für mich, diese Auszeichnung nicht sofort mit fliegenden Fahnen mitzumachen, könnte gewesen sein, daß ich diesen starken Daimon im Sinne von AHG („Adolf Hitler in der Geschichte“) 324 für eine Gabe des Glücks (τύχη) halte, nicht gerade ein Danaer- aber ein ambivalentes Geschenk, für das man dankbar sein kann, sofern es das Leben leichter macht, vor dem man freilich auch wachsam sein sollte, um nicht sich und andere ins Verderben zu führen, jedoch nicht für ein Thema, worauf man große Hoffnungen einer systematischen Erziehung setzen könnte. Die Römer nannten den (starken oder schwächeren) Daimon des Mannes „genius“. Ist das nun ein zentrales Thema? Je nach dem. In Ihrem Brief vom 15.09. stellen Sie die Frage, ob Sie selbst ein Mensch mit starkem Daimon seien. Dafür spricht, daß Sie sich als die Helden, denen Sie auf dem Wege zum Olymp sich nachbegeben, mit solcher Beharrlichkeit ein so eigenartiges Dreieck gewählt haben. Was mich etwas skeptisch stimmt, ist der Umstand, daß Sie bezüglich Stirners auf noch nicht genügend erforschte „wiederholte Spiegelungen“ an Marx, Nietzsche, Carl Schmitt u.a. wie auf Orakel warten. Mir würde es noch mehr imponieren, wenn Sie in direktem Zugriff Stirner das gewünschte Thema abgewännen und es dann gegen den ganzen Troß von Rezipienten ausspielten, als etwas, das Sie selbst im eigenen Namen vertreten. Übrigens kenne ich Sie nicht und kann die Frage also nicht beantworten. Eine Anschlußfrage liegt mir nahe, nämlich, ob ich ein Mensch mit starkem Daimon bin. Dafür spricht, daß ich meinen – gleichfalls sehr eigenwilligen – Weg durchs Leben bisher auf bemerkenswert gerader Linie genommen habe, wie getrieben oder geführt, ohne datierbaren Entschluß. Von Hebbel gibt es einen Vierzeiler, dessen erste Zeile ich vergessen habe; die drei letzten Zeilen lauten: Renne mit dem Kopf nur gegen die Mauer! Hast du Glück, So weicht die Mauer vor dir zurück.

Wenn ich auf mein nun 72 jähriges Leben zurückblicke, habe ich das Gefühl, daß immer dann, wenn ich an eine Mauer anstieß, eine Tür aufsprang, nicht gerade eine Triumphpforte, aber breit genug, um mich auf geradem Wege weiterkommen zu lassen. Dabei ist meine persönliche Situation durchaus implantiert in gemeinsame Situationen. Ich stamme vom Elternhaus her aus der Welt des Leipziger Reichsgerichts, also des altbürgerlichen Stils gehobener Kultur. Eine eher problematische, aber nicht unfruchtbare Einpflanzung verdankt meine Persönlichkeit ihrer frühen katholischen

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Erziehung in protestantischer und kirchenfeindlicher (nationalsozialistischer) Nachbarschaft. Noch heute kann ich sagen, daß ich zwar kein Christ, aber ein Katholik ohne jede dogmatische oder moralische Bindung an Autoritäten der katholischen Kirche bin. Ich habe mich durch meine emanzipatorische Reflexion und kritische Auseinandersetzung keineswegs von diesen Wurzeln gelöst. Im Exkurs über Situationen (AHG Kapitel 2) setze ich mein soziales Situationsmodell dem sozialen Organismusmodell der konservativen Aristoteliker durch zwei Merkmale entgegen: 1. Die Person kann sich mit der ihre Persönlichkeit implantierenden Situation direkt auseinandersetzen, während die Glieder eines sozialen Körpers sich nur im Rahmen seiner Ganzheit mit einander auseinandersetzen können (wie mit dem Magen in der Fabel des Menenius Agrippa). 2. Bei der Auseinandersetzung können aus der (wie jede Situation) gegen Inkonsistenzen toleranten implantierenden Situation durch Explikation Widersprüche hervortreten, die zu einer Umbildung der Situation (bis zum „Platzen“) führen können. (So etwas hat Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“ als den Weg der Erfahrung des Bewußtseins durch die Geschichte zu konstruieren versucht, vgl. mein Buch „Hegels Logik“ S. 402–420.) Die Person kann mit einer implantierenden Situation mindestens so selbständig umgehen wie ein Schriftsteller mit seiner Muttersprache, sei es als auf den Schultern Nietzsches turnender Artist wie Sloterdijk oder mit der Eleganz bloßer Präzision wie die Autoren des BGB von 1894, Eduard Zeller in seiner „Philosophie der Griechen“ und Hilbert und Bernays („Grundlagen der Mathematik“), oder auf andere Weise. Damit will ich auch folgende Frage aus Ihrem Brief beantwortet haben: „Ist mein Reflektieren über meine daimonlose Existenz nur möglich, wenn ich mich aus der gemeinsamen Situation entfernt habe, in die meine persönliche Situation implantiert war?“ Zum Verständnis dieses herausgerissenen Zitats muß ich hinzufügen, daß Sie sich keineswegs eine daimonlose Existenz zuschreiben, sondern die Frage unter der bloß hypothetischen Voraussetzung stellen, daß Sie kein Mensch mit starkem Daimon wären (was übrigens keine daimonlose Existenz zur Folge hätte, denn auch dann bräuchte Ihnen noch nicht „jede Linie in der Persönlichkeit“ zu fehlen wie dem „vitalschwachen Versager“ nach Dirks, siehe mein Buch „Der unerschöpfliche Gegenstand“ S. 167). Nun zur Antwort: Sie brauchen sich aus einer implantierenden Situation nicht so entfernt zu haben, daß Sie nur noch kopfschüttelnd draußen stehen oder gar mit haßerfüllter Ablehnung zurücksehen, um darauf reflektieren zu können, aber Sie brauchen dafür so viel Abstand durch personale Emanzipation, daß die Einbindung einerseits locker wird, während sie andererseits doch fest bleiben kann. Das ist nämlich ein eigentümlicher Zug personaler Emanzipation, daß die Person sich mit zwiespältiger, labiler Ganzheit auf verschiedenen Niveaus zugleich aufhält, indem sie z.B. der Konvention so weit unterworfen bleibt, sich wegen

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einer sich in Gesellschaft gegebenen Blöße ehrlich zu schämen, zugleich aber von dieser Konvention so viel Abstand hat, daß sie sich über die eigene Scham wundert und den Kopf schüttelt. So doppelgleisig kann die auf eine ihre Persönlichkeit implantierende Situation reflektierende Person zu dieser implantierenden Situation immer stehen. Dies sei genug für heute. 21. September 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, der „starke Daimon“ (sD) – zentrales oder peripheres Thema? Weder noch – sowohl als auch … Es kommt auf die Perspektive an … Nun ja … Ich hatte mich nur gewundert, dass die Erwähnung des sD bei Ihnen (in AHG) so beiläufig ist, dass ich sie fast übersehen hätte, nur eher zufällig fand. Weil ich nicht Ihr gesamtes Werk kenne, fragte ich nach, ob Sie darüber an anderer Stelle ausführlicher geschrieben haben. Und da Sie am 2.8. Menschen mit sD in Anlehnung an Stirners Terminologie auch als „primäre Eigner“ bezeichnet haben, können Sie sich denken, dass das Thema „aus meiner Perspektive“ (ich weiß gar nicht, ob ich eine andere ernsthaft einnehmen könnte) zentral ist. Meine Frage vom 15.9. („Bin ich ein Mensch mit sD?“), die ich mit „Wenn ich in diesen Begriffen denke“ einleitete, war natürlich so gemeint, dass ein jeder, also auch ich, sie sich automatisch sofort stellt – mit den genannten Folgefragen: falls ja/nein –, nicht als konkrete Frage an Sie über mich. Ihre Ausführungen über die Möglichkeiten und Modi, die einer Person offenstehen, um sich mit der ihre Persönlichkeit implantierenden Situation auseinanderzusetzen, haben mir Ihre Sicht der Dinge jedenfalls deutlicher gemacht. So wie ich Sie verstanden habe – auch anhand Ihres Beispiels des Umgangs eines Schriftstellers (jedes Schreibenden?) mit seiner Muttersprache –, ist alles eine Frage des Grades. Andererseits: wenn Sie sagen, dass Sie den sD als (ambivalente) Gabe des Glücks ansehen, nicht als etwas, das sich durch systematische Erziehung herbeiführen ließe, klingt das doch wieder so, als sei hier eine andere Qualität gemeint. À propos: Sie scheinen mich so zu verstehen, als setzte ich, wie Sie schreiben, „große Hoffnungen auf systematische Erziehung“ zur Erzeugung von Menschen mit sD – denen ich ein „besseres“ Zusammenleben zutraue als den früheren „voll Implantierten“ oder gar den heutigen „orientierungslos Taumelnden“, sprich: in deren Gesellschaft ich mich wohler fühlen würde als unter meinen Zeitgenossen. Dies träfe einigermaßen, was ich meine, wenn es statt Erziehung Nicht-Erziehung hieße (dies nur als quasi stenographisches Signal, bitte nicht als rousseauistisch aufzufassen). Und natürlich kann ich keine wirklichen Hoffnungen für eine ferne Zukunft hegen.

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An anderer Stelle schreiben Sie, ich würde auf noch nicht genügend erforschte „wiederholte Spiegelungen“ (?) Stirners an Marx, Nietzsche, Carl Schmittt u.a. wie auf Orakel warten, statt in direktem Zugriff Stirner das gewünschte Thema abzugewinnen und es dann gegen den ganzen Tross von Rezipienten auszuspielen. Das mit dem Orakel sehe ich natürlich nicht so. (Gleichwohl interessiert mich, aufgrund welcher meiner Schriften dieser Eindruck entstanden sein konnte). Und über jenen Tross, heute „mainstream“ genannt, habe ich keinerlei Illusionen; er wird sich selbst durch solch gellende Rufe, wie ich sie betr. Marx, Nietzsche, Carl Schmitt u.a. seiner Idole von mir gab, nicht von seiner lärmenden – und ja auch einträglichen – Geschäftigkeit abbringen lassen (was freilich nicht zuletzt ein auch theoretisches Problem ist >>> die Reflektionskapazität der „Implantierten“ oder der „Taumelnden“). Ich zähle allenfalls auf Einzelne. 29. September 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Vielleicht war es symptomatisch für mein Verhältnis zum Thema „starker Daimon“, daß ich laut Ihrem Brief vom 21. d.M. Ihre Frage „Bin ich ein Mensch mit starkem Daimon?“ falsch auf Sie persönlich bezogen habe, statt sie als Appell an das Geständnis, „daß ein jeder, also auch ich, sie sich automatisch sofort stellt“, zu verstehen. Auf diesen Gedanken kam ich wohl deshalb nicht, weil die Frage für mich in der Tat nicht so zentral wie für Sie ist. Ob mit oder ohne starken Daimon, geführt werden wir Menschen so und so – vom starken Daimon (d.h. von einem hinlänglich führkräftigen Programmanteil der eigenen zuständlichen persönlichen Situation) oder (= vel, nicht-ausschließendes „oder“, nicht aut, nicht „entweder-oder“) vom Nomos einer implantierenden Situation oder von den Launen aktueller Situationen, und – mit den berühmten Worten des „Egmont“-Zitats am Schluß von „Dichtung und Wahrheit“ – „uns bleibt nichts, als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.“ Diesem Goethewort möchte ich allerdings ein anderes aus den „Maximen und Reflexionen“ hinzufügen, nämlich, „daß dem Menschen in seinem zerbrechlichen Kahn eben deshalb das Ruder in die Hand gegeben ist, damit er nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht Folge leiste“. Damit meine ich: Man sollte sich als erwachsene oder vielmehr immer noch erwachsende Person so viel Kritikfähigkeit auch der eigenen Geführtheit gegenüber bewahren, daß es einem nicht so geht wie Goethes Euphorion (im „Faust“): „Doch du ranntest unaufhaltsam frei ins willenlose Netz.“ (Gemeint ist Lord Byron, sicherlich ein Mensch mit starkem Daimon; übrigens war auch der Ausdruck „wiederholte Spiegelungen“ in meinem letzten Brief, hinter

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den Sie ein Fragezeichen setzen, Anspielung auf den gleichlautenden Titel eines Aufsatzes von Goethe.) Die Umdeutung des starken Daimons in einen Eigner im Sinne von Max Stirner, der – nach Nietzsche, siehe mein Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ Seite 159 – „mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben“ will, „immer jenseits –. Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie setzen, wie auf Pferde, oft wie auf Esel“, ist mir sehr unbehaglich, und ich habe diese Gleichung nur erwähnt, um ihr zu widersprechen. Was ich von der Umdeutung der Gefühle, die mich ergreifen (und sei es die Langeweile nach Abarbeitung sonstiger Ergriffenheit), in eigene Gefühle im possessiven Sinn halte, können Sie meiner Auseinandersetzung mit Dr. Fuchs, die ich beilege (als maschinenschriftliche Kopie eines ursprünglich handschriftlichen Briefes) in den Punkten Nr. 5, 14, und 15 entnehmen. Meine etwas spitze Formulierung, daß Sie auf die wiederholten Spiegelungen Stirners an Marx, Nietzsche, Schmitt und anderen „wie auf Orakel“ zu warten scheinen, entspringt meiner Frustration darüber, daß aus Ihren Worten und Schriften nicht zu entnehmen ist, welchen Weg Sie für sich und andere, meinetwegen Künftige, in der Nachfolge Stirners vorschlagen. Wie der Grieche, der nicht wußte, was er tun soll, den Gott befragte, der ihm oft dunkle und zweideutige Auskunft gab, scheinen Sie sich den entsprechenden Aufschluß von einer Rezeptionsgeschichte holen zu wollen, obwohl diese, wie Sie selber monieren, die Intention oder das Anliegen Stirners gar nicht klärt, jedenfalls nicht aufnimmt, sondern mit Ausweichen oder Abwehr quittiert. Das wirkt auf mich wie eine unabsehbare Galerie „wiederholter Spiegelungen“, in der ein Lichtstrahl immer erneut gebrochen wird. 3. Oktober 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, haben Sie Dank für die Zusendung einer Kopie Ihrer Auseinandersetzung mit der Kritik, die Thomas Fuchs in seiner Dissertation von 1999 – Ihrem Brief nach zu urteilen: – im wesentlichen an Ihrer Theorie der Gefühle als, wie er schreibt, „numinose, überpersönliche, fremde, schicksalhaft heimsuchende Mächte“, geübt hat. Mich berührt diese Kontroverse weniger. Ich bewundere zwar immer wieder, wie Sie schwer zu beschreibende Zustände/Vorgänge begrifflich und sprachlich zu erfassen vermögen, doch letztlich bleibe ich im Urteil indifferent wie bei anderer (z.B. psychoanalytischer) Fachlektüre und empfinde (als allenfalls „halbgebildeter“ „Laie“) den Streit der Fachleute als für mein Denken nicht von entscheidender Bedeutung. Zugeschickt haben Sie mir diese Seiten ja, um mir anhand einiger Erwiderungen auf Fuchs Ihre Auffassung des „possessorischen Missverständ-

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nisses“ von Gefühlen und des „introjektionistischen Paradigmas“ als dessen Grundlage zu erläutern. Anlass war, dass ich am 21.9. eine Stelle aus Ihrem Brief vom 2.8. verkürzt und damit – ich bitte um Entschuldigung – nicht sinngerecht wiedergegeben habe: Sie hätten Menschen mit starkem Daimon als „primäre Eigner“ im Stirner’schen Sinne bezeichnet. Das war von Ihnen freilich im Konjunktiv gesagt, und Sie hatten Ihre Auffassung gleich angefügt – die Sie am 29.9. noch einmal formulierten: Ob mit oder ohne starken Daimon, geführt werden wir Menschen so und so – [a] vom starken Daimon … [b] oder (nicht ausschließendes > oder/und) vom Nomos einer implantierenden Situation [c] oder (ausschließendes?) von den Launen aktueller Situationen.

Mit [c] wären wir (nachdem die Frage des starken Daimons einigermaßen geklärt ist) wieder beim Ausgangspunkt unseres Gedankenaustauschs im Anschluss an das Fazit von AHG. Ich fand Ihren dortigen „Ausblick“ unbefriedigend, meinte, es könne aus der heutigen/hiesigen Welt der „hemmungslos Taumelnden“ (c) keinen Weg zurück geben zu der Welt (b incl. a), ja, ich hielt – und halte – dies auch nicht für wünschenswert, wünschte vielmehr, die (europ.) Menschheit möge sich endlich aufschwingen und sich zum „Ausgang aus der Unmündigkeit“ hin entwickeln (wobei ich das erste Hindernis darin sehe, dass sie diese Entwicklung längst – wann und wie eigentlich? – vollzogen zu haben wähnt). Dieser kollektive „Wahn“, der sich u.a. durch das Gerede von der „Postmoderne“, vom „end of history“ etc. ausdrückt, ist es, gegen den ich – und dies wohl noch viele Jahre nur für mich und ein paar Leser – andenke und anschreibe. Ich wüsste nicht, was ich sonst und mehr tun sollte. Sie sagen, es frustriere sie, dass ich keinen Weg aus der geistigen Misere unserer Zeit vorschlage. Letzteres ist m.E. zu viel verlangt. Aber eigentlich tue ich’s ja sogar, freilich nicht direktiv, nicht präskriptiv, eher dadurch, dass ich alle bequemen Aus- (und Irr-)wege versperre – sofern diese Sperren als solche erkannt, sofern ich verstanden werde. Hmmm. – Ihr Eindruck, meine Exposition der – wie ich meine: „wahren“ (im Gegensatz zu der von der Fachwelt kanonisierten, evasiven) – Rezeptionsgeschichte Stirners (in der die bejubelten Auswege, die Marx, Nietzsche u.a. schufen, die primären und sekundären „Verdrängungen“, als solche kenntlich werden) diene mir als eine Art Orakel, bleibt mir unverständlich. Er muss mir allerdings zu denken geben, und ich bin Ihnen deshalb dankbar dafür, dass Sie ihn mir mitgeteilt haben.

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5. Oktober 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Ihr schöner Brief von vorgestern gibt mir kaum Anlaß zu Einwänden. Aus dem Schlußkapitel von AHG ergibt sich allerdings, daß ich die galoppierende Zersetzung implantierender (und überhaupt zuständlicher) Situationen, ihre forcierte Ersetzung durch aktuelle, nicht verschmerze, aber keineswegs, daß ich einfach zurück wollte, zumal der Weg zurück über Augustinus, Jesus, Platon und Demokrit ja nur an die Quelle der vier Verfehlungen des abendländischen Geistes (im Kultursystem des Behauptens, neben anderen, relativ unabhängigen und großartig entwickelten Teilsystemen der europäischen Kultur) zurückführen würde. Den trockenen, ehrlichen Nihilisten Stirner, umgeben von dem leichtsinnigen Marx (AHG 234), dem pseudonihilistischen Blender Nietzsche („Selbstdarstellung als Philosophie“ 312) und dem koketten Dandy Wittgenstein (ebd. 424–427), weiß ich sehr zu schätzen, aber als Mahnmal eines Problems, nicht als Verheißer eines künftigen Weges. In meiner längst vergriffenen Broschüre „Nihilismus als Schicksal?“ von 1972 habe ich das Ausreifenlassen der Verlegenheit als eine Chance bezeichnet, an einen Wendepunkt zu kommen, wo es möglich wird, das Leben in immer leerer werdenden Projektionen einzutauschen gegen die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart, mit Epikur und Frau v. Guyon (amour pur) als Vorzeichnern dieser Möglichkeit. Das momentan favorisierte Ausspielen der aktuellen Situationen gegen die zuständlichen ist alles andere als diese Verankerung; das zweite „oder“ in der von Ihnen rezitierten Aufreihung von Weisen des Geführtwerdens ist also als ausschließendes zu verstehen, mit der mathematischen Methode der Klammerung: Wir werden geführt (vom starken Daimon vel von implantierenden Situationen) aut von den Launen aktueller Situationen.

Wenn Sie in diesem Sinn gegen das ahnungslose Selbstvertrauen unserer abendländischen Optimisten (gegen das Gerede von Postmoderne und end of history) Wacht bei Stirner halten, bin ich im Geist an Ihrer Seite, wenn ich auch zweifle, ob in der Gruft, wo dieser edle Denker liegt, der Schlüssel zum Ausweg aus der nach Kant selbstverschuldeten Unmündigkeit zu finden ist. Im 23. Sonett des 2. Teils der Sonette an Orpheus von Rilke stehen zwei Zeilen, die mich nicht loslassen: Wir sind frei. Wir wurden dort entlassen, wo wir meinten, erst begrüßt zu sein.

Wenn die Menschen ihre Freiheit nicht wie unmündige Kinder als Freiheit zu Spielereien und Launen verstünden, sondern als die Freiheit des Entlassenen, der eine Freundlichkeit, die als Abschied gemeint war, als Begrüßung zur Aufnahme und Betreuung mißverstanden hat, dann wäre viel-

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leicht der Wendepunkt erreicht, wo die Verlegenheit ausgereift ist zur möglichen Entscheidung für einen neuen Weg, und die Zersetzung der zuständlichen implantierenden Situationen könnte sich gelohnt haben. 9. Oktober 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie schreiben – als Antwort auf den vorletzten Absatz meines Briefes vom 3.10., wo ich meine Auffassung wiederholte, es gäbe aus der gegenwärtigen Lage keinen Weg zurück –, dass Sie in Ihrem Ausblick am Ende von AHG „nicht einfach zurück“ wollten, zumal ein Rekurs nur an die Quelle der vier Verfehlungen führen würde. Gut. Sie lösen dann aber keineswegs meinen Eindruck auf, dass Sie als Mittel gegen die akute „galoppierende Zersetzung implantierender (und überhaupt zuständlicher) Situationen“ die Wiederherstellung ebensolcher vorschlagen – was ich mit dem Zurückwollen meinte und was ich für unrealistisch halte. Andererseits schreiben Sie gegen Ende, dass Sie auch so etwas wie einen (noch zukünftigen) Wendepunkt in der menschlichen Entwicklung anvisieren, bei dessen Erreichung Sie sagen würden, dass sich die „Zersetzung der zuständlichen implantierenden Situationen … gelohnt“ haben könnte, weil dann die „Entscheidung für einen neuen Weg“ möglich geworden sei. Das klingt, als meinten wir modo grosso das Gleiche; aber ich fürchte doch, es klingt nur so. Zurück gehe ich ja auch – zu drei Quellen ein und derselben „Verfehlung“ der (neuzeitlichen) aufklärerischen Entwicklung, zu meinen drei verfemten Helden, Aufklärern, die jeweils insbesondere von ihren aufklärerischen Kollegen (in übereifriger, aber wohl unbewusster Komplizenschaft mit ihren gegenaufklärerischen Zeitgenossen) zu Unberührbaren, sozusagen zu „Parias des Geistes“, gemacht worden sind: La Mettrie von Voltaire, Diderot, Holbach & Co.; Stirner von Marx, Nietzsche & Co.; Reich von Freud, Adorno, Marcuse & Co. So unterschiedlich der geistesgeschichtliche Kontext in den drei Fällen auch war, so ähnlich sind die jeweiligen „Verfehlungen“ – so dass ich oben von ein und derselben Verfehlung sprechen konnte. Ich habe ihre (nahezu identische) Ursache in jeweils einem Aufsatz „Die Negation des irrationalen Über-Ich bei [La Mettrie / Max Stirner / Wilhelm Reich]“ skizziert (den Stirner betreffenden habe ich Ihnen, wenn ich mich richtig erinnere, zugeschickt). Sie schreiben, Sie schätzten Stirner als Mahnmal eines Problems, nicht als Verheißer eines künftigen Weges. Das könnte ich cum grano salis unterschreiben, und zwar für alle drei meiner Helden (L, S, R). Diese mahnen m.E. jedoch nicht irgendein Problem an, sondern das Problem der neuzeitlichen europäischen Kulturentwicklung, und indem sie die alten Wege, die immer wieder genommen werden, obwohl sie sich schon so oft als Sackgassen erwiesen haben, als ebensolche bezeichnen, sind sie – indirekt – Künder

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eines neuen Weges. Ich leugne nicht, dass ihre literarische Hinterlassenschaft die Interpretationen zulässt, die in den Lehrbüchern stehen; aber eben auch eine andere, enorm produktive. Besonders Reichs Werk vergleiche ich gern mit einem Palimpsest: erst nach dem sorgfältigen Abtragen vieler Schichten erblickt man das Original. Und auch bei Stirner und La Mettrie gibt es solche Schichten, d.h. findet man viele Stellen, die man als (sehr willkommene) Dementis dessen interpretieren kann, was ich als ihre Kernidee sehe. Diese Kernidee wurde m.E. gerade von ihren entschiedensten Feinden (im Fall Stirners: Marx und Nietzsche) durchaus gespürt, wenn vielleicht auch nur kurz, aber in einem entscheidenden Stadium ihrer Entwicklung. Na ja, Sie kennen ja einige meiner Arbeiten zu diesem Thema. Diese Reaktionen der „großen Denker“ sind mir in ihrer Aussagekraft kaum überschätzbare Indizien, aber keine – Orakel. Darin, fundamentale „Verfehlungen“ in der Vergangenheit als Orientierungshilfe in der Gegenwart aufzuspüren, stimmen wir überein – doch unsere Funde scheinen sich sehr zu unterscheiden, oder? 10. Oktober 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Daß unsere programmatischen Überzeugungen nicht harmonieren, wie Sie in Ihrem Brief von gestern nahelegen, habe auch ich immer vermutet, bestärkt durch mancherlei Hinweise, z.B. Ihre abschätzige Bewertung der Führung durch den Nomos implantierender Situationen. Ich halte den Verlust dieser Führung, die Zersetzung zuständlicher implantierender Situationen zu Gunsten aktueller Situationen und konstruierter Netze einzelner Normen (Konstellationen, wie ich sage), für eine schreckliche Verarmung des auf binnendiffuse Bedeutsamkeit, auf das Schöpfen aus ihr, angewiesenen Lebens. Ob das aber eine Wegweisung zurück ist? Rein zeitlich gesehen, in der Tat, weil diese Zersetzung in der Tat rasche Fortschritte macht, spätestens seit Auflösung der hochbürgerlichen, aus einer Verbindung der französischen Salonkultur mit der deutschen Bildungswelt der Goethezeit hervorgegangenen Gesellschaft. Nicht aber, wenn Weg-zurück ein statisches Ideal des Anhaltens von Entwicklungen und sogar von Umstürzen meint. Ich habe ja schon im Hitlerbuch das Konzept der implantierenden Situation deutlich von den konservativen Konzepten des sozialen Organismus oder Körpers abgehoben. Während die Glieder und Organe eines Körpers sich nur mit einander auseinandersetzen können (z.B. Herz und Lunge, wenn der kleine Blutkreislauf nicht mehr richtig funktioniert), kann sich die Person direkt mit der implantierenden Situation auseinandersetzen und diese eventuell durch Explikation in ihr latent vorhandener Inkonsistenzen aufbrechen (was in der bürgerlichen Gesellschaft vielfach und ergiebig geschah). Daher läßt das Konzept der implantierenden Situation der geschichtlichen Dynamik Spielraum. Auch kann die starke Persön-

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lichkeit, der starke Daimon von der Führung durch den Nomos einer implantierenden Situation noch mehr gestärkt werden, wenn er auch ohne solche Führung auskommt. In meinem vorigen Brief habe ich allerdings angedeutet, daß sich auch die Zersetzung implantierender Situationen eines Tages gelohnt haben könnte, wenn die Menschen nämlich lernen, sich ernstlich als Entlassene gemäß den Zeilen von Rilke zu fühlen, allein gelassen durch den Zusammenbruch der zuständlichen implantierenden Situationen, und die Unzulänglichkeit der Surrogate (soziales Netz usw.) durchschauen. Was ich mir davon verspreche, ist die Verzweiflung am auf Projektionen bauenden Leben, das heute schon zum Leerlauf des bloßen Verkehrs als Ideal (Reisen, Autofahren, Nachrichtentechnik) entartet ist. „Eisenbahnen, Dampfschiffe, Schnellposten und alle Facilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“ (Goethe) Wenn die Menschen sich ernstlich als Entlassene kennen lernten, könnten sie die Möglichkeit entdecken, gegenwärtiger zu werden, furchtlos offen für das, was jeweils im Augenblick möglich und nötig ist, ohne der Stützung des Lebenswillens durch utopische Aussichten zu bedürfen, freilich auch, ohne sich solche zu verbieten. Den Menschen, die in eine solche Lage kommen, Vorarbeit zu leisten für die Erschließung der Gegenwart als Dimension und das Lebenkönnen in ihr, ist das Ziel, in dessen Dienst mein Philosophieren steht. Dessen maßgebliche Widersacher finde ich nicht erst, wie Sie, in der Neuzeit, sondern schon im Altertum (Demokrit, Platon, der synoptische Jesus, Paulus, Augustinus). In welchem Maß unsere programmatischen Überzeugungen nun aber tatsächlich auseinanderlaufen, wage ich nicht abschließend zu beurteilen, weil mir nicht klar ist, worauf Sie hinauswollen. Sie verdecken das in Ihrem Brief durch die Behauptung von Zweideutigkeiten oder Mehrschichtigkeiten bei Ihren drei Helden LSR, ohne die Schichten, auf die es Ihnen ankommt, herauszupräparieren. Ich will Sie deshalb nicht tadeln; vielleicht brauchen Sie diese Unbestimmtheit, nur eine Knospe, einen Embryo (in Ihnen oder in der Menschheit) zu schauen, der nicht zu früh ans Licht gezogen werden darf. Aber solange Sie nicht sagen, worauf es Ihnen ankommt, können Sie auch nicht erwarten, daß Ihre Funde mit denen eines Anderen verglichen werden. Noch ein Wort zu den implantierenden Situationen: Ich halte nicht für ganz unmöglich, daß sie sich im engsten Rahmen wieder zu regenerieren beginnen. Ein Anzeichen könnte die spontane Tendenz zur Treue in den sogenannten Zweierbeziehungen sein – nicht eine durch fixe Programme, wie etwa lebenslange monogame Bindung, geregelte Treue, aber Treue im Sinne spontanen, formlosen Einverstandenseins mit dem Zusammengehören von Recht und Pflicht, worin ich den Schlüssel zur Bildung implan-

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tierender Situationen sehe (AHG 386), im Gegensatz zum heute herrschenden einseitigen Betonen der Menschenrechte, die jeder gegen alle Anderen ausspielt, so daß sich ein Krieg aller gegen alle ergibt, der mühsam durch den Waffenstillstand der freiheitlich-demokratischen Ordnung reguliert und in ständigen Reibungen abreagiert wird. Vielleicht müssen wir, statt auf die großen Prinzipien („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“), auf etwas bauen, das sich formlos und unscheinbar im kleinsten Rahmen zu bilden beginnt. 15. Oktober 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, in Ihrem letzten Brief schreiben Sie, Ihnen sei nicht klar, worauf ich hinauswolle; ich verdecke dies, indem ich Zweideutigkeiten und Mehrschichtigkeiten bei meinen Helden L, S, R behaupte, ohne das, worauf es mir ankommt, herauszupräparieren. Der Einwand ist berechtigt, wenn auch nicht in dieser Schärfe, denn das, worauf es mir ankommt, habe ich in meiner Aufsatzreihe „Die Negation des irrationalen Über-Ich … bei L / … bei S / … bei R“ zumindest holzschnittartig skizziert. Darin wird implizit alles als irrelevant ausgeblendet, was in der gängigen Literatur – natürlich auch zitatbelegt (s. Problem der Zweideutigkeit) – über L/S/R gesagt wird. – Wenn z.B. Sie, im Brief vom 5.10., Stirner als „trockenen, ehrlichen Nihilisten“ deutlich von dem „leichtsinnigen Marx“, dem „pseudonihilistischen Blender Nietzsche“ und dem „koketten Dandy Wittgenstein“ abheben, dann ist das zwar im Vergleich zu den meisten Urteilen über Stirner sehr wohlwollend. Aber – einmal abgesehen davon, dass ich Stirner nicht als Nihilisten sehe (s. Problem der Zweideutigkeit) – hier ergibt sich doch sofort die Frage, warum dann („Scharlatane“ wie) Marx, Nietzsche, Wittgenstein und andere „große Denker“ so eifrig zu ebendiesen stilisiert und gefeiert wurden und werden. Diese Frage erscheint mir die erste zu sein – und deshalb habe ich als erstes die, wie ich sie nenne, Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte Stirners erforscht und rekonstruiert. Das war „objektiv“ ein Paukenschlag – der dennoch ungehört blieb. Solange aber die Fachwelt sogar die präsentierten „harten Fakten“ ignoriert, sehe ich wenig Chancen, dass sie sich auf die so subtile wie brisante Sache einlässt. Ich vernehme zwar ab und zu vorsichtige Signale von (partiell oder punktuell) Sympathisierenden, aber von da bis zu einer öffentlichen Stellungnahme ist es ein langer Weg. Es gab bis jetzt nur eine Rezension einer meiner „Stirner-Studien“ (der Nr. 3, in der FAZ), und die war, wenngleich von einem Professor verfasst, auf wenig intelligente Weise kurz und betont beiläufig verreißend (während ein anderer, sogar sehr namhafter, Professor mir – allerdings privat – seine Anerkennung für das Buch aussprach). Kurz: ich kann nicht, wie Sie nahelegen, annehmen, dass meine Funde deshalb nicht „mit denen eines

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Anderen verglichen“ (= diskutiert?) werden können, weil ich nicht sage, worauf es mir ankommt. Die andere Frage, die Sie ansprechen, ist noch einmal die der „Führung durch den Nomos implantierender Situationen“. Habe ich diese wirklich „abschätzig“ beurteilt? Dann habe ich mich schlecht ausgedrückt. Ich meine schlicht, dass dieses Stadium der Menschheitsentwicklung der Vergangenheit angehört und seine Wiederherstellung weder möglich noch wünschenswert ist. Dabei teile ich weitgehend Ihre kritische Sicht auf den gegenwärtigen Zustand der progressiven „Zersetzung“, meine jedoch, dass dieser, wie alle vorhergehenden, offenbar und trivialerweise ein „notwendiger“ ist. Mein Denken und Schreiben – obwohl es freilich primär meinem eigenen mentalen Überleben in dieser Situation dient – ist darauf gerichtet, wie ich bereits einmal schrieb, zu zeigen, dass und aus welchen Gründen der Ausgang der Menschheit aus ihrer (nicht „selbstverschuldeten“) Unmündigkeit noch ein Ziel ist – und nicht bereits irgendwann, spätestens mit den militärischen „Siegen“ von 1945 und 1989 erreicht. Ich hoffe, diese Erläuterungen haben geholfen zu klären, ob unsere „programmatischen Überzeugungen“, wie Sie eingangs schrieben, nicht harmonieren, oder ob sie, wie Sie später bezweifelten, tatsächlich auseinanderlaufen. Was ist Ihnen an meiner Position noch unklar? 18. Oktober 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Im letzten Absatz Ihres Briefes vom 15. Oktober werfen Sie die beiden Fragen auf, 1. was mir an Ihrer Position noch unklar ist, 2. ob unsere „programmatischen Überzeugungen“ nur nicht harmonieren oder tatsächlich auseinanderlaufen. Zur ersten Frage: Abgesehen von kritischen und reduzierenden Leistungen, die Sie sich zuschreiben (Ausblendung irrelevanter Ansichten über LSR, Entlarvung vermeintlicher Scharlatane) geben Sie ein Ziel ihrer Arbeit nur mit einer einzigen Devise an: „Ausgang der Menschheit aus ihrer (nicht selbstverschuldeten) Unmündigkeit“. Es handelt sich um eine aus dem bürgerlichen Personenrecht entlehnte Metapher. Mündig im Rechtssinn ist ein Mensch im Besitz seiner vollen Geschäftsfähigkeit, d.h. der einer Normalperson als solcher (abgesehen von rechtlich privilegierten Sonderstellungen) maximal erreichbaren Verfügungsgewalt im Rahmen des rechtlich Zulässigen. Zum Begriff der Mündigkeit gehört also unerläßlich ein Rahmen des Zulässigen. Wie der nach meiner Ansicht im rechtlichen und metaphorisch über das Rechtliche hinaus erweiterten Sinn zu denken und zu wünschen ist, läßt sich aus meinen publizierten Arbeiten entnehmen; wie Sie darüber denken, weiß ich mir nicht zusammenzureimen. Sie plädieren dafür, den Spielraum

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beliebigen Verfügens für Individuen zu erweitern, nun gut; aber wo soll er Grenzen finden, oder empfehlen Sie hemmungslose Verfügungsgewalt des Einzelnen? Zur zweiten Frage: Daß unsere programmatischen Überzeugungen auseinanderlaufen, ist ja wohl klar, denn ich empfehle die Recreation implantierender Situationen, u.a. durch Wiederbelebung des Bewußtseins der Einheit von Recht und Pflicht, während Sie dieses Ziel als reaktionäre Nostalgie („nicht wünschenswert“) verwerfen. Die Frage kann nur sein, ob dieses Auseinanderlaufen definitiv (mathematisch gesprochen: monoton) ist, oder ob es Knicke geben kann, die die divergierenden Tendenzen mindestens partiell zusammenführen. Als solchen Knick könnte man vielleicht vermuten, was ich in meinem vorigen Brief über das Ideal der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart geschrieben habe, denn da geht es um eine Art von Souveränität, von Freikommen aus dem Druck des Jagens nach Projekten und Projektionen für den Lebenswillen, wofür der antike Weise Epikur – unter anderen, andersartigen – eine repräsentative Figur ist, und der hat vielleicht einige Züge mit Stirners Ideal gemein (namentlich die Furchtlosigkeit, den Angriff gegen Gängelung des Affektlebens durch religiöse und verwandte Vorurteile), während mir La Mettrie, von dem ich ganz wenig weiß, wie eine Epikur-Karikatur vorkommt. Verwahren möchte ich mich übrigens gegen die Abqualifikation von Marx, Nietzsche und Wittgenstein, wozu Ihnen vielleicht einige nicht sehr liebenswürdig klingende Charakterisierungen meines vorigen Briefes („leichtsinnig“, „pseudonihilistischer Blender“, „koketter Dandy“) die Hand gereicht haben. Allenfalls Marx halte ich für ein philosophisches Leichtgewicht. Nietzsche war nicht nur ein großer Stilist, sondern hat auch schöne und – was mehr sagt – tiefe Gedichte (z.B. in den Dionysos-Dithyramben) gemacht und sich große Verdienste um die Erneuerung des Ethos oder der Moral der Vornehmheit erworben; Wittgenstein ist gleichfalls ein vorzüglicher Stilist und sehr gut brauchbar als Gegengift gegen einen verknöcherten Psychologismus (in meinem Sinn des Wortes, z.B. bei Husserl). Welche gemeinschaftliche Bedeutung ich diesen Denkern (zusammen mit Stirner) zuschreibe, können Sie meinem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“, das Sie ja besitzen, entnehmen. 23. Oktober 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich habe aus Ihrem Brief vom 5.10. die „nicht sehr liebenswürdig klingenden“ Charakterisierungen von Marx, Nietzsche und Wittgenstein einerseits und die wohlwollend klingende von Stirner andererseits aufgegriffen, weil ich daran die zwar ins Auge springende, aber außer von mir von niemandem thematisierte Frage anschließen konnte, warum die Einen (der

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Leichtsinnige, der Blender, der Kokette) von der Philosophenzunft und den Kulturträgern im Allgemeinen gefeiert werden, der Andere (der Ehrliche) hingegen nach wie vor ein Paria ist. Warum ist es nicht umgekehrt? Eine dumme Frage? Eine „Kinderfrage“? Sie haben sich darauf nicht eingelassen. Stattdessen verwahrten Sie sich gegen die (wessen?) Abqualifikation von Marx, Nietzsche, Wittgenstein. Darauf kam es mir jedoch gar nicht an. Ich schätze, wie Sie, manches aus den Werken von Marx und Nietzsche (bei Wittgenstein fällt mir nichts ein). Aber alle schätzenswerten Details verblassen, wenn ich das Verhältnis Marx’ resp. Nietzsches zu Stirner betrachte. Welche Rolle Stirner bei der Entstehung ihrer ungemein populären Philosophien spielte, wissen Sie; dass Marx und Nietzsche in meiner Sicht die Leitfiguren bei der kollektiven Abwehr und Verdrängung der von Stirner aufgeworfenen Problematik waren, wissen Sie. Wie Sie dies beurteilen, weiß ich nicht. Solange aber diese Rolle Stirners nicht ernsthaft in Betracht gezogen wird, hat es, wie ich finde, wenig Sinn, die „Philosophie“, treffender wohl: Paraphilosophie (nicht „Nihilismus“), die ich als Kern des Stirner’schen Werkes erkenne, zu präsentieren (obwohl ich ihn in „Die Negation des irrationalen Über-Ichs …“ skizziert habe). Aber ich möchte mich hier nicht wiederholen. „Der Ausgang der Menschheit aus ihrer (nicht „selbstverschuldeten“) Unmündigkeit“ – ich habe mich dabei auf die oft herangezogene Kant’sche Phrase bezogen, nicht auf das bürgerliche Personenrecht, und wollte damit zweierlei andeuten: 1) dass ich die Rede (Kants) von der „Selbstverschuldung“ für unsinnig bzw. sinnlos halte; 2) dass ich, entgegen der verbreiteten Meinung, die „Aufklärung“ nicht für eine vollbrachte Kulturleistung halte, sondern für eine noch anzustrebende. Ich empfehle auch nicht, wie Sie nach dem Exkurs über Mündigkeit (rhetorisch?) fragen, „hemmungslose Verfügungsgewalt des Einzelnen“, wohl aber gehen meine Vorstellungen dahin, dass der „mündige“ Einzelne, wenn er je einmal Realität würde, ein Mensch ist, der nicht mehr Gefangener der ihm unbewusst introjizierten „Hemmungen“ ist. Das „Ziel einer Recreation implantierender Situationen“ – ich habe es nicht einfach „als reaktionäre Nostalgie verworfen“: ich habe es primär als nicht realisierbar eingeschätzt und (überflüssigerweise) hinzugefügt, dass ich es für nicht wünschenswert halte. Dabei betonte ich, dass ich die Zeiten, die Sie und ich und noch einige Generationen nach uns zu durchleben haben, als sehr kritisch ansehe. Ob die Entwicklung sich dem, mit Stirners Worten, Zeitalter der „Eigner“ annähern wird, vermag ich nicht zu sagen; ich halte es, wenn ich einmal postmortale Interessen simulieren darf, für wünschenswert. Das „Ideal der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart“ – das unterschreibe ich gern. Ebenso gilt auch mir Epikur als der Philosoph

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der Antike, der mir am sympathischsten ist. Epikur war auch der antike Favorit La Mettries, von dem Sie nebenbei bemerken, dass er Ihnen – obwohl Sie von ihm „ganz wenig“ wissen – wie eine Epikur-Karikatur vorkomme. Darf ich Ihnen ein Exemplar von La Mettries – kaum bekanntem – Hauptwerk, dem „Anti-Seneca“, schicken? 24. Oktober 2000 Sehr geehrter Herr Laska, auf die angebliche Benachteiligung Stirners im öffentlichen Ansehen gegen Nietzsche, Wittgenstein und Marx, worüber Sie sich in Ihrem Brief vom 23.10. abermals beschweren, bin ich bisher nicht eingegangen, weil ich so etwas nicht sehr wichtig nehme. Ich erinnere mich dabei auch an die noch ziemlich dürftige Rezeption meines Werkes, das nicht nur umfangreicher, sondern auch vielseitiger ist als das von Stirner. Man kann leicht Gründe dafür angeben, warum von ihm nicht so oft die Rede ist wie von jenen. Er präsentiert sich allzu trocken, farblos und monoton, um das Publikum zu fesseln; es fehlt das Schillernde, das zu ständigen Enträtselungsversuchen („Was meint er eigentlich?“) verlockt; in sein eher unheimliches Ideal des Einzigen, der sein’ Sach’ auf Nichts gestellt hat, können die Leute keine eigenen Wünsche hineinprojizieren, wie in Nietzsches und Marx’ Visionen, und keine eigenen Probleme, wie in die Verunsicherungen durch Wittgenstein und Sartre (denn Stirners Lösung für die seinen ist zu glatt und einfach für solche Projektionen). Übrigens finde ich gar nicht, daß er so schlecht weggekommen wäre. Nach seinem bürgerlichen Scheitern und ca. 50 Jahren Vergessenheit setzt mit Mackay und anderen Schilderhebern (wie Hans v. Bülow) eine Stirner-Renaissance ein, der wir mindestens die bis heute lieferbare Reclamausgabe verdanken, und Stirner ist im Bildungsbewußtsein durchaus gegenwärtig, so daß ich ihn nicht zu entdecken brauchte (so wenig wie Sie), sondern ihn nur in die Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses seit Fichte einzuordnen hatte. Die ärgste Ungerechtigkeit der Stirner-Rezeption finde ich darin, daß man ihn (im Gegensatz zu Nietzsche) nicht als den archetypischen philosophischen Nihilisten gewürdigt hat, worüber sich schon Dieter Arendt wunderte, siehe „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 309 Anm. 955. Hier sind wir verschiedener Meinung; Sie lassen Stirner nicht als Nihilisten gelten. Vielleicht ist das keine Sach- sondern nur eine Definitionsfrage. Ich verwerfe Nietzsches Definition des Nihilismus durch die Merkmale, daß die obersten Werte sich entwerten und Gott tot ist. Dann wären nämlich auch die heidnischen alten Griechen Nihilisten gewesen, weil sie keine obersten Werte hatten – ihre Götter lagen mit einander im Streit, wie z.B. die Orestie und Euripides’ Hippolytos zeigen – und der Mono-Gott, so etwas wie der christliche Gott, gar nicht im Volk lebte, sondern nur im Privatglauben und der Spekulation von Dichtern und Philosophen vorkam,

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aber bei ihnen kommt Weltschmerz kaum vor. Ich verstehe Nihilismus als die rezessive Entfremdung der Subjektivität (nach dem Hitlerbuch die ironistische Verfehlung des abendländischen Geistes), die dadurch zu Stande kommt, daß alle Tatsachen für objektiv (im Sinn meiner Definition) gehalten werden, obwohl schon entdeckt ist, daß bei diesen nicht untergebracht werden kann, daß es sich bei etwas um mich selber handelt, so daß ich (als Blankettfigur für jeden) in der Welt, die nach Wittgenstein alles ist, was der Fall – nämlich das Bestehen von objektiven oder neutralen Tatsachen – ist, keinen Platz mehr habe, wie Wittgenstein im „Tractatus“ 5. 631 (zitiert in „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 347) schön ausmalt, und ich für mich selber nichts Bestimmbares mehr bin, hinter einer vielschichtigen Bastion von Masken. (Deswegen wird die Selbstbesinnung der Philosophen zur Selbstdarstellung, daher der Titel meines Buches.) So hat Jacobi den Nihilismus eingeführt (ebd. S. 71f.), so hat Fichte ihn übernommen, und so wird er in Fichtes Gefolge breit ausgemalt in den „Nachtwachen“ des Bonaventura. Während die Existenzialisten nach Ausklang des Schwärmens romantischer Wendigkeit in Katzenjammer darauf mit (Kierkegaard’scher) Angst reagieren, stellt Stirner furchtlos seine Sache auf das Nichts eigener Unbestimmbarkeit und Uneinordenbarkeit. Das ist in meinen Augen eine großartige Herausforderung, aber nicht mehr. Ihr an Stirner sich anschließendes Ideal ist mir weiterhin unklar, da Sie der Beantwortung meines auf Ihre Anfrage hin unternommenen Versuchs, die Unklarheit an Hand Ihrer Metapher der (Un-)Mündigkeit zu präzisieren, ausgewichen sind. Sie lehnen den Bezug auf den juristischen Mündigkeitsbegriff ab und berufen sich statt dessen auf Kants Formulierung, die selbstverständlich auch auf den Rechtsbegriff zurückgeht. Kant definiert, ohne diesen selbstverständlichen Ursprung der Metapher zu erwähnen, in seinem Aufsatz die Unmündigkeit als Unfähigkeit, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Aber das meinen Sie ja auch nicht, denn Mündigkeit in diesem Sinn wäre lediglich eine Verstandesleistung, während Sie offenbar eine Befreiung der ganzen Persönlichkeit, einschließlich des Fühlens und Wollens, im Sinn haben. Ich habe also keinen Anhaltspunkt dafür, was Sie unter „Mündigkeit“ verstehen. Sie erläutern das mit dem Wunsch, daß der Mensch „nicht mehr Gefangener der ihm unbewußt introjizierten ‚Hemmungen‘ ist“. D’accord, wenn Sie Introjektion so wie ich verstehen, denn die bekämpfe ich in jeder Gestalt. Aber daran schließt sich doch ganz natürlich die Frage, ob Sie hemmungslose Beliebigkeit intendieren, oder wo andernfalls die Hemmungen bleiben sollen. Das ist also keine rhetorische Frage. Über den Anti-Seneca von La Mettrie würde ich mich schon freuen, obwohl ich Ihnen gar nicht voraussagen kann, wann ich zur Lektüre kommen würde. Aber schon der Titel reizt mich. Ich kann Seneca nicht leiden.

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28. Oktober 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, bei den Themen, die wir erörtern, ist es leicht möglich, sich in (z.B. definitorischen) Details zu verzetteln, die aber letztlich doch keine weitere Klarheit bringen. Wenn Sie den Eindruck haben, ich sei einer Präzisierung meiner Metapher der (Un-)Mündigkeit „ausgewichen“, möchte ich das zwar nicht bestätigen, aber doch mein Genügen darüber mitteilen, dass Sie meinen Worten so viel entnommen haben, dass ich dabei an „eine Befreiung der ganzen Persönlichkeit, einschließlich des Fühlens und Wollens“ denke – wobei, wie beim „starken Daimon“, die Frage „Bin ich mündig?“ bzw. „Bin ich im gemeinten Sinne frei?“ auftaucht usw. („Ich“ wiederum – besten Dank für die terminologische Hilfestellung im letzten Brief – als Blankettfigur für jeden). Nach meinem Dafürhalten sind wir damit wieder bei Stirner: Der „Eigner“ ist der „Mündige“. Wie ein Eigner konkret entsteht resp. approximiert werden kann – und dass eine Welt/ein „Verein“ aus Eignern das Ideal, die Utopie, des vermeintlichen Nihilisten Stirner ist – habe ich in großen Zügen gezeigt. Ad Stirner – wenn Sie schreiben, ich hätte mich über die „angebliche Benachteiligung“ Stirners gegenüber Marx/Nietzsche/Wittgenstein „abermals“ „beschwert“, dann fühle ich mich arg missverstanden. Sie scheinen mir einfach nicht glauben zu können, dass es mir nicht um „Gerechtigkeit für Stirner“ geht, nicht um Rehabilitation oder ähnliches. Mir geht/ginge es um – viel, viel mehr. „Geht“ steht hier für das, was meine Funde für mich, für mein Leben, bedeuten. „Ginge“ steht dafür, dass ich zwar an die Folgenschwere meiner Funde glaube, nicht aber daran, dass der philosophische Betrieb solcherart Schriften, dazu die eines Branchenfremden, auch nur zur Kenntnis nehmen wird. Falls der eine oder andere professionelle Philosoph sich doch einmal auf sie einlässt, wird er leicht Gründe finden, mögliche Irritationen zu besänftigen. Das klingt nach Resignation. Mein Lebensgefühl ist aber keineswegs so – im Gegenteil … Dies bringt mich zu einem Punkt, der gewiss nicht ohne Belang ist in einem Austausch über philosophische Fragen (insbesondere nicht in unserem Fall, wo es, wie mir scheint, nicht um Themen geht, für die man auch auf irgendein Lehrbuch verweisen könnte): meine Herkunft, Ausbildung und Entwicklung. Ein paar (Stich-)Worte dazu bin ich Ihnen wohl schuldig. Geboren 1943 in Berlin; Vater Schlosser; Volksschule; gute Noten, wollte aber nicht auf’s Gymnasium; Lehre als technischer Zeichner; dann (doch) weiter auf die Abendschule, Ingenieurschule, Technische Hochschule (Dipl.-Ing.); keine Ausbildung zum Soldaten, während des TH-Studiums Bekanntschaft mit Schriften des Psychoanalytikers Wilhelm Reich; er begeisterte mich, obwohl ich wenig wirklich beurteilen konnte; ich spürte dennoch: der Mann hat recht; aber worin und warum?; ich blieb am Ball, freilich stets als Nicht-Profi, als einer, der nicht einmal, wie die

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meisten Reichianer, eine Reich’sche Therapie anstrebte; 1980 schrieb ich die Rowohlt-Monographie über Reich, betonte seinen Gegensatz zu Freud; ein Freund wies auf Ähnlichkeiten zu Stirner hin, was ich nach einigem Zögern nicht nur anerkannte, sondern auch zu besserem Verständnis beider nutzte; gezielte philosophische Lektüre bestärkte mich in der Auffassung von der Singularität (und „Richtigkeit“) meiner bzw. der Reich/Stirner’schen Position; 1982 beschrieb Kondylis La Mettrie als den „konsequentesten Nihilisten“ des 18. Jahrhunderts; ich ahnte, was daran falsch war und was richtig, versenkte mich in La Mettrie; auch er war „mein Mann“; ich übersetzte und verlegte ihn (1985–87); mir war jetzt klar, worum es ging: mein LSR-Projekt war geboren. – Sie werden fragen: Was macht ihn, den Laien, allenfalls Hobbyphilosophen, so sicher gegen Legionen von Fachleuten? Das frage ich mich auch – manchmal, wenn ich bedenke, dass „ich“ doch eine „Blankettfigur für jeden“ bin/sein könnte … 30. Oktober 2000 Sehr geehrter Herr Laska, wenn ich Ihnen nachsage, daß Sie einer Präzisierung „ausweichen“, will ich Sie nicht verfolgen und partout zu einer Auskunft zwingen, wohl aber eine Schranke anzeigen, an der ich mit meinem Verständnis Ihres Zukunftsideals Halt machen muß. Was mag das für eine Aufklärung sein, die Sie (mit eigener und fremder Anstrengung) den Menschen bescheren wollen? Sie berufen sich auf Kant, der seinen einschlägigen Aufsatz so beginnt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Ich habe Sie schon darauf hingewiesen, daß sich diese Definition nicht auf eine „Befreiung des ganzen Menschen, einschließlich des Fühlens und Wollens“, die Ihnen doch nach Ihrem – meine eben zitierte Wortfolge wiederholenden – Bekenntnis in Ihrem Brief vom 28.10. vorschwebt, übertragen läßt. Sich seines Fühlens zu bedienen, das wäre so etwas wie das Meisterstück des „freien Geistes“ bei Nietzsche, der „seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie setzen, wie auf Pferde, oft wie auf Esel“ will. (Ich habe Ihnen diese Stelle, zitiert in meinem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 150, kürzlich schon vorgehalten.) Davon kann ich nur abraten, das ist das possessorische Mißverständnis der Gefühle im Sinne meines Briefes an Dr. Fuchs, unechte Verstiegenheit, die zusammenbricht, wenn es ernst wird – wie Nietzsche selbst erfahren mußte, als er mit Entsetzen merkte, daß er in der Maske des freien Geistes der geliebten Lou keineswegs paßte, siehe a.a.O. S. 180. Und was soll es heißen, sich seines Wollens zu bedienen? Wollen besteht zunächst darin, zu wissen, was man will, d.h. sich in den programmatischen Anteilen der eigenen zuständlichen persönlichen Situation zurechtzufinden, und weiter darin, den auf dieser Grund-

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lage geläufig explizierten Programmen den vitalen Antrieb zuzuwenden, siehe „Der Spielraum der Gegenwart“ S. 116–119. Das ist eine glückliche Begabung, ein Können, das man ausüben und dem man vertrauen kann, aber es geht schief, wenn man sich zum Meister der eigenen Meisterschaft in der Lebensführung machen will. Man darf das eigene Können nicht verkünsteln wollen, das rächt sich. Ich weiß also nicht, wie der aufgeklärte Mensch nach LSR aussehen soll. Das werfe ich Ihnen nicht vor. Was Ihnen vorschwebt, ist so etwas wie das, was ich etwas prosaisch „Standpunkt“ genannt habe („Das Göttliche und der Raum“ S. 417–421 und seither öfter), wobei ich aber nicht an zu einzelnen Maximen vertrocknete Standpunkte denke: eine partielle Situation in einer persönlichen oder gemeinsamen Situation, bestehend aus allgemein anwendbaren Sachverhalten (Überzeugungen), Programmen (Forderungen, Wünschen) und Problemen (wunde Punkte, dunkle Stellen), die unter sich ganzheitlich zusammenhängen und nach außen abgehoben sind, aber nicht sämtlich das Maß von Einzelheit besitzen, das dazu gehören würde, sie explizit zu formulieren. Solche Standpunkte können enorm produktiv und stabilisierend wirken; denken Sie nur an die Geschichte des Christentums. Der Versuch, sie in ein Glaubensbekenntnis oder Parteiprogramm umzusetzen, pflegt hinter dem Gemeinten und Gelebten zurückzubleiben, aber die Explikationsaufgabe bleibt. Die haben Sie auch für Ihre Vision, man darf nur nicht verlangen, daß Sie sie sofort und restlos erfüllen. Sie scheinen dafür den Umweg über die Abspiegelung Ihrer Helden in der jeweils gestörten Rezeptionsgeschichte zu bevorzugen; ich sehe nicht, wie Sie damit die direkte Befragung der Vorbilder oder des eigenen Standpunktes ersetzen könnten, aber vielleicht haben Sie ja Erfolg. Jedenfalls brauchen Sie sich als Selfmademan, der sich seinen Weg selbst gebahnt und befestigt hat, von den Zaunkönigen auf Lehrstühlen für Philosophie nicht imponieren zu lassen. 3. November 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, die „Zaunkönige auf den Lehrstühlen“ imponieren mir nicht, nein; aber ich kann sie gleichwohl nicht achselzuckend ignorieren. Ich stehe natürlich vor der Frage, warum die Entdeckung, die ich gemacht habe, jedenfalls gemacht zu haben ernsthaft glaube, nicht schon längst von jemandem gemacht worden ist, der mir an Wissen, Intelligenz und sonstigen Ressourcen weit überlegen ist. Oder anders gewendet: welche Fähigkeit habe ich, die es gerade mir ermöglicht hat, diese Entdeckung zu machen? Als Gravamen kommt hinzu, dass ich meine, diese Entdeckung sei nicht nur irgendeine, nicht irgendein peripherer „Beitrag zur Geschichte der Philosophie“, sondern, zumindest potentiell, der Fund des gleichsam „archimedischen Punktes“, an dem anzusetzen sei, um … Und es kommt hinzu, dass

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es kaum jemanden gibt, der sich für meine Entdeckung interessiert bzw. der ihr, nachdem er sie zur Kenntnis genommen hat, die Bedeutung beimisst, die sie in meinen Augen hat. Schulterklopfen und ein herzhaftes „Weiter so!“ sind gut gemeinte, aber für mein Gefühl inadäquate Reaktionen. Ich bin sicher, Sie werden dies nicht als Gejammer oder Betteln um Anerkennung (miss-)verstehen. Ich habe zwar in einem früheren Brief die berühmte Kant’sche Wendung über die „Aufklärung“ gebraucht, aber nur in einem sehr lockeren Zusammenhang, eigentlich nur, um zu sagen, dass ich meine, die Menschheit habe, entgegen ihrer dünkelhaften Meinung, den „Ausgang aus der Unmündigkeit“ nicht hinter sich (etwa durch halbherzige Säkularisierung oder gar die Etablierung von „Demokratie“). Ich berufe mich aber nicht, wie Sie am 30.10. unterstellen, auf Kant. – Ebenso habe ich, in der Absicht einer vorläufigen bzw. annähernden Verständigung, Ihre Wortfolge „Befreiung des ganzen Menschen, einschließlich des Fühlens und Wollens“ übernommen, um meine „Vision“ u.a. von der Kant’schen zu unterscheiden. Ich meine nicht, damit etwas Präzises gesagt zu haben, aber Sie gehen sicher fehl in Ihrer Vermutung, ich sei dabei dem „possessorischen Missverständnis der Gefühle“ zum Opfer gefallen. Sie fragen: „Was soll es heißen, sich seines Wollens zu bedienen?“ Als hätte ich eine solche Frage jemals implizit oder explizit aufgeworfen. Sie sagen, Sie wüssten noch immer nicht, welche Aufklärung ich den Menschen bescheren wolle, wie der aufgeklärte Mensch nach LSR aussehen solle; die Explikationsaufgabe für meine Vision bleibe mir nicht erspart. Zugleich räumen Sie ein, man dürfe nicht verlangen, dass ich sie sofort und restlos zu erfüllen habe. Eben! Das meine ich auch. Allerdings meine ich nicht, dass mein „Weg“, also zunächst die außerordentlichen und „verdrängten“ „Verdrängungsreaktionen“ vieler als groß anerkannter Denker auf meine Helden herauszupräparieren, wie Sie schreiben, ein Umweg ist. Ob ich auf diesem (Um-)weg Erfolg haben werde, was Sie nicht ausschließen wollen? In einer mir wesentlichen Hinsicht hatte ich ihn bereits. Eine ernsthafte Rezeption meiner Funde werde ich natürlich nicht verschmähen. Aber vielleicht werde ich sehr alt werden müssen, um sie zu erleben. PS: La Mettries „Anti-Seneca“ ist auf dem Weg; Ihr Urteil würde mich natürlich interessieren. 8. November 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Ihr Brief vom 3. November weist darauf hin, daß wir über den „Reifegrad“ Ihres LSR-Projektes einig sind. Es handelt sich um eine (zuständliche) Situation in meinem Sinn, eine Ihnen ganzheitlich vorschwebende, aber binnendiffuse, der Explikation bedürftige Bedeutsamkeit. Solange die Explikation nicht weiter fortgeschritten ist, kann der Außenstehende, wie

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ich, kein Urteil dazu abgeben, weil er nicht hinlänglich versteht, was gemeint ist. Mir wird das auch nicht leichter durch Ihre verlegerisch vorzüglich ausgestattete, mir von Ihnen mit freundlicher Widmung geschenkte Übersetzung des Traktats von La Mettrie „Über das Glück“. Der Verfasser steht in meinen Augen tief unter Stirner. Dieser ist mir interessant, weil er die Entdeckung der Subjektivität der subjektiven Tatsachen durch Fichte und die Frühromantik (daß alles, wobei es sich um mich selber handelt, außerhalb der objektiven Tatsachen liegt, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann) rezipiert hat und daraus für die Lebensführung ganz entschiedene Folgerungen zieht, die deshalb so kraß ausfallen, weil er sich dieser Subjektivität ebenso wie seine Vorläufer in der Entfaltung dieses Themas (auch Fichte) auf dem Weg über rezessive Entfremdung – Rückzug von den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen – zu nähern sucht. Wohlgemerkt, das ist meine Stirner-Deutung, Sie sehen das anders. Aber nun La Mettrie: Der ist auf ödeste Weise konventionell, befangen in der überlieferten Eudämonismus-Diskussion und auch noch in deren flachem Ausläufer, der neuzeitlichen Mißdeutung des ganzheitlichen aristotelischen Eudämonie-Ideals durch Umdeutung der „Glückseligkeit“ in eine Serie einzelner Vergnügungen und Erfolgserlebnisse (Leibniz, Kant). Wenn Sie das Gemeinte näher kennen lernen wollen, empfehle ich Ihnen, in meinem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“, das Sie ja haben, die Seiten 115–121 nachzusehen. Der Mensch, der sein Glück auf solche Weise sucht, also nicht im Dienst einer ihn erfüllenden Aufgabe (und sei es die Pindar’sche Devise: „Werde, lernend, von welcher Art du bist“), muß verzweifeln wie der antike Hedoniker, der aus Alexandria ausgewiesen wurde, weil er gar zu viele Hörer seiner Vorträge zur Selbsttötung überredete, der in dem Büchlein mehrfach erwähnte Hegesias (oder mit Verzweiflung großtun wie Schopenhauer). Auch die platte Ablehnung von Schuldgefühlen oder Gewissensbissen (remords) durch La Mettrie führt nicht weiter. Wie viel tiefer sieht da der auf diesem Gebiet geniale Nietzsche („Zur Genealogie der Moral“, Zweite und Dritte Abhandlung), übrigens ein Nachzügler La Mettries in der Verkündung menschlicher Unverantwortlichkeit (aber auf höherem Niveau)! Ganz so vernichtend soll mein Urteil über diesen aber doch nicht bleiben. In meiner Moraltheorie (vgl. „Der unerschöpfliche Gegenstand“ S. 343–351) führe ich die für jemand verbindliche Geltung moralischer Normen auf die Autorität mit unbedingtem Ernst zurück, die für ihn spezielle Gewissensgefühle (in meinem Sinn der Rede von Gefühl) besitzen. Es gibt eine moralische Schüchternheit, sich nicht mit Mobilisierung der Reserven personaler Emanzipation an diese Autorität heranzutrauen und dennoch den unbedingten Ernst mit bedingtem, über den man sich sehr wohl erheben könnte, zu verwechseln. Diese Schüchternheit ist eine Feigheit und kann ein Laster, eine Verschuldung sein. Das Erfrischende an La Mettrie ist für mich, daß er zum Mut des

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kritischen Angriffs auf die Moral ruft; wie weit diese den Angriff besteht, muß sich im Gefühl zeigen. 13. November 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, was Sie am 8.11. zu meinem Brief vom 3.11. schreiben, klingt fast ein wenig wie eine psychiatrische Diagnose: „Es handelt sich um eine (zuständliche) Situation …, eine Ihnen ganzheitlich vorschwebende, aber binnendiffuse, der Explikation bedürftige Bedeutsamkeit.“ Der Außenstehende, in diesem Falle H.S., könne mangels bisher nur unzulänglicher Explikation nicht verstehen, was gemeint sei. Auch meine Schätzung La Mettries, den Sie tief unter Stirner plazieren und – dies sogar in seinem originellsten und am geschmähtesten Werk – als auf ödeste Weise konventionell empfinden, erleichtere Ihnen den Zugang zum Verständnis nicht. Da brauche ich Ihnen mit Reich, meinem dritten „Helden“, gar nicht erst zu kommen. Hmmm. Nun stehe ich nicht an zuzugeben, dass ich Vieles bei La Mettrie – ebenso wie bei Stirner und erst Recht bei Reich – nicht unterschreiben würde, sei es, weil ich es als falsch, abwegig, widersprüchlich oder sonstwie inakzeptabel empfinde, sei es, weil ich es nicht zu beurteilen vermag. Ich „verzeihe“ den Dreien jedoch fast Alles, und zwar, weil sie trotzdem eine bestimmte „Haltung“ (vielleicht auch eine wenig explizierte, der meinen jedoch sehr ähnliche „binnendiffuse Bedeutsamkeit“?) zum Ausdruck bringen, die ich bei anderen Autoren nicht wahrgenommen habe und derentwegen sie, wie ich meine, zu Lebzeiten in polemische Positionen gedrängt wurden, aus denen heraus sie Texte verfassten, die ich entsprechend zu bewerten weiß. Ich sehe auch, dass L, S, R jene „Haltung“ nicht rein verkörperten, aber bei ihnen allein ist sie überhaupt zu finden. Das nur kurz, obwohl ich nicht annehme, dass damit Ihre obige „Diagnose“ zu korrigieren ist. Ich bin Ihren Lektürehinweisen nachgegangen, fand dort aber nichts, was wirklich getroffen hätte. Insbesondere die Kapitel aus Nietzsches „Genealogie der Moral“ (II, III) kann ich nicht als Belege dafür ansehen, dass Nietzsche hier tief sähe oder genial sei; eher noch ließe sich an Hand dieser Texte meine generelle These illustrieren, dass der wahrscheinlich tiefste und wesentliche Antrieb für Nietzsches Philosophieren aus dem Schock seiner Begegnung mit Stirners „Einzigem“ (wahrscheinlich Anfang Okt. 1865 bei Eduard Mushacke; daraufhin erst einmal panikartige „Flucht zu Schopenhauer“ …) resultierte. Was Nietzsche, beispielsweise, in II, § 16, über den Ursprung des „schlechten Gewissens“ schreibt, oder am Ende von II, § 20 über den Sieg des Atheismus und dessen Folgen, finde nun ich wiederum als „platt“ (dies war Ihr Urteil über La Mettries Auffassung zum Schuldgefühl, die m.E. der von Stirner sehr nahe ist). Ihr Buch „Der unerschöpfliche Gegenstand“, auf das Sie wegen Ihrer Moraltheorie verweisen

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(S. 343–351), konnte ich noch nicht einsehen; ich will es mir kommen lassen und ggf. später darauf zurückkommen. Noch ein Wort zur Explikation meiner Position. Ich will deren Unfertigkeit nicht bestreiten, denke aber doch, dass meine drei Artikel „Die Negation des irrationalen Über-Ich bei …“ (… L, … S, … R) nicht allzu unverständlich sind, und meine Ausführungen (in der Buchreihe „StirnerStudien“ und in einigen Artikeln) über die Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte des „Einzigen“ erst recht nicht. Dies meine ich insbesondere in Hinblick auf das, was sonst in philosophischen Zeitschriften und Büchern geboten wird. Natürlich muss ich akzeptieren, dass man sich einer Kenntnisnahme meiner Arbeiten oder eines Urteils über sie enthält (und die Frage, warum – auch – in der Welt der Philosophie der Leichtsinnige, der Blender, der Dandy gefeiert, der Ehrliche dagegen ignoriert oder diffamiert wird, für nebensächlich hält); das allein überzeugt mich aber nicht von ihrer Unverständlichkeit oder Irrelevanz. 14. November 2000 Sehr geehrter Herr Laska, trösten Sie sich bitte über meine Charakterisierung des Reifegrades Ihrer Idee oder Vision, die auf Sie „ein wenig“ wie eine psychiatrische Diagnose wirkt, mit den schönen Bemerkungen von Kant im letzten Kapitel „Die Architektonik der reinen Vernunft“ seiner „Kritik der reinen Vernunft“ (A 834f. B 862f.) über den fruchtbaren Keim, der am Anfang jeder Wissenschaft stehe. Ich bespreche die Stelle in meinem Buch „Was wollte Kant?“ (Bonn 1989) auf S. 349–351 und zitiere in diesem Zusammenhang auch einen Satz von Jaspers, der gleichfalls auf Sie paßt: „Man kann Ideen nicht anders erfassen, als nur dadurch, daß man in ihnen lebt.“ Wenn ein intelligenter Mensch sich hartnäckig und sorgfältig einer Idee verschreibt, ist es interessant, zu sehen, was daraus wird. Was mich in diesem Fall bei (keineswegs übelwollender) ἐποχη festhält, ist besonders der Umstand, daß ich darin so wenig Sicherungen gegen die Flachheiten des heute so beliebten „emanzipatorischen Kurzschlusses“ entdecke, gegen die leichtfertigen Ideale von 1968, als Reich Hochkonjunktur hatte. Aber die Parallelität zwischen L, S und R leuchtet mir ein: In allen drei Fällen werden krasse Radikale abgewürgt durch Revolutionäre in gleicher Richtung, die allerdings nicht ganz so einfach und unverstellt denken, sondern mit mehr Kompliziertheit oder Gegentendenz beim Publikum besser ankommen (La Mettrie-Diderot, Stirner-Nietzsche, Reich-Freud; man könnte BabeufMarx hinzunehmen). Übrigens hängt die Feststellung, daß Nietzsche Stirner gelesen hat, am dünnen Faden einer indirekten Überlieferung über Baumgarten und (den sehr glaubwürdigen) Overbeck. Mich brauchen Sie nicht zu überzeugen, ich habe Nietzsche ja sogar des Plagiats an Stirner

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(wegen des Zusatzes „Wir haben ihn getötet“ zu der Behauptung „Gott ist tot“) verdächtigt. Vom 16.–24.11 werde ich zu Vorträgen u.a. unterwegs sein. 20. November 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, ja, Sie haben sicher recht: es ist interessant zu sehen, was daraus wird, wenn sich jemand so ganz „einer Idee verschreibt“, im Sinne Ihres JaspersZitates in ihr lebt, noch dazu, wenn diese Idee eine eigene, originäre und originelle ist – was man in unserer geistesmüden Zeit eigentlich kaum noch für möglich hält (in der gleichwohl eine „Philosophie-Industrie“ floriert, die alles bisherige überbietet). Derjenige stellt sich natürlich auch die Frage nach seiner „Stellung in der (geistigen) Welt“, was freilich primär nicht im Sinne seines Ansehens unter Fachkollegen zu verstehen ist. Aber darüber ist nicht leicht zu reden in brieflicher Distanz. Besser beredbar ist das, „was daraus wird“, also vorerst die direkt aus jener Idee entsprungenen rezeptionsgeschichtlichen Studien. Dass Ihnen die Parallelität von L, S, R einleuchtet, freut mich. Diderot, Nietzsche, Freud kämen beim Publikum besser an; sie dächten nicht ganz so einfach und unverstellt wie L, S, R, sondern mit mehr Kompliziertheit und Gegentendenz. (Was ist nun „besser“?) Krasse Radikale seien abgewürgt worden durch Revolutionäre in gleicher Richtung (die Richtung wirft allerdings Fragen auf. War sie wirklich gleich? Abwürgen nur aus taktischen Gründen?) Ich möchte dem hinzufügen, dass ich die Methode des Abwürgens für außerordentlich wichtig zum Verständnis des geistesgeschichtlichen Vorgangs ansehe – zuletzt auch noch den Befund, dass L, S, R durch gegenläufige Tendenzen in ihren Werken selbst zu diesem Abwürgen beigetragen haben. Trotzdem: nur bei ihnen finde ich überhaupt den Kern meiner „Idee“ (dem – eigenen – Einwand, das könne mir nur so erscheinen, weil ich den reichen Schatz abendländischer Geistestradition nicht genügend kenne, begegne ich mit dem Hinweis auf meine gute „Nase“). Sie nennen ergänzend zu L-D, S-N, R-F noch das Paar Babeuf-Marx, wobei Sie wahrscheinlich mehr an den (mir als nachrangig erscheinenden) Kommunismus denken. Ich sehe in Marx indes das Paradebeispiel für jene „Abwürgung“ Stirners (Marx’ „historischer Materialismus“ entstand gut belegbar als unmittelbare Reaktion auf Stirner). Um dies zu erläutern, lege ich Ihnen einen Artikel bei, den ich vor kurzem für ein Stirner-Blatt (bzw. -Blättchen) geschrieben habe. Und da wir gerade dabei sind – und Sie den „dünnen Faden“ erwähnten, an dem die These von Nietzsches StirnerKenntnis hängt –, lege ich Ihnen auch noch die Fortsetzung des eben genannten Artikels bei, in der ich – wie im Marx-Teil auch – in holzschnittartiger Skizze darstelle, was ich, angereichert mit dokumentarischem Ma-

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terial, im nächsten Jahr in der Reihe „Stirner-Studien“ zu publizieren gedenke (sozusagen als „Amplifikation“ wichtiger Kapitel aus „Ein dauerhafter Dissident“, ähnlich wie über Carl Schmitt und Ernst Jünger). – Ich hoffe nur, dass Sie sich mit diesen Lektüreangeboten nicht überschüttet vorkommen. Sie vermissen in meiner „Idee“ Sicherungen gegen die Flachheiten des „emanzipatorischen Kurzschlusses“, gegen die leichtfertigen Ideale von 1968, als Reich Hochkonjunktur gehabt habe. – Tatsächlich begann meine Idee, wie ich Ihnen schrieb, damals zu keimen, jedoch – gegen die damalige Rezeption Reichs. Über seine „Hochkonjunktur“ gäbe es Vieles zu sagen, ebenso über die sonstigen Rezeptionen Reichs und über Reichs Entwicklung insgesamt. Einiges dazu habe ich publiziert. Hier kurz nur soviel: ich glaube, dass Freud der vielleicht Einzige war, der, mehr noch als Reich selbst, spürte, welches Potential im „Ansatz“ seines Schülers steckte. Charakteristisch – nicht nur für Freud, sondern für die Reaktion auf jene, von mir aufgespürte „Idee“ – war, dass Freud (wie Voltaire/Diderot et al. vs. La Mettrie; wie Marx/Nietzsche et al. vs. Stirner) Reich eben deshalb keines Argumentes würdigte, sondern ihn intrigant und effektiv „wie ein Machtpolitiker“ erledigte, ihn zur Unperson machte. Letzteres ging natürlich nur, weil er, wie auch die anderen populären Aufklärer, dem großen Publikum entgegenkam. – „Wahrheit oder Mehrheit?“ … (Grob, vorläufig und ins Unreine gesprochen.) Zu den „Sicherungen“: Meinen Sie, man solle so schreiben, dass keine Gefahr erwüchse, wenn „Alle“ die dargestellte Idee verständen und aus ihrem Geiste handelten? D’accord. Oder meinen Sie, man solle – was vielleicht bei denen, die L, S, R „abwürgten“, motivierend mitwirkte – „das Volk“ vor gewissen Gedanken bewahren? 27. November 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Ihren Brief vom 20. November fand ich am 24. spät abends bei der Rückkehr von einer Reise. Die reichhaltigen Beilagen zu der Stirner-Marxund Stirner-Nietzsche-Rezeption habe ich gerade mit Interesse gelesen. Es ist gut und nützlich, daß das Ausweichen vor Stirner bei der Beschäftigung mit Beiden so sorgfältig dokumentiert wird. Nietzsche betreffend, haben mich Ihre Angaben zu dessen v. Hartmann-Kritik und zu Mushacke interessiert. Darüber hinaus sind mir zwei Dinge aufgefallen, die mich befremden. Am Ende des Nietzsche-Aufsatzes wird Stirner die Eröffnung der Möglichkeit zugeschrieben, „das seit Jahrtausenden vergeblich beackerte Feld der ‚Philosophie‘ zu verlassen, ohne geistlos zu werden“. Verkündigungen des Endes der Philosophie sind heute nichts Neues (vgl. Heidegger „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens“, in: ders., Zur Sache des Denkens, dazu am Ende des Vorwortes meines Buches „Husserl und Heidegger, S. XI). Solche Reden haben nicht viel Sinn, solange man

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nicht präzis sagt, was man unter „Philosophie“ versteht. Was mich betrifft, kann ich nur wieder und wieder meine Definition wiederholen: Philosophie ist Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in der Umgebung (breit amplifiziert sowohl am Anfang von Band I meines Werkes „System der Philosophie“ als auch von „Der unerschöpfliche Gegenstand“). Ich glaube nicht, daß Philosophie in diesem Sinne durch Stirner zum Ende kommen wird, es sei denn, die Menschheit würde zu einem bedenkenlos durch homogene Impulse gesteuerten Block, und das werden Sie sich kaum von Stirner erhoffen. Auch würde ich nicht sagen wollen, daß das Feld der Philosophie seit Jahrtausenden vergeblich beackert worden sei. Die europäische Philosophie hat sich gewissermaßen verbraucht als Antreiberin der europäischen Kultur zu Selbst- und Weltbemächtigung, erst mit dem Instrument der Theologie, später (bis heute) mit dem Instrument der Naturwissenschaft. Neben dieser Leistung der Führung und Stabilisierung einer gewaltigen Kultur (dazu von mir „Höhlengänge“ S. 23f.) bleiben die rein theoretischen Erträge vielleicht zurück, zumal die „großen“ Philosophen es meist (außer Aristoteles) in dieser Beziehung an Sorgfalt und Vorsicht haben fehlen lassen, aber die Philosophie hat in ihrer Geschichte doch mindestens große Problemfelder sichtbar und wichtige Erfahrungen, die sonst übergangen worden wären, besprechbar gemacht, und das ist ein denkwürdiger Ertrag. Daß die Philosophen sich nicht einigen konnten, um aus einem Mund zu sprechen, ist ein Glück, das in der Natur der Sache liegt, denn der Philosoph soll nicht Vorliegendes einfach ablesen, wie eine zu entziffernde Inschrift, sondern sich Rechenschaft davon geben, wie er dazu kommt und steht, stehen will, darf und soll. Philosophie soll herausfordern und würde ihre Aufgabe gründlich verfehlen, wenn die Philosophen sich auf eine einhellige Botschaft an die Menschheit einigten. Der zweite Punkt, an dem mich Ihre Beilagen befremden, ist der Umstand, daß Sie die Stirner-Rezeption zwar bis in die jüngste Gegenwart (Ottmann, Safranski usw.) verfolgen, aber keine Silbe auf meine Arbeiten verwenden. Ich habe Ihnen mein Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ (Bonn 1995) geschenkt, worin ich mich mit Stirner sowie dem Verhältnis von Marx und dem von Nietzsche zu ihm ausführlich beschäftige und Stirner eine wichtige Rolle in einer Krise menschlicher Selbstbesinnung zuweise, die in der Geschichte der Philosophie mit Fichte beginnt und z.B. bei Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Wittgenstein, Husserl, Heidegger, Sartre prägend weiterwirkt, aber auch weit über die Philosophie hinauswirkt. Stirner ist für mich in dieser Krise der Ehrlichste, weil er die Wunde ganz weit aufreißt, um zu zeigen, daß man damit leben kann, wenn man bereit ist, das Glück der völligen Befreiung von allen Skrupeln zu nihilistischer Frivolität zu genießen, das fortan den Menschen als Gorgo Medusa entsetzlichen Unglücks entgegenstarrt, so daß sie vor Stirner wie vor einem Gespenst des Todes fliehen. Mir dagegen fehlt jede Berührungsangst im

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Verhältnis zu Stirner; ich schätze ihn als einen wichtigen Offenbarer, wenn auch nicht als Führer „zu neuen Ufern“. Glauben Sie nicht, daß ich mich über Ihr Schweigen beschwere; ich finde es nur kurios, daß Sie, der sich über einen „Bann gegen Stirner“ beschwert, den „Bann gegen Schmitz“ so perfekt mitmachen. (Über „Selbstdarstellung als Philosophie“ haben Sie nur einmal zornige Worte geäußert, weil Ihnen die Zahl der Stirner gewidmeten Seiten, verglichen mit der Seitenzahl des Buches, zu gering vorkam. Haben Sie einmal im Personenregister nachgesehen? In dem Buch stehen wichtige Sachen über Stirner außerhalb des Stirnerkapitels.) Am Ende Ihres Briefes gehen Sie auf meine Warnung ein, daß Ihre „Idee“ gegen die Gefahren eines „emanzipatorischen Kurzschlusses“ (etwa im Sinn von „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 381–385) nicht genügend gesichert zu sein scheint. Ich meine nicht, wie Sie es verstanden haben, eine Sicherung nach außen durch Schutz der Menschen vor einer Darstellung, für die sie noch nicht reif sind, sondern eine Sicherung der Idee in sich durch ihre eigene Reife: ob sie sich der Verführung zur modernen „Selbstverwirklichung ohne Selbst“ mit Pochen auf abstrakte Menschenrechte entziehen kann, und nun gar zum dauernden Vergnügen ohne remords à la La Mettrie, wo die Bilanz nur lauten kann „Es ist alles eitel“ und das Ende der Tod ist, den Hegesias seinen Zuhörern predigte. Lassen wir die Idee wachsen, bis sie sich selbst aus dem Ei schält, aber bebrütet muß sie werden. 20. Dezember 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich stimme Ihnen, zu wenn Sie (am 27.11.) sagen, das (nachhegelianisch häufige) Reden vom Ende der Philosophie habe wenig Sinn, solange man nicht präzis sagt, was man unter Philosophie versteht. Ich gebe auch zu, dass ich in dem Artikel „Den Bann brechen! …“ nicht präzise sage, was ich unter Philosophie verstehe. Aber der Kontext, in dem der Satz steht, der Sie befremdet hat, gibt doch einen recht guten Eindruck davon, was ich meine. Eine Präzisierung, gar an dieser Stelle, dem Schlussabsatz, wäre eher kontraproduktiv. Gut, das Wort „vergeblich“ wäre erläuterungsbedürftig, aber mir kam es nur darauf an, die selten thematisierte erkenntnisverhindernde Funktion der philosophischen Aktivitäten hervorzukehren. Gewiss liegt auch in dieser ein tiefer Sinn, eine tiefe Wahrheit über den – bzw. die – Menschen, und es liegt mir fern, die Vergangenheit zu kritisieren („es hätte so und so gelaufen sein müssen“), aber ich (gern als Blankettfigur für jeden) sehe nicht ein, warum ich mich hier und heute beim „Michbesinnen auf mein Michfinden in meiner Umgebung“ von diesem geistigen Strom forttragen lassen soll, wenn ich die Kraft habe, es zu verhindern. (Ein großes Thema, hier kaum zu behandeln.) Mich befremdete auch etwas, nämlich, dass Sie in Ihrem Brief den Hauptinhalt meines 2-teiligen Aufsatzes lapidar als „gut und nützlich“

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qualifizierten und mir sorgfältige Dokumentation bescheinigten. Ein Lob, gewiss, aber doch ein zwiespältiges, denn die sorgfältige Dokumentation des dort gerafft Behaupteten folgt erst in den geplanten Monographien, und meine Intention geht freilich, was Ihnen nicht verborgen geblieben sein kann, einigermaßen über das im landläufigen Sinne Nützliche hinaus. Sie zeigen sich unbeeindruckt davon, dass Marx, Nietzsche et al. sowie „die Menschen“, die ihnen scheuklappenbewehrt begeistert folgten, seit Stirners Auftreten vor ihm „wie vor einem Gespenst des Todes fliehen“. Sie hingegen schätzten Stirner gerade für das, dessentwegen die Anderen ihn instinktiv und/oder in selbstbetrügerischer Manier mieden. Während die Anderen das – Ihrer Deutung zufolge von Stirner am ehrlichsten exponierte – dubiose „Glück“, das in „nihilistischer Frivolität“ zu genießen sei, nicht einmal zu benennen, geschweige denn zu verurteilen wagten, fehle Ihnen, wie Sie sagen, „jede Berührungsangt“ vor dem Thema. Das wirft zunächst einmal die Frage auf, ob Marx, Nietzsche et al. in Stirner in etwa das Gleiche gesehen haben wie Sie. Ich glaube, ohne das hier plausibel machen zu können, dass dies nicht so war. (Wieder ein großes Thema …) Das führt mich zu Ihrem zweiten Befremden: darüber, dass ich, der ich den „Bann gegen Stirner“ (m.E. ein Totschweigen und Totreden zugleich) bewusst zu machen suche, den „Bann gegen Schmitz“ mitmache. Einerseits hätte ich Sie in dem o.g. Aufsatz übergangen, andererseits in „Ein dauerhafter Dissident“ nur ein paar „zornige Worte“ wegen der geringen Seitenzahl zu Stirner in Ihrem Buch „Selbstdarstellung …“ geäußert. Gegen letzteren Vorwurf habe ich schon einmal Einspruch erhoben. Und wenn ich Sie nicht in die Reihe der Janz, Ottmann, (Münster), Safranski einordnete, so gibt es dafür eigentlich sachliche Gründe, die evident sind. Ein „Bann gegen Schmitz“ liegt mir – abgesehen von der Einsicht in meine fehlende Bannkraft – wirklich fern. Ich habe hier ein Roh-Manuskript liegen, das ich 1995, gleich nach dem Studium Ihrer „Selbstdarstellung als Philosophie“, verfasst habe. Sobald ich Zeit finde, werde ich es publikationsreif machen und (wie schon andere Ergänzungskapitel zu „Ein dauerhafter Dissident“: über Jürgen von Kempski, Gerhard Lehmann, Panajotis Kondylis, Dora Marsden) ins Internet setzen (wo Sie und die GNP, wie ich kürzlich feststellte, über die Seite eines Volker Meier, auch vertreten sind). 6. Dezember 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Ich weiß nicht, wie ich auf Ihren Brief vom 1. Dezember im Einzelnen eingehen soll. Das liegt nicht daran, daß ich irgendwie bestürzt wäre, sondern daran, daß Sie immer, wo Sie Stellung nehmen, einen Schleier über diese Stellung ziehen. „Eine Präzisierung wäre … hier eher kontraproduktiv.“ „Ein großes Thema, hier kaum zu behandeln.“ „Ich glaube, ohne dies hier präzisieren zu können, daß dies nicht so war.“ (Nämlich, daß Marx,

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Nietzsche et alii Stirner etwa so wie ich gesehen haben; das ist für N. freilich unentscheidbar, weil er partout nichts über St. gesagt hat, und für Marx habe ich es in „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 79–83 energisch bestritten, ohne in die geheimsten Gedanken von M. eindringen zu wollen, was kaum möglich sein dürfte.) Zu Ihnen fällt mir eine schöne Stelle aus einem von Goethes letzten Briefen (an Graf Sternberg, 15.03.1832; G. starb am 22.03.) ein: „Eine Dämmerung von Einsicht, der ich schon lange gefolgt bin, wie man in dunkler Nacht auf einen fernen Lichtschein zureitet, in Hoffnung, es werde kein Irrlicht sein, scheint mich auch hier weiterzuführen. Das Wunderbarste ist dabei, daß das Beste unsrer Überzeugungen nicht in Worte zu fassen ist. Die Sprache ist nicht auf alles eingerichtet, und wir wissen oft nicht recht, ob wir endlich sehen, schauen, denken, erinnern, phantasieren oder glauben.“ Nicht, daß ich solche keimenden Ideen abwerten wollte; ich schätze es sogar, daß Sie nicht weiter mit der Sprache heraus wollen, als um das zu sagen, was Sie klar sagen können, aber dann sollten Sie nicht befremdet sein, wenn man die Dokumentation, die dabei herauskommt, als gut und nützlich rühmt, als ob der Lober verkennte, daß Ihre Intention über das im landläufigen Sinn Nützliche hinausgeht. 8. Dezember 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich bedauere, dass Sie den Eindruck haben, ich würde immer, wo ich Stellung nehme, einen Schleier über diese Stellung ziehen – auch wenn Sie schließlich großmütig sagen, Sie würden es sogar schätzen, dass ich dort nicht weiter mit der Sprache herauswolle, wo ich nicht in der Lage sei, etwas klar zu sagen: keimende Ideen müsse man eben reifen lassen etc. Verschleiern ist nämlich ganz und gar nicht mein Metier. Ich kann auch nicht glauben, dass Sie ernsthaft meinen, mein Verzicht darauf, in einem (Neben-)Satz zu erklären, gar klar zu sagen, was ich unter „Philosophie“ verstehe, sei ein Verschleiern oder Ausweichen – dito Ihre Deutung der anderen zitierten Stellen („Ein großes Thema …“). Aber dazu habe ich mich ja schon geäußert. Vielleicht ist es fruchtbarer, wenn wir uns auf ein besser separierbares Thema konzentrieren, etwa „Marx vs. Stirner“, auf dessen Behandlung in Ihrer „Selbstdarstellung …“ (S. 79–83) Sie in Ihrem letzten Brief hinweisen. Dort lese ich: „[Stirner] stellt Subjektivität als ehrliche Herausforderung hin, mit dem Stachel seiner schonungs- und schamlosen Anmaßung, die das Nachdenken dazu treiben kann, den von ihm leer gelassenen Platz des namenlosen Einzigen, der seine Sache auf Nichts gestellt hat, durch genaues Erforschen der Phänomene zu füllen, mit dem schließlichen Erfolg der Entdeckung der subjektiven Tatsachen am affektiven Betroffensein. So lohnt sich endlich … schamlose Ehrlichkeit.“ (S. 83; meine Unterstreichungen).

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Verstehe ich diese Passage richtig, wenn ich aus ihr herauslese: Dass „das Nachdenken“ Ihr Nachdenken war? Dass das „genaue Erforschen der Phänomene“ Ihr Erforschen war (NPh)? Dass die „Entdeckung der subjektiven Tatsachen“ Ihre Entdeckung war? Oder lese ich sie völlig falsch? Bevor ich nicht Klarheit darüber habe, was Sie in dieser Passage wirklich sagen wollen, möchte ich mich nicht näher zu ihr äußern, möchte ich keine Schlussfolgerungen aus ihr ziehen. Deshalb bitte ich um Erläuterung. Was Marx’ Reaktion auf Stirner angeht, so scheinen Sie unentschieden zu sein. Einerseits sprechen Sie von „Unberührtheit von der“ und „Blindheit für die“ von Stirner aufgeworfene Problematik, andererseits halten Sie „Ausweichen“ und „Flucht“ für möglich, lassen „absichtliche oder ahnungslose Verkennung“ als Möglichkeiten offen, bezeichnen die Polemik des meist wegen seines Scharfsinns Gerühmten gegen Stirner – bloß – als „dümmlich“. Gewiss sind Marx’ geheimste Motive, die vielleicht nicht einmal ihm selbst klar bewusst waren, nicht eruierbar (wohl aber sein Zögern bzgl. einer Publikation von „Die deutsche Ideologie“ und seine diesbezügliche Camouflage ggü. Engels und anderen Bewunderern). Marx’ Motive sind natürlich auch weniger gewichtig als die epochenprägende Bedeutung, die sein – nachstirnersches – Werk für die Nachwelt hatte. Was ich dazu im Wesentlichen zu sagen habe, kennen Sie (die Details, die ich in einer Monographie aufbereiten werde, werden evtl. Zweifel an der Belegbarkeit von Behauptungen reduzieren). 9. Dezember 2000 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 8. Dezember schreiben Sie von Seite 83 meines Buches „Selbstdarstellung als Philosophie“ eine lange Passage aus, zu der Sie Äußerungen und Schlußfolgerungen ankündigen, sobald ich mich dazu geäußert habe, ob in dieser Passage von meinem eigenen Nachdenken, Forschen und Entdecken die Rede ist. Die Antwort ist eigentlich in dieser Passage selbst enthalten, allerdings im Zitat von Ihnen ausgelassen, nämlich durch den Klammerausdruck „(1.1)“ am Ende des zitierten Satzes. Mit diesem Klammerausdruck beziehe ich mich auf das im Abschnitt 1.1 des Buches (S. 1–12) Gesagte, und das ist selbstverständlich Frucht meines eigenen Nachdenkens und Forschens; ich bin ja kein Plagiator. Einer nochmaligen Erläuterung bedarf allenfalls die Frage, inwiefern ich mich als den Entdecker der subjektiven Tatsachen betrachte. Da ist eine Unterscheidung nötig, die allerdings auch aus 1.1 ersichtlich ist: zwischen der Entdeckung der subjektiven Tatsachen der Sache nach und der Entdeckung, daß es sich um subjektive Tatsachen handelt, also der Findung des angemessenen Begriffs für sie. Die erste Entdeckung ist Fichtes Werk. Wie anders sollte man etwa folgende Passage aus seiner frühesten Programmschrift, der Rezen-

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sion des Aenesidemus (Winter 1793/94), verstehen: „Freilich, Aenesidemus will einen objektiven Beweis für die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Was mag er sich dabei denken? Oder ob ihm die objektive Gewißheit etwa ungleich vorzüglicher scheint, als die – nur – subjektive? Das: Ich bin – selbst hat nur subjektive Gewißheit; und, wo viel wir uns das Selbstbewußtsein Gottes denken können, ist Gott für Gott subjektiv.“ In meine Terminologie übersetze ich diese Thesen so: Daß ich bin, ist eine für mich subjektive Tatsache, und, daß Gott ist, eine für ihn subjektive. Aber so denkt Fichte nicht, sondern deutet die von ihm entdeckte Subjektivität (da er alle Tatsachen für neutral oder objektiv hält) als Untatsächlichkeit in Gestalt einer Tathandlung, d.h. einer Tat, die nichts tut als sich selber, und allen Tatsachen entgegengesetzt ist. Demgemäß bestimmt er in § 3 von „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ das „absolute Setzen des Ich“ als „das: Ich bin, in welchem vom Ich gar nichts ausgesagt wird, sondern die Stelle des Prädikats für die mögliche Bestimmung des Ich ins Unendliche leer gelassen wird.“ Da er mit dieser leeren Unendlichkeit des absoluten Ich nicht auskommt, ersetzt er sie in § 4 durch Ambivalenz, unter dem Titel des Schwebens der produktiven Einbildungskraft (gleichsam als Seinsweise des Ich, nicht Fichtes Ausdruck) zwischen den unvereinbaren Seiten von Unendlichkeit und Beschränktheit. Daraus wird zunächst die romantische Ironie und dann der Konflikt zwischen Positivisten und Existenzialisten bis hin zu solchen Mischformen wie Wittgensteins „Tractatus“. Die Auflösung dieser Mißverständnisse durch klare begriffliche Herauspräparierung der subjektiven Tatsachen, d.h. Preisgabe des Vorurteils, daß Tatsachen eo ipso und ursprünglich objektiv oder neutral seien, schreibe ich in der Tat mir zu; das wäre die zweite Entdeckung laut obiger Numerierung. Sie erspart die rezessive Entfremdung, d.h. die Enttatsächlichung der Subjektivität bei Fichte und Stirner sowie, in komplizierter Fassung, bei solchen Autoren wie Hegel und Heidegger, bei dem die Tatsächlichkeit, der die Subjektivität entrückt werden soll, den Titel „Vorhandenheit“ (in „Sein und Zeit“) erhält. Von dem berechtigten Kern dieser Enttatsächlichung, nämlich der Entfremdung von den bloß objektiven Tatsachen, nimmt Marx in seiner Polemik, die ich deshalb „dümmlich“ genannt habe, keine Notiz, indem er die rezessive Entfremdung mit der transportativen verwechselt. 13. Dezember 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, haben Sie vielen Dank für die Mühe, die Sie sich gemacht haben, um die von mir am 8.12. zitierte Passage aus Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ zu erläutern. Ich stimme Ihnen durchaus zu, wenn Sie eingangs sagen, diese Erläuterung sei eigentlich in der Passage selbst und im Hinweis auf Abschnitt 1.1 zu finden. Mir kam es eigentlich nur merk-

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würdig vor, wie verklausuliert diese Passage ist. Ist es denn nun Stirners ehrliche Herausforderung gewesen, die Sie dazu getrieben hat (Sie schreiben, sie „kann“ „das Nachdenken“ dazu treiben), über die genaue Erforschung der Phänomene die subjektiven Tatsachen entdeckt zu haben? Ich habe aus meiner – zugegebenermaßen nicht vollständigen – Kenntnis Ihres Werkes eher den Eindruck, dass Sie diese Entdeckung schon sehr früh, lange vor Ihrer (Ende der 80er Jahre beginnenden?) näheren Befassung mit Stirner gemacht haben. Jedenfalls erwähnen Sie Stirner in einschlägigen Schriften vor 1990, etwa in „Nihilismus als Schicksal?“, meines Wissens nicht. Ich hatte jene Passage ohnehin nur zitiert, weil ich – als Antwort auf Ihre voraufgegangenen Vorwürfe, ich verschleiere usw. – vorschlagen wollte, ein besser separierbares, konkreteres Thema zu wählen, um vielleicht auf diesem Wege zu einer besseren Verständigung zu kommen. Als Thema hatte ich dann „Marx vs. Stirner“ vorgeschlagen und begonnen, worauf Sie aber nur abschließend in einem Halbsatz eingegangen sind. Trotzdem: Wenn Sie, wie Sie am 9.12. erläutern, Fichte die „Entdeckung der subjektiven Tatsachen der Sache nach“ und sich selbst die „Entdeckung, dass es sich [bei Fichtes Entdeckung] um subjektive Tatsachen handelt, also der Findung des angemessenen Begriffs für sie“ zuschreiben, dann ist mir nicht klar, welche Rolle Sie den Philosophen von Hegel an, die eben über fast zwei Jahrhunderte hinweg nicht in der Lage waren, Fichtes Entdeckung adäquat aufzunehmen, zuschreiben. Gewiss, Sie haben über Hegel, Nietzsche, Husserl, Heidegger u.a. ausführlich geschrieben, aber mir fügt sich daraus kein zusammenhängendes Bild. Stirner – natürlich – liegt da wie ein erratischer Block. Sie schätzen und loben ihn: er „korrigiert die Mogelei Fichtes“ (68); „seine Diktion ist vorbildlich schlicht und klar“ (83); Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit, nüchterne Selbstbesinnung usw. sind Eigenschaften, die Sie ihm zuschreiben. Das alles sind aber wohl, mit einem Ausdruck aus dem deutschen „Vergangenheitsbewältigungsjargon“, bloß sekundäre Tugenden. Stirners kardinaler „Fehler“, sozusagen seine primäre Untugend, sehen Sie in seinem „Glauben an die Autonomie der Vernunft“ (69), denn diese erzeuge „nichts als sittlichen Leerlauf“ (70). Stirners Nihilismus sei (als einziger?) „echt“ (241), „unverkürzt“ (312), „vollkommen“ (309). Sie wundern sich deshalb mit Arendt, dass gerade Stirner in Darstellungen des Nihilismus kaum vorkommt. (309) Mir erscheint letzteres, ebenso wie die klammheimlichen Ausweichmanöver vieler großer Denker, wie Sie wissen, recht bedenkenswert und instruktiv. Hätten Marx, Nietzsche et al. Stirner bloß als „vollkommenen Nihilisten“ gesehen, so hätten sie m.E. keinen Anlass zu diesem Verhalten gehabt, denn die „vollständige moralische Frivolität“, die Sie (z.B. in „Der unerschöpfliche Gegenstand“, S. 439) Stirner – neben Ernsthaftigkeit! –

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zuschreiben, ist doch ein eher schlichter Gedanke. Ich will nicht abstreiten, dass man zitatenbelegt einen „frivolen“ Nihilisten aus Stirner machen kann; aber dann hat man das Beste von ihm (das offenbar auch das – warum auch immer – Gefürchtetste ist) übergangen. Hier liegt wohl der Grund für unseren Dissens. Sie sagen (ebd.), Stirners moralische Frivolität sei heute „noch nicht modern“ (drohe es zu werden), denn noch gebe es beim normalen Erwachsenen das hemmende und fordernde Gewissen. Hier liegt der Hund begraben. Dieses Gewissen, das seit eh und je das Verhalten der Menschen regulierte, hält Stirner wegen seiner „Nebenwirkungen“ für verderblich. Seine Erzeugung – so sinngemäß auch La Mettrie und Reich – erzeuge erst jene Regungen, die niederhalten zu können es vorgibt. Mit ihm fiele jedoch nicht generell der „unbedingte Ernst moralischer Normen“ – im Gegenteil. Auch hier möchte ich wieder abbrechen – ohne „verschleiern“ zu wollen – und auf meine, skizzenhaften, Ausführungen in „Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Max Stirner“ verweisen. Ihrem Hinweis in einem früheren Brief auf Abschnitt 7.3.2.1 von „Der unerschöpfliche Gegenstand“ bin ich gefolgt, habe dort aber kaum etwas darüber gefunden, wie das Gewissen im konkreten Menschen entsteht. 14. Dezember 2000 Sehr geehrter Herr Laska! Ihr Brief vom 13. Dezember steigert meine Neugierde, zu erfahren, welches furchterregende Geheimnis das Beste an der Botschaft Stirners ist. Ich will Sie aber nicht zu dessen Eröffnung drängen, zumal Sie eine solche vielleicht gar nicht mit ein paar nackten Worten geben könnten. Was dagegen meine Beschäftigung mit ihm angeht, kann ich Ihre Meinung über deren Beginn um mindestens 10 Jahre vordatieren. In meinem Buch „Die Person“ (System der Philosophie Band IV, zuerst 1980 erschienen) erwähnte ich seine Devise auf Seite 64 als „ernsthafte Aussicht und Versuchung“ im Zusammenhang mit „Fichtes Radikalisierung der personalen Emanzipation“, der Überschrift des § 257d (S. 62–85), der frühesten Darstellung meiner Meinung über Fichtes epochale Entdeckung der Subjektivität (der „strikten“ im Gegensatz zur bloß „positionalen“ gemäß meinem Buch „Husserl und Heidegger“), worüber dann ausführlich mein Buch „Die entfremdete Subjektivität“ handelt. Für Sie können in dieser Darstellung von 1980 ferner die Seiten 83 (unten, vorletzte Zeile des Haupttextes) bis 85 interessant sein, denn da rechne ich Fichte für eine Zeit, ehe Stirner (*1806) überhaupt auf der Welt war, genau jene Verschleierungen vor, mit denen sich nach Ihrer Meinung Spätere gegen die Herausforderung durch Stirner gedrückt haben – Abblocken des Ausblicks auf die (auch moralischen) Konsequenzen, die aus der rezessiven Entfremdung der Subjektivität gezogen werden könnten.

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Das Gewissen nehme ich gegen Stirner eigentlich nicht um seiner selbst willen in Schutz, sondern als Zufluchtsstätte des Göttlichen, „das letzte im Durchschnittsbewußtsein der heutigen Menschheit noch klar in prägnanter Abgehobenheit lebendige Numen“, wie ich mich in meinem Buch „Das Göttliche und der Raum“ („System der Philosophie“ Band III Teil 4) auf Seite 64 ausgedrückt habe. Ich bin der Meinung, daß die Menschen nicht glücklich sein können, ohne sich als Medium im Dienst einer auch noch ihre Kritikfähigkeit übersteigenden Aufgabe zu verstehen, statt sich nur in kleinlichen Launen des Beliebens herumzutreiben. Eine solche Aufgabe kann ihnen heute noch ihr Gewissen stellen. Aber ich habe mehrfach Goethes Frage „Muß man denn gerade ein Gewissen haben? Wer fordert es denn?“ als bedeutende Mahnung zur Selbstbesinnung hervorgehoben, siehe „System der Philosophie“ Band I S. 30 und Band III Teil 3 S. 676. Wenn ein anderes Numen das Gewissen überholt, wie das „Herz“ an einer schönen Stelle in Kleists „Prinz von Homburg“ (4. Akt, 4. Auftritt), freue ich mich: Natalie (küßt ihn) Nimm diesen Kuß! – Und bohrten gleich zwölf Kugeln Dich jetzt in Staub, nicht halten könnt ich mich Und jauchzt und weint und spräche: du gefällst mir! – Inzwischen, wenn du deinem Herzen folgst, Ists mir erlaubt, dem meinigen zu folgen.

Darauf gibt sie als Chef des Regiments v. Kottwitz den hochverräterischen Befehl an das Regiment, nach Berlin einzurücken (und täuscht dafür einen Befehl des Kurfürsten vor). Ihr Herz überholt freilich ihr Gewissen im Einklang mit diesem, da sie sich ausdrücklich auf das Erlaubte beruft. 20. Dezember 2000 Sehr geehrter Herr Schmitz, höre ich richtig, wenn ich einen leicht ironischen Ton in Ihrem ersten Satz vom 14.12. vernehme? Ihre bisherige Neugier, zu erfahren, welches furchterregende Geheimnis denn das Beste an der Botschaft Stirners ist, sei durch meinen Brief vom 13.12. noch gesteigert worden. Sie beziehen sich dabei auf meinen Satz, wonach derjenige, der Stirner zum „frivolen Nihlisten“ bagatellisiert, dessen Bestes, das auch das Gefürchtetste ist, unterschlägt bzw. eskamotiert. Wegen des „furchterregenden Geheimnisses“ – wenn Sie es denn nicht von vornherein für (m)ein Hirngespinst halten – müssten Sie allerdings die betreffenden Autoren selbst befragen. Eine Art Cicerone für dieses Terrain ist mein Buch „Ein dauerhafter Dissident“. Denn Marx und Nietzsche, die wir bisher meist diskutierten, sind ja nur zwei, aber eben die erfolgreichsten der schrittmachenden „Verdränger“ Stirners. Und sie haben ihre „Furcht“ auch nicht offen und direkt gezeigt. Aber nehmen Sie einen anderen

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bedeutenden Autor, der Ihnen vielleicht näher steht: Ludwig Klages. Er nannte Stirner einen „schier dämonischen Dialektiker“ und schrieb (im reifen Mannesalter!) über diesen „Lebensfeind“: „Der Tag, an dem Stirners Programm auch nur die Willensüberzeugung aller würde … wäre der jüngste Tag der Menschheit – und wird es vielleicht sein.“ („Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches“, 1926, 3. Aufl. 1958, S. 58–61). Aber schauen Sie nach, was dann in „Der Geist als Widersacher der Seele“, insbesondere in den letzten Kapiteln, davon blieb … Sie haben mir anschließend, in Ihrem zweiten Satz, die Befriedigung Ihrer Neugier, d.h. die Eröffnung jenes Geheimnisses, großzügig erlassen. Das könnte mich erleichtern – beschwert mich aber eher, und zwar, weil ich meine, in meinen Publikationen und Briefen bereits Erkleckliches darüber gesagt zu haben, worin ich die Sonderstellung Stirners – und sein gerade für sensible Denker offenbar so „furchterregendes Geheimnis“ – sehe. Auf meinen letzten Satz vom 13.12. gehen Sie leider nicht direkt ein. Sie erläutern nur zum Gewissen, dass Sie es gegen Stirner „in Schutz nehmen“, weil es das letzte heute noch lebendige Numen sei, und sagen dann, wenn ich richtig verstehe, dass im Gewissen jedes Menschen eine auch noch seine Kritikfähigkeit übersteigende Aufgabe verankert sei, die es ihm ermögliche, glücklich zu werden, wenn er sich als Medium in ihren Dienst stelle. Sie sagen aber nichts zu der von mir gestellten Frage, wie Sie die Entstehung des Gewissens im konkreten Menschen erklären. Ich möchte deshalb jetzt dazu nichts sagen, zumal ich lese, dass Sie als Alternative zu jener vom Gewissen gesetzten Aufgabe offenbar (nur?) ein Leben sehen, dass sich „in den kleinlichen Launen des Beliebens herumtreibt“; aber auch, dass Sie doch noch ein anderes „Numen“ kennen: das Herz. Ich will stattdessen einen weiteren Weg versuchen, um Ihnen meine Auffassung nahe zu bringen. – Hegel wird an einer wenig prominenten Stelle (Grundlinien zur Philosophie des Rechts. §§ 174, 175, Zusätze) recht deutlich: „Ein Hauptmoment der Erziehung ist die Zucht, welche den Sinn hat, den Eigenwillen des Kindes zu brechen […] Das Vernünftige muss als seine eigenste Subjektivität ihm erscheinen […] Die Sittlichkeit muss als Empfindung in das Kind gepflanzt worden sein …“ Dies wird im Prinzip, nur mit unendlich verkompliziertem theoretischen Apparat, nach wie vor allenthalben vertreten. Wenn die europäische Menschheit im 19. Jahrhundert theoretisch eine beispiellose Epochenschwelle (das Ende ihrer „Kindheit“; Sie nennen Fichte, ich Stirner als den maßgeblichen Denker) erreicht hat (m.E. nicht überschritten, wie Sie in „Selbstdarstellung …“ S. IX sagen), dann müssten damit gravierende Änderungen in der „Menschwerdung“ verbunden sein. Die Übung, Sittlichkeit mittels Brechung des Eigenwillens – und geschähe dies noch so unmerklich und schmerzfrei – dem Kinde zu implantieren (was ja primär unbewusst geschieht und kaum behebbare „schädliche Nebenwirkungen“ hat), müsste programmatisch reduziert wer-

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den. Nur so könnte m.E. eine (qualitativ) neue „Sittlichkeit“ wachsen, die nicht auf der Angst vor dem Sturz in die Beliebigkeit beruht. Solange man die „Schwelle“ (Stirner) ignorieren zu können oder längst genommen zu haben meint (indem man Stirner bagatellisiert), wird man den Weg aus dem gegenwärtigen Chaos nicht finden – womit wir ungefähr wieder da sind, wo wir vor ½ Jahr waren: beim „Ausblick“ Ihres Hitlerbuches.

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[Bernd A. Laska und] Hermann Schmitz (Korrespondenz 2) [Januar–Dezember 2001]

1. Januar 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich habe das denkwürdige Datum des heutigen Tages zum Anlass genommen, Rückschau auf unseren etwa halbjährlichen Gedankenaustausch zu halten; habe also die jeweils rund zwanzig Briefe, die wir gewechselt haben, noch einmal gelesen. Im frischen Bewusstsein der Inhalte möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie sich bereitgefunden haben, mir einige Ihrer Gedanken zu Themen, die wir beide für ideengeschichtlich und aktuell bedeutsam halten, zu erläutern; und dass Sie mir Gelegenheit gaben, die meinen zu äußern. Natürlich konnten viele Fragen nicht bis ins Letzte besprochen werden, und manches, was im persönlichen Gespräch wohl leicht zu klären gewesen wäre, blieb im Briefwechsel unerledigt liegen. Ich glaube jedoch, jetzt Ihre Position und manche Stelle in Ihren Büchern besser zu verstehen. Grundsätzlich schleierhaft erscheint mir allerdings nach wie vor Ihre (Zukunfts-)„Vision“. Wenn Sie, wie in der Vorrede zu „Selbstdarstellung …“, die Geschichte der europäischen Menschheit an einer Analogie zur Geschichte eines Einzelmenschen veranschaulichen wollen und sagen, dass sie „kurz vor 1800“ eine Zäsur sondergleichen erfahren hat, die der des Endes der Kindheit entspricht, dann erkenne ich nicht, wie Sie sich die „erwachsene“ Menschheit vorstellen (die gegenwärtige ist es doch gewiss nicht?). In diesem Sinne war der Schluss meines Briefes vom 20.12. gemeint – dessen letzten Halbsatz Sie hoffentlich nicht so verstanden haben, als hätte ich sagen wollen, unser halbjähriger Gedankenaustausch sei ertraglos an seinem Ausgangspunkt angekommen. 8. Januar 2001: Weil ich letzteres nicht annehmen wollte und das Ausbleiben eines Briefes von Ihnen viele Gründe gehabt haben konnte, habe ich diesen Brief etwas liegen gelassen. Heute nun kam Ihr Brief vom 3.1. Zunächst noch ein Wort zum „furchterregenden Geheimnis“ bei Stirner – ob Sie’s nun ironisch gemeint hatten oder nicht. Belegt ist (z.B. in meinem Buch „Ein dauerhafter Dissident“), dass viele Denker, auch und insbesondere sogar einflussreiche, so auf Stirner reagiert haben, als spürten sie etwas außerordentlich Furchterregendes bei ihm (was sich bei Feuerbach, Bauer, Marx, Daumer, Nietzsche, Husserl, Schmitt, Klages u.a. freilich auf unterschiedliche Weise zeigte); einige wenige jedoch, etwa die „Stirnerianer“, Ernst

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Jünger oder, nach Ihrem Bekunden, auch Sie, reagierten nicht erschreckt auf ihn. Die Legionen hauptberuflich tätiger akademischer Philosophen indes haben allenfalls eine vage Klischeevorstellung von Stirner und ignorieren bzw. leugnen jene o.g. „Schwelle“ (wobei wir hier einmal davon absehen können, ob sie durch Fichte oder Stirner markiert wird). Sie sind also, soweit ich im Moment sehe, seit 1844 der einzige Denker von Rang, der Stirner nicht achselzuckend übergeht und, wie Sie in einem Brief sagten, „keine Berührungsängste“ ihm gegenüber hat, woraus man u.a. die Vermutung schöpfen könnte, erst Ihre „Neue Phänomenologie“ sei der Stirner’schen Herausforderung wirklich gewachsen. Insofern gebe ich Ihnen recht, wenn Sie bemängeln, dass ich seinerzeit in „Ein dauerhafter Dissident“ Ihre besondere Position gegenüber Stirner nicht genügend hervorgehoben habe. (Dass Sie wiederum ihn, Stirner, neben Nietzsche und Wittgenstein klein dargestellt haben, kritisiere ich jedoch nach wie vor). Ich will mich also, wie schon in einem früheren Brief angekündigt, in einem eigenen Aufsatz mit Ihrer Verarbeitung Stirners auseinandersetzen, sobald ich genügend Klarheit darüber erlangt haben werde. Dazu hat natürlich unser Briefwechsel schon einiges beigetragen. Manch einer Ihrer Briefe ähnelt allerdings einem Wechselbad. Wenn Sie z.B. (am 3.1.) die Stärkung des vitalen Stolzes preisen, die Autorität der Gefühle als Quell des unbedingten Ernstes für jemanden auszeichnen, dann sprechen Sie mir aus dem Herzen. Aber ich meine nicht, dass diese Autorität „jenes Heilige darstellt, von dem Stirner die Vernunft befreien will.“ Das wirkt dann auf mich wie die kalte Dusche nach dem warmen Bad. Das Heilige bei Stirner ist gerade das, was den vitalen Stolz und die Autorität der – „eigenen“! – Gefühle schwächt. Hier ist unsere Diskussion vermutlich auch durch terminologische Probleme erschwert. Im Kern geht es m.E. um die von mir am 13.12. (letzter Satz) und 20.12. (4. Absatz) erneut aufgeworfene Frage, wie (Ihrer Auffassung nach) das Gewissen im konkreten Menschen entsteht – und ob es möglich ist, dass das Überschreiten jener o.g. menschheitsgeschichtlichen Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenendasein ohne gravierende Folgen in diesem Bereich (Gewissensbildung) geschehen kann. 3. Januar 2001 Sehr geehrter Herr Laska, meine von Ihnen in Ihrem Brief vom 20. Dezember 2000, den ich wegen einer Reise ins Rheinland (21.12.–2.01.) erst gestern fand und daher erst heute beantworten kann, als ironisch empfundene Neugierde nach dem furchterregenden Geheimnis in der Botschaft Stirners nährte sich wohl, außer an früheren Formulierungen von Ihnen, an dem Schluß Ihres Briefes vom 13.12.00, wo der vorletzte Satz beginnt: „Auch hier möchte ich wieder abbrechen – ohne ‚verschleiern‘ zu wollen“. Man bricht gemeinhin ab, wenn noch etwas zu sagen wäre; daher der Anschein des Geheimnisvollen. Ihr

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Dementi einer Verschleierungsabsicht ließ mich zudem vermuten, daß Sie das zu Sagende nicht mit ein paar nackten Worten sagen könnten (oder vielmehr, ich hatte schon vorher diesen Eindruck). Über die Perversität des altprotestantischen Erziehungsideals, den Eigenwillen des Kindes zu brechen, brauchen Sie mich nicht zu belehren. Wir haben uns darüber schon früher verständigt. Ich habe mich oft genug für die Ermutigung des vitalen Stolzes eingesetzt. Dazu gehört allerdings auch der Stolz, diszipliniert gehorchen zu können, gemäß der schönen, gegen Platons starre Rollenverteilung des Regierens (an Philosophen) und Gehorchens (an unphilosophische Menschen) gerichteten aristotelischen Definition des kompetenten Bürgers als des Menschen, der sich ebenso darauf versteht, zu herrschen, wie darauf, beherrscht zu werden (καὶ ἄρχἐιν καὶ ἄρχἐσϑαι). Was bei Hegel hinter seiner Anpassung an jenes Ideal steht, habe ich in meinem Buch „Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel“ auf Seite 245–248 unter dem Titel „Ironie und Selbstverdinglichung“ nachgezeichnet. Es ist die Kompensation und Übertrumpfung der romantischen Ironie durch ein Sich-zur-Sache-machen. Stirner, sozusagen der tierische (humorlose) Ernst der romantischen Ironie, hatte dergleichen nicht nötig. Klages versteht überhaupt nichts von Subjektivität, viel aber von ergreifenden Atmosphären und vielsagenden Eindrücken, während Stirner der von Fichte entdeckten Subjektivität (der „strikten“, nicht bloß „positionalen“ im Sinne meines Buches „Husserl und Heidegger“) gegen den Anthropologismus von Feuerbach und Marx mit seinem Einzigen ein Denkmal setzt, das sozusagen „reines Ich und nichts weiter“ (Husserl) ist und die Vernunft nicht nur über die Selbstsucht, sondern auch über die Liebe noch erhebt. Das Heilige, die ergreifende Macht, der sich auch die Vernunft, und gerade in der Probe der Mobilisierung aller Reserven ihrer Kritikfähigkeit, noch beugen muß, ist für Stirner nur ein langweiliges Hindernis, das die Vernunft im Barrikadensturm einzureißen hat. Kein Wunder, daß es einen Klages da schaudert. Was ich in meinem Brief vom 14.12. über das Gewissen geschrieben habe, haben Sie mißverstanden, indem Sie es so zusammenziehen, als meinte ich, „daß im Gewissen jedes Menschen eine auch noch seine Kritikfähigkeit übersteigende Aufgabe verankert sei, die es ihm ermögliche, glücklich zu werden, wenn er sich als Medium in ihren Dienst stelle“. Worauf ich hinaus will, ist das, was ich auch die Autorität der Gefühle genannt habe, die, wenn sie für jemand mit unbedingtem Ernst (in dem von mir angegebenen Sinn) bewaffnet ist, für den Betroffenen eben jenes Heilige darstellt, von dem Stirner die Vernunft befreien will. Das Gewissen ist in gewisser Weise nur eine Kümmerform dieses Heiligen, weil es keine eigenständigen Aufgaben stellt, sondern nur von etwas abhält, wie das Daimonion des Sokrates, aber es ist wenigstens in den emotional verödenden Menschen von heute eine gerade noch lebendige Form, an die man appel-

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lieren kann, ohne auf Unverständnis oder Hohn zu stoßen. An ein Heiliges, mit spontaner Impulsivität, wie das Herz im Sinne von Kleist, habe ich in meinem Brief vom 14. Dezember wie mit einem Stoßseufzer zu erinnern gewagt. Früher nahm es die Gestalt von Göttern an; damit hat der Monotheismus ein Ende gemacht, indem er zugleich die Brechung des Eigenwillens als indirekten Weg zur Selbstermächtigung lehrte; wenn Sie Lust haben, vergleichen Sie dazu meine Polemik gegen Karl Barth („Das Göttliche und der Raum“ S. 180f.). 9. Januar 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Ihr heute empfangener Brief vom 1./8. d.M., der mir übrigens sehr gut gefällt und Freude macht, deutet darauf hin, daß wir Stirner anders lesen. Ich halte ihm nicht einmal vor, daß er das Wort „heilig“ unüblich verwendet, so daß eine Karikatur dessen herauskommt, was Rudolf Otto mit seinem Buchtitel meint, denn solche Karikaturen gibt es ja in der Wirklichkeit (und gab es erst recht 1844) zuhauf, und jeder kann seine Worte wählen wie er will; aber daß neben dieser Karikatur der Platz des Heiligen im üblichen Sinn, die ergreifende Autorität des atmosphärisch Göttlichen in der Weise antiker Frömmigkeit und auch noch des heiligen Geistes im Urchristentum, bei Stirner gar nicht vorgesehen ist, auch terminologisch keinen Platz hat, stimmt mich bedenklich. Im Grunde tut er mir leid, weil er gar so einseitig auf personale Emanzipation setzt, so sehr ich ihn dafür bewundere, daß er sich auf diesem Weg in die Versteifung gar nicht fürchtet, sondern den Mut zur Konsequenz hat; aber die bloße personale Emanzipation ohne Bereitschaft für die Autorität des Ergreifenden nimmt doch ein sehr dürres Ende. Ich verstehe die Vernunft-Predigt Stirners so, daß er damit hinter Fichte auf Kant zurückfällt, auf dessen These von der Autonomie (eigenen Gesetzgebung) der Vernunft, die ich für ganz verhängnisvoll halte. Wenn man Vernunft versteht als das Vermögen einer zu logisch kontrollierter Abwägung befähigten Abstandnahme von den unwillkürlichen Regungen, handelt es sich um ein für Personen unentbehrliches Werkzeug kritischer Prüfung, das ruhig herausfordernd gegen Einschüchterungsversuche (einschließlich eines „eingebläuten“ Über-Ich à la Freud) und Kolosse auf töneren Füßen brüchiger Autorität eingesetzt werden sollte; darin bin ich einer Meinung mit Ihnen und Stirner, aber ich möchte gar nicht so viel Wesens davon machen, da die Pseudo-Autoritäten wenigstens in vertikaler Richtung (Autoritäten von oben) im Verhältnis zu Stirners Zeitalter schon sehr verblaßt sind, während allerdings ihr Gewicht in horizontaler Richtung (Kollektivdruck der herrschenden Meinung, political correctness, multimediale Suggestionen) noch gewaltig nach Abhilfe verlangt. Viel schlimmer scheint mir aber, daß die Leute mit ihrer personalen Emanzipation, zu der sie durch das bequeme Angebot privater Herrschaft über

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mächtige Maschinen aller Art und den demokratischen Jargon („Gesellschaft mündiger Bürger“) voreilig berufen werden, gar so wenig anzufangen wissen. „Menschenrechte“ – damit liegen ihnen die Spitzen der Gesellschaft beständig in den Ohren, als hinge an dieser Parole wie an einem dünnen Faden die ganze Legitimität des sozialen Systems; aber was sollen Leute mit diesen Rechten anfangen? Das bleibt ihnen überlassen, und es kommen lauter kleinliche Zwecke heraus, für die sich zu leben nicht lohnt. Das liegt nicht nur an schlechter Erziehung, sondern in erster Linie an dem falschen Prinzip des Bauens auf die Autonomie der Vernunft, denn diese ist unentbehrlich als kritisches Organ und als ordnender Organisator von Mitteln im Dienst gesetzter Zwecke, aber sie ist unfähig, selbst Zwecke zu stiften, Programme dem Wollen einzugeben und wie Scheinwerfer vorleuchten zu lassen. Die Menschen sind getrieben vom Betrieb des anonymen sogenannten Fortschritts, aber ihr Wollen hat meist keine eigene Richtung, die nicht leicht geknickt werden kann, sei es von diesem großen Sturm oder von den Launen kleinen Luftzugs. Ich verstehe Stirner so, daß er sie da allein läßt, weil er sie nur zum Eigenwillen auffordert, als sei etwas gewonnen, wenn man sich nur von falschen Autoritäten befreit und dann nicht weiß, was man will. Mein Bemühen um die Menschen geht unter diesen Umständen in erster Linie dahin, durch begreifende Sensibilität die Empfänglichkeit zu stärken, ihr Raum zu geben für das Hinhören auf die Autorität ergreifender Mächte, die aber beileibe nicht unkritisch angenommen werden sollen (wie der Nationalsozialismus von vielen Deutschen der Hitlerzeit), sondern nur, wenn auch die Vernunft sich ihnen beugt, nachdem sie auf der höchsten dem Einzelnen jeweils erreichbaren Stufe personaler Emanzipation sich an ihnen erprobt hat (so, wie heute noch manche Mutter sich nicht ausreden läßt, für ihr Kind zu sorgen, und mancher Pianist nicht, im Dienst der Musik seine Finger zu vergewaltigen und ihr Versagen zu riskieren). Wenn das Wollen von einer Ergriffenheit, die ihm eine weiträumige Richtung gibt, geführt wird, kann auch das Zusammenleben der Menschen wieder größere Formen annehmen als im nervösen Zittern der kleinteiligen Eigenwillen isolierter freier Gleicher im Sinne der Französischen Revolution, und solche Großzügigkeit gemeinsamen Wollens aus dem Nomos implantierender Situationen kommt wieder dem persönlichen Wollen des Einzelnen zugute, indem seine persönliche Situation durch die Verwurzelung in einer gemeinsamen bereichert, gestärkt und zur Entfaltung angeregt wird. Ich kann diesen aus dem gegenwärtigen Chaos von Ziel- und Zwecklosigkeit sich befreienden Menschen aber nicht prophetisch heraufbeschwören, sondern nur den Bereich ausleuchten, in dem er seinen Lebenswillen in der Gegenwart verankern kann; dafür Formen zu finden, muß eine Entdeckung sein, die aus dem Leben, nicht aus dem Denken kommt. Stirner hat dazu beigetragen, diesen Spielraum ausleuchtbar zu machen, indem er die

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personale Emanzipation bis an die Grenze des Möglichen überspannte; mir kommt es eher auf die Gegenrichtung an. Beide Richtungen gehören zusammen; sie führen uns gemeinsam ins neue Jahrtausend. 16. Januar 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich stimme Ihnen darin zu, dass Sie Stirner anders lesen als ich. Das ist mir sofort aufgefallen, als ich das Stirner-Kapitel in Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ las, und zwar schon an der Auswahl der Stellen aus Stirner, die Sie zitieren, also für besonders charakteristisch halten. Die Stellen, die Sie zum Beleg Ihrer Ansicht auswählen, Stirner habe Kants und Fichtes Dogma von der Autonomie der Vernunft übernommen (was Sie im letzten Brief wiederholen), sind zugleich die, die ich Stirner sozusagen verzeihe, eben weil er an anderen Stellen über diese Kant-Fichte’sche Position hinausgegangen ist. (Als merkwürdig habe ich eine Stelle aus Ihrem Buch markiert, in der Sie, S. 69, sagen, „Stirners Fehler … in der Ethik besteht eigentlich nur [?] darin, dass er den [seinen?] Gegnern auf den Leim geht, nämlich“ → Kant und Fichte mit ihrem Vernunftglauben bzw. Glauben an die Autonomie der Vernunft.) Ich gebe Ihnen gerne zu, dass sich ein Stirner, wie Sie ihn darstellen, mit Zitaten aus seinen Schriften konstruieren lässt. Das ist auch ein Stirner, vor dem man keine Berührungsängste zu haben braucht. Deshalb vermute ich auch, dass jene schon oft von mir aufgereihten Denker, die offenbar doch solche Berührungsängste hatten, Stirner anders wahrnahmen (was sich aus ihren Äußerungen oft auch herauslesen lässt) und auf – für mich jedenfalls – sehr aufschlussreiche Weise reagierten. Manche Passagen auch wieder Ihres letzten Buches machen auf mich den Eindruck, als sähen Sie – in Übereinstimmung übrigens mit einigen engagierten marxistischen Autoren, z.B. Hans G. Helms, Hans Heinz Holz – die Situation hier und heute als im Zeichen Stirners stehend. Sie schreiben z.B., dass die Zeitgenossen „mit ihrer personalen Emanzipation“ – also das, worin Sie Stirner sozusagen als Galionsfigur sehen – zwar recht weit gekommen seien, dass sie aber damit (erwartungsgemäß) „gar so wenig anzufangen wissen.“ Ich sehe dies, wie Sie wissen, ganz anders: ich habe Stirner ausgegraben als gerade denjenigen Denker, der am ehesten in unserer gegenwärtigen Situation, die ich ebenso als „Verirrung“ ansehe wie Sie, weiterhelfen kann – freilich nicht in unaufbereiteter Weise. Sie schreiben, der Grund dafür, dass die heutigen (in meinem Verstand: vermeintlich) Emanzipierten sich nur „lauter kleinliche Zwecke“ setzen, läge an dem vorherrschenden „falschen Prinzip des Bauens auf die Autonomie der Vernunft“. Ich stimme Ihnen zu, dass die Vernunft nur „kritisches Organ“ etc. sein, keine Zwecke stiften kann. Dissens haben wir wahrscheinlich in der Frage, wo die authentische Quelle der Zwecke, des

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Sinns, der Werte etc. liegt. Sie deuten Ihre Auffassung an einer Stelle an, wo Sie von der „Autorität ergreifender Mächte“ sprechen. Wenn die Menschen sensibler für sie wären, empfänglicher für sie, mehr auf sie hörten, ohne ihnen freilich unkritisch zu unterliegen (also ihre Vernunft nicht „auszuschalten“ brauchen), dann geriete die Welt sozusagen wieder ins Lot. Vielleicht liegt darin gar kein Gegensatz zu dem, was ich, unter Verwendung eines Ihrer Begriffe, so formulieren würde: Die Quelle, die Sinn etc. stiftet, liegt letztlich in den „unwillkürlichen Regungen“. Die Vernunft, schreiben Sie, sei das Vermögen, in Distanz zu diesen und in logisch kontrollierter Abwägung … – WAS zu bewirken? (Dieses WAS benennen Sie nicht. Wozu Distanz und Abwägung? Um die Ziele dieser Regungen auf optimalem Wege zu erreichen? Oder um sie mit den Vorgaben ergreifender Mächte in Einklang zu bringen? Oder fällt beides, Regungen und Mächte, letztlich in eins?) 17. Januar 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Ihr heute empfangener Brief hat einen Poststempel vom 16.01.01, Sie datieren ihn – offenbar versehentlich – auf den 01.01.01 Darin beurteilen Sie meine Hoffnung auf Rezepte etwas zu optimistisch. Ich meine nicht, die Welt würde schon wieder ins Lot kommen, wenn die Menschen sensibler auf ergreifende Mächte hörten, denn die kann man mit bloßer Sensibilität nicht heraufbeschwören; sie müssen auch da sein, um zu ergreifen. (Das Göttliche ist das Zufälligste, schreibe ich im ersten Paragraphen meines Buches „Das Göttliche und der Raum“.) Was ich mir vornehme, ist nur die besonnene Aufdeckung verschütteter Massen ganz normaler Lebenserfahrung unter der Decke der Besessenheit von einseitigen Denk- und Willenseinstellungen und verkünstelnden Abstraktionsrichtungen, damit wieder aus stärkerer und tieferer Ergriffenheit das Leben geführt werden kann als heute, wo die Menschen unter dem großartigen Pathos ihrer Rechte engstirnige Verbissenheit in kleinliche Zwecke verstecken. (Glück in der Liebe – was war das noch vor wenigen Jahrzehnten ein ungeheures Geschenk, und das Unglück, das ihm oft folgte, eine ebenso gewaltige Tragik; wie banal ist dagegen das, was man heute wie mit einem Allerweltswort „tragisch“ nennt, z.B. ein „tragischer Unfall“, egal, ob er wirklich die Mächtigkeit des Tragischen hatte.) Um wieder ein ergriffeneres Leben führen zu können, ist freilich mehr Sensibilität und Empfänglichkeit nötig, aber Formen dafür zu finden, bleibt Gabe eines glücklichen, genialen Gelingens; Rezepte gibt es nur für die Bereitschaft dazu. Für mögliche Ergriffenheit kommt es sicher auf unwillkürliche Regungen an, auf deren Bewährung im Gericht der kritischen Vernunft aber für den unbedingten Ernst dieser Ergriffenheit bzw. der Autorität des Ergreifenden. Sie fragen mich, was die Vernunft dabei bewirken soll, wozu

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Distanz und Abwägung gut seien. Sicher nicht, wie Sie vorschlagen, nur zur Organisation von Mitteln und zum Ausgleich entgegengesetzter Impulse. Dieses Organisationstalent der Vernunft, das ich gleichfalls wichtig nehme, unterscheide ich von ihrer Berufung zur kritischen Prüfung von Autoritäten. Die Vernunft, oder besser, in meiner Terminologie: die Person auf dem höchsten ihr jeweils erreichbaren Niveau personaler Emanzipation, hat bei der Prüfung kein anderes Kriterium als eben dieses Niveau; wenn sie sich auch da nicht (achselzuckend oder ironisch usw.) über die Autorität erheben kann, sondern sich ihr beugen muß, dann hat diese für sie unbedingten Ernst. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Dieses legendäre LutherWort meint genau das. Ganz ähnlich ist mein theoretisches Kriterium, die phänomenologische Revision: Ein Phänomen für mich ist zu einer gewissen Zeit ein Sachverhalt, dem ich dann (bei kritischer Prüfung) nicht im Ernst die Anerkennung verweigern kann, daß es sich um eine Tatsache handelt. Das Scheitern des Ablehnungsversuches ist die Bewährung in letzter Instanz. Die kritische Prüfung der Impulse scheint mir aber unerläßlich, damit diese nicht in pubertärer Voreiligkeit und Verantwortungslosigkeit stecken bleiben. Der „Prinz von Homburg“, aus dem ich Ihnen kürzlich etwas zitiert habe, bietet dafür vorzüglichen Anschauungsunterricht. Seinen naiven Angriffsimpuls, der ihn ins Gefängnis und zur Verurteilung zum Tode gebracht hat, empfindet der Prinz als so natürlich, daß er seinem Gegner nur die schwärzesten Motive unterstellt, bis ihn dieser durch das Angebot der Freilassung auf ein höheres Niveau personaler Emanzipation versetzt, wo der Prinz aus freien Stücken das Verwerfliche des Impulses erkennt und sich darüber stellt. Ohne diese kritische Prüfung wäre er ein großes Kind geblieben, so unreif, wie die Menschen heute, wenn sie dem mainstream (in Deutschland) folgend mit ihren Menschrechten umgehen. In Ihrem Brief geben Sie zu, daß meine Stirner-Interpretation aus einer gewissen Lektüre, mit Akzentuierung auf die von mir angeführten Stellen, korrekt ist, verweisen aber ohne nähere Angaben auf andere Stellen, wo Stirner über die von mir angefochtene Position hinausgegangen sei, und halten ihn mit Rücksicht auf diese Stellen für „denjenigen Denker, der am ehesten in unserer gegenwärtigen Situation (…) weiterhelfen kann, freilich nicht in unaufbereiteter Weise“. Bitte, ich bin ja bereit, zu lernen. Geben Sie mir doch die betreffenden Stellen an und bereiten Sie sie so auf, daß ich zu verstehen vermag, warum uns in unserer Lage gerade Stirner soll weiterhelfen können. Ich habe Ihnen schon oft geschrieben, daß Ihr Einhalten vor dieser Zumutung mir ein Urteil über die Aussichten Ihres LSR-Projektes unmöglich macht. Am 13. Dezember 2000 haben Sie in vergleichbarem Zusammenhang mir geschrieben: „Auch hier möchte ich wieder abbrechen.“ Sie halten also diese Geste des Abbrechens zur Wiederholung bereit. Nun bin ich nicht bereit, ohne dringendes Bedürfnis jemanden zu drängen,

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der mir etwas nicht verraten will, und möchte nicht, daß Sie diese Sätze als solche Bedrängung auffassen; aber allerdings ist dieses Zurückhalten nach wiederholten Andeutungen so auffallend, daß ich auf Ihre Briefe nicht eingehen kann, ohne es zur Sprache zu bringen. 25. Januar 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, in Ihrem Brief vom 17.1. kommen Sie zum wiederholten Male auf meine „Geste des Abbrechens“ zu sprechen, zu der ich bei der Darstellung meiner Gedankengänge immer dann sozusagen Zuflucht nähme, wenn ich Farbe zu bekennen hätte, namentlich, wenn ich die von mir stets nur behauptete Potenz Stirners, hier und heute geistig hilfreich zu sein, zu explizieren hätte. Ich streite jene Geste überhaupt nicht ab, meine aber, dass darin kein Ausweichen vor einer heiklen Thematik – genau dies ist es ja, was ich in meiner Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte des „Einzigen“ bei vielen Großphilosophen exponiere – zu sehen ist. Mein Grund ist schlicht der, dass ich an den Stellen, an denen ich abbreche, ansonsten eine längere Abhandlung anzufügen hätte, da in der Tat, wie auch unser Austausch zeigt, die singuläre Position, in der ich Stirner sehe, nicht in wenigen Sätzen zu vermitteln ist, ohne gravierende Missverständnisse zu riskieren. In unserer nun schon etwas länger andauernden Korrespondenz habe ich damit gerechnet, dass Sie an diesen Abbruchstellen im Geiste meine einschlägigen Ausführungen ergänzten. Damit kann ich mich allerdings im Irrtum befunden haben, weshalb ich Sie bitten möchte, mir zu schreiben, welche meiner Schriften Sie kennen. Dann könnte ich in Zukunft an solchen Stellen statt jener Geste einen genauen Hinweis setzen. Zuvor gehen Sie ausführlich auf die von mir am 16.1. (fälschlich mit 01.01.01 datiert) in den beiden letzten Absätzen aufgeworfenen Fragen zur Rolle der „Vernunft“ ein (diese verstanden als „die Person auf dem höchsten ihr jeweils erreichbaren Niveau personaler Emanzipation“). Der Vernunft komme die Aufgabe der kritischen Prüfung zu: sowohl der „unwillkürlichen Regungen“ bzw. „Impulse“ als auch „von Autoritäten“. Sie habe bei dieser Prüfung „kein anderes Kriterium als eben dieses Niveau“. Gut. Die Vernunft prüft also zum einen die Impulse. „Sicher nicht“, sagen Sie, zu dem Zweck, den ich am 16.1. genannt habe: um die optimale Erreichung des Ziels des Impulses zu bewirken. Sie schränken dann ein, setzen ein „sicher nicht nur“ und kommen nach einem Intermezzo (wie Vernunft Autoritäten prüft) zu der Aussage: „Die kritische Prüfung der Impulse scheint mir aber unerlässlich, damit diese nicht in pubertärer Voreiligkeit und Verantwortungslosigkeit stecken bleiben.“ Ich sehe darin keinen Widerspruch zu meiner Auffassung: denn Voreiligkeit und Verantwortungslosigkeit sind schädlich zur Erreichung des Ziels des Impulses. (Ihr Beispiel

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„Prinz von Homburg“ lässt mich dann aber doch vermuten, dass wir hier nicht einig sind.) Die Vernunft, sagen Sie, prüft zum anderen Autoritäten. Sie merke, dass sie es mit einer Autorität zu tun habe, wenn Sie sich nicht nonchalant etc. über sie erheben könne, sich ihr beugen müsse. Im Beugen vor einer – kritisch geprüften? – Autorität erlebe die Person den „unbedingten Ernst“ ihrer Situation. Sie zitieren zur Erläuterung das legendäre Luther-Wort: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Worin besteht eigentlich das kritische Prüfen von Autoritäten? Im probierenden „Frechsein“, bis eine Grenze erreicht ist? Was ist in Ihrem Sinne eine Autorität überhaupt? So etwas wie das Freud’sche Über-Ich (das bei der sog. Enkulturation des Kindes entsteht)? Ich gestehe, dass mir Ihre Sicht (auch die Worte über „ergreifende Mächte“ zu Beginn Ihres Briefs) nicht so recht einleuchtet, obwohl mir Ihre „Appelle“ an die Zeitgenossen, ein ernsthaftes Leben zu führen, dieses in der Gegenwart zu verankern, etc. sehr sympathisch sind und ich auch sonst in Ihren Briefen immer wieder unverhofft Übereinstimmung gefunden habe. Wahrscheinlich ist doch der „Fall“ Stirner das geeignetste und konkreteste Thema, um zu weiterer gegenseitiger Verständigung zu kommen. 26. Januar 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Von Ihnen besitze und kenne ich folgende Druckschriften: Ein dauerhafter Dissident „Katechon“ und „Anarch“, in zwei Fassungen: geheftet und als unkorrigierter Vorabzug Dissident geblieben Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Max Stirner Den Bann brechen! – Max Stirner redivivus. Diese Schriften klären mich aber nicht darüber auf, wie Ihre StirnerInterpretation von der meinigen abweicht, da wir uns über unsere fehlende Sympathie für die Sedimentierung von Einschüchterungen, wofür Sie das Freud’sche Konstrukt des Über-Ichs als Metapher brauchen, schon geeinigt haben. Meine Unsicherheit darüber, was Sie im Gegensatz zu mir aus Stirner herauslesen und machen wollen, hält also an. Dagegen will ich gern Ihre Fragen an mich aus Ihrem Brief von gestern beantworten, wenn ich mich wegen einer Reise nach Hamburg wahrscheinlich auch gleich einmal unterbrechen muß. Sie stellen mir etwa folgende Fragen: 1. Was ist in meinem Sinn eine Autorität? 2. Was bedeuten die Worte über ergreifende Mächte zu Beginn meines Briefes an Sie vom 17.1.?

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3. Worin besteht das kritische Prüfen von Autoritäten? 4. Wie unterscheidet es sich von der Suche nach dem Weg zur optimalen Erreichung des Zieles eines Impulses? Zu 1: (im Anschluß an meine Normenlehre, „Der Rechtsraum“ S. 119ff., „Der unerschöpfliche Gegenstand“ S. 323ff.): Eine Norm ist ein Programm für möglichen Gehorsam. Eine Norm gilt für jemand in seiner Perspektive, wenn er ihr oder einem ganzheitlichen Verhaltensmuster, dem sie integriert ist, in der Weise der Bereitschaft zu Gehorsam zustimmt. Sie gilt für ihn unverbindlich, wenn diese Geltung in seiner Perspektive in sein Belieben gestellt ist, sonst verbindlich. Die verbindliche Geltung besteht schon dann, wenn der Betreffende den Gehorsam höchstens befangen und zwiespältig verweigern kann. Eine Autorität ist eine Macht, durch die jemandem in für ihn unverkennbarer Weise die verbindliche Geltung einer Norm auferlegt wird. Für ihn unverkennbar ist die Weise, wenn er auch bei kritischer Prüfung nicht im Ernst bestreiten kann, daß diese Macht es ist, die ihm die verbindliche Geltung auferlegt. Ein Beispiel: Wenn jemand in dem leichtsinnigen Vertrauen „Mir kann doch nichts passieren“ bei unvorsichtigem Laufen stürzt und sich ein Bein bricht, gibt es einerseits die bekannten mechanischen Ursachen seiner Gehbehinderung, und andererseits zeichnet sich ihm die Wirklichkeit (das Sein, das Dasein) als die Autorität ab, die ihm durch Evidenz die Zustimmung zur Tatsächlichkeit des Sachverhaltes, daß ihm eben doch etwas passieren kann, abgewinnt. Als ergreifende Mächte bezeichne ich indessen nur Gefühle, gemäß meiner Charakteristik des affektiven Betroffenseins von Gefühlen als Ergriffenheit („Der Gefühlsraum“ S. 145). Zu 2: An der von Ihnen beanstandeten Stelle habe ich geschrieben, daß man ergreifende Mächte nicht mit bloßer Sensibilität heraufbeschwören könne. Ich beziehe mich damit auf meine Auffassung der Gefühle als räumlich (in gewisser Weise) ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären. Die Sensibilität besteht einerseits in der leiblichen Resonanzbereitschaft (namentlich der Schwingungs- und Spaltungsfähigkeit des vitalen Antriebs, vgl. z.B. „Die Liebe“ S. 35ff.), andererseits in der Offenheit für personale Regression, die durch Verhärtung auf einem Niveau personaler Emanzipation oft so blockiert wird, daß die Person Gefühle sozusagen „gar nicht an sich herankommen“ läßt. Wenn in beiden Hinsichten, der leiblichen und der personalen, die Voraussetzungen sensibler Empfänglichkeit für Gefühle gegeben sind, bleibt es immer noch offen, ob diese selbst als Atmosphären sich der Empfänglichkeit zur Verfügung stellen. Zurückgekehrt aus Hamburg kann ich die Antwort auf Ihre Fragen fortsetzen. Zu 3: Die kritische Prüfung der verbindlichen Geltung einer Norm durch die Vernunft (= personale Emanzipation) besteht darin, daß der Vernünftige bei sich feststellt, ob er der Norm ohne Zwiespalt und Be-

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fangenheit seine Bereitschaft zum Gehorsam entziehen kann. Dabei unterscheide ich zwei Stufen: von der einfach verbindlichen Geltung die mit unbedingtem Ernst verbindliche Geltung. Der Unterschied beruht darauf, daß eine Person gleichzeitig mehrere im Rang (d.h. im Abstand vom Leben in primitiver Gegenwart) verschiedene Niveaus personaler Emanzipation einzunehmen vermag. Ein Beispiel dafür ist die Scham über eine Blöße, die man sich in der Gesellschaft nach konventionellen Maßstäben gegeben hat. Noch der besonnene Erwachsene kann oft nicht umhin, sich der Autorität dieser Scham zu beugen, d.h. sich wirklich zu schämen, obwohl er auf einem noch höheren Niveau personaler Emanzipation als dem, auf dem er sich schämt, eigentlich darübersteht, vielleicht seine Scham belächelt. Wenn die Autorität eines Gefühls (d.h. die Verbindlichkeit der in der angegebenen Weise von ihm in verbindliche Geltung gesetzten Norm) die kritische Prüfung auch auf dem höchsten jeweils dem Prüfenden erreichbaren Niveau personaler Emanzipation übersteht, handelt es sich um eine Autorität mit unbedingtem Ernst für ihn (in seiner Perspektive). Die kritische Prüfung braucht keineswegs mit Frechheit verbunden zu sein. (Sie schreiben vom „probierenden ‚Frechsein‘, bis eine Grenze erreicht ist.“) Ein Gegenbeispiel entnehme ich einem von vielen Berichten, womit Hans Thomae in seinem Buch „Der Mensch in der Entscheidung“ (München 1960) seine psychologische Theorie der Entscheidungsfindung stützt. Ich zitiere von Seite 189f. des Buches einige Sätze aus diesem umfangreichen Bericht. „Mein schwerster Entschluß war der, mich innerlich aus der Kirche zu entfernen. Ich war damals achtzehn, es war eine graue Zeit im November. Ich ging eine kahle Höhe hinauf, kein Mensch war weit und breit. Schweres Gewölk hing von dem Himmel und mehrte die innere Düsternis. (…) An jenem Tag nun, als ich auf jene kahle Höhe hinaufging, tauchte auf einmal die Überlegung auf, ob es denn nicht ehrlicher sei, es im Leben auch einmal ohne ‚Ihn‘ zu versuchen. Diese Regung wurde in keiner Weise als etwas Angenehmes empfunden. Im Gegenteil: die Aussicht auf ein Leben dieser Art schien jenem grauen, trübseligen Novembertag mindestens zu gleichen. (…) In der Logik jener Kämpfe, die ich hier schildere, schien es aber Gott und dem Menschen gemäßer zu sein, das Schwerste über sich zu bringen und auf jene Geborgenheit zu verzichten. Der daraus sich bildende Vorsatz, die innere Vereinsamung zu suchen, jedem Zuruf ‚von dort‘ zu mißtrauen und jeden Ruf ‚dorthin‘ zu meiden, war scharf und schmerzhaft.“ Hier scheitert die Autorität kirchlicher Frömmigkeit mit dem Anspruch einer Verbindlichkeit mit unbedingtem Ernst an der Versetzung auf ein höheres Niveau personaler Emanzipation, das der Prüfende mit grübelnder Anstrengung mühsam erreicht und festhält. Zu 4: Von der dargestellten kritischen Leistung der Vernunft, die sich lediglich auf Normen mit Anspruch auf verbindliche Geltung für den Prüfenden in dessen Perspektive bezieht, unterscheide ich die organisatorische

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bei der Bereitstellung eines Netzes von Mitteln für Zwecke und bei der Koordinierung der Zwecke zwecks Meidung von Reibungen bei der Ausführung, wobei die Zwecke selbst Normen beliebiger Art (verbindlich oder unverbindlich geltende) sein oder auf solchen beruhen können. Die kritische Leistung kann für die organisatorische von großem Nutzen sein, z.B., wie Sie schreiben, „um die optimale Erreichung des Ziels des Impulses zu bewirken“. Oft ist aber bei einem Impuls, d.h. einem impulsiv sich aufdrängenden Programm, gar nicht gleich klar, um welches Ziel es sich handelt, und noch weniger, welches Gewicht dieses Programm auf dem Hintergrund des diffusen Gesamtstrebens der Person besitzt. Wollen besteht zu einem großen Teil darin: zu wissen, was man will. Wissen, was man soll (d.h. durch kritische Prüfung sich darüber klar zu werden, welchen Normen man die verbindliche Geltung für sich nicht entziehen kann), kann dabei eine wichtige Hilfe sein. 8. Februar 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, jetzt, wo Sie ausdrücklich schreiben, welche meiner Stirner-Schriften Sie besitzen und kennen, zugleich aber mitteilen, dass diese Sie nicht darüber aufklären, in welcher Hinsicht meine Stirner-Interpretation von Ihrer abweicht, bin ich ziemlich ratlos. Diese Ratlosigkeit ist – neben derzeit erhöhtem Zeitaufwand für die Internet-Seiten meines „LSR-Projekts“ – auch der Grund dafür, dass ich mit diesem Brief etwas in Verzug bin. Gewiss, meine Schriften stellen kein wirkliches „Werk“ dar, meine Stirner-Schriften zusammengenommen vielleicht auch keine umfassende Monographie; aber sollte ich mich, bei aller Mühe, so unklar ausgedrückt haben, dass Sie – unseren brieflichen Austausch mitgerechnet – den Unterschied unserer Stirner-Bilder nicht erkennen können? Offenbar! Was kann ich also tun? Wenig Sinn sehe ich in dem Versuch, Schriften und Briefe so zu kondensieren, dass jener Unterschied hier in einem Satz erscheint. Das wäre zwangsläufig noch gravierender missverständlich als es meine Schriften offenbar sind. Vielleicht kann ich an Ihren Satz anknüpfen, in dem Sie sagen, wir hätten uns „über unsere fehlende Sympathie für die Sedimentierung von Einschüchterungen, wofür Sie [= ich] das Freud’sche Konstrukt des ÜberIchs als Metapher brauche[n], schon geeinigt.“ Ich hingegen vermute eher, dass genau hier unser Dissens liegt. Und in meiner Stirner-Interpretation ist ja jenes „Über-Ich“ der Angelpunkt. Sie schreiben nun am 9.1. eher beiläufig von einem „eingebläuten“ Über-Ich „à la Freud“ und subsumieren dies unter die Kategorie „Einschüchterungsversuche“. Dies scheint mir darauf hinzudeuten, dass wir hier aneinander vorbeireden. Freud hinterließ zwar einen eher unklaren Begriff von Über-Ich, und ich glaube, dass die uferlose Verbreitung der Psy-

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choanalyse hier eher noch größere Unklarheit gebracht hat – zumal dies ein kulturtheoretisch brisantes Thema ist bzw. werden könnte. Soviel aber scheint mir klar, dass bei Freud das Über-Ich nichts „Eingebläutes“ ist, sondern etwas vornehmlich auf subtile, unbewusste Weise bei der Enkulturation eines Kindes Introjiziertes, dann Internalisiertes, was später die Basis für die „Identität“ des Erwachsenen ist: als Autonomie empfundene Heteronomie. Ich habe mich in meinen Schriften bewusst nicht auf dieses vage Freud’sche Über-Ich bezogen, habe diesen bei mir provisorischen Begriff sogar noch weniger bestimmt. Den Grund dafür kann ich vorerst nur andeuten: ich ziele letztlich darauf ab, von diesem – wie Sie es nennen – Freud’schen Konstrukt zu einer „ganzheitlichen“ Erfassung dessen zu gelangen, was Wilhelm Reich (3. von LSR) die „physiologische Verankerung der Unfreiheit“ genannt hat, ein Konzept, in dem – grob gesagt – der Reich’sche psychophysische „Charakterpanzer“ das ist, was die Person an ihrer Entfaltung hindert – vielleicht, was (in Ihrer Terminologie) die Grenze der personalen Emanzipation setzt. Ihre Erklärungen zu Autorität und ergreifenden Mächten habe ich dankbar entgegengenommen. Der Zusammenhang mit der Über-Ich-Problematik erscheint mir evident. Ich kann jedoch heute, aus Zeitmangel, darauf nicht eingehen, werde dies aber später gewiss tun. Da Ihnen von den „Stirner-Studien“ die erste fehlt, darf ich Sie Ihnen diesem Brief beilegen. Diese Editionsgeschichte des Stirner’schen „Einzigen“ ergänzt die Wirkungsgeschichte. 9. Februar 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Aus Ihrem gestern datierten Brief entnehme ich, daß Sie subtile, unbewußte Einflüsse auf das Kind bei dessen Enkulturation ebenso wie gröbere Einschüchterungen für die Quelle eines Charakterpanzers halten, der die Person an der Entfaltung hindert, und zugleich für die Quelle einer Selbsttäuschung, die Heteronomie als Autonomie verkennt. Obwohl Sie es nicht ausdrücklich sagen, nehme ich doch an, daß Sie darauf hinwirken wollen, diesen Panzer zu sprengen, und zwar durch Verstopfung aller seiner (gesellschaftlichen?) Quellen, weswegen Sie nach einem ganzheitlichen Konzept für deren Zusammenfassung suchen. Sie identifizieren versuchsweise den Panzer mit den Grenzen personaler Emanzipation in meinem Sinn. Offenbar verstehen Sie Stirner als Ihren Vorreiter auf diesem Wege. Habe ich Sie richtig verstanden? Wenn ja, ist mir immer noch nicht klar, worin Ihre Stirner-Interpretation von der meinigen abweicht, denn ich verstehe Stirners Intention ja genau in diesem Sinn. Fast möchte ich vermuten, daß wir gar nicht in der Interpretation, sondern in der Bewertung der Anregungen Stirners abweichen. Für mich ist er ein heroischer Don Quijote, der einem absurden Ideal von Autonomie der Vernunft im Sinne einer alle

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Grenzen überschreitenden personalen Emanzipation anhängt. Was bei einer solchen Entfaltung der Person herauskommt, kann nach meiner Einschätzung nur ein Verpuffen sein, Verdampfung kraftvollen Wollens in kleinliche Launen ohne große Ziele, am Ende Katzenjammer heulenden Elends. Deshalb bin ich aber nicht etwa ein Befürworter suggestiver oder aggressiver Einschnürung persönlicher Lebensentfaltung. Im Gegenteil neige ich zu der Einschätzung, daß erst die Getragenheit vom Nomos einer implantierenden gemeinsamen Situation der Person die Freiheit gibt, sich auf die ihr gemäße Weise zu entfalten, auch in der Auseinandersetzung mit diesem Nomos. Von Autonomie halte ich überhaupt nicht viel; ich setze an ihre Stelle eine Autokritik der Vernunft, etwa im Sinn der folgenden schönen Bemerkung Goethes aus den „Maximen und Reflexionen“: „Es begegnet mir von Zeit zu Zeit ein Jüngling, an dem ich nichts verändert noch gebessert wünschte; nur macht mir bange, daß ich manchen vollkommen geeignet sehe, im Zeitstrom mit fortzuschwimmen, und hier ist’s, wo ich immerfort aufmerksam machen möchte: daß dem Menschen in seinem zerbrechlichen Kahn eben deshalb das Ruder in die Hand gegeben ist, damit er nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht Folge leiste.“ Das Meer muß tragen, die Wellen müssen Schwung geben, damit die Fahrt nicht lahmt; die Kraft kommt nur zum Teil vom Ruder; ohne getragen zu werden, würde der Kahn versinken; aber die Richtung wird vom Steuernden mitbestimmt, nicht jedoch durch ein willkürliches Gesetz, das er sich und seinem Fahrzeug gibt, sondern durch geschicktes Ausnützen des Spielraums, den ihm der ihm mitgeteilte Impuls läßt. Diesen Spielraum, wie auch die ganze Fahrt der Person auf dem Wege ihrer Entfaltung, sehe ich als labil und prekär an, daher als schutzbedürftig und -würdig; gegen seine Einschnürung durch offenen oder heimlichen Druck mit List oder Gewalt bin ich sehr empfindlich. Für ein großes Verdienst Stirners halte ich die Entlarvung falscher, flacher Autonomiehoffnungen der Linkshegelianer wie Feuerbach und Marx. Aber ich will nur Zweige und Schlingpflanzen wegschneiden, nicht den Ast (implantierender Situationen) absägen, auf dem ich sitze. Daher das 8. Kapitel meines Hitlerbuches, an dem Sie Anstoß nehmen. Vielleicht kommen wir hier an den springenden Punkt unseres Gegensatzes. 14. Februar 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, bei Ihrem letzten Brief hatte ich – nicht zum ersten Mal übrigens – den Eindruck, dass Sie in unserem Austausch gelegentlich „mäeutische“ Absichten verfolgen. Im ersten Drittel fassen Sie recht treffend den Inhalt meines vorangegangenen Briefes zusammen (bis auf einen, aber doch wesentlichen Punkt: jenen – im Sinne Reichs – psychophysisch zu verstehenden Charakterpanzer, von dem dort die Rede war, würde ich nicht gern,

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wie Sie schreiben, „gesprengt“ sehen; er sollte erst gar nicht entstehen; Prophylaxe statt Therapie, was natürlich, selbst wenn eine große Anzahl Menschen diesem Konzept zustimmte, ein Projekt über viele Generationen mit vielerlei technischen Korrekturen etc. werden würde, das sich dem Ideal nur asymptotisch näherte) und sagen dann, dass Ihnen damit noch immer nicht klar ist, worin sich unsere Stirner-Interpretationen unterscheiden. Sie vermuten, der Unterschied liege gar nicht in der Interpretation, sondern in der Bewertung. Stirner ist für mich, wie Sie richtig bemerken, ein Vorreiter, nicht mehr als das. Aber das ist doch schon sehr, fast möchte ich sagen: unendlich viel, denn die „großen Denker“ verfolgen letztlich gegenstrebige Ziele (was freilich – ich verkenne das nicht – eine tiefe Problematik birgt). Sie fassen am 9.2. noch einmal zusammen, was Sie zuvor schon hier und da ausführlicher gesagt haben: 1) Stirners großes Verdienst sei die Entlarvung falscher, flacher Autonomiehoffnungen der Linkshegelianer, z.B. Feuerbach und Marx. 2) Stirner sei ein heroischer Don Quijote, der einem absurden Ideal von Autonomie der Vernunft im Sinne einer alle Grenzen überschreitenden personalen Emanzipation anhängt. Das ist wohl so zu verstehen, dass Sie 1) als Folge von 2) ansehen: Stirner habe demonstriert, wohin konsequentes aufklärerisches Denken führt. Dass Marx, Nietzsche et al. davor zurückschauderten, erscheint Ihnen nur zu verständlich. Aber wenigstens die Art und Weise dieser Reaktionen könnte doch vor einem Achselzucken bewahren (weshalb ich sie in meinem Buch „Ein dauerhafter Dissident“ und in einigen Folgekapiteln im Internet zusammengestellt habe). Ich glaube nicht, dass wir Stirner ähnlich interpretieren und nur unterschiedlich bewerten. Wenn Sie sagen, bei einer Entfaltung der Person im Sinne Stirners komme ein Verpuffen kraftvollen Wollens in kleinlichen Launen mit Katzenjammer und heulendem Elend heraus, so kann ich mich dem nicht anschließen und dies nur anders – statt mit Ihnen negativ: positiv – bewerten. Dito, wenn Sie sagen, Stirner säge nicht nur lästige Schößlinge und Schlingpflanzen ab, sondern auch den Ast, auf dem er sitzt. Was Sie mit diesen Bildern schildern, ist meinem Eindruck nach der aktuellen Situation der „westlichen“ Menschen ähnlich, aber nicht der Stirner’schen Vision. Sie sorgen sich um den Nomos einer implantierenden Situation, der allein den Menschen zu tragen vermag und ihm durchaus nicht die kritische Auseinandersetzung mit ihm verwehrt (vielleicht analog zur Muttersprache, die man erst einmal können muss, um sich ihr gegenüber kritisch, auch kreativ zu verhalten). Aber dieser Nomos ist – wie immer man das beurteilen mag – in einem progressiven Prozess der Zersetzung. Wie das weitergehen wird, mag ich mir gar nicht ausmalen. Dass die Menschen die Chance

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nutzen und bewusst versuchen werden, den oben im ersten Absatz skizzierten Weg einzuschlagen, halte ich keineswegs für wahrscheinlich. Aber noch weniger wahrscheinlich scheint es mir, dass – nach Überschreiten der „Schwelle“ – ein Nomos in Ihrem Sinne wiedererstehen wird. Der Bedeutung der „Schwelle“ entsprechend müsste etwas „ganz Neues“ entstehen. 15. Februar 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Zu meinen grundlegenden anthropologischen Maximen gehört die Überzeugung, daß man eine Person (d.h. Bewußthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, sich für etwas oder etwas für sich zu halten) nur durch Ineinandergreifen personaler Emanzipation (Objektivierung zuvor subjektiver Bedeutungen, d.h. Sachverhalte, Programme, Probleme) und personaler Regression (Resubjektivierung durch affektives Betroffensein, z.B. Erschütterung, Ergriffenheit, Beklommenheit, Angst, Schmerz, Scham, Wollust, Überraschung, Enttäuschung, stürmische Freude, Albernheit, Ausgelassenheit, Jähzorn, Lachen, Weinen) sein kann, weil für die zur Selbstzuschreibung gehörige Identifizierung ohne personale Emanzipation das Referens und ohne personale Regression das Relat (das, wofür man etwas hält, indem man es für sich selber hält, nicht nur für einen gewissen H.S. oder einen gewissen gerade Sprechenden) fehlen würde. Deswegen glaube ich nicht an die Möglichkeit einer stabilen personalen Emanzipation, wie sie vor Stirner schon die antiken Stoiker intendierten, bloß, daß sie auf einem bestimmten Niveau der personalen Emanzipation (Unerschütterlichkeit durch konsequentes Befolgen der Ordnung der Natur) Halt machten, während Stirner alle Grenzen der Niveaubestimmung sprengen will. Das führt, wie ich im vorigen Brief schrieb, bloß zu haltlosem Verpuffen, weil die personale Emanzipation der Hemmung durch nicht planmäßig steuerbares Betroffensein bedarf, um ihren Beitrag zur Person zu leisten. Ich gebe zu, daß die implantierenden Situationen nicht ganz so unentbehrlich für die Personalität sind, weil es für relativ seltene Ausnahmemenschen das Geschenk des starken Daimon gibt, der ihnen auch ohne solche Stütze den Weg vorzeichnet. Aber auch diesen wird die Hemmung ebenso wie die Entlastung durch implantierende Situationen von großem Nutzen sein, um sich auf ihrem Weg zurechtzufinden. Aus dem „Charakterpanzer“, den Sie nur negativ werten, können Flügel werden, es kommt nur darauf an, was der Mensch daraus macht. Freilich bleiben von solcher Auseinandersetzung „Eierschalen“ an ihm hängen, und Narben in seiner Persönlichkeit; ich kenne das aus meiner kinderzeitlichen Befaßtheit mit den geradezu heimtückischen Seelenfallen und -fangnetzen der katholischen Kirche. Aber wenn die Narben in die persönliche Situation einheilen und darin fruchtbar verarbeitet werden, können sie große Chancen werden. Implantierende Situationen sind ein enormes Kapital unentfremdeter Naivität für Objek-

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tivierung (Neutralisierung) und Resubjektivierung (umgestaltende Wiederaneignung) von Bedeutungen. Ich gebe zu, daß ihre Auflösung schier unaufhaltsam voranzugehen scheint, aber es scheint mir unrealistisch, auf einen geradlinigen Verlauf der Geschichte zu setzen. Vielleicht werden schon im nächsten Jahrhundert bei uns die Hindu-Götter einbrechen, die ein viel stärkeres Potential elementarer Betroffenheit einschließen als der heute aufdringliche, aber nur als sterile Rückzugsposition mächtige Islam. Einen wesentlichen Unterschied unserer Stirner-Interpretationen kann ich trotz Ihres gestrigen Briefes noch nicht entdecken. 26. Februar 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Damit Sie sich nicht wieder wundern, wenn ich Ihnen auf einen eventuell in den nächsten Tagen bei mir eingehenden Brief nicht gleich antworte, mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich morgen verreisen und erst am 8.02. abends von einer Vortragsreise nach Japan zurück sein will. Bei dieser Gelegenheit: Vor Absendung meines Briefes vom 17. Januar 2001 an Sie habe ich versehentlich versäumt, die Rückseite des ersten Blattes zu kopieren. Könnten Sie mir eine Kopie dieser Seite schicken? 5. März 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, dem, was Sie eingangs in Ihrem Brief vom 15.2. – für dessen Beantwortung ich mir wegen Ihrer Japanreise etwas mehr Zeit lassen konnte – über das Wesen einer Person sagen (Wechselspiel von Objektivierung subjektiver Bedeutungen und Resubjektivierung) will ich nicht widersprechen; Ihre Folgerung in Bezug auf Stirner (dessen Intention Sie hier mit der der antiken Stoiker verglichen) kann ich hingegen nicht nachvollziehen. Ich meine nicht, dass Stirner eine „stabile personale Emanzipation“ in Ihrem Sinne vorschwebte, bzw. dass er jene „Resubjektivierung“ unterbunden sehen wollte. Ist das nicht ein wesentlicher Unterschied zwischen Ihrer und meiner Stirner-Interpretation, den Sie lt. Schlusssatz vom 15.2. noch immer nicht entdecken können? Ich glaube auch nicht, dass Stirner das, was Sie implantierende Situationen nennen („ein enormes Kapital unentfremdeter Naivität …“), generell eliminiert sehen wollte – wohl aber die Art von impl. Sit., wie sie bisher allenthalben zu beobachten war (als Bluts- oder/und Wahngemeinschaften). In meiner Interpretation Stirners ist also die fortschreitende Zersetzung jener alten impl. Sit. zu bejahen. Was jedoch noch kaum zu beobachten ist, ist die Entstehung eines neuen Typs (Mensch samt impl. Sit.) – etwa in dem Sinne, dass der Anteil von Menschen mit starkem Daimon zunimmt

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(diese aber nicht à la Napoléon, Hitler …, sondern nach Stirners Vision des von „Besessenheit“ freien „Eigners“). Aber vielleicht ist eine solche Beobachtung des Wandels uns Zeitgenossen auch nicht möglich. Vielleicht vollzieht sich diese Entwicklung unmerklich; vielleicht wird sie ausbleiben. Ein katastrophales Ende scheint derzeit sehr viel wahrscheinlicher. Doch wenn dies erst in hundert Jahren sein wird, so beunruhigt mich das – da ich nicht Gott bin – wenig. Gewiss haben Sie Recht, wenn Sie sagen, man solle realistischerweise nicht auf einen geradlinigen Gang der Geschichte spekulieren (ich tue das ja auch nicht). Was ich aber erst recht nicht für realistisch halte, ist Ihre (spielerische?) Spekulation, die Hindu-Götter könnten „uns“ im nächsten Jahrhundert heimsuchen. Das ist das, was mir an Ihrer Position am wenigsten plausibel erscheint: Einerseits vergleichen Sie („Selbstdarstellung als Philosophie“, S. IX) die „Krise“ der europäischen Menschheit seit der neuzeitlichen Aufklärung mit jener, die jeder einzelne Mensch in der Pubertät durchlebt (dem ich cum grano salis zustimme, weil für den Moment außer Acht bleiben kann, wie wir Pubertät auffassen und dass Sie Fichte hervorheben und ich meine drei „Parias“ Lamettrie/Stirner/Reich); schreiben Sie, dass damit eine historisch präzedenzlose Schwelle in der Menschheitsentwicklung überschritten sei. Andererseits meinen Sie, zumindest implizit, dass nach der „Pubertätskrise“ der europäischen Menschheit diese wieder in ihre Kindheit (oder die anderer Kulturen) zurückfallen werde/solle/müsse. Oder bin ich blind für Ihre Vision der erwachsenen Menschheit? PS: Zu Ihren Ausführungen zum (auch) positiven Wert des „Charakterpanzers“, zu den Chancen in den Auseinandersetzungen mit den „geradezu heimtückischen Seelenfallen und -fangnetzen der katholischen Kirche“ usw. ggf. später. – Beiliegend wunschgemäß eine Kopie der S. 2 Ihres Briefes vom 17.01.01. 10. März 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Ihre freundliche Erwartung ist in Erfüllung gegangen, ich habe meine Japanreise – mit Vorträgen in Kyoto (auf einer Tagung „Neue Phänomenologie und kollektives Bewußtsein“; die N. Ph. Ist die meinige) und Osaka – zu meiner vollen Zufriedenheit überstanden und bei der Rückkehr vorgestern abend Ihren Brief vom 5. März (dankbar für die erbetene zweite Seite meines Briefes vom 17. Januar) gefunden. Trotz Ihres Protestes gegen meine Unterstellung eines Ideals stabiler personaler Emanzipation bei Stirner kann ich noch keine Abweichung unserer Stirner-Interpretationen erkennen. Ich muß Ihnen wohl meine Meinung noch etwas verdeutlichen. Selbstverständlich hält Stirner nicht, wie die Stoiker, ein bestimmtes Niveau personaler Emanzipation stabil fest; darin ist er Erbe Friedrich

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Schlegels, der romantischen Ironie. Auf diesen Gegensatz zu den Stoikern habe ich in meinem letzten Brief schon hingewiesen. Wohl aber scheinen mir die Hedoniker oder Kyrenaiker seine Vorläufer unter den antiken Philosophen zu sein. Von deren Protagonisten, dem älteren Aristipp, ist bei Diogenes Laertius das Bonmot „ἐχω αλλ‘ ούκ ἐχομαι“ („Ich halte, aber ich werde nicht gehalten“, zur Verteidigung seines Umgangs mit der Dirne Laïs) überliefert, ausführlicher: „Ich habe (halte), aber ich werde nicht gehabt (gehalten); ist ja doch das Herrschen über die Lüste an Stelle der Unterlegenheit ihnen gegenüber das Beste, nicht der Verzicht.“ An anderer Stelle (vgl. von mir System der Philosophie III 2 S. 487 A. 1323) ist überliefert: „Über die Lust herrscht nicht, wer sich ihrer enthält, sondern, wer sich ihrer zwar bedient, aber sich nicht aus der Bahn tragen läßt; so wie über Schiff und Pferd nicht herrscht, wer sie gar nicht gebraucht, sondern wer sie dahin führt, wohin er will.“ Dazu Stirner (Reclamausgabe) S. 157: „Ein Interesse, es sei wofür es wolle, hat an mir, wenn ich nicht davon loskommen kann, einen Sklaven erbeutet, und ist nicht mehr mein Eigentum, sondern Ich bin das seine.“ S. 402: „Kein Gedanke ist heilig (…), kein Gefühl ist heilig (kein heiliges Freundschaftsgefühl, Muttergefühl usw.), kein Glaube ist heilig. Sie sind alle veräußerlich, mein veräußerliches Eigentum, und werden von Mir vernichtet wie geschaffen.“ Das Ideal stabiler personaler Emanzipation, das ich Stirner zuschreibe, besteht im Anspruch auf diese Rolle des frei verfügenden Eigentümers gegenüber allem Ergreifenden. Die Resubjektivierung durch personale Regression, die ich als für Selbstzuschreibung unentbehrliches Gegengewicht der vermeintlich stabilen, in Wirklichkeit verstiegenen personalen Emanzipation entgegensetze, besteht dagegen in der erlittenen, durch affektives Betroffensein der emanzipierten Person abgenötigten Preisgabe dieser überlegenen Stellung eines Stirner’schen Eigners oder Eigentümers und kann auch nicht als Diät oder Gymnastik eingeübt, sondern nur als Schicksal empfangen und durchgemacht werden (selbst beim einfachen Lachen – wie gequält und geschmacklos wird es, wenn man es einübt, um Eigentümer seines Lachens zu bleiben). Da Sie sich in Ihrem Brief auf „Stirners Vision des von ‚Besessenheit‘ freien ‚Eigners‘“ berufen, glaube ich, daß wir diesbezüglich in der StirnerInterpretation, wenn auch nicht in der Bewertung des interpretierten Sinnes, einig sind. Aus dem Gesagten scheint sich mir auch zu ergeben, was Sie an meiner „Vision der erwachsenen Menschheit“ unverständlich finden. Ich glaube nie und nimmer, daß der der Person unentbehrliche Kreislauf personaler Emanzipation und personaler Regression wie ein Kunststück eingeübt und damit der Person als frei verfügendem Eigner unterstellt werden kann. Man kann aber lernen, geschmeidiger zu werden, die Elastizität im Wellengang von Ergriffenheit und objektivierender Abstandnahme zu steigern, siehe „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 380. Ich erinnere an das „Egmont“-

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Zitat in meinem Brief an Sie vom 29. September 2000, auch an die Nachschrift vom 5. September zu meinem Brief vom 4.09. Die in der europäischen Intellektualkultur dominierenden Denker seit dem Altertum haben einseitig die personale Emanzipation von der Ergriffenheit oder „Besessenheit“ (Stirner) eingeübt, mit Höhepunkten wie dem stoischen Weisen oder dem Stirner’schen Eigner; ich empfehle die Geschmeidigkeit des Wellenreitens zwischen Gefaßtheit und Fassungslosigkeit, wozu auch eine Heimsuchung durch die Götter des Hinduismus gehören könnte, aber nicht als sportliches Vergnügen, sondern in besonnener Bereitschaft für das Schicksal, Mensch zu sein. 18. März 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, am 5.3. schrieb ich: „Ich meine nicht, dass Stirner eine ‚stabile personale Emanzipation‘ in Ihrem Sinne vorschwebte, bzw. dass er jene ‚Resubjektivierung‘ unterbunden sehen wollte. Ist das nicht ein wesentlicher Unterschied zwischen Ihrer und meiner Stirner-Interpretation, den Sie lt. Schlusssatz vom 15.2. noch immer nicht entdecken konnten?“ Sie antworteten: „Trotz Ihres Protestes [sic!] gegen meine Unterstellung eines Ideals stabiler personaler Emanzipation bei Stirner kann ich noch keine Abweichung unserer Stirner-Interpretationen erkennen.“ Sie bringen dann ein Stirner-Zitat zur Stützung Ihrer Auffassung (Reclam-EE, S. 402): „Kein Gedanke … kein Gefühl … kein Glaube ist heilig. Sie … werden von Mir vernichtet wie geschaffen.“ Ich will keineswegs bestreiten, dass dieses Zitat – und sicher gibt es noch einige weitere – Ihre Interpretation Stirners stützt. Ich hatte Ihnen ja schon früher bereitwillig zugegeben, dass Ihr Stirner sich durchaus mit Zitaten belegen lässt. Mein Stirner indes, ebenso belegbar wie Ihrer, ist ein Anderer; einer, der nicht so einen Unsinn sagt, wie im obigen Zitat impliziert: Ich erschaffe meinen Glauben und vernichte ihn wieder. Vieles von dem, was im „Einzigen“ steht, erscheint mir überhaupt nicht „vorbildlich schlicht und klar“, wie Sie („Selbstdarst.“, S. 83) loben, insbesondere nicht der oft und gern zitierte Schluss seines Buches – den Sie „Selbstdarst.“, S. 74) als großartig bezeichnen. An Ihrer Auswahl und Kommentierung der Stirner-Zitate habe ich zuerst gemerkt, dass unsere Stirner-Interpretationen unterschiedlich sind. Wenn aber Ihnen dieser Unterschied auch nach Lektüre meiner Schriften, insbesondere von „Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Max Stirner“, nicht erkennbar ist, machen Sie mich ratlos. Dabei habe ich immer wieder den Eindruck, dass Ihre Beschreibungen des „richtigen Lebens“, sei es mittels Zitaten, sei es in eigenen Begriffen und Metaphern, durchaus mit meinem Stirner vereinbar sind. Der „Kreislauf personaler Emanzipation und personaler Regression“ z.B.: der „Eigner“ kann natürlich nicht „frei“ (was könnte das Wort überhaupt für einen

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Sinn haben? „freier Wille“?) über ihn verfügen. Sie sagen, dieser Kreislauf könne nicht „der Person … unterstellt“ werden. Man könne aber lernen, geschmeidiger zu werden. Einverstanden! – Hier sehe ich eine Möglichkeit zur Klärung des Unterschieds unserer Positionen. Das Geschmeidigerwerden entspräche bei meinem Stirner der „Empörung“, d.h. der Selbstbefreiung des reflektierenden Erwachsenen von Besessenheiten und Rigiditäten, die ihm in Kinderjahren aufgenötigt wurden. Weil dazu aber erfahrungsgemäß nur sehr Wenige in der Lage sind, wäre, meinem Stirner zufolge, die Prävention, die Nichtzufügung jener Besessenheiten, Rigiditäten etc. angezeigt – was natürlich „leichter gesagt als getan“ ist. Die Vision meines Stirner ließe sich also – mit einigen Erläuterungen – durchaus mit Ihrem Bild des geschmeidigen Wellenreiters vereinbaren. Der „Eigner“ meines Stirner phantasiert sich nicht als aus „freiem Willen“ „allmächtig“ agierend („alles erschaffend und vernichtend“, „sich selbst verzehrend“ etc.); er hat nur keine „ehrfürchtige“ Einstellung gegenüber wem oder was auch immer; es gibt für ihn nichts „Heiliges“ – so doch auch der Wellenreiter oder der Steuermann des Floßes auf einem reißenden Strom. – Auch mit dem Bild des „Charakterpanzers“ (W. Reich), den ich nicht, wie Sie am 15.2. unterstellen, nur negativ sehe, lässt sich die Vision meines Stirner veranschaulichen: er ist von Vorteil, wenn er mich nicht einengt, mich aber vor Verletzungen schützt (ohne dass ich über ihn, wie etwa über ein Schild, verfügen müsste). Auf meine Nachfrage zu Ihrer Vision einer erwachsenen Menschheit (nach der „Pubertätskrise“) schreiben Sie: „Aus dem Gesagten scheint sich auch zu ergeben …“ Ich kann aus dem Vorhergehenden leider keine Antwort auf meine Frage ableiten – zumal mich irritiert hat, dass Sie (ausgerechnet oder beispielsweise) eine Heimsuchung durch (Hindu-)Götter erwarten. Wird es – angenommen die Pubertätskrise sei durchlebt – wohl auch noch die „heimtückischen Seelenfallen und -fangnetze der katholischen Kirche“, von denen Sie am 15.2. schrieben, geben können? Worin, frage ich, wird dann eigentlich das „Erwachsengewordensein“ des Menschen bestehen? 20. März 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Gern höre ich, daß Ihr Stirner meinen anthropologischen Konzepten nahe steht. Zwar weiß ich nicht, auf welche Stellen Sie Ihre Auslegung stützen, aber mit dieser Frage will ich Sie nicht bedrängen; besteht doch das Verdienst großer Philosophen oft zur Hälfte darin, Gelegenheit und Anregung dafür zu bieten, daß die Ausleger herausholen, was sie hineingelegt haben. Wie wollte man sonst etwa das Ansehen Kants rechtfertigen? Nur an einer Stelle möchte ich gegen die Annäherung Einspruch erheben, nämlich wo Sie die Ehrfurcht und das Heilige abschaffen wollen. Das Heilige

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hat für mich die Gestalt einer mächtig ergreifenden Autorität mit unbedingtem Ernst im Sinne meines Briefes vom 26. Januar, also mit einem Gewicht, das auch durch die Kritik des Ergriffenen auf dem höchsten ihm erreichbaren Niveau personaler Emanzipation nicht gehoben werden kann. Wenn Sie dagegen nur eine fügsam mit stumpfsinniger oder feiger Verweigerung des Wagnisses der Mobilisierung eigener Kritikfähigkeit (sapere aude!) hingenommene Autorität angreifen, bin ich auf Ihrer Seite, aber dann stellen wir uns nicht gegen das Heilige, sondern gegen den Götzendienst, das Pseudo-Heilige. Dem Heiligen ist Ehrfurcht durchaus angemessen, und ich möchte weiter gehen: In gewisser Weise habe ich vor allem Ehrfurcht, insofern es in seiner Art bedeutend ist, etwas zu sagen hat, das auch mir Anerkennung gebietet, sofern ich nur richtig hinhöre. In diesem Sinn könnte ich den scholastischen Satz „omne ens bonum“ ersetzen durch „omne ens sanctum“. Damit meine ich aber nicht eine solche „Ehrfurcht vor dem Lebendigen“ wie die, die Albert Schweitzer dazu brachte, auf eiligem Weg zum Bahnhof ruckartig stehen zu bleiben, so daß sein Begleiter, mit ihm durch eine Tragestange verbunden, beinah hingefallen wäre, bloß um ein Insekt oder Kriechtier vom Boden aufzulesen und zu retten. Meine Ehrfurcht umfaßt auch die Grausamkeit, die, wie ich öfters ausgeführt habe, zum Leiblichsein gehört. Sie fragen mich, wohin denn die Reifung der Menschheit führen solle, sofern diese die Reifungskrise, von der im Schlußabschnitt meines Buches „Selbstdarstellung als Philosophie“ die Rede ist, bestanden hat, wenn dieselbe Menschheit dann noch so „kindisch“ sein könnte, sich von HinduGottheiten heimsuchen zu lassen. Die Antwort steht eigentlich schon in diesem Abschnitt, wo ja klar gesagt wird, um welche Reifungskrise es sich handelt, nämlich um die Entdeckung der subjektiven Tatsachen, ihre deutliche Unterscheidung von den bloß objektiven oder neutralen. Bis dahin glaubten die Menschen naiv, daß alles, was sie angeht, ihnen nahe geht, ihre Anteilnahme auf sich zieht, zugleich etwas Gegebenes im Bereich der objektiven Tatsachen ist, etwas, das man hinnehmen, dem man sich einfügen muß wie z.B. der christlichen Heilsordnung, aber auch in ganz säkularen Zusammenhängen; ich habe darüber in meinem Buch „Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel“ auf Seite 49–58 unter dem Titel „Die Objektivierung des Subjektiven vor Fichte“ geschrieben. (Als einen Spätling dieser Naivität nenne ich gern Max Scheler wegen seiner Schrift „Die Stellung des Menschen im Kosmos“.) Nun zeigt sich, daß immer, wenn es sich darum handelt, daß ich etwas bin (z.B. Hermann Schmitz), eine Tatsache vorliegt, die meine Tatsache ist, so wie gewisse Programme und Probleme meine Wünsche und Sorgen sind: eine für mich subjektive Tatsache, deren Bestand auf meiner Gesinnung im Sinne meines Micheinlassens auf mein affektives Betroffensein beruht – unbeschadet des Umstandes, daß die nach Abschälung solcher Subjektivität verbleibende Rumpftatsache

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objektiv und neutral ist, daher von jedem ausgesagt werden kann, der genug weiß und gut genug sprechen kann. Wenn man das beherzigt, merkt man, daß mehr auf einen selbst ankommt, als wenn man nur den lieben Gott walten läßt oder das Schicksal, die Heimarméne der Stoiker und der Weltmaschine der modernen Naturwissenschaft. Fichte drückt das am Schluß eines langen Bandwurmsatzes so aus: „(…); so liegt doch noch etwas in der Vorstellung von meiner Wirksamkeit, was mir schlechthin nicht von außen kommen kann, sondern in mir selbst liegen muß, was ich nicht erfahren, und lernen kann, sondern unmittelbar wissen muß; dies, daß ich selbst der letzte Grund der geschehenen Veränderung sein soll.“ (Das System der Sittenlehre, 1798, Einleitung, 3.) Die Reifeprüfung der Menschheit seit Fichte ist also ein Abitur, ein Abschied vom Gegebenen, vom kindlichen Verlaß auf das, was verhängt ist und vorliegt wie eine Stellung des Menschen im Kosmos; man kann es mit den Worten Rilkes sagen, die ich Ihnen schon einmal aus den Sonetten an Orpheus zitiert habe: Wir sind frei. Wir wurden dort entlassen, wo wir glaubten, erst begrüßt zu sein.

(Eines meiner wichtigsten Ergebnisse ist die Begründung der Freiheit als Äquivalent sittlicher Verantwortung in der Subjektivität der subjektiven Tatsachen.) Die Menschen von heute wollen diese Freiheit, der sie doch nicht mehr entkommen, nicht gelten lassen; darauf beruht der Charme der gegenwärtig grassierenden Gehirnmythologie, die ihnen beibringt, auf die Frage „Wer bin ich?“ zu antworten: „Ich bin ein steifer Brei in einem Schädel, von dem nur die Spezialisten etwas verstehen.“ Diese seit Fichte im Bewußtsein der Gebildeten virulente und von Stirner in sehr verdienstlicher ernsthafter Übertreibung kraß und paradox am empirischen Leben des Einzelmenschen durchexerzierte Freiheit ist alles andere als eine Immunität gegen ergreifende Mächte und bedarf sogar einer führenden Ergriffenheit, wenn sie nicht in haltlosem Agitieren versanden soll. In diesem Sinn ist mein Hinweis auf die Hindu-Götter zu verstehen. Ich meine nicht, daß die Menschen einmal an Vishnu, Brahma und Shiva (mit Shakti und Kali) glauben werden wie der gläubige Christ an das, was im Credo steht. Als ich studierte, wurde öfters das Buch genannt, das ein südafrikanischer Germanist mit deutschem Namen, ich glaube „Roßtäuscher“, unter dem Titel „Die Wiederkehr des Dionysos“ veröffentlicht hatte. (Er dachte an das Dionysische bei Nietzsche, an den Kosmikerkreis um Klages und Schuler und dergleichen Tendenzen ab 1870.) Das „bakchische“ Schwärmen der genialisch erregten und überspannten Bewegung („Jugendbewegung“) von Wagner/Nietzsche („Zarathustra“) bis zu Heidegger („Was ist Metaphysik?“ 1929) und allenfalls Hitler hat schon etwas von Dionysos, der in die Bakchen fährt. C.G. Jung wollte in den Sturmabteilungen (SA) um Hitler eine

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Wiederkehr des Odin-Archetypus finden. (Odin, auch ein dionysisches Numen nach meinem Buch „Das Göttliche und der Raum“ S. 50–53, gefolgt von Shiva, S. 53–56.) Alle diese Leute waren aber weit entfernt davon, an die alten Mythen um Dionysos und Odin zu glauben. (Himmler könnte man das, was Odin angeht, noch am Ehesten zuschreiben, aber wohl nicht zu Recht.) Die Hindu-Gottheiten, besonders Shiva, Shakti, Kali, konkretisieren in ihren Figuren plakathaft ein Potential atmosphärisch ergreifender Macht, das mir noch nicht ausgeschöpft zu sein scheint und sehr wohl einmal auf Europa übergreifen könnte. (Was ich in „Das Göttliche und der Raum“ unter dem Titel „Götter als konkrete Atmosphären“ (S. 146–160) und „Konkretion durch Personifikation“ (S. 146–153) ausgeführt habe, habe ich inzwischen mit dem Begriff der Plakat-Situation (z.B. „Adolf Hitler in der Geschichte“, S. 25f.) verbessert, und das Ergebnis wird hoffentlich bald im Druck erscheinen.) Vielleicht trägt dieser lange Brief dazu bei, die Unklarheit bezüglich meiner von Ihnen so genannten „Vision einer erwachsenen Menschheit (nach der ‚Pubertätskrise‘)“, die, wie Sie schreiben, durch meinen vorigen Brief bei Ihnen nicht beseitigt werden konnte, ein Stück weit zu erhellen oder wenigstens so einzuengen, daß wir präziser darüber sprechen konnten. 27. März 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie haben meine am 18.3. erläuterte Behauptung, dass Ihr Stirner und mein Stirner – beide durchaus zitatgestützt – sich deutlich unterscheiden, und meinen dennoch – aus Ihren sonstigen, nicht unbedingt auf Stirner bezogenen Ausführungen (z.B. Metapher vom Wellenreiter) – erhaltenen Eindruck, beide ließen sich, mit einigen Erläuterungen versehen, miteinander vereinbaren, dahingehend zusammengezogen, dass Sie (erfreut) feststellen, mein Stirner, den ich wohl kaum mit Stirner-Zitaten konstruieren könne, stünde Ihren anthropologischen Konzepten nahe. Meine Fehldeutung Stirners sei jedoch kein Malheur, weil ja am Ende (wenn auch derzeit noch nicht ganz) das Richtige herauskomme. Dagegen möchte ich Einspruch erheben, und zwar unter Bezug auf den Einspruch, den Sie gleich im Anschluss an die soeben referierte Stelle erheben. Ihr Einspruch betrifft meine „Abschaffung“ der Ehrfurcht und des Heiligen. Dies ist in meiner Sicht nicht „nur eine Stelle“, wie Sie schreiben, sondern die zentrale Stelle. Deswegen hatte ich ja auch schon mehrmals auf meine Schrift „Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Max Stirner“ verwiesen, in der m.E. das Wesentliche meines Stirners dargestellt ist – und implizit der gravierende Unterschied zu Ihrem Stirner, den (einzigen?) echten Nihilisten. Um nicht diese Schrift, die Sie ja kennen, hier in ein paar (dann gewiss missverständliche) Sätze zu pressen, und um nicht früher Ausgeführtes zu

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wiederholen, möchte ich ausnahmsweise einmal mit zwei längeren StirnerZitaten (aus der RUB-Ausgabe 1972) aufwarten. S. 78: „‚Gälte dem Menschen nicht irgend etwas als heilig, so wäre ja der Willkür, der schrankenlosen Subjektivität Tür und Tor geöffnet!‘ Furcht macht den Anfang, und dem rohsten Menschen kann man sich fürchterlich machen; also schon ein Damm gegen seine Frechheit. Allein in der Furcht bleibt immer noch der Versuch, sich vom Gefürchteten zu befreien durch List, Betrug, Pfiffe usw. Dagegen ist’s in der Ehrfurcht ganz anders. Hier wird nicht bloß gefürchtet, sondern auch geehrt: das Gefürchtete ist zu einer innerlichen Macht geworden, der Ich Mich nicht mehr entziehen kann; Ich ehre dasselbe, bin davon eingenommen, ihm zugetan und angehörig: durch die Ehre, welche Ich ihm zolle, bin Ich vollständig in seiner Gewalt, und versuche die Befreiung nicht einmal mehr. Nun hänge ich mit der ganzen Kraft des Glaubens daran, Ich glaube. Ich und das Gefürchtete sind eins: ‚nicht Ich lebe, sondern das Respektierte lebt in Mir!‘“ S. 183: „Weil Ich den Mond nicht fassen kann, soll er Mir darum ‚heilig‘ sein, eine Astarte? Könnte Ich Dich nur fassen, Ich fasste Dich wahrlich, und finde Ich nur ein Mittel, zu Dir hinauf zu kommen, Du sollst Mich nicht schrecken! Du Unbegreiflicher, Du sollst Mir nur so lange unbegreiflich bleiben, bis Ich Mir die Gewalt des Begreifens erworben habe, Dich mein eigen nenne; Ich gebe Mich nicht auf gegen Dich, sondern warte nur meine Zeit ab. Bescheide Ich Mich auch für jetzt, Dir etwas anhaben zu können, so gedenke Ich Dir’s doch!“ Ich will nicht jedes Wort dieser Passagen unterschreiben, bin nicht einmal sicher, ob sich nicht prägnantere Stellen finden ließen. Aber diese Zitate sind gewiss geeignet, um meinen Stirner zu konstruieren. Sie hingegen blenden, wo Sie Ihren Stirner darstellen (in „Selbstdarstellung …“) ausgerechnet solche Stellen aus, offenbar aus jener Überzeugung heraus, die Stirner im erstgenannten Zitat (als Zitat zu Beginn) anspricht. Sie führen nun, im Brief vom 20.3., die Unterscheidung zwischen dem echten Heiligen und dem Pseudo-Heiligen ein und eröffnen damit wieder die Möglichkeit der Vereinbarkeit, d.h. meinen Stirner, resp. meinen „Eigner“ (der ja nicht der Idealtypus des heutigen „Individualisten“, sondern sein Gegenbild ist) als befreit vom Pseudo-Heiligen, dem echten Heiligen aber in Ehrfurcht unterworfen, darzustellen. Ich habe jedoch meine Zweifel, dass diese Distinktion (Heiliges vs. Pseudo-Heiliges) sinnvoll gelingen kann. Gleichwohl scheint sich an dieser Stelle zu entscheiden, was man sich unter einer Menschheit vorzustellen hat, die, in Ihrem Bild, ihre Pubertätskrise (von 1800ff.) erfolgreich hinter sich gebracht haben wird (besten Dank für die Erläuterungen zu dieser Frage).

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28. März 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Mit großer Freude lese ich Ihren Brief von gestern, der mich so aufregt, daß ich mich gleich an eine Antwort mache, zwei zugleich erhaltene Briefe, die ebenfalls eine ausführlichere Stellungnahme erheischen, zurückstellend. Freude und Aufregung gehen darauf zurück, daß ich nun etwas vom „Licht am Ende des Tunnels“ ahne, bezüglich der Frage, mit der Sie – nach Lektüre meines Hitler-Buches – unsere laufende Korrespondenz eingeleitet hatten: inwiefern unsere Bestrebungen, die sich im Interesse an Stirner berühren, der Richtung nach grundsätzlich von einander abweichen. Bezüglich der implantierenden Situationen war das von Anfang an klar, aber nun kommt an der Thematik der Ehrfurcht und des Heiligen eine wichtige Wasserscheide hinzu. Sie haben Recht damit, daß mir bei der Stirner-Lektüre solche Stellen wie die beiden von Ihnen nun zitierten nicht als bedenklich für meine Stirner-Interpretation aufgefallen sind, da Sie nach meiner Überzeugung genau in mein Stirner-Bild passen, das Bild eines Mannes, der die von Fichte und den Frühromantikern ermöglichte, von Hegel gefürchtete und nach Kräften dialektisch gezähmte Radikalisierung der personalen Emanzipation zum hemmungslosen Entweichen in den die Person desintegrierenden „Abgrund nach oben“, von dem ich in „Die Person“ S. 131 schreibe (ohne diesen sehr bezeichnenden Dreiwortausdruck, den ich anderswo einmal gebraucht habe), übertreibt. Da Sie sich nun aber auf diese Stellen berufen und ich sehr zufrieden bin, einen präzis faßbaren Anhaltspunkt für Ihre Position zu bekommen, möchte ich zunächst etwas zu der Stelle auf S. 78 (Reclamausgabe) sagen. Ich verzeihe es Stirner, daß er die Ehrfurcht zu einer „innerlichen“ Macht erhebt, aber ich finde diese Subsumtion grundfalsch, da sie auf der Introjektion der Gefühle beruht, gemäß der zu Stirners Zeit noch unangefochtenen psychologistisch-reduktionisch-introjektionistischen Denkweise. Nach meiner Überzeugung ist die Ehrfurcht um kein Haar innerlicher als die gewöhnliche Furcht, da sie genau so spontan wie diese vom Begegnenden her ergreift – was eine Vorbereitung durch (eventuell fragwürdige) Schulung und Sozialisation keineswegs ausschließt –, aber allerdings bindet sie stärker und mit gewichtigerem Anspruch als Furcht vor einer Gefahr, nämlich mit Affinität zum unbedingten Ernst im von mir definierten Sinn. Das mag Anlaß zu der leichtsinnigen Subsumtion unter das „Innerliche“ geben. Die von Stirner beanstandeten Merkmale des Ehrfurchtgebietenden, daß ich mich seiner Macht „nicht mehr entziehen kann“ und „vollständig in seiner Gewalt“ bin, sind keine spezifischen Züge der Ehrfurcht, sondern sie teilt sie mit der Autorität der Wirklichkeit in der Evidenz, wofür ich Ihnen kürzlich das Beispiel des leichtsinnigen Läufers mit gebrochenem Bein gegeben habe, der unter dem Druck dieser Autorität zugeben muß, daß ihm eben doch etwas passieren kann. Er ist vollständig

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in der Gewalt dieser Autorität, der er sich nicht mehr entziehen kann, und man kann Stirner nur raten, sich bei anderen vergleichbaren Anlässen ihm anzuschließen; sonst kommt er (Stirner) nämlich ins Irrenhaus. Die Anspielung Stirners am Ende der von Ihnen angeführten Stelle auf Paulus (Galater 2,20) übertreibt aber die Bindung durch das Ehrfurchtgebietende zur Besessenheit von ihm. Das ist so unfair wie bei der Evidenz. Der leichtsinnige Läufer wäre gleich schlecht beraten, wenn er aus seiner unangenehmen Erfahrung nichts lernen wollte (d.h. sich der Gebundenheit durch die darin aufdringlich gewordene Autorität der Wirklichkeit zu entziehen suchte), wie wenn er sich durch diese niederschlagende Autorität und Erfahrung den Spielraum seiner Stellungnahme und den eigenen Lebenswillen rauben ließe. Soviel zum Stirner-Zitat von S. 78. Was den Abbau der Ehrfurcht (insbesondere vor dem Heiligen, aber auch im weiteren Sinn von Goethes drei Ehrfurchten aus den „Wanderjahren“ und sogar von Nietzsches Sentenz „Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich“ [Jenseits von Gut und Böse § 287]) angeht, so halte ich ihn für möglich, ja ich sehe sogar eine allgemeine Tendenz dahin in unserem „demokratistischen“ Zeitalter, als die schlimmste und traurigste Aussicht, die der Menschheit von der autistischen Verfehlung des abendländischen Geistes droht. Ohne Ehrfurcht gibt es keine großen Zwecke und Ziele mehr, d.h. solche, die einen Menschen durch und durch erfüllen und in Bann halten können; das Streben erstarrt dann in kleinlichen Wendungen beliebiger Launen und der mürrischen Unzufriedenheit, die aus solcher Vergeudung zum Luxus gewordener Vermögen resultiert. Hier liegt nun zwar der Einwand nahe, daß es mit den großen Zielen auch durch die Kraft bloßer Begeisterung und des Enthusiasmus gelingen könnte, aber dieser Einwand verkennt die leibliche Grundlage jedes menschenmöglichen Aufschwungs in der Struktur des vitalen Antriebs, der aus den antagonistischen Tendenzen der Engung und Weitung (als Spannung und Schwellung) zusammengesetzt ist. Zu jedem großen Schwung bedarf es der spannenden Engung, und dafür, wenn der Schwung einem großen Ziel, das den Menschen ganz in Anspruch nimmt, dienen soll, der Ehrfurcht, ohne die die Begeisterung verpufft; das wäre, als ob der Geschlechtsakt mit der Ejakulation beginnen sollte, wenn der Widerstand schon weg ist und die befreiende Weitung als Erschlaffung des Antriebs einsetzen kann. Ejaculatio praecox – das gibt es ja, und das Ergebnis ist ein gehöriger Katzenjammer; so ähnlich stelle ich mir das Ergebnis der Befreiung der Menschheit von Ehrfurcht durch Stirner vor. Wie mir scheint, sind wir durch diesen Brief und Ihren vorigen etwas weiter gekommen in der Findung von Eckpunkten für unsere Übereinstimmung und Abweichung von einander. Offenbar teilen wir bis zu einem gewissen Grad die Einschätzung der „Reifungskrise“ seit 1793, in der Stirner eine bedeutende Rolle übernommen hat, und ihrer Konsequenzen für die

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Auflagen, unter denen menschliches Sichbesinnen fortan steht. Wir trennen uns in der Frage, ob die Verwurzelung von Persönlichkeiten (zuständlichen persönlichen Situationen) in gemeinsamen implantierenden Situationen für die Zukunft als aussichtslos verabschiedet werden muß, und bezüglich des von Ihnen favorisierten, von mir perhorreszierten Abbaus der Ehrfurcht und des Heiligen. Vielleicht finden Sie Gelegenheit, mir nicht nur Sätze Stirners entgegenzuhalten, sondern auch solche, die wörtlich oder dem Sinn nach aus Ihrer Schrift „Die Negation des irrationalen ÜberIchs bei Max Stirner“ stammen; denn meine frühere Lektüre, an die ich mich nicht mehr im Einzelnen erinnere, kann an fruchtbarer Klärungskraft nicht die augenblickliche Konfrontation mit einer Position ersetzen, die der Gesprächspartner ganz bestimmt gerade jetzt einnimmt. N.b.: Vom 5.–9. April will ich zu einer Tagung über die vorsokratischen Philosophen nach Nikosia in Zypern verreist sein, dies nur, damit Sie sich nicht allenfalls über Ausbleiben eines Briefes wundern. 6. April 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich lerne immer mehr Ihrer Metaphern, Bilder und Gleichnisse zu schätzen, mit denen Sie Ihre Auffassung von den Grundgegebenheiten der menschlichen Existenz verständlich zu machen suchen. Meist konnte ich Ihnen auch cum grano salis zustimmen – was aber immer auch hieß, dass es sich nicht um eine entscheidende Frage handelte. Am 28.3. nun sehen Sie, dass wir mit der Thematik der Ehrfurcht eine „wichtige Wasserscheide“ erreicht haben. Jetzt sei nicht mehr nur vom rein Geistigen zu reden, sondern von dessen leiblicher Grundlage, vom vitalen Antrieb, der pulsatorisch sei (Engung und Weitung). Hier sprechen Sie fast wie Wilhelm Reich, mein 3. (biogr.-chronologisch gesehen 1.) LSR-Held. Aber Sie scheinen – im Gegensatz zu Reich – zu glauben, dass der pulsatorische Ablauf beim Menschen eines besonderen, „kulturinduzierten“ Eingreifens bedarf, und diese (hemmende oder anregende?) Funktion habe die Ehrfurcht vor einem Heiligen. Fehle diese (wie bei den Tieren!?), komme es bei allen erheblicheren Handlungen sozusagen zu einer ejaculatio praecox und anschließendem Katzenjammer. Ich stimme mit Ihnen überein, wenn Sie die geistigen Prozesse im Leiblichen, im Sexuellen, verankern, erst recht, wenn Sie der „orgastischen Impotenz“ (= der zentrale Begriff bei Reich; so deute ich vorläufig – für Mann und Frau passend – Ihre Rede von der ejaculatio praecox) eine zentrale Bedeutung zuordnen; aber ich kann überhaupt nicht sehen, wieso die „Ehrfurcht“, die Angst, die forcierte Engung, im schwungvoll pulsatorischen Ablauf des Lebens eine förderliche Rolle spielen soll – ich sehe nur eine störende, pathogene. – Oder habe ich Sie falsch verstanden? Zu „Ihrem“ und „meinem“ Stirner. Sie sagen, mein Stirner, den ich am 27.3. grob durch zwei Zitate als „Feind des Heiligen“ charakterisierte, gehe

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in Ihrem Stirner, dem Sie als großes Verdienst anrechnen, dass er die Radikalisierung der personalen Emanzipation übertrieben und damit als eitel aufgezeigt habe, sozusagen auf. Das möchte ich zunächst einmal bestreiten, ohne freilich den Spieß einfach umzudrehen: Ihr Stirner geht in meinem nicht auf; er steht beziehungslos daneben. Dass Ihr Stirner aus dem „Einzigen“ (unter Ausblendung meines Stirner) konstruierbar ist, hatte ich schon konzediert. Aber dieser Stirner, der „radikale Nihilist“, ist nicht derjenige, den, wie Sie einmal zustimmten, die Philosophen von Marx über Nietzsche bis Habermas „fürchteten wie der Teufel das Weihwasser“. Als radikaler Nihilist wäre Stirner ein beliebtes und wunderbar zu diskutierendes Schulbeispiel für eine extreme philosophische Position. Er fehlt aber, wie Sie selbst mit Arendt verwundert feststellten („Selbstdarstellung …“, S. 309), in fast allen Abhandlungen über Nihilismus. Das liegt m.E., kurz gesagt, daran, dass die meisten Philosophen in Stirner meinen Stirner wittern und – wie Husserl dessen „versucherische Kraft“, wohl auf unbewusster Ebene, fürchtend – quasi instinktiv das Weite suchen (was freilich – dessen bin ich mir voll bewusst – eine unerhörte Problematik in sich birgt; aus diesem Grund habe ich in „Ein dauerhafter Dissident“ zunächst nur eine Materialsammlung vorgelegt). Jetzt müsste ich Ihnen eigentlich „beweisen“, dass und warum mein Stirner nicht in Ihrem aufgeht. Aber ich hoffe immer noch, dass Sie die Gründe aus unserer Korrespondenz (und meinen Schriften) entnehmen, wenigstens erahnen, erraten können. Immerhin verhandeln wir hier – jedenfalls meiner Einschätzung nach – über die tiefsten, grundsätzlichsten und dennoch anderswo kaum berührten Probleme der „Philosophie“, und da sind Formulierungsprobleme vielleicht verzeihlich. Jedenfalls hoffe ich, dass ich, trotz meines Eintretens für meinen Stirner bei Ihnen nicht den Eindruck erweckt habe, dass es mir an Ernsthaftigkeit (die Sie durch eben diesen „Stirner“ bedroht sehen) fehlt. Insofern kann vielleicht – bequemerweise – ich leibhaftig als (vorläufiger) Beleg, nicht Beweis, dafür gelten, dass mein Stirner, mit dem ich mich doch ziemlich identifiziere, kein frivoler Bursche ist, der von Laune zu Laune taumelt etc. pp. Ich weiß insbesondere Ihre Betonung der Bedeutung des „unbedingten Ernstes“ sehr zu schätzen, meine aber, dass „Ehrfurcht“ und das „Heilige“ für diesen nicht nur nicht erforderlich, sondern in einer menschheitlichen Entwicklungsstufe nach Überschreiten jener von Ihnen genannten „Schwelle“ sogar hinderlich und abträglich sind. – Freilich, hält man einen Moment inne, wirft einen Blick nach draußen oder auf das Fernsehbild, so erscheinen all diese Überlegungen unendlich realitätsfern. Aber ist nur „Trendforschung“, deren Voraussagen eintreffen, realistisch?

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10. April 2001 Sehr geehrter Herr Laska, nicht zu Recht unterstellen Sie mir in Ihrem Brief vom 6. April wegen meiner Weigerung, der Ehrfurcht und dem Heiligen abzuschwören, die Meinung, der vitale Antrieb – Sie schreiben „der pulsatorische Ablauf“, was nur auf die rhythmische Form des vitalen Antriebs in meinem Sinn zutreffen könnte – bedürfe „beim Menschen eines besonderen ‚kulturinduzierten‘ Eingreifens“. Freilich kann man nicht nachweisen, daß irgend etwas beim Menschen gar nicht von Kultur mitbestimmt ist, erstens aus empirischen Gründen und zweitens wegen der Unbestimmtheit von „Kultur“. (Manche Tierarten kennen strengere Rangordnungen als viele menschliche Gemeinschaften.) Aber ich wage die Annahme, daß die Ehrfurcht und das Heilige nicht stärker kulturbedingt sind als Essen und Trinken. Ein gutes Beispiel ihrer Natürlichkeit sind die heiligen oder, wie Rudolf Otto sagte, numinosen Orte. Da wirkt die Ehrfurcht spontan ergreifend. Vielleicht kennen oder finden Sie mein Buch „Das Göttliche und der Raum“ (System der Philosophie Band III Teil 4). Da habe ich auf den Seiten 130–132 einschlägige Zeugnisse zusammengestellt, hauptsächlich aus dem römischen Altertum. Ich erinnere z.B. an den Text aus der Reisebeschreibung des Pomponius Mela auf S. 132. Von Vergil zitiere ich die bekannten, nahezu unübersetzbaren Verse: Iam tum religio pavidos terrebat agrestis dira loci, iam tum silvam saxumque tremebant.

Das schauerlich Gewaltige von Wald und Fels fuhr demnach als schreckende religio den primitiven Bauern bis zum Zittern in die Glieder. Ich verteidige den Bedarf an solchen und verwandten Erfahrungen und ihrer kulturellen (nicht notwendig „kulturinduzierten“) Verarbeitung aus der Sorge um den unbedingten Ernst der Autorität von Gefühlen (im Sinne leiblich ergreifender Atmosphären). Der Ernst ist unbedingt, wenn vor ihm sogar der Versuch versagt, sich durch personale (z.B. intellektuelle) Emanzipation auch noch über die eventuell verbleibende eigene Befangenheit in solcher Autorität (über Reste des „Kinderglaubens“ und der daraus resultierenden Anhänglichkeit oder emotionale Abhängigkeiten anderer Art) zu erheben. Solchen unbedingten Ernst hat nun freilich auch die Autorität der Wirklichkeit in der Evidenz, egal, ob es sich um Überraschung durch einen einfallenden Namen, einen mathematischen Beweis oder eigene oder fremde Not, der man sich nicht entziehen kann, handelt. Aber diese Autorität der Wirklichkeit gibt keinen Impuls zur Lebensgestaltung, sondern wird nur durch Widerstand und Herausforderung für diese fruchtbar. Dagegen weist die Autorität von Gefühlen (am unbedingten Ernst kritisch geprüft) dem Menschen den Weg, wofür die eindringlichsten literarischen Zeugnisse in meinen Augen die Antigone des Sophokles und die Wendung

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des Neoptolemos in dessen „Philoktetes“ sowie die Novellen Kleists sind. Sie selbst bekennen sich zur Wichtigkeit solchen unbedingten Ernstes, aber ich verstehe nicht, warum Sie trotzdem das Heilige und die Ehrfurcht ausschließen wollen. Ich fürchte sogar, daß Sie den Abbau dieser Hemmungen dazu bestimmen wollen, daß der „pulsatorische Ablauf beim Menschen“ in freiem Strömen der „orgastischen Impotenz“ im Sinne von Wilhelm Reich (den ich nicht gelesen habe, sondern nach Ihren Worten zitiere) ein Ende setzt. Nun habe ich gar nichts gegen die Überwindung einer wie immer gearteten orgastischen Impotenz und bin vielmehr der Meinung, daß auch das sexuelle Geschehen und Bedürfen noch wichtige Chancen der Vertiefung und Verbreiterung menschlichen leiblichen Erfahrens bereit hält. Aber wenn man die Befreiung des vitalen Antriebs von Hemmungen gegen die bindende Autorität von Gefühlen mit unbedingtem Ernst ausspielt, unterstellt man die menschliche Lebensführung einem Tummelplatz von (z.B. sexuellen) Freiübungen, die im Sinne der Parole von Turnvater Jahn „frisch, fromm, fröhlich, frei“ (fromm am wenigsten) sein mögen, aber genau so verpuffen wie bloße Begeisterung und Schwärmerei nach meinem vorigen Brief; nichts wird gewonnen durch den Einbau aktivierender Widerstände, die der ejaculatio praecox vorbeugen, wenn keine ergreifende Macht, der sich der Mensch nach von ihr für ihn bestandener Probe auf unbedingten Ernst anvertraut, das Wollen mehr führen kann. Zu Ihrer Gegenüberstellung zweier „Stirner“, des Ihrigen und des meinigen, kann ich nicht viel sagen, da ich die Differenz nicht deutlich sehe, davon abgesehen, daß „Ihr“ Stirner (wie meiner auch) der Ehrfurcht und dem Heiligen den Garaus machen will, ohne (wie meiner) moralischer Nihilist zu sein, und damit gibt er mir, wie gesagt, ein Rätsel auf. Im Gegensatz zu Ihnen verstehe ich aber ganz gut, daß die meisten Leute, die sich ernsthaft (wie man von Philosophen doch erwarten soll) mit Stirner („meinem“ Stirner) beschäftigen, vor ihm erschrecken wie vor der Medusa und ihn fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Mein Stirner macht ihnen nämlich den totalen moralischen Nihilismus vor und öffnet ihnen damit die Grube einer Freiheit, die in völliger Haltlosigkeit besteht. Man muß schon ein Mensch mit starkem Daimon sein, um in diese Grube wie in einen Abgrund ohne Schaudern blicken zu können; sonst zuckt man zurück, weil man sich des Haltes an bindenden, das eigene Wollen führenden Normen doch nicht so sicher ist, daß man nicht fürchtete, im Leeren zu landen, wenn Stirner Recht behielte. Nietzsche ist ein gutes Beispiel, egal, ob und wie weit er nun Stirners Buch kannte; er klammert sich gegen den Nihilismus an das „Leben“ als verbleibende Richtschnur, siehe „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 301ff. Der moralische Nihilismus ist den Leuten so unheimlich wie der Solipsismus, auch „ein beliebtes und wunderbar zu diskutierendes Schulbeispiel für eine extreme philosophische Position“, aber unheimlicher, weil die mit unbedingtem Ernst verbindliche Geltung von Nor-

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men den Menschen meist nicht so auf den Leib rückt wie der handgreifliche Mitmensch und doch für ihr Selbstvertrauen kaum weniger entbehrlich ist. 18. April 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, in früheren Briefen hatten Sie mehrmals betont, dass Sie nicht sähen, dass unsere Stirner-Interpretationen wesentlich voneinander abweichen; nur unsere Bewertungen derselben seien grundverschieden. Am 28. März schrieben Sie erfreut, jetzt endlich, nach der Thematisierung der Ehrfurcht und des Heiligen, ahnten Sie etwas vom „Licht am Ende des Tunnels“; ahnten Sie, „inwiefern unsere Bestrebungen, die sich im Interesse an Stirner berühren, der Richtung nach grundsätzlich voneinander abweichen.“ Am 10.4. aber scheint jenes Licht wieder fast erloschen zu sein, denn Sie schreiben, Sie sähen die Differenz unserer beiden Stirner nicht deutlich, „davon abgesehen, dass ‚Ihr‘ Stirner (wie meiner auch) der Ehrfurcht und dem Heiligen den Garaus machen will …“ (wobei ich heraushöre, dass Sie ein solches Bestreben für ausgesprochen naiv oder frivol halten). Ein Rätsel sei es Ihnen, wie mein Stirner dies wollen können soll, ohne (wie Ihrer) moralischer Nihilist zu sein. An späterer Stelle ist Ihnen ebenso unverständlich, dass ich die Wichtigkeit des unbedingten Ernstes betone und zugleich das Heilige und die Ehrfurcht ablehne bzw. (auf lange Sicht) eliminiert zu sehen wünsche. Denn: Sie verteidigen den Bedarf an Erfahrungen des Heiligen gerade „aus Sorge um den unbedingten Ernst der Autorität von Gefühlen (im Sinne leiblich ergreifender Atmosphären).“ (Zu letzteren s.u.) Ich (wie „mein Stirner“) sehe die Sache, zugespitzt formuliert, so: In dem Maße, in dem das Heilige (verstanden als „heteronomes“, früher und andernorts etwas näher beschriebenes „irrationales“ Über-Ich) schwindet, wächst die Möglichkeit für ein Leben in unbedingtem Ernst (mit einem „autonomen“, „rationalen“ Über-Ich). Unbedingter Ernst ist bei mir nicht, wie es bei Ihnen zu sein scheint, an (Ehr-)Furcht gekoppelt (und ist wohl damit ein qualitativ anderer (?); s.u.). Sie verweisen zur Erläuterung der „Natürlichkeit“ des Heiligen auf Rudolf Ottos „numinose Orte“, auf von Ihnen gesammelte Zeugnisse aus dem römischen Altertum, auf das schauerlich Gewaltige von Wald und Fels, nicht hingegen (absichtlich?) auf Tempel, Dome und ähnliche Kultstätten. Wie dem auch gewesen sein mag: ich bezweifle stark, dass das alles noch Gültigkeit haben kann, nachdem der europäische Mensch jene von uns schon oft genannte präzedenzlose Schwelle betreten hat und vor der Aufgabe steht, sich vom Pubertierenden zum Erwachsenen zu entwickeln. Eine Schwierigkeit bei unseren Bemühungen um Verständigung, die wir bisher außer Acht gelassen haben, liegt möglicherweise in Ihrer (in dem Zitat oben wohl erstmals erwähnten) Auffassung vom Wesen der Gefühle – zumal Sie schon am Beginn Ihres „Systems der Philosophie“ dieses große

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Projekt damit rechtfertigen, dass es dazu geeignet sein werde, die Auffassung von der „Introjektion der Gefühle“ zu überwinden. Ich bin in dieser Frage, wie in der Philosophie überhaupt, auf keine Schule festgelegt; stehe Ihrer Behauptung, „Gefühle seien …“, ungefähr so „neutral“ gegenüber wie Behauptungen anderer Experten, die etwa sagen, das Weltall sei endlich aber unbegrenzt; mein Leben sei zeitlich begrenzt oder ewig; ich hätte, wie jeder, einen „freien Willen“; es gäbe elektromagnetische Felder – oder auch „morphogenetische“ etc. pp. Aber ich habe, wenn ich in Ihren Schriften las, nie verstanden, warum Sie diese Gefühlstheorie ausarbeiteten, bzw. warum Sie der Auffassung, Gefühle seien subjektive, private Seelenzustände, so sehr widersprechen zu müssen glaubten, dass Sie ihre Überwindung zu Ihrem Lebenswerk gemacht haben. Möglicherweise hängt dies eng mit der ja keineswegs peripheren Frage zusammen, die wir an Hand der Figur „Stirner“ diskutieren. 20. April 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Unsere Diskussion ist eine Ellipse mit zwei Brennpunkten, von denen jeder – geometriewidrig – wieder ein Paar ist. Erstes Paar: „Ihr“ und „mein“ Stirner. Zweites Paar: Ihre und meine Ansichten von den Aussichten der Menschheit bezüglich des menschlichen Selbstverständnisses. Die Geometriewidrigkeit des Vergleichs erlaubt die Hoffnung, daß sich die Bahn allmählich verschiebt und nicht immer wieder in derselben geschlossenen Kurve durchlaufen wird. Meine Freude über Licht am Ende des Tunnels bezog sich am 28. März auf den zweiten Brennpunkt, entsprechend Ihrer ursprünglichen Fragestellung bei Wiederaufnahme unserer Korrespondenz. Sie wird nicht getrübt durch Fortdauer des Dunkels am ersten Brennpunkt. „Ihr“ Stirner ist mir immer noch ein Rätsel, weil ich nicht sehe, wie man aus den mir bekannten Stirner-Texten ein Bekenntnis zu unbedingtem moralischen Ernst (in meinem Sinn dieser Wendung) herauslesen kann, zumal in Anbetracht der bei Stirner unverkennbaren Diskreditierung des Heiligen, also – in meinem Sinn – dessen, was sich in der kritischen Prüfung durch unbedingten Ernst bewährt. Indessen ist die Stirner-Exegese ein historisch-philologisches Spezialproblem und nicht der eigentliche Gegenstand, sondern nur der Anknüpfungspunkt unserer Auseinandersetzung. Aus Ihrem Brief vom 18. April erfahre ich nun zu diesem Gegenstand (dem zweiten Brennpunkt), daß Sie zwischen einem irrationalen (heteronomen) und einem rationalen (autonomen) Über-Ich unterscheiden und jenem das Heilige, diesem aber den unbedingten Ernst einer zukünftigen, gleichsam erwachsenen Menschheit zuordnen. Da sind wir nun wieder, wo wir schon einmal waren, vgl. mein Brief an Sie vom 9. Januar: bei dem Kant’schen Postulat einer Autonomie der Vernunft, denn „autonomes rationales Über-Ich“ kann doch nur

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so viel bedeuten wie Autonomie einer Vernunft, die über dem konkreten Ich steht, wenn auch vielleicht nicht ganz so hoch wie die im transzendenten Niemandsland der Dinge an sich angesiedelte Kantische. Ihre Formulierung fördert das Licht am Ende des Tunnels, denn sie macht eine ganz wesentliche Meinungsverschiedenheit zwischen uns wiederum deutlich. Treffend assoziieren Sie dazu die Bedeutung meiner Auffassung der Gefühle als räumlich ergossener, leiblich ergreifender Atmosphären für mich. Sie dient mir zur Grundlegung und Bekräftigung meiner Überzeugung, daß die menschliche Initiative nicht wie die des christlichen Schöpfergottes aus einem eigenen Gründungsakt, etwa einer selbständigen Gesetzgebung (Autonomie), hervorgehen kann, sondern auf prärationale leibliche Ergriffenheit angewiesen ist, der gegenüber die Vernunft im Sinne eines distanzierten Urteilsvermögens mit weitem Horizont und Objektivierungs- oder Neutralisierungskraft nur eine kritische Funktion hat, wie das Steuer des von den Wellen getriebenen Ruderbootes. Autonomie der Vernunft ist nach meiner Meinung nur entweder ein Spiel der Person mit sich selbst, wobei sie sich den Ball einer Vorschrift zuwirft und ihn mehr oder weniger geschickt auffängt, und dabei ist kein unbedingter Ernst; oder es handelt sich um eine Mystifikation, die Autoritäten und Ansprüche heterogener Herkunft in selbst geschaffene Gesetze umdeutet und dadurch dem Dünkel einer sich Souveränität anmaßenden Person näher bringt. Gleich beginnt hier die Jahrestagung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie. 23. April 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich stimme Ihnen zu: die Stirner-Exegese bzw. Stirner ist nicht der eigentliche Gegenstand unserer Auseinandersetzung, sondern nur Anknüpfungspunkt – aber doch der bestgeeignete, wie ich finde. Wenn Sie a) bei Stirner kein Bekenntnis zu „unbedingtem moralischen Ernst“ finden und Ihnen b) „mein“ Stirner deshalb ein Rätsel ist, weil ich mich mehrmals zur grundsätzlichen Bedeutung des „unbedingten Ernstes“ bekannte, so liegt das gewiss daran, dass ich, wie Stirner, nicht „moralischen“ Ernst meine (der sicherlich von der Ehrfurcht vor Heiligem abhängt). Der „unbedingte Ernst“, wie ihn ich und „mein“ Stirner meinen, ist kein moralischer, ist nicht, wie ich mich am 6.4. ausdrückte, „kulturinduziert“, sondern elementar „tierisch“ fundiert (weshalb jene Zeitgenossen Stirners, die seine Kritik – im Gegensatz zu der „wahren“ Feuerbachs und der „reinen“ Bauers [freilich in diffamierender Absicht] – eine „tierische“ nannten, sie m.E. ziemlich treffend charakterisierten). Dieser „unbedingte Ernst“ wurzelt im eigenen Leben und dessen Erhalt. Natürlich kann sich dieser „unbedingte Ernst“ beim Menschen sozusagen sublimieren, doch wäre jeder sublimierte „unbedingte Ernst“ sekundär, ein Abkömmling, der auf dem unzerstörbaren primären

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tierischen basierte – wobei ich glaube, dass so spezifisch menschliche Erscheinungen wie Suizid, Selbstaufopferung, (moralischer) Masochismus etc. pp. in dieser Sicht nicht ausgeblendet sind. Stirner war übrigens hier, wie auch sonst gelegentlich, gar nicht so klar und konsequent (wie Sie ihn an einer Stelle hinstellen). Vgl. Reclam-EE, S. 323f.: „Soll Ich [als „Eigner“/„Egoist“] etwa an der Person des anderen keine lebendige Teilnahme haben, soll seine Freude und sein Wohl Mir nicht am Herzen liegen, soll der Genuss, den Ich ihm bereite, Mir nicht über andere eigene Genüsse gehen? Im Gegenteil, unzählige Genüsse kann Ich ihm mit Freuden opfern, Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung seiner Lust versagen, und was Mir ohne ihn das Teuerste wäre, das kann Ich für ihn in die Schanze schlagen, mein Leben, [Hervorh. BAL] meine Wohlfahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Lust und mein Glück aus, Mich an seinem Glücke und seiner Lust zu laben. Aber Mich, Mich selbst opfere Ich ihm nicht …“ Überrascht hat mich, dass Sie sagten, erst aus meinem Brief vom 18.4. meine Unterscheidung und Entgegensetzung von irrationalem Über-Ich (mit „kulturinduziertem“, heteronomen unbedingten Ernst: Ehrfurcht, Heiligem) und rationalem Über-Ich (mit „tierisch“ fundiertem, autonomen unbedingten Ernst) erfahren zu haben. Diese Unterscheidung ist freilich so grundsätzlich, dass aus ihrer Nichtbeachtung viel Aneinandervorbeireden folgt. Ich hoffe, dass jetzt aber doch so viel Klarheit geschaffen ist, dass Sie nicht mehr glauben, meine (bzw. jede) Auffassung von „Autonomie“ könne, wenn ich sie nur konsequent durchdächte, nur auf zweierlei hinauslaufen: auf das frivole Spiel der Person mit sich selbst oder/und auf Selbstbetrug durch umgedeutete Heteronomie. Wenn Sie sagen, „dass die menschliche Initiative … auf prärationale leibliche Ergriffenheit angewiesen ist, der gegenüber die Vernunft … nur eine kritische Funktion hat“, so ist das wieder eine Ihrer Aussagen, die auch ich unterschreiben könnte. Nur verstehe ich nicht – was ich Sie schon im vorigen Brief fragte – warum Sie der Auffassung, Gefühle seien subjektive Seelenzustände etc., mit Ihrer Auffassung, es handele sich bei Gefühlen um räumlich ergossene Atmosphären, so entschieden widersprechen. Die „Überwindung der Introjektion[stheorie] der Gefühle“ haben Sie ja schon zu Beginn Ihres „Systems der Philosophie“ als Ihr Hauptanliegen zu erkennen gegeben. Warum? Aber vielleicht ist es im Rahmen eines Briefes nicht möglich, auf eine so grundsätzliche Frage sinnvoll einzugehen. PS: Sie baten mich neulich um die Kopie eines Ihrer Briefe an mich. Jetzt stellte ich fest, dass auch mein Bestand nicht vollständig ist. Mir fehlen die (2?) Briefe, die ich vor dem 4.7.2000 an Sie geschrieben habe. Könnten Sie mir bitte gelegentlich Kopien davon senden?

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24. April 2001 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 23. April erläutern Sie Ihre „Vision“ einer Menschheit, die mit unbedingtem Ernst von einem autonomen rationalen ÜberIch sich leiten lassen würde, durch die Angabe, daß dieser unbedingte Ernst elementar tierisch fundiert sein solle und im eigenen Leben und dessen Erhalt wurzele. Sie gliedern ihn in einen „unzerstörbaren primären tierischen“ und einen sekundären sublimierten (eventuell Suizid, Selbstaufopferung und Masochismus umfassenden) unbedingten Ernst. Das verstehe ich nicht. Der unbedingte Ernst, wie ich ihn definiere (vgl. meinen Brief vom 26./27. Januar Punkt 3), ist für jemand die Eigenschaft einer für den Betreffenden verbindlich geltenden Norm oder auch der diese Verbindlichkeit in für ihn unverkennbarer Weise stiftenden Autorität, daß sich der Betreffende auch auf dem höchsten ihm jeweils erreichbaren Niveau personaler Emanzipation der Verbindlichkeit dieser Geltung nicht entziehen kann. (Der Sinn dieser Ausdrucksweisen wird in jenem Brief kurz erklärt.) Nun ist personale Emanzipation gerade das Untierische, wodurch sich der personale Mensch vom Tier, vom Säugling und vom hinlänglich Dementen (z.B. Alzheimer-Patient im Endstadium) unterscheidet. Sofern die verbindliche Geltung einer Norm überhaupt an einem Niveau personaler Emanzipation – eventuell sogar an einem höchsten unter mehreren bei einer Person konkurrierenden solchen Niveaus – gemessen werden kann, handelt es sich also sicher nicht um ein Ereignis im tierischen Leben in primitiver Gegenwart; der Begriff eines tierischen unbedingten Ernstes enthält demnach einen logischen Widerspruch. Vielleicht mildern Sie deshalb diesen Begriff zu dem eines bloß tierisch fundierten unbedingten Ernstes ab. Tierisch fundiert ist nun allerdings das gesamte Leben der Person in entfalteter Gegenwart, da die menschliche Person als Bewußthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung und nur endlicher Kapazität für diese nur labil und ambivalent im Spielraum zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart möglich ist, vgl. etwa „Der Spielraum der Gegenwart“ S. 84ff. Durch Dämpfung des (widerspruchsvollen) tierischen unbedingten Ernstes zu einem bloß tierisch fundierten verliert Ihre Charakteristik des rationalen autonomen Über-Ichs also alles Spezifische und wird trivial. Als Grundlage Ihrer für mich höchst problematischen Konstruktion vermute ich eine Einteilung der Strebungen in tierische und sublimierte (oder „kulturinduzierte“), wobei die tierischen Bestrebungen vom Streben nach Erhalt des eigenen Lebens beherrscht und geprägt werden. Diese Einteilung kann ich nicht einmal für die echten Tiere gelten lassen, die ohne Weiteres ihr Leben für andere einsetzen, z.B. die sprichwörtliche Löwenmutter. Übrigens möchte ich einem auf Selbsterhaltung fixierten Individuum schlechte Chancen im Lebenskampf prophezeien; nach Hegel („Phänomenologie des Geistes“) liegt es, weil es nicht alles wagen und notfalls

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die eigene Existenz in die Schanze schlagen will, an der Kette des Lebens und der Dingheit, an der es von dem unbefangeneren Sieger im Kampf, dem Herrn, gegriffen und als Knecht geführt wird. Mit der Fixierung auf ein bestimmtes Interesse, die Selbsterhaltung, fallen Sie m.E. hinter Stirner zurück, der seine Sache auf Nichts, d.h. das lockere Verfügenkönnen über alle Interessen, gestellt hatte; das Zitat von S. 323f., das Sie ihm in Ihrem Brief als Inkonsequenz ankreiden, scheint mir ein treffender Ausdruck seiner spezifischen Originalität zu sein, der Sie mit – ihm fernliegender – Festlegung auf ein sozusagen egoistisches Ur- und Spezialinteresse den Abschied geben. Über den Grund meines Angriffs auf die Introjektion der Gefühle habe ich mich schon im vorigen Brief geäußert; bitte präzisieren Sie bei Bedarf ihre Fragen. Anbei die erbetenen Kopien Ihrer Briefe vom 26.06. und 2.07.2000. 4. Mai 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, [bitte entschuldigen Sie die Verzögerung dieses Briefes. Manchmal fehlt einem einfach die nötige Ruhe zu einer überlegten Antwort.] Sie setzen ganz richtig das Wort von meiner „Vision“ für die Menschheit in Anführungszeichen, denn tatsächlich ist meine Auffassung besser in dem Satz wiedergegeben, mit dem ich meinen Brief vom 2.7.2000 – besten Dank übrigens für die Kopie dieses und meines vorhergehenden Briefes – schloss: Ein Einzelner kann die Welt nicht retten; er kann ihr nur sagen, woran sie zugrunde gehen wird (von Kierkegaard?). Nur werde ich als jemand, der nie Philosophie „studieren“ bzw. „lernen“ wollte, dem aber sein „Sichvorfinden“ in der (Menschen-)Welt seit je viel zu denken gab, stets so denken, „als ob“ es um eine Vision für die Menschheit ginge. Dies vorweg. Sie geben im ersten Absatz in Ihren Worten meine Vision wieder und sagen: „Das verstehe ich nicht.“ Deshalb zunächst einige Korrekturen zu Ihrer Darstellung. Nicht die Menschheit würde sich von einem rationalen Über-Ich leiten lassen, sondern jeder Einzelne von seinem „eigenen“. Und autonom wäre dieses Über-Ich in dem Sinne, dass es vom Individuum selbst, nachdem es sich denkend in der Welt vorfindet – rational – erzeugt würde – im Gegensatz zu dem bisherigen Über-Ich, das stets von der Umwelt – großteils unbewusst und irrational – als prärationale Enkulturierung/Sozialisation in das Individuum eingepflanzt wird und später von ihm – rational – nur sehr bedingt (als „personale Emanzipation“) zu korrigieren ist. Diese Einpflanzung sehe ich durchaus nicht nur als Indoktrination von Moralnormen o.ä., sondern – mit Wilhelm Reich – auch als „leibliche“, psychophysiologische. Den „unbedingten Ernst“ sehe ich in meiner Vision nicht gefährdet, auch nicht die „Kultur“. Im Gegenteil: Beide sind hier und heute, im Prozess des Zerfalls der abendländischen Zivi-

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lisationen des „alten (Menschen)Typus“ (nach Betreten jener präzendenzlosen „Schwelle“ zwischen Pubertät und Reife der Menschheit – in Ihrem Bild gesprochen) offenkundig sehr gefährdet, ja moribund, und – auch wenn man das beklagte – m.E. nicht mehr reanimierbar. In meiner Vision gäbe es einen „unbedingten Ernst“ als reinen Typus, d.h. der primäre, „tierisch“ (auf dem eigenen Leben und der Sorge um dessen Erhalt) fundierte, der natürlich immer da war, würde nicht mehr durch den sekundären, kulturinduzierten („moralischen“) überlagert werden. Auf dieser Basis würde eine neue Kultur (Sie werden mir vielleicht zustimmen, dass es die alte Kultur im Grunde schon seit x Jahrzehnten nicht mehr gibt, allenfalls noch Reminiszenzen an sie) wachsen; und ein sublimierter kultureller (aber immer sekundärer) „unbedingter Ernst“, aus dem heraus ein „sinnvolles“ Leben geführt werden würde (ohne zielloses „Taumeln“), dessen Sinn aber nicht mehr im Glauben an Wahnideen wurzelt (was nicht heißen kann, dass es das Mysterium der eigenen Existenz, der Un/Endlichkeit von Raum und/oder Zeit, dann nicht mehr gibt – es beunruhigt nur keinen mehr). – Mein Satz über die „spezifisch menschlichen Erscheinungen wie Suizid, Selbstaufopferung, moralischen Masochismus etc. pp. in meinem Brief vom 23.4. war leider nicht ganz klar: jedenfalls sind das in meinen Augen Erscheinungen, die zum „kindlichen“ Stadium der Menschheitsentwicklung gehören und die es nach geglückter Bewältigung der Pubertät nicht mehr geben würde (sind also nicht, wie Sie im ersten Absatz Ihres Briefes interpretierten, solche eines „sublimierten unbedingten Ernstes“ „tierischen“ Ursprungs). [Obigen Absatz habe ich heute vor einen schon vor einigen Tagen geschriebenen Text gesetzt, nachdem ich Ihren Brief, insbesondere den ersten Absatz, der ein grundlegendes Missverständnis enthielt, noch einmal las. Den etwas älteren Briefteil möchte ich jedoch so stehen lassen und nicht „redigieren“, so dass – wofür ich Sie um Verständnis bitten möchte – es im folgenden evtl. Wiederholungen oder Variationen von bereits Gesagtem gibt. Vielleicht können sie ja doch der weiteren Klärung dienen.] Sie hatten früher des öfteren vom „unbedingten Ernst“ geschrieben, ohne den sich ein Menschenleben in richtungslosem Taumeln erschöpfe. Ich hatte Ihnen zugestimmt. Aber: während Sie meinen, dieser Ernst sei ohne Ehrfurcht vor dem Heiligen nicht möglich, meine ich, das Gegenteil sei richtig, jedenfalls für einen Menschen, der jene Epochenschwelle überschreiten will, die zwischen Pubertät und Reife der Menschheit (um Ihr Bild zu benutzen) liegt: erst die Negation/das Fehlen des Heiligen (ich sprach von der Abwesenheit eines irrationalen, d.h. prärational introjizierten bzw. erworbenen Über-Ich) ermögliche einem Menschen ein Leben, das als von wahrhaftem Ernst getragen zu bezeichnen wäre. Das erschien Ihnen widersinnig. Aus Ihrem Brief vom 20.4., wo Sie, meiner Erinnerung nach erstmals, den unbedingten Ernst einen moralischen nannten, entnahm

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ich, dass Sie beide Begriffe synonym gebrauchen, unbedingter Ernst für Sie immer ein moralischer ist. Jetzt sah ich eine Möglichkeit, Ihnen meine Auffassung zu erläutern, wonach ein Mensch, dem „nichts heilig ist“, der vor nichts Ehrfurcht hat, deshalb nicht haltlos durchs Leben taumelt bzw. unbedingten Ernst nicht kennt. Sein Ernst, schrieb ich, sei elementar tierisch fundiert, er wurzele im eigenen Leben und der Sorge um dessen Erhalt, sei obendrein „primär“ vor dem sekundären, kulturinduzierten, auf (Ehr-)Furcht beruhenden. Meine knappe Skizze leuchtete Ihnen jedoch nicht ein. Sie führen sodann eine ganze Batterie von Einwänden gegen meine Auffassung ins Feld: 1) verwiesen Sie mich auf Ihren Brief vom 26./27.1. Pkt. 3. Dort erläutern Sie den Fall, dass jemand, der sich in konventioneller Gesellschaft eine Blöße gibt, sich der Scham darüber nicht entziehen kann, auch wenn er später durchaus über der Situation stehen und sein damaliges Empfinden beschmunzeln kann. Dies sei ein Lehrbeispiel für die mit „unbedingtem Ernst verbindliche Geltung“ einer Norm. – Dass hier die Ehrfurcht und das Heilige eine Rolle spielen, leuchtet nun mir nicht ein (ebensowenig übrigens wie Ihr Hinweis am 10.4. auf „numinose Orte“, vor allem aus dem Altertum, als Beleg für die Natürlichkeit des Heiligen, der Ehrfurcht). 2) Selbsterhaltung sei nur „ein bestimmtes Interesse“, also wohl eines unter vielen gleichrangigen, und mit der Fixierung [?!] auf sie/es fiele ich hinter Stirner zurück (den ich in meinem letzten Brief wegen eines m.E. inkonsequenten Satzes, EE 323f., kritisiert hatte). – Ich sehe nicht, dass ich hinter Stirner zurückfalle, wohl aber, dass ich nicht mit „Ihrem“ Stirner, dem des lockeren Verfügenkönnens über alle Interessen, übereinstimme. Ich nannte Ihnen ja bereits meine Auffassung, dass zwar Ihr Stirner aus dem „Einzigen“ ableitbar ist, mein Stirner jedoch, ebenfalls aus dem „Einzigen“ ableitbar, derjenige ist, der Ihren, den bloß frivolen Nihilisten, überwunden hat. 3) Ein auf Selbsterhaltung fixiertes [?!] Individuum hätte auch im Lebenskampf schlechte Chancen (lt. Hegel würde der Leichtfertige, der sein Leben in die Schanze zu schlagen bereit sei, zum „Herrn“ über den, der an der „Kette des Lebens und der Dingheit“ hängt). 4) Nicht einmal die Tiere seien so „tierisch“, dass bei ihnen Selbsterhaltung primär sei (Stichw. Löwenmutter). Von diesen Einwänden – 3) und 4) möchte ich nicht kommentieren – fühle ich mich nicht wirklich getroffen. Ich wollte ja zunächst nichts anderes tun als meine Auffassung zu bekunden, dass „unbedingter Ernst“ nicht an die Fixierung [hier halte ich den Ausdruck für treffend, in Ihren oben zitierten Beispielen für fragwürdig] auf Heiliges gebunden ist. Darüberhinaus erwähnte ich spezifisch menschliche Erscheinungen (Suizid, Selbstaufopferung, moralischen Masochismus etc. pp.) offenbar auf eine so unklare Weise, dass Sie mich missverstanden haben. Ich meine

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gewiss nicht, dass dies Erscheinungen eines sublimierten sekundären unbedingten Ernstes in einer Welt nach meiner „Vision“ – immer mit Blick auf meinen eingangs genannten Vorbehalt – sind. Dies sind natürlich Erscheinungen der „alten“ Welt, in der jedem Individuum durch seine sog. Enkulturation prärational Ehrfurcht vor dem Heiligen, eben ein irrationales Über-Ich, eingepflanzt wird, gegenüber dem alle personale Emanzipation letztlich kapituliert; in der jedes Individuum seine „Identität“ aus der Zugehörigkeit zu einer Wahngemeinschaft ableitet. Ich würde nun nicht sagen, dass dieses Prinzip, das bislang allenthalben herrschte und erst im 20. Jh. auf leider chaotische Weise zerrüttet wurde, eine Verfehlung darstellt. Es war nun einmal so, und uns/mir bleibt nur, aus dem Vorgefundenen Schlüsse für mein eigenes Leben und – evtl. – für eine „Vision“ zu ziehen. Auf meine Anfrage nach dem Grund für Ihr (Haupt-?)Anliegen, die Überwindung der Introjektion(stheorie) der Gefühle verweisen Sie mich auf Ihren vorigen Brief (also vom 20.4.). Ich vermute, Sie meinen die Aussage, wonach „die menschliche Initiative … auf prärationale leibliche Ergriffenheit angewiesen ist.“ Obwohl ich nicht sagen möchte, dass ich in Ihrer Gefühlstheorie firm bin, erscheint mir dieser Satz, nun, nicht unplausibel. Ihrer Aufforderung zur allfälligen Präzisierung meiner Frage möchte ich jedoch – zumindest jetzt – nicht nachkommen, weil ich fürchte, dass eine Diskussion über den ontologischen Status der Gefühle unsere gegenwärtige Diskussion gar nicht wirklich berühren bzw. eher defokussieren würde. 7. Mai 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Zurück von einer sehr ergiebigen Tagung am Niederrhein über Architektur und Gefühl, fand ich gestern Ihren Brief vom 4. Mai, dem Sie eine Seite zur Beseitigung von Mißverständnissen vorgelegt haben, und entsprechend drängt es mich an erster Stelle, zwei erhebliche Mißverständnisse meiner Äußerungen bei Ihnen zu korrigieren: 1. Das Beispiel der Scham aus konventionellem Anlaß, worauf der sich Schämende zugleich (nicht, wie Sie schreiben, später) von einem höheren Niveau seiner personalen Emanzipation herabsieht, betrifft nicht den unbedingten Ernst der Autorität eines Gefühls, sondern im Gegenteil den bloß bedingten Ernst, gegen den ich den unbedingten (der Gewissensscham) abhebe. 2. Es liegt mir völlig fern, solchen unbedingten Ernst auf Moral einzuengen. Ich spreche ja sogar, auch schon Ihnen gegenüber, vom unbedingten Ernst der Wirklichkeit (auch ohne Gefühlsbeteiligung) in der Evidenz, und, wenn ich mich recht erinnere, habe ich in einem früheren Brief meine Meinung kundgetan, daß das Moralische nur so etwas wie das letzte im

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Gemeinbewußtsein unserer Zeit verbliebene Schlupfloch des Göttlichen ist, das ich durch den unbedingten Ernst der Autorität eines Gefühls für jemand definiere. (Ich erinnere mich gut, will aber nicht deshalb die alten Briefe wieder vornehmen.) Im Übrigen ist mir so wenig wie Ihnen wohl dabei, daß wir den Mund so voll nehmen, von einer „Vision“ der künftigen Menschheit zu sprechen, und nun gar einer Menschheit in einem Reifezustand, an den ich gar nicht zu denken wage. (Wenn ich im Vorwort von „Selbstdarstellung als Philosophie“ das postfichteanische Zeitalter einer Menschheits-Pubertät verglich, war nur der dort beschriebene Vergleichspunkt gemeint, nicht die Ansicht, daß der Pubertät eine volle Reife folgen werde, die ja auch bei vielen Menschen ausbleibt.) Statt von einer Vision würde ich eher von einer Tendenzempfehlung sprechen, von meinem Versuch, darauf hinzuwirken, daß die Mentalität der Menschen die Gelegenheit erhält, sich in eine gewisse Richtung zu entwickeln. Mich bewegt die Sorge, daß die Menschen durch die hypertrophe Verstiegenheit des zuerst von den Philosophen angeheizten Selbst- und Weltbemächtigungswillens in Gefahr sind, ihr Erleben vertrocknen und verflachen zu lassen, und deswegen bemühe ich mich, mit dem Werkzeug begreifender Besinnung den Zugang zur Empfänglichkeit für ergreifende Mächte des Gefühls zu erweitern, also die verständige Reflexion von ihrer gegenwärtig gar zu hohen Abstraktionsbasis in ausreichendem Umfang auf die Quellen eines gewichtigen und nachhaltigen affektiven Betroffenseins zurückzulenken. Das ist das Motiv einer Leidenschaft in der Opposition gegen die Introjektion der Gefühle, wonach Sie gefragt haben, und überhaupt gegen die von den Philosophen eingeleitete und von den Naturwissenschaftlern übernommene Umverteilung des Weltstoffs auf abgeschlossene Innenwelten und eine reduzierte Außenwelt. Aus demselben Grund lege ich so viel Wert auf das Heilige (das Göttliche, wie ich sage) und die Ehrfurcht, im Gegensatz zu Ihnen. In meinem vorigen Brief habe ich gegen die von Ihnen angestrebte Metamorphose des unbedingten Ernstes eingewandt, daß ein solcher Ernst als tierischer unmöglich wäre, als bloß tierisch fundierter aber eine bloß triviale, ihn von allen anderen menschenmöglichen Einstellungen nicht unterscheidende Kennzeichnung erhielte. Sie sind in Ihrer Antwort auf meine etwas komplizierte Argumentation nicht eingegangen, und wir tun vielleicht am Besten, den Ausblick in das Tierreich ganz zu unterlassen, so daß von Ihrer Charakteristik nur übrig bleibt, daß den Kern dieses unbedingten Ernstes das Streben nach „Selbsterhalt“ ausmacht, dem ein unbedingter Ernst dadurch zuwächst, daß sich das jeweilige Individuum durch eigenes Denken, ohne Beeinflussung durch die Sozialisation in einer Umwelt, ein Über-Ich zulegt, das am Interesse an Selbsterhaltung orientiert ist. Habe ich Sie richtig verstanden?

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Wenn ja, dann ist in der Tat eine mir bisher fehlende Klarheit über die Divergenz unserer Stirner-Interpretationen geschaffen. Indem Sie Stirner in Richtung auf ein Ideal der Selbsterhaltung weiterdenken, machen Sie ihn zu einem Promotor einer egoistischen Moral, während ich ihn als moralischen Nihilisten ansehe, d.h. als Vorkämpfer moralischer Prinzipienlosigkeit mit Ausnahme des Prinzips souveräner Beliebigkeit, das für eine altruistische Motivation ebenso offen ist wie für eine egoistische, vorausgesetzt, man kann sie nach Belieben wechseln. Wenn das unsere Stirner-Interpretationen sind, kann ich die Ihrige nicht mehr mit meiner verwechseln, behaupte aber, daß sie falsch ist. Ich fürchte, Sie jagen einem Stirner-Phantom nach. Als Symptom dafür werte ich, daß Sie schon mehrfach Stellen aus dem „Einzigen“ als unpassend kritisiert haben, während zu „meinem“ Stirner meines Wissens alles paßt, was an schriftlichen Äußerungen von Stirner überliefert und mir bekannt ist. Wichtiger als die richtige Stirner-Interpretation ist die Frage, was wir, über die Aussichten der Menschheit philosophierend, selbst für richtig und wünschenswert halten. Da habe ich gegen jede egoistische, primär auf das Interesse des Individuums an seiner Selbsterhaltung bedachte Moral einzuwenden, was ich oben gegen die hypertrophe Selbstbemächtigungstendenz (zusammen mit der Weltbemächtigungstendenz) vorgebracht habe: Sie führt zur Verstiegenheit, Verflachung und emotionalen Vertrocknung. Heinrich v. Kleist schreibt zwei Tage vor seinem Freitod an seine Schwägerin Marie v. Kleist, bezüglich auf seine Schwester Ulrike, von der er sich verlassen fühlte, nachdem sie bis dahin seine treueste und vertrauteste Lebensgefährtin gewesen war: „Sie hat, dünkt mich, die Kunst nicht verstanden sich aufzuopfern, ganz für das, was man liebt, in Grund und Boden zu gehen: das Seligste, was sich auf Erden erdenken läßt, ja worin der Himmel bestehen muß, wenn es wahr ist, daß man hierin vergnügt und glücklich ist.“ Obwohl diesen Worten eine gewisse Überspanntheit anhaftet, sind sie gegen eine primär vom Interesse an Selbsterhaltung geleitete Haltung für mich ein triftiger Einwand. Ich verstehe auch nicht, wie Sie es meinen, daß sich das Individuum aus seinem Interesse an Selbsterhalt durch bloßes eigenes Nachdenken, ohne Einfluß der umgebenden Kultur, ein Über-Ich machen soll, das dann mit unbedingtem Ernst auf es zurückwirkt. Genügte nicht ein festes, zur Selbsterhaltung unerbittlich entschlossenes Wollen auch ohne Über-Ich, das durch eine Autorität mit unbedingtem Ernst für jemand bewaffnet, d.h. gegen Entwertung dieser Autorität auch von dem höchsten für den Betreffenden erreichbaren Niveau personaler Emanzipation gefeit, ist? Wie kann man ein solches Über-Ich durch eigenes Denken für sich kreieren? Unterwirft man es nicht schon durch diese Selbstsetzung der eigenen Kritik, so daß der Ernst der Autorität dieses Über-Ich nicht mehr in dem von mir definierten Sinn unbedingt ist? Sie werden verstehen, daß ich, nachdem ich

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einen genauen Begriff eingeführt und terminologisch fixiert habe, nicht zulassen möchte, daß daraus eine Redensart mit anderem, vagerem Sinn wird. 16. Mai 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, in einem Ihrer letzten Briefe charakterisierten Sie eine unter heutigen Philosophen verbreitete Auffassung ungefähr wie folgt: „Ich bin ein steifer Brei in meinem Schädel, und was es damit auf sich hat, das können nur die Fachleute wissen.“ Das ist prägnant und trifft, und der Satz wird sich deshalb wohl in meinem Gedächtnis festsetzen. Hier, wie bei manch anderer, keineswegs peripheren Ansicht, stimme ich mit Ihnen aus vollem Herzen überein. Um so bemerkens- und bedenkenswerter erscheinen mir deshalb die Miss-(und Un-)verständnisse, die in unserem Austausch über Fragen, die in gleichermaßen grundsätzlichem Bereich angesiedelt sind, immer wieder entstehen. Zwei solcher Missverständnisse meinerseits versuchen Sie zu Beginn Ihres letzten Briefes zu klären. Es ging um Ihren Begriff des unbedingten Ernstes, für dessen Definition Sie mich am 24.4. auf Ihren Brief vom 26./27.1., Punkt 3, verwiesen und mir am 7.5. mitgeteilt haben, ich hätte sie falsch verstanden. Ich habe die Stelle also noch einmal sehr genau gelesen, hätte zwar noch immer einige Rückfragen, will sie aber jetzt nicht stellen, weil ich die Gefahr der Verzettelung sehe (zumal Ihr Hinweis auf Ihren Begriff der „Gewissensscham“, der in genanntem Punkt 3 nicht vorkommt, mir den Unterschied hinreichend klar gemacht hat). Ich möchte Ihren Begriff des unbedingten Ernstes keineswegs, wie Sie abschließend zu befürchten scheinen, zu einer Redensart herabwürdigen – im Gegenteil: er ist mir teuer. Mir schien nur Ihr am 20.4. erstmals und beiläufig eingefügtes Epitheton „moralisch“ – also jetzt: „unbedingter moralischer Ernst“ – als geeigneter Ansatzpunkt zur Verdeutlichung meiner Auffassung (betr. „irrationales“ und „rationales“ Über-Ich …), die wiederum Sie bisher, auch nach meinem letzten Brief, missverstanden haben. Jetzt schreiben Sie aber, dass Sie auch den unbedingten Ernst der Wirklichkeit ohne Gefühlsbeteiligung kennen (ich erinnere mich an Ihr Beispiel des Läufers, der meint, es könne ihm nichts passieren, und dann stürzt – ist das gemeint?). Diese Zusammenfassung erscheint mir weniger glücklich, und auch Stirner, auf den wir ja durchaus sinnvollerweise immer wieder zurückkommen, lässt natürlich den nicht-moralischen unbedingten Ernst der Wirklichkeit gelten – sonst wäre er ja auch wirklich ein Traumtänzer der Beliebigkeit –, nicht aber, wie Sie am 20.4. zu Recht sagen, den moralischen. Was Sie bei letzterem als Gefühlsbeteiligung bezeichnen, würde ich als Zwang des irrationalen Über-Ichs ansehen, Stirner als „Spuk“ oder „Sparren“, von dem jemand „besessen“ ist (etwa das schlechte Gewissen eines Menschen, der sich sexuell selbst befriedigt bzw. dem sein Über-Ich mit

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moralischem unbedingten Ernst solches Handeln, evtl. gar das Denken daran, verbietet). Diesen unbedingten Ernst (den nicht-moralischen der Wirklichkeit) habe ich gemeint, als ich sagte, dass ich mich um seinen Fortbestand in einer Welt „nach meiner Vision“ nicht sorgte, denn er sei „tierisch“ fundiert: jedem Tier, auch dem Menschen, ist sein Weiterleben nicht gleichgültig, auch schon sein Schmerz nicht. Das Interesse an Selbsterhalt, Schmerzfreiheit sowie Wohlbefinden und Lusterleben ist doch weder das Produkt einer egoistischen Moral noch das Gebot eines kulturinduzierten Über-Ichs, ist m.E. auch nicht zu verwechseln mit der hypertrophen „Selbst- und Weltbemächtigungstendenz“. Als triftigen Einwand gegen unbedingten Ernst des Weiterlebenwollens zitieren Sie mir Kleist: Heinrich beklagte, dass Ulrike ihn im Stich gelassen habe, dadurch selbst das Seligste für sich [!] verfehlt habe – die völlige Aufopferung für „das, was man liebt“ [Heinrich?] – und nahm [deshalb?] sich das Leben. Ich verstehe nicht, inwiefern dieses Handeln Kleists ein triftiger Einwand ist. – Stirner versucht die „tierische“ Haltung des „Eigners“ in einer solchen Grenzsituation auf S. 173f. des Reclam-EE zu beschreiben – und endet auch prompt bei einer Hundemetapher. Auch der „Eigner“ könnte freilich vor der Entscheidung zum Freitod stehen: wenn er ohne Aussicht auf Linderung unter unerträglichen Schmerzen leidet. Nun könnte man einwenden, Kleists Schmerz infolge des Verhaltens Ulrikes sei eben für ihn unerträglich gewesen. Schmerz sei eben Schmerz, egal, wodurch er verursacht werde. Das erschiene mir jedoch als sehr spitzfindig und ließe sich eher im Gespräch als brieflich weiter diskutieren. Ich vermute auch, dass Sie gar nicht so argumentieren würden und mir das Kleist-Zitat in anderer Absicht schickten. (?) Sie schreiben (S. 3 oben), dass Sie mich so verstanden hätten, „dass den Kern dieses unbedingten Ernstes das Streben nach ‚Selbsterhalt‘ ausmacht, dem ein unbedingter Ernst dadurch zuwächst, dass sich das jeweilige Individuum durch eigenes Denken, ohne Beeinflussung durch die Sozialisation in seiner Umwelt, ein Über-Ich zulegt, das am Interesse an Selbsterhalt orientiert ist.“ Und auf S. 4, Mitte, dass Ihnen diese ganze Konstruktion unverständlich sei. – Diese wäre allerdings auch mir unverständlich, und so hatte ich es überhaupt nicht gemeint. Ich will also versuchen, mich mit anderen Worten verständlich zu machen und mich dabei auf ein ganz grobes Gerüst meiner Vorstellungen beschränken. Den Begriff Über-Ich bitte ich dabei wie einen Neologismus, frei von Freud’schen Konnotationen, zu nehmen. In dem Alter, in dem der Mensch anfängt, sich als Individuum zu fühlen, ein Ich-Bewusstsein zu entwickeln, über sein Sichfinden in der Welt nachzudenken, zu „philosophieren“ etc., ist zuvor schon viel an Sozialisation und Enkulturation geschehen, das meiste non-verbal, einiges bewusst und vielleicht mehr noch unbewusst durch die erziehenden (oder auch nur

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betreuenden) Personen hervorgerufen. Als wichtigsten Teil dieses Geschehens erachte ich die Prädispositionen für einen Teil des Über-Ichs; diese stelle ich mir ganz allgemein als Veränderungen am Organismus vor: z.B. Versteifungen, Erschlaffungen von Teilen der Muskulatur, die mit entsprechenden psychischen Haltungen korrespondieren (Reichs „Charakter“); oder, wenn ich (hoffentlich nicht völlig verfehlt) Ihre Terminologie benutzen darf, allgemein die Beschädigung der Fähigkeit, sich von Gefühls-Atmosphären ergreifen zu lassen. Gut, die Sache ist natürlich sehr komplex; aber ich denke, Sie verstehen, was ich meine. Diese Prädisposition, das prärational gelegte Fundament für das von mir irrational genannte Über-Ich, ist vorhanden, wenn der Mensch anfängt, sich rational denkend in der Welt zu orientieren. Er trifft dabei auf vielerlei Einflüsse, von denen die „irrationalen“ es leicht haben, auf jenem Fundament weiter zu bauen und das irrationale Über-Ich vollends zu errichten (Sie nannten einmal die Seelenfallen der katholischen Kirche; aber es gibt zahllose, auch nicht-religiöse), das mit der Zeit vollends zur „Persönlichkeit“, zur „Identität“ einer Person, verschmilzt. Die rationalen Kräfte haben es dagegen sehr schwer, ebenso wie die noch wirksamen vitalen Ansprüche des jungen Menschen. Schließlich siegt, pointiert gesagt, die „Einsicht“, dass es rational ist, sich in einer Gesellschaft, die von irrationalen Menschen bestimmt wird, selbst irrational zu sein (sich anzupassen). Genug! Ich habe mir diese leicht angreifbare, „ungeschützte“ Argumentation einmal erlaubt, weil es mir nur darum ging, ungefähr darzulegen, was ich unter dem „irrationalen Über-Ich“ verstehe: die Folge einer großteils automatisch ablaufenden, gravierenden Beschädigung des Menschen in seiner ersten Lebenszeit – eine Beschädigung, die freilich in vielen Fällen den Menschen für die Gesellschaft, in die er hineinwächst, durchaus „lebenstüchtig“ macht. Als „rationales Über-Ich“ bezeichne ich all jene Maximen und Ideale, die sich ein Mensch als Denkender bewusst erarbeitet hat (wobei eine Koexistenz beider in einem Menschen immer problematisch ist). Stirner – um auf ihn zurückzukommen – will etwas, das dem rationalen Über-Ich entspricht, nicht gelten lassen. Das sind die Passagen, aus denen man berechtigterweise schließen kann, er sein ein Herold des „Prinzips souveräner Beliebigkeit“, wie Sie sagen. Möglicherweise sind solche Stellen bei ihm sogar in der Überzahl. Stirners Buch und auch seine kleinen Schriften sind ja im Kontext der junghegelianischen Polemiken entstanden, Gelegenheitsschriften, wenn Sie so wollen, in denen er den Moralismus seiner sich so antiklerikal und aufgeklärt gerierenden Kollegen („Unsere Atheisten sind fromme Leute!“) zunächst einmal am besten von der Position des, wie Sie sagen, „moralischen Urnihilisten“ aus attackieren konnte. Aber die Position des „Transnihilisten“, dessen, der vor dem Nihilismus nicht zurückgeschreckt ist, sondern ihn durchschritten und theoretisch hinter sich

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gelassen hat, ist bei ihm durchaus erkennbar (sofern man eine solche Position nicht von vornherein für denkunmöglich hält). Ich kann deshalb Ihre Behauptung nicht akzeptieren, dass meine Stirner-Interpretation „falsch“ ist und ich einem „Stirner-Phantom“ nachjage, meine vielmehr, dass Ihre Stirner-Interpretation auf selektiver Lektüre beruht und gerade das, womit Stirner für die ratlose Gegenwart zukunftsweisend sein könnte, ausblendet. Allerdings ist es schwierig, schon gar in brieflicher Kürze, diese transnihilistische Position in einer noch immer phobisch cisnihilistischen Welt begreiflich zu machen. Im Grunde erhebt sie nur die eine kategorische Forderung: super-ego esse delendam! – oder, anders gewendet: hört auf mit der frühkindlichen Beschädigung der Rezeptivität für Gefühls-Atmosphären! (Ich hoffe, mit der Verwendung dieses Begriffs Ihnen nicht zu nahe zu treten.) – Was freilich in ein dauerhaftes wissenschaftliches Programm umgesetzt werden müsste. Sie sind „gegen jede egoistische, primär auf das Interesse des Individuums an seiner Selbsterhaltung bedachte Moral.“ D’accord! Ich meine, auch Stirner vertrat keine solche Moral, denn zur Selbsterhaltung genügt, wie gesagt, der „tierische“ „unbedingte Ernst“. Wenn Stirner eine Moral vertrat, dann eine, die die Heuchelei der herkömmlichen Moralen verwarf, die erst – durch sozialisierende Beschädigung des Kindes – die sozusagen materiellen Voraussetzungen für das schafft (etwa den Hang zur „Sünde“), was sie später vehement bekämpft. Heute etwas länger und assoziativer als sonst, aber hoffentlich klärend, grüßt Sie etc. 18. Mai 2001 Sehr geehrter Herr Laska, unsere Wege durch frühe Sozialisation und eigene Gedankenarbeit, die Sie, wenn ich richtig verstehe, als Bildungsgeschichten eines irrationalen bzw. rationalen Über-Ichs auffassen, liegen anscheinend so weit auseinander, daß wir sogar nach einem dichten und ausgedehnten Briefwechsel mit immer gleicher thematischer Achse noch Mühe haben, aus den Sätzen des Korrespondenten herauszulesen, wie er es meint, doch sind die Aussichten dafür besser geworden, seit Sie sich entschlossen haben, mir direkt im Brief und nicht nur durch Verweis auf Druckschriften, aus denen ich „zwischen den Zeilen“ das Gesuchte erraten müßte, die Richtlinien Ihres Denkens näher zu bringen. Dazu trägt Ihr heute empfangener, umsichtiger und eingängiger Brief vom Jahrestag meiner Geburt in der Weise bei, daß Sie sich auf der Vorderseite hauptsächlich mit meinem Begriff des unbedingten Ernstes einer Autorität beschäftigen und mir auf der Rückseite Ihr Verständnis des irrationalen und rationalen Über-Ichs nahezubringen suchen. An beide Titel will ich anknüpfen.

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Ich setze voraus, daß wir über den formalen Begriff des unbedingten Ernstes (nämlich, für jemand eine Autorität zu sein, die für ihn die Geltung einer Norm in der Weise verbindlich macht, daß er auch durch Mobilisierung aller ihm verfügbaren Reserven personaler Emanzipation oder Kritikfähigkeit keinen Standpunkt einnehmen kann, auf dem er unbefangen fähig wäre, dieser Autorität und Norm seinen Gehorsam zu verweigern) einig sind. Wenn ich Ihre Bemerkungen auf der Vorderseite richtig verstehe, sind Sie geneigt, nur zwei Typen solchen unbedingten Ernstes gelten zu lassen, nämlich an moralischer Autorität und an der Autorität der Wirklichkeit in der Evidenz. (Ich bin mir nicht sicher, ob Sie nicht auch das sogenannte rationale Über-Ich mit solchem unbedingten Ernst bekleiden wollen, doch entstünden dann für mich die zunächst unüberwindlichen Verständnisschwierigkeiten, die ich am Ende meines vorigen Briefes angegeben habe.) Sie bringen ferner die Autorität der Wirklichkeit in Zusammenhang mit einem bei Tieren und Menschen erwartbaren unwillkürlichen Interesse an Selbsterhaltung, doch scheint mir das für die Erörterung des unbedingten Ernstes eine entbehrliche Komplikation zu sein, da die Nötigung, sich etwas als unbestreitbare Tatsache einzugestehen, auch in vielen Lebenslagen, wo es nicht gleich um Selbsterhaltung geht, anzutreffen ist. Worauf ich aber den Finger legen möchte, ist die Unvollständigkeit der Einteilung von Autorität mit unbedingtem Ernst in moralische Autorität und Autorität der Wirklichkeit. Mein Kleist-Ulrike-Beispiel, dessen Funktion in meinem Gedankengang Sie gründlich mißverstanden zu haben scheinen, kann wahrscheinlich dazu beitragen, den breiteren Umfang des Begriffes zu verdeutlichen. Kleist wirft seiner Schwester kein moralisches Versagen vor, denn es dürfte ihm fern gelegen haben, einem anderen Menschen geradezu eine moralische Pflicht zuzumuten, alles für ihn aufzuopfern. Was er an ihr vermißt, ist vielmehr die „Kunst“, wie er es nennt, aus Liebe alles für den Geliebten einzusetzen und notfalls hinzugeben, also dem Interesse an Selbsterhaltung gerade entgegenzuhandeln. (Er sagt sogar im Neutrum „das, was man liebt“, so daß nicht nur an Personen, sondern auch an sachliche Themen als Gegenstände solcher Liebe zu denken ist.) Moralische Autoritäten beruhen nach meiner Theorie auf der Autorität der Rechtsgefühle Zorn und Scham (im warnenden und strafenden Gewissen); von anderer Art ist die Autorität der Liebe, aber sie kann unbedingten Ernst für jemand haben, und darauf scheint Kleist mir anzuspielen. Der von solchem Ernst betroffene Mensch ist sich mit einer Entschiedenheit, der gegenüber alle Entwertungsversuche für ihn nichtig sind, gewiß, daß er ganz dafür da ist, für einen anderen Menschen oder ein sachliches Anliegen einzutreten, und aus dieser Gewißheit fließt für ihn eine ganzheitliche Sicherheit einer Lebensrichtung, in der seine Vitalität, Sensibilität und Gestaltungskraft, mit ihm anders nicht verfügbarer Fülle und Lebendigkeit, sich entfalten können. Das ist das Glück, das Kleist sich von der „Kunst sich

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aufzuopfern“ verspricht; es hat mit „moralischem Masochismus“ so wenig zu tun wie mit Moral in anderem Sinn. Ein breites Spektrum solchen enthusiastischen, aber auch nüchtern-enthusiastischen (nicht immer überspannt-enthusiastischen) unbedingten Ernstes erschloß sich den Menschen alter Kulturen im religiösen Erleben, wobei ich nicht an das Christentum denke, sondern etwa an die „Bakchen“ des Euripides (vielleicht auch an die eleusinischen Mysterien). Wie dürr und jämmerlich vertrocknet in ihrer Lebens- und Eindrucksarmut fällt dagegen eine Richtlinie aus, die die Lebensführung bloß am eigenen Vorteil orientiert, gestützt auf ein mehr oder weniger tierisches Interesse an Selbsterhaltung! In diesem Sinn hatte ich mein Zitat aus Kleists Brief an seine Schwägerin eingesetzt; ob der „Schmerz“, besser: das Leid, von Ulrike verlassen zu sein, für Kleist unerträglich war, kommt dabei für mich gar nicht in Betracht. Ich gehe nun über zum zweiten Thema und damit zu Ihrer Terminologie, zum irrationalen und rationalen Über-Ich. Damit ich Ihnen kein Unrecht tue, will ich aus Ihren eingängigen, Verständnis fördernden Formulierungen zunächst das herausgreifen, wozu ich dann Stellung nehmen möchte. Sie klagen „die sozialisierende Beschädigung des Kindes“ an, bestehend in leiblichen Beeinträchtigungen („z.B. Versteifungen, Erschlaffungen von Teilen der Muskulatur“) und „entsprechenden psychischen Haltungen“ mit der Folge von „Beschädigung der Fähigkeit, sich von Gefühls-Atmosphären ergreifen zu lassen“; auf diese Weise umschreiben Sie, was Sie unter einem irrationalen Über-Ich verstehen, dem Sie den Bannspruch entgegenhalten: „super-ego esse delendam“. Dagegen setzen Sie sich für die Ausbildung eines rationalen Über-Ichs ein, das Sie so definieren: „Als rationales Über-Ich bezeichne ich all jene Maximen und Ideale, die sich ein Mensch als denkender bewußt erarbeitet hat.“ Ihre Unterscheidung zwischen einem irrationalen und einem rationalen Über-Ich, wie sie sich mir nach diesem Referat darstellt, ist in meinen Augen unergiebig und irreführend. Das gilt nicht für den sehr berechtigten Hinweis auf faktische Fehlleitungen durch Erziehung. Wenn sie z.B. das Christentum als „Wahnidee“ (ein Wort aus einem früheren Brief) bezeichnen wollen, möchte ich nicht durchaus widersprechen, nur allerdings betonen, wie unerhört fruchtbar dieser Wahn für die Vertiefung, Bereicherung und Kultivierung des Fühlens gewirkt hat, z.B. mit der Musik von Bach. Mein Vorwurf richtet sich nur gegen das Grundsätzliche, gegen die für Ihre Unterscheidung maßgebliche Konzeption, den Rousseauismus, dem ich die Hauptschuld an den fürchterlichen Entartungen der modernen Weltverbesserungstechniken bis hin zum Marxismus (Pol Pot) und der „Eindruckstechnik“ der modernen (Zigaretten- usw.) Reklame zuschreibe, siehe „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 94–99 („Aristoteles gegen Rousseau!“ wäre eine Maxime, die ich der Ihrigen „super-ego esse delendam“ entgegenhalten könnte), 221, 242f. Rousseau stellte sich die Men-

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schen (mit Emile als Paradigma) wie Pflanzen vor, denen man nur durch gehörigen Abstand zu den Nachbarpflanzen und durch Spaliere, die den freien Wuchs nicht hemmen, genug Spielraum gewähren müsse (insbesondere Zugang zum Licht), damit sie sich prächtig aus der eigenen, reinen Natur entfalten. Rousseau wehrte sich damit gegen die von Gracián und Larochefoucauld theoretisch inspirierte Eleganzkultur höfischer Verlogenheit und Heimtücke mit einer Frontstellung, die der Ihrigen und Reichs (soweit ich ihn aus Ihren Mitteilungen kenne) gegen den „Charakterpanzer“ ziemlich genau entspricht. Allerdings fehlt bei Rousseau so etwas wie Ihr „rationales Über-Ich, das mir Rätsel aufgibt; an seiner Stelle steht vielleicht die obligatorische Zivilreligion nach „Le contract social“, s. „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 224. Dieses rationale Über-Ich soll aus den Maximen und Idealen bestehen, die sich ein Mensch als Denkender bewußt erarbeitet hat. Solche bewußte Arbeit, etwa in den Spuren des platonischen Sokrates, kommt freilich bei vielen Menschen vor, und ich als Philosoph bin gewiß der Letzte, der so etwas nicht begrüßen und fördern würde. Aber auf das für die faktische Lebensführung maßgebliche Wollen hat solche Arbeit nur indirekten Einfluß. Von mir ist gerade eine phänomenologische Abhandlung über das Wollen erschienen (Wille und Wollen, hg. v. Hilarion Petzold, Göttingen 2001 bei Vandenhoeck & Ruprecht, S. 118–148), worin ich das Wollen in zwei Komponenten zerlege: 1. intelligente Explikation des binnendiffusen Programmgehaltes von Situationen, besonders der eigenen zuständlichen persönlichen Situation, durch Herausschälen einzelner Programme, Abwägung ihres Gewichts, Finden von Kompromissen bei Konkurrenz gleichgewichtiger unverträglicher Programme, 2. Zuwendung des vitalen Antriebs zu den explizierten Programmen. Wollen ist also (gemäß der ersten Komponente) wesentlich Wissen, was man will, was zu einem (genauer: zum Nomos der eigenen persönlichen Situation oder auch der sie implantierenden gemeinsamen Situationen) paßt. Der Mensch ist nicht Herr seines Wollens, er findet sich nur mehr oder weniger intelligent darin zurecht, aber allerdings hat er durch bewußtes, nachdenkendes Erarbeiten von Maximen und Idealen indirekt großen Einfluß darauf, weil solche Arbeit durch Explikation, personale Emanzipation und Offenheit für personale Regression die Bildung und Umbildung seiner persönlichen Situation wesentlich vorantreibt. Darauf aber, daß diese eigene Arbeit rein von Einflüssen der Sozialisation und Erziehung gehalten wird und in diesem Sinn der unfreiwillig komischen Formel aus Kants Opus postumum „Ich mache mich selbst (…) Wir machen alles selbst“ (Akademieausgabe Band XXII S. 82, s. Hermann Schmitz, Was wollte Kant, S. 320) genügt, kommt nichts an, oder vielmehr: So etwas zu wollen, ist verstiegenes Sicheinspinnen in eine Illusion mit möglicherweise fatalen Folgen, allein schon deshalb, weil auch der Selbstdenker kaum ohne sprachliche Formulierung denken kann und dabei von Syntax und Semantik der verwendeten Sprache

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geführt wird, die ihm durch die von Ihnen zu sehr geschmähte frühe Sozialisation und Erziehung vermittelt worden ist. Dieser Führung wie auch der durch andere, seine persönliche Situation implantierende Situationen verdankt er die grundlegende Hilfe für die Erschließung der aktuellen und zuständlichen Situationen, denen er die Sachverhalte, Programme und Probleme abgewinnt, an denen sich sein bewußtes Denken über Maximen und Ideale abarbeiten kann. Eine Minimierung des Einflusses solcher implantierender Situationen wäre Verödung und Sterilisierung eigenen Denkens, aber allerdings muß der Denkende sein Geführtwerden kritisch überwachen, wenn er nicht in den Fallen gefangen werden will, die die Tradition ihm stellt. Durch die Auseinandersetzung mit Widerständen – auch dem beengenden Wurzelwerk der eigenen Lebensgeschichte – wächst dem Denken die Gestaltungskraft zu, die ihm durch Entwurzelung, durch „Schwimmen im Zeitstrom“ nach der von mir in Briefen an Sie gelegentlich zitierten Maxime Goethes (Nr. 477 der Maximen und Reflexionen, hg. v. Max Hecker), abhanden kommt. Von Ihrer Hoffnung auf rationale Autonomie halte ich nichts. Diese würde bedeuten, daß der Mensch sich durch seine Ratio, seine Vernunft, ein Gesetz seines Handelns gibt, eine Antwort auf die Frage: „Was soll ich tun?“ Dafür müßte er diesem Handeln in erster Linie einen rationalen Zweck vorgeben können, als Ziel seines vernünftig gewordenen Strebens. Es gibt aber keine vernünftig haltbare Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Zwecken. Rational kann nur die Wahl von Mitteln für schon vorgegebene Zwecke sein (Zweckrationalität nach Max Weber) sowie die Abschätzung von Nebenfolgen bei Verwirklichung des ausgewählten Zweckes, wobei aber für die Bewertung solcher Nebenfolgen abermals kein rationales Kriterium möglich ist. Zweckrational wird in den meisten Fällen die Selbsterhaltung sein, weil jemand Zwecke nur, solange er lebt, verfolgen kann, aber es kann auch Zwecke geben, für die die Selbstaufopferung zweckmäßig ist, und dann wäre Selbsterhaltung irrational. Zwecke können nur aus dem Belieben (einschließlich des instinktiven Strebens nach vitaler Selbsterhaltung, z.B. durch Essen und Trinken) oder aus dem Ergriffensein durch die Autorität von Gefühlen (mit bedingtem oder unbedingtem Ernst dieser Autorität) stammen; durch Abarbeitung solcher Ergriffenheit wird die Vernunft souverän im Verfügen über Mittel (einschließlich der eigenen triebhaften Bedürfnisse), aber ratlos, welchen Zwecken sie diese Mittel zuwenden soll, ohne immer nur der Laune augenblicklichen Beliebens („Spaßkultur“) zu folgen. Diese Stellungnahme sollte nicht als eine konservative mißverstanden werden. Die Verwurzelung der Persönlichkeit in implantierenden Situationen sollte nie so fest werden, daß diese darin gefangen ist, sondern lockeren Spielraum für eine Auseinandersetzung bieten, die bis zur Sprengung des alten Rahmens gehen kann, damit sich aus dessen Trümmern ein neuer bil-

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det. In diesem Sinn begrüße ich alle Emanzipationsbestrebungen, solange sie nicht durch den Leichtsinn der Maxime des alten Kant „Wir machen alles selbst“ zur Selbsttäuschung verleiten. Ein großartiges Beispiel aus dem späten Mittelalter ist die Emanzipation der geschlechtlichen Paarliebe aus der Bindung an einen Verankerungspunkt (ein „propter aliquid“), worauf die Philosophen bestanden, seit der Tristandichtung Gottfrieds von Straßburg, vgl. von mir „Die Liebe“ S. 179–195. 31. Mai 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, ja, unsere jeweiligen Bildungsgeschichten, die Wege, die uns zu unserem Thema geführt haben, differieren gewiss außerordentlich; umso erstaunlicher – und erfreulicher – ist es, dass wir in der Lage sind, dennoch sinnvoll über unser schwieriges Thema zu diskutieren und die dabei verständlicherweise auftretenden Missverständnisse zur Klärung und Erläuterung unserer Positionen nutzen. Eine Quelle wiederholt auftretender Verständigungsprobleme scheint mir zu sein, dass Sie meine Position – zu deren Bestimmung ich ausgerechnet drei Figuren, die Ihnen eher fern liegen (La Mettrie, Stirner, Reich), nicht nur heranziehe, sondern sogar als Schlüsselfiguren (zum Verständnis des Niedergangs der Aufklärung und zu ihrer Reanimation) auszeichne – im Grunde für eine denkunmögliche halten, oder eben für eine, die – was ich bei hinreichender philosophiehistorischer Bildung zu erkennen nicht verfehlen würde – bereits von bekannten Philosophen durchdacht, verworfen oder vertreten wurde. Letzteres erschließe ich aus zahlreichen Passagen Ihrer Briefe, zuletzt aus Ihrem Versuch, meine Position mit der Rousseaus („Émile“) oder des „alten Kant“ („Wir machen alles selbst“) zu identifizieren – oder eben auch mit der Ihres „urnihilistischen“ Stirner. Meinen (vermeintlich denkunmöglichen) „transnihilistischen“ Stirner habe ich Ihnen, wie ich vermuten muss, bis heute nicht nahebringen können. Zu Rousseau, den Sie mir konventionell erläutern, hier zwei Zitate aus dem „Emil“ (ed. Reclam 1968): S. 265f.: „Lasst ihn [euren Zögling] immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen … Zweifellos darf er tun, was er will, aber er darf nur wollen, von dem ihr wünscht, dass er es tut.“ S. 676: „Jetzt [mit 20 Jahren] ist er lange genug erzogen worden, um fügsam zu sein … Zwar lasse ich ihn in dem Glauben, unabhängig zu sein, niemals aber war er mir mehr unterworfen; denn er ist es, weil er es sein will.“ So oder ähnlich, offen oder verklausuliert, denken m.W. alle, von z.B. Hegel bis Bakunin, von den div. Christen/Religiösen bis zu den Antiautoritären (die ein „freiheitsliebendes“ Über-Ich favorisieren), nicht aber – Stirner (resp. La Mettrie, Reich) und natürlich ich.

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Sie sagen nun, auf S. 4, Rousseau bzw. der Rousseauismus sei die für meine Unterscheidung zwischen irrationalem und rationalem Über-Ich „maßgebliche Konzeption“ (was ich abstreite, aber nicht deshalb, weil Sie mit dem Popanz Pol Pot drohen, sondern aus o.g. Gründen); Sie sagen auf S. 5 aber auch, dass bei Rousseau so etwas wie mein rationales Über-Ich fehle. Letzteres sei Ihnen sowieso rätselhaft. Gleich darauf aber: Das rationale Über-Ich, bestehend aus bewusst erarbeiteten Maximen und Idealen, gebe es doch bei vielen Menschen; es würde von Ihnen als Philosoph selbstredend begrüßt, habe aber „auf das für die faktische Lebensführung maßgebliche Wollen … nur indirekten Einfluss.“ Genau da liegt doch der Hase im Pfeffer. Weil es in den Menschen ein im Zuge ihrer Enkulturation entstandenes irrationales Über-Ich gibt, ein „falsches Selbst“, einen starren „Charakter“, eine damit verbundene elementare Schädigung des Fühlens, Empfindens, des vitalen Antriebs (usw., s. frühere Briefe), kommen die Ideale, Maximen etc., kommt alle kodifizierte „Ethik“ erst in zweiter Linie zum Zuge, im Entscheidungsfalle gar nicht. Gewiss sind beide Bereiche inhaltlich nicht klar zu trennen. Das irrationale Über-Ich gebietet also zwar oft ein Wollen und Handeln, das das rationale ebenso gebietet; aber das ist m.E. nicht der Punkt. Entscheidend ist die schwer zu kompensierende oder gar zu heilende Schädigung. Ich habe das rationale Über-Ich eingeführt, weil Stirner es nicht nur als dem „Eigner“ nicht gemäß abtut, sondern es auch gelegentlich mit dem irrationalen konfundiert. Das sind wahrscheinlich die Stellen, die Sie zu Ihrem Urteil kommen lassen, Stirner sei ein konsequenter urnihilistischer Propagandist der Beliebigkeit und als solcher (was übrigens auch marxistische Philosophen vehement behaupten) der eigentliche Urvater der gegenwärtig immer weiter um sich greifenden Ideologie. Meine kritische StirnerRezeption und die begriffliche Zweiteilung des Stirner’schen „Jenseits in Uns“, aus der folgt, dass das rationale Über-Ich um so größeren Einfluss auf die faktische Lebensführung hat, je schwächer das irrationale (und die mit ihm verbundenen Deformationen der Person) ist, lässt dagegen Stirner als den (potentiellen) Überwinder der grassierenden Ideologie reüssieren. Damit sind wir wieder an dem Punkt angelangt, wo sich unsere Übereinstimmungen und unsere Diskrepanzen benennen lassen. Wir stimmten bisher oft überein in dem, was man als „Symptom“, als Zeichen einer Krankheit oder Fehlentwicklung zumindest der heutigen europäischen Menschheit anzusehen hat. So kann ich Ihrer Verurteilung der modernen „Eindruckstechnik“ bzw. Reklame im letzten Brief voll zustimmen, und ich denke, dass Sie dabei nicht nur die (genannte) Zigarettenreklame im Sinn haben, sondern vermutlich – wie jedenfalls ich – das Funktionieren großer Teile unserer Öffentlichkeit und nicht zuletzt den Modus, nach dem heutzutage die Auswahl der Personen erfolgt, die Kommunen und Staat politisch repräsentieren und führen. Über die Krankheit, die diese Symptome

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verursacht, sind wir indes sehr unterschiedlicher Meinung. Während Sie sie, ganz pauschal gesagt, auf eine Hypertrophie der „Aufklärung“ zurückführen, meine ich, dass sie darin besteht, dass die „Aufklärung“ nach Abarbeitung ihrer rein intellektualistischen Komponente Angst vor der eigenen Courage bekam und auf halbem Wege stecken geblieben ist, genauer: sich selbst paralysiert hat (was sich an den bis heute regelmäßig „übersehenen“ Einstellungen von Diderot, Voltaire et al. gegen La Mettrie; von Marx, Nietzsche et al. gegen Stirner; von Freud et al. gegen Reich ausgezeichnet demonstrieren lässt). Ja, der Gedanke liegt nahe, dass diese geistige Lähmung bzw. Selbstaufgabe Europas mit der (z.B. in den rezenten Diskussionen über „Zuwanderung“ – nicht nur in Deutschland) immer mehr in den Blickpunkt rückenden biologischen korrespondiert. Nun noch zu einigen anderen Punkten Ihres umfangreichen letzten Briefes. Wenn Sie S. 1 sagen, ich ließe zwei Typen des „unbedingten Ernstes“ gelten, nämlich neben dem, der aus der Autorität der Wirklichkeit folgt, den aus moralischer Autorität, haben Sie mich wohl missverstanden. Ich hatte Ihrer Auffassung, dass mit der Eliminierung des irrationalen ÜberIchs (und damit der „enkulturierten“ moralischen Autorität) auch die Basis für jeglichen unbedingten Ernst beseitigt wäre und das Individuum orientierungslos, gleichgültig etc. durch ein von ihm als sinnlos empfundenes Leben seinem schließlichen Tod entgegentaumele, entgegengesetzt, dass ein – soliderer, natürlicher, primärer – unbedingter Ernst, wie bei allen Tieren, auch beim Menschen dadurch gegeben ist, dass niemandem sein Weiterleben (bei gesunden Individuen auch schon sein Wohlbefinden) gleichgültig ist. Bei Kleist z.B., den Sie heranzogen, war das allerdings anders. Ich glaube nicht, dass ich, wie Sie sagen, die von Ihnen vorgetragene HeinrichUlrike-Geschichte „gründlich missverstanden“ habe. Aber ich beurteile sie natürlich ganz anders als Sie, sehe nichts Hehres oder Bewundernswertes in der „Kunst, sich aufzuopfern“ eher das Gegenteil. Wenn Sie S. 3 diese Einstellung ohne Umschweife als „bloß am eigenen Vorteil orientiert, gestützt auf ein mehr oder weniger tierisches Interesse an Selbsterhaltung“ bezeichnen, so empfinde ich das als polemische Volte und kann ich Ihnen natürlich nicht zustimmen. (Ihrer Charakterisierung der beschriebenen Einstellung als „dürr und jämmerlich vertrocknet“ stimme ich indes zu). Wer nicht bereit ist, sein Leben „für das, was man liebt“ hinzugeben, ist m.E. deshalb durchaus nicht kulturunfähig – im Gegenteil: vom „Neuen Menschen“ in meinem Sinne – der die Epochenschwelle überschritten bzw. die Menschheitspubertät hinter sich gelassen haben würde – erwarte ich, ohne dass er sein Leben für irgendetwas opfern muss oder gar möchte, einen Qualitätssprung in der Kulturentwicklung (natürlich nach oben). Damit sind wir bei einem anderen Punkt aus Ihrem Brief: S. 4 geben Sie mir – nachdem ich einmal die bisherigen Gemeinschaften der Men-

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schen, natürlich auch das Christentum, als veritable „Wahngemeinschaften“ bezeichnet hatte – zu bedenken, „wie unerhört fruchtbar dieser Wahn für die Vertiefung, Bereicherung und Kultivierung des Fühlens gewirkt hat“, und nennen als Beispiel die Musik von Bach. Dem ließe sich natürlich eine lange Liste weiterer bewahrenswerter Kulturleistungen des christlichen Europa anfügen, nicht zuletzt die (Natur-)Wissenschaften und die Technik – und eine lange Liste verrohender, zerstörerischer, katastrophaler, unendlich viel zusätzliches Leid erzeugender und das Fühlen wiederum verheerender Wirkungen dieses Wahns. Aber ich gehöre nicht zu denen, die sagen, es hätte doch alles ganz anders gewesen sein können. Es war, wie es war. Punktum. „Ehrfurcht“ jedenfalls empfinde ich auch gegenüber der Kulturgeschichte nicht, auch nicht gegenüber evtl. aussortierter „positiver“ Leistungen – und natürlich auch nicht gegenüber La Mettrie, Stirner, Reich. Wenn es mir gelungen ist, in den vorstehenden Zeilen Ihnen meine Position verständlich(er) gemacht zu haben, erübrigt sich vielleicht eine (umständliche) Stellungnahme zu dem, was Sie S. 7 über Rationalität und Irrationalität sagen. Sie bestehen selbstverständlich darauf, es könne „Zwecke geben, für die die Selbstaufopferung zweckmäßig ist, und dann wäre Selbsterhaltung irrational.“ Und: „Zwecke können nur aus dem Belieben … oder aus dem Ergriffensein durch die Autorität von Gefühlen … stammen.“ Zum Belieben (unter dem ich mir nichts Rechtes vorzustellen vermag) zählen Sie ausgerechnet das „instinktive Streben nach Selbsterhaltung, z.B. durch Essen und Trinken“. (Warum? Weil „Heilige“ oder Hungerstreikende es zu einem höheren Zweck, für den sie ihr Leben opfern „wollen“, im Gegensatz zum Tier, aus „freiem Willen“ mit Todesfolge unterlassen können?) Das verstehe ich nicht. Dagegen verstehe ich gut die zwecksetzende Kraft der Gefühle, nur kommt es m.E. darauf an – ganz gleich, welche Auffassung von deren Natur man vertritt – in welcher Lebenslage das Individuum sich von welchen Gefühlen ergreifen zu lassen fähig ist. Und da sehe ich – übrigens mit Stirner, der z.B. S. 69f. Reclam-EE in seiner Sprache darüber schreibt – einen fundamentalen Unterschied zwischen Menschen, die von einem irrationalen Über-Ich gesteuert werden und solchen, die „sich selbst“ steuern (dies hier in aller Kürze, in der Hoffnung auf verständnisvolle Berücksichtigung von anderswo Gesagtem). 2. Juni 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Die Rousseau-Zitate in Ihrem Brief vom 31.05. scheinen mir bestens zu meiner Rousseau-Charakteristik in meinem Brief vom 18.05. zu passen. Rousseau, so hatte ich geschrieben, stellt sich die Menschen wie Pflanzen vor, die von krank machenden Behinderungen ihrer Entfaltung befreit werden, wenn man sie in gehörigem Abstand an Spalieren wachsen läßt. Der Erzieher im „Emile“ will seinen Zögling führen, ohne ihn zu hemmen; das

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sind die Spaliere. Wenigstens gesteht er sich ein partielles Scheitern solcher guten Absichten an den Symptomen sexueller Reifung, erster jugendlicher Verliebtheit, ein, siehe mein „Hitler“-Buch S. 225. So überzeugt mich auch nicht Ihre Distanzierung von Rousseau. Als dessen Adept oder Neophyt erweisen Sie sich mir mit dem Vorwurf gegen das irrationale Über-Ich: „Entscheidend ist die schwer zu kompensierende oder gar zu heilende Schädigung.“ Sie streben also, gleich Rousseau, dem Wunschbild einer Heilung der durch gesellschaftliche Einwirkung geschädigten Menschennatur durch Beseitigung solcher Einwirkung nach. Wenn nur spezielle, genau eingrenzbare Schadensquellen gemeint sind, stimme ich selbstverständlich zu, aber Sie haben mit dem irrationalen Über-Ich ja Grundsätzlicheres im Sinn, nämlich eine Radikalkur, die den Patienten meines Erachtens umbringen oder mindestens der Sprache, die ja nur durch gesellschaftliche Einwirkung als Verpackung (oder besser: angewachsene Haut) eines in Ihrem Sinn irrationalen Über-Ichs zu ihm kommt, berauben würde. Statt einer Heilkur durch Ausscheidung des „Giftes“ der Tradition empfehle ich eine Verwertung als Stimulans selbständiger Standpunktfindung durch kritische Auseinandersetzung, die mehr oder weniger polemisch sein kann, aber nicht sein muß, etwa so, wie erwachsene Kinder aus dem Abstand eigener Besonnenheit zu ihren Eltern Stellung nehmen. Merkwürdigerweise können Sie sich unter dem Belieben, das nach meinem Dafürhalten als zweite Instanz des Zwecksetzens außer der Autorität von Gefühlen in Betracht kommt, „nichts Rechtes“ vorstellen. Dabei leben wir in einem Reich der „Spaßkultur“; die Jagd nach fun verdankt sich der zwecksetzenden Leistung des Beliebens. (Vor vielen Jahren schon las ich, junge Mädchen überlegten sich abends gern, ob sie eine Schlaftablette oder eine Wecktablette für die Disko usw. nehmen sollten; das war wohl nur ein bezeichnender kulturkritischer Stoßseufzer.) Das ist eine wichtige Seite des modernen Syndroms, das wir beide als therapiebedürftig empfinden, wozu Sie sehr treffend in Ihrem Brief andere Seiten (die zeitgenössische Art der Auswahl politischer Repräsentanten; die biologische Selbstaufgabe Europas) hinzufügen. Sie schreiben mir als meine Diagnose dieser Zeitkrankheit „Hypertrophie der Aufklärung“ zu; diese Zuschreibung ist mir nur wegen der Vieldeutigkeit des Wortes „Aufklärung“ fragwürdig. Wenn Sie – wie es den Anschein hat – die seit dem 18. Jahrhundert aufblühende Aufklärung im Zeichen des Imperialismus, Kapitalismus und Individualismus meinen, haben Sie insofern Recht, als diese Aufklärung nach meiner Überzeugung an den Folgen der dynamistischen und autistischen Verfehlung des abendländischen Geistes krank ist. Wenn Sie das Wort aber in weiterem Sinn nehmen, bin ich ein emphatischer Fürsprecher der Aufklärung, vor allem im Sinne der Selbstaufklärung des Menschen über sich durch Entzauberung der Verzerrungen, die das von den Philosophen in dynamistischer Verfehlung einseitig angeheizte Verlangen nach Selbstbe-

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mächtigung mit dem falschen Leitbild der in einem Oberstockwerk der abgeschlossenen privaten Innenwelt als Vernunft und freier Wille über die unwillkürlichen Regungen Regie führenden Person angerichtet hat. Ich möchte dagegen dem von den Philosophen als Führern der europäischen Kultur nicht genug beachteten delphischen Tempelspruch „Erkenne dich selbst!“ im Sinne der Aufforderung Antonios von Tasso (bei Goethe) „Vergleiche dich! Erkenne, was du bist!“ Geltung verschaffen. Auf den Menschen allgemein angewandt, bedeutet dies: Er soll sich als leiblich-affektiv betroffen und nur labil und ambivalent aus solchem Betroffensein als Person sich erhebendes Wesen verstehen, als Person zugleich eingesponnen (aber mit Öffnung zur tierhaften Leiblichkeit) in eine zuständliche persönliche Situation, die ihm zugleich Hülle und Partner ist, wie eine zähflüssige Masse, in der unzählige solche zähflüssige Massen (partielle zuständliche Situationen) gleiten, und die in unzähligen solchen zähflüssigen Massen (umgreifenden, z.T. implantierenden zuständlichen Situationen) gleitet. Er soll sich darauf besinnen, daß seine Gestaltungskraft, seine Initiative aus Empfänglichkeit und nicht aus Autonomie stammt. An die Stelle des Leitbildes des Eigners setze ich das Leitbild des Wellenreiters, der aus den tragenden, aber auch gefährlichen Wellen des leiblich-affektiven Betroffenseins seine Impulse schöpft, aber für die Selbstbehauptung im Reiten auf dem flüssigen Element alle Kräfte seines kritischen Verstandes einzusetzen vermag, so daß er „nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht Folge leistet“ (Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 477 der Ausgabe von Max Hecker, Weimar 1907). Auf diesem Hintergrund möge ersichtlich werden, daß Sie meine Worte im Brief vom 18.05. unrichtig wiedergeben, wenn Sie mir ein Bekenntnis zu Ihrem „rationalen Über-Ich“ unterstellen, das von mir „als Philosoph selbstredend begrüßt“ werde. Ich meine, oft genug in unserem Briefwechsel schon darauf hingewiesen zu haben, daß ich der Ratio oder Vernunft für die einen Menschen mit unbedingtem Ernst verbindlicher Geltung in seiner Perspektive bindenden Normen, soweit sie (anders als die theoretische Evidenz) Impulse geben, nicht eine konstitutive, sondern nur eine kritische Funktion zugestehe, in dem Sinn, daß solche Normen dank der Autorität von Gefühlen sich vor der Mobilisierung aller jeweils verfügbaren Reserven personaler Emanzipation (einschließlich der rationalen Kritik) als unüberholbar bindend bewähren. Selbstverständlich halte ich den erwachsenen, besonnenen Menschen für berufen dazu, die verbindliche Geltung von Normen für ihn durch Probe an seiner Kritikfähigkeit zu härten oder zu entkräften. Wenn Sie nicht mehr sagen wollten, wären wir einer Meinung. Sofern Ihr Konzept des rationalen Über-Ichs aber darüber hinausgeht, ist es mir unverständlich. Sie scheinen mir den Inhaber eines solchen Über-Ichs als Eigner über alle für sein Handeln geltenden Normen einsetzen zu wollen, wobei er sich

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hauptsächlich an sein Interesse der Selbsterhaltung halten und sich demgemäß dem Kleist’schen Ideal, sich aus Liebe für einen Anderen aufopfern zu können und notfalls zu wollen, entziehen soll. Für logisch unverträglich mit solchem Eigner-Status halte ich den unbedingten Ernst verbindlicher Geltung der dem rationalen Über-Ich angehörigen Normen für den Eigner, weil dieser sich (kraft der Definition des unbedingten Ernstes) über die Bereitschaft zum Gehorsam gegen solche Normen dann nicht unbefangen hinwegsetzen kann, wie es einem Eigner zustünde. Deswegen verstehe ich Ihr Konzept des rationalen Über-Ichs nicht. 13. Juni 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, was Sie auf der ersten Seite Ihres Briefes vom 2.6. zu unserer kleinen Rousseau-Debatte schreiben, kann ich rein logisch nicht nachvollziehen. Sie sagen, wie schon am 18.5. (S. 4–5), meine Position sei im Grunde die Rousseaus; und dies, obwohl meine beiden Zitate aus Rousseau, in denen er das Prinzip seiner Erziehungslehre als ein das „irrationale Über-Ich“ sogar gezielt erzeugendes nicht etwa nur eingesteht, sondern demonstrativ ausstellt, das Gegenteil belegen. Denn darüber, dass die „Negation des irrationalen Über-Ichs“ (so die Titelanfänge dreier Aufsätze von mir zu La Mettrie, Stirner, Reich) das entscheidende Kennzeichen meiner aus jenen Denkern – und nur aus ihnen – ableitbaren (para-)philosophischen Position ist, waren wir uns doch meinem Eindruck nach schon seit langem einig. – Korrespondierend dazu kann ich auch das Bild nicht nachvollziehen, in dem Sie von Rousseau sagen, dass er einerseits den Zögling als Pflanze betrachte, deren Wuchs durch nichts gehemmt werden soll, dass er andererseits aber Spaliere errichtet habe, an denen entlang sie wachsen müssen. Wenn ich jedoch das Bild aufgreifen und zur Erläuterung meiner Auffassung modifizieren darf, wäre zunächst einmal das vom Erzieher bewusst entworfene Spalier, durch das der Zögling nach ausgedachten Vorstellungen geformt werden soll, zu entfernen. Dann wäre der Blick auf die „Nahrung“ zu richten, derentwegen der Zögling auf den Erzieher angewiesen ist, und hier wäre tatsächlich, um Ihre Worte zu gebrauchen, die „Ausscheidung des ‚Giftes‘ der Tradition“ – nachdem man dessen Existenz erkannt hat – vonnöten. Letzteres, die Unterscheidung von giftiger und gesunder Nahrung, wäre freilich eine sehr schwierige wissenschaftliche, aber m.E. nicht prinzipiell unlösbare Aufgabe. Die Schranken, die dem Gedeihen des gesund genährten und nicht an ein Spalier gebundenen Zöglings, den man sich als ambulante Pflanze denken müsste, gesetzt sind, wären dann – im utopischen Idealfall – immer noch durch die Wirklichkeit (wobei das „Gift der Tradition“ einer vergangenen Wirklichkeit angehört) gegeben, also u.a. durch die nach gleichem Prinzip aufwachsenden, aber deshalb nicht zu einem Einheitsmodell heranwachsenden Zöglinge sowie durch ältere und

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jüngere Mitmenschen. Ein Verlust des „Vaters aller Dinge“ ist also ebensowenig zu befürchten wie ein „Schafstallleben“. Rousseau hin oder her – Sie stimmen mir S. 1 „selbstverständlich“ zu, wenn es um die Beseitigung spezieller, genau bestimmbarer Schadensquellen geht, vermuten aber, meine „Radikalkur“ würde den Patienten umbringen, vermuten, meine Utopie geriete zu einer Welt von lauter sprachlosen Kaspar Hausers. Nein, natürlich müssten die Noxen auf wissenschaftlich einwandfreie Weise ermittelt und eliminiert werden. Sie hingegen empfehlen deren weitere Zufuhr (evtl. mit Erhöhung der Dosis?) zur späteren „Verwertung als Stimulans selbständiger Standpunktfindung“. Das liefe, ebenso extrem formuliert, auf die Utopie einer Welt von lauter Helen Kellers hinaus. Aber abgesehen davon: ob jemand die frühen Schädigungen, das ihm verabreichte „Gift der Tradition“, in Ihrem Sinne verwerten kann, hängt doch davon ab, ob das Gift in ihm nicht auch die Fähigkeit zu solcher Verwertung beeinträchtigt oder abgetötet hat, und das scheint mir in der übergroßen Zahl der Menschen der Fall zu sein. Natürlich gab es immer wieder geschundene Menschen, die „trotzdem“ (ein „gerade deshalb“ lässt sich natürlich nicht widerlegen) Großartiges geleistet haben; aber ich bin der Meinung, dass eine Kultur, die von nicht geschundenen Menschen getragen würde, eine wäre, die – ja, was? – letztlich: in der ich lieber leben würde … (Denn was kümmert mich, der ich nicht „Gott“ bin, das Schicksal der Menschheit.) Dem, was Sie zum „monarchischen“ Leitbild vom Menschen schreiben, in dessen Gehirn eine „autonome Vernunft“ mit „freiem Willen“ schaltet und waltet, kann ich mich anschließen. Nur: den Gegensatz, den Sie S. 3 zwischen Stirner’schem Eigner und Wellenreiter postulieren, sehe ich nicht: weder wird der Eigner dem Element gebieten wollen, noch wird der Wellenreiter „Ehrfurcht“ vor ihm haben (auch er fährt ohne Über-Ich besser). Eher beiläufig erwähnen Sie S. 1 ein Problem, dem nachzugehen ich in unserem Diskussionszusammenhang für sehr instruktiv halte: den Spracherwerb (den Sie durch meine „Radikalkur“ gefährdet sehen: lauter Kaspar Hausers) und den späteren Umgang mit diesem in sich (und außerhalb) vorgefundenen Gut. Sie werden sich sicher dazu ausführlich geäußert haben. Könnten Sie mir bitte entsprechende Stellen nennen? 14. Juni 2001 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 13.06. halten Sie mir die Rousseau-Zitate in Ihrem Brief vom 31.05. abermals vor. Da Sie sich auf eine Übersetzung (1968 bei Reclam) beziehen, die ich nicht besitze, kann ich nicht nachschlagen. Zur Hand habe ich: Rousseau, Emil oder über die Erziehung, vollständige Ausgabe neu übersetzt von L. Schmidts, 11. Auflage Paderborn 1993, UTB 667.

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Darin steht auf S. 488f. (5. Buch, gleich nach Emils Verlobung mit Sophie, Paragraph „Mentors Rat“) der Brief des Erziehers an Emil, aus dem ich in meinem „Hitler“-Buch S. 225 einige Zeilen anführe, in denen der Erzieher das Scheitern seines Planes an den erotischen Sehnsüchten Emils eingesteht. Davor faßt er diesen Plan in folgenden Sätzen zusammen: „Als ich mich deiner annahm, beschloß ich, keine unnötigen Schritte zu tun und auch dich daran zu hindern. Ich hielt mich an den Gang der Natur und wartete, bis sie mir den Weg des Glücks zeigte. Es stellte sich heraus, daß es ein und derselbe Weg war, und daß ich ihm bewußt gefolgt war. Sei mein Zeuge, sei mein Richter! Ich werde dich nie ablehnen. Ich habe deine ersten Jahre nicht den folgenden geopfert. Du hast alles genossen, was die Natur dir gegeben hat. Übel, denen sie dich unterwarf, und vor denen ich dich schützen konnte, hast du nur insoweit gespürt, als sie dich gegen andere abhärten konnten. Du hast nur gelitten, um größeren Leiden zu entgehen. Du hast weder Haß noch Sklaverei gekannt. Frei und zufrieden, bist du gerecht und gut geblieben“ usw. Das ist, in Gestalt einer Rechenschaft vor dem Schüler, das Prinzip, wonach der Lehrer im Geist Rousseaus verfährt. Darauf stütze ich meine Charakteristik dieses Prinzips als Zucht an Spalieren, die führen will, ohne die frei naturgemäße Entfaltung zu hemmen, wie bei Pflanzen (etwa Bohnen), die nur gedeihen, wenn sie solche Führungsschienen finden. Daß so etwas auch in der Erziehung von Menschen unentbehrlich ist, z.B. bei der Umgewöhnung von der Mutterbrust an andere Nahrung, liegt auf der Hand. Wohlgemerkt: Rousseaus Anthropologie ist nicht die meine, ich halte sie sogar für verhängnisvoll, sofern die Annahme zu Grunde liegt, daß es eine konfliktfreie Entfaltung einer gesunden reinen Menschennatur geben könne, sofern nur schädigende Einflüsse der Gesellschaft ferngehalten werden und eine stützende, nicht hemmende Führung geboten wird. Eine solche anthropologische Illusion tritt mir aber auch in Ihrer Hoffnung auf Höherentwicklung der Menschheit durch Ausscheidung eines Giftes der Tradition und Sozialisierung entgegen. Sie schreiben: „Natürlich müßten die Noxen auf wissenschaftlich einwandfreie Weise ermittelt und eliminiert werden.“ Damit überschätzen Sie in gefährlicher Weise die Leistungsfähigkeit empirischer Wissenschaft. Deren Ergebnisse sind nie einwandfrei. Stets sind sie dem Licht und Schatten zugleich spendenden Einfluß verengender Perspektiven und Wertungen ausgesetzt, die bei Anwendung auf das vermeintliche Gift der Tradition den freien Eigner im Sinne von Laska – nicht von Stirner, der ein anderes Ideal hat – wiederum zum Knecht eines Dogmas (vermeintlicher Aufklärung) machen würden. Dieser Vorwurf bezieht sich aber nur auf die von Ihnen intendierte „Radikalkur“ einer Verdächtigung traditioneller Rahmen der Sozialisation überhaupt. Daß man immer wieder überlebte oder gar wahnhaft fundierte überlieferte Lebensformen abzuschütteln hat, steht außer Frage. Aber der Versuch, deswegen die Führung durch implantierende gemeinsame Situ-

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ationen überhaupt in Frage zu stellen und gleichsam das Kind mit dem Bade auszuschütten, ist zum Scheitern oder zum Chaos verurteilt. Die Auslese der für das Individuum sinnvollen Konzepte der Lebensführung aus dem oder gegen das Angebot der Tradition möchte ich vielmehr der jeweils eigenen Auseinandersetzung mit diesem Angebot überlassen. Insofern vertraue ich mehr als Sie der Kraft des Einzelnen, seine Freiheit und Eigenart in implantierenden Situationen zu wahren und an ihnen kritisch zu schärfen, statt der Fata Morgana einer Selbstkonstruktion ohne Fundament nachzulaufen. Wer sich nicht durchbeißen kann, möge „im Zeitstrom mit fortzuschwimmen“ genötigt sein, wie mancher hoffnungsvolle Jüngling nach Goethe. Das ist eine gerechte Auslese. Gediegene Selbstbehauptung wird mit Eigenständigkeit belohnt. Welche Sklavenketten der vermeintlich freie Eigner nach Ihrem Konzept in Wirklichkeit tragen müßte, wird mir schon aus Ihren bisherigen Mitteilungen erschreckend deutlich. Der arme Kerl dürfte nicht mehr bereit sein, sich aus Liebe für einen Anderen oder für eine Sache aufzuopfern, er müßte der Ehrfurcht und dem Heiligen (japanisch: kami, z.B. heilige Bäume, Steine, Quellen) entsagen, verführt durch den Machtspruch eines „rationalen Über-Ichs“, dem er auch durch Mobilisierung aller Reserven seiner Kritikfähigkeit die Bereitschaft zum Gehorsam nicht unbefangen entziehen kann. Welch ein emotionaler Krüppel! Was an diesem neuen Über-Ich rational sein soll, bleibt mir schleierhaft, nachdem Sie in Ihrem Brief vom 31. Mai die Auseinandersetzung mit meinen Bemerkungen zur Rationalität im Brief vom 18. Mai abgelehnt haben. Die Abweichung unserer Zukunftsperspektiven hängt wahrscheinlich mit verschiedenen Konzepten von Aufklärung zusammen. Ich unterscheide, wie Sie aus „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 239–242 entnehmen können, antike und moderne Aufklärung, wobei sich die moderne von der antiken durch die Zersetzung implantierender Situationen (im Gefolge der antiken Philosophie und besonders des Christentums) unterscheidet, zu ihrem großen Nachteil, den die deutsche (im Kern romantische) Gegenaufklärung (ebd. S. 245–263) wettzumachen suchte, womit sie schließlich leider beim Hitlerismus (ebd. S. 353ff.) endete, wie die Aufklärung beim Marxismus (ebd. S. 230–239) und Kapitalismus. Aber auch die antike Aufklärung (vgl. ebd. S. 83–87) bleibt mangelhaft, weil sie sich im einseitigen Interesse an personaler Emanzipation und Selbstermächtigung (der Vernunft gegen die unwillkürlichen Regungen) gegen das leiblich-affektive Betroffensein und die Autorität der Gefühle verschließt. Deswegen bedarf es nach meiner Überzeugung einer neuen, weit radikaleren und tieferen Aufklärung, die in erster Linie Selbstaufklärung des Menschen über sich ist, wie ich in meinem Brief vom 2. Juni geschrieben habe. Sie erkundigen sich nach meiner Theorie des Spracherwerbs, die Sie in meinem Buch „System der Philosophie Band V: Die Aufhebung der Gegen-

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wart“ (Bonn 1980, 2. Aufl. 1998) auf S. 70–74 dargestellt finden, nach dem Abschnitt „Lernen nach Regeln und Hineinwachsen in Situationen“ unter der beides zusammenfassenden Überschrift „Der Erwerb gemeinsamer Situationen“. Das dürfte in der Tat für unsere Diskussion einschlägig sein. 18. Juni 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich habe Ihnen meine Rousseau-Zitate vom 31.5. und 13.6. doch nicht, wie Sie schreiben, „abermals vorgehalten“; ich habe nur gesagt, dass ich angesichts dieser beispielhaft angeführten Zitate Ihre Klassifizierung meiner Position als Rousseauismus ebensowenig verstehe wie Ihr (am 14.6. erneut verwendetes) Bild vom Spalier, das „führt, ohne … zu hemmen“. Nun gut, ich kann dazu kaum deutlichere Worte finden als in meinem letzten Brief und will sie nicht wiederholen. (Eine meiner Emil-Stellen, von denen Sie am 2.6. sagten, sie passe bestens zu Ihrer Charakteristik Rousseaus, und die Sie lt. Brief vom 14.6. dann doch nachprüfen wollten, befindet sich übrigens auf S. 358 Ihrer Ausgabe. Dort geht es weiter: „Jetzt überlasse ich ihn [Émile] manchmal sich selbst, weil ich ihn immer beherrsche.“ Der Erzieher als Über-Ich im Zögling. Und Sie sagen, das sei meine Auffassung!?) Auch Ihr nächster Vorwurf scheint mir auf einem Missverständnis zu beruhen. Als ich schrieb, die auszuschaltenden Noxen müssten selbstverständlich auf wissenschaftlich einwandfreie Weise ermittelt werden, war das eigentlich nur eine Zustimmung zu Ihrer vorangegangenen Aussage, Sie seien durchaus für die Trockenlegung „spezieller, genau eingrenzbarer Schadensquellen“ (2.6., S. 1), und nicht, wie Sie mir jetzt (S. 2) unterstellen, eine naive und gefährliche Überschätzung der Leistungsfähigkeit empirischer Wissenschaft. Schon mehrmals haben Sie mir in vergleichsweise kräftigen Worten zu verstehen gegeben, dass Sie meine „Utopie“, meine Vorstellungen von einer Reanimation und Fortsetzung der paralysierten Aufklärung, von meinem in einer fernen Zukunft angesiedelten „Neuen Menschen“ als rationalistisch, kalt, dürr, vertrocknet, karg, jämmerlich, erbärmlich etc. empfänden. Es ist mir offenbar trotz erheblicher Bemühungen nicht gelungen, Ihnen nahezubringen, dass mein (und meiner „Helden“) Anliegen genau in entgegengesetzte Richtung zielt: hin zu einer Befreiung, Gesundung und Verlebendigung der (jedenfalls in der Gegenwart, vermutlich aber auch in aller Vergangenheit ziemlich derangierten) Gefühlswelt der allermeisten Menschen, welche dann auch nicht mehr im Gegensatz zu einer (neuen) Vernunft stände. Im letzten Brief (S. 3) sagen Sie sogar, aus all meinen bisherigen Mitteilungen sei Ihnen „erschreckend“ deutlich geworden, welche „Sklavenketten“ der „vermeintlich freie Eigner“, mein Neuer Mensch (der Name tut nichts zur Sache), zu tragen hätte, und schließen mit dem entsetzten Ausruf: „Welch ein emotionaler Krüppel!“ Als offenbar entschei-

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dendes Kriterium für dieses Urteil geben Sie an, dass „der arme Kerl nicht mehr bereit sein [dürfte], sich aus Liebe für einen Anderen oder für eine Sache aufzuopfern, und der Ehrfurcht und dem Heiligen entsagen [müsste].“ Er wäre „Knecht eines Dogmas“ und würde durch den „Machtspruch“ eines rationalen Über-Ichs „verführt“ u.ä. – Und schließlich bekunden Sie, dass Ihnen schleierhaft sei, was an jenem – n.b.: nicht à la Rousseau introjizierten – Über-Ich rational sein soll und behaupten, ich hätte es „abgelehnt“, mich mit Ihren Bemerkungen zur Rationalität auseinanderzusetzen. Ich kann nur bedauern, dass Sie aus unserem doch recht intensiven Briefwechsel, in dem es im Grunde immer um ein einziges – allerdings kardinales – Thema ging, den Gesamteindruck bekommen haben, ich sei ein Dogmatiker, der, wie alle Dogmatiker, wiederum nur Sklavenketten für die Menschen bereit hält und in einer Welt von Gefühlskrüppeln sein Ideal sieht – bzw. der so unbedarft oder/und verblendet ist, dass er diese Konsequenz seines Räsonierens, auch wenn sie ihm geduldig didaktisch aufbereitet wird, nicht sieht; ein Dogmatiker zudem, der, wenn es für ihn argumentativ brenzlig wird, kneift. Es hätte wohl wenig Sinn, wenn ich jetzt, etwa im Bemühen, mich zu „rehabilitieren“ oder mir zugeschriebene Klischierungen (z.B. Rousseauist) zurückzuweisen, all meine Aussagen resümierend wiederholte, um zu zeigen, wie grundsätzlich verfehlt m.E. Ihr Urteil über mein Denken ist. Ich glaube, dass dies nicht zuletzt daran liegt, dass in unserer Diskussion das Fehlen eines sehr wichtigen Faktors, der des persönlichen Kennenlernens im Gespräch, sich sehr negativ ausgewirkt hat. Es grüßt Sie, nach wie vor diskussionsbereit, Ihr etc. 20. Juni 2001 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 18. Juni sprechen Sie mit mildem Tadel von meinen „vergleichsweise kräftigen Worten“ bei Ablehnung Ihrer Vision einer „Reanimation und Fortsetzung der paralysierten Aufklärung“. Damit Sie sich von meiner Freude an unverblümter, pointierter Klarstellung nicht persönlich getroffen fühlen, möchte ich Ihnen sogleich verdeutlichen, wie sehr ich Ihren entschiedenen, wagemutigen Einsatz für die von Ihnen als gut befundene Sache, deren Sie sich annehmen, schätze und bewundere. Von der brieflichen Auseinandersetzung mit Ihnen habe ich den großen Gewinn gehabt, mich in der nachdenklichen und bei aller Schärfe niemals gehässigen Auseinandersetzung mit einem besonnen abwägenden, eigenständig denkenden Menschen gründlich aussprechen zu können, teils zur Verständigung, teils zur Abgrenzung. Wenn dieser Gesprächsfaden abreißt, wird mir etwas fehlen, ungeachtet meines sonstigen Korrespondenzeifers.

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Wir teilen die Sorge um das glänzende Elend eines Zeitgeistes, der die Menschheit in ziellos betriebsamer Vernetzung verstrickt, so daß sich die Stricke um die Gestaltungskraft lähmend zusammenziehen und kein großes, leidenschaftlich erfüllendes Wollen mehr durchlassen. Wir trennen uns im Durchblick durch diese Sorge auf hoffnungsvollere Möglichkeiten. Am 14. Juni habe ich geschrieben: „Die Abweichung unserer Zukunftsperspektiven hängt wahrscheinlich mit verschiedenen Konzepten von Aufklärung zusammen.“ Damit bezog ich mich auf Ihre Diagnose der Wurzel des Übels vom 31. Mai, „daß die Aufklärung Angst vor der eigenen Courage bekam und auf halbem Wege stecken geblieben ist.“ Die Radikalisierung, die wir beide der Aufklärung wünschen, besteht für Sie demnach in einer Engführung, auf dem im 18. Jahrhundert schon eingeschlagenen Weg mit mehr Courage und weniger Halbherzigkeit energisch fortzuschreiten, für mich dagegen in einer Verbreiterung und Vertiefung zur Wurzel (radix) der Philosophie hin, die nach meiner Definition das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung ist. Dieses Sichbesinnen war nach meinem Dafürhalten bei den modernen Aufklärern von Anfang an doppelt verkürzt: durch das Erbe des Christentums mit Zersetzung implantierender Situationen, autistischer und dynamistischer Verfehlung, und durch die (schon antike) Abspaltung einer vermeintlich autonomen Vernunft von der Autorität der Gefühle in leiblich-affektivem Betroffensein. Außer dieser grundsätzlichen Differenz mögen auch Mißverständnisse der Übereinstimmung zwischen uns im Wege gestanden haben. Was Sie mit dem rationalen Überich im Sinn haben, das habe ich in der Tat nicht verstanden, und die betreffenden Rätsel habe ich benannt. Wenn es sich nur darum handeln soll, daß jeder die Verantwortung dafür hat, die Ansprüche von Autoritäten mit aller ihm verfügbaren Kompetenz personaler Besonnenheit und Kritikfähigkeit zu prüfen und nur nach bestandener Prüfung als verbindlich für sich gelten zu lassen, wären wir einer Meinung, aber Sie meinen offenbar mehr, wofür ich Sie als Rousseauisten klassifiziert habe, natürlich nicht (wie Sie unterstellen) im Sinn Ihrer beiden Zitate aus dem Emile, sondern in dem Sinn, den ich in meinem Brief vom 14. Juni angegeben habe. Ihre Verwerfung der Ehrfurcht und des Heiligen, Ihr Verbot der Aufopferung aus Liebe im Namen eines sogenannten rationalen Überichs stoßen mich ab, was mich keineswegs daran hindert, Ihre energische Ausrichtung, an der ich mich mit meinen Überzeugungen messen kann, respektvoll zu würdigen. Am Monatsende will ich, jahrelangem Brauch gemäß, für drei Wochen einen Jahresurlaub nehmen. Wenn es, ungeachtet dessen, auch künftig zwischen uns zu Gedankenaustausch kommen sollte, werde ich mich freuen.

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25. Juni 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, zunächst dachte ich, Ihren am 20.6. angekündigten dreiwöchigen Urlaub ab Ende Juni als zeitlich ganz gut zupass kommende Gelegenheit für eine Besinnungspause in unserem Briefwechsel zu nutzen, in der ich, wie zum letzten Jahreswechsel, die Briefe eines halben Jahres durchgehen und die sozusagen liegen gebliebenen Frage- und Problemstellungen sammeln und in einem Brief gebündelt noch einmal zur Sprache bringen könnte. Wenngleich ich mir dies auch vornehme, will ich doch versuchen, Sie noch vor der Abreise zu erreichen, um auf einige Punkte Ihres letzten Briefes einzugehen. Als erstes jedoch möchte ich Ihre Sorge zerstreuen, ich könnte mich durch Ihre „Freude an unverblümter, pointierter Klarstellung“ persönlich getroffen fühlen. Gleichwohl kann und sollte natürlich die Wortwahl bei der Interpretation eines Textes, mehr noch einer Äußerung in einem privaten Brief, nicht unberücksichtigt bleiben, trägt sie doch sehr zum (natürlich stets korrigierbaren) Aufbau des Bildes bei, das man sich vom Diskussionspartner macht. Oft ist es verlockend, dieser Art markante Stellen im Brief zu thematisieren; dies unterbleibt jedoch meist zugunsten einer unpersönlicheren, argumentativen Replik, die eine Klärung oft nur verkompliziert. Ein Beispiel aus Ihrem letzten Brief (gegen Ende): „Ihre Verwerfung der Ehrfurcht und des Heiligen, Ihr Verbot der Aufopferung aus Liebe im Namen eines sogenannten rationalen Überichs stoßen mich ab.“ Warum bringen Sie hier ein „Verbot“ herein, das ich nie, auch nicht implizit, ausgesprochen habe? Ich verbiete dies ebenso nicht, wie ich z.B. einem Gesunden nicht verbieten würde, sich absichtlich krank zu machen, einem Freien nicht, sich für ein Dasein als Sklave zu entscheiden. Und warum sagen Sie, dieses Verbot stamme von dem „sogenannten“ rationalen Überich, von dem Sie andernorts mehrmals sagten, Sie könnten sich darunter nichts vorstellen? Zur „Verwerfung der Ehrfurcht und des Heiligen“ dagegen, bzw. zur „Negation des irrationalen Über-Ichs“, stehe ich selbstverständlich. Ihrer Befürchtung, damit würde 1) jeder unbedingte Ernst aus dem menschlichen Leben schwinden und 2) der Mensch nur noch ziellos seinem Ableben entgegentaumeln, habe ich 1) den „tierisch“ verankerten Lebenswillen und 2) das rationale Über-Ich entgegengehalten. Ich habe außerdem die Vermutung geäußert, dass erst dann, wenn das „irrationale Über-Ich“ als evolutionäres Stadium des Menschen überstanden wäre, ein wirklich solider (sich nicht durch z.B. suizidalen oder masochistischen Opferwillen manifestierender) unbedingter Ernst in die Welt käme, ebenso wie eine solide Verankerung des individuellen Lebens im Hier und Jetzt (und nicht in einer starren „Identität“ aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Wahngemeinschaft)

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und ein vom rationalen Über-Ich assistiertes Leben (ohne Suche nach Sinn, sondern) mit unverlierbarem Sinn. Sie bekräftigen S. 2 noch einmal Ihre Definition von Philosophie als „das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung.“ Gut. In Ihrem Brief vom 14.6. sagen Sie, zu diesem Sichfinden gehöre auch die Auseinandersetzung mit dem „Angebot der Tradition“. Wer sich nicht durchbeißen könne, möge … Und gediegene Selbstbehauptung werde mit Eigenständigkeit belohnt. Die Hindernisse (Sie sprachen einmal beispielsweise von den Seelenfallen der katholischen Kirche) dienten bestens der Stärkung dessen, der sie überwindet. Ohne sie wüchsen nur schlaffe Gestalten heran – woraus folgt, dass man diese heute baufällig gewordenen Hindernisse renovieren und fortifizieren sollte (das hatte ich im Sinn, als ich Ihnen entgegenhielt: wenn Sie meine Utopie eine Welt voller Kaspar Hausers nennen, dann nenne ich Ihre eine Welt voller Helen Kellers). Dies – die Frage „Was tun?“ – war, wenn ich mich recht erinnere, auch der Ausgangspunkt unseres Briefwechsels anlässlich des Ausblicks Ihres Hitlerbuches. Wir näherten uns dem Thema via Stirnerdeutung, starkem Daimon, Pubertätsschwelle der europäischen Menschheit u.a. Heute, nach einigen Dutzend Briefen, habe ich den Eindruck, dass es mir nicht gelang, Ihnen meine Position auch nur verständlich zu machen. Woran liegt’s? Vielleicht an meiner mangelhaften Gabe, mich zu artikulieren? Vielleicht daran, dass ich mich in keine Geistestradition einordne? (Auch nicht in die der Rousseauisten, denen Sie die Hauptschuld am elenden Zustand unserer Gegenwart geben.) 26. Juni 2001 Sehr geehrter Herr Laska, Ihr Brief von gestern beruhigt mich zwar, daß Sie sich durch meine freimütige Stellungnahme zu Ihren Idealvorstellungen nicht persönlich getroffen fühlen, endet aber mit einer melancholischen Reflexion auf die Schwierigkeit der Vermeidung von Mißverständnissen zwischen uns. Auch ich bin in dieser Hinsicht nicht sehr zuversichtlich, will mich aber gern an der Beseitigung solcher Mißverständnisse beteiligen. Ihr Brief scheint mir dazu einige Gelegenheiten zu bieten. Zu meiner Verwunderung streiten Sie ab, Verbote gegen das „irrationale Über-Ich“ einschließlich Ehrfurcht und Aufopferungsbereitschaft ausgesprochen zu haben. Ich erinnere mich doch noch an Ihre Parole „Über-Ich esse delendam“, die ich auch als Aufforderung an den Einzelnen im Verhältnis zu sich, nicht nur als Aufruf zur Konstruktion einer gesellschaftlichen Zerstörungsmaschine, aufgefaßt habe. Zu dem, was ich an Ihrem „rationalen Über-Ich“ gar nicht verstehe, gehört auch, daß Sie dessen unbedingten Ernst durch den „tierisch“ verankerten Lebenswillen besetzen wollen. Unbedingter Ernst in dem Sinn, den wir brieflich ausführlich

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erörtert haben, ist an personale Emanzipation gebunden und daher für tierische Instinkte unerreichbar. Für den Fall, daß Sie keinen tierischen, sondern nur einen (in näherer Aufklärung bedürftigem Sinn) so verankerten Willen meinen, habe ich Ihnen schon entgegengehalten, daß alles personale Erleben und Verhalten tierisch verankert ist, so daß dieses Merkmal noch keine Auszeichnung des Lebenswillens durch unbedingten Ernst mit sich bringt. Die Ausscheidung eines irrationalen Über-Ichs in Gestalt der Zugehörigkeit zu irgend welchen „Wahngemeinschaften“ ist natürlich ganz in meinem Sinn, aber ich habe den starken Verdacht, daß Sie mit dem Aufruf zur Zerstörung dieses Über-Ichs das Kind mit dem Bade ausschütten wollen, und kann mich deswegen mit Ihrer sonst sehr sympathischen Forderung solider „Verankerung des individuellen Lebens im Hier und Jetzt“ nicht ohne Mißtrauen befreunden, weil ich darin die Verankerung in gemeinsamen implantierenden Situationen vermisse. Wie soll z.B. das bloß im Hier und Jetzt verankerte Individuum ohne gemeinsame Sprache auskommen, die ihm eine gewaltige Traditionslast auflädt, gewiß nicht ohne Herausforderung zu kritischer Auseinandersetzung, aber in erster Linie als kostbares und unentbehrliches Geschenk, gerade auch wegen solcher Herausforderung? Ganz energisch möchte ich mich, übrigens ohne persönlichen Vorwurf, gegen die auf problematisch gewordene Bestandteile der überlieferten Kultur bezügliche Unterstellung wehren, daß man in meinem Sinn „diese heute baufällig gewordenen Hindernisse renovieren und fortifizieren sollte“. In meinem Buch „Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie“ habe ich den abschließenden Abschnitt „Die Erblast der Erkenntnistheorie“ (S. 285–345) mit einer Skizze der europäischen Philosophiegeschichte unter ein Motto von Goethe gestellt: „Der für dichterische und bildnerische Schöpfungen empfängliche Geist fühlt sich dem Altertum gegenüber in den anmutigst-ideellen Naturzustand versetzt, und noch auf den heutigen Tag haben die Homerischen Gesänge die Kraft, uns wenigstens auf Augenblicke von der furchtbaren Last zu befreien, welche die Überlieferung von mehrern tausend Jahren auf uns gewälzt hat.“ Daraus können Sie entnehmen, daß ich dieser Überlieferung keineswegs mit konservativer Affirmation begegne. Für aussichtslos und verhängnisvoll halte ich aber den Versuch, gleichsam von einem Nullpunkt der reinen Vernunft oder Natur zu beginnen und das in zuständlichen gemeinsamen Situationen gespeicherte Erbe einer Tradition abzuschütteln, in der sich Segen und Fluch undurchsichtig mischen, als unablässige und unvollendbare Aufgabe für jeden, sich durch Sichtung und Prüfung an der Entmischung zu versuchen. In „Hermann und Dorothea“, letzter Gesang, zitiert Dorothea aus der Abschiedsrede ihres früheren Bräutigams, der in Begeisterung über den Ausbruch der Französischen Revolution nach Paris ging und dort „Kerker und Tod“ fand:

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Alles bewegt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts Lösen in Chaos und Macht sich auf, und neu sich gestalten. Du bewahrst mir dein Herz, und finden dereinst wir uns wieder Über den Trümmern der Welt, so sind wir erneute Geschöpfe, Umgebildet und frei, und unabhängig vom Schicksal.

Das ist eine heroisch-naive Illusion, zu deren historisch (nicht moralisch) gerechter Folge der Untergang in „Kerker und Tod“ gehört. Der Mensch ist nie unabhängig vom Schicksal, auch nicht vom Schicksal der Verstrickung in ein geschichtliches Erbe mit allem Glanz und Elend. Aus diesem Urwald, aus dem Urwald der unsere zuständlichen persönlichen Situationen umschließenden und durchziehenden über- und unpersönlichen Situationen, werden wir nie herauskommen, aber wir haben die Waffen an unserer Besonnenheit, uns darin zurechtzufinden und auf den Weg zu machen, den wir nach kritischer Prüfung als angemessen für uns und vielleicht für Andere zu erfassen glauben. 27. Juli 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, eigentlich hatte ich vor, die Zeit Ihrer Abwesenheit zu nutzen, um, wie nach dem ersten Halbjahr unserer Korrespondenz, noch einmal alle Briefe des letzten Halbjahres durchzusehen und die liegengebliebenen Fragen zu sammeln und im Lichte des aktuellen Standes aufzubereiten. Doch die Zeit verging mir so schnell, dass daraus nichts geworden ist. Aber ich will das so bald wie möglich nachholen. Heute möchte ich, mit unserer bisherigen Diskussion nur im Gedächtnis, mir einfach Ihren letzten Brief (vom 26.6.) vornehmen und direkt an ihn anknüpfen. Sie boten darin an, sich an der Beseitigung von noch immer bestehenden Missverständnissen zwischen uns zu beteiligen und begannen mit einem zentralen. Sie hatten mich so verstanden, als hätte ich „Verbote“ gegen das „irrationale Über-Ich“ ausgesprochen und zitieren den von mir gebrauchten Slogan „Superego esse delendam“, nennen dies eine „Aufforderung an den Einzelnen im Verhältnis zu sich“ und einen „Aufruf zur Konstruktion einer gesellschaftlichen Zerstörungsmaschine.“ Ich möchte nun an Ihren guten Willen appellieren und Sie bitten, mich nicht gleich wieder in eine Schublade zu sortieren (wie zuletzt bei „Rousseau“), wenn ich es kurz mache und meinen Aufruf unter Verwendung des Sponti-Spruches „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ erläutere. Ich will also nichts zerstören, sondern ich wünschte, dass die Zerstörung, die in jedem neuen Menschenleben immer wieder durch die Introjektion des „irrationalen Über-Ich“ angerichtet wird, gemindert bzw. auf lange Sicht, als „evolutionäres“ Fernziel, ganz eliminiert wird (Vollendung der Aufklärung / nicht: „Autonomie“ der „Vernunft“!). Natürlich begrüße ich auch, wenn jemand – im Sinne Ihres Begriffs der personalen Emanzipation,

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allerdings etwas weiter gehend – in der Lage ist, die Schäden, die er einst erlitten hat, in möglichst hohem Maße wieder zu beseitigen. Sie äußern weiterhin den Verdacht, ich würde mit meinem „Aufruf zur Zerstörung des Über-Ichs“ (der aber in Wahrheit ein Aufruf zur Unterlassung von – auch unbewusst motivierter – Zerstörung, d.h. des Introjizierens eines Über-Ichs ist) das Kind mit dem Bade ausschütten. Wie könne jemand, fragen Sie in Analog- und Parallelsetzung der Vorgänge des Erwerbs von Über-Ich und Muttersprache, ohne die Sprache auskommen? Sie sei doch unverzichtbar und zudem Grundlage dafür, dass sich jemand später mit ihr und der an ihr hängenden Traditionslast kritisch auseinandersetzen könne. Ebenso unverzichtbar sei also, wenn ich Sie richtig verstehe, eine wie auch immer beschaffene Ausstattung mit einem Satz von „Werten“, mit denen man sich später ja kritisch auseinandersetzen könne (was ich für äußerst problematisch halte). Ich habe leider Ihr Kapitel über den Spracherwerb (das Sie mir neulich auf Anfrage nannten) noch nicht lesen können (ich komme nicht oft nach Erlangen, wo Ihre Bücher in der Institutsbibliothek einsehbar sind). Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es mich von der Rechtfertigung der genannten Analogie überzeugen wird. Ohne Zweifel sind Fühlen, Sprechen und Denken beim Erwerb sowohl von Über-Ich als auch von Sprache eng miteinander verwoben und so komplex, dass wir das Thema hier sicher nicht diskutieren können. Ich gestehe auch, dass meine Kenntnis des „Forschungsstandes“ auf diesem Gebiet gewiss unzureichend ist. Gleichwohl bin ich, aufgrund eigener ganz elementarer und ganz und gar „unwissenschaftlicher“ Erfahrungen die in früher Kindheit mein „Besinnen auf mein Michfinden in meiner Umgebung“ auslösten, von der Richtigkeit meiner Grundauffassungen überzeugt. Diese Eigenerfahrungen sind so „wahr“ wie ich selbst (für mich) wahr bin und werden durch empirische Ergebnisse aus der Erforschung von tausenden anderer Menschen nicht „falsch“. Man mag das als Immunisierungsstrategie bezeichnen – ich weiß, dass es keine ist. Mein lebenslanges Philosophieren (nach Ihrer Definition) hat mich nie tief in die vorgefundenen Philosophiebestände geführt, sondern langsam aber beständig zu meinem jetzigen, eher „paraphilosophischen“ Standpunkt. Ich glaube, dass auch darin eine Diskrepanz zwischen Ihnen und mir besteht, die leicht zu Missverständnissen führt. Trotzdem: unsere gemeinsame Sprache erlaubt es, sie anzugehen und, wenn wir Glück haben, aufzuklären. 29. Juli 2001 Sehr geehrter Herr Laska, gern entnehme ich Ihrem Brief vom 27., daß Sie mit der Parole „ÜberIch esse delendam“ nicht zu einer (individuellen oder kollektiven) Zerstörungsaktion aufrufen, sondern nur einen Erlösungswunsch äußern. Diesem

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Wunsch, auf das „irrationale Über-Ich“ bezüglich, kann ich mich freilich nicht anschließen, weil ich nicht einmal recht verstehe, was Sie mit der Rede von einem „rationalen Über-Ich“ meinen; das irrationale könnte ja nur durch den Gegensatz bestimmt werden. Ich könnte mich in die mir fremde Terminologie hineindenken, wenn als rationales Über-Ich die vom Individuum kritisch geprüften und als bewährt befundenen Überzeugungen und Programme gemeint sein sollten, habe aber den Verdacht, daß Sie etwas meinen, was sich das Individuum original, ohne Abhängigkeit von einer kritisch zu prüfenden Tradition, zurechtlegen soll. Aber auch, wenn dieser Verdacht nicht berechtigt ist, kann ich Ihre Devise nicht übernehmen, weil sie darauf hinauslaufen würde, daß niemand mehr Überzeugungen und Programme für sich gelten läßt, die er nicht kritisch geprüft hat. Ein so radikales Ausrotten aller Naivität wäre in meinen Augen ein völlig verstiegenes, weder realistisches noch irgend wünschenswertes Ideal. Ich habe einmal geschrieben, daß kein Mensch je ganz weiß, was er glaubt, weil das explizite Glauben immer aus ganzheitlichen Situationen schöpft, die binnendiffuse Füllen impliziter Überzeugungen (Sachverhalte), Programme und Probleme in sich schließen. Daraus zu explizieren, ist allerdings eine wichtige, auch philosophische Aufgabe, unentbehrlich zur kritischen Besonnenheit, aber unvollendbar; aus seinen Standpunkten lauter einzelne Maximen zu machen (wie im Moralischen Kant wollte, der sein Sittengesetz an die „Maxime deines Handelns“ adressierte), wäre leblose Erstarrung. Nicht ganz glücklich bin ich über die mir von Ihnen vorsichtig („wenn ich Sie richtig verstehe“) unterstellte These, zur unentbehrlichen Traditionslast gehöre eine Ausstattung des Individuums mit einem Satz von Werten (Sie schreiben „‚Werten‘“). Ich habe eine Animosität gegen die Annahme von Werten, die ich für fragwürdige Hypostasierungen der zugehörigen Wertungen halte. Wertungen sind günstige oder ungünstige Zuschreibungen auf der Grundlage von Programmen, die dem Individuum aus der eigenen persönlichen Situation oder diese einschließenden oder einpflanzenden Situationen oder von Anderen oder aus den Anmutungs- und Aufforderungscharakteren vielsagender, in Wahrnehmung oder Phantasievorstellung vorschwebender Eindrücke zukommen. Entscheidend sind dafür Atmosphären des Gefühls. Wenn man die bedeutsamen Situationen und Atmosphären erst einmal aus der neutral versachlichten Welt wegstreicht und zum Ersatz des Verlorenen das Residuum dann durch hypostasierte Werte wieder auffüllt, hat man sich nur ein fragwürdiges Alibi für den Reduktionismus verschafft. In diesem Sinn habe ich einmal Heideggers Sentenz „Die Werte sind der positivistische Ersatz für das Metaphysische“ umgeschrieben in den Satz „Die Werte sind der positivistische Ersatz für das Atmosphärische.“ (Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie S. 304) Wenn Sie mal wieder nach Erlangen kommen und dann noch Zeit haben, können

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Sie dazu aus meinem Buch „Der unerschöpfliche Gegenstand“ die Seiten 351–353 über Wertethik vergleichen. Sie konnten aber nicht wissen, daß ich ein wenig allergisch (mit intellektueller „Gänsehaut“) reagiere, wenn man mich mit „Werten“ zusammenbringt. 7. August 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, obwohl ich es aufgrund meiner Studien zur Rezeption von La Mettrie, Stirner, Reich nicht anders erwarten sollte, bin ich doch immer wieder erstaunt darüber, wie schwierig es auch heute noch (also in einer Zeit, die ihren geistigen Bankrott quälend mühsam hinauszuschieben versucht) ist, den im Grunde sehr einfachen – und „erlösenden“ (s.u.) – Gedanken, dessentwegen (m.E.) diese Denker zu Parias gemacht worden sind, an den Mann zu bringen. Selbst in unserem doch recht intensiven Briefwechsel kommt es immer wieder zu elementaren Missverständnissen. In Ihrem vorletzten Brief (26.6.) sprachen Sie davon, dass ich mit der Formel „Super-ego esse delendam!“ nicht nur „zur Konstruktion einer gesellschaftlichen Zerstörungsmaschine“ aufrufe, sondern, schlimmer noch, auch den Einzelnen auffordere, „im Verhältnis zu sich“ etwas in sich, das Sie offenbar für das Wertvollste überhaupt halten, zu zerstören. Ich habe daraufhin noch einmal erklärt, dass es mir nicht darum geht, etwas Wertvolles zu zerstören, sondern dass ich im Gegenteil mit der Publikation meiner Denkergebnisse darauf hinwirken möchte, dass das Zerstörerische, das (m.E.) bislang in der gesamten Menschheitsgeschichte untrennbar mit der jeweiligen Enkulturation jedes Einzelnen verbunden ist, erkannt und im Laufe von Generationen gemindert, im Idealfall eliminiert wird. Wenn Sie so wollen, wäre dann Zerstörerisches – zerstört. In Ihrem letzten Brief (29.7.) behandeln Sie meine Erklärung anflugweise wie einen Widerruf, den Sie „gern“ zur Kenntnis nehmen. Stattdessen deuten Sie mein Anliegen nun als „nur einen Erlösungswunsch“, als etwas Harmloses, Privates, vielleicht Skurriles, jedenfalls nur für mich Wichtiges sozusagen. Zu dieser Deutung mag Sie der letzte, etwas auf Persönliches verweisende Absatz meines Briefes vom 27.7. verleitet haben. Aber auch Ihrer neuerlichen Deutung, meine Denkergebnisse, speziell die „Negation des irrationalen Über-Ichs“, seien Ausfluss eines persönlichen Erlösungswunsches, möchte ich entschieden widersprechen. Ich glaube nicht, dass ich einem strengen irrationalen Über-Ich unterworfen bin, an dem ich leide und von dem erlöst zu werden mein Wunsch wäre. Die elementaren, „unwissenschaftlichen“, schon in meiner Kindheit beginnenden Erfahrungen, von denen ich sprach, sind solche der Wahrnehmung an Anderen, die allesamt nicht „sie selbst“ waren, wurden und sind, sondern sich, mit mehr oder weniger Widerstand oder Trotz, letztlich in eine „Wahngemeinschaft“ eingliederten, in ihr ihre „Rolle“ einnahmen, die

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meisten als Apologeten, einige als Kritiker, alle aber innerhalb, im Rahmen. Als Wahngemeinschaft betrachte ich nicht nur Gebilde wie z.B. die katholische Kirche, deren Regiment mir in der Kindheit zu schaffen machte (es war wohl mein „starker Daimon“, der mich aufrecht erhielt). Das würdelose Verhalten der Deutschen nach 1945, die sich widerstandslos den „Alliierten“ unterwarfen, sich von ihnen gegeneinander aufhetzen und auf ein hochexplosives atomares Pulverfass setzen ließen, war m.E. ein Ausfluss eines säkularen Wahnes, der mich, mein schieres Leben ganz konkret bedrohte – und, gewandelt, noch immer bedroht! Und die Illusion, in „der Wissenschaft“ ginge es prinzipiell anders zu, konnte ich mir auch nicht lange bewahren. – Erlösungswunsch? Wenn Sie so wollen: ja; aber er bezieht sich auf „die Anderen“ und ist/wäre jedenfalls insofern illusionär als er zu meinen Lebzeiten nicht erfüllbar ist. Sie verwenden noch einen weiteren „Kraftausdruck“ zur Kennzeichnung meiner Position: ich forderte, sagen Sie, das „radikale Ausrotten aller Naivität“. Dazu: 1) Auf meine „Methode“ bin ich im Prinzip oben und auch sonst schon oft eingegangen. 2) Als Naivität könnte ich eigentlich das bezeichnen, was ich erst – als fernes Ziel – ermöglicht sehen möchte. Aber dies ist ein neues Wort in unserer Diskussion, und wir verstehen darunter sicher nicht das gleiche. Sie sagen, naiv sei jemand, der Überzeugungen und Programme für sich gelten lässt, ohne sie kritisch geprüft zu haben. Hmmm. Wen, welchen Typus meinen Sie beispielsweise damit? Bei dieser Gelegenheit möchte/muss ich Sie auch um die Erläuterung (evtl. Literaturhinweis) eines Begriffs bitten, den Sie schon oft in Ihren Briefen verwandten, der mir aber nie recht klar wurde: die „kritische Prüfung“ (der Tradition). 8. August 2001 Sehr geehrter Herr Laska, in Ihrem Brief vom 7.08. schwingt viel Aufregung über angebliche Mißverständnisse mit, die mich sehr wundert, da sie offenbar ihrerseits auf Mißverständnis beruht. Was Sie mir an meinem letzten Brief ankreiden, erkenne ich gar nicht als darin Geschriebenes wieder, ebenso am vorletzten Brief. Wie käme ich auf den Gedanken, daß es Ihnen darum gehe, etwas Wertvolles zu zerstören? Wo habe ich geschrieben, was für mich „das Wertvollste überhaupt“ ist? Wo habe ich Ihnen einen Widerruf nachgesagt? Wo habe ich Ihren von mir so genannten Erlösungswunsch als bloß „persönlichen“, auf Ihre Privatperson bezüglichen, und nun gar als „etwas Harmloses, Privates, vielleicht Skurriles“ qualifiziert? Und so eine destruktive Maßnahme wie „das radikale Ausrotten aller Naivität“ habe ich keineswegs Ihrem Menschheitsprogramm angelastet, sondern einer möglichen Deutung Ihres Feldzuges gegen das „irrationale Über-Ich“, im ehrlichen Bemühen, im Durchdenken verschiedener Möglichkeiten herauszufinden, was

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Sie meinen. Jemand, dem ich diesen Anschlag tatsächlich anlaste, ist der platonische Sokrates, vergleichen Sie dazu „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 56f. und S. 391, Nr. 2 im „Sündenregister“ Platons. Bei diesem Sokrates äußert sich diese Ausrottungstendenz in dem hartnäckigen Bemühen, bei seinen Gesprächspartnern deren aus implantierenden Situationen gewachsene Kompetenzen ganzheitlichen Bescheidwissens durch Forderung der Zerlegung des Gewußten in einzelne Begriffsmerkmale von Definitionen zu zersetzen. Das ist ein überschießender Beitrag zu der zu Lebzeiten dieses Sokrates ja gerade in Gang gekommenen Aufklärung, von der Sie sagen, daß sie Ihnen nicht weit genug gegangen sei. Schon deshalb ist es nicht von vorn herein sinnlos, wenn ich Sie mal hypothetisch, bloß versuchsweise, in die Nachbarschaft des platonischen Sokrates stelle. Wenn Sie mir Mangel an Klarheit über Ihre Vision unterstellen, haben Sie allerdings Recht. Ich verstehe nicht, was Sie meinen, wenn Sie von einem rationalen Über-Ich sprechen, und mit dem irrationalen habe ich entsprechende Schwierigkeiten, aber keineswegs mit dem, was Sie am 7.08. über Ihnen persönlich widerfahrene „Wahnwelten“ schreiben. Daß solche irrationalen Über-Iche mächtig sind, daran habe ich gar keine Zweifel, und an ihrer Beseitigung will ich kräftig mithelfen, allerdings nicht in Bausch und Bogen, sondern nach gründlicher Prüfung, was daran Wahn und faul ist. Aber Sie machen daraus ein allgemeines Menschheitsschicksal, sozusagen eine paläoanthropologische Konstante, mit dem Menschen als Paläoanthropus seit unvordenklicher Zeit bis heute, in der Hoffnung auf Erlösung (daher „Erlösungswunsch“) der Menschheit durch Abstreifung aller implantierenden Situationen und Befreiung durch Geburt eines neuen Menschen, dem nichts mehr heilig ist. Vor dieser radikalen Verallgemeinerung setzt bei mir das Verständnis aus, und bei dem Versuch, mich dennoch in das von Ihnen Gemeinte hineinzudenken, komme ich u.a. zur Warnung vor gänzlichem Ausrotten aller Naivität. Was ich „Naivität“ nenne, geben Sie richtig wieder: nicht kritisch geprüfte Überzeugung von der Tatsächlichkeit von Sachverhalten oder Geltung von Programmen, wobei diese in der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen (in meinem Sinn) enthalten sein können. Unter kritischer Prüfung verstehe ich einerseits die Explikation einzelner Sachverhalte und Programme aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit, andererseits die Erwägung, ob für die Annahme der Tatsächlichkeit der Sachverhalte bzw. Geltung der Programme hinlänglich Gründe zu finden sind. Im Fall von Programmen, speziell Normen, die mit Anspruch auf verbindliche Geltung mit unbedingtem Ernst auftreten, besteht die Fahndung nach einem solchen Grund solcher Verbindlichkeit in der Prüfung, ob man es sich unbefangen oder ungehemmt leisten kann, den betreffenden Normen die Bereitschaft zum Gehorsam zu verweigern.

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15. August 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, habe ich Ihren vorletzten Brief (29.7.) nun wirklich so missverstanden und einseitig interpretiert, wie Sie am 8.8. eingangs sagen? Denn Sie schreiben Mitte S. 1 zwar, dass Sie „diesen Anschlag“ mir gar nicht unterstellen – dafür aber dem platonischen Sokrates – dann aber Ende S. 1 doch, dass Sie mich einmal versuchsweise in die Nachbarschaft jenes Sokrates gestellt hätten, sozusagen zur Warnung, wie man mich interpretieren könnte bzw. wohin eine „überschießende“ Aufklärung führe. Gut, ich glaube, wir können das auf sich beruhen lassen. Sie schreiben S. 2, dass Sie immer noch nicht klar sehen, was meine „Vision“ sei, was meine Rede vom irrationalen und rationalen Über-Ich letztlich bedeuten solle. Ich möchte einen neuen Anlauf, mich hier klarer auszudrücken, bis zu dem Zeitpunkt aufschieben, an dem ich unsere Korrespondenz des letzten halben Jahres noch einmal gründlich sichten kann – schon aus dem Grund, damit ich beim erneuten Beschreiben nicht bloß, womöglich gleichlautend, das wiederhole, was ich früher schon sagte. Wenn Sie schreiben, meine „Vision“ bestünde in einer neuen Menschheit „durch Abstreifung aller implantierenden Situationen“, dann würde ich dem modo grosso zustimmen, wenn Sie statt „aller“ → „alter“ setzen würden; und natürlich würde dem neuen Menschen nichts heilig sein (im Sinne des Zwanges durch ein frühkindlich introjiziertes irrationales Über-Ich). Da taucht natürlich sofort die Frage auf, welche implantierenden Situationen abgestreift werden müssten und welche evtl. neu entstünden. Denn mit Ihren „aus implantierenden Situationen gewachsenen Kompetenzen ganzheitlichen Bescheidwissens“, die nicht à la Sokrates zerlegt werden sollen, bin ich durchaus einverstanden (ich propagiere nicht die „Autonomie der Vernunft“), natürlich auch damit, dass nicht alles Gewachsene in Bausch und Bogen zu zerstören sei (was ja nun auch wirklich nicht ginge); dass nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten sei etc. Diese Fragestellung läuft also auf die von Ihnen oft genannte „kritische Prüfung“ hinaus, die zu verstehen nun ich, trotz Ihrer gegen Ende des Briefes gegebenen Erläuterungen, nach wie vor Probleme habe. Als erstes frage ich mich: wer prüft kritisch? Doch sicher der, der philosophiert, der über sein Sichfinden in seiner Umgebung nachsinnt. Dann: welche Kriterien hat er? Sind diese ihm nicht längst vorgegeben? Durch die (mehr oder weniger großen) Kompetenzen, die ihm eben aus seiner implantierenden Situation heraus zugewachsen sind? Ist dann das kritische Prüfen, dass Auffinden hinlänglicher Gründe z.B. für die Geltung von Normen für ihn, nicht nur ein Verbalisieren, ein Ausformulieren? Etwas ohne Folgen, das man – im Hinblick auf die Lebenspraxis – eigentlich unterlassen könnte; so wie die Vielen, die nicht viel Zeit mit dem Sichfinden verschwenden? Ist es Selbsterkenntnis? Erkennt der Prüfende, welchen Zwängen er

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unterliegt? Vielleicht können Sie mir ein Beispiel für diesen Vorgang aus der Literatur nennen – denn Ihre Zitate aus Goethe, Kleist u.a. haben mir oft recht gut geholfen, zu verstehen, was Sie meinen. Mit diesen (und den sich wahrscheinlich aus den Antworten ergebenden weiteren) Fragen scheinen wir uns, bloß aus einem anderen Aspekt, wieder der zentralen Frage unserer Korrespondenz zu nähern, die mit den Begriffen des „Über-Ichs“ etc. ebenso verbunden ist wie mit denen der „implantierenden Situation“ etc. Im Moment weiß ich nicht, wie wir da weiterkommen können. Sie scheinen meine „Dementis“ (kein Nihilismus, keine Autonomie der Vernunft, keine Absage an unbedingten Ernst etc.) nicht ernst zu nehmen oder nicht als mit meinen sonstigen Aussagen verträglich anzusehen. Ich anerkenne und bewundere Ihre Fähigkeit, komplexe und subtile „menschliche“ Vorgänge in oft von Ihnen geschaffene, aber intuitiv durchaus gut verständliche Begriffe zu fassen; aber ich frage mich letztlich immer wieder: Was folgt aus all dem über die hervorragende und auch erhellende Beschreibung hinaus? Welche Konsequenzen ergeben sich für Ihr Denken daraus, dass Sie eine „Kulturscheide“ proklamieren, die die Kulturgeschichte in eine Periode teilt, die „bis in die unvordenkliche Vorgeschichte“ reicht, und eine andere, die um 1800 begonnen hat (den langsamen Abbau dessen, was Sie im letzten Brief „paläoanthropologische Konstante“ nannten, wollen Sie ja nicht befördern, oder?). 15. August 2001 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem heute empfangenen Brief vom 15. (?) August vertiefen Sie Ihre Frage nach meinem Verständnis kritischer Prüfung in einer Weise, die ich für lehrreich abwegig halte. Sie forschen nach Kriterien, durch die sich der Prüfende seiner Unabhängigkeit von Vorurteilen, Zwängen und Befangenheit in eben den Vorstellungen, die er kritisieren will, vergewissern könnte. Diese Fragestellung ist berechtigt, solange sie nur nach regulativen Prinzipien im Sinne von Kant fahndet, d.h. nach Richtlinien für das immer nötige Bestreben, solche Befangenheit in wachem Mißtrauen gegen mögliche Voreingenommenheit und Borniertheit des eigenen Urteils tunlichst zurückzudrängen, etwa so, wie die Post versucht, dem Verschwinden oder Verzögern von Sendungen bei der Beförderung entgegenzuwirken. Gute Methoden zu diesem Zweck sind die Explikation und Variation von Annahmen an Hand der Frage, was man gelten lassen muß, die Befragung fremder Meinungen und Erfahrungen, um die Beschränktheit des eigenen Standpunktes zu erweitern, und das gründliche historische Studium, um nicht mehr ahnungslos dem Überlieferten zu verfallen. Ihre Fragen wollen aber, wenn ich sie recht verstehe, auf mehr hinaus. Sie scheinen von der Voraussetzung einer absoluten Wahrheit auszugehen, gleichsam wie sie sich einem allwissenden Gott darbieten würde, dessen Evidenzen bedin-

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gungslos untrüglich wären, um an dieser Voraussetzung die Begrenztheit, möglicherweise Hilflosigkeit, des menschlichen Kritikvermögens gegen die Befangenheit in Vorurteilen zu messen. Vielleicht glauben Sie sogar, daß der aufgeklärte Mensch sich so weit emanzipieren könnte, alle Vorurteile abzuwerfen und diesen höchsten, absoluten Standpunkt einzunehmen. Aber einen absoluten Standpunkt gibt es nicht. Das Beste, was wir für die Sicherheit unserer Erkenntnis erhoffen können, ist die für den Einzelnen im Augenblick überwältigende, nicht mehr im Ernst bezweifelbare Evidenz. Ein untrügliches Kennzeichen für die Unterscheidung zwischen echter und scheinbarer Evidenz besitzen wir aber nicht. Vergleichen Sie dazu, wenn Sie wollen, meine Ausführungen über Wahrheitsrelativismus und Skepsis (System der Philosophie Band IV S. 574–580; Der unerschöpfliche Gegenstand S. 237f.). Sie fragen mich nach Konsequenzen, die ich aus meinen Beschreibungen für das wünschenswerte Leben der Menschen ziehe. Das Wesentliche dazu steht in meinen Büchern „Neue Phänomenologie“ S. 25–27, „Leib und Gefühl“ S. 98–102, „Die Liebe“ S. 9–14, „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 377–380 und „Der Spielraum der Gegenwart“ S. 175–180. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, daß ich kein Prophet bin und keine Rezepte für neue Lebensformen gebe; mein philosophisches Denken kann diese Aufgabe der spontanen Gestaltungskraft eines phantasievollen, von empfänglicher leiblicher Disposition begünstigten Tuns nicht abnehmen, sondern nur den Raum ausleuchten und besonnener Rechenschaft zugänglich machen, in dem sich ein solches Tun bewegen müßte, um den Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern. Sie scheinen mir insofern entgegenzukommen, als Sie der Menschheit nicht mehr die Abstreifung aller (sondern nur noch alter) implantierender Situationen wünschen. Daran knüpfen Sie die Frage, „welche implantierenden Situationen abgestreift werden müßten“. Ich glaube aber, daß man gar nicht ganze Situationen abschaffen kann, wegen der undurchsichtigen Binnendiffusion ihrer Bedeutsamkeit; weder dem Descartes (im Verhältnis zum aristotelisch-scholastischen Erbe) ist das gelungen, noch gar Marx und seinen Marxisten, die sich mit einer großartigen Geste von der Tradition als einer bloßen Vorgeschichte einer neuen Menschheit absetzten. Und was ist daraus geworden? Etwas Entsetzliches, weil sie mit ihren Feuerzeugen bloß leichtsinnig am oberflächlich geprüften Dynamit der Tradition herumspielten, s. „A. H. i. d. Geschichte“ S. 230–239. Bloß einzelne Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) kann man abstreifen, nachdem man sie aus der Bedeutsamkeit implantierender Situationen expliziert und kritisch geprüft hat; dazu habe ich in einem fort Beiträge zu liefern gesucht („Adolf Hitler in der Geschichte“, „Der Ursprung des Gegenstandes“, „Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie“ S. 285–345, „Der Leib“ S. 365–601, „Der Gefühlsraum“ S. 403–519 und viel anderes mehr).

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26. August 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie nennen in Ihrem Brief vom 15.8. (Sie haben Recht: mein mit 15.8. datierter Brief stammt tatsächlich vom 14.8.) meine Frage nach den Kriterien, die jemand für die von Ihnen stets befürwortete „kritische Prüfung“ anwendet, lehrreich abwegig, und zwar, weil Sie (fälschlich; s.u.) unterstellen, ich ginge von der Voraussetzung einer absoluten Wahrheit aus, von dem Standpunkt eines allwissenden Gottes, der in meiner Sicht („Vielleicht glauben Sie sogar …“) der des vollständig emanzipierten, aufgeklärten (und von mir gewünschten) Menschen sei. Diese Unterstellung wiederum erscheint mir als lehrreich abwegig, denn sie erfolgt nach dem gleichen Muster, das ich schon des öfteren in Ihrer Argumentation wahrgenommen habe. Wann und wie auch immer wir uns den Kern meiner „Vision“ einer Wiederbelebung der (seit den abwürgenden Reaktionen von Marx und Nietzsche auf Stirner) paralysierten Aufklärung – nämlich der absichtsvollen, wissenschaftsgestützten, sukzessiven, sich über viele Generationen erstreckenden Verminderung der schädlichen individuellen und sozialen Folgen der bisher unbefragt üblichen Enkulturationsmethode (Traditionsvermittlung durch Ausbildung eines Freud’schen Über-Ichs, oder, wohl richtiger: eines starren, psycho-physischen Reich’schen Charakterpanzers) – näherten, versuchten Sie, mir das Unsinnige dieses Gedankens durch dessen Ihrer Meinung nach unvermeidliche, absurde Konsequenzen vor Augen zu führen. Ich habe aus Ihren Briefen Ihren Standpunkt, wie ich glaube, recht gut kennengelernt und konnte auch oft Ihren „mäßigenden“ Einwänden zustimmen. Nie jedoch haben mich Ihre überschießenden „polemisch-martialischen“ Attacken wie die oben angesprochenen beeindruckt. Sie erschienen mir allerdings insofern als lehrreich abwegig, als ich durch sie deutlich spürte, wo sozusagen der wunde Punkt lokalisiert ist, wo wir uns, bei mancher Übereinstimmung in durchaus nicht nebensächlichen Fragen (z.B. über das Elend der Gegenwart), nicht annähern, ja, meinem sich mehr und mehr verfestigenden Eindruck nach vielleicht nicht einmal gründlich verständigen können. Ich hatte in meinem letzten Brief versucht, einen neuen Zugang zu einer Verständigung dadurch zu eröffnen, dass ich fragte, was das Beiwort „kritisch“ in Ihren zahlreichen Aufforderungen, man möge alles, insbesondere auch die Tradition, einer „kritischen Prüfung“ unterziehen, bedeute. Dabei habe ich keineswegs implizieren wollen, ich oder irgendein vollends aufgeklärter und emanzipierter Mensch verfüge gottgleich über absolute Kriterien, an denen er die Wirklichkeit des Menschen misst, sondern ich wollte im Grunde darauf hinaus, dass ich das Wörtchen „kritisch“ in Ihrer Rede nur als ein epitheton ornans verstehen kann. Allerdings konnte ich die

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zahlreichen Stellen aus Ihrem Werk, auf die Sie mich verweisen, noch nicht prüfen. Sie reagierten jedenfalls darauf, wie gesagt, für mich – lehrreich abwegig. Gegen Ende Ihres Briefes kommen Sie auf „Marx und die Marxisten“ zu sprechen, die sich mit großer Geste von der Tradition absetzen zu können meinten, die leichtsinnig am Dynamit der Tradition gezündelt hätten. Ein mahnendes Exempel, gewiss (im Konzept nicht zufällig entstanden direkt als Reaktion auf Stirner!). Aber das sollte den Geist nicht auf ewig zaghaft verstummen lassen. Die (auch) von Ihnen proklamierte „Kulturscheide“ sollte wahrgenommen und ins Bewusstsein gerückt und nicht zu verschütten versucht werden – meine ich. 28. August 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Es ist in einem flüssigen Gedankenaustausch ein schlechtes Zeichen, wenn man auf schon Gesagtes oder Geschriebenes zurückgehen muß, um zu erklären, wie es gemeint war. In Ihrem Brief vom 26. August wehren Sie sich heftig gegen meinen Verdacht, daß Sie die Chancen kritischer Prüfung, nach denen Sie mich in Ihrem Brief vom 15. (vielmehr 14.) August gefragt hatten, durch ein mehr oder weniger heimliches Ideal absoluter oder besser – mit Husserl zu sprechen – apodiktischer Evidenz überforderten (wozu ich das Gleichnis eines allwissenden Gottes anbrachte, vielleicht nicht ganz unmißverständlich). Was brachte mich auf diesen Verdacht? Vielleicht lesen Sie dazu nochmals den betreffenden Absatz Ihres Briefes. Sie beziehen sich dort auf meine Begriffsbestimmung für kritische Prüfung in meinem Brief vom 8. August, wonach zu dieser einerseits die Explikation einzelner Sachverhalte und Programme aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen gehört, andererseits die Fahndung nach Gründen für Tatsächlichkeit der Sachverhalte bzw. Geltung der Programme. Dazu fragen Sie am 14. (15.) August, ob die Prüfung auf unabhängige, d.h. nicht von der zu explizierenden Situation selbst vorgegebene, Kriterien zurückgreifen könne. Sie äußern (in Frageform) den Verdacht, daß andernfalls das Prüfen im bloßen Ausformulieren überlieferter Vorurteile bestünde. Nun ist das Verlangen nach unabhängigen (d.h. nicht von explikationsbedürftigen Situationen abhängigen) Kriterien der Prüfung offenbar sinnlos, wenn man nicht die Möglichkeit apodiktischer Evidenz, also gleichsam die Perspektive des allwissenden Gottes, voraussetzt. Andernfalls müßte man ja aus gleichem Grund, wie nach Kriterien für die Prüfung, nach Kriterien für die Zuverlässigkeit der Kriterien usw. suchen und geriete in einen regressus ad infinitum, der die gewünschte Prüfung vereiteln würde. Es bleibt also bei der durch Kriterien zwar stützbaren, aber nie endgültig sicherbaren Evidenz im Augenblick, die mehr oder weniger stark, im günstigsten Fall aber für den Prüfenden dann unwiderstehlich, sein kann. Über jeweils unhinter-

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gehbare Hypothesen kommen wir nicht hinaus. Ebenso falsch, wie das Bauen auf apodiktische Evidenz, ist aber die Denunziation, als könne die Prüfung nur „ein Verbalisieren, ein Ausformulieren“ (Ihre Worte vom 14. August) überlieferter Vorurteile sein. Gerade implantierende Situationen, wie z.B. die Muttersprache, gestatten ja der Person, deren persönliche Situation in sie eingepflanzt ist, ein lockeres Verhältnis für kritische und weiterführende Auseinandersetzung, vgl. „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 28–32. Sie bezweifeln in Ihrem jüngsten Brief unsere Fähigkeit zu gründlicher Verständigung an wunden Punkten, auf die Sie durch „polemisch-martialische“ Attacken meinerseits aufmerksam würden. Ich habe Ihnen schon öfters geschrieben, an welchen Stellen mir Ihre Idealbildung rätselhaft bleibt, auch insofern zweideutig, als ich manchmal eine Übereinstimmung unserer Bestrebungen fast greifbar nahe zu sehen glaube – etwa, wenn es um das Abarbeiten der „furchtbaren Last der Überlieferung von mehrern tausend Jahren“ (Goethe) geht –, dann aber wieder mich unversöhnlich abgestoßen finde von solchen Radikalisierungen wie der Utopie von Menschen, denen nichts mehr heilig ist und nichts mehr Ehrfurcht einflößt. Wie billig, wenn Stirner dem platten Wortsinn nach „Ehrfurcht“ aus Ehre und Furcht zusammensetzt! Rudolf Otto („Das Heilige“) hat dagegen (und gegen „timor fecit deos“) das Nötige gesagt. Die Furcht der Ehrfurcht ist nicht Furcht vor einer physischen Gefahr, sondern heilige Scheu im Angerührtwerden von einer Respekt und gesammelte Zurückhaltung gebietenden Atmosphäre, griechisch gesprochen: nicht φοβος (Phobos), sondern σἐβας (Sebas), lateinisch: nicht timor, sondern verecundia, englisch: nicht fear, sondern awe. Mir ist in gewissem Sinn alles heilig, habe ich Ihnen schon einmal geschrieben. Vom 4.–16.09. will ich bei meiner Schwester J. Schmitz in […] Siegburg […] wohnen, um ihr in einer Rekonvaleszenzphase zu helfen. 4. September 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich möchte zunächst an meinen letzten Brief (26.8.) anknüpfen, wo ich abschließend kurz auf Ihre Mahnung eingehe, dass ein leichtsinniges Zündeln am Dynamit der Tradition, wie es sich „Marx und seine Marxisten“ erlauben zu können glaubten, entsetzliche Folgen zeitigt. Mit einigen Körnern Salz versehen könnte man gleichermaßen auf „Nietzsche und seine Nietzscheaner“ bzw. auf jene Bewegung hinweisen, die, von einer Nietzsche nicht fernstehenden, jedenfalls dezidiert „antidemokratischen“, breiten geistig-politischen Strömung getragen, der Tradition ähnlich hemdsärmelig zu Leibe rückte und in noch kürzerer Zeit in einem Desaster endete. Dies, die Beschwörung der tödlichen Gefahren des „Utopismus“ und/oder „Totalitarismus“, ist ja auch in der Tat ein Hauptbestandteil der

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gegenwärtigen „demokratischen“ Ideologie. Aber – ich glaube nicht, dass mit dieser (traditionsachtenden?) Ideologie die Menschheitsprobleme, an deren Lösungsversuch Marxismus und Nationalsozialismus gescheitert sind, auch nur in Angriff genommen werden können. Ich teile eher die Skepsis von Panajotis Kondylis, der kurz vor seinem Tod 1998 die Vermutung aussprach, dass „das 21. Jahrhundert … das erschütterndste und tragischste Zeitalter in der Geschichte der Menschheit werden wird.“ Marx und Nietzsche haben – einmal, unter uns, salopp und pauschal gesprochen – als Scharlatane des Geistes gewirkt, die die Stirner’sche Diagnose der Lage der Menschheit zwar genau kannten, sie aber dem Patienten geschickt entzogen, um ihm eine benebelnde Arznei zu verabreichen, die er dankbar annahm, weil sie ihn schnell euphorisierte. Der große Katzenjammer folgte in wenigen Jahrzehnten, auch die große Zerknirschung, die Wut gegen die einstigen Verführer – aber dann wieder der gierige Griff zu einem anderen, wahrscheinlich noch fataler wirkenden Betäubungsmittel, bzw., wenn man so will, zu der selbstbetrügerischen Behauptung, die MarxNietzsche-Kur habe, vermittels ihrer abschreckenden Resultate, letztlich doch eine Heilung bewirkt. In Ihrem Bild gesprochen: Das leichtfertige Zündeln am Dynamit der Tradition hat schwerste Schäden gebracht, aber nicht den Tod. Doch ist nur ein kleiner Teil des Dynamits explodiert. Jetzt meint man, ihm die Explosivität durch Schönreden nehmen zu können. Aber es käme darauf an, es aktiv und mit größter Vorsicht zu entschärfen. Dem, was Sie im Zusammenhang mit unserem Thema der „kritischen Prüfung“ sagen, zum Verlangen nach unabhängigen Kriterien der Prüfung, zur apodiktischen Evidenz etc., stimme ich im Großen und Ganzen zu und sehe nicht die Gegenposition zu dem von mir Gesagten. Aber Ihre Auffassung, die Muttersprache sei Paradigma dafür, dass dem Individuum im Leben allgemein „ein lockeres Verhältnis für kritische und weiterführende Auseinandersetzung“ offensteht; dafür, dass also jede beliebige implantierende Situation (ich zitiere als Beispiel Ihre „Seelenfallen der katholischen Kirche“) insofern akzeptabel ist, als sie die (freilich immer nur teilweise mögliche) Emanzipation von ihr gestattet; diese Auffassung kann ich nicht teilen. Hier scheint mir der Kern unserer unterschiedlichen Positionen deutlich zu werden. Ich meine, mit dieser Behauptung der Gleichwertigkeit aller implantierenden Situationen (insofern, als sie alle gleichermaßen dem Individuum die Emanzipation von ihnen erlauben) gehen Sie genau dem Problem aus dem Wege, das zu exponieren ich bemüht bin. Hier, bei den implantierenden Situationen, die ich ja nicht, wie Sie gelegentlich mutmaßten, „zerstören“ will, sehe ich den Ort, wo „Kritik“ anzusetzen hätte. Und die Kriterien solcher Kritik entsprängen nicht irgendeiner apodiktischen Evidenz, sondern wären quasi in einem allumfassenden Sinn hygienische. Als sozusagen hygienische Forderung verstehe ich auch mein „superego

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esse delendam“ – die freilich nur auf eine sich über Generationen asymptotisch dem Ziel annähernde Weise zu realisieren wäre. Sie fühlen sich abgestoßen von meiner Ablehnung von Ehrfurcht und Heiligem, unterstellen mir dabei, ich sähe die Furcht bei der Ehrfurcht als die vor einer physischen Gefahr. ??? – Als wir das Heilige diskutierten, nannten Sie mir Beispiele, heilige Orte, alle aus der Literatur über antike Zeiten. Ich möchte darauf später zurückkommen, wenn Sie wieder in Kiel sind und ich von einer Reise in die Bretagne wieder hier bin (Anfang Okt.). Im Moment versöhnt mich Ihr Wort: „Mir ist in gewissem Sinn alles heilig.“ Wenn ich das ungefähr so verstehen darf, dass Sie „alles“ im Leben ernst nehmen, dann könnte ich mich Ihnen durchaus anschließen. 17. September 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Nun bin ich, aus Siegburg zurückgekehrt, wieder in Kiel und benütze die erste Gelegenheit zur Antwort auf Ihren Brief, den Sie mir dorthin schickten. Dieser Brief bietet mir keine Herausforderung im Grundsätzlichen, so daß ich Ihren entspannten Ton für einige abweichende Meinungen übernehmen kann. Sie konstruieren eine Analogie der Verhältnisse zwischen Marx und den Marxisten, Nietzsche und den Nationalsozialisten mit Hitler im Mittelpunkt. Das scheint mir nicht haltbar. Hitler schloß sich (im Gegensatz zu Mussolini) nicht (oder nur ganz oberflächlich, um entsprechenden Erwartungen zu genügen) an Nietzsche an, vielmehr an Wagner, und zwischen Nietzsche und Wagner gab es nur oberflächlich und zeitweilig Freundschaft (durch Projektionen von Nietzsches und Nützlichkeitserwägungen von Wagners Seite), sonst erbitterte Feindschaft und Entfremdung, vergleichen Sie z.B. „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 181–202. Das mit Eindruckstechnik getränkte völkisch-germanische Mythologisieren und die Todesmystik Wagners stand Hitler nah, ganz im Gegensatz zum Individualismus Nietzsches aus dem Erbe der romantischen Ironie („der freie Geist“). Bezeichnend dafür ist auch Nietzsches Haß und Verachtung gegen die Judenfeinde, die sogenannten Antisemiten, zu denen prominent Wagner und Hitler gehörten. Sie sind nun zwar der Meinung, daß Marx und Nietzsche ihre Konzepte aus dem Erschrecken über Ideen Stirners entwickelt hätten, und neigen deshalb zu jener Analogie, aber das überzeugt mich nicht. Dementsprechend sehe ich Gefahren für das 21. Jahrhundert auch weniger in Gestalt einer ganz großen Tragödie und vernichtenden Katastrophe, als deren Vorboten Marx und Nietzsche zusammengesehen werden müßten, voraus, sondern eher als drohende Infantilisierung (Verkindischung) der Menschheit durch Auflösung der implantierenden Situationen, d.h. der kritischen Verantwortung vor der Tradition und dem diachronen, das Einzelleben übergreifenden Lebenszusammenhang. Die Deutschen imponieren jetzt schon mehr oder weniger als ein

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Volk von ungezogenen Kindern, launisch, anspruchsvoll, unzufrieden, neidisch, faul, bequem, neugierig, alimentationsabhängig. Das könnte weiter gehen. Ich will aber nicht prophezeien. „Die Zukunft decket Schmerzen und Glücke schrittweis dem Blicke“ (Goethe, nicht ganz genau zitiert). Dagegen scheint das 20. Jahrhundert in der großen Politik eine Zeit der Reifung gewesen zu sein. Sein Thema in dieser Hinsicht war die Überschwemmung des Imperialismus durch die ungeheuren Machtmittel der Technik, die den Imperialisten in die Hand gegeben waren, ohne daß sie ein Verhältnis dazu hatten. Demgemäß war der 1. Weltkrieg ein zweckloses Feuerwerk; keiner wußte, wofür er geführt wurde. Im 2. Weltkrieg wußte wenigstens der Angreifer Hitler, ein von Wahn verblendeter genialer Psychopath, was er wollte und mit technischen Mitteln erreichen konnte; bloß die Opfer seiner Suggestion und Aggression waren hilflos, bis sie spät genug begriffen, zu spät, um die Katastrophe abzuwenden. Danach kam die Atombombe. „Die Atombombe und Adolf Hitler gehören zusammen.“ („Höhlengänge“ S. 211) Die Atombombe hat die Regierungen, die über sie verfügten, erzogen. Sie lernten den vertretbaren Umgang mit den übermenschlich mächtigen technischen Mitteln bei der imperialistischen Auseinandersetzung, sowohl in der aktiven wie in der passiven Rolle. Neuestens scheint es, daß der internationale Terrorismus berufen sein könnte, im 21. Jahrhundert die Privatpersonen angesichts der Zerstörungskapazität der Technik in eine gleiche Schule zu nehmen, wie im 20. Jahrhundert die über Atomwaffen verfügenden Regierungen. Sie lehnen meinen Vorschlag ab, die Muttersprache und ihren Gebrauch als Paradigma für das Verhältnis zu implantierenden Situationen zu nehmen, insofern sich die Person mit so eingepflanzter persönlicher Situation von der implantierenden führen läßt, ohne ihr gegenüber die Kritikund Umgestaltungsfähigkeit zu verlieren. Ich gebe Ihnen Recht, sofern es um folgenden Unterschied geht: Die Sprache kann man, wie man übertreibend sagt, „beherrschen“, weil es ganz leicht ist, aus ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit einzelne Bedeutungen – die Sätze, die Regeln (Programme) für die Darstellung von Sachverhalten, Programmen oder Problemen sind – durch Sprechen als vokalen Gehorsam gegen solche Regeln zu explizieren. Bei implantierenden Situationen anderer Art ist die Explikation im Allgemeinen viel schwieriger. Aus ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit läßt sich nicht so leicht lauter Einzelnes herausheben, und nur mit einzelnen Bedeutungen kann man sich zielgerichtet auseinandersetzen. Trotz dieses Unterschieds scheint mir der Aufweis implantierender Situationen am Beispiel der Sprache aufschlußreich, weil jeder zugeben muß, wie sehr diese sein Denken und Tun durchdringt und führt, aber ohne diesen Hinweis nicht so leicht darauf kommt, wie tief sein Leben in implantierende Situationen eingetaucht ist, auch wenn ihn diese nicht mehr, Ziele vorgebend,

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führen, sondern ihm, wie die Sprache, bloß Mittel für irgend welche Darstellungszwecke an die Hand geben. Mit drei Fragezeichen wehren Sie sich gegen mein Schelten auf das billige Verfahren, die Ehrfurcht verdächtig zu machen, weil das Wort im Deutschen (im Gegensatz zu anderen Sprachen) zufällig mit einem Wort für Furcht zusammengesetzt ist. Ich hatte, um die Furcht gegen die Ehrfurcht abzusetzen, von Furcht vor physischer Gefahr gesprochen; wenn Ihnen das zu speziell ist, können Sie meinetwegen Furcht als Furcht vor Schaden verstehen. Natürlich ist die Ehrfurcht solcher Furcht verwandt: Man scheut sich, dem Heiligen zu nahe zu treten. Aber das ist zugleich ein Weg, Distanz in der Ergriffenheit zu wahren und dem Gegenstand nach Gebühr zugewandt zu sein, ohne sich zu verlieren. Ich hoffe, daß Sie im Oktober zufrieden und erholt aus der Bretagne zurückkommen und dann in Ihrem Postfach diesen Brief finden. 9. Oktober 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, ebenfalls zurück in trauter Umgebung – und natürlich nicht unberührt von den aktuellen weltpolitischen Ereignissen – finde ich Ihren Brief vom 17.9., auf den allein ich mich jetzt beziehen möchte, da mir die Muße zur Durchsicht unserer Briefe des ersten Halbjahres 2001 nach wie vor fehlt; letzteres hatte ich ja schon angekündigt, als unser Gespräch, wenn ich das richtig erinnere, Ende Juni an eine Art toten Punkt gekommen war und m.E. nur dadurch wieder in Schwung zu bringen wäre, wenn nach einem Resümee des letzten Halbjahres noch klare Fragestellungen mit bisher unklaren Antworten zu finden seien – denn andernfalls geschieht es leicht, dass man wieder in altes Fahrwasser gerät. Sie übernehmen den „entspannten Ton“ des zweiten Absatzes meines Briefes vom 4.9. (ich bezeichnete dort „salopp und pauschal“ Marx und Nietzsche wegen ihrer bloß palliativen Behandlung der von Stirner diagnostierten „Krankheit“ als „Scharlatane des Geistes“) und wenden sich gegen eine Analogisierung der Verhältnisse Marx/Marxisten und Nietzsche/Nationalsozialisten (Hitler), indem Sie auf S. 181–202 Ihrer „Selbstdarstellung als Philosophie“ verweisen und an die unterschiedliche Bedeutung Wagners für N. resp. H. sowie an N.’s Anti-Antisemitismus erinnern. Darüber ließe sich lange diskutieren, vielleicht gar im Großen und Ganzen Einigkeit erreichen; aber es führte vom Thema weg. Jene Analogisierung, die Sie mir unterstellen, vollziehe ich ja gar nicht, jedenfalls nicht in Verbindung mit der von Ihnen angedeuteten Interpretation. Ich sprach am 4.9. deshalb auch lediglich von einer „Nietzsche nicht fernstehenden, jedenfalls dezidiert ‚antidemokratischen‘, breiten geistigpolitischen Strömung“, die ich im Anschluss an Ihre vorgängige Rede vom leichtfertigen Zündeln am Dynamit der Tradition eines hemdsärmeligen

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Vorgehens bezichtigte, das – schneller noch als das analoge marxistische – in einem Desaster endete. Die Analogie, die ich sehe, besteht im Wesentlichen darin, dass beide „Strömungen“ sich am Ende der düsteren „Vorgeschichte“ und als Herolde einer glanzvollen „neuen Geschichte“ der Menschheit sahen; dass sie den „Neuen Menschen“ wollten etc. – dass sie zudem meinten, diese große Vision ließe sich in kurzer Zeit mit ein paar philosophischen Tricks unter Anwendung von Zwang realisieren oder auch nur initiieren (ganz abgesehen von den normativen Vorstellungen, die sie aus der „alten Welt“ mitbrachten und in die „neue“ projizierten). Meine Sicht beruht allerdings, wie Sie richtig schreiben, wesentlich auf der Auffassung, dass sowohl Marx als auch Nietzsche ihre Konzepte als Reaktion auf Stirner entwickelt haben – und sie eben deshalb so sehr gefeiert wurden, weil sie eine einfache Lösungsmöglichkeit der (von Stirner aufgeworfenen, von M & N verschütteten) Probleme vorgaukelten. Das überzeuge Sie nicht, sagen Sie. Da bleibt mir nur die schwache Hoffnung, dass dies z.T. daran liegt, dass ich in meinem Buch „Ein dauerhafter Dissident“ Marx und Nietzsche – im Hinblick auf eine separate monographische Behandlung – zu wenig hervorgehoben habe und in meinem ZEIT-Artikel allzu konzise formulieren musste. Ein Zwischenstück zu den geplanten, materialreicheren Monographien über Stirner/Marx und Stirner/Nietzsche bilden zwei Artikel, die ich etwa vor Jahresfrist schrieb und Ihnen beilege. Anders als Sie vermuten, sehe ich demgemäß Marx und Nietzsche nicht als Vorboten einer kommenden großen Katastrophe, sondern eher als Figuren, die dafür stehen, dass die Menschheit vor der anstehenden Entwicklung zurückgewichen ist (was sich vielleicht gut mit der von Ihnen beobachteten Infantilisierung vereinbaren lässt). Ihren gemäßigten Optimismus über die mögliche erzieherische Wirkung des aktuellen Terrorismus vermag ich jedoch nicht zu teilen. Das Ereignis vom 11.9. erscheint mir vielmehr als ein grandioses Fanal für die von Kondylis, dem „Anti-Fukuyama“, erwartete Entwicklung (zitiert am 4.9.). Seine Symbolkraft ist unübertrefflich: der strotzende Repräsentant des „world trade“, angetippt, kollabiert in kürzester Zeit. Dieses Video aus dem Jahre 1 wird, zu Recht oder nicht, den Elenden Hoffnung geben, und der Charismatiker, dem dieses „Wunder von New York“, dieses Wüten gegen die Wechsler von heute, zugeschrieben wird, wird in ihren Herzen leben, auch wenn er bald von „high tech“ pulverisiert oder von „justice“ zur Rechenschaft gezogen wird. Zur „Muttersprache“ und (erneut) „Ehrfurcht“ später. 13. Oktober 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Eine kurze Reise nach München zur Mitgründung einer Gesellschaft für antike Philosophie hat meine Antwort auf Ihren Brief vom 9.10. etwas verzögert. Die beiden letzten Sätze dieses Briefes vor der Grußzeile, das

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Attentat in New York vom 11. September betreffend, gefallen mir sehr gut. Vor dem American Way of Life als gewachsener Lebensform – einer zuständlichen implantierenden Situation, die inkonsistente Sachverhalte und Programme ganzheitlich einschließt – habe ich großen Respekt, aber ihr Export führt zur Verwahrlosung: zum Exzeß der autistischen Verfehlung (Isolierung und Nivellierung der Individuen durch Zersetzung implantierender Situationen) im Verein mit der leichtfertig-fortschrittsoptimistischen Version der dynamistischen Verfehlung. So ergibt sich die „Leuchtreklamepolitik, eine Scheinpolitik auf allen Gebieten“, die Hitler mit Recht anprangerte (mein „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 310), nur daß er leider durch wahnhafte Judenphobie und eine pessimistisch-brutaldarwinistische Version der dynamistischen Verfehlung dieses Recht in Unrecht verzerrte. Eine zweite Welle des rücksichtslosen Angriffs gegen den Triumph der dynamistisch-autistischen Verfehlung, nach der von Hitler vorgetragenen, scheint sich mit dem Terror vom 11. September anzukündigen, und ich ahne die Chance, daß sie einen besseren Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechtes als Hitler leisten könnte. Der Einzelne, vom Terror einer mehr oder weniger gerechten Empörung bedroht, könnte lernen müssen, daß die Wellen des Fortschritts, auf denen er vorwärts getragen wird, tatsächlich Wellen sind, in denen man versinken kann, und nicht ein mechanisch ziehendes und tragendes Förderband, auf das er nur ein paar Pirouetten seines Beliebens aufzutragen braucht. Die technische Weltbemächtigung kann dann nicht mehr so leicht als bequemes Mittel der Selbstverwirklichung mißverstanden werden, sondern verbindet sich mit der Herausforderung, selbst gefährlich leben zu lernen. Ob das eine Chance ist, wird die Zukunft zeigen. Ihre beiden mitgesandten Aufsätze über die Schattierungen der Marxund Nietzsche-Rezeption durch Rücksicht auf Stirner („Den Bann brechen! – Max Stirner redivivus“) kenne und besitze ich schon, und ich habe Ihnen dazu in meinem Brief vom 27.11.2000 u.a. mein Befremden darüber geäußert, daß Sie, sensibel für den „Bann gegen Stirner“, den „Bann gegen Schmitz“ so perfekt mitmachen, indem sie über Janz, Ottmann, Münster und Safranski (um von Husserl, C. Schmitt und Habermas zu schweigen) meine Beiträge zu Stirner und Nietzsche im Verhältnis zu einander ignorieren. Meine Feststellung, nicht überzeugt zu sein von Ihrer „Meinung, daß Marx und Nietzsche ihre Konzepte aus dem Erschrecken über Ideen Stirners entwickelt hätten“, war also in Kenntnis dieser Aufsätze geschrieben. Als sehr nützlich und hilfreich erkenne ich Ihre Aufdeckung von Kanälen möglicher Einwirkung von Stirner auf Nietzsche (zusätzlich zu dem längst Bekannten, das Overbeck berichtet) an, aber ob und wie z.B. Mushacke mit Nietzsche über Stirner gesprochen hat, bleibt doch ganz unsicher. Ob Nietzsche faktisch durch Kenntnisse über Stirner motiviert war, ist m.E. gar nicht so wichtig, denn beide reagieren auf die Krise, die ich als

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rezessive Entfremdung der Subjektivität oder ironistische Verfehlung (alias „Nihilismus“) bezeichnet habe, Stirner sicherlich mit nachhaltigerer Herausforderung an seine Leser als der Weichheit durch Protzen mit Härte verdeckende Verwirrspieler Nietzsche, der übrigens ein großer Moralist (und Stilist) war, aber m.E. keineswegs, wie Sie am 9. Oktober schreiben, „eine einfache Lösungsmöglichkeit der von Stirner aufgeworfenen Probleme“ angeboten (oder „vorgegaukelt“) hat. 20. Oktober 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, als erstes möchte ich Sie um Entschuldigung bitten für die, wie ich jetzt von Ihnen erfuhr, zweite Zusendung meiner beiden Aufsätze über die Reaktionen von Marx resp. Nietzsche auf Stirner. Ich hätte unseren Briefwechsel durchsehen sollen, um dies zu vermeiden. Sie zitieren aus Ihrem Brief vom 27.11.2000: Es habe Sie befremdet, dass ich einerseits sensibel sei für den „Bann gegen Stirner“, den „Bann gegen Schmitz“ aber „so perfekt“ [!?] mitmache. Da Sie diesen Vorwurf jetzt wiederholen, scheint er doch ernster gemeint gewesen zu sein als ich damals dachte. Ich verwies in meiner Antwort, am 1.12., auf (unter uns m.E. evidente) sachliche Gründe dafür, warum ich Sie nicht in die Reihe der Janz, Ottmann, Münster, Safranski stellte, vor allem aber auf die mir aufgrund meines (fehlenden) Status in der Welt der Philosophie völlig fehlende Bannkraft. Außerdem teilte ich Ihnen mit, dass ich 1995, gleich nach der Lektüre von „Selbstdarstellung als Philosophie“, eine Kritik Ihrer Behandlung Stirners geschrieben habe, die aber damals noch nicht zu einer publikationsreifen Fassung ausgearbeitet war. Sie ist es, z.T. bedingt durch unseren Briefwechsel, leider noch immer nicht. Aber wahrscheinlich werde ich Sie ohnehin nicht umstimmen können; werde ich Sie nicht davon abbringen können, Stirner und Nietzsche allenfalls nebeneinander („beide reagieren auf die [gleiche] Krise …“) und niemals gegeneinander zu stellen. Ob Nietzsche in jenen beiden Oktoberwochen 1865 nun beim alten Mushacke den „Stirner-Schock“ erlebte oder nicht, sagen Sie (am 13.10.; wie zur Vorbeugung bzw. Immunisierung), sei „gar nicht so wichtig“; ich dagegen sehe in dieser Annahme, die gewiss wohl kaum mehr beweisbar ist und nur beleggestützt plausibel gemacht werden kann, einen heuristischen Schlüssel – dessen Bart natürlich durch einen Satz von Feilen (den Sie durch meine Aufsätze z.T. kennen) noch filigraner und damit passgenauer wird. Schlüssel wozu? werden Sie fragen. Zu welcher – Wahrheit? Schließlich gibt es doch ordentliche Philosophiegeschichten, erarbeitet von Generationen von hochkarätigen Fachleuten, deren Ressourcen den meinen in jeder Hinsicht fast unendlich überlegen waren und sind. Statt mich in diese und natürlich in die Schriften der anerkannten Klassiker zu vertiefen und mich um Verkleinerung meiner klaffenden Bildungslücken zu bemühen,

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was ein Leben ausfüllen kann, spintisiere ich mir auf wenig solider Wissensbasis eine bizarre Geistesgeschichte nach dem Muster von Verschwörungstheorien zusammen und bilde mir obendrein ein, einer oder der „Wahrheit“ auf der Spur zu sein, einer Wahrheit zudem, die universell mit einem „Bann“ belegt sei. – Hmmm. Wahrscheinlich ist „Wahrheit“ hier ein irreführendes Wort. Ich kenne nur kein wirklich passendes. Jedenfalls ist alles, was ich schreibe, das Ergebnis meines Michbesinnens auf mein Michfinden in meiner Umgebung, auch wenn es wohl keine „Philosophie“ ist – ich meine, es ließe sich einigermaßen treffend mit dem m.W. noch unbesetzen Terminus „Paraphilosophie“ bezeichnen. Das mag nun so abseitig erscheinen, dass ich nicht einmal mit einem „Bann gegen Laska“ zu rechnen habe. Den „Bann gegen Schmitz“, von dem Sie jetzt zum zweiten Mal schrieben, scheint es aber zu geben, nur dass ich ihn naturgemäß nicht mit der gleichen Sensibilität wahrnehme wie Sie. Andererseits haben Sie, wie ich gelegentlich lese, doch einen Schülerkreis, veranstalten Kongresse der „Neuen Phänomenologie“, halten Vorträge vor akademischen Auditorien im In- und Ausland etc. Worin sehen Sie den Bann gegen Ihr Werk? Ihr Verweis auf Ihren Brief vom 27.11.2000 brachte mich dazu, diesen und ein paar Folgebriefe wiederzulesen. Das hat mich erneut darin bestärkt, dass es zur Fortführung unseres Austauschs, jedenfalls für mich mit meinem nicht unbedingt „photographischen“ Gedächtnis, dringend erforderlich wäre, eine Art Bilanz zu ziehen und die liegen gebliebenen Fragen zu sammeln. Nur komme ich in nächster Zeit wahrscheinlich leider nicht dazu. Das muss freilich nicht heißen, dass uns nun der Stoff ausgeht. 22. Oktober 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Bitte, nehmen Sie den „Bann gegen Schmitz“ so wenig tragisch wie den „Bann gegen Laska“. Ich erlaube mir allerdings, die etwas komplizierte Geschichte der Schmitz-Rezeption und -Rezeptionsverweigerung mit einer gewissen Aufmerksamkeit zu begleiten, aber mich bei Ihnen deswegen zu beschweren, liegt mir fern. Allenfalls war es ein milder Stich nicht ganz ohne Beimischung von Ironie, daß ich in meinem vorigen Brief auf meine diesbezügliche Bemerkung vom 27.11.2000 zurückkam. Mehr kommt mir darauf an, Ihre Vorstellung von Nietzsche zu berichtigen. Sie haben meinen Hinweis auf die großen Abstände zwischen Nietzsche und Wagner, Nietzsche und Hitler kürzlich mit der Begründung abgewehrt, diese Fragen führten vom Thema unserer Erörterung ab. Das glaube ich nicht. Ich fürchte vielmehr, daß die mangelnde Bereitschaft der Spezialisten, Ihnen bei Ihrer Nietzsche-Deutung (N. als reaktiver Epigone Stirners) zuzuhören, weniger auf Ihre Annahme eines Einflusses Stirners auf N. zurückgeht, als auf Ihr Nietzsche-Bild, das implizit in Ihrer Vorstellung davon, was N. aus einem solchen Einfluß gemacht hat, enthalten ist.

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Sie behaupten in Ihrem Brief vom 9. Oktober, daß Nietzsche sein Konzept „als Reaktion auf Stirner entwickelt“ habe und „eben deshalb so sehr gefeiert“ worden sei, weil er „eine einfache Lösungsmöglichkeit (der von Stirner aufgeworfenen, von M & N verschütteten) Probleme vorgegaukelt“ habe. Das mit der „einfachen Lösungsmöglichkeit“ habe ich schon in meiner Antwort beanstandet. Nietzsche ist ein sehr unübersichtlicher Denker. Aus dieser Unübersichtlichkeit macht er ein manieriertes Maskenspiel. Deshalb habe ich ihn einen „Verwirrspieler“ genannt. Von einer „einfachen Lösungsmöglichkeit“, die er der Menschheit anböte (wie etwa Marx), kann aber nicht die Rede sein. Die Jagd nach belegbaren Quellen der Aufstellungen Nietzsches ist schon fast eine Spezialwissenschaft geworden. Um Ihnen das zu veranschaulichen, lege ich eine Buchbesprechung (über Lanfranconi, Nietzsches historische Philosophie) bei, die ich kürzlich verfaßt habe. Daß Stirner zu den Anregern gehört, ist mir sogar sehr wahrscheinlich, angesichts des sehr auffallenden Schweigens Nietzsches trotz der vielen, auch von Ihnen herausgearbeiteten Verbindungsstellen möglicher Übermittlung solcher Anregungen. Belegen läßt es sich aber nicht, außer durch Overbecks Notiz über Baumgarten, die vieles offen läßt. Wenn Nietzsche aber auch von Stirners Konzept Notiz genommen hat, ist sein Denken doch viel zu windungsreich, als daß es einem einzigen Anreger als Reaktion zugerechnet werden könnte. Auch der Einfluß Schopenhauers, den Sie (ohne ersichtliche Begründung) gegen den von Stirner vermeintlich ausgeübten zurückstellen, war längst nicht so groß, daß man Nietzsches Philosophie insgesamt als Reaktion auf die Schopenhauers treffend charakterisieren könnte. Daß Sie Nietzsche simplifizieren, ist nach meiner Vermutung der tiefere Grund dafür, daß Ihnen die Nietzschekenner Ihre Stirner-Nietzsche-Hypothese nicht abnehmen. Im Gegensatz zu Nietzsche ist Stirner, wie ich ihn sehe, wirklich einfach in seinen Vorschlägen, und das ist seine Stärke (und Ehrlichkeit). Er empfiehlt echten Nihilismus souveräner Frivolität, also das, was Hegel an Friedrich Schlegel entsetzte, vgl. mein „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 75f. Wie nach Ihrer (fragwürdigen) Meinung Nietzsche zu Stirner, steht vielmehr Hegel zu Friedrich Schlegel oder vielmehr zu dem, was er sich aus Angst vor der ironistischen Verfehlung des abendländischen Geistes (mein Hitlerbuch S. 64–70) als Friedrich Schlegel zurechtmachte. Der Friedrich Schlegel Hegels ist in Wirklichkeit Max Stirner mit der geballten Massivität humorloser Ehrlichkeit. Vor diesem ironistischen (im Sinne romantischer Ironie, also todernst, ironischen) Nihilisten haben die Menschen mit gutem Grund Angst. Er ist auch nicht „Ihr“ Stirner. Sie sollten sich nicht als Stirner-Exeget geben, sondern als Laska, der eine neue Wahrheit entdeckt zu haben glaubt, die man nur mit Laskas Augen in Stirner finden kann.

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30. Oktober 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, Ihr letzter Brief (22.10.) hat mich einigermaßen verwundert – wegen der merkwürdigen Missverständnisse, die ich jetzt, nach Dutzenden Briefen nicht mehr erwartet hatte. Ihnen kam es diesmal, wie Sie sagen, darauf an, meine Vorstellung von Nietzsche zu „berichtigen“, und zwar mit folgenden Hinweisen: Nietzsche sei ein sehr unübersichtlicher Denker gewesen, ein Masken- oder auch Verwirrspieler; sein Denken sei sehr windungsreich usw. – als wäre mir das verborgen geblieben; es sei zu komplex, um es als Reaktion auf einen einzigen Anreger zurückzuführen – als hätte ich das je getan. Und wo habe ich, wie Sie behaupten, Nietzsche „simplifiziert“? Ihre Kritik an meiner Formulierung vom 9.10., wo ich Marx und Nietzsche in einen Topf werfe und sage, dass beide deshalb „so sehr gefeiert wurden, weil sie eine einfache Lösungsmöglichkeit der (von Stirner aufgeworfenen, von M & N verschütteten) Probleme vorgaukelten“, akzeptiere ich, allerdings nur insofern, als der Satz nicht klar formuliert ist (wobei mich, wie gesagt, sehr wundert, dass Sie ihn nach all den Briefen und Kenntnis meiner einschlägigen Schriften so gezielt missverstehen). Nietzsche hat, in meiner Ihnen bekannten Sicht, die von Stirner aufgeworfenen Probleme (einer Fortführung der „Aufklärung“) effektiv verschüttet. Diese Lösung, dieses virtuose und hochkomplizierte Verschütten, die N eigentlich für sich selbst fand, getrieben von quälendster eigener Geistesnot, war natürlich eine Schein-Lösung („Primärverdrängung“); aber sie war, wie der große Enthusiasmus beweist, mit dem Nietzsche bald in breiten intellektuellen Schichten, nach einigem Zögern auch von Theologen, gefeiert wurde, auch eine, die alles andere als „unzeitgemäß“ war. Nietzsche bot und bietet, ohne dies beabsichtigt zu haben, Massen von „Philosophen“ und anderen „Denkern“ unerschöpflichen Stoff zum Ausund Hin- und Herwalzen, zum unendlichen Wiederkäuen, Zerreden usw.; er bot und bietet damit die üppige Grundlage für Selbstinszenierungen und gesellschaftliche Anerkennung, für Planstellen, Honorare usw.; Nietzsche bot und bietet aber vor allem die Möglichkeit, die von ihm verschüttete Problematik gar nicht mehr wahrnehmen zu müssen, sie weiter zu verschütten und unter einem Riesenhaufen Geistesmüll zu begraben. Deshalb übersieht man, trotz unendlich feiner biographischer Studien (denken Sie nur an die 2500 S. von Hermann Josef Schmidt zu Kindheit und Jugend Nietzsches), mit schlafwandlerischer Sicherheit genau das, was auf das primäre Movens von Nietzsches rastlosem, lebenslangem Philosophieren hinweist, nämlich sein Stirner-Erlebnis vom Oktober 1865, das ihn erst zu Schopenhauer, dann zu einer Reihe weiterer Denker trieb (ich nenne dieses Übersehen die „Sekundärverdrängung“ der Nietzsche-Forscher; sehr viel deutlicher und besser „beweisbar“ ist das Analogon im Falle Marx).

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Stirner war also, in meiner Sicht, kein „Einfluss“ auf Nietzsche, wie Schopenhauer, Lange, Wagner oder andere (s. Ihre Lanfranconi-Rezension). Diese waren alle – gewiss nicht nur, aber pirmär – Stationen auf der Flucht vor Stirner bzw. Bewältigungsversuche des existenzerschütternden Eindrucks, den er in den beiden Oktoberwochen von 1865 von Stirners „Einzigem“ erhalten hat, Betäubungsmittel, Verdrängungshilfen, Masken oder was immer Nietzsche zu jenem so unübersichtlichen, windungsreichen etc. Denker gemacht hat, als der er ja noch immer viele fasziniert. Sie sehen: ich simplifiziere Nietzsche keineswegs; nur sehe ich, im Gegensatz zu den Nietzsche-Kennern, keinen Grund, das Labyrinth seiner Kompliziertheiten auszuschreiten. Überrascht hat mich auch, dass Sie meinen, ich trete als „Stirner-Exeget“ auf, und mir etwas süffisant anraten, stattdessen „als Laska [aufzutreten], der eine neue Wahrheit entdeckt zu haben glaubt, die man nur mit Laskas Augen in Stirner finden kann.“ Den Schmitz’schen Stirner, der „echten Nihilismus souveräner Frivolität“ empfiehlt, haben gewiss viele Philosophen – nebenbei – gesehen und sich durch ihn nicht weiter irritieren lassen, denn, wie Sie selbst sagen, dieser Stirner ist „wirklich einfach in seinen Vorschlägen“. Den Laska’schen Stirner hingegen, der an einigen Stellen des „Einzigen“ aufblitzt, haben eher Wenige gesehen: Feuerbach, Marx, Daumer, E. v. Hartmann, Nietzsche, Husserl, C. Schmitt u.a. (s. mein „Ein dauerhafter Dissident“); sie haben ihn nicht ohne weiteres als trivial abtun können. Sie hatten vielleicht zwar Laskas Augen, aber nicht Laskas „Herz“ (Sie werden das anders nennen). Jedenfalls trete ich angesichts dieser Vorgeschichte zunächst gerade nicht als Stirner-Exeget auf und frage mich, woher Sie den gegenteiligen Eindruck bekamen. 31. Oktober 2001 Sehr geehrter Herr Laska! Wir haben uns wieder einmal im Kreis gedreht. Am 17. September hatte ich Ihnen geschrieben: „Sie sind nun zwar der Meinung, daß Marx und Nietzsche ihre Konzepte aus dem Erschrecken über Ideen Stirners entwickelt hätten (…), aber das überzeugt mich nicht.“ Darauf haben Sie mit einem erneuten Überzeugungsversuch reagiert, auf den ich in meinen Briefen vom 13. und 22. Oktober kritisch geantwortet habe. Darauf antworten Sie am 30. Oktober mit dem Ausdruck der Verwunderung darüber, daß ich Sie „so gezielt mißverstehen“ könne. Es ist eine unbegründete Unterstellung, mir zuzutrauen, daß ich auf ein Mißverständnis abziele. Das könnte mich kränken; statt dessen beunruhigt es mich, weil die Unterstellung unlauterer Absichten unsere Korrespondenz zu völliger Unfruchtbarkeit verurteilen würde. Jetzt fehlt nur noch der Verdacht einer Abwehr- oder Immunisierungsstrategie, den ich vielleicht, entweder brieflich oder auch nur stillschweigend und kopfschüttelnd, zurückgeben würde. Wir lassen es also

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besser bei dem Stand unserer Stirner-Nietzsche-Diskussion: Sie haben mir Ihre These erläutert, und ich haben Ihnen mit Gründen versichert, daß sie mich nicht überzeugt. Keineswegs will ich damit einen sogar beträchtlichen Einfluß Stirners auf Nietzsche ausschließen. Ich habe, wie Sie sich erinnern werden, vermutet, daß Nietzsche den Slogan „Gott ist tot“ von Stirner übernommen hat, und zwar deshalb, weil nur bei Stirner vor Nietzsche Nietzsches Zusatz „Wir haben ihn getötet“ zu finden ist. Was Stirner angeht, widerspreche ich Ihrer Meinung: „Den Schmitz’schen Stirner, der ‚echten Nihilismus souveräner Frivolität‘ empfiehlt, haben gewiß viele Philosophen – nebenbei – gesehen und sich durch ihn nicht weiter irritieren lassen.“ Ich glaube vielmehr, daß gerade dieser Stirner den meisten von diesen „vielen Philosophen“ als ein zu verdrängendes Schreckgespenst erschienen sein dürfte, weil es für sie eine grauenhafte Aussicht war, ohne die Chance der Ehrfurcht vor dem Heiligen leben zu müssen, ohne Autorität mit unbedingtem Ernst ausgeliefert einer haltlosen emotionalen Verflachung und Verkindischung. „Mein“ Stirner gehört in die von Fichte eingeleitete Geschichte der rezessiven Entfremdung der Subjektivität durch Entdeckung und zugleich Verkennung der subjektiven Tatsachen, Stirner zusammen mit Nietzsche, Wittgenstein, dem Positivismus, der Existenzphilosophie, der romantischen Ironie und Ichangst, dem Dandytum und vielen anderen Erscheinungen des modernen Lebens, die das vielversprechend Unheimliche einer nicht objektivierbaren Schwebelage des Menschen für sich selbst jenseits aller neutral registrierbaren Tatsachen mit sich bringen. In der riesigen Schar der Nihilisten dieser Provenienz, deren Nihilismus auf das Nichts der Objektivierbarkeit seiner selbst für einen jeden zielt, ist Stirner mit seiner einfachen Botschaft der Ehrlichste, und das macht für mich seine Größe aus, nimmt aber seiner Botschaft nichts von ihrer Unheimlichkeit, deren irritierende Kraft nach meiner Meinung durch ihre Einfachheit eher wächst. 6. November 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich bin froh, dass Sie meine Rede vom gezielten Missverstehen in meinem Brief vom 30.10. nicht als Unterstellung unlauterer Absichten aufgefasst haben, denn als solche war sie – das haben Sie nach unserer langen brieflichen Bekanntschaft gespürt – selbstverständlich nicht gemeint. Meine Verwunderung über Ihre Reaktionen auf meine Darlegungen („Überzeugungsversuche“, wie Sie schreiben, auf die Sie „kritisch geantwortet“ hätten) bleibt allerdings auch nach Ihrem letzten Brief bestehen. Aber damit wir uns nicht, wie Sie eingangs bemerken, abermals im Kreise drehen, will ich auf Ihren Vorschlag eingehen und zu unserer StirnerNietzsche-Diskussion kein Wort mehr sagen. (Wegen der zeitlichen und thematischen Koinzidenz lege ich Ihnen aber doch noch eine kurze Erwi-

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derung auf einen meiner Kritiker bei, die ich soeben in der kleinen Zeitschrift des Stirner-Archivs publiziert habe.) Da Sie Stirner nach wie vor kurzerhand in die „riesige Schar der Nihilisten“ einreihen und ihn nur durch den Titel des „Ehrlichsten“ hervorheben (was Sie damit begründen, dass allein er unverblümt zu „frivoler Souveränität“ aufgefordert habe), würde wohl jede Diskussion zwischen uns über irgendeinen der Denker, deren Reaktion auf Stirner ich in „Ein dauerhafter Dissident“ knapp skizziert habe – z.B. über Marx’ Reaktion auf Stirner und die Reaktionen der Marxforscher auf diese Reaktion – Ihrerseits mit dem lapidaren Satz enden: „Das überzeugt mich nicht.“ Denn ein glasklares „Geständnis“ hat keiner hinterlassen, und meine heuristischen Konstruktionen machen auf Sie keinen Eindruck. Ich weiß aus unseren früheren Diskussionen, warum das so ist. Sie wiederholen ja auch jetzt wieder Ihre Auffassung, wonach Stirner die „grauenhafteste Aussicht“ eröffnete, „ohne die Chance der Ehrfurcht vor dem Heiligen leben zu müssen, ohne Autorität mit unbedingtem Ernst, ausgeliefert einer haltlosen emotionalen Verflachung und Verkindischung.“ Auch auf diesem grundsätzlichen Gebiet habe ich Sie nicht überzeugen können: nicht davon, dass ein Leben mit Empfinden für unbedingten Ernst und mit emotionaler Tiefe keineswegs gebunden ist an die traditionelle Enkulturation in eine „Wahngemeinschaft“; nicht davon, dass nach der präzedenzlosen „Epochenschwelle“, die ja auch Sie postulieren, sich gerade die Enkulturation und Kultur (in Wechselwirkung) des Menschen (zunächst des okzidentalen) ändern müssten; nicht davon, dass die von Ihnen wie von mir in ähnlicher Weise negativ beurteilten Erscheinungen und Tendenzen der heutigen Zeit letztlich daher rühren, dass ein wirkliches Bewusstsein von jener Epochenschwelle sich noch nicht gebildet hat und man die durch sie gestellten Probleme – nach Depotenzierung der Haupt-Problem-Verdränger Marx und Nietzsche – mit einer nie dagewesenen, hektischen Massenproduktion von (meist angelsächsischer) Philosophie weiter verdrängt. – Welche Perspektive die Schmitz’sche Philosophie, die ich nicht in diesem „mainstream“ sehe, für die Zeit nach der Epochenschwelle, also für unsere Zeit, eröffnet, ist mir allerdings auch im Verlauf unseres Austausches, trotz mehrmaligen Nachfragens, weitgehend unklar geblieben. Mit dieser Frage begann, wenn ich mich recht erinnere, unser Briefwechsel vor anderthalb Jahren – was ich auch deshalb erwähne, weil ich, wie Sie, das Drehen im Kreise eigentlich vermeiden möchte. 12. November 2001 Sehr geehrter Herr Laska, mit der Antwort auf Ihren Brief vom 6.11. zögere ich fast verlegen, weil ich darin keinen Schimmer für die Aussicht finde, wie wir aus den Kreisen, in denen wir uns mit einander drehen, herausfinden könnten. Für Ihre

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Nietzsche-Deutung, die dessen philosophische Entwicklung auf einen von ihm 1865 empfangenen erschütternden Schock durch vermeintliche Ideen Stirners über Vollendung der Aufklärung zurückführt, werden Sie meiner Vermutung nach kaum Anhänger finden. Sie haben sich einen Roman ausgedacht, der zwar in sich konsequent und insofern glaubwürdig ist, aber in den geschichtlichen Tatsachen, auf die Sie sich berufen, keine realistische Stütze findet. Davon bleibt nur, daß das Verhältnis Nietzsches zu Stirner Rätsel aufgibt. Auch haben Sie natürlich Recht, daß die Herabsetzung Stirners mit solchen Beiworten wie „Kleinbürger“ oder „bloßer Vorläufer“ abwegig und unvernünftig ist. Im zweiten Teil des Briefes reden Sie an mir – an dem, was ich Ihnen geschrieben habe – vorbei. Sie berufen sich darauf, daß ich die Ehrfurcht vor dem Heiligen nicht preisgeben will. Was aber machen Sie daraus? Daß ich unbedingten Ernst und emotionale Tiefe an die Enkulturation in einer Wahngemeinschaft bände; daß ich die Enkulturation und Kultur des okzidentalen Menschen unverändert beibehalten wolle; daß ich Marx, Nietzsche und die angelsächsischen Philosophen der Gegenwart nicht als Verdränger der durch die Epochenschwelle um 1800 gestellten Probleme sehen wolle. Wo habe ich denn so was gesagt? Viel von solchen Mißverständnissen liegt meines Erachtens daran, daß Sie Ihre „Vision“ von Vollendung der Aufklärung bisher nur unklar und mir kaum verständlich entfaltet haben. Ich habe Ihnen solche Bruchstellen, wo mein Verständnis aussetzt (z.B. „rationales Über-Ich“), früher oft bezeichnet. Vielleicht sollten Sie darauf zurückgehen. Vom 16.–23.11. werde ich verrreist sein. 23. November 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich habe mit der Antwort auf Ihren Brief vom 12.11. etwas gewartet, weil Sie darin eine Reise angekündigt haben, von der Sie erst heute zurück sein wollten. Allerdings sehe ich, wie auch Sie, kaum noch eine Möglichkeit, zumindest in unserer Diskussion der Stirner-Nietzsche-Frage weiterzukommen. Sie kennen meine wesentlichen Argumente (die ich nur noch durch eine Reihe bisher unveröffentlichter Briefe untermauern könnte, freilich nicht durch ein „Geständnis“ Nietzsches) und meine Sichtweise – eingebettet zunächst in den Kontext der Stirner-Rezeption bzw. -Abwehr anderer prominenter Denker, weiterhin in den Kontext der „Nicht“-Rezeption/Abwehr der „Stirner’schen“ Kernidee, wie ich sie im Falle La Mettrie ein Jahrhundert vor und im Falle Reich ein Jahrhundert nach Stirner eruiert habe – und resümieren dennoch: „Sie haben sich einen Roman ausgedacht, der … in den geschichtlichen Tatsachen, auf die Sie sich berufen, keine realistische Stütze findet“; und Sie setzen die Prophezeiung hinzu, ich würde dafür „kaum Anhänger finden.“ Ein Roman ohne Leser …

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Diese Prophezeiung, die ja fast wie eine Drohung klingt für den Fall, dass ich nicht abschwöre, empfinde ich – insbesondere aus Ihrem Munde – als besonders merkwürdig, ja befremdlich. Ihnen kann doch gar nicht entgangen sein, dass nichts von dem, was ich geschrieben habe, auch nicht meine „Nietzsche-Deutung“, auf die Werbung von Anhängern abzielt; dass ich nichts unter dem Druck geschrieben habe, einem akademischen Mentor oder Promotor genehm zu sein, nicht einmal einem Verlagslektor, der sich ausrechnet, was beim Lesepublikum gut ankommt. Natürlich freue ich mich über jeden verständigen Leser, aber das heißt keineswegs, dass ich „Marktforschung“ betreibe, bevor ich publiziere, und nach deren Ergebnis meine Gedanken ausrichte. Nicht weniger befremdlich erscheint mir Ihre Charakterisierung meiner Nietzsche-These, die ja nicht isoliert, sondern im Einklang mit meinen sonstigen theoretischen Konstrukten steht, als „ausgedachten“ Roman ohne Grundlage in der historischen Realität. Denn gerade weil mir nicht nur die Schriften Nietzsches, sondern die meisten Texte der Philosophie, ob primär oder sekundär, ob alt oder neu, wie monströse, labyrinthische „Mega-Romane“ vorkommen, die mir bei meinem „Michbesinnen auf mein Michfinden in meiner Umgebung“ vorwiegend hinderlich, verwirrend und, vor allem, lebenszeitraubend wären, habe ich, mit einer gehörigen Portion Skepsis und Vertrauen in die eigene Kraft, einen anderen Weg als die üblichen gesucht und beschritten. Nur weil ich mich nicht, wie die allermeisten (besoldeten oder auch unbesoldeten) Philosophie-Experten, in das Rattenlaufrad der ewigen Texteverwertung begeben habe, um in diesen wahrhaft unendlichen Romanen nach Stücken philosophischer Weltdeutung zu fahnden und aus ihnen neue Romane zu fabrizieren, habe ich meinen Weg gefunden – allerdings nicht, ohne zu fragen, welchen Sinn dieses ubiquitäre Romanproduzieren und -konsumieren denn hatte und hat. – Es bleibt natürlich die Möglichkeit, dass auch ich nur einen Roman – oder gar ein schlechtes Kapitelchen – abgeliefert habe. Nur: bisher konnte mich noch niemand davon überzeugen. Mein Weg … – Da kommt mir beim Lesen Ihrer Charakterisierung vom „Roman, der zwar in sich konsequent ist, aber …“ natürlich der Verdacht in den Sinn, dass dies eine vornehm-verblümte, rücksichtsvoll-schonend sein sollende Ausdrucksweise ist für die fast schon sprichwörtliche Rede vom in sich konsequenten – Wahn. Nun, die Tatsache, dass ich bisher für meine Idee(n) keine Anhänger gefunden habe, mag für eine solche Einschätzung sprechen; aber: mit dieser Situation hat sich doch eigentlich jeder auseinanderzusetzen, der einen wirklich neuen, weitgreifenden, nicht nur ein Detail betreffenden Gedanken in die Welt setzt (ein Ereignis, das, wie Sie sicher bestätigen werden, in unserer Zeit der – auch – philosophischen Massenproduktion kaum noch vorkommt). Ja, nicht nur das: der Produzent eines solchen Gedankens muss sich auch noch erklären können,

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warum „die Anderen“ – in meinem Fall sogar: die mir mit ihren materiellen und intellektuellen Ressourcen weit überlegenen Experten – sich zwar ausgiebig, geduldig und manchmal sogar engagiert mit langatmigen und konfusen Texten ihrer Kollegen auseinandersetzen, nur nicht mit seinen/meinen. Warum gibt es im „mainstream“ so viel geistigen Müll – ohne dass dies auch nur beanstandet wird? Haben Sie sich zu diesem Thema irgendwo geäußert? 24. November 2001 Sehr geehrter Herr Laska, in Ihrem Brief vom 23.11. stellen Sie sich die Frage, ob jemand wie ich Anlaß finden könnte, Ihren Weg, etwa soweit er über Stirner und Nietzsche führt, für Wahn (wahnhaft) zu halten. Auch sonst gehen Sie ja freigiebig mit dem Wahnvorwurf um, etwa in Ihrem vorigen Brief, worin Sie mir, weil ich mich von der Ehrfurcht und dem Heiligen nicht lossagen will, die Absicht unterstellen, der Menschheit eine fortwährende Enkulturation in Wahngemeinschaften zuzumuten. Nun will ich Sie in der Tat nicht als wahnsinnig ausgeben, und ich kam, als ich meinen vorigen Brief schrieb, nicht auf den Gedanken, so etwas anzudeuten, aber ich beobachte bei Ihnen eine Neigung zu vorgreifenden Unterstellungen, die mitunter eine gewisse Ähnlichkeit mit wahnhaftem Mißtrauen hat. So, wenn Sie im gestrigen Brief meine eher melancholisch gefärbte Vermutung, daß Sie wahrscheinlich wenige Anhänger oder keine für Ihren Stirner-Nietzsche-„Roman“ finden würden, wie eine Drohung auffassen für den Fall, daß Sie nicht abschwören. Nichts von Drohung, nichts von Abschwören. Ich habe den größten Respekt vor der Freiheit meiner Mitmenschen. Fast wie Stirner. Aber wenn ich mir einen Rat erlauben darf: Sie haben, ausgehend von einer wachen und scharfsichtigen Sorge vor dem Ersticken des Lebens an den Konsequenzen der Aufklärung und ihrer Voraussetzungen (z.B. des Christentums), den klaren Weg des Durchmarsches gewählt: Die Vollendung der ganzen Aufklärung soll das Elend der Gefangenschaft in der halben heilen. Dazu haben Sie sich eine Geschichte zurechtgelegt, die Ihre Konzeption historisch zu rechtfertigen scheint, wieder gestützt durch eine scharfsichtige Beobachtung, daß nämlich die schroffen einseitigen Denker Lamettrie, Stirner und Reich beim kollektiven Gedächtnis im Schatten je eines Anderen stehen, der ähnliches wendiger und elastischer ausformte. Mit dieser Stellungnahme haben Sie sich eingegraben, ehe Sie noch Ihr Hauptziel „Vollendung der Aufklärung“ über einige Schlagworte hinaus so ausgearbeitet und differenziert hatten, daß es für Befragung von verschiedenen Seiten ansprechbar und ergiebig diskutierbar wird. Jetzt sitzen Sie fest. Um weiter zu kommen, müßten Sie erst einmal, ohne Scheu vor der Verstrickung in die „Romane“, die Denkweisen Anderer, sich dazu rüsten, diesen nicht nur hartnäckig, sondern auch beweglich wie ein Fechter begegnen zu

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können, und dafür erst einmal Ihre „Vision“ so ausarbeiten, daß sie mehr wird als ein Polarstern, auf den Sie starren, nämlich ein Sternbild, das man auch drehen und von verschiedenen Seiten betrachten kann. Die Probleme, die in unserer Korrespondenz zur Sprache kamen, könnten Ihnen eine Hilfe sein. Oder kann ich Ihnen anders nützen, damit Sie mit der Entwicklung Ihrer Ideale, die ich wahrscheinlich nie (ganz) teilen werde, weiterkommen? Gerade habe ich in Bad Homburg vor Diabetologen über Moral und Ethos gesprochen, Grundbegriffe der Ethik, die für Stirner wie für Nietzsche, und also wohl auch für Sie, als Steine des Anstoßes wichtig waren. Wenn Sie stehen bleiben, könnte sich Ihr Graben vielleicht wirklich eines Tages mit Mauern des Wahns verpanzern. Ich hoffe, Sie können sich und Anderen entwickeln, was Sie wollen, was nicht „abschwören“ bedeutet. Aber ohne Bereitschaft zur Revision eigener Voraussetzungen kommt man als Historiker nicht durch. Mögen Sie besseren Erfolg haben! 4. Dezember 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, in Ihrem Brief vom 20. Juni d.J. charakterisierten Sie unseren damals immerhin schon ein Jahr andauernden und einige Dutzend Briefe umfassenden gedanklichen Austausch als eine „bei aller Schärfe niemals gehässige Auseinandersetzung“ – wobei ich heraushörte und -höre, dass dies nach Ihren Erfahrungen keine Selbstverständlichkeit ist. Diesen Stil haben wir seither, wie ich meine, beibehalten, ohne dass wir uns deswegen groß anzustrengen hatten – so auch in den letzten Briefen. Sie haben nun bemerkt, dass ich mit dem Wort Wahn recht freigiebig umging, und haben mir insbesondere (weil bereits zum zweiten Mal) angekreidet, dass ich Ihnen unterstelle, Sie würden, da Sie an der Notwendigkeit von Ehrfurcht und Heiligem (bzw. an der Notwendigkeit, dem Kind Ehrfurcht vor dem ohnehin existierenden Heiligen einzuflößen) festhielten, die Enkulturation eines jeden Neugeborenen in „Wahngemeinschaften“ als Grundbedingung der Menschwerdung ansehen. Dazu möchte ich doch ein paar Worte sagen, freilich ohne unsere alte Debatte zu duplizieren. „Wahngemeinschaft“ ist natürlich ein plakativer und polemischer Begriff, den ich weniger aus Gründen der Schärfe denn aus Gründen der Deutlichkeit in unsere Diskussion eingebracht habe, und zwar erst, nachdem ich glaubte, dass nicht mehr grob missverständlich sein konnte, was ich damit meine: primär natürlich die Religionsgemeinschaften, weiterhin aber auch alle säkularen, humanistischen etc. „Wertegemeinschaften“ – in Anlehnung an Stirners Diktum über seine radikalen Zeitgenossen, die, wie er sich ausdrückt, zwar das „Jenseits außer Uns“ beseitigt, das „Jenseits in Uns“ (bei mir: das irrationale Über-Ich) aber unangetastet gelassen hatten: „Unsere Atheisten sind fromme Leute.“

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Ich hatte als kennzeichnend für diese, d.i. für alle bisherige Enkulturation hervorgehoben, dass darin „Werte“ bzw. „Werthaltungen“ dem Menschen in einem sehr frühen Entwicklungsstadium, vorwiegend durch unbewusste Mechanismen (möglicherweise auch pränatal), implantiert werden: dass ihm ein (deshalb) irrationales Über-Ich introjiziert und etabliert wird, das später als eine Art inappellierbarer Instanz im Menschen fungiert. Sie hatten meine Sicht modo grosso bestätigt, aber diese Art der Menschwerdung nicht, wie ich, als eine angesehen, die im Zuge der „Aufklärung“ über Generationen hinweg abzubauen wäre, sondern, im Gegenteil, gesagt, es müsse auf jeden Fall eine Wert-Grundlage geben, die es jedem überhaupt erst ermögliche, sich (von ihr) zu emanzipieren: auf ein beliebig hohes Niveau, jedoch niemals „ganz“, d.h. zu „totaler Autonomie“. Der Vorgang sei, cum grano salis, in Analogie zum Erwerb und späteren Gebrauch der Muttersprache zu verstehen (Ihr Brief vom 17.9. d.J.). Ich hatte geltend zu machen versucht, dass der traditionelle Prozess der Enkulturation in psychophysischen Modifikationen des Organismus besteht, die – wie ein Blick in die historische und aktuelle Wirklichkeit zeigt – bei den allermeisten Menschen dauerhaft die Fähigkeit zerstören, sich von eben diesem frühen Introjekt in nennenswertem Maße zu emanzipieren, und auf Reichs psychosomatisches Konzept des Charakters bzw. der Charakterpanzerung, der Biopathien usw. verwiesen. Diese Art der Menschwerdung, die seit je automatisch Subjekte erzeugt, bei denen, kurz gesagt, das irrationale Über-Ich die spätere Ausbildung eines rationalen Über-Ichs (wenn Einer den Anderen als Gleichen erkennt – „Ethik“) erschwert und seinen Einfluss konterkariert (wobei ersteres im Konfliktfall „seine“ quasi archaischen Werte immer durchsetzt), blieb im Hauptstrang der Aufklärung (trotz allen Geredes vom „Neuen Menschen“) unangetastet; und das ist meiner Meinung nach der entscheidende Grund für das Veröden und das so plötzliche wie betretene Verstummen der Aufklärung Mitte des 20. Jahrhunderts (vorgeblich ernüchtert, über Aufklärung aufgeklärt, durch „Stalin und Hitler“). Im Großen und Ganzen scheinen Sie mir das abzunehmen, wenn Sie schreiben (am 24.11), ich hätte den klaren Weg des Durchmarsches gewählt und wolle durch die Vollendung der ganzen Aufklärung das Elend der halben heilen. Auch meine Ortung der drei Denker La Mettrie, Stirner und Reich als jeweils singuläre Vertreter dieser oben skizzierten Position in Ihrem Jahrhundert scheint Ihre Anerkennung zu finden. Aber Sie lehnen die von mir anvisierte quasi evolutionäre (und m.E. mit der „Entdeckung der Subjektivität“ sozusagen auf dem Programm stehende) „Vollendung der Aufklärung“ ab. Und mir ist, wie zu Beginn unseres Austausches, nicht klar, was Sie selbst als Konsequenz der auch von Ihnen postulierten präzedenzlosen Epochenschwelle sehen; wie Sie die weitere, konsequente Entwicklung der okzidentalen (nicht nur Geistes-)Welt sehen oder gern sehen würden. Am 20.3. d.J. schrieben Sie mir: „Die Hindu-Gottheiten, beson-

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ders Shiva, Shakti, Kali konkretisieren in ihren Figuren plakathaft ein Potential atmosphärisch ergreifender Macht, das mir noch nicht ausgeschöpft zu sein scheint und sehr wohl einmal auf Europa übergreifen könnte.“ Ich habe mir darauf keinen Reim machen können. Natürlich sehe ich, dass ich für meine Sicht derzeit noch kaum „Anhänger“ habe. Ich sehe auch, dass es wichtig ist, so zu schreiben, dass meine Ansichten, wie Sie sagen, „von verschiedenen Seiten ansprechbar und ergiebig diskutierbar“ sind. Das ist genau das, was ich tue. Meine rezeptionsgeschichtlichen Arbeiten entsprangen nicht der Freude am Wühlen in alten Büchern und Dokumenten; ich meine vielmehr, dass die Konfrontation des Lesers mit den belegbaren Fakten der, wie ich sie nenne, Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichten meiner drei Helden am besten dazu geeignet ist, den unerhörten Verdacht zu erzeugen, dass da etwas Gewaltiges schief gelaufen ist. Allerdings sehe ich, auch an Ihrem letzten Brief, dass dieser von mir als Königsweg gedachte Zugang zu einem epochalen Problem gar nicht beschritten wird, wenn von vornherein nicht für möglich gehalten wird, dass es dieses Problem überhaupt gibt. Sie sagen z.B., La Mettrie, Stirner und Reich (LSR) seien „schroffe und einseitige Denker“ gewesen; Ihre Gegenspieler Diderot, Marx und Freud (DMF – um nur diese als Repräsentanten zu nennen) hätten „Ähnliches wendiger und elastischer“ vertreten, seien deshalb erfolgreich gewesen. Meinen Versuch, LSR und DMF zu Antipoden zu stilisieren, scheinen Sie deshalb für meinen großen Irrtum zu halten, denn DMF haben LSR zwar nicht öffentlich kritisiert und stattdessen mit übelsten Mitteln bekämpft, aber dies in Ihren Augen (?) zu einem höheren Zweck, nämlich, um das, was alle im Grunde gemeinsam wollten (D so wie L, M so wie S, F so wie R) praktisch-politisch durchzusetzen, und wenn schon nicht in vollem Umfange oder in Reinform, so doch wenigstens in eben dem erreichbaren Umfange. Sie bescheinigen mir nun, neben Scharfsichtigkeit, eine ähnlich schroffe und einseitige Denkweise und Haltung, wie Sie sie LSR zuschreiben. Ich säße fest, hätte mich eingegraben, starrte auf meine „Vision“ wie auf einen Polarstern, etc. Wenn ich dies nicht änderte, bestehe die Gefahr, dass ich mich mit Mauern des Wahns verpanzere. Ich solle Bereitschaft zur Revision eigener Vormeinungen entwickeln, die Dinge von verschiedenen Seiten betrachten, beweglich wie ein Fechter agieren, mich mit meinem „Roman“ in die „Romane“ der Anderen verwickeln lassen etc. Diese Ratschläge sind sicher sehr freundlich gemeint; ich kann sie gewiss für viele Lebenslagen gebrauchen, nicht jedoch für meine hier in Rede stehende Situation. Dass ich mich in einen „Wahn“ verliere – oder schon verloren habe –, befürchte ich nicht, denn ich bin eigentlich jemand, der von seinem ganzen Werdegang her (Volksschule, Lehre, 2. Bildungsweg, Abschluss TH, einige Jahre Ingenieur) ein gesundes Verhältnis zur Realität

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hat. Mein Dilettieren auf dem Gebiet der „Philosophie“ hat andere Antriebe als den, mir unter Experten Gehör und Anerkennung zu verschaffen, den Feuilletons zuzuarbeiten oder Bestseller zu fabrizieren: sehr persönliche, wie Sie schon an dem von keiner Stelle geförderten Aufwand erkennen mögen, den ich treibe. Wie schon im letzten Brief gesagt: ich publiziere, trivialerweise, um andere Menschen zu erreichen, sogar sehr viele, eigentlich alle. Deshalb schreibe ich so klar und deutlich wie möglich; deshalb stelle ich meine Gedankengänge so stringent dar wie möglich. Trotzdem erreiche ich nur sehr wenige Menschen – aus verschiedenen sehr bedenkenswerten Gründen. Jedenfalls schiele ich nicht auf Leser; gehe nicht vorauseilend Kompromisse mit irgendwelchen Erwartungen ein, um so vielleicht einige „Anhänger“ zu werben. Es scheint zur Zeit fast so, dass ich als noch „schrofferer“ Autor gesehen werde als meine LSR, denn diese haben, jeder für sich, immerhin auch heute noch ein paar „Anhänger“, unter denen es allerdings nur sehr sehr wenige gibt, die auch Laska schätzen. Nur leider werden Ablehnung und Kritik kaum je artikuliert. Sie nennen als mein „Hauptziel“ die „Vollendung der Aufklärung“. Nun, das wäre denn wohl doch zu verstiegen und könnte letztendlich Ziel nur sein, wenn „alle“ daran arbeiten. Ich habe eigentlich nur das getan, was Sie als Philosophieren bezeichnen: ich habe mich auf mein Michfinden in meiner Umgebung besonnen. Natürlich habe ich dabei auch die vorgefundenen Philosophien geprüft, vornehmlich freilich die mit aufklärerischem Anspruch; und ich hätte mir viel Mühe sparen können, wenn ich eine gefunden hätte, die ich, vielleicht etwas modifiziert, hätte übernehmen können. Mein Philosophieren, das nichts Esoterisches an sich hat, hat mich – nach Ausbildung trüffelschweinartiger Fähigkeiten oder auch, wenn Sie so wollen, mittels „serendipity“ – zu „LSR“ geführt. Warum hat kein Einziger meiner Generation diesen Weg ebenfalls gefunden? Warum gehen ihn so wenige, nachdem er gebahnt ist? Das sind Fragen, die mich beschäftigen – insbesondere angesichts dessen, was die auf Hochtouren laufende Produktion von „Philosophie“ permanent hervorbringt. Zu meinem Trost glaube ich, dass ich nicht der Einzige bin, der sich in einer solchen oder doch zumindest formal ähnlichen Situation befindet. 6. Dezember 2001 Sehr geehrter Herr Laska, Ihr heute empfangener Brief vom 4. Dezember hat mich gefreut, weil Sie darin ausführlich und mit sorgfältigem Bemühen um Fairness unsere Überzeugungen gegenüberstellen. Vielleicht kommen wir dadurch etwas weiter. Das gilt besonders für Ihre Bemerkungen über Enkulturation auf der ersten Seite. In der Tat halte ich die Alternative „Enkulturation oder Autonomie“ für schief. Nach meiner Meinung hat das Individuum höch-

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stens relative Autonomie, geschöpft aus implantierenden zuständlichen Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, wozu auch ein Nomos, ein programmatischer Gehalt, gehört, ohne den das Individuum nicht einmal sprechen könnte. (Sprachen sind Programmganzheiten.) Eine Autorität hat der Nomos, wenn er für das Individuum unverkennbare Quelle verbindlicher Geltung von Normen ist, und diese Verbindlichkeit kann sogar unbedingten Ernst im früher definierten Sinn haben; wenn es sich um die Autorität von Gefühlen handelt, ist sie dann die Quelle des Heiligen oder Göttlichen. An der Autorität mißt sich die Autonomie des Individuums in kritischer Prüfung; nur wenn es dabei gar keinen Standpunkt findet, von dem aus es der Norm seine Bereitschaft zum Gehorsam unbefangen entziehen könnte, hat deren verbindliche Geltung für es unbedingten Ernst. Ohne solchen unbedingten Ernst versandet die Autonomie in oberflächlichem Spiel von Launen. Soweit meine Meinung. Was haben Sie eigentlich dagegen? In Ihrem Brief wenden Sie nur die Schwäche der meisten Menschen ein, denen von der traditionellen Enkulturation durch Modifikationen ihres Organismus die Fähigkeit, sich zu emanzipieren, genommen werde. Wenn es wirklich so sein sollte, brauchte uns das nicht zu entzweien. Ich hänge ja nicht an traditionellen Formen als solchen, und die Schwäche der Menschen könnte man vielleicht pädagogisch aufbessern, davon abgesehen, daß es für große Neuerungen in der Kultur immer auf kleine produktive Minderheiten ankommt, die sich nach Toynbee erst zurückziehen und dann mitreißend wiederkehren. Ich bin ganz wie Sie der Meinung, daß die Indoktrination der Menschen (wohl ein wesentliches Stück der von Ihnen so genannten Enkulturation) lange, besonders unter christlichen Vorzeichen, zu weit getrieben wurde. Spätestens seit 1968 hat sich das in der öffentlichen Meinung aber umgekehrt. Die seither forciert ausposaunten Emanzipationsparolen haben mehr Übel als Gutes gebracht. Immerhin könnten wir uns über Mißstände bei der Enkulturation mehr oder weniger einigen. Damit hört es aber auf, wenn Sie eine Vollendung der Aufklärung postulieren, die im Abschied vom Heiligen bestehen soll. Allerdings verbinden Sie die Idee dieser Vollendung mit dem Ersatz eines irrationalen Überichs durch ein rationales. Da komme ich nicht mit, wie ich Ihnen schon oft geschrieben habe. Allenfalls kann ich mir etwas unter dem irrationalen ÜberIch vorstellen, sofern tradierte Autoritäten gemeint sind, die mit oft (nach unserem heutigen Urteil) unvernünftigen Inhalten eine Starrheit verbinden, die dem Individuum wenig Spielraum zu kritischer Auseinandersetzung und lockerer Selbstfindung läßt. Daran hat es in der Tat nicht gefehlt. Aber Ihr „rationales Über-Ich“ ist mir vollends mysteriös. Allerdings machen Sie dazu in Ihrem Brief erstmals eine Angabe: Ein rationales Über-Ich soll vorliegen, „wenn Einer den Anderen als Gleichen erkennt“. Das aber macht mich mißtrauisch. Für eine der wichtigsten Aufgaben des Nomos einer implantierenden Situation halte ich die Bestimmung von Rängen zur

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Rechtfertigung von Bevorzugung und Benachteiligung wegen anerkannter Ungleichheit. Ohne solche Rangordnung gibt es bei Zusammenstoß der konträren Ideale von Freiheit und Gleichheit nur entweder den härtesten Despotismus durch Gleichmacherei, die sich in eine Privilegierung der zur Aufsicht unentbehrlichen Elite aufhebt (Maos Kulturrevolution, Pol Pot), oder ungerechtfertigte Ausschweifung der gerade Mächtigeren („Ellenbogengesellschaft“). Die Ideale der Französischen Revolution helfen dagegen nichts. Die Brüderlichkeit zeichnet keine Ränge vor, denn Brüder sind als solche gleich; sie kann also zwischen Freiheit und Gleichheit nicht vermitteln. Von der Ablösung der Autorität durch Autonomie halte ich also nichts; beide gehören zusammen, ihre fruchtbare Spannung ist das Schwungrad der Kultur. Autorität muß durch Kritik auf die Probe gestellt werden, aber eine aller Autorität überlegene Kritik wäre ein großes Unglück, ist aber auch unmöglich, denn Kritik besteht in der Berufung auf Evidenz und diese im Aufscheinen der Autorität des Seins, der Wirklichkeit. Sie beschweren sich, nicht genügend Auskunft darüber zu erhalten, wie ich die weitere Entwicklung der okzidentalen Welt nach der durch Fichtes Entdeckung der strikten Subjektivität der (von ihm aber als solche verkannten) subjektiven Tatsachen gesetzten Epochenschwelle gern sehen würde. Ihre Entbehrung ist nicht zufällig, denn ich versage mir in der Tat das Ausmalen einer Utopie. So viel habe ich vielfach vorgezeichnet, daß es mir nach Entwertung der Projektionen darum geht, dem Lebenswillen Gelegenheiten zu zeigen, sich in der Gegenwart zu verankern, statt nur wegen der Hoffnung, daß noch etwas ganz Anderes kommt, das Leben zu bejahen. Es käme also auf eine Intensivierung des gegenwärtigen Lebens an; als einen Beitrag dazu habe ich die Ermutigung des vitalen Stolzes ausgegeben. Meine Arbeit als Phänomenologe verfolgt den Zweck, den Spielraum für gegenwärtiges Leben bis zur klaren Besprechbarkeit auszuleuchten; deshalb der Titel meines bisher letzten Buches „Der Spielraum der Gegenwart“. Konkreter will ich nicht werden. Das Denken kann dem Leben zwar vorleuchten, ihm aber nicht die Gestaltungskraft zum Erfinden konkreter Formen abnehmen oder ersetzen. Der größte Fund auf dem Weg der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart in der abendländischen Geschichte war vielleicht die Entdeckung oder Erfindung der geschlechtlichen Paarliebe, in der die Faszination des Aphrodisischen sich mit der Treue gemeinsamer Verwaltung einer zuständlichen implantierenden Situation verbindet, und später die Ablösung dieser Liebe von einem Verankerungspunkt, um dessentwillen geliebt wird; das war eine Errungenschaft der Dichter (Catull, Properz, Gottfried von Straßburg), die sich vom Diktat der Philosophen emanzipierten. Ich habe diese Entwicklung in meinem Buch „Die Liebe“ verfolgt. Andere wichtige Beispiele sind, sämtlich aus

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dem 18. Jahrhundert, die große Barockmusik, die ich besonders liebe, der Walzertanz und die französische Salonkultur. Die das Lebenkönnen wesentlich weiterführenden kulturellen Formen sind geniale Errungenschaften, die nicht ausgedacht, nicht im utopischen Denken vorweggenommen werden können. In diesem Zusammenhang ist auch mein Hinweis auf die Hindu-Gottheiten zu verstehen. Ich vermute, daß der von mir phänomenologisch aufgeschlossene Leib, das Gegenstandsgebiet des Spürens am eigenen Leibe (einschließlich des affektiven Betroffenseins von Gefühlen) und der leiblichen Kommunikation, noch ein erhebliches Potential für Entdeckung von Formen der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart in sich trägt, im Spielraum von primitiver und entfalteter Gegenwart, in dem auch die Subjektivität der von Fichte entdeckten subjektiven Tatsachen angesiedelt ist. 16. Dezember 2001 Sehr geehrter Herr Schmitz, die Zeit eilt dahin, und manchmal dauert es leider etwas länger, bis ich dazu komme, einen Brief von Ihnen zu beantworten, so auch den letzten vom 6.12. Darin erklären Sie auf der ersten Seite, Sie hielten die Alternative „Enkulturation oder Autonomie“, die Sie offenbar als von mir gestellt betrachten, für schief. Sie fassen dann noch einmal kurz Ihre diesbezüglichen und in unseren Briefen schon oft ventilierten Auffassungen (hier Nomos, dort Launenspiel) zusammen und enden mit der Frage, was ich eigentlich dagegen hätte. Es ist merkwürdig, dass wir hier, trotz unseres umfangreichen Austauschs, immer noch auch Verständigungsprobleme zu haben scheinen. Direkt anschließend sprechen Sie, wie ich, nicht mehr von der Enkulturation an sich, sondern von der „traditionellen Enkulturation“. Ich meine ja auch, dass eine Enkulturation immer stattfinden wird; dass deshalb deren „Abschaffung“ als Programm nicht „gefährlich“, sondern schlicht unsinnig ist, nur meine ich, sie müsse sich an jener präzedenzlosen Epochenschwelle, von der wir schon oft sprachen, grundlegend wandeln: von „unbewusst“ zu „bewusst“ (um es hier bei Stichworten zu belassen). Sie referieren dann, mein Einwand gegen die traditionelle Enkulturation bestehe darin, dass diese die meisten Menschen so schwäche, dass ihnen die Fähigkeit zur Emanzipation genommen werde. Richtig. Ich verstehe Sie bloß nicht darin, dass Sie dem ein „nur“ voransetzen. Meines Erachtens ist das der springende Punkt. Sie sagen zwar, man könne diese Schwächung durch pädagogische Einflüsse wieder wettmachen. Aber abgesehen von den auf der Hand liegenden Begrenzungen solcher Einflussnahme: warum eigentlich erst schwächen und dann wieder – und zu allermeist vergeblich – stärken? Sie referieren weiterhin in dem schon herangezogenen Satz, dass ich die Schwächung der Emanzipationsfähigkeit in einer „Modifikation des

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Organismus“ sehe. Richtig. So hatte ich das in Anlehnung an Reichs Konzept der Charakterformation und -panzerung genannt. Aber dann, anschließend auf S. 2, scheinen Sie zu meinen, dem könne durch weniger Indoktrination als früher (unter christlichem Vorzeichen), aber mehr als heute (im Gefolge von „1968“) erfolgreich gegengesteuert werden. Ich meine demgegenüber, dass es nach der ersten Etappe der traditionellen Enkulturation, nach der großteils unbewussten, nonverbalen, präkognitiven, „physiologischen“ Modifikation, genauer: Schwächung des Organismus kein richtiges Maß an Indoktrination mehr gibt – sofern man sich Menschen wünscht, die das auszeichnet, was Sie weiter unten vielleicht mit „vitalem Stolz“ meinen, Menschen, die ihren Lebenswillen in der Gegenwart verankert haben, Menschen, wie ich hinzufügen möchte, denen es ermöglicht wurde, sich ein effektives „rationales Über-Ich“ zu setzen (weil ihnen nicht vorgängig, „präkognitiv“, mit jenen frühen Charakterbildungsprozessen ein deshalb irrationales eingegeben wurde). Auch dem Verständnis des letzten Satzes scheinen noch Hindernisse im Wege zu stehen. Weil ich schrieb, ein irrationales Über-Ich stehe der späteren Ausbildung eines rationalen entgegen (in einem Alter, „wo Einer den Anderen als Gleichen erkennt“), wittern Sie Zwangsegalisierung und die Abschaffung von Rängen. Dass ich das nicht meine, sollte mein gleich angefügter Hinweis „Ethik“ signalisieren. Bei traditioneller Enkulturation haben die Menschen, als Hauptergebnis jener organismischen Schwächung, eine „Ethik“ intus, lange bevor sie sich über Ethik Gedanken machen können, und alle konstruierten Ethiken, auch die der größten Philosophen, blieben deshalb im Leben der Menschen letztlich nur Firnis oder Ornament. Sie könnten jetzt wieder fragen: „Was haben Sie eigentlich dagegen, Ethik, Moral, „Werthaltungen“ etc. wie seit Jahrtausenden üblich auf diese Weise zu verankern?“ Die Antwort steckt schon im vorletzten Satz: damit ein „wahrhaft“ ethisches Leben Platz greifen kann, denn ich meine, dass im (großteils unbewusst ablaufenden) Prozess der frühkindlichen Introjektion eines Über-Ich (nicht nur die Emanzipationsfähigkeit geschwächt, sondern) vor allem auch erst jene Impulse erzeugt oder jedenfalls erheblich gestärkt werden, zu deren Beherrschung das (irrational fundierte, rational überbaute) Über-Ich später meist nicht in der Lage ist. Meine Devise für eine „neue“ (nicht-traditionelle) Enkulturation ist also: nicht erst schwächen und dann (meist vergeblich) zu stärken versuchen; nicht erst „böse“ Impulse erzeugen und diese dann (meist vergeblich) durch „gute“ ethische Grundsätze zu bändigen versuchen. 18. Dezember 2001 Sehr geehrter Herr Laska, auf Ihren heute empfangenen Brief vom 16.12. will ich gleich und kurz antworten, weil ich übermorgen für zwei Wochen verreisen will und

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einerseits Sie auf die Antwort nicht bis ins nächste Jahr warten lassen möchte, andererseits aber bis übermorgen noch viel zu tun habe. Unser letzter Briefwechsel läßt unsere Überzeugungen eher quantitativ differieren als gegensätzlich aufeinanderprallen. Sie halten die durch Fichte oder Stirner markierte Epochenschwelle für so einschneidend, daß uns danach ein neuer, frei sich selbst bestimmender Mensch bevorstehen könnte. Ich muß an Ibsens Tragödie „Rosmersholm“ denken, worin Rosmer von „frohen Adelsmenschen“ träumt. In meinen Augen ist jene Schwelle in erster Linie eine gefährliche Herausforderung, die dem menschlichen Sichfinden und Lebenkönnen eine neuartige Labilität im Spielraum personaler Emanzipation und personaler Regression zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart beschert und ihm eine gründlichere Verankerung des Lebenswillens in diesem Spielraum abverlangt, also primär um eine neue Schwierigkeit und Verantwortung (die aber, wenn sie getragen wird, einen Reifungsschritt erbringen kann), nicht eine Befreiung wie beim Abwerfen eines Panzers („Charakterpanzers“). Vom Ersatz einer unbewußten Enkulturation durch eine bewußte erwarte ich bei Bewältigung dieser Aufgabe keinen grundsätzlichen Fortschritt. Ich sage: keinen grundsätzlichen; denn daß blinde, verfestigte Vorurteile durch vernünftige Reflexion aufgeklärt und verflüssigt werden sollen, darin sind wir einig. In der Abneigung gegen das Unbewußte steckt aber meines Erachtens der rationalistische Versuch, der binnendiffusen Bedeutsamkeit implantierender Situationen das Binnendiffuse, das sie von Konstellationen einzelner Bedeutungen unterscheidet, zu nehmen, also den bedeutsamen Hintergrund der Enkulturation vollkommen durchschaubar zu machen. Damit würde dieser Hintergrund zu einem Warenhaus, aus dem man wählen könnte, statt in produktiver Explikation oder Interpretation Neues zu schöpfen. Das wäre, von anderem abgesehen, eine Selbstverurteilung der Menschheit zur Sterilität. Sie wollen den Menschen die Last der Tradition, mindestens der Indoktrination, abnehmen, da wir einig sind, daß in der bisherigen Geschichte viele Menschen dadurch verschüchtert („geschwächt“) worden sind, und lehnen pädagogische Hilfen als unnützen Umweg ab, da man besser täte, die Menschen gar nicht erst so zu schwächen. Ich halte dagegen den Umweg für außerordentlich nützlich im Interesse der Auslese. Deswegen in meinem letzten Brief der Hinweis, auf den Sie nicht eingehen, auf die kleinen Eliten, auf die es ankommt. Nur die Bewährung vor der Aufgabe, sich unter dem Druck der Tradition zu behaupten, wird günstigenfalls von einer Gestaltungskraft belohnt, die die neuen Formen des Lebens finden kann, deren wir bedürfen, um in der seit Fichte unabwendbaren Labilität des Personseins (ohne sicheren Verlaß auf objektive Ordnungen) zu bestehen. Ich denke in dieser Hinsicht darwinistisch. Die sogenannte Schwächung des Organismus, sofern es überhaupt eine ist, ist eine Herausforderung an die Starken, ihren eigenen Weg zu gehen, aber nicht in einem Paradies freier

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Selbstbestimmung, sondern in ständiger Bahnung des Weges durch den Urwald der Verstrickungen, den Weg durch einen mehr oder weniger dunklen Wald, der zugleich Last und Geschenk ist: Last als Widerstand für die Selbstaufklärung, Geschenk als Schatz oder Fundus von Möglichkeiten der Explikation, der Deutung und Umdeutung, woraus die Auseinandersetzung schöpfen kann und muß, wenn sie nicht in dürren Formen erstarren und vertrocknen soll. Dies ist, wie eingangs begründet, unmittelbar nach der ersten gründlichen Lektüre Ihres Briefes rasch hingeworfen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Jahreswechsel.

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[Bernd A. Laska und] Hermann Schmitz (Korrespondenz 3) [Januar–Dezember 2002]

9. Januar 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, nun ist es schon wieder gut drei Wochen her, seit ich Ihren noch rasch vor einer zweiwöchigen Reise verfassten Brief vom 18.12. erhielt, drei Wochen, in denen ich Zeit und Muße zu finden hoffte, um endlich zu tun, was ich schon seit langem vorhabe: nämlich unsere Briefe des Jahres 2001 gründlich zu sichten und verbliebene Unklarheiten, offene Fragen und unabgeschlossene Diskussionspunkte zu sammeln, zu bündeln und nach einer Zwischenbilanz frisch zu beginnen. Leider ist daraus nichts geworden. So kann ich zunächst nur an Ihren letzten Brief anknüpfen. Darin schreiben Sie, auf meine vorgängigen Thesen und Fragen eingehend, dass Sie jene „Epochenschwelle“, die Sie mit Fichte verbinden und ich mit Stirner, als eine „gefährliche Herausforderung“ ansehen, die dem europäischen Menschen eine „neuartige Labilität im Spielraum personaler Emanzipation und personaler Regression“ beschert habe, die ihm eine „gründlichere Verankerung des Lebenswillens in diesem Spielraum“ abverlange; sie (die Schwelle) sei eine neue Schwierigkeit, die, wenn ihr verantwortungsvoll begegnet würde, einen „Reifungsschritt“ erbringen könne. Das erscheint mir, als sei es direkt aus der heutigen, chaotischen Wirklichkeit abgeleitet, wo es sehr danach aussieht, dass zu diesem Reifungsschritt nicht einmal theoretisch ausgeholt wird. Ihre Worte klingen in meinen Ohren ganz anders als Ihre Vorrede von 1995 zu „Selbstdarstellung als Philosophie“, wo Sie von einer präzedenzlosen menschheitshistorischen Epochenscheide sprechen, die ein „bis in die unvordenkliche Vorgeschichte zurückreichendes Zeitalter der gleichsam kindlichen Menschheit“, gekennzeichnet durch deren „Anhänglichkeit an die etablierten religiösen oder moralischen Heilssysteme“, trennt von …, ja von dem, was danach (in immerhin zwei resp. eineinhalb hektischen Jahrhunderten) kam und was noch kommen wird. Während Sie 1995 noch einen (für mich) erfreulich „radikalen“ Gedanken fassten, den Sie mit der Metapher vom „Erwachsenwerden“ des (bis dahin „kindlichen“) Menschen auszudrücken versuchten, scheinen Sie diesen jetzt, 2001, nachdem ich Sie näher dazu befragte, herunterspielen zu wollen und mich, der ich diesen (oder einen ähnlichen) Gedanken unabhängig von Ihnen zu entwickeln versucht habe und noch versuche, ein bisschen als jemanden zu belächeln, der wie Ibsens Rosmer von „frohen Adelsmenschen“ träumt.

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Wir haben ja relativ ausgiebig über unsere Vorstellungen und (Zukunfts-)„Visionen“ diskutiert, und ich möchte jetzt, ohne die erwähnte Durchsicht der bisherigen Briefe, dieses Thema nicht erneut anschneiden. Aber ein Missverständnis, das in Ihrem letzten Brief zum Ausdruck kommt, möchte ich doch zu korrigieren versuchen. Ich habe am 16.12. vielleicht zu schlagwortartig von dem nötigen Wandel der Enkulturation von „unbewusst“ zu „bewusst“ gesprochen. Damit meine ich nicht den (per Entschluss herbeigeführten) Ersatz der unbewussten Enkulturation durch eine bewusste (schon, weil ich dies für unmöglich halte). Ich habe auch keine grundsätzliche „Abneigung gegen das Unbewusste“ als solchem. Im Gegenteil: wenn die Menschheit einmal „erwachsen“ geworden sein wird, wird sie dem Unbewussten bedenkenlos vertrauen können. Das große Problem liegt m.E. in der Übergangsphase, in der „wir“ ja (optimistisch gesehen) mittendrin stecken. Das Problem besteht zum einen schon in der rein theoretischen Konzeption (was wir in unseren Verständigungsversuchen ja deutlich erfahren haben) und zum zweiten darin, dass das heute (fast) niemanden zu interessieren scheint. Es gibt heute Zehntausende von Berufsphilosophen und Legionen von hochintelligenten Menschen, die in der Lage sein und ein Motiv haben müssten, solchen Gedanken nachzugehen. Aber keiner tut’s. Wenn ich ab und zu in philosophische Fachzeitschriften schaue, wenn ich sehe, welche Themen dort und ebenso in den massenhaft erscheinenden Fachbüchern traktiert werden, wenn ich, wie erst kürzlich wieder, das Heft „Information Philosophie“ durchgehe, dann müsste ich angesichts des dort Gebotenen eigentlich in tiefe Depression versinken. Zum Glück bin ich, hoffentlich auch in Zukunft, dagegen gefeit. 10. Januar 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Wir mir Ihr Brief vom 9. Januar zeigt, haben Sie die Vorrede meines Buches „Selbstdarstellung als Philosophie“ nicht in meinem Sinn verstanden. Einig sind wir über die einschneidende Bedeutung der Epochenschwelle, die für Sie bei Stirner beginnt, für mich bei Fichte mit der zunächst theoretisch nicht durchschauten und im Lebensgefühl nicht bewältigten Entdeckung der subjektiven Tatsachen (die „meine“ Tatsachen sind, wie manche Programme meine Wünsche, manche Probleme meine Sorgen). Einig sind wir auch darüber, was vor der Schwelle liegt: das „bis in die unvordenkliche Vorgeschichte zurückreichende Zeitalter der gleichsam kindlichen Menschheit“ (a.a.O. S. IX). Nicht einig sind wir darüber, was für die Menschheit nach der Schwelle kommt. Für Sie ist es (früher oder später, wenn nichts ganz schief läuft) ein Zustand des Erwachsenseins, wie man ihn einem „gestandenen Mann“ (vir quadratus, τἐτραγωνος ἀνηρ in der Sprache der Alten) zutraut, ein Zustand der Bestimmtheit, Selbstsicherheit,

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des festen, von klarem Überblick geleiteten Wollens. Für mich ist es ein Analogon der Pubertät (ebd.), gekennzeichnet durch eine Gebrochenheit, die an die Stelle kindlicher Geborgenheit (in einem durch lauter vermeintliche objektive Tatsachen vorgegebenen Weltbild) tritt (ebd. S. X). Etwas genaueren Aufschluß finden Sie am Schluß des Buches, S. 427f.: Die Epochenschwelle beschert der Menschheit auch nach der meines Erachtens von mir erreichten Aufklärung der Subjektivität der subjektiven Tatsachen, keinen „Ausweg aus dem Ringen mit der Problematik der Subjektivität, die, einmal entdeckt, weiter lasten wird, wenn auch nicht mehr als Quelle der Entfremdung, dann doch wohl als Quelle der Ambivalenz und Zwiespältigkeit im Verhältnis von primitiver und entfalteter Gegenwart“. Mit anderen Worten: Ohne den Halt an einer normierenden objektiven Weltordnung werden die Menschen es schwer haben, zwischen dem Sturz in affektives Betroffensein und elementare Ergriffenheit (personale Regression) und der objektivierenden Erhebung zur Rechenschaft (personale Emanzipation) den Ausgleich zu finden, der sie vor Haltlosigkeit und Sucht durch personale Regression und vor Verstiegenheit und Verdorren durch personale Emanzipation bewahrt. Ich versuche, diesen „Spielraum der Gegenwart“ wenigstens zu erhellen, damit die darin noch sehr hilflosen Menschen sich darin einigermaßen einrichten können, aber dazu bedarf es genialer Lösungen durch Findung von Lebensformen, die ich durch Denken und Besinnung allein nicht vorwegnehmen kann. (Dahin gehört auch die Sie so sehr verblüffende Andeutung über Hindugötter.) Ob die Menschheit nach Absolvieren dieser Pubertät eine weitere Epochenschwelle erreicht, an der ein drittes Zeitalter der Erwachsenheit in Ihrem Sinn anbricht, ist noch nicht abzusehen, und ich wage nicht, irgend eine Gestalt dafür zu konzipieren; sicherlich wird es kein Paradies der „frohen Adelsmenschen“ sein, sondern ich bin davon überzeugt, daß die Gebrochenheit des Personseins in der einen oder anderen Form als zugleich gefährliche und fruchtbare Herausforderung fortbestehen wird, solange es Menschen gibt. Einig bin ich mit Ihnen, daß die geschichtlichen Perspektiven des Menschseinkönnens mehr Beachtung verdienen als das übliche flache Gerede über Humanität, Humanismus und Menschenrechte. 15. Januar 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, in Ihrem Brief vom 10.1. stellen Sie fest, dass wir zwar einig seien in der Annahme einer höchst bedeutsamen menschheitsgeschichtlichen Epochenschwelle im 19. Jahrhundert (wie viele Denker jenes Jahrhunderts „von Hegel bis Nietzsche“; letzterer meinte, er sei das Ereignis, das die Weltgeschichte in zwei Hälften sprenge); zwar einig auch darüber, dass vor diesem Datum die „Kindheit“ der Menschheit liegt; nicht einig aber in unseren Deutungen des Seither und Prognosen (oder auch Wünschen) für das

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Danach. Sie meinen, ich sähe nach der Schwelle gleich – optimistisch: „wenn nichts ganz schief läuft“ – den Zustand des Erwachsenseins vor mir, Sie dagegen die Pubertät. Darin besteht m.E. keine Uneinigkeit in unseren Auffassungen. Ich meine auch, dass wir in dieser Pubertätsepoche leben, und teile auch Ihre Zweifel, dass die Menschheit jemals das Erwachsenenalter erreichen wird. Uneins sind wir aber wahrscheinlich darüber, wie das Erwachsenenalter zu konzipieren sei. Da verstehe ich nicht, wie Sie zwar die Epoche bis 1800 ohne Zögern als Kindheit charakterisieren können, aber, wie Sie im letzten Brief sagen, die Erwachsenheit nicht zu konzipieren wagen. Gewiss, die Metapher hat ihre Mängel (Stirner, der ja auch von Knabe/Jüngling/Mann spricht, konterkariert dies ironisch durch einen Verweis auf den Greis), aber sie kann doch zur groben Verständigung taugen. Wie können Sie also von der „Kindheit“ der Menschheit sprechen, wenn Sie keine zumindest vage „Vision“ davon haben, wie deren „Erwachsenheit“ aussehen könnte? Dass dazwischen eine schwierige, unbestimmt langdauernde Umbruchszeit liegt, sozusagen die „Pubertät“, in der wir – und wohl noch viele Generationen – leben, ist, zwischen uns jedenfalls, wohl unstrittig. Sie schreiben dann aber doch, dass Sie eines für sicher halten, nämlich, dass „die Gebrochenheit des Personseins“ (also das Merkmal des „pubertären“ Menschen gegenüber der unwiederbringlich verlorenen Geborgenheit des „kindlichen“) immer fortbestehen wird. Auch da habe ich Verständnisschwierigkeiten. Wenn ich etwas benennen sollte, was dem Menschen immer bleiben wird, auch nach erfolgreichem Bewältigen der „Menschheitspubertät“, so wäre das zum einen die Situation, die Sie in einem Ihrer Briefe einmal mit dem Bild des in einem Strom Navigierenden dargestellt haben, und zum zweiten die Unbegreiflichkeit von (Un-)Endlichkeit, von Raum und Zeit und, vor allem, der eigenen, individuellen Existenz. Zur genaueren Charakterisierung jener Schwelle verweisen Sie auf S. 427f. Ihres Buches „Selbstdarstellung als Philosophie“. Demnach besteht die Schwelle sozusagen aus drei Stufen: Fichte, Schmitz und – eine breitere Rezeption Ihrer Ausarbeitungen mit praktischen Folgen. Analog sehe ich das bei mir, wobei die erste Stufe sich wiederum in drei voneinander ziemlich unabhängigen Formen im Abstand von je hundert Jahren ausprägte: La Mettrie entwickelte Mitte des 18. Jh. seine Theorie der „remords“ und wurde dafür zum Paria der Aufklärer; Stirner postulierte Mitte des 19. Jh. die „Tilgung der Erbsünde“ und wurde von Marx und Nietzsche in „populistischer“ Manier verdrängt; Reich entwickelte Mitte des 20. Jh. (als Schüler und Antipode Freuds) in seiner psycho-physiologischen Charakterlehre den gleichen Gedanken weiter und wurde dafür in einer kaum glaublichen, erst in den letzten Jahren näher belegbaren genuinen „Kon-Spiration“ geächtet. Diese drei Autoren machten, großteils unbewusst, offenbar verfrühte Versuche, der pubertierenden Menschheit den Weg zum Erwachsen-

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sein zu weisen, indem sie das ohnehin (mit dem Ende der „Kindheit“) sehr geschwächte „Heilige“ (ich benutze eingedenk unserer früheren Diskussion diese Chiffre) demontieren, bewusst und gezielt eliminieren wollten. Der oben erwähnte Strom des Lebens wäre davon nicht betroffen. Auch wenn man ihn nicht als etwas „Heiliges“ ansieht, vor ihm keine „Ehrfurcht“ hat (Sie erinnern sich an frühere Briefe?), wird man ihn nie beherrschen; aber man kann seine Navigation verbessern. Entspricht nicht auch Ihr (neueres) Bild vom Leben im „Spielraum“ der Situation des Navigierenden? Ist nicht Ihr Versuch, den Spielraum zu erhellen, einer Art Kartierung der Fährnisse jenes Stromes vergleichbar (allerdings zwangsläufig aus der Situation eines selbst im Strom Navigierenden heraus: deshalb Spielraum „der Gegenwart“)? – Unklar ist mir nach wie vor, ob sich unsere Auffassungen über „die Menschheit“ fundamental widersprechen, und ob wir, wenn wir Konkurrenten in der Interpretation der Natur jener (mehrstufigen) Epochenschwelle sind, nicht zumindest darin Kombattanten sind, dass wir, gegen den „mainstream“ (ein anderer Strom, über den zu reden wäre), ihre bare Existenz behaupten. 17. Januar 2002 Sehr geehrter Herr Laska, Ihre Frage vom 15.01., wie weit unsere Übereinstimmung in der kritischen Würdigung des Zeitalters und seiner Aussichten reicht, möchte ich so beantworten, daß wir in der Annahme einer menschheitliche Naivität beendenden Epochenschwelle um 1800 ebenso übereinstimmen wie in der skeptischen Beurteilung ihrer Nachwirkungen in unserer Zeit, uns aber trennen mit den Erwartungen, was im günstigen Fall dabei herauskommen könnte. Sie halten auch dabei am normativen Leitbild der Lebensaltermetaphorik für die Menschheitsentwicklung fest. Ihnen ist selbstverständlich, daß auf eine Kindheit und Pubertät der Menschheit eigentlich eine Erwachsenheit folgen sollte oder müßte, selbst wenn Sie zweifeln, ob es wirklich dahin kommen wird. Ich habe mich dagegen nie auf das Projekt eines solchen Erwachsenheitsalters festgelegt und würde es nicht einmal unbedingt als Ideal bejahen. Der erwachsene Mensch als Leitfigur eines künftigen Menschheitsstadiums wäre gewissermaßen mit sich fertig und damit ungeschichtlich. Auch im individuellen Leben bringt das Erwachsenenalter, verglichen mit Kindheit und Pubertät, typischerweise eine gewisse Profanisierung und Banalisierung durch Fixierung im endlichen Rahmen einer gesellschaftlich bestimmten Rolle, z.B. als Hausfrau und Mutter oder als Funktionär eines Berufs. Ich bin der Meinung, daß Labilität (in wechselfähigen Gestalten) eine Konstante des Personseins ist, vergleichen Sie in „Der Spielraum der Gegenwart“ S. 97–103: „Die Labilität der Person“. Gerade davon verspreche ich mir aber die prinzipielle Möglichkeit genialer Erfindung neuer Lebensformen und Leitbilder, die in die unvermeidliche Labi-

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lität der Person eine relative Stabilisierung durch Kultur hineintragen könnten. Das großartigste Beispiel ist, wie ich Ihnen schon einmal schrieb, die geschichtlich höchst wirksame Konzeption der geschlechtlichen Paarliebe seit Catull und Gottfried von Straßburg (über häusliche Zusammengehörigkeit und Befriedigung des Geschlechtstriebes hinaus). Die Lebensformen, die ich andeute, könnten ganz andere sein; ich kann sie nicht vorwegnehmen, sondern durch begriffliche Ausleuchtung von Horizonten der Lebenserfahrung höchstens anregen und sprachfähiger machen. Jedenfalls halte ich es mit der Offenheit des menschheitlichen Wellenreitens in bestenfalls labilem Gleichgewicht auf dem unabsehbaren geschichtlichen Ozean der Zukunft, der nicht in das Becken einer vorwegnehmenden Vision oder Metapher (wie von den Lebensaltern) gefaßt werden kann. Solche Versuche scheinen mir hinter den Errungenschaften Fichtes (und Stirners) zurückzubleiben, weil an die Stelle der subjektiven Tatsachen und Programme doch wieder ein durch Verallgemeinerung objektiviertes oder neutralisiertes Leitbild gesetzt wird. (Der von Stirner bekämpfte Humanismus „nach dem Tode Gottes“ wird so leicht überwunden.) Ich habe Ihnen einmal aus dem 23. Sonett des 2. Teils der „Sonette an Orpheus“ von Rilke die Verse zitiert: Wir sind frei. Wir wurden dort entlassen, wo wir glaubten, erst begrüßt zu sein.

Das Gedicht fährt fort mit den beiden Terzetten: Bang verlangen wir nach einem Halte, wir zu Jungen manchmal für das Alte und zu alt für das, was niemals war. Wir, gerecht nur, wenn wir dennoch preisen, weil wir, ach, der Ast sind und das Eisen und das Süße reifender Gefahr.

Weiter möchte ich nicht gehen. 29. Januar 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, noch einmal muss ich Sie um Entschuldigung dafür bitten, dass meine Antwort so verzögert kommt; ich war ein paar Tage verreist und hatte den Kopf voll mit allerlei Dingen. Zuletzt haben wir versucht, uns mit Hilfe der Metapher von den Lebensaltern der Menschheit, deren Kindheit Sie in der Vorrede zu Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ um 1800 enden lassen, zu verständigen. Sie hatten mich so verstanden, dass ich es als „selbstverständlich [erachte], dass auf eine Kindheit und Pubertät der Menschheit eigentlich eine Erwachsenenzeit folgen sollte.“ Eigentlich! – denn meine Zweifel, dass es je so weit kommen würde, haben Sie gesehen. Meine Zweifel speisen sich

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aus einer Reihe von Quellen, die aufzuzählen und genau zu benennen sehr umständlich wäre. Sie ließen sich vielleicht zwischen zwei Polen anordnen, von denen der eine der geistige Zustand der heutigen Eliten, der andere der allgemeine Zustand der (zudem in vielen Teilen der Welt unkontrolliert wachsenden) Masse der Menschen wäre – dies mal ganz ins Unreine gesprochen. Ich meine also nicht, dass es „prinzipiell“, also in der (auch durch „Gen“-Technik) nicht veränderbaren „Natur des Menschen“ begründet, unmöglich ist, dass der Mensch, dass die Menschheit eine Verfassung erreichen wird, die man als postpubertär bzw. erwachsen bezeichnen könnte. Wenn also … wenn eben die jetzige Ausgangssituation nicht so desolat und desperat wäre, wie sie ist, dann hielte ich ein Erwachsenwerden der Menschen für möglich und wünschenswert (sofern Wünsche für eine jahrhundertferne Zukunft einen Sinn haben). Sie erklären demgegenüber, eine erwachsene Menschheit nicht als Ideal zu bejahen, weil dann jede Entwicklung zum Stillstand käme etc., die Menschheit „fertig“ sei. Demnach plädieren Sie, nachdem die Kindheit ein für allemal beendet ist, für eine ewige Pubertät der Menschheit und sagen, dass Labilität eine „Konstante des Personseins“ ist (aber noch nicht war in der Zeit vor 1800, der Kindheit?). Da stellt sich mir jedenfalls wieder die Frage nach der Tauglichkeit der Metapher überhaupt. Ich weiß nun gar nicht, welche Rolle diese Metapher in Ihren sonstigen Schriften spielt und habe sie – wie vor einiger Zeit einmal den von Ihnen nur ganz am Rande erwähnten Menschen mit Daimon (den Sie prinzipiell, also auch in einer „erwachsenen“ Menschheit, als Ausnahmeerscheinung ansehen) – nur deshalb herausgegriffen, weil ich glaubte, mit ihrer Hilfe das Kernproblem, das ich mit Stirner (und meinen beiden anderen Helden) verbinde (und von dem ich annahm, dass es sich in wesentlichen Teilen mit dem decken könnte, das Sie mit Fichte verbinden), diskutieren zu können. Aber abgesehen von der Tauglichkeit oder begrenzten Tragweite jener Metapher und eingedenk unserer früheren Diskussionen, auch abgesehen von teils korrigierten, teils unaufgelösten Missverständnissen, und abgesehen von den bei unserem Thema kaum vermeidbaren begrifflichen Unschärfen habe ich das Gefühl, dass wir auf eine merkwürdige Weise zwischen Übereinstimmung und Gegensätzlichkeit oszillieren. Nehmen wir Ihren letzten Brief: den Inhalt der Passage über die „konstante Labilität“ kann ich mir nicht zu eigen machen; die anschließende Metapher vom Menschen als Wellenreiter in labilem Gleichgewicht finde ich sehr treffend – wenn ich statt labil → dynamisch setzen darf. Sind das nun nur terminologische Differenzen? – Wenn Sie sagen, Sie wollten und könnten die Lebensformen künftiger Generationen nicht normativ vorwegnehmen, so höre ich heraus, dass Sie meinen, ich wolle eben dies tun (am Anfang Ihres Briefes sprechen Sie von meinem „normativen“ Leitbild). Das ist aber nicht der Fall. Wenn ich, n.b. Ihre Metapher aufgreifend, vom gegenwärtigen Zu-

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stand der Menschheit als Pubertät spreche, dann kann ich das nur, wenn ich (was Sie auch tun) eine Kindheit und (was Sie nicht tun wollen) ein Erwachsensein annehme. Das heißt nicht, dass ich letzteres vorwegnehme. Ich nehme nur an, dass es keine Wendung zurück zur Kindheit geben kann (die Frage, mit der unser Briefwechsel am 26.6.2000 begann), z.B. zum ernsthaften Glauben an Gott oder Gottheiten welcher Art auch immer. Wenn Sie das eine normative Vorgabe nennen wollen … Dagegen vermute ich durchaus, dass die Pubertät noch sehr lange dauern kann und die Menschheit möglicherweise ihr Erwachsensein nicht erreichen wird. Aber das kann ja nicht wirklich meine Sorge sein und ist es auch nicht. Mein „Philosophieren“, das die vorgefundenen (kindlichen/pubertären) Philosophien vor allem nutzt, um sich von ihnen abzustoßen, ist aus den Problemen meines Lebens hier und jetzt erwachsen. 1. Februar 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Wegen einer Reise nach Marburg komme ich erst jetzt zur Antwort auf Ihren Brief vom 29.01. Die Metaphern sollten wir mit größerer Vorsicht behandeln. Das gilt für „Pubertät“ und für „Wellenreiter“. Der Vergleich mit Kindheit und Pubertät war mir wirklich nur für die m.E. mit Fichtes Auftreten gesetzte Epochenschwelle, für die (damals nicht klar durchschaute) Thematisierung der subjektiven Tatsachen und die eindeutig daraus resultierenden mentalitätsgeschichtlichen Folgen, wichtig. An einen menschheitlichen Dreischritt Kindheit-Jugend-Erwachsenenalter denke ich nicht. Ebenso weit bin ich davon entfernt, eine „ewige Pubertät der Menschheit“ vorherzusagen. Die „konstante Labilität“ menschlicher Personen, woran Sie Anstoß nehmen, hat nichts mit Unerwachsenheit zu tun. Der noch so erwachsene Mensch wäre auf einem verstiegenen Niveau erstarrt, zur Puppe des Maschinenzeitalters degeneriert, wenn er sich dem Auf und Ab personaler Emanzipation und personaler Regression (besser vielleicht in umgekehrter Reihenfolge) bei der „Verdauung“ ihm zustoßender vielsagender Eindrücke entziehen könnte. Die spezifische Differenz der Erwachsenheit gegen die Pubertät sehe ich nicht im „Fertigsein“ konsolidierter Stabilität, sondern im Erwerb der Disposition zu vielen Zwischenstufen zwischen dem jeweiligen Niveau personaler Emanzipation und Eintauchen in primitive Gegenwart, so daß der Erwachsene auf Grund seiner Lebenserfahrung sich besser „fangen“ kann, wenn er bestürzt ist, und nicht gleich von der Überspanntheit in Fassungslosigkeit abstürzt wie der unreife Knabe. Vergleichen Sie dazu, wenn Sie wollen, in „System der Philosophie“ Band IV „Die Person“ die Seiten 307–309 „Die reife Persönlichkeit“. Nun die Metapher „Wellenreiter“. Sie verstehen dieses Wellenreiten als ein nicht labiles, sondern dynamisches Verhalten. Mir dagegen stellt sich

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in diesem Bild die Labilität dar, von der Welle in einer Weise hochgetragen zu werden, daß stets der Absturz droht und die Kunst, sich trotzdem auf dem Kamm zu behaupten, ein geschicktes Gegensteuern in labilem (nicht stabilem) Gleichgewicht verlangt. Dieser Labilität nicht ihr Spiel zu lassen, würde mit dem sofortigen Zusammenbruch und Überspültwerden bestraft. Dementsprechend meine ich (und habe anderswo ausgeführt), daß die Person ihre Selbstzuschreibung (etwas für sich zu halten), deren Fähigkeit sie zur Person macht, der Offenheit für personale Regression bis zur Fassungslosigkeit verdankt, daß personale Emanzipation und personale Regression zusammengehören und für personale Lebensführung mit einander unentbehrlich sind, was nicht heißen soll, daß die Person effektiv fassungslos werden müßte, so wenig, wie der Wellenreiter effektiv zusammenbrechen muß; aber beide müssen für die Versuchung aufgeschlossen sein, gerade um gegensteuern zu können. Das ist meine Sinngebung für die Metapher; was Sie mit dem dynamischen, nicht labilen Wellenreiter meinen, weiß ich nicht. Ich habe den Eindruck, daß Sie mit dem neuen Brief vom Thema unserer letzten Korrespondenz vom 15./17. Januar abgleiten. Sie hatten die Frage aufgeworfen, ob und in welchem Maß wir auch als Konkurrenten „Kombattanten“ seien, und ich hatte die Antwort darin gefunden, daß wir über die Wichtigkeit der Epochenschwelle um 1800 und die daraus für die Menschen noch und erst recht heute sich ergebenden Gefährdungen einig seien, nicht aber darüber, was im günstigen Fall aus der damals angestoßenen Entwicklung herauskommen könnte. Ich wüßte nun gerne, ob Sie dieser Diagnose unseres Verhältnisses zustimmen. Statt dessen schreiben Sie mir, daß Sie zweifeln, ob ein solcher günstiger Fall wirklich eintreten wird. Das war mir ohnehin klar. 12. Februar 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich meine, Ihrer Mahnung, die in unserer Diskussion verwendeten Metaphern mit großer (Sie sagen: größerer) Vorsicht zu behandeln, habe ich schon seit je, insbesondere in meinem letzten Brief vom 29.1., Beachtung geschenkt. Ich denke doch, nie auf diesen Worten „herumgeritten“ zu sein oder aus ihnen irgendwelche Folgerungen zwingend abgeleitet zu haben. Die Metaphern, Ihre Metaphern übrigens, waren stets nur Hilfsmittel zur Erleichterung der sprachlichen Verständigung, ihre begrenzte Tragweite mir stets bewusst. Dennoch muss ich Ihnen gestehen, dass ich nicht nachvollziehen kann, wie Sie die Metapher von der Kindheit der Menschheit – in der Eindringlichkeit Ihrer Vorrede zu „Selbstdarstellung als Philosophie“ – verwenden können, aber von einer Pubertät, von einem Erwachsenenalter der Menschheit nicht sprechen wollen. Ich kann mir dann auch keinen klaren

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Reim mehr auf Ihre Rede von der Epochenschwelle machen. Vor Fichte (bzw. dem Fichte-Interpreten Schmitz?) war die Menschheit „geistesgeschichtlich“ in der Kindheit? Wo ist sie jetzt? Oder genauer gefragt: Wo wäre sie jetzt, wenn sie in nennenswertem Maße die Fichte-Schmitz’sche Lehre angenommen hätte? Weil sie es nicht tat: ist sie also doch noch in der Kindheit? Was ist falsch an solchen Fragen? Über unsere Differenzen darüber, ob statt „labil“ besser „dynamisch“ (zur Bezeichnung des Gleichgewichts, das ein „Wellenreiter“ aufrechtzuerhalten bzw. stets erneut herzustellen hat) zu verwenden wäre, lässt sich vermutlich leichter Verständigung erreichen. In der Mechanik, wie sie vor 30– 40 Jahren gelehrt wurde, bezeichnete das Beiwort „labil“ einen Gleichgewichtszustand, der durch die leichteste Einwirkung von außen zerstört wird – und in einen „stabilen“ umkippt. Denken Sie an einen Körper, der so auf eine Spitze gelagert (ausbalanciert) ist, dass sich sein Schwerpunkt senkrecht über der Spitze befindet. Ein leichtes Antippen – und der Körper kippt/fällt und strebt in eine „stabile“ Lage. Das gehört sozusagen zur Statik. Der „dynamische“ Gleichgewichtszustand eines Körpers ist, so wurde uns gelehrt, dadurch gekennzeichnet, dass noch weitere (Bewegungs-) Kräfte auf ihn wirken: Beschleunigung positiv/negativ, Zentrifugal- und Zentripetalkräfte. Sie alle meistert der „dynamische“ Wellenreiter; der „labile“ kippte bei der nächsten Gelegenheit. Genug davon. Hier handelte es sich wohl nur um einen Unterschied im Wortgebrauch, dem nicht, wie bei der Metapher von der Menschheits-Kindheit, ein Unterschied der Auffassungen entspricht. Wenn Sie schreiben, die Kunst des metaphorischen Wellenreiters bestehe darin, bei stets drohendem Absturz durch geschicktes Gegensteuern sich in permanentem labilen Gleichgewicht zu halten, so verstehe ich schon, was Sie meinen. Aber diese „Stabilität der Labilität“ hat mich etwas irritiert, so dass ich lieber „dynamisch“ sagen wollte. Gegen Ende Ihres Briefes berichten Sie von Ihrem Eindruck, ich sei am 29.1. von unserem Thema vom 15./17.1. abgeglitten. Sie hätten zuvor festgestellt, eine Gemeinsamkeit unserer Auffassungen bestehe darin, dass es eine hochbedeutsame Epochenschwelle (im 19. Jh.) gegeben habe, aus deren Überschreiten sehr ernste Gefährdungen (für die [okzidentale] Menschheit) resultierten. Nicht einig seien wir uns darüber, was günstigstenfalls aus der Menschheit werden könnte. Während Sie nun gern gewusst hätten, ob ich dies auch so sehe, hätte ich Ihnen geschrieben, was Sie ohnehin wussten: dass ich bezweifele, dass dieser günstigste Fall je wirklich würde. Ich will jetzt nicht aus meinen älteren Briefen zitieren. Aber ich hatte doch im Zusammenhang mit Ihrem Gebrauch der Metapher von der beendeten Kindheit der Menschheit die Frage aufgeworfen, in welchem Stadium Sie die Menschheit nun sehen. Sie haben darauf m.E. ausweichend geantwortet (weder pubertierend noch erwachsen, aber auch nicht mehr kindlich) – und würden die Metapher, nach meinem jetzigen Eindruck, am

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liebsten wieder zurückziehen. – Wenn ich Ihre Metapher verwenden sollte, würde ich sagen, dass die europäische Menschheit mit der Reformation/Aufklärung etc. aus der Kindheit in die Pubertät übergegangen ist, deren Wirren sie noch immer durchlebt (obwohl sie sich – seit „1945“, spätestens seit „1989“ – erwachsen wähnt). Als Wegweiser zum Ausgang aus der Pubertät (für den ihr, anders als dem Einzelmenschen, kein Muster vorgegeben ist) sehe ich das an, was ich in meinem LSR-Projekt vorgedacht habe (ich als „Blankettfigur“) und noch vordenken werde. Das ist mein „Ausleuchten des Horizonts“. Ob andere durch mein Licht besser sehen werden? Das bleibt abzuwarten. 13. Februar 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Wenn Sie, wie Sie in ihrem gestrigen Brief schreiben, glauben, daß ich „die Metapher von der beendeten Kindheit der Menschheit … am liebsten wieder zurückziehen“ würde, irren Sie. Ich kann mir diesen Irrtum nur dadurch erklären, daß Sie in das Vorwort von „Selbstdarstellung als Philosophie“ etwas hineingelesen haben, was nicht dasteht und nie gemeint war, nämlich die Aussicht auf ein Erwachsenenalter konsolidierter Selbstsicherheit. Auf Seite IX schreibe ich vom Ende der Kindheit: „Diese innige Vermischung des Subjektiven und Objektiven löst sich häufig in der Pubertät.“ Wenn ich mich da nicht deutlich genug ausgedrückt haben sollte (was ich dennoch hoffe), hilft vielleicht die Wiederaufnahme des Themas im Schlußkapitel 7 auf Seite 419, wo ich das Gemeinte mit der weiteren Metapher vom zweiten Sündenfall amplifiziere, mit Bezug auf die Schlußworte meines Buches „Die entfremdete Subjektivität“, wo ich S. 306 über diesen zweiten Sündenfall schreibe: „Damit müssen wir leben; das Leben wird dadurch nicht reicher, aber wacher, schmerzlicher und reifer.“ Nirgendwo steht etwas von ruhiger Selbstsicherheit und gefestigter Klarheit. Der erste Sündenfall, der nach dem biblischen Mythos, besteht darin, daß die Menschen lernen, was gut und böse ist, also Vorzugsrichtungen des Verhaltens zu ihnen zustoßenden Herausforderungen nicht mehr nur blind, sondern mit Wissen und Wollen folgen können. Dabei lernen sie aber erst, was gut und böse ist, als handle es sich bei allem, was sie zu wissen nötig haben, um objektive oder neutrale Tatsachen. Der zweite Sündenfall, der Fichte’sche, belehrt sie, daß es nicht so ist, daß sie also nicht einfach nachsehen können, was (an sich und für alle) ist und sein soll, sondern sich jeder in seinem Namen darum kümmern muß, was meine (seine) Tatsache, sein Programm, sein Problem ist. Der erste Sündenfall schafft Halt nach außen, durch die Möglichkeit selbständiger, einsichtiger Orientierung am Gegebenen; der zweite Sündenfall schafft dem Menschen Unsicherheit im Verhältnis zu sich, weil sich herausstellt, daß dieser Halt so einfach nicht zu haben ist. Diese Entdeckung der strikten Subjektivität wird nun aber bei Fichte und

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seinen Nachfolgern (einschließlich Stirner) durch ein Mißverständnis kompliziert, weil man zunächst nicht von dem Vorurteil herunterkommt, alle Tatsache müßten objektiv sein, so daß das Subjektive in eine rätselhafte Rand- und Schwebestellung gerät, für die man bald die Metapher des (selbst paradoxen) Nichts erfindet; so kommt es zum Nihilismus. Dieses Mißverständnis, und damit der Nihilismus, kann geheilt werden; dadurch entsteht eine relative, dem zweiten Sündenfall angemessene Klarheit, die man allenfalls „Erwachsenheit“ nennen könnte, aber das ist durchaus keine Plattform ruhiger Selbstsicherheit, denn an die Stelle des im Nichts schwebenden Nihilismus (Heidegger: „Hineingehaltenheit in das Nichts“) tritt die Ambivalenz und Labilität im Spielraum der Gegenwart zwischen personaler Emanzipation und affektivem Betroffensein (auf primitive Gegenwart hin) ohne Schienung durch objektive Tatsachen, als Herausforderung zu hoffentlich fruchtbaren Errungenschaften immer neu nötiger Stabilisierung, aber ohne die Teleologie eines Bildungsromans der Menschheit („Erziehung des Menschengeschlechtes“ nach Lessing). Dieser aufklärerischen Utopie scheinen Sie anzuhängen; darin trennen wir uns. Haben Sie Dank für Ihre Belehrung über Grundbegriffe der Mechanik, von denen ich nicht viel verstehe. Ich habe die Labilität nicht so passiv gemeint, wie Sie den Begriff erklären, sondern als gleichsam elastisch, nämlich begabt mit eben solchem Reaktionsvermögen zur Wiederherstellung des labilen Gleichgewichts bei Störung, wie der elastische Körper mit Reaktionsvermögen zur Wiederherstellung seiner Form begabt ist. In Ihrem Brief vom 29. Januar bekennen Sie sich zu der Annahme, daß es „keine Wendung zurück … zum ernsthaften Glauben an Gott oder Gottheiten welcher Art auch immer“ geben könne. Weil dies ein Beitrag zum Thema der bevorstehenden Tagung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie in Hamburg ist (wenngleich nur ein negativer), lege ich deren Programm bei. 22. Februar 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, was Sie mit dem Beiwort „labil“ vor dem Gleichgewicht, das der „Wellenreiter“ hält, sagen wollen, hatte ich, wie ich schon am 29.1. schrieb, ganz gut verstanden und als Metapher für die Situation des Menschen akzeptiert; ich hatte nur – weil mich die implizite Rede von einer „stabilen Labilität“ für die permanente Notwendigkeit, in eine labile Gleichgewichtslage zurückzukehren, etwas verwirrte – gemeint, dass für meine Begriffe das dynamische Gleichgewicht statt des labilen die Situation treffender beschreiben würde. Ihre weitergehende Erläuterung vom 13.2. mit Hilfe eines weiteren Begriffs aus der Mechanik, der Elastizität fester Körper, würde mich eher weiter verwirren – wenn ich nicht schon eine m.E. passable und

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weitgehend zutreffende Vorstellung vom Gehalt der Metapher des Wellenreiters hätte. Um auf das zweite unserer rezenten Themen überzuleiten, möchte ich unter Verwendung dieser und der anderen in unserer Diskussion aktuellen Metapher sagen, dass ich meine, dass die Menschen bisher – also die Menschen der Epochen der „Kindheit“ und der „Pubertät“ – noch gar keine Wellenreiter waren, sondern sozusagen Passagiere auf morschen Booten, auf wahren Seelenverkäufern mit blinden Kapitänen, und neuerdings auch vereinzelte, an Rettungsringe geklammerte Freischwimmer, die ohne Navigation den Strom des Lebens hinabtreiben. Der virtuos navigierende Wellenreiter wäre dann die (utopische) menschliche Gestalt des Erwachsenenalters der Menschheit, dessen wirkliches Erreichen ich übrigens nirgendwo behauptet habe (aber für wünschenswert halte). Sie schreiben nun – als Reaktion auf die Mitteilung meines Eindrucks, dass Sie in unserer Diskussion die Metapher(n) von der menschlichen Kindheit und Pubertät am liebsten wieder zurückziehen würden, um nicht über die Erwachsenheit reden zu müssen – ich hätte in Ihre Texte zu Beginn und gegen Ende von „Selbstdarstellung als Philosophie“ irrigerweise etwas hineingelesen, was dort nicht stehe: „nämlich die Aussicht auf ein Erwachsenenalter konsolidierter Selbstsicherheit.“ Dieser Irrtum ist mir aber keineswegs unterlaufen. Ich hatte zwar gesagt, dass ich nicht nachvollziehen kann, dass Sie die Metaphern von Kindheit und Pubertät verwenden und eine Erwachsenheit völlig wegblenden, aber nie, dass diese in Ihren (oder meinen) Augen, wie Sie unnötigerweise abstreiten, in einem erstarrten Endzustand „ruhiger Selbstsicherheit und gefestigter Klarheit“ bestehe. Ich hatte die evtl. Erwachsenheit allenfalls negativ bestimmt, durch Abwesenheit des „irrationalen Über-Ichs“. Mit einer (verbesserungsbedürftigen) Stelle des vermeintlichen „Nihilisten“ Stirner gesprochen, wo dessen „Utopie“ anklingt (Reclam, S. 89): „Die frechen Buben werden sich von Euch nichts mehr einschwatzen und vorgreinen lassen und kein Mitgefühl für all die Torheiten haben, für welche Ihr seit Menschengedenken schwärmt und faselt: sie werden das Erbrecht aufheben, d.h. sie werden Eure Dummheiten nicht erben wollen, wie Ihr sie von den Vätern geerbt habt; sie vertilgen die Erbsünde. Wenn Ihr ihnen befehlt: Beuge Dich vor dem Höchsten – so werden sie antworten: Wenn er Uns beugen will, so komme er selbst und tue es; Wir wenigstens wollen Uns nicht von freien Stücken beugen. Und wenn Ihr ihnen mit seinem Zorn und seinen Strafen droht, so werden sie’s nehmen wie ein Drohen mit dem Wauwau. Glückt es Euch nicht mehr, ihnen Gespensterfurcht einzujagen, so ist die Herrschaft der Gespenster zu Ende, und die Ammenmärchen finden keinen – Glauben.“ À propos Erbsünde: Sie verweisen mich ausdrücklich auf S. 419 von „Selbstdarstellung als Philosophie“, weil Sie dort das mit der Metapher –

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Kindheit ja, Pubertät ja, Erwachsenheit nein – Gemeinte mit einer weiteren Metapher, der vom zweiten Sündenfall, „erläutern amplifizieren“. Weder dort noch in Ihren brieflichen Erklärungen kann ich jedoch eine Amplifikation des Gemeinten erblicken. Im allbekannten ersten Sündenfall, sagen Sie im Brief, habe der Mensch gelernt, was gut und böse ist; im zweiten, den Sie den Fichte’schen nennen, sei er belehrt worden, dass „es nicht so ist“. Es habe sich herausgestellt, dass dieser Halt so einfach nicht zu haben sei. (Aber er war doch seit unvordenklichen Zeiten über Jahrtausende einfach zu haben!?) Jeder müsse sich jetzt selbst darum kümmern, was sein Programm etc. ist. Das freilich hört man heute von allen Seiten. Bloß kaum einer ist wirklich dazu fähig. Dazu bedürfte es dann wohl doch noch eines weiteren, des dritten „Sündenfalls“. Besten Dank für die Einladung zum Zehnten Symposion der GNP. Ob ich teilnehmen können werde, ist leider noch ungewiss. 23. Februar 2002 Sehr geehrter Herr Laska, an Ihrem Brief vom 22.02. ist nicht leicht zu erkennen, ob wir in der Sache von einander abweichen oder dieselbe Sache meinen, aber von verschiedenen Seiten und mit anderem Akzent. Ihre schroffe Verwerfung der bisherigen Geschichte als Fahrt der Menschheit „auf morschen Booten, auf wahren Seelenverkäufern mit blinden Kapitänen“ geht mir zu weit. Ich gebe Ihnen Recht für die metaphysische und „archimedische“ (d.h. einen archimedischen Punkt, ein absolutes Kriterium für allgemeingültige Werturteile beanspruchende) Anmaßung in den monotheistischen Religionen und den diese anleitenden Philosophien, aber ich denke nicht daran, deswegen die Religion als Verhalten aus Betroffensein von Göttlichem in Bausch und Bogen zu verwerfen, auch nicht historisch ausgeformte Religionen wie die der Griechen und Römer oder der Japaner bis zur Gegenwart, nicht einmal pauschal das Christentum, nicht den heiligen Geist des 1. Johannesbriefes, die inspirierende Kraft der mittelalterlichen Kathedralen, der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen, der Musik von Bach. Hätten wir doch heute mehr davon in gelebter Gegenwartsnähe! Der „virtuos navigierende Wellenreiter“ ist eine schöne Vision künftigen erwachseneren Menschseins, solange der sich nicht bloß zuversichtlich als Könner fühlt, denn zum Wellenreiten gehören die Wellen, die ständige Erfahrung einer Übermacht, die den Reiter stets zu überwältigen droht, manchmal in der Tat aus dem Gleichgewicht (zum Sturz) bringt und ihm unvorhersehbare Leistungen der Meisterung abnötigt, in meiner Sprache: Personale Regression ist zum Personsein ebenso wichtig wie personale Emanzipation. Stirner, von Ihnen zitiert, schreibt: „Wenn er uns beugen will, so komme er selbst und tue es.“ Ich würde eine Formulierung im Neutrum vorziehen: Es möge über uns kommen und uns beugen (und wieder aufrichten lassen) – das Göttliche, das Heilige in

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unvorhersehbarer Gestalt. Plädiere ich damit für das „irrationale ÜberIch“? Dieses schillernde Schreckbild mache ich mir nicht zu eigen, solange es nicht klaren Umriß erhalten hat, aber ich trete immer für Mobilisierung rationaler Kritikfähigkeit ein, auch im Verhältnis zum Heiligen und Göttlichen, und verabscheue den Irrationalismus aus Feigheit. Ich habe nichts gegen das Ideal einer reiferen und insofern erwachseneren Ausformung personalen Menschseins und distanziere mich nur von der „aufklärerischen Utopie“ einer Epochenschwelle, die zum dritten Reich (des heiligen Geistes oder der Vernunft) im Zuge einer weltgeschichtlichen „Erziehung des Menschengeschlechtes“ führen würde, über einen „dritten Sündenfall“, wie Sie schreiben. Warum verkennen Sie meine Analogie der Metaphern des Übergangs zur Pubertät und des zweiten Sündenfalls für die von Fichte (Stirner) angestoßene Wende des menschlichen Selbstverständnisses? Der erste Sündenfall war der Ausgang aus der Selbstsicherheit des skrupellosen instinktiven Lebens in die Verantwortung rationalen Prüfens und Wägens von Gut und Böse; der zweite Sündenfall ist der Ausgang aus der Sicherheit im Verhältnis zu sich selbst, die der naiven Objektivierung der subjektiven Tatsachen verdankt wurde, und Unsicherheit im Verhältnis zu sich selbst ist das Kennzeichen der Pubertät. Jetzt muß sich jeder um sich selbst kümmern. „Bloß kaum einer ist wirklich dazu fähig.“ Gewiß, das ist das Pubertäre. Klarheit über die Subjektivität von (harten) Tatsachen, wodurch das sogenannte Ich aus der rätselhaften Schwebelage à la FichteStirner-Kierkegaard-Wittgenstein erlöst wird, kann wohl weiterhelfen, aber kaum als Epochenschwelle, hinter der das Zeitalter menschheitlicher Erwachsenheit beginnt. Wenn ich dieser Vision auch nicht glaube, will ich sie doch nicht verrufen. 7. März 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, wenn ich unter Verwendung der von Ihnen eingeführten und m.E. auch gut gewählten Metapher vom Wellenreiter die bisherige Geschichte der Menschen nicht als die von geschickten Wellenreitern sehe, sondern eher als die von passiven „Passagieren auf morschen Booten, auf wahren Seelenverkäufern mit blinden Kapitänen“ sowie neuerdings auch die von Treibgut (Massen orientierungsloser Einzelner), so ist damit nicht, wie Sie meinen, eine „schroffe Verwerfung der bisherigen Geschichte“ ausgedrückt: es ging und geht eben – in „Kindheit“ und „Pubertät“ – banalerweise nicht anders als es nun mal gegangen ist und geht. Aber die Weiterentwicklung der Menschheit – ich meine nicht die von Ihnen immer wieder ins Gespräch gebrachte „Erziehung des Menschengeschlechts“ (wer könnte da auch Erzieher sein?) – über die Pubertät hinaus in die Erwachsenheit (eine Vorstellung, gegen die Sie sich unverständlicherweise heftig wehren, weil Sie sie irgendwie mit endgültigem Fertigsein und Erstarrung

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des Lebens identifizieren) kann ich mir nicht in einer einfachen Extrapolation der Pubertät vorstellen, sondern nur nach einer „Unstetigkeit“ im Verlauf der Kurve oder, wenn Sie so wollen, nach dem Überschreiten einer Schwelle, dies natürlich nicht von heute auf morgen. Damit will ich freilich nicht – wie ich wiederholt betonte – einer quasi historisch-materialistischen Gesetzmäßigkeit das Wort reden. Stirner sagt an einer Stelle (Reclam, S. 374): „Ich nehme mit Dank auf, was die Jahrhunderte der Bildung Mir erworben haben; nichts davon will ich wegwerfen und aufgeben …“ Auch er verwirft also die Geschichte nicht, aber er macht sie sich zu eigen, er verwendet sie nach Maßgabe seiner aktuellen Bedürfnisse. Das ist so banal wie der Altruismus aus Egoismus, aber wahrscheinlich würden Sie widersprechen, weil Sie wissen, was bei Stirner impliziert ist: er blickt ohne Ehrfurcht auf die Geschichte. Und wie könnte sich jemand die Religion („als Verhalten aus Betroffensein von Göttlichem“) oder auch die Religionen zu eigen machen? Sie geben mir nun Recht in einem Punkt, den ich eigentlich, weil er mir nebensächlich erscheint, nie betont habe: die Anmaßung der monotheistischen Religionen und dazugehöriger Philosophien, absolute Maßstäbe für Werturteile zu haben, und meinen, ich würde jene deswegen ablehnen. Für Sie hingegen sei dies kein Grund, die Religion als Verhalten aus Betroffensein von Göttlichem „in Bausch und Bogen“ zu verwerfen, nicht einmal die historisch ausgeformten Religionen. Und sie erinnern an verschiedene Kulturtaten der christlichen Religion, die gegen andere Taten, die Sie für verwerflich halten, aufgewogen werden müssten. Sie eignen sich also, wie Stirner, auch selektiv an, was die Jahrhunderte zu bieten haben – und doch scheint mir eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihm und Ihnen zu liegen, die aber nicht leicht begrifflich zu fassen ist und wohl das ist, was unsere Verständigung in diesen Briefen oft erschwert oder misslingen lässt. Aber wir sollten deshalb nicht verzagen, sollten neue Versuche wagen. Also: Die christlichen Kulturgüter, die Sie in Ihrem letzten Brief als für Sie wertvoll und nahezu lebensnotwendig aufzählen, stammen allesamt aus der Zeit vor 1800, aus der Kultur der „Kindheit“ der (europäischen) Menschheit. Sie seufzen, für mich durchaus verständlich: „Hätten wir doch heute mehr davon in gelebter Gegenwartsnähe!“ Würden Sie statt „mehr davon“ nicht sogar „etwas“ setzen wollen? Denn es gibt doch in der Gegenwart, in der „Pubertät“ also, nichts Vergleichbares. Denken Sie nur an die „Kunst“ des letzten Jahrhunderts auf allen Gebieten, erst recht natürlich an das, was aktuell unter diesem Titel (man kann wirklich sagen:) gehandelt wird! Mich jedenfalls überkommt da fürchterliche Übelkeit. Aber ich bezweifle trotzdem, dass uns die Kulturgüter lang zurückliegender Epochen den Mangel an eigenen (gegenwartsnahen) ersetzen können. Wir können sie nicht so erleben wie die Menschen der Zeiten, in denen sie entstanden sind. Sie können heute nur Surrogat sein. – Also, vielleicht jetzt etwas kurzgeschlossen:

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Das „Verhalten aus Betroffensein …“ sozusagen als anthropologische Konstante will ich gern akzeptieren; „… von Göttlichem“ würde ich nicht sagen; und „Religion“ als Bezeichnung für Verhalten aus Betroffensein verwerfe ich tatsächlich, weil ich den Begriff nicht von den historischen Religionen abzulösen vermag. Wir kommen damit wieder auf den Anlass unseres Austauschs zurück, wo ich (am 26.6.2000) zum Fazit Ihres Hitlerbuches schrieb: „Ein Zurück scheint mir weder möglich noch wünschenswert.“ Wir müssen nach 1800 leben. 8. März 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Wir trennen uns nicht nur hinsichtlich der „Vision“, sondern auch in der Einschätzung der Vergangenheit unserer europäischen Kultur. Je länger Ihre Beschreibung dieser Kultur als Fahrt in morschen Booten, wahren Seelenverkäufern, mit blinden Kapitänen in mir nachklingt, desto inadäquater, ja abenteuerlicher, kommt sie mir vor. Dabei gibt es eine breite Deckung unserer Sichtweisen, aber nur partiell. Als die eigentlichen Schurken der europäischen Geschichte gelten mir die Philosophen nach Empedokles, die (bis auf die Schwärmer des antiken sogenannten, in Wirklichkeit sehr unplatonischen, Neuplatonismus wie Plotin) ganz einseitig die menschliche Selbst- und später (seit Bacon und Descartes) Weltbemächtigung forciert und sich über die unwillkürliche Eingebundenheit der Menschen in Situationen, Atmosphären und leibliche Kommunikation rücksichtslos hinweggesetzt haben. Eine fatale Steigerung erfuhr diese falsche Tendenz durch die Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht in Folge der alarmierenden christlichen Heils- und Unheilserwartung. Damit haben die Philosophen mit ihrem Gefolge aus Theologie, Naturwissenschaft und moderner Aufklärung zwar die Mentalität und Impulsivität der Zivilisation einseitig gesteuert und das sonst großartige und segensreiche Instrumentarium der modernen Technik dem Mißbrauch ungeschützt ausgesetzt, aber diese dominante Tendenz im Kultursystem des Behauptens ist mit anderen Kultursystemen bemerkenswert großzügig umgegangen, großzügiger jedenfalls als die entsprechend dominante Tendenz in Indien und China, und diese anderen Zweige am Baum der europäischen Kultur haben sich zu einer Pracht entfalten können, die ich nicht genug preisen kann. Nichts da von blinden Kapitänen in wahren Seelenverkäufern, nicht einmal innerhalb des Kultursystems des Behauptens auf Gebieten, wo die dominante Tendenz der Philosophen keine Rolle spielte, etwa in der reinen Mathematik. Auch die Kultursysteme des Rechtes und der Politik (zu dieser vgl. meine „diachrone Verfassungslehre“, vgl. „Der unerschöpfliche Gegenstand“ S. 432– 438 nach „System der Philosophie“ III Teil 3 S. 325–376) haben sich viel reicher und reifer in Europa als in anderen Kulturen differenziert. Das Entsprechende gilt erst recht für die Künste (Architektur, Skulptur, Malerei,

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Musik) und nun gar für das Kultursystem der Phantasie, die Dichtung, die sogar in der Maßgabe für eines der wichtigsten Themen der privaten Lebensgestaltung, die geschlechtliche Paarliebe, seit dem späten Mittelalter der Philosophie das Heft aus der Hand genommen hat, vgl. von mir „Die Liebe“ S. 163–169, 179–195. Mit staunendem Dank ordne ich mich dem Erbe dieser Geschichte ein, soweit es nicht von den Philosophen (und den diesen zu- und nacharbeitenden Theologen, Naturwissenschaftlern und Aufklärern) mit Gift beträufelt wurde. Sie meinen freilich, um 1800 habe sich die Produktivität erschöpft. Da kann ich Ihnen nicht Recht geben. Das 19. Jahrhundert ist eine Epoche genialer, fruchtbringender Sezessionen in Malerei, Musik, Poesie in Auseinandersetzung mit der historisch großartigen, wenn auch durch Verlogenheit geschwächten Kultursynthese des Bürgertums. Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, bis zur Akme Hitlers rechnend, blüht dann um Jugendstil und Jugendbewegung herum eine neue Genialität aus dem Samen der Wagner- und Nietzschebegeisterung auf, überspannt, aber gestaltungsmächtig, mit prophetischen Spitzen etwa bei Trakl, Rilke, Heidegger, Rodin, Hofmannsthal und (wenn es sein muß) George sowie vielen anderen im Strom der Zeit, wofür Charlotte Bühlers Buch „Drei Generationen im Jugendtagebuch“ herangezogen zu werden verdient. Das ist die Zeit großer Durchbrüche in der evangelischen Theologie (historisch-kritische Analyse des Neuen Testaments, Göttinger Schule), in der Physik (Einstein, Heisenberg) und der mathematischen Logik (Hilbert’sches Programm, Gödel, Church). Zugegeben, nach Hitler ebbt die kulturelle Produktivität, aber doch nicht ohne einzelne Lichtpunkte. Auf die von mir entwickelte Neue Phänomenologie werden die Menschen wahrscheinlich nicht verzichten wollen. Der breite Bereich des affektiven Betroffenseins, der darüber entscheidet, was die Menschen wichtig nehmen, wofür sie sich mit Wärme einsetzen, wird erstmals besonnener Rechenschaft (statt, wie bisher, nur dichterischer Rede) zugänglich. Es ist nicht allzu wahrscheinlich, daß sich die Menschen auf die Dauer dieses Instrument neuartigen Verfügenkönnens ganz entgehen lassen. Eher fürchte ich, was sie damit noch anstellen können. Aber auch abgesehen davon brauchte eine Ruhephase kultureller Produktivität nicht Schlimmes zu bedeuten. Von der Spätantike an (mein akademischer Lehrer Rothacker meinte übertreibend, „nur der Genius Plotin“ mache das Zeitalter noch interessant) bis zum hohen Mittelalter vergingen fast 1000 Jahre, von deren Hinterlassenschaft wir heute wenig mehr als die irische, karolingische und ottonische Buchmalerei zu bewundern haben. Dann fand Irnerius in Florenz die einzige erhaltene Handschrift der Pandekten, und die Rezeption des römischen Rechts setzte ein und hielt an bis zum Gipfel des Bürgerlichen Gesetzbuches 1894/1900.

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18. März 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie haben sich wahrscheinlich sehr zurückhaltend und höflich auszudrücken versucht, als Sie im letzten Brief meine Rede, dass bis „1800“ – um Ihre an Fichte orientierte Datierung zu verwenden; Sie wissen, dass ich die Epochenschwelle, zeitlich gestreckter und mit „gefransten“ Grenzen, an die tabuisierte Kernidee der „Parias“ La Mettrie, Stirner, Reich binde, was aber für den Augenblick keine Rolle spielen soll – die Menschen eher als passive Passagiere auf Seelenverkäufern mit blinden Kapitänen zu bezeichnen wären, und danach bis heute und wohl noch für einige Zeit als orientierungslos treibende Einzelne; als Sie also diese meine Rede als inadäquat und abenteuerlich zurückwiesen. Sie setzen dagegen, dass Sie die Pracht der europäischen Kulturschöpfungen nicht genug preisen könnten, tun dies dann auch über eine Seite hinweg und bekennen, sich dem Erbe dieser Geschichte mit staunendem Dank einzuordnen. Aber Sie sehen auch „eigentliche Schurken“ in dieser Geschichte, jene Philosophen nämlich, die die Weltbemächtigung forciert und zugleich die Eingebundenheit der Menschen eskamotiert, damit aber dem Missbrauch der modernen Technik Tür und Tor geöffnet hätten. Abschließend sprechen Sie zwar die Hoffnung aus, dass die Menschen Ihre Neue Phänomenologie als „Instrument neuartigen Verfügenkönnens“ schließlich doch aufgreifen werden, befürchten aber gleichwohl, dass sie auch darüber, wie über die Naturwissenschaft und Technik, missbräuchlich verfügen werden. Ich hatte Ihnen ja schon anhand eines Stirner-Zitats gesagt, dass ich die Geschichte nicht, wie Sie zuvor geäußert hatten, „verwerfe“, was ich im übrigen, auch ohne Stirner, für völlig unsinnig hielte. Ich kann mich ihrem Erbe allerdings nicht mit staunendem Dank einordnen. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich sage, dass ich dieses Erbe nur sehr selektiv und nach Maßgabe meines – an meinem in der Gegenwart verankerten Lebens orientierten – Bedarfs mir aneigne. Das meinte ich auch im letzten Absatz meines vorigen Briefes, auf den Sie nicht weiter eingegangen sind: Wir müssen/sollten kulturell nach „1800“ leben. Natürlich müsste ich jetzt den Maßstab meines Auswählens benennen, die Motive meines – aufwendigen, aber von außen in jeder Hinsicht unbelohnten – Forschens in Gebieten, die allgemein als abseitig und erledigt betrachtet werden, die Absichten des Publizierens meiner Ergebnisse etc. Zum Teil werden Sie sie – zutreffend oder nicht – bereits erraten haben. Ich zögere dennoch, hierzu mehr ins Detail zu gehen, weil ich fürchte, dass hier die Gefahr des Missverstehens noch größer ist als bei unseren bisherigen Diskussionsgegenständen. Andererseits habe ich das Gefühl, dass unsere bisherigen Probleme, unsere Übereinstimmungen und Gegensätze zu fassen, genau auf diesen Komplex weisen. Ein Dilemma, das vielleicht später einmal lösbar wird.

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Also jetzt nochmal zurück zum Text Ihres letzten Briefes. Ich habe das Bild von den passiven Boots-Passagieren und den blinden Kapitänen nicht gebraucht, um die von Ihnen gepriesenen oder andere Kulturleistungen zu diskriminieren, sondern nur, wie ich aber schon betonte, um Ihr Bild vom virtuosen Wellenreiter zu kommentieren. Diesen, der ja ein Einzelner ist, sehe ich eher in einer vielleicht möglichen Zukunft (der „Erwachsenheit“ der Menschheit). Er wird sich umso besser entfalten können, je mehr er es nur noch mit den Elementen zu tun hat und mit anderen Wellenreitern (darin besteht mein von Ihnen einmal beargwöhnter „Egalitarismus“; keine Einebnung von Rängen); wenn ihm nicht mehr ständig die vielen fehlgesteuerten Boote und orientierungslos im Strom treibenden Menschen in die Quere kommen. Erstarrung, Stillstand, „Autonomie“ verbinde ich nicht mit diesem Bild. Der Strom des Lebens wird nicht aufgestaut oder „begradigt“; er wird vielmehr, ohne gestrandete Wracks allerorten, seinen naturgegebenen Weg besser finden denn je. – Wenngleich ich, wie gesagt, die kulturellen Errungenschaften der Vorfahren weitaus skeptischer betrachte als Sie, würde ich keine „Schurken“ in ihr ausmachen wollen, nicht einmal in den Widersachern meiner Helden: also in Diderot, Voltaire et. al., Marx, Nietzsche et al., Freud et al., die La Mettrie, Stirner, Reich wirklich auf übelste Weise mitgespielt haben. Als „welthistorische“ Schurken – oder jedenfalls Objekte negativer Gefühle – würde ich vielmehr die heute lebenden Menschen (natürlich unter ihnen vornehmlich die Kundigen, die Philosophen etc.) ansehen, die angesichts der von mir aufgedeckten Zusammenhänge allenfalls mit den Schultern zucken und, statt mitzuhelfen, es vorziehen, weiter im Grunde ratlos, aber „geborgen“ im Hauptstrom des Zeitgeistes zu treiben – solange die Kasse stimmt. 20. März 2002 Sehr geehrter Herr Laska, Ihr Brief vom 18. März ist so glücklich formuliert, daß ich nichts daran auszusetzen habe, nicht wegen völliger Einigkeit, sondern weil Sie die Verschränkung von Übereinstimmung und Gegensatz unserer Auffassungen, worüber wir schon oft hin- und hergeschrieben haben, sehr genau treffen: Bei ähnlicher Einschätzung des Zeitgeistes in einem weiten, etwa um 1900 beginnenden Rahmen weichen wir sowohl in der Retrospektive als auch im Prospekt, der Hoffnung für die Zukunft, von einander ab. Wenn wir dabei nicht stehen bleiben wollen, müssen wir danach suchen, wie wir dieser Abweichung noch eine neue Seite oder Beleuchtung abgewinnen können. Mir scheint dafür das Bild des Wellenreiters, das wir für die Zukunftsperspektive trotz der Abweichung mit einander teilen, vielleicht geeignet zu sein, sofern die räumlichen Implikationen der Metapher verfolgt werden. Die Kunst des Wellenreitens erweist sich in der vertikalen Richtung: Er muß sich dem Abstürzen entziehen, indem er sich mit gewandter Anpassung

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oben hält. In dieser Hinsicht scheint mir das Bild dafür fruchtbar zu sein, die Herausforderung an das Personsein zu beleuchten, die sich ergeben wird, wenn das anfängliche Mißverständnis der subjektiven Tatsachen durch konsequente Ablösung der Tatsächlichkeit von der obligatorischen Bindung an Neutralität (Objektivität) aufgeklärt ist: Die Menschen können sich nicht mehr auf objektive Tatsachen ihrer „Stellung im Kosmos“ (Scheler) berufen, sondern müssen jeweils ihre Stellung durch eigene Stellungnahme finden und ständig neu gegen Erschütterungen, emotionale Hinfälligkeit, Labilität, personale Regression, sich aufrichtend, behaupten. Dieser Mensch wird sich nicht mehr so leicht wie der frühere vor der verantwortlichen Sorge für sich auf das vermeintlich Selbstverständliche zurückziehen können. In der Anwendung des Wellenreiter-Bildes auf diese vertikale Dimension sind wir vermutlich ungefähr einig. Zu der Vertikale kommt aber für die Person die Horizontale ihres Lebens, das als Geschichte geführt werden muß. Da hilft das Bild vom Wellenreiter nicht mehr. Niemand wird sein Leben bloß als Wellenreiten führen wollen. Den wirklichen, buchstäblichen Wellenreiter bestimmt bloß sportlicher Ehrgeiz dazu, sich von Zeit zu Zeit, relativ kurzfristig, an diesem Wagnis zu versuchen. Das reicht nicht als Leitmotiv einer Lebensführung. Diese braucht vielmehr ein Woher und Wohin, nicht als Fixpunkte Ursprung und Ziel, aber als orientierende Richtungen, eventuell mit verschwimmenden Rändern. Dafür gibt es bei Stirner (um von Lamettrie zu schweigen) und wohl auch bei Ihnen kein Konzept. Dessen Platz wird von einer Maxime universeller Beliebigkeit weggenommen. Ich sehe für das Woher die Verwurzelung der persönlichen Situation in implantierenden Situationen, mit denen die Person sich in eigener Verantwortung und Rechenschaft auseinandersetzen kann, vor. Die Frage nach dem Wohin erübrigt sich mehr oder weniger für Menschen mit starkem Daimon, aber das sind Ausnahmefiguren; an der Verallgemeinerung dieses Typs, die zum Glück nicht in Frage kommt, würde die Menschheit zu Grunde gehen. Ein anderes, freilich verwandtes, aber auch Menschen mit schwächerem Daimon zugängliches Wohin ist das Heilige. Etwas ist heilig für jemand, wenn es begünstigt ist durch eine für ihn mit unbedingtem Ernst verbindlich geltende Norm, sofern dieser unbedingte Ernst auf der Autorität eines Gefühls, von dem er ergriffen ist, beruht. 4. April 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, wieder einmal muss ich meinen Brief mit der Bitte um Entschuldigung für die Verzögerung meiner Antwort beginnen; aber die „gesetzlichen Feiertage“ beanspruchen manchmal mehr Zeit als sie schenken. Sie knüpfen am 20.3. noch einmal an unsere Metapher vom Wellenreiter an, zerlegen sie jetzt aber gleichsam vektoriell in zwei – von Ihnen als „vertikal“ und als „horizontal“ bezeichnete – Komponenten und sagen,

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dass wir uns bisher nur über die vertikale verständigt hätten und über diese wohl auch weitgehend einig seien. Außerdem sei unser bisheriger – vertikaler – Wellenreiter nur jeweils kurzzeitig als solcher aktiv, und dies allein aus sportlichem Ehrgeiz, repräsentiert also nur noch einen Aspekt des Menschseins. Das aber heißt doch, dass man auch ganz ohne Wellenreiten durchs Leben kommt. Sie sagen das ja auch ausdrücklich: „Niemand wird sein Leben bloß als Wellenreiter führen wollen.“ Warum aber überhaupt Wellenreiten? Wer nicht gerade an sportlichem Ehrgeiz, an Übermut und Langeweile leidet, lässt das „Wagnis“ des Wellenreitens doch am besten ganz. Ich habe hingegen bei unserer Diskussion bisher stets ein anderes Bild vor Augen gehabt: Der Wellenreiter im Strom des Lebens (wie Sie ihn mir mal, ich glaube, aus Goethe zitierten), auf dem er sich zwar permanent zu behaupten hat, den er aber nie beherrschen können wird (Sie haben dieses Bild meiner Erinnerung nach gebracht, um es gegen die Illusion von „Vernunft“-Autonomie, die Sie bei mir vermuteten, zu setzen). Dieses Bild liegt auch meinen weiteren Ausmalungen, an denen Sie Anstoß nahmen (über die passiven Passagiere auf von blinden Kapitänen geführten Seelenverkäufern), zugrunde, sowie meiner auch schon genannten Auffassung, dass der wirklich virtuose Wellenreiter für mich eher in einer (wahrscheinlich utopischen) fernen Zukunft auftreten wird; dass er, wenn er als Frühgeborener schon heute vereinzelt aufträte, von der Masse der hilflos im Strom Treibenden an der Entfaltung seiner Fähigkeiten sehr behindert würde: zum einen durch ihre bloße Existenz als Treibgut, zum anderen durch deren Feindseligkeiten aus Ressentiment (Nietzsche). Der virtuose Wellenreiter, wie ich ihn vor mir sah, würde zwar im jetzigen Strom des Lebens, in dem er durch die Masse der Umhertreibenden stark behindert ist („Massendemokratie“ etc.), besser durchs Leben kommen als diese; aber er würde sich doch stets nach einem Strom sehnen, der von ebenfalls virtuosen Wellenreitern befahren wird. Im Grunde ist dieser Wellenreiter identisch mit dem Stirner’schen „Eigner“ oder auch mit dem Typus, den Sie bereits früher einmal und am 20.3. wieder ansprachen: den Menschen mit starkem Daimon. Diese, die letzte Passage Ihres letzten Briefes hat mich besonders verwundert: Sie beeilen sich sichtlich, emphatisch hinzuzufügen, dass die „Verallgemeinerung dieses Typs … zum Glück nicht in Frage kommt“ und begründen (?) das damit, dass dann die Menschheit zu Grunde gehen würde. – Ich sähe darin stattdessen die Überwindung jener kulturhistorischen Schwelle, von der wir oft sprachen, den Ausgang aus der „Pubertät“. Aber mich würden die Gründe für Ihre apokalyptische Vision sehr interessieren. Für Menschen mit starkem Daimon, sagen Sie, erübrige sich die Frage nach dem „Wohin“. Um diese Frage aufwerfen zu können, hatten Sie zuvor extra unseren alten, integralen Wellenreiter vektoriell zerlegt und ihm eine

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„horizontale“ Dimension abgerungen. Jetzt sagen Sie, es sei ein Glück, dass es fast nur Menschen mit schwachem Daimon gebe und bieten denen das „Heilige“ als Orientierung für ihr Wohin an. Damit sind wir aber doch wieder ungefähr am Ausgangspunkt unserer durch Ihr Hitlerbuch angeregten Diskussion. Ich glaube nicht, dass das Heilige, das in früheren Zeiten für die meisten Menschen gewiss die Funktion gehabt hat, die Sie ihm zuschreiben, künstlich reanimiert oder von selbst wieder lebendig werden kann („Hindu-Götter“); ebensowenig wie, um ein anderes Ihrer Bilder zu verwenden, die pubertierende Menschheit (nach „1800“) ihren Reifungsproblemen dadurch entkommen kann, dass sie sich in ihre Kindheit zurücksehnt. Sie muss wachsen. 5. April 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Mit meinem Brief vom 20. März wollte ich einen Weg einschlagen, auf dem wir unsere Überzeugungen in neuer Richtung vergleichen, deren Abweichung beleuchten könnten. Leider haben Sie diese Anregung nicht aufgegriffen und mit Ihrem Brief vom 4.04. gegen Ansichten sich gewendet, die mir fernliegen und die ich nirgends auch nur angedeutet hatte. So wird aus dem Versuch, eine neue Perspektive des Vergleichs freizulegen, ein unfruchtbarer „Schlagabtausch“. Ich habe das Wellenreiterbild nicht in zwei vektorielle Komponenten zerlegt, sondern seine (wichtige) Tragweite auf eine von beiden Komponenten, die vertikale, das „Auf und Ab des Lebens“, eingeschränkt und darüber hinaus die andere, horizontale, ins Gespräch gebracht, für die der Wellenreiter als solcher unzuständig ist. Dennoch liegt mir völlig fern, was Sie mir unterstellen: „Das heißt aber doch, daß man auch ganz gut ohne Wellenreiten durchs Leben kommt.“ Im Gegenteil: Zur hinlänglichen, der Herausforderung durch den „zweiten Sündenfall“ gewachsenen Führung des Lebens nach Fichte ist das Wellenreiten (im metaphorischen Sinn) notwendig, aber nicht zureichend, weil dadurch keine Orientierung in der zweiten, quasi horizontalen Dimension (Woher-Wohin) gegeben wird. Dieses Manko wollte ich mit dem Satz belegen: „Niemand wird sein Leben bloß als Wellenreiter führen wollen.“ Hier ist das Wort im buchstäblichen, nicht metaphorischen Sinn gemeint, um die Unzulänglichkeit (bei eingeräumter Unentbehrlichkeit) des metaphorischen Wellenreitens für die Lebensführung zu beleuchten. Das Bild läßt uns den Stolz und das Vergnügen virtuoser Meisterung des Lebens im Augenblick, des Auf und Ab, aber das genügt nur für den sportlichen Ehrgeiz und wird ein schales Vergnügen, wenn man in seinem Leben nicht auch eine Richtung hat, ein implizites Wissen, wohin man will. Das hat der Mensch mit starkem Daimon. Anscheinend wollen Sie mir im letzten Absatz Ihres Briefes einen Widerspruch nachweisen, weil ich sage, daß sich für ihn die Frage nach dem Wohin erübrigt, andererseits aber, wie Sie meinen, die „horizon-

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tale“ Dimension der Lebensführung nur eingeführt hätte, „um diese Frage aufwerfen zu können“. Das trifft nicht zu. Diese horizontale Dimension ist für den Menschen mit starkem Daimon von der größten Wichtigkeit, er lebt hauptsächlich in ihr, aber sie steht für ihn nicht in Frage, denn er weiß Bescheid. Gegen Sie und Stirner erhebe ich den Vorwurf, daß Sie diese horizontale Dimension, in der sich der Mensch mit starkem Daimon seiner Sache, für die er lebt, implizit oder instinktiv sicher ist, ignorieren und durch ein Prinzip universeller Beliebigkeit ersetzen. Und warum würde die Menschheit zu Grunde gehen, wenn alle Menschen einen starken Daimon hätten? Weil die vielen Schlafwandler, von denen jeder seinen daimonischen Kurs verfolgt, rettungslos auf einander prallen würden. Der starke Daimon ist eine Tugend, wenn er relativ selten ist, und der schwächere Daimon des Menschen, der eine Richtung seines Lebens erst noch sucht, ist eine Tugend, wenn er relativ häufig vorkommt und dem Gesamtleben der Menschen einen Spielraum weicherer Aufgeschlossenheit, so etwas wie ein Auffangbecken für Stöße, einträgt; denken Sie nur an die vielen Frauen, die jetzt krampfhaft zur Härte („Eroberung gesellschaftlicher Machtpositionen“) erzogen werden sollen. Für das Richtungfinden solcher Menschen ist das Heilige ein ganz besonderer Segen, aber nicht das Heilige aus der Kindheit der Menschheit, auf das allein Sie abstellen, das metaphysische Gaukelspiel, sondern das Heilige in dem Sinn, den ich im letzten Satz meines Briefes vom 20.03. definiert habe. 18. April 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, wir kennen uns doch inzwischen als Briefpartner so gut, dass Sie eigentlich nicht im Ernst annehmen konnten, ich habe in meinem letzten Brief (4.4.) einen „unfruchtbaren Schlagabtausch“ beginnen wollen. Ich wollte nur, nachdem wir schon des öfteren das Bild vom Wellenreiter zur Verständigung über unsere Sichtweisen der Situation des Menschen benutzt hatten, meinen aus Ihrem vorangegangenen Brief gewonnenen Eindruck mitteilen, dass wir nicht mehr das Gleiche meinen, wenn wir vom Wellenreiter sprechen. Vielleicht war meine Rede, Sie hätten den Wellenreiter in zwei Vektoren zerlegt, nicht glücklich gewählt. Aber das hätte Sie nicht zu irritieren brauchen, weil ich ja – sicherheitshalber – das Bild, das ich vor Augen hatte, wenn ich vom Wellenreiter sprach, in zwei Absätzen noch einmal beschrieben habe. Sie gehen in Ihrer Erwiderung auf mein Wellenreiterbild – und auf meine Nachfragen zu Ihrem – nicht näher ein und wiederholen, dass Sie das Wellenreiten als etwas betrachten, das eher dem sportlichen Ehrgeiz genügt; das für die Lebensführung zwar unentbehrlich (warum?), aber unzulänglich ist, weil die Freude an der eigenen Leistung auf die Dauer schal

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wird, wenn man nicht weiß, wohin man will; wenn die horizontale Dimension fehlt. Ich will nun wirklich nicht im Sinne eines Schlagabtausches Ihr Wellenreiterbild (das Sie m.E. in Ihren letzten beiden Briefen erheblich modifiziert haben) weiterhin bzw. mich wiederholend kritisieren, sondern versuchen, auf den Kern Ihres Einwands, so wie ich ihn aus Ihrem Vorwurf gegen „Stirner und mich“ herauslese, einzugehen. Sie scheinen zu meinen, mein virtuoser Wellenreiter, der auf dem Strom des Lebens permanent die Aufgabe meistert, über dem Wasser zu bleiben, Klippen und Strudeln auszuweichen, Kollisionen mit anderen Wellenreitern zu vermeiden etc., unterscheide sich nicht wesentlich von denen, die sich einfach treiben lassen oder anderen, die sich verbissen ein Ziel außerhalb des Lebensstromes setzen und trotz aller Anstrengung scheitern. Letztlich sei das Ziel meines Wellenreiters – die Ankunft an der Mündung des Stromes in den Ozean – das gleiche, das auch jene erreichen, die unterwegs sozusagen auf der Strecke bleiben und lädiert oder als Leichen ankommen. Dies lässt sich schwerlich bestreiten, wäre aber für mich kein ernsthafter Einwand. Der „Sinn des Lebens“ als virtuoses Wellenreiten, was heißt: Meistern von schwierigen Fährnissen, Vermeiden von Abstürzen und Zusammenstößen, aber auch die Fähigkeit, ruhige Stellen zur Entspannung zu nutzen, an schönen Ufern anzulegen und zu verweilen etc. – aber gewiss nie irgendwie „Herr“ über den Strom zu sein (Sie erinnern sich sicher: Dieses Thema, das der „Autonomie“, hat Sie einst veranlasst, die Metapher in unser Gespräch einzuführen). Die mögliche Frage, was denn im Lebensstrom eine zu meidende Gefahr und was eine anzustrebende Situation sei, stellt sich meinem virtuosen Wellenreiter nicht. Er ist insofern derselbe wie der Mann bzw. Mensch mit starkem Daimon oder, in meinem Verständnis, der Stirner’sche „Eigner“ oder der Reich’sche „genitale Charakter“: er ist sich seiner Sache instinktiv sicher. Ich kann deshalb nicht nachvollziehen, dass Sie – in Erwiderung auf meine Nachfrage, warum Sie (am 20.4.) meinen, eine Welt aus Menschen mit starkem Daimon würde zu Grunde gehen – diesen Menschentypus nun als „Schlafwandler“ charakterisieren, der sozusagen realitätsblind auf ein Ziel (bei Stirner: „fixe Idee“) losstürmt und dabei unweigerlich an seinesgleichen zerschellt. Zustimmen kann ich Ihnen indes, wenn Sie, Ihren Brief beschließend, sagen, für Menschen mit schwachem Daimon sei das Heilige zur Ausrichtung ihres Lebens ein Segen. Das Problem unserer (Übergangs-?)Zeit sehe ich allerdings darin, dass die heutigen Menschen im „Westen“ einerseits nur noch ein verkümmertes Organ für das Heilige (ich meine nicht, wie Sie vermuten, das aus der Kindheit der Menschheit, sondern durchaus das im letzten Satz Ihres Briefes vom 20.3. definierte) haben und andererseits keinen ausreichend starken Daimon, um zu wissen, was sie wollen.

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Ich weiß, dass Sie diese Sicht der Dinge nicht teilen, kann aber Ihren Vorwurf, „Stirner und ich“ würden das, was Sie zuletzt als horizontale Dimension bezeichneten, ignorieren, nur verständnislos zur Kenntnis nehmen. 22. April 2002 Sehr geehrter Herr Laska, es hat etwas Tragikomisches, daß wir trotz guter Absichten und nicht ganz geringer Fähigkeit zum Formulieren immer wieder an einander vorbeireden. Dennoch will ich die erste Pause, die sich nach der Anstrengung in Hamburg (10. Tagung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie: Was bleibt von Gott?) mir bietet, zum Eingehen auf Ihren Brief vom 18. April nützen. Um den Spielraum des Mißverständnisses zwischen uns wenigstens einzuschränken und Ihnen die von mir nicht sehr bezeichnend „horizontal“ genannte teleologische Dimension des Personseins, für die Sie kein Interesse haben, doch etwas näher zu bringen, will ich eine Stelle aus einem Brief Wilhelm v. Humboldts an seine Frau, die ich in meinem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ auf Seite 116 zitiert habe, teilweise ausschreiben: „Es ist darum auch nichts falscher, als das Glück nach dem Maß positiver Freuden zu messen, die es gibt. Mit Freude und Genuß ist es so wenig gleichbedeutend, daß es ja oft in Schmerz und Entbehrung gesucht und empfunden wird, und es hängt lange nicht so von den Dingen ab, denen man es zuschreibt, als von der Kraft und Neigung der Seele, sich aus seiner äußeren Lage seine innere Bestimmung zu machen, sie mit einer Art sehnsüchtiger Begierde zu ergreifen und fest an ihr zu hängen.“ Damit meine ich keineswegs einen vorgefaßten Lebensplan, an den auch Humboldt nicht denkt, sondern das Innesein der Richtung, worauf man hinauswill, auch ohne Explikation einzelner Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) aus dem prospektiven Anteil der eigenen persönlichen Situation. Die Sicherheit dieses teleologischen Inneseins macht den Menschen mit starkem Daimon gleichsam zum Schlafwandler, der aber keineswegs realitätsblind sein muß und schon gar nicht losstürmt; auch der echte Schlafwandler soll ja mit nuancierter Sensibilität Kunststücke des Balancierens auf gefährlichen Wegen zu Stande bringen. Aber solchen Menschen ohne „Pufferzonen“ schwächerer Daimon-Steuerung das Feld zu überlassen, dürfte allerdings fatal sein. Der Schlafwandler mit starkem Daimon muß auch ein Wellenreiter sein, wenn er sich in einer (nach Fichte) nicht mehr von lauter objektiven oder neutralen Geltungen (Bedeutungen) bestimmten Welt zurechtfinden soll, weil er die Labilität des Personseins im Auf und Ab von personaler Emanzipation und personaler Regression nicht mehr durch Halt an dem, was an sich oder absolut das Richtige zu sein verspricht, auszugleichen vermag. Sie zeichnen von diesem Wellenreiter das Bild eines virtuosen höfischen Weltmannes im Geist von Baltasar Gracián und seiner Nach-

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folger, eines Mannes, der sich darauf versteht, Klippen und Strudeln auszuweichen, Kollisionen mit anderen Wellenreitern zu vermeiden, ruhige Stellen zur Entspannung zu nützen, an schönen Ufern anzulegen usw. Das ist allerdings ein eher genüßlich-beschauliches Ideal, verglichen mit dem von Gracián, der den Weltmann in erster Linie als geschickten Fechter unter seinesgleichen sieht und dadurch das Bild vom sportlichen Ehrgeiz nahelegt; aber auf das Wellenreiten im buchstäblichen Sinn paßt es jedenfalls, und mir scheint, daß auch der Wellenreiter im übertragenen Sinn wellenreitender Lebensführung über den bloß sportlichen Erfolg der Meisterung des Auf und Ab nicht hinauskommt, wenn ihm die teleologische Führung fehlt, die der starke Daimon und das Heilige geben können. Ein Leben, das nicht mehr zu bieten hat, schenkt höchstens beiläufige Erfüllung und kein Glück, wie Humboldt es versteht. 30. April 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie sagen, wir würden immer wieder aneinander vorbeireden. Gewiss, gelegentlich schon, aber ich meine doch, dass wir im Wesentlichen einigermaßen richtig verstehen, was der jeweils Andere meint. Nur manchmal hapert es, wie mir scheint, auf beiden Seiten mit dem Akzeptieren. So hatte ich am 18.4. abschließend Ihren Vorwurf, „Stirner und ich“ würden die von Ihnen so genannte horizontale – bzw., wie Sie am 22.4. sagen: die teleologische – Dimension des Personseins ignorieren, zurückgewiesen. Dessen ungeachtet lassen Sie im letzten Brief parenthetisch einfließen, ich hätte ja an dieser Dimension kein Interesse, zitieren mir aber trotzdem Humboldt, um mir die Sache näherzubringen. Vielleicht sollte man Humboldt zugute halten, dass diese Stelle einem Brief entstammt. Ich kann jedenfalls Ihrer Formulierung in „Selbstdarstellung …“ (zu deren Bekräftigung oder Erläuterung Sie Humboldt dort heranziehen) eher zustimmen als der Humboldts. S. 115f.: „Glück und Unglück hängen viel weniger von partiellen Erfolgen und Misserfolgen ab, als von Realisierung und Verfehlung der Vorzeichnung, die die persönliche Situation … eines Menschen durch ihre prospektiven Anteile enthält. Verfehlungen in dieser Hinsicht tauchen auch das Leben des Erfolgreichsten in Unglück.“ D’accord! Sie meinen mit Erfolgen, partiellen zumal, wahrscheinlich Anerkennung eigener Leistungen durch Andere (die man ja auch erreichen kann, wenn man selbst seine Leistungen gar nicht besonders schätzt). Das „Glück“, das man daraus bezieht – die Anerkennung durch ranghohe Repräsentanten von Institutionen, deren Urteil einem selbst nicht viel bedeutet (Titel, Orden), oder schlicht eine vorteilhaftere Stellung im Güterverteilungsapparat (Geld) – ist in der Tat dubios; aber wahrscheinlich kennen die allermeisten Menschen nach dem Durchlaufen von Schule und Berufsausbildung gar kein anderes mehr: sie sind „realistisch“ geworden. Im Brief

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sprechen Sie dann vom „Innesein der Richtung, worauf man hinauswill.“ Wer darin, im Innesein dieser seiner teleologischen Richtung, fest und sicher ist, sei ein Mensch mit starkem Daimon. Wie aber sähe dessen Erfolg, dessen Glück aus? Er weiß, was er will. Und wenn er sein (Zwischen-)Ziel erreicht hat: ist es damit getan? Und: Könnten die Ziele des Menschen mit starkem Daimon eigentlich auch Titel, Orden, Geld etc. sein? Möglichst hohe, möglichst viel? Dies sind aber eigentlich eher rhetorische Fragen. Ich meine, schon in etwa verstanden zu haben, was Sie sagen wollen. Und es wird Sie sicher nicht überraschen, wenn ich Ihnen verrate, dass ich – bei der Art der geistigen Tätigkeit, für die ich seit vielen Jahren den Großteil meiner Kraft ohne jegliche Aussicht auf irgendeine der üblichen Belohnungen einsetze – mit der Problematik, die wir hier mit den Begriffen starker Daimon, Anerkennung, Erfolg und Lebensglück, aber auch Wellenreiten, umschrieben haben, aus existentiellen Gründen einigermaßen vertraut bin. Sie hat freilich viele Facetten, die sich in einem Briefwechsel wohl nur berühren lassen; so dass ich glaube, dass wir uns wesentlich leichter verständigen würden, wenn wir darüber sprächen bzw. wenn wir uns persönlich kennen würden. – Wenn Sie mich z.B. mit Stirner in einen Topf werfen („Stirner und Sie …“) und ich an Ihr Stirner-Bild denke (bzw. an das Bild, das ich aufgrund Ihrer Texte von Ihrem Stirner-Bild habe), dann fühle ich mich gründlich verkannt. Noch etwas anderes: Ich habe kürzlich die Gelegenheit wahrgenommen, Ihr Hitler-Buch antiquarisch zu erwerben. Vor zwei Jahren hatte ich es mir nur ausgeliehen, und seither habe ich es nicht mehr in der Hand gehabt. Was mir jetzt besonders zu denken gab, war gleich der erste Satz der Vorrede: „Hitler ist ein Ereignis, das die Besinnung erschlägt.“ Später sagen Sie aber, dass der Schock des Ereignisses Hitler Ihrem philosophischen Denken einen beträchtlichen Impuls gegeben hat. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich fünfzehn Jahre jünger bin als Sie: der Impuls, der mein philosophisches Denken wesentlich anstieß und seit langem auf Trab hält, ist die geistige Situation, die sich nach 1945 (nicht unbedingt, weil Hitler militärisch besiegt war), parallel zu meinem Lebensablauf, schleichend immer mehr einstellte, und der heute die meisten Philosophen etc. so unzufrieden wie ratlos ausgesetzt sind. Ich würde also sagen: „Was heute herrscht – ein treffender Name fehlt mir dafür – erschlägt die Besinnung.“ D’accord? 6. Mai 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Meine Antwort auf Ihren Brief vom 30.04. hat sich durch eine Vortragsreise (3.–5.05.) etwas verzögert. Übrigens werde ich nach Plan auch vom 9.–13. und 22.–28. Mai sowie am 31.05./1.06. aus (überwiegend) wis-

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senschaftlichen und vom 4.–9.06. aus privaten Gründen von Kiel abwesend sein. Ihr Brief läßt Differenzen zwischen uns nur noch am Rand erkennen. Mit Einführung einer teleologischen Dimension in die menschliche Lebensführung will ich darauf hinweisen, daß eine noch so gut gekonnte Meisterung des Auf und Ab („Wellenreiten“) das Leben unselig werden läßt, wenn es nichts hat, worauf es hinausläuft oder wenigstens hinauszulaufen strebt. Deswegen war mir zu wenig, was Sie in Ihrem Brief vom 18.03. als „Sinn des Lebens“ ausgaben: „Meistern von schwierigen Fährnissen, Vermeiden von Abstürzen und Zusammenstößen, aber auch die Fähigkeit, ruhige Stellen zur Entspannung zu nutzen, an schönen Ufern anzulegen und zu verweilen etc.“ Das ist alles gut, betrifft aber nur die Selbstbehauptung im Auf und Ab („Wellenreiten“). Bei der Teleologie denke ich, sofern es sich um die Führung durch einen starken Daimon handelt, im günstigsten Fall etwa an einen Menschen, der sich von früh an von dem Ziel, Arzt oder Architekt zu werden, angezogen fühlt, es auch erreicht und die Befriedigung seines Lebens darin findet, Menschen zu heilen (trotz des Einwandes Platons, daß der Arzt zwar dafür kompetent ist, Krankheiten zu beseitigen, aber nicht dafür, zu wissen, ob das für den Patienten gut ist) bzw. schöne und wichtige Bauten zu errichten. (Der Daimon kann aber auch „dämonisch“ in bedenklicherem Sinn sein, siehe Hitler.) Es wäre aber unrealistisch und für das menschliche Zusammenleben bei Erfüllung nicht einmal vorteilhaft, darauf zu setzen, daß alle Menschen ihrer Richtung so unbeeinflußbar sicher sind. Vielmehr bedarf der Daimon als Führer im Leben nach Goethe der Ergänzung durch „Tyche, das Zufällige“ (Urworte. Orphisch), nicht nur als glückliche Gelegenheit, sondern auch als Wegweisung, und das Zufälligste ist nach meinem Buch „Das Göttliche und der Raum“ (System der Philosophie Band III Teil 4) S. 10 das Göttliche, das Heilige im nicht mehr metaphysischen Sinn. Daran fehlt es mir in den Perspektiven Stirners und Laskas (siehe vorstehendes Laska-Zitat), wobei ich aber keineswegs Sie und Stirner „in einen Topf werfe“, da ich mich von Ihrer sehr eigenwilligen Stirner-Nachfolge oder vielmehr Stirner-Umdeutung überzeugt habe. Ohne solche Perspektive endet aber auch der beste Lebensmeister („Eigner“) in Schopenhauer’schem Pessimismus und Lebensekel („Alles ist eitel“), selbst wenn er bessere Erfolge hat als Reichtum, Berühmtheit und Ehrungen, woran weder der von starkem Daimon noch der vom Göttlichen (erst recht nicht der von beiden) geführte Mensch hängen wird. Unter Erfolgen verstand ich alles das, wobei es dem Menschen, wie Kant in seiner Glückseligkeits-Definition sagt, nach Wunsch und Willen geht. Ihren Versuch, in meinem Satz „Hitler ist ein Ereignis, das die Besinnung erschlägt“ das Wort „Hitler“ durch die Wendung „Was heute herrscht“ zu ersetzen, kann ich nicht billigen. Gerade das Schlagartige, die

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stuporöse Wirkung wie bei Einschlagen eines Blitzes, fehlt dem gegenwärtigen, in steriler Betriebsamkeit erstarrenden Zeitgeist. Während Hitler eine ungeheure Herausforderung an die Besinnung bedeutet, wird diese durch die bequemere Betriebsamkeit unserer Zeit eher unterfordert, und es bedarf großer Eindringlichkeit, um die für sie nötige Sammlung zu gewinnen. Sie haben das Hitlerbuch antiquarisch erworben; es ist übrigens auch noch frisch (für mäßigen Preis) zu kaufen. Nebenbei: Nach 2 ½ Jahren ist wieder ein Buch von mir erschienen: Begriffene Erfahrung. Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie, Rostock, Verlag Ingo Koch. 16. Mai 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie haben mir in Ihrem letzten Brief die Zeiten genannt, in denen Sie in den nächsten Wochen von Kiel abwesend sein werden. Eine Pause in unserer Korrespondenz erscheint mir deshalb ganz ratsam, zumal auch ich in dieser Zeit zwar nicht fern von zuhause, aber doch recht beansprucht bin und sein werde. Ich werde Ihren Brief vom 6. Mai also erst in den Tagen nach dem 9. Juni beantworten. 16. Juni 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich nehme an, dass allfällige Turbulenzen, die Ihre vier am 6. Mai angekündigten Reisen mit sich gebracht haben werden, inzwischen weitgehend abgeklungen sind. Eigentlich hatte ich vor, die sechs Wochen Pause zu nutzen, um unsere bisherige Korrespondenz gründlich durchzusehen und Fragen, die liegen geblieben oder m.E. nur unzureichend geklärt worden sind, zu sammeln und in gebündelter bzw. kondensierter Form an den Anfang dieses Briefes zu stellen. Aber daraus ist aus mehrerlei Gründen leider nichts geworden, so dass ich an unsere letzten Briefe anknüpfen werde. In Ihrem letzten Brief, vom 6. Mai, erläutern Sie noch einmal die „teleologische Dimension“, die wir schon in früheren Briefen diskutiert hatten. Sie tun dies anhand des Beispiels eines Mannes, der durch einen starken Daimon geführt wird: einer, der immer schon Arzt werden wollte, es dann auch wurde und nun in seiner Tätigkeit volle Befriedigung findet. Dies ließe sich doch auf die meisten (alle „nützlichen“?) anderen Berufe, auch handwerkliche, übertragen. Oder? – Ich verstehe dabei (mindestens) zweierlei nicht: warum Sie hier von teleologischer Dimension sprechen, wo doch das Ziel sozusagen erreicht und ein stationärer Zustand der Zufriedenheit (oder ein Zyklus von Herausforderung und Befriedigung) eingetreten ist; und warum Sie im Anschluss sagen, dass es nicht gut wäre, wenn alle Menschen einer Gemeinschaft derart von einem starken Daimon geführt wären und also in ihrer Tätigkeit Befriedigung fänden. Sie begründen Ihre Meinung in

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Ihrem Brief nicht und fahren stattdessen fort: der führende Daimon genüge noch nicht für ein gelingendes Leben; er bedürfe der Ergänzung durch „Tyche, das Zufällige“ als Wegweisung (?). Und dann bilden Sie einen merkwürdigen Superlativ und sagen, das Zufälligste sei das Göttliche = Heilige im nicht mehr metaphysischen Sinn. Daran aber fehle es bei mir (und Stirner), weswegen ich wohl oder übel in Schopenhauer’schem Pessimismus und Lebensekel enden müsse. Diesen Gedankengang kann ich nicht nachvollziehen. Auch die anschließende Darlegung, in der Sie sagen, es gäbe drei sozusagen gute/richtige Arten, im Leben geführt zu werden – vom starken Daimon oder vom Göttlichen oder von beiden – (und zusätzlich doch wohl auch noch die Existenzart der Allermeisten – die auf Reichtum, Ruhm und Ehrungen reflektieren), half mir beim Bemühen des Verstehens nicht weiter. Ich habe trotz oder wegen der genannten Schwierigkeiten, Ihren Ausführungen vom 6. Mai zu folgen, das Gefühl, dass der Schlüssel zur Auflösung unserer persistenten Miss- oder Unverständnisse in unserer unterschiedlichen Sicht der Figur Stirner bzw. der Kernidee Stirners liegt. Sie schrieben, dass der „Eigner“ (der sich geradezu dadurch definiert, dass er das Heilige für sich nicht kennt) nur dann nicht in Lebensekel versinken müsse, wenn er das Heilige anerkennt, d.h., wenn er aufhört, Eigner zu sein (was aber für Stirner widersinnig ist, da es nur die „Empörung“ zum Eigner geben kann, nicht die Regression → man könnte fast vom „2. Hauptsatz der Stirnerlehre“ sprechen). Ich halte das Gegenteil für richtig, habe selbst überhaupt keine Neigung zu Lebensekel und Schopenhauer’scher Weltsicht, stattdessen, was aber etwas ganz anderes ist, zu dem „großen Verdacht“ – dies dürfte Sie aber nicht sonderlich überraschen. Sie sagen zwar, Sie hätten sich inzwischen von meiner „sehr eigenwilligen Stirner-Nachfolge oder vielmehr Stirner-Umdeutung“ überzeugt; ich aber kann das – eingedenk Ihrer letzten Briefe – nicht recht glauben. Vielleicht bin ich zu wenig Philosoph, um eine Sprache zu finden, die Ihnen – und den Fachphilosophen überhaupt – verständlich ist. Vielleicht ist aber die ungeheuerliche Prätention, die mit meiner (laienhaften) Stirner-UmDeutung verbunden ist, ein schwer überwindbares Hindernis für die (professionelle) Bereitschaft, sie ernst zu nehmen. Ich habe mich (u.a.) deshalb zunächst so sehr auf die beleggestützte Darstellung der Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte Stirners verlegt und in einer wahren „serendipity“ einen Fund nach dem anderen gemacht. Gerade habe ich eine Darstellung der „initialen Krise“ Nietzsches (im Oktober 1865, nach der Begegnung mit dem StirnerIntimus Eduard Mushacke) abgeschlossen – nicht zufällig ein bisher weißer Fleck in der sonst bis ins Allerkleinste erforschten Biographie Nietzsches. Solche Ergebnisse bestätigen mir immer wieder, dass ich auf der richtigen Spur bin, werfen aber natürlich zugleich ein real-surreales, auch erschreckendes Licht auf die emsige Tätigkeit der Legionen von Experten.

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17. Juni 2002 Sehr geehrter Herr Laska, ohne Zweifel haben Sie Anspruch auf einige Erläuterungen zu meinem Brief vom 6. Mai, da ich dort, um nicht umständlich lang zu werden, einige Ausführungen auf Anspielungen, die den Unvorbereiteten befremden mögen, verkürzt hatte. Nicht rechne ich dazu, woran Sie seltsamer Weise Anstoß nehmen: daß ich von einer teleologischen Tendenz auch für den Fall rede, daß sie ihr Ziel bereits erreicht hat. Das kommt doch zum Glück oft vor, daß ein Mensch mit ganzer Kraft auf etwas hinaus will, das er auch erreicht, wodurch aber seine teleologische Tendenz, darauf hinaus zu wollen, keineswegs überflüssig wird, denn – ob es sich nun um eine Frau, einen Beruf oder eine Lebensstellung anderer Art handelt – bis ans Lebensende gilt für das Erreichte Goethes Maxime: „Erwirb es, um es zu besitzen.“ Danach unterstellen Sie mir eine Behauptung, die ich nie getan habe, nämlich „daß es nicht gut wäre, wenn alle Menschen einer Gemeinschaft derart von einem starken Daimon geführt wären und also in ihrer Tätigkeit Befriedigung fänden“. Wie kommen Sie auf die sonderbare Idee, daß ich es nicht gut fände, wenn alle Menschen in ihrer Tätigkeit Befriedigung fänden? Vielleicht denken Sie an folgenden Satz meines Briefes: „Es wäre aber unrealistisch und bei Erfüllung nicht einmal vorteilhaft, darauf zu setzen, daß alle Menschen ihrer Richtung so unbeeinflußbar sicher sind.“ Wenn z.B. alle oder sehr viele mit unbeeinflußbarer Sicherheit dem Erfolg als Arzt oder Architekt – meine Beispiele im Brief vom 6. Mai – zustrebten, entstünde ein unvorteilhaftes Gedränge, weil man so viele nicht brauchen kann. Und was soll in einem Friedensreich ein Mensch tun, den ein ununterdrückbarer Impuls (ein „starker Daimon“) anhaltend dazu drängt, Soldat zu werden? Abgesehen davon, daß es schon aus Gründen der Bedarfslage nicht angeht, jeden Menschen seine Richtung und Rolle im Leben durch ein ihm eingepflanztes unbeirrbar festes Streben bestimmen zu lassen, wird das auch durch die Unsicherheit und Unzulänglichkeit vieler Erfolge solchen Strebens ausgeschlossen. Dabei habe ich die Elastizität des starken Daimon, der sich biegen, aber nicht brechen läßt, schon mitbedacht. Zum gedeihlichen Zusammenleben gehört außer der Führkraft von Menschen mit starkem Daimon auch die Ausweichbereitschaft und Formbarkeit des Wollens von Menschen, die keinen von sich aus so bestimmt eingestellten Kompaß in sich tragen; das sind keineswegs Menschen minderen Ranges oder gar „Treibgut“, als wäre der starke Daimon eo ipso ein Adelstitel. Ich habe in meinem Brief vom 6. Mai diese Ergänzungsbedürftigkeit mit Goethes Übergang von der ersten Strophe „Daimon, der Dämon“ in „Urworte. Orphisch“, wovon ich meine Rede von Menschen mit starkem Daimon ja genommen habe, zur zweiten Strophe „Tyche, das Zufällige“ beleuchtet. Die Führkraft des Daimon bedarf der Ergänzung durch

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die Formbarkeit durch das Zufällige, und es ist gut, daß eine breite Skala von Menschentypen zwischen beiden Seiten vermittelt. Ich weiß nicht, was Sie an dieser Feststellung befremdet. Am 6. Mai habe ich etwas unvermittelt dieser Würdigung des Zufälligen den Hinweis auf Seite 10 meines Buches „Das Göttliche und der Raum“ angeschlossen, wo ich formuliere, „daß das Göttliche nichts Notwendiges ist, sondern das Zufälligste, nicht ableitbar aus allgemeinen Prinzipien, nur von sich aus in jeweils unberechenbarer Gestalt hervortretend, wenn auch mit vielleicht unüberbietbar nachdrücklicher Gewalt und Autorität“. Das scheint mir ganz einleuchtend bei Voraussetzung meiner Begriffsbildung, wonach etwas göttlich für jemand ist nur in der Perspektive seiner Ergriffenheit von einem Gefühl, das für ihn dann Autorität mit unbedingtem Ernst (im Sinn meiner Definition dieser Wendung) besitzt; denn daß ein Gefühl mit solcher Autorität über jemand kommt, ist unberechenbar und insofern höchst zufällig. Der Zu-fall des Göttlichen kann die Führung durch den starken Daimon durchkreuzen. Sie aber finden auch darin etwas Unverständliches. Im letzten Absatz unterstellen Sie mir die Meinung, daß ein Mensch, der nichts Heiliges anerkennt, in Lebensekel versinken müsse. Vielleicht habe ich mich darüber am 6. Mai nicht trennscharf genug ausgedrückt, aber so weit wollte ich gar nicht gehen, sondern nur auf den Anfang des Briefes zurückkommen, wo die beiden Richtungen der Lebensmeisterung – das Auf und Ab im täglichen Lebenskampf und die teleologische Tendenz eines Lebens, das auf etwas hinauswill – gegenübergestellt werden. Mein Vorwurf gegen Sie und Stirner geht dahin, daß beide die zweite Komponente vernachlässigen, für die ich schon am Ende meines Briefes vom 22. April zwei Inspirationsquellen angegeben habe: die Führung durch den starken Daimon und/oder das Heilige, Göttliche. Wenn beides ausbleibt, drohen Lebensekel und Schopenhauer’scher Pessimismus; das war der Sinn meiner entsprechenden Bemerkung am 6. Mai. Jetzt habe ich einen langen Brief damit gefüllt, zwecks Klarstellung zu wiederholen und zu kommentieren, was ich schon einmal geschrieben habe. Das ist sehr unbefriedigend. Wenn unser Gedankenaustausch weiterführen und nicht zerfasern soll, müssen wir genau und geduldig auf das jeweils Gesagte eingehen. 30. Juni 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie sagen am 16. Juni, dass Sie sich am 6. Mai zur Vermeidung umständlicher Längen mit einigen Anspielungen begnügt hätten, die dem Unvorbereiteten jedoch befremdlich erscheinen mögen, und fügen hinzu, dass deshalb ich Anspruch auf Erläuterungen hätte. Als einen Unvorbereiteten kann ich mich nach nunmehr zweijähriger doch recht dichter Korrespondenz mit Ihnen eigentlich nicht betrachten. Doch will ich natürlich mit

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Dank Ihre Erläuterungen entgegennehmen und versuchen, darin die Klärung des bisher nicht ganz Verstandenen zu finden. Ich hatte zunächst gefragt, warum Sie von einer „teleologischen“ Dimension des Lebens auch dann sprechen, nachdem das erstrebte Ziel erreicht ist. Sie antworteten: Goethes Maxime „Erwirb es, um es zu besitzen“ gelte danach bis ans Lebensende. Ich kann daraus nur soviel entnehmen, dass Sie meinen, ein Mensch, der einmal mit großem Ernst, daimongeführt, ein Ziel angestrebt und erreicht hat, sei so beschaffen, dass er auch nach Erreichung des Ziels nicht ins Leere fällt und entweder sich ein neues Ziel setzt oder im Zustand des Erreichthabens zufrieden ist. Habe ich Sie so ungefähr richtig verstanden? Danach unterstellen Sie mir, ich hätte Ihnen etwas unterstellt, was Sie nie behauptet haben, und zwar in einem Satz, in dem ich (vermeintlich – s.u.) zwei Ansichten von Ihnen gekoppelt habe. Die erste Ansicht war die, dass es nicht gut wäre, wenn alle Menschen einer Gemeinschaft von einem eigenen Daimon geführt würden. Sie bekräftigen diese Ansicht noch einmal und begründen sie damit, dass es ein großes Gedränge gäbe, wenn alle Menschen leidenschaftliche Ärzte oder Architekten werden wollten – was doch sichtlich nicht gut sei. Da kann ich Ihnen schwerlich widersprechen. Ich hatte ja deshalb gefragt, ob Sie zustimmen würden, dass ein die „teleologische“ Dimension ausmachender Daimon auch in anderen, z.B. handwerklichen, eben in allen „nützlichen“ Tätigkeiten bestimmend wirken kann, z.B. in der Zielsetzung, ein meisterlicher Schreiner zu werden und zu sein etc. Sie gingen darauf nicht ein, hielten stattdessen dagegen, was denn jemand tun soll, der – in einem „Friedensreich“ lebend – von einem starken Daimon dazu gedrängt wird, Soldat zu werden (und schon am 6. Mai wiesen Sie darauf hin, wie „bedenklich“ ein starker Daimon im Falle Hitlers gewesen sei). Mir ergibt sich aus diesen Äußerungen noch kein stimmiges Bild. Sie fahren dann aber fort, dass Menschen mit starkem Daimon nicht nur solche seien, die sozusagen wissen, was sie für sich wollen (guter Architekt etc. werden – oder aber auch der perfekte Verbrecher?), sondern auch solche, die die Führkraft ihres Daimons zum einen das eigene Leben gestalten, zum anderen aber auch für das Leben ihrer Mitmenschen maßgeblich werden lassen wollen. Zum Ausleben dieser Ambition ist es natürlich notwendig, dass es Menschen gibt, die selbst keinen eigenen Daimon haben, bei denen, wie Sie sagen, eine „Formbarkeit des Wollens“ vorliegt. Zugleich beteuern Sie zwar, dass letztere durchaus nicht Menschen minderen Ranges seien; aber Sie werden doch nicht meinen, dass sie höheren Ranges sind oder dass es keine Rangordnung gibt. Mir ist jedenfalls evident, dass dies eine Rangordnung (wenn nicht Klassen- oder gar Speziesordnung) ist, und zwar eine qualitativ andere als die, die sich einstellte, wenn eine Anzahl von daimonbefeuerten Architekten, Schreinern etc. miteinander im Wettbewerb stünden. – Sie formulieren dann: „Die Führkraft des

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[Menschen mit?] Daimon bedarf der …“ Menschen ohne Daimon, hätte ich jetzt erwartet; Sie aber fahren fort: „… Ergänzung durch die Formbarkeit durch das Zufällige …“ Später erläutern Sie, der Zu-Fall des Göttlichen könne die Führung durch den starken Daimon durchkreuzen. Letzteres verstehe ich; nicht aber, was dies damit zu tun hat, dass Sie einen Nachteil darin sehen, wenn in einer Gemeinschaft Menschen fehlen, deren Wollen „formbar“ durch Andere ist (ein Euphemismus für Knechtselige?). – Die zweite Ansicht, die Sie als eine Unterstellung meinerseits zurückweisen, war jedoch nicht als isolierte zu sehen, sondern als Ausschreibung der ersten, dass daimongeführte Menschen in ihrer Tätigkeit Befriedigung finden. Wenn ich Ihre Auffassung richtig verstanden habe (Daimongeführte sind auf Daimonlose angewiesen wie diese auf jene), ist natürlich klar, dass alle immer Befriedigung finden, so der so. – Wir sind damit im Grunde wieder bei der Ausgangsfrage unseres Briefwechsels angekommen: Was würde sich, wenn die präzedenzlose Epochenschwelle des 19. Jh. wahrgenommen würde, radikal ändern? Ich habe, in Ihrem Werk merkwürdig marginal, den „Daimon“ gefunden und meinte, den Stirner’schen „Eigner“ als daimongeführt interpretieren zu können; doch wenn Sie auch Stirner’sche „Besessene“ als daimongeführt gelten lassen, geht das natürlich nicht. 1. Juli 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Gestatten Sie mir bitte, nach Möglichkeit bei der Antwort auf Ihren heute empfangenen Brief vom 30.06. kurz zu sein, da ich morgen zu meinem jährlichen Erholungsurlaub an der französischen Mittelmeerküste (mit für den 26.07. geplanter Rückkehr) aufbrechen will und noch allerhand vorzubereiten habe. Sehr einfach kann ich Ihre erste Frage beantworten, warum Menschen eine fortwährende teleologische Tendenz brauchen, um bereits von ihr erzielte Erfolge durchzuhalten. Goethe dichtet: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Ich wandle ab: „Was du gewonnen hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Zum Beispiel eine Frau. (Glück in der Liebe ist eine der wichtigsten teleologischen Tendenzen des Menschen.) Sie müssen sich ihr Leben lang immer neu bemühen, diesen Menschen, der ganz andere Instinkte hat als Sie, der den Wechselfällen des Lebens (insbesondere des Zusammenlebens) mit einem anderen Temperament begegnet, wieder und wieder zu gewinnen. Dadurch wird die geschlechtliche Paarliebe so schwierig wie schön. Das Entsprechende gilt für andere Lebensbezüge. Ihre zweite Frage gilt der besonders ausgeprägten teleologischen Tendenz eines Menschen mit starkem Daimon, besonders in der Hinsicht, ob eine Verallgemeinerung dieses Typus wünschenswert ist. Zu Unrecht halten Sie mir vor, ich sei nicht auf Ihren Vorschlag eingegangen, der Architekt

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in spe könne, wenn die geplante Laufbahn durch allzu viele Konkurrenten verstopft ist, seinem starken Daimon treu bleiben, indem er etwa in die Laufbahn eines tüchtigen Handwerkers (z.B. Schreiners) ausweicht. Diese Möglichkeit hatte ich Ihnen in meinem Brief vom 17. Juni mit einer viel allgemeineren Wendung zugestanden, indem ich schrieb: „Dabei habe ich die Elastizität des starken Daimon, der sich biegen, aber nicht brechen läßt, schon mitbedacht.“ Überhaupt glaube ich, daß wir die Problematik etwas abstrakter behandeln und einzelne Beispiele nur als verdeutlichende Illustrationen nützen sollten. Ich bleibe dabei, daß die Stirner-Laska’sche Vision des Eigners eine von beiden Autoren nicht genug bedachte Problemseite zeigt, wenn man zu der quasi vertikalen Selbstbehauptung des Auf und Ab im täglichen Leben die quasi horizontale teleologische Tendenz des Menschen hinzu nimmt, der auf etwas hinaus will oder in seinem Leben eine Richtung hat, ohne die ihm das Leben im Auf und Ab schal wäre. Stirner und Laska haben diese Komplikation meines Erachtens nicht genug bedacht, weil sie die Selbstbehauptung nur als Behauptung im Augenblick („wie mir gerade der Sinn steht“) konzipieren und keine Vorsorge für das stabilisierende Moment treffen, das zu einer beharrlichen Lebensrichtung gehört. Ich erinnere Sie an Ihre Charakteristik des Sinnes des Lebens als virtuosen Wellenreitens des „Eigners“ in Ihrem Brief vom 18.04. (ich schrieb am 6.05. versehentlich: „vom 18.03.“). Sie reden sich, wenn Sie mir diese nicht bösgemeinte Formulierung einmal erlauben, immer wieder heraus, indem Sie sich auf meine Formulierung im Hitlerbuch „Menschen mit starkem Daimon“ beziehen. Für solche Menschen ist die Frage nach dem inneren Kompaß von vorn herein gelöst. Aber abgesehen von den in meinem Brief vom 17.06. angezeigten Reibungen und Versagungen, die ein Zusammenleben von lauter Menschen mit starkem Daimon (gewissermaßen lauter Vaterfiguren aus dem – meinem – Geburtssternzeichen des Stiers) untunlich machen würden, sehe ich einen entscheidenden Nachteil so einseitiger Betonung der persönlichen Selbstbestimmung wie bei Stirner darin, daß Offenheit für das nicht schon Vorgezeichnete nur in Gestalt der Launen einer beliebig wechselfähigen Selbstbestimmung zugelassen wird und das Leben also steril werden würde, wenn dem Zufall das Recht genommen wird, die Karten zu mischen und Offenheit für das gänzlich Unvorhersehbare zu erzwingen. Um der Tyche Goethes ihr Recht gegen den Daimon zu sichern, begünstige ich daher, anders als Sie, neben den Menschen mit starkem Daimon auch die weicheren Naturen (darunter viele Frauen), die dafür offen sind, vom Zufälligen geformt zu werden, statt ihm nur auszuweichen wie der Mensch mit starkem Daimon, der, wenn er nicht Architekt werden kann, seinem starken Daimon auch als Schreiner zu folgen vermag.

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8. August 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, die Verzögerung dieses Briefes, der ca. zwei Wochen nach Ihrer (geplanten) Rückkehr aus dem Urlaub bei Ihnen eintreffen wird, liegt nicht an einem eigenen Urlaub. Zu meiner Entschuldigung bzw. Erklärung kann ich nur anführen, dass kürzlich einer unserer beiden Whippets (kleine Windhunde), die sozusagen ins „Familienleben“ integriert sind/waren, zwar im relativ normalen Alter von dreizehn Jahren, aber dennoch für uns überraschend gestorben ist und die Trauer darüber groß war. Dies und die durch Ihre beiden kürzlichen Reise(perioden) entstandene dreimonatige Pause in unserem Austausch haben mich etwas vom Gedankenfluss unserer vorgängigen Briefe abgekoppelt. Eigentlich wäre dies der Zeitpunkt, um mein altes Vorhaben durchzuführen, unsere gesamte Korrespondenz in Hinblick auf Ertrag und offen gebliebene Fragen zu sichten. Aber leider sehe ich mich derzeit dazu nicht in der Lage, so dass ich heute nur einfach an Ihren letzten Brief (vom 1.7.) anknüpfen möchte. Die Themenstichworte darin waren die „teleologische Tendenz“ und der (starke) „Daimon“. Darüber hatten wir, soweit ich mich erinnere, schon zuvor, u.a. mittels der Figur des „Wellenreiters“, ausgiebig diskutiert, aber offenbar, ohne uns wirklich zu verständigen. Denn ich lese in Ihrem letzten Brief wieder zum einen die Namenskopplung „Stirner-Laska“ und zum anderen den Vorwurf, diese beiden Herren hätten die „quasi horizontale teleologische Tendenz“ des Menschen nicht bedacht. Gegen „StirnerLaska“ hatte ich ja schon einmal protestiert, woraufhin Sie mir eine eigenwillige Stirner-Umdeutung konzedierten. Ich meine hingegen, dass ich Stirner nicht umgedeutet, sondern seine gar nicht so offenliegende „Wahrheit“ ans Licht geholt habe – und zwar mittels einer ausführlichen Aufdeckung der Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte seines „Einzigen“, insbesondere der Rollen von Marx und Nietzsche dabei usw. usf. (Sie sind ja informiert.) Den Vorwurf, den Sie den unverbesserlichen „Stirner-Laska“ immer wieder machen, nämlich sich und die Menschen ihren „Launen“ ausliefern zu wollen, habe ich ebenfalls, soweit ich mich erinnere, schon in vielerlei Wendungen zurückzuweisen versucht – offenbar auch vergeblich, denn auch er taucht in Ihrem letzten Brief erneut auf. Andererseits habe ich nach all unseren Briefen und der Lektüre einiger Ihrer Bücher das sichere Gefühl, dass wir in wesentlichen Urteilen – nicht unbedingt „philosophischen“ – über den beklagenswerten gegenwärtigen Zustand der europäischen Kultur im Großen und Ganzen übereinstimmen (würden – wenn wir darüber explizit diskutierten). Auch über deren wahrscheinliche Weiterentwicklung für absehbare Zeiten dürften unsere Ansichten nicht weit auseinander liegen. Mein „Michbesinnen auf mein Michfinden in meiner Umgebung“ hat mich nun – wie Sie das Ihre – dazu geführt, Ergebnisse dieses Besinnens in Schriftform zu fassen und zu publi-

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zieren. Wenn wir die tiefere Motivation dieses Publizierens einmal unanalysiert lassen, so erfolgte es doch wohl in „aufklärerischer“ Absicht: um den Anderen etwas zu sagen, etwas sehr Wichtiges zudem, was sie noch nicht wissen (was man von der ungeheuerlich hypertrophierten heutigen philosophischen Literaturproduktion nicht sagen kann). Sie haben Ihre Auffassung vom Scheitern der modernen Aufklärung einmal (am 14.6.2001) wie folgt skizziert: diese sei, weil sie auf die Zersetzung implantierender Situationen gesetzt habe, beim Marxismus und Kapitalismus (gemeint: Liberalismus?) geendet; die deutsche (im Kern romantische) Gegenaufklärung, die dem gegenzusteuern versucht habe, beim Hitlerismus. Dem könnte ich zustimmen. Sie rufen dann nach „einer neuen, weit radikaleren und tieferen Aufklärung, die in erster Linie Selbstaufklärung des Menschen über sich ist.“ Auch dem kann ich zustimmen. Nun rufen Sie nicht nur nach einer solchen Aufklärung, sondern haben – ich hoffe, dass ich das richtig sehe – Ihre Schriften als eine solche verfasst, jedenfalls als deren Beginn bzw. Grundlegung, d.h. Sie haben erst, weil Ihnen die vorgefundene(n) Philosophie(n) als unzureichend, verwirrend, falsch etc. erschien(en), sich selbst – obwohl „die Aufklärung“ als vergangene Epoche gilt – aufgeklärt und dann versucht, diese Selbstaufklärung für jeden, der sich in einer ähnlichen Situation befindet, nachvollziehbar zu machen. So ungefähr würde ich auch meinen „philosophischen“ Weg charakterisieren. Obwohl dabei, aufgrund unseres sehr verschiedenen Bildungsweges, etwas ganz Anderes herausgekommen ist, vermutete ich eigentlich immer eine gewisse Kompatibilität unserer Ergebnisse auf einer allgemeineren Ebene. Deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie sich, im Kontext unserer Diskussion, der in meinem Brief vom 30.6.2002 gegen Ende gestellten Frage annähmen. 10. August 2002 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief von vorgestern legen Sie mir die Frage (aus Ihrem Brief vom 30.06.) nahe: „Was würde sich, wenn die präzedenzlose Epochenschwelle des 19. Jahrhunderts wahrgenommen würde, radikal ändern?“ Nach meiner Meinung, im günstigen Fall: daß die Menschen lernen, mit ihrer Hinfälligkeit geschickter umzugehen als, wie seit Jahrtausenden, durch Fixierung auf konstruierte Großprojekte mit fingierender Umdeutung seiner selbst und der Welt in deren Dienst. Ich erinnere an die „vier Verfehlungen des abendländischen Geistes“ nach meinem Hitler-Buch. Den Anfang macht die psychologistisch-introjektionistisch-reduktionistische Verfehlung, das demokritisch-platonische Programm der Selbstdeutung des Menschen als Vernunft, die die unwillkürlichen Regungen als innerseelische Triebe beherrscht und durch diese Disziplinierung im Verein mit reduktionistischer Vergegenständlichung der Außenwelt die (lange Zeit latent bleibende) Ausgangslage für technokratische Weltherrschaft des

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Menschen (wenigstens auf der Erde) schafft. Ihr folgt dann die Verschärfung durch das christliche (hauptsächlich westkirchliche) Programm mit Aktivierung der dynamistischen und der autistischen Verfehlung, wie im Hitler-Buch dargestellt, im Zeichen des allmächtigen, mit ewiger Seligkeit lohnenden und mit ewiger Verdammnis strafenden Gottes. An dritter Stelle steht dann seit dem 17. Jahrhundert, bis heute mächtig wuchernd, die Fiktion eines imperialistischen Systems von lauter freien und gleichen Brüdern (Französische Revolution), die mit technischen Mitteln sich und die Welt beliebig umgestalten können. Hinzu kommt seit Fichte viertens die ironistische Verfehlung als Fiktion eines Menschen, der zu dem, was er ist, das ironische Verhältnis zu Möglichkeiten hat, zwischen denen er in schrankenloser Wendigkeit wechseln kann. Nach Abräumung transzendenter Fiktionen ist der groteske Gegensatz zwischen der faktischen Hilflosigkeit der Menschen vor der Frage, was sie wollen (und was zu wollen ihnen übrig bleibt), und den gewaltigen ihnen anvertrauten technischen Mitteln so auffällig, daß die Chance wächst, das aufgetürmte Gebäude der aus den Verfehlungen resultierenden Fiktionen platzen zu sehen und auf den Boden der unwillkürlichen Lebenserfahrung hindurchzublicken; meine Neue Phänomenologie soll diese Gelegenheit ergreifen und dadurch helfen, die Menschen dazu zu erziehen, daß sie ihre Hinfälligkeit zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart, zwischen unwillkürlichen Regungen und Willkür, annehmen und damit umzugehen – wie auf Wellen darauf zu reiten – lernen, statt sich demokritisch-platonisch als herrschende Vernunft oder christlich als eingeschüchtertes Gottesgefolge darüber hinwegzusetzen. Über den Verdacht, daß ich Sie in ein zweiköpfiges Ungetüm StirnerLaska hineinzwängen wollte, kann ich Sie beruhigen. Ich habe mich, wie Sie selbst erwähnen, von Ihrem großen Abstand zu dem historischen Stirner längst überzeugt. Stirner schwimmt im frühromantischen Enthusiasmus des Himmelsstürmers, der nach Gott auch noch den Menschen (den „Himmel in uns“) entthronen, d.h. alle aus objektiven oder neutralen Tatsachen abgezogenen Ansprüche zu Gunsten der Subjektivität des „Eigners“ der für ihn subjektiven Sachverhalte, Programme und Probleme kassieren will. Mit der Problematik der daraus resultierenden Haltlosigkeit vor der Frage „Was fange ich eigentlich mit meiner Selbstbestimmung an?“ hat er noch gar nicht zu tun. Sie dagegen, nach 1 ½ Jahrhunderten Stirner-Ernte damit konfrontiert, decken sich gegen diese Frage mit meinem Konzept des Menschen mit starkem Daimon ab. Damit reden Sie abermals über die Aufgabe der Annahme eigener Hinfälligkeit hinweg und verstricken sich erneut in eine dynamistisch-autistische Verfehlung, wie mir wenigstens scheint – und das, obwohl wir Menschen mit starkem Daimon sicherlich ebenso brauchen wie solche mit schwächerem.

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25. August 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich las in den letzten Tagen wieder einmal in der Zeitschrift „Information Philosophie“. Neben wenigen für mich brauchbaren Hinweisen entnehme ich den Heften immer wieder nur eins: wie überaus fern mir sowohl die akademische wie auch die dort ja ebenfalls vertretene nicht-akademische Philosophie doch liegen. Auch und vor allem die Anhänge der Zeitschrift, also die Themen der Kongresse, die Titel der Buch-Neuerscheinungen und der Abhandlungen in den Fachzeitschriften (die ich früher noch gelesen habe), zeigen mir das immer wieder. Darin liegt für mich – bei meinem „Michbesinnen auf mein Michfinden …“, bei meinem Philosophieren – ein großes, vielleicht das größte, Problem: wie ist es möglich, dass so viele Menschen, mit hochtrainierter Intelligenz und vielerlei sonstigen Ressourcen bestens, jedenfalls meist besser als ich, ausgestattet sind, Derartiges in solchen Massen produzieren? Immer und immer wieder! Und niemand scheint diese außer Kontrolle geratene Maschinerie bremsen zu können; niemand lässt den befreienden Ruf – „dass der Kaiser die von Allen so sehr bewunderten schönen Kleider ja gar nicht trägt“ – ertönen. Zugegeben: dieses Bild wird, wie jedes, nicht genau passen, aber es ist vielleicht geeignet, in etwa die Situation zu vermitteln, in der ich mich „als Philosoph“ sehe. Ich schicke mich also nicht an, den zahllosen existierenden Philosophien eine weitere, m.E. also bessere, hinzuzufügen; ich meine erst recht nicht, jeder möge sich aus dem ja so reichlich Vorhandenen seine „patchworkphilosophy“ zusammenflicken; sondern ich versuche – aus eigenem Interesse; wenn Sie so wollen: aus eigener Not – herauszufinden, was da „faul“ ist, unsäglich faul; welche entscheidenden „Verfehlungen“ (nicht in Ihrem Sinne) in der Geistesgeschichte aufzufinden sind. Diese hier nur andeutungsweise charakterisierbare Intention liegt auch der kleinen Abhandlung über „Nietzsches initiale Krise“ zu Grunde, die ich diesem Briefe beilege. Falls Sie Interesse und Zeit genug aufbringen, sie zu lesen, würde mich Ihr Urteil natürlich interessieren – wie schon früher: in klaren Worten und ohne Verklausulierungen aus falscher Rücksichtnahme. Auf meine am 8.8. wiederholte Frage vom 30.6., was sich Ihrer Meinung nach ändern würde, wenn die von Ihnen festgestellte präzedenzlose Epochenschwelle (19. Jh.) weithin wahrgenommen würde, antworteten Sie zunächst: die Menschen würden einen geschickteren Umgang mit ihrer „Hinfälligkeit“ lernen. Das Wort ist neu in unserer Korrespondenz. Sie erläutern es u.a. wiederum mit der Geschicklichkeit des Wellenreiters – worüber wir schon ausführlich gesprochen haben, so dass ich hier in Gedanken ergänze, was Sie über die wünschenswerte „horizontale/teleologische Tendenz“ gesagt haben und worin ich Ihnen, mit anderen Worten, zustimmen würde. Die Annahme der eigenen Hinfälligkeit in Ihrem Sinne wäre also das Novum nach Jahrtausenden, in denen der Mensch sich entweder als

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„eingeschüchtertes Gottesgefolge“ oder – dies überkompensierend – als „herrschende Vernunft“ geißelte oder feierte/vergötterte. Der Neue Mensch, den Sie anvisieren – wie und in welchem Zeitraum er entstehen könnte, wenn dies überhaupt von einer großen Zahl der Alten Menschen angestrebt werden würde, einmal außer Acht – könnte m.E. durchaus im Wesentlichen mit dem Stirner’schen Eigner zusammenfallen. Stirners „tierische“ Kritik richtete sich ja auch radikal gegen jene zwei Hauptfronten: gegen die Gottesfolger ohne viele Worte, und gegen die Vernünftler, die Priester der „Logolatrie“, gegen die „reine“ Kritik Bauers ebenso wie gegen die „wahre“ Kritik Feuerbachs. Wenn Sie diesem grob skizzierten Gedankengang nicht zustimmen, so liegt das wohl an Ihrem Bild Stirners, den Sie im letzten Brief (wieder einmal) als jemanden bezeichnen, der „im frühromantischen Enthusiasmus des Himmelsstürmers … schwimmt“. Mir konzedieren Sie zwar, ich hätte nach eineinhalb Jahrhunderten „Stirner-Ernte“ dazugelernt (gewiss; aber in dem Sinn, der sich in „Ein dauerhafter Dissident“ – und detaillierter z.B. in beiliegendem Aufsatz – darstellt). Aber wenn Sie sagen, ich hätte mich gegen die Frage „Was fange ich mit meiner Selbstbestimmung an?“ mittels Ihres Konzepts vom Menschen mit starkem Daimon abgedeckt, zeigt mir das wieder, wie schwierig eine Verständigung ist. Ich hatte dieses Wort aus Ihrem Hitler-Buch aufgegriffen, weil ich hoffte, so meine Ansicht Ihnen besser deutlich machen zu können – was aber nicht gelang (u.a. weil Sie sagen, der Mensch mit starkem Daimon sei auf Menschen mit schwachem Daimon angewiesen.) Es liegt mir also fern, über die Aufgabe der Annahme eigener Hinfälligkeit (i. ob. Sinne) hinwegzureden, wie es Ihnen scheint. 27. August 2002 Sehr geehrter Herr Laska, mir ist, als sei das Wort „hinfällig“ in unserem Briefwechsel doch nicht so neu, wie Sie am 25.08. meinen, aber darauf kommt es nicht an. Die Hinfälligkeit der Person im Spielraum primitiver und entfalteter Gegenwart, wodurch jede Fassung, die sie sich gibt, labil ist und nur durch künstliche Verhärtung stabilisiert werden kann, gehört nach meiner Meinung nicht nur zum Personsein als Voraussetzung der personalen Emanzipation und Selbstzuschreibung, sondern auch zur Gestaltungskraft, die dem Menschen nur aus einem Betroffensein zuwächst, das ihn mitzieht oder mitreißt. Glücklich, wer dieser Labilität nicht haltlos ausgeliefert ist, sondern von einer Kraft, die die Ausschläge kompensiert, geführt wird, sei es der starke Daimon in der prospektiven Perspektive der persönlichen Situation oder der Nomos einer implantierenden Situation oder der unbedingte Ernst einer heiligen und göttlichen Autorität, sofern nur die eigene Fähigkeit zu kritischer Auseinandersetzung davon nicht eingeschläfert wird.

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Ihre Forschungen zu Eduard Mushacke sind mir ja längst im Ergebnis bekannt. In dem jetzt beigelegten Aufsatz lüpfen Sie den Schleier von einigen Details. Es ist sicher von Interesse, aus einer kritischen Phase im Leben des jungen Nietzsche von dessen Begegnung mit einer Person zu erfahren, die ihm aus eigener Kenntnis etwas vom Kreis um Bruno Bauer vermitteln konnte, vielleicht sogar – aber davon weiß man nichts – von Stirner, mit dem Mushacke nach dem Bericht einer (problematischen) Zwischenquelle befreundet gewesen sein soll. Aber für Ihre Konstruktion einer Erschütterung Nietzsches durch Konzepte Stirners mit tiefgreifenden Folgen für dessen Denken bis zum Ende trägt das nichts aus. Gewiß, es könnte so gewesen sein, aber wir haben keine Anzeichen dafür. Von meiner Warnung, dieser Phantasie nachzuhängen, kann ich auch nach Ihrer jüngsten Mitteilung nichts zurücknehmen. Einmal (mit Anmerkung 39) erwähnen Sie in dem Aufsatz auch mich mit dem Vorwurf, ich hätte Nietzsches Verhältnis zu Stirner als Thema „folgenlos zu den Akten gelegt“. Sie erwähnen dazu aus „Selbstdarstellung als Philosophie“ den Abschnitt „Stirner und Nietzsche“ (S. 83–89), wo ich immerhin zu zeigen suche, daß Stirner Nietzsche zu dem Satz „Gott ist tot, wir haben ihn getötet“ inspiriert hat. Wenn das keine Folge ist! Noch mehr wundert mich, daß Sie den Abschnitt 5.5.1 „Nietzsches Nihilismus im Vergleich“ nicht heranziehen, wo auf S. 309–312 Stirner vor Nietzsche (und Fichte) als der einzig konsequente Nihilist (den ich für diese Geradlinigkeit sehr bewundere) ausgezeichnet wird. Wer die Durchführung eines so wichtigen Themas bei beiden Denkern vergleicht, leistet doch sicherlich einen Beitrag zum Verhältnis Nietzsches zu Stirner. Deshalb empfinde ich Ihr Verdikt als unangemessen. Völlig freisprechen kann ich mich auch von dem ersten der beiden „massiven Hindernisse“, die nach dem Schlußsatz Ihres Aufsatzes die Würdigung Ihrer Hypothese blockieren: von „Geringschätzung Stirners“, die mir fernliegt, während ich mich allerdings für eine „Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte seines ‚Einzigen‘“ längst nicht so wie Sie interessiere, auch nicht so recht an solche Repulsion und Dezeption glaube; Hans v. Bülow z.B., der Dirigent und erste Ehemann Cosima Wagners, war Stirner-Fan, und jeder halbwegs Interessierte hat von ihm gehört. Er ist gewiß kein Unbekannter. 1. September 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, empfangen Sie meinen herzlichen Dank dafür, dass Sie meine Arbeit über „Nietzsches initiale Krise“ sofort gelesen und kommentiert haben. Sie nehmen nun vor allem Anstoß an meinem Satz: „Auch in differenzierteren Betrachtungen, wie etwa der von Hermann Schmitz, (39) wird das Thema folgenlos ad acta gelegt.“ Sie sprechen von einem Vorwurf, später sogar von einem unangemessenen Verdikt meinerseits, weisen dann darauf hin, dass

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Sie doch schließlich zu zeigen versucht hätten, dass Stirner Nietzsche zu dem Satz „Gott ist tot, wir haben ihn getötet“ inspiriert habe und reklamieren dafür den Anspruch, eine bedeutende Folge von Nietzsches Kenntnis Stirners exponiert zu haben („Wenn das keine Folge ist!“). Eigentlich hatte ich die Stelle, an der ich Ihre Betrachtung als zu den differenzierteren zählend erwähne, als eine zunächst positiv heraushebende gemeint, nicht als Vorwurf oder Verdikt. Ich kann aber nicht erkennen, dass Ihre Vermutung des Ursprungs von Nietzsches zitiertem Satz (die ja im übrigen auf einer zumindest ebenso problematischen Quellenlage ruht wie meine Konstruktion) Folgen etwa für die Nietzsche-Deutung hat (denn dass Nietzsche Stirners Buch gekannt habe, wurde von zahlreichen Autoren – folgenlos – angenommen), so dass ich mich von der Sache her nicht korrigieren zu müssen glaube. – An meinen oben zitierten Satz schließe ich an: „In jedem Fall wird ausgerechnet das übergangen, was die der klandestinen Stirner-Rezeption zuzurechnenden Autoren (einschl. Nietzsche?) als das Ungeheuerliche, Monströse, Barbarische, Diabolische etc. am ‚Einzigen‘ empfanden – und ebenfalls weder ergründeten noch mit Argumenten zurückwiesen, sondern indirekt ‚überwanden‘.“ Daraus haben Sie wahrscheinlich einen Vorwurf gelesen: weil ich auch Sie zu denen rechne, die Stirner nicht adäquat rezipiert haben – was Sie wiederum nach der Lektüre meines Buches „Ein dauerhafter Dissident“ nicht mehr sonderlich verwundert haben dürfte. Ich gebe Ihnen allerdings Recht, wenn Sie sagen, ich hätte Ihre Position gegenüber Stirner bisher noch nicht in ausführlicher Weise gewürdigt, obwohl ich glaube, dass ich Sie in „Ein dauerhafter Dissident“ zumindest im passenden Kapitel (Stirner als „Der Nihilist“; mit längerer Endnote) genannt habe. Natürlich sind für mich jene Autoren vordringlich interessant, bei denen es Hinweise gibt, dass in ihrer intellektuellen Biographie Stirner eine entscheidende Rolle gespielt hat. In Ihrem Werk taucht (lt. Ihrer Auskunft) Stirner das erste Mal 1980, zum Abschluss von „System der Philosophie“ (Band IV, S. 64) auf, einerseits sehr beiläufig, andererseits als „Versuchung“ (?). Während aber Husserl, dem der „Einzige“ ebenfalls als „versucherische Kraft“ erschienen war, Stirner öffentlich nie erwähnte, schrieben Sie 1995 in „Selbstdarstellung als Philosophie“ immerhin einige Seiten über ihn, erklärten ihn, wie auch in Ihren Briefen, kurzerhand zu einem, dem einzigen konsequenten Nihilisten und erklärten, dass Sie ihn für seine Ehrlichkeit und Geradlinigkeit bewundern. Wenn ich dazu komme, werde ich Ihre Behandlung Stirners, evtl. in einer Rezension Ihrer „Selbstdarstellung als Philosophie“, analysieren. Gegen Ende Ihres Briefes schreiben Sie, dass Sie „nicht so recht“ an meine These von einer „Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte“ des Stirner’schen „Einzigen“ glauben, weil das Buch doch seit langem allenthalben bekannt, Stirner ganz gewiss kein Unbekannter sei. Dieser Sachverhalt liegt

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meiner These ja zu Grunde. Er ist mir also ebenso nicht entgangen wie die allerdings merkwürdige (im biographischen Kontext gesehen meine Auffassung bestärkende) „Eroica-Rede“ des von Ihnen angeführten „StirnerFans“ Hans von Bülow. Da Sie jedoch in meinen bisherigen Darstellungen – sowohl in den Bänden 1–3 der „Stirner-Studien“ als auch in den ergänzenden Aufsätzen bis zu dem letzten über „Nietzsches initiale Krise“ – nur wenig Wertvolles zu erblicken vermochten und mich sogar erneut warnen (wohl nicht nur in Bezug auf Nietzsche), weiter „dieser Phantasie nachzuhängen“, erscheint es mir überflüssig, weil aussichtslos, Ihren beiden zuletzt genannten Einwänden hier argumentativ begegnen zu wollen. Was Sie, in höflicher Form, eine Phantasie nennen, Stirners Schlüsselrolle im 19. Jahrhundert, halte ich für eine bedeutende Entdeckung – auch wenn die Fachwelt sich nicht um sie schert. Sie hat mich im Falle Nietzsche, der nach einer ausführlichen Diskussion längst erledigt schien, zielsicher an die – biographisch zufällig (?) noch weiße – Stelle geführt, wo die Annahme einer Begegnung mit Stirner heuristisch fruchtbar ist. 2. September 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Gegen Ihren Brief vom 1. September habe ich nichts einzuwenden. Ihre Formulierung, ich hätte das Thema Stirner-Nietzsche „folgenlos zu den Akten gelegt“, verstehe ich im Licht Ihrer Überzeugung, daß in Stirner mehr steckt, als ich sehe. Wenigstens zu Ihrer Einschätzung, daß ich ihn „kurzerhand zu einem, dem einzigen konsequenten Nihilisten“ erkläre, möchte ich aber eine Anmerkung machen. „Nihilismus“ ist zunächst nur ein glattes Wort, eine Phrase, mit der man um sich werfen kann, eine Prägung Jacobis, die Nietzsche an sich gerissen hat. Er versteht darunter, „daß die obersten Werte sich entwerten“. Dagegen habe ich, mit Hinweis auf die alten Griechen, in „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 57 Stellung genommen. Mein auf Stirner angewandter Nihilismusbegriff in „Selbstdarstellung als Philosophie“ stützt sich nicht auf Vorgänge an der teleologischen Objektseite (Werte und Ziele), sondern auf die rezessive Entfremdung der Subjektivität seit Fichte: Da alle Tatsachen für objektiv oder neutral gehalten werden (in dem Sinn, daß jeder sie aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann), seit Fichte aber bekannt ist, daß meine Identität mit einem durch solche Tatsachen charakterisierten Individuum (z.B. Hermann Schmitz oder Bernd Laska) nicht von dieser Art ist, falle ich (als Blankettfigur für jedermann) aus allen Tatsachen und aus der Welt als ihrem Milieu vermeintlich ins Nichts heraus, ins „schöpferische Nichts“ nach Stirner, „hineingehalten in das Nichts“ nach Heidegger. Aus dieser Not, die z.B. die Gestalt der existenziellen Ichangst, über den eigenen Möglichkeiten zu schweben (Kierkegaard), und der Verwandlung von Selbstfindung in Selbstdarstellung (Nietzsche, Wittgenstein, daher der Titel mei-

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nes Buches) annimmt, machen die Frühromantiker Friedrich Schlegel und Novalis die Tugend einer schrankenlosen Souveränität des Verfügens über sich in „Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“ (Schlegel, romantische Ironie), und die Übertragung ihres Konzeptes in aggressiven, humorlosen Ernst ist die Leistung Stirners, mit der Folge, daß für mich Hegel mit seiner den (inzwischen katholisch gewordenen) Gegner verfehlenden Polemik gegen Friedrich Schlegel zum Propheten Stirners wird, vgl. „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 71–76. Meine Qualifizierung Stirners als Nihilist muß also in diesem besonderen Sinn verstanden werden, so wie ich Stirner in diesem Buch auf S. 1–3 mit Fichte und Heidegger gegen Kant zusammenstelle. Ich will nicht bestreiten, daß man auch meine von Ihnen abgelehnte Charakteristik der Ethik Stirners als Moral vollendeter Frivolität unter den Titel „ethischer Nihilismus“ bringen könnte, aber dieser ethische Nihilismus ist für mich nur ein Symptom, ein Ausfluß des tiefer liegenden Nihilismus der rezessiv entfremdeten Subjektivität. Von Werten halte ich überhaupt nicht viel, vgl. dazu „Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie“ S. 303f. (gegen Platon, Scheler, N. Hartmann). Ihre Forschungen zu Eduard Mushacke und anderen möglichen Anschlußstellen an Stirner für Nietzsche weiß ich zu schätzen, aber sie geben für eine nachweislich oder auch nur plausibel ersichtliche Stirner-Rezeption mit Gewicht für Nietzsches Denkweg noch nichts her. Es käme darauf an, ob irgendwo Nachlaßstücke – etwa von Mushacke – zu finden sind, die in Ihrem Sinne mehr verraten. Nichts spricht dafür, soviel ich sehen kann. 13. September 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich stimme Ihnen natürlich zu, dass „Nihilismus“ eine, insbesondere im Nachgang Nietzsches, gern und leichtfertig gebrauchte, somit inflationäre Phrase ist. Indem Sie Ihren Gebrauch des Begriffs, der mir nicht unbekannt war, noch einmal erklären, scheinen Sie gegen meinen Satz im Brief vom 1.9. protestieren zu wollen, in dem ich Ihnen zwar zugebe, in meinem Buch „Ein dauerhafter Dissident“ Ihre Behandlung Stirners (aus dem angegebenen Grund) nicht ausführlich gewürdigt zu haben, aber dann zu meiner Entlastung sage, dass ich sie doch zumindest im passenden Kapitel „[Stirner als] Der Nihilist“ genannt habe. Wenn ich jemals dazu kommen werde, dieses Thema näher zu beleuchten, werde ich selbstverständlich zwischen den verschiedenen Bedeutungen zu unterscheiden haben, in denen einzelne Autoren Stirner „Nihilismus“ zuschrieben oder vorwarfen (der erste war, meiner Erinnerung nach, Karl Rosenkranz in einem veröffentlichten Tagebucheintrag). Sie erwähnen in Ihrer Erläuterung – wiederum – Stirners Rede vom „schöpferischen Nichts“. Dies mag als ein Zeichen unserer unterschiedlichen Aufnahme des „Einzigen“ gelten. Vom „schöpferischen Nichts“

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spricht Stirner im „Einzigen“ nur zweimal (allerdings an prominenter Stelle): zu Beginn und am Schluss – welchen Sie, in „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 74, einen „großartigen“ nennen. Gerade diese Stirner’sche Rede bedeutet mir gar nichts, so dass ich von einem – falls nichts den Zeitgenossen deutlich als ironisch Kenntliches damit beabsichtigt war – ausgesprochen misslungenen Schluss sprechen würde. Merkwürdigerweise wird er besonders gern, oft bewundernd, manchmal fast ehrfurchtsvoll, zitiert. Im übrigen könnte ich Ihnen eine ganze Reihe von Stellen des „Einzigen“ heraussuchen, die mir als misslungen, fehlerhaft oder als des Autors Intention konterkarierend erscheinen; vielleicht wären darunter nicht wenige, die Sie wiederum zur Stütze Ihres Stirner-Bildes heranzögen. Natürlich bleibt das jedem unbenommen; nur die Folgerungen, die einer aus dem Werke zieht, werden entsprechend gegensätzlich sein. Sie sagen, Stirners Leistung liege darin, die notgeborene (aber nicht ernst gemeinte?) F. Schlegel/Novalis’sche „Tugend einer schrankenlosen Souveränität des Verfügens über sich“ grimmig in „aggressiven, humorlosen Ernst“ übertragen zu haben. Gewiss, diese Ansicht ließe sich wohl mit Zitaten belegen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche Leistung der Grund dafür gewesen sein kann, die oft geradezu panischen Reaktionen bei hochkarätigen Lesern des „Einzigen“ (siehe meine „Stirner-Studien“) auszulösen, allen voran die der jungen Marx und Nietzsche (die ich vor allem wegen der immensen Wirkung ihrer daraufhin produzierten Schriften hervorhebe). Neben diesen, die den „Einzigen“ als extrem verstörend wahrnahmen und sich seiner – wie ich andernorts dargelegt habe – durch „Verdrängung“ (im Doppelsinn) erwehrten und dabei außerordentlich publikumsattraktive Ideengebilde schufen, gab es freilich immer die große Mehrheit derer, die Stirner gar nicht oder nur am Rande wahrnahmen und für belanglos hielten. Sie, Herr Schmitz, würden sich aber wohl keiner dieser beiden großen Gruppen einordnen. Zum Teil kann ich mir den Grund denken, aber eben nur zum Teil. Vielleicht können Sie doch noch auf meine im Brief vom 1.9. im dritten Absatz angesprochene, nur nicht ausdrücklich gestellte Frage eingehen, was es für sie mit der „Versuchung“ Stirner auf sich hat bzw. 1980 hatte. Stirner hat ja in seiner Replik auf Feuerbach et al. angegeben, dass er selbst seinen „Einzigen“ – ein mehr oder weniger polemischer „Schnellschuss“ unter Zensurbedingungen – nur als einen Anfang betrachtete, was mir bestätigt, dass er auch selbst meinte, seinem Kerngedanken nicht adäquat zum Ausdruck verholfen zu haben. Wenngleich einige Autoren, die später über Stirner und dessen Folgen schrieben (z.B. der „genialische“ Nietzscheaner Schultheiß 1906), forsch und nicht zu Unrecht alle bisherige Stirner-Literatur zu Mumpitz erklärten, so haben sie es doch nie so weit gebracht, das „wahre“ Stirner-Buch zu schreiben, m.E. also ein Buch, das jenen Anfang fortsetzen müsste. Das wurde natürlich mit der Zeit immer

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schwieriger, weil jener nur rudimentär ausgedrückte Kerngedanke nicht nur durch Marx, Nietzsche und die Folgen, sondern dann auch durch die Massenprodukte einer prosperierenden und sich immer mehr „anglifizierenden“ „Philosophie-Industrie“ unter der Lawine von Literatur verschüttet wurde. Aber er ist noch nicht tot – wie ich ganz sicher weiß … 14. September 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Das Wort „Versuchung“ auf S. 64 meines Buches „Die Person“ von 1980, über dessen Sinn an dieser Stelle Sie in Ihrem gestrigen Brief näheren Aufschluß erbitten, steht dort in folgendem Satz: „Erst durch Fichte wird Hegels ‚Freiheit der Leere‘ und damit Max Stirners (von Goethe erborgte) Devise ‚Ich hab’ mein Sach’ auf nichts gestellt‘ zur ernsthaften Aussicht und Versuchung.“ Da geht es also primär nicht um Stirner, sondern um eine von Fichte eröffnete Perspektive, deren Bedeutung als Aussicht und Versuchung durch verbale Prägungen Hegels und Stirners beleuchtet wird. Die Versuchung besteht darin, Neuland zu betreten, den festen Boden der neutralen oder objektiven Tatsachen (die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann) zu verlassen, aus der Welt im Sinne des Milieus dieser Tatsachen auszutreten, weil unter all den objektiven Tatsachen, die z.B. den Hermann Schmitz oder Bernd Laska oder J.G. Fichte oder Kaspar Schmidt charakterisieren, nicht vorkommt, daß ich selbst der Betreffende bin oder nicht bin. Das ist Schwindel und Kitzel zugleich und insofern Versuchung, genau in dem Sinn, wie ich in meinem Brief vom 2. September noch einmal kurz die rezessive Entfremdung der Subjektivität expliziert habe. Der Austritt aus der Welt der objektiven Tatsachen war für jene Menschen ein Schritt ins Leere, weil sie alle Tatsachen für objektiv und neutral hielten, während es sich nach meiner Auffassung um den Übergang in ein anderes Milieu, nämlich das der für den Betreffenden subjektiven Tatsachen, handelt, wobei allerdings die (erwachsenen) Menschen durch ihre Personalität (= Fähigkeit zur Selbstzuschreibung) um den Zwiespalt zwischen diesem und jenem Milieu nicht herumkommen und dadurch zu einer Labilität verurteilt sind, die sie, nachdem sie sich davon Rechenschaft gegeben haben, zu meistern lernen müssen, nachdem sie ihr lange mit unbewußter Verdrängung in gar zu einfache Absolutsetzungen ausgewichen sind. Aber das ist Zukunftsmusik. Die undeutliche, von Hegel, Stirner und anderen nur vorläufig ausgeformte Vision Fichtes belädt die Menschen mit einer sprunghaft gewachsenen Verantwortung für sich, wie ich im Vorwort und am Schluß meines Buches „Selbstdarstellung als Philosophie“ ausgeführt habe. Wenn Sie jemand mit einer Verantwortung betrauen, der er noch nicht gewachsen ist, dann ist das für den so betrauten eine Versuchung, wie wir es im Feld der internationalen Politik im Augenblick an der

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Machtstellung der U.S.A. ablesen können. Verstehen Sie also jenes Wort in diesem Sinn. Sie schreiben in Ihrem Brief von extrem verstörenden, zu panikartigen Reaktionen treibenden Stirner-Lektüren berühmter Autoren und nennen als solche Marx und Nietzsche. Lassen Sie mich zu bedenken geben, daß wir von Nietzsches Stirner-Lektüre, die als Faktum mindestens sehr wahrscheinlich ist, trotz Ihrer Findigkeit nichts Näheres wissen, schon gar nichts von einer panischen Reaktion Nietzsches auf diese Lektüre, und daß auch von einer panischen Verstörtheit von Marx durch Stirner, so viel ich weiß, nichts bekannt ist; eher möchte ich „Sankt Max“ als Dokument verletzter Eitelkeit lesen, die in Marx daran bohrte, daß er in der Radikalität der Konsequenzen aus dem Ende des Glanzes um die Hegel’sche Philosophie überholt worden war. 29. September 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie geben mir zu bedenken, dass es für Nietzsches Stirner-Lektüre nicht einen einzigen Beleg gibt. Nun, das habe ich allerdings sehr gründlich bedacht; und ich habe sogar die üblichen Zeugen, die gelegentlich herangezogen werden, um – aus welchen Gründen auch immer – eine Stirner-Lektüre Nietzsches als wahrscheinlich hinzustellen, also auf Adolf Baumgartner und die beiden Overbecks, mit größerer Skepsis betrachtet als diejenigen, die sie aufgerufen haben. Nur deshalb bin ich überhaupt auf jene Stelle in Nietzsches Biographie aufmerksam geworden, in der ich – freilich hypothetisch – „Nietzsches initiale Krise“ infolge seiner Konfrontation mit dem „Einzigen“ angenommen habe. Und ich sehe es mittlerweile nicht mehr als Zufall an, dass in den zahlreichen Biographien dieses tausendfach und höchstdetailliert erforschten Lebens – über das es dank Nietzsches Schwester Elisabeth (die heute, nebenbei gesagt, meist nur als – sit venia verbo – Sündenbock benutzt wird) mehr Belegmaterial gibt als über jeden anderen Prominenten des 19. Jahrhunderts – ausgerechnet diese Stelle bisher weiß geblieben ist; ebenso, dass Nietzsches Schilderung seiner Entdeckung Schopenhauers in der Regel mit staunenswerter Gutgläubigkeit auch von sonst sehr kritischen Autoren fast wörtlich übernommen und kaum kommentiert wird. Nun gut, Sie kennen ja meine Arbeiten dazu, auch meine These von der Primär- und Sekundärverdrängung „Stirners“, erst unter großen Mühen durch beispielsweise eben Nietzsche, dann durch die Nietzscheforscher aller Richtungen – eine These, die Sie wahrscheinlich nicht akzeptieren, vielleicht für einen Immunisierungsversuch halten. Nicht erst durch Ihre kurze Bemerkung (dass wir „… nichts Näheres wissen, schon gar nichts von …“), mit der Sie meine ja nicht nur so ad hoc in den Raum gestellte Hypothese abtun, bin ich geneigt, von einer Tertiärverdrängung zu sprechen; denn ich bin natürlich der Auffassung, dass meine

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diesbezüglichen Arbeiten durchaus Anlass für eine fachliche Diskussion sein müssten. – Vielleicht noch näher liegt mein Erklärungsmuster von Primär-, Sekundär- und Tertiärverdrängung im Falle Marx, den Sie in Ihrem letzten Brief ebenfalls auf eine Weise betrachten, die m.E., wie ich schon einmal sagte, „folgenlos“ bleibt. Auch bei dieser Sache habe ich – wie bei unserer längeren Diskussion über den „Wellenreiter“, den „starken Daimon“, das Heilige usw. – den Eindruck, dass unsere offenbar sehr unterschiedliche Herangehensweise beim Philosophieren, beim „Sichbesinnen auf Ihr/mein Sichfinden in Ihrer/meiner Umgebung“ nicht nur zu einigen Verständigungsschwierigkeiten, sondern auch zu einigen grundsätzlich nicht vermittelbaren Ergebnissen führt. Ich habe, wie Sie wissen, nie Philosophie studiert, habe aber, soweit ich mich erinnern kann, schon in früher Kindheit ein starkes „philosophisches“ Interesse gehabt. Dies ist zwar zeitweilig, während meiner Ausbildung, in den Hintergrund getreten, drängte aber später umso kräftiger ins Zentrum meines Lebens. Dabei habe ich mich nie für einen der sog. klassischen Autoren begeistern können; im Gegenteil: Ich fand bei den großen Philosophen keine wirkliche Antwort auf die mich beschäftigenden Fragen (die ich freilich nicht formulieren konnte). Ich hatte deshalb nie den Wunsch, ein reguläres Philosophiestudium zu absolvieren. Von Anfang an waren es nicht die Dinge, die meine Ataraxie störten, sondern die Meinungen über sie. Zu den Dingen hatte und habe ich ein unerschütterliches Urvertrauen. Es geht, davon bin ich überzeugt, in der Welt mit rechten Dingen zu. Sie zu erforschen kann ich getrost den wissenschaftlichen Experten überlassen, und was immer sie herausfinden – über den Mikro- und Makrokosmos, aber auch bereits z.B. die Erkenntnis, dass die Erde eine Kugel ist – berührt mich nicht wirklich. Das Grundproblem der (Un-)Endlichkeit von Raum und Zeit – resp. meiner eigenen Existenz – werden sie, werde ich nicht lösen … Demgegenüber empfand ich seit frühester Kindheit ein großes Misstrauen gegenüber den „Meinungen“, die mich vom „Kollektiv“ her bedrängten. Geradezu absurd erschien mir z.B., dass Menschen sich einer Religionsgemeinschaft, etwa der katholischen Kirche, zugehörig empfinden; dass es diese und zig ähnliche Institutionen überhaupt (noch) gibt. Das hat nichts mit dem Wunsch nach Toleriertwerden oder umgekehrt meinem Tolerieren anderer Meinungen zu tun. Natürlich führte mich mein Denkweg dann in die Gefilde der Freidenkerei, der Aufklärung etc. – bis mir immer klarer wurde, dass ich auch dort nirgendwo heimisch werden würde. Seltsam: es gibt heute so viele kluge Köpfe, Zeitgenossen, die, auf den Schultern von Riesen stehend, parallel zu mir zeitgemäße Philosophien entwickelt haben; aber keine sagt mir zu, und auch beim Versuch, mir eklektisch eine zusammenzubasteln, fehlte das Herzstück. Nur dies aber benötige ich, und nur daran arbeite ich. Ich glaube, es ist gar keine Philo-

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sophie, sondern eher als Paraphilosophie zu bezeichnen – mal kurz und ins Unreine gesprochen. 3. Oktober 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Treffend charakterisieren Sie in Ihrem Brief vom 29.09. die Divergenz unserer Perspektiven auf die Geschichte der Menschheit (einschließlich ihrer Zukunft) als Ergebnis abweichender und vielleicht unvereinbarer Urund Bildungserlebnisse. Damit verbinden sich aber große Übereinstimmungen in Beurteilung und Bewertung. Über nachprüfbare Sachfragen sollten wir uns einigen können. Dabei denke ich besonders an Stirners Einfluß auf Marx und Nietzsche. Ich will nichts verdrängen, halte auch Ihren Hinweis auf E. Mushacke als möglichen Zwischenträger für eine erwägenswerte und vielleicht einmal ergiebige Hypothese, und halte nur daran fest, die Grenze zwischen dem Belegbaren und bloßer Spekulation deutlich zu ziehen. Die Begeisterung für die klassischen philosophischen Autoritäten (abgesehen vielleicht von Aristoteles, dem ich mit so viel Kritik wie Sympathie und Verehrung begegne) ist bei mir nicht größer als bei Ihnen, wofür Sie die Gründe zum Teil schon meinem Hitlerbuch, wo ich von den vier Verfehlungen des abendländischen Geistes spreche, entnehmen können (aber auch meinem Buch „Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie“, S. 285f.). 15. Oktober 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie schreiben, über nachprüfbare Sachfragen – derzeit besonders Stirners Einfluss auf Marx und Nietzsche – sollten wir uns trotz der „Divergenz unserer Perspektiven“ infolge abweichender Ur- und Bildungserlebnisse einigen können. Sie wollten nur daran festhalten, die Grenze zwischen Belegbarem und bloßer Spekulation deutlich zu ziehen. Nun, wenn das heißen soll, ich würde Ihrer Meinung nach diese Grenze verwischen, möchte ich Sie bitten, mir die Stellen zu nennen, wo ich das tue; ich würde mich dann gern korrigieren und bei einer evtl. Neupublikation zu diesem Thema die Grenze besser kenntlich machen. Natürlich wäre es unbillig, zu erwarten, ich werde jemals ein Dokument beibringen können, auf dem Marx oder Nietzsche oder einer der anderen Autoren, deren Reaktionen ich in meinem Buch „Ein dauerhafter Dissident“ schlaglichtartig beleuchtet habe, schwarz auf weiß eingesteht, er fände Stirners Idee für sich selbst und für die Menschheit insgesamt sehr bedrohlich, sähe sich aber außer Stande, direkt und öffentlich gegen sie aufzutreten, um sie argumentativ zu widerlegen; er müsse deshalb zu dem Mittel greifen, ohne direkten Bezug auf Stirner eine möglichst prätentiöse Philosophie zu entwickeln, die den Trend des Zeitgeists aufnimmt und ver-

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stärkt, beim großen Publikum gut ankommt und auf diese Weise die Gefahr der Stirner’schen Ideen abwendet. Eine derartige Äußerung hätte auch jemand, der einen jener Autoren noch hätte befragen können, diesem niemals entlocken können. Denn der von mir als primäre Verdrängung bezeichnete Prozess ist jenen Autoren, die ja in den meisten Fällen keine Scharlatane waren, wohl kaum voll bewusst gewesen; und eine solche großteils unbewusste Abwehr scheint auch bei jenen Autoren am Werk zu sein, die sekundär verdrängen, also z.B., wie fast alle Marxologen, ob pro oder contra Marx orientiert, das Riesenmanuskript „Sankt Max“ selbst dann noch ignorieren oder mit wenigen Worten bagatellisieren, wenn sie speziell über den jungen Marx schreiben. Letzteren Vorwurf – ich beeile mich, das hinzuzufügen – mache ich Ihnen nicht. Sie deuten ja an (in „Selbstdarstellung als Philosophie“, S. 79), dass bei Marx ein Ausweichen und eine Flucht vor der von Stirner exponierten Problematik vorliegen könne, sowie eine absichtliche und ahnungslose Verkennung ihres Hintergrundes (S. 81). Doch durch Ihr harsches abschließendes Urteil, S. 83, Marx’ Polemik wirke „dümmlich“, scheinen Sie mir Ihre Auseinandersetzung mit Marx (bzw. Ihren Abschnitt über Stirner und Marx) vorzeitig abgebrochen zu haben. Wenn Marx, dem sogar Stirner Scharfsinn attestierte, an dieser – entscheidenden – Stelle seiner Entwicklung auf derart vielen Seiten rasend dümmlich wurde, dann lohnt es m.E., hier genauer hinzusehen. Schließlich hat er genau in dieser Situation ja mit dem bis dahin von ihm hoch verehrten und noch im März 1845 öffentlich gepriesenen Feuerbach gebrochen und in aller Eile den sog. historischen Materialismus konzipiert, den philosophischen Rahmen also, den er dann in lebenslanger, nie zu Ende kommender bzw. kommen dürfender autodidaktisch betriebener „Wissenschaft“ (Nationalökonomie) vergeblich zu füllen trachtete. Usw., usf. Dies wäre also ein Fall, wo wir uns über nachprüfbare Sachfragen einigen könnten. Aber es bliebe ja immer noch die Frage, wie weit jeder ins Detail zu gehen bereit ist. Ich habe, aufgrund eines in Jahren herangereiften Verdachts, viele Indizien gefunden, die die Vermutung bestärken und plausibel machen, die ja auch Sie äußern: Ausweichen, Flucht usw. Aber ich schließe daraus nicht auf Marx’ „vollendete Verständnislosigkeit für Subjektivität“ und bloße Dümmlichkeit der Polemik (S. 83), sondern, im Gegenteil, auf intuitiv sehr gutes Erfassen dessen, worum es bei Stirner geht – von daher auch die Panik, die argumentative Kapitulation; deshalb auch die Flucht in ein schnell gezimmertes ideologisches Gerüst, das er jedoch nicht einer Kritik Stirners auszusetzen wagte – daher die schwierige Situation von Marx, gegen die effektiven Verlagsbemühungen des ihn anhimmelnden Engels die Publikation des „Sankt Max“ zu verhindern – und die Fortsetzung des Kampfes mit anderen, sozusagen populistische Mitteln. In welchem Maße ein solcher Vorgang dem Agierenden bewusst wird, wird man, wie

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gesagt, kaum je herausbekommen. Ebenso scheint es kaum möglich, schwarz auf weiß eine Erklärung dafür aufzufinden, warum Marx-Forscher gerade diesen Abschnitt in Marx’ Entwicklung meist nur flüchtig betrachten. Ich aber möchte die Gelegenheit nutzen, Sie zu fragen, warum Sie Ihren Abschnitt über Marx und Stirner in o.g. Buch, ebenso den über Nietzsche und Stirner, gerade dort „folgenlos“ abbrachen, wo es, m.E. interessant wird. 17. Oktober 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Mit „bloßer Spekulation“, gegen die ich die Grenze des Belegbaren gemäß meinem Brief vom 3.10. deutlich ziehen will, meine ich dort Ihre beiden Thesen, 1. daß das Lebenswerk von Marx aus der Erschütterung durch Begegnung mit den Gedanken Stirners hervorgegangen ist, 2. daß für Nietzsche das Entsprechende gilt. Zu 1: Marx schreibt 1844 in Paris die inzwischen so berühmten philosophisch-ökonomischen Manuskripte, in denen die Konzeption des historischen Materialismus (Selbsterzeugung des Menschen als Gattungswesen durch materielle Arbeit mit Arbeitsteilung in der Geschichte) bereits völlig klar ist; einiges daraus bespreche ich in meinem „Hitler“-Buch, S. 234ff. Im folgenden Jahr erscheint das Buch von Stirner, das also bei der Geburt des historischen Materialismus nicht Pate gestanden hat. In der folgenden Nachlaßschrift „Die deutsche Ideologie“ setzen Marx und Engels mit Polemik gegen Feuerbach, Bauer und Stirner fort, was sie mit Polemik gegen allerlei Autoren, darunter wiederum Bauer, schon 1845 in „Die heilige Familie“ unternommen hatten. Auffallend ist in der Fortsetzung allerdings das Ausufern der Polemik gegen Stirner. Eine plausiblere und bescheidenere Erklärung dafür als die Ihrige scheint mir die von mir in meinem Brief vom 14.09. gegebene zu sein, daß es sich um den Ausbruch verletzter Eitelkeit bei Marx gehandelt hat. Er befand sich in einem Wettlauf mit den anderen Linkshegelianern um die Krone des Radikalismus bei Überwindung der Vorurteile der idealistischen Philosophie und fühlte sich dabei sicher vor Überflügelung durch Bauer und Feuerbach, konnte aber nicht verwinden, daß Stirner es noch besser verstanden hatte, allen idealistischen Vorurteilen ein Schnippchen zu schlagen. Daß er sich bei seinem Versuch, den Vorsprung des Radikaleren durch wütendes Schaumschlagen zuzudecken, nicht ganz wohl fühlte, glaube ich gern. Zu 2: Anders als bei Marx kommt mir Ihre These für Nietzsche von der Sache (nicht den Quellen) her gar nicht so unwahrscheinlich vor. Gesetzt, daß N. überhaupt von Stirner Notiz genommen hat, ist sein perfektes Schweigen über ihn in der Tat auffallend („dum tacent, clamant“). Vor allem würde es mir zu Gunsten meiner Nietzsche-Deutung nur recht sein,

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wenn Ihre Annahme zuträfe. Ich behaupte ja, daß Nietzsche zur Selbstdarstellung in den Masken des freien Geistes, des Zarathustra und Dionysos greifen mußte, weil er auf Grund der rezessiven Entfremdung der Subjektivität mit der einfachen Selbstbesinnung nicht mehr zurecht kam, und diese Entfremdung ist bei Stirner auf die Spitze getrieben. Freilich bedurfte Nietzsche dafür nicht Stirners, denn er konnte an die Quelle, zur FichteRezeption der Frühromantiker, zurückgehen – sein freier Geist ist die verkörperte romantische Ironie –, und Novalis war ihm schon als Knaben vertraut. Aber es würde sich in meinem Nietzsche-Bild sehr gut machen, wenn N. dabei Abstand nehmend von Stirner entscheidend gelernt hätte. Aber die Quellen geben das nicht her. Ihre Hypothese, daß N. die Bekehrung zu Schopenhauer nur vorgetäuscht habe, um die Erschütterung durch Belehrungen über hintergründige Intentionen Stirners während seines Besuches bei Eduard Mushacke in Berlin zu cachieren, kommt mir ganz abenteuerlich vor. Anders würde es, wenn sich in einem Nachlaß dieses Mannes eine Tagebuchnotiz wie die folgende fände: „Besuch des jungen Nietzsche. Erzählte ihm von Stirner.“ Aber damit ist nicht zu rechnen. 27. Oktober 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie resümieren, ich verträte die beiden Thesen, das Lebenswerk von Marx sei, ebenso wie das von Nietzsche, aus der Erschütterung hervorgegangen, die jeder dieser beiden Autoren in jungen Jahren bei ihrer Begegnung mit Stirners Gedanken erfahren habe. Ich würde nicht so zugespitzt formulieren, nicht „monokausal“ begründen. Aber ich meine sehr wohl: viel spricht dafür, dass die (unterstellte und nicht ganz spurlos gebliebene) Erschütterung der entscheidende Anstoß war, der bei diesen Denkern sowohl die Denkrichtung vorgegeben als auch die hektische Aktivität ausgelöst und (längst nicht mehr bewusst, wenn es dies je gewesen ist) lebenslang befeuert hat, mit der sie fortwährend komplizierte Gedankengebilde produzierten; lebenslang eben auch deshalb, weil dies ein permanentes Ausweichen vor der denkerischen Konsequenz der „Aufklärung“ und kein rationales Bewältigen oder gar Fortentwickeln der verstörenden Ideen war. Ich meine außerdem, dass Marx und Nietzsche damit viele ihrer Zeitgenossen, die natürlich vor dem gleichen geistigen Problem standen, geradezu erlöst haben, und dass darauf ein Großteil des Rezeptions-Erfolgs, der Wirkungsmacht ihrer Schriften beruht. Natürlich können Sie solche Thesen als „bloße Spekulation“ bezeichnen, weil sie, wie ich schon im vorigen Brief selbstverständlich zugab, kaum durch ausdrückliche Eingeständnisse, Bekenntnisse und/oder Selbstanalysen belegbar sind oder jemals sein werden. Mich bestärkt aber die Art des Bezuges auf Stirner (im Falle Marx, dabei nicht nur im „Sankt Max“) oder sein Fehlen (im Falle Nietzsche) eher in meiner Vermutung. Was mich

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weiterhin bestärkt, ist die freudige Aufnahme der Philosophien beider Denker; so als ob sie die lang ersehnte „Überwindung“ bestimmter Gedanken gebracht hätten, die der teils verschollene, teils sekretierte Stirner in die Welt gesetzt hatte. In Wahrheit haben sie sie nur mit einer Wort- und Ideenlawine verschüttet. Der Wert meiner Spekulation ist rein heuristisch. Ich kann jetzt die Frage stellen, was das denn für Ideen waren, auf die kollektiv derart phobisch reagiert wurde. Ich kann fragen, ob diese Ideen denn später durch andere Denker, evtl. ohne deren Kenntnis oder stillschweigend überwunden wurden. Usw. – Ich bin allerdings, wie Sie wissen, gar nicht darauf aus, Stirner, resp. meine beiden anderen Parias, La Mettrie und Reich, zu rehabilitieren – was in meiner Stellung ohnehin völlig illusorisch wäre. Ich „spekuliere“ aus dem Bedürfnis, mich in der Welt, in die ich geboren wurde, zu orientieren. Am verwunderlichsten erscheint mir dabei, dass es niemanden zu geben scheint, der in die gleiche Richtung spekuliert, weder aktiv aus eigener Kraft noch passiv im Nachvollzug dessen, was ich bisher publiziert habe. Vielmehr gibt es bereits Zeichen wiederum phobischer Abwehr (Safranski – vgl. den Abschnitt in meinem Artikel „Den Bann brechen … Nietzsche & …“). Zu Ihren beiden Stellungnahmen: Nietzsche: Ich sage doch nicht, er habe seine Bekehrung zu Schopenhauer nur vorgetäuscht, sondern: N hat in größter geistiger Not Zuflucht bei ihm gefunden. Dass Sie mein Konstrukt nicht mehr als „abenteuerlich“ ansehen würden, wenn eine einschlägige Notiz Eduard Mushackes überliefert wäre, verstehe ich nicht. Marx: Hier möchte ich mich der Kürze halber einmal auf die ziemlich einhellige Meinung der Experten berufen, wonach M den historischen Materialismus (nicht und nie unter diesem Namen) erstmals in der „Deutschen Ideologie“, hauptsächlich im Feuerbach-Kapitel, konzipiert hat. – Eine grobe Chronologie aus dem Gedächtnis: Ende August 1844: M & E treffen sich erstmals für 2 Wochen in Paris, beschließen Schrift gegen Bauer; Okt. 1844: Stirners EE erscheint; Nov.: E schreibt ambivalent begeistert über EE in Bf an M; M wäscht E den Kopf, wie aus E’s Antwort vom Jan. 1845 ersichtlich; M wollte EE rezensieren, hält aber Termin Anfang Dez. 1844 nicht ein, unterlässt es dann; März 1845: „Die heilige Familie“ erscheint, ist Verteidigung Feuerbachs, Stirner nicht mit einem Wort erwähnt; April 1845: M’s Feuerbach-Thesen, in Kladde geschrieben, lt. E die erste Skizze der neuen Weltanschauung (Hist. Mat.); Juni 1845: Hess’ Stirner-Kritik erscheint, dürftig; Sept. 1845: Feuerbachs Stirner-Kritik erscheint, dazu eine Duplik Stirners („Recensenten Stirners“); M beendet seine abwartende Haltung, lässt honorierte Terminarbeiten sausen, stürzt sich auf eigene Stirner-Kritik; nach Abklingen des „polemischen Rausches“ scheint M Zweifel an seinem Produkt gehabt zu haben, sabotiert geschickt

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E’s Publikationsbemühungen; M’s Entourage darf’s nicht merken. Soviel nur in Kürze. Belege sagen mehr – aber natürlich nicht das Eine. 29. Oktober 2002 Sehr geehrter Herr Laska! Gegen Ihre „spekulative“ Marx- und Nietzschedeutung habe ich gar nichts einzuwenden, wenn sie so gemeint ist, wie es in Ihrem Brief vom 27. Oktober der Satz besagt: „Der Wert meiner Spekulation ist rein heuristisch.“ Diese Deutungen dienen Ihnen dann nur zur Klärung Ihrer Vermutungen über Konsequenzen der Aufklärung, die nach Ihrer Meinung bei Stirner deutlich sichtbar werden, während sie bei Marx und Nietzsche verdrängt seien. Gegen solche Gedankenspiele habe ich nichts; mein voriger Brief bezweifelte nur die Tragfähigkeit der geschichtlichen Quellen für die Behauptungen über geschichtliche Tatsachen. Für die Informationen zur historischen Chronologie des Verhältnisses Marx-Stirner 1844 und 1845 danke ich Ihnen; so genau habe ich mich damit nicht beschäftigt. Ich würde aber doch raten, die 1844 von Marx in Paris geschriebenen philosophischökonomischen Manuskripte genauer zu studieren, um nicht vorschnell die später fundamentalen Positionen von Marx auf eine Reaktion gegen Stirner zurückzuführen. 10. November 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, in Ihrem letzten Brief hat mich sehr verwundert, dass Sie meinen Satz „Der Wert meiner Spekulation ist rein heuristisch“ zitieren, um dann meine Folgerungen aus meinen Spekulationen als „Gedankenspiele“ zu bezeichnen (gegen die Sie als solche – natürlich – „nichts haben“). Sie haben also nach allem, was Sie aus meinen Publikationen und Briefen von mir bzw. meinen „philosophischen“ Intentionen wissen, den Eindruck gewonnen, ich würde mich an (meinen eigenen) Gedankenspielereien ergötzen? – Sie pochen demgegenüber auf „geschichtliche Tatsachen“. Sollten diese in den in Rede stehenden Fällen in einem überlieferten Dokument mit dem Eingeständnis Marx’ resp. Nietzsches bestehen, dass ihre Begegnung mit Stirners Ideen genau so gewesen ist, wie ich sie rekonstruiert habe? Sie bezeichnen meine kleine stichwortartige, nur aus dem Gedächtnis wiedergegebene Chronologie zum Verhältnis Marx/Stirner als sehr genau. Nun, das würde nicht einmal ich selbst für sie reklamieren; sie ist bewusst lückenhaft und war nur als kurze Erwiderung auf Ihre diesbezüglichen Ausführungen vom 17.10. gedacht, insbesondere der Hinweis darauf, dass selbst Engels nicht behauptet hat, Marx habe in den Pariser Manuskripten vom Sommer 1844 schon den historischen Materialismus konzipiert. Genauer hingeschaut könnte ich weitaus mehr – belegte – „geschichtliche

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Tatsachen“ für meine Spekulation beibringen – wobei ich die weitere geschichtliche Tatsache, dass sehr viele Marx-Forscher, aller Couleur, natürlich auch hingeschaut haben (oder haben könnten) und nicht zu meinen Ergebnissen kamen, durchaus nicht zu eskamotieren oder zu verdrängen habe. Auf meine Frage zu Ihrer hohen Bewertung einer (möglicherweise noch auffindbaren) Notiz Eduard Mushackes, er habe dem jungen Nietzsche von Stirner erzählt, sind Sie nicht eingegangen. Ich würde eine solche „geschichtliche Tatsache“ zwar begrüßen, aber nicht sonderlich hoch bewerten. Dass Nietzsche Stirner gekannt hat, wird ja von Vielen, auch von Ihnen, als sehr wahrscheinlich oder sogar sicher angenommen – aber eben … „folgenlos“. Es kommt eben doch darauf an, zu welchem Zeitpunkt man aufgrund welcher Indizien Nietzsches Begegnung mit dem „Einzigen“ annimmt und wie die vielen belegbaren Details aus Leben und Werk in ein stimmiges Bild gebracht werden. Wer Nietzsche natürlich bona fide ausgerechnet jene Geschichte abnimmt, wie er (direkt im Anschluss zum Aufenthalt bei Mushacke) zu Schopenhauer und damit eigentlich zur Philosophie gekommen ist, der glaubt – aufgrund einer auch sonst folgenreichen „Bildungslücke“ – selbstverständlich auch, wenn Nietzsche ihm sagt: „Schopenhauer war als Philosoph der ERSTE eingeständliche und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt haben.“ (Fröhliche Wissenschaft, Nr. 357 – das war Anfang der 1880er Jahre!) Wie Sie aber wissen, geht es mir ja gar nicht um Stirner, Marx, Nietzsche et al.; es geht mir um mein „Michfinden …“ Aber darüber haben wir ja, anhand Ihrer Begriffe vom präzedenzlosen Epochenbruch, vom Menschen mit starkem Daimon, vom Wellenreiter etc. bereits ausführlich gesprochen … Etwas Anderes: Sie kennen wahrscheinlich die Rezension Ihres HitlerBuches von Joachim Landkammer. Der Rezensent scheint einige Sympathien für die Neue Phänomenologie (gehabt?) zu haben – bis zu diesem Buch, das er nicht verkraften zu können meint. So bezweifelt er gleich eingangs, dass die wachsende „Schmitz-Schule“ dieses Buch als „kanontauglichen Baustein im großen Lehrgebäude akzeptieren wird.“ Was ihn offenbar schockiert hat, ist Ihre Art, Hitler ernst zu nehmen – nicht verwunderlich in einem ideologischen Klima, wo z.B. schon Jörg Haiders Äußerungen, dass Hitler eine effektive Arbeitsmarktpolitik betrieben habe und nicht alle Männer der Waffen-SS Inkarnationen des Bösen waren, zu groteskesten Reaktionen auf höchster Ebene Anlass gaben. Mich würde daraufhin interessieren, ob bzw. zu welchem Grad Landkammers Vermutung stimmt, also ob tatsächlich manche Ihrer engeren Schüler Probleme hatten, Ihr Hitler-Buch zu verstehen und zu akzeptieren, ob vielleicht gar einige wegen dieses Buches – das ja übrigens den Anstoß zu unserem Briefwechsel

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gegeben hat – sich von Ihnen gelöst oder distanziert oder auch, z.B. im Rahmen einer Rezension, sich gegen Sie gewandt haben. 11. November 2002 Sehr geehrter Herr Laska, nehmen Sie die Rede von Gedankenspielen in meinem vorigen Brief nicht krumm. Es war nichts gemeint als unverbindliches Überdenken von Sachverhalten (Denkmöglichkeiten), die nicht gleich, wie bei Hypothesenbildung, als Anwärter auf Tatsächlichkeit behandelt werden. Annahmen im Sinne von Meinong („Über Annahmen“), wie wir sie im Vordersatz eines Konditionalsatzes durch die Einleitung „Gesetzt, daß …“ dahingestellt sein lassen. Solche „Gedankenspiele“ oder Gedankenexperimente an Marx und Nietzsche können Ihnen dazu dienen, sich die Konsequenzen der Aufklärung deutlich zu machen, die Sie aus Stirners Werk herauslesen und für eine Zumutung halten, die Ihrer Meinung nach für viele Leser erschreckend, aber doch wohl unausweichlich ist – denn wenn sie ausweichen könnten, warum sollten sie erschrecken und nicht einfach „nein“ zu solchen Konsequenzen und deren Antecedens, der Aufklärung, sagen? Den Hinweis auf einen imaginären Eintrag in einem gar nicht erwartbaren Tagebuch Eduard Mushackes habe ich eingeflochten, weil es, wenn ein solcher Eintrag gefunden würde, einen Anhaltspunkt zu der Vermutung gäbe, daß bei der „Entdeckung“ Schopenhauers durch Nietzsche dessen ernstlich zu vermutende, aber durch keine Spuren chronologisch festlegbare Auseinandersetzung mit Stirner mindestens eine Rolle gespielt haben könnte. Ihre Frage nach der Rezeption meines Hitlerbuches kann ich so beantworten, daß in meinem Bekanntenkreis niemand daran Anstoß genommen hat außer einer Freundin aus Studententagen, mit der ich gleichwohl noch in gutem Einvernehmen bin. Sonst hat das Buch bei meinen Bekannten und Korrespondenten, soviel ich weiß, nur Lob gefunden. Vor einer Woche war ich in Heidelberg zu einem Vortrag („Warum bleiben wir am Leben?“ in einer Reihe über Selbstmord), wo der einführende Moderator bei Aufzählung einiger Titel meiner Bücher am Schluß hinzufügte „… und natürlich ‚Adolf Hitler in der Geschichte‘“, wozu er auf meine etwas erstaunte Nachfrage erklärte, er habe dazu allerlei Besprechungen im Internet gelesen. Ich habe keinen Computer und kenne auch nicht die Rezension von Joachim Landkammer. Daß sie mir schwer geschadet hat, glaube ich weniger, wenn ich die Reaktion „einiger jüngerer Zuhörer“ bedenke, von denen im beiliegenden Zeitungsbericht aus der Frankfurter Rundschau, den man mir geschickt hat, die Rede ist. Diese jungen Leute – ich weiß nicht, um wen es sich handelt – haben sich jedenfalls durch das Buch nicht abhalten lassen, mir einen Erfolg zu gönnen. Das sagt freilich nichts über die Rezeption des Buches. Die erste vernünftige und ausführliche Auseinandersetzung mit diesem fand ich in einem Heft, das mir ein Mann in

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Neumünster, der vor Jahrzehnten in meiner Vorlesung gesessen hat, geschickt hat. Ich habe keine Erinnerung an ihn. Es handelt sich offenbar um einen etwas romantisch gestimmten Epigonen der 68er Bewegung mit marxistischem Hintergrund, der aber durch Nachdenklichkeit modifiziert ist. Dieser Mann scheint Lesungs- und Gitarrenabende zu veranstalten und gibt eine Minizeitschrift in winziger Auflage heraus, in der er der einzige Autor ist. Sein Aufsatz über mein Buch verdient jedenfalls, ernsthaft zur Kenntnis genommen zu werden. Ich lege ihn gleichfalls bei, weil er Sie interessieren könnte. 14. November 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, vielen Dank für die Zusendung des FR-Berichts über den Bonner Philosophenkongress und die von Christine Pries als performance bezeichnete „Hermann-Schmitz-Show“, die in dessen Rahmen stattgefunden hat; auch für Horst Mühlenhardts Besprechung Ihres Hitler-Buches. Ich kann Ihnen allerdings nicht darin folgen, in M.’s Aufsatz „die erste vernünftige und ausführliche Auseinandersetzung“ mit Ihrem Buch zu sehen, die „ernsthaft zur Kenntnis genommen zu werden verdient.“ Unser nach meinem Eindruck sich langsam erschöpfendes Gespräch, zuletzt über das Thema bzw. die Themen Stirner/Marx/Nietzsche und „Aufklärung“, möchte ich heute nicht fortsetzen; denn ich bin etwas in Eile, weil ich am 20. November zu einer Vortragsreise nach Brasilien aufbrechen werde und bis dahin noch etliche Abschluss- und Vorbereitungsarbeiten zu erledigen habe. An sich ist eine solche Reise ja Unsinn, denn ich werde dort gewiss inhaltlich viel weniger vortragen können als ich in meinen Veröffentlichungen gesagt habe. Aber mir soll’s recht sein: ich werde die Gelegenheit nutzen und den Aufenthalt dort privat etwas verlängern. Nach meiner Rückkehr werde ich mich wieder melden. 12. Dezember 2002 Sehr geehrter Herr Schmitz, schon seit einigen Tagen zurück aus Brasilien, komme ich erst jetzt wieder zu meiner privateren Korrespondenz. Ich sehe, dass ich schon in meinem letzten Brief, am 14. November, von meinem Eindruck schrieb, dass sich unser Gespräch in den letzten Wochen als etwas erschöpft darstellt. Haben Sie auch diesen Eindruck? Daneben besteht bei mir seit längerem der eher vage Gesamteindruck, dass es zwischen uns eine merkwürdige Mischung aus übereinstimmenden und gegensätzlichen Auffassungen im Grundsätzlichen gibt. Diese haben wir über die Jahre hinweg zwar anhand einzelner Themen zum Teil recht detailliert diskutiert; wir sind aber, soweit ich sehe, dabei nicht immer zu einer befriedigenden Verständigung gelangt. Dieser Eindruck bestätigt sich

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mir, wenn ich die älteren Briefe durchblättere und meine Anstreichungen und Randbemerkungen wiederlese. Insofern dürfte unser Gespräch also eigentlich nicht als erschöpft zu betrachten sein. Einen Weg, um es neu zu beleben, sehe ich in meinem schon früher einmal erwähnten Plan, alle bisherigen Briefe noch einmal genau zu lesen und offen gebliebene Fragen zu sammeln und zu bündeln. Das hatte ich mir schon einmal, für die Feiertage zum letzten Jahreswechsel, vorgenommen; aber dann stellte ich fest, dass man an solchen Tagen letztlich sogar weniger besinnliche Stunden hat als an regulären Werktagen. Wenn die Situation diesmal, in den nächsten Wochen, nicht so sein sollte, werde ich mich ans Werk machen und im Januar jenes Resümee samt offener Fragen vorlegen können. Vielleicht komme ich aber auch nur dazu, Ihr Hitler-Buch noch einmal gründlich zu lesen, und dann, anders als zu Beginn unserer Korrespondenz, nicht nur zu dessen letztem Kapitel Stellung zu nehmen. Unabhängig davon bin ich natürlich, auch schon vor den Feiertagen, für jedes Thema offen. 13. Dezember 2002 Sehr geehrter Herr Laska, haben Sie Dank für Ihre rasche Rückmeldung aus Brasilien. Wie Sie bin ich der Meinung, daß unsere im Anschluß an Ihre Lektüre meines Hitlerbuches begonnene, um Stirner kreisende Diskussion zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Ich danke Ihnen für Ihre Initiative und Beharrlichkeit bei diesem Gespräch, das ich für einen gelungenen Dialog halte, weil unsere Stellungnahmen immer straff am Thema und dem jeweiligen Stand seiner Herausforderung an uns blieben und wir die Gelegenheit genutzt haben, unsere Überzeugungen zu profilieren und von vielen Seiten zu beleuchten. Sie sind allerdings der Meinung, daß weiterer Gesprächsbedarf bestehe, weil wir noch nicht zu einer befriedigenden Verständigung gelangt sind. Dafür könnte sprechen, daß jeder von uns öfters eingehakt hat, um sein Unverständnis für gewisse Ecken im Standpunkt des Anderen auszudrücken. Ich habe in den letzten Monaten dergleichen nicht mehr von Ihnen gehört, sofern ich mich richtig erinnere, und könnte daher vermuten, daß Ihr Gesamtbild von meiner Überzeugung, auch wenn Sie diese nicht teilen, inzwischen einigermaßen stimmig ist. Meinerseits bekenne ich, daß die alten Verständnisschwierigkeiten, die in meinen früheren Briefen formuliert sind, fortbestehen; namentlich ist mir weiterhin unbegreiflich, was Sie unter einem rationalen Überich verstehen und wie Sie glauben können, sich mit einem solchen Motiv im Gefolge Stirners zu befinden. (Meines Erachtens hätte der ein solches Überich für einen „Sparren“ gehalten.) Wenn in unserem Gespräch noch Klärungen ausstehen, möchte ich mir also die Vermutung erlauben, daß solche auch Ihre Position betreffen würden.

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Wenn ich mir eine Bilanz unserer bisherigen Auseinandersetzung herausnehme, scheint mir unsere Übereinstimmung darin zu bestehen, daß seit einer geschichtlichen Wende der Halt der Menschen an übergeschichtlichen Vorgaben des Gehörigen durch eine „Stellung des Menschen im Kosmos“ in faktischer und moralischer Beziehung überholt und nur noch Halt an einem Kartenhaus ist. Unsere Abweichung finde ich darin, daß Sie die Füllung der dadurch entstandenen Orientierungslücke von einer primären Selbstbestimmung erwarten, zu der die Menschen frei werden, wenn nur gewisse Hemmungen – Sie schreiben nach Reich von einem sog. Charakterpanzer – abgebaut sind, während ich an eine fruchtbare, in Leben und Werk produktiv führende Selbstbestimmung der Menschen nur glaube, wenn sie aus der Unterwerfung unter ein Betroffensein durch Einsatz der davon herausgeforderten und inspirierten eigenen Gestaltungs- und Kritikfähigkeit wirksam wird. Das erschöpft keineswegs das Ausmaß unserer Differenzen, aber diese scheinen sich mir verstehbar an diesen Kern anzuschließen. Eine „befriedigende Verständigung“ zwischen uns wird wohl nicht darin bestehen können, daß wir auf der ganzen Linie übereinkommen und geistige Brüderschaft schließen, sondern in der Gelegenheit zu anhaltender Selbstprüfung am Vergleich der Übereinstimmungen und Gegensätze unserer Überzeugungen, sofern diese an solchem Vergleich reifen können. Dazu will ich stets bereit sein; ich glaube aber nicht, daß wir nach Themen suchen sollten, um im Gespräch zu bleiben, oder uns durch die Utopie völliger Übereinkunft zu endlosem Weitersuchen nach einer Verständigung verleiten lassen sollten. Die wissenschaftliche Korrespondenz füllt gegenwärtig ungefähr die Hälfte meiner Arbeitszeit, was vielleicht einem 74jährigen Emeritus ganz gut ansteht. Für die Korrespondenz mit Ihnen nehme ich mir gerne Zeit, solange ich das Gefühl habe, daß dabei noch etwas zur Klarheit zu fördern ist; denn dadurch werde ich auch selbst gefördert. Ein Urteil darüber, ob und wie wir dabei noch weiter kommen können, will ich Ihnen jetzt nicht vorwegnehmen.

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[Bernd A. Laska und] Hermann Schmitz (Korrespondenz 4) [Januar–Dezember 2003]

2. Januar 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, den Worten, mit denen Sie am 13. Dezember v.J. unseren bisherigen Gedankenaustausch charakterisierten, stimme ich gern zu. Natürlich ist es auch richtig, wenn Sie sagen, wir sollten – nachdem unsere um Stirner kreisende Diskussion einigermaßen erschöpft zu sein scheint – nicht forciert nach einem neuen Thema suchen, um dort eine „befriedigende Verständigung“ anzustreben oder gar der „Utopie völliger Übereinkunft“ (aber – ist diese „Utopie“ nicht Triebkraft alles genuinen Philosophierens?) nachzujagen. Ihr letzter Brief selbst gibt mir jedoch Anlass, noch einmal auf unsere alte Diskussion zurückzukommen. Sie sagen, Sie verstünden nach wie vor nicht, was ich mit einem irrationalen Über-Ich meine. Zunächst: als irrational sehe ich jenes Über-Ich an, das bereits, großteils vorsprachlich, in den Organismus „introjiziert“ worden ist, wenn sich das Ich herauszubilden beginnt. Erst das Ich ist in der Lage, sich ein rationales Über-Ich zu setzen: ethische Grundsätze und Regeln, langfristig anzustrebende Ziele etc. (wobei es freilich nicht „autonom“ sein kann in dem Sinne, dass es seine „Entscheidungen“ aus dem „Nichts“ oder gar aus „freiem Willen“ trifft). Soweit der Grundgedanke. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass ich mich damit nicht „im Gefolge Stirners“ befinde, und Unrecht, falls Sie meinen, ich würde die Stirner-Nachfolge anstreben. Stirner ist für mich die Schlüsselfigur, die mir die von mir ganz elementar gespürten „Verfehlungen“ (nicht in Ihrem Sinne) des nachstirner’schen Geistes zugänglich und verständlich gemacht hat – ohne dass ich mein Leben damit verbringen musste, mich durch den Dschungel dieser Verfehlungen zu schlagen (in dem m.E. die meisten Denkenden lebenslang bis zur Erschöpfung herumirren). Wenn Stirner hinsichtlich des Über-Ichs sozusagen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat (das rationale mit dem irrationalen), so laste ich das z.T. den Verhältnissen an, unter denen er sein großteils ja polemisches Buch schrieb; er selbst bezeichnet es ja als „unbeholfenen Anfang“, den er nicht mehr fortsetzen konnte (insofern wiederum könnte ich mich doch in seiner Nachfolge sehen). Es bleibt die Frage: Was ist denn eigentlich gegen die Errichtung des irrationalen Über-Ichs (als quasi organismische, nicht intellektuelle Enkulturation) einzuwenden? Wir haben diese Frage schon einmal in Analogie zum Erwerb der Muttersprache diskutiert – wobei Sie aber, soweit ich mich

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erinnere, einräumten, dass die Analogie im wesentlichen Punkt nicht trägt. Hier kommt die von Ihnen am 13.12. ja auch kurz erwähnte Reich’sche Nosologie (Lehre von der sowohl schützenden wie schädigenden Funktion des psychischen wie somatischen Charakterpanzers) ins Spiel. Diese liegt allerdings in dem hier allein interessierenden und durch spätere empirischwissenschaftliche Entwicklungen nicht berührten Kern, wie bei einem Palimpsest, verborgen unter etlichen Schichten eines von außen gesehen sehr abenteuerlich anmutenden Werkes. Nachdem ich auf dem Gebiet der Medizin – weit mehr noch als auf dem der Philosophie – ausgesprochener Laie bin, muss ich mir mein Urteil aufgrund von „Experten-Gutachten“ bilden; und so wie Marx, Nietzsche und andere gefeierte Koryphäen mir – unfreiwillig – über Stirner berichteten, so Freud et al. – ebenfalls unfreiwillig – über Reich. Ein weites Feld … In Ihrer „Bilanz“ unseres Dialogs sprechen Sie von Übereinstimmungen und Differenzen und benennen als Kern der letzteren Ihre Überzeugung, dass „Selbstbestimmung“ – die wir beide als wünschenswert betrachten – aus der „Unterwerfung unter ein Betroffensein“ erwachsen müsse (während ich, wie Sie sagen, nur „Hemmungen“ beseitigt sehen wolle). Das erinnert mich an frühere Briefe, wo es z.B. um „unbedingten Ernst“ ging. Schon damals schienen Sie mir nicht abnehmen zu wollen, dass ich einerseits die wichtigsten der von Ihnen genannten Attribute eines „guten, echten, vollen“ Lebens bejahe, andererseits aber die von Ihnen geforderte Unterwerfung, Ehrfurcht, Heilighaltung etc. als Hindernisse zur Verwirklichung eben solchen Lebens betrachte. Diese Diskussion brauchen wir jetzt nicht zu wiederholen. Aber abgesehen davon: ich verstehe nach wie vor nicht, wie Sie – rein konzeptionell – die „vier Verfehlungen des abendländischen Geistes“ antiquieren wollen, wenn Sie den Alten Adam, der a) jene Verfehlungen erzeugt und getragen hat und b) seit der präzedenzlosen historischen Wende (die Sie mit Fichte verbinden) in fortschreitendem Zerfall begriffen ist, wieder aufleben lassen wollen. 4. Januar 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Ihr eben empfangener Brief vom 2.01. verbindet auf anregende Weise Auskunft über das, was ich noch nicht verstanden habe, mit einer Frage nach dem, was Sie noch nicht verstehen. Vielleicht kann ich die Antwort an jene Auskunft anknüpfen. Auf meine Frage nach dem Sinn des Ausdrucks „rationales Über-Ich“ erwidern Sie: „Erst das Ich ist in der Lage, sich ein rationales Über-Ich zu setzen: ethische Grundsätze und Regeln, langfristig anzustrebende Ziele etc.“ Sie kehren also das Verhältnis beider Instanzen gegen Freud um: Ihr Ich setzt sein rationales Über-Ich. Ich möchte das „Autonomie“, eigene Gesetzgebung, nennen, auch wenn dabei kein Ursprung aus dem Nichts und kein freier Wille – Ihre Kriterien für Auto-

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nomie – vorkommt. Nun bin ich freilich mit Ihnen darin einig, daß ethische Regeln und langfristig anzustrebende Ziele für eine Person nur gelten, wenn sie zustimmt, und in diesem schwachen Sinn könnte ich Ihre Rede von Setzen ohne Weiteres akzeptieren, aber vermute, daß Sie mit diesem schillernden Wort mehr meinen, nämlich so etwas wie Schaffen (Nietzsches Werte-Schaffen) oder wenigstens das, was ich in meinem vorigen Brief „primäre Selbstbestimmung“ nannte. Gegen diesen starken Sinn von „Setzen“ in Ihrer Erläuterung des mit „rationales Über-Ich“ Gemeinten habe ich Bedenken. Da kommen mir die Autonomie-Postulate der philosophischen Tradition seit Platon (bei Kant mit pathetischer Verwendung des Wortes „Autonomie“) in den Sinn, Postulate, die ich für Kernstücke der Verfehlungen des abendländischen Geistes halte. Dem Konstruktivismus des Irrglaubens, daß die Person sich ihre Normen macht, wie ein Ingenieur den Konstruktionsplan einer Brücke oder Maschine, halte ich eine berühmte – oft mißverstandene – vorplatonische Deutung des Verhältnisses entgegen, Pindar, 2. Pythische Ode Vers 72: „γἐνοι᾿, οἷος ἔσσι μαθών“, zu Deutsch. „Werde, indem du lernst, von welcher Art du bist.“ Indem die Person reift, wächst sie in den Nomos der eigenen persönlichen Situation und der diese umgreifenden und durchdringenden gemeinsamen Situationen hinein, mit einem breiten Spielraum für Annahme, Ablehnung und Weiterbildung, aber so, daß sie dabei inne wird, was ihr von diesem so kritisch geprüften Nomos auferlegt wird; das kann mit mehr oder weniger Aktivität geschehen, niemals aber in vollständiger Passivität, weil es jedenfalls auf eigene Zustimmung ankommt, die aber nicht beliebiger Willkür überlassen ist, sondern, wie ich mich ausdrücke, exigent (nicht automatisch) abgenötigt sein kann, eventuell durch eine Autorität eines Gefühls mit unbedingtem Ernst: das dann für den Betreffenden Heilige oder Göttliche. Mit dieser etwas subtilen Balance gegensätzlicher Faktoren, deren Isolierung zu den Karikaturen haltloser Beliebigkeit bzw. passiven Mitgeschleiftwerdens führt, will ich dem naiven „Selbstvertrauen der Vernunft“ (ein Ausdruck von Fries und seiner Schule) vorbeugen und auf die „Labilität der Person“ („Der Spielraum der Gegenwart“ S. 97–103) hinweisen, die ein Können erfordert, das ich in das Bild des Wellenreiters gefaßt habe: die Fähigkeit, sich zu halten im Auf und Ab von personaler Emanzipation und personaler Regression, d.h. im affektiven Betroffensein das schicksalhaft Gebotene zu empfangen und es in Besonnenheit sich anzueignen – nach Pindar: zu lernen, von welcher Art man ist, darauf zu horchen, um dem Erhorchten und an eigener Besonnenheit Geprüften zu gehorchen. Menschen, wie ich sie sehe, sind nicht schöpferische Ursprünge, sondern Medien; ich habe einmal geschrieben – und das ist von Anderen zitiert worden –: „Menschen sind wichtig als Medium der Darbietung von etwas, das an und mit ihnen geschieht, dem sie dienen oder sich widersetzen können, nicht dadurch, daß sie sich selber wichtig nehmen.“ Diese Sicht halte ich

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der eingebildeten Souveränität entgegen, deren sich mächtig glaubt, wer das eigene (freie oder unfreie) Wollen für den Herrscher über seine Kräfte hält, wie ein absoluter Monarch über sein Land herrscht. Dieses Konzept der Autonomie schnürt das konstruktive Planen von der Ergriffenheit ab, auf die es angewiesen ist, wenn es nicht steril werden soll – eine der größten Gefahren von denen, denen die moderne Welt im Bann der traditionellen Verfehlungen des abendländischen Geistes ausgesetzt ist, ja wohl der größten. Die Sterilität ergibt sich daraus, daß die Gestaltungskraft eine Funktion der Sensibilität und diese eine Funktion der Offenheit für personale Regression in affektives Betroffensein ist. Vielleicht helfen Ihnen diese Umschreibungen zu besserem Verständnis dafür, welchen „alten Adam“ ich allenfalls zu Hilfe rufen würde, um Beistand zu leisten nach dem von Fichte eingeleiteten Bruch im menschlichen Selbstverständnis: Pindar gegen Platon, eine Mentalität vor der Wasserscheide, die durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Verfehlung, der sich die dynamistische und die autistische angeschlossen haben, in das menschliche Welt- und Selbstverständnis in Europa eingebracht worden ist. 17. Januar 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir uns missverstanden haben, wenn Sie schreiben, meine Kriterien für „Autonomie“ seien „Entscheidung aus dem Nichts“ und „freier Wille“, und wenn ich in dem Glauben schrieb, Sie seien es, der die Rede von Autonomie ablehnt, weil sie mit eben diesen Chimären verknüpft ist. Deshalb schrieb ich ja, mich mit Ihnen einig meinend, dass mein „rationales Über-Ich“ nicht als autonom in diesem Sinne zu verstehen sei. Meine Verwendung des Wortes „setzen“ für die Funktion, die ich dem rationalen Über-Ich zuordne, mag hier verwirrend gewirkt haben; denn Sie greifen es auf und unterscheiden dann einen schwachen Sinn von „setzen“, dem Sie zustimmen könnten, und einen (Ihrer Vermutung nach von mir vertretenen) starken, der Sie an die Autonomie-Postulate der abendländischen Tradition gemahnt, an das Kernstück der Verfehlungen des abendländischen Geistes. Nein, ich sehe mich – aber das wissen Sie ja eigentlich – ganz und gar nicht in dieser Tradition; sehe mein Wollen (oder neuerdings: meine Gehirnaktivität) nicht nach dem Muster des absoluten Monarchen (wie Sie auf Seite 3 schreiben) als Instanz, die meine Kräfte beherrscht. Darin und im Großen und Ganzen auch in dem, was Sie auf der zweiten Seite Ihres Briefes in schöner und elastischer Prosa ausführen, möchte – oder kann – ich Ihnen gar nicht widersprechen … Aber an einigen Details Ihrer Formulierungen merke ich doch, auch eingedenk unseres bisherigen Austauschs, dass wir dennoch im Grunde nicht einer Meinung sind: beispielsweise knüpfe ich den unbedingten Ernst, den ich durchaus für sehr

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wichtig halte, nicht notwendigerweise an Heiliges, sondern, ganz „animalisch“, an den Lebenswillen, der idealerweise sogar nicht durch Heiliges (→ „irrationales Über-Ich“) konterkariert bzw. kontaminiert sein sollte; oder ich sehe nicht, woher die Kriterien stammen sollen, nach denen jemand den Nomos, in den er hineingewachsen ist, kritisch prüft und sich so seinen „Spielraum“ schafft. Völlig zustimmen kann ich Ihnen wieder, wenn Sie sagen, kein Mensch sei ein schöpferischer Ursprung (was übrigens für mich ein Unbegriff ist wie die beiden eingangs, Zeile 2, genannten). Aber wenn Sie daran, wohl in erläuternder Absicht, das Eigenzitat anfügen: „Menschen sind wichtig als Medium der Darbietung von etwas, das an und mit Ihnen geschieht, dem sie dienen oder sich widersetzen können, nicht dadurch, dass sie sich selber wichtig nehmen“, dann werde ich wieder ratlos. Wie soll ich das auf mich beziehen? Ich bin „wichtig“ (für wen?), wenn ich mich selber nicht wichtig nehme? Ebenso ratlos werde ich, wenn ich über den von Ihnen herangezogenen Pindar-Spruch „Werde, indem du lernst, von welcher Art du bist“ meditiere und versuche, mögliche Deutungen zu durchdenken. Nun gut, wir haben diese Thematik schon des öfteren – z.B. im Zusammenhang mit dem „Wellenreiter“ oder dem „starken Daimon“ – umkreist und zu durchdringen versucht. Immer blieb mir das Gefühl zurück, dass die Artikulations- und Verständnismöglichkeiten dabei an gewisse Grenzen gestoßen waren, die aber wahrscheinlich nicht, wie ich manchmal zu vermuten geneigt war, nur dem Medium des Briefes anzulasten sind. An sich ist die Schwierigkeit des Ausdrucks mittels einer natürlichen Sprache hier nicht verwunderlich, denn es handelt sich m.E. letztlich um ein „Problem“, das nach Jahrhunderten Philosophie von kaum einem der zigtausenden „Arbeitsplatzbesitzer“ in unserer heutigen hypertrophierten Denk-Industrie m.E. adäquat behandelt, ja auch nur angegangen wird. Deshalb fand ich Ihre Rede von der präzedenzlosen Epochenschwelle so anziehend und ermutigend inmitten der Flut von „Beiträgen“ zu diesem oder jenem Aspekt dieser oder jener Lehre … Ihre Neue Phänomenologie war kürzlich, wie ich einem Hinweis entnahm, wieder einmal „in der Diskussion“. Ich besorgte mir also Logos, Band 7. Bei Fellmann las ich: „Denn mit der Entpersonalisierung der Gefühle gewinnt ihr Substrat an Bedeutung; und vom ‚Fleisch und Blut‘ ist es dann nur ein kleiner Schritt zum Boden.“ (S. 416) Wie erschütternd borniert! Da verschwende ich keine Lebenszeit für das, was der Mann sonst noch schreibt. Aber auch diejenigen, die Sie dort – unter allerlei Kautelen freilich – gelehrsam verteidigen, konnten mich nicht begeistern. Stolperstein scheint mir stets Ihre Theorie der Gefühle zu sein. Über diese haben wir in unseren zahlreichen Briefen bemerkenswerterweise noch nie gesprochen, obwohl wir, wie Sie am 13.12.02 schrieben, stets „straff am Thema“

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geblieben sind, und zwar, wie ich finde, nicht an einem peripheren. Das gibt zu denken. 19. Januar 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Ihr Brief vom 17. Januar verblüfft mich durch die Aufreihung der Verständnisschwierigkeiten, die mein voriger Brief Ihnen noch bereitet, nachdem wir schon so lange korrespondieren und ich wieder einmal mein Bemühen daran gesetzt hatte, mich recht deutlich und faßlich auszudrücken. Nun habe ich vier Punkte, an denen Sie Anstoß nehmen, aus Ihrem Brief herausgehoben. Bei den beiden ersten sehe ich Grund zu der Hoffnung, mich Ihnen doch noch besser verständlich machen zu können, und das nicht einmal durch ganz neue, bisher zwischen uns unerörterte Gedanken. Bei den beiden letzten bin ich eher zweifelhaft. 1. Sie knüpfen, wie Sie schreiben, den unbedingten Ernst nicht notwendigerweise an Heiliges, sondern ganz animalisch an den Lebenswillen. Der Gegensatz, den Sie mit „sondern“ markieren, besteht m.E. nicht. Mir scheint, Sie übersehen den ganz formalen Charakter meines Begriffes des Heiligen, den ich schon oft in Briefen an Sie präzisiert und noch einmal in dem insofern von Ihnen beanstandeten Brief hervorgehoben habe. Als heilig für jemand zu einer Zeit bezeichne ich, was dann für ihn durch eine Autorität mit unbedingtem Ernst, und zwar die Autorität eines Gefühls, die Macht besitzt, ihm verbindliche Normen aufzuerlegen. (Ich brauche nicht zu wiederholen, wie ich die hier verwendeten Ausdrücke definiere.) Heilig in diesem Sinne kann auch der animalische Lebenswille sein, obwohl mir das schwer vorstellbar ist, aber ich kann nicht ausschließen, daß so etwas vorkommt. Sie stellen also meinen formalen Begriff aus der Normenlehre eine materiale Füllung entgegen, die ich gar nicht ausschließen will; das halte ich für eine Vermischung zweier zu trennender Begriffsebenen. 2. Sie fragen nach den Kriterien kritischer Prüfung des Nomos, in den jemand hineingewachsen ist. Ich meine, diese Frage schon öfters in Briefen an Sie beantwortet zu haben. Die Kriterien bestehen nicht in irgend welchen allgemeingültigen Rezepten, sondern ausschließlich in der Bemessung des Nomos an der eigenen Fähigkeit personaler Emanzipation, wie ich mich ausdrücke, d.h. des Vermögens, zu objektivieren und in möglichst nüchterner Urteilsbildung sich Rechenschaft davon zu geben, wie viel von dem Zugemuteten man ablegen kann oder muß, um sich (in seiner Subjektivität) treu zu bleiben, und umgekehrt, was man davon behalten muß, um sich nicht zu verleugnen. So habe ich z.B. an der gehobenen, preußisch eingefärbten bürgerlichen Kultur, in der ich als Kind und Knabe aufgewachsen bin, viel und leidenschaftlich etwas auszusetzen gehabt, aber ich bin in ihr und ihren Ansprüchen (auch an sittliche Haltung) bei aller Kritik und Revision im Einzelnen immer noch verwurzelt.

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3. Sie zeigen sich ratlos angesichts meines Verdikts gegen die These, daß Menschen wichtig seien, weil sie sich selber wichtig nehmen. Aber Ihre Ratlosigkeit beruht m.E. auf einem Übersehen des Wortlauts, denn Sie tun so, als sei gemeint, daß Sie sich selber nicht wichtig nehmen sollten. Davon ist ja gar nicht die Rede. Nichts liegt mir ferner als die Zumutung an Sie oder sonst jemand, sich zu vernachlässigen. Ich will nur sagen, daß ich den Menschen wesentlich als Gefäß der Resonanz für Schicksale und ergreifende Mächte verstehe, einer eigenständig weiterführenden Resonanz, in der sich denkwürdig Bedeutendes ereignet hat und weiter ereignen kann, während bloß flache Sterilität dabei herauskommt, wenn der Mensch hauptsächlich sich selbst in seiner (auch noch extensiv ausgelegten), vermeintlich angeborenen, Menschenwürde wichtig nimmt und kultiviert. Vielleicht kann ich Ihrem Verständnis beistehen, indem ich aus meinem Buch „Die Liebe“ (Bonn 1993) von den Seiten 11 und 12 in Kopie einen Abschnitt beilege, der von der Empfehlung des vitalen Stolzes zum Leitbild der mit prüfender Kritik bewaffneten Medialität des Menschen hinüberführt. 4. Vor dem von mir herangezogenen Pindar-Spruch werden Sie ratlos. Da Sie nicht angeben, worauf sich diese Ratlosigkeit bezieht, kann ich nichts dazu sagen. Das Logos-Heft „Diskussionen der Neuen Phänomenologie“ ist mißraten. Der Aufsatz von Fellmann nimmt auf den Gegner, meine Phänomenologie, gar keine Rücksicht (außer in von vorn herein herabsetzender Absicht) und verdient keine Stellungnahme. Der folgende Aufsatz von Böhme hat mit der Sache wenig zu tun. Wertvoll waren mir die beiden Aufsätze von Hauskeller und Wildt, die gutwillig mit Fehlern und Mißverständnissen beladen sind. Ich habe ihnen das in ausführlichen Briefen dargelegt, und sie haben sich meiner Meinung ganz oder im Wesentlichen angeschlossen. Es ist mir immer wichtig, auf Mißverständnisse zu stoßen, bei deren Korrektur ich selbst gefördert werde. Das gilt auch für unsere Korrespondenz. 30. Januar 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, aus Ihrem letzten Brief lese ich eine gewisse Verstimmung heraus: darüber, dass ich in meinem vorangehenden Brief Fragen aufwarf, von denen Sie mehrfach (ich zähle 5 Stellen auf der ersten Seite) sagen, sie seien von Ihnen „schon oft“ in früheren Briefen beantwortet worden. Deshalb weiß ich es durchaus zu schätzen, dass Sie dennoch versuchen, weitere Erläuterungen zu zwei Punkten zu geben, die ich am 17. Januar als Beispiele dafür nannte, dass ich den Eindruck habe, wir seien, trotz meiner Zustimmung zu Ihren Ausführungen im Brief vom 4. Januar, im Grunde in wesentlichen Punkten doch nicht einer Meinung. Sie scheinen diese Diskrepanz, d.h.

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meine andere Meinung, darauf zurückzuführen, dass ich Sie noch immer nicht völlig bzw. richtig verstanden habe. Das erste Beispiel war der unbedingte Ernst, den wir beide für eminent halten. Ich sagte, ich gründe ihn, ganz animalisch, auf den Lebenswillen. Heiliges – als „irrationales Über-Ich“ in und zugleich über dem Individuum wirksam – konterkariere den Lebenswillen und sei der Grund eines sozusagen falschen unbedingten Ernstes (das war m.E. in der Kulturgeschichte bisher das Normale: die Menschen waren stets bereit bis begierig, ihr Leben für etwas „Höheres“, das ihnen „heilig“ ist, zu vergällen und sogar zu opfern, und wenn nicht, dann sahen sie selbst darin ihre Schwäche, Verderbtheit, Sündigkeit, Feigheit …). Sie antworteten dreifach: a) Der Gegensatz unserer Auffassungen bestehe gar nicht – ich übersähe den rein formalen Charakter Ihres Begriffs des Heiligen. b) Auch der animalische Lebenswille könne (in diesem formalen Sinne) heilig, d.h. Grundlage des unbedingten Ernstes sein; Sie fügen aber hinzu, dass Ihnen das zwar schwer vorstellbar, jedoch nicht auszuschließen sei. c) Ich vermische – indem ich Ihrem formalen Begriff des Heiligen eine materiale Füllung gebe – zwei Begriffsebenen, die aber auseinanderzuhalten seien. Redlicherweise – auch auf die Gefahr hin, Sie weiter zu verstimmen – muss ich zugeben, dass mir die Sache noch immer nicht geklärt erscheint. Zu a) Heilig sei, schreiben Sie, „für jemanden“ (in der Zeit variabel), was die Macht besitzt, ihm verbindliche Normen aufzuerlegen. Das ist das Formale. Wenn Sie dieses Was dann als Autorität eines Gefühls mit unbedingtem Ernst bezeichnen: kommt nicht damit – wie immer man auch Natur und Wirkungsweise von Gefühlen konzipiert – das Materiale hinzu? Ich will damit nicht Ihnen den Vorwurf der Vermischung zurückgeben, sondern vielmehr meine Vermutung ausdrücken, dass das Separieren eines rein formalen Anteils hier nicht weiterführt. Zu b) So vorsichtig wie Sie („nicht auszuschließen“) bin ich nicht. Der im animalischen Lebenswillen gründende unbedingte Ernst ist in meinem Verständnis ja der Antagonist des unbedingten Ernstes, der sich von jenen Normgehorsam erzwingenden Gefühlen ableitet. – Sofern sich Ihre Ausführungen auf die menschliche Normalität beziehen, die – wohl in allen Kulturen – über Jahrtausende herrschte, will ich ja gar nicht mit Ihnen rechten (cf., was ich im zweiten Absatz in Klammern setzte). Aber dieses Heilige und seine materiale Erscheinung, der unbedingte Ernst (in Ihrem Sinne), sind seit zwei bis drei Jahrhunderten in fortschreitendem Zerfall begriffen (unsere „präzedenzlose Epochenschwelle“). Ich sehe darin die Chance, dass der unbedingte Ernst (in meinem Sinne) mehr und mehr lebensbestimmend werden kann; auf dass die Menschheit, zuerst die

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europäische, die große Epochenschwelle meistert. Ein Zurück in die alte Befindlichkeit scheint mir ausgeschlossen. Eine Prognose, gar eine optimistische, vermag ich freilich nicht zu geben. Zu c) Ist in zu a) enthalten. Sie sprechen (auf S. 11 von „Die Liebe“, die Sie mir freundlicherweise schickten) von der Aporie der modernen Kultur, die in der „Störung des Ergriffenwerdenkönnens“ wurzele. Sie wollen aber auch keine Empfänglichkeit „für alles, was ergreifen kann“: die kritische Vernunft soll „wählen“; der „vitale Stolz“ soll ermutigt (ich würde sagen: so wenig wie möglich beschädigt) werden. Das betrifft die Punkte 2 und 3 Ihres Briefes, die m.E. von 1 nur schwer trennbar sind. – Die Seiten 11/12 von „Die Liebe“ klingen mir sehr sympathisch, aber … 31. Januar 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Die dankenswerte Zähigkeit, mit der Sie den Finger auf noch verbliebene Unklarheiten legen, veranlaßt mich, eilige Arbeit an Fahnen eines bevorstehenden Buches von mir („Was ist Neue Phänomenologie?“) zu unterbrechen, um gleich auf Ihren Brief vom 30.01. zu antworten. Ihre Fragen beziehen sich auf den ersten Punkt meiner Stellungnahme im vorigen Brief. Damit wir nicht endlos an einander vorbei reden, wird es darauf ankommen, den Begriff des unbedingten Ernstes genau im Sinne meiner Definition zu nehmen, ohne Rücksicht auf alles, was man sonst noch unter diesem Wörterpaar verstehen könnte. Unbedingter Ernst ist für mich zunächst eine zusätzliche Eigenschaft der verbindlichen Geltung einer Norm für jemand. Die verbindliche Geltung besteht darin, daß der Betreffende der Norm oder einem Verhaltensmuster, in das sie integriert ist, nicht nach Belieben unbefangen die Bereitschaft zum Gehorsam entziehen kann. Zusätzlich gewinnt diese Geltung für ihn unbedingten Ernst, wenn unter den Niveaus personaler Emanzipation (hier etwa: nüchtern objektivierender Prüfung mit Bereitschaft zur Distanz), über die er verfügt, keines ist, das ihm den unbefangenen Entzug der genannten Bereitschaft gestattet. Ich habe Ihnen den gemeinten Unterschied zwischen bedingtem und unbedingtem Ernst der verbindlichen Geltung einer Norm für jemand früher am Beispiel des Verhältnisses von konventioneller und Gewissensscham deutlich zu machen gesucht. Über konventionelle Scham, selbst wenn man sich tüchtig und unausweichlich schämt, kann man sich in der Reflexion, intellektuell ein noch höheres Niveau personaler Emanzipation erklimmend, zugleich hinwegsetzen, wodurch ein gewisser Zwiespalt zweier solcher Niveaus entsteht; bei der Gewissensscham versagt solche reservatio mentalis. Sekundär übertrage ich die Rede vom unbedingten Ernst von der verbindlichen Geltung einer Norm (d.h. eines Programms für möglichen Gehorsam) auf die diese Geltung legitimierende und autorisierende Instanz, z.B. im Fall der

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Scham von der für den sich Schämenden im angegebenen Sinn verbindlich geltenden Norm, seinen Stolz zu beugen, auf das Gefühl (Scham), dem ich dann Autorität zuschreibe, im Fall der bloß konventionellen Scham (sofern der Betroffene sich in der Reflexion, wenn auch nicht in der Praxis seines lebendigen Fühlens, davon befreien kann) eine Autorität mit bedingtem Ernst, im Fall der Gewissensscham eine Autorität mit unbedingtem Ernst. Das Heilige für jemand zu einer Zeit definiere ich nun als für ihn dann mit unbedingtem Ernst verbindliche Geltung einer Norm, sofern die betreffende Geltung für ihn durch ein Gefühl mit unbedingtem Ernst autorisiert wird. Diese Einschränkung der Quelle des unbedingten Ernstes der verbindlichen Geltung auf ein Gefühl dient mir nur zur Abgrenzung gegen eine andere Quelle solchen unbedingten Ernstes, die für das Heilige nicht in Betracht kommt, nämlich die Autorität der Wirklichkeit (oder des Seins) in der Evidenz, z.B. bei mathematischen Beweisen oder bei harten Tatsachen der gewöhnlichen Lebenserfahrung. (Ich habe Ihnen dafür früher das Beispiel eines leichtsinnigen Läufers gegeben, der sich ein Bein bricht und daraufhin eingestehen muß, daß ihm eben doch etwas passieren kann.) Der so eingeführte Begriff des Heiligen ist insofern rein formal, als er völlig den Inhalt der Norm offen läßt, die von der Autorität des Gefühls für den Betroffenen zur mit unbedingtem Ernst verbindlichen Geltung erhoben wird. Es kann sich also auch um eine Norm handeln, die diesem verbindlich vorschreibt, seinem animalischen Lebenswillen zu folgen, z.B. im Fall eines Schiffsuntergangs vom Format der Katastrophe der Titanic für die Rettung seines Lebens, wozu ihn sein animalischer Lebenswille treibt, das qualvolle Ende von Hunderten oder Tausenden seiner Mitmenschen bedenkenlos in Kauf zu nehmen, falls die Situation ihn vor eine solche Alternative stellt. Ich kann mir so etwas nur schwer vorstellen und würde jemand, der so handelt, zunächst für einen ganz gemeinen Egoisten halten; wenn er aber beteuerte, er habe nur dem unbedingten Ernst einer für ihn verbindlich geltenden Norm, alles hinter seinen animalischen Lebenswillen zurückzusetzen, genügt, würde ich das prima facie für eine Ausrede halten, ohne aber prinzipiell auszuschließen, daß so etwas vorkommen kann. Dies zur weiteren Klärung. 19. Februar 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, bitte, entschuldigen Sie die verspätete Antwort auf Ihren Brief vom 31. Januar. Mein 92-jähriger Vater, der bisher noch allein in seiner Wohnung in Dortmund lebte, ist in diesen Wochen zu einem „Pflegefall“ geworden. Da gab es für mich, erschwert durch die Entfernung von mehr als 400km, einiges zu tun, das mir zwar nicht unbedingt die Zeit, aber doch die Sammlung nahm, die ich für eine Antwort brauche.

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Sie haben, „damit wir nicht endlos aneinander vorbeireden“, noch einmal Ihren Begriff des unbedingten Ernstes erläutert. Sie nennen dabei zwei Quellen des unbedingten Ernstes: (1) die Autorität eines Gefühls; (2) die Autorität der Wirklichkeit. Nur mit (1) ist der – rein formale – Begriff des Heiligen verbunden (Etwas ist für jemanden zu einer Zeit „heilig“, wenn …). Ich glaube gar nicht, dass wir bisher so sehr aneinander vorbeigeredet haben; denn ich meine, Ihre Begriffe und Beschreibungen genügend gut aufgefasst und in unserem Austausch – abgesehen von kleineren, leicht korrigierbaren Missverständnissen – überwiegend richtig verwendet zu haben. Nur bin ich der Meinung, dass sie sich vornehmlich auf historisch frühere Zustände (idealerweise auf Zeiten wie der „Einheit der Christenheit“) des Menschen als gesellschaftlichem Wesen und natürlich auf noch bestehende Residuen dieser Zustände beziehen. Unser grundsätzlicher Dissens besteht wohl darüber, was nach dem progressiven Zerfall dieser Einheit, den wir ja in unserer Lebensspanne besonders eindrücklich erleben, für die Zukunft der (zunächst europäischen) Menschheit erwartet oder auch nur gewünscht werden kann. Mit diesem Dissens (zu Ihren „Perspektiven nach Hitler“) begann ja auch unser Briefwechsel, und wir sind jeweils – worüber wir auch sprachen, ob über den Daimon, die Metapher des Wellenreiters, das irrationale Über-Ich oder jetzt den unbedingten Ernst –, für mich durchaus nicht unerwartet, früher oder später auf denselben Kern gestoßen. Es bereitet mir jedoch im Moment einige Schwierigkeiten, diesen Kern begrifflich präzise zu fassen. Außerdem bin ich etwas demotiviert, weil ich meine, Sie müssten nach all unseren Briefen – wie ich – ohnehin eine hinreichend genaue Vorstellung von ihm haben. Deshalb will ich mich jetzt darauf beschränken, noch etwas zu Ihren Ausführungen zum unbedingten Ernst zu sagen – und zu fragen. Quelle (1) haben Sie als Gewissensscham bezeichnet – als qualitativ verschieden von konventioneller Scham. Da wäre natürlich zu fragen, woher das Gewissen stammt, wenn nicht auch von den „Konventionen“ (Sitten etc.) der (zufälligen) Menschengruppe, in der das Individuum enkulturiert – ich würde sagen: mit einem psycho-physiologisch aufgefassten, irrationalen Über-Ich geprägt – wurde. Über Quelle (2), die Autorität der Wirklichkeit (des Seins), sind wir uns einig, solange wir bei den von Ihnen genannten Beispielen bleiben (etwa dem leichtsinnigen Läufer …). Aber als die eigentlich problematische Wirklichkeit erfahre ich seit eh und je das Denken und Handeln der „Anderen“. Mein Michbesinnen auf mein Michfinden in meiner Umgebung, mein „Philosophieren“, ist primär dadurch motiviert, dass ich mich in einem wesentlichen Sinne keiner der bestehenden Weltanschauungen anschließen kann (wobei das eine – fast – nur formale Festlegung ist, indif-

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ferent gegenüber – fast – allen wissenschaftlich zu klärenden Inhalten, z.B. aber auch über Sitz und Natur der Gefühle). Ich will diesen Gedankenstrang jetzt aber nicht weiter verfolgen; worauf ich hinaus wollte: wenn bzw. weil ich zur Autorität der Wirklichkeit auch, sogar in erster Linie, die Wirklichkeit der mich umgebenden Menschen zähle, die großteils aufgrund von Quelle (1) agieren – weil sie ihre „Identität“ durch ihre Zugehörigkeit zu dieser oder jener „Werte- bzw. Wahngemeinschaft“ (Kirchen im allerweitesten Sinne) bestimmen –, so würden wir, falls wir dies weiter diskutierten, auch bei Quelle (2) bald zum Kern unseres Dissens vorstoßen. Dieser Kern wird m.E. in den letzten Sätzen Ihres Briefes gut fassbar, wo Sie sagen, dass jemand, der vor der realen, klaren und unausweichlichen Alternative „mein Leben oder das eines Anderen (oder auch tausend Anderer)“ steht und dann sein eigenes Leben rettet statt das/die des/der Anderen, infolge des rein formalen Charakters des Heiligen, möglicherweise dem unbedingten Ernst einer für ihn verbindlich geltenden Norm (alles seinem animalischen Lebenswillen nachzuordnen) Genüge getan habe. Für mich indes ist dies (der animalische Lebenswille als Spitze einer Wertehierarchie) ein nicht akzeptables Gedankenkonstrukt. 20. Februar 2003 Sehr geehrter Herr Laska, den Dissens, von dem Sie gestern schrieben, werden wir schwerlich überwinden, aber darum geht es in unserem Briefwechsel auch nicht, jedenfalls weniger als um die Förderung der Klarheit unserer Urteilsbildung. Viel wäre schon erreicht, wenn wir nicht mehr mit Mißverständnissen um einander herumlaufen, und deswegen höre ich gern von Ihrer Zuversicht, daß Sie meine Begriffe und Beschreibungen im Wesentlichen richtig verstehen. Zu der wachsenden Klarheit gehört auch, daß wir, indem wir weiterschreiben, nicht den Faden verlieren, an dem wir mit einander weiterdenken, und uns dann statt mit einem Faden mit einem Knäuel wiederfinden. Deswegen habe ich unsere letzten Briefe noch einmal angesehen. Am 13. Dezember 2002 hatte ich Ihnen gedankt in der „Meinung, daß unsere im Anschluß an Ihre Lektüre meines Hitlerbuches begonnene, um Stirner kreisende Diskussion zu einem gewissen Abschluß gekommen ist“, dabei aber noch Unklarheit über Ihren Begriff des rationalen Über-Ichs angemeldet. Am 2.01.03 gaben Sie mir dazu folgenden Aufschluß: „Erst das Ich ist in der Lage, sich ein rationales Über-Ich zu setzen: ethische Grundsätze und Regeln, langfristig anzustrebende Ziele etc.“ Am 4.01. erklärte ich Ihnen mein Ungenügen an diesem Aufschluß wegen einer Zweideutigkeit des Wortes „Setzen“ (als Konstruieren oder als Zustimmen). Weiter erläuterte ich (mit schon oft verwendeten Begriffen), in welcher Weise mir beim Vordenken wünschenswerter menschlicher Lebensformen die Verwendung des Wortes im zweiten Sinn nützlich, im ersten schädlich erscheint. Dabei verwendete

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ich ein Pindarzitat, dessen in diesem Kontext von mir intendierten Sinn ich gleich darauf erläuterte, während Sie es unverständlich fanden. Diese Erläuterungen veranlaßten Sie am 17.01. zu einigen Rückfragen, in die sich meines Erachtens Mißverständnisse eingeschlichen hatten, die ich in meiner Antwort vom 19.01. zu berichtigen suchte. (Der Punkt 2 der Berichtigung paßt übrigens auch als Erläuterung auf jenes Pindarzitat.) Zugleich schrieben Sie am 17.01., Sie knüpften „den unbedingten Ernst … nicht notwendigerweise an Heiliges, sondern, ganz ‚animalisch‘, an den Lebenswillen.“ Am 19.01. machte ich Sie darauf aufmerksam, daß das Heilige und der Lebenswille verschiedene Seiten des unbedingten Ernstes einer Norm betreffen, jenes die formale Seite der Geltung der Norm, dieser deren Inhalt, so daß es schief wäre, von einer möglichen Konkurrenz zweier Quellen zu sprechen. Um eine Präzisierung dieser Unterscheidung baten Sie mich am 30.01. Am 31.01. erwiderte ich mit einer ausführlichen Begriffsbestimmung des unbedingten Ernstes in meinem Sinn, woraus hervorging, warum der animalische Lebenswille als Quelle einer für jemand mit unbedingtem Ernst verbindlich geltenden Norm zwar nicht auszuschließen, aber wenig geeignet sei. Nunmehr, am 19. Februar, erklären Sie die Vorstellung einer solchen Norm als ein für Sie „nicht akzeptables Gedankenkonstrukt“. Da Sie dennoch die Rede von unbedingtem Ernst für Ihr anthropologisches Leitbild sich angeeignet haben, muß ich nun annehmen, daß Sie unter diesem Wörterpaar etwas anderes als ich verstehen. Ich weiß aber nicht, was, und stehe wieder vor einem Rätsel. Dieses Rätsel dürfte eine Facette der Schwierigkeit sein, die mir Ihr „rationales Über-Ich“ macht. Deswegen bin ich in diesem Bericht bis zu Ihrem Brief vom 2.01.03 zurückgegangen. An meine Unterscheidung zwischen konventioneller und Gewissensscham knüpfen Sie am 19.02. die Frage, „woher das Gewissen stammt, wenn nicht auch von den ‚Konventionen‘ (Sitten etc.) der (zufälligen) Menschengruppe, in der das Individuum enkulturiert … wurde“. Ich möchte diese Frage differenzierend beantworten: Der Inhalt (besser: Verankerungspunkt) der Schamnorm, also das, worüber jemand sich schämt, wird bestimmt vom Nomos der Situationen, in denen er lebt: teils gemeinsamer Situationen, aus denen seine persönliche Situation hervorgeht oder in die sie hineinwächst (z.B. durch Erziehung, Vorlieben, Schicksale aller Art), teils seiner persönlichen Situation, die sich wie eine zähflüssige Masse durch seine Lebensgeschichte fortwälzt. Die Gewissensqualität der Norm, d.h. der unbedingte Ernst ihrer in seiner Perspektive verbindlichen Geltung im Fall der Gewissensscham wird dagegen bestimmt durch das jeweils höchste ihm erreichbare Niveau personaler Emanzipation, d.h. hier: seiner Fähigkeit, sich mit der Geltung der Norm für ihn kritisch prüfend auseinanderzusetzen, egal, in welchem Maß er diese Fähigkeit aktualisiert. Gewissensqualität hat sie nur, wenn er auch auf diesem höchsten Niveau ihr

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die Bereitschaft zu Gehorsam nicht unbefangen entziehen kann. Ob es so ist, wird durch keine Enkulturation entschieden; da ist jeder mit sich allein. 13. März 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, erneut muss ich einen Brief mit der Bitte um Entschuldigung für dessen Verzögerung beginnen; die Gründe sind dieselben, die ich im vorigen Brief nannte. Falls Sie beim Schreiben Ihres Briefes vom 20. Februar – an der Stelle, wo Sie eine Anmerkung zu meiner Zuversicht machen, Ihre Beschreibungen und Begriffe im Wesentlichen richtig zu verstehen – geschmunzelt haben, könnte ich das gut nachempfinden. Vielleicht habe ich, als ich am 19. Februar die Zeile schrieb, auf die Sie sich beziehen, tatsächlich den Mund etwas zu voll genommen, jedenfalls wohl mich nicht vorsichtig genug ausgedrückt. Denn ich habe weder Ihr „System der Philosophie“ gründlich studiert noch alle Ihre nachfolgenden Bücher gelesen. Trotzdem habe ich das sichere Gefühl, dass ich das, worauf es Ihnen – und mir – im Wesentlichen ankommt, hinreichend richtig erfasst habe, vielleicht erst intuitiv, mit der Zeit aber auch begrifflich – in Ihrer Sprache. Ich sehe mich in diesem Gefühl auch durch die Tatsache bestätigt, dass wir seit nun fast drei Jahren korrespondieren, zügig, das Wesentliche nicht aus dem Blick verlierend, ohne größere Pausen und ohne dass sich bei einem von uns ein ernstlicher Verdruss bemerkbar gemacht hätte. Ein gewisser Verdruss Ihrerseits könnte aber, meinem Eindruck nach, aus Ihren letzten beiden Briefen sprechen: „… damit wir nicht endlos aneinander vorbeireden …“ (31.01.); „… wenn wir nicht mehr mit Missverständnissen umeinander herumlaufen …“ (20.02.). Nachdem ich Ihnen am 19.02. geschrieben hatte, dass ich glaube, dass wir gar nicht allzusehr aneinander vorbeiredeten, sondern aufgrund unseres grundsätzlichen Dissens nicht zusammenkämen, schrieben Sie, dass wir diesen kaum überwinden könnten, dass es aber darauf gar nicht ankäme, sondern auf die Förderung der Klarheit unserer Urteilsbildung. Steckt da nicht doch die Erwartung dahinter, dass bei genügender Klarheit beiderseits der Dissens letztlich schwinden müsse? Ich jedenfalls habe sie. Also: zuletzt sprachen wir über Ihren Begriff des unbedingten Ernstes. Sie sagen, ich hätte ihn mir für mein anthropologisches Leitbild angeeignet, und Sie stünden – wiederum, wie z.B. bei meiner Rede von einem rationalen Über-Ich – vor einem Rätsel, weil ich darunter etwas anderes verstünde als Sie: nur was? Angeeignet habe ich mir den Begriff eigentlich (vorerst jedenfalls) nur für unsere Diskussion, ebenso wie früher den der implantierenden Situation und des starken Daimons oder die Metapher des Wellenreiters. Ich fand und finde, dass sowohl diese Begriffe als auch die Verwendung, die sie

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in Ihrer Neuen Phänomenologie finden, gute Hilfsmittel sind, um sich über subtile Angelegenheiten der menschlichen Lebenswirklichkeit zu verständigen. Ich habe Ihnen auch in der Regel zugestimmt, wenn es um wesentliche Tatsachen, Sachverhalte, Vorgänge usw. ging, wie sie in der bisherigen Kulturentwicklung zu registrieren waren. Auch über die Tatsache der seit einiger Zeit, beginnend mit der Reformation, stattfindenden „Zersetzung“ der alten „umfassend implantierenden gemeinsamen Situation“ sind wir wohl im Grunde einer Meinung. Unsere Meinungen gehen an der – entscheidenden – Stelle auseinander, wo es um die Zukunft geht. Während Sie – in den „Perspektiven nach Hitler“ – auf eine „Regeneration“ der früheren Gegebenheiten hoffen, halte ich dies weder für möglich noch für wünschenswert und habe die Vision von etwas „ganz Neuem“. Deshalb bin ich auch immer wieder auf die von Ihnen genannte präzedenzlose Epochenschwelle im 19. Jahrhundert zurückgekommen. Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, wie Sie dies, die Chance der okzidentalen Menschheit, die Schwelle zu einer Epoche gänzlich neuer Kultur zu überschreiten, und das Konzept der Regeneration (westliche Technik mit östlichem „sobornost“) zusammenbringen. Es kann doch nicht damit getan sein, auf dem Papier anzuerkennen, dass es subjektive Tatsachen gibt. Entscheidend ist, was daraus für die Lebenspraxis, für die Erziehung der neu Hinzukommenden, für deren Enkulturation folgt. „Implantierende Situation“ und „unbedingten Ernst“ wird es – wie das „Über-Ich“ – auch in meiner Wunsch-Zukunft (die ich nicht für wahrscheinlich halte) geben, aber – nach sukzessiver Elimination des „Heiligen“ – in gänzlich anderer, m.E. soliderer und vor allem mit dem erreichten kulturellen Niveau verträglicher Ausprägung. 15. März 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Vermutlich machen Sie sich unnötige Sorgen über meine Hintergedanken. Das Schmunzeln, von dem Sie in Ihrem Brief von vorgestern schreiben, hat es nicht gegeben, und der Unmut, den Sie aus einigen Formulierungen herausgelesen haben, richtet sich nicht gegen Ihre Person, sondern entspringt nur der Sorge um fortschreitende Klärung, die ich gelegentlich anmahnen möchte, ohne sie in der großen Linie unseres Briefwechsels zu vermissen; es steht damit wie bei dem Flözen von Baumstämmen, das Goethe in einem Brief an Zelter einmal unter die Urphänomene rechnet: Im Großen und Ganzen gleiten die Stämme den Fluß hinunter, aber immer wieder einmal verhaken sie sich oder stoßen ans Ufer, und dann muß sie der Flözer mit seiner Stange wieder flott machen. Sie irren, wenn Sie meinen, daß ich die subjektiven Tatsachen nur auf dem Papier anerkenne, ohne mich um Konsequenzen für die Lebenspraxis zu kümmern. Ich beschäftige mich längst mit der Herausforderung, die an

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die Menschen herantritt, wenn sie einsehen, daß es nicht nur einen einzigen Typ von Tatsächlichkeit (den der objektiven, neutralen Tatsachen) gibt, sondern die Welt ein Konzert unzähliger sich durchdringender Milieus von Tatsächlichkeiten (wohl zu unterscheiden von Tatsachen) ist. Das ist, wie wenn man ins Wasser geworfen wird und schwimmen lernen muß. Aber auch das würde nicht gelingen, wenn man den potentiellen Schwimmer ohne Führung und Anleitung zappeln läßt. Deswegen sehe ich mich nach Gelegenheiten der Führung zum geschickteren Umgang der Menschen mit der eigenen Hinfälligkeit (den ich Ihnen am 10. August vorigen Jahres als mögliches Ziel des anstehenden Reifungsprozesses genannt habe) um, und ich finde drei Instrumente dafür: den starken Daimon, der als unbeirrbarer Nomos der persönlichen Situation einigen Menschen den Weg weist; das Heilige als mit unbedingtem, aber ständiger Bewährung an der Kritikfähigkeit des Adressaten ausgesetztem Ernst verpflichtender Autorität; die die persönliche Situation implantierende Situation einer Gemeinschaft, die der Person Halt und Führung gibt, ohne ihr die Selbständigkeit der Wegfindung und des Urteils (auch in kritischer Auseinandersetzung mit dem, wovon sie geführt wird) zu nehmen. Alle drei Führungschancen sind Glückschancen, für die es keine Garantie gibt; wenn sie ausbleiben, sehe ich nur den steuerlosen Kurs des Treibens nach Launen kommen, entsprechend dem Zappeln des ins Wasser Geworfenen, der nicht schwimmen kann. Sie dagegen bieten für dieselbe Aufgabe einer Lebensführung ohne Halt an einer objektiv-tatsächlichen Weltordnung nur das sogenannte rationale Über-Ich an, ein für mich bisher unlösbares Rätsel. Von Ihnen habe ich erst folgenden lakonischen Aufschluß darüber, was das sein soll, in Ihrem Brief vom 21.01.: „ethische Grundsätze und Regeln, langfristig anzustrebende Ziele etc.“ Was ist daran rational? Vielleicht die langfristige Steuerung durch Grundsätze und Regeln? Aber die gibt es auch bei Leuten mit fixen Ideen (z.B. Psychopathen gewisser Art oder Paranoikern). Das meinen Sie wohl nicht. Also dürften die Grundsätze, Regeln und Ziele nicht so fix sein. Aber was soll dann noch der von Freud übernommene Ausdruck „Über-Ich“? Freuds Über-Ich ist doch ein Tyrann, der dem Betroffenen die Unbefangenheit der Urteilsbildung nimmt oder einschränkt, nach Art einer fixen Idee. Wenn etwas dem sogenannten Ich, der Person, verfügbar sein soll, wird es unsinnig, den Begriff „Über-Ich“ darauf anzuwenden. Ich fürchte, Ihrer Vorstellung vom rationalen Über-Ich fehlt (anders als meinen Konzepten des Heiligen und der implantierenden Situation) jede Direktive für einen Mittelweg zwischen Preisgabe der Führung an Launen des Augenblicks (gemäß dem Konzept des Einzigen bei Stirner) und Fesselung an eine fixe Idee.

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1. April 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, mit meiner Vermutung, zwischen den Zeilen Ihres vorletzten Briefes könnte ein Schmunzeln durchscheinen, das meiner vorhergehenden, etwas zu forsch klingenden Behauptung galt, Ihre Philosophie im Wesentlichen verstanden zu haben, wollte ich nur einen Anlass schaffen, um diese Behauptung zu erläutern. Das war aber offenbar gar nicht nötig gewesen, denn Sie hatten, wie Sie am Bild des Flößens von Baumstämmen plastisch klar machen, nur im Sinn, einige „Verhakungen“, die Sie in unserem Briefwechsel bemerkt haben, aufzulösen und so den Strom der Gedanken von störenden Turbulenzen zu befreien und – ab jetzt versagt das Bild eines stetigdynamischen Prozesses – dadurch das Ziel einer fortschreitenden Klärung der Gedanken anzumahnen. Nach wie vor, schreiben Sie, sei Ihnen mein Begriff des rationalen Über-Ichs ein unlösbares Rätsel; denn Sie hätten von mir darüber bisher nur folgendes gehört: „ethische Grundsätze und Regeln, langfristig anzustrebende Ziele etc.“ Ich kann diese Stelle aufgrund Ihrer Angabe (Brief vom 21.01.) nicht finden, bin aber davon überzeugt, dass ich Ihnen erheblich mehr als diesen „lakonischen Aufschluss“ darüber gegeben habe. Insbesondere meine ich, dass der Begriff durch meine drei Arbeiten „Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei La Mettrie“/ bei Max Stirner“/ bei Wilhelm Reich“, die ich Ihnen m.W. geschickt habe, für unsere Zwecke hinreichend deutlich wird. Aber offenkundig stimmt das nicht. Wir gehen beide von der Gegenwart aus, in der es – um Ihr Bild des Philosophen als Schwimmmeister zu gebrauchen – immer mehr Menschen gibt, die zappelnd im Wasser treiben, weil sie nicht schwimmen können. Diesen Zustand sehen wir beide als veränderungsbedürftig an: möglichst viele Menschen sollten schwimmen können, was auch im Interesse derer liegt, die bereits schwimmen können, da die Zappler ihnen das ordentliche Schwimmen verderben. Soweit sind wir, im Großen und Ganzen, einer Meinung. Als „Instrumente“, die Sie – bzw. die praktische Seite Ihrer Philosophie – den Menschen anbieten, nennen Sie: (1) den starken Daimon für Einige; (2) das Heilige; (3) die implantierende Situation einer Gemeinschaft. Aber Sie nennen sie auch bloße „Glückschancen“. Bleiben sie aus, bleibe es beim Zappeln, beim ungesteuerten Treiben nach Launen. Heißt das, dass auch dann, wenn eine größere, einflussreiche Gruppe von Menschen, die von der Veränderungsbedürftigkeit des gegenwärtigen Zustands ebenso überzeugt ist wie von der Wirksamkeit dieser Instrumente, nichts tun kann? Darauf zielte im letzten Brief meine Frage nach Konsequenzen Ihrer Lehre für die Lebenspraxis, für die Erziehung der Neugeborenen, für deren Enkulturation. Glauben Sie, Sie könnten die Zappler zu Schwimmern machen? Wenn ja: wie? (Wenn jemand (1) nicht hat und nicht fähig ist, sich

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durch (2) ergreifen zu lassen; wenn (3) nicht mehr existiert und nicht wieder herstellbar ist.) Oder sähen Sie schon einen Erfolg darin, wenn Sie sie (mit Hilfe begleitender empirischer Forschung) mehr und mehr, über Generationen hinweg, davon abhalten könnten, aus ihrem Nachwuchs neue Zappler/Launenabhängige zu machen? Letzteres beschriebe gröbst und allgemeinst mein Konzept, von dem Sie sagen, es kenne nicht den Mittelweg zwischen Agieren nach Launen (von Ihnen Stirner zugeschrieben) und Tyrannei durch im Über-Ich verankerte fixe Ideen (von Ihnen Freud zugeschrieben). Ich halte, wie ich schon mehrmals schrieb, die Regeneration Ihrer „Instrumente“ nach der Kulturscheide (die Sie um 1800 datieren) für nicht mehr möglich und sehe, wenn ich einmal menschheitsgeschichtlich denke, nur einen beherzten Weg nach vorn für möglich an (wenn auch, nach Lage der Dinge, nicht mehr für wahrscheinlich): die bewusste und wissenschaftlich begleitete und gestützte, immer wieder verbesserte Vorbeugung der Entstehung von „Zapplern“, d.h. Menschen, die ihren Launen ausgesetzt sind. Dies geschähe durch sukzessive Zurückdrängung des irrationalen Über-Ichs bzw. des vor Entwicklung des Ichs entstandenen, irrationalen Anteils des Über-Ichs, so dass der sich mit dem Ich bzw. der Person entwickelnde rationale Anteil des Über-Ichs sich besser entfalten kann. Es reichte nicht, dass man den Kindern nicht mehr eindringlich von Gott, vom Weihnachtsmann etc. (Schmitz, Selbstdarstellung …, S. IX) erzählte; denn die Bildung des irrationalen Über-Ichs erfolgt gewiss schon präverbal, auch pränatal – psychosomatisch. 2. April 2003 Sehr geehrter Herr Laska, die lakonische Beschreibung des rationalen Überichs, die ich in meinem Brief vom 15.03. zitiert habe, findet sich in der Tat nicht in Ihrem Brief vom 21.01., wohl aber in dem vom 2.01. Ich habe mich wie hungrig an diese wenigen Worte gehalten, weil das rationale Überich sozusagen die pièce de résistance, der tragende Balken Ihrer Zukunftshoffnungen zu sein scheint und ich immer noch nicht weiß, was ich davon zu halten habe. Die Bedenken meines vorigen Briefes vom 15.03. sind unverändert. In Ihrem gestrigen Brief beschreiben Sie Ihr Konzept ohne diesen Begriff, statt dessen als Aussicht auf Menschenführung „mit Hilfe begleitender empirischer Forschung“ zur Erziehung von Menschen, die nicht mehr „ihren Launen ausgesetzt sind“. Obwohl ich von wissenschaftlicher Pädagogik nicht sehr viel halte, sind mir bewährte pädagogische Maximen ebenso wichtig wie Ihnen, und ich habe in einem Text, den ich aus einem Buch unlängst für Sie kopiert habe, selber einige angegeben: „Ermutigung des vitalen Stolzes“, „Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart“. Als Bewältigung der Krise, die durch die Entdeckung der strikten Subjektivität im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bedingt ist, scheint mir der

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bloße Appell an bewährte und nun gar wissenschaftlich gestützte Pädagogik aber ins Leere zu laufen. Der Kern der Krise ist ja der Entzug des Bodens, den das menschliche Selbstverständnis bis dahin im Glauben an eine Welt aus lauter objektiven oder neutralen Tatsachen hatte – an eine Welt, die alles ist, was der Fall ist, im Sinne von Wittgenstein. Wissenschaftlich geführte Erziehung hält sich aber wieder nur an objektive, z.B. statistisch geprüfte, Tatsachen; das glaubt sie ihrer Wissenschaftlichkeit schuldig zu sein. Damit kommen wir der Beunruhigung durch den Einstrom subjektiver Tatsachen in die Welt nicht bei. Statt der Beobachtung statischer Regelmäßigkeiten benötigt eine universale Pädgogik der Zukunft vielmehr die Anknüpfung an etwas, das den Menschen nahe geht, wobei man sie packen kann, und da komme ich wieder auf die Trias starker Daimon, das Heilige, implantierende Situation. Ganz bin ich Ihrer Meinung, daß man den starken Daimon und das Heilige nicht herbeibitten kann, aber Sie mögen mir noch so oft beteuern, daß die Zeit der implantierenden Situationen vorbei und ihre Wiederkehr nicht wünschbar sei: Es gelingt Ihnen nicht, mich zu überzeugen, zumal Sie keine Gründe Ihres Pessimismus in dieser Beziehung angeben. Im Gegenteil: In einem Vortrag habe ich kürzlich darauf hingewiesen, daß implantierende Situationen blühen und gedeihen, solange die Menschen sprechen können. Dazu bedarf es nämlich des Ersterwerbs einer Muttersprache, der dem kleinen Kind nur in einer seine Persönlichkeit implantierenden Situation möglich ist. Der Abbau implantierender Situationen zu Gunsten bloßer Beziehungsnetze ist allerdings ein Zug der Zeit und schon ihrer Vorgeschichte, aber ich habe in meinem Hitlerbuch eine einfache Maxime angegeben, die zum Gegensteuern Erfolg verspricht: die Erziehung zur Einheit von Recht und Pflicht, weil die Menschen Rechte gegen einander, Pflichten aber für einander haben, so daß Eigensinn und Solidarität an einander wachsen können, wenn beides ausgeglichen wird. Außerdem hoffe ich auf eine spontane Umstimmung der kollektiv dominanten leiblichen Disposition vom heute bathmothymen Pol zu einem mehr schizothymen (wie in der von Wagner und „Zarathustra“ geprägten Jugendstil-Jugendbewegungszeit) oder mehr zyklothymen Pol. Dann würde den Leuten plötzlich nicht mehr wichtig sein, was sie heute im Kreis vorwärts stößt: gewaltige Kraftmaschinen, Beschleunigung und Verdichtung des Verkehrs in jeder Form, abgehackte Rhythmen usw. Die Enttäuschung am Projizieren und hypertrophen Vernetzen könnte der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart Mut machen, in der Kultur der Briefe, der Hausmusik, der Zärtlichkeit, der Meditation, der Offenheit für die Elemente Luft, Sonne, Wasser usw. Wege zu finden, die die Aufheizung an den spannenden Momenten eines Fußball- oder Tennisspiels überflüssig machen.

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20. April 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, aus den letzten Zeilen Ihres Briefes vom 2.4. entnehme ich wieder einmal, dass wir in unserer Kritik bzw. Ablehnung von Lebensformen, die sich in den letzten Jahrzehnten ausgeprägt haben und populär geworden sind, weitgehend übereinstimmen. Sie sprechen von – ich sehe das Wort zum ersten Mal – bathmothymer leiblicher Disposition. Die von Ihnen ausgesprochene Hoffnung, dass eine Umstimmung zu einer anderen Disposition spontan erfolgen kann und wird, kann ich jedoch nicht teilen. Es ist m.E. schon nahezu illusionär, zu hoffen, dass sich auch nur die Einsicht durchsetzt, mit jener Lebensform in einer kulturgeschichtlichen Sackgasse – und nicht auf dem höchsten Gipfel – angekommen zu sein. Und selbst mit dieser Einsicht wäre es eine unendlich schwierige Aufgabe, aus dieser Sackgasse wieder herauszufinden bzw. die Hindernisse für ein Weitergehen zu beseitigen. Aus dieser Sicht der Dinge kann ich Ihre eingangs getroffene Feststellung, mein Konzept vom rationalen Über-Ich scheine der tragende Balken meiner Zukunftshoffnungen zu sein, nicht bestätigen. Dieses Konzept wäre – leider – eher als Kern der Diagnose einer malignen KulturKrankheit zu sehen, deren deutlichste Symptome geistesgeschichtlich an dem Auftreten von La Mettrie, Stirner und Reich und deren spontaner „Verdrängung“ durch die jeweils zeitgenössischen Aufklärer kenntlich waren. Sie schreiben, Sie wüssten immer noch nicht, was Sie von diesem Konzept zu halten haben. Ich kann ihnen, zumindest derzeit, nicht mehr Erläuterungen geben (als in den 3 Aufsätzen „Die Negation des irrationalen Über-Ich bei …“ und in den bisherigen Briefen) und setze ohnehin mehr auf die Wirkung der „Fakten“, die ich in meinen rezeptionsgeschichtlichen Arbeiten exponiere, Wirkung in dem Sinne, dass manch einer verunsichert wird, über die Geschichte der modernen Aufklärung neu nachdenkt und der genannten Sackgasse inne wird. Sie schrieben, ich könne Sie nicht davon überzeugen, dass die Zeit der implantierenden Situationen vorbei und ihre Wiederkehr nicht wünschenswert sei; schon deshalb nicht, weil der Erwerb der Muttersprache nur in einer implantierenden Situation möglich sei. Ich meinte natürlich die implantierende Situation der herkömmlichen Art, in der immer die Internalisierung von Heiligem und die Errichtung eines (irrationalen) Über-Ichs (in Reich’scher Terminologie: die starre psycho-physische charakterliche Panzerung) die zentrale Rolle spielt. Dass Spracherwerb daran gebunden sei, glaube ich nicht. Wir haben das Thema Muttersprache ja schon einige Male kurz gestreift, wobei Sie einmal, soweit ich mich erinnere, sagten, die Muttersprache könne man, im Gegensatz zu dem, was einem heilig ist (und das einem mit in diesem Sinne unbedingtem Ernst gebietet), irgendwann „beherrschen“. Aber ich möchte unsere alte Diskussion über zweierlei Arten

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der implantierenden Situation, des unbedingten Ernstes, des Über-Ichs usw. nicht wieder aufnehmen, sondern einen anderen Aspekt ansprechen. Ich suche seit langem nach einer Antwort auf die Frage, warum die Einführung einer Plansprache als lingua franca, für die seit gut hundert Jahren zahlreiche Vorschläge existieren, selbst im wissenschaftlichen Bereich nie ernsthaft in Angriff genommen wurde; warum stattdessen die (nicht nur, aber auch) sprachliche Anglifizierung der Welt auf vielen Gebieten mit geradezu masochistisch anmutender Genüsslichkeit vollzogen wird. Natürlich gibt es eine umfangreiche Literatur zum Thema der Plansprachen; aber das Merkwürdige daran ist, dass auch die (wenigen) Befürworter der Einführung einer Plansprache – besonders naheliegend bei den kaum noch zu bewältigenden Dolmetschproblemen bei den Dutzenden, vorgeblich gleichberechtigten, Sprachen eines geeinten Europa – dieser Frage allenfalls vereinzelt und ohne Nachdruck nachgehen. In den Materialien, die ich zu diesem Thema gesammelt habe, findet sich oft mit emotional geladenen Worten ausgedrückte Abneigung gegen jede „künstliche“ Sprache, auch und gerade bei Wissenschaftlern, die sich auf ihre Rationalität viel zugute halten. Eine ablehnende Stellungnahme, die mit sachlichen Gründen arbeitet, die mich überzeugen, habe ich bisher nicht gefunden. – Das ist freilich ein weites Thema, und ich weiß nicht, ob es Sie überhaupt interessiert. Ich habe es angeschnitten, weil ich den Eindruck habe, dass es in den schwierigen Komplex Muttersprache/implantierende Situation gehört und zur Klärung unserer Positionen beitragen könnte. 23. April 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Ihren prospektiven Pessimismus nehme ich so wenig an wie einen entgegengesetzten Optimismus. Ich gebe Ihnen zu, daß die gegenwärtig herrschenden Meinungen wenig Gutes für fruchtbare Entwicklung menschlicher Kultur erwarten lassen, aber ich glaube nicht an geradlinige Extrapolationsversuche. Was mich hoffen läßt, ist in erster Linie der Umstand, daß so viel an aussichtsreichen Möglichkeiten menschlichen Lebenkönnens noch unverbraucht, ungehoben, vielleicht unentdeckt ist, vergraben unter den Projektionen, mit denen die Metaphysik der Griechen mit ihren Fortsetzungen (auch in theologischer und physikalischer Gestalt) bis zur Gegenwart die unwillkürliche Lebenserfahrung weitgehend zugedeckt hat. Allein schon das Material, das ich in meiner Neuen Phänomenologie ausgebreitet habe, könnte Grabenden zur Wegweisung dienen, mehr noch bei dem Versuch, sich unbefangen von den ideologischen Vorprägungen der Tradition Rechenschaft vom eigenen Sichfinden in der Umgebung zu geben, d.h. in meinem Sinn philosophischer zu leben. Darin sehe ich die Aufgabe einer neuen, vertieften Aufklärung, nicht aber in einem Vorwärtstreiben der autistischen Verfehlung des abendländischen Geistes im Sinne der

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individualistischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts (vgl. mein Hitlerbuch S. 221–245, besonders 239–242) und der ihr von Ihnen gewünschten Radikalisierung in den Spuren von Lamettrie, Stirner und Reich (von dem ich wenig, aber vielleicht genug weiß). Was wir unter der Aufklärung verstehen, ist also wohl sehr verschieden. Allerdings ist mir Ihr Konzept weiterhin nicht klar. Ich kann nur vermuten, daß es an dem von mir im Brief vom 15. März dargelegten Dilemma eines rationalen Über-Ichs scheitern müßte. Ihren früheren Veröffentlichungen, auf die Sie hinweisen, kann ich nichts anderes entnehmen, weil ich darin zwar Vorwürfe an bisherige Leser wegen angeblich mangelnder Aufgeschlossenheit für LSR finde, keineswegs aber eine Explikation Ihrer Vorstellung von einem rationalen Über-Ich. Keine Schwierigkeit macht mir dagegen Ihr irrationales Über-Ich, nur daß ich nicht bereit bin, das Heilige und die implantierenden Situationen darunter zu subsumieren, während ich gern zugebe, daß viel Schutt und rostige traditionelle Fesseln von den Gemütern wegzuräumen wären, siehe oben, und sowohl das Heilige als auch implantierende Situationen für das Auftürmen dieser Übelstände vielfach mißbraucht worden sind. Aber mit der sinnstiftenden Potenz des Heiligen und implantierender Situationen hat das nichts Grundsätzliches zu tun. Vom Heiligen einmal abgesehen, das man in der Tat nicht herbeibitten kann, haben implantierende Situationen den Vorteil, daß man in der von mir schon beschriebenen Weise auf sie hinwirken und dabei darauf bauen kann, daß sie nicht erst ins Leben gerufen werden müssen, sondern nur angefacht wie das Feuer, das unter der Asche immer noch glüht. Dafür habe ich das Sprechenlernen kleiner Kinder als Beleg beigebracht; ich sehe nicht, was mit Hinweisen auf ein irrationales Über-Ich oder sogenannte Internalisierung (ein Wort, das ich nicht gern höre, gemeint vielleicht: Aneignung) des Heiligen dagegen einzuwenden ist. Eher denke ich an das von Hitler pervertierte Ideal der Volksgemeinschaft mit diachroner Verantwortung und dessen „Nachleuchten“ im russischen SobornostGedanken, s. mein Hitlerbuch S. 320–328 und S. 396–403. Eine Diskussion über Plansprachen interessiert mich nicht so sehr wie unsere bisherige über die Zukunftsaussichten der Menschheit. Eine Sprache, in der die Menschen leben können, ist eine Situation (im von mir definierten Sinn des Wortes), aus der die Menschen Sätze, d.h. Regeln zur Darstellung einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme, schöpfen können, um vermöge dieser Darstellung die binnendiffuse Bedeutsamkeit von Situationen, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen, zu explizieren und auf Grund solcher Explikation diese Situationen zu bewältigen, zu verarbeiten, zu entwickeln. Dazu eignet sich eine Sprache aber nur, wenn man sich in sie als ganzheitliche Situation einleben kann, wie es die kleinen Kinder tun und der Erwachsene in schwächerem Maße ihnen nachmacht, wenn er z.B. ins Ausland reist, um in der dort heimischen Fremdsprache geläufig zu werden. Diese Chance des Erwerbs von Geläufigkeit durch Hinein-

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wachsen in eine zuständlich-ganzheitliche Situation, wenn Sie so wollen in einen Lebenskreis, fehlt bei konstruierten Plansprachen, in denen niemand lebt, so daß er andere an diesem Leben teilnehmen lassen könnte, wie der Theologe der Gregoriana in Rom noch heute seine Adepten am Lateinischen. 4. Mai 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, Ihr Brief vom 23.4. bietet so viele Ansatzpunkte, sowohl für Zustimmung als auch für Widerspruch, dass mir zunächst Auswahl und Reihenfolge schwer fallen, sodann die Aufgabe, meine Antworten in einen leidlich kohärenten Brief zu fassen; so dass es wohl eher zu punktuellen Bemerkungen kommen wird. Die unwillkürliche Lebenserfahrung sei – von der Metaphysik der Griechen bis zur „Physik“ (incl. Biologie etc.) der Jetztzeit – durch Projektionen weitgehend verschüttet. Da stimme ich Ihnen zu. Nur würde ich sagen, dass diese Projektionen selbst nur Symptome einer elementaren, sinnlichen Beeinträchtigung der Fähigkeit zu unwillkürlicher Lebenserfahrung sind. Ebenso meine ich, dass die „Verfehlungen“, die Sie herausstellen, nur vordergründig solche des „Geistes“ sind; dass ihnen vielmehr gesamtorganismische Prozesse zugrunde liegen müssen, die die „Menschwerdung“ und die Entwicklung der Kulturen, wie wir sie bisher kennen, ermöglicht haben. Das sind freilich recht vage, pauschale Gedanken. Aber wenn ich in Ihrer Vorrede zu „Selbstdarstellung als Philosophie“ von dem bis in die unvordenkliche Vorgeschichte zurückreichenden Zeitalter der gleichsam kindlichen Menschheit und ihrer Anhänglichkeit an die etablierten religiösen und moralischen Heilssysteme lese, denke ich, dass wir hier einigermaßen übereinstimmen. Keine Übereinstimmung haben wir immer wieder in der Frage festgestellt, wie es nach der präzedenzlosen Epochenschwelle, in deren historischem Bereich wir leben, weitergehen könnte. Da sagen Sie, am 23.4. mit einem neuen Bild, es gelte, das Feuer, das unter der Asche immer noch glüht, anzufachen. Wenn Sie damit nicht zu dem „alten“ Feuer zurück wollen und stattdessen meinen, die nach wie vor in jedem Neugeborenen vorhandene Potenz zu jener unwillkürlichen Lebenserfahrung sei zu hegen, stimme ich zu. Dann würde ich aber, in Ihrem Bild, sagen, es müsse die erstickende Asche beseitigt werden; so erübrigte sich jedes Anfachen (was ja schon oft und, weil man stets die Asche – die zwanghaft zugefügte organismische Verkrüppelung durch das „irrationale Über-Ich“ bzw. die charakterliche Panzerung – beließ, vergeblich versucht wurde). Weil Sie in den letzten Briefen wiederholt betonten, dass Sie mit dem, was ich als irrationales (resp. rationales) Über-Ich zu umschreiben versuche, wenig anfangen können, ich aber über das bisher Gesagte derzeit kaum

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hinausgehen kann, und weil wir gelegentlich die Analogie des Erwerbs von Über-Ich und Muttersprache herangezogen hatten, habe ich am 20.4. das Thema Plansprache angeschnitten. Sie haben meine Absicht offenbar missverstanden, weil Sie antworteten, eine Diskussion über Plansprachen interessiere Sie weniger. Ich wollte aber gar nicht über Plansprachen diskutieren, sondern (siehe meinen letzten Absatz vom 20.4.) über das sehr merkwürdige, gleichwohl bisher scheinbar kaum bemerkte, jedenfalls kaum problematisierte Phänomen einer allgemeinen, untergründig hoch affektgeladenen Ablehnung jeglicher Plansprache (deren Einführung als lingua franca für Wissenschaft, Technik, Handel etc. an sich auf der Hand läge), die mit einer oft begeisterten Annahme der englisch-amerikanischen Sprache für eben diese Zwecke einhergeht. Drei Beispiele für Urteile von Koryphäen, so autoritativ wie repräsentativ: Fritz Mauthner lehnte kompromisslos und vehement jeden Versuch der theoretischen Konzeption und praktischen Einführung einer Plansprache ab und beschimpfte das damals noch junge Projekt Esperanto als „Spottgeburt“ und „embryonisches Monstrum“. (1906) – Ludwig Wittgenstein schrieb kein Wort über das Problem einer Plansprache. Rudolf Carnap berichtete aber, wie überrascht er von der „gefühlsmäßigen Heftigkeit“ war, mit der Wittgenstein sich in einem persönlichen Gespräch gegen das „verächtliche“ Esperanto echauffierte. (Ca. 1928) – Noam Chomsky beantwortete eine Anfrage wie folgt: „If by ‘planned languages,’ you mean Esperanto, and so on, I’ve never written about the topic, and have never had much interest in it, personally.“ (2002) Unbeschadet der Richtigkeit dessen, was Sie am 23.4. über Sprache generell schreiben, verwundert zunächst die Art und Weise, in der eine vordergründig rein pragmatisch (z.B. aktuell drängend bei den EU-Behörden) zu betrachtende Frage behandelt bzw. übergangen wird. Selbst die (oft sektenartig organisierten, akademisch randständigen) Befürworter einer Plansprache (meist Esperanto) meiden es, der Sache auf den Grund zu gehen und betonen stattdessen, dass durch Esperanto die Völkerverständigung gefördert würde, dass Hitler & Stalin Esperanto zu „zerschlagen“ versucht hätten und dass man in dieser Sprache auch wunderbar dichten könne. Mein Eindruck von diesem – hier nicht näher zu beschreibenden – Kampffeld ist der, dass hier die gleichen Abwehrkräfte und -methoden am Werk sind, die mir vom Studium der Abwehr des Kerngedanken Stirners bekannt sind – was wiederum dann nicht sehr überraschend ist, wenn man die oben genannte Analogie in Betracht zieht (auch wenn diese nicht alle Teile des Problems deckt).

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9. Mai 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Nach Ihrer Meinung ist die Abwehr des Ersatzes der gewachsenen Muttersprache durch eine planvoll konstruierte Kunstsprache für die normale Verständigung ein Analogon der Abwehr von Kerngedanken Stirners. Bei mir klappt die Verbindung schwerlich, denn zwar sträuben sich mir bei dem linguistischen Vorschlag die Haare, aber Stirners Gedanken, so wenig ich sie billige und mir zu eigen mache, wehre ich mit keinem vergleichbaren Affekt ab. Vielmehr bewundere ich Stirner, weil er das Mißverständnis der Entdeckung der subjektiven Tatsachen durch rezessive Entfremdung der Subjektivität (Verschiebung des Ichs oder Eigners in eine rätselhafte Schwebelage über den objektiven Tatsachen) auf die Spitze getrieben und daraus ehrlicher als andere (Fichte, Nietzsche) praktische Konsequenzen gezogen hat, die eine echte Möglichkeit des Menschseins, deren Realisierung allerdings für die Realisierenden ein entsetzliches Unglück wäre, vorzeichnen, nämlich die Steigerung der personalen Emanzipation zu vollendeter Frivolität (Verlust der verbindlichen Geltung von Normen). Das ist sehr verdienstlich als ernsthafte und unverhohlene Herausforderung zum Nachdenken. Sie dagegen finden in Stirner keimhafte Anregungen für eine wünschenswerte künftige Lebensgestaltung. Darüber möchte ich jetzt nicht schreiben, weil ich Ihre Ideen so lange nicht verstehe, wie Sie mir nicht Aufschluß darüber geben, was es mit dem rationalen Über-Ich auf sich hat, während ich mir unter dem irrationalen sehr wohl etwas vorstellen kann, bloß mit dem Unterschied von Ihnen, daß Sie die implantierenden Situationen und das Heilige unter das irrationale Überich subsumieren, ich bloß deren Mißbrauch. Was aber die Plansprachen angeht, so weiß ich diese, wo sie für spezielle Zwecke wie in der Mathematik oder Informatik passen, selbstverständlich zu schätzen, nicht aber als Ersatz gewachsener Sprachen bei der normalen Verständigung. Meine Opposition ist Teil meiner grundsätzlichen Abneigung gegen die überhand nehmende Tendenz zum Ersatz von Situationen (in meinem Sinne: kohärente und abgehobene Ganzheiten, integriert durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen) durch Konstellationen einzelner Faktoren. Mein übernächstes Buch, das schon fertig geschrieben ist, soll den Titel tragen: „Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung“. Die Plansprache entsteht durch Konstruktion grammatischer Netze zwischen willkürlich gesetzten Wortzeichen, sozusagen durch maschenweise wiederholte (und dann großzügig vereinfachte) Häkelei vom Nullpunkt eines Setzungsentschlusses aus. Ich dagegen betone die Resonanzgebundenheit gestaltungsfähigen menschlichen Lebens, das nur aus der Antwort auf ohne durchgreifende Analyse Vorgegebenes seine Kräfte schöpfen kann; die Gestaltungskraft hängt ab von der Empfänglichkeit, ganz besonders von der Empfänglichkeit für das unübersehbare,

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geschmeidige Angebot der gewachsenen Sprache, deren Meisterung einen großen Teil der Aufgaben und möglichen Erfolge menschlicher Lebensund Kulturgestaltung ausmacht. Dieses Angebot zu verdecken durch Gebrauch von Plansprachen in der normalen Verständigung, würde nur der grassierenden Tendenz zur Sterilität betriebsamer Kommunikation Vorschub leisten. Da ist mir die sprachliche Anglisierung schon lieber, eingedenk des Umstandes, daß schon Jacob Grimm die englische Sprache an Ausdrucksfähigkeit über die deutsche stellte (was ich ihm bezüglich der Philosophie allerdings nicht abnehme). Das Englische ist heute so eine Welle wie das Französische im 17. und 18. Jahrhundert und findet schon seine Widersacher wie damals dieses in den Fruchtbringenden Gesellschaften. Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie einem solchen Konstellationismus, einer Modellierung des Gegebenen als Vernetzung einzelner Eck- oder Stützpunkte, gleichfalls anhängen. Früher habe ich das in den Vorwurf eines Rousseauismus gekleidet, der Menschen wie Pflanzen an Spalieren wachsen läßt und sich tunlichst darauf beschränkt, diesen Pflanzen freien Zutritt zum Sonnenlicht zu verschaffen. Sie haben mir mit einigen Rousseau-Zitaten geantwortet, die nicht dazu passen. Aber das macht nichts. Rousseau bleibt Rousseau. Auch wo er sich widerspricht. 15. Mai 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, am 20.4. schrieb ich Ihnen – eingedenk unserer früheren Berührungen der Thematik „Erwerb der Muttersprache / implantierende Situation / irrationales Über-Ich“ – von meinem Interesse an der „Frage, warum die Einführung einer Plansprache als lingua franca, für die seit gut hundert Jahren zahlreiche Vorschläge existieren, selbst im wissenschaftlichen Bereich nie ernsthaft in Angriff genommen wurde; warum stattdessen die (nicht nur, aber auch) sprachliche Anglifizierung der Welt auf vielen Gebieten mit geradezu masochistisch anmutender Genüsslichkeit vollzogen wird.“ Sie missverstanden dies so, als ob ich mit Ihnen über Plansprachen als solche diskutieren wollte und sagten, dass Sie dies weniger interessiere. Am 4.5. versuchte ich, dieses Missverständnis zu klären und schrieb, dass ich doch „gar nicht über Plansprachen diskutieren [wollte], sondern … über das sehr merkwürdige, gleichwohl bisher scheinbar kaum bemerkte, [sogar von Plansprachlern] kaum problematisierte Phänomen einer allgemeinen, untergründig hoch affektgeladenen Ablehnung jeglicher Plansprache (deren Einführung als lingua franca für Wissenschaft, Technik, Handel etc. an sich auf der Hand läge), die mit einer oft begeisterten Annahme der englischamerikanischen Sprache für eben diese Zwecke einhergeht.“ Auch dieser Klärungsversuch scheint gescheitert zu sein, denn am 9.5. schreiben Sie im ersten Satz so, als ginge es mir um die „Abwehr des Ersatzes der gewach-

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senen Muttersprache durch eine planvoll konstruierte Kunstsprache für die normale Verständigung“ und wiederholen dies später noch zweimal. Bei mir finde ich nicht ein Wort, das dieses Verständnis (Ersatz der Muttersprache) nahelegt. Ich weiß nicht, wie ich mich noch deutlicher ausdrücken soll. Vielleicht liegt Ihrem Missverstehen ja ein anderes Verständnis dessen, was Plansprache ist oder sein könnte, zu Grunde; denn Sie schreiben einmal, Sie schätzten Plansprachen für spezielle Zwecke und nennen dann Mathematik und Informatik. Aber in diesen Gebieten, wie auch den anderen Wissenschaften, verwendet man doch keine Plansprache (wie etwa Esperanto, Latino sine flexione, Interlingua, Glossa o.ä.), sondern – mittlerweile auch in Deutschland – vornehmlich die englische Sprache. Diesen Irrtum einmal beiseite gelassen, verstehe ich nicht, warum und nach welchen Kriterien Sie eine bzw. die Plansprache nur in einigen Wissenschaften angewandt sehen wollen und nicht, wie ich schrieb, im gesamten Bereich der heute inter- und supranational verflochtenen Tätigkeiten (Wissenschaft, Technik, Handel, Touristik etc.). Niemandem wäre damit verwehrt, natürliche Sprachen und deren Kulturen kennenzulernen (aber der Zwang zum Englischen entfiele). Wenn Sie schreiben, die englische Sprache (samt „Anglifizierung“) sei einer Plansprache vorzuziehen, weil ihre Ausdrucksfähigkeit höher stehe als die der deutschen (und wohl erst recht einer konstruierten) Sprache, so kann ich dem auch nicht folgen. Wenn überhaupt, so könnte nur ein englischer Muttersprachler diese hier einmal unterstellte Qualität der englischen Sprache ausschöpfen. Alle anderen werden trotz großen Lernaufwands immer mehr oder weniger englisch radebrechen. Was die Anglifizierung aber mit sich bringt, kann, ja muss man jeden Tag wahrnehmen: die grelle Reklame, die aufdringlichen „Medien“ sind voll davon. Und auch in intime Bereiche ist sie via „songs“, „movies“, „clips“ etc. eingedrungen: die jungen Menschen hierzulande flüstern sich, wenn sie „Liebe machen“, „cool“ oder auch „uncool“, ein „I love you“ ins Ohr. Usw. usf. Sie sagen, das sei bloß eine harmlose Mode – wie im 17./18. Jahrhundert die Frankomanie –, die selbst ihre Gegenkräfte mobilisiere. Ich glaube das nicht, denn meiner Meinung nach handelt es sich bei dieser Entwicklung nicht mehr nur um eine Mode; ich vermute vielmehr – deshalb kam ich darauf zu sprechen – einen engen Zusammenhang mit den unbewältigten Problemen der großen Epochenwende, die noch lange dauern und einen ungewissen Ausgang haben wird – womit ich auch andeuten will, warum ich die große Ähnlichkeit der Abwehrreaktionen gegen das eigentlich seit einem Jahrhundert auf der Tagesordnung stehende Plansprachenproblem und gegen die Fortsetzung der Aufklärung mit und über „Stirner“ hinaus für bedeutsam halte. Den Gegensatz unserer Deutungen Stirners haben Sie im letzten Brief noch einmal recht treffend zusammengefasst; nur dass ich die Formulierung, ich sähe bei ihm „keimhafte Anregungen für eine wünschenswerte

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künftige Lebensgestaltung“, zu zaghaft und schwach finde. Dieser Gegensatz beruht wahrscheinlich auch auf unserer unterschiedlichen Herangehensweise an Autoren, wie ich aus Ihrem letzten Satz entnehme: „Rousseau bleibt Rousseau, auch wo er sich widerspricht.“ Sie nahmen den konventionellen Rousseau – und warfen mir Rousseauismus vor. Ich wies dies zurück und zitierte Ihnen dazu einige Sätze, die in meinen Augen den wahren Rousseau – den ich allerdings erst recht nicht mag – verraten. Sie lassen gerade diese Seite des Widerspruchs unter den Tisch fallen. Bei Stirner dürfte der Fall ähnlich liegen, nur dass ich hier den verborgenen, sich widersprechenden, „wahren“ Stirner sehr schätze. Ich las irgendwo, dass Sie am 16. Mai 1928 geboren wurden. Da somit ein runder Geburtstag bevorsteht, möchte ich mir erlauben, Ihnen herzlich zu gratulieren und viele Jahre jener Vitalität zu wünschen, von der ich ebenfalls las. 17. Mai 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Nachdem ich auf Ihre Thematisierung der Ablehnung von Plansprachen für geläufiges Sprechen mit Erläuterung von deren Unhandlichkeit zu diesem Zweck geantwortet hatte, erklärten Sie diese Antwort zur Verfehlung Ihrer Pointe und gaben mir für diese in Ihrem Brief vom 4. Mai folgenden Tip: „Mein Eindruck von diesem (…) Kampffeld ist der, daß hier die gleichen Abwehrkräfte und -methoden am Werk sind, die mir vom Studium der Abwehr des Kerngedankens Stirners bekannt sind.“ Dazu verwiesen Sie auf „die oben genannte Analogie“, nämlich „die Analogie des Erwerbs von Über-Ich und Muttersprache“. Ich habe mir diese Andeutung so zurechtgelegt, daß Sie Anhänglichkeit an das von Ihnen so genannte irrationale Über-Ich einerseits für die Abwehr eines Kerngedankens von Stirner, andererseits für die affektgeladene Abwehr des Vorschlages einer Ersetzung von Muttersprachen durch eine Plansprache als lingua franca verantwortlich machen wollten. Deswegen habe ich mich Ihnen in meiner Antwort vom 9.05. als Gegenbeispiel gegen die vermeintliche Gleichläufigkeit beider Reaktionen präsentiert, da ich zwar diese Ersetzung ebenso affektgeladen (aus dem dort angegebenen Grund) ablehne, meine Stellungnahme zu Stirner aber zwischen Anerkennung bis zur Bewunderung und Ablehnung sowie einer gewissen Sorge vor Realisierung des Ideals perfekter Frivolität sorgfältig abgetönt und insgesamt wenig affektgeladen ist. Nun muß ich erfahren, daß ich abermals den „springenden Punkt“ Ihres Interesses nicht getroffen habe. Wenn Sie wünschen, daß wir uns weiter über Plansprachen austauschen, sagen Sie bitte klipp und klar, worauf Sie hinauswollen. Die Invasion des Englischen in den deutschen Sprachgebrauch scheint mir bisher insofern noch nicht verhängnisvoll zu sein, als die Erprobung

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der Muskeln einer Sprache beim Auffangen solcher Einbrüche eine erfrischende Kraftprobe sein kann, die man einer vitalen Sprache ruhig abverlangen darf. Die Analogie mit der Frankomanie des 17. und 18. Jahrhunderts scheint mir durchaus angebracht zu sein. Damals schuf Christian Wolff die deutsche wissenschaftliche Prosasprache. Übrigens hat das Englische dem Deutschen manches zu geben. Ich verkenne aber nicht die tieferliegende Gefahr, daß dem deutschen Volk durch die unbesonnen angeheizte Verwerfung des in der Tat bösartigen Hitlerregimes mit Anleitung zu ständigen Kniefällen und Brustschlägen sozusagen der Boden seiner Geschichte unter den Füßen weggezogen wird, was natürlich auch der Vitalität und Abwehrkraft (Auffangkraft) der Sprache Abbruch tut. Ihre Aufmerksamkeit auf meinen 75. Geburtstag nehme ich dankbar an. Von morgen (Sonntag) an will ich für ein paar Tage (bis Donnerstag oder Freitag nächster Woche) verreisen. 29. Mai 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich hatte die Thematik der Plansprachen, genauer: der weit verbreiteten, hochgradig affektgeladenen und jede sachliche Diskussion vermeidenden Ablehnung dieser Thematik insbesondere durch Fachleute (Sprachkritiker, Sprachphilosophen, Linguisten u.a.) – exemplarisch illustriert an Aussagen von Mauthner, Wittgenstein und Chomsky – eigentlich nur angeschnitten, weil ich an Hand der Ähnlichkeiten in der Art und Weise der Abwehrreaktionen den Versuch machen wollte, den noch immer nicht wirklich geklärten zentralen strittigen Punkt unserer Diskussion besser zu fassen – eingedenk unserer früheren Erörterungen zum Thema von ÜberIch und Muttersprache, deren Erwerb nur in einer implantierenden Situation möglich ist. Doch dieser Versuch scheint gleich im Ansatz gescheitert zu sein. Sie haben gern zugegeben, dass sich (auch) bei Ihnen angesichts meines „linguistischen Vorschlags“ – der Schaffung und Einführung einer Plansprache zum Zwecke der internationalen Verständigung in allen Bereichen von (Natur-)Wissenschaft, Technik, Handel, Tourismus etc. – die Haare sträuben. Am 17. Mai sagten Sie, den Grund für Ihre zugegebenermaßen affektgeladene Ablehnung jeglicher Plansprache am 9. Mai gegeben zu haben: ihr Gebrauch würde der grassierenden Tendenz zur Sterilität betriebsamer Kommunikation Vorschub leisten. Da sei Ihnen die sprachliche Anglisierung bzw. Anglo-Amerikanisierung schon lieber. Ich sehe das eher umgekehrt: jene üble Tendenz ist meinem Eindruck nach ein wesentlicher Bestandteil der (nicht nur sprachlichen, wie ich am 15. Mai ausführte) willigen Anglifizierung (nicht nur Deutschlands). In Ihren beiden letzten Briefen haben Sie sich außerdem als Gegenbeispiel zu meiner These – weitgehende Affinität von Motiv und Form der

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Abwehrreaktionen gegen die Kernidee Stirners und das Konzept Plansprache – angeführt. Während Sie die Plansprache eindeutig und auch affektgeladen ablehnten, sagten Sie, sei Ihre Stellungnahme zu Stirner wenig affektgeladen und zudem sorgfältig abgetönt zwischen Anerkennung, gar Bewunderung einerseits und Ablehnung sowie Sorge vor der Realisierung des Ideals perfekter Frivolität andererseits. Ihre bewundernd/ablehnende Stirner-Auffassung, die in einem Grundgegensatz zu meiner steht, teilen Sie, soweit ich sehe, mit einer Reihe sehr unterschiedlicher Denker, die ebenfalls Stirners Radikalität, Konsequenz, Ehrlichkeit etc. anerkennen und bewundern, ihn aber bloß als eine Art advocatus diaboli anzusehen vermögen, der das vermeintlich mit der Aufklärung drohende „Ideal perfekter Frivolität“ an die Wand gemalt habe (Karl Joël: „Teufelsreligion“). Zu Ihrer und meiner Bequemlichkeit zitiere ich aus meinem Nietzsche-Aufsatz (2002): „Ludwig Klages etwa sah sich in seiner Nietzsche-Studie immerhin veranlasst, des Autors Stirner ‚zu gedenken‘, obwohl er nicht glaubt, dass Nietzsche ihn kannte. Klages gesteht dem ‚schier dämonischen Dialektiker‘ zu, dass er ‚oft radikaler, weniger umwegig, vivisektorisch genauer verfahre und allerletzte Ergebnisse nicht selten mit kürzeren Worten biete‘ als Nietzsche und sieht in Stirner den wirklich ‚ernst zu nehmenden Antipoden‘ Nietzsches. Deshalb sei Nietzsche so unendlich wichtig, denn: ‚Der Tag, an dem Stirners Programm auch nur die Willensüberzeugung aller würde … wäre der «jüngste Tag» der Menschheit.‘ Im gleichen Sinn äußerte sich ein Denker ganz anderer Herkunft, der Marxist Hans Heinz Holz. Er warnte davor, dass ‚der Stirner’sche Egoismus, würde er praktisch, in die Selbstvernichtung des Menschengeschlechts‘ führe. Aber auch der Ex-Marxist Leszek Kolakowski hat angesichts des ‚Einzigen‘ diese apokalyptische Vision: Die von Stirner bezweckte ‚Destruktion der Entfremdung, also die Rückkehr zur Authentizität, wäre nichts anderes als die Zerstörung der Kultur, die Rückkehr zum Tiersein … die Rückkehr zum vormenschlichen Status.‘ Selbst Nietzsche erscheine, so Kolakowski, ‚schwach und inkonsequent im Vergleich zu ihm.‘ Und Roberto Calasso, Träger des Premio Nietzsche von 1989, schreibt: ‚Von mancher Seite verlautet auch, es sei davon auszugehen, dass sich ein zünftiger Philosoph mit so etwas wie Stirner nicht befassen könne. […] Aus der Kultur ist Stirner weiterhin ausgestoßen […] Besonders fühlbar wird Stirners Präsenz … bei Autoren, die sich über ihn ausschweigen oder ihn in nie veröffentlichten Texten besprechen, bei Nietzsche und Marx.‘ Auch Calasso sieht in Stirners ‚Einzigem‘, dem ‚künstlichen Barbaren‘, dem ‚anthropologischen Monstrum‘ etc. das Menetekel der okzidentalen Kultur.“ Unser Grundgegensatz in der Auffassung Stirners besteht in unserer Beurteilung des „irrationalen Über-Ichs“. Sie am 9. Mai: ich subsumierte

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darunter generell die implantierenden Situationen [nein!] und das Heilige, Sie dagegen nur deren „Missbrauch“ [?]. Das klingt, was die implantierenden Situationen angeht, nach einem Missverstehen. Andererseits stehen Sie nach wie vor ratlos vor meinem „rationalen Über-Ich“. Mehr als in meinen drei Aufsätzen „Die Negation des irrationalen Über-Ich bei La Mettrie / Stirner / Reich“ möchte ich – als „Universal-Laie“ – darüber aber gar nicht sagen. Deshalb habe ich mich auch auf – stets nur „deiktische“ – rezeptionsgeschichtliche Arbeiten verlegt. 31. Mai 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Nachdem Ihr Versuch, durch Diskussion über Plansprachen eine Brücke der Verständigung zwischen uns zu schlagen, gescheitert ist, möchte ich von mir aus in Gegenrichtung einen vergleichbaren Versuch unternehmen, indem ich Ihnen noch einmal, wie schon kürzlich, einige Seiten aus meinem Buch „Die Liebe“ (Bonn 1993) schicke, nun aber den ganzen Abschnitt „Motivierung des Themas“ S. 9–14, von dem ich Ihnen damals, wenn ich mich recht erinnere, einen Ausschnitt geschickt habe. Dieser Abschnitt formuliert sozusagen meinen Gegenentwurf zu „Ihrem“ Stirner, der Ihnen aus dessen Buch wie eine Pareidolie, die ich darin nicht zu finden vermag, entgegensteigt, und dessen Züge ich nicht deutlich zu erkennen vermag. Sie finden in meinem Text eine Abrechnung mit der von den Philosophen forcierten Überschätzung der Vernunft, die ich auch und gerade Stirner anlaste, gemäß dem von mir in „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 69f. (Anm. 173) aus „Rezensenten Stirners“ angeführten Text, worin Stirner „den Wert des Menschen in die Selbstbestimmung“ setzt, „daß nicht eine Sache oder eine andere Person ihn bestimmen, sondern er selbst der Schöpfer seiner selbst, mithin Schöpfer und Geschöpf in Einem sei“, und zu diesem Ziel eine Leiter baut, auf der über der Selbstsucht die Liebe und über der Liebe die Vernunft steht. Es mag bezeichnend sein, daß mein „Gegenentwurf“ gerade unter dem Titel „Die Liebe“ Platz gefunden hat. Demgemäß bin ich mit Stirner auch nicht in der Wertsetzung einig, da ich auf S. 12 dem vital stolzen, sich nicht überhebenden Menschen keineswegs die Selbstbestimmung als Ziel setze, sondern daß „er sich als Medium und Gefäß versteht, bestimmt für ein Geschehen, das ihn ergreift und über ihn hinausgeht, freilich nicht für alles, was ergreifen kann und will, sondern als ein dank der unabdingbaren kritischen Funktion der Vernunft wählerisches Gefäß, das ‚nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht‘ folgt.“ Dem selbstschöpferischen Menschen nach Stirner entspricht der wählerische Mensch nach Schmitz. (Im Bestfall besteht das wählerische Verhalten in der die Ergriffenheit von einer „Sache“ – res im weitesten Sinn des Wortes – kritisch bewachenden Aufmerksamkeit.)

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An Hand meines Textes können Sie sich leicht meine Stellung zu den von Ihnen aus Ihrem Nietzsche-Aufsatz von 2002 im Brief mitgeteilten Kassandra-Rufen verschiedener Autoren gegen Stirner zurechtlegen. Ganz verkehrt finde ich die Warnung von Kolakowski, Stirner bezwecke eine „Rückkehr zum Tiersein“. K. scheint sich ähnliche Sorgen zu machen wie Dilthey angesichts von Schleiermachers Briefen über Schlegels „Lucinde“, S. 10 Anm. 10 in beiliegendem Text. Dort führe ich aus, daß das heutige (von Stirner geförderte) Problem ganz im Gegenteil mit dem Versiegen jener Versuchung zur Wiedervertierung zusammenhängt. Meine Sorge vor Realisierung des Stirner’schen Ideals vollendeter Frivolität betrifft nicht so sehr die Menschheit und das Menschengeschlecht, wofür nach Ihren Zitaten Klages und Holz fürchten, sondern das Glück der Menschen, die ich höchlich bedauern würde, wenn sie sich ohne Führung durch das Heilige, den starken Daimon oder implantierende Situationen ihre Selbstverwirklichung oder gar Selbstschöpfung nach eigenem gusto zurechtmachen müßten. Wenn es dabei in ihrer jeweiligen Perspektive zur Zersetzung der verbindlichen Geltung von Normen für sie durch vollendete Frivolität käme, würde ich eine Epidemie von Selbstmorden aus Verzweiflung an einem Leben bloß aus Launen befürchten, in dem der Selbstschöpfer keinen Sinn mehr fände. (Der Hedonismus der antiken Kyrenaiker endete in den Predigten des Hegesias, genannt „Peisithanatos“ [der zum Tode überredet], der aus Ägypten ausgewiesen wurde, weil seine Zuhörer sich in Scharen das Leben nahmen.) 15. Juni 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, vom Kapitel „Motivierung des Themas“ aus Ihrem Buch „Die Liebe“ hatten Sie mir am 19. Januar d.J. bereits die Seiten 11 und 12 kopiert und die Seiten 10 und 13 zwangsläufig mitgeschickt, so dass bei den Kopien Ihrer letzten Sendung nur eine Seite (9) und die 3 Zeilen der Seite 14 für mich neu waren. Sie hatten mir die beiden Seiten geschickt, um mir Ihr Leitbild des vitalen Stolzes vorzustellen, und verdeutlichten am 31. Mai, dass genau dieses Kapitel „sozusagen meinen Gegenentwurf zu ‚Ihrem‘ Stirner [enthalte], der Ihnen aus dessen Buch wie eine Pareidolie, die ich darin nicht zu finden vermag, entgegensteigt“. Ich bin etwas unsicher, ob ich diese Formulierung richtig verstehe. Sie haben also Anfang der 90er Jahre einen Gegenentwurf zu „meinem“ Stirner geschrieben, den Sie wiederum sogar nach meinen späteren publizierten und brieflichen Ausführungen beim wirklichen Stirner nicht erkennen können? Haben Sie evtl. mein Stirnerbild, das Sie als ein Pareidolon bezeichnen, als mögliche fehlgeleitete Stirnerdeutung vorweggenommen und dazu Ihren Gegenentwurf konzipiert? Sollen die Anführungszeichen am Wort „Ihrem“ heißen, dass mein Stirner gar kein Stirner ist? Dass ich ihn unge-

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rechtfertigterweise in Anspruch nehme? – Wie auch immer: ich habe Ihnen ja schon des öfteren geschrieben, dass es mir nicht um Stirner und dessen Rehabilitation geht. Aber den Vorwurf, in Stirner etwas zu sehen, was er nicht enthält, möchte ich insofern zurückgeben, als ich wiederholtermaßen zugebe bzw. gegen manche, die seine Konsequenz und Logik bewundern, deren Ergebnisse aber ablehnen, behaupte, dass Stirner in sich widersprüchlich ist und es durchaus erlaubt, ein Stirnerbild wie Ihres zu erzeugen – nur, dass dieses Bild einer „einäugigen“ Sicht zu verdanken ist. Während Sie also meinen Stirner nicht sehen, sehe ich Ihren Stirner sehr wohl, neben und oft in Widerspruch zu meinem. Ihren (reduzierten) Stirner halte ich aber für wenig bedeutend. Von Beginn an, seit dem von Arnold Ruge angespornten Studenten Kuno Fischer, haben verschiedene Autoren versucht, sich Stirner auf selektive Weise als „Sophisten“, als einen Nachfahren von Figuren wie Kallikles oder Gorgias oder als einen Anarchisten, Nihilisten oder Existenzialisten avant la lettre zurechtzulegen, um ihn dann entweder als unoriginellen oder als unentwickelten Denker vermeintlich abfertigen zu können. Denker wie Marx, Nietzsche, Husserl, Schmitt u.a. allerdings haben, obwohl sie zeitweilig von Stirner fasziniert waren, klugerweise jede öffentliche Auseinandersetzung mit ihm vermieden – nun, Sie kennen ja meine „Strategie“, mit der ich mittels Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte „meinen“ Stirner freizulegen versuche, wobei ich natürlich auch selektiv vorgehe, aber so, dass Stirner als ein für heute und wohl auch noch morgen fruchtbarer Denker aufzufassen ist. Wenn Sie Stirner nun eine Überschätzung der Vernunft anlasten und zugleich seine Ehrlichkeit und Konsequenz zu schätzen wissen, so verstehe ich sehr wohl, was Sie meinen. Aber Ihrer Ableitung im letzten Brief mit der Leiter „Selbstsucht > Liebe > Vernunft“ kann ich nicht folgen. Zum einen stammt Ihr Zitat zur „Selbstbestimmung“ nicht aus den „Recensenten Stirners“, sondern aus „Einiges Vorläufige vom Liebesstaat“, was insofern zu beachten ist, als Stirner es Anfang 1843 formuliert hat, als er, wie auch der Erziehungsaufsatz zeigt, terminologisch noch unsicherer war als später im „Einzigen“; zum Anderen meine ich, dass die Liebe, die er als Grundlage des „Liebesstaats“ meint, mit der Liebe in Ihrer „Leiter“ kaum etwas zu tun hat. Stirner schreibt im „Einzigen“ ganz anders über die Liebe des „Egoisten“ und die „egoistische“ Liebe, wohl auch noch einmal in den „Recensenten“, aber er sah auch das, wie er selbst an einer Stelle vermerkt, als „unbeholfenen Anfang“. Ich habe mich dem subtilen und schon sprachlich sehr schwierigen Thema in einer kleinen Arbeit „Der sexuelle ‚Verein‘ als Prototyp des Stirner’schen ‚Vereins‘“ ein Stück zu nähern versucht. – Ebenso schwierig ist das produktive Auffassen dessen, was Stirner zur „Vernunft“ zu sagen versuchte. Ich habe Ihnen auf dem beiliegenden Blatt einige Passagen aus dem „Einzigen“ kopiert, die ich zum Stichwort „Vernunft“ mehr zufällig fand und die zu Ihrer Einschätzung von Stirners

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Auffassung von Vernunft nicht gut zu passen scheinen. [Reclam-Ausgabe S. 10, 11, 115, 116, 178] Auch hier kommt es wohl wieder darauf an, mit welcher Absicht jemand die Stirner’schen Texte liest, nach welchen Kriterien er die widersprüchlichen Äußerungen sortiert und ob er die nur keimhaft vorhandenen Ansätze den oft nur polemisch begründeten plakativen Parolen oder ratlosen Phrasen vorzieht und für sich und die heutige Zeit wertvoll zu machen versucht. Eine große Schwierigkeit des Themas, das wir diskutieren, besteht m.E. nicht nur darin, dass die Gedanken immer wieder auf den Kern dessen zielen, was es mit der präzedenzlosen Epochenschwelle auf sich hat, sondern dass „alles“ (heute etwa Liebe und Vernunft) so innig miteinander zusammenhängt, dass man von allem gleichzeitig reden müsste. – Was Sie vom „vitalen Stolz“ schreiben, gefällt mir bestens, aber ich weiß aus unserer Korrespondenz, dass Sie es doch nicht so meinen, wie es mir gefällt. Sie sagen, er speise sich aus dem leiblichen Selbstgefühl. Das klingt für mich nach La Mettrie, Stirner und schließlich besonders Reich; aber Sie schrieben einmal, von Reich wüssten Sie „wenig, aber vielleicht genug“ – wobei ich vermute, dass Sie bei ihm, wie bei La Mettrie, in gleicher Weise selektiv verfahren sind wie bei Stirner (was problemlos möglich ist). 17. Juni 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Sie hätten meinen vorigen Brief gründlich mißverstanden, wenn Sie aus ihm herausgelesen hätten, daß ich mich, als ich in meinem Buch „Die Liebe“ den Abschnitt „Motivierung des Themas“ schrieb, irgendwie an Stirner orientiert hätte. Ich orientiere mich überhaupt nicht an Stirner, außer etwa durch die Sorge, er könne den Menschen vorleuchten auf dem heute gängigen Weg der Erziehung zu ungezogenen Kindern, die ihren Launen nachgeben und darüber mit sich und der Welt zerfallen, worüber sie sich durch sterile Betriebsamkeit hinwegtäuschen. Andererseits kann ich Ihnen gar nicht zustimmen, wenn Sie meinen, daß Stirner, so wie ich ihn verstehe, „wenig bedeutend“ sei, so daß unter diesem Gesichtspunkt „verschiedene Autoren“ gute Gründe hätten, ihn „als unoriginellen oder als unentwickelten Denker vermeintlich abfertigen zu können“. Für mich ist Stirner, wie ich in „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 309 schreibe, „der einzige vollkommene Nihilist in der Geschichte der neueren Philosophie“ im Gegensatz zu Nietzsche, der auf diesen Titel zu Unrecht Anspruch erhob, und auch zu Fichte. Da dieser Nihilismus, entstanden durch Mißverständnis der subjektiven Tatsachen als rezessiv entfremdete Subjektivität, ein ernstes Problem und eine heute noch offene Wunde im menschlichen Selbstverständnis ist, halte ich es für eine bedeutende Leistung Stirners, die etwas verspielte romantische Ironie der Friedrich Schlegel und Novalis, die

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früheste Ausformung dieses Mißverständnisses zur Vorzeichnung einer Lebensform, so blutig und rücksichtslos ernst genommen zu haben. Meine kühne und offenbar mißverständliche Deklaration der Seiten 9– 14 aus „Die Liebe“ als „Gegenentwurf zu ‚Ihrem‘ Stirner“, dessen Züge ich, wie ich im selben Satz schrieb, „nicht deutlich zu erkennen vermag“, war als erneuter Versuch gemeint, den nach Ihren Worten im Brief vom 29. Mai „noch immer nicht wirklich geklärten zentralen strittigen Punkt unserer Diskussion besser zu fassen“, nachdem Ihr Versuch mit den Plansprachen, wie Sie ebenda schreiben, „gleich im Ansatz gescheitert zu sein“ scheint. Da ich Ihren eigenen Entwurf eines für die Zukunft erstrebenswerten Menschen wegen des in meinem Brief vom 15. März dargelegten Dilemmas im Motiv eines „rationalen Über-Ichs“ nicht verstehe, blieb mir nur die Hoffnung, aus „Ihrem“ mir noch ganz undeutlichen Stirner etwas Bestimmtes herauszuholen, indem ich ihm einen Gegenentwurf anbot, der ebenso Berührungspunkte wie Kontraste aufweist. Ich hoffte, daß Ihnen durch den Kontrast etwas aus Stirner entgegensteigt (aus „Ihrem“ Stirner, von dem ich den Verdacht habe, daß Sie ihn in Stirner hineinlesen), was dazu helfen könnte, den „zentralen strittigen Punkt unserer Diskussion besser zu fassen“. Diese Hoffnung gebe ich nun auf, da Sie in Ihrem Brief vom 15. Juni statt näheren Aufschlusses über „Ihren“ Stirner mehr philologische, großenteils längst erörterte Fragen der Stirner-Interpretation und -Rezeption anschneiden. Übrigens bin ich keineswegs der Meinung, daß Stirners Gegenüberstellung von Liebe und Vernunft an der von mir am 31. Mai zitierten Stelle nichts zu der meinen auf S. 9–14 von „Die Liebe“ Passendes aufweist. Was mein Liebesverständnis angeht, verweise ich besonders auf die Seiten 25–28, 64 (Zitat aus einem Brief der Julie von Lepinasse), 90–100 meines Buches und die Charakteristik der koinonistischen Liebe in verschiedenen Abschnitten des 8. Kapitels „Zur Geschichte der Liebe“. Das ist natürlich nicht genau, was Stirner „Liebe“ nennt, aber dieses kann unter jenes eingeordnet werden, und vor allem gehört in beiden Hinsichten Ergriffenheit zur Liebe. Stirner ist nicht scharf im Umgang mit Begriffen. Das Wort „Vernunft“ scheint er in „Liebesstaat“ etwa so zu gebrauchen wie Hegel bei Charakteristik der Aufklärung als reine Einsicht in der „Phänomenologie des Geistes“ (Studienausgabe bei Meiner S. 354, Ges. Werke Band 9 S. 291). Dagegen polemisiert er an den Stellen, die Sie mir aus dem „Einzigen“ ausgeschrieben haben, gegen Vernunft etwa im Sinn der gesetzgebenden moralisch-praktischen Vernunft nach Kant. 1. Juli 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie haben mich also, wie Sie am 17. Juni schrieben, im Verdacht, dass ich „meinen Stirner“ in den wirklichen Stirner hineinlese, während ich der Auffassung bin, dass „Ihr Stirner“ ein reduzierter ist, d.h., dass Sie, wenn

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Sie Stirner einen Nihilisten, den „einzigen vollkommenen in der Geschichte der neueren Philosophie“, nennen, die Stellen bei ihm überlesen oder ausblenden, die über den Nihilismus hinausweisen. Dieser Unterschied unserer Stirnerbilder ließe sich sinnfällig darstellen, wenn man die Stellen, die wir in unseren einschlägigen Schriften als Zitate ausgewählt haben, nebeneinander stellte. Ich schätze, dass es dabei nur wenige Sätze gäbe, die wir beide herangezogen haben. Während Sie Stirner zum reinen, „vollkommenen“ Nihilisten zu stilisieren versuchen, um an ihm … ja, was eigentlich? … zu demonstrieren, bin ich bemüht, Stirners Ansätze zu einer Überwindung des Nihilismus, zu einem „Trans- oder Postnihilismus“, hervorzuheben und auszuführen. Da Stirner, wie Sie zu Recht sagen, nicht scharf im Umgang mit Begriffen ist (aber wer ist das auf dem Gebiet schon?), ergeben sich dabei beträchtliche Schwierigkeiten, so dass es mir – sowohl für mich als auch für meine Leser – als bestgeeignete Vorgehensweise erschien, vorab Stirners singuläre Position im 19. Jahrhundert anhand der Reaktionen auf ihn, vor allem der wenig bemerkten und umso intensiveren, zu markieren. Nach intensiver Beschäftigung mit diesen Reaktionen einer Reihe berühmter Denker (die ich sozusagen als Gutachter wider Willen in Anspruch nehme) auf Stirner bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es nicht der „Nihilist“ Stirner war, der sie so sehr in Unruhe versetzte, sondern der von ihnen (mit Schrecken) und von mir (mit Hoffnung) wahrgenommene, auf die Zukunft ausgerichtete Überwinder des Nihilismus. (Sie zitieren ja im Übrigen, S. 309 „Selbstdarstellung …“, den Nihilismusforscher Arendt, der sich 1969 naiv wunderte, dass Stirner „merkwürdigerweise bei der Darstellung der Geschichte des Nihilismus vernachlässigt worden ist“ – der aber selbst diese Vernachlässigung meines Wissens weder 1970, als er einen Sammelband zum Thema Nihilismus herausgab, noch in späteren Jahren je zu beheben versucht hat, vermutlich, weil er, nachdem er seine Naivität bzgl. Stirner verloren hatte, sich auf das Thema nicht mehr einlassen wollte). Ihnen wie mir geht es natürlich nicht um Stirner, schon gar nicht um so etwas wie seine Rehabilitation oder gar Aufnahme in die Riege derer, die als „große Denker“ in die Annalen der Philosophie eingegangen sind (wo er m.E. wirklich nicht hingehört); wir benutzen Stirner vielmehr, z.B., um unsere eigenen Gedanken prägnanter mitteilen zu können. Sie schreiben nun zu Beginn Ihres letzten Briefes, dass Sie sich bei der Abfassung des Kapitels „Motivation des Themas“ (in „Die Liebe“), das Sie mir zuvor, am 31.5., kopiert hatten, weil es in Kürze Ihren Gegenentwurf zu „meinem“ (Laskas) Stirner enthalte, auf keinen Fall an Stirner orientiert hätten. Das habe ich eigentlich auch nicht vermutet, vorsichtshalber aber rückgefragt, weil mich Ihre Ausführungen vom 31.5. insofern im Unklaren gelassen hatten, als ich nicht erkennen konnte, ob Sie wirklich „meinen“ – Laskas – Stirner (den Sie damals, vor 1993, als mögliche [Fehl-]Interpretation

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antizipiert haben) oder doch „Ihren“ – Schmitz’ – Stirner (den vollkommenen Nihilisten) im Sinn hatten. Verstehe ich Sie nun richtig, wenn ich das Folgende annehme? Im Kapitel „Motivation des Themas“ (1993) umreißen Sie Ihren Gegenentwurf zum „vollkommenen Nihilismus“. Danach entdeckten Sie, dass es mit Stirner sogar einen Protagonisten dieses vollkommenen Nihilismus gab, und weil Sie das als eine bedeutende Leistung im Nachgang zu F. Schlegels und Novalis’ romantischer Ironie erkannten, widmeten Sie ihm ein Kapitel in Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ (1995). Ich wollte eigentlich noch auf Ihre im Brief vom 17.6. geäußerte Sorge eingehen, Stirner könne den Menschen auf dem Weg zu einer verhängnisvollen Erziehung vorleuchten, möchte dies aber – weil es meiner Ansicht nach den Kern „meines“ Stirner betrifft und nicht in ein paar Sätzen zu erledigen ist – lieber erst später tun, dann, wenn über das hier zuvor Geschriebene keine Unklarheit mehr besteht. 3. Juli 2003 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 1. Juli fragen Sie, was ich an Stirner demonstrieren möchte, wenn ich ihn als vollkommenen Nihilisten bezeichne. Um diese Frage zu beantworten, muß ich Sie auf meinen Begriff des Nihilismus, wie er in meinen Büchern schon dargelegt ist, aufmerksam machen. Das Wort ist in Gefahr, zum Schlagwort für irgend etwas Gräßliches zu verkommen. Wenn nicht, hält man sich an Nietzsches Definition: „Was bedeutet Nihilismus? daß die obersten Werte sich entwerten.“ Das Unpassende dieser Auffassung, die gleich mit „dem Nichts“ droht, wenn es keine obersten Werte mehr gibt, habe ich in „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 57 an der klassischen griechischen Kultur belegt, in der die obersten Wert sich durch Antinomien gegenseitig entwerteten, während der Halt der Kulturgenossen an dem Nomos einer implantierenden Situation einer Entleerung, die in irgendeinem Sinn das Etikett „nihil“ verdient hätte, vorbeugt. Ich gehe, unabhängig von Nietzsche, für die Sinngebung des Wortes auf dessen geschichtlichen Ursprung zurück, nämlich die Auseinandersetzung zwischen Jacobi, der es geprägt hat, und Fichte in Gestalt des Sendschreibens „Jacobi an Fichte“ 1799 mit Reaktion Fichtes in Gestalt der von mir ausgiebig herangezogenen Passage gegen Ende des zweiten Teils von Fichtes Buch „Die Bestimmung des Menschen“ 1800. Sie finden das Einschlägige in „Selbstdarstellung als Philosophie“ auf S. 71–75 unter der Überschrift „Jacobi und Hegel als Propheten Stirners“ sowie (mit Bezug auf Fichte gründlicher) in meinem Buch „Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel“ S. 11– 16. Mit Bezug darauf schreibe ich in „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 312: „Die drei deutschen Vordenker des Nihilismus sind Fichte, Stirner und Nietzsche.“ Der von mir im Anschluß an die Jacobi-Fichte-Kontro-

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verse (wenn man sie so nennen darf) konzipierte Nihilismus beruht auf der zuerst von Fichte formulierten Entdeckung der subjektiven Tatsachen in dem Sinn, daß es sich für jemand bei einer Tatsache der Art, daß es um ihn selber geht (daß etwas ihn angeht), nicht um eine objektive Tatsache handelt, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann. Da nun aber weiterhin alle Tatsachen (auch mangels eines klaren Begriffes davon) für objektiv gehalten werden, gerät für jemand das, was er selber ist, in eine rätselhafte Schwebelage, die Fichte als das Schweben der produktiven Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren beschreibt, woraus Friedrich Schlegel die romantische Ironie gemacht hat. Was den Halt verliert und sozusagen ins Nichts, genauer: ins Unfaßbare, versinkt, ist also primär nicht, wie Nietzsche meinte, irgend ein objektiver Wert, sondern das Subjekt, das in Folge der unklaren und inkonsequenten Entdeckung der subjektiven Tatsachen erst in die totale Wendigkeit der romantischen Ironie verzaubert und dann der Angst als Höhenschwindel über der Endlichkeit nach Kierkegaard ausgesetzt wird. Daraus folgt dann sekundär der Nihilismus im Sinne Nietzsches (Studienausgabe von Colli und Montinari Band 12 S. 350 Z. 11–14), daß die obersten Werte sich entwerten und es kein Ziel mehr gibt: Da das Subjekt unfaßbar geworden ist, kann es von nichts mehr gepackt, ergriffen, verbindlich in Anspruch genommen werden; durch rezessive Entfremdung der Subjektivität verblassen die das Subjekt haltenden Normen. In diesem Sinn ist Heidegger, der ja viel mit „dem Nichts“ kokettiert hat, ein exemplarischer Nihilist, wenn er in „Sein und Zeit“ S. 283 über Existenz = Subjektivität schreibt: „Die Idee der Schuld muß (…) abgelöst werden von dem Bezug auf ein Sollen und Gesetz, wogegen sich verfehlend jemand Schuld auf sich lädt. Denn auch hier wird die Schuld notwendig noch als Mangel bestimmt, als Fehlen von etwas, was sein soll und kann. Fehlen eines Gesollten ist eine Seinsbestimmung des Vorhandenen. In diesem Sinn kann an der Existenz wesenhaft nichts mangeln, nicht weil sie vollkommen wäre, sondern weil ihr Seinscharakter von aller Vorhandenheit unterschieden bleibt.“ Heidegger ist hier ganz nah an Stirner, dessen Einzigem nichts fehlt, insofern er alles Beliebige beanspruchen kann, ohne Unterwerfung unter ein Sollen und Gesetz, wogegen er sich verfehlen könnte, daher auch ohne obersten Wert im Sinne von Nietzsche, da ein solcher ohne Verbindlichkeit und Ergriffenheit zum Schatten verblaßt. Stirner ist mir wichtig als Verfechter der durch Mißverständnis der subjektiven Tatsachen als Nicht-Tatsachen entstandenen rezessiven Entfremdung der Subjektivität auf dem Niveau der romantischen Ironie, mit der er durch Abstreifen ihrer verspielten Züge Ernst macht. An seinem so verstandenen vollkommenen Nihilismus will ich demonstrieren, welche Herausforderung aus der Entdeckung der subjektiven Tatsachen für die Menschheit entspringt, und zwar zunächst auf Grund des (die rezessive Entfremdung verschuldenden) Irrglaubens, alle Tatsachen seien objektiv

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oder neutral, dann aber, nach Aufdeckung dieses Irrtums durch Anerkennung der harten Tatsächlichkeit der für jemand subjektiven Tatsachen, hinsichtlich der dadurch erforderlich werdenden Neuorientierung. Verbindlichkeit der Autorität eines Gefühls mit unbedingtem Ernst, oder das Heilige, wird dann nämlich wieder möglich, wenn die Ergriffenheit von solchem Ernst als harte subjektive Tatsache durchschaut ist, aber nur noch als Verbindlichkeit oder Heiligkeit für jemand zu einer Zeit, nicht mehr als absolute Verbindlichkeit ohne Rücksicht auf Perspektiven. Ebenso kann nach Bereinigung der Mißverständnisse ein auf Einpflanzung der persönlichen Situation in implantierende Situationen beruhendes Selbstverständnis wieder legitim werden, aber nur als höchstpersönliche Selbstfindung, nicht mehr als selbstverständliche Vorgegebenheit eines irrationalen Überichs nach Art einer zweiten Natur. In diesem Sinn bemühe ich mich um Rehabilitierung des Heiligen und der implantierenden Situationen. Stirners (im angegebenen Sinn rezessiver Entfremdung der Subjektivität vollkommener) Nihilismus ist mir wichtig, um an ihm das zu Grunde liegende Mißverständnis so genau herauszuarbeiten, daß die Chancen seiner Überwindung keineswegs zu leicht genommen werden und nicht so etwas wie ein flaches Pathos der „Überwindung des Nihilismus“ Platz greifen kann, sondern genau hingesehen wird, welcher Reifungsprozeß der Menschheit der gefährlichen Entdeckung der subjektiven Tatsachen abgewonnen werden kann. Stirner ist mir gewissermaßen die Verkörperung dieses Problems und als Problemfall (nicht als Vorbild) wichtig, im Gegensatz zu dem unehrlich verstellten Proteus Nietzsche. Gegen Ende Ihres Briefes formulieren Sie über mich eine biographische Vermutung, die so nicht ganz zutrifft. Auf Stirners Nihilismus im Zusammenhang mit Fichtes Radikalisierung der personalen Emanzipation bin ich lange vor „Die Liebe“ (1993) aufmerksam geworden, wie die Erwähnung Stirners in „System der Philosophie Band IV: Die Person“ (1980) auf S. 64 und S. 65 Anm. 243 zeigt. Der Abschnitt „Motivierung des Themas“ in „Die Liebe“ richtet sich auch – in der Ausdrucksweise von „Adolf Hitler in der Geschichte“ – nicht unmittelbar gegen die von Fichte ausgehende ironistische Verfehlung des abendländischen Geistes, in der Stirner nach Fichte, Schlegel und Novalis und vor Nietzsche, Wittgenstein und Heidegger eine denkwürdige Figur ist, sondern in erster Linie gegen die dynamistische und die autistische Verfehlung, die auf der Grundlage der klassischantiken psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Verfehlung unter dem Einfluß des westkirchlichen Christentums durch das Bündnis von Aufklärung, Kapitalismus, Imperialismus und Individualismus verheerende Ausmaße angenommen haben. Dieses Unheil wird gewaltig vergrößert durch das Wuchern der ironistischen Verfehlung im Sinne der Erziehung der Menschen zu ungezogenen Kindern, womit nach meinem vorigen Brief Stirner der Menschheit vorleuchtet. Als Gegenentwurf

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zu dem Trend, in dem sich alle vier Verfehlungen des abendländischen Geistes heute ergießen, kann der Abschnitt „Motivierung des Themas“ in „Die Liebe“ gelesen werden, und insofern handelt es sich um einen Gegenentwurf auch zu Stirner. 17. Juli 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, das Kapitel „Jacobi und Hegel als Propheten Stirners“ aus Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ (S. 71–75), auf das Sie mich zur Erläuterung Ihres Nihilismusbegriffs hinwiesen, hatte ich natürlich bereits sehr gründlich gelesen. Gleich eingangs, wo Sie sagen, Jacobi habe Fichte einen Spiegel vorgehalten, in dem aber eher Stirner (der freilich erst ein halbes Jahrhundert später auftreten wird) zu erblicken sei, und ihn so auf den Nihilismus der entfremdeten Subjektivität festzunageln versucht, habe ich mir am Rande vermerkt: "also schon vor Stirner diese Methode" und auf die Stelle auf S. 73 verwiesen, wo Sie sagen, Jacobi habe das Publikum vor die Alternative drängen wollen: entweder Jacobi oder dieser „nihilistische“ Stirner-Fichte – wobei dann klar gewesen wäre, welche Wahl der Leser trifft. Dieses Muster der Polemik ist nach dem Erscheinen des „Einzigen“ ja häufig wieder aufgelebt, wenn jemand seinen weltanschaulichen Feind oder Konkurrenten als verkappten Schüler oder Nachfahren Stirners anschwärzte: so etwa Engels im Kampf gegen die Anarchisten und gegen Bakunin, Eduard von Hartmann gegen Nietzsche usw. bis zu dem orthodoxen Marxisten Helms gegen die nationalsozialistische und, als deren Nachfolge, die bundesrepublikanische Ideologie. Immer figuriert Stirner, wie ich Ihnen am 29.05.03 anhand einiger markanter Beispiele (Joël, Klages, Holz, Kolakowski, Calasso) zitierte, als irgendwie satanischer, dämonischer oder sonstwie schrecklicher Popanz, den man aufrichtet, um den Gegner im Nerv zu treffen und sich selbst als (einzig annehmbare und rettende) Alternative darzustellen. Die größeren, tieferen oder jedenfalls wirkungsmächtigeren Denker hingegen, vornehmlich Marx und Nietzsche, nannten Stirner lieber erst gar nicht und schufen stattdessen in lebenslanger rastloser Anstrengung ihre jeweils zeitgeistgerechten Gegen-„Philosophien“, die wohl großteils deshalb so begierig aufgenommen wurden, weil sie die von Stirner aufgeworfene Problematik auf so verführerische Weise verschütteten. Sie hingegen gingen anders vor: Sie nahmen Stirner, wie Sie in „Selbstdarstellung als Philosophie“, S. 83, schreiben, „als ehrliche Herausforderung … die das Nachdenken dazu treiben kann, den von ihm leergelassenen Platz … durch genaues Erforschen der Phänomene zu füllen, mit dem schließlichen Erfolg der Entdeckung der subjektiven Tatsachen am affektiven Betroffensein.“ Zu welchem Zeitpunkt dies, Ihre Entdeckung Stirners als Herausforderung, stattgefunden hat, konnte ich natürlich nur aus Ihren

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publizierten Schriften erschließen. Ihre beiläufige erste Erwähnung Stirners in „System der Philosophie. VI: Die Person“ (1980) schien mir nicht darauf hinzudeuten, so dass ich mir die „biographische Vermutung“ zurechtlegte, die Sie im letzten Brief korrigierten bzw. erläuterten. Wie auch immer: in einem, dem wesentlichen, Punkt stimmen Sie mit den sonstigen Gegnern Stirners völlig überein: Sie sehen in ihm (bloß) einen radikalen Nihilisten (dies in dem von Ihnen erläuterten Sinn, nicht in dem bloß intellektualistischen der „Entwertung der obersten Werte“), und nicht, wie ich, einen „Denker“, der einen bzw. den Weg zur Überwindung eben jenes gleichsam psycho-somatischen Nihilismus gewiesen hat. Immer wieder lese ich bei Ihnen jedoch Sätze mit entscheidenden Inhalten, denen ich zustimmen kann: so auf der unteren Hälfte der dritten Seite Ihres letzten Briefes – wozu ich allerdings sage: Rehabilitierung der implantierenden Situationen → ja, des Heiligen → nein. Sie werden vielleicht sagen, dass sich das nicht trennen lasse. Darüber haben wir schon ausgiebig diskutiert, weshalb ich es hier bei dieser kurzen Stellungnahme belassen kann. Widersprechen möchte ich aber Ihrer im letzten Brief wiederholten Ansicht, Stirner sei es, der heute der Menschheit „im Sinne der Erziehung zu ungezogenen Kindern“ vorleuchte. Natürlich beruht diese Ansicht auf der Grundlage, Stirner sei, im Sinne Ihres letzten Briefes (nicht etwa Nietzsches) der „vollkommene Nihilist“, der einzige der Philosophiegeschichte. Mein Verständnis Stirners als „transnihilistischer“ Denker hingegen beruht gerade auf seinen Gedanken zur Erziehung bzw. Enkulturation der Menschen. Was heute an Zerfall geschieht, ist nicht vom Geiste Stirners beseelt, sondern von dem seiner zahlreichen „Überwinder“ aller weltanschaulicher Richtungen. 18. Juli 2003 Sehr geehrter Herr Laska! In großer Eile, da ich morgen meinen dreiwöchigen Erholungsurlaub antreten will und noch viel dafür zu tun habe, empfange ich gerade Ihren Brief vom 17.07. und will ihm rasch mit wenigen Worten erwidern, damit Sie sich nicht über mehrwöchiges Ausbleiben der Antwort wundern. Lassen Sie mich statt eines Eingehens im Einzelnen kurz und provokant das Fazit meines Hitler-Buches, soweit es unsere gegenwärtige Diskussion betrifft, zusammenfassen, mit allem Vorbehalt, daß ich Ihnen Ihre gegenteiligen, wenn auch noch nicht zur präzisen Formulierung ausgereiften Überzeugungen keineswegs glatt ausreden will. Den aufgeklärten, kapitalistischen, imperialistischen, mit den Machtmitteln der modernen Technik bewaffneten Individualisten, die sich im Gefolge der um 400 v. Chr. (etwa bei Demokrit und Platon) initiierten und dann vom Christentum mit emotionaler Brisanz aufgeladenen europäischen, auf Selbst- und Weltbemächtigung abzielenden Intellektualkultur in der Neuzeit emanzipiert haben,

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hat Max Stirner als konsequenter Gipfelstürmer der von Fichte angeregten, in der Frühromantik ironisch und schwärmerisch aufgenommenen ironistischen Verfehlung des abendländischen Geistes den Impuls zum Infantilismus („ungezogene Kinder“) eingegeben. Diese infantilen Machthaber auf antik-christlich-Stirner’scher Grundlage haben für ihre Machtausübung aber einen Konkurrenten gefunden in der aus den Intentionen Meister Eckharts über die devotio moderna (Imitatio Christi des Thomas von Kempen) herangewachsenen, zuerst von Geulincx als ratio konzipierten und dann von Ernst Jünger in „Der Arbeiter“ proklamierten Macht der sozialtechnischen Apparate, die Herren der Herren der Welt geworden sind, vgl. „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 193. Sie sind anderer Meinung. 12. August 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, nachdem Sie am 18.7., kurz vor Ihrer Abreise in den Urlaub, auf Einzelheiten meines vorgängigen Briefs nicht mehr eingehen konnten, möchte ich den Fluss unseres Gesprächs nicht stören und nur einige punktuelle Bemerkungen machen: zum einen zu Ihrem „kurzen und provokanten Fazit“ Ihres Hitler-Buches im Brief vom 18.7., zum anderen zu einigen Aspekten, die bisher in meinen Briefen etwas zu kurz kamen, aber durchaus geeignet scheinen, meine Ihnen im Grunde noch immer dubiose Position weiter zu beleuchten oder zu illustrieren. Ihr kurzes Fazit haben Sie in zwei längere Sätze gepackt, die in etwa folgendes Skelett haben: 1) „Den aufgeklärten … [heutigen] … Individualisten, die sich … [wovon?] … emanzipiert haben, hat Max Stirner […] den Impuls zum Infantilismus („ungezogene Kinder“) eingegeben.“ 2) „Diese infantilen Machthaber [?] … haben aber … einen Konkurrenten gefunden in der aus den Intentionen Meister Eckharts … herangewachsenen … Macht der sozialtechnischen Apparate, die Herren der Herren der Welt geworden sind.“ Sie schließen mit dem Satz „Sie [Laska] sind anderer Meinung“ und hatten vorausgeschickt, dass Sie mir meine gegenteiligen, noch nicht zur präzisen Formulierung ausgereiften Überzeugungen nicht ausreden wollten. Die Sätze 1) und 2) lassen mich ziemlich ratlos. Trotzdem will ich sie zu kommentieren versuchen. zu 1) Ich wüsste wirklich keine Belege oder Anzeichen dafür, dass der heutige Individualismus, Vulgär-Hedonismus oder auch Ultra-Liberalismus auf Stirner zurückgeht. Nicht einmal fälschlich berufen sich Vertreter dieser Ideologien auf Stirner. Es war vielmehr gelegentlich so, dass Gegner dieser Ideologien deren Vertretern Stirner unterschieben wollten, ganz so, wie einst Engels als Marxist Stirner den Anarchisten unterschob – was Letztere mit betretenem Schweigen quittierten und „aussaßen“. Aber das

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bestätigt eigentlich nur, dass diese Gegner genau wussten, dass Individualisten, Anarchisten, Radikal-Liberale etc. nichts mehr fürchteten, als mit Stirner in Zusammenhang gebracht zu werden. Die einflussreichsten und wirkungsmächtigsten Philosophien/Ideologien des 20. Jahrhunderts entstanden vielmehr großteils im Gefolge der nahezu unbewusst vollzogenen Abwehr Stirners durch die Graphomanen Marx und Nietzsche. Nach den heute immer wieder beschworenen „schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts“ (Weltkriege, GULag, Auschwitz etc.), aus denen man nicht wirklich lernen wollte oder konnte, lief alles auf unser heutiges System hinaus, und dieses halte ich – entgegen dem grandios aufgeputzten Anschein – für letztlich weitaus destruktiver in geistiger und materieller Hinsicht als alles bisher Dagewesene. – Dass ich (den bisher blind abgewehrten, aber nicht bewältigten) Stirner als (zunächst nur) geistiges Remedium dagegen betrachte – jedenfalls für mich als „Blankettfigur“ für jeden Einzelnen – wissen Sie, können es aber leider nicht nachvollziehen. Wenn Sie die heutigen Individualisten als aufgeklärt und zugleich infantil bezeichnen, stellt sich mir zunächst die Frage, ob und ggf. in welcher Absicht Sie „aufgeklärt“ ironisch und „infantil“ in pejorativem Sinn meinen. Als aufgeklärt betrachtet sich doch heute jeder, ob gläubiges Kirchenmitglied gleich welcher Religion oder Konfession, ob ungläubiger Liberaler oder Sozialist gleich welcher Partei, ob konfuser Esoteriker welcher New-Age-Mixtur auch immer. Als am gründlichsten aufgeklärt betrachten sich jene, die – nach jenen „Erfahrungen“ – erkannt haben, dass „der Mensch“ nicht aufklärbar ist (wobei offen bleibt, ob sie sich selbst mit einbeziehen) bzw. dass jeder Aufklärung eine diabolische „Dialektik“ inhärent ist. Obwohl man sich also „am Ende der Geschichte“ angekommen wähnt, blüht die Philosophieindustrie und alimentiert Legionen von Berufsdenkern. Aber das ist (k)ein anderes Thema. Zu 2) Infantil, auf der Stufe eines Kindes stehen geblieben – so könnte man zwar die Machthaber nennen, aber natürlich auch die „mündigen“ Bürger, die „Wähler“, die ihnen die Macht über sich zubilligen. Es erschiene mir jedoch unzweckmäßig, gar verwirrend angesichts der (Art von) Empfindsamkeit und Intelligenz, die manche Kinder im Gegensatz zum normalen Erwachsenen noch haben. Dass diese allesamt sich „sozialtechnischen Apparaten“ unterwerfen, erscheint mir sekundär und fungiert m.E. oft als Entlastungsargument bzw. als Ausrede. Nun sprechen Sie von zwei Konkurrenten und Meister Eckharts Intentionen. Da kann ich nicht folgen. Um an Stirner anzuknüpfen: seine polemisch-rhetorische Frage, wie sich die Gesellschaft denn ändern solle, wenn die, die sie bilden, dieselben bleiben, verbirgt seine Forderung nach dem Neuen Menschen. Diese erhoben allerdings Viele, nur meinten Sie, das ließe sich im Handumdrehen erledigen: quasi mirakulös als Nebenprodukt der „Revolutionierung“ der Produktionsverhältnisse und/oder (allein) durch programmatische Erzie-

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hung zu bestimmten „Werten“. Diese großen, aber nicht tief genug durchdachten Menschheits-Projekte sind gescheitert; doch man zieht leider keine oder nur resignative Lehren daraus. Zu Stirners Vision vom Neuen Menschen (des Menschen nach der präzedenzlosen Epochenschwelle) passen sehr gut Begriffe, die ich von Ihnen kenne: vitaler Stolz, Verankerung des Lebens in der Gegenwart u.ä. Die Lösung von der Vergangenheit, vom Alten Menschen, schaffen freilich solche Kinder besser, die in dem Sinne „ungezogen“ sind, dass ihnen von den Alten – Sie ahnen, was jetzt kommt – ein möglichst schwaches irrationales Über-Ich introjiziert wurde, damit das rationale sich zu großer Stärke entwickeln kann. Solange dieses oberste Prinzip nicht erkannt, nicht beachtet und nicht handlungsleitend wird, bleibt alle „Freiheit“ eine todtraurige und vielleicht, in ihren menschheitsgeschichtlichen Konsequenzen, sogar einmal tödliche Farce. Sie schreiben einmal (in „Die Liebe“?), die sog. sexuelle Befreiung der letzten Jahrzehnte habe weder das Erhoffte noch das Befürchtete gebracht. Ich stimme Ihnen zu. Denn sie war eine Farce wie die politische der sog. Demokratie. 13. August 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Ihr Brief von gestern kommt zu mir im rechten Moment, da ich, nach einigen Tagen in Kiel, morgen schon wieder für 12 Tage (mit kurzer Unterbrechung 22./23.08.) meinen Aufenthalt verlegen will. Zum Glück habe ich jetzt etwas mehr Zeit als am 18. Juli, um die damals aus dem Extrakt meines Hitler-Buches sehr zugespitzt formulierte These etwas breiter nachzuzeichnen, in der Hoffnung, Ihr Mißverständnis aufklären zu können. Sie haben in meinen Brief vom 18. Juli hineingelesen, daß ich Stirner für den aufklärerischen Liberalismus verantwortlich machen wolle. Das wäre natürlich Unsinn, aber nichts davon steht in meinem Brief. Mir bleibt zur Klarstellung nichts übrig, als die dort ganz knapp pointierte geschichtliche Entwicklung noch einmal auseinanderzunehmen. Am Anfang steht die um 400 v. Chr. im Interesse personaler Selbstermächtigung vorgenommene Zerlegung der empirischen Welt in abgeschlossene private Innenwelten und eine reduzierte Außenwelt mit der Folge, daß die Person zwar Herr im eigenen Haus sein kann, aber rätselhaft (zuerst erkenntnistheoretisch, dann auch sozialpsychologisch) wird, wie der Herr aus dem Haus kommt. Das ist der Ursprung des isolierenden Individualismus (autistische Verfehlung) und des Vorrangs des Machtinteresses (als Selbstermächtigung) im persönlichen Selbstverständnis (dynamistische Verfehlung). Im heidnischen Altertum bleiben diese Verfehlungen noch ziemlich harmlos; namentlich wirken sie sich wenig auf die Einpflanzung der persönlichen Situation in gemeinsam implantierende aus. Gewaltige Brisanz erhalten sie erst im Christentum durch die konsequente Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht (Gottes, dynamistische Verfehlung) im

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Verein mit dem permanenten Alarmzustand („Rette sich, wer kann!“) der Selbstreflexion auf Grund transzendierender Heilshoffnung und Unheilsfurcht (autistische Verfehlung). Gegen dieses Christentum erhebt sich die moderne Aufklärung, die von ihrem Gegner die dynamistische Verfehlung (Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht, nun die eigene des Menschen) und die autistische Verfehlung (in Gestalt des liberalistischen Individualismus mit Zersetzung implantierender Situationen) übernimmt. Die dynamistische Verfehlung bedient sich nun der gewaltigen Machtmittel der gleichzeitig sprießenden Maschinentechnik. Daraus ergibt sich ein modernes Bündnis von Aufklärung, Privatkapitalismus und Macht der Maschine, das im Altertum nicht seinesgleichen hat. Unter Aufklärung schlechthin verstehe ich die Bereitschaft und den Eifer, alles kritisch in Frage zu stellen und die Frage mit logischem Denken zu beantworten. Solche Aufklärung hat es im Altertum (spätestens seit der Sophistenzeit) genau so gegeben wie in der Neuzeit, aber ohne vergleichbare Zersetzung implantierender Situationen und daher ohne Bündnis mit dem rücksichtslosen Privatkapitalismus. Neben der durch diesen dargestellten dynamistischen Verfehlung verläuft seit Meister Eckhart die Entwicklung zu einer anderen Art dynamistischer Verfehlung. Eckhart entdeckt die Gelegenheit, durch Radikalisierung der christlichen Entmachtung des Menschen vor Gott zu völliger Resignation des Eigenwillens für alle Anfechtungen (auch durch Gott) immun und so wieder mächtig, ja Gottes habhaft zu werden. Daraus entwickelt sich in der holländisch-niederdeutschen devotio moderna (auch in Süddeutschland, bei Tauler) die Kunst, in der Nachfolge Christi durch Demut Macht zu erlangen. Dieser paradoxe Dynamismus kommt an den Wendepunkt bei dem Flamen Arnold Geulincx durch dessen Überlegung: Man kann und darf Gott nicht gehorchen wollen, denn es geschieht ja sowieso, was er will; vielmehr muß man dem Gesetz Gottes gehorchen, und das ist die ratio, die eine rigorose Moral im Zeichen eines ökonomischen Minimalprinzips vorzeichnet. Das Entscheidende an dieser Wendung besteht darin, daß nicht mehr eine Person (Gott oder Mensch) die Befehlsgewalt der Machtausübung innehat, sondern ein abstraktes Gesetz. Daraus entwickelt sich der Dynamismus der anonymen Apparate (z.B. des Marktes), die den Menschen über den Kopf wachsen, heroisiert von Ernst Jünger in „Der Arbeiter“. Das alles hat mit Max Stirner noch nichts zu tun. Auf ihn läuft eine im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts unvermittelt einsetzende Neuerung des menschlichen Selbstverständnisses zu, die von der Entdeckung der subjektiven Tatsachen ausgeht. Man wird darauf aufmerksam, daß alle Tatsachen derart, daß es sich um mich selber handelt, keine objektiven oder neutralen Tatsachen sind. Da man dennoch nicht aufhört, alle Tatsachen für objektiv zu halten, gerät man für sich in eine rätselhafte Schwebelage am Rande oder jenseits aller faßbaren Tatsächlichkeit. Die Frühromantiker

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benützen dieses paradoxe Selbstverständnis zu schwärmerischer Ausmalung universeller Zugriffsmacht aus der Distanzierung hervor („romantische Ironie“), wozu Kierkegaard die Kehrseite der Angst als des unsicheren Schwebens über den eigenen Möglichkeiten beisteuert. Max Stirner übersetzt die romantische Ironie aus der ästhetischen Schwärmerei in den blutigen Ernst der Herausforderung durch den Einzigen, der alles als sein Eigentum beanspruchen kann, weil er an nichts mehr gebunden ist. Es bleibt in diesem Ernst bei der bindungslosen („romantischen“) Wendigkeit im Verfügen über ein ungeheures Spektrum von Möglichkeiten. Menschen, die nicht in ihrer persönlichen Situation den Kompaß eines starken Daimon haben, sind dieser neuen Gestalt einer ironistisch angereicherten dynamistischen Verfehlung nicht gewachsen und werden zu ungezogenen Kindern in der Weise, wie solche Kinder ungehemmt Ansprüche stellen, ohne die Richtung eines starken gestaltenden Wollens als Steuerung anbieten zu können, und ohne Ersatz dieser Richtung durch die Führkraft des Nomos implantierender Situationen, die den Kindern die Ungezogenheit austreiben könnte. Diese hilflos in usurpierter Eigenmacht treibenden Individuen erliegen der Macht der nach-Geulincx’schen anonymen Apparate (z.B. der ratio des Marktes), während die Menschen vor Fichte, Schlegel-Novalis und Stirner noch nicht ironisch entfestigt waren, sondern vom Band eines festen Willens gehalten wurden; ich erinnere an die innerweltliche Askese im protestantischen Frühkapitalismus nach Max Weber. Mit dieser verbreiterten Skizze habe ich die zugespitzte Formulierung meines letzten Briefes so weit auseinandergezogen, daß ich hoffe, Ihnen besser verständlich zu werden. Sie verstehen vielleicht auch, warum ich mit dieser Sicht mir von einer „Vollendung der Aufklärung“ in der Weise, daß unter Diderot La Mettrie, unter Marx Stirner und unter Freud Reich hervorgezogen wird, nichts Hilfreiches verspreche. Die moderne Aufklärung ist durch ihren Widersacher, das westkirchliche Christentum, mit der dynamistischen und der autistischen Verfehlung so infiziert, daß sie dem unvorhersehbaren Einbruch der ironistischen Verfehlung (Dandytum, Coolness, „Zappen“ beim Fernsehen) nichts Stichhaltiges mehr entgegensetzen kann. Statt von einer Vollendung dieser Aufklärung als einer Sackgasse erhoffe ich mir einen Lichtstreif am Horizont von einer Vertiefung der Aufklärung durch Aneignung der Subjektivität subjektiver Tatsachen an das menschliche Selbstverständnis in der Weise einer Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart mit Rehabilitation implantierender Situationen und der Offenheit für das Heilige, damit die Menschen wieder großer Zwecke fähig werden.

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23. August 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, zunächst einmal besten Dank für die Mühe, die Sie sich gemacht haben, um mir Ihr Konzentrat vom 18.7. besser verständlich zu machen (u.a. die Bedeutungen, die Sie Meister Eckhart und Arnold Geulincx zuweisen). Ich möchte jedoch (teils aus Unkenntnis der originalen Schriften der herangezogenen Denker) Ihrer Konstruktion weder zustimmen noch widersprechen, sondern, um auf unser Thema zu fokussieren, an einen Satz anknüpfen, der auf der zweiten Seite Ihres Briefes steht: „Unter Aufklärung schlechthin verstehe ich die Bereitschaft und den Eifer, alles kritisch in Frage zu stellen und die Frage mit logischem Denken zu beantworten. Solche Aufklärung hat es im Altertum (spätestens seit der Sophistenzeit) genau so gegeben wie in der Neuzeit, aber ohne vergleichbare Zersetzung implantierender Situationen …“ Sie nennen außerdem die Jahreszahl (ca.) 400 v. Chr. Damals begannen somit Philosophie, Aufklärung (Kritik) und, offenbar davon nicht trennbar, das, was Sie als Verfehlungen des abendländischen Geistes (mir vor allem aus Ihrem Hitlerbuch bekannt) bezeichnen. Die Verfehlungen seien im heidnischen Altertum harmlos gewesen (etwa deshalb, weil sie als solche nur den „Geist“ betrafen, das Leben der Menschen nicht tangierten?), hätten aber seit der präzedenzlosen Epochenschwelle um 1800 (die leider bisher nur zur „ironistischen“ Ausformung der Verfehlung und nicht darüber hinaus geführt hat), im Verbund mit den gewachsenen technischen Mitteln, die ihnen innewohnende Destruktivität beständig gesteigert (weil sie heute mehr als nur den „Geist“ betrifft und aufgrund von Massen-„Bildung“ und „Massenmedien“ allgemein verbreitet ist?). In der modernen Aufklärung sehen Sie, weil sie im Mark durch das westkirchliche Christentum infiziert ist, keinen Ausweg aus der Sackgasse, in der „wir“ uns heute befinden. Nur Menschen mit starkem Daimon wären heute noch in der Lage, nicht bloß lebenslang halt- und orientierungslos – „wie ungezogene Kinder“ – zu agieren. Wenn ich Ihre Auffassung hier nicht grob verzerrt wiedergegeben habe, sehe ich (wieder einmal) Übereinstimmung in wesentlichen Punkten. Aber: Die „Missverständnisse“ werden wahrscheinlich (wieder einmal) offenbar, sobald ich erläutere, wie ich die Skizze auffasse. Der „Mensch mit starkem Daimon“ ist in meinen Augen – tendenziell – Stirners „Eigner“, dessen rationales Über-Ich nicht durch ein irrationales dominiert wird und deshalb stark, zielbestimmend und handlungsleitend ist. Er hat es am liebsten mit seinesgleichen zu tun (Stirners „Verein“), kommt aber auch im Zusammenleben mit „Besessenen“ (primär durch ein irrationales Über-Ich gelenkten Menschen mit schwachem Daimon) zurecht. Er benötigt diese aber nicht, um seine „Führkraft“ auf sie anzuwenden (was nicht heißt, dass er in einem „Verein von Eignern“ keine

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Führungsaufgaben übernehmen mag). Weil aber einige Menschen, deren furioser, aber nur „überkompensierter“ schwacher Daimon den Massen der Schwachen als „stark“ imponiert, genau die Führkraft anbieten, nach der die Schwachen rufen, entstehen seit eh und je Kollektive, die ich als Wahngenossenschaften bezeichnen möchte. Weil eine Wahngenossenschaft den Menschen mit genuin starkem Daimon nicht „tolerieren“ kann (denn seine bloße Existenz demonstriert dem Wahngenossen sein eigenes Ungenügen, seinen schwachen Daimon und mangelnden vitalen Stolz), lebt jener heute wie sein Pendant in der Antike am besten nach der Maxime „lathe biosas“. Insofern würde ich auch bezweifeln, dass im Altertum das Aufkommen von Philosophieren/Aufklärung/Kritik/(Verfehlungen), wie Sie schreiben, sich wenig auf die Einpflanzung der persönlichen Situation in gemeinsame implantierende auswirke, jedenfalls was denjenigen betrifft, der Philosophie betreibt. Ich meine im Gegenteil, dass authentisches Philosophieren bzw. Kritisieren/(Selbst-)Aufklären sich aus Quellen speist, die in früher Kindheit liegen: der Weigerung eines (noch) gesunden, starken Organismus, sich voll und ganz in die traditionsgetragene Wahngenossenschaft, in die er zufällig geboren wurde, einpassen zu lassen. Ein solches Philosophieren läuft freilich nicht auf bloße „Einsicht in die Notwendigkeit“ hinaus (dazu ist ein Mensch erst fähig nach einer „Erziehung“, wie sie Hegel in RPhil §§ 174f. Zus. ungeniert beschreibt: der Eigenwille ist zu brechen, „das Vernünftige“ muss dem so vom Natur- zum Kulturwesen Beförderten als Eigenstes erscheinen; vor aller intellektueller Erziehung muss „die Sittlichkeit“ eingepflanzt werden). Im letzten Absatz Ihres Briefes sagen Sie, dass die historisch dominante Aufklärung, sogar die durch ihre radikaleren Vertreter Diderot, Marx und Freud repräsentierte, sich ihrem Widersacher, dem westkirchlichen Christentum sehr angeglichen habe. Das sage ich auch: am klarsten erkennbar an der stillschweigenden Allianz, zu der sich diese beiden geistigen Großparteiungen zwecks Vernichtung von La Mettrie, Stirner und Reich ganz automatisch, ohne dass es einer Absprache bedurfte, zusammengeschlossen haben: als selbstverständliche Solidarität aller „Kulturträger“. Sie, Herr Schmitz, sagen nun, ein „Hervorziehen“ von La Mettrie, Stirner, Reich sei eine Vollendung jener dominanten Aufklärung und sehen darin nichts Hilfreiches, eine Sackgasse. Das ist Ihrer Identifikation von L/S/R mit der ironistischen Verfehlung zuzuschreiben. Gäben Sie sie auf, könnten Sie, wie ich, in der von allen Mächten der „Verfehlungen“ fast im Keime erstickten Kernidee von L/S/R eben jene Vertiefung der Aufklärung erblicken, die Sie ja ebenfalls für wünschenswert halten, jedenfalls die (einzige?) Möglichkeit, diese zu erreichen. Ich gebe Ihnen gern zu, dass ich die Kernidee von L/S/R noch nicht in größter Ausführlichkeit herausgearbeitet habe; aber es ist ja wohl auch kein Pappenstiel für einen Einzelnen, zu

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leisten, was Tausende Berufsphilosophen trotz bester Ressourcen versäumten. 26. August 2003 Sehr geehrter Herr Laska, Ihr gerade empfangener Brief vom 23.08. offenbart mit frappanter Deutlichkeit die Grenze, die uns bei aller Nachbarschaft trennt. Der Gegensatz läßt sich an unserem unterschiedlichen Verständnis der Rede von Menschen mit starkem Daimon (frei nach Goethe, „Urworte. Orphisch“) festmachen. Ich bin weit davon entfernt, den Menschen mit starkem Daimon mit dem Starken im Sinne der gesunden Vollnatur zu identifizieren, etwa mit einem Analogon des herrlich gedeihenden, mächtig ausladenden Baumes im Gegensatz zu verkrüppeltem Unterholz. Vielmehr verstehe ich den starken Daimon als eine der persönlichen Situation (vulgo „Persönlichkeit“) des Betreffenden eingepflanzte konsequente Führung nach Art eines Kompasses, der der Person auch ohne viel eigenes Zutun zeigt, worauf sie hinaus will. Menschen mit starkem Daimon in meinem Sinn haben oft das Gefühl, daß sie in eine ihnen eingepflanzte Richtung geführt werden, ohne sich je dafür entschieden zu haben. Ob das kraftvoll gesunde (was auch immer dieses Wort bedeuten mag) Naturen sind, ist dadurch keineswegs ausgemacht. Die Gegenmöglichkeit kann vielleicht an einer Gegenüberstellung von Hitler und Goethe deutlich werden. Hitler, ursprünglich ein haltloser Schwächling, machte im Zusammenhang mit seiner Fronterfahrung eine wundersame Metamorphose seiner persönlichen Situation durch, wonach sich in dieser ein geradezu überstarker Daimon durchsetzte, dessen dämonische Entschiedenheit alle Widerstände rund um den Erdkreis beinahe mattsetzte, bis er sein Schicksal im Sturz in den von diesem Daimon vorgezeichneten Abgrund vollendete. Goethe dagegen, von dem Nietzsche nicht mit Unrecht sagte, er sei „nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur“ gewesen, mußte sich trotz der Daimon-Konzeption in „Urworte. Orphisch“ mit einem sehr schwachen oder wenigstens leicht irritierbaren Daimon zufrieden geben; sein Leben lang litt er (gleich vielen Extravertierten) unter den Qualen seiner Ablenkbarkeit, und ein dafür bezeichnender Spruch von ihm lautet: Soll dein Kompaß dich richtig leiten, Hüte dich vor Magnetstein’, die dich begleiten.

Sie dagegen verstehen gemäß Ihrem Brief den starken Daimon als Zubehör eines „gesunden, starken Organismus“, der dem Menschen die Anregung zum Kritisieren als „(Selbst-)Aufklären“ eingibt. Diese Verbindung leuchtet mir nicht ein, zumal dann nicht, wenn sich mit dem Anspruch auf Kritik der auf Autonomie verbindet, etwa so, wie Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ nach einander „Gesetzgebende Vernunft“ und „Gesetzprü-

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fende Vernunft“ durchmustert (um beide mit ihrem Vorhaben scheitern zu lassen). Ich habe mehrfach ausgeführt, daß ich die Vernunft für unentbehrlich zur Kritik und zur Organisation (von Mitteln für bereits gesetzte Zwecke) halte, aber für absolut ungeeignet zu eigener Gesetzgebung (gegen Kant und Fichte). Ich verstehe den Menschen als ein auf eine „weiche Seite“ der Sensibilität bis zur Hinfälligkeit im affektiven Betroffensein angewiesenes Wesen, das gerade und nur aus dieser „Labilität der Person“ im „Spielraum der Gegenwart“ (zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart) die Inspiration eigener Gestaltungskraft empfängt. Wie sich diese Labilität mit der Stärke des Daimons vertragen kann, suche ich mit dem Bild des Wellenreiters zu verdeutlichen. Meine Aufwertung der Labilität und damit der personalen Regression gegen das typisch aufklärerische Pochen auf einseitig hochstilisierte personale Emanzipation verbietet mir jede Gleichsetzung des „starken, gesunden Organismus“ mit dem Selbstaufklärer (gegen den ich damit noch nichts eingewendet haben will), und überhaupt jede summarische Abwertung der „Schwachen“ gegen die „Starken“. Schwäche im Sinn der angedeuteten „weichen Seite“ ist in meinen Augen eine der wichtigsten Kraftquellen menschlicher Produktivität. Sie dagegen scheinen mir mit Ihrer Option für den „gesunden, starken Organismus“ authentischer (auf „authentisches Philosophieren“ angelegter) Menschen mit Abwertung der „Schwachen“, die nach einer „Führkraft … rufen“, näher an Nietzsche als an Stirner zu stehen. (Ich verstehe Stirners Konzeption des Einzigen als des Eigners nicht als Heroisierung vollkräftiger Menschennatur, sondern als Besitzergreifung im unermeßlichen Spielraum rezessiv entfremdeter Subjektivität, der durch Entdeckung und Verzerrung der subjektiven Tatsachen zu einer Ablösung des sogenannten Ichs von den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen eröffnet worden ist.) Ein schwerwiegendes Mißverständnis der Ausführungen im Schlußabschnitt meines Briefes vom 13. August glaube ich bei Ihnen zu bemerken, wenn Sie mir die „Identifikation von LSR mit der ironistischen Verfehlung“ zuschreiben. La Mettrie gilt mir nach der von Ihnen geschenkten Lektüre seines Anti-Seneca als eine Art „Affe der Aufklärung“ (wie ihn auch Friedrich d. Gr. gesehen zu haben scheint) und steht daher auf einem ganz anderen Blatt der Weltgeschichte als Stirner, von diesem geschieden durch die erst im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bei Fichte und in der Frühromantik eingeleitete ironistische Verfehlung (die „große Epochenschwelle“). Von Reich weiß ich zu wenig, möchte aber annehmen, daß er eher der noch naiven, von der ironistischen Verfehlung „unbeleckten“ Aufklärung Rousseau’scher Provenienz zuzurechnen ist. Wenn das zutrifft, würde mir Stirners Werk als die einzige noch relevante Herausforderung in der Reihe LSR erscheinen. Ich bin weit entfernt davon, die ironistische Verfehlung als bloße Steigerung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Stirner also als Fortsetzer von La Mettrie, zu verstehen. Statt dessen habe ich im Schluß-

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abschnitt meines Briefes vom 13. August die Meinung vertreten, daß die Aufklärung in den im 18. Jahrhundert gelegten Schienen wegen der Infektion durch ihren Gegner, das westkirchliche Christentum, der ungeheuren Herausforderung durch die ironistische Verfehlung nach der „großen Epochenschwelle“ nicht gewachsen ist und daher ihre Vollendung im Weiterfahren auf diesen Schienen nicht mehr lohnt. Nicht zu Recht ziehen Sie als Beleg für Zersetzung implantierender Situationen in der Antike meines Erachtens die epikureische Maxime „Sei lebendig verborgen“ (Lathe biosas) heran. Den ungestörten Genuß verweilender Gegenwart suchte Epikur im beginnenden Hellenismus, d.h. nach Zerfall der Polis-Herrlichkeit in den Diadochen- und Epigonenkämpfen der Großstaaten des zerfallenen Alexanderreiches, immer noch in implantierenden gemeinsamen Situationen, aber nun im kleinen Kreis der Freundschaft, gleichsam mit eingezogenem Kopf. Echten Individualismus hat es bei den antiken Philosophen wohl nur in der kyrenaischen Schule gegeben, als Hedonismus aus Verzweiflung an erkenntnistheoretisch motivierter Isolierung, aber damit hatte es bald ein Ende, im Gegensatz zu der langlebigen Lebenslehre Epikurs. Sie haben aus unserer nun schon jahrelangen schriftlichen Diskussion offenbar völlig unbeschadet den (noch nicht ganz handfest ausgereiften) Embryo Ihrer Konzeption gerettet, einschließlich des mir unverständlichen rationalen Überichs, das ich nach Ihrer letzten Mitteilung lieber als ein rationales Ich verstehen würde, das sich „gesetzgebende Vernunft“ (siehe oben) zutraut. Insofern kann ich kaum glauben, daß wir uns im Grundsätzlichen noch näher kommen werden. 31. August 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, vielleicht liegt es an meiner unzureichend genauen Ausdrucksweise oder an meiner Neigung, mich kurz, manchmal offenbar zu kurz, zu fassen: jedenfalls haben Sie meine Rede vom starken Daimon ganz anders aufgefasst als sie von mir gemeint war. Den Begriff habe ich ja schon vor längerer Zeit einmal aus Ihrem Hitlerbuch (obwohl er dort nur beiläufig auftaucht) entnommen, um in unserer Diskussion meine Position in von Ihnen verwendeten Termini zu erläutern. Ohne jetzt die alten Briefe nachzulesen, glaube ich doch, dass schon damals so viel deutlich geworden sein muss, dass ich unter einem Menschen mit starkem Daimon nicht „den Starken“ im gemeinen Sinn sehe (dann hätten Sie freilich Recht, wenn Sie mich „näher an Nietzsche als an Stirner“ placieren). Nein, ich stimme Ihnen zu, darin einen Menschen zu sehen, der einen inneren Kompass besitzt, der ihm verlässlich die/seine Richtung im Leben weist. Schon seinerzeit habe ich nicht verstanden, warum Sie, wie Sie damals schrieben, es für nicht wünschenswert halten, dass jeder Mensch mit einem solchen Kompass ausge-

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stattet ist (wie das „kultur-evolutionär“ zu erreichen bzw. anzusteuern ist, wäre eine andere, sehr viel schwierigere Frage). Ein solcher Mensch hat, wie ich im vorigen Brief meinte, zwar „Führkraft“, aber – und das betonte ich – er wünscht sich nicht die Gemeinschaft mit Menschen, die ohne jenen Kompass leben und deshalb nach einem Führer rufen, geschweige denn, dass er zu seinem Glück auf die Existenz solcher führungsbedürftiger Menschen angewiesen ist. Im Gegenteil: in Gesellschaft von seinesgleichen kann seine Führkraft gut zur Anwendung kommen, etwa, wenn er als Architekt, als Regisseur usw., generell in einer von der Sache her erforderlichen führenden Position tätig ist. Natürlich ist es für ihn keine Schwierigkeit, in einer nicht führenden Position zu wirken, sich führen zu lassen – wenn er selbst entweder fachlich nicht geeignet ist (nicht jeder im Bauwesen Tätige ist Architekt) oder wenn bei einem Projekt bereits ein anderer die führende Position innehat (nicht alle Geeigneten können immer führen). Von diesem Verständnis her wunderte ich mich auch, dass Sie ausgerechnet Hitler (im Brief, nicht im Buch) einen „geradezu überstarken Daimon“ zuschreiben. Unser Gegensatz, den Sie zu Beginn Ihres Briefes fixieren wollten, scheint mir demnach im Verständnis dessen zu liegen, was aus dem Daimon an Führkraft erwächst: ob mein Kompass nur mich führt oder ob er – über mich – einen Tross an Kompasslosen führt – die zudem nicht in der Lage sind, meinen Kompass selbst abzulesen. – Vermutlich taugt der Begriff des Daimons ebenso wie die Analogie des Kompasses (und wie einst auch die des Wellenreiters) nicht zur völligen Klärung unseres Gegensatzes. Hitler mag einen Kompass gehabt haben, dessen Nadel klemmte, und der von Ihnen ihm gegenübergestellte Goethe einen, dessen Nadel, wie Sie schreiben, allzuleicht durch „Magnetstein“ am Rande ablenkbar war. Wer aber hatte je einen einwandfreien, zuverlässig wegweisenden? Auf jeden Fall zu kurz gefasst habe ich mich – da gebe ich Ihrem Protest Recht –, wenn ich (am 23.8.) von „Ihrer Identifikation von L/S/R mit der ironistischen Verfehlung“ spreche. Mir war und ist natürlich klar, dass Sie weit davon entfernt sind, mein Zusammenspannen des „Affen der Aufklärung“ (wie Sie La Mettrie nennen) und eines Mannes, von dem Sie „wenig, aber vielleicht genug“ wissen (Reich), mit Stirner (den Sie zumindest schätzen, wenn auch aus anderen Gründen als ich) gedanklich mitzuvollziehen. Stirner jedenfalls lassen Sie als „relevante Herausforderung“ gelten. In ihm sehen Sie, wenn ich Sie jetzt recht verstehe, weder einen Vertreter der ironistischen Verfehlung noch einen, der selbst der „ungeheuren Herausforderung“ gewachsen ist, die diese darstellt; einen, der zwar ebenso ratlos vor ihr steht wie das westkirchliche Christentum und die durch dieses infizierte Aufklärung, der aber anders reagiert, nämlich „ehrlicher“. Von dieser „Ehrlichkeit“ schreiben Sie („Selbstdarstellung …“, S. 83), dass sie die Herausforderung darstellt, „die das Nachdenken dazu treiben kann, den von ihm [Stirner] leer gelassenen Platz des namenlosen Einzigen, der seine

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Sache auf Nichts gestellt hat, durch genaues Erforschen der Phänomene zu füllen, mit dem schließlichen Erfolg der Entdeckung der subjektiven Tatsachen am affektiven Betroffensein.“ In einem Satz wie diesem empfinde ich wieder einmal unsere Nachbarschaft, von der Sie am Anfang Ihres letzten Briefes auch sprechen. Dass Stirner einen leeren Platz gelassen hat, meine ich allerdings nicht, wie ich u.a. in „‚Katechon‘ und ‚Anarch‘“ ausführe; ich spreche dort, S. 42, von der „gestaltlosen Gestalt“ des „Eigners“ (nicht des „Einzigen“), die diesen Platz einnimmt. Ich bin gespannt, ob und wie Sie in Ihrem angekündigten Werk „Was ist Neue Phänomenologie?“ auf jene Herausforderung (die durch Stirner) eingehen. Zu „lathe biosas“: Wenn Sie sagen, Epikur habe „immer noch in implantierenden gemeinsamen Situationen [gelebt], aber nun im kleinen Kreis der Freundschaft, gleichsam mit eingezogenem Kopf“, so stimme ich Ihnen ja durchaus zu; nur frage ich, warum er den Kopf einzuziehen hatte, warum er im Verborgenen leben musste. Ich habe meine Vermutung dazu im vorigen Brief genannt: weil diejenigen, die in der großen implantierenden Situation einer, wie ich sie nenne, Wahngenossenschaft lebten, durch sein Philosophieren, Aufklären, Kritisieren derart provoziert, d.h. auf das Wahnhafte ihrer „Ideologie“ gestoßen wurden, dass sie ihn nicht tolerieren konnten. Wie das Aufkommen von Kritik, Aufklärung und Philosophie in der Antike mit dem Beginn der von Ihnen so genannten Verfehlung(en) zusammenhängt, kann ich nicht sagen, weil mir die Detailkenntnisse fehlen. Ich wollte in meinem letzten Brief, wie schon zuvor des öfteren, nur darauf hinweisen, dass ich in der Zersetzung der herkömmlichen implantierenden Situationen nicht die Zerstörung implantierender Situationen überhaupt sehe, sondern (im Geiste der – bei mir nicht durch Fichte, sondern durch L/S/R markierten – Epochenschwelle) die Möglichkeit der Entstehung neuer = alter (wie in Epikurs Kepos). 2. September 2003 Sehr geehrter Herr Laska, über den Menschen mit starkem Daimon sind wir keineswegs schon deshalb einig, weil Sie seine Stärke nach Ihrem Brief vom 31. August nicht als vitale auffassen. Sie bescheinigen ihm „Führkraft“, während er in meinem Sinn dadurch definiert wird, daß er sich führen läßt, nämlich von einem hinlänglich starken und deutlichen Nomos seiner Persönlichkeit (zuständlichen persönlichen Situation). Das kann schon einmal, wegen der Suggestivkraft klaren Wollens, auf andere als Führkraft ausstrahlen, wie bei Hitler. Aber wie kommen Sie dazu, dem Menschen mit starkem Daimon eine Neigung zum Verein mit seinesgleichen bei Abneigung gegen sich ihm anhängende Menschen mit schwachem Daimon zuzuschreiben? Auch das kann, aber muß nicht so sein. Und warum ich mir nicht eine Menschheit aus lauter Menschen mit starkem Daimon wünsche? Das hängt mit meiner

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im vorigen Brief erwähnten Aufwertung der personalen Regression zusammen. Ich glaube, daß wir außer Menschen mit ungekünstelt klarer Linie auch labilere Charaktere brauchen, damit ein Element der Offenheit und Mischung für unvorhersehbar überraschend Neues entsteht. Lauter Menschen mit starkem Daimon würden am Ende ein langweiliges und steriles Bild machen, sofern nicht der Zusammenstoß der harten Köpfe (oder ihr Rollen, wie bei der Blutrache in Altisland) für Aufsehen sorgte. Ich kann das an Tolstois „Anna Karenina“ deutlich machen, vgl. von mir „Die Liebe“ S. 110–113 = „System der Philosophie“ V S. 169–172. Der Roman dreht sich um zwei Liebespaare, in denen die Liebenden im ersten Fall (Lewin und Kitty) je einen exemplarisch starken Daimon in ihren Persönlichkeiten haben, im zweiten (Wronski und Anna) je einen exemplarisch schwachen. So schön auch das erste Paar gezeichnet wird, es allein hätte keinen auch nur leidlich fesselnden Roman hergegeben; interessant vermöge tiefer Blicke in Dramatik und Verstricktheit menschlichen Lebens wird dieser nur durch das zweite. Übrigens sind Lewin und Kitty weit entfernt davon, einen Verein von Eignern nach Stirner zu bilden; das hervorragende Glücken der Einleibung (in meinem Sinn des Wortes) gehört dazu, daß sie trotz ihrer starken Persönlichkeiten und deren Reibung so gut zusammenpassen. Was Stirner angeht, halte ich ihn allerdings für einen exemplarischen Vertreter der ironistischen Verfehlung (gemäß den „Propheten“ Jacobi und Hegel, vgl. „Selbstdarstellung …“ S. 71–76), aber für einen so konsequenten und radikalen, daß seine Ehrlichkeit den vor seiner Herausforderung nachdenklich Gewordenen darüber hinaus führen kann. Andererseits ist diese Herausforderung auch deshalb aktuell, weil die Perspektive völliger Frivolität für die heutige Menschheit eine ernst zu nehmende Gefahr bildet, als Verführung zum Dahintreiben in lauter kleinen Zwecken mit jämmerlichem Glück und Unglück. Daß Epikur aus Furcht vor irgendwelchen Wahngenossenschaften seinen Kopf einziehen mußte, glaube ich nicht; das Diskussionsklima in Athen war zu seiner Lebenszeit recht liberal. Aber es handelte sich um die Zeit des Übergangs von der Lebenswelt griechischer Stadtstaaten in die unberechenbare Welt der hellenistischen Flächenstaaten, deren Spielbälle jene wurden. Die Polis bot keinen Halt mehr; so setzten die Stoiker auf die riesengroße Polis der Welt (Kosmopolitentum), die Epikureer auf die implantierende Situation im kleinen, privaten Kreis (Freundschaft). 17. September 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, der Gegensatz unserer Auffassungen vom Menschen mit starkem Daimon, den Sie am 2.9. an Hand des Begriffes der Führkraft hervorheben, ist wohl nur ein scheinbarer. Wenn Sie betonen, ein Mensch mit starkem Daimon zeichne sich dadurch aus, dass er mit einem starken und klaren „No-

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mos seiner Persönlichkeit“ ausgestattet sei und sich von diesem führen lasse, so sehe ich darin keinen Streitpunkt – ebensowenig wie in Ihrer (in unserem Briefwechsel übrigens noch nie angesprochenen) Theorie der Gefühle: ob jemand ein bestimmtes Gefühl in seiner Innenwelt hat bzw. nicht hat oder ob er fähig bzw. unfähig ist, sich von diesem objektiv in der Außenwelt existierenden Gefühl ergreifen zu lassen; diese Frage scheint mir, jedenfalls in unserer Diskussion, unerheblich zu sein. Um auf Stirner, das Zentralgestirn unseres Austauschs, zurück zu kommen: es wäre vielleicht erörterungswert, in welchem Umfang dessen Begriff der Eigenheit und Ihr Begriff des Nomos der Persönlichkeit übereinstimmen. Sie fragen, warum ich meine, dass ein Mensch mit starkem Daimon bzw. verlässlichem inneren Kompass eine Abneigung gegen Menschen mit schwachem Daimon bzw. ohne eigenen inneren Kompass habe, die sich ihm anhängen. Diese Leute hängen sich ja nicht gerade ihm an (was ihm aber auch nicht lieb wäre), sondern einem Anderen, dessen „an sich“ schwacher Daimon ihnen als „stark“ imponiert. Sie nennen Hitler als Beispiel, wo klares Wollen auf Andere als Führkraft ausstrahlt. Ich würde zur Verdeutlichung dessen, was ich meine, lieber den auch in unseren letzten Briefen erwähnten Epikur heranziehen. Dieser Mann, dem ich einen echten starken Daimon zuschreibe, musste, wie Sie neulich schrieben, zusammen mit seinen Freunden „gleichsam mit eingezogenem Kopf leben“. Sie sagen nun, das Kopfeinziehen, das Leben im Verborgenen, sei nicht aus Furcht geschehen, und das verstehe ich nicht. Wenn es so war, wie Sie schreiben: dass damals politisch unruhige Zeiten waren und dass es zwei große Lebensentwürfe gab, den der Stoiker und den der Epikureer; dann bleibt doch zu fragen, warum die Einen im Verborgenen zu leben hatten, die Anderen nicht. Ich hatte nun den stark polemisch klingenden, jedenfalls nicht näher definierten Begriff der Wahngenossenschaft verwendet, um diejenigen, die kompakte Mehrheit, „alle“, zu bezeichnen, die in der althergebrachten Weise in einer gemeinsamen implantierenden Situation leben. Epikur und seine „Freunde“ lebten, nach dem, was man aus dem Überlieferten rekonstruieren kann, und wie auch Sie schrieben, ebenfalls in einer gemeinsamen implantierenden Situation, aber in einer gänzlich anderen, in einer, die eben keine Wahngenossenschaft darstellt – und deshalb mit einem anderen Begriff bezeichnet werden müsste. Epikur war nicht derjenige mit dem Kompass, den die „Freunde“ nicht hatten, nicht einer, dessen klares Wollen als Führkraft strahlte und den Anderen das eigene Wollen abnahm. Er brauchte keine geistigen Sklaven und auch keine körperlichen, um „Kultur“ hervorbringen zu können. Usw. Der „Fall“ Epikur demonstriert m.E., dass Menschen mit starkem Daimon nicht nur auch, sondern „besser“ in einer gemeinsamen implantierenden Situation leben können als Menschen mit schwachem Daimon, die auf zusammenschweißende Wahnideen, auf irreale Götter, reale Führer u. dgl. angewiesen sind. Er demonstriert aber auch,

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dass Menschen, die in einem epikureischen Kepos (cum grano salis: stirnerischen Verein) leben, den Kopf einziehen müssen, da ihre bloße Existenz die große Masse der Wahngenossen bis aufs Blut provoziert. Dieser Wirkzusammenhang ist auch in unserer zerfallenden pseudo-pluralistisch-liberalen Gegenwart noch kenntlich. Ich kann Ihnen also nicht zustimmen, wenn Sie meinen, dass „wir“ – einmal angenommen, Sie meinen damit die stabilen Charaktere (m.M.n. Stirners „Eigner“, Epikurs „Freunde“) – die labilen Charaktere brauchen, weil diese sozusagen als Ferment oder Katalysator für die Entstehung von Neuem unverzichtbar sind und ohne sie Öde, Langeweile und Sterilität Platz greifen würden. Das ist mir schon deshalb nicht einsichtig, weil die „labilen“ Charaktere doch zweifelsohne die große Mehrheit in allen Gesellschaften bilden und unter dem Regime der „westlichen Demokratie“, gekoppelt mit der „freien Marktwirtschaft“, hier und heute in hohem Maße das Leben bestimmen. Die Buntheit, das Tempo, die Kreativität der Moden etc., auch die Art von intellektueller Kultur, die dem zu verdanken sind, erscheinen jedenfalls mir sehr fragwürdig – was, wie ich Ihnen nicht zu versichern brauche, nichts mit Elitedünkel zu tun hat. Ihre Formulierung, die labilen Charaktere seien unentbehrlich, die stabilen geradezu von deren Existenz abhängig, um überhaupt „Kultur“ schaffen zu können, erscheint mir als eine Version des so zentralen wie „arkanen“ anthropologischen Dogmas. Schon „Gott“ war (und ist noch immer) abhängig davon, dass die Menschen „Sünder“ sind. Kant pries die Eitelkeit, Unvertragsamkeit und nicht zu befriedigende Begierde etc. „des“ Menschen, weil er nur dank ihrer sich über das Schafstall-Leben seines Hausviehs zu erheben vermochte. Usw. – Ihrer Theorie vom Wechselspiel zwischen personaler Emanzipation und Regression, auf die Sie als Begründung für die Ablehnung der Utopie einer Gesellschaft aus Menschen mit eigenem inneren Kompass hinweisen, will ich damit nicht widersprechen; ich kann aber Ihre Schlussfolgerung nicht ziehen. Gegen Ende umschreiben Sie noch einmal, auf meine vorhergehenden Klarstellungsversuche eingehend, den Grund für Ihre bedingte, gleichwohl sehr hohe Wertschätzung Stirners, den Sie insbesondere in seiner Aktualität für unsere Zeit sehen. Eingedenk dessen und der Stelle aus Ihrem Buch „Selbstdarstellung …“, S. 83, die ich am 31.8. zitierte, bedauere ich um so mehr, dass Stirner bei Ihnen so kurz wegkommt, eingeklemmt zwischen Nietzsche und Wittgenstein, die, wie „Husserl und Heidegger“, nach Stirner kamen und ihn, wie die Katze den heißen Brei, umgingen. 19. September 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Sie schreiben in Ihrem gestrigen Brief: „Epikur war (…) nicht einer, dessen klares Wollen als Führkraft strahlte und den Anderen das eigene Wollen abnahm. Er brauchte keine Sklaven (…).“ Das ist leider nicht

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haltbar. Wenn es unter den antiken Schulgründern je einen gab, der seine Schüler geistig versklavte, dann war es Epikur. Aus Eduard Zellers Philosophie der Griechen, unveränderter Nachdruck der 5. Auflage von 1923, Darmstadt 1963, Band III Teil 1 S. 390–392 zitiere ich aus dem Haupttext (unter dem Strich befinden sich die zugehörigen Quellen): „Epikur selbst behandelte seine Lehrsätze so dogmatisch und war von ihrer Vortrefflichkeit so fest überzeugt, daß er seine Schüler Abrisse derselben geradezu auswendig lernen ließ, und bei der abgöttischen Verehrung, welche diese, nicht gegen seinen Willen, ihm zollten, wagten sie sich auf keinem Punkte von ihm zu entfernen. Während schon zu Ciceros Zeit Epikurs und Metrodors Schriften außer ihrer Schule kaum einen Leser fanden, wird noch im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. von den Epikureern bezeugt, daß sie an der Lehre ihres Stifters unverbrüchlich festhielten; und es mußte ihnen dies um so leichter werden, je weniger sie in der Regel, nach dem Vorgang des Meisters, um die Leistungen anderer Philosophen sich bekümmerten und ihre Verdienste zu würdigen suchten.“ Damit vergleiche man die enorme Liberalität der Diskussion an der platonischen Akademie, deren „Innenleben“ ich in meinem Buch „Platon und Aristoteles“ („Die Ideenlehre des Aristoteles“ Band II) ausgiebig durchmustert habe. Wenn man, wie zweimal der Mathematiker Eudoxos von Knidos, mit höchst unbequemen und originellen Vorstellungen die Akademie besuchte, konnte man darauf rechnen, eine eifrige Diskussion des Für und Wider zu entfachen, die überhaupt zwischen verschiedenen innerakademischen „Lagern“ die Regel war. Platon bestimmte (wahrscheinlich selbst) seinen Neffen Speusipp, der die Ideenlehre verwarf, zu seinem Nachfolger als Schulhaupt, jedenfalls wurde der das, und nach dessen Tod wählten laut Zeugnis des Index Academicus Herculanensis „die Jünglinge“, d.h. die Studenten der Akademie, mit einfacher Mehrheit den Xenokrates als neuen Chef und übergingen den schon seit 10 Jahren ausgeschiedenen Aristoteles, auch einen Kritiker der akademischen Ideen- und Prinzipienlehre, da er auswärts in Makedonien weile – so demokratisch scheint es an der Akademie zugegangen zu sein. Der Rückzug in den Garten mit seiner kleinen Gemeinschaft erlesener Freunde ist für Epikur wie eine Schutzmauer um den ungestörten Genuß verweilender Gegenwart, ganz wie die argumentativ erfolgreiche Abweisung der Furcht vor dem Tod oder den Göttern; mit dem Schmerz kommt Epikur schon weniger zurecht. Ich schätze ihn hoch, weil er der Krücke jeder Erlösungshoffnung für den Lebenswillen entsagt und dazu nicht einmal den Atheismus nötig hat, dessen Eifern oft an den Fuchs erinnert, der die Trauben verachtet, weil sie ihm zu hoch hängen. Man soll Epikur aber keine Verdienste anhängen, die er nicht hat. Ihrer einseitigen Option für einen Menschentyp kann ich keineswegs beipflichten. Sie bringen meine Meinung, daß „wir“ – gemeint: alle Zeitgenossen, nicht nur die von Stirner oder Epikur Ausgezeichneten – für das

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Gedeihen unserer Kultur labile Charaktere so gut wie stabile brauchen, bei dem (von Ihnen Kant zugeschriebenen) Versuch unter, sich als vermeintlich Starker großartig „über das Schafstall-Leben seines Hausviehs zu erheben“. Ich würde meine Mitmenschen niemals zu Hausvieh im Schafstall herabsetzen wollen. Vielmehr bin ich der Meinung, daß auch die eher labilen, ablenkbaren, formbaren, deswegen aber keineswegs notwendig haltlosen Persönlichkeiten eine eigentümliche, durch Andersartige nicht ersetzbare Stärke besitzen können, weil sie für Schicksale offener sind und an ihrer unvorhersehbaren Ergriffenheit sich etwas abzeichnen kann, das an Personen mit fast automatisch festem, unbeirrbarem Wollen leichter abgleitet. Wie das Leben die Menschen formt, das ist das Interessanteste an ihnen, und dafür brauchen wir die labileren Charaktere, so wie die stabileren für die Festigkeit des Widerstandes gegen die flüchtig umtreibenden Impulse, die Sie als „die Buntheit, das Tempo, die Kreativität der Moden etc.“ anprangern. Die Menschen mit starkem Daimon bringen Linie und Richtung in das Leben, die Menschen mit schwachem Daimon sorgen für offene Empfänglichkeit. Bei Goethe mischt sich beides, aber doch mit einem Übergewicht der Daimon-Schwäche, gegen die sich namentlich der alte Goethe mit einem Labyrinth teils seltsamer Verschanzungen abzusichern versteht. (Denken Sie auch an sein lyrisches Alters-Hauptwerk, die „Trilogie der Leidenschaft“ mit der Marienbader Elegie in der Mitte.) Die Kürze meiner Behandlung Stirners ergibt sich aus der radikalen Schlichtheit seines Gedankens, die eine Folge der brutalen Ehrlichkeit ist, womit er die romantische Ironie, die rezessive Entfremdung der Subjektivität, beim Wort nimmt. Vom Nomos der Persönlichkeit in meinem Sinn finde ich nichts in seinem Begriff der Eigenheit, den ich als bloß formal verstehe: Wenn ich meine Sache auf Nichts gestellt habe, d.h. an keinem Standpunkt hafte, kann ich auch auf keinem verhaftet und festgehalten werden, sondern bin so frei, mir herauszunehmen, was ich gerade will, und jede Stellung einzunehmen, die mir paßt. Mit Hegel gesprochen: „Jeder wird zunächst in sich finden, von allem, was es sei, abstrahieren zu können und ebenso sich selbst bestimmen, jeden Inhalt durch sich in sich setzen zu können (…).“ Hegel „demokratisiert“ hier den Eigner zur Verfügungsmacht jedes beliebigen Menschen; dieses „falsche Bewußtsein“ ist heute die große Gefahr, die von Stirner und Hegel als seinem Propheten auf die Menschen etwa in der Gestalt des Fernsehzuschauers und Computerfans mit virtual reality ausstrahlt. 27. September 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, heute bin einmal ich etwas in Eile, weil ich morgen verreise: für zwei bis drei Wochen in die Bretagne, zur Regeneration nach diesem „Jahrhundertsommer“. Ich möchte aber vorher noch auf Ihren Brief vom 19.9.

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eingehen, wenn auch nur kurz, hoffentlich nicht so kurz, dass neue Fehlverständnisse entstehen. Sie halten meinem in früheren Briefen beiläufig skizzierten EpikurBild entgegen: „Wenn es unter den antiken Schulgründern je einen gab, der seine Schüler geistig versklavte, dann war es Epikur.“ Als Beleg zitieren Sie eine längere Passage aus Zeller („Philosophie der Griechen“, 1923, 1963), dessen Quellen ich bei ihm nachlesen müsste. Aber ich kann mich auf ein wirklich kritisches Studium der Quellen aus mehreren Gründen (u.a. Kompetenz- und Zeitmangel) nicht einlassen. Die zitierte Passage allein macht mich allerdings schon etwas skeptisch gegenüber Zellers Haltung: etwa, dass er insinuiert, Epikur habe die abgöttische Verehrung seiner Schüler genossen. Ohne die Quellen, die Zeller derart interpretiert, zu kennen, könnte ich zugeben, es sogar für wahrscheinlich halten, dass Epikur kaum andere Schüler gefunden hat als solche, die ihn abgöttisch verehrten. Ich würde jedoch hinzuvermuten, dass Epikur darunter gelitten hat. Aber auch er konnte nichts daran ändern, dass die „servitude volontaire“ (La Boëtie) – eine wesentliche Eigenschaft des Menschen mit „schwachem Daimon“ – ubiquitär war (sie ist natürlich noch immer aktuell). Ich betrachte Epikurs Garten ja nicht als so etwas wie ein verlorenes reales Paradies, sondern eher als eine Utopie. Möglicherweise idealisiere ich ihn damit – was aber im Grunde unerheblich wäre. In unsere Diskussion kam er im Zusammenhang der Besprechung von Stirners Utopie eines „Vereins“ aus „Eignern“ hinein, also eines Zusammenschlusses von Menschen mit „eigenem inneren Kompass“ oder „starkem Daimon“ (wobei die Wahl dieser Worte aus unseren vorhergehenden Diskussionen stammte). Sie sagten (am 2.9.), eine solche Utopie würde bei Realisierung in Langeweile und Sterilität münden; ich entgegnete (am 17.9.), dass mir die Art von Buntheit, Kreativität etc., die heute, wo Menschen mit schwachem Daimon auf allen Gebieten den Ton angeben (die „Quote“ in Medien und Politik; der „freie Markt“, der alle nachfragenden Bedürfnisse – außer Kinderpornographie – bedient), sehr fragwürdig erscheint. Zeller wirft Epikur weiterhin Dogmatismus und die Überzeugung von der Vortrefflichkeit seiner Lehre vor; er sieht es als schlechtes Zeichen, dass spätere Anhänger seiner Lehre (also nicht nur die, die er lt. Zeller noch selbst zu deren Auswendiglernen gezwungen haben soll) unverbrüchlich an ihr festhielten. (Warum ist das schlecht?) Sie, Herr Schmitz, schließen sich dem mit dem Hinweis auf die „enorme Liberalität“ und der „eifrigen Diskussion des Für und Wider“ an, die in der platonischen Akademie üblich gewesen, wo es also sehr „demokratisch“ zugegangen sei. Aber gerade wir Heutigen, die wir unter dem Regime der Demokratie leben und die (politischen wie wissenschaftlichen) Diskussionen im Schutz eines weitgehenden Liberalismus erleben, können diese „Werte“ doch m.E. nicht mehr ohne weiteres absolut setzen. – Ich habe überhaupt keinen Grund, Epikur zu

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verteidigen; nur: in meinen Augen fallen die Vorwürfe, die Zeller und Sie gegen ihn (lt. Ihrem Brief vom 19.9.) erheben, auf die Ankläger zurück. Ihrem Bekenntnis, Epikur hoch zu schätzen, weil er nicht einmal den Atheismus nötig hat, fügen Sie eine kleine Spitze gegen die Atheisten hinzu, weil deren häufiges Eifern an den Fuchs denken lasse, dem die süßen Trauben zu hoch hängen. Hier kann ich Ihnen zustimmen: wenn ich zum Beispiel an Atheisten wie Diderot und Holbach denke, die La Mettrie u.a. hassten, weil er in dieser Frage „wie Epikur“ dachte. Auch die so verschwiegene wie unerbittliche Feindschaft Marx’ und Nietzsches gegen Stirner ließe sich trefflich unter diesem Aspekt betrachten. – Keine Angst: ich höre schon auf mit dem, was Sie vielleicht als Propaganda für meine Schrulle „LSR“ betrachten. Noch kurz zu einem Missverständnis: ich habe nicht gesagt, dass Sie Ihre Mitmenschen zu Hausvieh im Schafstall herabsetzen wollen. Es ging um ein nicht ausgeschriebenes Kant-Zitat aus „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“, das so lautet: Es würden „bei einem arkadischen Schäferleben, bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe, alle Talente ewig in ihren Keimen verborgen bleiben. Die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zweckes, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen.“ Die Mentalität, das (empirisch sicher gut begründbare) Menschenbild, das aus diesen Worten spricht und mit unwesentlichen Abweichungen vielen Philosophien/Religionen/Lebenslehren zu Grunde liegt, kam mir anlässlich Ihrer Begründungen dafür, dass „wir“, „wir alle“, die labilen Charaktere unbedingt brauchen, in den Sinn. Ich kann Ihren formulierten Begründungen nicht folgen, und meine Gründe dafür dürften inzwischen deutlich geworden sein. Sie selbst äußern ja gelegentlich Ihre Besorgnis über das Überhandnehmen solcher Charaktere, wenn Sie vom Computerfan oder Zapper sprechen – die ja auch per Gesetz die „mündigen Bürger“, die Wähler, die Marktteilnehmer sind. Natürlich funktioniert ein solches System nur mit massiver Manipulation. Nur verschwimmt immer mehr, wer hier eigentlich wen manipuliert … usw. usw. Ich glaube, wir würden, wenn wir darüber mehr redeten, in vielen Punkten einig gehen – gewiss aber nicht darin, dass diese „große Gefahr“, wie Sie sagen, „von Stirner … ausstrahlt.“ 12. Oktober 2003 Sehr geehrter Herr Laska, da heute ein sonniger, ruhiger Sonntag angebrochen ist und Sie von Ihrer Reise in der nächsten Woche zurück sein könnten, habe ich Ihren

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Brief vom 29.09. wieder vorgenommen. Ihr nostalgischer Rettungsversuch für Epikurs Liberalität wird sich nicht halten lassen. Eduard Zeller war ein großer Gelehrter des 19. Jahrhunderts, der sein Leben hauptsächlich der Aufgabe widmete, die gesamte damals verfügbare Überlieferung der griechischen antiken Philosophie präsent zu haben und in einem vielbändigen Standardwerk zu verarbeiten. Was er über Vorsokratiker, Platon und Aristoteles sagt, ist – auch durch meine Arbeiten – im Ganzen hoffnungslos veraltet (in Bruchstücken noch nutzbar), aber durch die äußerst unübersichtliche hellenistische Philosophie ist er immer noch ein trefflicher Führer, da er unter dem Strich alle benützten Quellen im Original ausschreibt, so daß man (außer textkritisch) nicht nachzuschlagen braucht. Der Stand der heutigen Epikurforschung ist kürzlich von Michael Erler im „neuen Überweg“ (Handbuch der Geschichte der Philosophie) mustergültig (nur ohne Quellenzitate) zusammengefaßt worden. Ich habe das kürzlich erst gelesen und könnte Ihnen die für Epikurs „Liberalität“ einschlägigen Stellen, die das selbe Bild wie bei Zeller geben, herauskopieren, wenn ich wieder einmal ins Philosophische Seminar, meine alte Arbeitsstelle, komme. Viel wichtiger für uns jetzt als Epikur, den ich – ebenso wie Sie – sehr schätze, mit seinen Schrullen ist Ihr Plaidoyer für Stirners „Verein“ starker Eigner im Gegensatz zu dem, was als „enorme Liberalität“ mit „eifrigen Diskussionen des Für und Wider“ herauskommt, wenn „labile Charaktere“ beteiligt sind, die mir nach Ihren Worten „Besorgnis über das Überhandnehmen solcher Charaktere“ eingeben, wo ich vom „Computerfan oder Zapper“ spreche. Zunächst ohne Rücksicht auf die labilen Charaktere: Die freie Diskussion unter Gleichen, wie sie in der Akademie unter Platons Leitung üblich gewesen zu sein scheint, habe ich als Errungenschaft der abendländischen Intellektualkultur, an der unbedingt festgehalten werden sollte, mit Nachdruck verteidigt, auch das Erbe der Französischen Revolution in dieser Hinsicht, vgl. „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 404. Nun aber zum Verein: Ich habe – zuerst in meinem Aufsatz „Ethos und Rationalisierung“ (Philosophisches Jahrbuch 95, 1988, 225–234) zwei Wege der zunehmenden Zersetzung der implantierenden Situationen in der Neuzeit (etwa ab 1600) unterschieden: 1. den Weg der Virtuosierung, im katholisch-romanischen Bereich ausgehend von dem abtrünnigen Jesuiten Gracián über die französische Salonkultur des 17./18. Jahrhunderts bis zur hochbürgerlichen Kultursynthese dieser Salonkultur mit dem Erbe der Goethezeit im 19. Jahrhundert; an die Stelle der implantierenden Situationen treten includierende, in denen die Persönlichkeit nicht mehr so tief verwurzelt ist, die die „Eingeweihten“ aber ganzheitlich virtuos als gebildete Lebensform (Lebensform der Gebildeten) beherrschen: die bürgerliche Gesellschaft. 2. den Weg der Rationalisierung (im Sinne Max Webers), im angelsächsisch-protestantischen Bereich ausgehend von den Puritanern und Yankees; an die Stelle der implantierenden Situationen treten nicht ebenso ganzheitlich

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eingespielte includierende, sondern explizite Regelsysteme, Konstellationen oder Vernetzungen einzelner Regeln. Erst seit dem Ende des 1. Weltkrieges setzt sich die Rationalisierung erfolgreich gegen die Virtuosierung durch. Dominanz der implantierenden Situationen schafft Gemeinschaften, Dominanz der includierenden Situationen Gesellschaften (z.B. der virtuosen Könner des gesellschaftlichen freien Gesprächs und Umgangs in den Salons), Dominanz der expliziten Regelsysteme Vereine mit Statuten. Die Rationalisierung begünstigt die Labilisierung der Charaktere, indem deren schwankendes Belieben leicht durch das dünne formale Gerippe von Regeln fallen kann, an dem sie sich nach dem Fall wieder notdürftig festhalten können („soziales Netz“). Zur Heilung dieser Haltlosigkeit empfehle ich die Rehabilitierung implantierender Situationen; das zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Korrespondenz. Sie dagegen hoffen auf einen Verein (in etwas anderem, aber vergleichbarem Sinn) der „Starken“, genauer: der Menschen mit starkem Daimon. Ob die aber geneigt sein werden, sich zusammenzuschließen, ist mir sehr zweifelhaft; eher geht jeder unbeirrt seinen Weg auf eigene Faust, auch im Bunde mit labileren, dadurch zugleich offeneren Persönlichkeiten, die ihm zur Ergänzung gut sein können. 21. Oktober 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, was ich über Epikur schrieb, war überhaupt nicht, wie Sie vermuteten, als „nostalgischer Rettungsversuch für Epikurs Liberalität“ gedacht; ich wollte auch beileibe nicht gegen Experten für hellenistische Philosophie wie Eduard Zeller, Hermann Schmitz oder Michael Erler antreten und erhebe keinerlei Anspruch auf Kennerschaft. – Wir kamen auf Epikur zu sprechen, weil ich am 23.8. zu erläutern versucht habe, welche Art Menschen ich mit „starkem Daimon“ / „eigenem Kompass“ (Ihre Begriffe) ausgestattet sehe: nämlich nicht die (scheinbaren) Kraft- und Tatmenschen, die von den Massen der Menschen mit schwachem Daimon / ohne eigenen Kompass aus ihrer Mitte zu ihren Führern, Helden und Idolen gekürt werden und ihnen dann als groß bzw. übergroß erscheinen. Ich habe diese bis dato übliche kollektive Lebensform in zugespitzter Formulierung Wahngenossenschaft genannt und die Auffassung vertreten, dass ein Mensch mit genuin starkem Daimon in dieser (durch die westliche Demokratie keineswegs überwundenen) Lebensform der Menschen, wie in der Antike, am besten nach der Maxime „lathe biosas“ (über)lebt (vgl. den vierten Absatz meines Briefes vom 23.8.). Sie haben am 26.8. bestätigt, dass Epikur und seine Freunde „gleichsam mit eingezogenem Kopf“ leben mussten, bestanden aber darauf, dass sowohl er als auch jene, vor denen er sich verstecken, für die er sich unkenntlich machen musste, in gemeinsamer implantierender Situation lebten. Entsprechend lehnten Sie meine These ab, Epikur habe

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sich vor der Verfolgung (und evtl. Ermordung) durch die damalige „Wahngenossenschaft“ in Schutz gebracht, und hielten mir (am 2.9.) entgegen, das Diskussionsklima im damaligen Athen sei sehr „liberal“ gewesen, ganz im Gegensatz zu jenem im Kreise des Epikur, der, wie Sie am 19.9. schrieben, seine Schüler „geistig versklavte“ wie sonst keiner der antiken Schulgründer; verborgen habe er sich und seine Freunde nur, weil es politisch unruhige Zeiten des Umbruchs waren. Ich fand und finde Ihre Argumentation nicht plausibel und habe erklärt, dass ich, was immer Experten aus den wie immer überlieferten Quellen herauslesen mögen, Epikurs Garten eher als eine Utopie ansehen möchte, bei der es zunächst einmal unerheblich ist, ob bzw. dass ihr Verwirklichungsversuch damals scheiterte (vgl. meinen Brief vom 27.9.). Ich werde mir bei Gelegenheit einmal die von Ihnen empfohlene Zusammenfassung des heutigen Stands der Epikur-Forschung durch Erler ansehen, kann mir aber nicht vorstellen, dass dadurch der Kern der Gestalt Epikurs, wie ich ihn sehe, in Frage gestellt werden sollte. Im Grunde geht es hier wieder um die in unserem Briefwechsel stets in dieser oder jener Form latent vorhandene Frage der Möglichkeit zweier Arten von „gemeinsamen implantierenden Situationen“, näherhin um die Frage, ob nach der weitgehenden Zersetzung der gemeinsamen implantierenden Situationen, wie sie aus der Geschichte bekannt sind (mit „Wahn“), nach Überschreiten der neuzeitlichen „Epochenschwelle“ eine neue Art von gemeinsamen implantierenden Situationen (ohne „Wahn“) entstehen kann. Was Sie über die beiden Wege der Zersetzung der implantierenden Situationen in der Neuzeit schreiben, kann ich im Großen und Ganzen akzeptieren, auch, dass die immer stärker dominierende, aus dem angelsächsisch-protestantischen Bereich kommende „Rationalisierung“ die Labilisierung der Charaktere begünstigt (et vice versa). Was ich nicht akzeptiere, ist Ihre Verknüpfung der für jene Rationalisierung charakteristischen expliziten Regelsysteme bzw. des „Vereins mit Statuten“ mit dem „Verein“ im Sinne Stirners. Während Sie in Stirner den Propheten des grassierenden westlichen „Individualismus“ sehen, erblicke ich bei ihm jedenfalls den Keim zu eben dessen Überwindung, der deshalb so kostbar ist, weil er sonst bei keinem Denker (ich sehe ihn allerdings noch bei den von Ihnen so gering geschätzten La Mettrie und Reich) zu finden ist. Stirners „Verein“ braucht aber nicht antizipierend beschrieben zu werden; er ist als die Form des Zusammenlebens von „Eignern“ zu verstehen, von Menschen, deren Enkulturation nicht darin bestanden hat, dass ihnen ein „irrationales ÜberIch“ (im Sinne Reichs auch körperlich zu verstehen) eingepflanzt wurde, oder die die Kraft und das Glück hatten, sich im Laufe ihres Lebens über dieses, im Sinne Stirners, „empören“, also emporentwickeln, erheben zu können.

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Im Zusammenhang mit der „enormen Liberalität“, der „freien Diskussion unter Gleichen“, die Sie in Platons Akademie, nicht aber in Epikurs Kepos feststellen, verweisen Sie mich auf Ihr Hitlerbuch, S. 404. Wenn ich Sie dort richtig verstehe, sehen Sie die freie Diskussion unter Gleichen als ein gegenwärtig nicht erfüllbares Desiderat an, als ein Unternehmen, das nur glücken kann, wenn ihm (statt eines freischwebenden Enthusiasmus, z.B. der Brüderlichkeit) der Nomos einer implantierenden Situation zu Grunde liegt. Da kann ich Ihnen durchaus zustimmen, allerdings nicht mit rückgewandtem Blick auf antike Vorbilder, wie Sie sie herbeizitieren (auch nicht auf Epikur), sondern im Sinne meiner oben skizzierten Vision eines gänzlich neuartigen Nomos, wie er sich nach einer Meisterung der „Epochenschwelle“ ausbilden könnte. Erzwingbar ist eine solche implantierende Situation, wie Sie zu Recht sagen, gewiss nicht. Nur scheint mir Ihre Empfehlung, zu ihrer Herbeiführung pädagogisch das solidarische Pflichtbewusstsein zu stärken, bei weitem nicht ausreichend, vor allem nicht tiefgreifend und umfassend genug. – Treten wir einen Schritt zurück, so sehen wir: „die Menschen“ werden weder Ihren noch meinen Ratschlägen Folge leisten. Das lässt mir meine Bemühungen jedoch nicht vergeblich erscheinen: was mir unauslöschlich bleibt, ist – Selbstbehauptung. 22. Oktober 2003 Sehr geehrter Herr Laska, inzwischen habe ich aus der Epikur-Darstellung von Erler für Sie die Seiten kopiert, die sich auf die „Verfütterung“ der Dogmatik und Heldenverehrung an die Schüler beziehen (u.a.) und insofern dem von mir früher ausgeschriebenen Text Zellers einigermaßen entsprechen. Die 4 Seiten liegen bei. Nur leider vergaß ich, die bibliographischen Angaben zu notieren; jedenfalls handelt es sich um den ersten der beiden Bände „Hellenistische Philosophie“ aus dem sog. Neuen Überweg, der im Entstehen (mit unabsehbarer Bücherzahl) befindlichen gänzlichen Neubearbeitung des „alten“ Überweg, der für die antike Philosophie der Überweg-Praechter war. Nicht ganz richtig verstehen Sie nach Ihrem Brief vom 21.10., was ich auf S. 404 des „Hitler“-Buches über Freiheit der Diskussion schreibe. Nicht dieser für sich allein sage ich Angewiesenheit auf den Nomos einer implantierenden Situation nach, sondern der Ausgewogenheit der ohne solchen Nomos nur notdürftig und lückenhaft vereinbaren Ideale von Freiheit und Gleichheit, auf die beide nicht verzichtet werden darf. Die Meinungsfreiheit oder, wie Marquis Posa im Don Carlos sagt, Gedankenfreiheit offener Diskussion mit rationalen Kriterien halte ich für eine großartige und unveräußerliche Errungenschaft des Abendlandes, die hauptsächlich ein Mann installiert hat, der aus dem Milieu der platonischen Akademie kam, nämlich Aristoteles, nicht nur durch seine immer scharfsinnige und spitze, manchmal spöttische Kritik, sondern auch durch seinen vorbildlich

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aporetischen, unablässig Probleme wälzenden, vorsichtig alle relevant scheinenden Gesichtspunkte und Beobachtungen integrierenden, für Revisionen sich offen haltenden Denkstil. Zweimal hat dieser Mann das Abendland vor dem Absinken in eine magisch-phantastische oder priesterlich-autoritäre Dogmatik bewahrt: gegenüber dem magisch-phantastischen, in der Spätantike überhand nehmenden Erbe des esoterischen Illuminismus Platons und dann im Mittelalter, als mit dem Einstrom der aristotelischen Lehrschriften in der Hochscholastik der Bann der zelotischen Diktatur des katholischen Priestertums über die Gedanken gebrochen wurde. Epikur ist in dieser Hinsicht aber Anti-Aristoteliker und steht zwar inhaltlich in schärfstem Gegensatz zur Priesterkultur, methodisch aber auf deren Seite. Ich bin ganz Ihrer Meinung, daß für die Rehabilitierung implantierender Situationen meine Empfehlung, „pädagogisch das solidarische Pflichtbewußtsein zu stärken, bei weitem nicht ausreichend, vor allem nicht tiefgreifend und umfassend genug“ ist. Diese Empfehlung ist mir ein Wink, ein Rat, wie man sich auf einen Weg begeben könnte, der im Übrigen noch im Dunkel liegt. Irgendwo muß man ja anfangen, sonst bleibt es bei abgehobenen Deklamationen. Ich habe immer betont, daß ich keine Rezepte für künftige Lebensgestaltung liefern, sondern nur eine Sprache vorbereiten kann, deren sich die Menschen vielleicht mit Nutzen bedienen können, wenn sie sich dazu durchgerungen haben, ihren Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern und deren Spielraum (zwischen primitiver und entfalteter) auszuloten. Was die Menschen tatsächlich tun werden, wage ich nicht vorherzusagen, auch nicht, ob sie Ihren oder meinen Ratschlägen Folge leisten werden. Ich bin auf Überraschungen aller Art gefaßt, namentlich im Zusammenhang mit der von mir aufgedeckten Unbestimmbarkeit der in Populationen kollektiv dominanten leiblichen Disposition, worüber ich mich besonders in den beiden letzten Aufsätzen der 2. Auflage meines Buches „Leib und Gefühl“ (Paderborn 1992) verbreitet habe. 6. November 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, haben Sie besten Dank für die Kopien aus Erlers Darstellung des Epikur im neuen Überweg. Ich nehme an, dass das kopierte Kapitel B.1 jenes ist, das Ihre im Brief vom 12.10. gebrachten Einwände gegen meinen – vermeintlichen – „nostalgischen Rettungsversuch für Epikurs Liberalität“ stützen soll. Sie schrieben, Erler habe den heutigen Stand der Epikurforschung mustergültig zusammengefasst. Das kann ich als Nichtfachmann nicht bestreiten; doch muss ich sagen, dass ich durch den Auszug den Eindruck gewann, dass auch bei Erler altbekannte „ideologische“ Einstellungen den Blick auf Epikur bestimmen. Erler schreibt auf Seite 49: „Wie Platon verlangt Epikur nämlich wiederholt … Memorieren und Wiederholung des Vorgetragenen. Bei ihm geht es jedoch, anders als bei Platon, nicht um

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selbständiges Suchen von Wahrheit, sondern um Memorieren der Lehre.“ Aber er begründet seine eher en passant geäußerte Vorliebe für Platon und Abneigung gegen Epikur, jedenfalls in diesem Text, nicht mehr, wie frühere Autoren, mit Epikurs Auffassung von Lust, sondern, weil dieser seine Schüler, wie Sie es am 19.9. – deutlicher als er in seinem in wissenschaftlichem Stil gehaltenen Text – ausdrückten, „geistig versklavte“ wie sonst keiner der antiken Schulgründer. Das ist in meinen Augen die Haltung und Begründung, die in unserer Zeit, die so demonstrativ wie ideologisch verblendet den „lustbejahenden“ und „mündigen“ Bürger, das „selbstbestimmte Individuum“, feiert, opportun ist. Ich habe mir, angeregt durch unsere Diskussion, kürzlich wieder einmal meine alte Epikur-Literatur angesehen, u.a. eine Ausgabe von Epikurs Schriften, die von Olof Gigon eingeleitet ist (Artemis 1949, 1968, 1983). Dort steht als erster Satz: „Kaum einer der berühmten griechischen Philosophen ist bis heute so gründlich missverstanden worden wie Epikur (341– 270 v. Chr.), weil sein zentraler Begriff der ‚Lust‘ immer wieder als Aufforderung zu hemmungsloser Schlemmerei, zu Ausschweifung und schrankenlosem Egoismus interpretiert wurde.“ Heute, in der „Spaßgesellschaft“, der auch Konservative immer weniger Substantielles entgegenzusetzen vermögen, scheint dieser Satz Gigons obsolet. Er ist es aber nicht für den, der sich von der heutigen „sexuellen Freiheit“ und von dem modernen „Selbstverwirklichungs“-Individualismus nicht blenden lässt und vielmehr darin die bisher raffinierteste Erscheinungsform von Lustfeindschaft und Unmündigkeit zu erkennen versucht. Das genau ist ja, wie Sie sicher schon erraten haben, mein Lebensthema, an das ich mich über meine drei „Helden“ und deren Schicksal heranarbeite. Nicht nur Epikur wurde stets „gründlich missverstanden“, sondern auch und erst recht La Mettrie, Stirner und Reich, und zwar nicht so, wie praktisch jeder hier und da missverstanden wird, sondern auf eine ganz spezifische Weise. Gigon meint nun, in seiner Einleitung eine Lanze für Epikur brechen zu können, indem er sagt, „dass Epikur in Wahrheit das genaue Gegenteil meint“ (von dem oben Zitierten). Dabei scheint er den erwähnten Gedanken des Missverstehens ganz naiv zu nehmen, d.h. so, als ob man nur gründlicher lesen, korrekter übersetzen und historisch umfassender einzuordnen hätte und dann schon richtig verstehen würde. Das Missverstehen ist aber m.E. primär Ausdruck und Folge eines sehr wohl von Beginn an gespürten, geahnten oder gar bewussten Verstehens zumindest des Kerngehaltes der Lehre; dies natürlich nicht auf Seiten aller Leser, sondern nur bei den sensibelsten, dann auch aktivsten und späterhin wirkungsmächtigsten (weil sie ein allgemein verbreitetes Bedürfnis nach Abwehr des Kerns der Lehre bedienten). Auf prinzipiell diese Weise wurden auch La Mettrie (durch Voltaire, Diderot & Co), Stirner (durch Marx, Nietzsche & Co) und Reich (durch Freud, Marcuse & Co) verstanden und – klandestin – bekämpft,

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und dies mit sehr großem Erfolg. Gigon nun, um auf ihn zurückzukommen, sieht diese „gesellschaftliche“ Dimension des Missverstehens Epikurs nicht. Dies wird am deutlichsten in folgendem Satz (S. 54), der Epikurs Grundhaltung zu den „Anderen“ charakterisieren soll: „Auch wo die Kulte von einer für ihn falschen Gottesvorstellung ausgehen, wird der Weise jeden Anstoß vermeiden und aus Rücksicht auf die Mitmenschen den Kult mitmachen.“ Aus Rücksicht? Nein, aus Furcht! Wenn es dem Weisen auch mit Hilfe des Nachvollzugs von Epikurs Lehre (nicht dem dumpfen Memorieren, aber auch nicht der sich als „selbständig“ aufspreizenden „Wahrheitssuche“) gelingen kann, die Furcht vor den Göttern und vor dem Tode zu überwinden, so bleibt doch die Bedrohung durch jene Mitmenschen, die stattdessen lieber einem Kult angehören („Wahngenossen“ in meinen früheren Briefen), und das ist die große und kompakte Mehrheit. Diese Menschen dulden erfahrungsgemäß nicht, dass einer den Kult nicht mitmacht und gehen rigoros gegen ihn vor, die Gründe dafür einmal dahingestellt. Nur aus Furcht vor ihnen muss der Weise, weil ihm sein Leben nicht gleichgültig ist, die Selbstentwürdigung vollziehen, an ihrem Kult teilzunehmen, doch keinesfalls aus „Rücksicht“. Besser freilich ist es, wenn es ihm gelingt, den Grundsatz „lathe biosas“ zu praktizieren: ein Leben unter „Freunden“, die eben keine Wahngenossen sind und durch einen Kult zusammen gehalten werden. – Dass diese Idee in der Praxis des Kepos und erst recht bei den späteren Epikur-Anhängern nicht rein gelebt wurde, auch in Richtung eines Epikur-Kultes deformiert wurde, erscheint mir sehr wahrscheinlich bis sicher. Von daher mag auch diese oder jene belegte punktuelle Kritik an Epikur, auch an der wissenschaftlichen Haltbarkeit seiner Lehre, erst recht an der Praxis seiner Anhänger, berechtigt sein. Dennoch scheint mir, nach erneutem Durchblättern seiner Texte, heute mancher noch so „aufgeklärte“ und hochgebildete Zeitgenosse das Niveau der Epikur’schen Lehre nicht erreicht zu haben. 9. November 2003 Sehr geehrter Herr Laska, da Sie in Ihrem Brief vom 6.11. von einem Verstehen zumindest des Kerngehaltes der Lehre Epikurs sprechen, um ihn an die Seite Ihrer neuzeitlichen Herren LSR zu setzen, lege ich diesem Brief die Kopie einer handschriftlichen Ausarbeitung bei, in der ich kürzlich zusammengefaßt habe, was ich an Epikurs Ethik bewundere und was ich daran auszusetzen habe. Da ich solche Arbeitspapiere sonst nicht zu verteilen pflege, bitte ich Sie, den Aufsatz nicht weiterzugeben. Ihrer Meinung, daß Epikur aus Furcht vor Bedrohung durch irgend welche Wahngenossen den öffentlichen Kult mitgemacht und sich mit seinen Schülern in die Intimität des Gartens zurückgezogen habe, halte ich für abwegig. Die für Philosophen gefährlichen Asebieprozesse von Seiten der öffentlichen Kultgemeinde

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fallen ins 5. Jahrhundert (Anaxagoras, Protagoras; man kann noch den Sokratesprozeß von 399 hinzunehmen). Zwar mußte sich noch Aristoteles gegen Ende seines Lebens von Athen nach Euböa zurückziehen, um nicht das Schicksal des Sokrates zu erleiden, aber das hatte vermutlich politische Gründe (Haß der Athener gegen den Makedonen und Freund der makedonischen Regierung). Im Hellenismus hatte man sich an die Philosophen gewöhnt; von Verfolgern Epikurs ist mir nichts bekannt. Im Gegenteil: Horaz, der römische Staatsdichter, über Maecenas eng mit dem für Disziplin und strenge Sitten engagierten Kaiser Augustus verbunden, rühmt sich für sein Wohlleben wie ein antiker LaMettrie als Schwein aus der Herde Epikurs (Epicuri de grege porcum, Epistulae I 4, 16), und niemand scheint etwas dabei gefunden zu haben. Selbstverständlich ist das eine grobe Karikatur des epikurischen Lustverständnisses, vgl. meinen Aufsatz, aber daß man sie sich unter den Augen des Augustus ungestraft leisten konnte, spricht doch für die Liberalität des Zeitalters. Bezüglich der Kritik an der heutigen Hypertrophie der „Spaßgesellschaft“ und des „Selbstverwirklichungs-Individualismus“ sind wir zwar einig, aber ich stimme Ihnen nicht zu, wenn Sie zum Zweiten das „selbständige Suchen nach Wahrheit“ in der Schule Platons nach Erler und zum Ersten die moderne „sexuelle Freiheit“ in Analogie setzen. Zum selbständigen Suchen nach Wahrheit: Ich halte die Begründung der europäischen Intellektualkultur durch die Sophisten nach der Schlacht bei Salamis (d.h. den Perserkriegen) für eine denkwürdige Errungenschaft, die wir mit Zähnen und Klauen gegen jede „Priesterkultur“ im weitesten Sinn des Wortes verteidigen sollten, so wie es nach Anschub durch die aristotelischen Schriften im hohen und späten Mittelalter und dann noch einmal in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts gegen die christliche Priesterkultur gelungen ist. Unter „Intellektualkultur“ verstehe ich die Erlaubnis für jeden, der durch verständige Einarbeitung die nötige Kompetenz erlangt hat, begründete rationale Kritik an allem, was er kritisieren möchte, zu üben und sich damit der Antikritik aller anderen auszusetzen. Das schmähliche Gesetz gegen die „Auschwitz-Lüge“ ist ein moderner Rückgriff auf die Priesterkultur, die heute „political correctness“ heißt. Zur sexuellen Freiheit: Die Freigabe sexueller Gelüste (außer Pädophilie) halte ich für einen großen kulturellen Fortschritt, weil damit die unsägliche Verlogenheit und Verbiegung, über die sich Fontane, Ibsen und andere empörten, auf ein sägliches Maß zurückgeschnitten wird. Der Mensch soll ruhig den Mut haben, sich und anderen seine Gelüste einzugestehen. Aber es kommt darauf an, was er daraus macht. Diese Probe haben die von der „sexuellen Revolution“ erfaßten Deutschen nach meinem Eindruck gut bestanden. Die sexuelle Revolution ist in der Praxis – anders als in den Medien – auffallend leise und dezent verlaufen. Die jungen Leute sind weder der Promiskuität noch dem Orgasmusfimmel verfallen, sondern jeder sucht sich, wenn er will, einen Partner,

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mit dem er loyal zusammenlebt, bis das Paar einen Grund findet, sich zu trennen. So wächst im kleinsten, bescheidensten Rahmen wieder ein Leben in implantierenden Situationen heran, ehrlicher und rechenschaftsfähiger vielleicht als das Leben im Leitbild der lebenslangen Einehe. 24. November 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, die Zusendung von Kopien Ihrer 8-seitigen handschriftlichen Ausarbeitung zu Epikur – für die ich Ihnen hier danken möchte; und die ich, gemäß Ihrem Wunsch, niemandem zugänglich machen werde – scheint mir Teil einer Antwort auf den letzten Satz meines vorigen Briefes (6.11.) zu sein: „Dennoch scheint mir, nach erneutem Durchblättern seiner [Epikurs] Texte, heute mancher noch so ‚aufgeklärte‘ und hochgebildete Zeitgenosse das Niveau der Epikur’schen Lehre nicht erreicht zu haben.“ Wenngleich Sie im ersten Satz Ihres Briefes anzuzweifeln scheinen, dass ich den Kerngehalt der Lehre Epikurs verstanden habe bzw. meinen, dass ich mir diesen zwecks Anpassung an meine „neuzeitlichen Heroen LSR“ zurechtbiege, entnehme ich doch gerade Ihrem Text, dass Ihrem Bemühen, den (S. 1: „in der abendländischen“, S. 7: „in der antiken Philosophie“) „einzigartigen“ Beitrag Epikurs zu würdigen und auf unsere heutige Situation zu beziehen, eine ähnliche Intention zu Grunde liegt wie meinem Umgang mit meinen „Heroen“. Was uns trennt, ist die unterschiedliche, vermutlich sogar gegensätzliche Bewertung, die wir der Einzigartigkeit dieser Lehre (natürlich nicht in dem trivialen Sinn, dass jede nicht-epigonale Lehre einzigartig ist), genauer: von deren Kerngehalt, zumessen, d.h. der Tatsache, dass diese Lehre nicht ausgebaut und in das praktische Leben, für das allein sie gedacht ist, überführt wurde, sondern nur in verächtlichen Verballhornungen (nicht Karikaturen, wie Sie anlässlich Horaz schreiben) überlebt hat. Wenn Sie schreiben, dass es ein Zeichen für die große Liberalität unter Augustus war, dass Horaz sich gefahrlos als Schwein aus der Herde Epikurs in die Brust werfen konnte, so zeigt mir das bloß ein weiteres Mal, dass mit Liberalität allein noch wenig gewonnen ist (was gerade wir Heutigen doch allenthalben beobachten können). Ein Epikur oder ein echter Nachfahre hätte unter der Liberalität der Zeit des Augustus, ebenso wie Epikur selbst im (Ihren Worten zufolge) liberalen Griechenland, nach der Devise „lathe biosas“ leben müssen. Damit wären wir bei der Stelle Ihres Briefes, an der Sie sagen, Sie fänden folgende (mir zugeschriebene) Auffassung abwegig: nämlich, „dass Epikur aus Furcht vor Bedrohung durch irgendwelche Wahngenossen den öffentlichen Kult mitgemacht und sich mit seinen Schülern in den Garten zurückgezogen habe.“ Ich habe einen Satz des Epikur-Forschers Gigon zitiert, wo dieser davon spricht, dass nach Epikur der Weise „aus Rücksicht“

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auf seine Mitmenschen deren Kult mitmacht (ich sagte: aus Furcht). Gigon wundert sich zudem, dass bei Epikur radikal aufklärerische Passagen direkt neben realistisch konformistischen stehen. Mich wundert das nicht im Geringsten. Der Weise hatte allen Grund, um sein Leben zu fürchten, wenn er dabei auffällt, den Kult des Volkes nicht mitzumachen. Und ich kann mir Epikur nicht als Mann vorstellen, der für eine Idee den Schierlingsbecher akzeptiert hätte. Wenn Epikur, wie Sie schreiben, nicht behelligt wurde, so wahrscheinlich schlicht deshalb, weil er seinem „konformistischen“ Grundsatz getreu im Verborgenen lebte, und dies, weil er redlicherweise den Kult nicht mitmachen wollte. Gigons „Rücksicht“ ist entweder eine Verlegenheitsfloskel oder Verschleierung. Epikur handelte so aus Vorsicht. – Im Prinzip ist es doch noch immer so, obwohl es heute liberaler zugeht denn je: wer sich dem Konformitätsdruck nicht beugt und nicht im Verborgenen lebt, riskiert seinen – nicht mehr physischen, aber – sozialen Tod. Zu „beweisen“ ist das allerdings nicht so leicht, weil sich der heutige Liberalismus viele (scheinbare) Non-Konformisten leistet: als Gegenbeweise. Liberalität – in Ihren Briefen kommt sie stets nur mit ihrer Sonnenseite vor. Ich meine jedoch, dass ihre Schattenseite heute die größte Herausforderung für den Philosophen darstellt. Sie werden das schon an meinen Briefen gemerkt haben und mir kaum verdenken, wenn ich, der Schwere der Problematik angemessen, meine Skepsis jeweils nur punktuell artikuliere, so z.B. an dem Gegensatz von (autoritärer) Priesterkultur und (liberaler) Intellektualkultur, den Sie im letzten Brief vorstellen. Natürlich bin ich gegen erstere, die, wie Sie schreiben, heute „political correctness“ heißt. Aber „p. c.“ kommt, wie der nicht zu verdeutschende Name verrät, gewiss nicht zufällig aus eben dem Kulturkreis, der führend in puncto Liberalismus ist. Und die erkämpfte „Erlaubnis für jeden … zu kritisieren … etc.“ – was ist aus ihr geworden? Eine Sintflut von Gedankenmüll, aus der die vermutlich auch enthaltenen neuen und ernsthaften Gedanken kaum noch auszufiltern sind. In einem Klima der (Endzeit-)Liberalität, in dem z.B. Philosophie nur noch ein müßiges Spiel (und sonst vor allem Gelderwerbsquelle) ist, braucht zudem niemand zu befürchten, dass er sich mit einem Elaborat vor den Kollegen blamiert. Wie oft kommt mir ein Text einer Koryphäe unter, den ich niemals als Autor verantworten würde: so „grottenschlecht“, wie man heute sagt, ist er; aber Folgen bleiben aus. Sie sehen: nicht, dass ich gegen jene „Erlaubnis“ (von wem eigentlich?) bin; aber sie ist nicht mehr der Königsweg zur „Wahrheit“. Zeitgleich mit Ihrem Brief bekam ich eine Rezension des Heftes Nr. 16 der Zeitschrift „Der Blaue Reiter“ (Stuttgarter Zeitung, 8.11.2003). Dem Autor erschien Ihr Orgasmus-Artikel als „kurios“, mein Portrait La Mettries als eine „Ehrenrettung“ – welch’ Unverstand! Natürlich vermisst er de Sade und Bataille, die Heroen des Sexus der meisten heutigen Intellektuellen, denen Reich seit je als doktrinärer Spießer gilt. Aber zu dem, was

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ich auf S. 2 Ihres Epikur-Manuskripts über die Schwierigkeiten bei Epikurs Lustbegriff lese (z.B. „… dass der Gipfel der Seligkeit in etwas bestehen soll, wonach man keinen Bedarf mehr hat, wenn er erreicht ist“), könnte Reich hilfreich sein. Der Begriff sowie das Thema sind sachlich und sprachlich ausgesprochen schwierig, dies bei Epikur, wie ich lese, außerdem durch die Art der Überlieferung noch verstärkt. Was ich aber von und über Epikur las, jetzt auch Ihr Manuskript, bestärkt mich in der Auffassung, dass er, wenn überhaupt einer unter den antiken Philosophen, ein Vorläufer meiner „Heroen“ war. 26. November 2003 Sehr geehrter Herr Laska, mich freut, daß mein Aufsatz Sie in Ihrem „heroischen“ Bild von Epikur bestärkt hat, denn ich möchte ja niemandem „ein Bein stellen“, sondern jeden, soweit es angeht, auf seinem Wege zur Klarheit fördern, wenn es nur wirklich Klarheit ist. Das Einzigartige an Epikur unter den griechischen Philosophen sehe ich darin, daß er den Menschen einen Weg zeigt, sich in die Gegenwart, über die sie sonst hinwegleben, zu vertiefen. Aber diese Vertiefung bleibt bei ihm unvollständig. Sie läßt sich nicht auf den Spielraum der Gegenwart ein. Ich erinnere an den Schluß meines Aufsatzes. Sich in Epikurs Weise über den Tod zu beruhigen, ist leicht, weil er nur an den eigenen Tod denkt. Eine viel größere Schwierigkeit hat man mit dem Verschwinden eines nahestehenden Menschen. Dafür bietet Epikur keinen Trost. Und gegen den Schmerz hat er nur Ausflüchte. Er ist kein „Wellenreiter“. Die Empfehlung abgeschiedener Intimität (λαθἐ βιωσας) fasse ich nicht als Abschirmung gegen eingebildete Verfolger auf, sondern als Schutz für das Gleichmaß des Genusses verweilender Gegenwart vor Erschütterungen, die dieses Gleichmaß in personale Regression abstürzen lassen könnten. Bezüglich der Liberalität sehe ich keine Differenz zwischen uns. Ich stimme Ihnen völlig zu: Mit Liberalität allein ist wenig gewonnen, nicht einmal Befreiung vom Zwang, der durch Filter und Apparate der Meinungsbildung ausgeübt wird, und in der Tat beschert sie uns unter anderem einen riesigen Schutthaufen von Gedankenmüll. Das ist nicht anders zu erwarten angesichts der Führungslosigkeit des herrschenden Lebensstils in Abwesenheit des Heiligen und in Abkehr von implantierenden Situationen, die durch anonyme Systeme der zur Selbstbedienung einladenden Gängelung ersetzt werden, getreu der Devise Goethes: „Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben.“ Wir haben darüber kürzlich noch korrespondiert. Der Druck ist aber nicht so stark, daß der Einzelne nicht mehr sein Leben gestalten und zu Wort kommen könnte. Wir sind lebende Gegenbeweise. Das wäre anders, wenn der Grundsatz der Meinungsfreiheit abgeschafft würde, das, was Marquis Posa von König Philipp bei Schiller mit den Wor-

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ten verlangt: „Sire, gewähren Sie Gedankenfreiheit.“ Ich bleibe dabei, daß wir den antiken Sophisten des 5. Jahrhunderts v. Chr., den Hochscholastikern Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Siger von Brabant, Duns Scotus und Wilhelm von Ockham und den Aufklärern des 18. Jahrhunderts wie Voltaire, Diderot, Thomas Jefferson und Alexander Hamilton ewig dankbar sein müssen, daß sie diesen unorientalischen Grundsatz bei uns durchgesetzt haben, und gegen jede Priesterkultur auf der Hut sein müssen, um dieses Erbe zu bewahren. 11. Dezember 2003 Sehr geehrter Herr Schmitz, jetzt schreiben wir uns schon seit einigen Briefen über Epikur, von dem ich – erwartungsgemäß – ein etwas anderes Bild habe als Sie. Gemeinsam scheint uns jedoch die Hochschätzung dieses Philosophen gegenüber anderen Philosophen der griechischen Antike zu sein, weil er, besser als diese, den Weg zu einem „richtigen“ Leben weist (was Sie mit „Vertiefung in die Gegenwart“ umschreiben). Auseinander gehen unsere Ansichten, wenn es um die Interpretation von Epikurs Maxime „lathe biosas“ und deren zentrale Bedeutung für ein „richtiges“ Leben (ich bin versucht, hier ausnahmsweise das im Feuilleton verschlissene Adorno’sche „im falschen“ [der Anderen] hinzuzufügen) geht. Das müssen wir wohl auf sich beruhen lassen. Aber eine Frage sollte ich vielleicht doch noch stellen: Sie schrieben am 26.11., Epikur habe das Leben unter „Freunden“ im Kepos, abgeschieden vom politischen Leben der Anderen in der Polis, empfohlen und gewählt – nicht, wie ich meine, als Maßnahme zur Vermeidung von gewalttätigen Aktionen der Anderen, die sich durch seine Nichtteilnahme an deren „Kult“ provoziert fühlen, sondern – als „Schutz für das Gleichmaß des Genusses verweilender Gegenwart vor Erschütterungen, die dieses Gleichmaß in personale Regression abstürzen lassen könnten.“ Meinen Sie also wirklich, dass gemäß Epikurs Lustbegriff „der Gipfel der Seligkeit in etwas bestehen soll, wonach man keinen Bedarf mehr hat, wenn er erreicht ist“ [„Gleichmaß des Genusses“]? Können Sie mir zur Erläuterung ein lebenspraktisches Beispiel dafür nennen, welches Ereignis, das nur oder vornehmlich außerhalb des Kepos eintreten kann, einen epikureisch lebenden Menschen in personale Regression abstürzen lässt? Und inwiefern dies für ihn so katastrophal wäre, dass er größten Wert auf Vermeidung eines solchen Ereignisses legt? Ich gebe Ihnen Recht, dass das, was Epikur über den Tod und über den Schmerz sagt, keinen Trost spendet. Aber ich vermute, dass diese Aussagen ohnehin nur eher polemischen Charakter hatten: gerichtet gegen jene Philosophen, die die Fähigkeit des Menschen, über Tod und Schmerz nachzudenken, sozusagen „missbrauchten“, indem sie etwa Angst vor dem Tod und seinen Folgen schürten oder Schmerz und Leiden als große Lehr-

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meister der Seele verklärten etc. und dies zur Grundlage grandioser „anthropolatrischer“ Doktrinen machten. Deshalb sehe ich in Epikurs Worten zu diesen Themen keinen grundlegenden Mangel seiner Lehre. Ich erwarte von einem Philosophen eigentlich auch keinen Trost für diese Fälle und kann sie ohne Weiteres übergehen. Über den Tod, d.h. meinen eigenen Tod, kann mir ohnehin niemand etwas Sinnvolles sagen. Ich nehme zwar an, dass ich dereinst „sterben“ werde, weil ich sah, dass viele andere Menschen gestorben sind. Aber im Grunde kann ich nicht wissen/spüren/ahnen, was „sterben“ bedeutet, kann ich mir die Endlichkeit meiner Existenz ebensowenig vorstellen wie deren Ewigkeit. Auch der Tod – Sie schreiben wohlweislich „das Verschwinden“ – eines nahestehenden Menschen ist kein Ereignis, über das mich ein philosophischer Text oder Gedanke hinwegtrösten könnte. Sie schließen ihre diesbezügliche Kritik an Epikur mit dem Satz: „Er ist kein ‚Wellenreiter‘.“ Dieses Fazit verstehe ich nicht. Zum Thema Liberalität: Sie stimmen mir darin zu, dass mit ihr allein wenig gewonnen ist. Ich stimme Ihnen zu, dass der „unorientalische“ Grundsatz der Meinungsfreiheit jeglicher Spielart von Priesterkultur – auch der aus der Hochburg der liberalen Ideologie stammenden „political correctness“ – vorzuziehen ist. Aber mit meiner Parenthese möchte ich schon meine grundsätzlichen Bedenken gegenüber der bloßen Liberalität anmelden. Diese Bedenken zu benennen und auszuformulieren ist jedoch außerordentlich schwierig, jedenfalls kaum im Rahmen eines Briefwechsels möglich. Sie sagen, all die negativen Begleiterscheinungen einer liberalistischen Gesellschaft – über die wir wahrscheinlich weitgehend einig sind – träten erwartungsgemäß infolge „der Führungslosigkeit des herrschenden Lebensstils in Abwesenheit des Heiligen und in Abkehr von implantierenden Situationen“ auf. Nach unseren bisherigen Diskussionen wird es Sie nicht überraschen, dass ich da nicht mitgehen kann, weil mir dies zu sehr nach einer sozusagen präliberalistischen Zukunftsvision aussieht und ich mich um eine postliberalistische bemühe (obwohl ich vermute, dass wir wiederum einig sind, dass dann erst selbstverständliche „wahre Liberalität“ lebenswirklich würde). Ich sehe natürlich realistischerweise – und ganz grundlegend belehrt durch das Schicksal der in diese „postliberalistische“ Richtung weisenden Gedanken meiner drei Helden (von denen zwei zwar von obrigkeitsstaatlicher Zensur bedrängt, alle drei aber wesentlich von gleichsam liberaler Zensur ausgelöscht wurden) –, dass, was immer ich zu Papier bringe und publiziere, nur von einigen wenigen Menschen gelesen und dazu meist mit Achselzucken oder Kopfschütteln zur Seite gelegt wird, jedenfalls den „Lauf der Welt“ nicht beeinflussen wird. Gleichwohl kann mich das nicht von der Unrichtigkeit der Ergebnisse meiner Studien, ja, nicht einmal von ihrer Unwichtigkeit überzeugen (schließlich meine ich ja nicht, bloß einen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte dreier abseitiger Autoren geleistet, son-

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dern so etwas wie einen „archimedischen Punkt“ gefunden zu haben, an dem anzusetzen wäre, um die in „rasender Stagnation“ befindliche Gegenwart zu mobilisieren). Das ist ein gewiss sehr merkwürdiger Zustand, den manch einer – wenn er denn nicht „tolerant“ gegenüber „Deviationen“ wäre – nur mit psychiatrischen Kategorien zu fassen wüsste. Sie schreiben nun, eine Denkerexistenz mit einem solch unklaren Status – und auch Ihre, wie immer Sie Ihren eigenen Status sehen mögen – seien „lebende Gegenbeweise“ zur pessimistischen Sicht, unter dem heutigen liberalistischen Regime sei die Macht „anonymer Systeme“ so groß, dass der Einzelne weder sein Leben gestalten noch zu Worte kommen könne. Ja, aber ist das Zahlenverhältnis, selbst unter Philosophen, nicht allzu erschütternd? 14. Dezember 2003 Sehr geehrter Herr Laska! Als ich Ihren Brief vom 11. Dezember zum ersten Mal las, war ich irritiert, weil ich aus Ihren Rückfragen und dem Eingeständnis einer Verständnislücke den Eindruck gewann, wir hätten trotz so viel Gedankenaustausch über Epikur vollständig an einander vorbeigeredet; nach der zweiten Lektüre hoffe ich doch noch eher, mich Ihnen verständlich machen zu können. Sie verstehen nicht, was ich meine, wenn ich über Epikur das Urteil fälle: „Er ist kein Wellenreiter.“ Ich wollte damit an eine öfters von mir in unserem Briefwechsel verwendete und von Ihnen aufgegriffene Metapher anknüpfen. Ich meine damit einen Menschen, der im „Spielraum der Gegenwart“ (Titel eines Buches von mir) zwischen personaler Regression (bis hin zur Fassungslosigkeit) einerseits und personaler Emanzipation auf einem Niveau distanzierender Objektivierung andererseits mit anpassungsfähiger Beweglichkeit so zurechtkommt, daß er, ohne sich der Erschütterung zu entziehen, insgesamt einen Kurs hält, mit dem er, um mit Goethe zu sprechen, „nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht folgt“, wobei diese Einsicht nicht unbedingt auf bestimmte einzelne Ziele gerichtet sein muß, sondern auch in einer mehr instinktiven Selbstsicherheit – einem Vorgefühl davon, worauf er hinaus will – bestehen kann. Hinter diesem Ideal bleibt Epikur zurück, weil er durchaus bestrebt ist, sich der Erschütterung zu entziehen, um im Genuß verweilender Gegenwart nicht gestört zu werden. Um dies zu zeigen, genügt es, aus dem Menoikeusbrief bei Diogenes Laertios X 128 zu zitieren: „Die Gesundheit des Körpers und die Unerschütterlichkeit der Seele sind das Ziel des selig Lebens, deswegen tun wir alles, damit wir weder Schmerz noch Furcht (besser: Bestürzung, ταρβος) erleiden; wenn uns das einmal zuteil wird, löst sich der Sturm der Seele gänzlich auf, denn das Lebewesen braucht nicht mehr auf ein Bedürfnis loszugehen und etwas Weiteres zu suchen, wodurch das Wohl der Seele und des Körpers vervollständigt werden würde.“ Epikur strebt also einen Zustand stabiler Endgültigkeit an, der mit der Kunst des

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Wellenreitens im angegebenen Sinn unverträglich ist. Als Schutzmauer um dieses Idyll stabiler Sicherheit im Genuß verweilender Gegenwart verstehe ich den Rückzug in die Verborgenheit des Lebens mit wenigen Freunden im Garten. Das ist aber nicht so zu verstehen, als wollte sich Epikur wie durch eine materielle Mauer („Maginot-Linie“) gegen Ereignisse absichern, die außerhalb des Gartens stattfinden – schon gar nicht, wie Sie meinen, gegen mögliche Verfolger, von denen nichts, nicht einmal von einer besorgten Phantasie Epikurs, berichtet wird. Vielmehr dient das Wohnen in einem engen, umfriedeten Raum im Kreis ausgewählter Freunde der Ausbalancierung einer Gefühlsatmosphäre, die dem Genuß verweilender Gegenwart günstig ist. Ich habe die Chancen, die solche Umfriedung einer Kultur der Gefühle gewährt, breit und systematisch in meinen Untersuchungen über das Wohnen studiert, vgl. „System der Philosophie“ Band III Teil 4 S. 258– 308 (§ 218 des „Systems“): „Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum“. Als Stätten solcher Kultur behandle ich neben der häuslichen Wohnung, dem japanischen Teehaus, der Schwitzhütte und der Kirche gerade auch den Garten (S. 287–308). An der entsprechenden Stelle meines Buches „Der unerschöpfliche Gegenstand“ resümiere ich auf S. 320: „daher ist die Wohnung ein geschützter Raum, in dem der Mensch dank der filternden Umfriedung in gewissem Maß Gelegenheit hat, sich mit den abgründigen Erregungen zu arrangieren, indem er sie in einer Hinsicht züchtet, in einer anderen dämpft und so im günstigen Fall für ein schonendes, aber auch intensives und nuancenreiches Klima des Gefühls sorgt.“ Genau das scheint mir die Funktion des Gartens für Epikur zu sein. „Lebenspraktische Beispiele“ für Störungen, die auf solche Weise durch eine „MaginotLinie des Gefühls“ abgewehrt werden sollen, liegen auf der Straße, sind ubiquitär; zwei Typen habe ich in meinem letzten Brief genannt: Tod eines geliebten Menschen und unerträglicher Schmerz (von dem sich der sterbende Epikur seiner Behauptung nach nicht beeindrucken ließ, s. Diogenes Laertios X 22). Von einem Trost, den Epikur spenden wollte (wie die Stoiker) oder könnte, kann allerdings, obwohl Sie das in Erwägung ziehen, keine Rede sein; er will nicht trösten, sondern sich und seine Gesinnungsgenossen schützen, um vom Genuß verweilender Gegenwart nicht abgelenkt zu werden. Vom 19.12. bis etwa Jahresende will ich außerhalb Kiels sein.

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[Bernd A. Laska und] Hermann Schmitz (Korrespondenz 5) [Januar 2004–Dezember 2005]

13. Januar 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, zunächst einmal bitte ich um Entschuldigung dafür, dass ich Ihren Brief vom 14.12.2003 erst heute, nach fast einem Monat, beantworte; ich bin erst seit einigen Tagen wieder zu Hause und hatte eine Menge termingebundenen Kleinkram zu erledigen, so dass ich die Ruhe zur erneuten Befassung mit Ihrem Brief nicht fand. Wir diskutieren nun schon seit einiger Zeit über Epikur, wobei ich Sie nicht im Unklaren darüber gelassen habe, dass ich mich in der griechischen Antike nicht gut auskenne, die Texte nicht im Original lesen kann, die Verlässlichkeit der Überlieferung im Einzelnen nicht zu beurteilen vermag, etc. Mein Bild von Epikur habe ich mir also aus den gängigen deutschen Texten, ihren kommentierenden Begleittexten und gelegentlichen Begegnungen mit Meinungen über ihn zurechtgelegt. Trotzdem glaube ich, dass dieses Bild, insbesondere der Teil davon, über den wir nicht einig gehen, sinnvollerweise vertretbar ist. Mich erinnert unser Dissens über Epikur stark an den früheren über einen anderen Autor, über den wir ausgiebig gesprochen haben: Stirner – mit dem Ergebnis, dass wir zwar nicht zu einer Meinung gelangten, aber doch den Standpunkt des Gegenübers genauer kennengelernt und die Gründe für die eigene Sicht noch einmal überprüft haben. Dieser Dissens betrifft einen zentralen Bereich des Erlebens, der erfahrungsgemäß sehr schwierig in Worte zu fassen ist und immer wieder zu Missverständnissen führt. In Ihrem letzten Brief antworten Sie auf meine Frage, warum Sie über Epikur das Urteil fällen, er sei „kein Wellenreiter“, zunächst mit einer neuerlichen Umschreibung Ihres Begriffs des Wellenreiters, über den wir schon früher diskutiert und eine gewisse Einigkeit in der positiven Beurteilung dieser Figur erzielt hatten: anpassungsfähige Beweglichkeit im „Spielraum der Gegenwart“ haben; ebenso Fähigkeit des Kurshaltens; „nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht folgen“; instinktive Selbstsicherheit besitzen; wissen, worauf man hinaus will. – Nebenbei gefragt: Halten Sie es für wünschenswert, dass „alle“ (Mit-)menschen Wellenreiter wären/werden? Ich frage das, weil Sie in früheren Briefen dezidiert die Auffassung vertraten, dass Menschen mit einem verlässlichen „inneren Kompass“, einem „starken Daimon“, die mir zu großen Teilen die Eigenschaften des „Wellenreiters“ zu haben scheinen, im sozialen Leben der Ergänzung durch (eine große Anzahl von) Menschen

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mit „schwachem Daimon“ bedürfen. Braucht der geschickte Wellenreiter ungeschickte neben sich? Eine analoge Fragestellung ergibt sich mir für den „vitalen Stolz“, den ich sowohl dem geschickten Wellenreiter wie dem Menschen mit starkem Daimon zuzuschreiben geneigt bin. Diese Fragen beziehen sich natürlich nicht auf den bisher gegebenen Zustand der Menschen, sondern auf einen idealen. – Zurück zu Epikur: Sie sagen, er bleibe – mit seiner Lehre – hinter dem Ideal des Wellenreiters zurück, weil er sich jeder Erschütterung entziehen wolle, die den Genuss verweilender Gegenwart stört. Er strebe einen Zustand stabiler Endgültigkeit an, sozusagen eine statische Stabilität. Der Wellenreiter hingegen lebt in einer dynamischen Stabilität. Ich würde dies weder aus dem von Ihnen herangezogenen Zitat noch aus den sonstigen Schriften Epikurs so sicher ableiten, sondern würde mich bemühen, den Wellenreiter Epikur zu konturieren, der nach dynamischer Stabilität strebt. Seine Maxime „lathe biosas“ bedeutet in meinen Augen nicht, dass er sozusagen die Wellen glätten will oder gar, dass er sich mit einer „Maginot-Linie des Gefühls“ umgibt, sich einmauert und dann erstarrt und schmerzfrei die Zeit bis zu seinem Tod abwartet. Epikur will mit seinesgleichen zusammenleben, und die Störungen, die Unlust bzw., wenn man so will, die Schmerzen, die ihm bei einem „normalen“, „politisch“ bestimmten Leben die Anderen (die nicht seinesgleichen sind) zufügen, vermeiden. Er will das Leben der Intriganten, Politikanten, Priester, Volkstribunen etc. fliehen; nicht, um als Eremit zu leben, sondern um in Gesellschaft von „Freunden“ das Leben voll ausschöpfen zu können, statt sich von denen, die nicht seinesgleichen sind, in ihre Lebensart hineinzerren zu lassen. (Auch der Volksmund weiß: Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.) Sein Lehrsatz „lathe biosas“ entfiele natürlich automatisch, wenn die Anderen – in einem schwer und deshalb hier nicht näher zu bestimmenden Sinn – seinesgleichen geworden sein werden. Ihr Hinweis auf das „Wohnen“, wie Sie es an der angegebenen Stelle ausgeführt haben, erscheint mir in diesem Zusammenhang interessant. Unser heutiges Wohnen könnte vielleicht als eine rudimentäre Form der Epikur’schen Utopie gedeutet werden, wenn auch die zusammen Wohnenden meist keine „Freunde“ im Sinne Epikurs sind. Gegen Ende des ersten Absatzes meines Briefes vom 11.12. bat ich Sie – zur Erläuterung Ihrer These, dass Epikur sich von der Welt (doch von der außerhalb des Gartens) schützen wollte, um Ereignissen zu entgehen, die ihn in personale Regression abstürzen lassen könnten – um ein lebenspraktisches Beispiel. Sie antworteten, solche Beispiele lägen auf der Straße, und nennen zwei: den Tod eines geliebten Menschen und unerträglichen Schmerz. Das ist offenbar ein Missverständnis meiner Frage, denn beides geschieht ja innerhalb des Gartens. Entsprechend verrücken Sie auch Epikurs „Maginot-Linie“: sie ist nicht mehr die Gartenmauer, wie ich meine,

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sondern eine „Maginot-Linie des Gefühls“, also eine Art Selbstabtötung zu Lebzeiten. So kann ich Epikur in seinen Texten nicht erkennen. Mit den besten Wünschen für das neue Jahr etc. 14. Januar 2004 Sehr geehrter Herr Laska, Ihr anregender Brief vom 13.1. erübrigt jede Entschuldigung, die auch sonst nicht nötig wäre, wegen der Pause von einem Monat in der Korrespondenz. Sie statten das zwischen uns vielfach besprochene Bild des Wellenreiters mit Zügen aus, die nur zu einem Menschen mit starkem Daimon und daraus resultierender „instinktiver Selbstsicherheit“ passen. Dieses letztgenannte Merkmal nehme ich nicht in die allgemeine Charakteristik des Wellenreiters auf. Vielmehr möchte ich zwischen mehr aktiven und mehr passiven Wellenreitern unterscheiden. Der aktive Wellenreiter ist ein Mensch mit starkem Daimon, der sich seinen Weg mit eigenem Kompaß sucht. Der mehr passive Wellenreiter ist mehr auf Anregungen angewiesen, was aber nicht bedeutet, daß er das Steuerruder fahren und sich bloß noch treiben ließe; seine Tugend ist eine anpassungsfähige Sensibilität, die ihn zur geschickten Abstimmung eigener Strebungen und empfangener Anregungen auf einander befähigt und dadurch der „anpassungsfähigen Beweglichkeit im Spielraum der Gegenwart“ zugute kommt. So und so kann man der Aufgabe des Wellenreitens gewachsen sein. Meine mißverständliche Rede von einer Maginot-Linie des Gefühls, die nur Resonanz auf meine Zurückweisung der mir von Ihnen unterstellten Deutung der Mauer um Epikurs Garten als eine Art Maginot-Linie gegen Angriff von außen war, haben Sie irrig so aufgefaßt, als ob ich Epikurs Lebensideal als Einmauerung, Erstarrung und Abtötung zu Lebzeiten ausgeben wollte. Nichts liegt mir ferner. Die Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum des Gartens wehrt nur die heftigen Erschütterungen ab und züchtet die feinen Schwingungen und sensiblen Abschattungen heraus, die zum Genuß verweilender Gegenwart unter Freunden gehören, während Erstarrung und Selbstabtötung in langweiliger Öde und Einsamkeit enden würden. Dafür brauchte man keine Freunde. Das Ideal des seligen Lebens besteht für Epikur in mit körperlicher Gesundheit verbundener Unerschütterlichkeit (Ataraxie) der Seele (Diogenes Laertios X 128), und diese ist eine gesetzte, ruhige (katastematische), also milde Lust (ebd. 136). Solche milden Lüste, wie ein Wellengekräusel im nie ganz glatten, aber auch nicht stürmisch aufgewühlten Spiegel des Wassers verweilender Gegenwart, werden im Garten Epikurs gezüchtet, während jeder Sturm der Seele aufgelöst (d.h. vermieden) wird (128). An die Stelle des Wellenreitens tritt ein sanftes Bad in plätschernden Wellen. Der Widerstand gegen die großen Erschütterungen, der Rückzug auf das verborgene Leben im Garten als vorbeugende Abwehr jedes Sturmes der Seele, ist das, was ich mit der Metapher „Magi-

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not-Linie des Gefühls“ andeuten wollte. Die Unzulänglichkeit dieser Einrichtung erweist sich an dem ungenügenden Schutz, den eine solche Maginot-Linie gegen große, aufwühlende Erschütterungen wie katastrophalen Schmerz und Tod eines geliebten Menschen gewährt. Die schöne Gegenwart des Lebens ist in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, das ist schon ein großer Gewinn gegen alle Erlösungs-, Verheißungs- oder Nostalgie-Strategien der Lebensführung; der Spielraum der Gegenwart wird aber nicht ausgelotet, ja, Epikur scheut sich, in diesen Abgrund zu blicken, und das ist seine Unzulänglichkeit beim Wellenreiten. Sehr treffend finde ich übrigens Ihren Hinweis im vorletzten Absatz Ihres Briefes auf epikureische Züge des gemütlichen Wohnens in günstigen Umständen des heutigen Alltagslebens. Für Ihre guten Wünsche bedanke ich mich, und auch ich wünsche Ihnen guten Fortgang Ihres Lebens und Ihrer Bestrebungen in diesem Jahr. 29. Januar 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, in meinem letzten Brief (13.1.) schrieb ich, dass ich geneigt sei, die verschiedenen Bilder, die wir in unserer Korrespondenz gebraucht haben, um uns über den Stirner’schen Begriff des Eigners zu verständigen, so zusammenzufassen, dass Ihr „Wellenreiter“ auch jemand ist, der mit einem verlässlichen „inneren Kompass“ (mit „starkem Daimon“ und von daher mit „instinktiver Selbstsicherheit“) und einem gehörigen Maß an „vitalem Stolz“ ausgestattet ist. Sie korrigierten diese Vorstellung am 14.1. dahingehend, dass Sie diese Koppelung partiell aufhoben: es gebe mehr aktive und mehr passive, also wohl ein fein graduiertes Spektrum an Wellenreitern, und nur der aktive habe einen starken Daimon; der passive aber lasse sich keineswegs bloß noch treiben. Hat der passive Wellenreiter also doch einen Daimon, aber eben einen schwachen? Dann sähe ich doch wieder eine Koppelung der Begriffe bzw. Metaphern. Man könnte sich eine Skala vorstellen, die mit dem passiven Wellenreiter mit schwachem Daimon und geringem vitalen Stolz begänne und kontinuierlich anstiege. Zumindest über den Anfang der Skala wäre dann aber noch zu reden, zumal Sie in unserer jüngsten Diskussion – über Epikur – die Auffassung vertraten, dieser sei (überhaupt) kein Wellenreiter gewesen – worauf ich weiter unten noch einmal kommen möchte. Mir ist natürlich klar, dass man solche Bilder, Metaphern, Analogien etc. nicht zu sehr strapazieren und nur als eine ein Stück weit tragende Verständigungshilfe benutzen sollte. Aber wenn man auf diese Weise diskutiert, dürften doch Fragen legitim sein, wie ich sie in meinem letzten Brief – in abgewandelter Form auch schon in früheren Briefen – aufgeworfen habe: Halten Sie es für wünschenswert, dass jeder Mensch ein – zwar mehr oder weniger aktiver, aber doch generell ein – Wellenreiter wäre? Anders

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gefragt: Würden Sie, sofern Sie sich als Wellenreiter betrachten, lieber in einer Gesellschaft leben, die nur aus Wellenreitern bestünde? Falls ja, falls dies also Ihre Utopie ist: welche Maßnahmen würden Sie vorschlagen, um eine Entwicklung in Richtung auf eine solche Gesellschaft in Gang zu setzen? Falls nein: welche Vorzüge sehen Sie darin, dass es Menschen gibt, die das Wellenreiten nie erlernen? Falls Sie eine Mischung von Wellenreitern und Anderen für das Beste halten: Ist diese Mischung hier und heute optimal? Wiederum zu Epikur und seiner Maxime „lathe biosas“. Sie verdeutlichen in Ihrem letzten Brief dankenswerterweise, was Sie mit der Metapher von der „Maginot-Linie des Gefühls“ meinen: die „vorbeugende Abwehr jedes Sturmes der Seele“. Als Folge davon erlebe der nach den Vorstellungen Epikurs Lebende nur eine „milde Lust“. Deshalb sei er kein Wellenreiter, sondern nehme ein sanftes Bad in lauwarmem, plätscherndem Wasser. Er ist also nicht jemand, der beim Wellenreiten scheiterte und nun steuerlos im Strom treibt, sondern jemand, der das Wellenreiten erst gar nicht versucht oder verweigert und stattdessen – statt die Herausforderung, die der Strom des Lebens darstellt, anzunehmen – sich eine ruhige Seitenbucht baut und es sich dort, wo kaum mehr eine Welle hinkommt, gemütlich macht. Gibt dieses Bild ungefähr Ihre Auffassung wieder? Entspricht es dem, was Sie meinen, wenn Sie sagen, Epikur lote, wenn er „verborgen“ hinter der Mauer seines Gartens lebe, den Spielraum der Gegenwart nicht aus? Sie schreiben weiter, dass Epikur und die Seinen durch das Leben im Garten meinen, damit eine „Maginot-Linie des Gefühls“ errichtet zu haben, die sie vor „großen, aufwühlenden Erschütterungen wie katastrophalem Schmerz und Tod eines geliebten Menschen“ bewahren könne, und sagen, dass ihnen dies nicht einmal gelänge. Dem letzteren kann ich zustimmen. Es wird vielmehr sogar so sein, dass im Kepos, wo nur „Freunde“ zusammen leben, es im Leben des Einzelnen öfter als bei außerhalb des Kepos Lebenden zutrifft, dass er den Tod eines nahe stehenden Menschen zu verkraften hat. Das heißt aber – an einem oft herangezogenen, wichtigen Beispiel demonstriert –, dass die epikureische Lebensweise eine größere Geschicklichkeit im wellenreitenden Bewältigen von gravierenden Lebenskrisen erfordert als die „normale“; dass das Leben im Garten nicht gewählt wird, um auf kleiner Flamme, möglichst schmerzlos unter Hinnahme nur „milder Lust“ seine Tage durchzustehen. Ich stimme Ihnen zu, dass Epikur und die Seinen „den Spielraum der Gegenwart“ nicht voll ausloten, in bestimmte Abgründe gar nicht erst blicken wollen. Sie treffen bewusst in Hinblick auf ein erfüllteres Leben eine Wahl, indem sie sich von der Welt der „Politik“, d.h. der Politikanten, Intriganten, Priester, Volkstribunen etc., isolieren wollen, m.E. auch aus der Furcht, dass man sie, wenn sie nach ihrer Art nicht „im Verborgenen“

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lebten, nicht unbehelligt ließe und ihnen vielleicht sogar den Schierlingsbecher geben würde. Diese Spielräume, wo ewig unbefriedigbare Gier nach Macht, Geld, Ruhm etc. herrschen, will Epikur nicht ausloten, sondern – im Grunde doch, nachdem er sie ausgelotet hat! – fliehen. Nur so, durch Abschottung von dieser Welt, glaubt er zu einem Leben kommen zu können, in dem intensive, keineswegs laue, aber – im Gegensatz zur normalen, politischen Welt – befriedigbare Lust möglich ist. Hier gelangen wir wieder an die schwierige Problematik der Befriedigbarkeit, zu der Sie in Ihrer 8seitigen Skizze zu Epikur auf S. 2 schreiben, es sei „schwer zu verstehen, dass der Gipfel der Seligkeit in etwas bestehen soll, wonach man keinen Bedarf mehr hat, wenn er erreicht ist; mindestens die Fortdauer des Zustandes müsste man eigentlich immer noch wünschen.“ Wenn Epikur in dieser sprachlich sehr schwierig darstellbaren Problematik gescheitert ist, so hat er doch m.E. den springenden Punkt bezeichnet. Wilhelm Reich (von dem Sie „nicht viel, aber genug“ wissen) hat sich dessen mehr als zweitausend Jahre nach Epikur als sein Lebensthema angenommen; ob und inwiefern er im Laufe seines turbulenten Lebens in der Sache weiter gekommen ist, kann aber hier zunächst dahingestellt bleiben. 30. Januar 2004 Sehr geehrter Herr Laska! Mit dem Bild des Wellenreiters verbinden Sie in Ihrem Brief vom 29.01. die beiden Merkmale des starken Daimons und des vitalen Stolzes. Während wir uns über den starken Daimon ziemlich einig sind, bedarf der vitale Stolz noch der Präzisierung. Um eine solche anzubieten, muß ich aber in meine Phänomenologie der leiblichen Dynamik ausholen. Die Vitalität hat nach meiner Analyse drei Stufen: den vitalen Antrieb, die Reizempfänglichkeit des vitalen Antriebs und die Zuwendbarkeit des reizempfänglichen vitalen Antriebs. Der vitale Antrieb, die Achse der spürbaren leiblichen Dynamik, besteht in der antagonistischen Verschränkung der fundamentalen leiblichen Impulse Engung und Weitung, die ich in dieser Verschränkung als Spannung bzw. Schwellung bezeichne. Übergewicht der Spannung findet sich z.B. bei Angst, Schmerz, Beklommenheit, ungefähres Gleichgewicht bei körperlicher Kraftanstrengung, Übergewicht der Schwellung bei Wollust. Während der vitale Antrieb selbst, seiner Stärke und Bindungsform nach, ebenso wie die Reizempfänglichkeit der Person vorgegeben sind, hat diese den Angriffspunkt ihrer Gestaltung bei der Zuwendbarkeit, indem sie die Zuwendung des vitalen Antriebs mehr oder weniger mit ihrem Willen steuern kann. Vitaler Stolz könnte darin bestehen, daß der Mensch seines vitalen Antriebs froh ist, mit Stolz aus diesem Kräftespiel von Engung und Weitung schöpft und die Zuwendung zu Reizen nicht gegen den eigenen vitalen Antrieb durchsetzt, sondern die eigene Vitalität dabei immer unbefangen

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auslebt, was natürlich Einschränkungen nicht ausschließt, denn Engung gehört ja dazu; ein immer nur expansives Leben wäre manisch und würde verpuffen. Von dieser ungefähren Begriffsbestimmung aus kann man sich über das Verhältnis von vitalem Stolz und starkem Daimon klar werden. Der vitale Antrieb ist ebenso eigener, in der Zuwendung gestaltbarer Antrieb und insofern aktiv, wie ein Angetriebenwerden im Empfang einer Ergriffenheit. Beim starken Daimon ist beides der Fall; der Mensch mit starkem Daimon wird von seinem Daimon passiv geführt, indem er nach außen aktiv seinen Weg geht. Das Verhältnis von Passivität und Aktivität braucht aber nicht so automatisch zu funktionieren, sondern kann auch lockerer sein, so daß die Person in passiver Rolle zusätzlicher Anregungen bedarf, um auf die empfangenen Reize hin die Zuwendung ihres reizempfänglichen Antriebs zu regulieren. Dann ist der eigene Daimon (= Nomos oder Programmgehalt der eigenen persönlichen Situation) schwächer, d.h. nicht so unbeirrbar, aber deswegen ist das Leben eines solchen Menschen noch lange nicht ein bloßes Getriebenwerden, sondern eigene Gestaltung aus der Reaktion auf immer neue unerwartbare Anregungen. „Wellenreiten“ sollte auf beide Weisen möglich sein; vielleicht könnte man, mit allem Vorbehalt, in diesem Sinn einen Caesar- und einen Goethe-Typ, oder auch einen mehr männlichen und mehr weiblichen Typ des Wellenreitens unterscheiden. Sie stellen zum „Wellenreiter“ einige Zusatzfragen. Ob ich gern in einer Gesellschaft aus lauter Wellenreitern leben würde? Jawohl, vorausgesetzt, daß beide eben unterschiedenen Typen hinlänglich gemischt sind, daß ich also nicht unter lauter Menschen mit starkem Daimon leben müßte, die unbeirrbar ihren Weg gehen. Welche erzieherischen Maßnahmen ich vorschlagen würde? Zunächst die auf die Einheit von Recht und Pflicht gebauten aus dem 8. Kapitel meines „Hitler“-Buches. (Am 24.04. will ich in der Hamburger Universität auf der nächsten Jahrestagung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie einen entsprechenden Vortrag über Menschenrechte und Menschenpflichten halten.) Sodann Maßnahmen zur Kultur der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart, wozu etwa Musik und musische Erziehung, Gymnastik, Tanz, Wandern, Pflege des sprachlichen Ausdrucks und seiner Entfaltung im Brief oder in der Erzählung gehören könnte, kurz alles, was die Gegenwart bereichert und erfüllt, ohne für die Zukunft direkten Profit zu bringen. Ob man, um den Spielraum der Gegenwart auszuschreiten, auch härtere Formen braucht (Sie erinnern sich: Wiederkehr der indischen Götter), will ich hier offen lassen; die Zukunft wird es zeigen. Die Antworten auf Ihre beiden Fragen unter der Prämisse „falls nein“ erübrigen sich durch das Gesagte. Zu Epikur: Die für sein Ideal charakteristischen Stellen, Diogenes Laertios X 136 und 128, habe ich schon in meinem vorigen Brief angegeben. Im Gegensatz zu den Kyrenaikern, die die kinetischen (bewegten, aufwühlenden) Lüste bevorzugten, optiert Epikur für die katastematischen Lüste,

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Unerschütterlichkeit und Ungequältheit oder Gesundheit des Körpers, als Ziel des seligen Lebens ohne Schmerz und Schreck, wodurch der ganze Sturm der Seele aufgelöst wird. Das Wort „katastematisch“ ist zusammengesetzt aus „κατα“, einer vieldeutigen Präposition, die in erster Linie „herab von“, aber auch „entlang“, „über etwas hin“ bedeuten kann, und einer Ableitung vom Verbum „ἵστημι“, „ich stelle“, in einem Sinn von „Stellen“, der sowohl das Stillstellen im Gegensatz zur Bewegung als auch das Aufstellen und Errichten mit vielen Nuancen bezeichnen kann; hier dürfte in erster Linie das Stillstellen in Betracht kommen, weil es sich um den Gegensatz zur bewegten Lust der Kyrenaiker handelt und die Stillung jeden Sturms der Seele angestrebt wird. Katastematische Lust dürfte also zu verstehen sein als eine Lust, die herab von der bewegten Lust und anderen aufgewühlten Gemütszuständen zu einer Art von Stillstand führt, der aber nicht als Todesstarre zu verstehen ist, sondern als Gleichmaß des Genusses verweilender Gegenwart mit Freunden im nach außen abgeschlossenen Garten. In einer der späten Dionysosdithyramben Nietzsches heißt es: Rings nur Welle und Spiel! Was je schwer war Sank in blaue Vergessenheit.

In einem solchen Leben, das Epikur auf Dauer stellen wollte, kommen durchaus noch Wellen vor, aber, wie Nietzsche sagt, nur noch als leichtes Spiel plätschernder Wellen, nicht als mächtiger Wellenschlag eines aufgewühlten Meeres. Um die Lustlehre Epikurs richtig zu verstehen, muß man sie auf dem Hintergrund des Paradigmenwechsels im 5./4. Jahrhundert sehen, einer Zeit, an deren Ende Epikur steht. Bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. hinein hatten die Griechen gar kein Wort für Lust. Die Erotik z.B. war für sie vor dem Paradigmenwechsel die goldene oder süße Aphrodite, eine Atmosphäre, die dem Leben Glanz und etwas Strahlendes gibt, wodurch es lebenswert wird, zugleich eine unheimlich ergreifende Macht (Eros im alten Sinn). Nach dem Paradigmenwechsel ist sie Sache der privaten Lust, deutlich bei Aristophanes in der Lysistrate. Nun aber passiert eine Rache der alten Vorstellungsweise an der neuen in dem Sinn, daß die Lust selbst Züge des Eros annimmt, einer unheimlich ergreifenden Macht, gegen die sich der Mensch wappnen muß – nicht nur bei den Philosophen, sondern z.B. auch in der mittleren Komödie des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, von der wir nur Fragmente haben. Im Zuge dieser Auseinandersetzung mit der Lust als ergreifender Macht nehmen die Philosophen vier charakteristische Stellungen ein: Platon im „Gorgias“, indem er die von Kallikles geforderte zügellose Lust an der moralischen Mauer erbarmungslosen Biedersinns zusammenbrechen läßt; Aristipp von Kyrene mit der Maxime „Ich halte, aber werde nicht gehalten“, als man ihm seinen Umgang mit der Dirne Lais vorwarf, d.h. er will die Geschlechtslust auskosten, dabei aber einen kühlen

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Kopf und die Lage in der Hand behalten; Antisthenes der Kyniker mit radikal entschlossener Lustmeidung („Lieber verrückt sein als Lust empfinden!“), schließlich Epikur mit dem Vorschlag homöopathischer Heilung der Lust: sich der Herrschaft starker, aufwühlender Lüste durch Kultur der sanften, milden Lüste zu entziehen. Die ergreifende, dämonische Macht der Erotik als Gefahr und Katastrophe für die Selbstbestimmung des Menschen hat Euripides an der Phaidra seines Hippolytos vorexerziert; nachdem die ergreifenden Gefühlsmächte durch die Lust ersetzt worden sind, wird die Lust zur ergreifenden Gefühlsmacht, mit der sich der Mensch um seiner Selbstbestimmung willen auseinandersetzen soll, und dazu macht Epikur seinen diese geschichtliche Episode abschließenden Vorschlag. Nach ihm verschiebt sich die Thematik; später setzt man sich nur noch gelegentlich mit der Lust als ergreifender Macht auseinander. Sie finden diese Geschichte des Lustverständnisses in meinem Buch „System der Philosophie Band III Teil 2: Der Gefühlsraum“ auf Seite 482– 488 im Einzelnen dargestellt. Bei dieser Gelegenheit erwähne ich noch, daß gerade im Ingo-Koch-Verlag in Rostock ein wichtiges Buch von mir mit dem Titel „Was ist Neue Phänomenologie?“ erschienen ist. 16. Februar 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, zunächst einmal möchte ich Ihnen herzlich für Ihren ausführlichen Brief vom 30.1. danken, durch den mir Ihre Auffassungen doch erheblich klarer geworden sind. Sie bejahen, sogar emphatisch, dass Sie gern in einer Gesellschaft leben würden, die nur (bzw. weit überwiegend) aus „Wellenreitern“ besteht, aus Wellenreitern unterschiedlichen Temperaments oder Typs freilich (Sie nennen sie versuchsweise „männlich“/„weiblich“ bzw. Caesar/Goethe), aber jedenfalls aus Wellenreitern. Diejenigen, die, um im Bild zu bleiben, nicht auf den Wellen reiten und nur zwischen ihnen im Wasser dümpeln und so als Hindernisse beim Wellenreiten fungieren, sind vielleicht nicht ganz zu vermeiden – denn darunter mögen auch temporär strauchelnde Wellenreiter sein –, aber jedenfalls nicht wünschenswert. Darin kann ich Ihnen durchaus zustimmen. Möglicherweise stellten sich auch unsere Auffassungen über die von uns früher ausgiebig diskutierte Rolle des „Daimons“ als nicht allzu weit auseinanderliegend heraus, wenn wir sie in Analogie zu denen über das Wellenreiten formulieren würden. Sie sprechen am 30.1. von dem „eigenen Daimon (= der Nomos oder Programmgehalt der eigenen persönlichen Situation)“, der schwächer oder stärker sein könne, aber nicht ganz fehlen dürfe (so interpretiere ich Ihre Rede vom „bloßen Getriebenwerden“). Es gibt also, wie ich aus Ihren Erläuterungen entnehme, sehr wohl Menschen, die keine Wellenreiter sind und als bloß Getriebene keinen Daimon haben. Ich vermute, dass sich auch in Hinblick auf den dritten angesprochenen Begriff, den „vitalen Stolz“, Betrachtungen

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anstellen lassen, die zu einem analogen Ergebnis führen. Vitaler Antrieb und Reizempfänglichkeit seien, schreiben Sie, der Person vorgegeben. Hier könne es aber mit der Fähigkeit zur Zuwendung des vitalen Antriebs hapern. Fehlt sie, scheinen Antrieb und Empfänglichkeit auch verkümmern zu müssen. Das Ganze ist allerdings schon rein begrifflich eine ziemlich komplexe Angelegenheit, zumal ja, wie Sie schreiben, der vitale Antrieb als „antagonistische Verschränkung [von] Engung und Weitung“ (übrigens ähnlich bei Reich: Kontraktion und Expansion) zu sehen ist. Noch schwieriger wird, fürchte ich, die Operationalisierung dieses Konzepts. Nachdem Sie meine Frage, ob Sie eine Gesellschaft von Wellenreitern für wünschens- und erstrebenswert halten, bejaht haben, nennen Sie als Weg dahin die erzieherische Förderung der „Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart“, schlagen eine Reihe konkreter Maßnahmen vor und verweisen auf das 8. Kapitel Ihres Hitler-Buches. Ich möchte jetzt diese oder auch andere mögliche Maßnahmen nicht diskutieren, weil dies zur Defokussierung unseres Gesprächs führen würde, möchte vielmehr zunächst unsere Einigkeit darüber betonen, dass der hier und heute vorherrschende Individualismus der liberalistischen Doktrin weder als Gipfel der abendländischen Kulturentwicklung noch als (nach auf kaltem oder heißem Wege realisierter „Globalisierung“) „end of history“ anzusehen ist, sondern als ratloses Zappeln in einer Falle, die man als solche nicht erkennt und somit auch nicht zu verlassen versucht. Bevor solche Maßnahmen effektiv in Vorschlag zu bringen sind, wäre ohnehin erst einmal die allenthalben gefeierte „Selbstverwirklichung ohne Selbst“ („Adolf Hitler …“, S. 382) als Täuschung über die grassierende Verwahrlosung darzustellen. Ein besonders augenfälliger Bereich dieser Verwahrlosung ist m.E. der sexuelle, wie er in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten in Form von Perversitäten und sog. Neo-Sexualitäten in die Öffentlichkeit drang (bezeichnenderweise flankiert von pogromartiger Hatz auf „Kinderschänder“). Ich komme hier deshalb darauf zu sprechen, weil ich diesen Aspekt für geeignet halte, um abschließend einen Bogen zu unserer Epikur-Diskussion zu schlagen. Weil es heute, trotz eines Jahrhunderts „Sexuologie“ und „Libidologie“ (Psychoanalyse), noch immer außerordentlich schwierig ist, im Lusterleben zwischen „gesund“ (anzustrebender Zustand) und „krank“ (zu vermeidender Zustand) zu unterscheiden, lese ich die antiken Texte, die uns auf vielerlei Wegen überliefert wurden und in verschiedenen Übersetzungen vorliegen, mit großer Vorsicht und, im Falle Epikurs, mit wohlwollender Flexibilität. Sie nennen als charakteristisch für Epikurs Ideal zwei Abschnitte in dem fünfhundert Jahre nach Epikur geschriebenen Buch des Diogenes Laertius (Brief an Menoikeus): Nr. 136, wo zu lesen ist, dass Epikur außer der katastematischen Lust die kinetische gutheißt; Nr. 128, wo er, wie in den anschließenden Abschnitten, das Wesen der „guten“ Lust – die

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nicht die der „Wüstlinge“ ist – zu umschreiben versucht. Ich kann daraus eigentlich nicht lesen, dass Epikurs Ideal, wie Sie schreiben, „das Gleichmaß des Genusses verweilender Gegenwart mit Freunden im nach außen abgeschlossenen Garten“ ist, eher, dass er das Wechselhafte des Lebens durchaus akzeptiert, aber sozusagen die Summe der Lust in einem Zeitraum, den er zu überschauen meint, maximiert, d.h., sein Lusterleben optimiert, Schmerz in Erwartung späterer größerer Lust bewusst in Kauf nimmt etc. (s.a. Nr. 129ff). Epikur war allerdings weit entfernt davon zu glauben, dass man gute Lust forcieren soll oder überhaupt kann – was der heutige Vulgärhedonist permanent verzweifelt versucht, wenn er dem „ultimativen Kick“ nachjagt. Trotzdem hat man wohl Epikur – sowohl aus Unverständnis als auch aus bösem Willen – immer wieder im Sinne der Haltung ausgelegt, die ich gerade Vulgärhedonismus nannte. Wahrscheinlich wird man sich oft durch „Epikureer“, die wie „Schweine aus der Herde Epikurs“ lebten, bestätigt gesehen haben. Mich erinnert dies sehr an die RezeptionsSchicksale meiner drei Helden. Die üblichen Interpretationen La Mettries (kruder Materialist), Stirners (Nihilist, Anarchist) und Reichs (Sexpapst) waren zwar polemisch effektiv, aber doch sehr vordergründig und verdeckten tiefere Motive, zu denen nur Wenige Zugang hatten – bei Stirner z.B. Marx und Nietzsche (die ihre Einsichten zudem – sogar vor sich selbst – verbargen). Im Falle Epikurs scheint mir Plutarch mit „De latenter vivendo“ immerhin mit offenem Visier gegen dessen Hauptlehre „lathe biosas“ anzutreten. 20. Februar 2004 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 16. Februar, der mich wegen eines lokalen Ausstandes der Postboten erst 1–2 Tage später als üblich erreichte, stellen Sie ein beträchtliches Maß an Übereinstimmung zwischen uns fest. Eine solche besteht in der Tat bezüglich des zweiten Blocks Ihres Briefes. Auch ich halte den heute in Deutschland herrschenden „Individualismus der liberalistischen Doktrin“ für „ratloses Zappeln in einer Falle, die man als solche nicht erkennt und somit auch nicht zu verlassen versucht“, womit ich allerdings nichts gegen die Meinungsfreiheit, für die ich eintrete, gesagt haben will, sondern nur etwas gegen die hemmungslose Freigabe der Lebensführung für sogenannte Selbstverwirklichung. Nicht ganz pflichte ich Ihrem ersten Block zu. Ich habe Ihnen geschrieben, daß ich mich in einer Gesellschaft von lauter Wellenreitern wohlfühlen könnte. Das heißt nicht, daß ich mich nur in einer solchen wohlfühlen könnte und die Gegenwart von Menschen, die keine Wellenreiter sind, mir „nicht wünschenswert“ wäre. Ich verschmähe jede Uniformierung der Menschen auf einen Typ hin und bevorzuge größtmögliche Variabilität und zufällige Streuung der Typen mit gesellschaftlichem Ansporn an jeden, aus sich das Beste herauszuholen,

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wobei immer Schillers Xenion im Auge zu halten ist: „Adel ist auch in der sittlichen Welt: Gemeine Naturen / Zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind.“ Daß es Menschen gibt, die überhaupt keinen Daimon (d.h. keinen Anteil leitender Programme in der binnendiffusen Bedeutsamkeit ihrer persönlichen Situation) haben, glaube ich nicht, aber sicherlich haben Viele einen zerrissenen, uneindeutigen Daimon oder überhaupt eine schwache Persönlichkeit (nicht zuletzt aus Schwäche der Vitalität im Sinne meines letzten Briefes) und dann natürlich auch einen schwachen Daimon. Daß mit der Zuwendbarkeit des vitalen Antriebes auch dessen Reizempfänglichkeit und dann schließlich sogar er selbst verkümmern müßten, glaube ich gleichfalls nicht. Ein (freilich nur poetisches) Gegenbeispiel ist Shakespeares Hamlet, der starken Antrieb und subtile Reizempfänglichkeit mit einer sozusagen primären Zuwendbarkeitsstörung verbindet; wenigstens werden in dem Drama keine neurotischen Reibungen partieller Situationen in seiner persönlichen Situation ersichtlich, die so stark wären, daß sie eine sekundäre Hemmung solchen Ausmaßes verständlich machen könnten. Die von Ihnen als Verwahrlosung gegeißelte Entwicklung des Verhältnisses unserer Gesellschaft zur Sexualität in den letzten Jahrzehnten sehe ich nicht so düster. Zunächst halte ich es für eine große kulturelle Errungenschaft, daß sexuelle Gelüste frei an den Tag gelegt und besprochen werden können. Die Verlogenheit früherer Zeiten in dieser Beziehung war unwürdig. Zweitens begrüße ich die Öffnung sexueller Ventile als Gelegenheiten des beinah einzigen den meisten Menschen heute noch gebotenen Zugangs zu nicht krampfhaft gemachten, sondern in unwillkürlicher Hingabe empfangenen Ekstasen; solche Transzendenz als Übersteigen des Alltäglichen ist besonders wichtig in einem Zeitalter der Degeneration von Bestrebungen ins Kleinliche mangels großer Zwecke, die den Menschen durch den Nomos implantierender Situationen oder die Autorität des Heiligen gegeben werden könnten. Drittens und hauptsächlich hat die lärmende Propaganda für sexuelle Überstürzung de facto keineswegs zu einer Entfesselung der sexuellen Disziplin geführt, im Gegenteil eher zu zarten Pflänzchen der (ehrlichen) Wiederkehr implantierender Situationen im bescheidensten Rahmen: Die jungen Leute schließen sich zu Paaren zusammen und stehen loyal dazu, bis sich ein Grund zur Trennung findet, sozusagen in einer Monogamie auf Zeit, die im Grunde ehrlicher ist als die Ehe als monogame Treue „bis daß der Tod euch scheide“ und dann nicht mehr, so daß der Ehemann seiner zweiten Frau verbergen muß, wie hoch er noch die Verstorbene hält, um nicht jener Eifersucht zu wecken. Geradezu bewundernswert finde ich die Disziplin, mit der die Menschen in Deutschland auf die kurz nach der Ausrufung des sexuellen laisser faire ausbrechende Aids-Seuche reagiert haben, mit der Folge, daß die eifrig prophezeite Massenepidemie bisher ausblieb.

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Im 10. Buch des Diogenes Laertius ist § 136 mit Vergleich der kinetischen und der katastematischen Lust, wobei Epikurs Bejahung beider Lustarten nur durch eine allerdings naheliegende Textergänzung gewonnen werden kann, allerdings ca. 500 Jahre nach Epikur geschrieben, nicht aber § 128, der Epikurs eigene Worte enthält. Darin wird die Ataraxie, das Muster der katastematischen Lust nach 136, zum Ziel des seligen Lebens durch Auflösung allen Sturms der Seele (also auch der kinetischen Lust) ausgerufen, was zu einer Bejahung kinetischer Lust durch Epikur wenig paßt. Das Spezifische seiner Lustlehre scheint mir die Option für die gedämpfte Lust zu sein, während der Lustkalkül in § 129, abgesehen vom Preis der bescheidenen und eben darum gleichmäßig köstlichen Lust, überhaupt nichts Originelles ist, sondern seit Platons Protagoras in der Diskussion geläufig als „Meßkunst“, sich Lüste zu versagen und Schmerzen auf sich zu nehmen in Erwartung größerer Lüste danach. Die Schrift Plutarchs gegen Epikurs λαθἐ βιωσας kenne ich nicht. 8. März 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, als Angehöriger des Geburtsjahrgangs 1943 kann ich Ihnen nur von ganzem Herzen zustimmen, wenn Sie die Veränderungen der letzten dreißig bis vierzig Jahre in der gesellschaftlichen Stellung des sexuellen Lebens als positiv begrüßen – sie kamen für mich, für die Gestaltung meines persönlichen Lebens, leider noch ein paar Jahre zu spät. Wenn ich im Brief vom 16.2. von einer „grassierenden Verwahrlosung“ spreche, so meine ich das, wie ich im dritten Absatz deutlich sage, ganz allgemein als Charakteristik des Zustands in unserer westlichen Kultur des liberalistischen Individualismus. Ich bin der Ansicht, dass diese Verwahrlosung in fast allen Bereichen – auch z.B. in der Philosophie, d.h. im Philosophiebetrieb, beurteilt nach dessen publik werdenden Erzeugnissen – zu beobachten ist. Den sexuellen Bereich habe ich im letzten Brief, wie ich dort ja auch anmerkte, deshalb hervorgehoben, weil die Verwahrlosung bzw. der Niedergang in ihm – und im Bereich der Künste – besonders augenfällig ist und weil er zu dem letzten Absatz des Briefes, in dem ich auf Epikurs Auffassung von „guter“ Lust zu sprechen komme, überleiten sollte. Er hat aber wohl auch insofern eine Sonderstellung, als er – anders als etwa der eben erwähnte Philosophiebetrieb – jeden Menschen betrifft und jedem Menschen zur Beurteilung zugänglich ist. Meine Wahl des Wortes Verwahrlosung interpretieren Sie nicht als adäquate Charakteristik, sondern als „Geißelung“ der heutigen Zustände. Das möchte ich, weil „geißeln“ doch einige m.E. für meine Haltung unpassende Konnotationen transportiert, etwas relativieren. Ich sehe natürlich, wie oben gesagt, auch die positiven Seiten der Entwicklung, die Sie anführen; aber ich störe mich auch daran, dass sie so geringfügig sind und von

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den negativen Seiten in großem Ausmaß übertönt und zudem unvermeidlich kontaminiert werden. An den drei von Ihnen aufgeführten Punkten möchte ich das etwas erläutern. 1) Dass sexuelle Gelüste heute offen besprochen werden können, ist zweifellos eine kulturelle Errungenschaft gegenüber der früheren Verlogenheit; aber das hat de facto zur Vermarktung und Kommerzialisierung des Sexuellen, zur demonstrativen Zurschaustellung dessen, was früher als „Perversion“ unterdrückt worden war, zur Allgegenwart sexueller Signale und Symbole im täglichen Leben etc. und damit zu weit verbreiteter Abstumpfung, Lustlosigkeit, Entwertung und Verachtung des Sexuellen geführt. 2) Dass diese Entwicklung – auch und vielleicht gerade bei den unter diesen Verhältnissen sozialisierten Altersgruppen – die Fähigkeit zum Erleben von „nicht krampfhaft gemachten, sondern in unwillkürlicher Hingabe empfangenen Ekstasen“ fördert, wie Sie sagen, habe ich unter 1) implizit schon bestritten. 3) Dass die „lärmende Propaganda für sexuelle Überstürzung“ ein Milieu ist, das „zarten Pflänzchen“ das Gelingen eines sexuell guten Lebens nur erleichtert, erscheint mir fraglich. Ich würde mit Hinweis auf den ersten Block dieses Briefes sagen, dass das Schwinden der Repression des Sexuellen, also etwa der Wegfall des Kuppelei-Paragraphen, der bessere Zugang sowohl zu sachlicher Information als auch zu konkreten Verhütungsmitteln etc., selbstverständlich für „zarte Pflänzchen“ wohltuend und wachstumsfördernd wirkten; aber auch, dass die – typisch liberalistisch„wertfreie“ – Freisetzung auch des (ehemals) pervers Sexuellen diese Pflänzchen unvermeidlich schädigen muss (auch wenn sie pflichtgemäß dessen allgegenwärtige und aufdringliche Präsenz „tolerieren“). In dem Zusammenhang taucht natürlich auch die Frage auf, ob man die individualistische Freiheit der aktiven Meinung ohne Wenn und Aber bejahen und die der Lebensführung eher restringieren wollen kann. In Ihrem Hitlerbuch, Kap. 8.1.2, schreiben Sie S. 382, dass letztere, heutzutage propagierte, üblicherweise auf eine „Selbstverwirklichung ohne Selbst“ hinauslaufe. Die Propagierung, also die freie Äußerung einer Meinung, mündet hier in eine Lebensführung, die Sie für nicht wünschenswert erachten – ich übrigens auch nicht. Insofern würde ich sagen, dass die beiden „Freiheiten“ (Meinung und Lebensführung) in weiten Bereichen des Lebens nicht getrennt zu betrachten und zu beurteilen sind. Analog sehe ich dies auf dem Gebiet des Sexuellen. In der Diskussion um de Sade, der bei vielen Intellektuellen ja sehr beliebt ist, wird oft so argumentiert, dass dessen ausgedehnte Beschreibungen sexueller Perversionen ja „Kunst“ seien, und wenn jemand solche Kunst goutiere, habe das überhaupt nichts mit dem sexuellen und sonstigen Leben des Genießers zu tun. Ich glaube das nicht. Ich glaube auch nicht an die „Freiheit“ zweier sog. mündiger Menschen, die einen

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privaten „Sado-Maso-Vertrag“ abschließen (kürzlich wurde der verbreitete Glaube an solche Vertragsfreiheit durch den Fall des hessischen „Kannibalen“ und seines Partners, die beide „mündig“ waren, ja stark auf die Probe gestellt). Kurz, ich betrachte die Meinungsfreiheit, wie die sexuelle und andere Freiheiten des Liberalismus, mit wohl größerer Skepsis als Sie. Die Gründe kann ich hier nur andeutungsweise nennen, in der Hoffnung, Sie verstehen mich aufgrund unseres längeren Austauschs schon einigermaßen richtig. Natürlich freue ich mich, dass unter dem Regime des Liberalismus auch die „Wahrheit“, auch die „gesunde“ Sexualität toleriert werden. Das kann mich aber keineswegs zufrieden stellen (mit der „besten aller Welten“). Wahrscheinlich ist es tatsächlich so, dass die europäische und ihr folgend die restliche Menschheit durch den Liberalismus hindurch muss. Und vielleicht werden sich die „letzten Worte“ von Panajotis Kondylis als eine gute Prophezeiung erweisen: „Wenn das 20. Jahrhundert die kommunistische Utopie entlarvt hat, dann wird das 21. Jahrhundert die Abschaffung des Liberalismus bedeuten. Doch niemand weiß, welche konkreten Ereignisse diese großen Tendenzen in Hinblick auf das 21. Jahrhundert einleiten werden, das meines Erachtens das erschütterndste und tragischste Zeitalter in der Geschichte der Menschheit werden wird.“ 9. März 2004 Sehr geehrter Herr Laska, bei der Reaktion auf meine Bemerkungen zur Sexualität heute in Ihrem Brief vom 8.03. treffen Sie nicht ganz das, was ich über die Wirkung der Entfesselung sexueller Disziplin auf die jugendliche Erotik sagen wollte. Mir kam es nicht darauf an, ob die dadurch geschaffenen Rahmenbedingungen dem „zarten Pflänzchen der ehrlichen Wiederkehr implantierender Situationen im bescheidenen Rahmen“ nützlich oder schädlich seien, sondern darauf, daß dieses Pflänzchen ohne Rücksicht auf die massiven Versuchungen zum Überblühen sozusagen von selbst gedeiht, daß also das praktizierte Geschlechtsleben von dem Rummel, der darum gemacht wird, erstaunlich wenig berührt ist. (Auf einem anderen Blatt steht die Grausamkeit bei der Ausnützung des perversen heutigen Ehescheidungsrechtes, aber die ist einer gesellschaftlich geregelten Institution, nicht spontaner Erotik zu verdanken.) Über die Verwahrlosung im Gefolge der ausufernden autistischen Verfehlung des abendländischen Geistes (im Sinne meines Hitlerbuches) sind wir einig, aber ihre Spuren scheinen mir in der Sexualität nicht so gefährlich wie z.B. in der Musik. Im Auto meiner Freundin sitzend, muß ich oft „Radio Schleswig-Holstein“ hören, und andere Privatsender werden es auch so machen. Der Zynismus dieses nicht nur geschmacklosen, sondern raffiniert fauligen Geklingels ist schwer überbietbar. Platon weist richtig darauf hin, daß die Musik die Hauptsache bei

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der Erziehung sei, weil Harmonie und Rhythmus ins Innere der Seele – ich würde sagen: in den spürbaren Leib via Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere – eindringen. Wenn man die hohe Kultur der Volksmusik, wie die Jugendbewegung (und im Nachklang noch der BdM der Nazizeit) sie pflegte, oder der Tanzmusik im Zeichen des Walzers dagegen setzt, kann man wirklich von Verwahrlosung sprechen. Die Musik ist vielleicht noch mächtiger als das Fernsehen. An eine Austrocknung des Geschlechtslebens durch „Abstumpfung, Lustlosigkeit, Entwertung“ im Gefolge von „Vermarktung und Kommerzialisierung des Sexuellen“ glaube ich nicht. Der Geschlechtstrieb wächst aus Wurzeln leiblicher Dynamik als eine zähe Pflanze, die sich jeder Witterung gesellschaftlicher Umstände anzupassen vermag, mönchischer Verachtung und Verteufelung ebenso wie kommerzieller Anpreisung. Ein großer Vorzug ist seine enorme Bildsamkeit, unabhängig davon, ob Liebe oder schiere Ekstase gesucht wird; ein merkwürdiges Zeugnis davon gibt die Affinität dieses Triebes zur Schönheit, die ja nicht selbstverständlich ist: Der Mann sucht die schöne Frau, der Päderast den schönen Knaben; wo Schönheit gesucht wird, ist Kultur nicht weit. Ich baue auf die spontane Formfindung vom Leiblichen her. An Ihrer Stellungnahme zu Gunsten einer Zensur der Meinungsfreiheit, besonders auf sexuellem Gebiet, zeichnet sich mir ein charakteristischer Gegensatz unserer Einstellungen zu Chancen und Gefahren menschlicher Lebensgestaltung ab. Sie scheinen mir Ihre (Ihnen selbst fragwürdige) Hoffnung in die Heranzüchtung eines Menschentypus zu setzen, etwa von lauter „Eignern“ im Anschluß an Stirner, wie Sie ihn verstehen (was ich noch nicht verstanden habe). Zur Steuerung dieses Verlaufes sind Sie zur Zensur und Beschneidung üppiger Triebe z.B. bei der Meinungsfreiheit und bei Abweichung vom „gesunden“ Sexualleben bereit. Ich dagegen erinnere mich gern an Ludendorff, der aus der Brussilowoffensive gelernt hatte, daß ein gezielter Vorstoß mit geballten Kräften den Feind längst nicht so in Verwirrung bringt wie der Angriff auf breiter Front, und danach die Frühjahrsoffensive 1918 anlegte, die dann allerdings scheiterte. Ich bin äußerst vorsichtig, Meinungen zu verbieten, gesunde gegen perverse Sexualität auszuspielen oder die Vielfalt der Menschentypen auf die eine oder andere Weise (z.B. durch Klonen) zu reduzieren, weil man erstens damit doch nur das Unerwünschte unter den Teppich kehrt und zweitens gar nicht voraussehen kann, was daraus werden kann, wenn man offen mit dem vermutlich Verabscheuungswürdigen umgeht und die eigenen Kräfte daran mißt. Ein gutes Beispiel ist das heute merkwürdig starke und zunehmende Liebäugeln mit dem Sadismus. Ich bin durchaus dagegen, nach Verboten zu rufen, abgesehen von Verbrechen, wobei Menschen gegen Ihren Willen gequält werden. Ich rechne nämlich damit, daß auf diese Weise ein wichtiges Bedürfnis menschlicher Lebensgestaltung sich seinen Weg sucht.

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Im letzten Aufsatz meiner Sammlung „Höhlengänge“ (Berlin 1997) habe ich unter dem mir auferlegten Titel „Die ethische Bedeutung der Atombombe“ auf die Not hingewiesen, in die die Menschen durch den Entzug der Möglichkeit des Sich-auslebens in der Form der Kriege geraten, weil damit eine einzigartige Chance der Integration von personaler Emanzipation und personaler Regression verloren geht, der Vereinigung von gespannter Erregung, erschütterndem Betroffensein mit kühler Wachsamkeit und besonnenem Handeln. Diese Integration ist aber für personale Selbstbehauptung unentbehrlich, wofür das Bild des Wellenreiters steht; andernfalls droht Steuerlosigkeit oder steife Verstiegenheit. Die Menschheit braucht einen Ersatz für den Krieg, sofern dieser bei gesteigerter Zivilisation und unter dem Druck moderner Waffen nicht mehr als Leitbild taugt, und ich könnte mir denken, daß sich an dieser Stelle einmal eine Kultur des leiblichen Schmerzes herausbilden wird, nicht so, daß man wie Dutroux Leute gegen ihren Willen zu Tode quält; aber vielleicht wie bei den Indianern oder nach Wellhausen „Reste arabischen Heidentums“ oder auf andere Weise. Das Liebäugeln mit dem Sadismus bereitet vielleicht eine solche Entwicklung vor. Die Meinungsfreiheit ist für mich übrigens eine Sache des Stolzes, der die Zensur verachtet, mit der man sich die offene Konfrontation erspart. 25. März 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, als ich Ihren Brief vom 9.3. zur Hand nahm, fiel mein Blick als erstes auf die unterste Zeile der ersten Seite, weil diese vom oberen Text etwas abgesetzt ist, und dort las ich: „An Ihrer Stellungnahme zu Gunsten einer Zensur der Meinungsfreiheit, besonders auf sexuellem Gebiet …“ Das wunderte mich dann doch sehr, und ich ging – da mir nicht klar war, auf welche Äußerung von mir Sie sich bezogen haben könnten – meinen Brief vom 8.3. durch, um eine Stelle zu finden, die in dieser Weise missverständlich formuliert ist. Ich fand aber keine. Dennoch muss ich wohl oder übel konstatieren, dass Sie offenbar den Eindruck gewonnen haben, ich favorisiere ein Regiment der Zensur. Als Schlusssatz las ich dann noch, dass das Votum pro Meinungsfreiheit eine Sache des Stolzes sei, der die Zensur verachtet, weil er der offenen Konfrontation nicht ausweichen will. Ich weiß nicht, ob ich das persönlich nehmen soll, sehe aber im übrigen keinen Anlass, mich zu verteidigen. Ich meine auch, es hat wenig Sinn, eine abstrakte Diskussion über Meinungsfreiheit zu führen: es genügt, auf die konkrete Wirklichkeit der Auswirkungen der Meinungsfreiheit, wie sie im Westen seit geraumer Zeit herrscht – und nur über die, nicht über eine abstrakte, lohnt zu reden – hinzuweisen: nicht nur auf die plakativen Ausformungen in Reklamewesen, Presse, Literatur, Film, Funk und Fernsehen etc., wie sie uns allen – nicht nur in Form

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„raffiniert fauligen Geklingels“ statt Musik im Autoradio – permanent begegnen, sondern ebenso auf die eher diskreten in den hehren Regionen geistigen Lebens, wie z.B. in dem von Legionen hochgezüchteter Intelligenzen getragenen und mit üppigen Ressourcen ausgestatteten Philosophiebetrieb (den ich – vielleicht zu meinem Seelenheil – wenigstens von innen nicht kenne). Angesichts der allermeisten Hervorbringungen, die der Meinungsfreiheit heute zu danken sind, kommt mir Stirners lapidarer Spruch in den Sinn: „Was nützt den Schafen, dass ihnen Niemand die Redefreiheit verkürzt? Sie bleiben beim Blöken.“ Wie meine Befassung mit der Philosophie, näherhin mit meinen drei „Helden“, wurzelt auch meine Haltung zur Freiheit des heutigen westlichen Liberalismus in persönlicher Betroffenheit. Das ist natürlich eine Angelegenheit, die zu komplex ist, um sie hier auch nur zu skizzieren. Aber es ist – in entscheidender Umkehrung, besser: in Ergänzung Ihres Diktums – gerade mein Stolz, der nicht nur die Zensur, sondern auch die Meinungsfreiheit – unter gegenwärtigen Bedingungen (d.h. der Beschaffenheit der Teilnehmenden) – verachtet, und zwar, weil sie mir, mittels viel subtileren Mechanismen als denen der brutalen Zensur, die zu erörtern hier ebenfalls nicht möglich und auch nicht nötig ist, die offene Konfrontation recht effektiv verunmöglicht. Es ist auch mein Stolz, der mir nicht erlaubt, dass ich aus dem Faktum, dass meine – toleranterweise nicht per Zensur unterdrückten – Schriften trotz der nicht gescheuten offenen Konfrontation nicht die ihnen m.E. gebührende Beachtung finden, den Schluss ziehen kann, dass meine Gedanken nicht der Rede wert sind, dies vor allem, wenn ich sie mit den allenthalben lebhaft diskutierten Gedanken Anderer vergleiche. Und ich würde wetten, dass ich nicht der Einzige in solcher Situation bin. Ich vermute, dass es sich bei Ihrer eingangs zitierten Formulierung um einen Versuch handelt, Ihr Verständnis meiner Ausführungen durch die Wahl eines treffenden Wortes sozusagen auf den Punkt zu bringen („Laska möchte Zensor sein“ – denn einen Zensor über sich wünscht sich kaum ein Autor, jedenfalls Laska nicht), so wie Sie zuvor meine zugegebenermaßen nicht neutrale und desinteressierte Beschreibung bestimmter heutiger Zustände als „Geißelung“ bezeichneten („Laska geriert sich als Bußprediger“) – wozu ich am 8.3. Stellung nahm, aber offenbar leider, ohne dabei für Sie glaubwürdig zu wirken. Ich gestehe, dass ich, eingedenk dessen, dass wir nunmehr seit fast vier Jahren in relativ intensivem brieflichen Gedankenaustausch stehen, ziemlich ratlos bin, was die Gründe angeht, die mich in Ihren Augen nun als, um einmal meinerseits etwas zuzuspitzen, Möchtegern-Savonarola dastehen lassen. Sie konstatieren jedenfalls einen „charakteristischen Gegensatz unserer Einstellungen zu Chancen und Gefahren menschlicher Lebensgestaltung“. Der muss wohl vorhanden sein, wenn wir nicht in Dutzenden von

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Briefen aneinander vorbeigeredet oder uns missverstanden haben. Ich vermute auch, mit Ihnen, dass dieser Gegensatz etwas mit dem Verständnis unseres vornehmlichen Diskussionsgegenstandes, nämlich Stirners, zu tun hat. Aber wahrscheinlich ist er noch tiefer angelegt, worauf Sie mit der erneuten Bemerkung, Ihnen sei mein Verständnis Stirners noch immer unklar, hinweisen. Nur deshalb können Sie schreiben, ich sei zwecks Heranzüchtung einer Menschheit aus lauter „Eignern“ bereit, üppige Triebe bei der Meinungsfreiheit und der Abweichung von einem (von mir als Norm vorgegebenen) „gesunden“ Sexualleben zu beschneiden. Ich möchte aber auch das jetzt nur zurückweisen, nicht korrigieren, da ich mich heute wahrscheinlich nicht besser verständlich machen könnte als in früheren Briefen. Was Sie im letzten Viertel Ihres Briefes über das steigende Interesse an Sado-Masochismus schreiben, das Sie als mögliches Zeichen für das Wachsen einer „Kultur des leiblichen Schmerzes“ deuten, die an die Stelle der nicht mehr bedürfnisgerecht lebbaren Kultur des Krieges treten könnte, wäre sehr bedenkenswert, aber auch ein neuer Themenstrang, dessen Verlauf und Ausgang mir – nach unserer kürzlichen Diskussion Epikurs und von dessen zentralem Konzept vom Wesen von Lust und Schmerz – allerdings schon ziemlich sicher vorhersagbar zu sein scheint. 1. April 2004 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 25. März beschweren Sie sich darüber, daß ich Ihnen am 9. März eine „Stellungnahme zu Gunsten einer Zensur der Meinungsfreiheit“ unterstellt habe, wofür Sie in Ihrem Brief vom 8. März keine Grundlage finden. Ich bezog mich auf folgende Sätze in diesem Brief: „In dem Zusammenhang taucht natürlich auch die Frage auf, ob man die individualistische Freiheit der aktiven Meinung ohne Wenn und Aber bejahen und die der Lebensführung eher restringieren wollen kann. (…) Kurz, ich betrachte die Meinungsfreiheit, wie die sexuelle und andere Freiheiten des Liberalismus, mit wohl größerer Skepsis als Sie. Die Gründe kann ich hier nur andeutungsweise nennen, in der Hoffnung, Sie verstehen mich aufgrund unseres längeren Austauschs schon einigermaßen richtig.“ Offenbar ist das nicht geschehen, als ich Ihr Bekenntnis zu nur andeutendem Sprechen auch auf den ersten zitierten Satz bezog und mit ihm aus Ihrer mir bekannten und von mir geteilten Abneigung gegen allzu permissives Regime der Lebensführung schloß, Sie wollten auch die „Freiheit der aktiven Meinung“ einschränken, was ich mit Zensur gleichsetze. Ihr Vertrauen, daß ich auf Grund unseres Briefwechsels Ihre Andeutungen richtig verstehen würde, hat sich wieder einmal zerschlagen. Der Grund ist leicht zu erkennen. Ihr Standpunkt ist mir durch unseren Briefwechsel nicht weniger rätselhalft geworden, als er es anfangs war, weil (mir) augenscheinliche Widersprüche darin, obwohl ich Sie oft genug darauf hingewiesen habe, uner-

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ledigt liegen geblieben sind. Vor allem geht es dabei um den mir höchst verdächtigen Begriff eines rationalen Überichs. Erst wollen Sie das Überich als das Heilige mit Stirner abschaffen und dann doch wieder installieren, unter dem Vorgeben, nun sei es rational. Das kann ich nur als ein naives Naturrechtsdenken im Sinn der Frühaufklärung verstehen, geleistet von der Vorstellung, irgend etwas sei an und für sich vernünftig. Stirner würde darüber spotten. Das ist jetzt nicht unser Thema, aber ich benütze es zum Hinweis auf eine in Ihren Briefen und Publikationen häufig wiederkehrende Geste: Sie verweigern klare und präzise Angaben mit dem Vorbehalt, indirekt und andeutend sprechen zu wollen, z.B. Ihre Ansicht der wegweisenden Bedeutung Stirners nicht klar darzustellen und zu belegen, sondern durch Aufdeckung einer vermeintlichen „Dezeptionsgeschichte Stirners“ (die aber, besonders bei Nietzsche, mit Fiktionen arbeitet) nur durchschimmern zu lassen. Dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Sie mißverstanden werden. Hinsichtlich der Verwahrlosung, z.B. im heutigen Philosophiebetrieb, sind wir einer Meinung. Die Musik halte ich in dieser Beziehung aber für ganz besonders verhängnisvoll, weil sie viel direktere Möglichkeiten als die anderen Medien hat, sich unmittelbar in das leibliche Befinden einzuschleichen, aus dem alle Initiative und Gestaltungskraft schöpft. Bilder wirken ablenkend und verdummend, sie verhindern etwas, verstopfen Kanäle. Musik vergiftet direkt. Übrigens stimme ich Ihnen auch darin zu, daß die Meinungsfreiheit großen Schaden anrichtet, zumal sie wegen der Verfügungsgewalt Weniger über die Medien in der Öffentlichkeit weitgehend eine Meinungsdiktatur ist. Dennoch lehne ich alle Einschränkungen der Meinungsfreiheit ab. Der Schaden wird sonst durch Verdrängung nur größer. Außerdem vereitelt jede Steuerung die Chance des Unerwarteten, oder schränkt sie wenigstens ein. Und dann halte ich es für die wirksamste Medizin gegen alle Vereinseitigungen menschlicher Kultur, einschließlich der permissiven Verwahrlosung, Meinung gegen Meinung kämpfen zu lassen, und sei es David gegen Goliath. Wenn die Menschen nicht wollen, hat der Mut zur freien Meinung aus gutem Gewissen immerhin das Seinige getan. Den Kampf von Meinung gegen Meinung – similia similibus nach der homöopathischen Maxime – halte ich für die wirksamste Strategie der öffentlichen Auseinandersetzung, sofern irgend eine aussichtsreich ist. In diesem Sinn mache ich mir Maos Devise zu eigen: Laßt hundert Blumen blühen! Laßt hundert Schulen der Weisheit mit einander streiten!

Daß darunter 98 Schulen der Verdummung, der Überheblichkeit, der Selbstimmunisierung sein mögen, nehme ich in Kauf.

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14. April 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, in Stirners „Einzigem“ gibt es den schönen drastischen Satz: „Was nützt den Schafen, dass ihnen Niemand die Redefreiheit verkürzt? Sie bleiben beim Blöken.“ (Reclam, S. 184) Stirner polemisiert dort nicht gegen die Redefreiheit an sich (die – unter „Eignern“ – eine Selbstverständlichkeit ist), nein, er empfiehlt deren eifrigen Befürwortern, ihre an die Durchsetzung „demokratischer“ Freiheiten geknüpften Heilserwartungen zu dämpfen und zu bedenken, was „eine geschenkte oder oktroyierte Freiheit“ bedeutet und zur Folge haben würde. Das war in dem damaligen politischen Klima doch außerordentlich hellsichtig. Wir heute sollten es eigentlich viel deutlicher sehen. Aber auch, wenn hier und da ein Fachwissenschaftler die Problematik ventiliert: Nach den auf sehr bequeme, oberflächliche und heuchlerische Weise verarbeiteten und vorwiegend zur Rechtfertigung und Erhöhung des gegenwärtigen status quo missbrauchten „schrecklichen Erfahrungen des gewalttätigen 20. Jahrhunderts“ besteht in der angeblich tabulosen Gesellschaft ein Grundtabu, das das als alternativlos und als „end of history“ hingestellte Staats- und Wirtschaftssystem des Westens vor jedem ernsthaften Infragestellen schützt. Augenzwinkerndes Motto: „Die parlamentarische Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen; aber – es gibt keine bessere.“ Es wird Sie nicht überraschen, dass ich diesen tabugeschützten Bankrott einer Lebensform letztlich auf die durch eine Serie von Pyrrhussiegen verdeckte Selbstparalysierung der neuzeitlichen Aufklärung zurückführe, wie sie an den „Fällen“ L/S/R zu studieren ist. Nachdem Sie mich im vorletzten Brief zum Befürworter der Zensur gestempelt hatten, hat mich doch überrascht, dass Sie mir auf Seite 2 Ihres letzten Briefes darin zustimmen, „dass die Meinungsfreiheit großen Schaden anrichtet“. Sie nennen als Grund für diese Schädlichkeit die Verfügungsgewalt Weniger über die öffentlichen Medien und sprechen sogar von „Meinungsdiktatur“. Wenn ich aber daran denke, wie sehr die Medien von den Konsumenten abhängig sind, die Zeitungen von den Auflagehöhen, Radio und Fernsehen von den Einschaltquoten, und alle zusammen von den Einnahmen aus den Reklameschaltungen für Produkte, die der Leser/Hörer/Seher dann kaufen soll, um sich einen „hohen Lebensstandard“ vorzugaukeln, so sehe ich hier ein gut eingespieltes Zusammenwirken. Ich würde also nicht so weit gehen wie Sie, wenn Sie sagen, die derzeitige „Meinungsfreiheit [ist] … weitgehend eine Meinungsdiktatur.“ Ihr anschließendes Plaidoyer für die Meinungsfreiheit klingt denn auch wenig begeistert und begeisternd: David könne gegen Goliath siegen; homöopathische Medikamente könnten wirksamer sein als hochdosierte; und wenn 98 Schulen der Verdummung, der Überheblichkeit und der Selbstimmunisierung neben sich 2 Schulen der Weisheit dulden, dann sei das doch akzeptabel.

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Um das Zahlenverhältnis brauchen wir nicht zu streiten; es geht jedenfalls auch bei Ihnen nicht darum, ob das sprichwörtliche Glas Wasser als halbvoll oder halbleer betrachtet wird: es ist fast leer, aber ein paar Tropfen sind wenigstens drin. Das ist die Realität der – mit Stirner: bloß „oktroyierten“ – Freiheiten des Liberalismus auf vielen Gebieten. Meinungsfreiheit: Ich darf meine (zumindest neuen) Gedanken im Selbstverlag auf eigene Kosten publizieren, während 98 Andere ihre (aufgewärmten alten) Gedanken als wohldotierte Beamte unter Verwendung dienstlicher Ressourcen formulieren und gegen Honorar in Verlagen publizieren, deren Produkte routinemäßig angeschafft werden. Sexuelle Freiheit: Ich darf in „serieller Monogamie“ leben, während 98 Andere als Paare oder „Singles“ ihr Sexualleben nach Karriereplan und Moden organisieren. Ähnlich steht es mit den anderen Freiheiten: Reisefreiheit führte zu Tourismus, Konsumfreiheit zu Wegwerfmentalität, „Zapperei“, Musikberieselung, Adipositas usw. usf. Über die politische Freiheit brauchen wir kein Wort zu verlieren. Nach Ihrem letzten Brief habe ich doch wieder den Eindruck, dass wir sozusagen diagnostisch (in der Symptombenennung) und wohl auch prognostisch (in der Einschätzung der Chancen der Heilung) gar nicht so weit auseinander liegen, wohl aber anamnestisch (in der Eruierung der Genese des heutigen Zustands). Ich stimme Ihnen voll zu, wenn Sie als Kern unserer Differenzen den Ihnen „höchst verdächtigen Begriff eines rationalen Überichs“ identifizieren. Darüber haben wir uns allerdings schon ausgiebig zu verständigen versucht, und ich glaube, es hat wenig Sinn, wenn ich jetzt erneut versuche zu erklären, dass es sich bei der von mir gemeinten Rationalität nicht, wie Sie meinen, um „ein naives Naturrechtsdenken im Sinne der Frühaufklärung“ handelt. Das rationale Überich soll ja eben nicht, wie Sie vermuten, als „etwas, das an sich vernünftig“ ist, „installiert“ werden. Es soll vielmehr durch die (über Generationen hinweg) sukzessive Eliminierung des irrationalen Überichs (resp. des Stirner’schen „Heiligen“) freigelegt werden. Zu ermitteln, wie das praktisch geschehen kann, wäre die Aufgabe empirischer Wissenschaft. – Dazu fallen mir die ersten Sätze Ihrer Vorrede zu „Selbstdarstellung als Philosophie“ ein. Sie schreiben dort, als ob es das Selbstverständlichste von der Welt ist, dass „man“ als Vater, Mutter, Erwachsener einem Kind „mit genügender Eindringlichkeit vom lieben Gott, vom Weihnachtsmann, von Märchenwelten usw. erzählt.“ Sie fragen aber nicht, warum „man“ das tut; welche eigenen Bedürfnisse der Erwachsene damit befriedigt; welche Folgen es für das Kind hat, wenn es später feststellt, was es da alles mit auf den Weg bekommen hat – sofern es überhaupt noch fähig ist, ein gewisses Niveau personaler Emanzipation (zugleich Fähigkeit zur Regression) zu erreichen. Ich nenne dies nur als Beispiel. Natürlich geht es bei der (großteils unbewussten) Introjektion des irrationalen Überichs (als eines psycho-physiologischen Gebildes) nicht nur um’s triebhafte Erzählen abstruser Geschichten (Gott, Weihnachts-

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mann …), sondern auch um vielerlei Einflüsse prä- und nonverbaler Art, die zu erforschen höchste Priorität haben – müsste. 16. April 2004 Sehr geehrter Herr Laska, Sie mögen Recht haben mit der Annahme, daß wir in der Diagnose dessen, was faul ist in unserer Zeit, ziemlich übereinstimmen; ich habe diese Diagnose in meinem „Hitler“-Buch als das Zusammenwirken der dynamistischen, autistischen und ironistischen Verfehlung des abendländischen Geistes auf den Begriff zu bringen gesucht. Hierzu paßt auch, was ein Autor, der mir näher als Stirner steht, nämlich Ludwig Klages, vor etwa 75 Jahren in seinem Werk „Der Geist als Widersacher der Seele“ auf den Seiten 766–768 schrieb, als sei es auf den heutigen Tag gemünzt; ich lege die Seiten in Kopie bei. Ebenso stimme ich Ihnen darin zu, daß wir in der Herleitung der Übel aus Ursachen von einander abweichen, und das wirkt sich vielleicht auch auf die Prognose aus. Der Unterschied konzentriert sich auf unsere abweichende Bewertung der modernen Aufklärung, sei sie von Diderot oder von La Mettrie. Ich stehe ihr mit starker Skepsis gegenüber, im Gegensatz zu meiner Einstellung zur antiken Aufklärung, wie sie in der (vermutlich ziemlich fairen) Darstellung des Protagoras im platonischen Protagoras durchscheint. Wie ich das meine, geht ebenfalls aus dem HitlerBuch hervor. Vermutlich im Gegensatz zu Ihnen bin ich daher der Meinung, daß mit der allgemeinen Entmythologisierung zwecks Abbaus des irrationalen Überichs unter Einsatz empirischer Wissenschaften noch wenig erreicht wäre, so wenig, daß es sich nicht einmal lohnt, dieser Entmythologisierung „höchste Priorität“, wie Sie schreiben, zuzusprechen. Daß es aber die Tyrannei eines irrationalen Überichs geben kann und ihr an vielen Fronten in der Tat energisch entgegengetreten werden muß, darüber sind wir einer Meinung. Wenn nur die Deutschen nicht so suggestibel wären! Dann brauchte man die Meinungsdiktatur nicht so ernst zu nehmen. Demokratie ist Formsache, ohnehin nur ein Deckmantel für den modernen Parteienstaat, siehe „System der Philosophie“ III/3 S. 360–376. Der erste Schritt müßte sein: Rehabilitierung implantierender Situationen im menschlichen Selbstverständnis. 26. April 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, die Zeitdiagnose, die Sie mir im letzten Brief in den Worten von Ludwig Klages mitteilen, klingt ja nun ganz anders als das, was Sie mir vor kurzem schrieben. Noch am 9. März haben Sie mich zum Befürworter der Zensur ernannt, weil ich die problematischen Seiten der Meinungsfreiheit, die einem heute überall ins Auge springen, nicht zu übersehen bereit bin. Jetzt sprechen Sie selbst gar von „Meinungsdiktatur“ bei uns (wozu ich Ihnen ja

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bereits geschrieben habe, dass ich das nicht so sehe: die Situation ist vielmehr das Ergebnis eines ziemlich „freien“ Marktes und in meinen Augen nur eine von vielen sinnfälligen Erscheinungen, die demonstrieren, was geschieht, wenn „Freiheitsunfähigen“ die Freiheit „geschenkt“ wird bzw. wenn sich ein Kollektiv freiheitsunfähiger Menschen kurzerhand für frei erklärt). À propos Klages: Sie kennen vielleicht von mir, was ich in „Ein dauerhafter Dissident“ (S. 89) zu ihm schrieb: „Ludwig Klages (1872–1957) sah in einer immerhin in seinem sechsten Lebensjahrzehnt verfassten, 1926 erschienenen Schrift Stirners ‚Einzigen‘ als Vorboten des schrecklichsten Unheils an: ‚Der Tag, an dem Stirners Programm auch nur die Willensüberzeugung aller würde, … wäre der «jüngste Tag» der Menschheit – und wird es vielleicht sein.‘ Liest man Klages’ gleichzeitig entstandenes Hauptwerk ‚Der Geist als Widersacher der Seele‘ unter dem Eindruck dieses eindeutigen Diktums, so wundert man sich zunächst, dass Stirner darin namentlich kaum vorkommt. Man ahnt jedoch bald und sieht spätestens in den letzten Kapiteln, dass Klages ähnlich vorging, wie andere vor und nach ihm: er will den ihm offenbar als unwiderleglich erscheinenden, gleichwohl kompromisslos zu bekämpfenden ‚schier dämonischen Dialektiker‘ und ausgeprägtesten ‚Lebensfeind‘ indirekt, durch ein monumentales, Proselyten anziehendes Gegenwerk, erledigen.“ Das ist natürlich, wie alle Abschnitte zu einzelnen Denkern in diesem Buch, nur die Quintessenz meiner Studien, die den Leser zu genauerem Nachforschen anregen soll. Ich habe mir anlässlich Ihrer Bemerkung, dass Sie Klages sehr nahe stehen, mein „Klages-Dossier“ wieder einmal angesehen. Es enthält u.a. Notizen von einem Besuch im Marbacher Literaturarchiv, wo ich die einschlägigen Briefwechsel durchgesehen habe, Hinweise des betreuenden Archivars, Kopien von handschriftlich kommentierten Stellen aus Klages’ Leseexemplar des „Einzigen“ und Kopien aus den Sämtlichen Werken von Klages. Ich habe Klages besonders genau (natürlich gezielt in Hinsicht auf mein Thema) studiert, weil mich seine scharfen und präzisen Bemerkungen über Stirner in seinem Nietzsche-Buch sehr beeindruckt hatten. Ich schreibe Ihnen das so ausführlich, weil ich zu meiner Überraschung gefunden habe, dass ich mir aus dem doch sehr voluminösen Buch „Der Geist als Widersacher der Seele“ nur 4 Seiten kopiert habe, und das sind ausgerechnet die 3 Seiten, die Sie mir kürzlich geschickt haben (766–768) plus 1 Seite, die Sie mir nicht geschickt haben: die unmittelbar vorangehende Seite 765. Und genau auf dieser Seite stehen, im mittleren Absatz, die Sätze, die meinen allgemeinen Eindruck vom tiefsten Sinn und Zweck des philosophischen Hauptwerks von Klages, den ich in obigem Zitat im letzten Satz auf den Punkt zu bringen versucht habe, noch einmal

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befestigt haben. Ich stelle Klages also durchaus in die Reihe der in der allgemeinen Wertschätzung höchst honorigen Denker, die – was allerdings kaum bekannt ist – Stirners singuläre Stellung in der Geistesgeschichte erkannt oder zumindest gespürt, erahnt, gewittert haben, dann aber … (siehe obiges Zitat, letzte Zeile). Ich stimme Ihnen zu, dass sich der allgemeinste Gegensatz unserer Auffassungen in unserer gegenteiligen Bewertung der neuzeitlichen Aufklärung zeigt. Während Sie – wie im letzten Brief erneut angedeutet – keinen wesentlichen Unterschied zwischen La Mettrie und Diderot sehen (womit Sie wohl die verbreitete Lehrmeinung vertreten), versuche ich, beide als Antipoden darzustellen (wobei ich den Fall so weit zuspitzen möchte, dass erkennbar wird, dass gegen La Mettrie – als Autor des „AntiSénèque“ – die sonstigen Aufklärer mitsamt ihren diversen Gegnern eine einzige, wenn auch zerklüftete Front bilden. Dasselbe versuche ich ja auch im Falle Stirner zu zeigen: dass so unterschiedliche Geister wie Marx, Nietzsche, Schmitt, Klages, Habermas u.v.a.m. darin einig gehen, dass es a) gilt, gegen „Stirner“ rigoros vorzugehen und dass dies b) nur auf indirekte Art zu geschehen hat. Vielleicht habe ich mich mit dieser Sicht bei Ihnen längst in den Verdacht gebracht, Liebhaber von Verschwörungstheorien zu sein, und, weil diese ja derzeit en vogue sind, hiermit eine eigene vorgelegt zu haben. Aber nachdem Sie mich in letzter Zeit nacheinander als eifernden Bußprediger, als Befürworter der Einführung von Zensur und als völlig verspäteten Anhänger eines „naiven Naturrechtsdenkens im Sinne der Frühaufklärung“ (der meint, „irgend etwas sei an und für sich vernünftig“) bezeichnet haben, würde ich auch diesen Vorwurf zu verkraften wissen. Sie setzen gegen mein „Programm“ der sukzessiven Eliminierung des „irrationalen Überichs“, die selbstverständlich mit einer Entmythologisierung einherginge, die Rehabilitierung implantierender Situationen. Ich hatte Ihnen ja schon öfter gesagt, dass ich ebenfalls implantierende Situationen anstreben würde, aber grundsätzlich andere als die von Ihnen gemeinten – in kürzester Kürze: pro „unbedingter Ernst“ etc., contra „Heiliges“ etc. als dessen Grundlage. 28. April 2004 Sehr geehrter Herr Laska! Die Meinungsdiktatur, die ich – im Gegensatz zu Ihnen, gemäß Ihrem Brief vom 26.04. – für ein Zeichen unserer Zeit halte, hat mehrere Schichten. Die oberste besteht in massiv drohender Zensur, etwa in Gestalt des Gesetzes gegen die „Auschwitzlüge“; darunter kommt die weniger massive Zensur der Zulassung zu den Medien, die in der Hand von Redaktionen (z.B. „Frankfurter Allgemeine Zeitung“) sind und ihre Macht z.T. repressiv ausspielen; die Hauptmasse besteht in dem sehr starken diffusen Konfor-

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mitätsdruck im Dienst längerfristiger, teils mehr modisch wechselnder Themen, z.B. Demokratie, Feminismus, Antisemitismus, „westliche Werte“ usw. mit sperrig aufgepflanzten Tabuschildern. Ich glaube nicht, daß man diese Formen auf unzulängliche Vorbereitung der Zeitgenossen zur Freiheit einfach zurückführen kann, wenn auch dieser Gedanke nicht ganz abwegig ist. Ich möchte dagegen einwenden, daß in der Sterilität des Meinungsdruckes ein wesentlicher Unterschied gegenüber dem 19. Jahrhundert besteht, in dem die Menschen aus der Zeit der hochbürgerlichen Kultursynthese nicht grundsätzlich freiheitsfähiger als die heutigen waren. Zwar gab es auch damals, im viktorianischen Zeitalter, viele massive und z.T. heuchlerische Vorurteile der öffentlichen Meinung, zugleich aber im Protest und in der Sezession ungemein produktive, ja geniale Verstöße gegen diese Vorurteile und ihre Träger, mit großartigen Ergebnissen in Dichtung, Malerei, Musik, Wissenschaft, und zudem eine bemerkenswerte Bereitschaft der Objekte des Protestes, das Neue und ihnen zunächst Widrige gelten zu lassen und früher oder später in ihre Kultur aufzunehmen. Nach der genialen Welle in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist diese Biegsamkeit der die Vorurteile tragenden Kultur mehr oder weniger erstarrt. Für diese qualitative Zunahme der Meinungsdiktatur weiß ich, wenn überhaupt einen Grund, keinen anderen als den viel weiter fortgeschrittenen Abbau implantierender gemeinsamer Situationen. Es gibt keine eine Kultursynthese elastisch tragende Schicht mit eigenen Lebensformen mehr, wie das gebildete Bürgertum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Damit entfällt die Chance der Reifung zur Selbständigkeit, die eine implantierende Situation, sowohl durch Anschub der Führung des eigenen Wollens, als auch besonders durch die Chance der Auseinandersetzung mit ihrem Nomos bis hin zur produktiven Sezession, zu bieten hat. Die Menschen werden haltloser und lahmer in gestaltenden Impulsen, an deren Stelle flüchtige Launen in der Kruste einer vielgestaltigen Meinungsdiktatur treten. Nicht die eigene Kraft der Menschen ist schwächer geworden, sondern deren Unterfütterung durch einen gestaltungskräftigen Gemeingeist. Die früher von Ihnen kopierte, von mir im vorigen Brief nicht mitgeschickte Seite 765 von Klages’ Widersacher-Werk enthält einen Hinweis auf Stirner, der wahrscheinlich Ihr Interesse erregt und auf die folgenden Seiten gelenkt hat. Irgend einen Hinweis auf eine von Klages gewitterte und durch ein darüber aufgeschüttetes Gedankenwerk verdrängte „singuläre Stellung“ Stirners in der Geistesgeschichte kann ich auf S. 765 nicht finden. Ich stimme Klages übrigens zu: Stirner bietet der Menschheit eine gewaltige Gefahr an, nämlich die Entfesselung vollendeter Frivolität durch Steigerung der personalen Emanzipation über jede Schranke hinaus, die das Heilige (im weitesten Sinn) ihr setzen kann. Das Ergebnis wäre der geistige Wärmetod der Menschheit in Formlosigkeit, chaotischer Sterilität, lau-

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nischer Verzweiflung. Ich sehe diese Gefahr, bin aber bereit, ganz offen darüber zu sprechen, ohne schockiert zu sein, und habe meinerseits ein Gedankengebäude, das bestimmt nicht weniger umfangreich als das von Klages ist, ohne jede Absicht, Stirner zu verdrängen, errichtet. Und was Klages betrifft, muß man sich für seine Konzeption doch wohl an sein merkwürdiges Buch „Rhythmen und Runen. Nachlaß herausgegeben von ihm selbst“, Leipzig 1944, halten, wo viel von den Produkten seiner Jugend (den ersten 20 oder 21 Jahren nach 1872) vorkommt, aber, soviel ich sehen kann, nichts von Stirner. Ich halte Ihre Perlenkette von Stirner-Verdrängern zwar nicht für eine Verschwörungstheorie, aber – verzeihen Sie – für eine fixe Idee. 13. Mai 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, dass Sie das, was ich als mein (para-)philosophisches Lebenswerk – in Ihren Worten: meine „Perlenkette von Stirner-Verdrängern“ (der ich, ohne Ihre Meinung zu entstellen, wohl auch und erst recht die La-Mettrie-Verdränger und die Reich-Verdränger anreihen darf) – betrachte, als fixe Idee bzw. als auf einer solchen beruhend bezeichnen, kam, nach Ihren vorausgegangenen Versuchen, mich bzw. mein Denken zu charakterisieren (eifernder Bußprediger, Freund der Zensur, frühaufklärerischer Naturrechtler), für mich nicht mehr unerwartet. Ich versichere Ihnen, dass ich mich durch Ihre Urteile nicht verletzt fühle, sondern sie als Zeugnisse der Ehrlichkeit schätze – zugleich aber auch als Ausdruck des Unverständnisses bedauere. Dass Sie meine „Aufklärung über (das vorläufige Scheitern der neuzeitlichen) Aufklärung“ nicht als erfolgversprechenden Ansatz erkennen, den Weg aus der (nicht nur) geistigen Misere unserer Zeit zu weisen, ist mir ohnehin bewusst. Wir beide sind ja, mit Verlaub, auf einer sehr grundsätzlichen Ebene so etwas wie Konkurrenten. Wenn Sie – beispielsweise – sagen, Sie hätten „erstmals … das jahrtausendealte Freiheitsproblem gelöst“, so könnte ich für meinen Ansatz – Stichwort „superego esse delendam“ als „Imperativ der Zukunft“ – eine solche Formulierung ebenfalls in Anspruch nehmen. Eine andere Frage ist, was wir jeweils unter „Lösung“ verstehen, d.h. welchen Status eine solche – einerseits „richtige“, andererseits weitgehend marginale, nicht einmal von der sog. Fachwelt gebührend rezipierte – Universal-Theorie angesichts der aktuellen Entwicklung hat. Nachdem Sie mir am 16.4. von Ludwig Klages als einem Ihnen „näher als Stirner“ (und vermutlich überhaupt recht nahe) stehenden Denker die Seiten 766–768 aus dessen Hauptwerk kopiert hatten, teilte ich Ihnen am 26.4. meine Verwunderung darüber mit, dass Sie ausgerechnet die direkt vorangehende Seite 765, die eine aufschlussreiche Bemerkung über Stirner enthält, nicht mitkopiert hatten. Ich zitierte Ihnen dazu aus meinem Buch

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„Ein dauerhafter Dissident“ meine Gesamteinschätzung von Klages als Glied jener „Perlenkette“, die aber mehr auf seinen Worten über Stirner in seinem Nietzschebuch beruht. Sie stimmen nun einerseits Klages zu, dass Stirner eine „gewaltige Gefahr“ darstellt, streiten aber andererseits meine Behauptung ab, dass Klages’ Werk „Der Geist als Widersacher der Seele“, das ungefähr zeitgleich mit seinem Nietzschebuch entstand, in der Hauptsache der Abwehr dieser kulturbedrohenden Gefahr galt (auch wenn darin von Stirner nicht oft die Rede ist – das ist auch so bei Marx, Nietzsche, Schmitt u.a.). Sie untermauern Ihre Ansicht mit dem Hinweis auf das Buch „Rhythmen und Runen“, in dem Klages 1944 Zeugnisse seiner Jugendjahre vorlegt, die großteils in die Zeit der sog. Stirner-Renaissance von 1893 bis 1906 fallen, in denen aber Stirner nicht mit einem Wort erwähnt ist. Aber, bedenken Sie doch bitte: wie könnte jemand, der in seiner Jugend völlig unbeeindruckt von Stirners damals vielberedetem „Einzigen“ gewesen sein soll, im reifen Mannesalter, in den 1920er Jahren, derart leidenschaftlich über Stirner schreiben, wie Klages es in seinem Buch über Nietzsche getan hat? Dass er sich darin trotz äußerster Intensität sehr kurz fasste, dann im „Widersacher“ etwas zurücknahm und dass später in dem von ihm selbst herausgegebenen „Nachlass“ einer Auswahl seiner Jugendschriften der Name Stirner gar nicht auftaucht, ist doch – eingedenk der Stirner-Abwehr-Methoden zahlreicher anderer „Perlen“ der von mir aufgereihten „Kette“ – völlig plausibel. Fixe Idee? Sie selbst bezeichnen (im Einklang mit Klages und manch anderen „Perlen“ meiner „Kette“) Stirner als „den einzigen vollkommenen Nihilisten in der Geschichte der neueren [gab es bei den Alten denn auch einen so vollkommenen?] Philosophie“ und wundern sich, dass ausgerechnet er bei Darstellungen der Geschichte des Nihilismus „vernachlässigt“ wurde (siehe „Selbstdarstellung als Philosophie“, S. 309). Ich nenne nun Stirner zwar nicht einen Nihilisten – sondern, weil er den Weg aus dem Nihilismus in die Zukunft wies, eher einen Transnihilisten – wundere mich aber, dass Sie, am 28.4., strikt abstreiten, bei Klages „irgend einen Hinweis auf eine von Klages gewitterte … ‚singuläre Stellung‘ Stirners in der Geistesgeschichte“ zu erkennen (natürlich nicht nur auf jener Seite 765 des Widersacherbuches). Ich meine, eine solche Witterung nobilitierte Klages doch und höbe ihn aus dem Hauptstrom der betriebsblinden akademischen Philosophie hervor. Sie schreiben dann, Sie sähen, wie Klages, die „gewaltige Gefahr“, die Stirner der Menschheit „anbietet“, seien aber [aber?!] bereit, ohne schockiert zu sein offen darüber zu sprechen, dies, weil (?) Sie selbst ein Gedankengebäude errichtet hätten, das „nicht weniger umfangreich“ sei als das Klages’sche; Sie fügen hinzu, dass Sie Ihr Gedankengebäude nicht errichtet hätten, um Stirner zu verdrängen – und scheinen damit bekräftigen zu wollen, dass es eben eine „fixe Idee“ sei, solche Stirner-Verdrängung bei

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Klages und vielen anderen großen Denkern zu unterstellen. Zugleich lese ich aber aus Ihren Zeilen, aus jenem „aber“, dass Sie es sehr wohl für möglich halten, dass all diese Köpfe ersten Ranges, Marx, Nietzsche, Klages u.v.a., von Stirner so „schockiert“ waren, dass Sie nicht „offen“ gegen ihn antreten wollten, und zwar, weil sie eben nicht in der Lage waren, jenes Gedankengebäude zu errichten, dank dessen Sie sich stark genug fühlen, eben das zu tun. Sie seien also der erste Philosoph, der sich nicht mehr genötigt sieht, Stirner zu verdrängen – im Gegenteil: Sie würdigen Stirner ja ausdrücklich wegen seiner konsequenten Ehrlichkeit und seines Ernstes. Der letzte Absatz des Kap. 3.3. Ihrer „Selbstdarstellung als Philosophie“ (S. 83) liest sich auch ganz so, als ob Sie den von Stirner „leer gelassenen Platz“ zu besetzen meinen. Auf dieser Ambition baute sich meine Erwartung auf, mich mit Ihnen auf elementarster Ebene zu treffen. Da Sie jedoch in Stirner nicht den Transnihilisten zu sehen/ahnen vermögen und ihn als banalen Nihilisten nehmen, ist daraus (bis jetzt) nichts geworden. 17. Mai 2004 Sehr geehrter Herr Laska! Beim Wiederlesen Ihres Briefes vom 13.05. drängt es mich heute, wo ich zum Antworten komme, ebenso wie beim ersten Lesen dazu, heftigen Einspruch gegen den letzten Absatz des Briefes einzulegen, weil Sie darin meine Formulierungen so verzerren, daß ich mich schämen würde, wenn sie so gemeint wären, wie Sie sie auslegen. Ich denke nicht daran, stolz gegen Klages auf ein noch umfangreicheres von mir angelegtes Gedankengebäude zu pochen und nun gar aus dem Umfang dieses Gebäudes zu schließen, ich sei der erste Philosoph, der es nicht mehr nötig hätte, Stirner zu verdrängen. Wenn es je eine solche Notwendigkeit gegeben haben sollte, wäre ihre Beseitigung sicher keine Umfangsfrage. Mit dem Vergleich zwischen Klages und mir bezüglich des Gebäudeumfangs (wobei ich noch nicht einmal ausdrücklich ein größeres für mich beansprucht habe, ich liebe urbane Ausdrucksweise) wollte ich nur die Suggestion bekämpfen, die Größe des Gebäudes steige proportional mit der Verdrängungsabsicht. Bezüglich Stirner bin ich mit Klages’ „Widersacher“ S. 765 im Wesentlichen einer Meinung. Gar nicht so unrealistisch scheint mir die Aussicht, daß wir eines Tages von lauter Stirner’schen Eignern in der „schönen neuen Welt“ vollendeter Frivolität umgeben sein könnten, denen nichts mehr heilig ist oder auch nur sein kann. Das wäre dann der Wärmetod des Menschheitsuniversums, den Hitler mit Recht fürchtete, siehe S. 291, 294 und 355 meines Hitlerbuches. (Nicht zufällig stelle ich Klages und Hitler zusammen, das kann als deren gemeinsame Antwort auf die von Klages unter dem Namen Stirners angeprangerte Gefahr gesehen werden.) Die eschatologische Verzweiflung von Klages liegt mir aber fern. Ich halte ebenso den konsequenten Fortgang des gegenwärtigen strammen Marsches der Menschheit

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in die Katastrophe oder den „Schrecken ohne Ende“ gemäß Bruegel’schen Visionen für möglich wie unerwartete Wendungen. Was ich zu solchen beitragen kann, ist weiter nichts als die Ausleuchtung des Raumes, in dem die Menschen sich bewegen könnten, wenn es ihnen belieben und gelingen sollte, ihren Lebenswillen in der ambivalenten Gegenwart zu verankern, und die Bereitstellung einer dazu geeigneten Sprache. Um eine solche Wendung gegen den unaufhaltsam scheinenden Vormarsch des flachen progressiven und zugleich epigonalistischen Rationalismus zu erreichen, wäre außerdem der geniale Fund lebensfähiger Ankerplätze solcher Verankerung von Nöten, wie es im geschichtlichen – keineswegs naturgegebenen – Erbe der Menschheit z.B. die Liebe, der Tanz, die Gewissenhaftigkeit, die kultivierte Musik, das Wandern, der Brief gewesen sind und noch sind. Ich bringe also nur ein Angebot von Möglichkeiten und kein Rezept für Durchführungen. Deswegen kann ich mich mit der Bereitstellung des Angebots begnügen, ohne eifrig nachzählen zu müssen, ob eine und wie viel „Fachwelt“ nach meiner Pfeife tanzt. Für einen „banalen“ Nihilisten halte ich Stirner übrigens keineswegs; sein Exzeß wird möglich und denkwürdig erst durch die höchst brisante Verbindung der autistischen Verfehlung des abendländischen Geistes mit der ironistischen, vgl. Sie dazu die Gegenüberstellung Kant-Stirner auf den ersten Seiten meines Buches „Selbstdarstellung als Philosophie“ (1–3). Ich habe kürzlich darauf hingewiesen, welche enorme Schwächung dem noch starken, konsequenten Wollen der anglo-amerikanischen, calvinistisch geprägten Yankees und Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts (vgl. Max Weber über den Geist des Kapitalismus) dadurch angetan worden ist, daß ihre autistische Verfehlung sich seit Fichte und der Frühromantik mit der ironistischen verbunden hat zu einem ohnmächtigen Trumpfen auf Selbstbestimmung bei der Bedienung autonom gewordener technischer und ökonomisch-sozialer Apparate, gemäß dem Spott Goethes: „Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben.“ Für diesen ironistischen Autismus steht Stirner mit einer rücksichtslosen Offenheit, die seine Größe ist. Komplette Nihilisten hat es schon im Altertum gegeben, aber sie wirken im Verhältnis zu dem gut durchdachten Anschlag Stirners fade wie Xeniades von Korinth, von dem Sextus Empiricus berichtet, er habe alles für falsch und jede Vorstellung für trügerisch gehalten (Diels/Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, Band II S. 271). (Nietzsche, der Möchtegern-Nihilist, macht daraus den vermeintlichen Assassinenspruch: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.“) Wie ein Unbefangener auf die Idee kommen könnte, Klages habe sein Gedankenwerk über dem Stachel einer bohrenden Stirner-Verdrängung errichtet, ist mir unerfindlich, da Klages doch keineswegs Stirner verdrängt, sondern ihn als Teufel an die Wand malt. Sonderbar trifft es sich auch, daß Sie für die Stirner-Renaissance, während deren Klages sich hätte infizieren müssen, die Jahre 1893–1906 angeben, während Klages bezeugt,

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daß seine Konzeption auf den Visionen seiner Jugend bis zum Alter von 21 Jahren, also ausgerechnet bis 1893, beruhe, worauf ein eher trockenes Jahrzehnt gefolgt sei. 26. Mai 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, Ihr „heftiger Einspruch“ gegen meine Lesart verschiedener Äußerungen in Ihrem Brief vom 28.4. – Sie sprechen sogar von Verzerren, was eine Absicht insinuieren könnte – hat mich überrascht. Ich habe deshalb, um Ihre Reaktion zu verstehen, sowohl diese Stellen als auch meine Auffassungen derselben, wie sie in meinem Brief vom 13.5. wiedergegeben sind, noch einmal gründlich durchgesehen und wundere mich erneut über Ihren Einspruch. Ich verstehe auch nicht, warum Sie sich, wie Sie schreiben, schämen würden, wenn Ihre Äußerungen so gemeint wären, wie ich sie verstanden habe. Eingestandenerweise kenne ich Ihr publiziertes Werk nur zu einem kleinen Teil. Aber selbst in diesen Texten bin ich mehrmals auf Stellen gestoßen, die ein „normaler“ Autor heutzutage nicht zum Druck bringt. Beispielsweise: „… habe ich … erstmals … das jahrtausendealte Freiheitsproblem gelöst.“ („Mein System der Philosophie“, in: Information Philosophie, Jan./Feb. 1977, S. 2); „Ich glaube, seit mehr als zweitausend Jahren ziemlich der erste Philosoph zu sein, der …“ („Der unerschöpfliche Gegenstand“, S. 17); „Nach meinem Kenntnisstand bin ich der Erste und bislang der Einzige, der – übrigens oft und seit Jahrzehnten – vorgetragen hat, dass …“ („Selbstdarstellung als Philosophie“, S. 7). Ich habe Sie für diesen Freimut – wie er auch aus Ihrem Hitlerbuch spricht – immer bewundert. Daher meine Verwunderung über Ihren Einspruch. Auf Seite 83 von „Selbstdarstellung als Philosophie“ finde ich nun eine Stelle, auf die ich am 13.5. nur verwiesen habe, die ich aber jetzt zur Klärung Ihres Vorwurfs zitieren möchte: „Durch die rezessive Entfremdung der Subjektivität entlarvt Stirner immerhin diese Unzulänglichkeit der bloß objektiven Tatsachen und stellt Subjektivität als ehrliche Herausforderung hin, mit dem Stachel seiner schonungs- und schamlosen Anmaßung, die das Nachdenken dazu treiben kann, den von ihm leer gelassenen Platz des namenlosen Einzigen, der seine Sache auf Nichts gestellt hat, durch genaues Erforschen der Phänomene zu füllen, mit dem schließlichen Erfolg der Entdeckung der subjektiven Tatsachen am affektiven Betroffensein (1.1).“ Da Sie meinen, diese Stelle sei anders aufzufassen als so, wie ich es in meinem letzten Brief getan habe, möchte ich Sie um eine Erläuterung bitten. Ludwig Klages jedenfalls sehen Sie, wie ich Ihren publizierten und brieflichen Äußerungen entnehme, als jemanden an, der zwar sensibel und intelligent genug war, um Stirner „als Teufel“ wahrzunehmen und „an die Wand zu malen“, der aber nicht in der Lage war, ihn mit den Mitteln seiner Philosophie wirksam zu bannen. Dann aber schreiben Sie, dass es Ihnen

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„unerfindlich“ sei, wie jemand – gemeint: Bernd Laska – auf die Idee kommen kann, Klages habe mit seiner Philosophie – dem Werk der Zwanziger Jahre, also Nietzschebuch und Widersacherbuch, in denen die intensiven Stirner-Stellen stehen – die Absicht verfolgt, diesen von ihm identifizierten Teufel (d.i. die „unter dem Namen Stirners angeprangerte Gefahr“) zu bannen; unerfindlich zumal, weil Klages während seiner jungen Jahre, die in eine Zeit breiter Stirner-Diskussion fallen, kein Wort über Stirner verloren habe. Mir hingegen ist unerfindlich, wie jemand – gemeint: Hermann Schmitz, mit dem oben genannten Anspruch – diese Klages-Deutung nicht nachvollziehen mag, gar unerfindlich findet. Freilich: Sie sagen, ein Unbefangener könne auf eine solche Idee nicht kommen, und ich gebe zu, insofern „befangen“ zu sein, als ich dieses Reaktionsmuster bei Klages nur deshalb zu unterstellen vermag, weil ich, wie Sie wissen, ähnliche Reaktionen auf eine frühe Begegnung mit Stirners Buch bei einer Reihe von „kreativen“ Denkern gefunden habe. Leider habe ich Ihre diesbezügliche „Unbefangenheit“ offenbar bisher nicht erschüttern können. Insofern werden wir im Fall Klages uns wohl auch nicht weiter annähern können. Der tiefere Grund für diese Distanz liegt aber darin, dass Sie Stirners Botschaft immer wieder, auch im letzten Brief, mit „vollendeter Frivolität“, „Wärmetod der Menschheit“ usw. identifizieren, während ich ausgerechnet Stirner als denjenigen erkenne und darzustellen versuche, der geistig wie lebenspraktisch die Überwindung, den Ausweg aus dieser Situation gewiesen hat. Ich habe Ihnen ja schon des öfteren konzediert, dass Ihre StirnerDeutung mit Zitaten gut belegbar ist. Aber Ihr Stirner – der „vollendete Nihilist“ – ist für mich uninteressant und, wie ich sagte, „banal“. Mein Stirner ist der, der von seinem Buch, einer großteils polemischen Gelegenheitsschrift, sagte, damit sei erst „ein Anfang“ gemacht, ein Anfang auf dem Weg aus dem „Nihilismus“ hinaus. Dieser „Transnihilist“ Stirner ist es, den ich zu bergen und – im Verein mit La Mettrie und Reich – aufzurichten versuche. Als ein interessanter Aspekt Ihres letzten Briefes erscheint mir Ihr Hinweis darauf, dass Sie Klages und Hitler eine „gemeinsame Antwort auf die von Klages unter dem Namen Stirners angeprangerte Gefahr“ geben lassen. Das wirft die Frage auf, ob Hitler, besser: das Deutschland der Jahre 1933–45, nur aufgrund der militärischen Übermacht seiner Gegner unterging, bzw. ob es nicht, wie (nicht nur) die deutsche Nachkriegsgeschichte zeigt, dem anglo-amerikanischen „Geist“ unterlag. Diesen scheinen Sie in Ihrem letzten Brief auf eine mir nicht ganz klare Weise, als Kombination der autistischen mit der ironistischen Verfehlung, in einen vagen Zusammenhang mit dem Stirner’schen bringen zu wollen, was ich, siehe oben, für völlig verfehlt halte. Die „schöne neue Welt“ vollendeter Frivolität, auf die „wir“ hintreiben, wird gewiss nicht, wie Sie sagen, „von lauter Stirner’schen Eignern“ bevölkert sein. Aber darüber werden wir uns wohl kaum verstän-

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digen können. Einig sind wir uns indes darin, dass uns die eschatologische Verzweiflung eines Klages (und Hitler) angesichts der absehbaren Entwicklung der menschlichen Geschichte nicht im Griff hat. 28. Mai 2004 Sehr geehrter Herr Laska! Es lag mir völlig fern, Ihnen für den letzten Absatz Ihres Briefes vom 13. Mai die Absicht einer Verzerrung zu unterstellen. Was meinen Protest auslöste, war die von Ihnen mit Fragezeichen versehene Vermutung, daß ich aus dem bloßen Umfang meines wissenschaftlichen Werkes Ansprüche ableitete. Zu den Formulierungen von mir, die Sie im ersten Absatz Ihres Briefes vom 26. Mai nachfragend zitieren, stehe ich durchaus. Ich bin mir großer wissenschaftlicher und philosophischer Erfolge bewußt. So deutlich pflege ich das aber nur im für die Öffentlichkeit bestimmten Druck zu sagen. Da ist es ein Versuch, durch Herausforderung die Menschen aus dem angestammten und heute erst recht mit vielen Worten festgestampften „dogmatischen Schlummer“ (Kant) ihres Nachdenkens über sich selbst zu befreien, aus der epigonalen philosophischen Engstirnigkeit. Im privaten Gedankenaustausch bevorzuge ich zurückhaltende Töne. Dazu gehört für mich auch unsere Korrespondenz, selbst wenn es nicht ausgeschlossen ist, daß sich irgendwann einmal andere dafür interessieren. Hoffentlich habe ich Sie nicht empfindlich vor den Kopf gestoßen. Die Absicht liegt mir fern. Die Problematik, die Stirner durch seine bewundernswerte Schamlosigkeit (siehe S. 83 meines Buches; von Ihnen zitiert) aufgedeckt hat und die noch heute virulent ist, geht nach meiner Meinung in zwei Richtungen. Die erste betrifft die Verarbeitung der von Anfang an durch ein Mißverständnis entstellten Entdeckung der subjektiven Tatsachen, d.h. des Umstandes, daß das, was z.B. ich bin – entsprechend jeder andere Bewußthaber ist –, nicht durch Angabe neutraler oder objektiver Tatsachen getroffen wird. Daraus folgt, daß die Welt nicht nur ein Gemenge vieler Tatsachen, sondern auch vieler Tatsächlichkeiten ist, die nur durch Abzug der Subjektivität für jemand, durch Verarmung, auf den gemeinsamen Nenner der Neutralität gebracht werden können. Das Mißverständnis bestand darin, nicht viele subjektive Tatsächlichkeiten, sondern ein über oder zwischen allen Tatsachen schwebendes reines Ich anzunehmen. Daraus entstand die ironistische Verfehlung (romantische Ironie) und die Angst des existenzphilosophischen Höhenschwindels über den eigenen Möglichkeiten. Stirners Verdienst ist in dieser Beziehung, das Paradox des reinen Ich gleichsam im Denkmal des Einzigen, der nicht einmal mehr beim Menschsein gepackt werden kann, demaskiert zu haben. Ein Problem, das so offen da liegt, kann leichter bewältigt werden. Dazu habe ich den nötigen Schritt getan und einen Weg gezeigt, der aus der ironistischen Verfehlung und der

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komplementären Angst führen könnte. Es handelt sich um die Möglichkeit einer Autorität mit unbedingtem Ernst, relativiert auf die Perspektive der einzelnen Person, die aber nicht, wie Stirner wollte, nach Belieben auf Nichts gestellt, sondern einer die persönliche Situation der Person implantierenden Situation abgewonnen wird. Die Möglichkeiten der Verstrickung durch das Fichte’sche Mißverständnis zu entgehen, ist damit aufgezeigt, aber erst leer, denn ich kann die Autorität mit unbedingtem Ernst ja nicht herbeireden. Hitler wollte das mit seinem Ideal der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft nach dem Modell des von ihm erfahrenen Schützengraben-Heroismus, aber wir wissen, wie schief das gegangen ist. Das führt nun zu der zweiten Richtung des von Stirner aufgegebenen Problems. Die ironistische Verfehlung, Hand in Hand mit der autistischen und der dynamistischen, ist so weit gediehen, daß ich die Wahrscheinlichkeit nicht abschätzen kann, ob es mir gelingt, mit der unbestimmten philosophischen Vorzeichnung eines möglichen Verfahrens zur Lösung des Knotens der Menschheit nachzulaufen und sie einzuholen, ehe sie das Ideal Stirners faktisch erreicht hat und für die Möglichkeit des Heiligen, d.h. der Autorität von Gefühlen mit unbedingtem Ernst unsensibel geworden ist. In der ersten Hinsicht, was den gedanklichen Rahmen der Konzeption betrifft, bin ich also über Stirner hinaus, aber das ändert nichts an der Geschichtsmächtigkeit seines verhängnisvollen Ideals des Einzigen, dem nichts mehr heilig ist, weil er sein Sach’ auf Nichts gestellt hat, und in dieser Beziehung weiß ich nicht, ob ich Stirner gewachsen bin, und kann nur mit abwartender Skepsis den Zug der Geschichte begleiten. Hoffentlich habe ich Ihnen damit die gewünschte Erläuterung (Ihr Brief vom 26. Mai, letzte Zeile im 2. Block) gegeben. Die Verwandtschaft zwischen Klages und Hitler erstreckt sich auch darauf, daß beide merkwürdig unsensibel gegen die Subjektivität im von Fichte entdeckten Sinn, die Subjektivität der subjektiven Tatsachen, sind und lediglich die dynamistische Verfehlung (Klages) oder die autistische (Hitler) als Stein des Anstoßes im Auge haben (während in der SS schon mehr Wachheit zu finden war, etwa bei Werner Best als Brückenfigur zwischen Hitler und Ernst Jünger). Vielleicht liegt darin der tiefere Grund der Niederlage Hitlers gegen die massive Verknotung von dynamistischer und autistischer Verfehlung in Gestalt des Heereszuges der westlichen Zivilisation von Roosevelt bis (einstweilen) George W. Bush. Vielleicht wird es darauf ankommen, den vernünftigen Kern des gemeinsamen Anliegens von Hitler und Klages ohne die eschatologische Verzweiflung von Klages und ohne die grotesk übertriebene phobisch-brutale Aggressivität Hitlers noch einmal zur Geltung zu bringen. Ein möglicher Weg dahin ist das, was ich in meinem Buch „Adolf Hitler in der Geschichte“ als „die Wiedervereinigung des römischen Reiches“ umschrieben habe.

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11. Juni 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, es war beruhigend für mich, zu lesen, dass Ihr neulicher Protest auf einer irrigen Lesart beruhte. Ich hatte ja extra ein Fragezeichen in Klammern hinter mein „weil“ gesetzt, denn ich nahm natürlich nicht ernstlich an, dass Sie, wie dem drittletzten Satz Ihres Briefes vom 28.4. zu entnehmen ist, den Rang Ihres Gedankengebäudes nur oder primär aus dessen Umfang ableiten. Ich darf also jenen längeren Satz, in seinem Kontext, so verstehen: 1) Sie sehen – ebenso wie Klages – die Gefahr, die Stirner der Menschheit „anbietet“; Sie sind aber – anders als Klages – bereit, offen darüber zu reden, ohne schockiert zu sein. 2) Sie haben ihrerseits – wie Klages, dabei „nicht weniger umfangreich“ – ein Gedankengebäude errichtet, aber „ohne jede Absicht, Stirner zu verdrängen“. Letzteres haben Sie offenbar nur angefügt, weil ich bei Klages – aufgrund meiner „fixen Idee“ – wie bei Marx, Nietzsche u.a. vermutet habe, dass er Stirner „verdrängt“ hat und Sie diesen meinen Verdacht auch auf sich bezogen haben. Ich schreibe das nicht aus Lust an Wortklauberei, sondern um bei unserem Thema „Stirner“ mehr Klarheit zu gewinnen. Bei Klages kann ziemlich sicher angenommen werden, dass er Stirners „Einzigen“ in seinen jungen Jahren, in denen dieser in aller Munde war, kennengelernt hat. Äußerungen von ihm über Stirner gibt es aber, soweit mir bekannt, erst aus seinen späteren Jahren, und die Vehemenz dieser dann sogar öffentlichen Äußerungen des reifen Denkers (im Nietzsche- und im Widersacherbuch) bestärkt ja durchaus die Annahme, dass Stirner ihn als jungen Mann geradezu überwältigt und zur „Verdrängung“ dieser als hochgefährlich empfundenen Ideen gezwungen hat. Erst als er ein eigenes philosophisches Konzept erarbeitet hatte, dem er zutraute, jene „Gefahr“, die Stirner exponiert hatte, zu bannen – denn offenbar hielt er alles Bisherige, incl. Nietzsche, für ungeeignet oder zu schwach – konnte er an Stirner wieder bewusst denken und ihn sogar namentlich nennen. Wenn ich also – im Rahmen meiner „fixen Idee“ über die Sabotage der Aufklärung durch die führenden Aufklärer selbst – von „Verdrängung“ spreche, dann nicht unbedingt in einem exakt psychoanalytischen Sinn (den es vielleicht gar nicht gibt). Ich meine immer diese beiden Aspekte: 1) die psychologische Verdrängung der „Gefahr“ Stirner, die jene Denker in jungen Jahren mit noch hoher Sensibilität wahrgenommen haben; 2) die Bewältigung dieser nun im Unbewussten sozusagen drohend lauernden oder sonstwie rumorenden Gefahr durch Schaffung eines Werkes, das durch Größe, Komplexität, Faktengesättigtheit etc. erst seinen Autor, dann aber auch eine breite Schicht von Philosophierenden – die sich ja in ähnlicher geistiger (Not-)Lage befinden – davon überzeugt, dass die mit „Stirner“ bezeichnete Gefahr damit überwunden, vom Markt der Ideen „verdrängt“ ist (wobei das Letztere natürlich unaus-

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gesprochen bleibt, ja, meist wohl nicht einmal ins Bewusstsein kommen darf, weil das ja indirekt eine Aufwertung Stirners wäre). Wie auch immer Sie meine Sichtweise beurteilen: in Ihrem letzten Brief, in dem Sie auch ausdrücklich auf die von mir früher zitierte Stelle aus Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ (S. 83) Bezug nehmen, sagen Sie, dass die von Stirner aufgedeckte Problematik noch heute virulent ist. Zumindest darin sind wir einer Meinung. Sie erklären dann zunächst den sozusagen theoretischen Teil der Problematik, den Sie offenbar durch keinen der Philosophen nach Stirner gelöst sehen. Auch darin sind wir einer Meinung. Wie ich auch aus der eben genannten, von mir am 26.4. ausführlich zitierten Stelle entnommen habe, erheben Sie, lt. letztem Brief, den Anspruch, „den nötigen Schritt getan und einen Weg gezeigt [zu haben], der aus der ironistischen Verfehlung und der komplementären Angst führen könnte.“ (Stirner billigen Sie dabei das Verdienst zu, durch seine „bewundernswerte Schamlosigkeit“ das Fichte’sche Missverständnis seiner Entdeckung der subjektiven Tatsachen exponiert und somit Ihnen dessen Bewältigung erleichtert zu haben). Darin sind wir – allem Anschein nach – nicht einer Meinung. Sie nennen als den von Ihnen vorgeschlagenen Weg „die Möglichkeit einer Autorität mit unbedingtem Ernst …“ – wobei ich Ihnen zustimmen könnte – „… relativiert auf die Perspektive der einzelnen Person …“ – was ich Sie etwas zu erläutern bitte –, „… die einer die persönliche Situation der Person implantierenden Situation abgewonnen wird.“ Auch das könnte ich bejahen, wenn ich nicht wüsste, dass Sie unter „implantierenden Situationen“ die sozusagen traditionellen verstehen, während ich mir für meine „Vision“ gänzlich neuartige vorstelle (ganz ähnlich wie bei der „Autorität“ und dem „Heiligen“). Wir haben uns dieser Kernthematik ja in unseren Briefen schon von verschiedenen Seiten zu nähern versucht, und ich bin mir noch immer nicht ganz sicher, ob wir uns jeweils wirklich ganz verständlich gemacht haben. Sie schreiben z.B. in Ihrem letzten Brief wiederum, dass Sie meinen, die gegenwärtige Entwicklung der Menschheit laufe auf das „verhängnisvolle Ideal“ Stirners hin, während ich auf Stirner kam, weil ich gerade bei ihm die entscheidende Idee fand, die gegen diese Entwicklung steht. Gleichwohl sind wir uns darin einig, dass unsere gegensätzlichen Interpretationen Stirners und die daraus ableitbaren Empfehlungen, die wir auf Papier drucken lassen können, nichts am Lauf der Dinge ändern werden; dass somit der von Ihnen genannte zweite, praktische Teil der Problematik, auf den es „objektiv“ ankäme, also unberührt bleiben wird, jedenfalls zu unseren Lebzeiten, aber höchstwahrscheinlich auch in weiterer Zukunft. Inwiefern also lässt sich entscheiden, welche der beiden Auffassungen – oder ob überhaupt eine – „richtig“ ist? Die Frage ist freilich eine rein rheto-

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rische. Sie stellt sich zwar, beunruhigt mich aber nicht. Letztlich führte sie zu dem unauflöslichen Mysterium. 13. Juni 2004 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 11. Juni stellen Sie unsere Stellungnahmen zu Stirner treffend einander gegenüber und vergleichen die meinige, gleichfalls untadelig, mit der von Klages. Ich füge hinzu, daß ich glaube, die von Stirner ausgehende Gefahr schärfer als Klages zu sehen. Dabei kann ich mich allerdings nur auf die Stelle in „Geist als Widersacher“ S. 765 und Ihr kurzes Zitat in „Ein dauerhafter Dissident“ S. 89 aus dem Nietzschebuch, das ich nicht zur Hand habe, berufen. An beiden Stellen scheint Klages an der von ihm angenommenen Überzeichnung des Willens durch Stirner Anstoß zu nehmen, z.B. S. 765: „daß der vermeinte Besitzer des Willens in Wahrheit der Besessene des Willens geworden“. Die Stelle befindet sich ja auch im 4. Buch „Die Lehre vom Willen“ (S. 513ff.). Das deutet darauf hin, daß Klages in Stirner einen radikalen Vorkämpfer der dynamistischen Verfehlung des abendländischen Geistes (im Sinne der Terminologie meines Hitlerbuches) anprangern will, wie es der Leitlinie seines kulturkritischen Protestes entspricht, vgl. das Hitlerbuch S. 294. Ich sehe die von Stirner heraufbeschworene (wenn auch nicht gestiftete) Gefahr dagegen keineswegs in der dynamistischen Verfehlung (Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht) oder in der (von Hitler gefürchteten) autistischen (Isolierung und Nivellierung der Individuen), sondern in der höchst gefährlichen Verstärkung dieser beiden Verfehlungen durch die ironistische Verfehlung (Hitlerbuch S. 64ff.): Jeder meint, von jedem Standpunkt beliebig sich zurückziehen und eben deshalb auch jeden beliebig einnehmen und in diesem Sinn „sein Sach’ auf Nichts stellen“ zu können, was zwar eine Illusion ist, aber dazu führen kann, daß den Menschen der Sinn für etwas, das ihnen heilig sein könnte, aberzogen wird, daß sie die Sensibilität für das Heilige – sowohl wenn es sich anbietet als auch wenn es fehlt – verlieren. Für diese ironistische Verfehlung scheint es Klages – im Gegensatz zu den von mir in „Selbstdarstellung als Philosophie“ behandelten Autoren, den Existenzphilosophen und allen denen, die mein Schüler Michael Großheim in seiner Habilitationsschrift „Politischer Existenzialismus“ (Tübingen 2002) am Leser vorbeiziehen läßt – gefehlt zu haben, es sei denn, daß man das „nackte Ich“, das er S. 765 Stirner vorwirft, als einen Abkömmling des absoluten Ichs nach Fichte, des Prototyps bestimmungsloser Leerform rezessiv entfremdeter Subjektivität der ironistischen Verfehlung, gelten läßt, aber Klages ordnet dieses Motiv der herkulischen Besessenheit vom lebensfeindlichen Willen unter. Daraus leite ich ein Argument gegen Ihre Annahme her, Klages sei vom Stachel einer tiefen Betroffenheit durch die von

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Stirner ausgehende Gefahr inspiriert worden: Er hat die zentrale Stoßrichtung dieser Gefahr gar nicht oder nur am Rande erfaßt. Sie bitten mich um eine Erläuterung meiner Relativierung der Autorität eines Gefühls mit unbedingtem Ernst – der Quelle alles Heiligen, z.B. im Gewissen – auf die Perspektive der einzelnen Person. Die Relativierung ergibt sich aus der Natur des unbedingten Ernstes, der darin besteht, daß 1. unter den der Person erreichbaren Niveaus personaler Emanzipation eines das höchste ist und 2. die Person auch auf diesem Niveau der Autorität nicht gewachsen ist, in dem Sinn, daß sie der von dieser vorgezeichneten Norm die Bereitschaft zum Gehorsam nicht unbefangen (so daß sie mit sich im Reinen wäre) entziehen kann. Nun ist es gar nicht klar, daß es immer ein solches höchstes Niveau gibt, außer bezüglich der theoretischen Evidenz objektiver Tatsachen (oder einer entsprechenden Scheinevidenz untatsächlicher Sachverhalte, wie bei paranoischem Wahn), und ferner nicht, wie hoch es ist; im Groben wird man sagen dürfen, daß die Reflexion es hebt (so daß der Spielraum für Unbefangenheit sich erweitert), die Sensibilität es senkt (so daß er sich verengt). Die Autorität eines Gefühls für jemand beruht aber allein auf den subjektiven Tatsachen seiner Ergriffenheit durch es; daraus folgt die Relativierung der Autorität mit unbedingtem Ernst eines Gefühls auf die Perspektive der einzelnen Person. Für die Praxis der Prüfung, welchen Autoritäten ich Gehorsam (mit unbedingtem Ernst) schulde, hat dies die Folge, daß sich solche Prüfung nicht mehr an absolute Maßstäbe (z.B. eine Tafel der Werte nach Scheler, eine Deduktion des Sittengesetzes nach Kant usw.) halten kann, sondern nur noch in der Selbstprüfung besteht, daß einer sich selbstkritisch fragt: Wo ist der Punkt erreicht, daß ich mit Luther sagen muß: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“? Mein Brief vom 28.05. ging an Sie mit zwei kleinen stilistischen Flüchtigkeitsfehlern ab, von denen der erste in überflüssiger Einfügung des Wortes „angebracht“ über einer Zeile besteht; den zweiten habe ich in meiner Kopie korrigiert, finde ihn aber nicht mehr. Wenn Sie es wünschen, schicke ich Ihnen den verbesserten Text. 28. Juni 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich glaube, unsere Diskussion über das Verhältnis von Ludwig Klages zu Stirner können wir als zu einem einigermaßen befriedigenden Ende gekommen betrachten. Ich kenne mich in Klages’ Leben und Werk nicht sonderlich gut aus und habe die Gründe für meine Vermutung, dass Klages als junger Mann Stirners ihn erschütternde Gedanken „verdrängt“ und Stirner erst als reifer Mann, nachdem er ein philosophisches Werk geschaffen hatte, in seinen Schriften zu nennen wagte, in meinen früheren Briefen genannt. Das mir von Ihnen empfohlene Klages-Buch „Rhythmen und

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Runen“ konnte meine Vermutung weder be- noch entkräften. Lassen wir es also vorerst dabei bewenden. Während ich Klages mit dieser Vermutung in eine Reihe mit hochkarätigen, nachstirnerschen Denkern stelle, bezweifeln Sie, dass er die „zentrale Stoßrichtung“ der von Stirner exponierten Gefahr überhaupt erkannt habe (was Sie auch als Argument gegen meine Vermutung betrachten). Ihm habe, meinen Sie, möglicherweise der Sinn zur Wahrnehmung der Gefahr, die mit der „ironistischen Verfehlung“ droht, gefehlt – dies im Gegensatz zu den Autoren, die Sie in „Selbstdarstellung als Philosophie“ und Michael Großheim in seiner Habilitationsschrift (die ich nicht gelesen habe, da sie in der hiesigen Universitätsbibliothek, obwohl deren „Sondersammelgebiet“ Philosophie ist, leider nur als Mikrofiche-Ausgabe vorliegt) nennen. Daraus ergibt sich eine merkwürdige Konstellation: Nietzsche und Wittgenstein, die Sie näher untersuchen, vielleicht auch noch Schopenhauer, Husserl und Heidegger, denen Sie die Wahrnehmung der Gefahr konzedieren, nennen Stirner weder in ihren umfangreichen Schriften noch in Briefen noch in nachgelassenen Notizen etc. Klages hingegen, vermeintlich blind für die Gefahr, bringt es immerhin zu einigen deftigen Sätzen über den „dämonischen“ Stirner in seinen publizierten Schriften. Für die Existenzphilosophen, die Sie, ohne Namen zu nennen, im letzten Brief noch heranziehen, bliebe dies im Einzelfall zu untersuchen; die meisten, insbesondere die berühmteren, schweigen sich jedoch aus; nur wenige ließen sich, natürlich nicht in einer Fachzeitschrift, zu einer halb wütenden halb blasierten Stellungnahme provozieren (wie z.B. Abbagnano mit „L’apologia del Nulla“ in „La Stampa“). Leider sind die meisten Stellungnahmen gegen Stirner – und erst recht natürlich die schweigenden, ihn aber indirekt und implizit vermeintlich erledigenden – derart unqualifiziert, dass nicht klar wird, gegen welchen Gedanken des „Einzigen“ sie sich richten. Insofern ziehe ich pauschale Schmähungen, die, wie die von Klages, Kolakowski, Holz u.a., Stirner als teuflischen Weltuntergangspropheten an die Wand malen, denen vor, die seine Stimme durch blendende Talmi-Philosophie, durch ein nicht endendes Tamtam der vielen Worte übertönen und durch stillschweigende Sequestration zu eskamotieren suchen. Weil Sie sich zu keiner dieser beiden Gruppen zählen, bedauere ich nach wie vor, dass Ihre öffentliche Stellungnahme zu Stirner in Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ so knapp ausfiel und vor oder zwischen den großen Kapiteln über Nietzsche und Wittgenstein fast untergeht. Mich würde wirklich sehr interessieren, ob sich dem normal philosophisch gebildeten Leser dieses Buches, ja sogar dem Hermann-Schmitz-Kenner, die ausgezeichnete Stellung Stirners, die Sie ihm als dem Exponenten der ironistischen Verfehlung (als „höchst gefährliche Verstärkung“ der autistischen und dynamistischen) einräumen, auffällt und im Gedächtnis bleibt;

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oder wer die von mir kürzlich im Brief zitierte Stelle aus S. 83 (Stirner ließ Leerstelle, Phänomenologe füllt sie) zu würdigen weiß. Besten Dank für die erbetene Erläuterung zu „… relativiert auf die Perspektive der einzelnen Person …“ Mir kam, als ich las, dass also nicht „absolute“ Wertetafeln oder Sittengesetze die Autorität darstellen, der ich mich zu Gehorsam verpflichtet fühle, sondern meine „eigenen“, durch Selbstprüfung feststellbaren Normen, sofort Stirners banaler, gleichwohl oft als sein „schlimmster“ zitierter Satz in den Sinn: „Ich aber bin durch Mich berechtigt zu morden, wenn Ich Mir’s selbst nicht verbiete.“ („Der Einzige …“, Reclam 1972, S. 208). Ist das eine richtige/passende Assoziation? 29. Juni 2004 Sehr geehrter Herr Laska! Über das Verhältnis von Klages zu Stirner sind wir einig, wenn auch nicht über dessen Motivation durch ein Klages vermeintlich erschütterndes und zu seiner Konzeption inspirierendes Stirner-Erlebnis, wofür ich keine Anzeichen finde. Was aber die übrigen, in meinem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ behandelten und in Ihrem Brief vom 28.06. genannten Philosophen angeht, stimme ich mit Ihnen in der Verwunderung darüber überein, daß sie so wenig Notiz von Stirner nehmen, obwohl sie alle in der einen oder anderen Weise von der ironistischen Verfehlung, d.h. der rezessiven Entfremdung der Subjektivität von den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen, berührt sind und Stirner der konsequenteste Exponent dieser Verfehlung ist. Er ist es aber auf eine so einfache und durchschlagende, durch Radikalität gleichsam abgeschliffene Weise, daß es mir genügte, nur so viel über ihn zu schreiben, wie in dem Buch steht. Sie wissen aus unserer Korrespondenz und aus dem Buch, daß in meinen Augen der sogenannte Nihilismus, von dem seit Jacobi (1799) die Rede ist, ganz nur in dieser rezessiven Entfremdung besteht, d.h. in dem Unvermögen, irgendwelche das eigene Sein und Wollen bindenden Tatsachen und Normen zu finden, nachdem die Bindung an objektive oder neutrale Tatsachen und Normen sich als unzulänglich erwiesen hat. Diese „Wahrheit des Nihilismus“, daß das Subjekt „sein Sach’ auf Nichts gestellt“ hat, hat Stirner rein und ohne labyrinthische Verschlingungen formuliert, während die anderen angesprochenen Denker oder auch Kierkegaard – den ich nicht mag, weil er für seine Gespreiztheit keine solche Entschuldigung hat wie Nietzsche, der die naive Hilflosigkeit seiner Selbstbehauptung durch kokette und großsprecherische Maskierung kompensiert – diese Problematik so in Labyrinthe einwickeln, daß die Auswicklung einer beträchtlich umfangreicheren Interpretation bedarf. In der Sache bin ich also gar nicht so weit von Ihrer Auffassung entfernt, daß die im weitesten Sinn existenzphilosophische Debatte sich um die Position Stirners dreht, aber das von Ihnen inszenierte Drama einer Serie ungeheuerlich erschütternder und inspirierender Stirner-Lektüre

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bekannter literarischer Autoritäten kommt mir im Wesentlichen phantastisch vor, obwohl es z.B. auf Nietzsche verführerisch gut passen würde; nur leider haben wir gar keinen Anhaltspunkt dafür, daß es wirklich paßt. Ich sehe die große Gefahr der ironistischen Verfehlung darin, daß die in ihr befangene Menschheit sich die Sensibilität für das Heilige abgewöhnt, noch unabhängig davon, ob solches dann tatsächlich sich ereignet. Meine Aufdeckung des gedanklichen Fehlers, der dieser Verfehlung zu Grunde liegt, könnte die Gefahr bannen, aber ich sehe nicht ab, ob es dazu kommen wird. Das große Verdienst Stirners sehe ich darin, daß er durch seine Proklamation des Nihilismus und Leidenschaft für die Ausrottung des Heiligen die Gefahr scharf formuliert hat, so daß sie unverblümt zum Vorschein kommt. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ (Hölderlin) Den von Ihnen angeführten Ausspruch Stirners über sein Recht, zu morden, finde ich nicht skandalös, aber gefährlich durch seine verwirrende Zweideutigkeit. Wenn gemeint ist, daß ich mir ganz nach Belieben das Recht dazu geben kann, liegt darin, daß das Leben meiner Mitmenschen für mich nichts Heiliges mehr hat. Dann ist dessen Beseitigung, wie Hegel den Schrecken der absoluten Freiheit beschreibt, „der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers“ (Phänomenologie des Geistes hg. v. Wessels und Clairmont, Hamburg 1988, S. 390). Dann triumphiert die ironistische Verfehlung im Verhältnis des Menschen zum Leben seiner Mitmenschen. In einer anderen Bedeutung ist Stirners Maxime gleichfalls akzeptabel, wenn nämlich nur gemeint ist, daß das durch Mordverbot geschützte Leben des Mitmenschen kein absolutes Tabu ist, sondern dessen Schonung wie jede andere sittliche Pflicht Verbindlichkeit nur bewähren kann an der stets zu erneuernden Selbstprüfung, wo eine Grenze zu finden ist, über die man beim Verstoß gegen Normen nicht hinausgehen kann, ohne mit sich selbst von Grund auf uneinig zu werden. So verstanden, ist Stirners Maxime nicht nihilistisch und mit Gehorsam gegen das Heilige verträglich. Vom 6.07. bis etwa Monatsende will ich auswärts Urlaub machen. 3. Juli 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, zunächst etwas Technisches, das ich im letzten Brief vergessen hatte: natürlich hätte ich gern die angebotene Kopie Ihres Briefes vom 28.5., in dem Sie einige Stellen nach dem Absenden korrigiert haben. Dann möchte ich noch ein paar Worte zu dem sagen, was Sie, in Bezug auf Klages, ein von mir angenommenes „vermeintlich erschütterndes und zu seiner Konzeption inspirierendes Stirner-Erlebnis“ nennen und in das von mir „inszenierte Drama einer Serie ungeheuerlich erschütternder und inspirierender Stirner-Lektüre bekannter literarischer Autoritäten“ einordnen, ein Drama, das Ihnen „im Wesentlichen phantastisch“ vorkommt.

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„Erschütternd und inspirierend“ klingt mir für den höchst intimen, „psychologisch“ sehr komplexen und mit einer existentiellen Krise verbundenen Vorgang, den ich als Reaktion auf Stirner bei einer Reihe von Autoren erschloss, nicht genau genug treffend. Das Erlebnis, das in manchen Fällen (z.B. Marx) recht eindeutig auf Stirner-Lektüre zurückzuführen ist, in anderen Fällen (z.B. Nietzsche) eher durch das Indiz der verwischten Spuren wahrscheinlich wird, ist in jedem Falle äußerst schwierig zu fassen, wäre oder ist es damals gewesen und ist es erst recht heute. Sogar bei Marx, der eine selbst für sein Temperament allzu furiose Auseinandersetzung mit Stirner hinterlassen hat (sie absichtlich, zufällig oder durch „Fehlleistung“ im Sinne Freuds nicht vernichtet hat?), ist nicht klar, warum er überhaupt so vehement auf Stirner reagierte; warum er dies dann verbarg und in seinen wenigen beiläufigen Äußerungen dazu mit scheinbarer Selbstironie bagatellisierte. Marx’ Handeln nach dem Erscheinen des „Einzigen“ harrt noch der ausführlichen, einfühlsamen und nicht durch Respekt vor einem epocheprägenden Geist beeinträchtigten Rekonstruktion anhand der überlieferten Materialien. Gewiss hat ihn Stirner „erschüttert“, und gewiss hat er nach Lektüre des „Einzigen“ den Feuerbach’schen Humanismus aufgegeben und in aller Eile das notdürftige Gehäuse des „Historischen Materialismus“ konzipiert, das er dann sein Lebtag mit „wissenschaftlichen“ Arbeiten aufzufüllen suchte. Aber von Inspiration durch Stirner kann bei näherer Betrachtung seines Vorgehens keine Rede sein, eher von Panik, von einem nervös-gereizten Schwanken zwischen Bewunderung, Ratlosigkeit und wütender Überheblichkeit. Dazu kam für ihn das Problem, wie er sich zu seinen Freunden und Verbündeten, die ihn meist damals schon seines scharfen Verstandes und seiner polemischen Verve wegen verehrten und auf eine Veröffentlichung des „Sankt Max“ drängten, verhalten sollte. Die ungeheure Kalamität, in die der „Kleinbürger“ Stirner den angehenden Großdenker Marx gebracht hatte, hat offenbar nicht einmal sein Freund und Co-Autor Engels mitbekommen. Auf diese durchaus „phantastische“, hier natürlich nur roh skizzierte Phase der „Primär-Verdrängung“ einer Idee, die ich hier formal mit „Stirner“ bezeichnen will (weil Marx auch in dem überlangen Geheimtext „Sankt Max“ nicht sagt, was er letztlich so vehement bekämpft), folgte eine ebenso phantastische der „Sekundär-Verdrängung“. Man findet in der massenhaften Sekundärliteratur eines Jahrhunderts zu Marx, ob von einer marxistischen oder von einer der zu Zeiten ja vehement kämpferischen antimarxistischen Warten aus geschrieben, nur ausnahmsweise Arbeiten, die jene größte Auseinandersetzung mit einem einzelnen Autor, die Marx je schrieb, nicht nur, wenn überhaupt, ganz am Rande erwähnen. Auch die wirklich an den Fingern abzählbaren Ausnahmen zagen letztlich vor dem etablierten Jahrhundertdenker. Selbst ausgemachte Marx-Hasser scheuen

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davor zurück, sich Stirners als Helfer zu bedienen. Weigerten sich die Autoren der „Sekundär-Verdrängung“, die „Primär-Verdrängung“ Stirners durch Marx auch nur zur Kenntnis zu nehmen, so kann man seit einigen Jahren von „Tertiär-Verdrängung“ sprechen: insofern als meine Aufdeckung der Sekundär- und Primär-Verdrängung allenfalls mit Achselzucken quittiert wird. Der Fall Nietzsche (ein ebenfalls mit Riesenaufwand erforschtes Leben und Werk – in dem ausgerechnet seine „initiale Krise“ bis vor kurzem ein weißer Fleck blieb) ist, wie jeder der Fälle (incl. anarchistischer Autoren), die ich in meinem Buch „Ein dauerhafter Dissident“ und einigen Folgearbeiten skizziert habe, natürlich anders gelagert als der Fall Marx; aber im Grundsätzlichen sind die meisten einander ähnlich: 1) in der spontanen Bemühung um Abwehr der Idee „Stirner“, a) für den Autor persönlich, und b) für ein in ähnlichen geistigen Nöten befindliches Publikum; 2) darin, dass nur geraunt wird und nie klar gesagt, worin die Gefahr der abzuwehrenden Idee besteht; dass also vorausgesetzt wird, dass der Leser ahnt oder weiß, worum es geht. Ich glaube nicht, dass Marx, Nietzsche und die anderen eher reflexartig und unreflektiert reagierenden Stirner-Verdränger und -Abwehrer die von Stirner Ihrer Meinung nach exponierte „Wahrheit des Nihilismus“ so sehr schockierte. Diese ist zum einen, wie Sie selbst sagen, lebenspraktisch ohnehin illusionär (nur literarisch vielleicht reizvoll: der 80-jährige Ernst Jünger setzte ihr, unter explizitem Bezug auf Stirner, mit seinem „Anarchen“ ein Denkmal) und zum anderen nicht etwas, das nicht offen besprochen und diskutiert werden könnte und ja auch wurde und wird. Das von Ihnen oft herangezogene Zitat „Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt“ ist seit ca. 1890 weithin bekannt; es schreckte noch nie jemanden. Nur wenige Denker spürten, meist in der Jugend, dass es bei Stirner um „Anderes“ ging, um etwas, das sie aber nicht zu benennen vermochten oder wagten, vor dem sie offenkundig in Panik gerieten. Das ist es, was mich fasziniert, was ich durch meine Studien zunächst sichern und später zu beschreiben versuchen werde. 5. Juli 2004 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 3. Juli skizzieren Sie noch einmal die vermeintliche Geschichte einer Stirner-Verdrängung, von der Sie überzeugt sind. Sicherlich ist etwas daran. Das Verhalten von Marx, erst mit einer so wütenden und dabei im Grunde verständnislosen, ja primitiven Polemik von fast uferlosem Ausmaß auf Stirner zu reagieren und diese dann „der nagenden Kritik der Mäuse“ zu überlassen, ist in der Tat verblüffend wie so vieles in der knotenartig verstrickten Persönlichkeit dieses Mannes. Auch stimme ich Ihnen zu, daß Stirners Beitrag, sogar zur Geschichte des Nihilismus, über

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Gebühr verschwiegen oder, wenn das nicht, zurückgestellt und ungenügend gewürdigt wird; mein Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ dürfte in dieser Beziehung eine Ausnahme sein. Allerdings habe ich mehrfach von einer Stirner-Gesellschaft gelesen, die alles Material zusammentragen und weiter bearbeiten will; aber das liegt wohl im Zug der sterilen Aufwärmungstendenzen unserer Zeit (falls nicht doch mehr dahintersteckt). Andererseits sollten Sie sich nicht wundern, daß Ihre Stirner-Epikrise „mit Achselzucken quittiert wird“. Erstens bleibt (mir und anderen) rätselhaft, was Sie in Stirner hineinsehen, und zweitens fehlt es an guten Gründen, Ihrer Interpretation des Verhaltens berühmter Figuren, die angeblich von Stirner erschüttert wurden, Glauben zu schenken. Nicht einmal bei Marx läßt sich nachweisen, daß sein historischer Materialismus einer erschrockenen Reaktion auf Stirners Buch entsprungen ist. Völlig in die Luft gebaut ist Ihre Behauptung, daß Nietzsches Schopenhauer-Krise in Wirklichkeit eine Stirner-Krise gewesen sei. Über Klages haben wir uns gerade ausgetauscht. Über Carl Schmitt will ich nicht urteilen; ich finde, man macht nachgerade zu viel aus ihm, das Meiste, was er liefert, wirkt auf mich als Feuerwerk der Selbstinszenierung, „Selbstdarstellung als Philosophie“. Ich habe mich aber nie sehr gründlich mit seinem Werk beschäftigt, nur das Auffällige zur Kenntnis genommen. Ich finde brillante Schlagworte, die die Neugier reizen, aber vielleicht nicht viel mehr verdienen. (Allerdings hat er meinen „Rechtsraum“ = System der Philosophie III/3, als das Buch 1973 gerade erschienen war, in Briefen an mich hochgelobt.) Vor allem ist gar nicht klar, worin nach Ihrer Meinung die Brisanz Stirners besteht. Es muß etwas Schreckliches sein, wenn so viele Geister davon in Panik versetzt werden und Riesengebäude von Sandsäcken gegen die drohende Überflutung aufrichten. Aber so schrecklich kann es eigentlich doch nicht sein, denn Sie, der erste Aufdecker des Schreckens, der damit allerdings hinter dem Berge hält, geraten ja keineswegs in Panik, denn Sie scheinen sich viel von der „Idee Stirner“ zu versprechen, ohne allerdings zu verraten, worum es sich handelt. Der Nihilismus der mehr und mehr ausufernden rezessiven Entfremdung der Subjektivität ist es gemäß Ihrer Erklärung nicht, obwohl er bei Stirner drastisch und schroff zur Erscheinung kommt und nach meiner Meinung in der Tat sehr gefährlich ist. Welche schauerlichen Geheimnisse dahinter stecken könnten, ist mir unerfindlich. Sie sollten sich nicht wundern, wenn Ihre Andeutungen als fixe Idee abgetan werden, solange Sie nicht mit der Sprache herausrücken und mehr stichhaltige Hinweise in Ihre Geschichtsskizze einfließen lassen. Morgen trete ich meinen Erholungsurlaub an, jetzt finde ich gerade noch Zeit, diesen Brief zu schreiben. Die gewünschte Kopie meiner Kopie meines Briefes vom 28. Mai lege ich bei.

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18. Juli 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie schreiben, ich sollte mich nicht wundern, dass meine „StirnerEpikrise“ nicht zur Kenntnis genommen oder, falls zufällig einmal doch, mit einem Achselzucken quittiert oder als fixe Idee abgetan wird. Sie nennen mir zwei Gründe, warum eine solche Reaktion bzw. das Ausbleiben einer Rezeption zu erwarten war und weiterhin ist. Zum einen bleibe rätselhaft, was ich überhaupt in Stirner hineinsehe, bleibe unklar, worin meiner Meinung nach die von mir suggerierte Brisanz Stirners bestehe; denn ich hielte ausgerechnet damit eisern hinter dem Berge, ließe es nur bei Andeutungen bewenden, rückte nicht mit der Sprache heraus usw. Zum anderen seien die „Beweise“, die ich für meine Behauptung – die Lektüre des „Einzigen“ habe auf zahlreiche Denker in jungen Jahren so gewirkt, dass sie eine von ihnen nie benannte „Stirner-Idee“ nicht offen zurückwiesen, sondern sie zuerst im psychologischen Sinn, danach im ideenpolitischen Sinn (durch ein „populistisches“ Werk) verdrängten – anführe, so fadenscheinig und weit hergeholt, dass es kaum gute Gründe gebe, meiner Interpretation zu folgen. Zugleich aber sagen Sie, an meiner „vermeintlichen Geschichte“ der Stirner-Verdrängung sei sicherlich etwas dran. Wenn Sie auch im Falle Marx nicht anerkennen mögen, dass er durch Stirner vom Humanisten Feuerbach’scher Prägung zum eigenständigen Philosophen, zum „Marxisten“ (Grundkonzept des „historischen Materialismus“) geworden ist (was übrigens vor mir schon Andere behauptet und begründet haben); und wenn Sie auch im Falle Nietzsche meine Füllung einer bis dahin bezeichnenderweise übersehenen Lücke in seiner ansonsten minutiös erforschten Biographie (Nietzsches kurzzeitiger „Ersatzvater“ Eduard Mushacke war ein Freund Stirners) und seine Selbstbefreiung aus der anschließenden fast psychotischen Situation durch Flucht zu Schopenhauer (und in philologische Schwerarbeit) als „völlig in die Luft gebaut“ ablehnen; so stimmen Sie mir doch in der Feststellung zu, dass Stirners „Beitrag“ über Gebühr verschwiegen oder ungenügend gewürdigt worden sei. Beitrag wozu? Zur intellektuellen Entwicklung von Marx und Nietzsche ja Ihrer Meinung nach nicht; was heißt dann „sogar zur Geschichte des Nihilismus“? Letzteres verwundert Sie offenbar, weil Sie der Meinung sind, wie Sie wiederholt erklärten, dass Stirner der reinste Vertreter des Nihilismus („der mehr und mehr ausufernden rezessiven Entfremdung der Subjektivität“) ist. Ob Stirner diesen Nihilismus nun „frivol“ vertritt oder durch „ehrliche“ Exposition vor ihm warnen will: Sie rechnen ihm hoch an, dass er ihn schroff und drastisch in Erscheinung treten lassen hat – was (gemäß Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie, S. 83) dem Phänomenologen sehr hilfreich war, denn er konnte den von Stirner aufgezeigten, aber leer gelassenen Platz füllen. Erst er! Das könnte die Erklärung implizieren,

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warum vor dem Auftreten des Phänomenologen Marx, Nietzsche und eine stattliche Reihe weiterer erfolgreicher Denker – dann also doch – einen Bogen um Stirner gemacht haben; warum sie ihn nicht offen und öffentlich diskutierten; warum sie ihn „verdrängen“ mussten (nämlich, um sich ihre geistige Hilflosigkeit gegenüber dem von Stirner in „schonungs- und schamloser Anmaßung“ präsentierten Nihilismus nicht eingestehen zu müssen); und warum sie mit ihren daraufhin geschaffenen imposanten Werken ein großes zustimmendes Publikum fanden. Ich sehe danach eigentlich keinen schwerwiegenden Grund dafür, warum Sie meinen Rekonstruktionen zum Einfluss Stirners auf den intellektuellen Werdegang von Marx, Nietzsche und anderen (natürlich nicht unbedingt in jedem Fall) nicht aufgeschlossener gegenüber stehen könnten und warum Sie weiterhin auf unrealistische „Beweise“ – wie etwa einen nüchternen selbstanalytischen Tagebucheintrag der Betroffenen – pochen müssten. Der springende Punkt scheint mir aber der zu sein, dass man aus der Natur der Vorgänge heraus – weil eben jene Autoren nicht in der Lage waren, ihre Gründe mitzuteilen – nicht wissen kann, ob es tatsächlich (wie Sie meinen) der Eindruck des nackten Nihilismus war, der einige Stirner-Leser so sehr schockierte, oder ob es (wie ich meine) die gespürten „transnihilistischen“ Tendenzen des „Einzigen“ waren – die Sie nicht bemerken oder sogar für überhaupt denkunmöglich, jedenfalls für eine von mir vorgeschobene Chimäre halten. Sie wehren sich gegen diese vermeintliche Chimäre mit einer milden Ironie, indem Sie mir vorrechnen, dass mein „Geheimnis“ (mit dem ich angeblich nicht herausrücke) doch allzu „schauerlich“ gar nicht sein kann, wo schließlich ich selbst, als der „erste Aufdecker des Schreckens“, keineswegs in jene existentielle Panik gerate, in die meiner „fixen Idee“ zufolge so viele große Geister aufgrund ihrer Stirner-Lektüre verfallen sind. Dies sehe ich auch als eine Verklausulierung der wohlwollenden Aufforderung, ich möge doch auf dem Teppich bleiben und mich einmal der nächstliegenden Frage stellen, ob es realistischerweise anzunehmen sei, dass ausgerechnet ich als Amateur etwas wahrnehme, was Legionen von Experten entgangen sei; mehr noch, warum nicht ein einziger dieser mit überlegenen Ressourcen aller Art ausgestatteten Experten meine vermeintlich in ihren ideengeschichtlichen Konsequenzen gravierenden Entdeckungen bestätigt. Ja, es kommt hinzu, dass ich durch meine Ideen bislang nicht einmal eine kleine Gemeinde Gläubiger rekrutieren konnte; dass sogar die Mitglieder der von Ihnen letztlich erwähnten Stirner-Gesellschaft meine Entdeckungen und Ideen nicht diskutieren, weder öffentlich noch auf privater Ebene (obwohl ich gelegentlich in deren Zeitschrift „Der Einzige“ publiziere). Diese Fragen stellen sich mir seit langem, und ich weiß nicht, ob ich sie mit der im letzten Brief gebrauchten Bezeichnung „Tertiärverdrängung“ zureichend charakterisiert habe. Sie schreiben, ich

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sollte mich nicht wundern, wenn meine Gedanken als „fixe Ideen“ abgetan werden. Ich wundere mich nicht – und wundere mich natürlich doch. 1. August 2004 Sehr geehrter Herr Laska, Sie neigen dazu, mir gelegentlich Hintergedanken anzudichten, die mir fern liegen. So auch in Ihrem Brief vom 18. Juli, den ich vorgestern, von einer mehrwöchigen Reise zurückkehrend, fand. Aus meinem Herumraten an der von Ihnen zugleich angekündigten und verhüllten „Idee Stirner“ lesen Sie die Aufforderung heraus, sich als Amateur vor der Phalanx der Gelehrten, die jenseits des Nihilismus noch keine solche brisante und verstörende „Stirner-Idee“ gesichtet hat, bescheiden zurückzuhalten. Solch eine auftrumpfende Geste des Gelehrten-Hochmuts liegt mir überhaupt fern, und speziell Ihnen gegenüber in der Frage der Stirner-Rezeption, da Ihre Quellenstudien, soweit ich sehen kann, durchaus solide sind. An dem Verdacht der fixen Idee, den ich in meinem Brief vom 5. Juli in von Ihnen richtig referierter Weise begründet habe, halte ich aber fest. Übrigens ist diese fixe Idee keineswegs unsinnig. Das gilt besonders für Nietzsche. Es muß wohl offen bleiben, ob dieser durch Lektüre oder durch mündliche Mitteilungen – beispielshalber von Mushacke – so etwas wie einen „StirnerSchock“ erlitten hat; Sie haben keine triftigen Argumente für diese Annahme beigebracht. Ganz unabhängig davon ist aber Nietzsches Gedankenentwicklung der Sache nach ein Ausweichen vor dem konsequenten Nihilismus Stirners in eine vorgeschützte Verherrlichung des Lebens, das Stirner nur für einen weiteren Fetisch nach Gott und dem Menschen halten würde, zusammen mit dem illegitimen Versuch, das Nihilismus-Thema an sich zu reißen und sich vor der Welt als erster und erstrangiger NihilismusSpezialist zu gerieren, wo tatsächlich eine Schwäche und Unsicherheit gegenüber der ironistisch-nihilistischen Verfehlung vorliegt. Insofern ist Ihre „Stirner-Dezeptions-Geschichte“ in Bezug auf Nietzsche ideal richtig (vgl. „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 309–312), selbst wenn sie als Konstruktion einer realen Überlieferungsgeschichte auf Sand gebaut sein sollte. Diese eingeschränkte Zustimmung zu Ihrer These betrifft aber nur den Nihilisten Stirner, während der vermeintliche Transnihilist mir gänzlich nebelhaft und, sofern ihm ein „rationales Über-Ich“ angedichtet wird, unglaubwürdig bleibt. (Das „rationale Über-Ich“ scheint mir genau so ein Ausweichen vor dem ehrlichen und konsequenten Nihilismus Stirners zu sein wie das „Leben“ als unüberholbarer Wert nach Nietzsche. Ich fühle mich erinnert an die Schlußverse von Goethes „Torquato Tasso“: So klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.)

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Weniger als Nietzsche interessiert mich Marx, der im Gegensatz zu Nietzsche für die seit Fichte aktuelle ironistische Verfehlung des abendländischen Geistes blind war und daher vor Stirner versagt hat. Ich will mich daher einer eigenen Entscheidung der Frage, ob und wie Stirner auf die Entwicklung von Feuerbach zum historischen Materialismus bei Marx eingewirkt hat, enthalten; das interessiert mich nicht besonders. Daß die Fische nicht an den Köder Ihrer „Stirner-Idee“ anbeißen, sollte Sie nicht wundern, da dieser Köder unsichtbar oder unerfindlich in der Luft hängt, statt mit hörbarem Aufschlag den Strom der erkennbaren Geschichte zu erreichen. 16. August 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, zunächst bitte ich um Entschuldigung für die Verzögerung meiner Antwort. Der Grund liegt im Erscheinen des neuen Romans von Martin Walser, „Der Augenblick der Liebe“, in dem La Mettrie eine wichtige Rolle spielt. Ein zunächst erfreulicher Effekt davon ist die sprunghaft gestiegene Nachfrage nach den Büchern La Mettries, so dass ich als Verleger, Distributor, Buchhalter, Verpacker usw. in Personalunion zur Zeit Einiges zu tun habe. Weniger erfreulich sind die Dutzende von Rezensionen, die schon erschienen sind. Obwohl Walser sich bemüht – u.a. in einem voll wiedergegebenen Text eines Vortrags über La Mettrie, den der Protagonist auf einem Kongress hält –, das Klischee vom „mechanistischen Materialisten“ aufzulösen, persistiert dieses bei den meisten Rezensenten. Lesens- und bedenkenswert ist – in Bezug auf La Mettrie – bisher nur, wie meist bei meinen „Helden“, eine dezidiert und engagiert feindselige Besprechung: die von dem gelernten Philosophen und irritierten Walser-Freund Günter Zehm in der Zeitung „Junge Freiheit“ vom 23.7. Aber es ist natürlich noch viel zu früh, eine auch nur vorläufige Bilanz zu ziehen. Zu Ihrem Brief: nein, Gelehrten-Hochmut wollte ich Ihnen gewiss nicht unterstellen, könnte es wohl auch kaum – eingedenk unseres langjährigen Briefwechsels. Wenn Sie sagen, ich neigte dazu, Ihnen gelegentlich Hintergedanken anzudichten, die Ihnen fern liegen, so meinen Sie vermutlich das, was ich in der zweiten Hälfte des letzten Absatzes meines Briefes vom 18.7. als „Verklausulierung einer wohlwollenden Aufforderung“ bezeichnet habe. Dabei bezog ich mich auf die zweite Seite Ihres Briefes vom 5.7., wo Sie sich mit milder Ironie darüber wundern, dass ich bei Stirner eine so hohe gedankliche Brisanz sehe: „Es muss etwas Schreckliches sein …“; „Aber so schrecklich kann es eigentlich doch nicht sein, denn …“; „Welche schauerlichen Geheimnisse dahinter stecken könnten …“ – Der „Hintergedanke“, den ich angesichts dieser Passagen bei Ihnen vermutete und im Brief in Klartext übertrug, erscheint mir nicht als durch GelehrtenHochmut verursacht, denn es ist ein sehr naheliegender Gedanke, und ich

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habe ihn natürlich selber. Selbstverständlich lebe ich mit der ständigen Frage, warum ausgerechnet ich, ein Amateur, angesichts Stirners nicht in jene geistige Notstandssituation gerate, in die meiner Auffassung nach so viele hochkarätige professionelle Denker verfielen; weiter: warum sogar Experten für so gründlich erforschte Denker wie Marx und Nietzsche ausgerechnet den bei diesen Männern ideen-„genealogisch“ entscheidenden Punkt mit schlafwandlerischer Sicherheit umgingen und umgehen; schließlich: warum selbst meine diesbezüglichen Aufdeckungen (v.a. „Ein dauerhafter Dissident“, 1996) ignoriert werden oder allenfalls ein Achselzucken hervorrufen. Sie haben mir nun schon des öfteren eine Antwort auf diese Frage(n) nahegelegt. Solange ich nicht mit der Sprache herausrücke, was es denn mit dieser „Idee Stirner“ auf sich habe, vor der all jene Denker zurückgeschreckt seien, brauche ich mich nicht zu wundern, dass man – auch Sie – meine „fixe Idee“ nicht allzu ernst nehme bzw. gnädig übergehe. Andererseits neigen zumindest Sie selbst ja zu der Auffassung, Stirner sei eine geistige Ausnahmefigur im 19. Jahrhundert gewesen, dessen „ehrlicher Herausforderung“ erst durch die „Entdeckung der subjektiven Tatsachen am affektiven Betroffensein“ begegnet werden konnte. („Selbstdarstellung als Philosophie“, S. 83) Wenn das heißt, dass bis dahin Stirners Herausforderung nicht angenommen worden war, sind wir uns doch schon über einen wichtigen Punkt einig. Es bleiben freilich noch einige weitere Fragen: Wurde die Stirner’sche Herausforderung von Marx, Nietzsche et al. überhaupt erkannt? Falls ja: als was wurde sie identifiziert? Warum wurde sie nicht in offener Diskussion angenommen? Warum waren die Werke von Marx, Nietzsche et al. so massenattraktiv und erfolgreich, obwohl sie der Stirner’schen Herausforderung ausgewichen waren? Lassen wir diese Fragen erst einmal stehen. Uneinig sind Sie und ich vor allem in der Frage, worin Stirners Herausforderung bestand. Sie sagen klipp und klar: in seiner Darstellung des reinen Nihilismus. Das notierte kurz nach Erscheinen des „Einzigen“ auch Karl Rosenkranz kurz und knapp in sein Tagebuch – und ging darüber hinweg. So ähnlich werden die meisten philosophisch Gebildeten bis heute gedacht haben, die Stirner zwar kennen, ihn aber philosophisch nicht ernst nehmen. Anders Marx: Ich glaube nicht, dass er, wie Sie schreiben, in „vollendeter Verständnislosigkeit“ (im Buch, S. 83) und „blind“ (im Brief, am 1.8.) dem Kerngehalt des Stirner’schen Buches gegenüberstand. Im Gegenteil: er war damals gewiss der sensibelste Rezipient, sensibler als Feuerbach, Bauer, Engels, Ruge, Fischer u.a., sensibler als Leute wie Rosenkranz sowieso. Nur auf dieser Grundlage sind seine Reaktionen – auch, aber nicht nur, sein „Sankt Max“ –, die im Detail zu untersuchen sind, verständlich. Anders auch Nietzsche: Über ihn sind wir uns allerdings – hinsichtlich

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seiner hypothetischen Reaktion auf Stirner – ja fast einig geworden … fast, denn in dem entscheidenden Punkt widersprechen Sie mir, weil Sie sich nach wie vor nur vorstellen können, dass jemand, in diesem Fall Nietzsche, vor dem Nihilismus erschreckt (was aber weder Rosenkranz noch viele spätere Philosophen taten, die ohne Zeichen der Betroffenheit über Nihilismus schrieben). Dass Nietzsche erschrak, darin sind wir uns einig. Sie scheinen jetzt sogar bereit zu sein, auf einen „Beweis“, wie er m.E. selbst in den von ihm verbrannten Tagebuchseiten vom Okt./Nov. 1865 nicht zu finden wäre, zu verzichten. Doch meine ich: Nietzsche, wie Marx und Andere, erschrak vor Stirners „Transnihilismus“, den Sie „vermeintlich“ nennen, nicht vor Stirners „Nihilismus“, den ich „vermeintlich“ nenne. Dass dieser Transnihilismus Ihnen bisher „gänzlich nebelhaft“ blieb, verstehe ich halbwegs, nicht aber, dass dessen Existenz Ihnen „unglaubwürdig“ blieb. 18. August 2004 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 17.08. werfen Sie die interessante Frage auf, wie es zu erklären ist, daß so viele Leute wie z.B. Rosenkranz (oder auch die sächsische Regierung, die den „Einzigen“ nach wenigen Wochen der Zensur als ungefährlich zum Verkauf wieder freigab) über Stirners Nihilismus als vermeintlich harmlose Überspanntheit hinweggehen, obwohl die davon ausgehenden Gefahren unübersehbar sind, in Gestalt der von Stirner proklamierten bodenlosen Beliebigkeit, die den modernen Menschen die für ihr Lebensgefühl bezeichnende Geste des Zappens am Fernsehapparat eingibt und sie zu Treibgut im Dienst selbstlaufender Apparate, die sich ihnen in Politik, Wirtschaft und Technik als vermeintliche Diener des Beliebens anbieten, degradiert. Diese Unterschätzung Stirners beruht meines Erachtens auf einem zu harmlosen Verständnis des Nihilismus, etwa als Entwertung der obersten Werte nach Nietzsche, wobei diese Werte auf die Objektseite als dem Menschen vorschwebende oder gegenüber tretende Marken oder Säulen der Orientierung, die nun aus irgend welchen Gründen (wie ein Stern) verblaßt seien, verstanden werden. Das nimmt man dann nicht so ernst, indem man sich einredet, man habe immer noch genügend orientierende Werte, z.B. demokratische. Darüber wird vergessen, daß der ernst zu nehmende Nihilismus, z.B. der Stirner’sche, seinen Sitz auf der Subjektseite hat, weil die Menschen gelernt haben, cool oder Dandys zu sein, d.h. alle theoretischen und praktisch-programmatischen Überzeugungen in Neutralität zu distanzieren, so daß sie über und zwischen den neutralen als vermeintlich allen Tatsachen in einer haltlosen Schwebe leben, der sich nur noch verfügbare Möglichkeiten und nicht mehr primär führende (wenn auch sekundär wieder kritisierbare) Selbstverständlichkeiten anbieten. Die klare Einsicht in diese Schwebe über den eigenen Möglichkeiten ist ja der Kern der existenzialistischen Angst nach Kierkegaard und die

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unvermeidliche Kehrseite der romantisch-ironistischen Souveränität des Eigners nach Stirner. Die Leute, die über Stirner mit wegwerfender Geste hinweggehen, haben dessen Nihilismus nicht genügend durchschaut, um dahinter die Angst als unvermeidliche Kehrseite zu entdecken und selbst von dieser Angst angerührt zu werden. Darin mag ihnen Nietzsche überlegen sein, der von dieser Angst, wie ich in „Selbstdarstellung als Philosophie“ namentlich an dem Dionysos-Dithyrambus „Zwischen Raubvögeln“ und dem Zarathustra-Kapitel „Von der Menschen-Klugheit“ gezeigt habe (S. 202–225), tief durchdrungen war und sich vor ihr in die Apotheose des Lebens flüchtete. Vielleicht ergibt sich daraus auch eine Antwort auf Ihre Frage, warum Stirner beim Publikum weniger als Nietzsche beachtet wird. Die Verschärfung der dynamistischen und autistischen Verfehlung durch die ironistische, die Preisgabe der Lebensführung an beliebige Wendigkeit, beschert den Menschen reizvolle Aussichten um den Preis bedrängender Unsicherheit. Damit läßt Stirner sie allein, indem er gleichsam ein Schild mit dieser doppelseitigen Verkündigung in der kahlen Wüste seiner trockenen Schärfe aufstellt. Nietzsche dagegen nimmt die Menschen an der Hand, um mit ihnen, im Vertrauen auf die Kraft des nicht nur sinkenden (dekadenten), sondern in ewiger Wiederkehr auch wieder steigenden und aufblühenden Lebens den Sprung in das abenteuerliche Reich des freien Geistes und des dionysischen Tänzers Zarathustra zu wagen – wie verführerisch klingt das doch: Zarathustra und Dionysos! Soll man sich da noch wundern, daß sich die Menschen lieber von Nietzsche als von Stirner an die Hand nehmen lassen? 4. September 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie stellen in Ihrem Brief vom 18.8. die Frage in den Vordergrund, warum Philosophen wie z.B. Rosenkranz, aber auch manche Zensoren, die von Stirners Buch ausgehenden Gefahren, die Sie unübersehbar nennen, nicht erkannten oder jedenfalls nicht ernst nahmen. Rosenkranz hat, wenn ich mich richtig erinnere, die möglichen Folgen der von ihm als Nihilismus bezeichneten Haltung, zu der im „Einzigen“ ermutigt würde, als eine Angelegenheit nicht der Philosophie, sondern der Polizei betrachtet; jene Zensoren meinten, Stirner führe seine Ideen in dem Buche selbst ad absurdum. Rosenkranz dachte an den Wegfall von Hemmungen, die den Hang zum Begehen von Verbrechen in Schach halten; die Zensoren meinten wohl, dass Menschen, die zu Verbrechen neigten, ein so dickes Buch sowieso nicht läsen und außerdem die dort evtl. zu findende philosophische Lizenz auch gar nicht benötigten. Sie meinen demgegenüber, solche und ähnliche Einschätzungen des „Einzigen“, die im Grunde von allen Lesern des Buches, ob philosophisch gebildet oder nicht, vorgenommen wurden, seien fatale Unterschätzungen

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des ernst zu nehmenden Nihilismus (Sie schreiben: „z.B.“ des Stirner’schen); denn der bestehe nicht in einem ominösen Verblassen der als Objekte aufgefassten sog. Werte, sondern habe seinen Sitz auf der Subjektseite: die Menschen hätten gelernt, schreiben Sie, cool und dandyesk (übrigens vielleicht nicht ohne Grund englische Wörter) zu sein (ich würde eher sagen: zu erscheinen). Während Sie und ich in der Einschätzung des westlichen Individualismus wohl keine gravierenden Differenzen haben, kann ich Ihnen, wie schon des öfteren gesagt, nicht darin zustimmen, dass ausgerechnet Stirner dessen Prophet sein soll. Im Gegenteil: Die im Westen grassierende „bodenlose Beliebigkeit“, deren „Proklamation“ Sie Stirner anlasten, hat sich verbreitet, obwohl – nein, eben weil – Stirner (als Idee) zunächst für ein halbes Jahrhundert gänzlich „verschollen“ war, dann nur dank des willkommenen Blenders Nietzsche eine entkernte Existenz als „Individual-Anarchismus“ in dessen Schatten fristete und schließlich in der Epoche, als der Geist „links“ stand, als lächerliche, vom übermütigen jungen Marx einmal aus Jux nebenbei abgefertigte kleinbürgerliche Figur wahrgenommen wurde. Und keiner auch der radikaleren Ideologen des westlichen Individualismus – ob „Postmoderner“ oder Vertreter eines ökonomistischen Egoismus – duldet Stirner in seiner geistigen Ahnenreihe. Sie schrieben weiter, die Souveränität des Stirner’schen Eigners sei romantisch-ironistisch und habe unvermeidlich eine Kehrseite: die Angst, die nach Kierkegaard aus der Einsicht in die Haltlosigkeit dieser eingebildeten, über den Dingen schwebenden Distanziertheit folgt. Auch in diesem Fall wäre zu fragen, warum Kierkegaard selbst, der in den 1840er Jahren fünfmal zu teilweise mehrmonatigen philosophischen Studienaufenthalten in Berlin weilte und dabei am Gendarmenmarkt wohnte, also in Sichtweite des Lokals, in dem die „Freien“ und Stirner sich regelmäßig zu treffen pflegten, warum also Kierkegaard – wie auch Nietzsche – nicht eine einzige direkte Spur hinterließ, die verriete, dass er von Stirner oder auch nur von einem anderen der zahlreichen, damals an sich kaum übersehbaren Junghegelianer Kenntnis gehabt hat. Ist es realistischerweise anzunehmen, dass er von diesen Leuten in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, dass er vom Evangelienkritiker Bauer, von Stirner und dessen „Einzigem“ überhaupt nichts gehört hat? Dass der „Einzige“ ihn, der vom „Einzelnen“ schrieb, nicht im Geringsten interessiert hat? Wäre der „Einzige“, wenn er denn, frivol oder ernsthaft, den reinen Nihilismus darstellt, nicht eine wunderbare Gelegenheit für Kierkegaard gewesen, um seine Position dagegen zu setzen? Nach meinen Studien zur Geschichte der Stirner-Rezeption wundert es mich nicht, dass solche Fragen in der Kierkegaard-Literatur, auch in der neuen „endgültigen“ Biographie von Garff, nicht einmal aufgeworfen werden. – Aber im Grunde geht es in unserer Diskussion ja weniger um solche historischen Detailfragen, sondern um die geistige Situation heute: ob Stirner

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ihr Prophet war oder ob er noch immer als Mittel zu ihrer Analyse und Überwindung dienen kann (vgl. den letzten Satz meines Briefes vom 16.8.). 7. September 2004 Sehr geehrter Herr Laska, in Ihrem Brief vom 4. September drücken Sie sehr treffend mit Ihren Worten aus, was ich Ihnen geschrieben hatte. Eine nennenswerte Differenz kann ich nicht erkennen. Sie verweisen mich auf den letzten Satz Ihres Briefes vom 16. August. Da geht es um den sogenannten Transnihilismus der „Idee Stirner“, wozu ich inhaltlich nichts sagen kann, da Sie noch nicht erklärt haben, was diese Worte bedeuten. Warum und in welchem Ausmaß ich ihn trotzdem für „unglaubwürdig“ halte, habe ich in meinem Brief vom 1. August gesagt: weil diesem idealen Stirner ein „rationales Über-Ich“ zugesprochen wird, das mir nicht nur zu dem realen Stirner nicht zu passen scheint, sondern der ganzen Anlage seines Denkens, wie ich sie verstehe, so radikal widerspricht, daß diese Anlage zerbrechen würde, wenn man sie so ergänzen wollte. Dazu muß ich allerdings einschränken, daß auch unabhängig von Stirner die Idee eines rationalen Über-Ichs mir wenig aussichtsreich vorkommt und ich damit wenig nichts anfangen kann. 17. September 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich fahre morgen für zwei bis drei Wochen in Urlaub und möchte die Antwort auf Ihren Brief vom 7.9. nicht jetzt in Eile formulieren, zumal Sie dort ja mehrere grundsätzliche Fragen unserer Diskussion ansprechen, Fragen, die eng miteinander zusammenhängen, ja ineinander fließen: in das, was ich in früheren Briefen gelegentlich kurz „Idee Stirner“ genannt habe, also das, was bei Stirner über den zugegebenermaßen – bei Ausblendung der mir wichtigsten Stellen – herauslesbaren Nihilismus hinausweist. Es geht mir darum, zu zeigen, dass man nicht aus Erschrecken vor dem Popanz Nihilismus in die altbekannten, aber, wie die Gegenwartsphilosophie jedenfalls mir zeigt, geistig nicht mehr wirklich und ernstlich bewohnbaren vorbzw. cisnihilistischen Gefilde flüchten muss; dass man stattdessen die im 19. Jahrhundert nur bei Stirner zu findenden transnihilistischen Ansätze aufgreifen und weiterentwickeln sollte – was im übrigen weniger mit Theorie als mit Praxis zu tun hat. In diesen Zusammenhang gehört auch meine Rede vom irrationalen und vom rationalen Über-Ich, mit der Sie „wenig nichts“ anfangen können. Damit wären alle von Ihnen monierten Begriffe beisammen. Ich hoffe, dass mir im Urlaub etwas einfällt, wie ich Ihnen die/meine „Idee Stirner“, die mir selbst als sehr einfach erscheint, doch noch wenigstens verständlich machen kann.

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31. Oktober 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, mein letzter Brief, kurz vor meinem Urlaub verfasst, liegt nun schon ungefähr sechs Wochen zurück, so dass ich Ihnen Rechenschaft schulde für die lange Pause, in der ich nichts von mir hören ließ. Der Grund liegt darin, dass sozusagen ein Familienmitglied, unsere Whippet-Hündin Ayleen, während unserer Urlaubsreise schwer erkrankt ist und wir seither alles taten, damit sie wieder genese – worauf wir erst seit einigen Tagen begründet hoffen können. Ich möchte Sie deshalb bitten, meine temporäre Unterbrechung unseres Briefwechsels zu entschuldigen. Eigentlich habe ich schon seit langem vor, alle unsere Briefe einmal systematisch durchzugehen und Fragen und Problemstellungen, die darin auftauchten und dann nicht vollständig diskutiert wurden, zu sammeln und in geordneter Form der Reihe nach noch einmal zur Sprache zu bringen. Dies erscheint mir schon deshalb sinnvoll, damit wir nicht Gefahr laufen, Themen, die wir vielleicht bereits vor Jahren besprochen, dies aber nicht mehr im Gedächtnis haben, noch einmal von vorn anzugehen. Leider waren die vergangenen sechs Wochen überhaupt nicht geeignet für eine solche Revision, so dass ich sie wohl wiederum allenfalls in der Zukunft sehen muss. Ich habe diese Revision zwar vor, um mehr Klarheit über die bisherigen Ergebnisse unseres Gedankenaustausches zu gewinnen, bin aber gar nicht sehr optimistisch in der Frage, ob uns dies über den Punkt hinwegbrächte, den Sie in Ihrem letzten Brief am 7.9. (noch einmal) benennen: dass Ihnen der Kern dessen, was ich zuletzt gelegentlich abkürzend mit „Idee Stirner“ bezeichnet habe, völlig unklar geblieben ist, und erst recht wahrscheinlich, inwiefern ich diesen Kern auch bei La Mettrie und Reich – ausgerechnet bei denen und sonst bei niemandem – gefunden habe. Sie schreiben dort auch, dass Sie sich unter dem Wort „Transnihilismus“ nichts vorstellen können und mit der konzeptionellen Aufteilung des Über-Ichs in ein rationales und ein irrationales nichts anfangen können. Diese Auskunft entmutigt mich etwas, weil ich darüber in meinen Briefen schon einiges geschrieben zu haben meine und Ihnen wohl auch meine drei Aufsätze „Die Negation des irrationalen Über-Ich bei La Mettrie / bei Stirner / bei Reich“ geschickt habe. Das alles mag ja fürchterlich unbeholfen formuliert sein; aber mir ist nach wie vor ein Rätsel, dass das, worauf ich hinaus will, dem wohlwollenden Leser gänzlich verborgen bleibt. Sie sind freilich nicht der Einzige, dem mein Weg nicht nachvollziehbar, mein Anliegen irgendwie unbegreiflich ist. Weil ich diese Erfahrung seit langem mache, habe ich mich ja auch, sozusagen als Propädeutikum, publizistisch auf detaillierte rezeptionsgeschichtliche Studien zu meinen Helden verlegt. Die dort gefundenen und herausgestellten „Fakten“ aber haben zwar mich darin bestätigt, auf einer, ja auf der richtigen Fährte zu

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sein, kaum jedoch auch nur das Interesse eines derer geweckt, die sich professionell in Philosophie und Philosophiegeschichte auskennen. Sie sehen, mein „Michbesinnen auf mein Michbefinden in meiner Umgebung“, das nun schon seit einigen Jahrzehnten, im Grunde seit meiner Kindheit, andauert, hat mich in eine Position gebracht, die für mich nicht im gewöhnlichen Sinne komfortabel ist; aber sie ist doch die „beste aller möglichen“; wenn auch für „Andere“ bisher offenbar extrem abschreckend oder unerreichbar. Eingedenk der Verständigungsprobleme, die in unserer Korrespondenz über die genannten Kernthemen auftraten, hatte ich vor einiger Zeit den Versuch gemacht, einen anderen Weg zu wählen, um Ihnen eine Ahnung dessen zu vermitteln, was ich mit der Stärkung des rationalen ÜberIchs auf Kosten des irrationalen meine. Sie haben damals darauf nicht reagiert. Ich bezog mich auf die ersten Sätze Ihrer Vorrede zu „Selbstdarstellung als Philosophie“. Sie sagen dort mit Selbstverständlichkeit, dass „man“ seinen Kindern „mit genügender Eindringlichkeit vom lieben Gott, vom Weihnachtsmann, von Märchenwelten usw.“ erzählt; dass dadurch „Geborgenheit“ und ein „Zugehörigkeitsbewusstsein“ entstünde; dass dieses sich aber in der Pubertät leicht auflöse. Sie fragen nicht, warum eigentlich Erwachsene den Drang haben, Kindern solche Dinge „eindringlich“ zu erzählen; welche Art von Zugehörigkeit dadurch erzeugt wird; ob es wirklich gelingt, das, was Sie mit „inniger Vermischung von Subjektivem und Objektivem“ andeutend umschreiben, in der Pubertät abzulegen. Sie reißen hier in einem Absatz das Thema an, das mir – und Stirner im „Einzigen“ – als das wichtigste überhaupt erscheint – nämlich wie ein Mensch „enkulturiert“, d.h. für eine Kultur geformt oder auch zugerichtet wird, die, in Ihren Worten, durch „Verfehlungen“ charakterisiert ist – und problematisieren das nicht weiter, sondern nehmen es nur als Analogon, um jene präzedenzlose Epochenschwelle zu beschreiben, die Sie historisch an „einem ganz bestimmten Zeitpunkt kurz vor 1800“ verorten. Die „Idee Stirner“ aber ist im Kern eine Problematisierung dieses Prozesses der Enkulturation, der ja, psychisch und physiologisch, von Geburt an und vielleicht schon pränatal, in den Organismus des Kindes weit tiefer eingreift als Worte vom Weihnachtsmann es vermögen; der schon präverbal das installiert, was ich mit „irrationalem Über-Ich“ bezeichne. Die Befreiung davon, die Stirner’sche „Empörung“, ist dann keineswegs eine Sache, die in der Pubertät wie von selbst erfolgt; sie ist wohl kaum jemandem vollständig möglich. – Natürlich tauchen hier eine Fülle von Fragen auf: Was ist daran schädlich? Was schlecht? Wäre die Ausbildung eines solchen „Über-Ich“ überhaupt vermeidbar? Etc. Darüber kann man natürlich verschiedener Meinung sein. Aber dass diese Problematik die spätestens seit der durch den „Nihilismus“ markierten „Epochenschwelle“ drängendste aller „Philosophie“ ist resp. sein sollte, darüber müsste man sich einig sein.

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7. November 2004 Sehr geehrter Herr Laska! Ihren Brief vom 31. Oktober mußte ich einige Tage lang unbeantwortet liegen lassen, weil ich erst die Fahnenkorrektur und Registerarbeit für mein Buch „Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung“ zu leisten hatte. Daß Sie eine Pause im Briefschreiben einlegen würden, hatte ich schon wegen Ihres Briefes vom 17.09. erwartet, in dem Sie ankündigen, daß Sie einen bevorstehenden Urlaub zu Überlegungen, wie Sie mir Ihre „Idee Stirner“ verständlich machen könnten, benutzen wollten. In diesem Brief schreiben Sie mir zu, daß ich mit Ihrer Rede „vom irrationalen und rationalen Über-Ich“ nichts anfangen könne. Nun habe ich Ihnen schon oft, und zuletzt am 7.09.04, geschrieben, daß sich meine Zweifel an der Glaubwürdigkeit Ihrer Idee auf den Begriff „rationales Über-Ich“ konzentrieren. Ein irrationales Über-Ich kann ich gelten lassen, obwohl ich mich dieser Freud’schen Terminologie nicht selbst bediene. Insofern reihe ich mich in die Frontstellung der Aufklärung ein, wenn ich die Grenzen auch anders als Sie ziehe. Sie verwerfen, wenn ich Sie richtig verstehe, mit dem irrationalen Über-Ich auch die Religion als Verhalten aus Betroffensein von Göttlichem in dem von mir angegebenen Sinn der Worte „göttlich“ oder „heilig“. Mir liegt das fern. Mir schwebt eine „Religion der Zukunft“ nach Art des japanischen Shinto vor, eine Religion ohne Dogmen und Mythen. Wo dem Japaner etwas Heiliges begegnet, etwa eine frische Quelle, ein imponierender Baum oder ein sonderbarer Stein, errichtet er einen kultischen Schrein, umwickelt den Baum, beschriftet den Stein. Ganz spontan sammelt sich das Volk, etwa auf dem Weg zur Arbeit, und spricht ein kurzes Gebet zum kami, was nicht präzis ein als persönlich vorgestelltes Wesen ist, sondern eine schwach personifizierte göttliche Macht. Sie sprechen die Problematik der Enkulturation an. Was Sie in diesem Zusammenhang als das – rationale oder irrationale – Über-Ich bezeichnen, das auf diese Weise an das Kind weitergegeben werde, ist in meiner Terminologie die gemeinsame implantierende Situation (aus Situationen), in die das Kind hineinwächst. In dem genannten Buch führe ich aus, daß ohne eine solche implantierende Situation das Kind nicht einmal sprechen lernen würde, so daß deren Auflösung (mit Ersatz durch bloß locker includierende Situationen oder gar Systeme einzelner Regeln) nicht zu erwarten ist, solange die Menschen über das Stammeln und Stottern hinaus zu geläufigem Sprechen kommen. Die Bedeutsamkeit der implantierenden Situation ist aber binnendiffus, d.h., sie besteht nicht aus lauter einzelnen Bedeutungen (Sachverhalten, Programmen, Problemen), die man der Reihe nach auf den Prüfstand stellen könnte, ob sie rational oder irrational sind. Daher muß jede Zensur scheitern, die die implantierende Situation vor Zulassung zum Kind darauf prüft, was als irrational verworfen und als rational

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durchgelassen werden soll. Dazu kommt, daß es – abgesehen von der Forderung der Widerspruchslosigkeit, die aber nur für einzelne Behauptungen gilt – kein allgemeinverbindliches Kriterium für Rationalität gibt. Die wünschenswerte Ausscheidung des Irrationalen im Sinne eines unvernünftigen Gesinnungsdrucks kann immer nur nachträglich durch Explikation der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Seiten des sich emanzipierenden Individuums erfolgen, so wie ich es schon im Hitlerbuch unter 2.1 beschrieben habe. Ein solcher Kritiker kann auch stellvertretend für Viele sprechen. Zur „Religion der Zukunft“ (siehe vorige Seite) möchte ich noch bemerken, daß sie frühestens dann eine Chance haben kann, wenn es meinen phänomenologischen Bemühungen oder denen anderer gelungen ist, die Menschen wieder so – und nun nicht dichterisch, sondern begreifend – an ihre unwillkürliche Lebenserfahrung heranzuführen, daß sie diese wichtig nehmen. Sonst müßte fast ein Wunder geschehen, wenn eine solche Religion der Zukunft mehr als eine romantische Utopie sein sollte. 19. November 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, Ihre Absicht, „die Menschen wieder so – und nun nicht dichterisch, sondern begreifend – an ihre unwillkürliche Lebenserfahrung heranzuführen, dass sie diese wichtig nehmen“, klingt – fast – so gut, dass ich mich ihr anschließen könnte. Warum fast? Weil der Satz wohl auch impliziert, dass die Menschen einst dichterisch an ihre unwillkürliche Lebenserfahrung herangeführt worden seien, und dass, nachdem sie so nicht mehr ansprechbar sind (?), dasselbe durch begriffliches Denken zu bewirken sei. Beides erscheint mir zweifelhaft. Einig mit Ihnen könnte ich mich nur in der allgemeinen Vorstellung erklären, dass es „gut“ wäre, wenn die Menschen zu unwillkürlicher Lebenserfahrung befähigt würden. Dass jemand diese dann wichtig und ernst nähme, erscheint mir im Begriff bereits enthalten zu sein als das vielleicht charakteristischste Kriterium dafür, ob jemand zu unwillkürlicher Lebenserfahrung fähig ist. (Anmerkung: „gut“ habe ich in „_“ gesetzt, weil ich damit letztlich nicht sagen oder gar vorschreiben will, was für die zukünftigen Menschen gut sei, sondern nur, dass ich gern in einer Gesellschaft leben – und gelebt haben – würde, in der die Menschen so beschaffen sind.) Die anschließende Frage ist, wie diese Absicht zu befördern wäre. Sie schreiben: durch die phänomenologischen Bemühungen von Ihnen und Anderen. Das ist natürlich sehr allgemein. Vielleicht können Sie mir das noch etwas erläutern oder Literaturstellen nennen, wo solche Bemühungen konkret beschrieben sind. Meine Auffassung kennen Sie: eine „gute“ (i.o.S.) Zukunft der Menschen sähe ich voraus, wenn es – über viele Generationen hinweg – gelänge, die irrationale (d.h. hauptsächlich präverbale) Einpflanzung eines „Über-

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Ichs“ kontinuierlich zu mindern. Darüber haben wir uns schon ausgiebig geschrieben. Zuletzt schrieben Sie mir, dass eine solche Einpflanzung das ist, was in Ihrer Terminologie implantierende gemeinsame Situation heißt und dass ohne eine solche das Kind nicht einmal sprechen lernen würde. Auch darüber haben wir uns, soweit ich mich erinnere, schon ausgiebig geschrieben (im Zusammenhang mit den Grenzen personaler Emanzipation), wobei Sie eingeräumt hatten, dass der Vorgang des Erwerbs der Muttersprache und das spätere Verhältnis, dass jemand zu ihr einzunehmen vermag, in wesentlicher Hinsicht nicht mit dem Vorgang des Erwerb des (irrationalen) Über-Ichs – oder auch „Gewissens“ – und dessen späterer Funktion übereinstimmt. Ich möchte noch einmal betonen, dass ich es weder für möglich noch für wünschenswert halte, die implantierende gemeinsame Situation aus der Welt zu schaffen. Ich halte es aber für möglich und wünschenswert, sukzessive die unbewusste Weitergabe schädlicher Einflüsse bewusst zu machen und diese nach Kräften zu eliminieren – und so die jeweils nachfolgende Generation zu befähigen, ein Stück näher an ihre eigene, wenn Sie so wollen, unwillkürliche Lebenserfahrung zu führen. Um Ihnen diese unbewusste Weitergabe schädlicher Einflüsse zu illustrieren, habe ich ein Beispiel aus Ihrer Vorrede zu „Selbstdarstellung als Philosophie“ (wo es heißt, dass „man“ einem schon sprachfähigen Kind eindringlich vom Weihnachtsmann, vom lieben Gott etc. erzählt) herangezogen und versucht, dies zu problematisieren. Sie sind darauf, wie schon zu einem früheren Zeitpunkt, nicht eingegangen, haben allerdings allgemein dargestellt, dass es kein allgemeinverbindliches Kriterium für Rationalität gebe und dass es nicht möglich sei, anzugeben, was dem Kind als irrational vorenthalten und was als rational zugelassen werden soll. Ich kann darin jedenfalls keine Begründung dafür sehen, dass „man“ seinem Kind „eindringlich“ von Gott, Weihnachtsmann usw. erzählen sollte; und schon gar keine Erklärung dafür, warum Erwachsene das oft so „triebhaft“ tun. Ich teile auch nicht Ihren Optimismus, dass solche – und es gibt gewiss noch schädlichere, wie gesagt: prä- bzw. nonverbale – Einwirkungen in der Regel im Verlauf der personalen Emanzipation geheilt werden können. Mir erscheint auch evident, dass bei den allermeisten Menschen eben aufgrund ihrer derart „naturwüchsigen“ Enkulturation, wie seit ewigen Zeiten die Fähigkeit zur personalen Emanzipation stark beeinträchtigt wird, auch wenn heute viele Erwachsene nicht mehr an Gott und den Weihnachtsmann glauben – stattdessen aber an irgendeinen anderen Unsinn, den sie, wie es sich in einer „freien Gesellschaft“ geziemt, „selbst gewählt“ zu haben meinen. Sie, Herr Schmitz, werden, wenn ich mich recht erinnere, einwenden, es käme gar nicht darauf an, dass möglichst viele Menschen ein möglichst hohes Niveau an personaler Emanzipation erreichen (wir haben dies analog zum Thema „starker Dai-

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mon“ diskutiert). Da gehen – oder doch: gingen? – unsere Auffassungen auseinander. Ob zukünftige Menschen, die ihre unwillkürliche Lebenserfahrung wichtig nehmen (für mich nur eine weitere Umschreibung der Frage, um die sich unsere Briefe seit je drehen), einer „Religion der Zukunft“ anhängen werden, die Sie als dem japanischen Schintoismus ähnelnd visionieren, können wir dahingestellt sein lassen. Sie vermuten richtig, dass ich von „Religion“, in welcher Form auch immer sie historisch in Erscheinung getreten ist, nichts halte. Sie schildern, wenn Sie von „Betroffensein von Göttlichem, Heiligem“ sprechen, stets nur die eine Seite des religiösen Lebens, die aber nur dann als gut und schön erscheint, wenn man die andere, unlösbar damit verbundene, ausblendet. Es gibt gewiss gravierende Unterschiede in den historisch ausgeprägten Religionen; aber ich glaube nicht, dass die Japaner, wie Sie im letzten Brief zu suggerieren scheinen, mit dem Schintoismus sozusagen das schon haben, was sich die Europäer als „Religion der Zukunft“ in dem ihnen vorschwebenden Sinne erst noch schaffen müssen. 21. November 2004 Sehr geehrter Herr Laska! Anders als Sie bin ich in der Tat der Meinung, daß es früher hauptsächlich die Leistung der Dichter im Kultursystem der Phantasie war, die die Menschen über die ihnen im Kultursystem des Behauptens angelegten engen Schienen oder Scheuklappen hinaus an ihre unwillkürliche Lebenserfahrung heranführte. Simmel schreibt einmal (wahrscheinlich doch in seinem „Goethe“), Goethes Lyrik habe weite Provinzen des Gefühlslebens erst explizierbar gemacht (meine Worte, aus der Erinnerung). Dichterisch ist ein Sprechen, das mit sparsamer Explikation einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme aus binnendiffus-ganzheitlichen Situationen diese so schont, daß sie durch den dünnen Schleier der Explikate mit unversehrter Ganzheit durchscheinen. Diese Explikationsweise wird zunehmend unmodern, weil der Konstellationismus Situationen mit unausgeschöpfter Bedeutsamkeit durch Vernetzungen einzelner Faktoren zu ersetzen trachtet. Deswegen muß jetzt statt des dichterischen Zeigens und Entbindens das analysierende und rekonstruierende Begreifen sich an die unwillkürliche Lebenserfahrung herantasten. Ob die Menschen, die gewohnt sind, über diese hinwegzuleben, dann auch wichtig nehmen werden, worauf man sie aufmerksam macht, ist nicht ausgemacht. Der vielsagende Eindruck einer frischen Quelle, eines imponierenden Baumes oder Steines wird heute deformiert zu dem, was Heidegger „Gestell“ nennt, d.h. der Eindruck wird in einem digitalen Arrangement der Umwelt gestellt oder bestellt für Besucher, die ihn möglichst schnell „mitnehmen“ wollen in eine fortschreitende Sammlung rasch und bunt wechselnder Eindrücke. Dieser naschende Verbrauch des Heiligen, das sich ihm entzieht, ist in meinen Augen schlimmer,

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ja entsetzlicher, als alles, was ich heute noch von einem irrationalen ÜberIch zu fürchten bereit bin – vom lieben Gott nicht mehr, der nur noch belächelt wird, und schon gar nicht vom Weihnachtsmann (abgesehen von seinen neuesten Fabrikaten im Weihnachts-Gestell als Santa Claus, aber die Dämonie des Gestells ist eine andere als die des Überichs). Ihre Neigung zur Entzauberung und Entmythologisierung der kindlichen Phantasiewelt kann ich schon deshalb nicht teilen, entschieden lehne ich sie aber aus einer gewichtigen Sorge ab. Diffuse Gefühle und segmentierte Situationen der Art, daß den Menschen etwas anweht, das er nicht fassen kann, daß ihm irgendwie zu Mute ist, und er weiß nicht wie und kann sich nicht helfen, kondensieren zu Plakat-Situationen in der „schlagenden“ Personifikation, vergleichen Sie schon in „Das Göttliche und der Raum“ (System der Philosophie III/4) S. 146–153 den Abschnitt „Konkretion durch Personifikation“ und sodann die Darstellung des Themas mit neuen Begriffen in meinem Buch „Begriffene Erfahrung“, Rostock 2002, S. 159– 177: Religion ohne Metaphysik. Es wäre ein fataler Mißgriff, diese Chance des Faßbarwerdens des Diffusen, wie sie die Griechen an Apollon und Dionysos, Artemis und Athene hatten, einer rationalen Aufklärung und Zensur zu opfern, die das Entsprechende nicht im Entferntesten leisten kann. Deswegen bin ich auch dagegen, den Kindern die grausamen und unheimlichen Geschichten aus der Märchenliteratur, denen sie sich fasziniert zuwenden, vorzuenthalten, weil die Phantasie dadurch auf Abwege geraten könnte. Wie die Kinderkrankheiten zur Ausbildung eines strapazierfähigen Immunsystems, so gehören vielfältige Eindrücke, die im Dunkel undeutlichen Verlangens nach Anziehendem und Abstoßendem Leuchtpunkte setzen, zur Vorbereitung einer selbständigen, in personaler Emanzipation durch personale Regression hindurch reifenden Persönlichkeit, die in einem steril rationalen Schutzklima verkümmern würde. Ich bin durchaus der Meinung, daß die Aufklärung und Abstoßung des Ungemäßen in der Enkulturation nur nachträglich erfolgen kann, allerdings nicht nur beim erzogenen Individuum, sondern schon bei den Erziehern. Die in der Reflexion auf das, was ihnen widerfahren ist, lernen, was sie ihren Kindern ersparen, was sie besser machen können. Solche Erfahrungen können weitergegeben, aber nicht über Generationen hinweg reguliert werden; jede Generation hat das Recht, das Urteil ihrer Erzieher in eigener Verantwortung zu verwerfen. 8. Dezember 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, indem Sie Ihren letzten Brief mit dem Auftakt „Anders als Sie bin ich in der Tat der Meinung …“ einleiteten, betonten Sie einen Gegensatz zwischen uns, der in meiner Wahrnehmung allzu stark nicht ist, gar nicht sein kann, denn ich fühle mich durch Ihre anschließende Darstellung der

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früheren Funktion der Dichter nicht zu einem Widerspruch veranlasst. Erst recht habe ich nichts einzuwenden gegen Ihre Absicht, durch analysierendes und rekonstruierendes Begreifen in heutiger Zeit das zu fördern, wozu früher die Dichter verhalfen: die Heranführung an die eigene unwillkürliche Lebenserfahrung. Nur grabe ich eine Etage tiefer. Ich fände es sinnvoller, wenn die Menschen als Kinder gar nicht erst in einer Weise geformt würden, die es ihnen später so schwer, in den wohl allermeisten Fällen sogar unmöglich macht, in Einklang mit ihrer unwillkürlichen Lebenserfahrung zu leben. Meine Devise lautet auch in dieser Frage: Prophylaxe statt Therapie. Nur ist das natürlich noch nicht die Lösung, sondern es beginnen damit erst die – praktischen – Schwierigkeiten. Das war das Lebensthema von Wilhelm Reich, der deswegen ziemlich bald in eine Position geriet, die Freud zu Recht als konträr zu seiner eigenen erkannte. Kenntlich ist Reichs Position schon im Titel eines frühen Aufsatzes: „Der Erziehungszwang und seine Ursachen“. Menschen, denen – in Ihrer Terminologie – der Zugang zu ihrer eigenen unwillkürlichen Lebenserfahrung versperrt ist – d.h. in ihren ersten Jahren versperrt wurde – neigen unbewusst stark dazu, den Kindern, die bei ihnen aufwachsen, wiederum jenen Zugang zu versperren. (Dies entspricht dem Vorgang, den ich mit der Introjektion des irrationalen Über-Ichs bezeichnet habe). Ich meine deshalb, dass Ihre Intention, sich bzw. den Lesern Ihrer Texte durch ein neues Begreifen zur Wahrnehmung ihrer unwillkürlichen Lebenserfahrung zu verhelfen, sich, wenn überhaupt, nur über viele Generationen hinweg iterativ verwirklichen lassen wird. Ein realistischer Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungslinien lässt allerdings kaum erwarten, dass irgendwo ein solches Programm ernsthaft ins Auge gefasst wird. Wenn ich in meinem letzten Brief zur Annäherung an das, was ich mit Reich als Erziehungszwang (incl. Introjektion eines irrationalen Über-Ichs als psycho-physische Zurichtung bzw. Deformation) bezeichne, an Ihr Beispiel der Elternerzählungen vom lieben Gott und vom Weihnachtsmann anknüpfte, so vor allem deshalb, weil Sie es so unbekümmert und – scheinbar? – ohne Problembewusstsein vorbrachten. Es mag ja sein, wie Sie im Brief schreiben, dass der liebe Gott heute von Vielen nur noch belächelt wird; aber das heißt doch nicht, dass die Problematik sich wie von selbst aufgelöst hat, genau so wie die sogenannte antiautoritäre Erziehung die Probleme der autoritären nicht beseitigt hat. Ihren Rekurs auf Heidegger konnte ich nicht nachvollziehen, weil ich diesen Autor nicht gelesen habe; aber ich meine, ungefähr zu verstehen, was Sie mit der „Dämonie des Gestells“ sagen wollen. Im Zusammenhang mit den grausamen Geschichten der Märchenliteratur sprechen Sie sich dagegen aus, diese den Kindern „vorzuenthalten“, weil die Kinder sich diesen fasziniert zuwenden. Ich weiß nicht, ob Sie diese Ansicht auch für die heute massenhaft verbreiteten grausamen und porno-

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graphischen Filme und Videospiele vertreten – die die Kinder ja auch faszinieren, ebenso wie die unendliche Fülle der Erzeugnisse der Spielwarenindustrie oder das allgegenwärtige Angebot an Süßwaren, Hamburgern, Alkoholika. Sie bringen als Replik auf meine Bedenken gegen die eindrücklichen Erzählungen der Erwachsenen von Gott, dem Weihnachtsmann und Ähnlichem – wohl nicht als Argument, aber als Vergleich, der Ihre Ansicht verdeutlichen soll – die Kinderkrankheiten ins Spiel, die für die Ausbildung eines robusten und für das spätere Leben nützlichen Immunsystems sorgen. Das scheint mir, als wollten Sie aus der Not eine Tugend machen. In der Epoche bzw. den Epochen, die durch diverse „Verfehlungen“ gekennzeichnet waren – und sind –, hat sich diese Praxis quasi naturwüchsig herausgebildet, ohne dass die Alten wussten oder reflektierten, ob sie damit das „geistige Immunsystem“ bzw. die Emanzipationsfähigkeit des Kindes stärkten oder schwächten. Sicher wussten sie, dass sie die Jungen nach ihrem Bilde formen, für die von „Verfehlungen“ geprägte Gesellschaft tauglich machten. Wenn aber die Menschheit – ein großes Wort – oder zunächst wenigstens eine kulturelle Avantgarde die große präzedenzlose Epochenschwelle, deren Beginn Sie um 1800 geortet haben, je überschreiten wird, dann meiner Überzeugung nach nicht dadurch, dass sie in solchen lebensbestimmenden Praktiken verharrt oder einen „Neuen Menschen“ in der Weise zu formen versucht, wie das in den letzten Jahrhunderten konzipiert und ausprobiert wurde. Natürlich meine ich auch nicht, dass die Alternative zu bisherigen Bedingungen des Aufwachsens ein, wie Sie schreiben, „steril rationales Schutzklima“ sein darf – was es im übrigen wohl überhaupt gar nicht geben kann. Unsere derzeitige Diskussion erinnert mich an die, die wir vor einiger Zeit über Rousseau geführt haben: über die Frage nach dem „Spalier“, sei es ein stützendes oder ein verformendes, das der Erzieher für den Zögling bereitstellt. Als ich Ihnen damals einige Zitate aus dem „Emile“ aufschrieb, die belegen, dass Rousseau als höchstes Erziehungsziel die Einpflanzung eines Über-Ichs in den Zögling sieht (damit dieser danach – in seiner Einbildung – aus „eigenem Willen“ genau das will, was er nach Auffassung des Erziehers soll), schrieben Sie, wenn ich mich richtig erinnere, sinngemäß: Rousseau bleibt Rousseau, eben der, als der er allgemein gilt. Für mich aber ist gerade der andere, offenbar verborgene Rousseau wichtig, der allem Anschein nach zu La Mettrie in einem ähnlich verschwiegenen Verhältnis stand wie Nietzsche zu Stirner – und übrigens auch Freud zu Reich. 10. Dezember 2004 Sehr geehrter Herr Laska! Wir sind uns einig, daß die Erziehung stark an den Situationen mitformt, aus denen hervor Menschen ihren Stil finden, und daß man sie dabei nicht zu sehr bevormunden sollte. Die Einigkeit hört aber auf, wenn Sie in

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Ihrem Brief vom 8.12. schreiben: „Meine Devise lautet auch in dieser Frage: Prophylaxe statt Therapie.“ Nicht daß ich etwas gegen Prophylaxe von Erziehungsschäden einzuwenden hätte. Ich weigere mich aber, daraus „meine Devise“ zu machen, so etwas wie ein Standard-Rezept für die Befreiung der Menschen, z.B. beim Zugang zu ihrer unwillkürlichen Lebenserfahrung. Der Grund der Weigerung besteht darin, daß man mehr oder weniger verfahrene zuständliche Situationen wegen der Binnendiffusion ihrer Bedeutsamkeit (nicht aus lauter einzelnen Sachverhalten, Programmen und Problemen zusammengesetzt zu sein) nur nachträglich therapieren und nicht vorausplanend säubern kann. Das heißt nicht, daß immer erst „das Kind in den Brunnen gefallen“ sein müßte, ehe man zugreifen kann. Vielmehr können die Erzieher aus den „therapeutischen“ Erfahrungen, die ihnen aus dem Umgang mit den ihnen seit ihrer Kindheit aufgeladenen zuständlichen Situationen zugefallen sind, für ihr eigenes Erziehen planende Schlüsse ziehen, mit deren Anwendung sie bei ihren Zöglingen gute oder böse Überraschungen erleben können; vielleicht werden sie von diesen eines Tages hören, daß sie es gerade so (z.B. antiautoritär) falsch gemacht hätten. Der Umgang mit Situationen, die man weitergibt und dabei modifiziert, bleibt immer ein Tasten im Walde. Das liegt an der Binnendiffusion der Bedeutsamkeit, die ein präzis inventarisierendes, je nach dem auswählendes oder verwerfendes, Planen aussichtslos macht. Und das ist gut so. Es ist ein verhängnisvolles Vorurteil der Aufklärung (übrigens auch Rousseaus, auf den Sie am Ende Ihres Briefes eingehen), daß man dem Leben voraus einen Maßstab dafür haben könnte, was vernünftig ist. Dieses Versagen einer dem Vollzug übergeordneten praktischen Vernunft hat seinen Grund darin, daß immer wieder Überraschungen möglich sind, die umwerfende Perspektiven und damit neue Maßstäbe ergeben. Deswegen habe ich am Ende meines vorigen Briefes geschrieben: „Jede Generation hat das Recht, das Urteil ihrer Erzieher in eigener Verantwortung zu verwerfen.“ Die Suche nach dem Vernünftigen ist ein nie endendes Experimentieren kritischer und planender Überlegung an einem undurchschaubaren Geflecht von Situationen in Situationen. Das gehört zum „Wellenreiten“, um eine Metapher aufzugreifen, die Ihre Zustimmung gefunden hat. An meine Anregung, die Kinder mit der „kräftigen Nahrung“ im Sinne von Hölderlins Vers Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, Daß er, kräftig genährt, danken für alles lern’ Und verstehe die Freiheit Aufzubrechen, wohin er will

und daher auch mit den sie faszinierenden grausigen Stoffen der Märchen nicht zu verschonen, knüpfen Sie die Frage, ob das auch für die „grausamen und pornographischen Filme und Videospiele“ nebst der unendlichen Fülle von Erzeugnissen der Spielwarenindustrie sowie der Süßwaren, Hamburger

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und Alkoholika gelten solle. Diese Frage verneine ich – ganz abgesehen von den Süßwaren, Hamburgern und Alkoholika, die ich im Gegensatz zu kultiviertem Weingenuß sowieso verabscheue – nicht deshalb, weil die Spiele grausam und pornographisch sind, sondern weil sie Spiele in der Weise sind, wie Spiele erst aus der ironistischen Verfehlung des abendländischen Geistes möglich werden, als Anleitungen zum Spielen beliebiger Zuwendung und Abwendung beim Verfügen über unabsehbar viele Möglichkeiten, mit denen der Mensch von Maschinen gefüttert wird, die ihn schieben, indem er zu schieben glaubt. Das ist das zweideutige Erbe Fichtes und der frühromantischen Ironie (einschließlich Stirners), der Entdeckung der strikten Subjektivität der subjektiven Tatsachen, die als Schweben des Subjekts über den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen mißverstanden wird. Wir sind uns einig, daß der Menschheit dazu viel Reifungsbedarf obliegt. 28. Dezember 2004 Sehr geehrter Herr Schmitz, mich hat etwas überrascht, mit welcher verbalen Vehemenz Sie in Ihrem letzten Brief meinem Satz „Prophylaxe statt Therapie“ widersprechen, obwohl Sie unmittelbar anschließend (schmunzelnd?) konzedieren, dass Sie nichts gegen die (ohnehin vergebliche?) Prophylaxe von Erziehungsschäden einzuwenden hätten. Sie fahren dann ebenso dezidiert fort und sprechen von Ihrer „Weigerung“, diesen Satz zu Ihrer „Devise“ zu machen (so hatte ich ihn, ohne besonderes Gewicht des Wortes) bezeichnet. Den Grund für Ihren entschiedenen Widerspruch vermute ich darin, dass Sie in der Devise „so etwas wie ein fertiges Standard-Rezept für die Befreiung der Menschen“ wittern, wobei mir nicht ganz klar geworden ist, ob Sie diese Befreiung (= „Zugang zur unwillkürlichen Lebenserfahrung“?) ablehnen oder die Vorstellung, es gäbe zu ihrer Herbeiführung ein Standard-Rezept. Sie nennen allerdings im Weiteren ausdrücklich den Grund für Ihre „Weigerung“ – in Ihrer Terminologie: zuständliche Situationen seien (wegen der Binnendiffusion ihrer Bedeutsamkeit) nur nachträglich zu therapieren und nicht vorausplanend zu säubern. Mir ist dabei nicht klar, wie dieser Satz mit Ihrem anderen, nichts gegen Prophylaxe von Erziehungsschäden zu haben, in Einklang steht. Überhaupt müsste man wohl, wenn man sich hier verständigen wollte, Kriterien nennen, sowohl dafür, was als Erziehungsschaden zu gelten hat, als auch dafür, auf Grund welcher Feststellungen und mit welchem Ziel man eine zuständliche Situation therapieren oder therapieren lassen will. Mir ginge es, um an Ihre Sätze anzuknüpfen, jedoch nicht um eine „Säuberung“ zukünftiger Situationen, sondern um die Verhinderung oder wenigstens Verminderung der „Verschmutzung“ gegenwärtiger; anders ausgedrückt: um eine Herabsetzung der schädlichen Wirkungen, die dem in eine spezielle Kulturwelt Hineinwachsenden z.B. „den Zugang zu seiner

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eigenen unwillkürlichen Lebenserfahrung“ verschütten. Dabei meine ich nicht, um einem von Ihnen bereits erhobenen Einwand zu begegnen, Wirkungen, aus deren Überwindung (Emanzipation) er gestärkt und mit einem besseren Zugang zu seiner unwillkürlichen Lebenserfahrung hervorgeht. Unsere aktuelle Diskussion dieses Themas begann, indem ich beispielhaft Ihre eher beiläufige Bemerkung (in der Einleitung zu Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“), „man“ erzähle seinen Kindern „mit Eindringlichkeit vom lieben Gott, vom Weihnachtsmann, von Märchenwelten usw.“ und stifte dadurch ein Gefühl von Zugehörigkeit, als problematisch bezeichnete und darin eine rhetorische Verharmlosung gravierender schädigender Einflüsse und ein Übergehen der Motive jener quasi triebhaften Eindringlichkeit der Einflussnehmer sah. Auch wenn die meisten Menschen im Laufe Ihres Lebens den Glauben an den Weihnachtsmann und die Realität der Märchenwelten – einige auch den an den nicht immer nur „lieben“ Gott – ablegen, so ist doch nicht von vornherein als feststehend anzunehmen, dass eine solche Enkulturation die Emanzipationsfähigkeit einübt und stärkt; ich würde vielmehr die Vermutung prüfen, ob sie nicht die Emanzipationsfähigkeit schwächt und in diesem Sinne bleibende „Erziehungsschäden" hinterlässt, die kaum heilbar sind und prophylaktisch zu verhindern gewesen wären. Ich postuliere nun keineswegs dogmatisch, dass das Unterbleiben jener eindringlichen Einflüsse automatisch vor Schäden bewahrt (es gibt subtilere, nonverbale Prägungsverfahren) und so das „Standard-Rezept für die Befreiung der Menschen“ gefunden wäre. Aber ich kann Ihnen nicht darin zustimmen, dass, was immer man macht, jetzt und für alle Zeiten nur „ein Tasten im Walde“ bleiben muss; dass, was immer man macht, vergeblich sein und in gleichem Masse „gute wie böse Überraschungen“ zeitigen wird. Das mag ein heute naheliegender Defaitismus sein, vielleicht realistisch, aber nicht zwingend. Ich stimme Ihnen jedoch zu, dass ein „präzis inventarisierendes“ und vorsortierendes Planen (vielleicht nicht ganz „aussichtslos“, aber) kein erfolgversprechender Weg ist – nicht aber, dass alles, was man in prophylaktischer Absicht macht, unvorhersehbare und beliebige Auswirkungen hat. Ich meine also durchaus mit Ihnen, dass man dem Leben voraus keinen Maßstab dafür haben könne, was vernünftig ist. Eben letzteres, unerschütterlich zu wissen, was „richtig“ ist, wird doch in der bisher üblichen Enkulturation mit unreflektierter und apodiktischer Sicherheit den Neuankömmlingen von Anfang an mit vielerlei bewussten und unbewussten Beeinflussungen eingeimpft. Aber selbst das würde ich nicht von vornherein aus Prinzip verurteilen, wenn ich nicht den Verdacht hegte, dass mit diesem Einimpfen von „Werthaltungen“ (der Erzeugung des „irrationalen ÜberIchs“; bei Wilhelm Reich des psychisch und physiologisch verstandenen „Charakterpanzers“), wie er seit Jahrtausenden überall gängige Praxis ist, nicht zugleich und untrennbar eben jene „bösen Triebe“ erzeugt werden,

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die durch die Werthaltung oder Moral des Einzelnen dann in Schach gehalten werden sollen, was freilich oft nicht möglich ist. Wenn Sie es also als verhängnisvolles Vorurteil der Aufklärung und – sicherlich – auch Rousseaus bezeichnen, dass die Heutigen sich das Vernünftige ausdenken und dem zukünftigen Leben diktieren möchten, widerspreche ich nicht, füge aber hinzu, dass bei den Aufklärungsgegnern bzw. Traditionellen ja ebenfalls – und seit eh und je wirksamer – die Heutigen den Zukünftigen die Bahn des Lebens festlegen, ob sie das nun mit „Vernunft“ bezeichnen oder nicht. Nur vereinzelte Denker (meine drei „Helden“ als je einzige in ihrer Epoche) sahen die Zukunft der Menschheit darin, diese Festlegungen und die damit verbundenen „Erziehungsschäden“ langfristig zurückzubilden. Dafür wurden sie von den politisch bzw. ideengeschichtlich erfolgreichen Aufklärern zumindest in gleichem Maße, wenn nicht noch stärker, verfemt als von den Aufklärungsgegnern. 4. Januar 2005 Sehr geehrter Herr Laska! In meinem Brief vom 10.12.04 hatte ich es abgelehnt, der Prophylaxe von Erziehungsschäden ein Standard-Rezept für die Befreiung der Menschen zu Grunde zu legen. In Ihrer Antwort vom 28. Dezember zweifeln Sie, ob ich die Befreiung als Ziel oder nur das Standard-Rezept als Weg dazu ablehne. In der Tat halte ich es für eine des Don Quijote würdige Illusion, nach der Befreiung der Menschen etwa durch einen Sieg der Emanzipation über die Natur zu suchen, wie Engels, vgl. „Adolf Hitler in der Geschichte“ S. 304: Die Menschen würden „Herren der Natur, Herren ihrer selbst – frei.“ (Es lohnt sich, auch angesichts des gerade aktuellen Seebebens, die Kritik Hitlers an dieser Zuversicht a.a.O. S. 305 zu lesen.) Die Befreiung ist in meinen Augen längst geschehen, aber als ein Leiden, in das die Menschen „geworfen“ (Heidegger) sind, eine gefährliche Herausforderung. Am Schluß meines Buches „Die entfremdete Subjektivität“ vergleiche ich die von Fichte angestoßene Reifungskrise einem zweiten Sündenfall, bei dem die Menschen lernen müssen, „was in dem, was sie selbst sind, Bestimmtheit und Unbestimmtheit ist“. Sie können nicht mehr hoffen, an objektiven und neutralen Tatsachen abzulesen, wer sie sind und was sie sollen. Auf diese Entsicherung reagieren sie mit der Wendigkeit entzügelten Beliebens (romantische Ironie, Stirner, Kommunikationsbetrieb unserer Tage, Coolsein) und der komplementären Angst (Kierkegaard, Heidegger, Sartre). Mein Bestreben ist es, ihnen in diesem Raum erlittener Freiheit den zu Selbstbehauptung nötigen Bewegungsstil zu vermitteln, wozu allerdings wesentlich das begreifende Erschließen des Zugangs zu der unwillkürlichen Lebenserfahrung gehört, zugleich damit das „Wellenreiten“, d.h. das gleichmäßige Können personaler Emanzipation und personaler Regression statt einseitigen Emanzipationsbestrebens, zu dessen Fehlern allerdings auch die

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planmäßige Verwaltung personaler Regression gehören würde. Das aufklärerisch-emanzipatorische Wegwischen des Heiligen, etwa in der Weise Stirners, muß ich im Geist dieser Zielsetzung, mit der erlittenen Freiheit durch Könnerschaft zurecht zu kommen, rundweg ablehnen. Ein StandardRezept zur Befreiung der Menschen erübrigt sich dann sowieso. Diese Andeutung einer pädagogischen Tendenz meines philosophischen Bemühens kann zur Veranschaulichung dafür dienen, was ich mir unter einer Prophylaxe von Erziehungsschäden vorstelle. Ich verstehe Erziehung in ganz weitem Sinn, der Greise ebenso wie Kinder betrifft und u.a. eine Revision der Abstraktionsbasis der dominanten europäischen Intellektualkultur in sich schließt, der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Verfehlung von Demokrit und Platon bis zur gerade jetzt grassierenden „Gehirnmythologie“. Das Streben, Kindern gewisse Indoktrinationen zu ersparen, kann dazu gehören, ist aber nur ein Splitter der gewaltigen Aufgabe. Diese ist auf die Lage im jetzigen und vorigen Jahrhundert zugeschnitten, als Versuch, zu beschreiben, was hier und heute not tut, was in unserer Zeit vernünftig ist. Eine reine pädagogische Vernunft, die das unvorhersehbare Weiterleben der Menschheit überholt, kann es nicht geben, auch nicht generelle „Kriterien dafür, was als Erziehungsschaden zu gelten hat“; wohl aber gehören zu jeder Erziehung Ideale, die ein Ziel angeben und tunlichst auf ihre Angemessenheit und Vernünftigkeit im Hinblick auf den Stand und die Perspektiven des Lebens zu einer Zeit geprüft und durchgesprochen werden sollten. Ich habe so etwas unter dem Titel „Die Zielsetzung der Psychotherapie“ in meinem Buch „Leib und Gefühl“ (2. Auflage Paderborn 1992) auf den Seiten 98–102 versucht und bin an Freud und Goethe vorbei zu einem eigenen Vorschlag gekommen. Zu Unrecht werfen Sie mir in diesem Zusammenhang einen „Defaitismus“ vor, weil ich den Umgang mit Situationen, die man pädagogisch weitergeben und dabei modifizieren kann, einem „Tasten im Walde“ verglichen habe. Sie unterstellen mir deswegen die Meinung, „daß, was immer man macht, vergeblich sein und in gleichem Maße ‚gute wie böse Überraschungen‘ zeitigen wird“. Ist denn das Tasten im Walde immer vergeblich? Kann es nicht seine eigene Geschicklichkeit haben, die im Bunde mit Glück zum Hindurchfinden reicht? Gar nicht glaube ich, wie Sie mir unterstellen, „daß alles, was man in prophylaktischer Absicht macht, unvorhersehbare und beliebige Aussichten hat“. Vielmehr leben wir in einem Kontinuum der Metamorphose von Situationen auch über Brüche hinweg und können an jeder Stelle mit Besinnung und Rechenschaftsablegung einhalten, wie mit einer Taschenlampe, deren freilich nicht durchdringender, aber dem Weitertasten vorleuchtender Schein auch das pädagogische Bemühen führen kann.

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22. Januar 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, auch Ihr letzter Brief bot wieder eine Reihe von Gedanken, auf die näher einzugehen sich lohnte, so dass ich hin und her überlegte, wo am besten anzufangen wäre. Schließlich entschied ich mich dann doch, einfach vorn anzufangen, dort, wo es um das Thema „Befreiung“ geht. Sie knüpfen formal an unsere Diskussion meiner auf „Erziehungsschäden“ bezogenen Sentenz „Prophylaxe statt Therapie“ an, geben dann aber einige Erläuterungen, die meine Verständnisprobleme, deren Beseitigung ich erhofft hatte, eher vergrößerten. Es ging, nach Ihren vorgängigen Formulierungen, um die Frage, ob Sie die „Befreiung“ der Menschen überhaupt ablehnen oder nur die Vorstellung (die auch ich nicht hege), zu ihrer Beförderung gebe es ein Standard-Rezept. Problematisch dabei ist natürlich, was unter Befreiung resp. Freiheit (zu der Befreiung doch wohl führen soll) verstanden werden könnte. Sie äußern sich dazu auf zweierlei Art: Erstens bezeichnen Sie Befreiung als „Sieg der Emanzipation über die Natur“ (nennen das kürzliche Seebeben zur Erläuterung dessen, was Sie hier mit Natur meinen) und halten den Glauben an eine solche Möglichkeit für eine wahrhaft donquijoteske Illusion. Wer würde Ihnen da widersprechen? Als einen, der diesem Glauben angehangen haben soll, nennen Sie Friedrich Engels – unter Verwendung eines Zitats, das Sie schon in Ihr Hitler-Buch (S. 304) eingebaut haben. Ich habe mir die Stelle bei Engels mal im Kontext angesehen. Dort geht es nach meinem Verständnis zunächst um den unmittelbaren Effekt der nach der Marx’schen Doktrin des historischen Materialismus nahe bevorstehenden proletarischen Revolution: um die „Befreiung der Produktionsmittel von ihrer bisherigen Kapitaleigenschaft“. Als automatische Folge dieser „weltbefreienden Tat“, die das Proletariat aus „geschichtlichem Beruf“ ausführen wird, erwartet Engels dann euphorisch das, was Sie zitieren. Aber mit „Herren der Natur“ ist doch, weder im Rahmen des historischen Materialismus noch in sonst irgendeiner sinnvollen Weise, nicht die Außerkraftsetzung der „Naturgesetze“ gemeint, sondern, wie Engels dort auch sagt, die Außerkraftsetzung der zuvor unverstandenen Gesetze der sog. zweiten Natur, eben der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die damals – und ich habe den starken Eindruck, heute wieder, zumindest in den sich als kulturelle MenschheitsAvantgarde sogar „at the end of history“ wähnenden, jedenfalls so aufspielenden „westlichen“ Ländern – zu den „natürlichen“ Daseinsbedingungen gezählt wurden. – Sie wissen, dass ich die Konzeption des historischen Materialismus (samt dessen späterer Auffüllung mit elaborierter ökonomischer Theorie) für einen Irrweg halte, geboren aus der panischen Reaktion von Marx auf Stirner bzw. dessen Exposition der gewaltigen Größe eben der „Befreiungs“-Problematik, für eine gewiss kurzschlüssige „Illusion“

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darüber, wie die „Befreiung der Menschen“ auf dem Programm der Geschichte stehe und deshalb erfolgen werde – nicht donquijotesk, aber die illusionären Bedürfnisse mehrerer Generationen gut treffend. Ich möchte keineswegs die von Ihnen zitierten unklaren Formulierungen Engels’ verteidigen. Aber Ihrer Verwendung des Engels-Zitates sowie Ihrer Gedankenführung dazu kann ich mich nicht anschließen. Zweitens sagen Sie von der Befreiung der Menschen, sie sei längst geschehen, freilich nicht im obigen Sinne, den Sie ja als donquijotesk bezeichneten, sondern „als ein Leiden, in das die Menschen ‚geworfen‘ (Heidegger) sind, als gefährliche Herausforderung.“ Sie scheinen damit aber nicht die Resultate der durch die immens gesteigerten Möglichkeiten zur Meinungsmanipulation beförderten institutionellen Wandlungen zu Massendemokratie und immer größerer Permissivität zu meinen, sondern verweisen philosophisch zurück auf die „von Fichte angestoßene Reifungskrise“ und die Reaktionen darauf (einerseits die „coolness“ von Stirner et al., andererseits die Angst von Kierkegaard et al.). Hier fällt uns eine Verständigung, wie unser bisheriger Briefwechsel bezeugt, besonders schwer, denn der nihilistische „Schmitz-Stirner“ ist in meinen Augen ein kastrierter Popanz, der gerade um jenen Kerngehalt gebracht ist, der den „Laska-Stirner“ zu einer Schlüsselfigur zum Verständnis der heutigen falschen Freiheit macht. Gleichwohl kann ich Ihrer Absicht, das begreifende Erschließen des Zugangs zur eigenen unwillkürlichen Lebenserfahrung, das „Wellenreiten“, das gleichmäßige Können personaler Emanzipation und personaler Regression u.ä. zu fördern, nur zustimmen. Aber meiner Auffassung nach ist dies – wenn überhaupt je in der realen Menschenwelt – nur auf sehr lange Sicht, über viele Generationen hinweg, durch eben „Prophylaxe von Erziehungsschäden“ zu verwirklichen. Ich stimme Ihnen auch voll zu, dass es keine pädagogische Vernunft geben kann, die das Leben zeitlich ein- und überholt, aber ich widerspreche der Ansicht, dass keine Kriterien dafür möglich sind, was als Erziehungsschaden zu gelten hat. Pauschal gesagt ist ein Erziehungsschaden der, der die Fähigkeit zum „Wellenreiten“ an ihrer Entfaltung hindert, reduziert oder dauerhaft zerstört (also nota bene nicht solche Geschehnisse, die geeignet sind, den Heranwachsenden durch ihre Meisterung die Kunst des Wellenreitens üben und verbessern zu lassen). Ob z.B. das am Beginn unserer aktuellen Diskussion stehende, von Ihnen in der Einleitung zum Selbstdarstellungsbuch genannte eindringliche Erzählen vom lieben Gott, das im Kinde das Gefühl der Zugehörigkeit stiften soll, indifferent in dieser Hinsicht ist, bezweifele ich stark. Solche verbalen, vor allem aber die nonverbalen Methoden, wie z.B. das Bandagieren von Säuglingen, Genitalbeschneidungen und zig andere kulturell entstandene Praktiken und Riten, die den Neuankömmling für das Leben in der jeweiligen „Wahngemeinschaft“ (Walther Borgius) zurichten, d.h. das im Orga-

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nismus ausbilden, was ich als „irrationales Über-Ich“ umschreibe, wären auf ihre Schädlichkeit zu überprüfen. 25. Januar 2005 Sehr geehrter Herr Laska! Zwar habe ich jetzt nicht die Zeit, mich in den Schriften von Engels um eine Interpretation zu bemühen, aber ich glaube nicht, daß dieser lediglich an den Umsturz des Kapitalismus dachte, als er schrieb: „Die Menschen, endlich Herren ihrer eigenen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst – frei.“ Dem scheint schon der Wortlaut („zugleich“) zu widersprechen. Selbstverständlich denkt Engels auch nicht, wie Sie mit Recht ausschließen, an Außerkraftsetzung der Naturgesetze, aber ich nehme an, daß er im Anschluß an die von Bacon ausgegebene Parole „natura non nisi parendo vincitur“ – man kann die Natur nur dadurch beherrschen, daß man ihr gehorcht – an den Fortschritt der Maschinentechnik in geschickter Ausnutzung dieser Gesetze glaubte, wie Lenin, als er definierte: „Kommunismus ist Sozialismus plus Elektrifizierung.“ Der alte Marx erhoffte sich von der „automatischen Fabrik“ einen beliebig vermehrbaren, jedem nach seinen Bedürfnissen zuteilbaren Wohlstand. Vermutlich hat Engels eine ähnliche Hoffnung in seine Vorwegnahme des Sieges über den Kapitalismus hineingenommen und beides als Gesamtsieg über die Natur aufgefaßt. Höchst erstaunt bin ich darüber, daß Sie in Ihrem Brief vom 22.01., nach dem Abschnitt über Engels, einen Schnitt zwischen der durch Fichte und Stirner angestoßenen Reifungskrise und „der durch die immens gesteigerten Möglichkeiten zur Meinungsmanipulation beförderten institutionellen Wandlungen zu Massendemokratie und immer größerer Permissivität“ machen. Ich war bisher immer davon ausgegangen, daß wir in dieser Entwicklung ein Kontinuum sehen, den Eintritt des Menschen in einen noch unabsehbaren Raum neuer, selbständiger, schwer zu bewältigender Verantwortung für sich selbst. Natürlich meine ich nicht, daß Fichte, Schlegel und Stirner den technischen Fortschritt angestoßen hätten; aber es wäre doch allzu naiv, die Massendemokratie und Permissivität allein auf die gesteigerten Möglichkeiten der Manipulation zurückzuführen. Zur Manipulation gehört nämlich zweierlei: daß sie (technisch) möglich ist und daß sie angenommen wird. Für das Zweite ist nach meinem Dafürhalten die durch die Reifungskrise verursachte Unsicherheit verantwortlich, der Verlust des Haltes an objektiven oder neutralen Tatsachen, an denen man ablesen kann, wer man ist und was man soll. Für mich spricht, daß die Reaktion auf die überall fast gleich gestiegenen Möglichkeiten der Manipulation in verschiedenen National- und Religionskulturen verschieden ausfällt, schon in Deutschland und Frankreich, erst recht, wenn man den Islam, die Japaner berücksichtigt.

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Über gewisse Übereinstimmungen unserer pädagogischen Ansichten freue ich mich, aber ich sehe auch große Unterschiede. Ihrer Definition des prophylaktisch zu verhindernden Erziehungsschadens, „der die Fähigkeit zum ‚Wellenreiten‘ an ihrer Entfaltung hindert, reduziert oder dauerhaft zerstört“, schließe ich mich nur bezüglich des letzten Teiles („dauerhaft zerstört“) an. Für fatal würde ich eine geradlinige und bedenkenlose Einübung des Wellenreitens als pädagogische Maxime halten. Die von der Reifungskrise gesetzte Unsicherheit ist viel zu groß, als daß man nicht, um das Können vor Verpuffung zu schützen, retardierende Momente (wie im Drama) einfügen müßte. Halsbrecherische Einübung des Wellenreitens führt nur zum Halsbrechen. Die Menschen müssen zugleich herausgeführt und gestützt werden, damit sie lernen, personale Emanzipation und personale Regression in ihrer Lebensführung zusammenzufassen, statt sich bloß zu emanzipieren oder bloß zu regredieren oder beides launisch wechseln zu lassen. Ich bin auch der Meinung, daß das eine Aufgabe auf sehr lange Sicht ist, aber ich will sie ja auch nicht gleich lösen, sondern nur durch philosophische Selbstbesinnung einige Mittel und Maßstäbe für solche Lösung bereitstellen. Ein Kanon pädagogischer Strategie und Taktik gehört nicht dazu, weil man die Strategie und Taktik, auch bei gleichem Fernziel, mit jeder Generation neu einstellen oder mindestens „fortschreiben“ muß, wie ich schon schrieb. Je nach der geschichtlichen Lage können auch Strategiewechsel nötig werden. Im 18. Jahrhundert war es erst einmal wichtig, in der Pädagogik aufklärerisch und philanthropisch auf personale Emanzipation zu setzen; nach 1900 gelang in der Jugendbewegung eine glückliche Synthese personaler Emanzipation und personaler Regression, aber es fehlte an den Überschwang der Freiheit dämpfender Besonnenheit usw. 12. Februar 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich glaube, wir sind in unseren letzten Briefen, wenigstens teilweise, thematisch auf Nebengleise geraten – obwohl auch diese immer wieder Verbindungen zum Hauptgleis unserer Diskussion haben. Natürlich brauchen wir nicht darin fortzufahren, den von Ihnen früher zitierten Satz aus einer Schrift von Friedrich Engels (die Menschen als „Herren der Natur, Herren ihrer selbst“) auszulegen. Der von Ihnen im letzten Brief zitierte Satz von Bacon, man könne die Natur nur dadurch beherrschen, dass man ihr gehorcht, ist von gleicher Qualität. Es geht ja beide Male um das Verhalten „des“ Menschen. Wer wäre denn in der Lage, der Natur nicht zu gehorchen? Derjenige, der auf seinen (ihn von den Tieren unterscheidenden) „freien“ Willen stolz ist und seine „Freiheit“ durch selbstschädigende Akte sich und Anderen beweisen will? Der Asket? Der Masochist? Der Selbstmörder? Doch allenfalls auf den ersten Blick. Wollten wir dieser Weichenstellung folgen, gerieten wir auf ein Abstellgleis. Wenn Sie am 25.1., dieses

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Kapitel abschließend, sagen, Marx habe, wie Engels (oder umgekehrt), die Hoffnung gehegt, der Sieg über den Kapitalismus sei zugleich der „Gesamtsieg“ über die Natur, kann ich damit wenig anfangen. Einen Satz zuvor sagen Sie, Marx habe gehofft, „automatische Fabriken“ würden – allerdings aus rein ökonomischen, organisationstechnischen, also in der Sache liegenden Gründen nicht unter den Zwängen des Kapitalismus – zukünftig einen Wohlstand erzeugen, in dem „jeder nach seinen Bedürfnissen“ bekomme. Darunter kann ich mir schon eher etwas vorstellen. Jedenfalls führte dieser Satz weiter zu einer Betrachtung über die Natur der menschlichen Bedürfnisse und der Möglichkeit von deren Befriedigbarkeit. Sie sprechen nun an der gleichen Stelle von „beliebig“ vermehrbarem Wohlstand, dessen automatische Herstellung und „Zuteilung“ an Alle nach ihren jeweiligen Bedürfnissen Marx sich ausmalte: beliebig, d.h. so lange, bis alle haben, was sie brauchen. Ich vermute, dass Sie in den Vorstellungen von einem „Sieg über die Natur“ und von der „Befriedigbarkeit der menschlichen Bedürfnisse“, die Sie aus den Schriften von Marx und Engels herauslesen, die hauptsächlichen Schwachstellen von deren Doktrin sehen. Dass beide aber immer wieder betonten, keine Utopisten, sondern gegenüber früheren Sozialisten „von der Utopie zur Wissenschaft“ fortgeschritten zu sein, zeigt m.E., dass sie sich jenen Einwänden gestellt haben. Jemand, der sich in dem Marx-Engels-Werk besser auskennt als ich, könnte ihnen wahrscheinlich ohne Schwierigkeiten begegnen. – Ich entwickle, wie Sie ja wissen, meine Kritik am Werk von Marx aus der Situation, in der Marx seinen „historischen Materialismus“ konzipierte. Diesen sehe ich als Flucht vor einer Konfrontation mit jener elementaren Menschheits-Frage, die Stirner (meinetwegen vorbereitet durch Fichte) präsentierte. Alles, was Marx danach in frenetischer Arbeitswut „wissenschaftlich“ produzierte, diente, grob gesprochen, der Vertuschung dieser Fluchtbewegung, und Marx’ lang andauernde ungeheure Attraktivität für viele Intellektuelle sehe ich im Wesentlichen darin, dass diese ebenfalls eine solche Fluchtbewegung vor jener „Stirner-Frage“ vollziehen wollten. (Dasselbe Schema sehe ich – mutatis mutandis – im Falle Nietzsche.) Natürlich gebe ich Ihnen Recht, wenn Sie sagen, dass es allzu naiv wäre, Massendemokratie und Permissivität allein auf die gesteigerten Möglichkeiten der Manipulation zurückzuführen. Falls Sie das als meine Meinung annehmen, haben Sie mich missverstanden. Natürlich gehört zur Manipulation, wie Sie schreiben, dass sie angenommen wird. Was die Analyse noch komplizierter macht, scheint mir die Tatsache zu sein, dass die meisten der Manipulatoren gar nicht glauben, dass sie Andere manipulieren. Ich wollte an sich nur zum Ausdruck bringen, dass das so mühsam erkämpfte Wahlrecht für Alle immer in dem Maße gewährt wurde, in dem sicher gestellt war, dass die Wahlberechtigten sich so verhalten, dass das System einigermaßen stabil bleibt (aber → Hitler). Mir ist allerdings klar, dass das

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alles weitaus komplizierter ist, aber darüber wollte ich nicht schreiben. Meine Bemerkungen – Stichworte: Massendemokratie, Permissivität, Konsumfreiheit, Quoten- und Mehrheitsdenken etc. – im letzten Brief waren provoziert durch Ihre Behauptung, die Befreiung der Menschen habe längst stattgefunden. So wie es aussieht, gehen unsere Auffassungen darüber letztlich gar nicht so sehr auseinander; nur die Terminologie schaffte Verwirrung (was mich übrigens etwas an Stirners Polemik gegen die „Freiheit“ erinnert, der er die „Eigenheit“ entgegensetzte). Unsere pädagogischen Ansichten: „gewisse Übereinstimmungen“ und „große Unterschiede“ schreiben Sie, wahrscheinlich zu Recht. Sie stimmen mir zu, wenn ich sage, dass in der Erziehung die Fähigkeit zum „Wellenreiten“ nicht dauerhaft zerstört werden sollte, meinen aber, sie dürfe oder gar solle durchaus in ihrer Entstehung gehindert und reduziert werden (bloß eben nicht auf Null). Um dies zu erreichen, müsse man gewisse „retardierende Momente“ (etwa auch das schon mehrmals erwähnte „eindringliche Erzählen vom lieben Gott“?) einbauen – „um das Können vor Verpuffung zu schützen.“ Als Gegenvorstellung sehen Sie nur die „geradlinige und bedenkenlose Einübung des Wellenreitens.“ Mir gefallen beide Vorstellungen nicht, sondern eher Ihr weiter unten formulierter Satz: „Ein Kanon pädagogischer Strategie und Taktik gehört nicht dazu …“ Aber: wären denn die bewusst eingeführten retardierenden Momente nicht als Teil eines solchen Kanons anzusehen? Ebenfalls gefällt mir Ihre Kopplung der Fähigkeiten von personaler Emanzipation und personaler Regression. Wilhelm Reich, den Sie, wie ich weiß, nicht gerade schätzen, betrachtet beides, freilich in anderer Terminologie, als Einheit und sich gegenseitig bedingend. Da entfällt die Sorge, die Sie äußern: dass es möglich ist, dass jemand sich bloß emanzipiert oder bloß regrediert oder beide Status „launisch“ wechseln lässt. Wer zu personaler Regression nur in geringem Maße fähig ist, so könnte man Reich übersetzen, ist auch nur in geringem Maße emanzipationsfähig – und, selbstverständlich, ein miserabler Wellenreiter. 16. Februar 2005 Sehr geehrter Herr Laska! Ich habe nicht den Eindruck, daß wir mit der Diskussion über Erziehungsfragen auf ein Nebengleis geraten sind. (Wohl mit der Abschweifung zu Engels und nun gar Bacon. Sie fragen, wie man un-baconisch der Natur nicht gehorchen könne. Antwort: indem man technischen Fortschritt ohne fundierende sorgfältige Naturforschung versucht, d.h. ohne sich über die so genannten „Naturgesetze“ aufzuklären, denen abzulauschen ist, wie man die Naturkräfte in den Dienst eigener Absichten stellen kann.) Unsere Auseinandersetzung über Befreiung als Erziehungsziel begann damit, daß Sie in Ihrem Brief vom 8.12.04 die von Ihnen gewünschte pädagogische Prophylaxe an eine Schrift von Reich mit dem Titel „Der Erziehungszwang

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und seine Ursachen“ anknüpften, also als Thema der Prophylaxe die Befreiung vom Erziehungszwang (und damit von einem „Charakterpanzer“, wie Sie oft, gleichfalls nach Reich, sich ausdrücken) zu verstehen schienen. Damit ist unser Streitpunkt ziemlich gut eingegrenzt. Ich bestreite zwar nicht, daß so etwas gelegentlich auch heute noch eine gute pädagogische Aufgabe sein kann, aber ich glaube, daß diese Zielsetzung als pädagogisches Generalthema seit 200 Jahren antiquiert ist, nämlich seit dem Einsetzen der Verfehlung des abendländischen Geistes mit Fichte und der Frühromantik einschließlich Stirners. Hochaktuell war dieses emanzipatorische Generalthema allerdings im 18. Jahrhundert, zur Zeit der Aufklärung, die längst überholt ist, wenn wir an ihrem Erbe auch immer noch zu „kauen“ haben (nicht ohne ihm auch sehr viel zu verdanken). Das Hauptproblem der Menschheit ist heute nicht mehr der Erziehungszwang oder der Charakterpanzer, sondern der Nihilismus, nicht im Sinn der oberflächlichen Formel von Nietzsche, „daß die obersten Werte sich entwerten“, sondern im Sinn der Entdeckung der strikten Subjektivität, daß die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ nicht mehr in objektiven oder neutralen Tatsachen zu finden ist. (In allen objektiven Tatsachen, die über Herrn Hermann Schmitz ausgesagt werden können, ist kein Grund dafür zu finden, daß ich er bin.) Daraus ergibt sich für jeden, daß er die Maßstäbe dafür, wofür er verantwortlich ist, nur noch seiner Selbstbesinnung entnehmen kann. Dem sind Menschen noch nicht gewachsen. Sie haben noch nicht gelernt, sich in die für sie subjektiven Sachverhalten, Programme und Probleme so einzuleben, daß sie diesen eine Steuerung des Beliebens über den Wechsel von Launen hinweg entnehmen können. Die Menschen nehmen sich alles heraus und wissen nicht, wohin. Das ist das nihilistische Leiden an der eigenen Freiheit. Deswegen habe ich geschrieben: Die Befreiung ist schon längst geschehen, aber als Leiden. Was die Menschen heute brauchen, ist eine neue Standfestigkeit, nicht oder nur nebenbei eine Befreiung von Zwang. Wie sehr sie eine solche Festigkeit als nötig empfinden, zeigen die vielfältigen Ersatzbefriedigungen im (namentlich religiösen) Fundamentalismus, z.B. im Islam oder in Bushs neoamerikanischer Religion. In diesen Zusammenhang gehört auch mein Plaidoyer für Vorsicht bei der Erziehung zum „Wellenreiten“. Ich denke nicht an fundamentalistische Zwangsmaßnahmen, aber auch nicht an Lockerungsübungen, sondern etwa an das, was ich in meinem Buch „Adolf Hitler in der Geschichte“ auf S. 386–390 als pädagogische Hauptmaxime aufgestellt habe: die Einübung der Einheit und Zusammengehörigkeit von Recht und Pflicht von Kindesbeinen an, um den Menschen in ein ausgewogenes Verhältnis von Selbstbehauptung und Solidarität einzuführen, aus dem implantierende Situationen wachsen können, die den Menschen bei seiner Selbstfindung stützen. Die homogenisierende, nivellierende Brüderlichkeit der Französischen Revolution müßte ergänzt werden durch Pietät, die im altrömischen Sinn nicht die

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christliche Frömmigkeit vor einem transzendenten Gott ist, sondern die Nuancierung der Qualitäten der Rücksicht auf einander in der Familie, die am Erlöschen solcher Pietät heute zusammenbricht. Ein ebenso großes Elend ist das Erlöschen der Strahlkraft mythischer Symbole durch die Auslieferung der Phantasie an willkürlich verfügende Manipulation. An die Stelle der Märchen treten schon beim kleinen Kind die Computerspiele. Ein letzter Rest noch unverdorbenen mythischen Rituals ist das Weihnachtsfest, das als einziges Fest noch lebt. Man soll den Tannenbaum nicht leichtsinnig aus einer christlichen Verwurzelung in Gestalt der schönen alten Weihnachtslieder herausreißen, auch wenn deren Text nicht mehr wörtlich genommen werden kann. Vom „lieben Gott“ ist wenig mehr zu fürchten, der hat wohl ausgedient. Ein anderer Hoffnungsschimmer ist das Erstarken der Barockmusik. Den Zeitgenossen war Bach zu schwer, heute ist er fast populär, trotz seiner unsäglichen pietistischen Texte. Die Musikkultur einer Zeit ist von größter Wichtigkeit für die Führung der Menschen und als Indikator ihrer normalen oder fieberhaften geistigen Temperatur. 5. März 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, wieder sind mir Tage und Wochen davongelaufen, so dass ich erst heute zu meinem Brief komme. Ich hoffe, Sie nehmen mir die Verzögerung nicht krumm, auch wenn ich darauf verzichte, meine Entschuldigungsgründe (Erkrankungen von Mensch und Tier) im Einzelnen aufzuführen. Ich stimme Ihnen natürlich zu, dass die Diskussion der Erziehungsproblematik im allgemeinsten Sinn kein Nebenthema unseres Austausches ist – im Gegenteil: Erziehung, auch unter dem Titel Enkulturation, erweist sich immer wieder als das Hauptthema, das „Gravitationszentrum“ unserer Diskussionen, zu dem wir immer wieder geführt werden. Sie scheint mir der Bereich, an dem sich die Übereinstimmungen und Gegensätze unserer Auffassungen am deutlichsten zeigen und formulieren lassen. (Im Übrigen bezeichnete auch Stirner zu Anfang seines Artikels „Das unwahre Prinzip unserer Erziehung“ die Erziehungsfrage als „die wichtigste“ – was er dann im „Einzigen“, leider durch Tagespolemik und „nihilistische“ Provokationen übertönt, weiterführt.) Sie verweisen auf das Kapitel 8.1.3 Ihres Hitlerbuches über die „Regeneration implantierender Situationen“. Ich würde Ihnen in vielen einzelnen Punkten, die Sie dort aufführen, bisweilen auch zwischen den Zeilen andeuten, durchaus zustimmen. Aber dem Wahlspruch von der „Zusammengehörigkeit von Recht und Pflicht“, die jedem Menschen von früh an beigebracht werden müsse, kann ich nicht den Status einer „pädagogischen Hauptmaxime“ zuerkennen. Die Einsicht in diese Zusammengehörigkeit und, vor allem, die Fähigkeit, sich ihr entsprechend zu verhalten, wäre für einen (utopischen) „Neuen Menschen“, der nach Maximen, die aus den hier

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schon oft be- oder zumindest umschriebenen anthropologischen Erkenntnissen von La Mettrie, Stirner und Reich (betr. der Entstehung des „irrationalen“ „Über-Ichs“) abzuleiten sind, sich bildete, eine Selbstverständlichkeit. An diesem Punkt tritt unser Dissens wohl am deutlichsten hervor. Wie Ihr letzter Brief zeigt, besteht hier aber zusätzlich auch noch ein m.E. bedeutsames Missverständnis. Auch wenn ich nicht glaube, dass die Klärung dieses Missverständnisses den Dissens beseitigen wird, muss ich sie hier natürlich versuchen. Es geht um den Inhalt der von mir gelegentlich genannten Reich’schen Schrift „Der Erziehungszwang und seine Ursachen“ (1926). Sie scheinen das Titelstichwort im Sinne von „autoritärer“ / mit Zwängen operierender Erziehung zu verstehen (und sagen zu Recht, dass dies heute nicht mehr das Hauptproblem sei, jedenfalls nicht in den „westlich“ geprägten Gesellschaften). Reichs Artikel zielt auf etwas Anderes. Um zunächst noch einmal „unseren“ Stirner heranzuziehen: der sagt im „Einzigen“ (Reclam, S. 70, ähnlich an versch. Stellen): „So mit eingegebenen Gefühlen vollgestopft, erscheinen Wir vor den Schranken der Mündigkeit und werden ‚mündig gesprochen‘. Unsere Ausrüstung besteht aus ‚erhebenden Gefühlen, erhabenen Gedanken, begeisternden Grundsätzen, ewigen Prinzipien‘ usw. Mündig sind die Jungen dann, wenn sie zwitschern wie die Alten …“ Reichs Artikel steht im Kontext einer Diskussion in den 1920er Jahren, in der es darum ging, wie man die Erkenntnisse der Psychoanalyse im Erziehungsprozess einsetzen kann (etwa im Geiste Bacons, wie Sie ihn im letzten Brief ausgedrückt haben: die Naturkräfte in den Dienst eigener Absichten stellen). Reich vertritt nun in dem Artikel die Auffassung, dass dies nur sehr begrenzt möglich ist und darüberhinaus gar nicht einmal wünschenswert. Er skizziert einige Probleme aus der Psychologie des Erziehers, von denen das wichtigste der Erziehungszwang sei: dieser also nicht verstanden als Erziehung mittels Zwang, sondern als Zwang beim Erziehen, begründet dadurch, „dass die Eltern durch jede Triebäußerung des Kindes an ihre eigenen verdrängten infantilen Wünsche gemahnt werden und die Triebhaftigkeit des Kindes eine Gefahr für die Aufrechterhaltung der eigenen Verdrängungen bedeutet. Diese Gefahr wird nun durch erzieherische Verbote abgewehrt, die deutlich das Gepräge des Erziehungszwanges haben.“ Allgemeiner gesagt ist das Problematische am Prozess der Erziehung gemeint, das darin besteht, dass generell durch großteils unbewusst gesteuertes Verhalten der Erzieher die Jungen, mit Stirner gesprochen, so zugerichtet werden, dass sie in wesentlicher Hinsicht zwitschern wie die Alten. Daran habe ich gedacht, als ich in früheren Briefen gelegentlich auf Ihr als harmlos vorgetragenes Beispiel zu sprechen kam, dass „man“ den Kindern „mit genügender Eindringlichkeit vom lieben Gott“ erzählt. Warum tut jemand das? Hier scheint mir die Durchleuchtung der Motive des Handelnden wichtiger und aufschlussreicher als die Antwort

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auf die Gegenfrage: Was kann denn schon daran schädlich sein? Ich sehe die Sache als nicht so harmlos an wie Sie, wenn Sie an der Stelle („Selbstdarstellung als Philosophie“, S. IX) weiter sagen, das auf diese Weise (die Erzählung vom lieben Gott natürlich nur als ein Beispiel für die Fülle verbaler und non-verbaler erziehender und enkulturierender Vorgänge) gestiftete Zugehörigkeitsbewusstsein lasse sich später, in der Pubertät, leicht auflösen. Zwar mag der liebe Gott, wie Sie im letzten Brief schreiben, heute für Viele „ausgedient“ haben, ebenso der autoritäre Vater, aber ich sehe nicht, dass deshalb eine Generation herangewachsen ist oder heranwächst, die wirklich eine größere Fähigkeit zu „personaler Emanzipation und personaler Regression“ aufweist als die vorige. – Sie plädieren für „Vorsicht bei der Erziehung zum ‚Wellenreiten‘“. Da stimme ich Ihnen zu, würde aber, wie schon früher, sagen, dass es m.E. gar nicht darum gehen sollte, zum Wellenreiten zu erziehen; es ist schon viel gewonnen, wenn es gelingt, die keimenden Versuche des Wellenreitens im Kind möglichst wenig zu behindern – wenn Erzieher, die selbst miserable Wellenreiter sind, durch Kenntnis des „Erziehungszwanges“, dem sie unterliegen, diesen im vorhandenen Spielraum konterkarieren. 8. März 2005 Sehr geehrter Herr Laska, so sehr ich Ihnen für genauere Aufschlüsse über Wilhelm Reichs Konzept des Erziehungszwanges in Ihrem Brief vom 5. März dankbar bin, so wenig ändern sie meine Meinung, denn ich war weit entfernt, diesen Erziehungszwang nur als autoritäre Prügelpädagogik zu verstehen, und finde mich in völliger Übereinstimmung mit Reich, wenn dieser, offenbar stark psychoanalytisch geprägt, befürchtet, „daß die Eltern durch jede Triebäußerung des Kindes an ihre eigenen verdrängten infantilen Wünsche gemahnt werden und die Triebhaftigkeit des Kindes eine Gefahr für die Aufrechterhaltung der eigenen Verdrängungen bedeutet. Diese Gefahr wird nun durch erzieherische Verbote abgewehrt, die deutlich das Gepräge des Erziehungszwanges haben.“ Ein dadurch ausgelöster Erziehungszwang war zu der Zeit, als Reich schrieb und ich noch Kind war, in der Tat als verbreitete Möglichkeit ernst zu nehmen und kann selbst heute noch nicht ganz von der Hand gewiesen werden, doch ist die Gefahr inzwischen umgekippt: Psychoanalytisches Denken in den Spuren von Reich u.a. hat sich über die Medien der öffentlichen Meinung so bemächtigt, daß die meisten Eltern (sofern etwas intellektuell „angehaucht“) eher zwanghaft um die Vermeidung eines so motivierten Erziehungszwanges bemüht sind. Das ist eine grobe Abschätzung, die auf meinem persönlichen Eindruck beruht, dessen Beweis so unmöglich ist wie eine ihn bestätigende oder widerlegende Statistik. Aber davon ganz abgesehen: Ich bleibe bei meiner Behauptung in meinem Brief vom 16. Februar, daß die Überwindung des Erziehungs-

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zwanges in meinem und in Reichs Sinn als pädagogisches Generalthema seit 200 Jahren antiquiert ist, weil seit Fichtes Entdeckung und Verkennung der strikten Subjektivität und der dadurch ausgelösten frei schwebenden romantischen Ironie von Schlegel-Novalis-Stirner nicht mehr der Zwang alter Ängste das pädagogische Hauptproblem ist, sondern der Nihilismus in dem von mir in diesem Brief abermals angegebenen Sinn, und die Menschen – anders als in zurückgebliebenen, z.B. islamischen Exotenländern – nicht mehr (oder nur noch gelegentlich) der Befreiung von Zwängen bedürfen, sondern der Befreiung von einer Befreiung, die im haltlosen Schweben über den eigenen Möglichkeiten (im „Schwindel der Freiheit“ nach Kierkegaard) besteht. Ich wiederhole: „Die Befreiung ist schon längst geschehen, aber als Leiden.“ Ich habe dieses Leiden in meinem Brief vom 16. Februar etwas genauer charakterisiert. Vielleicht kann man im Licht dieser Charakteristik Stirners Position so beschreiben: Da er im Gefolge Fichtes usw. der Illusion anhing, daß alle Tatsachen objektiv oder neutral seien (in dem Sinn, daß jeder sie aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann), sah er auch das Heilige nur in objektiver oder neutraler Gestalt und damit als Götzen vor sich; mangels Vertrautheit mit der Subjektivität von Tatsachen fehlte ihm die Einsicht, daß sich dem Menschen auch in kritischer Selbstbesinnung etwas als heilig bewähren kann. Am 16. Februar habe ich geschrieben: „Was die Menschen heute brauchen, ist eine neue Standfestigkeit, nicht oder nur nebenbei eine Befreiung von Zwang.“ Die Befreiung von Zwang ist grundsätzlich zwar nicht durch die Französische, wohl aber durch die fast gleichzeitige frühromantische Revolution vollbracht, weil seither nicht mehr objektiv oder neutral für den Menschen feststeht, wer er ist und was er soll, und man sich daher nicht mehr auf solche unabhängig von der Selbstbesinnung feststehenden Maßstäbe für ihn berufen kann. Das ist freilich nur grundsätzlich so; es wird meist nicht durchschaut, und viele abbauwürdige Zwänge bleiben übrig, aber die Menschen kommen um die erlittene Befreiung, die sie mehr oder weniger verschwommen als Nihilismus oder „Gott ist tot“ empfinden, nicht mehr herum und sind ihr nur noch nicht gewachsen. Deswegen ist es so wichtig, ihnen eine Stütze der Selbstfindung in ihrer subjektiven Tatsächlichkeit zu gewähren, namentlich durch Stärkung implantierender gemeinsamer Situationen in ihrem Selbstverständnis. Dazu bedarf es der Wiederbelebung der (namentlich intrafamiliären) Pietät auf dem Wege einer früh beginnenden Erziehung zur Einheit von Recht und Pflicht. Verhängnisvoll wäre in diesem Zusammenhang ein voreiliger Abbau der Reste überlieferter Einverständlichkeiten (z.B. Weihnachtsfest), etwa aus Sorge vor Erziehungszwang aus verdrängten atavistischen Ängsten im Sinne von Wilhelm Reich. Sie berufen sich dagegen in Ihrem Brief vom 5. März auf Stirner mit der Sorge, „daß generell durch großenteils unbewußt gesteuertes Verhalten der Erzieher die Jungen, mit Stirner gesprochen, so zugerichtet

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werden, daß sie in wesentlicher Hinsicht zwitschern wie die Alten.“ An dieser Sorge erkenne ich ein grundsätzliches anthropologisches Mißverständnis. Sie betrachten Menschen wie Werkstücke, die z.B. auf dem Amboß oder mit der Laubsäge irgendwie zugerichtet werden, oder wie Vögel, die in der Weise zwitschern, wie sie es von den Eltern gelernt haben, sofern ihnen das betreffende Gezwitscher nicht einfach im Blut liegt. Für den Menschen als Person, d.h. als Bewußthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, gilt aber, daß er sich mit den seine persönliche Situation implantierenden Situationen auseinandersetzen und den Freiheitsspielraum dieser Auseinandersetzung als die wichtigste Gelegenheit seiner Selbstfindung nützen kann. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Fehlinterpretation richtig stellen. Sie schreiben mir mit Bezug auf „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. IX die Meinung zu, das betreffende „Zugehörigkeitsbewußtsein lasse sich später, in der Pubertät, leicht auflösen“. Sie beziehen sich offensichtlich auf folgenden Satz: „Diese innige Vermischung des Subjektiven und Objektiven löst sich häufig in der Pubertät; einerseits können sich sachliche Interessen (…) bemerkbar machen, andererseits und vor allem löst sich die Selbstverständlichkeit des Zugehörigkeitsbewußtseins, und der Mensch tastet mit einer Unsicherheit, die sich ebenso durch Zögern wie durch Übereilung und heftiges Aufbegehren verraten kann, nach einem Platz in der Welt, der ihm zukommt oder den er aus eigenem Antrieb wählt.“ Die Formulierung macht deutlich, daß es sich um keine leichte Auflösung handelt, sondern um eine schmerzhafte Krise erlittener Befreiung (besser: Freisetzung) im Fremdwerden des vormals selbstverständlich Vertrauten. Ich erwähne a.a.O. diese Pubertätskrise nur, um mit ihr als Analogon wenige Zeilen später die durch Fichte ausgelöste nachkantische Reifungskrise, in die auch Stirner gehört, zu beleuchten, genau so, wie in diesem Brief und in dem vom 16. Februar. Ich habe den Eindruck, daß Sie mindestens seit Beginn unserer Erörterungen über Erziehung der Stellungnahme zu meinen Thesen mehr oder weniger ausweichen, z.B. in eine Spezialfrage der Engels-Interpretation und jüngst in eine unerwartete enge Auslegung meiner Auffassung von Erziehungszwang. Deswegen schreibe ich jetzt etwas ausführlicher als sonst und möchte Ihnen empfehlen, sich zu vergewissern, ob sie nicht in meinen letzten Briefen, z.B. vom 16. Februar, etwas übersehen oder zu schnell abgetan haben. Wenn dies der Fall wäre, könnte unsere Korrespondenz die Form einer endlos verlängerbaren Sinuskurve mit lauter Hügeln und Tälern ohne scharfe Herausarbeitung unserer Divergenzen und Kongruenzen annehmen. Bitte verstehen Sie diesen Hinweis als Ausfluß solcher Sorge, nicht der Schulmeisterei oder Eitelkeit. Anders verhielte es sich, wenn Sie die Lust verloren haben sollten. Bei mir ist das jetzt nicht der Fall.

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26. März 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, der Schlussabsatz Ihres letzten Briefes hat mich aufhorchen lassen. Sie sprechen von Ihrem Eindruck, ich würde mindestens seit Beginn unserer Erörterungen über Erziehung einer ernsthaften Stellungnahme zu Ihren Thesen ausweichen; vermuten, dass ich Ihre letzten Briefe vielleicht etwas zu flüchtig gelesen oder gar die Lust an unserer Diskussion verloren hätte. Ich muss Ihre Eindrücke, obwohl ich mir selbst dieser Veränderungen nicht bewusst bin, natürlich sehr ernst nehmen, insbesondere weil mir der Gedankenaustausch mit Ihnen sehr wertvoll war und ist. Ich sehe mich im Moment nicht in einer guten Position, um der Sache im Detail nachzugehen. Um Ihnen das verständlich zu machen, muss ich doch etwas ins Private gehen und über die Andeutung in meinem letzten Brief hinaus Ihnen meine persönliche Situation, jedenfalls deren beherrschenden Aspekt der letzten Monate, zumindest im Groben skizzieren. Wir haben zwei Windhunde, Whippets, an denen wir sehr hängen. Anfang Oktober letzten Jahres, nach Rückkehr von einer Reise in die Bretagne, stellten wir am Bauch des einen Hundes, einer Hündin namens Ayleen, eine leichte Verformung fest. Der Tierarzt, der das erst für harmlos hielt, entdeckte schließlich, dass es ein Ascites war, ein schweres pathologisches Symptom, das auf eine Nierenschädigung hinwies. Deren Ursache war (und blieb bis heute) ungewiss. Jetzt begannen die Therapieversuche: eine „Ersatzdialyse“ mittels mehrerer Infusionen, verschiedene Medikamente, Diäten usw. Ende November war Ayleen schulmedizinisch „austherapiert“, d.h. einem mehr oder weniger rasch fortschreitenden Sterbeprozess überantwortet. Wir wollten das, da vieles an der Symptomatik atypisch für Niereninsuffizienz war, nicht passiv hinnehmen und begannen weitere Therapiebemühungen mit einer Tierärztin, die auch sog. komplementärmedizinische Methoden, also Homöopathie und Akupunktur, anwandte. Mitte Februar gab auch diese Ärztin auf. Wir wollten aber nichts unversucht lassen und konsultierten einen weiteren Tierarzt, der ebenfalls komplementäre Methoden anwandte und in einem anderen Therapieansatz noch Chancen sah. Aber auch die neuen Hoffnungen wurden schließlich zunichte. Ayleen erblindete Mitte März, wohl infolge eines urämischen Schocks (ein – schmerzloser – Vorgang von wenigen Stunden, den wir mitangesehen haben), fraß kaum noch, magerte schnell ab und starb am 22. März. Der Grund, warum wir so lange, fast sechs Monate, um ihr Leben kämpften, lag darin, dass sowohl die Anfangssymptome als auch der gesamte Verlauf nach Aussage der Tierärzte und lt. Literatur ausgesprochen atypisch für eine Niereninsuffizienz – also auch Hoffnung auf atypische Remission begründbar – war, und dass Ayleen bis kurz vor ihrer Erblindung, also bis Mitte März, guter Dinge war und, abgesehen von einigen

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Fressproblemen, die normale Lebensfreude hatte. Ayleen zeigte bis zu ihrem Tod keine Zeichen von Leiden – zuletzt nur von Schwäche –, so dass sie zu Hause, in unserem Beisein, sterben konnte und nicht, wie meist bei Haustieren, euthanasiert wurde. Vielleicht versteht nur jemand, der selbst in enger Beziehung zu einem Tier lebt, wie intensiv die Trauer in einem solchen Fall sein kann. Für mich wurden die häufigen Tierarztbesuche, die ständige Sorge, die besonders während der homöopathischen Behandlungsphase recht aufwendige Pflege und Versorgung, die Ungewissheit und das Wechselbad zwischen Hoffnung und Resignation zu einer steigenden gesundheitlichen Belastung. Ich zog mir Mitte Februar einen grippalen Infekt zu, kollabierte eines Tages (Notarzt – erstmals in meinem Leben) und bekam einige Tage später so starke Rückenschmerzen (ebenfalls erstmals in meinem Leben), dass ich nur mühsam aus dem Bett kam. Es mag sein, dass Ihr Eindruck, unsere Korrespondenz habe während der letzten Monate durch meine Unachtsamkeit gelitten, korrekt ist. Dann bitte ich Sie zu verstehen, dass dies meiner schlechten allgemeinen Verfassung zuzuschreiben ist. Ich werde mir die Briefe dieser Zeit gründlich vornehmen, sobald sich mein Zustand wieder normalisiert haben wird, vermutlich in zwei bis drei Wochen. 1. April 2005 Sehr geehrter Herr Laska! Verbindlich danke ich Ihnen für die eingehende Nachricht von Ihren emotionalen und körperlichen Behinderungen bei Fortführung unserer Korrespondenz. Die Bemerkung, daß Ihnen der Gedankenaustausch mit mir sehr wertvoll war und ist, läßt immerhin Ihre Bereitschaft zur Fortführung erkennen und nährt damit die Hoffnung, daß wir noch auf den einen oder anderen wichtigen Punkt, der es verdient, zu sprechen kommen könnten. Ein gutes Beispiel dafür scheinen mir die Erörterungen über Erziehung zu sein, die wir gegen Ende des letzten Jahres begonnen haben. Da mir Ihre Erwiderung bisher das Zentrum der Probleme, die ich ansprach, nicht genügend getroffen zu haben scheint, möchte ich Sie bitten, daß Sie sich für den Fall, daß Ihr Zustand Ihnen wieder volle Zuwendung gestattet, meine Briefe vom 10.12.04 sowie vom 4.01., 25.01., 16.02. und 8.03.05 noch einmal ansehen. Die Pause, die durch Ihre Indisposition entstanden ist, möchte ich zu zwei ergänzenden Zusätzen zu meinem Brief vom 8.03. benützen. 1. Ich habe dort versucht, Stirners Stellung zum Thema des Heiligen im Licht der „Revolution der Denkungsart“ bei Fichte und in der Frühromantik zu charakterisieren. Sie stellen Stirner regelmäßig in den Zusammenhang einer Vollendung der Aufklärung. Nun ist „Aufklärung“ ein Wort mit sehr dehnbarem Sinn, aber in diesem Zusammenhang ist doch offenbar

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an die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu denken, deren letzter und wichtigster Vertreter in Deutschland Kant war. Charakteristisch für diese Aufklärung ist die Voraussetzung einer allgemeinmenschlichen Vernunft im Sinne objektiver und neutraler Maßstäbe dafür, was jeder Mensch ist und soll. Gerade damit bricht jene Revolution der Denkungsart im Zeichen der frisch entdeckten, aber durch rezessive Entfremdung wieder verstellten strikten Subjektivität der subjektiven Tatsachen. Das gilt ganz besonders für Stirner. Er steht jenseits der Aufklärung, weil es für ihn kein rationales Über-Ich mehr gibt. In ganz weitem Sinn kann man ihn natürlich als Aufklärer bezeichnen, weil er einen Beitrag zur Selbstbesinnung und damit zur Aufklärung der Menschen über sich bietet. Diesen übergeschichtlichen Aufklärungsbegriff muß man aber scharf von dem geschichtlichen unterscheiden, der an die Bestrebungen des 18. Jahrhunderts (genannt „Jahrhundert der Aufklärung“) anknüpft. Im geschichtlichen Sinn ist Stirner AntiAufklärer (vgl. die Gegenüberstellung Stirner-Kant in „Selbstdarstellung als Philosophie“ S. 1–3) und gehört zur Romantik. 2. Sie führen gern Reichs Parole von einem abzulegenden „Charakterpanzer“, der den Menschen durch Sozialisation und speziell Erziehung angelegt wurde, in der Feder. Die Anthropologie, die darin zum Ausdruck kommt, stimmt mit dem ersten Absatz von Rousseaus „Emile“ überein und ist m.E. grundfalsch. Das Bild verlangt, daß erst einmal ein Körper da ist, dem der Panzer angelegt werden kann, in der Sprache Rousseaus a.a.O. der Mensch, „wie er aus den Händen des Schöpfers kommt“. Dafür hatte man im alten Spiritualismus die Seele und hat im neusten Materialismus das Gehirn. Das sind sehr naive Verdinglichungen. Ich kann nicht voraussetzen, daß Sie meine sehr umfangreichen und subtilen phänomenologischen Aufstellungen über die Person kennen. Deswegen will ich nur andeuten, daß die Person als Bewußthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung (etwas für sich selbst zu halten) in ambivalenter Zwitterhaftigkeit zwischen diesem personalen Selbstbewußtsein und dem präpersonalen des leiblich-affektiven Betroffenseins mit leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation existiert und unabwerfbar ihre zuständliche persönliche Situation (volkstümlich genannt: ihre Persönlichkeit) als Hülle und Kontrahenten zugleich mit sich führt, ein Gepäck wie eine zäh fließende Masse, in der unzählige zähflüssige Massen gleiten und die ihrerseits in solchen zähflüssigen Massen (implantierenden und includierenden gemeinsamen Situationen) gleitet. Die Hülle ist also schon da, wenn die Person sich zu ihrer Lebensgeschichte als Person aufmacht, und zwar mehrfach da, als persönliche Situation und als diese in sich einbettende gemeinsame Situation; sie ist gleichursprünglich mit der Person. Deswegen ist die Annahme verfehlt, der Mensch sei als Person erst einmal gleichsam nackt vorhanden und dann irgendwie bekleidbar, sei es mit einem (Charakter-)Panzer oder mit einem weicheren Kleid. Unter den einbettenden und eingebetteten Situationen, in

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denen die Person befangen ist, gibt es immer Reibungen, und dazu gehören Verhärtungen, Verklumpungen, Verkrustungen, die durch gleichsam kluge Diplomatie (z.B. Erziehung, Psychotherapie) aufgelöst werden sollten. Die Hoffnung, unter einer Kruste den lebendigen Organismus freizulegen (wie beim Schwein, wenn der trocken gewordene Schlamm in der Sonne abplatzt), ist bei der Person aber vergebens. 8. Mai 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, es hat doch etwas länger gedauert, bis ich den Kopf wieder genügend frei und auch die nötige Zeit zur Verfügung hatte, um Ihrem Wunsch vom 1.04. zu entsprechen, die letzten 12 Briefe, die wir seit dem 8.12. gewechselt haben, noch einmal gründlich durchzugehen und Ihrem Einwand Rechnung zu tragen, ich hätte in unserer Diskussion über Erziehung das Zentrum der Probleme, wie Sie es angesprochen haben, nicht genügend getroffen. Ich bin dabei so vorgegangen, dass ich mit meinem Brief vom 8.12.2004 begann, mir dann Ihre Erwiderung vom 10.12. vornahm und Stichworte für eine Antwort notierte. Erst danach las ich meinen tatsächlichen Antwortbrief vom 28.12. und verglich den Inhalt von damals mit den Stichworten von heute. Auf diese Weise verfuhr ich auch mit den weiteren Briefen. Nicht ganz unerwartet sah ich bei meinen Vergleichen, dass ein Antwortbrief, den ich heute schreiben würde, von dem abwiche, den ich seinerzeit geschrieben habe. Aber die Abweichungen, die ich feststellte, betrafen eher Nebensächlichkeiten, während ich nachvollziehend die große Linie der Gedankenführung im wesentlichen gewahrt sehe. Natürlich gibt es mehrere Zugänge zum Problem, und da es schwierig ist, mehrere gleichzeitig zu wählen, habe ich mich stets bemüht, den einen zu nehmen und bei ihm zu bleiben, der mir am aussichtsreichsten erschien, um meine Position möglichst prägnant darzustellen. Wo ich ein Missverständnis bemerkte oder vermutete, das sich trotz unseres langjährigen Austauschs gelegentlich einstellte, habe ich es zu korrigieren versucht. Wo ein thematisches Abdriften drohte (z.B. mein Eingehen auf das von Ihnen am 4.1. beigebrachte Engels-Zitat), lenkte ich schleunigst wieder in die Hauptspur bzw. in die Spur, die ich für die Hauptspur hielt. – Am Ende bin ich etwas ratlos, wie ich Ihrer Aufforderung, zielsicherer auf „das Zentrum der Probleme“ zuzugehen, nachkommen könnte. Ich sehe zwar einige Punkte, an denen ich einhaken könnte; aber das zeitigte eher die Gefahr der Abschweifung, Redundanz und Verunklarung unserer Gesprächssituation. Deshalb möchte ich Sie bitten, das, was Sie am 1.4. im ersten Absatz als mein (teilweises) Verfehlen des Zentrums der Probleme umschreiben, ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen. Um aber Ihren am 8.3. geäußerten Eindruck, ich würde einer Stellungnahme zu Ihren Thesen zum Erziehungsproblem ausweichen, durch diese

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Bitte nicht neu zu nähren, möchte ich doch schon vorher versuchen, anhand Ihres letzten Briefes (vom 8.3., Zusatz vom 1.4.), den ich noch nicht inhaltlich beantwortet habe, jenes Zentrum auch nach Ihrer Wahrnehmung zu treffen. Da der Brief aber Wesentliches aus Ihrem Brief vom 16.2. wiederholt, auf den ich am 5.3. geantwortet habe, werde ich versuchen, meine Auffassung in anderen Worten auszudrücken. Ich hatte Stirner zitiert: „Mündig sind die Jungen dann, wenn sie zwitschern wie die Alten …“ und Reichs psychoanalytisch begründete Auffassung, warum das so ist, hinzugefügt: weil der „Erziehungszwang“ (nicht Erziehung mittels Zwang!) wirkt, unter dem die Eltern handeln, wenn sie ihre Kinder („enkulturierend“ = großteils unbewusst ein psychisch und physisch verankertes „irrationales“ Über-Ich einpflanzend) zu „Ihresgleichen“ machen. Sie erklärten, sich mit der von mir zitierten Stelle aus Reich „in völliger Übereinstimmung“ zu befinden, fügten aber hinzu, dass der Erziehungszwang zwar zu Zeiten Reichs noch ernst zu nehmen gewesen, eigentlich aber als pädagogisches Generalthema (als das er auch bei Stirner zentral war) schon seit 200 Jahren (Fichte) antiquiert sei. Seit damals sei „das nihilistische Leiden an der eigenen Freiheit“ das Hauptproblem. Ich sehe durchaus, dass sich die Prozeduren der Enkulturation in den verschiedenen Kulturen und über die Zeiten hinweg stark unterscheiden, auch, dass in den letzten Jahrzehnten bei uns der Einfluss der Eltern zugunsten der „Medien“ zurückgegangen ist, auch, dass so etwas wie Leiden an der Freiheit verbreitet ist. Aber – um einen Sprung zu machen – wer immer zu einem „Wellenreiter“ (auf den wir beide uns, vorläufig, als „Ideal“ geeinigt haben) geworden ist, der kennt kein Leiden an seiner Freiheit, der leidet vielmehr an den Auswirkungen der Freiheit derer, die keine Wellenreiter sind und mit denen er zusammenleben muss (insbesondere in unserer Staatsform der Massendemokratie). Es käme also darauf an, mehr und bessere Wellenreiter aufwachsen zu lassen. Dazu erscheint mir aber die von Ihnen genannte „pädagogische Hauptmaxime“, die „Einübung der Einheit und Zusammengehörigkeit von Recht und Pflicht von Kindesbeinen an“ als zu schwach. Warum? Sie greift zu spät im Leben. Die Bildung zum, richtig: die Vereitelung der Bildung zum Wellenreiter setzt schon früher, evtl. pränatal, ein. Einer, der (trotzdem) zum Wellenreiter geworden ist, wird mit seinen „Rechten und Pflichten“ aber keine Probleme haben. – Vielleicht ist Ihnen damit meine Position schon klar geworden. Sonst kann ich später noch nachlegen. Zu einer Stelle in Ihrem Brief vom 8.3.: Stirner, schreiben Sie, „sah das Heilige nur in objektiver und neutraler Gestalt und damit als Götzen vor sich […] ihm fehlte die Einsicht, dass sich dem Menschen auch in kritischer Selbstbesinnung etwas als heilig bewähren kann.“ Da ich Stirner nicht als ein Opfer oder gar Agenten, sondern als den Überwinder der „ironistischen Verfehlung“ betrachte, möchte ich dagegenhalten. Ich denke, man kann seinen

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Satz aus den „Recensenten Stirners“, er sei nicht gegen die Liebe, sondern gegen die heilige Liebe auch auf das Heilige münzen. Es kommt eben darauf an, wem etwas heilig ist. Bisher kannte man jedoch nur das – heilige Heilige. Verständlich? 12. Mai 2005 Sehr geehrter Herr Laska! Über Ihren Brief vom 8. Mai freue ich mich sowohl wegen Ihres sorgfältigen Rückgangs auf unsere seit dem 8. Dezember 2004 gewechselten Briefe als auch, weil ich daraus schließe, daß Ihre Gesundheit wieder hinlänglich stabil ist. Ihre Aufforderung, meine Sorgen, daß wir an einander vorbei reden, „ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen“, veranlaßt mich, aus meinen seither an Sie geschriebenen Briefen einige Thesen zu extrahieren. Ich tue das nicht gern, weil eine solche Verkürzung von Gedanken, die in angemessener Proportion formuliert waren, leicht zu Schlagwortabtausch und neuen Mißverständnissen führt. Ich ändere die Reihenfolge, damit sie nun vom allgemein Menschlichen zum Zeitgenössischen führt, und formuliere sinngemäß neu. 1. Das Bild vom Charakterpanzer ist ein taugliches Fahndungsmuster zum Abtasten einzelner Erziehungen auf mögliche Schadensquellen, führt als anthropologisches Modell aber in die Irre, weil es die falsche Meinung nahelegt, daß der Mensch als biologisch nacktes Individuum nachträglich mit einem Kleid von Vorurteilen ausgestattet werde. 2. Vielmehr wächst der Mensch, erst recht als Person (= Bewußthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung), aus gemeinsamen Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit hervor. 3. Die Bedeutungen (d.h. Überzeugungen, Programme, Probleme), die diese Bedeutsamkeit ausmachen, sind sowohl für den Erzieher als auch für den Erzogenen nur an herausragenden Stellen einzeln greifbar. 4. Die Maßstäbe der Erziehung werden solchen Situationen entnommen. 5. Daher ist für den Erzieher der Umgang mit den Situationen und den Maßstäben, die er daraus entnimmt, immer ein „Tasten im Walde“. Ein generelles Erziehungsprogramm kann man nicht aus einzelnen Maximen zusammenstellen, weil man den Hintergrund binnendiffuser Bedeutsamkeit, den man dabei mitschleppt, selbst nicht durchschaut. 6. Dem Erzogenen gelingt die Explikation solcher Bedeutsamkeit, in der er aufwächst, immer erst nachträglich in kritischer Auseinandersetzung dank personaler Emanzipation. 7. Der Mensch als Person ist im Gegensatz zum Tier zu solcher Auseinandersetzung fähig und berufen. Daher führt es auf Abwege, ihn mit dressierbaren Tieren (z.B. nachzwitschernden Vögeln) zu vergleichen. Ungeachtet dessen ist auch der Mensch dressuranfällig.

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8. Bis ins 18. Jahrhundert wuchsen die Menschen unter der hart drückenden Last christlicher und anderer Dogmen auf. Als Hauptziel aufklärerischer Erziehung war daher die Befreiung angemessen. 9. Die Befreiung ist durch die Reifungskrise um 1800 (Fichte, Frühromantik) längst geschehen, aber in ganz anderer Weise als die Aufklärung sie erhoffte. 10. Die Aufklärer glaubten noch an eine objektive Vernunft (Laska: rationales Über-Ich) in Gestalt objektiver Tatsachen und objektiv geltender Programme, die dem Menschen sagten, wer er sei und was er solle. 11. Die Entdeckung der subjektiven Tatsachen (und zugleich Verkennung, weil man weiterhin alle Tatsachen für objektiv hielt und die Subjektivität daher im Leeren schweben ließ) in der Reifungskrise zerbrach diesen Glauben. Die Befreiung ist geschehen, aber als Leiden. 12. Das Problem der Menschen heute ist im Wesentlichen nicht mehr die Gängelung durch explizite oder implizite Dogmen, sondern der Schwindel der Freiheit (Kierkegaard) als haltloses Schweben der Laune über den eigenen Möglichkeiten, die die Technik überreichlich anbietet. 13. Was die Menschen heute brauchen, ist eine neue Standfestigkeit durch Selbstfindung in für sie subjektiven Tatsachen und Programmen. Deswegen muß der voreilige Abbau überlieferter Einverständlichkeiten vermieden werden. Der Königsweg zur Stabilisierung der Selbstfindung ist die Erziehung zur Einheit von Recht und Pflicht. 14. Stirners Angriff auf das Heilige galt den objektiven Bedeutungen (Sachverhalten, Programmen, Problemen). Gegen sie spielt er den „Schwindel der Freiheit“ (Kierkegaard) des frei schwebenden Einzigen aus. Subjektive Bedeutungen als mögliche Quellen des Heiligen kamen nicht in seinen Blick. Ihren Vorschlag, den Bedarf der Stabilisierung durch „Wellenreiten“ überflüssig zu machen, halte ich für ein gefährliches Mißverständnis. Wellenreiten ist keine souveräne Meisterschaft, sondern eine prekäre Kunst des Umgangs mit dem drohenden und manchmal katastrophalen Risiko, überflutet zu werden. Wellenreiten ist der wachsame Umgang mit der Zusammengehörigkeit von personaler Emanzipation und personaler Regression. Personale Regression ist nur echt als Schicksal, das nicht durch im voraus eingestellte kunstvolle Anpassung gemeistert werden kann. Daher kann das Wellenreiten nur mühsam und unzulänglich gelernt werden, schon gar nicht durch Ablegen eines „Charakterpanzers“. 27. Mai 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, an Ihrem letzten Brief stach für mich beim ersten Durchlesen als besonderes Merkmal hervor, dass Sie den Begriff des Charakterpanzers an prominenten Stellen placiert haben: zum Auftakt, als Punkt 1 Ihrer 14

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Punkte, und, mit einer leicht polemischen Wendung, in dem Halbsatz, der den Brief abschließt. Das wundert mich etwas, zum einen, weil ich diesen Reich’schen Begriff bisher, soweit ich mich erinnere, nur selten in unserer Diskussion verwendet habe, zum anderen, weil Sie ihn in einem Sinn gebrauchen, der sich vom Reich’schen nicht unerheblich unterscheidet. Unter Punkt 1 setzen Sie den Charakterpanzer mit dem „Kleid von Vorurteilen“ gleich, das der Mensch durch seine Erziehung oder im Laufe seines Lebens erwirbt, und im letzten Satz Ihres Briefes, wo Sie erklären, wie man zum Wellenreiter werden könne, betonen Sie, so als wollten Sie einer Behauptung von mir widersprechen, dass dies „schon gar nicht durch Ablegen eines [!?] ‚Charakterpanzers‘“ erreicht werden kann. Abgesehen davon, dass Sie den Begriff des Charakterpanzers für ziemlich dubios zu halten scheinen, lese ich daraus, dass Sie das Ablegen des Charakterpanzers ohne weiteres für möglich, dazu aber auch für kaum relevant (in Bezug auf das Erlernen bzw. Können von Wellenreiten) halten. Andererseits schreiben Sie unter Punkt 1, dass Sie das Bild vom Charakterpanzer als ein taugliches Instrument zur Identifikation von Erziehungsschäden ansehen, unter Punkt 4 dann aber, dass die Maßstäbe der Erziehung (die doch sicher auch bestimmen, was als Erziehungsschaden anzusehen ist) den „gemeinsamen Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit“, in denen ein Mensch mit seinen Erziehern zur Person heranwächst, entnommen werden. Insgesamt, unter Berücksichtigung Ihrer Punkte 1–13 und natürlich auch früherer Ausführungen, ergibt sich für mich kein stimmiges Bild Ihrer Vorstellungen von Erziehung. Vielleicht kommen wir einer Klärung näher, wenn wir uns darüber einigen, was mit dem Charakterpanzer gemeint ist. Reich konzipierte ihn, um die psychischen und physiologischen Veränderungen zu fassen, die der Organismus des in eine bestimmte „gemeinsame Situation“ geborenen Menschen autoplastisch vornimmt, um schmerzliche bzw. allgemein als Unlust empfundene Einwirkungen abzumildern oder ganz abzuwehren, sich gegen sie zu schützen, eben zu panzern. Diese Panzerung geht freilich mit einer Desensibilisierung oder Schwächung der Empfindungsfähigkeit einher, was Impulse sowohl von außen als auch von innen betrifft. Dadurch entsteht eine in ihren Möglichkeiten reduzierte, stereotypische Persönlichkeit, eben der Charakter, den dessen Träger für seine ureigene „Identität“, sein „wahres Ich“ u.ä. hält und den er – hier sehe ich eine Übereinstimmung mit Ihrem Punkt 6 – immer erst nachträglich, dank personaler Emanzipation, kritisch betrachten und vielleicht, evtl. mit Hilfe eines Therapeuten, modifizieren kann. Letzteres ist aber natürlich nur in dem Maße möglich, in dem die Stärke und Struktur der Panzerung eine personale Emanzipation überhaupt erlaubt. Meist liegt die Motivation, sich in der Weise mit sich selbst zu befassen, jedoch im Bestehen eines Leidens, das man behoben haben möchte.

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Meiner Meinung nach geht aber die Fähigkeit zu personaler Emanzipation (die nach Reich gepaart wäre mit der zu personaler Regression) immer mehr zurück, und Leiden werden – allem Gerede von „Psychosomatik“ zum Trotz – immer seltener zum Anlass kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Person und der Welt, in der sie entstanden ist und lebt. Leiden werden durch Chemikalien betäubt, was in dem hier diskutierten Bereich bedeuten würde: die defekte oder zu schwache Panzerung wird repariert, nicht etwa, was m.E. besser wäre, demontiert und, um im Bild zu bleiben, durch ein bewegliches Schutzschild ersetzt, das gezielt die Abwehrfunktion für äußere Gefahren hätte, ohne den Organismus in Stereotypie erstarren zu lassen. Mir ist klar, dass ich zu diesem schwierigen Thema hier nur ganz grobe Aussagen machen konnte und hoffe auf Ihre wohlwollend-verständige Aufnahme, denn es kann hier ja nur um eine Klärung der groben Richtungen unserer Denkweisen gehen, nicht um perfekte Definitionen und Argumentationen. Im Zentrum unserer Diskussion steht aber wohl das, was mit dem Begriff des Charakter(panzer)s angesprochen wird, denn er ist, in Reich’scher Terminologie, „funktionell identisch“ mit dem irrationalen Über-Ich, über das wir schon oft verhandelten. Deshalb muss ich auch hier noch einmal auf ein weiteres Missverständnis eingehen, das aus Ihrem Punkt 10 spricht. Laska, steht dort, glaube mit seiner Idee vom rationalen Über-Ich, wie die alten Aufklärer des 18. Jahrhunderts, an eine objektive Vernunft, die dem Menschen sagt, wer er sei und was er soll. Das stimmt so nicht. Ich halte es für wünschenswert, das irrationale Über-Ich (in dem schon oft beschriebenen Sinne) möglichst zu eliminieren, d.h. seine Bildung beim Kinde so weit wie möglich einzuschränken. In dem Maße, in dem das gelingt, kann sich das rationale Über-Ich, das ohnehin in Form subjektiver ethischer Vorstellungen koexistiert, im Handeln des Menschen durchsetzen. Unter Punkt 13 sagen Sie, es sei, um den Menschen „neue“ Standfestigkeit zu geben, der voreilige Abbau überlieferter, d.h. „alter“ Einverständlichkeiten zu vermeiden. Wenn Sie damit meinten, der Abbau (m.E. umfassender: des irrationalen Über-Ichs) sollte auf jeden Fall geschehen, aber so behutsam, dass keine Rückfälle auftreten, dann wären wir einer Auffassung. Ich bezweifle dies aber, u.a. auf Grund Ihres anschließenden Satzes vom „Königsweg“. Ich schätze die „Einheit von Recht und Pflicht“; aber sie wäre nicht Haupt-, sondern Nebenprodukt jenes Abbaus. 3. Juni 2005 Sehr geehrter Herr Laska! Ein kurzer Krankenhausaufenthalt mit Extraktion der Vena saphena magna am rechten Bein hat meine Antwort auf Ihren Brief vom 27.05. etwas verzögert. Jetzt muß ich mit angehobenem rechten Bein schreiben, was

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vielleicht das Schriftbild etwas verschlechtert. Ich hoffe, daß es gut leserlich bleibt. Sie gewinnen aus den Thesen in meinem Brief vom 12.05. kein stimmiges Bild meiner Vorstellungen von Erziehung. Das ist mir ein Rätsel. Mit These 1 wollte ich nicht behaupten, daß der Charakterpanzer i.S.v. Reich weiter nichts als ein Kleid von Vorurteilen sei; Sie sprechen von „psychischen und physiologischen Veränderungen“, zu denen aber doch wohl ganz wesentlich Vorurteile gehören. Daß ein solcher Panzer „ohne weiteres“ abgelegt werden könne, dies aber „kaum relevant“ sei, habe ich nicht behauptet. Meine These 4 hat damit nichts zu tun, kann allerdings zur Folge haben, daß „Ablegen des Charakterpanzers“ manchmal eine vorrangige, manchmal eine nachrangige oder gar keine Aufgabe der Erziehung sein kann. Wichtig scheint mir auf Grund Ihres Briefes in erster Linie eine Verständigung darüber, was mit „Charakterpanzer“ gemeint ist. Ich möchte das mit Hilfe meines Begriffes der Fassung versuchen. Darüber habe ich nun so umfangreich gearbeitet, daß es unnütz wäre, Ihnen im Brief etwas darüber zu schreiben, weil alles Nötige jedem Leser im Druck zur Verfügung steht. Ich verweise namentlich auf den Aufsatz „Fassung als Spielraum der Person“ in meinem Buch „Was ist Neue Phänomenologie?“, Rostock 2003, S. 157–173, wozu dort noch die Seiten 205–222 und in meinem kürzlich erschienenen Buch „Situationen und Konstellationen“ (Freiburg i. Br. 2005) die Seiten 86–98 („Wie ist Lebenskunst möglich?“) verglichen werden können. Den Charakterpanzer im Sinne von Reich/Laska möchte ich mit meinen Begriffen als starre Fassung bezeichnen. Ich habe immer vor Starrheit der Fassung gewarnt und deren Schwingenlassen (aber nicht bis zur Fassungslosigkeit) empfohlen. Für eine starre Fassung vom Typ des Charakterpanzers würde das bedeuten, daß sie flexibilisiert, auf gar keinen Fall aber demontiert und durch ein „Bewegliches Schutzschild“ ersetzt werden sollte. Eine schlimme Oberflächlichkeit ahne ich in der Unterstellung, der Charakterpanzer sei geschmiedet worden, „um schmerzliche bzw. allgemein als Unlust empfundene Einwirkungen abzumildern“. Der Bedarf nach einer Fassung oder einem Entwurf, wodurch sich die Person als etwas versteht und gibt, das eindeutiger ist als sie selbst, ist m.E. viel radikaler in der Ambivalenz der Person zwischen Neutralisierung und Resubjektivierung (personaler Emanzipation und personaler Regression) begründet, gleichsam einem permanenten Spagat, der zu einer Labilität der Person führt, gegen die sie sich nur in der angegebenen Weise behaupten kann (vgl. von mir auch: „Der Spielraum der Gegenwart“, Bonn 1999, S. 97–106). Auch bei Abwesenheit schmerzlicher und unlust-spendender Einwirkungen würde sich daran nichts ändern. Ihrer Meinung, daß die Fähigkeit zu personaler Emanzipation und damit zu „kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Person und der Welt“ immer mehr zurückgehe, kann ich nicht zustimmen. Vielmehr ist

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nach meiner Meinung diese Fähigkeit heute überreizt und durch rezessive Entfremdung der Subjektivität vom affektiven Betroffensein und der personalen Regression so abgespalten, daß emanzipatorische und regressive Tendenzen dissoziiert neben einander her laufen. Ich beziehe mich damit auf die These 11 und 12 meines Briefes vom 12. Mai. Eine Enttäuschung war mir, daß Sie auf die das Zeitgenössische betreffenden Thesen 9–13 in Ihrer Erwiderung nicht eingehen. Dadurch erhalten Sie die Gelegenheit, die Erziehung zur „Einheit von Recht und Pflicht“ zu einem „Nebenprodukt“ herunterzuspielen. Sie wünschen als Hauptsache den Abbau überlieferter Einverständlichkeiten, die Sie für „alt“ und für ein „irrationales Über-Ich“ halten. Für mich ergibt sich dagegen aus den Thesen 9–13, daß der Abbau eines irrationalen Über-Ichs, d.h. einer zu starren Fassung, heute eine in vielen Fällen nicht zu verachtende Nebenaufgabe ist gegenüber der Hauptaufgabe einer Restabilisierung durch Zusammenführung von personaler Emanzipation und personaler Regression zu einer hinlänglich, aber nicht übermäßig, schwingungsfähigen Fassung. Die Erziehung zur Einheit von Recht und Pflicht nenne ich nur als den einzigen mir bekannten praktikablen Einstieg in den Weg zu diesem Ziel. Insgesamt habe ich den Eindruck, daß auch meine Zusammenfassung früherer Briefe zu 14 Thesen nichts daran geändert hat, daß wir an einander vorbei reden. Ich weiß nicht, was ich noch tun kann, um die Verständigung zu fördern. Weder an Aufrichtigkeit noch an Begriffsklarheit, soweit sie in meinen Kräften steht, habe ich es fehlen lassen. 18. Juni 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, im Bemühen, eine Verständigung darüber herbeizuführen, was in unserer Diskussion mit „Charakterpanzer“ gemeint sei, haben Sie Ihren Begriff der „Fassung“ eingeführt und mich auf Ihren Sammelband „Was ist Neue Phänomenologie?“ verwiesen, der Texte enthält, die in der Zeit nach Beginn unserer Korrespondenz, in den Jahren 2001 und 2002, entstanden sind, darin insbesondere auf das Kapitel „Die Fassung als Spielraum der Person“ (im Band übrigens in der Kopfzeile jeder zweiten Seite fehlerhaft mit „Spielarten“ wiedergegeben). Laut Titelsatz sagen Sie also, die Fassung ist der Spielraum, somit nicht, wie man bei diesem Bild leicht annehmen könnte, die Begrenzung des Spielraums, laut Vorrede ist sie sogar der „wichtigste Spielraum intersubjektiver Resonanz“. (S. iii) Ich entnehme dem Band ferner: Die Fassung ist etwas, das sich jemand zulegt (277), indem er sie teils an gesellschaftlichen Rollen (Mann, Vater, Arzt etc.) abliest (271), teils als habituelle „innere Haltung“ (nach Zutt) – ja, was? Wohl doch bereits bei sich vorfindet, zumindest ihren bestimmenden Keim, jedenfalls nicht sich aktiv zulegt? Die Fassung dient der Orientierung (206) und Stabilisierung (271) der Person. Ihr (kompletter?) Verlust ist möglich:

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in loderndem Zorn, panischer Angst, tiefer Trauer (17). Dann lebt die Person vollständig in primitiver Gegenwart (206), wie Tiere, Säuglinge und Demente (70); sie zerfließt in Labilität und Ambivalenz (271). Eine verlorene Fassung ist aber offenbar auch wiedergewinnbar, wahrscheinlich ganz automatisch. Die Fassung ist aber auch etwas, das man sich, wie ein Schauspieler, von einer anderen Person „aneignen“ kann (272). Ich glaube, dass ich aus dem empfohlenen Aufsatz und den zusätzlichen Aussagen im Buch eine ungefähre Vorstellung davon gewonnen habe, was Sie unter Fassung verstanden wissen wollen. Auch wenn mir einige der Aussagen nicht ganz einleuchten oder nicht miteinander verträglich bzw. widersprüchlich vorkommen, scheint es mir nicht notwendig, hier unbedingt Klärung herbeiführen zu wollen, denn so viel scheint bereits klar, dass Reichs Begriff des „Charakterpanzers“ nicht, wie Sie im Brief vorschlagen, als Unterbegriff oder spezielle Ausprägung der „Fassung“, nämlich als „starre“, aufgefasst werden kann. Den Reich’schen Charakter(panzer) – „funktionell identisch“ mit dem irrationalen Über-Ich – kann man sich nicht zulegen; man findet ihn vor und hält ihn für sein Ureigenstes; man kann ihn auch nicht, wie die Fassung, verlieren. Er mag vielleicht der Zutt’schen inneren Haltung (ich kenne Zutts Arbeit nicht) ähnlich sein. Ihm gegenüber ist es jedenfalls kaum sinnvoll, wie Sie es in Bezug auf die Fassung tun, vor Starrheit zu warnen oder die Empfehlung des Schwingenlassens zu geben. Für genauere Ausführungen möchte aber auch ich auf die Literatur, etwa Reichs Buch „Charakteranalyse“, verweisen. Auf S. 173 sagen Sie, dass die Produktivität [des Konzepts] der Fassung (nur?) demjenigen offenkundig wird, der das seit Demokrit die Geister Europas beherrschende Dogma verwirft, welches Sie andernorts als „psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Verfehlung“ bezeichnen (und das Quelle der anderen großen Verfehlungen sei). Wir sind in unserem nun schon bald fünf Jahre währenden Gespräch bisher ohne Erörterung dieser „Urschuld“ (S. i) ausgekommen. Maßgeblicher war, was ich des öfteren aus dem Vorwort zu Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ zitiert und betont habe: die Epochenschwelle, der „Schnitt“ in der Entwicklung des menschlichen Selbstverständnisses, der „tiefer ist als irgend ein anderer seit Demokrit“ (ix), den Sie mit Fichte verbinden und ich mit Stirner. Auch über Stirner, über den wir oft geschrieben haben, sind wir uns – wie über die Frage Charakter/Fassung – nicht einig geworden. Aber ich habe nicht den Eindruck, den Sie abschließend äußern: dass wir aneinander vorbei geredet haben: weder jetzt in der Erziehungsfrage noch früher bei Stirner oder irgend einem wichtigen Punkt. Freilich ist unsere Thematik – zumal in kurzen Stücken, wie sie im brieflichen Austausch üblich sind – außerordentlich schwierig zu fassen. Man kann andererseits auch nicht wegen jeder unklaren Stelle im Brief nachfragen, da sonst der Hauptstrom des Gedankens zerfasert und man auf

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grundsätzliche Weise aneinander vorbei reden würde. Meinem Eindruck nach haben wir meist recht ordentlich Spur gehalten, das Thema gut fokussiert und deshalb unsere gegensätzlichen Grundauffassungen (trotz großer Übereinstimmungen in der Beurteilung aktueller Missstände) einigermaßen deutlich zum Ausdruck gebracht: etwa anhand von Figuren aus Ihren Schriften wie dem Menschen mit starkem Daimon oder dem Wellenreiter oder auch kürzlich in der Erziehungs- bzw. Charakterbildungsproblematik. Unsere – in letzter Instanz – Gegensätzlichkeit der anthropologischen Auffassungen (unbeschadet aller wissenschaftlichen Erkenntnisse der Anthropologie) sind so verwunderlich nicht, bedenkt man die Unterschiede unserer beiden Personen in Geburtsjahrgang, Herkunft und Werdegang. Ich habe nie Philosophie oder Psychologie regulär studiert, nach kurzer Orientierung auch nie studieren wollen; habe nie einer Gruppierung angehört, in der ich als Philosoph hätte reüssieren wollen; habe nicht viel Zeit mit dem Studium der Schriften der kanonischen Großdenker verbracht; dies vielleicht instinktiv als ein „Michbesinnen auf mein Michfinden in meiner Umgebung“ (H. Schmitz). Ich habe mein „wildes“ Philosophieren, wenn man es so nennen mag, als Selbstaufklärung betrieben, aus der Not geboren, diese Aufklärung nirgendwo bereits geleistet gefunden zu haben. Meine Publikationen, die nur vordergründig als rezeptionsgeschichtliche Quisquilien erscheinen, sind großteils Protokolle dieser Selbstaufklärung – ad usum …??? 21. Juni 2005 Sehr geehrter Herr Laska! Wegen der gesundheitlichen Folgen meiner Operation, die Sie in ihrem Brief vom 18.06. mit einem freundlichen Wunsch bedenken, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Die Beschwerden sind minimal oder gar nicht mehr vorhanden. Sie bestreiten die Anwendbarkeit meines Begriffes „starre Fassung“ auf Ihren Begriff „irrationales Überich“ oder auch „Charakterpanzer“ (Metapher). Ihre Begründung leuchtet mir nicht ein. Jürg Zutt, auf dessen Habilitationsschrift ich mich für meinen Begriff berufe, konzipierte die innere Haltung als Psychiater, um solche Erscheinungen wie die verrückten Selbstidentifizierungen Schizophrener zu erklären, die sich in allem Ernst und hartnäckig für Gott, Jesus Christus, Hitlers Braut u. dgl. halten. Seine sehr einleuchtende Erklärung geht dahin, daß es sich um eine dem Individuum unverfügbar und dadurch starr gewordene innere Haltung handelt, grundsätzlich nicht anders als im Fall eines für Fußball- oder Motorsport begeisterten Knaben, der sich in die Rolle seines Helden hineinsteigert, nur daß der Knabe auf dem Boden bleibt und die Identifizierung jederzeit zurücknehmen kann, der Schizophrene nicht. Von dem Schauspieler Otto Gebühr, der die Hauptrolle in dem Film „Fridericus Rex“ spielte, wird

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berichtet, daß er sich so tief in seine Rolle eingelebt hatte, daß er nachher nicht mehr klar zwischen sich und Friedrich dem Großen unterscheiden konnte. Die heute viel besprochenen Fälle sogenannter multipler Persönlichkeit deute ich vermutungsweise so, daß dem Individuum unverfügbar (z.B. wegen Überbeanspruchung seiner Verarbeitungsfähigkeit nach psychischen Traumen) gewordene Fassungen durch einander gehen. Das zum Panzer gewordene irrationale Überich laut Ihrer Charakteristik im Brief wird vom Individuum vorgefunden und für sein Ureigenstes gehalten und kann nicht verloren werden. Das ist, scheint mir, nicht viel anders als beim schizophrenen Identifizierungswahn oder der multiplen Persönlichkeit. Ich halte daher im Gegensatz zu Ihnen an der Meinung fest, daß mein Begriff der starren Fassung ein guter Ausgangspunkt für die Spezialisierung zum irrationalen Charakterpanzer nach Reich/Laska ist. Nur würde ich die mit einem solchen Panzer behafteten Menschen, soweit sie einigermaßen durchschnittlich sind, nicht gleich für Psychotiker oder auch nur Präpsychotiker halten und daher eine Kur zur Lockerung der Starrheit nicht gleich als aussichtslos verwerfen, keineswegs aber eine „Radikalkur“ im Sinne einer Abschaffung (statt nur Flexibilisierung) der einmal gefundenen Fassung empfehlen. Ich vermute übrigens, daß Reich zur Generation der Jugendbewegung, Neuen Sachlichkeit (Bauhaus u.a.), aufstrebenden Psychoanalyse usw. gehört, die aus dem Protest gegen die in der wilhelminischen Zeit verbreiteten starren Fassungen ihre Stoßrichtung gewann; wie eine Karikatur wirken solche Fassungen heute auf alten Familienphotos, der Vater mit trotzigem Blick und gezwirbeltem Schnurrbart, die Mutter ergeben, die Kinder brav. Fontane zeichnet schöne Sittenbilder aus dieser Zeit. Heute ist nach massiver Gegenpropaganda (Theweleits „Männerphantasien“ usw.) eher das Gegenteil zu fürchten, eine gar zu locker schlotternde Fassung, die nichts mehr vom Panzer hat, sondern an die geflickten und durchlöcherten Jeans junger Mädchen aus dem Umfeld der Anarcho-„Szene“ erinnert. Reichs Panzermetaphorik ist dennoch als Zeitdiagnose anachronistisch, deswegen aber noch nicht in jedem Einzelfall abwegig. Damit komme ich zu den beiden letzten Absätzen Ihres Briefes, in denen Sie zu meiner Enttäuschung darüber Stellung nehmen, daß wir immer noch an einander vorbei reden. Was Sie schreiben, kann ich billigen. Der Grund jener Enttäuschung war aber, daß nicht einmal mein Versuch einer kurzen Zusammenfassung noch offener Themen in 14 Thesen in meinem Brief vom 12. Mai, obwohl er von Ihnen angeregt war, dazu ausgereicht hat, eine klare Stellungnahme von Ihnen zu erhalten. Statt dessen haben Sie in meine Thesen 1–6 über Erziehung hineingelesen, was darin nicht enthalten war, Unstimmigkeiten behauptet, die ich nicht erkennen kann, und jede Äußerung zu meinen Thesen 8–13, die mit dem eben wiederholten Vorwurf anachronistischer Zeitdiagnose zusammenhängen, unterlassen.

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9. Juli 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, in Ihrem letzten Brief bekunden Sie Ihre Enttäuschung darüber, dass Sie die „klare Stellungnahme“ zu Ihren 14 Thesen vom 12. Mai, die Sie von mir erwartet haben, nicht bekommen hätten. Stattdessen hätte ich: 1) in Ihre Thesen 1–6 etwas hineingelesen, was nicht darinstehe; 2) insgesamt Unstimmigkeiten behauptet, die Sie darin nicht erkennen können; 3) zu Ihren Thesen 8–13 (Reichs/Laskas „anachronistische Zeitdiagnose“) geschwiegen. Sie haben ganz offenkundig darin Recht, dass ich Ihre 14 Punkte nicht sukzessive mit Antworten abgearbeitet habe. Ich habe stattdessen, wie ich glaube, ganz im Sinne Ihres Vorbehaltes, dass eine solche „Verkürzung von Gedanken, die [in früheren Briefen] in angemessener Proportion formuliert waren, leicht zu Schlagwortabtausch und neuen Missverständnissen führt“, die 14 Punkte als Konzentrat betrachtet, das mir als eine gute Hilfe zur Vergegenwärtigung dessen dienen kann, was Sie schon früher ausführlicher geschrieben hatten. Und in diesem Sinne, Ihre integrierte Auffassung zum Erziehungsproblem vor Augen, habe ich geantwortet und dabei nur auf jene Ihrer Thesen direkt Bezug genommen, die mir zur Klärung geeignet schienen. Auch heute sehe ich mich nicht imstande, auf jede Ihrer Thesen einzeln einzugehen; ich will aber trotzdem gern versuchen, Ihre Enttäuschung etwas abzubauen. In Ihrer These 1 schreiben Sie, das Reich’sche Konzept vom Charakterpanzer führe in die Irre, denn es lege die falsche Meinung nahe, der Mensch werde als biologisch nacktes Individuum nachträglich mit einem Kleid von Vorurteilen ausgestattet. Zum Wellenreiter werden – worauf wir uns provisorisch als wünschenswertes Ziel geeinigt hatten – könne ein Mensch, wie Sie abschließend (am 12.5.) hinzufügen, nur durch ständiges Bemühen, und dann niemals perfekt – „schon gar nicht durch Ablegen eines ‚Charakterpanzers‘.“ Ich habe darauf am 27.5. geantwortet, indem ich zu erklären versuchte, was Reich – bzw. Laska – mit dem Charakterpanzer meint, vor allem auch, dass dieser im Grunde dem entspricht (Reich: „funktionelle Identität“), was ich in zahlreichen früheren Briefen als „irrationales Über-Ich“ bezeichnet habe. Sie schrieben daraufhin (am 3.6.), Sie hätten nicht behauptet, Reichs Charakterpanzer sei nichts als ein Kleid von Vorurteilen, ebenso nicht, dass er ohne weiteres abgelegt werden könne. Sie heben dann hervor, was ich schon am 27.5. als vordringlich bezeichnet hatte: dass wir uns darüber verständigen sollten, was mit Charakterpanzer gemeint sei. Um diese Verständigung zu befördern, verwiesen Sie mich auf jüngere Literatur von Ihnen, in der Sie, in Anlehnung an eine Arbeit des Psychiaters

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Zutt, den Begriff der Fassung einführten. Sie meinten dann, der Reich’sche Charakterpanzer sei dasselbe wie eine starre Fassung. Es gelte, die Fassung („als Spielraum der Person“) nicht erstarren zu lassen, sie schwingungsfähig zu halten oder, falls sie starr geworden sei, zu flexibilisieren. Ich habe Ihnen am 18.6. das Ergebnis meiner Lektüre der empfohlenen Texte zusammengefasst und meinen Eindruck mitgeteilt, dass ich die starre Fassung nicht als Äquivalent zum Charakterpanzer auffassen kann. Sie antworteten lapidar („Ihre Begründung leuchtet mir nicht ein“) und erklärten, weil ich Zutts „innere Haltung“ als möglicherweise Äquivalent zu Reichs Charakterpanzer bezeichnet hatte, was Zutt unter dieser verstand. Schizophrene seien demnach, so verstehe ich Ihren Bericht, Individuen, denen ihre innere Haltung (= Fassung?) „unverfügbar und dadurch starr geworden“ sei. Soll das heißen, dass im Normalfall dem Individuum seine innere Haltung verfügbar ist? Mir ist die Sache jetzt weniger klar als zuvor, zumal Sie dann noch die dubiosen „multiplen Persönlichkeiten“ ins Spiel bringen. Auf einer anderen Ebene bringen Sie gegen Reichs „Panzermetaphorik“ vor, sie sei anachronistisch, also zu seiner Zeit, in ihrer Stoßrichtung im „Protest gegen die in der wilhelminischen Zeit verbreiteten starren Fassungen“, durchaus angemessen gewesen, heute aber „als Zeitdiagnose“ antiquiert, denn „nach massiver Gegenpropaganda“ sei das Problem jetzt eher eine zu lockere, schlotternde Fassung. Natürlich hat Reich sein Konzept durch Arbeit mit Menschen seiner Zeit, also der 1920–30er Jahre, gewonnen. Bemerkenswert dabei ist aber, dass es nicht primär der „zeitdiagnostische“ Gehalt seiner Theorie war, dessentwegen ihn Freud und die meisten seiner (übrigens ebenfalls in wilhelminischer Zeit geprägten) Kollegen regelrecht ächteten, sondern der fundamentale anthropologische. Dieser Kerngehalt ist es ja auch, der mich Reich erst mit Stirner und dann mit La Mettrie unter ein Joch spannen ließ, und der deshalb, wenn auch meist unausgesprochen, in unserer Diskussion über Stirner stets mitschwang. Für mich – als einem Laien in den hier zuständigen Disziplinen (was ich nur aus rein sachlichen Gründen betone) – waren und sind die Ächtungen und Verdrängungen, die La Mettrie durch Voltaire/Diderot/Rousseau u.a., Stirner durch Marx/Nietzsche u.a., Reich durch Freud/Adorno u.a. erfuhren, der Schlüssel zum Verständnis des Scheiterns der triumphierenden Aufklärung. Es fügte sich, dass meine „detektivisch“ gefundenen drei Autoren, die freilich viel zeit-, auch problembedingten Ballast mit sich führen, in jener anthropologischen Auffassung (die ich in den Artikeln „Die Negation des irrationalen Über-Ich bei L…/S…/R…“ zu erfassen versuchte) übereinstimmten. Diese wurde von ihren Gegnern, den nach ihnen beim Publikum sehr erfolgreichen Aufklärern, noch wahrgenommen, von deren Epigonen aber nicht mehr. – In der Hoffnung, nicht als „Drückeberger“ (vor Ihren 14 Thesen) erschienen zu sein, grüßt Sie etc.

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26. Juli 2005 Sehr geehrter Herr Laska! Aus dem Datum Ihres neuesten Briefes (9. Juli) entnehme ich, daß er schon länger hier gelegen haben dürfte. Ich war vom 11.–24. nicht in Kiel (auch nicht auf Erholungsreise, die soll in der zweiten Augusthälfte folgen), so daß ich noch keine Gelegenheit zum Antworten hatte. An Ihrer neuen Äußerung zu meinem teilweise von Zutt („innere Haltung“) übernommenen Begriff der Fassung wird mir abermals deutlich, wie schwer es zwischen uns ist, den gemeinten Sinn zu transportieren. Was ich meine, ist Ihnen „weniger klar als zuvor“, seit ich Sie auf die Deutung wahnhafter Identifizierungen Schizophrener durch Zutt hingewiesen habe, wonach ihre innere Haltung ihnen „unverfügbar und dadurch starr geworden“ sei. Ihr Zweifel betrifft die Frage: „Soll das heißen, daß im Normalfall dem Individuum seine innere Haltung verfügbar ist?“ Die innere Haltung, in meiner Ausdrucksweise: die Fassung, ist im Normalfall vielschichtig. Zutt (siehe mein Referat in „Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie“ S. 202) unterscheidet Grundhaltungen (z.B. Stolz, Liebenswürdigkeit, Bedächtigkeit), daraus sich entwickelnde Einzelhaltungen (z.B. Entgegenkommen, Abweisen, Begrüßen) und willkürlich angenommene innere Haltungen (z.B. des Traurigen, der sich lustig aufführt, um sich abzulenken). An der Basis dürfte die Fassung (außer in Extremfällen bei Hysterikern) unwillkürlich, deswegen aber nicht gleich völlig unverfügbar sein; man kann sie z.B., wie ich geschrieben habe, mehr oder weniger „schwingen lassen“, um auf einen anderen einzugehen (sonst geht das nicht), auch beim Eintritt in verschiedene Lebenskreise oder unter dem Einfluß von Suggestionen wechseln. Für den gewöhnlichen, personalen Menschen ist eine in gewissen Grenzen elastische und flexible Fassung das Normale; andernfalls wirkt er als Sonderling, irgendwie übertrieben oder anstößig. Diese Beweglichkeit der Fassung gibt dem Menschen ein gewisses, schwer abschätzbares Eingriffsvermögen, auch ohne willkürliche Reflexion und ausdrücklichen Entschluß, sondern etwa so, wie man sagt, daß jemand sich zusammennimmt oder gehen läßt. Solches Verhalten untersteht grundsätzlich seiner Kontrolle, auch wenn er sie nicht förmlich ausübt. Das Schwinden solcher Elastizität der Fassung ist nach Zutt die Quelle wahnhafter Selbstidentifizierungen, etwa in dem Sinn, daß jemand sich vorkommt wie eine gewisse Schlüsselfigur und dann von seiner Fassung, die er als jener angenommen hat, nicht mehr loskommt. Eine in diesem Sinn unverfügbar starr gewordene Fassung scheint mir der Charakterpanzer im Sinne von Reich und Ihnen gemäß Ihrem Brief vom 27. Mai zu sein. Ich bedauere, daß Sie diesen Interpretationsversuch rundweg ablehnen, weil mir dadurch unverständlich wird, was es mit dem Charakterpanzer auf sich hat. Ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeit, uns zu verständigen (noch diesseits von Zustimmung oder Ablehnung).

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11. August 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich habe nach Ihrem letzten Brief den Eindruck, dass wir im Bemühen, die Übereinstimmungen und Unvereinbarkeiten zwischen Ihrem Begriff der Fassung, Zutts Begriff der inneren Haltung und Reichs Begriff des Charakterpanzers zu klären, in ein Fachgebiet (Psychiatrie der „Schizophrenen“ und „multiplen Persönlichkeiten“) geraten sind, in dem zumindest ich mich nur ungenügend auskenne. Reich hat zwar gerade der Schizophrenie ein sehr ausführliches Kapitel der erweiterten Version seines Buches „Charakteranalyse“ gewidmet; doch könnte ich nicht, ohne mich erneut länger damit zu befassen (ich habe es selbst vor ca. zwanzig Jahren aus dem Englischen übersetzt, aber die klinischen Einzelheiten kaum im Gedächtnis behalten), verlässlich referieren, was er im Einzelnen über den Charakterpanzer Schizophrener schreibt. Über das Stichwortregister fand ich jedoch auf die Schnelle (auf S. 539 der Ausgabe bei Kiepenheuer & Witsch 1989) folgende Stelle: „Ihre Panzerung [der Charakterpanzer einer als typisch ausgewählten schizophrenen Frau] unterschied sich dadurch von der bei einer einfachen neurotischen Biopathie, dass sie unvollständig und nur oberflächlich ausgeprägt war.“ Dieses Zitat widerspricht zwar nicht ausdrücklich Ihrer Ansicht, der Charakterpanzer im Sinne von Reich entspreche einer unverfügbar und starr gewordenen Fassung, wie sie als „Quelle wahnhafter Selbstidentifizierungen“ bei Schizophrenen zu beobachten sei, aber es legt doch nahe, dass Reich im Wesentlichen das Gegenteil behauptet. Reich war weit davon entfernt, den Schizophrenen (einen bestimmten Typus) wegen seiner minderen Panzerung als relativ gesünder anzusehen als den normalen Neurotiker bzw. neurotischen Normalen – den er auch als homo normalis bezeichnete –, aber er hatte eine große Sympathie für ihn und wohl auch eine entsprechende Empathie. Er meinte, aus dem Studium des schizophrenen Prozesses wertvolle Aufschlüsse über die Pathologie des Normalen gewinnen und letztlich fundierte Vorschläge zur Vorbeugung der Fortführung bestehender Normalität machen zu können. Auf S. 653 resümiert er: „Aus den Erfahrungen an individuellen Schizophrenen können wir lernen, was homo normalis Millionen von Neugeborenen antut.“ Sie schließen Ihren Brief vom 26.7. mit dem Bedauern darüber, dass ich Ihre Interpretation des Reich’schen Charakterpanzers als starre, unverfügbar gewordene Fassung wie die des Schizophrenen, „rundweg ablehne“, und nennen dies „ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeit, uns zu verständigen“. Nach Reich aber verhält es sich mit der Panzerung, zugespitzt, gerade umgekehrt: die des Normalen, dem Sie eine flexible, elastische und schwingungsfähige Fassung zuschreiben, ist eher starr, und die des Schizo-

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phrenen vielleicht nicht sehr flexibel, aber doch weitaus weniger starr, vielleicht auch schwingungsfähiger als die des Normalen. Wie es mit der Panzerung des im Reich’schen Sinne Gesunden – nicht des bisher Normalen – aussieht, lässt sich vielleicht gar nicht präzise sagen, möglicherweise aus dem Grunde, dass ein solcher Gesunder in einer Gesellschaft, in der es nicht normal ist, gesund zu sein, gar nicht leben könnte. Dieses Problem hat uns ja bei unseren Diskussionen über Erziehung stets begleitet. Meine Auffassung war und ist, dass dem nur beizukommen ist, wenn man über viele Generationen hinweg anstreben würde, schädliche Einflüsse sukzessive zu eliminieren, die Ausbildung des Charakterpanzers zu vermindern. Das Ideal ist aber nicht einfach der Ungepanzerte, denn die Panzerbildung hat ja, wie der Name sagt, eine Schutzfunktion – nach innen und außen, und Gefahren von außen wird es immer geben. Ich hatte mich deshalb im Brief vom 27.5., ohne Deckung durch ein Reich-Zitat, dazu aufgeschwungen, das Bild so aus- bzw. weiterzumalen, dass der Ungepanzerte ein bewegliches Schild tragen muss, um äußere Gefahren abwehren zu können. Das hat Ihren vehementen Protest provoziert („auf gar keinen Fall!“, am 3.6.) und Sie veranlasst, mich erstmals auf Ihr neuerliches Konzept der Fassung hinzuweisen. Nun könnte ich mich mit dem Konzept der elastischen, schwingungsfähigen Fassung vielleicht anfreunden, wenn Sie diese Fassung nicht, wie oben ausgeführt, dem „gewöhnlichen, personalen Menschen“ (26.7.), wie er hier und heute lebt, attestieren würden. Oder tun Sie das gar nicht? Denn im Brief vom 3.6. lese ich am Ende des vorletzten Absatzes, dass Sie es heute als Hauptaufgabe ansehen, den Menschen, also den heutigen „Normalen“, zu einer „hinlänglich, aber nicht übermäßig“ schwingungsfähigen Fassung zu verhelfen. Dass Sie diese Aufgabe als eine sehr schwierige und viele Generationen erfordernde ansehen, schließe ich daraus, dass Sie die „Erziehung zur Einheit von Recht und Pflicht“ – die ich zuvor als einen Nebenaspekt einer Erziehung, die auf die „Negation des irrationalen ÜberIchs“ abzielt, bezeichnet hatte – nun nur noch als „den einzigen mir bekannten praktikablen Einstieg in den Weg zu diesem Ziel“ bezeichnen. Ziel, entferntes Ziel, ist also die „gute“ Fassung? Dann sähe es mal wieder so aus, als seien wir einer Meinung. Bis zum nächsten Aufbruch des Dissens … 12. August 2005 Sehr geehrter Herr Laska! Da ich morgen für 3 Wochen verreisen und anschließend zu einer kleinen Operation kurzfristig ins Krankenhaus gehen will, kann ich auf Ihren heute empfangenen Brief vom 11.08. nur schnell und kurz eingehen, wenn ich ihn nicht liegen lassen will. Mit der Schizophrenie sind Sie offensichtlich, wie Sie selbst einräumen, wenig bekannt; ich empfehle meine ausführliche Darstellung und Analyse (System der Philosophie Band IV S. 415–

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473). Reich hat sicher Recht, Zutt mit seiner interessanten Hypothese möglicher Weise. Wenn beide Recht haben, liegt das an der Unfähigkeit der Schizophrenen, Abstand zu nehmen; das führt einerseits zu der schwachen Panzerung nach Reich, zum Zerfließen der Ichgrenzen, andererseits zu der starren Fassung wahnhafter Selbstidentifizierung nach Zutt, weil der Schizophrene in einer Rolle, in die er sich einmal hineingesteigert hat, mangels Fähigkeit, sich zurückzunehmen, sozusagen kleben bleiben kann, während der gesunde Knabe, der z.B. im Geist mit Michael Schumacher über die Rennstrecke der Formel 1 braust, sich im nächsten Augenblick wieder auf die Schulbank setzen kann, um ganz nüchtern am Mathematikunterricht teilzunehmen. Das Beispiel zeigt, daß der gewöhnliche, hinlänglich gesunde Mensch unserer Zeit in der Tat über eine schwingungsfähige, von keinem starren Charakterpanzer fixierte Fassung zu verfügen pflegt. Was ich in meinem Brief vom 3. Juni an der von Ihnen angegebenen Stelle als Ziel einer wünschenswerten langen und schwierigen Erziehung bezeichnet habe, ist die Einübung einer zwischen zu schmaler und zu breiter Amplitude gut austarierten Schwingungsfähigkeit der Fassung durch Zusammenführung von personaler Emanzipation und personaler Regression. Heute ist die Fassung meist zu locker, um auch nur elastisch zu sein. (Straff ist nicht starr.) 9. September 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie schrieben mir am 12.8., dass Sie kurz davor stünden, zunächst für drei Wochen zu verreisen. Anschließend sei noch ein vermutlich kürzerer Krankenhausaufenthalt geplant. Deswegen hätten Sie auf meinen vorangegangenen Brief nur kurz eingehen können. Wahrscheinlich, hoffentlich sind Sie jetzt wieder wohlbehalten zu Hause. Es könnte dann sein, dass Ihre längere Antwort auf meinen genannten Brief sich mit diesem Brief kreuzt oder etwas später hier ankommt, jedenfalls dann, wenn ich gerade verreist sein werde: auf unserer (mit Frau und zwei Whippets) jährlichen Herbstreise in die Bretagne. Ich möchte deshalb – und weil ich im Moment mit verschiedenen Dingen beschäftigt bin, die ich noch vor der Abfahrt abschließen möchte – jetzt auf Ihren Kurzbrief vom 12.8. auch nicht eingehen. Voraussichtlich Anfang Oktober werde ich wieder zu Hause sein und mich dann auf jeden Fall wieder melden. 19. Oktober 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich habe nach der Rückkehr von meiner Urlaubsreise, als ich gelegentlich an die Weiterführung unseres Briefwechsels dachte, festgestellt, dass es mir einigermaßen schwerfällt, nach gut zweimonatiger Pause den gedank-

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lichen Faden unseres Austauschs ohne Weiteres wieder aufzunehmen. Nachdem ich dann unsere letzten Briefe noch einmal gelesen hatte, schien es mir, dass wir im Verlauf der Diskussion auf ein Gebiet geraten sind, auf dem ich mich nur sehr wenig auskenne: die Psychopathologie. Ich habe zwar Wilhelm Reich zu einem meiner „Helden“ erkoren, aber nicht den Psychotherapeuten Reich, sondern den fundamentalen „anthropologischen“ Antipoden Sigmund Freuds als dem Autor, dessen außerfachliche quasi-philosophische Ideen den Geist des 20. Jahrhunderts wohl mehr geprägt haben als die prominenter Philosophen wie Heidegger oder Wittgenstein. Deswegen kann ich zu den Auffassungen des Psychiaters Zutt über Schizophrenie und zu seinem Konzept der „Fassung“ auch nicht begründet Stellung nehmen. Dennoch leuchtet mir einigermaßen ein, was Sie unter Verwendung des Begriffs der Fassung sagen wollen. Ich kann nur dem nicht zustimmen, dass Sie den Reich’schen Charakter(panzer) mit einer erstarrten oder starren Fassung gleichsetzen. Der Reich’sche Charakter(panzer) ist – so wie ich als Nicht-Psychologe ihn verstehe – eine Konkretisierung des Freud’schen Über-Ichs. Ein Schüler Reichs, der amerikanische Psychiater Elsworth Baker, hat dies ebenfalls unumwunden ausgedrückt: „The superego is functionally identical with armoring.“ (In seinem Buch „Man in the Trap“, New York: MacMillan 1967, p. 27) Auf Seite 102 beschreibt Baker übrigens den Charakter(panzer) des Gesunden in etwa so, wie Sie die elastische Fassung: „Ego and superego are in harmony. The superego … is not harsh and punitive as it is to the neurotic. … The armor is pliable and at the service of the ego, which can call it forth or dispense with it as objective situations require.“ Mein Bild im Brief vom 27.5.2005, Abs. 3, wäre also wie folgt zu korrigieren: eine defekte, zu schwache oder zu starke Panzerung wäre therapeutisch nicht zu demontieren (bzw. überhaupt zu allererst durch Prävention zu verhindern), sondern, sagen wir, zu „reparieren“ (bzw. die gesunde Entwicklung nicht zu hindern) – also in etwa das herzustellen (bzw. sich entwickeln lassen), was Sie eine elastische und schwingungsfähige Fassung genannt haben. Diese müsste m.E. allerdings auch als „bewegliches Schutzschild“ fungieren können (wogegen Sie sich am 3.6. entschieden ausgesprochen haben), und zwar, wie ich schrieb, um gezielt äußere Gefahren abwehren zu können, die bewirken könnten, dass sie ihre Elastizität einbüßt und starr wird. Ich weiß nicht, ob diese Ausführungen Ihnen meine Auffassung klarer gemacht haben. Mein Eindruck ist, dass wir hierbei im Grunde nicht allzuweit auseinanderliegen und nur die Verständigung über verschiedene Metaphern in dieser schwierigen Sache entsprechend schwierig ist. Sie hatten Ihren letzten Brief, am 12.8., in Eile noch schnell vor Ihrer Abreise in den Urlaub geschrieben und gesagt, dass Sie deshalb nur kurz auf meinen Brief vom 11.8. eingehen konnten. Vielleicht ist es da ratsam,

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dass ich erst einmal abwarte, was Sie in Ruhe auf diesen Brief antworten, bevor ich auf das eingehe, was Sie im letzten Absatz kurz andeuten („… der gewöhnliche, hinlänglich gesunde Mensch unserer Zeit …“). 22. Oktober 2005 Sehr geehrter Herr Laska! Mit unserer Korrespondenz geht es mir wie Ihnen, ich habe zwar nicht den Faden verloren, aber etwas den Schwung. Das hat auch einen persönlichen Grund. Ich habe mir eine Venenthrombose am linken Unterschenkel als Operationsfolge zugezogen und bin damit stimmungsmäßig noch nicht ganz fertig. Wie Sie glaube ich, daß wir über Fassung alias Charakterpanzer sachlich ziemlich einig sind und hauptsächlich die Metaphern Schwierigkeiten machen; da sie aber nicht zufällig sind, sondern Tendenzen oder Perspektiven beleuchten, ist es sinnvoll, darüber nachzudenken. Zu einem Panzer gehört meines Erachtens, daß er starr (metallisch) ist und dem Körper von außen angelegt wird. Das Wort wirkt auf mich als aggressive Parole, die dazu auffordert, eine durch Fremdeinwirkung verhärtete Lebendigkeit wieder freizulegen. Fassung im buchstäblichen Sinne ist dagegen eine eigene Leistung des Körpers, der fassenden Hand, und wird in entsprechendem Sinn mit geläufigen Wendungen wie „sich fassen“ (nach einem Schicksalsschlag), „seine Fassung (wieder) gewinnen“ auf das Gesamtverhalten des Menschen übertragen. Mit meinem Vorschlag, die Starrheit des Charakterpanzers als starre Fassung zu verstehen, will ich also darauf hinaus, daß die Festigkeit der Persönlichkeitsform, die mit beiden Ausdrücken gemeint ist, spontanem eigenem Bedürfnis entspringt, nicht einer durch Erziehung oder andere Fremdeinflüsse angetanen Verkünstelung; zweitens will ich damit sagen, daß es sich bei der Fassung als Charakterpanzer um eine ungünstige Extremform in einem breiten Spektrum möglicher Fassungsarten handelt, wo in der Mitte die straffe, aber schwingungsfähige und am anderen Ende die gar zu lockere und haltlose steht (wobei man mit Aristoteles sagen kann, daß die Extreme oft in einander umkippen). Dieser zweiten Anwendung des Wortes „Fassung“ kommen Sie in Ihrem Brief vom 19. Oktober, mit Korrektur Ihrer Ausführungen vom 27. Mai, so weit entgegen, daß ich in dieser Hinsicht keine Differenz zwischen uns mehr erkennen kann. Was dagegen die erste Frage angeht, nämlich, in wie weit die Fassung (auch als Charakterpanzer) spontan oder auferlegt ist, kann wiederum ich Ihnen entgegenkommen. Es handelt sich um eine genetische Frage, nämlich darum, aus welchen Quellen das persönliche, meines Erachtens spontane, Bedürfnis nach Formfestigkeit sich befriedigt. Da gebe ich gern zu, daß es sich in großem Umfang um Einflüsse aus der Erziehung usw. handelt, wobei ich aber zu bedenken gebe, daß auch die nicht einer primär reinen, „unbeleckten“ kindlichen Persönlichkeit angetan wird, da die volkstümlich „Per-

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sönlichkeit“ genannte zuständliche persönliche Situation des Kindes sich überhaupt nur aus gemeinsamen Situationen hervor (in „Einleibung“, leiblicher Kommunikation, wie ich mich ausdrücke) bildet. Übrigens werden sich die aus solchen „sozialisierenden“ Situationen überspielten Züge im Charakter oder Charakterpanzer meist mit genuinen mischen; diese Mischung begünstigt die Elastizität (Entpanzerung) der Fassung. Von der genetischen Frage, woher die Person die Ausgestaltung ihres Charakters übernimmt, ist die strukturelle zu unterscheiden, aus welchen Gründen und Bedürfnissen es zu einer solchen Verfestigung der Persönlichkeit kommt. Ich werfe Freud vor, daß er mit seinem Begriff des ÜberIch beide Frageweisen vermengt, indem er die Herkunft des Materials der Formgebung, die er z.B. im Vaterbild vermutet, in die Persönlichkeitsstruktur einbaut, als müsse das Ich seiner Metapsychologie einen Zweifrontenkrieg gegen das Es und das Überich führen, während nach meiner Überzeugung die Fassung, auch mit den von Freud vermuteten Quellen ihres Inhaltes, ein unvermeidliches Werkzeug der Selbstbehauptung des Ich in seinem ambivalenten Verhältnis zum Es ist, wobei ich diese Freud’schen Ausdrücke nur mit spitzen Fingern in den Mund nehme und vielmehr unter „Ich“ das Leben in entfalteter Gegenwart und unter „Es“ das Leben in primitiver Gegenwart verstehe. Ihrer Anregung, daß man die Fassung auch als beweglichen Schutzschild, d.h. als handhabbar, verstehen soll, kann ich jetzt beipflichten, nachdem ich in meinem Brief vom 26. Juli darauf hingewiesen habe, wie vielschichtig sie ist. Die tiefste Schicht der Fassung, das Platzfinden oder Stellungnehmen im Auf und Ab von personaler Emanzipation und personaler Regression zwischen Leben in primitiver und Leben in entfalteter Gegenwart, wird im Allgemeinen (außer etwa bei Hysterikern) unverfügbar sein, aber darüber ist es ein Zeugnis von Kraft, sich auch in weniger tiefen Schichten Fassungen als beweglichen Schutzschild zulegen zu können. Die Kürze meines Briefes vom 12. August haben Sie überinterpretiert. Dahinter steckte nicht die Absicht, mehr zu schreiben. 11. November 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich schloss meinen letzten Brief mit dem Ausdruck der Hoffnung, er möge Sie bei guter Gesundheit erreichen. Nun höre ich, dass eine postoperative Venenthrombose Ihnen zu schaffen macht. Das war allerdings Ende Oktober und wird, so hoffe ich jetzt, inzwischen vorüber sein. Was unsere Korrespondenz angeht, so haben wir beide ziemlich gleichzeitig eine aktuelle Schwierigkeit festgestellt. Mir fiel und fällt es schwer, schrieb ich zuletzt, nach gut zwei Monaten Pause den Faden unserer Diskussion wieder aufzunehmen; Sie antworteten, sie sähen sich sozusagen an einem toten Punkt, an dem der rechte Schwung sich (noch?) nicht

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wieder einstellen will. Zugleich vermerken Sie aber auch, dass nach längeren terminologischen Klarstellungen, zuletzt über die Metaphern des Charakter(panzer)s und der Fassung, eine Annäherung in den Formulierungen unserer Ansichten stattgefunden hat. Dies kann ich bestätigen, meine allerdings, dass das nicht sehr verwunderlich ist, weil es in unseren letzten Diskussionen ja gewissermaßen (nur) um „das Sein“ ging, also um den Blick auf das, was ist. Differenzen würden sich wahrscheinlich (wieder) ergeben, sobald es, nach Klärung diverser Missverständnisse, um „das Sollen“ ginge, zum einen um das, was man aufgrund seiner Einsichten in das Sein selbst zu tun beschließt, zum anderen, was man den Anderen, der Allgemeinheit, zu tun anempfiehlt. Viele neuzeitliche bzw. zeitgenössische Philosophen haben ja die Formel, wonach die Sphäre des Seins von der des Sollens streng zu trennen ist und es keinen Weg vom Sein zum Sollen gibt, zum Dogma erklärt. Sie bilden, so wie ich Sie verstanden habe, darin eine Ausnahme, und ich stimme Ihnen in dieser sehr grundsätzlichen Frage formell zu. Dennoch scheinen wir, sobald es um konkrete Fragen des Sollens geht, oft nicht zusammen zu kommen. Sie werden sicher einige Stellen aus unseren Briefen in Erinnerung haben, an denen sich dies beispielhaft zeigen ließe. Ich vermute stark, dass dies an unseren unterschiedlichen Vorstellungen davon liegt, wie jene beiden Sphären, wie Sein und Sollen miteinander zusammenhängen, wie das Sollen aus dem Sein hervorgeht oder abzuleiten ist. Es fiele mir aber sehr schwer, unseren Dissens klar und in knapper Form zu artikulieren, meine auch, dass das jetzt gar nicht unbedingt nötig ist, weil Sie aus der Summe der Eindrücke aus dem langen Briefwechsel die Sache ähnlich sehen. Vielleicht sollte ich stattdessen ein paar Worte dazu sagen, warum ich immer wieder auf das „Über-Ich“ und seine Unterteilung in ein „rationales“ (das ich bejahe) und ein „irrationales“ (das ich gern eliminiert sähe) zurückkomme. Das liegt wohl an einer „Urwahrnehmung“, die ich mache und registriere, seit ich bewusst lebe, nämlich, dass die meisten Menschen (unbeholfen, aber für ein vorläufiges Verständnis vielleicht hinreichend ausgedrückt) „nicht sie selbst“ sind; dass sie sich vielmehr über die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv „definieren“ und für den, der den Beitritt zu solchem Kollektiv als Zumutung ablehnt, letztlich – trotz aller heute modernen „Toleranz“ – eine potentielle Gefahr darstellen. Diese Urwahrnehmung konnte mir bisher von keiner Theorie über die Konstitution des Subjekts/Selbsts etc. als banal, ubiquitär, irrelevant o.ä. demonstriert werden. Sie war und ist der Antrieb für mein lebenslanges intensives „Philosophieren“. Dabei gebe ich gerne zu, dass ich nie im üblichen Sinne Philosophie betrieben habe, dass ich vielmehr das, was ich als Corpus der Philosophie vorfand, immer mehr als Hindernis bei meinem „Michbesinnen auf mein Michfinden in meiner Umgebung“ empfand. Ich habe deshalb nie ordentlich die Klassiker studiert oder gar ein akademisches Philosophiestudium in Betracht ge-

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zogen. Schließlich habe ich, in großem zeitlichen Abstand, nacheinander meine drei Ihnen bekannten „Helden“ gefunden. Nachdem ich schon eine Zeitlang über sie publiziere, wird freilich die Frage immer aufdringlicher, ja überhaupt zentral und unabweisbar, warum kaum jemand in meinem Weg eine Bahnung für seinen eigenen sieht. Da hilft es wenig, wenn ich nicht der Einzige bin, dem es so ging und geht. 14. November 2005 Sehr geehrter Herr Laska, Ihr Brief vom 11. November kam heute früh so an, daß ich kurz vor Antritt einer Reise nach Dresden noch etwas Zeit zum Antworten finde. Daß man vom Sein im Sinne der bloßen objektiven, neutralen Tatsächlichkeit nicht auf das Sollen schließen kann, ist zwar richtig und zur Abwehr überheblicher juristischer und verwandter Argumentationen „aus der Natur der Sache“ nützlich, aber aus mehreren Gründen mißverständlich. Erstens verhängt das Sein selbst ein Sollen, nämlich als Autorität in der Evidenz, worüber ich viel geschrieben habe. Zweitens müssen Sachverhalte (als Tatsachen) und Normen (als geltende) ursprünglich immer aus Situationen geschöpft werden, in deren binnendiffuser Bedeutsamkeit Sachverhalte und (auch normative) Programme unzertrennlich verschmolzen sind; der Ausgang bloß von einzelnen Tatsachen ist lebensfremd. Drittens kommt es auf die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins an, die im Fall des Betroffenseins von Gefühlen deren Autorität und damit ein Sollen übernehmen. Der Satz „Vom Sein gilt kein Schluß auf ein Sollen“ trifft also nur in der objektivistischen Perspektive von Mathematikern, Naturwissenschaftlern und ihresgleichen zu, die sich nur an einzelne objektive (wirkliche oder vermeintliche) Tatsachen halten, die sie fälschlich mit allen Tatsachen gleichsetzen. Ich glaube gerne, daß wir zum problematischen „Über-Ich“ (siehe meinen letzten Brief) aus Gründen verschiedener „Urerfahrung“ (Gundolf), die vielleicht in der kindlichen Sozialisation begründet ist, anders Stellung nehmen. Ich selbst bin in der Atmosphäre des Leipziger Reichsgerichtes, also des gehobenen Bürgertums hoher Beamter, Kind gewesen, in einer eigentümlichen Mischung von unbefragter (teilweise durchaus fragwürdiger) Konvention und Großzügigkeit, besonders was den Respekt vor der eigenen Persönlichkeit des Mitmenschen, auch schon des heranwachsenden Kindes, betraf. Meine Einstellung zu implantierenden Situationen, aus denen die persönliche Situation hervorwächst, ist demgemäß viel weniger mißtrauisch als die Ihrige. Ich fürchte mich wenig vor dem Anlegen eines Charakterpanzers an meine Person, da ich auf Kraft und Mut zur kritischen Auseinandersetzung vertraue; schon als Knabe während des letzten großen Krieges habe ich am Familientisch zum Entsetzen meines Vaters unverfroren behauptet, natürlich würden die Juden von den Nationalsozialisten

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umgebracht. In meinen Augen bietet die implantierende Situation wichtige und vielleicht unentbehrliche Hilfe zur Selbstfindung: erstens durch Entlastung im Sinne von Gehlen, indem man einen Boden billigenswerter Selbstverständlichkeiten für den Aufbau des Eigenen hat, und zweitens als Gelegenheit für eine Auseinandersetzung mit dem Überlieferten, die sich in Kritik, Protest und Zustimmung einen abgewogenen eigenen Standpunkt erarbeitet. PS: Mit der Hoffnung, daß meine Verstimmung wegen einer Thrombose überwunden ist, haben Sie zum Glück Recht. 7. Dezember 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, bitte entschuldigen Sie die Verzögerung meiner Antwort: „familiäre“ Beanspruchung verhinderte – wieder einmal –, dass die Stimmung und Muße aufkamen, die ich für unseren Briefwechsel brauche. Als erstes möchte ich Ihnen für die bündige Darstellung Ihrer Auffassung der „Sein-Sollen-Thematik“ danken. Sie finden, was für mich natürlich nicht überraschend ist, den Grundsatz, dass vom Sein nicht auf ein Sollen geschlossen werden darf/kann, nur für die objektivistische Sicht von Naturwissenschaftlern „und ihresgleichen“ gültig, zudem aber auch für Andere, für Nicht-Objektivisten, durchaus nützlich, nämlich dann, wenn es um die Abwehr von Normbegründungen „aus der Natur der Sache“ geht. Solche Abwehr wäre aber doch nur erst einmal ein sehr grobes Geschütz, sozusagen, um die Vertreter solcher Begründungen zur Raison zu bringen, ihnen zu zeigen, dass es so nicht geht. Schwierig wird es danach, wenn man sich über die Quellen von Sollen und Wollen, von deren Übereinstimmung und Auseinanderfallen, Gedanken macht. Ihre drei Punkte dazu leuchten mir ein (sofern ich im Laufe der Jahre ein richtiges Gespür für Ihre speziellen Begriffe bekommen habe). Dennoch glaube ich, dass sich bei einer Diskussion der Thematik, die mehr ins Detail ginge, schnell die gleiche Diskrepanz zeigen würde, auf die wir bei früheren Diskussionen gestoßen sind, etwa über den Menschen mit starkem Daimon oder über die Figur des Wellenreiters; denn im Grunde geht es bei unseren Gesprächen (abgesehen von gelegentlichen Abschweifungen), unter verschiedenen Aspekten und mit verschiedenen Begriffen, meist um die gleiche Frage: was geschieht bei der Enkulturation eines Menschen, bei seiner eigentlichen Menschwerdung? Der zentrale Begriff in Ihrer Terminologie scheint mir dabei der der implantierenden Situation zu sein. Sie kommen auch im letzten Brief auf sie zu sprechen und nennen sie einen Boden billigenswerter Selbstverständlichkeiten für den Aufbau des Eigenen, der im Sinne Gehlens Entlastung böte und nicht zuletzt dadurch auch Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit dem Überlieferten, zur Emanzipation bzw. zur Erlangung eines aus Zustimmung und Kritik hervorgehenden eigenen Standpunktes. Wir haben

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vor längerer Zeit einmal ventiliert, ob dies in Analogie zum Erwerb der Muttersprache und dem Grad der Virtuosität, mit der man sie später „beherrscht“ (!?), gesehen werden kann. Soweit ich mich erinnere, hatten Sie damals gesagt, dass diese Analogie zwar weitgehend besteht, nicht aber in dem entscheidenden Punkt – zu dessen genauer Formulierung ich jetzt in den alten Briefen suchen müsste. Wie auch immer: an der implantierenden Situation führt – auch bei der Klärung der Sein-Sollen-Frage – kein Weg vorbei. Unser Dissens besteht, wie ich meine, in deren Ausgestaltung, sofern man über sie und ihre Bedeutung für die Bildung von Fassung oder Charakter reflektiert hat. Wir haben das schon einmal an einem von Ihnen – nicht in diesem Zusammenhang – in einem Buch gegebenen Beispiel diskutiert: Ob man dem Kinde vom lieben Gott (Sie nennen ihn, für mich nicht einleuchtend, in einem Atem mit dem Weihnachtsmann) erzählen soll, bzw. aus welchen Motiven Erwachsene dies so gerne tun, und welche Folgen das haben kann. Auch das führte bald zu jenem Dissens. Mein Misstrauen (Skepsis klingt schöner) den implantierenden Situationen gegenüber, das Sie feststellen, nährt sich nicht aus dem Blick auf meine eigene, in der ich auffälligen Mangel an Respekt vor dem Heranwachsenden nicht entdeckt habe, sondern aus dem Blick auf die der meisten Mitmenschen und deren aus ihrer implantierenden Situation gewachsenen Charakter(panzer) resp. deren zu starre oder auch zu lasche Fassung. Wie Sie fürchte ich mich natürlich als Erwachsener nicht vor „dem Anlegen eines Charakterpanzers“, wohl aber vor der Macht der Kollektive, zu denen sich jene zusammenzufinden pflegen, die es nicht geschafft haben, jenen o.g. eigenen Standpunkt zu beziehen. 9. Dezember 2005 Sehr geehrter Herr Laska, in Ihrem Brief vom 7. d.M. setzen Sie mehrfach mit unpräzisem Bezug auf früher gewechselte Briefe zur Angabe dessen an, was Sie unseren Dissens nennen. Ich will darüber eine Vermutung wagen. Es könnte sein, daß wir mit verschiedener Einstellung an unsere Mitmenschen herangehen. Ihr Mißtrauen (Sie sagen lieber: Skepsis) gegen den Einfluß implantierender Situationen auf die Charakterformung nährt sich, wie Sie schreiben, aus der Furcht vor der Macht der Kollektive, in denen sich die (nach Ihrer Meinung meisten) Mitmenschen zusammenfinden, die es nicht geschafft haben, der Suggestion implantierender Situationen einen eigenen Standpunkt abzugewinnen. Mich interessieren Kollektive, wenn sie nicht akut bedrohlich werden, weniger als das bunte Durcheinander der Individuen. Ich betrachte die Menschheit als ein großes buntes Experimentierfeld, in dem keiner (da „zur Freiheit gezwungen“) darum herumkommt, Stellung zu beziehen und einen Standpunkt einzunehmen, wobei wenige originelle Lösungen für viele konventionelle entschädigen. Oder vielmehr: Bei näherem Zusehen pflegen

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sich auch die konventionellen Lösungen als ziemlich originell herauszustellen. Ich denke an eine Bemerkung von Ibsen nach Abschluß der Arbeit an seinem Stück „Die Wildente“: die Personen des Dramas seien ja alle ziemlich unsympathisch, aber bei der Ausarbeitung habe er sich davon überzeugen können, wie interessant sogenannte Durchschnittsmenschen doch sein könnten. Ich traue mir nicht zu, meinen Mitmenschen ins Herz zu sehen; lediglich bei den Wenigen, die mir nahe stehen und die ich seit Jahren kenne, vertraue ich auf einen gefestigten Eindruck. Sonst bringe ich gewöhnlich einem Menschen einen großen Vertrauensvorschuß entgegen, bis er mich ernstlich enttäuscht, dann kann ich ihn entschieden ablehnen. Die bunte Vielfalt der Lösungen des Problems des Lebenkönnens interessiert mich viel mehr als der Durchschnitt, und im Bunten suche ich das Originelle, eventuell Vielversprechende, ohne mich darum zu kümmern, ob es viel oder wenig ist. (Mein Lehrer Rothacker sagte einmal: In den vielen Jahrhunderten der Spätantike gab es nur den einzigen Genius Plotin; das war überspitzt, aber es würde genügen.) Auf Grund dieser Interessensrichtung sträube ich mich gegen alle Versuche, einen vorgeformten Typus als Ideal aus der Menschheit herauszuzüchten, sei es der „Wellenreiter“ oder der „frohe Adelsmensch“ (Rosmer in Ibsens Rosmersholm). Gern gebe ich Ratschläge für Lösung von Problemen des Lebenkönnens, sei es nun das weidlich besprochene „Wellenreiten“ oder die Erziehung zur Einheit von Recht und Pflicht; aber sie sind so formuliert, daß sie keinen Typus festlegen, sondern unzählige individuelle Lösungen offen lassen. „Eines schickt sich nicht für alle. / Sehe jeder, wie ers treibe; / Sehe jeder, wo er bleibe, / Und wer steht, daß er nicht falle.“ (Goethe) Was ich über Sprache als implantierende Situation Ihnen geschrieben habe, ist mir nicht mehr genau gegenwärtig. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß die Erstsprache (Muttersprache) aus einer das Kind implantierenden Situation (oder vielen solchen Situationen) aufgelesen wird, so daß, wie ich mehrfach geschrieben habe, alle Menschen nur noch stammeln könnten, wenn es keine solchen Situationen mehr gäbe. Zur Kompetenz für zusätzlich angeeignete Sprachen (sogenannte Fremdsprachen) werden dagegen meist bloß includierende Situationen genügen, obwohl es auch echtes Hineinwachsen in die anfangs fremde Lebenswelt und damit Sprache gibt. Mit der Muttersprache nimmt der Mensch eine implantierende Situation, die er nie ganz los wird, mit ins Leben (es sei denn, daß er diese Sprache ganz verlernt). Die Anregung mythischer Phantasie durch solche Figuren wie den lieben Gott, den Weihnachtsmann oder andere märchenhafte Gestalten möchte ich dem Kind nicht verweigern, weil nur durch die Fruchtbarkeit vielseitiger spielerischer Identifizierung mit vielsagenden gefühlsmächtigen Eindrücken der trostlosen Sterilität (auch in Gestalt faseligen Herumspielens an Zaubertricks technischer Herkunft) vorgebeugt werden kann.

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Spielerische Identifizierung nimmt namentlich beim Kind keine Rücksicht auf Tatsächlichkeit, ist daher keine Verführung zur Verwechslung oder Fiktion. 30. Dezember 2005 Sehr geehrter Herr Schmitz, meine Bemerkung im letzten Brief, Skepsis klinge besser als Misstrauen, war nicht als Beschwerde gemeint und auch nicht ganz ernst, schon gar nicht als Ausdruck einer Verstimmung. Es ist also völlig in Ordnung, wenn Sie weiterhin von Misstrauen sprechen, um meine Grundeinstellung zu kennzeichnen. Sie haben sich dieses Urteil ja aus meinen Briefen und Publikationen gebildet und nicht aus persönlicher Kenntnis. Was den Umgang mit Menschen angeht, so könnte ich mich dem anschließen, was Sie unten auf der Vorderseite Ihres Briefes schreiben, wobei ja wohl auch Sie nicht jedem Menschen bis zu einer ernsten Enttäuschung den gleichen großen Vertrauensvorschuss entgegenbringen. Kurz, im privaten Leben komme ich mit meiner Ausstattung an Misstrauen recht gut hin, zumal sie mich auch oft so frühzeitig warnt, dass es zu einer ernsten Enttäuschung erst gar nicht kommen muss. Misstrauen regt sich bei mir z.B., wenn ich erfahre, dass jemand sich als Angehöriger eines „Kollektivs“ bekennt, etwa als Christ, Moslem, Scientologe, Katholik, Anthroposoph oder einer beliebigen – natürlich auch säkularen – „Wahngemeinschaft“. Ich kann davon nicht ganz absehen, obwohl ich natürlich weiß, dass es Unsinn wäre, jemanden nur deswegen abzulehnen und das auch nicht tue. Ich würde aber das, was Sie in Ihrem Brief wiederholt mit dem Adjektiv „bunt“ bezeichnen – das bunte Durcheinander der Individuen, das große bunte Experimentierfeld, die bunte Vielfalt der Lösungen des Problems des Lebenkönnens, das Bunte als Ort des Originellen – nicht pauschal so wohlwollend konnotieren. Nicht jede Buntheit erscheint mir als solche schätzenswert. Nicht, dass es mir an Kriterien mangelte, in dem bunten Experimentierfeld, wie Sie schreiben, originelle Lösungen zu entdecken; aber diese kann ich nicht als (ästhetische?) Entschädigung für die vielen konventionellen (die, wie Sie schreiben, bei genauerem Hinsehen ohnehin auch ziemlich originell sind) verbuchen. Damit sind wir wohl wieder an dem Punkt angelangt, wo wir uns in früheren Diskussionen in einer schwer auflösbaren Situation aus Missverständnis und Dissens festgefahren haben – und die auch in Ihrem letzten Brief wieder aufscheint. Sie schreiben, Sie „sträuben sich“ gegen alle Versuche, einen vorgeformten Typus herauszuzüchten, sei es der „Wellenreiter“, sei es Ibsens „freier Adelsmensch“. Daraus höre ich, dass Sie meinen, ich sei jemand, der sich dieses Züchten wünscht. Tatsächlich ist es aber umgekehrt: ich bin derjenige, der das seit Menschengedenken übliche Heranzüchten vorgeformter Typen im Vollzug der Enkulturation kritisiert und für schädlich hält. Dabei gestehe

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ich natürlich zu, dass es ohne Enkulturation in implantierenden Situationen nicht geht; aber diejenigen, die darüber nachdenken, wie sie die implantierende Situation, in der ihr Kind aufwächst, gestalten (auch wenn es zahlreiche weitere Einflüsse gibt), können sich so oder so verhalten, z.B. Gottesfurcht erzeugen oder nicht (wobei ich Figuren wie Gott und den Weihnachtsmann nicht in einem Atem nennen würde). Um wieviel komplizierter das Problem auch sein mag: ich würde mir wünschen, der üblichen, weitgehend gedankenlosen Heranzüchtung vorgeformter Typen würde bewusst begegnet. Als ferne Idealgestalt, die eben nicht vorgeformt ist, die geradezu darin besteht, nicht vorgeformt zu sein, weil sie aus dem graduellen Abbau der Vorformungen entsteht, wäre dann z.B. der „Wellenreiter“ zu sehen – resp. der Mensch „ohne irrationales Über-Ich“, mit „starkem Daimon“, mit „beweglichem Charakter(panzer)“, mit „flexibler, schwingungsfähiger Fassung“ … Aus früheren Briefen erinnere ich, dass Sie darauf beharrten, der Wellenreiter möchte nicht in einer Gesellschaft aus Wellenreitern leben, der Mensch mit starkem Daimon brauche viele Menschen mit schwachem Daimon, um seine Führkraft anzuwenden etc. Diese Haltung spricht auch aus Ihrem letzten Brief: „originelle“ Lösungen der Gestaltung des individuellen Lebens brauchen die Masse der konventionellen sozusagen als Folie, auf der sie als originell überhaupt erkennbar sind. Originell sind aber viele Lösungen, z.B. der Säulenheilige. Deshalb erscheint mir Originalität, so sehr sie zur „Buntheit“ und „Vielfalt“ der Erscheinungen des menschlichen Lebens beiträgt, nicht als ein brauchbares Kriterium zur Beurteilung, ob eine bestimmte Lösung des Problems des Lebenkönnens eine gelungene ist.

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[Bernd A. Laska und] Hermann Schmitz (Korrespondenz 6) [Januar 2006–März 2016]

4. Januar 2006 Sehr geehrter Herr Laska! Mit Ihrem Brief vom 30. Dezember vorigen Jahres – für das begonnene wünsche auch ich Ihnen Erfolg und Gedeihen in Klarheit – bestätigen Sie, wenn ich ihn recht verstehe, den Inhalt des meinigen vom 9.12.05, vielleicht selbst da, wo Sie mir widersprechen. Ehe ich dazu etwas sage, möchte ich ein Mißverständnis beseitigen, dem Sie nicht verfallen, aber ausgesetzt sind, wie das Fragezeichen hinter „ästhetisch“ in Zeile 17 des Haupttextes Ihres o.a. Briefes zeigt. Ich bejahe die Buntheit mehr oder weniger origineller Lösungen der Probleme des Lebenkönnens nicht als ästhetischen Reiz, sondern auf Grund einer Einstellung, die ich mit der mir gleichsam als Motto meines Lebens vorschwebenden Sentenz aus dem 1. Johannesbrief 4,18 so ausdrücken könnte: „Vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.“ Liebe verstehe ich in diesem Zusammenhang als Bereitsein (Shakespeare, Hamlet: „Readyness is all“), d.h. als reservelose Offenheit für die spürbaren Gewichte aller Autoritäten der Programme, die mir in den Sinn kommen oder zugemutet werden; ein anderer Name wäre „Gerechtigkeit“ oder „vor nichts zurückschrecken, wenn es sein muß (d.h. wenn das spürbare Übergewicht der Autorität eines Gefühls oder der Wirklichkeit es erfordert)“. Es liegt nahe, daß eine solche Haltung, wenn sie zu Stande kommt und durchgehalten werden kann, der Furcht und dem Mißtrauen vorbeugt und Mut zu einem beträchtlichen Vorschuß eines (keineswegs blinden) Vertrauens im Umgang mit Menschen macht, im Gegensatz zu Ihrem gewissermaßen primären Mißtrauen gegen Menschen, die das Abzeichen eines Kollektivs tragen. Selbstverständlich bin ich weit davon entfernt, jede Buntheit als solche für schätzenswert zu halten. (Vor Jahren sagte mir ein Kollege, nicht auf mich bezüglich, die deutsche Philosophie der Gegenwart sei „bunt und unbedeutend“.) Aber ich begünstige grundsätzlich – mit Ausnahme bei offenkundigen Mißverständen – die frei wachsende Vielfalt von Lösungsversuchen der Lebensaufgabe (d.h. der Aufgabe, zu leben), um das Auf und Ab der Waage meines Urteilens und Fühlens durch den Wechsel vieler darauf gelegter Gewichte in beweglichem Spielen zu halten und vor dem Einrasten in eigensinniger Dogmatik und Wunschdenken zu bewahren. Damit möchte ich meine etwas vermessene Behauptung rechtfertigen, ich fühlte mich von Ihrem Brief auch da bestätigt, wo Sie mir widerspre-

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chen. Es geht um den Entwurf und die herbeigewünschte Züchtung von Idealtypen menschlicher Lebensbewältigung; wir beide empfinden das Problematische von darein investierter „eigensinniger Dogmatik und Wunschdenken“. Ihnen schwebt als solcher Idealtypus vor eine „ferne Idealgestalt, die eben nicht vorgeformt ist, die geradezu darin besteht, nicht vorgeformt zu sein“. Erstens halte ich das für unmöglich angesichts der unvermeidlichen Vorformung durch implantierende Situationen, die wir beide für unerläßlich halten; zweitens ist es so gut möglich, den nicht vorgeformten wie den vorgeformten Menschen zu züchten. (Mehrfach, z.B. von den Ptolemäern und von Kaiser Friedrich II., soll so etwas in der Weise versucht worden sein, daß man einen Menschen kontaktlos wie Kaspar Hauser aufwachsen ließ.) Ihre Verwahrung gegen das Ansinnen der Züchtung eines Idealtypus ist mir also nicht ganz glaubhaft, wenn Sie gleichzeitig Vorschläge zur Formung des Ungeformten durch erzieherische Enthaltung (z.B. von Einimpfung der Gottesfurcht oder des Glaubens an den Weihnachtsmann) machen. Ich selbst würde nicht unbedingt jemand von der gottesfürchtigen Erziehung seiner Kinder abhalten wollen, vorausgesetzt, daß dabei nicht das Bedrängende, Verschüchternde, Verschrobene, Kleinliche überwiegt; denn die höchst wichtige Weckung des Sinnes für das Numinose und für Pietät kann dadurch wesentlich gefördert werden. 21. Januar 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie wünschen mir für das begonnene Jahr Gedeihen in Klarheit und geben sich auch nach wie vor in dankenswerter Weise Mühe, mir bei diesem Gedeihen zu helfen. In der Tat war und ist es oft sehr schwierig, bei der Thematik, die wir meist verhandeln, zu hinreichender Klarheit zu kommen. Aber gerade diese Herausforderung, die eigenen Vorstellungen jemandem zumindest verständlich zu machen, bei dem man sich insgesamt ziemlich sicher sein kann, dass er sie nicht teilt, ist eine durchaus förderliche, um selbst größere Klarheit über sie zu gewinnen. Ich hoffe, dass dieser Gewinn an Klarheit keine einseitige Angelegenheit ist. Im letzten Brief gehen Sie zunächst auf das Fragezeichen ein, mit dem ich auf Ihr vorgängiges Lob alles „Bunten“, das mir als allzu überschwänglich und undifferenziert erschien, reagiert habe. Das war natürlich ein mehr rhetorisches Fragezeichen. Es überraschte mich deshalb nicht, dass sie daraufhin erklärten, sie seien „weit davon entfernt, jede Buntheit als solche für schätzenswert zu halten.“ Ihrer anschließenden Ausführung, welche Art von Buntheit sie begrüßen, kann ich zwar zustimmen; aber nur, weil sie m.E. unklar genug ist, um unseren grundsätzlichen Dissens, der im Verlaufe unserer Korrespondenz in vielerlei Form und Formulierung immer wieder zu Tage trat, zu verdecken. Wenn Sie sagen, Sie seien gegen offenkundige Missstände, für Vielfalt, gegen Dogmatik und Wunschdenken etc.,

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dann wird jeder, auch ich, Ihnen natürlich zustimmen. Der Hund liegt wohl da begraben, wo Sie von „frei wachsender“ Vielfalt sprechen. Und sofort sind wir wieder im Zentrum unserer Thematik. Wie kann man sich dem annähern, was unter „frei wachsender Vielfalt von Lösungsversuchen [Lösungen?] der Aufgabe, zu leben“ zu verstehen ist. Die von Ihnen erwähnten, legendären Versuche à la Kaspar Hauser halten wir beide für Unsinn, weil wir beide die „implantierenden Situationen“ für so unvermeidlich wie unerlässlich für die Menschwerdung halten. Die Frage wäre doch dann, wie man, falls man vor der Aufgabe steht, die implantierende Situation für ein neugeborenes Kind gestaltet (zunächst einmal abgesehen von der Komplikation, die sich dadurch ergibt, dass auch andere Einflüsse wirksam werden). In aller Regel erfolgt diese Gestaltung „konventionell“, d.h., egal ob unreflektiert oder nach elaborierten pädagogischen Theorien, in der Weise, dass das Kind möglichst so gedeiht, dass es in der jeweiligen Gesellschaft „erfolgreich“ wird. Man wickelt Säuglinge stramm in Tücher, impft ihnen Gottesfurcht ein, beschneidet Genitalien usw. usf.; da gibt es tausende von erprobten Variationen in der Geschichte, auf welche Weise Neugeborene dafür präpariert werden, in der je vorhandenen Kultur („Blut- oder/und Wahngemeinschaft“) zu leben. Gleichwohl gab es Entwicklung und Wandel, und es wird sie gewiss weiterhin geben. Diese Entwicklung wäre jedoch – nach der Epochenschwelle von 1800, die die Geschichte bis dahin als Vorgeschichte „der gleichsam kindlichen Menschheit“ (Hermann Schmitz) erscheinen lässt – vom Prinzip des Wachsens in ein Korsett (starre Panzerung bzw. Fassung / irrationales Über-Ich) sukzessive zu dem eines wahrhaft „freien Wachsens“, orientiert am wachsenden Individuum, zu lenken. Wie ich mir das vorstelle, habe ich allgemein schon mehrmals beschrieben. Die Entwicklung liefe dann auf eine Buntheit zu, die sich so sehr von der Buntheit vor der Epochenschwelle unterschiede wie die langsam beginnende Geschichte der Menschheit von ihrer Vorgeschichte. Das ist natürlich alles sehr allgemein und pauschal gesagt, dürfte aber Ihnen aufgrund unseres langen Gedankenaustausches doch hinreichend verständlich sein. Ihre Vorschläge, also, soweit mir bekannt, konventionelle Erziehung zu größerem Pflichtbewusstsein (nach dessen Erosion) und, auf politischer Ebene, die „Perspektiven nach Hitler“ aus Ihrem Hitlerbuch, erscheinen mir indes der Bedeutung der präzedenzlosen kulturgeschichtlichen Epochenschwelle (von mir nicht an Fichte, sondern an La Mettrie, Stirner und Reich kenntlich), auf der die Entwicklung noch immer in Turbulenzen stagniert, nicht adäquat. 24. Januar 2006 Sehr geehrter Herr Laska, in Ihrem heute eingegangenen Brief vom 21. Januar kann ich höchstens Akzentuierungs- und Beleuchtungsunterschiede, kaum Inhaltsunter-

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schiede unserer Auffassungen von der Aufgabe der Erziehung entdecken. Wir stimmen, wie Sie richtig schreiben, in der Opposition „gegen Dogmatik und Wunschdenken“ überein. Daraus folgt, daß wir gemeinsam „vom Prinzip des Wachsens in ein Korsett (starre Panzerung bzw. Fassung / irrationales Über-Ich)“ nichts halten, obwohl Sie diese Ablehnung für sich (mir entgegen) zu reklamieren scheinen. Gemeinsam sind wir der Meinung, daß die implantierende Situation, in die ein Kind hineinwächst, vom Erzieher gestaltet werden kann und soll. Ein Akzentuierungsunterschied zwischen unseren Auffassungen ergibt sich aber vielleicht bei der näheren Bestimmung dieses Gestaltens. Für mich kann es nie ein Gestalten von Grund aus, sondern nur ein Mitgestalten sein, weil jeder Mensch, auch als Erzieher, von vorn herein in Situationen lebt, deren Bedeutsamkeit er nie vollständig durchschauen und prüfen, wohl aber kritisch mustern und überdenken kann, soweit sich ihm – immer nur teilweise – eine Gelegenheit dazu ergibt. Diese Situationen nach kritischer Überprüfung und entsprechender Modifikation, aber in ungebrochener binnendiffuser Fülle, dem Kind weiterzugeben, ist meines Erachtens das Beste, was der Erzieher zur Entlastung und Förderung des Kindes tun kann. Wenn die Überprüfung ergibt, daß es sich um Wahngemeinschaften handelt, ist das Wahnhafte natürlich auszusondern; wer würde absichtlich sein Kind in Wahn einwickeln wollen? Höchstens kann man in Grenzfällen abwägen, ob der Nachteil plötzlicher Enttäuschung stärker wiegt, besonders, wenn das Auffassungsvermögen des Kindes ihr noch nicht gewachsen ist. So viel zur Rolle des Erziehers. Vom Standpunkt des Kindes aus ist es meines Erachtens nicht so wichtig, ob es in eine wahn- und korsetthafte oder modern bzw. hypermodern (avantgardistisch) aufgeklärte Situation hineinwächst. Entscheidend ist vielmehr, wie es die Herausforderung annimmt und verarbeitet, einen eigenen Standpunkt gewinnend. Wenn es sich von dem Wahn verführen läßt, ist das schließlich seine Sache, genau so, wenn es sich von hypermoderner Lockerheit verführen läßt (augenblicklich bei uns die größere Gefahr). Wenn es sich aber um eine hinlänglich starke Persönlichkeit handelt, wozu nicht einmal die Durchschlagskraft eines durch gar nichts aufzuhaltenden starken Daimons gehört, kommt auf die Ausgangslange nichts Entscheidendes an. Sich von einem Wahn traditioneller Unterwerfung oder lockerer Selbstüberhebung (in hypermodernem Geist die „Würde des Menschen“ als Freibrief beanspruchend) zu lösen, kann schmerzhaft sein, aber dieser Schmerz ist eine Chance zu eventuell fruchtbar überholender Kompensation und zu neuen Lösungen, die implantierende Situationen anknüpfen können. Von der automatisch destruktiven Wirkung psychischer Traumen halte ich gar nichts. Ich liebe das Leben als Herausforderung an die gestaltenden Kräfte des Einzelnen, hauptsächlich bei Mitgestaltung der eigenen persönlichen Situation. Wenn die Persönlichkeit etwas schwach und dieser

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Aufgabe wenig gewachsen ist, kann man immer noch hoffen, ihr durch kritische Begutachtung aufhelfen zu können. Das ist eine Aufgabe der Philosophie, der ich in allen meinen Schriften, besonders etwa im „Hitler“-Buch, nachzukommen suche. An einen scharfen Bruch zwischen einer Vorgeschichte und einer (etwa mit Fichte oder gar mit La Mettrie beginnenden) „eigentlichen“ Geschichte der Menschheit glaube ich aber nicht. Die Menschheit war immer kindlich und soll es bleiben, weil sie sonst vergreisen würde; nur die Herausforderung, sich mit dieser eigenen Kindheit auseinanderzusetzen, ist größer geworden durch Abreißen des Schleiers der Illusion, daß man sich an lauter neutralen, objektiv feststehenden und für jeden gleichermaßen ablesbaren Tatsachen und Normen festhalten könne. 11. Februar 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie schreiben am 24. Januar, dass Sie, meinem vorgängigen Brief vom 21. zufolge, kaum inhaltliche Unterschiede in unseren Auffassungen über Erziehung entdecken können. Anschließend rekapitulieren Sie in Kürze Ihre, schon in früheren Briefen dargelegte Auffassung, und da tritt dann doch wieder der Gegensatz hervor, den wir ebenfalls schon in früheren Briefen festgestellt hatten. Einig sind wir uns wohl in der realistischen Einschätzung der Situation des Erziehers: dass es kein Gestalten der implantierenden Situation, in der das Kind aufwächst, von Grund auf gibt, weil auch der Erzieher (hier von anderen Einflüssen abgesehen) in Situationen lebt … etc.; dass der Erzieher nicht über seine Fähigkeiten hinaus diese Situationen kritisch prüfen und entsprechend modifizieren kann. Wenn Sie dann aber erstaunt fragen, wer denn sein Kind absichtlich in eine Wahngemeinschaft hineinwachsen lassen will, scheint mir das unseren Gegensatz aufzuzeigen. Ich fasse unter dieser – zugegebenermaßen übertrieben klingenden – Bezeichnung der Wahngemeinschaft nicht nur etwa „Zeugen Jehovas“, „Scientologen“ u.ä. Sekten, sondern, woran ich allerdings bisher keinen Zweifel ließ, auch die großen Weltreligionsgemeinschaften und die Großkirchen unserer westlichen, „pluralistisch“ verworrenen Gesellschaften, schließlich auch die teils sehr weltlich sich gerierenden „Ersatzreligionen“ (incl. Ideologien wie etwa der sog. Neoliberalismus), die in deren Zersetzungsprozess (bzw. beim Bemühen, die Epochenschwelle – dazu weiter unten – zu meistern) entstehen und vergehen. Bei den „Sektierern“ ist doch am offensichtlichsten, dass sie ihre Kinder zu unerschütterlichen Mitgliedern ihrer „Sekte“, einer leicht als solche erkennbaren Wahngemeinschaft, machen wollen. Aber auch Erzieher, die meinen, das Beste für Ihre Kinder zu tun, wenn sie sie so präparieren, dass sie später in erster Linie „erfolgreich“ (in Schule, Beruf/„job“) werden, tun im Grunde dasselbe. Deshalb meine ich, dass zur Vorbereitung auf „die Welt“ das Beste, was ein Erzieher tun kann, weitgehende Unterlassung (freilich keine Verwahrlosung) ist,

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beispielsweise, wie schon in früheren Briefen gesagt, der Behauptung, es gäbe einen mächtigen Gott, gar der Einimpfung von Gottesfurcht (darüber bei Anderen wird natürlich später zu reden sein). Ich brauche das jetzt nicht weiterzuführen; Sie kennen ja aus früheren Briefen meinen Vorschlag einer über Generationen durchzuhaltenden „Strategie“ zum sukzessiven Abbau des „irrationalen Über-Ich“. Unsere gegensätzliche Auffassung über Erziehung zeigt sich auch dort, wo Sie sagen, es sei nicht so wichtig, ob das Kind in eine wahnhafte Situation hineinwächst, denn wenn es sich um eine hinlänglich starke Persönlichkeit handelt, wird es dies als Herausforderung nehmen und seinen Weg hinaus finden. Ich meine hingegen, dass in einer solchen Situation hinlänglich starke Persönlichkeiten gar nicht gedeihen können – oder allenfalls solche, die „stark“ genug sind, um von einem Wahn zu einem anderen zu konvertieren. Während Sie von der destruktiven Wirkung psychischer Traumen „nichts halten“ und zur Erzeugung des Sinnes für das Numinose und für Pietät auch das Mittel der Gottesfurcht empfehlen (4.1.2006), neige ich zu der gegenteiligen Auffassung. Noch ein Wort zu der ebenfalls schon mehrmals von mir zitierten Epochenschwelle der Neuzeit aus Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“. Auf S. IX sprechen Sie davon, dass sie das Ende des „bis in die unvordenkliche Vorgeschichte zurückreichenden Zeitalters der gleichsam kindlichen Menschheit“ markiere. Es sei eine Zeit der Unsicherheit gefolgt, die einige Denker durch „Selbstdarstellung“ kompensiert hätten. Diese Unsicherheit sei erst, vermute ich, mit der Ausarbeitung der „Neuen Phänomenologie“ prinzipiell beseitigt. Ob jene Schwelle durch den von Ihnen zitierten Satz Fichtes oder durch die Schicksale meiner drei Heroen charakterisierbar ist, sei hier dahingestellt. Ich frage an dieser Stelle nur, ob es als Widerruf des einst behaupteten Ranges Ihres Unternehmens zu verstehen ist, wenn Sie gegen Ende des letzten Briefes schreiben: „Die Menschheit war immer kindlich und soll es bleiben …“ – Dass die Menschheit, aus einer Reihe von hier nicht zu nennenden Gründen, an jener Epochenschwelle scheitern und sie nicht überschreiten wird, scheint mir sicher. Das ist jedoch für mich kein Grund, deren Existenz zu leugnen. 21. Februar 2006 Sehr geehrter Herr Laska, Ihren Brief vom 11. Februar habe ich ein paar Tage liegen gelassen, um erst einmal das Nietzsche-Kapitel meiner in Arbeit befindlichen zweibändigen Geschichte der Philosophie zu Ende zu führen, nachdem ich seit Anfang des Jahres durch allerlei auch nützliche Auftragsarbeiten abgelenkt war. Wenn ich den Brief jetzt wieder zur Hand nehme, muß ich feststellen, daß ich mit Ihrer Rede von Wahngemeinschaften so wenig anfangen kann wie früher mit dem rationalen Überich. Jener Begriff ist mir gar zu polemisch und summarisch. Was nennen Sie „Wahn“? Sicherlich gibt es echte

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Wahngemeinschaften, in die Kinder hineingezogen werden, ohne daß im Allgemeinen die Erzieher ihnen absichtlich den als solchen durchschauten Wahn verkaufen werden. Aber was hat das mit Neoliberalismus zu tun? Die Legierung von Religion mit Metaphysik gilt auch mir als abbauwürdig; in dem Buch „Begriffene Erfahrung“ (Rostock 2002) habe ich einen Aufsatz „Religion ohne Metaphysik“ veröffentlicht. Mein Doktorvater Rothacker stellte den Satz auf: „Kulturen sind Lebensstile.“ Wollen Sie alle Lebensstile in den Topf der Wahngemeinschaften stecken? Der Sache nach handelt es sich, wie ich mich auszudrücken pflege, um gemeinsame zuständliche Situationen mit integrierender binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen. Der Nomos, der Gehalt an Programmen, ist meist gewichtiger als der Anteil der Sachverhalte oder Überzeugungen. Das gilt sogar für den rheinischen Katholizismus. Von den Großkirchen ist mindestens die protestantische durch Kritik schon ziemlich abgebrüht gegen Metaphysik; übrig bleibt ein Lebensstil, an dem man auch die Unsicherheit, wenn sie ehrlich ist, respektieren kann. Den Islam sehe ich dagegen sehr kritisch, weitgehend mit Abscheu, aber weniger wegen der wahnhaften Metaphysik als wegen der sie fundierenden Richtung des Lebenswillens, der den Nomos bestimmt. Mit Ihrer Behauptung, daß hinlänglich starke Persönlichkeiten sich nicht aus den implantierenden Situationen so weit herausarbeiten können, wie für eigene fruchtbare Lösungen nötig ist, kann ich gar nichts anfangen. Meine Auffassung, daß die Menschheit immer kindlich bleiben muß, solange sie nicht greisenhaft erstarrt, beruht auf der Überzeugung, daß echte personale Regression zur Selbstfindung unentbehrlich ist. Ich habe das Weinen so charakterisiert: Der Mensch weint, wenn er sich unter dem Druck des übermächtigen affektiven Betroffenseins auf einem Niveau personaler Emanzipation nicht halten kann und daher in Richtung auf primitive Gegenwart fallen läßt, ohne in ihr zu versinken, indem er an ihr vorbei, sich ausweinend, eine noch nicht festgelegte Zwischenlage erreicht, aus der ein neues Niveau personaler Emanzipation geformt werden kann. (Deswegen ist das Weinen geschichtlich, im Gegensatz zum Lachen, das von der Zuversicht getragen wird, auf das alte Niveau personaler Emanzipation zurückkehren zu können.) Nehmen Sie die Nebenerscheinungen des Weinens, wie Geräusche und Tränen, weg, was übrig bleibt, ist die Struktur, die ich „kindlich“ nenne und für unerläßlich halte, um lebendig zu bleiben. Der Mensch darf nicht unter allen Umständen den Kopf oben behalten wollen, auch nicht als virtuoser „Wellenreiter“, so wichtig das Bemühen zu immer wieder auszutarierendem Gleichgewicht auch ist. Daran ändert die Herausforderung durch die Entdeckung seit Fichte, daß nicht alle Tatsachen homogen objektiv und neutral sind, daß man an keiner Tafel für alle ablesen kann, wer ich bin und was ich soll, gar nichts; vielmehr entfallen gewisse

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naive Sicherheiten, und der Mensch wird freier dafür, in der Weise der formalen Struktur des Weinens kindlich zu sein und sich dadurch zu erneuern. 10. März 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, es freut mich zu lesen, dass Sie an einer größeren („zweibändigen“) Geschichte der Philosophie arbeiten. Falls Sie bei dieser Arbeit chronologisch vorgehen, haben Sie also, da Sie, wie Sie schreiben, bei Nietzsche angelangt sind, die große „Epochenschwelle“ bereits behandelt. Sie ist ja des öfteren ein Themenpunkt in unseren Briefen gewesen, so auch in den letzten. Ich hatte mich am 11.2., im letzten Absatz meines Briefes, noch einmal auf Ihre Vorrede zu Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ bezogen und mein Verständnis dessen formuliert, was sie dort, S. IX, 2. Abs., sagen und auf S. 419 mit einem Selbstzitat bekräftigen: dass die (europäische) Menschheit durch Fichtes Entdeckung der Subjektivität – dass ich hier andere Namen und Ereignisse der Geistesgeschichte nennen würde, tut im Moment nichts zur Sache – in eine „Reifungskrise [geriet], durch die den Menschen zum zweiten Mal die Augen aufgetan werden.“ Das erste Mal, erläutern Sie, sei der mythische Sündenfall gewesen. Mit Fichtes Entdeckung der Subjektivität sei der Ausgang der Menschheit aus der Kindheit in eine unruhige Pubertätszeit erfolgt, und von Ihrer Entdeckung der subjektiven Tatsachen erwarten Sie, wie Sie auf S. 427 schreiben, den Ausgang aus den pubertären Wirren „der (rezessiven) Entfremdung und der Selbstdarstellung“ in ein doch wohl „erwachsenes“ Zeitalter, in dem allerdings das „Ringen mit der Problematik der Subjektivität“ nicht verschwinden werde. Wenngleich diese Ihr Buch einleitenden und abschließenden Passagen im Haupttext nur noch latent vorhanden zu sein scheinen, sind sie selbst mir doch deutlich und kraftvoll genug, um festgehalten und hervorgehoben zu werden, zumal sie doch implizit auch den Ort und Rang bestimmen, den Sie Ihrer „Neuen Phänomenologie“ zumessen, jedenfalls damals, Mitte der 90er Jahre, zugemessen haben. Diese Idee/Vision einer Epochenschwelle (einstufig = Fichte oder zweistufig = Fichte & Schmitz), deren Überschreiten vergleichbar wäre mit dem „Sündenfall“, die Vision einer zweiten und höheren Menschwerdung sozusagen, oder eben auch einer pubertätsanalogen Reifungskrise der Menschheit von der Kindheit zum Erwachsensein, erschien mir als eine in unserer doch etwas flachgeistigen und auch im philosophischen Bereich nur noch hektisch betriebsamen Zeit als großartige Kühnheit. Doch schon wenige Jahre später, bei Ihrem Hitlerbuch, fragte ich mich, als ich die Schlusskapitel sah, wo jene Vision geblieben ist. Und kürzlich las ich in Ihrem Brief vom 24.1., die Menschheit sei immer kindlich gewesen und solle es bleiben. Ich fragte zurück und lese, in Ihrem Brief vom 21.2., erneut, „dass die Menschheit immer kindlich bleiben muss, solange sie nicht greisenhaft erstarrt.“ Von einer zu durchle-

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benden Pubertät und einem darauf folgenden Erwachsenenalter ist keine Rede mehr: Der nach wie vor kindlichen Menschheit drohe sogar, falls sie sich weiter entwickle, der abrupte Sturz ins Greisenalter, in Erstarrung und Tod. Dem entspricht auch, dass Sie am Schluss Ihres Hitlerbuches, angesichts von Zerfall und Zersetzung, ein politisches und pädagogisches „Zurück, marsch, marsch!“ ausrufen. – Mir ist durchaus klar, dass angesichts der Vorgänge, die in den letzten Jahrzehnten zu registrieren waren, jene Vision nicht als eine optimistische Prognose aufrechtzuerhalten ist. Deshalb schloss ich meinen letzten Brief in diesem Sinne: dass die Menschheit die Epochenschwelle nicht übersteigen wird, sei für mich kein Grund, diese zu leugnen. Sie gingen in Ihrer Antwort auf diesen Komplex überhaupt nicht ein, sondern erläuterten stattdessen, was Sie – neuerdings – unter „kindlich“ verstehen: die Fähigkeit zu echter personaler Regression. Darüber – und über die zentrale Bedeutung der „orgastischen Potenz“ (vermutlich in etwa diese Fähigkeit) bei Reich – haben wir ja in früheren Briefen ausgiebig gesprochen. Dabei ging es aber doch immer um das Zukünftige, das durch Erziehung oder angemessene Enthaltung von ihr zu Erzeugende. Wenn Sie meinen, das „Kindliche“, dessen Erhalt „unerlässlich sei, um lebendig zu bleiben“, beziehe sich auf den Einzelmenschen, stimme ich Ihnen natürlich zu. Das führte zu der Formel: das Kindliche im Menschen bewahren, damit die Menschheit ihre Kindheit hinter sich lassen kann. Aber ich vermute, dass dies nicht dem entspricht, was Sie in Ihren letzten Briefen meinten. – Dass mein Begriff von den „Wahngemeinschaften“ polemisch und summarisch ist, wie Sie monieren, habe ich doch unmittelbar eingeräumt und erläutert. 15. März 2006 Sehr geehrter Herr Laska, mir scheint, daß wir nicht nur unter „Kindheit“ („Kindlichkeit“), sondern auch unter „Erwachsenheit“ Verschiedenes verstehen. Ihnen scheint so etwas wie eine stabile Vernünftigkeit vorzuschweben, als ein Zustand, der einmal in der Menschheit oder wenigstens einer Elite Stirner’scher „Eigner“ normal werden könnte; vielleicht ist so der rätselhafte Ausdruck „rationales Überich“ (ich würde dann allerdings eher erwarten: „rationales Ich“) zu verstehen. Ich dagegen sage lieber „Erwachsendheit“ statt „Erwachsenheit“. Das Erwachsen, d.h. der Aufbruch aus dem Leben in primitiver Gegenwart in die Personalität, gilt mir als ein steten Anfangens bedürftiger Prozeß labilen Ausgleichs zwischen personaler Emanzipation und affektivem Betroffensein, als eine Art Spagat zwischen Verkindischung und Vergreisung, zwischen Fassungslosigkeit und starrer Fassung. Die Lebenskunst des „Wellenreiters“ vermag eine gewisse Virtuosität des Umgangs mit dieser Zwischenlage, aber reicht dafür nicht aus, denn wenn man sich gar zu sehr auf sie verläßt und an sie gewöhnt, wird sie selbst, die eigentlich

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der starren Fassung vorbeugen soll, zu einer starren Fassung und damit ein Weg zur Vergreisung. Der Übergang der Menschheit aus der Kindheit in die Pubertät durch Entdeckung der strikten Subjektivität, wovon ich in der Vorrede von „Selbstdarstellung als Philosophie“ spreche, ist weiter nichts als die Belastung mit einer erhöhten Verantwortung des Menschen für sich selbst durch „Platzen“ der „kindlichen“ Illusion, es stünde ganz neutral an sich schon fest, wer er ist und was er soll. Ich kann das kaum besser umschreiben als mit zwei Zeilen aus einem Sonett von Rilke, die ich Ihnen schon einmal zitiert habe: Wir sind frei. Wir wurden dort entlassen, Wo wir glaubten, erst begrüßt zu sein.

Diese Ausgesetztheit aus dem kindlichen Vertrauen auf eine Geborgenheit im Objektiven in eine Überlassenheit des Menschen an sich selbst ist nicht zugleich eine neue Könnerschaft, etwa durch Vernunft. Es gibt keine absolute Vernunft, sondern, was vernünftig ist, muß jeweils erst gefunden und eingeübt werden, wobei man nur mit Hölderlin hoffen kann: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

In Goethes Epos „Hermann und Dorothea“ zitiert Dorothea aus der Abschiedsrede ihres Bräutigams, der nach Ausbruch der Französischen Revolution aus Begeisterung für die Freiheit nach Paris ging und dort den Tod fand: Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts Lösen in Chaos und Nacht sich auf, und neu sich gestalten. Du bewahrst mir dein Herz, und finden dereinst wir uns wieder Über den Trümmern der Welt, so sind wir erneute Geschöpfe, Umgebildet und frei und unabhängig vom Schicksal.

An eine solche Erneuerung zur Unabhängigkeit vom Schicksal glaube ich nicht, sofern „persönliches Schicksal“ verstanden wird wie in meinem Buch „Die Person“ S. 502: als „Umgestaltung persönlicher Situationen, bei der sich einer Explikation durch personale Regression auf primitive Gegenwart hin – z.B. durch Schreck, Erschütterung oder engendes Betroffensein anderer Art – eine Implikation in der Erinnerung als einheilende Verarbeitung des Explizierten anschließt“. Solches Schicksal wird immer unberechenbar bleiben; der neue Mensch aus der Vision des scheidenden Bräutigams, der von dieser Unberechenbarkeit unabhängig wäre, wird auch aus der mit Fichte anhebenden Krise nicht geboren werden. Das nach möglicher Überwindung der Reifungskrise zu erhoffende neue Zeitalter wird in erster Linie dadurch bestimmt sein, daß dem Menschen im Verhältnis zu sich mehr aufgeladen ist als früher, und man kann höchstens hoffen, daß daran seine Kräfte wachsen, aber wie und wofür, wird er selber entdecken müssen.

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Wohl wird das Leben mit zunehmender Reifung und Erfahrung des Individuums leichter, weil mehr Niveaus der personalen Emanzipation und Regression als latente Zwischenstufen für Reaktionen auf Herausforderungen eingebaut werden und die personale Regression nicht mehr so wie beim Jüngling einem Sprung in den Abgrund gleicht, aber vor dieser Erleichterung muß man auch auf der Hut sein, weil sie sonst über die Verfestigung zur Erstarrung führt. Der „frohe Adelsmensch“ (Rosmer bei Ibsen) wird das Problem des Lebenkönnens nicht lösen. 2. April 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, wenn ich in den Briefen der letzten Zeit – aber auch schon mehrmals früher – von der „Kindheit der Menschheit“ gesprochen habe, dann habe ich mich immer auf Ihre Vorrede zu Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ bezogen, insbesondere auf deren Anfang, also die Seite IX, und weitere Ausführungen auf den S. 419ff. Dort nennen Sie als Charakteristikum der Kindheit, dass der in einem sozialen Verband aufwachsende Mensch u.a. aus dem, was man ihm „mit genügender Eindringlichkeit vom lieben Gott, vom Weihnachtsmann, von Märchenwelten usw. erzählt“, ein unbefragtes, als selbstverständlich hingenommenes Gefühl der Zugehörigkeit entwickele. Die Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit löse sich „häufig“ (!) in der Pubertät auf, und die dabei entstehende Unsicherheit werde durch ein gesteigertes Bedürfnis nach Selbstdarstellung kompensiert, das sich aber mit dem Austritt aus der Pubertät in die Erwachsenheit verliere. Direkt anschließend sprechen Sie, in Bezug auf die europäische Menschheit, von einer „Schwelle gleicher Art“ und von einem „Schnitt …, der tiefer ist als irgend ein anderer seit Demokrit und Platon“. Die Schwelle bzw. Zäsur datieren Sie zwischen Kant und Fichte. Im gleichen Atem sprechen Sie sogar von dem „bis in die unvordenkliche Vorgeschichte zurückreichenden Zeitalter der gleichsam kindlichen Menschheit.“ Auf S. 423f., nach ausgiebiger Besprechung der menschheitspubertären Philosophen der Selbstdarstellung, geben Sie an, dass diese Zeit jetzt abgelaufen sei: die europäische Tradition der begrifflich streng geleiteten analytischen Besinnung, die sich jahrtausendelang vom introjektionistischen Reduktionismus in die Irre führen lassen habe, sei an einem Wendepunkt angekommen, und zwar durch die Neue Phänomenologie. Immer, wenn ich diese kraftvollen Stellen angesprochen habe, haben Sie sie heruntergespielt, geglättet, moderiert. In Ihren Briefen war keine Rede mehr von präzedenzloser Epochenschwelle, kultureller Zäsur, philosophischem Wendepunkt. Und auch im letzten Brief erklären Sie, es handele sich um „weiter nichts [!] als die Belastung mit einer erhöhten Verantwortung des Menschen für sich selbst“ – was mir als eine ziemlich blasse Formel und auch mit den angefügten Erläuterungen eher als Rückzieher

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erscheint. Sie vermuten richtig, dass für mich die Wahrnehmung und Deutung dessen, was geistesgeschichtlich in der europäischen Menschheit seit Beginn der Neuzeit vor sich geht, eng mit meinem Konzept des „rationalen Über-Ich“ – oder auch, was Sie passender fanden: „rationales Ich“ – verbunden ist. Dass Sie dieses, nach all unseren Diskussionen, weiterhin bloß als „rätselhaften Ausdruck“ (also als meine Chimäre, Marotte, fixe Idee) ansehen, scheint mir mit Ihrer Argumentationsweise in der Frage der Epochenschwelle zu korrespondieren. Nicht zutreffend sind dagegen Ihre weiteren Vermutungen: 1) dass mir als Utopie etwas vorschwebe, was Sie als (statische) Erwachsenheit, im Gegensatz zur (dynamischen) Erwachsendheit, bezeichnen – oder auch, etwas polemisch, als Vergreisung der Menschheit; 2) dass ich Stirner’sche „Eigner“ als Elite einer zukünftigen Menschheit ansähe (als Avantgarde, wäre ich Utopist, hingegen sehr wohl). Wie ich Ihnen schon schrieb, mache ich mir aber meine Gedanken nicht, um der Menschheit den Weg zu weisen. Mir geht es um Selbstaufklärung, und meine Schriften sind Protokolle dieser Selbstaufklärung, publiziert in der – aus Erfahrung allerdings stark reduzierten – Hoffnung, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die dem gleichen Impetus folgen. Dabei brauche ich Ihnen wohl nicht zu versichern, dass ich die Bedeutung meiner Gedanken mit einer ihnen unangemessenen Bescheidenheit einschätze. Ich hielte meine Entdeckung der Schlüsselrollen, die La Mettrie, Stirner und Reich für das Verständnis des Scheiterns bzw. des Pyrrhussieges der neuzeitlichen Aufklärung für den – potentiellen – Wendepunkt, als den Sie Ihre Neue Phänomenologie ansehen – wenn ich denn abstrahierte 1) von der höchst unwahrscheinlichen Bereitschaft derer, die es fachlich könnten, sie zu beurteilen; und 2) falls sie es doch täten, von der praktischen Möglichkeit, den kulturellen Verfall, den weit fortgeschrittenen Prozess der kulturellen Selbstaufgabe Europas aufzuhalten und gar zu revidieren. 4. April 2006 Sehr geehrter Herr Laska, in Ihrem Brief vom 2.04. zitieren Sie teilweise unrichtig aus meinem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“. Auf S. IX wollen Sie gelesen haben, daß sich das gesteigerte Bedürfnis nach Selbstdarstellung „mit dem Austritt aus der Pubertät in die Erwachsenheit verliere“. Ich finde dort aber nichts über Erwachsenheit nach der Pubertät. Auf diese in dem Buch meines Wissens nicht thematisierte Erwachsenheit scheinen Sie eine Stelle auf S. 423f. zu beziehen, wo ich von einem Wendepunkt spreche, an dem sich der „jahrtausendelang vom introjektionistischen Reduktionismus in die Irre geführten“ analytischen Besinnung „im Zeichen der Neuen Phänomenologie die Fülle der Gegenwart erschließt“. Damit meine ich den Spielraum personaler Emanzipation und personaler Regression zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart; den Ertrag der Neuen Phänomenologie

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für das menschliche Lebenkönnen sehe ich darin, daß dieser Spielraum der begreifenden Besinnung zugänglich gemacht wird, mit dem Erfolg, daß der Verflachung und Verdünnung durch Zeitverbrauch im Auswechseln angebotener Module die Chance einer Verdichtung und Intensivierung des Lebens in der Gegenwart abgewonnen wird; daher mein Buchtitel „Der Spielraum der Gegenwart“ von 1999. Mein Mißtrauen gegen Ihr Ideal des rationalen Ichs – oder gar des rationalen Über-Ichs, was im Munde eines Stirner-Adepten ganz unglaubwürdig klingt – beruht auf der Sorge, daß dieser Spielraum durch Versteifung auf Rationalität oder auch nur auf die virtuose Wendigkeit des „Wellenreiters“ zugedeckt werden könnte. Damit will ich nichts zu Gunsten von Irrationalität (gegen Rationalität) und nichts gegen den Typ des Wellenreiters – eine von mir erfundene Metapher – gesagt haben, sondern nur etwas gegen Versteifung. Wo immer ein neuer Mensch heraufbeschworen wird, der im Sinne des Ex-Bräutigams der Dorothea in Goethes Epos „unabhängig vom Schicksal“ sein will, vermute ich solche Versteifung. Stirners Ideal des Eigners ist in diesem Sinne zweideutig: Es kann gemeint sein, daß der Mensch als Eigner auf sich angewiesen ist, um herauszufinden, wer er ist und was er soll, und das nicht mehr an objektiven Tatsachen ablesen kann; das wäre in der Tat die Lehre des Reifungssprunges, dessen Absprung ich bei Fichte ansetze. Bei Stirner wird diese Bedeutung aber zugedeckt von dem überhöhten Anspruch, daß der Eigner auch unabhängig und autonom sei. (Hier wird Stirner unversehens zum Kantianer über Kant hinaus.) Diese Überhöhung ist Versteifung. Eine ähnliche vermute ich in Ihrem „rationalen Ich“. Durch den „zweiten Sündenfall“ bei Fichte, dessen Nachfolger Friedrich Schlegel und dessen Radikalisierer Stirner werden, wie ich in jenem Buch geschrieben habe, den Menschen zum zweiten Mal die Augen aufgetan, aber, wie beim ersten Mal, beim Sündenfall, werden die Probleme dadurch nur größer, weil die Verantwortung lastender wird. Das braucht kein Grund zur Entmutigung zu sein, denn oft wachsen mit den Lasten auch die Kräfte; in diesem Sinn habe ich in meinem vorigen Brief eine Stelle aus Hölderlins „Patmos“ zitiert. 23. April 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie monieren am 4.4., ich hätte von der Seite IX Ihres Buches „Selbstdarstellung als Philosophie“ teilweise unrichtig zitiert, meinen aber dann wohl, ich hätte die Textstelle bloß anders aufgefasst als Sie sie gemeint haben. Sie haben gewiss recht, dass ich ein bisschen extrapoliert habe: nachdem Sie vom Zeitalter der gleichsam kindlichen Menschheit sprechen, dann vom Heranwachsenden (ich schrieb: Pubertierenden) mit einem gesteigerten Bedürfnis nach Selbstdarstellung (als Folge des Verlusts der kindlichen Geborgenheit), habe ich, in Übernahme Ihrer Analogie, von der Erwachsenheit geschrieben. Nun protestieren Sie, und Sie haben wohl recht, dass

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Sie in dem Buch die Erwachsenheit nicht ausdrücklich thematisieren. Aber wenn Sie, nach Luther, Kant et al. (als noch der kindlichen Ära angehörend) und Nietzsche, Wittgenstein et al. (als schon der nachfichteschen pubertären Selbstdarsteller-Ära angehörend) Ihre „Neue Phänomenologie“ nennen, dann liegt es doch nahe anzunehmen, dass Sie damit sagen wollen, dass damit der Ausgang aus der pubertären Ära geschafft sei. Und welchen Sinn kann die Rede über Kindheit und Pubertät haben, wenn nicht eine Erwachsenheit auf sie folgte? Ob man dann von einem „Schnitt“ („tiefer als irgendein anderer“ um das Jahr 1800, Seite IX) oder einem „Wendepunkt“ (nach Jahrtausenden der Irreführung durch den introjektionistischen Reduktionismus, Seite 423f.) spricht, oder ob man eine „Schwelle“ annimmt (Seite IX), die man sich von ca. 1800 bis ca. 2000 denken kann, erscheint mir nicht so wichtig. Ich verstehe also nicht, warum Sie, am Anfang Ihres Briefes, gegen meine Formulierung „Austritt aus der Pubertät in die Erwachsenheit“ Einspruch erheben. Zuvor hatten Sie ja schon zu erläutern versucht, warum Sie statt Erwachsenheit lieber Erwachsen-d-heit sagen: um den dynamischen, lebendigen, unfertigen Aspekt zu betonen. Unklar blieb mir dabei, ob Sie für die Erwachsendheit auch ein Nachlassen, gar ein Ende, vorgesehen haben, insbesondere, nachdem Sie explizit erklärt hatten, „dass die Menschheit immer kindlich bleiben muss, solange [damit?] sie nicht greisenhaft erstarrt“ und „um lebendig zu bleiben“ (Brief vom 21.2.2006). Aber ungeachtet dessen, dass mir manche Ihrer Aussagen nicht verständlich waren oder nicht miteinander vereinbar schienen, habe ich mir doch, auch aufgrund unserer langjährigen Korrespondenz, ein gewisses stimmiges Gesamtbild Ihrer Vorstellungen machen können. Dabei hat sich mir der Eindruck aufgedrängt, dass Sie, wie ich schon im letzten Brief schrieb, die Position, die Sie 1995 in der Vorrede zu „Selbstdarstellung als Philosophie“ skizzierten, inzwischen preisgegeben haben – was auch der Grund für unsere Verständigungsschwierigkeiten in den letzten Briefen zu sein scheint. Sie sagen, mit Bezug auf mein Konzept des „rationalen Über-Ichs“, Sie hätten nichts gegen Rationalität, aber befürchteten, dass durch den damit ausgestatteten „Neuen Menschen“ (wie oft gesagt: allenfalls ein fernes Ziel) der „Spielraum der Gegenwart“ ruiniert werde: durch „Versteifung auf Rationalität“ oder aber auch durch eine virtuose Wendigkeit – des „Wellenreiters“ –, die in der Routine ebenfalls erstarre bzw. einer Versteifung erliege. Auch hier meine ich ungefähr zu verstehen, was Sie meinen. Und natürlich bin auch ich gegen solcherart Versteifung. Aber ich bin der Auffassung, Versteifung war dem „Alten Menschen“ habituell, nicht den Neugeborenen, sondern den Enkulturierten, den Erwachsenen aller Kulturen. Gleichfalls kann ich Ihre Behauptung, der Stirnersche Eigner sei aufgrund des überhöhten Anspruchs, „unabhängig und autonom“ zu sein, ein Opfer von „Versteifung“, nicht akzeptieren. Wie schon gelegentlich konzediert, kann

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man das aus Stirners Buch herauslesen, aber das Buch war großteils eine schnell hingeschriebene Polemik vornehmlich gegen die „frommen Atheisten“ Feuerbach und Bauer; und man kann ihm auch ein produktives Konzept entnehmen. Die „Autonomie“ und „Unabhängigkeit“ des Eigners (mit rationalem Über-Ich) bezieht sich nicht auf „Alles“, sondern in erster Linie auf das, was in der Wahngemeinschaft als heilig gilt. 25. April 2006 Sehr geehrter Herr Laska, Ihre Vermutung, daß ich die Position des Buches „Selbstdarstellung als Philosophie“ von 1995 irgendwie preisgegeben hätte, geht sicherlich fehl. Vielleicht haben Sie in meine damaligen Formulierungen etwas hineingelesen, was nicht gesagt und nicht gemeint war. Ich habe schon im vorigen Brief auf die Überzeichnung zu Seite IX aufmerksam gemacht. Sie rechtfertigen diese mit der in eine rhetorische Frage gekleideten Behauptung, daß die Rede von Kindheit und Pubertät ohne Aussicht auf eine folgende Erwachsenheit keinen Sinn habe. Nun gut, aber darin unterscheiden wir uns, was im Fall der Menschheitsentwicklung unter solcher Erwachsenheit zu verstehen ist. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist diese als (auch nur entfernte) Erwachsenheit für Sie eine neuartige Virtuosität; für mich ist sie eine Bewährungsprobe. Deswegen sehe ich auch keinen scharfen Schnitt zwischen postfichteanischer Pubertät und postschmitzeanischer Erwachsenheit, denn die Bewährungsprobe fängt mit der Pubertät an und währt in der Erwachsenheit (daher „Erwachsendheit“) fort, ohne durch ein definierbares Rezept künftiger Lebensführung, einen neuen Typ der Virtuosität des Menschseins, in vorhersehbarer Weise abgefangen werden zu können. Um das zu verdeutlichen, habe ich 1995 vom ersten und zweiten Sündenfall gesprochen. Was die Schlange dem ersten Menschenpaar im Paradies beibrachte, war die Fähigkeit, Maßstäbe für Gut und Böse (oder Schlecht) zur Kenntnis zu nehmen, um die Berechtigung von Einzelfallentscheidungen daran prüfen zu können. Dieser Reifungsschritt war erkauft mit der Schwere eigener Verantwortung, ein diesen Maßstäben gemäßes Verhalten selbst zu finden, statt sich Schritt für Schritt von Gott oder einer anderen Autorität führen zu lassen und dadurch in paradiesischer Verantwortungslosigkeit zu existieren. Der zweite Sündenfall versetzt den Menschen in die Lage, daß er auch die Maßstäbe nicht mehr irgendwo als gegebene ablesen, sondern deren Legitimität an der eigenen Erfahrung prüfen und aus ihr schöpfen muß. Durch diesen weiteren Reifungsschritt wird die Orientierung, die Verantwortung und damit das Leben erneut schwieriger, was aber nicht bloß ein Unglück zu sein braucht, denn mit der Herausforderung können die Kräfte wachsen, wie es schon dem postadamitischen Menschen beschieden gewesen ist. Der vermehrte Druck kann zu neuen, unvorhersehbaren Lösungen der Aufgabe des Lebenkönnens führen. Die Neue

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Phänomenologie ist ein Versuch, solche Lösungen vorzubereiten, indem der Spielraum möglicher Erfahrungen von Gegenwart für begriffliche und sprachliche Rechenschaft besser ausgeleuchtet wird. Vorwegnehmen kann die Neue Phänomenologie solche Lösungen aber nicht. Es können auch virtuose darunter sein. Vor gelingender Virtuosität des Lebens habe ich großen Respekt, aber so etwas wäre ein Ereignis, das nicht als Typ vorweggenommen werden kann. Der mühsam errungenen Virtuosität des Lebenskünstlers Goethe fehlt die Intensität, die sich Kleist durch sein Unglück erkaufte. Die Schwere und der Ernst dieser Problematik wird von der Bedenkenlosigkeit eines Lamettrie in lächerlicher Weise exemplarisch verkannt. Friedrich der Große verdient alle Achtung dafür, daß er ihn als Hofnarren nicht nur duldete, sondern sogar respektierte. 18. Mai 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, Ihre im letzten Brief (25.4.) im Zusammenhang unserer Diskussion über eine wünschenswerte Menschheitsentwicklung geäußerte Vermutung, mir schwebe als „Erwachsenheit“ der Menschheit ein früher oder später zu erreichender Endzustand vor, der durch eine „neuartige Virtuosität“ des Menschseins (die von mir schon heute konzipiert sei?) gekennzeichnet ist, kann ich nicht beglaubigen. Ich sehe, wie Sie, in solcher Erstarrung keinen Idealzustand, kann mich aber deshalb Ihrer am 21.2. geäußerten Auffassung, „dass die Menschheit immer kindlich bleiben muss“, um nicht zu erstarren, nicht anschließen. Überhaupt verwirren mich in letzter Zeit Ihre brieflichen Bezeichnungen der großen Epochen der bisherigen Menschheitsentwicklung, für die ich mich immer an das schon oft herangezogene Vorwort zu Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ hielt. Am 25.4. schreiben Sie von postfichteanischer Pubertät, was mit dem im Buch Gedruckten übereinstimmt; aber dann hieße doch kindlich = präfichteanisch. Andererseits schreiben Sie im gleichen Satz von einer postnietzscheanischen Erwachsenheit – so als habe Nietzsche die pubertäre Epoche beendet und zur Erwachsenheit übergeleitet. Aus Ihren gedruckten Schriften, deren neueste ich allerdings nicht alle gelesen habe, meinte ich entnehmen zu können, dass Sie sich selbst als denjenigen betrachten, der mit der Neuen Phänomenologie wenn nicht den Eintritt, so doch zumindest wichtige Voraussetzungen für den Eintritt in die Epoche der Erwachsen-d-heit geschaffen habe. Andererseits schreiben Sie, dass kein „scharfer Schnitt“ zwischen Pubertät und (kindlich bleibender?) Erwachsenheit bzw. Erwachsen-d-heit besteht … Wie dem auch sei – gegen Ende des Briefes kommen Sie erneut auf das zu sprechen, was wohl der wichtigere Punkt ist: dass künftige Formen des menschlichen Lebens nicht heute von großen Geistern sozusagen am grünen Tisch entworfen und dann gezielt verwirklicht werden können. Ich

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habe, weil Sie dies schon des öfteren betont haben, den Eindruck, dass Sie mir mit dieser Auffassung im Kern zu widersprechen meinen. Das ist aber nicht der Fall. Ich bin, wie ich schon oft und auf verschiedene Weise darzustellen versucht habe, im Gegenteil der Auffassung, dass zwar mit dem neuzeitlichen Epochenbruch – ob Fichte oder meine drei Autoren als kennzeichnende Schlüsselfiguren gelten mögen, kann für den Moment außer Betracht bleiben – ein „Neuer Mensch“ auf der welthistorischen Agenda steht, dass aber dieser nicht positiv vom „Alten Menschen“ zu entwerfen ist. Der Alte Mensch sollte nur das ihm Mögliche tun – den Spielraum, den er hat, nutzen – um zu vermeiden, dass er sich unverändert in seinen Kindern reproduziert. Ein Beispiel habe ich, ebenfalls schon öfter, aus genannter Vorrede zitiert: dort sagen Sie, dass „man“ dem Kinde „mit genügender Eindringlichkeit vom lieben Gott, vom Weihnachtsmann, von Märchenwelten usw. erzählt“ und auf diese Weise „Zugehörigkeit“ gestaltet. Ich kann hier vielleicht darauf verzichten, die direkte oder indirekte Schädlichkeit einer solchen „implantierenden Situation“ für die Herausbildung eines Menschen aufzuweisen, der, wie Sie schreiben, durch den „zweiten Sündenfall“ in die Lage versetzt ist, die Legitimität der Maßstäbe seines Handelns selbst zu begründen, sie aus eigener Erfahrung zu schöpfen und an ihr zu überprüfen. Gott, Weihnachtsmann und Märchen haben nun mittlerweile stark an Bedeutung verloren; ich sprach deshalb immer allgemein vom irrationalen Über-Ich, das dafür steht, dass das Kind, auch schon bevor ihm etwas erzählt werden kann, großteils automatisch und unbewusst, im Sinne des Alten Menschen zugerichtet wird, sowohl „psychisch“ als auch „somatisch“. Hier sehe ich die Problematik der „implantierenden Situation“, die zwar unvermeidlich und auch unverzichtbar zur Entwicklung (Beispiel Sprache) ist, aber nach dem „zweiten Sündenfall“ sukzessive, unter Nutzung des bestehenden Spielraums, von ihren impliziten Noxen sozusagen gereinigt werden sollte. Daraus resultiert nicht die Zukunftsvision einer vollendet „erwachsenen“ Menschheit, sondern eher die einer Entwicklung, die sich gleichsam asymptotisch einer nie erreichbaren Linie nähert. Sie ist, nach allem Beobachtbaren, jedoch äußerst unrealistisch – ist sie deshalb unsinnig? 20. Mai 2006 Sehr geehrter Herr Laska! Ihre Verwirrung über Verfassernamen in meinem Brief vom 25. April (Ihr Brief vom 18. Mai) beruht auf einer Verlesung. Ich habe in dem Brief von „postschmitzeanischer Erwachsenheit“ geschrieben; Sie haben „-schmitz-“ als „-nietzsche-“ gelesen. Am Ende des ersten Absatzes Ihres Briefes stehen drei Punkte; ist das die Andeutung eines Vermissens von Klarheit oder Stimmigkeit? Ich bin mir in dieser Hinsicht keiner Schuld bewußt.

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Zur zweiten Hälfte Ihres Briefes kann ich wenig Neues mehr sagen. Selbstverständlich stimme ich Ihnen zu, daß man Erziehungsschäden vermeiden und die Erziehung auf „postschmitzeanische Erwachsenheit“ ausrichten soll, damit die Menschen der Herausforderung durch diese Bewährungsprobe tunlichst gewachsen werden. Eine systematische Aussiebung aller „Noxen“ halte ich aber nicht für zweckmäßig, weil das Meiste im Leben ambivalent ist und andernfalls droht Sterilität, wie bei der Erziehung der Wächter nach Platons Politeia, 4. Buch, und noch in Rousseaus Emile. Goethe schreibt in den Maximen und Reflexionen dazu treffend: „Die Geheimnisse der Lebenspfade darf und kann man nicht offenbaren; es gibt Steine des Anstoßes, über die ein jeder Wanderer stolpern muß.“ (Aus Makariens Archiv, erster Aphorismus) Märchenwelten und den Weihnachtsmann halte ich nicht für Konterbande, implantierende Situationen sogar, wie Sie wissen, für dringend erneuerungsbedürftig. Statt durch Abschirmung gegen Gefahren erhoffe ich mir Erziehungserfolg von Ermutigung des vitalen Stolzes, Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart, Erziehung zur Einheit von Recht und Pflicht zwecks Einwachsens persönlicher Situationen in implantierende gemeinsame zusammen mit Ermutigung zu besonnener Auseinandersetzung mit diesen – kurz, eher Stärkung der Persönlichkeit, damit sie sich an Herausforderungen aller Art bewähren kann, statt Siebung solcher Herausforderungen, bis nur noch die unschuldigen übrig bleiben. 11. Juni 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich stimme Ihnen zu: über das Thema, das ich im zweiten Teil meines vorigen Briefes zum wiederholten Male angesprochen habe, lässt sich unter uns nichts wirklich Neues mehr sagen. Ohne jetzt noch einmal die früheren Briefe heranzuziehen, ist mein überwiegender Gesamteindruck vom Verlauf der Diskussion der, dass es meist darum ging, die verwendeten Begriffe zu klären bzw. zu erläutern und divergierende Gedankengänge auf Konvergenzkurs zu bringen. Das gelang oft, an entscheidenden Stellen aber letztlich nicht. Oft habe ich wichtige Übereinstimmungen in unseren Auffassungen – „Schnittmengen“, wie man heute oft liest – feststellen können, dann aber wieder, meist im gleichen Zusammenhang, folgte eine einzige Aussage von Ihnen, die mir die Unvereinbarkeit unserer Grundauffassungen demonstrierte. Solche Stellen liegen aber nie handgreiflich zu Tage, zeigen sich meist in Beispielen, die, für sich genommen, sozusagen verhandelbar wären, als Gesamtheit aber nicht. Nehmen wir Ihren letzten Brief. Sie stimmen mir – selbstverständlich „selbstverständlich“ – zu, dass Erziehungsschäden vermieden werden sollen. Sie sprechen sich für eine Erziehung aus, die auf Entwicklung von vitalem Stolz und Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart abzielt, die

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die Stärkung der Persönlichkeit fördert, also eine starke Persönlichkeit anstrebt. Da stimme ich Ihnen auch selbstverständlich zu. Dann lese ich aber: zu vitalem Stolz wollen Sie „ermutigen“. Ich wäre schon zufrieden, wenn es gelänge, den sich entwickelnden vitalen Stolz nicht gewohnheitsmäßig zu behindern bzw. zu demütigen, was m.E. beim Hineinwachsen in bestehende und von den Erwachsenen unreflektierte implantierende Situationen (ich hoffe, Ihren Begriff nicht zu missbrauchen) geschieht. Dann die Geschichte mit dem Erzählen vom lieben Gott und dem Weihnachtsmann, die ich nur deshalb schon mehrmals zitiert habe, weil sie aus Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ stammt. Sie sagen, das sei keine Konterbande, scheinen also zu meinen, es handele sich nicht um eine der Noxen, die ich nicht aktiv einbringen, sondern nach Möglichkeit ausschalten würde. Sie scheinen sie also zu den quasi natürlichen Bedingungen des Lebens zu zählen, zu den Herausforderungen, die jeder Mensch auf seine Weise zu bewältigen habe, um daran zu wachsen. Sie scheinen sie gar für ein nützliches Instrument zu halten, das der Erzieher bewusst einsetzen kann oder gar sollte, um dem Wachsenden eine Möglichkeit zu bieten, durch ihre Bewältigung eine Stärkung seiner Persönlichkeit zu erreichen. In dem Sinne scheinen Sie auch Goethes Wort „Es gibt Steine des Anstoßes, über die ein jeder Wanderer stolpern muss“ zu zitieren. Ich möchte Goethe hier nicht widersprechen, denn sein Spruch beinhaltet doch, dass es nicht nur solche Steine gibt, sondern auch andere, über die zu stolpern – oder stolpern zu lassen, indem man sie dem Wachsenden in den Weg legt – statt Stärkung eine dauerhafte Beschädigung der Persönlichkeit zur Folge hat, so dass es mit der Bewährung an Herausforderungen im Leben dieses Menschen danach schlechter bestellt sein wird als zuvor. Unabhängig davon halte ich die Nennung von Gott, Weihnachtsmann und Märchen in einem Atem für eine Verharmlosung des Religiösen, denn von Gott kommt man nicht so leicht los wie vom Weihnachtsmann. Zwei thematisch andere Fragen würde ich gern noch stellen: 1) Am 4.4. nennen Sie mich einen Stirner-Adepten, bestreiten mir diesen Status aber im selben Satz, indem Sie sagen, ein solcher könne nicht glaubwürdig von einem rationalen Über-Ich sprechen. Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich Stirners „Eigner“ (als Idealtypus) nur als ein von Launen getriebenes Wesen vorstellen können? 2) Am 25.4. bestreiten Sie implizit auch die Echtheit oder Berechtigung meiner besonderen Schätzung La Mettries, indem sie ihn urplötzlich – und mit sichtlichem Affekt – als oberflächlich, bedenkenlos und lächerlich charakterisieren. Das hat mich sehr überrascht. Wie kamen Sie an dieser Stelle ausgerechnet auf ihn?

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13. Juni 2006 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 11.06. stellen Sie zwei Fragen, die ich so beantworte: 1. Stirners Eigner braucht nicht von wechselnden Launen getrieben zu werden; das Treibende kann auch sein, was ich einmal einen starken Daimon nannte, der dem Menschen ein beharrliches, ja stures Wollen eingibt, wonach er seinen Lebensweg einzurichten sucht. Da ihm aber nichts mehr heilig ist (auch kein rationales Überich), fehlt diesem Wollen eine Autorität, der gegenüber damit Verantwortung übernommen und Rechenschaft geleistet werden kann. Die Folge würde sein, daß das beharrliche Wollen nicht mehr von einer Sucht zu unterscheiden ist, für die das beharrliche Streben ohne Verantwortung und Rechenschaft kennzeichnend ist. 2. Die Abwertung La Mettries in meinem Brief vom 25.04. fußt auf meiner Lektüre Ihres Geschenks, seiner gegen Seneca gerichteten Schrift in Ihrer Übersetzung mit Ihrer Einleitung, die den historischen Hintergrund am preußischen Hof betrifft. Ich wollte sagen, daß das bloße Wegwerfen der Gewissensbisse (remords) auf mich komisch wirkt, sofern es als Versuch einer Stellungnahme zu der Lage verstanden wird, die entsteht, wenn den Menschen (mangels einer äußeren, objektiven Autorität) nichts als sein Gewissen und die Evidenz nackter Tatsachen mit Autorität binden kann. Zu Ihren den Fragen vorangehenden Bemerkungen will ich nur hinzufügen, daß ich folgenden Satz nicht billige: „Unabhängig davon halte ich die Nennung von Gott, Weihnachtsmann und Märchen in einem Atem für eine Verharmlosung des Religiösen, denn von Gott kommt man nicht so leicht los wie vom Weihnachtsmann.“ Ich nehme an, daß Sie „Gott“ hier im Sinn der Dogmatik monotheistischer Religionen verstehen. Dieser Gott ist, wie ich öfters ausgeführt habe, eine Rationalisierung des Göttlichen oder Heiligen durch begriffliche Maximierung aller möglichen Überlegenheitsprädikate, wozu im Christentum der eudämonistische Anspruch des Menschen auf einen Gott kommt, der sich trotz seiner Allmacht und absoluten Vollkommenheit für die Menschen schlachten läßt, um ihnen transzendente Aufstiegschancen zu eröffnen. Eine solche Verbindung von Rationalisierung aus Heilsinteresse und Machtstreben läßt sich relativ leicht durchschauen und damit abarbeiten, während Märchenfiguren einschließlich des Weihnachtsmannes keinen dogmatischen Glauben fordern, sondern in Anziehung und Abstoßung faszinierende Leitbilder plakatieren, im Sinne meiner Terminologie: mit Atmosphären des Gefühls geladene zuständliche impressive Situationen (vielsagende Eindrücke) von der Art, die C.G. Jung „Archetypen“ nannte. Den Glauben an die solche Leitbilder darstellenden Figuren kann man leicht verlieren, aber die Archetypen verlieren dadurch nicht ihre Motivationskraft, sondern bleiben in irgend einer Verwandlung unentbehrlich, wenn das Leben nicht in trockener Phantasie-

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losigkeit erstarren soll. Ihre Darbietung in Märchenform oder dergleichen ist sehr wichtig, weil sie sich auf diese Weise früh anschaulich fassen lassen und damit die Chance einer Auseinandersetzung besser als alle abstrakten Begriffe und Thesen gewähren. Solche mächtigen Phantasiebilder sind ambivalent und daher für jeden eine Herausforderung, wie er sich dazu stellen soll oder will; sie gehören zu den Steinen des Anstoßes, über die jeder Wanderer stolpern muß (Goethe fügt hinzu: „Der Poet aber deutet auf die Stelle hin.“ Statt „der Poet“ könnte man auch sagen: „das Märchen“.) 8. Juli 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, vielen Dank für Ihr ausführliches Eingehen auf die Fragen, die ich am Ende meines letzten Briefes formuliert habe. Ich möchte zunächst etwas zu Ihrer Antwort auf Punkt 1 sagen. Wenn ich Sie recht verstehe, sehen Sie Stirners Eigner also generell als einen Menschen, der steuerlos durchs Leben treibt, ein Spielball entweder von zufällig bzw. überraschend wechselnden Launen oder von einer einzigen sozusagen konstanten Laune. Es gäbe also demzufolge zwei Typen von Eignern: zu dem haltlosen Typ, von dem allein Sie bisher immer sprachen, käme der von einem starken Daimon getriebene oder besessene, von dem Sie sagen, sein Wollen sei starr, stur und beharrlich und nicht von dem eines Süchtigen zu unterscheiden. Die beiden Typen entsprechen vermutlich in etwa denen, die Sie kürzlich, einen anderen Begriff einführend, als mit zu schlaffer bzw. zu starrer – in beiden Fällen nicht elastischer und schwingungsfähiger – Fassung ausgestattet darstellten. Beiden Typen gemeinsam sei, dass ihnen nichts heilig sei, dass ihrem Wollen eine Autorität fehle, vor der sie sich zur Rechenschaft für ihr Tun verpflichtet fühlen. Natürlich bin ich der Ansicht, dass der Stirnersche Eigner gerade das, also der schlaffe oder der starre Typus, nicht ist. Angelpunkt unserer Diskussion ist nach wie vor das, was wir – ohne uns irgendwie auf die Freudsche Lehre festzulegen – bisher als Über-Ich bezeichneten, genauer, die Prozedur, durch die es im Menschen entsteht und die maßgeblich dafür ist, zu je welchem Anteil es „irrational“ und „rational“ sein wird. Ich bin der Auffassung, dass die seit Menschengedenken trotz aller Aufklärung dominierende, „irrationale" Erzeugung des Über-Ichs – nach Wilhelm Reich des psychischen und zugleich physischen Charakter(panzer)s – zu viele und im Laufe des Lebens nur noch bedingt zu behebende, am besten natürlich von vornherein zu vermeidende schädliche Nebenwirkungen – zur Hauptwirkung: Aufbau der moralischen Persönlichkeit – hat, wobei ich freilich nicht oder nur sekundär die üblichen pathologischen Erscheinungen meine, sondern vielmehr das Fühlen, Denken und Handeln des Normalmenschen. Reich drückte dies einmal pointiert so aus, dass die (zwangs)moralische Erziehung eben jene Impulse und „Triebe“, die sie – oft genug erfolglos – ein-

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dämmen möchte, zum Großteil ungewollt erst erzeugt. Die Verminderung des irrationalen Anteils am Über-Ich zugunsten des rationalen halte ich für das Gebot der aktuellen historischen Situation. Deswegen meinte ich auch stets, meine Auffassung müsste im Grunde mit Ihrer von der präzedenzlosen Epochenschwelle, vor oder auf der die abendländische Kultur sich befindet, verträglich sein. Aber meinen zahlreichen Vorstößen in diese Richtung wichen Sie meist aus: die Analogie von Kindheit und Erwachsenheit der Menschheit, von Ihnen selbst eingeführt, „relativierten“ Sie: die Menschheit müsse ewig kindlich bleiben, damit sie sich ihre Erwachsen-dheit erhalte und nicht vergreise u.ä. Auf der personalen Ebene „relativierten“ Sie die/Ihre Figur des Wellenreiters: er laufe Gefahr, durch zu große Virtuosität gleichsam starr/monoton zu werden u.ä. Immer wieder machten Sie, wie auch im letzten Brief, deutlich, dass Sie sich ein gelungenes Leben nur unter einer äußeren bzw. verinnerlichten Autorität vorstellen können, nicht aber unter einer „eigenen“ inneren, eben einem „rationalen Über-Ich“. Ihre Forderungen bzw. Empfehlungen – Erziehung zu mehr Pflichtbewusstsein / „sobornost“ – erscheinen mir eher aus nostalgischem Geist erwachsen und schon konzeptionell nicht dem zu entsprechen, was auch Sie als aktuell auf der historischen Agenda der abendländischen Kultur stehend betrachten (oder vor zehn Jahren betrachtet haben?). Ich müsste wohl nicht hinzufügen, dass ich keineswegs glaube, dass meine Auffassung, die ich natürlich in ihrem Kern für die aktuelle halte, in für mich absehbarer Zeit von einer nennenswerten Anzahl von Mitmenschen akzeptiert werden wird. Aber muss ich sie deshalb aufgeben und für falsch halten? PS: Zu den Themen La Mettrie und Gott/Göttliches schreibe ich Ihnen später. 13. Juli 2006 Sehr geehrter Herr Laska, vor Antritt einer einwöchigen Reise morgen, der eine Woche später, am 29. Juli, eine dreiwöchige Erholungsreise folgen soll, möchte ich noch auf Ihren Brief vom 8.07. eingehen. Das irrationale Überich habe ich Ihnen schon zugestanden, ohne es zu einem riesengroßen Schwarzen Mann aufblähen zu wollen; unsere pädagogischen Abwehrstrategien (Strategieräte) sind verschieden. Darüber haben wir gerade ausführlich korrespondiert, so daß ein weiteres Eingehen überflüssig ist. Unsere Differenz ist bei diesem Thema nicht grundsätzlich. Anders beim rationalen Überich. Nur nebenbei will ich einfügen, daß ich nicht verstehe, was der Unterschied zwischen einem rationalen Überich und einem rationalen Ich sein soll und was Sie unter Rationalität verstehen, doch nicht die Zweckrationalität des homo oeconomicus nach Adam Smith? In der Hauptsache nehme ich Anstoß an der Kombination eines rationalen Über-Ichs mit dem Bekenntnis zu Stirner. Eigner nach Stirner ist man gerade dadurch, daß man nichts über sich

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gelten läßt. Sie wagen nach meiner Ansicht eine logisch undurchführbare Grätsche, indem Sie in Stirners Leitbild ein Über-Ich hineindeuten. Deswegen habe ich von Anfang an nicht verstanden, was Sie wollen. Offenbar haben Sie mich gründlich mißverstanden, da Sie mir vorhalten, ich könne mir „ein gelungenes Leben nur unter einer äußeren bzw. verinnerlichten Autorität“ vorstellen, „nicht aber unter einer ‚eigenen‘, inneren (…).“ Die Anführungszeichen, in die Sie das Wort „eigenen“ setzen, deuten darauf, daß Sie mich an Stirners Ideal messen. Damit verschieben Sie die Wortbedeutung. Bei Stirner bedeutet „eigen“ den Besitz: Ich will die Kompetenz für Richtlinien meines Verhaltens selbst besitzen, souverän darüber verfügen können. Für mich bedeutet die Übertragung der Autorität über Tun und Lassen ins Eigene vielmehr, daß die Legitimation einer solchen Autorität für mich nicht mehr von objektiven Tatsachen, sondern von den für mich subjektiven Tatsachen abhängt und also nur der Selbstbesinnung abgewonnen werden kann. Von Souveränität eines Beliebens, wie bei Stirner, kann da keine Rede sein. Ebenso abwegig ist es aber, wenn Sie diese Autorität, um deren Legitimierbarkeit es mir geht, mit einer „äußeren bzw. verinnerlichten“ gleichsetzen. Der Gegensatz des Äußeren und Inneren hat hier nichts zu suchen. Die Verwechslung von Subjektivität mit Innerlichkeit, wie bei Kierkegaard, weise ich entschieden zurück. Den Kampf gegen die Introjektion der Gefühle habe ich schon 1964, in der Vorrede zu Band I meines Werkes „System der Philosophie“, zu dessen Hauptaufgabe erklärt. Noch schlimmer ist die Rede von Verinnerlichung, als ob etwas Äußeres von mir in ein Inneres hineingezogen, introjiziert werden sollte, von mir, dem erklärten Kritiker der Introjektion. Schließlich möchte ich Ihre Vermutung korrigieren, daß ich dem starken Daimon eine starre Fassung zumuten wolle. Die Stärke des Daimon besteht vielmehr in der elastischen Fähigkeit, in allen erforderlichen Anpassungen die eigene Linie festzuhalten, sich nicht davon abbringen zu lassen. Starrheit wäre Schwäche. Solange der Mensch mit starkem Daimon dabei der Autorität eines Nomos in seiner persönlichen Situation folgt, der ihn auch dann noch zieht, wenn er sich ihm nicht völlig offenbart, dem er willig folgt oder sich beugt, so lange ist sein beharrliches Streben keine Sucht. 30. August 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, nach Ihren Mitteilungen im Brief vom 13. Juli müssten Sie schon seit einigen Tagen – nach hoffentlich angenehmem Verlauf Ihrer beiden angekündigten Reisen – wieder zu Hause sein. Ich hatte mir eigentlich, wieder einmal, vorgenommen, die Pause zu nutzen, um unsere Korrespondenz der letzten Jahre gründlich und systematisch durchzusehen und die liegengebliebenen Fragen, sofern sie für uns gegenwärtig noch von Interesse sein

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könnten, zu sammeln und ggf. im Zusammenhang neu zu arrangieren. Doch daraus ist, wieder einmal, nichts geworden, so dass ich mich im Folgenden nur der Beantwortung Ihres letzten Briefes widmen werde. Sie fragen – im Kontext des zugegebenermaßen problematischen Begriffs „rationales Über-Ich“ – was ich denn unter Rationalität verstehe und mutmaßen, dass ich nicht die Zweckrationalität des homo oeconomicus meine. Das stimmt gewiss. Aber es fiele mir tatsächlich sehr schwer, eine wirklich standfeste Definition dieses Begriffes zu geben. Das mag vielleicht daran liegen, dass ich ja kein Philosoph bin. Ich habe Philosophie nie gelernt. Obwohl ich, solange ich zurückdenken kann, immer einen starken, ja leidenschaftlichen und mein Leben dominierenden Drang hatte, „mich über mein Michfinden in meiner Umgebung zu besinnen“ (ein umgewandeltes Zitat aus Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“), hatte ich nie den Wunsch, Philosophie ordentlich zu studieren. Der Autor, der mich vor fast vierzig Jahren auf meinen Denkweg gebracht hat, war auch kein Philosoph: es war Wilhelm Reich. Als Ingenieurstudent hatte ich allerdings kein großes Interesse an Details der Freud’schen und der Marx’schen Lehren, für deren Kombination Reich damals stand – und bekam es auch später nie. Was mich an Reich faszinierte, erinnere ich nicht genau; ich kann aber mit ziemlicher Sicherheit rekonstruieren, dass es der Gedanke eines großen Verdachts gewesen sein muss, den ich explizit erst Jahre später in einer bis dahin unpublizierten Jugendschrift Reichs über Ibsens „Peer Gynt“ las: dass „… all das Ringen nach Freiheit fingiert sei, eine Komödie, die der Mensch seinem Narzissmus vorspielt und ihn deshalb veranlasst, ungehalten zu sein, wenn er aus seinem Spiel gerissen wird.“ – Von Reich übernahm ich auch dessen Auffassung von der tiefen Rationalität alles irrational Erscheinenden, worin auch die Schwierigkeit beschlossen ist, bündig zu sagen, was ich unter Rationalität verstehe. Ich bin allerdings auch bei einer gründlichen Musterung der vorfindlichen Konzepte/Begriffe von Rationalität auf keines gestoßen, das dem Reich’schen – über das freilich viel mehr zu sagen wäre – gleichkäme oder überlegen wäre. Das ist aber, wie oben angedeutet, auch ein Problem der fachsprachlichen Ausformulierung und Kommunizierbarkeit von Gedanken, die mir selbst nicht auf bedrängende Weise unklar sind (und die im heutigen kakophonen Massenkonzert der Philosophen ungehört blieben). Ich habe mich deshalb, nachdem ich Stirner und La Mettrie als (in ihrer jeweiligen Zeit) „kongeniale“ Figuren zu Reich entdeckt hatte, publizistisch mehr auf rezeptionsgeschichtliche Probleme konzentriert, wo der genannte Verdacht über die Funktion philosophischen Produzierens eher belegbar ist. – Zu einem weiteren Punkt Ihres Briefes, zum Unterschied zwischen rationalem Ich und rationalem Über-Ich: je mehr es gelingen würde, das Entstehen eines irrationalen Über-Ichs im sich entwickelnden Individuum zu reduzieren, desto besser könnte sich ein rationales Über-Ich entfalten. Idealtypisch fielen ein al-

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leiniges rationales Über-Ich und rationales Ich dann in eins. Generell möchte ich nur behaupten, dass die „Abschaffung“ des bisher dominierenden irrationalen Über-Ichs („Wahngemeinschaft“) nicht der Untergang, sondern das Heil wäre. Da Sie den „Kampf gegen die Introjektion der Gefühle“ zur Hauptaufgabe ihres Werks „System der Philosophie“ erklärten, müssten wir (mit Stirner; S. 69f.) im tiefsten Grunde einig sein. 5. September 2006 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 30. August gestehen Sie die Schwierigkeit, „bündig zu sagen, was ich unter Rationalität verstehe“. Sie müssen sich, wie auch Ihre umgebenden Ausführungen bezeugen, auf das verlassen, was man sein „Gefühl“ nennt, um eine Grenze zwischen rational und irrational zu ziehen. Andere Menschen könnten ein anderes „Gefühl“ haben. Es gibt unter diesen Voraussetzungen also kein objektivierbares Kriterium für die Unterscheidung zwischen rationalem und irrationalem Über-Ich, wie immer man diese Ihre Ausdrücke auch verstehen mag. Diese Überlegung kommt mir sehr zugute. Ich will die allzu abgegriffenen, als Parolen fadenscheinig gewordenen Worte „rational“ und „irrational“ durch ihre deutschen Äquivalente „vernünftig“ und „unvernünftig“ ersetzen; deren Sinn ist zwar auch dehnbar, aber für den Deutschkenner nicht ohne handliche, eingängige Verständlichkeit. Ich bin der Meinung, daß die Entscheidung darüber, was als vernünftig annehmbar oder als unvernünftig verwerflich ist, nicht nach allgemeinen und objektiven Rezepten, sondern nur vom Einzelnen nach gründlicher Selbstprüfung zu treffen ist (unbeschadet der Tatsache, daß die Gesellschaft entsprechende konventionelle Rezepte vorhält, die aber jener Selbstprüfung immer noch bedürfen). Bisher war ich der Meinung, daß Sie eine eindeutige, verallgemeinbare Unterscheidung rationaler und irrationaler Überzeugungen nach dem Aschenputtel-Prinzip („die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“ oder umgekehrt) anstrebten. Nach Ihrem erwähnten Zugeständnis können Sie das eigentlich nicht aufrecht erhalten. Das hat auch Konsequenzen für die Einschätzung der Aufklärung. Ich verstehe unter Aufklärung das Bestreben, alle Überzeugungen mit den Mitteln der Logik auf Begründetheit und Widerspruchsfreiheit zu prüfen. Aufklärung in diesem Sinn kann zur Unterscheidung des Vernünftigen und Unvernünftigen im Einzelfall sehr hilfreich sein. Man darf sie aber nicht übertreiben. Ich habe gegen Niklas Luhmann oft darauf hingewiesen, daß die für menschliche Lebensführung unerläßliche Reduktion von Komplexität in der Hauptsache nicht durch künstliche und listige Veranstaltungen geleistet wird, sondern durch Integration großer Massen von Überzeugungen mit Hilfe von Vorbildern, Mythen, Symbolen u. dgl. zu gemeinsamen Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, die wegen ihrer Binnendiffusion gegen Widersprüche tolerant sind, aber, sobald diese expliziert wer-

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den, einer Prüfung auf Biegen oder Brechen ausgesetzt sein können. Wenn man als Aufklärer rücksichtslos solche latenten Widersprüche aufdeckt, begibt man sich in Gefahr, die Lebensgrundlage zu zerstören und obendrein naiv und gedankenlos zu sein, weil man den Zusammenhang der einzelnen einander widersprechenden Überzeugungen in der binnendiffusen Bedeutsamkeit nicht übersieht und also nicht merkt, was man alles mitreißt. Ich bin übrigens nicht konservativ; mir liegt nichts daran, gemeinsame Situationen grundsätzlich zu schonen, sondern ich begrüße ebenso wie die Bewahrung des Bewährten die Auseinandersetzung auf Biegen und Brechen und, wenn es nötig ist, das Zerbrechen überholter Lebensformen. Ich will nur darauf hinweisen, daß es auch für den Umgang mit der Aufklärung kein allgemeingültiges Rezept gibt, und daß es fatal wäre, das Leben in Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit durch ein Leben mit einer Konstellation einzelner Grundsätze ablösen zu wollen. Wohin das führt, zeigt Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ an der Figur des Mittler, eines Mannes, der lauter vernünftige und an sich richtige Grundsätze immer im falschen Augenblick anbringt und so in der aktuellen Situation Unheil anrichtet. Vielleicht können wir darüber einig werden. 20. September 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich erinnere mich nicht, irgendwo in meinen publizierten Schriften oder in meinen Briefen an Sie gesagt zu haben, dass mir die Scheidung von rational und irrational – oder, wie Sie vorschlagen, von vernünftig = annehmbar und unvernünftig = verwerflich – als eine einfache Sache erscheint. Deswegen wundert es mich etwas, dass es Sie überrascht hat, wenn ich, auf Ihre konkrete Aufforderung hin, gar nicht einmal „gestehe“, sondern nur ausdrücklicher als sonst sage, dass mir eine wirklich standfeste Definition von Rationalität „sehr schwer fiele“. Ich habe bewusst nicht gesagt, dass ich sie für unmöglich halte. Letzteres scheinen Sie jedoch zu meinen, wenn Sie sagen, ich müsse mich eben auf das verlassen, was mein Gefühl mir sagt; und‚ andere Menschen könnten aufgrund eines anderen Gefühls zu einem anderen Urteil gelangen. Die Entscheidung, ob etwas vernünftig oder unvernünftig ist, könne jeder nur nach gründlicher Selbstprüfung (der gesellschaftliche Vorgaben ebenso zu unterziehen sind) getroffen werden. Punktum. Da aber liegt doch der Hund begraben; da beginnt doch erst das Problem. Meine eigenen Handlungen vermag ich auf diese Weise zu ordnen oder auch zu planen. Aber wie beurteile ich die Handlungen Anderer? Welche Schlüsse ziehe ich aus diesen Urteilen für mein Handeln bzw. meinen Verkehr mit ihnen? Ich glaube, dass aus diesen Fragestellungen letztlich überhaupt der Antrieb für ernstes Philosophieren kommt; denn wenn, nach meinem Gefühl, die Anderen (nur) vernünftig handelten (ihre geäußerten Gedanken eingeschlossen), dann wäre die Welt

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für mich in Ordnung, und ich könnte einfachen, meinetwegen wissenschaftlichen Fragen nachgehen. Ich mache also selbstverständlicherweise das, was Sie das Aschenputtel-Prinzip nennen: ich sortiere die Handlungen (einschl. Überzeugungen) (auch) der Anderen nach meinem Gefühl in vernünftige und unvernünftige, natürlich jeweils mit Schweregrad. Das mache ich auch, wenn ich nicht bezweifle, dass der Andere seine Entscheidungen für diese Handlungen „nach gründlicher Selbstprüfung“ getroffen hat. Ich kann das freilich auch bezweifeln oder annehmen, der Andere sei aufgrund seiner Konstitution eben nur sehr bedingt in der Lage, eine gründliche Selbstprüfung durchzuführen … usw. usf. So komme ich aber m.E. nicht weiter, ebenso nicht mit dem (selbstübertölpenden) Kunststück der sog. Selbstrelativierung. Letztlich ist ja alles Irrationale rational, alles Unvernünftige vernünftig, so wie Altruismus egoistisch und das Erleben von Unlust lustvoll ist. Die Philosophen werden hier oft wort- und begriffsreich, sind aber m.E. letzten Endes ratlos, meist ohne dies einzugestehen. Eingedenk dessen habe ich nicht die Ambition, ein theoretisches Kriterium zur Scheidung des Rationalen vom Irrationalen zu präsentieren. Natürlich kann man, wie Sie sagen, alle Überzeugungen mit den Mitteln der Logik auf Begründetheit und Widerspruchsfreiheit prüfen. Ich sehe dabei aber weniger die Gefahr, dass man dies übertreiben könne, sondern eher das enttäuschende Ende, dass man direkt oder auf Umwegen letztlich bei den oben genannten paradoxen Sachverhalten ankommt. Wenn ich trotzdem nicht kapituliere, sondern meine, dass mit „Alles ist vernünftig“ nicht das letzte Wort gesprochen und der Beliebigkeit durchaus zu entkommen ist, so deshalb, weil ich eine „objektive“ Vorgabe für das Menschsein im Neugeborenen sehe. Es ist ein „kulturalistischer Fehlschluss“, wenn man meint, aus diesem Rohstoff nach Belieben etwas formen zu können. Es ist ein Unterschied, ob man den Säugling in zwangsjackenähnliche Tücher presst oder nicht, ob man ihn der Mutter wegnimmt oder bei ihr lässt, ob man dem Kinde in der implantierenden Situation, in die es geboren wurde, mit „Gott und dem Weihnachtsmann“ droht usw. – Erfahrungen, die sich im Organismus strukturell festsetzen als (Reich’scher) „Charakter(panzer)“ resp. „irrationales Über-Ich“, das dem später erworbenen „rationalen Über-Ich“ („Ethik“) oft nur wenig Einflussmöglichkeit lässt. Hier, in den Gegebenheiten des menschlichen Organismus, müsste das objektive Kriterium für Rationalität/Vernunft zu finden sein. 11. Oktober 2006 Sehr geehrter Herr Laska! In Ihrem Brief vom 20.09. wenden Sie sich gegen meine zuvor geäußerte Überzeugung, daß die Entscheidung über Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit eines Verhaltens, z.B. einer pädagogischen Intervention, nur vom Einzelnen nach Abwägung aller ihm verfügbaren Begründungen aus

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seinem Gefühl, ohne objektivierbare Richtschnur für die Entscheidung, vernünftig getroffen werden kann. Sie setzen dagegen „eine ‚objektive‘ Vorgabe für das Menschsein im Neugeborenen“. Das ist Rousseauismus gemäß den ersten Worten des Emile; daß Rousseau anderswo in diesem Buch höchst repressive Maximen verkündet, tut nichts zur Sache. Die Berufung auf den Neugeborenen beruht meines Erachtens auf einer verkehrten singularistischen Ontologie. Der Neugeborene ist kein Ding an sich, das nachträglich mit Bedeutungen behangen werden könnte, sondern lebt von vorn herein, schon als Embryo, in bedeutsamen Situationen, deren Bedeutsamkeit keine zur Durchmusterung der einzelnen Bedeutungen ausreichende Durchsichtigkeit besitzt, sondern binnendiffus (chaotisch-mannigfaltig) ist. Wir sind einer Meinung, daß man ihm nicht bewußt Schädliches antun sollte, aber was ist schädlich? Ob Gott und der Weihnachtsmann dazu gehören, kann nur vor Ort nach dem durch Überlegung geschärften Gefühl entschieden werden, wobei die Richtigkeit der Entscheidung unsicher ist. Über diese Richtigkeit kann nur das Objekt der Entscheidung triftig entscheiden, nämlich eben der Neugeborene, wenn er nicht mehr neugeboren, sondern herangereift ist und die ambivalente Herausforderung (z.B. durch die Zumutung Gottes oder des Weihnachtsmannes) mehr oder weniger glücklich bewältigt hat. Sie haben mir öfters vorgeworfen, daß ich die epochale Bedeutung der Wende, die durch die (unklare) Entdeckung der für mich subjektiven Tatsachen kurz vor 1800 ausgelöst worden ist, nicht mehr so scharf wie im Vorwort meines Buches „Selbstdarstellung als Philosophie“ zur Geltung brächte, sondern herunterspielte. Diesen Vorwurf möchte ich Ihnen nun zurückgeben. Die Berufung auf den Neugeborenen ist nicht mehr wert als die Berufung auf den lieben Gott. Vor etwa 150 Jahren dichtete Friedrich Theodor Vischer: Wir haben keinen lieben Vater im Himmel. Du mußt aushalten im Weltgetümmel auch ohne das.

Setzen Sie für „lieber Vater im Himmel“ ein „der ursprüngliche Mensch, das Original des Menschen (im Bild des Neugeborenen)“. Hier muß man Stirner Recht geben: Wir haben Gott (richtiger: objektive statt nur für jemand subjektive Tatsachen des Geltens von Normen) nicht getötet, solange wir nicht auch den Menschen getötet haben. Ich hoffe, daß Sie Ihren Urlaub gut erholt und störungsfrei abgeschlossen haben.

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23. Oktober 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie zitieren mein Wort, dass ich „eine ‚objektive‘ Vorgabe für das Menschsein im Neugeborenen“ sehe und werfen mir daraufhin vor, dies sei Rousseauismus gemäß Rousseaus Satz zu Beginn des „Émile“: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ Sie erinnern dann an einen früheren Disput zwischen uns, den Sie – nachdem ich auf Stellen im „Émile“ hingewiesen hatte, die Rousseaus subtile Repressionstechnik verraten – mit den (aus dem Gedächtnis zitierten) Worten abschlossen: Rousseau bleibt Rousseau, auch da, wo er sich widerspricht. Auch jetzt sagen Sie, diese innere Widersprüchlichkeit bei Rousseau tue nichts zur Sache. Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass sie davon zeugt, dass Rousseau die von ihm – nicht nur im „Émile“ – angegangene Menschheitsproblematik zwar unter vielen Aspekten ventiliert, aber nicht befriedigend bewältigt hat. Bevor ich meinen Satz über das Neugeborene erläutere, möchte ich noch etwas zu Rousseau bemerken. Jeder, der sich mit ihm befasst hat, kennt die Geschichte von seiner „Erleuchtung“, die er gut ein Jahrzehnt nach dem Ereignis erstmals präsentierte. Wie aus dem vagabundierenden Taugenichts an der Schwelle zu seinem fünften Lebensjahrzehnt mit einem Schlag ein engagierter und erfolgreicher philosophischer Autor wurde, dessen in kurzer Zeit aufeinander folgende Werke bis heute immer wieder heftig diskutiert wurden, wurde oft verwundert aufgenommen, auch im Detail bezweifelt. Aber generell gab man sich mit Rousseaus Erklärung zufrieden, die Preisfrage der Akademie von Dijon sei der Auslöser gewesen. Obwohl die Literatur zu Rousseau etliche zigtausend Titel umfassen dürfte, bin ich mir ziemlich sicher, dass bisher niemand die Vermutung geäußert und plausibel gemacht hat, die mir nahe zu liegen scheint: Auslöser von Rousseaus „Erleuchtung“ war La Mettries gerade erschienener „Discours sur le bonheur“. Ich sehe da grundsätzliche Parallelen zu Nietzsche und dessen „initialer Krise“ als Reaktion auf Stirner. Rousseau wie Nietzsche gelang mit ihren Werken zweierlei: 1) sie bewältigten die tiefe persönliche Erschütterung bei der Begegnung mit einer radikalen Philosophie, deren Zeit historisch gekommen war; 2) sie „verdrängten“ diese Philosophie nicht nur für sich persönlich, sondern mit ihren bereitwillig aufgenommenen und zur endlosen „kontroversen“ Diskussion bestens geeigneten Schriften auch für das breite intellektuelle Publikum – bis heute. Was nun den ersten Satz des „Émile“ angeht, so nehme ich ihn zunächst als schlichte Negation des herrschenden, ebenso dogmatischen Satzes, wonach das Neugeborene „schlecht“ ist und erst durch die Hände des Menschen, d.h. der Älteren, (einigermaßen) „gut“ bzw. geartet wird. Ich unterschreibe keinen der beiden Sätze, meine jedoch, daran festhalten zu können, dass der Organismus des Neugeborenen, resp. schon des Embry-

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os, eine „objektive Vorgabe“ darstellt – was sich vordergründig schon daran zeigt, dass man Missbildungen erkennen kann. Es kann nicht gleichgültig sein, was die Älteren mit einem Neugeborenen anstellen. An Widerständen kann und soll es stark werden, gewiss, aber es gibt Widerstände, die es brechen und verkümmern lassen. Sie fragen zwar zu Recht: „Was ist schädlich?“ Ihre Antwort finde aber ich unbefriedigend: Nur das Objekt einer Maßnahme könne darüber befinden, wenn es herangereift ist. Auch z.B. bei Mangelernährung? Oder beim zwangsjackenartigen Einwickeln? Oder beim Angsteinjagen? (In guter Absicht: „Gott sieht alles.“) Insbesondere bei der Introjektion eines Über-Ich ist der Betroffene oft nicht in der Lage, eine Schädigung zu konstatieren oder einzugestehen. Ihr Verdikt, die Berufung auf den Neugeborenen sei nicht mehr wert als die Berufung auf den lieben Gott weise ich daher – als Gegner Rousseaus im oben gegebenen Sinn – zurück. 28. Oktober 2006 Sehr geehrter Herr Laska, in Ihrer Antwort vom 23. Oktober auf meinen Brief vom 11. Oktober unterstellen Sie mir, darauf bezüglich, ich hätte die These vertreten, nur das Objekt einer pädagogischen Maßnahme könne, wenn es herangereift ist, darüber befinden, ob die Maßnahme schädlich gewesen sei. Das habe ich aber nicht gesagt und nicht gemeint. Vielmehr habe ich unterschieden zwischen einer sofort „nach dem durch Überlegung geschärften Gefühl“ zu treffenden, allerdings unsicheren Entscheidung und einer triftigen, die erst dem herangereiften Objekt der Maßnahme möglich sein wird. Das Recht und die Pflicht zu jener unsicheren Entscheidung und die dabei gebotene Sorgfalt bejahe ich uneingeschränkt; ihr Sinn wird durch die Unsicherheit nicht betroffen. Sie wollen diese Unsicherheit nicht gelten lassen und führen als „objektive Vorgabe“ die Drastik grobkörperlicher Schäden (Mißbildungen, Mangelernährung) und Schädigungen (Zwangsjacke) an, um dann plötzlich auf die Angst überzugehen. Ich stimme Ihnen zu, daß grobe Körperschäden wirklich Schäden sind und grobe willkürliche Funktionsbehinderungen (Verkrüppeln chinesischer Frauenfüße) Schäden verursachen. Der Pädagoge sollte sich ihrer nicht schuldig machen. Ob sie im Endergebnis immer wirklich schädlich sind, ist trotzdem fraglich. Ich erinnere an die These von Alfred Adler, daß große Leistungen auf die Überkompensation von Organminderwertigkeiten zurückgehen können. So kann sich ein reif gemeisterter grober Körperschaden schon einmal am Ende als Segen herausstellen. Aber es wäre frivol und vermessen, ihn deswegen in der Erziehung zu provozieren. Ganz anders steht es mit der Angst. Einem Kind die Angst zu ersparen, wäre ein schlimmer Erziehungsfehler. Kinder suchen die Angst; Angstlust in verschiedenen Formen ist bei ihnen ein starker Antrieb. Sie brauchen die Angst, um nicht als Personen zu zerlaufen. In einem

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meiner Bücher habe ich unter dem Titel „Wollust, Angst und Schmerz in teleologischer Hinsicht“ darüber geschrieben. Damit will ich aber keineswegs anregen, ihnen die Angst geradezu einzujagen. Vielmehr ist die Abwägung, wie viel man dem Kind in dieser Hinsicht zumuten kann, ein gutes Beispiel der besprochenen Entscheidung unter Unsicherheit. Diese Unsicherheit ist genau besehen doppelt: erstens in Bezug auf die Fähigkeit und Bereitschaft des Zöglings, mit Herausforderungen fertig zu werden, und zweitens in Bezug auf die Geltung der beim Urteil über Schädlichkeit vorausgesetzten (implizierten) Maßstäbe für Gut und Schlecht. Was das Erste angeht, mag es durchaus vorkommen, daß der Betroffene oft, z.B. nach Introjektion eines Überichs, nicht in der Lage ist, eine Schädigung zu konstatieren oder einzugestehen. Dazu kann ich nur sagen, daß man ihm die Freiheit zugestehen sollte, zu versagen, denn ohne sein Zutun wird die Un-lage wohl nicht entstehen. Außerdem kann man ihn immer noch, wenn er schon lange kein Kind mehr ist, auf das aufmerksam machen, was er sich nicht eingestehen will. Viel ernster nehme ich die Unsicherheit der zweiten Art, eigentlich keine Unsicherheit, sondern seit der Aufdeckung der strikten Subjektivität (Fichte/Stirner) der Selbstbetrug, daran festzuhalten, daß es ein objektiv-absolutes Rezept für Gut und Schlecht gibt. Damit will ich keineswegs für „anything goes“ plädieren. Ich habe längst zwischen Perspektivität und Adressiertheit einer Norm unterschieden. Rezepte für Gut und Schlecht gelten immer nur in einer Perspektive, aber unter Umständen für alle. Ich trete ganz energisch für das ein, was ich für gut und schlecht halte, nicht nur bei mir, sondern auch bei Anderen, aber ich gebe, ohne mich irritieren zu lassen, zu, daß Andere andere Perspektiven haben; entweder können wir uns einigen – das geht sehr oft bei gutem Willen –, oder schlimmstenfalls gibt es eine Tragödie. Meine These, daß nur der Erzogene am Ende triftig entscheiden könne, ob die Erziehung schädlich war, hat also auch den Sinn, daß ich es für richtig halte, seine eigene normative Perspektive in gebührendem Maß zu respektieren. Wenn Sie dagegen die Reinheit und Reinhaltung des Neugeborenen (von Gott und Über-Ich) als absoluten Wert ohne perspektivische Relativierung ausgeben, sind Sie weit hinter Stirner zurück. 15. November 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie hatten am 11. Oktober geschrieben: „Über die Richtigkeit [ob eine erzieherisch wirksame Maßnahme richtig, d.h. nicht schädlich war] kann nur das Objekt der Entscheidung triftig entscheiden, nämlich eben der Neugeborene, wenn er nicht mehr neugeboren, sondern herangereift ist und die ambivalente Herausforderung … mehr oder weniger glücklich bewältigt hat.“ Ich habe das am 23. Oktober aufgegriffen: „Sie fragen zwar zu Recht: ‚Was ist schädlich?‘ Ihre Antwort finde ich aber unbefriedigend:

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Nur das Objekt einer Maßnahme könne darüber befinden, wenn es herangereift ist.“ Sie fassten das am 28. Oktober als Unterstellung auf und erläutern dann, Sie hätten zwischen der aktuell vom Erziehenden zu treffenden Entscheidung – die immer unsicher in Hinblick auf ihre Schädlichkeit sei – und dem rückblickenden Urteil über die einstige Entscheidung durch den Erzogenen – die allein triftig sein könne – unterschieden. Ich hatte diese Unterscheidung allerdings gar nicht übersehen, Ihnen also auch nichts unterstellen wollen, sondern nur die Behauptung zurückgewiesen, allein der Herangereifte könne triftig darüber befinden, ob die einstige Maßnahme schädlich gewesen sei. Gerade an dem Beispiel, das wir in diesem Zusammenhang erneut herangezogen hatten – „Erzählungen“ von Gott (und Weihnachtsmann) – zeigt sich, dass sehr viele Erwachsene nicht in der Lage sind, zu einem triftigen Urteil über die Schädlichkeit ihrer religiösen Erziehung zu kommen. Und dies lässt sich über die religiöse Sphäre hinaus verallgemeinern. Wer aber kann dann nach welchen Kriterien urteilen? Um einerseits nicht in rousseauistische Fahrrinnen zu rutschen, andererseits aber auch nicht jedem zu glauben, der behauptet, hier und heute mit sich und damit auch mit seiner „Genese“ zufrieden zu sein – Schädigungen also allenfalls als bewältigte Herausforderungen und somit letztlich als Wohltaten zu verbuchen –, habe ich zur Darstellung meiner Sicht mich dessen bedient, was Sie „Drastik grobkörperlicher Schäden“ nennen. Sie erkennen diese dann auch als „wirkliche Schäden“ an, bezweifeln aber gleich darauf, ob sie „im Endergebnis immer wirklich schädlich“ sind, dies, weil ja jemand sagen könne, er sei für die einst erlittenen Schäden dankbar, denn nur durch deren Überkompensation habe er „große Leistungen“ vollbracht. Ich kann solche Argumentation zwar nachvollziehen, sehe sie aber eher in Analogie zu der starker Raucher, die sagen, es gebe sowohl uralte Raucher ohne als auch junge Nichtraucher mit Lungenkrebs. Ich wollte eigentlich zunächst nur erklären, dass ich meine, dass es durchaus „objektive Vorgaben für das Menschsein“ im Bau des menschlichen Organismus gibt. Sie bestreiten das ja auch nicht und sagen, es wäre frivol und vermessen, (der Chance einer großartigen Überkompensation wegen) eine Schädigung vorzunehmen. Insofern scheinen wir uns einig zu sein; nicht aber darin, dass Sie die Schädigung ausdrücklich nur auf Körperschäden beziehen und sagen: „Ganz anders steht es mit der Angst.“ Insgesamt scheint mir diese Passage Ihres Briefes unklar, weil Sie am Ende auch sagen, Sie würden nicht raten, Kindern Angst einzujagen (also auch nicht als Gelegenheit zur Stärkung durch ihre Bewältigung). Ich stimme mit Ihnen überein, dass man Kindern Angst nicht „ersparen“ sollte, aber nicht darin, dass Kinder Angst aus angeborener Angstlust suchen, man sie Ihnen also doch, um einen vermeintlichen Mangel an Angst erzeugenden Umständen zu beheben, einjagen sollte. – Abgesehen von solchen schon fast „technischen“ Problemen, läuft unsere Diskussion letztlich wieder auf die

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Frage hinaus, wie man sich die Welt – bzw. was man der Welt zu ihrem Guten – wünscht. Bevölkert von mehr und mehr „Wellenreitern“/Menschen mit elastisch-schwingfähiger „Fassung“ und „vitalem Stolz“ etc.? Die Ausbreitung eines solchen Wunsches hat wohl kaum eine Chance, geschweige denn seine Realisierung. 20. November 2006 Sehr geehrter Herr Laska, mir ist nicht verständlich, warum Sie mich in Ihrem Brief vom 15. November auf „Einjagen von Angst“ festlegen wollen, bloß deshalb, weil ich die Wichtigkeit der Angst für die Bildung der Persönlichkeit bejahe. Seltsam scheint mir auch, daß Sie den Hunger nach Angst, die kindliche Angstlust, nicht erkennen können. Wozu wären sonst die Jahrmärkte mit Rüttelund Schüttelkarussells, Achterbahn und Riesenrad da – und nun gar die Geisterbahn, die auf keinem Jahrmarkt fehlen darf? Das moderne Kind wird viel davon am Computer abreagieren, aber dazu kann ich nichts sagen. Beim noch sehr kleinen Kind entspricht solchem Thrillergenuß der Jahrmarktsfreuden z.B. die Begeisterung, sich – eventuell mit Jauchzen – vom starken Arm des Erwachsenen hochheben und in der Luft herumschwenken zu lassen, was sogar objektiv nicht ganz ungefährlich ist. Kinder lieben gruselige Märchen. Weniger lieb, aber sehr vertraut und fast unvermeidlich ist ihnen die Angst beim Einschlafen, wenn sie in der Dunkelheit allein sind. Auch das ist eine Angsterfahrung, die ihnen niemand einjagt, aber es wäre wahrscheinlich ein erzieherischer Mißgriff, sie ihnen ganz ersparen zu wollen, etwa in der heute nicht ganz unüblichen Einladung dazu, nachts, wenn ihnen nicht geheuer ist, das tröstende elterliche Ehebett heimzusuchen. Solcher Angsterfahrungen bedarf meiner Meinung nach das Kind, und teilweise sucht es sie. Daß Gott dazu herhalten muß, ist heute nicht mehr die Regel und wohl nur noch von peripherer Bedeutung; was der Weihnachtsmann dazu beitragen könnte, ist mir gar nicht klar, denn vor der Rute des Knechtes Ruprecht wird doch wohl kaum noch ein Kind echte Angst haben. Sie weichen auf die „Drastik grobkörperlicher Schäden“ aus, auf deren Vermeidungswürdigkeit sich alle einigen können, „um einerseits nicht in rousseauistische Fahrrinnen zu rutschen, andererseits aber auch nicht jedem zu glauben, der behauptet, hier und heute mit sich und damit auch mit seiner Genese zufrieden zu sein“. Dieser Rekurs auf das Extrem führt bei realen Erziehungsfragen nicht weit und ist auch nicht nötig, um mit guten Gründen voreilige Selbstzufriedenheit zu kritisieren und zu verwerfen. Man muß sich nur von der illusionären Überlastung der Vernunft mit der Anmaßung, von einem archimedischen Punkt des absolut Richtigen und Vernünftigen menschliche Meinungen zensieren zu können, freimachen. Die realistische Aufgabe der Vernunft bei der Bewertung des Geschehens

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kann nur darin bestehen, das Zeugnis des Gefühls kritisch zu prüfen. Dieses Zeugnis ist immer an eine subjektive Perspektive gebunden und hält auch die prüfende Vernunft darin fest, aber es ist nicht die Perspektive des isolierten Einzelnen, weil dieser immer auch in gemeinsamen Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus mit Anderen geteilten Überzeugungen, Programmen und Problemen lebt, diesen aber keineswegs ausgeliefert ist, sondern in seiner vernünftigen Kritikfähigkeit das Werkzeug zur Umbildung solcher leitenden Gedankenmassen, zur Distanzierung von ihnen oder zum Brückenschlag zwischen ihnen, anvertraut bekommen hat. Man darf daher freilich nicht zu optimistisch sein; die Fronten zwischen gemeinsamen Situationen sind manchmal unüberbrückbar, so z.B. meiner Vermutung nach heute zwischen der „westlichen Welt“ und dem Islam. Dann und nur dann wird der Konflikt tragisch, aber sogar die Tragik kann im Sande verlaufen. Sonst kann man sich mehr oder weniger einigen oder wenigstens nach Gentlemenart respektieren. Ganz verkehrt wäre es jedenfalls, aus dem Verzicht auf die Anmaßung eines archimedischen Punktes der maßgeblichen Bewertung energischer Kritik an Anderen und an deren Wertungsweise zu entsagen; allerdings sollte man erst recht das Gegenteil vermeiden, nämlich den Anderen vorwitzig mit der eigenen Wertungsweise zu überziehen und nicht seiner eigenen Reflexion einen gebührenden Spielraum zu überlassen, um herauszufinden, was für ihn das gute Leben ist. Wo das Gebührende seine Grenzen findet, darüber kann allerdings wieder nur das eigene kritisch geprüfte Gefühl den Ausschlag geben. 17. Dezember 2006 Sehr geehrter Herr Schmitz, wieder einmal muss ich hier mit einer Bitte um Entschuldigung für die Verzögerung meiner Antwort auf Ihren Brief vom 20. November beginnen; oft – je älter ich werde, desto öfter und schneller – scheint mir die Zeit einfach davonzulaufen. Ein Leser unserer letzten Briefe, wo Sie im Zusammenhang unserer Diskussion über das Problem der Enkulturation/Erziehung/Persönlichkeitsbildung mein „Ausweichen auf die Drastik grobkörperlicher Schäden“ monieren, oder auch, dass ich Sie auf das „Einjagen von Angst“ festlegen wolle, könnte meinen, hier ginge es bloß um Verständigungsprobleme, die mit etwas Geduld zu beheben wären. Vor dem Hintergrund unseres langjährigen Austauschs und der Kenntnis einiger Ihrer Bücher glaube ich aber eher, dass es um grundsätzliche Differenzen – um eine grundsätzliche Differenz – geht. Wahrscheinlich ist uns beiden diese voll bewusst; aber bei jedem Versuch, sie sprachlich dingfest zu machen und auf eine allgemeine Formel zu bringen, scheint sie wieder, statt klarer zu werden, zu zerfließen. So kehren wir immer wieder zu konkreten Punkten zurück.

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Zur „Drastik grobkörperlicher Schädigungen“ bin ich nicht ausgewichen, sondern ich habe sie angeführt, um zu zeigen, dass es überhaupt Eingriffe gibt, die „objektiv“ Schädigungen sind. Ihre Erwiderung lautete, auch diese seien nicht immer wirkliche Schäden, und, dies vor allem, Schäden seien prinzipiell nur „subjektiv“ als solche zu klassifizieren. Nur der Erwachsene könne darüber befinden, ob er durch eine Maßnahme, die ihm als Kind widerfuhr, geschädigt worden sei. Das habe ich nicht akzeptiert. Außer dem bereits im letzten Brief dazu Gesagten möchte ich noch zu bedenken geben, dass die grobkörperlichen oder subtilseelischen Schädigungen, die hier interessieren – also die das „irrationale Über-Ich“ psycho-physisch konstituierenden –, gerade solche sind, die vom Erwachsenen nicht als Schädigungen empfunden werden, sondern im Gegenteil, unbewusst und bewusst, mit heiligstem Eifer „zum Wohle des Kindes“ weitergegeben werden – von Generation zu Generation. Zur Frage der angeblich naturgegebenen „Angstlust“ habe ich ebenfalls schon das für mich Wesentliche gesagt. Sie sehen zum Beispiel die Evidenz für „Hunger nach Angst“ und „Angstlust“ darin, dass es Achterbahnen und Geisterbahnen gibt, die von Kindern gern aufgesucht, Schauergeschichten von Märchenfiguren und Gott, die gern gehört und, neuerdings, Horror-Computerprogramme, die bis zur Erschöpfung gespielt werden. Ich bezweifle zunächst einmal nur, was Sie als felsenfestes Fundament voraussetzen: dass die Angstlust eine biologisch verankerte anthropologische Konstante ist. Angesichts meiner äußerst skeptischen Haltung gegenüber den Praktiken, mit denen die jeweils Erwachsenen aus Kindern Ihresgleichen zu erzeugen pflegen, wundert mich, dass Sie mich „vor der illusorischen Überlastung der Vernunft mit der Anmaßung [warnen], von einem archimedischen Punkt des absolut Richtigen und Vernünftigen menschliche Meinungen zensieren zu können.“ Das trifft meine Haltung überhaupt nicht. Ja, Sie haben schon richtig erraten: ich meine, einen archimedischen Punkt gefunden zu haben, an dem anzusetzen wäre, um der Menschheitsmisere beizukommen. Ich mache mir allerdings nicht die geringsten Illusionen über den Boden, auf den meine Gedanken fallen müssten, um praktische Konsequenzen zu haben, schon gar nicht, seit mir immer deutlicher wird, dass nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa sich aufgegeben hat, in fast jeder Hinsicht. Da erscheinen mir eher Ihre Zukunftshoffnung und Vertrauen auf „das Rettende“ als illusorisch. 3. Januar 2007 Sehr geehrter Herr Laska, während Sie als Grund einer nicht ganz prompten Erwiderung in Ihrem Brief vom 17.12.06 angeben, daß die Zeit Ihnen davonzulaufen scheine, kann ich das Gleiche nur mit der Umkehrung begründen, daß nämlich ich

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sozusagen aus Kiel davongelaufen war, nämlich die letzte Dezemberdekade mit Freund- und Verwandtschaftsbesuch im Rheinland verbracht habe. Ihre Bemerkung, daß unsere grundsätzliche Differenz sich dem Formulierungsversuch zerfließend entziehe, war für mich Anlaß, eben ein wenig in der Akte unserer Korrespondenz zu blättern, weil ich mich zu erinnern meinte, Ihnen vor einiger Zeit ein entsprechendes Angebot gemacht zu haben, doch fand ich das nicht. Dennoch scheint mir, daß wir das Wesentliche des Gegensatzes, der weniger die Diagnose als die Perspektive betrifft, schon ziemlich klar herausgearbeitet haben. Sie denken, wenn ich Sie richtig verstehe, in die Zukunft teleologisch hinein, mit einem schmalen und vielleicht ungangbaren Pfad zum Wünschenswerten zwischen breiten Straßen zur Katastrophe. Ich setze eher auf unabsehbare Möglichkeiten und deren mit besonnener Vorsicht zu begleitende Freilegung, wobei die Vorsicht in erster Linie darin besteht, die Bereiche auszuleuchten, in denen neue, bisher verdrängte oder sonstwie übergangene Erfahrungen bevorstehen könnten, ohne die Gestaltungen vorwegnehmen zu wollen, die aus solchen Erfahrungen hervorgehen könnten. Ihr teleologischer Vorblick in der Richtung LSR auf eine Radikalisierung der Aufklärung ist mir dafür zu schmal, ja erschreckend dürftig (z.B. durch das Opfer der mythischen Phantasie) und auch in sich widersprüchlich, wie sich z.B. an der Figur eines rationalen Überich am Ziel jener Radikalisierung zu zeigen scheint. Wenn Sie es mir nicht verübeln: Der Eindruck des Zerfließens könnte bei Ihnen damit zusammenhängen, daß Sie mit Ihrer prospektiven Konzeption selbst noch nicht im Reinen sind. Im weiteren Verlauf Ihres Briefes (dritter Absatz) unterstellen Sie mir eine „Erwiderung“, die mir fernliegt, doch gehe ich nicht gern abermals darauf ein, weil ich das schon früher richtiggestellt habe. Ich bin weit davon entfernt, dem Einzelnen allein die Entscheidung zu überlassen, ob und wie er „geschädigt“ ist. Abgesehen von unglücklichen Sonderfällen und bedauerlicher Verranntheit in unfruchtbare Protesthaltung wird selten ein Erwachsener zugeben, daß er eindeutig und lediglich geschädigt sei, und mit Recht, weil er sich entwickelt, d.h. aus der Beeinträchtigung etwas gemacht hat, mit meist ambivalentem Ergebnis, das man nicht rundum billigen möchte, dem man aber auch manches Erfreuliche, ja Bewunderungswürdige abgewinnen kann. Das trifft nicht nur für Einzelleben zu, sondern auch auf große geschichtliche Formationen, z.B. den Einfluß des Christentums auf die Kultur. Das Urteil, was ein Schaden oder ein Gewinn ist, sollte man nicht dem „Opfer“ überlassen, aber auch nicht ohne Rücksicht auf dessen eigenen Befund abgeben, wobei man nicht immer im Ergebnis zögern muß, sondern bisweilen zu einer klaren Verteilung von Licht und Schatten kommen kann, aber auch die mag später wieder problematisch werden, wie die antichristliche Griechenschwärmerei von Goethe und Schiller. Wenn man letztinstanzlich über Gewinn und Verlust in der noch laufenden Geschichte

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urteilen will, nimmt man einen „archimedischen“ Standpunkt ein, der anmaßend oder naiv ist. Mir liegt es fern, die Angstlust als eine „biologisch verankerte anthropologische Konstante“ auszugeben; was Ihnen so aussieht, dürfte in zwei Überzeugungen bestehen, an denen ich festhalte: 1. Der leichte Übergang von Angst in Lust, mit dem Ergebnis ihrer Verschmelzung, ist aus der Struktur der leiblichen Dynamik (speziell des vitalen Antriebs) leicht zu verstehen. 2. Der Mensch hat ein natürliches Bedürfnis nach Angst oder einer anderen Form überwiegender leiblicher Engung, weil sonst sein Leib die spürbare Einheit verliert und seine Persönlichkeit zerläuft; er muß sich zusammennehmen oder gewissermaßen zusammen genommen werden von Affekten wie Angst, Schmerz, Beklommenheit, Bedrängnis, Kampf, Krankheit, Tod. Daher gibt es viele Konversionsmöglichkeiten; wer nicht der Lockung der Angst verfällt, sucht vielleicht den Kampf. Damit will ich das Leben nicht allzu düster malen; denn wie die Bedrängnis gibt es auch die Befreiung, das Glück des siegreichen Anschwellens gegen die Spannung oder der erleichterten Entspannung, und weiter die Führkraft des Ausseins auf etwas, das sich nicht als bestimmtes einzelnes Ziel angeben läßt, aber den Menschen davor bewahrt, sein Leben in einen Haufen von Elends- und Vergnügungszuständen vor dem Hintergrund grauer Verdrossenheit zerfallen zu sehen. 24. Januar 2007 Sehr geehrter Herr Schmitz, nein, da können Sie unbesorgt sein: ich verübele es Ihnen nicht, dass Sie vermuten, ich sei mit meiner „prospektiven Konzeption“ noch nicht im Reinen; auch wenn das nach dem Vorgängigen in Ihrem letzten Brief so klingt, als bräuchte ich nur noch etwas mehr Zeit, Überlegung und Gelassenheit, um mich Ihrer Konzeption anzuschließen. Damit will ich sagen, dass ich Ihre Trennung zwischen Diagnose (wo der Gegensatz unserer grundsätzlichen Auffassungen kaum zum Tragen komme) und Perspektive (wo er – derzeit noch – deutlich zu Tage trete) nicht mitvollziehen kann. Ich kann auch nicht bestätigen, dass mein Vorblick „in Richtung LSR“ teleologisch ist. LSR, um einmal die Kurzformel zu benutzen, steht ja im Gegenteil dafür, dass die Zukunft für das – jedes – einzelne Individuum in hohem Maße offen gehalten wird für die „eigene“ Gestaltung: indem das starre Korsett des irrationalen Über-Ichs so schwach gehalten wird wie es den Einflussnehmenden nur möglich ist, und damit – keineswegs Haltlosigkeit u.ä. hinterlassend, sondern vielmehr – die Wirkungsmöglichkeit des rationalen Über-Ichs erhöht wird. Aber darüber haben wir ja nun schon sehr ausführlich diskutiert, ohne dass es mir gelungen ist, Ihre Auffassung von der inneren Widersprüchlichkeit, teleologischen Ausgerichtetheit und – wie im letzten Brief formuliert – erschreckenden Dürftigkeit meines

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Konzepts zu korrigieren. Hier scheint es sich auch nicht um ein Problem des begrifflichen Missverstehens zu handeln, denn wir sind das gleiche Thema ja auch mit Ihren Begriffen des starken Daimons, des Wellenreiters und der Fassung durchgegangen und kamen stets zu dem gleichen Punkt. Nicht zuletzt zeigte sich der Gegensatz unserer Auffassungen bei der Diskussion von Stirners Ideen, zu denen wir noch unsere jeweiligen Publikationen heranziehen konnten. Anmerken möchte ich dazu nur noch etwas in Bezug auf Ihre Darstellung des Unterschieds unserer beiden Perspektiven bzw. „Prognosen“: Sie setzten, sagen Sie, auf unvorhersehbare Möglichkeiten, ich auf einen schmalen, vielleicht ungangbaren Pfad zwischen breiten Straßen zur Katastrophe. Meine Prognose ist natürlich gar keine; sie ähnelt eher einem Therapievorschlag, der jedoch so unerwünscht ist, dass er nicht einmal bedacht und zurückgewiesen wird. Sie ergibt sich allerdings zwangsläufig aus meiner Diagnose, so dass auch diese – obwohl sie auf gut belegten Studien zur Geschichte der Aufklärung beruht – selbst von Spezialisten nicht zur Kenntnis genommen wird. Ich habe diesen Sachverhalt, der sich an der (Nicht-)Rezeption von L, von S und von R demonstrieren lässt, als Primär-, Sekundär- und Tertiärverdrängung gefasst (und wohl schon in einem früheren Brief erläutert; oder Ihnen einen Artikel mit Exemplifizierung am Fall Stirner geschickt). Nun, damit sind wir eigentlich thematisch schon bei Ihrer zuletzt erneut ausgesprochenen „Warnung“ (so jedenfalls erscheint mir Ihr Hinweis), zu wähnen, man habe einen „archimedischen Punkt“ gefunden, denn dies sei anmaßend oder naiv. Sie hätten ruhig konkreter werden können. Schließlich gefielen mir in Ihren Schriften gerade die Stellen, wo Sie Ihre eigene, besondere Position in der Geschichte der Philosophie behaupten, z.B., weil ich das gerade zur Hand habe, in „Selbstdarstellung als Philosophie“, S. 423f., wo Sie sagen, dass sich die europäische Philosophie „jahrtausendelang vom introjektionistischen Reduktionismus in die Irre hat führen lassen, nun aber an einem Wendepunkt angelangt ist, wo sich ihr im Zeichen der Neuen Phänomenologie die Fülle der Gegenwart erschließt.“ Ich habe diese Thematik einige Male in „objektivem Gewand“ anzusprechen versucht, indem ich Sie zur Sache der präzedenzlosen Epochenschwelle (egal, ob durch Fichte, Stirner oder Schmitz am prägnantesten charakterisiert) befragte. Ihre Antworten habe ich als ausweichend in Erinnerung. Geht’s da um einen „archimedischen Punkt“, auch wenn man von ihm aus die Welt nicht aus den Angeln hebt? 1. Februar 2007 Sehr geehrter Herr Laska, aus der Perspektive, von der ich geschrieben hatte, daß wir uns in ihr meiner Meinung nach mehr als in der Diagnose unterscheiden, machen Sie

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in Ihrem Brief vom 24. Januar einerseits eine Prognose, die ich Ihnen gar nicht zumuten wollte, andererseits einen Vorblick, und das ist eine gute Übersetzung meines Wortes „Perspektive“ in diesem Zusammenhang. Ihren Vorblick beschreiben Sie als die Hoffnung, durch Schwächung des irrationalen Über-Ichs die Wirksamkeit des rationalen Über-Ichs erhöhen zu können. Damit kann ich nichts anfangen, weil ich nicht weiß, was das rationale Über-Ich sein soll. Ich vermute nur, daß es als ein archimedischer Punkt gemeint ist, von dem aus objektiv entschieden und beurteilt werden kann, was vernünftig ist. Das geht meines Erachtens seit Fichte/Stirner nicht mehr. Wenn ich vor Usurpation eines archimedischen Punktes warne, ist immer ein Maßstab der Bewertung gemeint, so in meinem Brief an Sie vom 20.11.06, wo ich den Verzicht auf die Anmaßung eines archimedischen Punktes der maßgeblichen Bewertung verteidige, ebenso in meinem Aufsatz „Was bleibt von Gott? Negative Theologie heute“ (abgedruckt in „Was ist Neue Phänomenologie?“ S. 321–332, nächstens in einer anderen Publikation des Alber-Verlages) S. 321 und 326–328. Wenn ich meiner Neuen Phänomenologie einen Beitrag zur Erschließung der Fülle der Gegenwart zuschreibe, wie an der in Ihrem Brief vom 24. Januar angegebenen Stelle, geht es nicht schon um Bewertung, sondern um das Offenlegen von Möglichkeiten durch begriffliche Annäherung. Daß ich selbst damit sehr ausgeprägte Bewertungen verbinde und den Anderen zumute, steht auf einem anderen Blatt und verträgt sich durchaus mit meiner Skepsis gegen archimedische Punkte, wofür ich an jene Briefstelle vom 20.11.06 erinnere. Insgesamt regt mich Ihr Brief vom 24.01. nicht sehr an, und ich fürchte mich vor Rückkehr an eine Mühle, die wir schon oft gedreht haben. Lassen Sie mich deswegen heute schließen. 16. Februar 2007 Sehr geehrter Herr Schmitz, keine Angst bitte: an die alte „Mühle“, die wir schon oft gedreht haben, möchte ich auch nicht zurück, wenn ich jetzt eine Formulierung aus Ihrem letzten Brief aufgreife. Sie sagen dort, ziemlich zu Beginn, ich hätte die Hoffnung, durch Schwächung des irrationalen Über-Ichs könne die Wirksamkeit des rationalen Über-Ichs erhöht werden; Sie aber könnten damit nichts anfangen, da Sie nicht wissen, was das rationale Über-Ich sein solle, vermuten aber, es sei damit ein archimedischer Punkt gemeint, von dem aus „objektiv“ bestimmt werden kann, was vernünftig ist. Ich weiß nach all den Briefen nicht mehr, was ich noch erklären könnte, um Sie von dieser Auffassung abzubringen. Sollte ich statt rational ratiogen resp. statt irrational irratiogen sagen? Aber daran kann es doch, nach all den Erläuterungen, nach all dem Mühlraddrehen, nicht liegen. Dabei habe ich manchmal den Eindruck, dass wir im Grunde gar nicht so sehr auseinanderliegen; so z.B., wenn Sie in Ihrem letzten Brief, mit Bezug auf die von mir im Brief davor

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zitierte Stelle aus „Selbstdarstellung …“ S. 423f., schreiben, dass es Ihnen „nicht schon um Bewertung, sondern um das Offenlegen von Möglichkeiten“ geht. Genau das aber ist auch mein Bestreben, nur dass ich nicht glaube, dass dies, wie Sie schreiben, durch „begriffliche Annäherung“ zu schaffen ist. Warum? Wenn der Mensch zu begrifflichem Denken fähig wird, sind zuvor schon wesentliche Weichen gestellt worden, ist – pardon – das irratiogene Über-Ich bereits errichtet, psychisch und physisch im Organismus verankert. Nun kommen zwar die „Vernunft“ und das ratiogene Über-Ich – die ethischen Regeln – hinzu, aber sie werden immer nachgeordnet bleiben. Das ist vergleichbar mit der Frage der sog. Religionsmündigkeit: vierzehn Jahre religiöse Erziehung und dann, ganz „liberal“, die sog. freie Wahl. Auf eine Frage in diesem Zusammenhang will ich noch kurz eingehen, obwohl Sie sie merkwürdigerweise, soweit ich mich erinnere, nie gestellt haben: Was ist denn in meinen Augen eigentlich so schlimm oder schädlich am irratiogenen Über-Ich, an der – meist vom Erzieher unbewusst bewirkten – Introjektion quasi-moralischer Imperative in noch sehr junge Kinder? Was schadet es, wenn man annimmt, der Mensch sei „von Natur“ nicht „gut“ und „sozial“, sondern „böse“ und „asozial“; wenn man dem Kind also schon so früh wie möglich das gute Verhalten beibringt? Liegt man mit dieser Annahme nicht auf jeden Fall richtig? Ich glaube, dass der Fehler dieser Ansicht darin liegt, dass sie nicht berücksichtigt, welche „Kollateralschäden“ bei dieser Art von Erziehung entstehen. Wilhelm Reich hat das triebpsychologisch einmal auf die Formel gebracht, „dass die moralische Regulierung des Trieblebens gerade das schafft, was sie bändigen zu können vorgibt: das asoziale Triebleben.“ Aber abgesehen von Reich – ich bin kein Psychoanalytiker – erscheint es mir unmittelbar evident, dass die unbewusste Reproduktion der je neuen Generation durch die je alte nach Kräften aufgelöst werden sollte, wenn man, wie Sie fordern, ein wirkliches „Offenlegen von Möglichkeiten“ für die Jungen beabsichtigt. Das heißt natürlich nicht, dass man für sich nicht, soweit man dazu in der Lage ist, „die Fülle der Gegenwart erschließt“; aber menschheits- bzw. kulturgeschichtlich betrachtet – im Bewusstsein der präzedenzlosen Epochenschwelle, von der wir oft sprachen – wäre es eine schöne Aufgabe, die jeweils jüngere Generation möglichst wenig zu beeinträchtigen, so dass sie sich jeweils „die Fülle der Gegenwart“ ein Stück weit besser zu erschließen vermag als ihre Vorgänger. – Sie sehen, ich schreibe das im Konjunktiv. Ich stehe durchaus mit beiden Beinen im Leben und glaube natürlich nicht, dass die Entwicklung auch nur der europäischen Menschheit in diese Richtung verlaufen wird. Andererseits meine ich – auch aufgrund meiner Aufklärungsforschungen zu „L/S/R“ – nicht, dass meine Überlegungen deshalb ungültig oder von Grund auf fehlgeleitet sind. Das ist eingestandenermaßen ein

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paradoxes Nebeneinander von jeweils extremem Realismus und Irrealismus. Hmmm. 7. März 2007 Sehr geehrter Herr Laska, die Antwort auf Ihren Brief vom 16. Februar habe ich etwas länger als üblich hinausgeschoben, einerseits, weil ich dabei war, ein Buch über Freiheit zu schreiben, das jetzt bis auf zwei Anhänge im Manuskript fertig ist, andererseits aber, weil ich nach Lektüre des Briefes fast verzweifelte, ob wir aus dem Weiterdrehen der Mühle im Leerlauf herauskämen, und diese Ahnung erst einmal zur Ruhe kommen lassen wollte. Sie entstand aus Ihrer Mitteilung zu meiner Resignation vor dem rationalen Über-Ich, Sie wüßten „nach all den Briefen nicht mehr, was ich noch erklären könnte“. Dabei habe ich aus all den Briefen noch gar nichts vom rationalen Über-Ich verstanden. Was soll das sein? Den Ausdruck „Über-Ich“ kenne ich aus der Metapsychologie Freuds. Er bezeichnet ihm, wenn ich mich recht erinnere, eine normative Instanz, die sich aus Überlieferung, Erziehung und Vaterbild in der Persönlichkeit gebildet hat und die Person so gefügig macht, daß diese nicht wagt, gegen die Autorität der Instanz ihren Eigenwillen durchzusetzen. Daß so etwas unvernünftig sein kann (nicht unter allen Umständen sein muß), ist unbestritten; insofern habe ich Verständnis für den Ausdruck „irrationales Über-Ich“. Aber „rationales Über-Ich“? Soll der Sinn dieses außer in Ihren Briefen von mir noch nie vernommenen Ausdrucks durch vorstehende Definition (von „eine normative Instanz“ an) erklärt werden, nur mit der Einfügung von „vernünftige“ vor „normative“? Das wäre ein höchst monströser Begriff, den ich kaum einem Thomas von Aquina zutrauen würde, erst recht nicht Ihnen, schon gar nicht Stirner. Aber warum dann „Über-Ich“? Wenn ich Ihnen mit meinen Deutungsversuchen lästig falle, bitte ich um Entschuldigung, wobei ich Sie aber bitte, einen Teil der Schuld zu übernehmen, weil Sie mir mit dem Ausdruck „rationales Über-Ich“ einen begrifflich für mich nicht einzuordnenden mysteriösen Brocken hinwerfen. Und helfen Sie bitte nicht mit der Neubildung „ratiogenes Überich“. Abgesehen davon, daß eine graecolateinische Hybridbildung sprachlich unschön ist, wird die Sache nur mysteriöser, wenn wir eine tyrannische normative Autorität aus Überlieferung bekommen, die Vernunft erst noch produzieren soll. Zu meiner Verwunderung identifizieren Sie das ratiogene Über-Ich mit „den ethischen Regeln“, die ein Mensch in einer zweiten Lebensphase nach der Verankerung des „irratiogenen Über-Ichs“ in seinem Organismus in der ersten Phase übernehme, aber was haben diese Regeln mit Vernunft zu tun? Können sie nicht genau so unvernünftig sein? Mir scheint, daß Sie die Ausdrücke „rational“ und „ratiogen“ doppelsinnig gebrauchen, nämlich einmal in einem wertenden Sinn („rational“ als Gegenteil von „irrational“ im tadelnden, ungünstigen

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Sinn), andererseits in einem psychologisch-formalen Sinn (dafür, daß die Übernahme ethischer Regeln in einem Alter erfolgt, in dem die Urteilskraft schon wacher als beim kleinen Kind ist, was sie aber nach Freud nicht daran hindert, sich immer noch vom Über-Ich tyrannisieren zu lassen). Aus dem zweiten Absatz Ihres Briefes wird mir der Gegensatz unserer Ansichten – ungeachtet mancher Übereinstimmung – abermals sehr deutlich. Daß der Mensch von Natur asozial und böse sei, ist für mich eine ebenso hohle und unbefugt auftrumpfende Behauptung wie die umgekehrte, daß er von Natur gut sei; in beiden Fällen nimmt man für die Wertung einen archimedischen Punkt in Anspruch, der nicht konstruierbar ist. Vom Abbau der Überlieferung, und damit der implantierenden Situationen, verspreche ich mir keine Befreiung der an sich guten Menschennatur, sondern einen Wärmetod der Menschheit (analog dem von der Thermodynamik vorhergesagten Endzustand des Universums). Statt einer Beschneidung der Überlieferung empfehle ich ihre beständige Überwachung von allen Seiten, damit sie sich nicht zum irrationalen (deutsch: unvernünftigen) Über-Ich auswächst, halte eine reinliche Lösung des Problems in der Allgemeinheit aber für unmöglich und überlasse die immer neue Bewältigungsaufgabe dem Individuum, damit es sich an der Überlieferung (durch Erziehung usw.) zwar nicht die Zähne ausbeißt, aber das Gebiß schärft. Der scharfe Biß, den man lernt im Zubeißen auf das, was einem vorgesetzt wird, mit anschließendem Abschmecken des Mundenden und Würdigung (bis zur Hochschätzung und Verehrung) des Genießbaren, scheint mir der beste Weg zur Erneuerung der Kultur, damit sie sich wie eine Schlange häutet und nicht in sterilem Weitermachen oder nichtssagender Beliebigkeit versandet. Viel besser als der moderne Tanz auf den Spitzen der Menschenrechte gefällt mir der römische Kult des mos maiorum. Beim Begräbnis eines Patriziers hielt der älteste Sohn die Leichenrede, und die Totenmasken der Vorfahren, die einmal patres familias gewesen waren, sahen zu, als symbolische Prüfer, ob der Tote gemäß dem Bericht der alten Sitte würdig gelebt hatte. Ein ehrwürdiger Brauch. 25. März 2007 Sehr geehrter Herr Schmitz, in einem Punkt Ihres letzten Briefes stimme ich Ihnen gern zu: dass die graeco-lateinische Hybridbildung „ratiogen“ eine unschöne Sache ist. Ich hatte das ja auch nur probeweise geschrieben, in der Absicht, so meine Rede vom rationalen Über-Ich durch einen prägnanten (wenngleich unschönen) Neologismus zu verdeutlichen. Nun lese ich, dass Ihnen alles dadurch nur noch mysteriöser erscheint. Das macht mich noch ratloser, zumal wir beide ja das Empfinden haben, seit einiger Zeit an einer leerlaufenden Mühle zu drehen – und das nicht weiterhin tun wollen. Sie ver-

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suchen es dennoch mit einer neuen Runde. Vielleicht kommen wir also doch noch zu einem befriedigenden Ergebnis. Für den Ausdruck „irrationales Über-Ich“, sagen Sie, haben Sie Verständnis. Das (Freud’sche) Über-Ich sei „eine normative Instanz, die sich aus Überlieferung, Erziehung und Vaterbild in der Persönlichkeit gebildet hat und die Person so gefügig macht, dass diese nicht wagt, gegen die Autorität der Instanz ihren Eigenwillen durchzusetzen.“ Das könne, müsse aber nicht unter allen Umständen unvernünftig sein. Warum Sie bei dieser Sichtweise, wonach die Unterwerfung unter jene Instanz auch vernünftig sein kann, den einen Ausdruck „irrationales Über-Ich“ akzeptieren, den anderen „rationales Über-Ich“ aber für einen „höchst monströsen Begriff“ und „begrifflich mysteriösen Brocken“ halten, ist für mich nicht nachvollziehbar. Aber das eigentliche Problem liegt wohl woanders: zum einen darin, ob es überhaupt Kriterien geben kann, hier im konkreten Fall zwischen vernünftig und unvernünftig zu unterscheiden; zum anderen im Verständnis dessen, was als in der obigen Über-Ich-Definition als Eigenwillen anzunehmen ist. Ich fürchte nur, dass wir beim Versuch, uns hierüber zu verständigen, nur in größere terminologische Verunklarungen geraten als bisher. Mir geht es nämlich mit dem bei professionellen Philosophen bis heute heiß diskutierten „freien Willen“ in etwa so, wie Ihnen mit dem „rationalen Über-Ich“: ich halte ihn für einen Unbegriff, kann mir partout nichts Fassbares darunter vorstellen. Wilhelm Reich, den Freud instinktsicher als seinen Antipoden wahrgenommen und kommentarlos aus seiner psychoanalytischen Schule sequestriert hat, operierte übrigens ungern und nur übergangsweise mit dem Begriff des Über-Ichs. Er fand die auch in Ihrer obigen Definition gegebene Auffassung, dass die Person mit ihrem „Eigenwillen“, also wohl ihr Ich, sich vom Über-Ich, wie Sie schreiben, tyrannisieren lässt, nicht zutreffend oder sah diesen Fall nur als weniger problematischen Aspekt. Über-Ich und Ich bilden ja auch bei Freud – und wohl nach wie vor auch bei seiner bunten Nachfolgerschaft – eine recht verschwommene, mehr oder weniger gespaltene Einheit. Reich transformierte all diese Unklarheiten in seine Charakterlehre, in der er neue Begriffe einführte. Darin ist zumindest diese Vorstellung, dass eine normative Instanz die Ansprüche des Es reguliert, dabei das vermittelnde Ich tyrannisiert etc. aufgehoben. Im sog. Eigenwillen sind, wenn er nicht im Konflikt mit den Forderungen des Über-Ich steht, diese Forderungen bereits enthalten. Die Frage, die sich damit stellt, ist die nach der (Denk-)Möglichkeit eines genuinen, authentischen oder wahren Eigenwillens. Ein Großteil der philosophischen Literatur kreist seit eh und je, in dieser und jener Verklausulierung, um diese Problematik; auch unsere Korrespondenz scheint da, wo wir sie als Leerlauf-Mühle empfinden, sich um sie zu drehen. Ich habe versucht, sie zu verlassen, indem ich das Problem

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als praktisches nahm: es geht – bzw. ginge – darum, die Ausbildung des „irrationalen Über-Ichs“ bei jeder heranwachsenden Generation nach Kräften zu verhindern. 29. März 2007 Sehr geehrter Herr Laska! Ihr Brief vom 25. März bringt uns keinen Schritt weiter auf dem Weg zur Beseitigung meines Unverständnisses für den Sinn Ihrer Wortbildung „rationales Über-Ich“, im Gegenteil, Sie ziehen den Knoten noch fester, indem sie „nicht nachvollziehbar“ finden, warum ich den Ausdruck „irrationales Über-Ich“ akzeptiere, aber den Ausdruck „rationales Über-Ich“ für einen „begrifflich mysteriösen Brocken“ halte. Ihr Unverständnis gründen Sie auf meine Angabe, daß die Tyrannei des Überichs im Sinne von Freud nicht unter allen Umständen unvernünftig sein müsse. Damit will ich nur die rigorose Ausmerzung abwehren, „die Ausbildung des ‚irrationalen Über-Ich‘, bei jeder heranwachsenden Generation nach Kräften zu verhindern“, wie Sie am Schluß Ihres Briefes vom 25.03. schreiben. Ich halte also einen rücksichtslosen Kampf gegen das Freud’sche Über-Ich in jeder neuen Generation für überzogen, weil man damit wertvolle Gehalte, z.B. der mythischen Phantasie, mit vertilgen könnte und sich hüten muß, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Grundsätzlich halte ich aber jede Tyrannei, solange sie anankastische Züge hat, für überwindungsbedürftig durch personale Emanzipation, und daher stimme ich Ihrer Ablehnung eines irrationalen Über-Ichs zu; der Unterschied zwischen uns betrifft in dieser Hinsicht nur die Taktik. Aber das hat doch nichts damit zu tun, daß Sie der Ratio oder Vernunft selbst den Anstrich eines Tyrannen geben wollen, indem Sie den Freud’schen Ausdruck „Über-Ich“ zu der meines Erachtens monströsen Bildung „rationales Über-Ich“ benützen. Meine Bedenken dagegen suchte ich Ihnen in meinem Brief vom 7.03. von verschiedenen Seiten nahe zu bringen. Sie sind in Ihrer Antwort nicht darauf eingegangen, und deswegen sind wir in der Verständigung keinen Schritt weitergekommen. Über den „freien Willen“ denke ich wie Sie. Die Problematik der Freiheit ist zu kompliziert, um sie in unseren Briefwechsel aufzunehmen. Der Eigenwille kann aber ohne Rücksicht auf die Frage, ob er frei oder unfrei ist, zur Geltung gebracht werden. Es ist eine triviale Alltagserfahrung, daß jemand seinen Willen gegen Zumutungen, von denen er sich losmacht, durchsetzt; dann kann man von Eigenwillen sprechen. Die schlimmste Perversität, die ich mir denken kann, entsteht aber, wenn man diesen Eigenwillen von jeder Konfrontation mit einer normativen Instanz entbindet. Damit würden wir Stirner auf den Weg zu hemmungs- und bindungsloser Frivolität folgen, und ich fürchte, daß Ihre Andeutungen über eine Charakterlehre Reichs in dieselbe Richtung führen: „Darin ist zumindest diese Vorstellung, daß eine normative Instanz die Ansprüche des Es reguliert,

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dabei das vermittelnde Ich tyrannisiert etc. aufgehoben. Im sog. Eigenwillen sind, wenn er nicht im Konflikt mit den Forderungen des Über-Ich steht, diese Forderungen bereits enthalten.“ Diese Sätze Ihres Briefes leiden allerdings, wenn ich sie richtig verstehe, an einem krassen logischen Widerspruch, weil Sie einerseits eine normative Instanz für das Ich ablehnen, andererseits aber (mit Reich) fordern, daß der Eigenwille nicht in Konflikt mit den Forderungen des Über-Ich steht. Wie auch immer Sie diesen Widerspruch ausgleichen, meine Stellungnahme zum Verhältnis von normativer Instanz und Eigenwille können Sie vielen klaren und breiten Ausführungen in unserer Ihnen vorliegenden Korrespondenz entnehmen: Ich plädiere für einen Eigenwillen, der sich einer normativen Instanz unterwirft, die ihn nicht tyrannisiert, weil die Person auch bei Mobilisierung aller Reserven ihrer Kritikfähigkeit (ihrer Ratio) merkt, daß sie nicht in der Lage ist, der Autorität dieser Instanz ihre Bereitschaft zum Gehorsam unbefangen zu verweigern. Die Autorität muß sich also an der eigenen kritischen Vernunft messen lassen. Es wird sich immer um die Autorität eines Gefühls handeln, etwa eines moralischen, erotischen oder religiösen. Vielfach wird die Herkunft solcher Autorität aus implantierenden Situationen, die ererbt oder erworben sind, zu vermuten sein. Das schadet nichts, sofern diese Autorität nur immer frisch vor dem Forum der eigenen mobilen Kritikfähigkeit die Prüfung auf unbedingten Ernst im angegebenen Sinn besteht. 22. April 2007 Sehr geehrter Herr Schmitz, wenn Sie mir in früheren Briefen, gelegentlich mit etwas Ungeduld, schrieben, mit dem Begriff „rationales Über-Ich“ könnten Sie überhaupt nichts anfangen, dann habe ich dies oft dahingehend aufgefasst, dass Sie mich in bester „maieutischer“ Absicht dahin leiten wollten, meine Gedanken zu klären und in einen adäquaten Ausdruck zu überführen. Meine wiederholten Versuche, dem zu entsprechen, führten denn wohl auch zu textlichen Wiederholungen und schließlich in die von Ihnen so genannte „Mühle“, an der immer weiter zu drehen uns beiden wenig sinnvoll erschien und erscheint. Nun will ich als Nicht-Philosoph gern zugeben, dass ich mich mit der Formulierung philosophischer Texte nicht leicht tue, auch, dass es mir bei dem Versuch, jenen Begriff zu explizieren, an der wünschenswerten Professionalität mangelte. Dennoch fällt es mir schwer zu glauben, dass Sie nach all den Umschreibungen aus der „Mühlenphase“ unseres Briefwechsels von dem, was ich mit dem „rationalen Über-Ich“ meine, keine Vorstellung entwickeln konnten; dass es Ihnen am Ende nur als „höchst monströs“ erscheint und ein „mysteriöser Brocken“ geblieben ist. An einer anderen Stelle, die ich jetzt aus dem Gedächtnis wiedergebe, führen Sie gegen das „rationale Über-Ich“ an, dass dies ein Ausdruck für einen Gegenstand ist, von dem Sie noch nie irgendwo gehört haben. Dies

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bestätigt meinen eigenen Eindruck, den ich freilich nur aufgrund eines mit Sicherheit weitaus geringeren Lesepensums gewonnen habe. Für mich folgt daraus allerdings nicht, dass es sich um eine Monstrosität handelt. Vielmehr drehe ich sozusagen den Spieß um und betrachte die bisherige Kulturgeschichte der Menschheit als von monströsen Grundzügen bestimmt. Hier vermutete ich eine Affinität zu Ihrer Lehre von den „Vier Verfehlungen des abendländischen Geistes“ (die ja wohl primär das Leben der Träger dieses Geistes betreffen) und zu Ihrem Postulat einer „präzedenzlosen Epochenwende“ (die Sie aus Fichte ableiten, ich aus den Aufklärungs-Parias La Mettrie, Stirner und Reich). Meine Versuche, unsere Diskussion auf dieses Gebiet zu lenken, begegneten aber, so mein Eindruck, stets einer gewissen Zurückhaltung Ihrerseits. Gefreut habe ich mich über Ihre klare Zustimmung zu meiner Auffassung von dem jetzt wieder allerorten, nun drapiert mit Neuro-Phraseologie, diskutierten „freien Willen“. Zu Ihrer anschließenden Feststellung, die Problematik der Freiheit sei zu kompliziert, um sie in unseren Briefwechsel mit aufzunehmen, möchte ich jedoch anmerken, dass sie m.E. in unserer unter dem Titel Über-Ich geführten Diskussion schon immer implizit enthalten war, ebenso wie die in unserem vorletzten Austausch aufgetauchte Frage nach der Natur des „Eigenwillens“. Ich glaube, gerade die Kompliziertheit und untrennbare Verwobenheit all dieser Begriffe stellt einen Großteil der Schwierigkeiten, denen wir in unseren Diskussionen immer wieder begegneten. Unser grundlegender Dissens zeigt sich wohl fassbarer in Bemerkungen, die am Rande der begrifflichen Diskussion auftauchen: etwa, wenn Sie, wie im letzten Brief, sich um den Fortbestand „wertvoller Gehalte, z.B. der mythischen Phantasie“ sorgen oder das Gespenst „hemmungs- und bindungsloser Frivolität“ beschwören, das Sie (leider) mit Stirner verbinden. Ich habe – anders als Sie zu vermuten scheinen – ganz und gar nichts gegen die von Ihnen als unverzichtbar angesehene „normative Instanz“ (= „Über-Ich“), nur halte ich es für essentiell, dass diese sich nicht mehr (bzw. immer weniger) auf jene Weise konstituiert, wie es in der kulturgeschichtlichen Epoche geschah, die durch „Verfehlungen“ charakterisiert ist. Das wäre der Kern der großen Epochenwende. 29. April 2007 Sehr geehrter Herr Laska, Ihr Brief vom 22. April läßt mich glauben, daß es sinnvoll ist, wenn wir nicht mehr über das rationale Überich diskutieren. Mir scheint nämlich, daß Ihnen, wenn Sie diesen Ausdruck brauchen, etwas vorschwebt, das noch nicht zur Vermittlung an Andere explizit genug ist. Mein Verdacht, den ich aus der Zusammensetzung der Wörter schöpfe, geht dahin, daß es sich um eine übersubjektive Vernunft handeln soll, die an den Einzelnen

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absolute, d.h. von dessen Standpunkt und Selbstbesinnung unabhängig gültige, Forderungen stellen könnte. Ein solches rationales Überich wäre der archimedische Standpunkt einer aller Relativität ledigen Normenstiftung. An eine solche Vernunft aus der Natur der Sache haben die Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts in der Tat geglaubt. Die Romantiker, zu denen (im Sinne der Frühromantik, nicht der etwas schwelgerischen Spätromantik eines Eichendorff u.a.) im weiteren Sinn auch Stirner gehört, sind über diese Illusion hinaus; das ist die Quintessenz der sogenannten Wende um 1800. Ich, der ich mich dieser Wende verpflichtet fühle, bin ständig damit beschäftigt, den feinen Unterschied zwischen Subjektivität und Beliebigkeit herauszuarbeiten, um den Sprung aus der unvermeidlichen Relativität zu der Devise „Anything goes“ von Paul Feyerabend, der im Grunde auch Stirner anhängt, vermeidbar zu machen. Darüber könnten wir uns vielleicht verständigen, wenn ich mich auf Ihre Beteuerung verlassen dürfte, daß auch Sie keinen archimedischen Punkt der Normenstiftung annehmen, aber, wenn das so ist, verstehe ich nicht, warum Sie an einem rationalen Überich festhalten. (Zum Überich vgl. übrigens Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 11 Spalten 39f.) In Ihrem Brief vom 25. März scheinen Sie eine Antwort auf diese Frage durch den Hinweis auf die Charakterlehre von Reich geben zu wollen, wonach „im sog. Eigenwillen (…), wenn er nicht im Konflikt mit den Forderungen des Über-Ich steht, diese Forderungen“ – nämlich die, wodurch „eine normative Instantz die Ansprüche des Es reguliert“ – „bereits enthalten“ sind. Das klingt aber doch so, als müsse der Eigenwille an einem Überich als normativer Instanz auf einem archimedischen Punkt Maß nehmen, um als Geschäftsträger dieser Instanz in dem von ihr vorgezeichneten Rahmen das dafür Nötige in sich zu enthalten. Damit wären wir über die Vernunftgläubigkeit des 18. Jahrhunderts nicht hinaus. Die Romantiker einschließlich Goethes und Hegels haben diesem „selbstklugen Jahrhundert“ vorgehalten, daß es die spontanen Bildungs- und Gestaltungskräfte, zu denen auch die mythische Phantasie und der Mutterschoß der jeweiligen geschichtlichen Bedingtheit und Überlieferung gehört, durch abstrakte Leitbilder überholen wollte, und diesen Verdacht werde ich auch vor Ihrer Erwartung eines rationalen Überichs nicht los. 19. Mai 2007 Sehr geehrter Herr Schmitz, wenn Sie sagen, dass ich mit dem „rationalen Überich“ – einem Ausdruck, der Ihnen zuvor in der Literatur noch nie begegnet ist – etwas zum Ausdruck bringen will, „das noch nicht zur Vermittlung an Andere explizit genug ist“, liegen Sie vermutlich richtig. Wenn Sie allerdings meine Behauptung ernst nehmen, dass ich damit ins Zentrum dessen ziele, was Sie als große Epochenwende, als Übergang aus dem „in die unvordenkliche Vor-

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geschichte zurückreichenden Zeitalter der gleichsam kindlichen Menschheit“ („Selbstdarstellung …“, S. IX) in ein neues bezeichnet haben, dann, so war meine Hoffnung, dürften Sie vor anderen Anderen prädestiniert dafür sein, meine Intention zumindest ahnend zu verstehen, auch wenn ich sie bisher vielleicht nur in unprofessionellen Umschreibungen zum Ausdruck brachte. Sie aber schrieben, Sie hätten „nach all den Briefen noch gar nichts vom rationalen Überich verstanden“ (7. März) und schöpften, all die Briefe beiseite lassend, allein „aus der Zusammensetzung der Wörter“ den Verdacht, ich meinte eine übersubjektive Vernunft, wie sie die Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts konzipiert hatten. (29. April) Was soll ich dazu sagen? Sie wissen ja, dass einer meiner drei Helden, La Mettrie, insbesondere von den radikalsten Propagandisten jener Vernunft, von Holbach und Diderot, gehasst, durch Totschweigen bekämpft und zu einem, wie ich sagte, „Paria des Geistes“ gemacht worden ist. Am wirkungsvollsten gelang es jedoch Rousseau, den bei La Mettrie aufkeimenden Gedanken zu verschütten. Es spricht m.E. durchaus einiges dafür, dass Rousseaus berühmtes Erweckungserlebnis – und sein anschließendes Philosophieren – eine Folge der ihn existentiell erschütternden Begegnung mit dem damals gerade erschienenen „Discours sur le bonheur“ von La Mettrie gewesen ist. Die Rousseau-Forschung allerdings ist diesem Verdacht – da bin ich ziemlich sicher, obwohl ich die Flut an Sekundärliteratur natürlich nicht vollständig prüfen kann – bisher nicht nachgegangen. Ich bin scheinbar etwas vom Thema abgekommen, weil ich nicht wieder unsere alte Mühle weiter drehen wollte und Ihnen zustimme, dass es wenig Sinn hat, weiter über den Begriff des rationalen Überichs zu diskutieren. Nicht wirklich vom Thema abgekommen bin ich deshalb, weil die Geschichte von Rousseaus „Überwindung“ des die Aufklärer erschütternden Kerngedankens von La Mettrie (die Negation des „irrationalen Überichs“) meinen zweiten – den ideenhistorischen, neben dem begrifflichen – Zugang zu der großen Problematik der Epochenwende paradigmatisch darstellt. Der „Fall“ Rousseau erinnert mich in mancher Hinsicht übrigens stark an den „Fall“ Nietzsche (als einen der beiden großen „Überwinder“ Stirners). Mir ist natürlich klar, dass ich mich sowohl mit meinen begrifflichen Konstrukten als auch mit meinen ideenhistorischen Fokussierungen und Spekulationen (etwa über „Nietzsches initiale Krise“ oder eben Rousseaus Erweckung) weitab vom Hauptstrom des philosophischen Denkens befinde. Da ich keineswegs meine, (nur) einen angemessen bescheidenen Beitrag zu diesem leisten zu können, verstehe ich, dass Sie den Eindruck bekamen, ich meine, einen „archimedischen Punkt“ (gar: „der Normenstiftung“) gefunden zu haben (sie erwähnten ihn bereits des öfteren, im letzten Brief allein dreimal). Ich würde aber lieber von einem „gordischen Knoten“ sprechen, den ich durchschlagen habe. Solange ich denke, habe ich einen

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starken, leidenschaftlichen Drang nach „Philosophie“ (wie Sie, „Selbstdarstellung …“, S. 201, sagen: Michbesinnen auf mein Michfinden in meiner Umgebung) gehabt, gelebt. Die Philosophie von zwei Jahrtausenden, wie ich sie vorfand, empfand ich dabei als wenig hilfreich, eher als hinderlich, schließlich eben als gordischen Knoten; und langsam, in Auseinandersetzung mit den mir am wertvollsten erscheinenden Kapiteln, erwarb ich die Kraft, ihn zu zerschlagen. 4. Juni 2007 Sehr geehrter Herr Laska, unser Einverständnis darüber, daß Ihre Vision eines rationalen Überichs noch nicht explizierbar ist, beraubt uns einer tragenden Säule unseres Gesprächs über den wünschenswerten Zustand der Menschheit zur Überwindung der gegenwärtigen Krise. Immerhin könnte dieses Einverständnis für Sie den Vorteil bringen, daß Sie den Punkt, wo in Ihrer Vision noch Unklarheit und daher ein Verständigungshindernis besteht, besser einkreisen können. Das Angebot unbelegbarer historischer Hypothesen scheint mir zum Ersatz begrifflicher Klärung nicht geeignet zu sein. Ich gebe aber zu, daß die Annahme eines im Kontrast bestimmenden Einflusses von Stirner auf Marx und Nietzsche nicht unwahrscheinlich ist, nur sind die Wege solchen Einflusses – namentlich im Fall Nietzsches – nicht verfolgbar. Irgend ein Anzeichen für eine starke Einwirkung La Mettries auf Rousseau kann ich nicht entdecken. La Mettrie kommt wir wie eine bizarre Karikatur des Kallikles aus Platons Gorgias, den Sokrates dort als seinen Hauptgegner mit Worten niedermacht, vor. Beide gleichen sich mindestens in der von Sokrates an Kallikles gerühmten Schamlosigkeit. Während aber Kallikles als Verkörperung kraftvoller, rücksichtsloser Selbstbehauptung in einem Leben der Fülle imponiert, sehe ich bei La Mettrie nur kraftlose Bequemlichkeit, sich in ungehemmtem Wohlbehagen einzurichten. 14. Juni 2007 Sehr geehrter Herr Schmitz, Ihren letzten Brief (vom 4. Juni), der nach meinem Empfinden in Ton und Gestus, aber auch in seinem Gehalt, stark zu Ihren früheren Briefen kontrastiert, kann ich mir nur als aus einer Stimmung heftiger Verärgerung heraus entstanden erklären. Nun frage ich mich, woher diese Verärgerung rühren könnte. Ins Auge fällt mir, dass Sie ein Drittel des Briefes für eine an sich überflüssige Charakterisierung La Mettries verwenden. Wenn Sie dabei eindringlich Ihren Abscheu vor dieser Figur – tatsächlich vor einer Klischeefigur, die der polemischen Literatur des 18. Jahrhunderts entstammt –

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erklären, so dürfen Sie freilich nicht erwarten, dass ich darin eine ernstzunehmende Stellungnahme zu der von mir geäußerten Vermutung über den Einfluss von La Mettries „Discours sur le bonheur“ auf Rousseaus „Erweckungserlebnis“ bzw. seinen abrupten Wandel vom vagabundierenden Tunichtgut zum inbrünstigen, epocheprägenden Philosophen erblicke. Sie scheinen offenbar nicht einmal bereit zu sein, in La Mettrie einen „Nihilisten“ zu sehen, wie es Klerikale und Antiklerikale im 18. Jahrhundert und beispielsweise Crocker und Kondylis im 20. Jahrhundert getan haben. Was mag Sie so verärgert haben? Dass ich eine so „schamlose, kraftlose … etc.“ Gestalt auf so ungehörige Weise mit dem großen Rousseau in Verbindung zu bringen die Stirn habe? Hat dies Sie dazu gebracht, auch gleich meine rezeptionsgeschichtlichen Studien zu Stirner als „Angebot unbelegbarer [n.b. nicht nur unbelegter] historischer Hypothesen“ zu charakterisieren, die ich mangels Fähigkeit zu begrifflicher Klärung vorlege? À propos: Meinen einleitenden Satz am 19. Mai haben Sie m.E. etwas zu vordergründig ausgelegt. Wenn die Vermittlung meiner Idee(n) an Andere bisher nicht gelungen ist – auch nicht an Sie trotz unserer ausgiebigen Korrespondenz –, so muss das Verständnishindernis nicht zwingend deren Unklarheit sein. Ich dachte, dass gerade Sie prinzipiell bereit sein könnten, dies ebenso zu sehen. Aber Sie haben natürlich Recht, wenn Sie mir empfehlen, weiter an deren Klärung zu arbeiten. Dabei setze ich an sich mehr auf (so gut es geht belegte) historische Hypothesen als auf begriffliche Klärung. Anders gesagt: Wenn erst einmal eingesehen wird, dass im Zusammenhang mit meinen drei Schlüsselfiguren der Aufklärung etwas Unerhörtes geschehen ist, dann wird man überhaupt erst bereit sein, nach den Gründen zu suchen und die allesamt ziemlich zerredeten Begriffe (incl. Über-Ich) mit prägnanten Inhalten zu füllen bereit und auch in der Lage sein. Sie schreiben eingangs, dass mein „Einverständnis“ betr. „rationales Über-Ich“ – das ich soeben etwas „relativiert“ habe – uns einer tragenden Säule unseres Gesprächs zur „Überwindung der gegenwärtigen Krise“ beraubt habe. Das sehe ich nicht so. Eher waren wir in einer wichtigen begrifflichen Frage in eine, wie Sie sagten, Mühle geraten, die weiterzudrehen wir beide schon vor meinem (vermeintlichen) „Einverständnis“ als wenig sinnvoll empfanden. Tragende Säule bzw. allgemeinste gemeinsame Grundansicht war m.E. stets die Feststellung von der präzedenzlosen Epochenschwelle, auf die ich des öfteren zurückzukommen versuchte. Ich weiß nun nicht, ob ihr dauerhaftes Zögern, sich darauf einzulassen, ebenso wie Ihre jetzige Rede von einer (bloß) „gegenwärtigen“ „Krise“, so zu deuten ist, dass Sie sich zu dem, was Sie in „Selbstdarstellung als Philosophie“ in der Vorrede und auf den letzten Seiten sagten, nicht mehr bekennen, d.h. ob diese bisher eher im Verborgenen tragende Säule (vielleicht schon lange) nicht mehr existiert – und uns dies in die „Mühle“ getrieben hat.

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19. Juni 2007 Sehr geehrter Herr Laska! Zu meiner völligen Überraschung lesen Sie aus meinem Brief vom 4. Juni eine ärgerliche Verstimmung heraus, deren ich mir nicht im Mindesten bewußt bin. Mir ging es nur darum, einen zwar nicht inhaltlich weiterführenden, aber wenigstens klärenden Ausweg aus der „Mühle“, mit der wir uns im Kreise drehen, in Gestalt Ihres Waffenstreckens vor der Explikation des rationalen Überichs gefunden zu haben. Sie sprechen immer wieder von der präzedenzlosen Epochenschwelle um 1800, so auch in Ihrem Brief vom 14. Juni. Ich kann die Rede von einem rationalen Überich nur als Zurückspringen hinter diese Epochenschwelle, wie ich sie verstehe, betrachten, als Weigerung, sich auf die davon eröffnete Perspektive einzulassen. Es handelt sich darum, daß der personale Mensch den Aufschluß über das, was er ist und soll, nicht mehr zuverlässig bei den objektiven oder neutralen Tatsachen finden kann, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann. Das eingesehen zu haben, ist meines Erachtens das große Verdienst Stirners, das ihn hoch über Marx erhebt, nur daß jener Subjektivität mit Autonomie verwechselte (d.h. in einen nach der Epochenschwelle nicht mehr angemessenen Kantianismus zurückfiel). Wenn nun aber gar keine Ratio über dem Ich (der Subjektivität der für mich subjektiven Tatsachen, die höchstens ich aussagen kann) stehen soll, dann sind wir wieder bei der Aufklärung des 18. Jahrhunderts angekommen, d.h. bei der Mühle, die wir erst über die „präzedenzlose Epochenschwelle“ bis zu Stirner und dann wieder zurück zum rationalen Überich drehen. Ich sehe keine Chance, aus dieser Mühle herauszukommen, wenn Sie nicht den Sinn Ihrer Rede von einem rationalen Überich in einer Weise erklären, die mit der präzedenzlosen Epochenschwelle vereinbar ist, und keinen Gewinn für uns darin, die Mühle endlos weiterzudrehen. Deswegen griff ich Ihre im Brief vom 19. Mai geäußerte Vermutung, daß Sie zur Explikation des Sinnes des Ausdrucks „rationales Überich“ noch nicht in der Lage seien, als eine Gelegenheit auf, die Mühle wenigstens anzuhalten, wenn auch vor dem Erfolg, den Stein des Anstoßes gemahlen zu haben, und insofern mit Eingeständnis der Vergeblichkeit unserer Diskussion. Das haben Sie als Verärgerung mißverstanden. Vorwürfe sollten wir uns nicht machen. Das wäre unter dem Niveau unserer Korrespondenz. Sie vermuten mit Recht, daß ich La Mettrie nicht als Nihilisten gelten lassen möchte. Nihilismus ist in meinem Sinn die klar eingestandene rezessive Entfremdung der Subjektivität, d.h. die Weigerung oder Unfähigkeit, sich selbst im Bereich der objektiven als vermeintlich aller Tatsachen zu finden, mit der Konsequenz des Selbstverständnisses, gleichsam im Leeren oder im Nichts zu schweben. Ein entschiedener Nihilist in diesem Sinne ist in meinen Augen Stirner, aber vor der „präzedenzlosen Epochenschwelle“,

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die er schon überschritten hat, gab es solchen Nihilismus meines Erachtens nicht (obwohl erste Ansätze schon bei Diderot vorkommen sollen, was ich aber nicht verfolgt habe und nicht einmal belegen könnte). Mit der Abstempelung Ihrer historischen Hypothesen als unbelegbar meinte ich nicht, daß sie überhaupt nicht belegt werden könnten, sondern nur, daß gegenwärtig kein vertrauenswürdiger Beleg auch nur am Horizont aufgetaucht sei, während der Gedanke, daß die Reaktion auf Stirner einen Anteil an den Konzeptionen von Marx und Nietzsche gehabt hat, grundsätzlich plausibel ist. Für die Vermutung eines entsprechenden Zusammenhangs zwischen La Mettrie und Rousseau scheint mir dagegen jede Grundlage zu fehlen. 7. Juli 2007 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich möchte zunächst etwas Ergänzendes zu einer Passage meines letzten Briefes (14. Juni) sagen. Der letzte Satz des zweiten Absatzes könnte bei Ihnen den Eindruck erweckt haben, ich hielte La Mettrie für einen Nihilisten oder würde ihn mir für meine Zwecke zum Nihilisten stilisieren. Das ist nicht der Fall. Allerdings besagt unsere Übereinstimmung darüber, dass La Mettrie kein Nihilist war, nicht viel. Während Sie bei ihm, wie Sie im Brief vom 4. Juni sagen, „Schamlosigkeit“, „kraftlose Bequemlichkeit“ und allem Anschein nach überhaupt nichts Gutes sehen, erblicke ich in ihm den einzigen Denker des 18. Jahrhunderts, der vor dem Nihilismus – als einer gefährlichen Konsequenz jedes aufklärerischen Denkens – nicht zurückschreckte, sondern ihn denkerisch, zumindest in einem entscheidenden Schritt, überwand. Seine Zeitgenossen bzw. unmittelbaren Nachfahren, wie z.B. die Enzyklopädisten, waren außer Stande, ihm darin zu folgen, entwickelten deshalb ihren verhohlenen Hass gegen ihn und hatten es leicht, ihn zur Unperson zu machen (Friedrich A. Lange fehlte 1866 das rechte Wort, als er ihn den „Prügeljungen des französischen Materialismus“ nannte). Aber erst Rousseau war es, der La Mettrie, freilich ohne ihn je irgendwo beim Namen zu nennen, endgültig erledigte. Indem er die Problematik, die La Mettrie aufgeworfen hatte, „philosophenpopulistisch“ aufbereitete bzw. zerredete, wurde er der einflussreichste Denker jener Epoche. Während La Mettrie erste Schritte „jenseits des Nihilismus“ tat – ein „Transnihilist“ sozusagen –, wichen die anderen Aufklärer damals, auch und insbesondere der janusköpfige Rousseau, vor der nihilistischen Gefahr in quasitheologische Weltbilder zurück. Sie werden, nach unserer langjährigen Korrespondenz, in dieser Skizze das gleiche Schema erkennen, das meiner Interpretation der Vorgänge um die beiden anderen Gipfelpunkte neuzeitlichen aufklärerischen Denkens zugrunde liegt: Stirners Durchdringen der Grenze oder Überschreiten der Schwelle des Nihilismus wurde durch „philosophenpopulistische“ Autoren

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wie Marx und Nietzsche regelrecht „verdrängt“, und Reichs (aus einem Wust biographisch bedingter Verwirrungen zu extrahierende) gleichartige Denkbewegung durch seinen Antipoden Freud und dessen polyphone Nachfolger. In Hinblick auf die „präzedenzlose Epochenschwelle“ sehe ich also drei Anläufe, sie zu nehmen: jeweils zu den Höhepunkten radikalen aufklärerischen Denkens in der Mitte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Ich weiß nicht, ob diese Sicht eines bisher dreimaligen Vorpreschens, das sogleich von ängstlich beharrenden Kräften wieder rückgängig gemacht wurde, mit Ihrer Sicht eines einmaligen Überschreitens (Fichte um 1800) vereinbar ist. Vor allem ist mir nicht klar, was aus Ihrem Postulat der Epochenschwelle für uns Heutige folgt. Ihre Ausführungen über die „Perspektiven nach Hitler“ überzeugen mich nicht – was ich an dieser Stelle nicht näher begründen möchte. Was aus meinem Postulat eines dreimaligen Scheiterns beim Versuch, die historisch drängende Schwelle oder Hürde zu nehmen, folgt, habe ich in zahlreichen Variationen über das Stichwort „Über-Ich“ zu erklären versucht. Wenn Sie in Ihrem letzten Brief von meinem „Waffenstrecken vor der Explikation des rationalen Über-Ichs“ sprechen, so erscheint mir das als eine unzutreffende Interpretation einer früheren Äußerung von mir. Ich fand es nach all den Versuchen, Ihnen meine im Grunde sehr einfache und elementare Vision von einem Abbau des „irrationalen“ Über-Ichs (das nicht zu Über-Ich-Losigkeit führe, sondern zu einer größeren Steuerungskraft des „rationalen“ Über-Ichs) nahe zu bringen, wenig sinnvoll, in diesem Bestreben fortzufahren. Darin hatten Sie mir im Prinzip zugestimmt (Stopp der „Mühle“). Von „Waffenstrecken“ kann keine Rede sein. 19. Juli 2007 Sehr geehrter Herr Laska, ehe ich am 23.07. meiner Gewohnheit eines jährlich dreiwöchigen Erholungs- oder besser Überholungsurlaubs folge, möchte ich auf Ihren Brief vom 7.07. zurückkommen. Sie nehmen Anstoß daran, daß ich von einem Ausweg aus unserer verfahrenen Diskussion „in Gestalt Ihres Waffenstreckens vor der Explikation des rationalen Überichs“ geschrieben hatte. Dagegen setzen Sie: „Von ‚Waffenstrecken‘ kann keine Rede sein.“ Das klingt, als wollten Sie sich gegen die Zumutung einer Kapitulation wehren. Die habe ich niemals von Ihnen verlangt. Es geht nur um das rationale Überich, das mir als Fremdkörper in einer Denkweise gilt, die die Epochenschwelle zwischen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der Position Stirners im 19. Jahrhundert überschritten zu haben beansprucht. Es ist Ihnen nicht gelungen, mir verständlich zu machen, wie beide Vorstellungen vereinbar sind. Woran das liegt, habe ich in meinem Brief vom 19. Juni nochmals erläutert. Den Grund des Unverständnisses möchte ich nicht in meiner Dummheit suchen, und statt dessen kam mir Ihre Bemerkung am Anfang

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Ihres Briefes vom 19. Mai („wenn Sie sagen, daß ich mit dem ‚rationalen Überich‘ – einem Ausdruck, der Ihnen zuvor in der Literatur noch nie begegnet ist – etwas zum Ausdruck bringen will, ‚das noch nicht zur Vermittlung an Andere explizit genug ist‘, liegen Sie vermutlich richtig“) zu Hilfe. Das war der Anlaß meiner Formulierung. Über La Mettrie und Stirner sind wir verschiedener Meinung. Dazu ist in unserer Korrespondenz genug gesagt. Einschränkend muß ich hinzufügen, daß ich nur über Stirner durch Lektüre seiner Schriften und weniger Sekundärliteratur (Mackay und Sie) genügend unterrichtet bin, während ich weder Anlaß noch Neigung zu La Mettrie-Studien habe. Von Reich weiß ich nichts, als was ich „aufgeschnappt“ habe. 3. September 2007 Sehr geehrter Herr Schmitz, die Verzögerung meiner Antwort liegt nicht, was zu vermuten gewesen wäre, an einem Urlaub, den ich – ohne es Ihnen rechtzeitig mitgeteilt zu haben – zeitlich ungefähr an Ihren anschließend genommen hätte, sondern daran, dass ich seit Mitte Juli so außerordentlich in Anspruch genommen bin, dass ich all meine Korrespondenz, bis auf das dringlichste Geschäftliche, vernachlässigen musste. Meinen diesjährigen Urlaub, um dies bei der Gelegenheit gleich zu sagen, werde ich vom 20. September an für drei Wochen nehmen. In Ihrem Brief vom 19. Juli ist nun unsere von beiden Seiten aus schon seit einiger Zeit beklagte „Mühle“ zum Stillstand gekommen. Mir sei es trotz zahlreicher Anläufe nicht gelungen, Ihnen meine Vorstellungen zum Über-Ich – die ich am 7. Juli im vorletzten Satz noch einmal in eine Formel zusammenzog – verständlich zu machen. Und da Sie nur über Stirner, nicht aber über La Mettrie und Reich, genügend unterrichtet seien, sei es Ihnen, wie ich aus Ihren Worten erschließe, auch nicht möglich, zu meiner noch einmal skizzierten Auffassung von den drei erstickten Versuchen, die „Epochenschwelle“ zu nehmen, etwas zu sagen. Ihre beiden letzten Sätze bekräftigen noch einmal, dass es mir ebenfalls nicht gelungen ist, Ihr Interesse an La Mettrie und Reich – als für mein „Philosophieren“ zentralen Figuren – zu wecken. Blicke ich zurück auf die Dauer und Intensität unserer Korrespondenz, so scheint es in der Tat nicht sinnvoll, jene schlussendlich zum Stehen gekommene Mühle wieder in Bewegung zu setzen. Vielleicht noch eines: Über L-S-R und das Über-Ich, über die Figur des Wellenreiters, über das Wesen eines starken Daimons, über das Modell der schwingungsfähigen Fassung und einige andere Themen, die ich im Moment nicht parat habe, haben wir ausführlich gesprochen, jedenfalls meist so lange, bis klar war, worin wir übereinstimmen und worin nicht. Bei meinem wiederholten Ansprechen der „präzedenzlosen Epochenschwelle“ – so auch in meinem letzten Brief – hatte ich jedoch stets den Eindruck,

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dass Sie zu dieser Entdeckung, auf der nach meinem Verständnis nicht zum Geringsten die Originalität Ihrer Philosophie beruht, nur ungern etwas sagen bzw., sofern möglich, einen Hinweis auf bestimmte Literaturstellen geben. Vielleicht ist dieser Eindruck jedoch falsch, und Sie haben meine Worte, wenn sie keine konkreten Fragestellungen waren, einfach überlesen. 5. September 2007 Sehr geehrter Herr Laska! Ich bin Ihrer Meinung, daß die „Mühle“, an der wir lange gedreht haben, zum Stillstand gekommen ist. Vielleicht sollten wir es vorerst dabei belassen, bis einem von uns ein „linearerer“ Transportweg des Gedankenaustausches einfällt. Übrigens habe ich gerade die Fahnenkorrektur eines zweibändigen Werkes „Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung“, das noch in diesem Jahr bei Alber (Freiburg/München) erscheinen soll, abgeschlossen; auf S. 467–470 des 2. Bandes gehe ich auf Stirner ein. 21. Dezember 2007 Sehr geehrter Herr Schmitz, in Ihrem letzten Brief, vom 5. September dieses Jahres, schreiben Sie, wir sollten „es vorerst dabei belassen, bis einem von uns ein ‚linearerer‘ Transportweg des Gedankenaustauschs einfällt.“ Ich hatte noch Ihre doch etwas despektierlichen Äußerungen über die von mir hochgeschätzten La Mettrie und Reich, auch über Stirner, im Ohr und – also beließ ich es dabei. Dennoch meine ich, wir sollten nach den vielen Jahren, in denen wir uns doch offenkundig etwas zu sagen hatten, nicht auf so schroffe Weise auseinandergehen. Schon Ihr vorletzter Brief, vom 19. Juli, klang leicht gereizt, vermutlich infolge eines Überdrusses an der „nicht-linearen“, „zirkulären“, „mühlenartigen“ Diskussion. Sie wollten, sagen Sie dort, den Grund Ihres Unverständnisses dessen, was ich auf verschiedenen Wegen (und hoffentlich nicht allzu redundant) zu erklären versucht habe, nicht in Ihrer Dummheit suchen. Ich kann mir nicht denken, dass ich durch irgendeine Formulierung einen auch nur geringen Anlass gegeben habe, zu glauben, ich sähe das so. Natürlich musste ich mir eine (provisorische) Erklärung dafür zurechtlegen, warum es nach den vielen Variationen, in denen ich Ihnen mein zentrales Thema explizieren wollte, am Ende dazu kam, dass Sie erklärten, Sie könnten sich unter dem Begriff „rationales Über-Ich“ schlichtweg nichts vorstellen; dafür also, dass meine bisherigen Beschreibungsversuche nicht etwa nur sprachlich unbeholfen waren und somit präzisierbar, sondern dass sie aus anderem Grund ins Leere gelaufen sind. Dummheit jedenfalls ist, in meiner Sicht, hierbei auf keiner Seite der entscheidende Faktor. Dieser liegt, meiner Vermutung nach, im Kern der

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diskutierten Thematik selbst beschlossen. Das macht die Sache ja so vertrackt. Ich akzeptiere ohne weiteres, dass Stirner der „Dümmere“ war: sowohl im Vergleich mit Hegel oder anderen Denkern vor ihm als auch im Vergleich mit den nachfolgenden Marx, Nietzsche et alii. Dennoch schätze ich ihn weit höher – und für mein Philosophieren als „mein Michbesinnen auf mein Michfinden in meiner Umgebung“ weit wichtiger – ein als jene von aller Welt anerkannten hochkarätigen und äußerst intelligenten Denker. Dasselbe gilt für meine beiden anderen Helden. Aber ich will mit diesen kurzen Bemerkungen auf keinen Fall die „alte Mühle“ wieder in Gang setzen. Mir ist kein „linearerer“ Gedankenweg eingefallen, und ich fürchte, dass wir in eine ähnliche Mühle gerieten, wenn wir unser Gespräch auf einer „Metaebene“, die ja zugleich eine sehr persönliche Ebene wäre, wieder aufnähmen. 7. Januar 2008 Sehr geehrter Herr Laska! Es war sehr freundlich von Ihnen, mit Ihrem Brief vom 21.12.07 nochmals mir eine Reflexion auf unseren Briefwechsel zuzudenken. Ich war über Weihnachten und Neujahr bei meiner kranken Schwester und habe mit ihr das Typoskript eines Buches (Logische Untersuchungen) korrigiert. Daher fand ich Ihren Brief erst am 2.01. vor. Mit meiner Antwort möchte ich Sie beruhigen und jeden Stachel möglicher Verletztheit ziehen. Ich finde nicht, daß wir „auf so schroffe Weise auseinandergehen“, wie Sie meinen. Weder von Schroffheit noch von (definitivem) Auseinandergehen weiß ich etwas. Die Schuld möglicher Dummheit (an die ich bei mir nicht glaube, wenigstens nicht im Zusammenhang unserer Korrespondenz) hatte ich nur auf mich genommen, um Sie zu schonen. Auf die Thematik unserer kontroversen Diskussion möchte ich jetzt nicht zurück kommen, weil ich voraussehe, daß jeder Versuch, unsere Positionen gegenüberzustellen, in Beteuerungen von Ihrer Seite, ich hätte Sie mißverstanden, enden würde. Wenn so etwas ein paar mal vorkommt, kann es hilfreich sein, indem der so Belehrte Anlaß findet, seine Auffassung von der Meinung des Anderen neu zu justieren. Ich halte mich für einen lernwilligen Menschen. Uns ist aber in so vielen Durchgängen Entsprechendes widerfahren, daß ich mir von einem Weiterdrehen der Spirale (des Eisverkäufers von anno dazumal) keinen Gewinn mehr verspreche. Statt dessen möchte ich Sie darauf hinweisen, daß der 2. Band meines im vorigen Monat bei Karl Alber in Freiburg erschienen Werkes „Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung“ auch Stellen über Stirner enthält, laut Personenregister auf den Seiten 467–469, 519, 575, 576, 680, 744, 813, 814.

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22. Juni 2008 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie haben mich in Ihren Briefen mehrmals auf Ihr neues Buch „Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung“ hingewiesen, zuletzt, am 7. Januar 2008, mit genauer Angabe der Seiten im zweiten Band, auf denen etwas über Stirner steht. Obwohl mich das natürlich sehr interessierte, bin ich erst kürzlich dazu gekommen, Ihrem Hinweis nachzugehen. Ich muss allerdings sagen, dass ich in den genannten Passagen nichts über Stirner fand, was über Ihre früheren Bücher, speziell „Selbstdarstellung als Philosophie“, hinausgeht, nicht einmal einige der Ansichten, die Sie in unserem Briefwechsel geäußert haben. Stattdessen lese ich von allerlei freihändig hergestellten „Verwandtschaften“ bzw. Verbindungen: Stirner sei der „Erbe Schlegels“, auf den Hegel die Position Stirners, die er voller Sorge vorausgeahnt habe, voreilig und fälschlicherweise projiziert habe. Und Heidegger sei der „Erbe Stirners“, Husserls transzendentales Ich wiederum (bloß?) der „Bruder“ des Stirnerschen Einzigen, während Wittgensteins Solipsist Stirners Einzigem „entspricht“. Auch wenn ich einmal annehme, dass Sie jeweils Stirners Figur des Eigners meinen, kann ich mit diesen Zuordnungen wenig anfangen. Auch die hier ins Spiel gebrachten Denker würden sich gegen sie verwahren (und haben es indirekt sogar getan). Sie selbst haben sich in „Selbstdarstellung …“, Seite 309, gewundert, dass in einer Geschichte des Nihilismus Stirner (den Sie erneut, S. 468, einen Nihilisten nennen) nicht einmal erwähnt wird; Sie wissen, dass Wittgenstein und Heidegger so taten, als kennten Sie Stirner gar nicht; Sie kennen (aus meiner Stirner-Wirkungsgeschichte) das unveröffentlichte Papier, auf dem Husserl vor Stirner, den auch er nirgendwo erwähnt, eindringlich warnt; Sie kennen den Fall Nietzsche, den Fall Marx, das Urteil von Klages u.v.a.m. Von all dem – und manchem Anderen, das wir brieflich diskutiert haben – finde ich in Ihrer Gewissenserforschung nicht die leiseste Spur. Dafür aber zweimal die nicht weiter erklärte Rede davon, Stirner habe etwas gemacht, was kein Anderer gewagt habe: „blutigen Ernst“. Da klingt zwar die außerordentliche Bedeutung an, die Sie gelegentlich Stirner beimaßen; sie scheint mir aber sonst in diesem Buch gänzlich außer Sicht geraten zu sein, ebenso wie die „Epochenschwelle“, die Sie 1995 mehrmals ansprachen und die nun nicht einmal mehr im Sachregister steht. Auf die drei Seiten, auf denen Sie den Inhalt des „Einzigen“ referieren und beurteilen, möchte ich nicht näher eingehen, weil dies wohl nur wieder das Ingangsetzen unserer alten „Mühle“ bedeutete. Nur soviel: Wenn Stirner, wie Sie auf Seite 469f. sagen, tatsächlich die „Emanzipation von der Autorität der Gefühle und der Evidenz“ vertreten hätte, dann wäre er schlicht ein Traumtänzer gewesen und keiner, der „blutigen Ernst“, womit

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auch immer, gemacht hat. Wie ich Stirner sehe, weder als traumtanzend noch als blutig ernst, habe ich während unseres „Mühlraddrehens“ ausgiebig dargelegt. 24. Juni 2008 Sehr geehrter Herr Laska, mit Vergnügen empfange ich Ihren Brief vom 22.06. als ein Zeichen dafür, daß Sie sich weiterhin mit meinen Gedankengängen beschäftigen, zuletzt an Hand von Band II meines am Ende vorigen Jahres veröffentlichten philosophiegeschichtlichen Werkes; jüngst ist, wiederum bei Alber, ein Buch „Logische Untersuchungen“ hinzugekommen. Ihre Beschäftigung scheint allerdings sehr sporadisch gewesen zu sein, in dem Sie sich nur für die direkten Erwähnungen Stirners interessierten. Die Bedeutung, die ich ihm zumesse, wird daraus allein nicht ersichtlich, sondern ergibt sich aus dem Zusammenhang, in den ich ihn stelle. Grundlegend ist für mich die Entdeckung Fichtes, daß alle Tatsachen der Art, daß es sich bei etwas um mich handelt, bei den objektiven (neutralen) Tatsachen nicht unterkommen; daraus ergibt sich, zusammen mit seinem Irrtum, alle Tatsachen für objektiv zu halten, die von mir so genannte – der Titel kommt als Überschrift in dem Buch dreimal vor (36.2, 43.2.1, 45.3.1) – rezessive Entfremdung der Subjektivität mit den Folgen der romantischen Ironie, die das bis heute herrschende ironistische Zeitalter einläutet, der dazu komplementären Kierkegaard’schen Höhenschwindelangst über den eigenen Möglichkeiten und, umgekehrt, der positivistischen Verleugnung von Subjektivität überhaupt. Stirner gehört für mich in diese Entwicklung als der markanteste Exponent eines Ironismus, der bei ihm nicht verspielt, sondern verletzend und herausfordernd auftritt. Als Figur der rezessiven Entfremdung der Subjektivität, die das Subjekt als den Einzigen in ein Niemandsland jenseits aller Bestimmbarkeit ausquartiert, ist dieser Ironismus der streng gefaßte Nihilismus einer „Hineingehaltenheit in das Nichts“ (Heidegger), und das ist der Grund für mich, Stirner neben den Heidegger der „Transzendenzphase“ (Görland) zu stellen; selbstverständlich hätte Heidegger von einem solchen Vergleich seiner mit Stirner nichts wissen wollen, erst recht nicht Husserl, der dadurch, wenn man die Seiten 680–682 des Buches liest, vielmehr blamiert wird, mit dem S. 682 festgestellten Ergebnis: „Husserl will den Ertrag der rezessiven Entfremdung der Subjektivität kassieren, ohne die Kosten zu zahlen.“ Andere Verarbeitungen der von Stirner als offene Wunde bloßgelegten Problematik der rezessiven Entfremdung der Subjektivität finde ich außer bei den Frühromantikern, denen ich Stirner als Spätling und Kehrseite ihrer Verspieltheit zuzähle (38), bei Hegel (39.2), Kierkegaard (40), Nietzsche (42.2) und Wittgenstein (43.2.1). Keinem dieser Autoren wäre es lieb, mit Stirner zusammengestellt zu werden, da es ihnen um die Heilung der Wunde zu tun ist, die dieser offen hält,

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freilich nicht als Wunde, sondern als Ausweis robuster Gesundheit und schrankenloser Machtvollkommenheit. Daher passen Ihre Nachweise von Abwehrgesten gegen Stirner in mein Bild, ohne daß ich Anlaß gehabt hätte, darauf hinzuweisen. Von Marx habe ich in diesem Zusammenhang abgesehen, weil seine Polemik gegen Stirner in meinen Augen ganz und gar verfehlt ist; er hat überhaupt nicht bemerkt, worum es geht (und in kluger Selbstkritik wenigstens von der Veröffentlichung abgesehen). Im Gegensatz zu Ihnen bin ich daher der Meinung, daß die Darstellung der Folgen von Fichtes Initiative zu der in „Selbstdarstellung als Philosophie“ wie angegossen paßt. Das gilt auch für die Markierung der sogenannten Epochenschwelle. Ich verweise dazu auf den Anfang des Buches mit einer Überleitung S. 15f., ferner auf S. 422f. und 450f. Sie werden das, was Sie in den Ausdruck hineinlegen, vielleicht nicht wiederfinden, da Sie Stirner – wenn auch in seltsamem Triumvirat mit La Mettrie und Reich – als Heros an der Schwelle isolieren, aber eventuell können Sie als einen Gewinn meiner Darstellung in der Geschichte der Stirner-Rezeption wenigstens buchen, daß Stirner nicht als seltsamer Außenseiter und Eigenbrötler in einer Nische zwischen Marx und Nietzsche untergebracht wird, sondern einen wichtigen und fest bestimmten Platz in der Geschichte einer schicksalhaften Verfehlung des abendländischen Geistes (der ironistischen in der Terminologie meines „Hitler“-Buches), die zugleich den Keim einer sehr bedeutenden und fruchtbaren Entdeckung (mit Aussicht auf enorme Steigerung der persönlichen Verantwortung) birgt, zugewiesen erhält. 9. Juli 2008 Sehr geehrter Herr Schmitz, die letzten Sätze Ihres Briefes vom 24. Juni klingen so, als wollten Sie mich trösten: gegenüber der sonstigen Stirner-Rezeption sei Ihre Darstellung Stirners doch ein Gewinn. Stirner sei von Ihnen nicht mehr als seltsamer Außenseiter und Eigenbrötler in einer Nische zwischen Marx und Nietzsche untergebracht worden, sondern habe einen wichtigen Platz in der Geschichte (der ironistischen Verfehlung) des abendländischen Geistes zugewiesen bekommen. Es würde mich sehr wundern, wenn Sie nach unserem doch recht intensiven Briefwechsel meinten, ich bedürfte eines Trostes oder, falls doch, ich würde Ihre Darstellung als solchen nehmen können. Mir ging es nie um so etwas wie eine Rehabilitierung Stirners. Meine Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte der Stirnerschen Ideen zielt vielmehr darauf ab, die nachstirnersche Philosophie zu desavouieren, und zwar insgesamt, ob sie schwieg oder sich so oder so dem von ihm aufgeworfenen kardinalen Problem entwand. Insofern wäre aus meiner Sicht Stirner auch die zentrale Figur einer „Gewissenserforschung“ der Philosophie (nach dem „Einzigen“). Sie

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schreiben zwar im Brief, meine Nachweise der Abwehrgesten gegen Stirner (die m.E. auf dem Gewissen der Philosophie lasten – müssten) passten in Ihr Bild, fügen aber hinzu, sie nicht für erwähnenswert zu halten. Das wiederum passt nun gut in mein Bild. Stirner schreibt an einer Stelle, dass man ohne den Frack einer philosophischen Phrase im Salon der Philosophie nicht erscheinen dürfe. Der Mann, der ja sein Philosophiestudium nur mit Ach und Krach halberwegs zu einem Abschluss brachte, hat sich diesen Frack dann auch angezogen. Und dieser war es dann leider, der die Blicke der professionellen Philosophen bevorzugt auf sich lenkte. Die Zitate, mit denen Sie auf Seite 467 („Der Weg …“, Band 2) beginnen, über Stirner zu schreiben, gehören in meinen Augen zu diesem Frack. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich den Mann, der in dieser nur gezwungenermaßen angelegten Montur steckt, genauer angesehen hätten. Dann wären m.E. Stirners Begriffe des Heiligen und der Liebe nicht nur en passant zu erwähnen gewesen (so dass sie kaum verstanden werden dürften). Dann wären Sie aber wohl auch nicht zu dem Schluss gekommen, Stirner sei „Nihilist“ (wenn auch mit „großem Verdienst“) gewesen und habe ein unsinniges, weil unmögliches Anliegen (mal als „frivol“, mal als „blutiger Ernst“ bezeichnet) vertreten: die Emanzipation von der Autorität der Gefühle und der Evidenz. Was die Gefühle angeht, so macht Stirner (z.B. EE, 69ff.) den entscheidenden Unterschied zwischen „eigenen“ und „eingegebenen“, und zur Autorität der Evidenz genügt eigentlich seine humorige „Drohung an den Mond“ (EE, 183). Beidem liegt sein Begriff des Heiligen zugrunde. Wenn Sie ihn statt Stirners „Frackphrasen“ expliziert hätten … Aber ich denke, wir haben diese Dinge wirklich schon ausgiebig beredet, und da die Gefahr besteht, dass wir wieder beginnen, unsere „alte Mühle“ zu drehen, belasse ich es dabei etc. 11. Juli 2008 Sehr geehrter Herr Laska, ich kann Ihnen jetzt nur kurz schreiben, da ich morgen meine dreiwöchige Erholungsreise antreten will. Sie trösten zu wollen, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Vielmehr bezog ich mich in Ihrem vorigen Brief auf Ihre häufige und in meinen Augen berechtigte Beschwerde darüber, daß Stirner bei den ihm zeitlich folgenden (oder gleichzeitigen) Philosophen zu kurz kommt, teils durch – meines Erachtens törichte – Polemik gegen ihn (Marx), teils durch auffälliges Verschweigen (Nietzsche, sie glauben weitere „Sünder“ benennen zu können). Diesen Fehler glaube ich wenigstens gut gemacht zu haben, indem ich Stirner einen genau bestimmten und wichtigen Platz auf dem „Weg der europäischen Philosophie“ anweise und Spuren seiner Denkart sogar bei Philosophen, die ihn sicherlich wenig mögen, wie Husserl und Heidegger, aufzeige. Damit habe ich hoffentlich

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Ihren summarischen Vorwurf gegen „die Philosophen“ nach Stirner, sie wollten nichts von ihm wissen, ausgeräumt. Darauf wollte ich in jenem Brief hinweisen. Ich bin auch gar nicht der Meinung, Stirners Emanzipation von der Autorität der Gefühle sei ein „unsinniges, weil unmögliches Anliegen“; nur für eine Emanzipation von der Autorität der Evidenz trifft das sicher zu. Den von Stirner geltend gemachten Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Eingegebenen, auf den Sie mich hinweisen, lasse ich gerne gelten (ohne an eine scharfe Abgrenzbarkeit, außer in Sonderfällen, zu glauben), aber der Fehler Stirners liegt für mich darin, daß er den eigenen Gefühlen keine Autorität zubilligt, sondern sich ihnen gegenüber ganz nach Belieben verhalten will. Das ist in meinen Augen aber nicht ein a priori unsinniger Versuch, sondern eine ernste Gefahr. Die Menschen könnten wirklich dazu kommen, kein Gewissen und auch sonst keinen gefühlten Nomos mit verbindlicher Geltung mehr zu haben. Das wäre für sie ein großes Unglück, ein degeneriertes Leben in der Hilflosigkeit und Zerfaserung vollendeter Frivolität und Langeweile. 24. August 2008 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie schreiben am 11. Juli, dass Ihnen bei Ihrer Antwort am 24. Juni der Gedanke, mich wegen der Vernachlässigung meines Helden Stirner in der Philosophiegeschichtsschreibung trösten zu wollen, gar nicht in den Sinn gekommen sei. Sie hätten nur darlegen wollen, dass Sie meine „Beschwerde“ darüber durchaus als berechtigt ansehen und jenen „Fehler“ der Philosophiehistoriker gut gemacht hätten: indem Sie Stirner auf dem „Weg der europäischen Philosophie“ einen genau bestimmten und wichtigen Platz angewiesen und Spuren seiner Denkart bei ihm sicherlich abgeneigten Denkern wie Husserl und Heidegger aufgezeigt haben. Meinen summarischen Vorwurf gegen „die Philosophen“, von Stirner nichts wissen zu wollen, hoffen Sie damit ausgeräumt zu haben. Ich glaube nicht, unbillig auf die Wortwahl Ihres in Eile noch vor Ihrer Erholungsreise abgefassten Briefes abzustellen, wenn ich dem entgegen halte, dass ich mich bzw. meine Position durch Worte wie Beschwerde, Zukurzkommen, Vorwurf oder auch „Sünder“ (für Marx, Nietzsche et alii) als gehörig missverstanden empfinde. Worum es mir stets ging, habe ich eigentlich im zweiten Absatz meines Briefes vom 9. Juli gesagt – allerdings sehr konzise, weil ich meinte, dies sei aufgrund unserer langen Korrespondenz verständlich. In meinen Augen ist selbstverständlich angesichts der historischen Fakten (in diesem Fall der Stirnerrezeption) nichts an Stirner „wiedergutzumachen“. Ich meine aber, dass diese zunächst einmal geborgenen Fakten und ihre adäquate Deutung in unserer – trotz (oder gar wegen?) einer rie-

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sigen „Philosophieindustrie“ – völlig desorientierten Zeit sozusagen den Königsweg weisen (könnten), um wieder auf den (als kulturellen Fortschritt aufgefassten) „Weg der europäischen Philosophie“ zu finden. In dieser Angelegenheit hatte ich einst, bei Lektüre der Vorrede zu Ihrem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ und einiger weiterer Passagen, das Empfinden einer gemeinsamen Zielrichtung. Sie nennen weiter unten als „Fehler Stirners“ (vermutlich sogar als seinen Kardinalfehler), „dass er den eigenen Gefühlen keine Autorität zubilligt, sondern sich ihnen gegenüber ganz nach Belieben verhalten will.“ Resultat wäre, wenn es realiter dazu käme, „ein degeneriertes Leben in der Hilflosigkeit und Zerfaserung vollendeter Frivolität und Langeweile.“ Diese (m.E. verfehlte) Deutung Stirners mitsamt diesen (deshalb verfehlten) Konsequenzen seiner Lehre wurden im Grundsatz des öfteren (stets so nebenbei!?) vorgebracht, etwa von Klages, Kolakowski oder Hans Heinz Holz. Sie scheint mir auch die tiefere Grundlage der phobischen (?) Reaktionen von Marx, Nietzsche, Husserl, Schmitt, Heidegger und zahlreichen anderen Denkern gewesen zu sein, die, ohne Stirner beim Namen zu nennen, der genannten Gefahr – oft vage mit der Phrase des Nihilismus bezeichnet – Einhalt gebieten wollten. Das Resultat der ungeheuren Bemühungen dieser antistirnerianischen, vermeintlich antinihilistischen Einheitsfront ist schon heute, „im Westen“ jedenfalls, zu sehen oder zumindest abzusehen: „ein degeneriertes Leben … Frivolität … Langeweile“ s.o. Aus meiner Sicht kommt man nicht darum herum, jene grundsätzliche Fehldeutung Stirners, von Marx bis Schmitz, und den aus ihr folgenden (n.b. konsequent indirekt geführten) Kampf gegen den selbsterrichteten Popanz Stirner – bei Verdrängung des wahrhaft den in der Moderne drohenden Nihilismus theoretisch und praxisweisend überwindenden Gehalts bei Stirner – zu exponieren und gründlich zu analysieren, um die gegenwärtige geistesgeschichtliche Sackgasse als solche überhaupt erst zu erkennen. Aber ist denen, die heute den Job des Philosophen machen, das zuzutrauen? 24. September 2008 Sehr geehrter Herr Laska! Ihren Brief vom 24. August, den Sie mir am 20. September noch einmal geschickt haben, habe ich richtig und pünktlich erhalten, aber nicht beantwortet, weil mir die Höflichkeitspflicht des Briefschreibers, den Korrespondenten nicht warten zu lassen, geringer schien als der Nutzen für mich und ihn, ihm ein teils in kleinlichen Erörterungen über Wortwahl, teils in unfruchtbarer Wiederholung unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten kreisendes Debattieren zu ersparen. Sie wollen (Ihr Brief vom 9.07.) die gesamte nachstirnersche Philosophie als Dezeptions-(heißt wohl: Täuschungs-)geschichte der Stirnerschen Idee desavouieren, was ich als Be-

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schwerde verstand. Nach meiner Meinung ist Stirner in der Tat bei der Rezeption zu kurz gekommen, wenn auch nicht als ungeheurer „Geist aus der Flasche“, wie Sie ihn sehen. Wenn Sie sich dann aber (Ihr Brief vom 24. August) gegen „jene grundsätzliche Fehldeutung Stirners, von Marx bis Schmitz“ wenden, versagt mir das Verständnis – von Marx bis Schmitz? Und erst recht versagt es mir vor Ihrer Idolisierung (wenn ich so sagen darf) Stirners. Ich sehe nicht, wie das, was Sie in ihn hineinsehen, mit seinen Texten zusammenpaßt; mir ist auch nicht ganz deutlich, was Sie in ihn hineinsehen. Wenn Sie einen wesentlich neuen, von uns noch nicht „durchgekauten“ Gedanken in unser Gespräch einbringen, will ich gerne darauf eingehen, aber ein Weiterdrehen der Mühle, die nur noch zerquetschte Körner vorfindet, sollten wir unterlassen. Übrigens fühle ich mich wohl und bin gut bei der Arbeit. Nachschrift 29.09.: Vielleicht sollte ich mich auch dafür entschuldigen, daß ich den schon geschriebenen Brief noch einige Tage liegen ließ. Der Grund war, daß ich gerade dabei war, ein kleines Buch abzuschließen. 24. Oktober 2008 Sehr geehrter Herr Schmitz, zurück von einer längeren Reise in die Bretagne, wo es mir insbesondere im Herbst immer wieder gut gefällt, freue ich mich, dass Sie auf meinen Brief vom 24. August, nachdem dieser doch nicht auf dem Postweg verloren gegangen war, noch geantwortet haben. So geben Sie mir Gelegenheit, Passagen oder Formulierungen, die Sie offenbar etwas verstimmt haben, zu kommentieren. Sie scheinen Anstoß daran genommen zu haben, dass ich (im Brief vom 9. Juli) von einer Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte der Stirnerschen Ideen spreche, statt, wie üblich, von einer Rezeptionsgeschichte. Ich nenne dort auch den Grund, den Sie aber als „Beschwerde“ (an die Philosophenzunft?) verstanden haben, obwohl ich im vorangehenden Satz schrieb, dass es mir nie um eine Rehabilitierung Stirners ging. Ich teile ja, wie Sie wissen, Ihre Auffassung durchaus nicht, wonach Stirner „in der Tat bei der Rezeption zu kurz gekommen“ sei, nähere mich vielmehr der Philosophiegeschichte in erster Linie mit investigativem Blick (dem freilich ein im Laufe meines Lebens langsam gewachsener „großer Verdacht“ zugrundeliegt). Folglich kann ich auch nicht den Platz würdigen, den Sie jetzt in „Der Weg der Philosophie“ Stirner zugewiesen haben: ideengeschichtlich noch vor Hegel eingeordnet, ohne eigenes Kapitel, als Spätling im Huckepack der Frühromantiker, knapp auf drei angehängten Seiten abgehandelt. Das ist, mit Verlaub, in meinen Augen nur eine Variation dessen, was Sie schon in „Philosophie als Selbstdarstellung“ gesagt haben. Von unserem Gedankenaustausch über Stirner finde ich da keine Spur. Ich hätte deshalb in einer Neuauflage meines Buchs „Ein dauerhafter Dissident“ an den

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betreffenden Stellen kaum etwas zu ändern. – Dort habe ich übrigens einleitend (S. 8f.) bereits die anstößige Bezeichnung präsentiert: „Angesichts der Tatsache, dass die Abwehr und Bekämpfung der Stirnerschen Ideen, in der Regel verdeckt und indirekt geschah, wäre es falsch und irreführend, hier im üblichen Sinn von einer Rezeptionsgeschichte des ‚Einzigen‘ zu sprechen; es handelt sich vielmehr – und hier bieten sich zwei unmittelbar verständliche Neologismen an – um eine Repulsions- und Dezeptionsgeschichte.“ Diese sicher auch in meinen früheren Briefen gelegentlich verwendete Formulierung, die ich noch immer als ausgesprochen treffsicher, sachadäquat und prägnant ansehe, wird Ihnen also geläufig gewesen sein. Ich erinnere mich nicht, dass Sie sie schon einmal moniert oder problematisiert hätten. Die andere Formulierung, an der Sie Anstoß zu nehmen scheinen, ist die von der „grundsätzlichen Fehldeutung Stirners, von Marx bis Schmitz“ (die ich in der Fortführung des Zitates im Brief vom 24. August genauer bezeichne). Auch hier überrascht mich Ihre Reaktion etwas, denn schon 1996 in meinem genannten Buch sage ich im Grunde dasselbe. Gut, man könnte, wie oft zu lesen, statt von Fehldeutungen von unterschiedlichen Deutungen reden; aber ich empfand es stets als angenehm, dass unsere Briefe von solch plump verhüllenden Höflichkeiten weitgehend frei waren. Sie wiederholen: „von Marx bis Schmitz?“, weil Sie dies vielleicht als offensiv empfunden haben mögen. Es war nicht offensiv gemeint. Ich wollte damit nicht Marx und Schmitz (und alle dazwischen liegenden Autoren) in einen Topf werfen, allenfalls unter dem Aspekt zusammenfassen, dass sie, sich selbst und ihre Leser täuschend (Dezeption) Stirners Quintessenz im „Nihilismus“ sahen, den es schweigend (Marx, Nietzsche, Schmitt, Husserl z.B.), seltener beredt (Schmitz z.B.) abzuwehren galt (Repulsion). Aber diese meine Auffassung ist Ihnen ja altbekannt; ebenso wie mir Ihre, wonach ich in Stirner etwas hineinlese, was nicht drin ist – im Brief nun „Idolisierung“ genannt, dies aber gewiss auch nicht in offensiver Absicht. 1. Oktober 2009 Sehr geehrter Herr Laska! Die Gesellschaft für Neue Phänomenologie will im nächsten Jahr von Freitag 16.04. bis Sonntag 18.04. in Rostock eine Tagung mit dem Thema „Normen und ihre Geltung“ abhalten. Diese Tagung soll am Freitagabend mit einem öffentlichen Podiumsgespräch über das Thema „Autorität – Last oder Segen?“ eröffnet werden. Daran werde ich mit einem oder zwei Gesprächspartnern und einem Moderator teilnehmen. Der Vorstand der Gesellschaft, dem ich nicht angehöre, hat auf meinen Rat hin beschlossen, Sie um Ihre Teilnahme auf dem Podium zu bitten. Herr Steffen Kluck, der Sekretär der Gesellschaft, bittet mich, deswegen mit Ihnen Fühlung zu nehmen, weil wir durch lange Korrespondenz mit einander vertraut sind. Wenn

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Sie bereit sind, würde er sich freuen, wenn Sie sich an ihn wendeten, damit Sie mit ihm das Nähere besprechen. Seine Adresse ist: […] Über eine Zusage von Ihnen würde ich mich auch persönlich freuen. Aus langer Erfahrung kann ich bezeugen, daß diese Podiumsgespräche auf den Jahrestagungen der Gesellschaft bisher immer lohnten. 8. Oktober 2009 Sehr geehrter Herr Schmitz, mit Ihrem Brief vom 1. Oktober haben Sie mir eine zweifache Überraschung bereitet. Zuerst war mein Erstaunen groß, als ich nach einjähriger Pause wieder einen Brief von Ihnen – ich habe Ihre Handschrift natürlich sofort erkannt – in meinem Postfach fand. Spontan schossen mir ein paar Ideen durch den Kopf, worum es in dem Brief wohl gehen könne. Was ich dann las, lag aber fernab von meinen Vermutungen. Ich empfinde es als eine große Ehre, dass Sie bei der Auswahl Ihrer Partner für das nächste Podiumsgespräch der Gesellschaft für Neue Phänomenologie an mich gedacht haben. Entsprechend gründlich habe ich mir auch Gedanken darüber gemacht, ob ich die Einladung annehmen und meine Teilnahme zusagen soll. Schließlich bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass ich eine „Fehlbesetzung“ wäre, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen: einem sachlichen und einem persönlichen. Wie Sie wissen, bin ich von der Ausbildung her kein Philosoph, betrachte mich auch nicht als einen solchen, etwa autodidaktisch gebildeten, sondern vielmehr als einen „Paraphilosophen“, der aufgrund seiner investigativen Forschung in der Philosophiegeschichte seinen Ort neben der Philosophie gefunden hat. Wenn wir also das Thema „Autorität“ zu diskutieren hätten, könnte ich zu den Meinungen und Standpunkten der großen Philosophen dazu kaum Triftiges sagen, und wir wären ziemlich schnell wieder in unserer alten „Mühle“, wo es um Stirner und meine Interpretation von dessen Kernidee ging (Stichwort: rationales Über-Ich). So ein Gespräch zwischen uns kann ich mir, nach unserem langen schriftlichen Austausch, natürlich gut vorstellen, finde aber, dass es sich für ein Publikum, das neuphänomenologische Philosophie erwartet, kaum eignet. Der persönliche Grund hängt mit dem sachlichen eng zusammen. Ich bin völlig ungeübt in Auftritten vor einem größeren Publikum, könnte also in diesem Fall nicht, was manch einem gegeben ist: die sachlichen Defizite durch rhetorische Routine wettmachen oder überspielen – was Ihnen sicher ohnehin bei einem Gesprächspartner nicht willkommen wäre. Ich bedaure also sehr, die Einladung nicht annehmen zu können, zumal ich damit eine gute Gelegenheit versäume, einem langjährigen Briefpartner einmal persönlich zu begegnen. Aber ich glaube auch, dass diese Entscheidung für ein Gelingen der Veranstaltung die richtige ist.

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9. Oktober 2014 Sehr geehrter Herr Schmitz, nachdem wir, beginnend 1993 und recht intensiv von 2000 bis 2008, in brieflichem Austausch standen, habe ich ein Auge auf Ihre späteren Publikationen – ohne dass ich freilich dazu komme, sie alle gründlich zu studieren. Natürlich schaue ich besonders auf „Stellen“, auf Passagen, in denen Sie Themen behandeln, die Gegenstand unserer früheren Diskussionen waren. Aber ich hatte nie die Absicht, diese Stellen zum Anlass zu nehmen, um unsere abgestellte „Tretmühle“ wieder in Gang zu setzen. Der resümierende und die Grundintention Ihres Lehrens benennende Schlussabsatz Ihres Buches Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie hat mich jedoch so weit provoziert, dass ich mich doch noch einmal melden möchte. Sie schreiben dort S. 131, auf Fichte folgend habe Friedrich Schlegel das ironistische Zeitalter eingeläutet, das „inzwischen aber zur Coolness vor dem Fernseher und Computer vulgarisiert worden ist.“ Ihre Entdeckung der subjektiven Tatsachen korrigiere den Fehler an der Wurzel dieser Entwicklung theoretisch, eröffne auch „einen Ausblick auf ein mögliches Ende des ironistischen Zeitalters“, weise aber nicht schon praktisch „einen gangbaren Weg, dessen Fortschreiten zu vollendeter Frivolität in den Spuren Max Stirners aufzuhalten.“ Mein Eindruck von der Stelle ist, dass Sie hier voraussetzen, Stirner sei dem normalen, philosophisch gebildeten Leser vage als maximal abstoßende Figur bekannt (ich nannte ihn einen „Paria des Geistes“) und somit als Symbol für unser ironistisches Zeitalter geeignet. Zu einer ähnlichen „Würdigung“ kam übrigens kürzlich Peter Sloterdijk, der in seinem Buch Die schrecklichen Kinder der Neuzeit S. 468, ebenfalls in einem resümierenden Kapitel, Stirners Einzigen, und nur ihn, als die „Reflexionsgestalt“ jenes „schrecklichen Kindes“ anführte. Als Gegenstück zu einer solchen, auf eine eher raunende Andeutung reduzierten Verwendung Stirners fungiert ein 2010 erschienenes Werk von Alexander Stulpe, Die Gesichter des Einzigen, in dem 1000 (eintausend) Seiten bedruckt sind, um zu zeigen, dass Stirner heute, obwohl längst vergessen, dennoch allgegenwärtig ist. Ich habe das Buch Stulpes rezensiert, und da ich sah, dass Stirner auch für Sie nach wie vor eine Schlüsselfigur ist, schicke ich Ihnen beiliegend eine Kopie in der Hoffnung, Sie finden Zeit und Interesse zum Lesen – und vielleicht zu einer Kommentierung. Anlage: Laska, Der Stachel Stirner 12. Oktober 2014 Sehr geehrter Herr Laska, mit der Sendung Ihrer Rezension des Buches von Alexander Stulpe „Gesichter des Einzigen“ haben Sie mir einen wichtigen Dienst erwiesen, der mich bereichert. Es ist bemerkenswert, wie intensiv noch über Max

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Stirner diskutiert wird, und höchst sonderbar, wenn ein daran beteiligter Autor behauptet, von diesem sei seit 80 Jahren nicht mehr die Rede. Meine Bemerkung am Ende von „Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie“ haben Sie aber mißverstanden, wenn Sie glauben sollten, ich wolle Stirner dem Abscheu des Publikums ausliefern. Im Gegenteil, ich schätze seinen Beitrag zur nachromantischen Philosophie hoch ein. Bitte halten Sie sich dafür an meine Darstellung in „Der Weg der europäischen Philosophie“ (Freiburg 2007) S. 467–470. Ich zitiere von S. 468f.: „Stirners Nihilismus hat das große Verdienst, die Paradoxie der rezessiv entfremdeten Subjektivität scharf herausgearbeitet zu haben: Mit der Entdeckung, daß, wer ich bin, unter objektiven Tatsachen nicht zu finden ist, auf halbem Wege vor den subjektiven Tatsachen stehen geblieben zu sein.“ Ich sehe ihn in der Gefolgschaft der Frühromantiker, als konsequenten Erben von Friedrich Schlegel und Novalis ab der Zeit ihres „Fichtisierens“ (Schlegel), der aus dem, was bei ihnen ästhetische Spielerei war, blutigen Ernst gemacht hat. Nichts liegt mir ferner, als ihn zu einem Cicerone zu rücksichtslosem Lebensgenuß zu vergröbern. Ich bin kein so engstirniger Moralist, daß ich einen Apostel der vollendeten Frivolität mit diesem Ausdruck verteufeln wollte. Andererseits macht mir diese Tendenz Stirners Sorge davor, sie könne sich durchsetzen, worauf heute vieles hindeutet. Die von Ihnen beschworene Figur des Eigners mit dem Eigentum des Einzigen richtet sich frontal gegen die Autorität mit unbedingtem Ernst, die ich in meinem Buch „Das Reich der Normen“ im 1. Kapitel „Allgemeine Normenlehre“ herausgearbeitet habe. Eine Autorität hat für jemand unbedingten Ernst, wenn dieser der ihm von ihr gegebenen Norm trotz Mobilisierung aller Reserven seiner Kritikfähigkeit auch auf dem höchsten Niveau seiner personalen Emanzipation den Gehorsam nicht unbefangen verweigern kann. Stirner will solche Autoritäten abschaffen. Er hat damit in unserer Gesellschaft weitgehend Erfolg, wenn auch z.B. in Bezug auf die Gewissenhaftigkeit, die tiefe Erotik, das Eltern-Kind-Verhältnis noch nicht durchgehenden. Ich denke nicht daran, diese Tendenz verbieten oder ächten zu wollen, aber sie macht mir Sorge vor der ungeheuren Langeweile, in die eine Welt aus lauter Stirner’schen Eignern versinken würde, weil es nichts ernstlich Wichtiges mehr gäbe, in dessen Dienst die Menschen sich mit unbedingtem Ernst auf Gedeih und Verderb stellen müßten, sondern alles ihrem Belieben unterworfen wäre, als in sich gleichgültiges Spiel ihrer Selbstbestimmung. Sie könnten nicht mehr sagen: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“ Das Pathos der Antigone wäre ihnen abhandengekommen. Ihr Verhältnis zu ihren Entwürfen wäre nur noch das des Ästhetikers statt das des Ethikers nach Kierkegaard. In Eichendorffs Komödie „Krieg den Philistern“ reagiert Franziska auf die Aufforderung, einen Spaziergang zu der Klause eines Einsiedlers zu

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unternehmen, mit dem spontanen Ausruf: „O, das muß ich sehen, ich liebe die Religion bis zur Leidenschaft.“ Die dem Stirner’schen Eigner verbleibende Liebe ist hier geschickt (natürlich ohne Rücksicht auf Stirner) zu einem komischen Effekt genützt. Dagegen zitiere ich aus einem der letzten Briefe von Heinrich v. Kleist (kurz vor seinem Selbstmord, an Marie v. Kleist) folgende Stelle, die sich auf seine Halbschwester Ulrike v. Kleist bezieht, die sich, nachdem sie über Jahre seine treueste Gefährtin gewesen war, von ihm abgewandt hatte: „Du bist die allereinzige auf Erden, die ich jenseits wieder zu sehen wünsche. Etwa Ulriken? Ja, nein, nein, ja: es soll von ihrem eigenen Gefühl abhängen. Sie hat, dünkt mich, die Kunst nicht verstanden, sich aufzuopfern, ganz für das, was man liebt, in Grund und Boden zu gehn: das Seligste, was sich auf Erden erdenken läßt, ja worin der Himmel bestehen muß, wenn es wahr ist, daß man darin vergnügt und glücklich ist.“ Daß er sogar Glück und Vergnügen an das Selbstopfer knüpft, mag überspannt sein, aber der wahre Kern seines Gedankens besteht meines Erachtens darin, daß erst der unbedingte Ernst einer Autorität – hier der immanenten Autorität einer tiefen persönlichen Bindung an den Lebensgefährten – dem Leben das Gewicht gibt, wodurch es wichtig statt nichtig wird. Das will uns Stirner mit seinem kantianischen Autonomiefimmel ausreden. Die Menschen sind viel zu schwach, um im Genuß ihre Selbstherrlichkeit zu leben. Sie sind Medien, die gebraucht und verbraucht werden, um an ihrer Geschichte etwas Gestalt werden zu lassen, das über sie hinausgeht, etwa im Sinn der griechischen Tragödie. Wie Nietzsche sagte: „ein Seil über einem Abgrund, ein gefährliches Hinüber.“ Wenn Sie von einem Stachel Stirners sprechen, denkt man an einen Insektenstachel, der in dem gestochenen Körper stecken bleibt und eine gärende, nicht fertig verarbeitete Entzündung verursacht. In diesem Sinne fühle ich mich von Stirner nicht gestachelt. Ich begegne ihm frontal und eingehend. Ich würdige seinen wichtigen Beitrag zur Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses, wenn er, seinen Zeitgenossen weit voran, in krasser Form deren Problematik aufzeigt, auf dem Wege von der Objektivität zur Subjektivität in der Mitte stecken geblieben zu sein. Aus der Halbheit dieses Selbstverständnisses, verkörpert in der Figur des Einzigen als des Eigners, resultiert die Gefahr, daß die Menschheit in der Dämmerung nichtiger Beliebigkeit versinkt. Das macht mir Sorge. Andererseits glaube ich, vom Ende des Weges her den Irrtum aufklären zu können. Soll man das nun „den Stachel Stirners“ nennen? 25. Oktober 2014 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich bin recht erleichtert, auch erfreut, dass Sie meinen neuerlichen Brief und die Zusendung meines Artikels Der Stachel Stirner so freundlich

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aufgenommen haben. Zu Ihrer Antwort möchte ich noch ein paar Worte sagen. Im letzten Absatz kommen Sie darauf zu sprechen, dass ich Sie (S. 273f.) in eine Liste prominenter Denker aufgenommen habe, die meiner Auffassung nach Stirner als Stachel empfunden und versucht haben, diesen Stachel, bewusst oder vorwiegend unbewusst, zu ziehen, indem sie imposante Werke zustande brachten. Dies geschah allerdings m.E. bisher vergeblich, obwohl einige von ihnen, in erster Linie Marx und Nietzsche, mit ihren Ideen auf eine derart große Aufnahmebereitschaft trafen, dass sie ein Jahrhundert maßgeblich prägen konnten. Ich habe Sie in jene Liste nur unter dem einen – den allerdings für mich wichtigsten – Aspekt aufgenommen: dem des „Stachels“, als der Stirner für diese Autoren wirksam war. Die Folgen waren freilich in jedem Fall verschieden. Sie selbst schreiben in Selbstdarstellung als Philosophie (S. 83), dass der „Stachel“ Stirner „das Nachdenken“ dazu treiben könne, „durch genaues Erforschen der Phänomene“ schließlich zur „Entdeckung der subjektiven Tatsachen am affektiven Betroffensein“ zu gelangen. Ich nehme an, dass mit dem „Nachdenken“ hier primär das Nachdenken des Hermann Schmitz gemeint ist. Hier und an anderen Stellen würdigen Sie Stirner wegen seiner – in dieser wahrhaft fundamentalen Frage einzigartigen – Ehrlichkeit, verurteilen ihn aber auch zugleich aufs Äußerste, indem Sie in ihm den Propheten des ironistischen Zeitalters und Apologeten von Frivolität etc. sehen. Diese Haltung erscheint mir als ambivalent und erinnert mich an die Aussage des späten Georg Friedrich Daumer in Bezug auf Stirner: „Der Teufel verdient unsern Dank, wenn er uns sagt, dass er der Teufel ist.“ Vor diesem Hintergrund bitte ich zu verstehen, warum mich die knappe Stirner-Passage Ihrer Kurzen Einführung zu meinem Brief und der Zusendung meines Artikels Der Stachel Stirner veranlasste. Stirner erscheint bei Ihnen am Ende wie ein deus ex machina, ohne Vorlauf im Text, ohne dass Sie damit rechnen konnten, dass der Leser – nicht nur der in die N.Ph. einzuführende, sondern auch ihr Kenner – Ihre Wertung Stirners kennt, gar versteht. Wollten Sie damit anregen, dass (endlich einmal?) der doch gar nicht periphere Bezug Stirners zur N.Ph. erfragt wird? 27. Oktober 2014 Sehr geehrter Herr Laska, in „Rezensenten Stirners“ beteuert Stirner, daß er kein Feind der Liebe, Hingabe und Aufopferung sei; er wende sich nur gegen die heilige Liebe, das heilige Denken usw. in dem Sinn, wie das Heilige „das absolut Uninteressante (…), d.h. subjektlos Interessante“ sei (zitiert von mir: Der Weg der europäischen Philosophie Band 2 S. 469). Es ist also die Verset-

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zung unter die neutralen, bloß noch objektiven Tatsachen, von denen die Subjektivität abgeschält ist, die er dem Heiligen ankreidet. Da er die Subjektivität dennoch retten will, bleibt ihm nur deren Versetzung in die Randstellung eines Einzigen, der gar nicht mehr an dem, was er ist, zu fassen ist, sondern nur noch als Eigner mit beliebigem Verfügen über alles, was er hat und haben kann. Ich rechne Stirner hoch an, daß er die Subjektivität wenigstens in diesem paradoxen Schweben aufrechterhält. Wenn man auch darauf verzichtet, kommt man zum Standpunkt von Avenarius, der weder Subjekt noch Objekt zuläßt, sondern nur noch Vorfindungen ohne Vorfindendes und Vorgefundenes. Ich habe einen Neudruck seiner Schrift „Der menschliche Weltbegriff“ (3. Auflage 1912) veranlaßt, die gerade mit einer Einleitung von mir im Xenomoi Verlag Berlin 2014 erschienen ist. Da können Sie das Gegenbild zu Stirner erblicken. Wenn Stirner etwas von subjektiven Tatsachen gewußt hätte, hätte er das Heilige nicht so verächtlich unter die bloß noch objektiven abschieben müssen, sondern sich damit begnügen können, die dogmatische Objektivierung dieses Heiligen in den etablierten Religionen zu verwerfen. Er hätte seinen Einzigen mit Engagement und Leidenschaft leben lassen können, statt in der Rolle des ironisch schwebenden Drahtziehers eines Puppenspiels. Dazu hätte ihm ein gerade im Alber-Verlag erschienenes, 684 Seiten dickes Buch einer deutsch-bolivianischen Nonne verhelfen können: Johanna Lauterbach, „Gefühle mit der Autorität unbedingten Ernstes“. Eine Studie zur religiösen Erfahrung in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und Hermann Schmitz, Freiburg 2014. Es handelt sich um ein Meisterwerk; besonders die Schmitzdarstellung ab S. 415 ist vorzüglich. Es stellt sich heraus, was mit dem Heiligen geschieht, wenn man es unter die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins versetzt oder, besser, dort gleich stehen läßt. Dabei treten Grundzüge einer möglichen nachmetaphysischen Religion hervor. Weihbischof Jaschke (Hamburg) hat ein verständnisvolles Vorwort geschrieben. 13. November 2014 Sehr geehrter Herr Schmitz, haben Sie besten Dank für die Hinweise auf die Werke von Richard Avenarius (samt Vorwort von Ihnen) und Johanna Lauterbach. Ich werde mich demnächst einmal damit beschäftigen. Da Sie in Ihren beiden letzten Briefen (12. und 27. Oktober) stellenweise länger auf Stirner eingehen, war und bin ich versucht, unsere alte Diskussion wieder aufleben zu lassen, will es aber doch lieber unterlassen („Tretmühle“) – bis auf ein paar Worte zu Ihren Feststellungen über Stirner: er habe aus dem, was bei Schlegel und Novalis ästhetische Spielerei war, „blutigen Ernst“ gemacht; er habe „mit seinem kantianischen Autonomiefimmel“ die Wichtigkeit des „unbedingten Ernstes einer Autorität“ ab-

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schaffen wollen; die Welt würde in Beliebigkeit und Langeweile enden, und niemand könnte mehr sagen „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Diese Interpretation des Einzigen scheint mir derjenigen von Alexander Stulpe recht nahe zu stehen (vgl. mein Rezensionsessay „Der Stachel Stirner“). Sie steht meiner Sicht Stirners frontal gegenüber. Ich meine, Stirners Eigner würde sagen (können): „Hier stehe ich und will nicht anders“ (kann nicht anders wollen), und zwar aufgrund einer „eigenen“, selbstgeschaffenen Autorität mit unbedingtem Ernst. Ich halte diese Unterscheidung für so unverzichtbar wie die zwischen Zwang und Drang. Stirners Eigner hat sich also idealerweise von dem bei der Enkulturation erzeugten innerlichen Zwang befreit und kann seinem nicht mehr gedrosselten Drang mit, wie Sie am 27.10. schreiben, Engagement und Leidenschaft folgen. Er sieht sich m.E. nicht „in der Rolle des ironisch schwebenden Drahtziehers eines Puppenspiels“ – aber ebenso nicht als Puppe, die ihrem Drahtzieher ehrfürchtig für ihr „Leben“ dankbar ist. Wir sind natürlich sofort wieder beim kardinalen Punkt – nicht nur unserer früheren Diskussion, sondern des Denkens Stirners – angelangt (wobei es n.b. gar nicht um Stirner geht; er und seine Rezeption sind nur das geeignetste Vehikel, um Einsicht in die aktuelle Situation und deren Entstehungsgeschichte zu gewinnen). Ich möchte dazu aus dem ReclamEinzigen, S. 69–71, zitieren, wo Stirner „das Eigene dem Eingegebenen“ entgegenstellt: „… denn es ist ein großer Abstand zwischen den Gefühlen und Gedanken, welche durch Anderes in mir angeregt, und denen, welche Mir gegeben werden.“ Letztere sind es, die „unbewusst Uns beherrschen. … Der Unterschied ist also der, ob Mir Gefühle eingegeben oder nur angeregt sind. Die letzteren sind eigene, egoistische, weil sie Mir nicht als Gefühle eingeprägt, vorgesagt und aufgedrungen wurden; zu den ersteren aber spreize Ich Mich auf, hege sie in Mir wie ein Erbteil, kultiviere sie und bin von ihnen besessen. Wer hätte es niemals, bewusster oder unbewusster gemerkt, dass Unsere ganze Erziehung darauf ausgeht, Gefühle in Uns zu erzeugen, d.h. sie uns einzugeben, statt die Erzeugung derselben Uns zu überlassen, wie sie auch ausfallen mögen. … Das Eingegebene ist Uns fremd, ist Uns nicht eigen, und darum ist es ‚heilig‘, und es hält schwer, die ‚heilige Scheu davor‘ abzulegen.“ Soweit ich mich erinnere, habe ich schon in früheren Briefen versucht zu erklären, dass und warum ich hier eine kategoriale Unterscheidung zweier Existenzweisen eines, wie ich es nannte, persönlichen Über-Ichs postuliere, eines irrationalen (vorreflexiven, eingegebenen, fremden, zwanghaften) und eines rationalen (durch Reflexion selbst erzeugten, eigenen, dranghaften). Ich habe dazu kürzlich einen Beitrag in einem Sammelband zum Thema Selbstermächtigung geschrieben und kann Ihnen gern ein Separatum schicken.

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In Ihrem Brief vom 12.10., S.2, schreiben Sie, Stirner habe Autorität(en?) mit unbedingtem Ernst abschaffen wollen und habe damit in unserer jetzigen Gesellschaft weitgehenden Erfolg, was Ihnen große Sorge bereite, weil eine Welt aus lauter Eignern in ungeheurer Langeweile versinken würde. Eingedenk des Faktums, dass Stirner keinen einzigen „Schüler“ und nur vereinzelte, wirkungsarme Propagandisten (wie Mackay) hatte, dass vielmehr die Intimfeinde und klandestinen „Überwinder“ Stirners, Marx und Nietzsche, zu den unsere Zeit prägenden Denkern hochgejubelt wurden, kann ich jenen Gedanken, jenes Urteil nicht nachvollziehen, geschweige denn für zutreffend halten. In meinen Ohren klingt es wie eine Dämonisierung. Dabei teile ich durchaus Ihre Sorge über die Entwicklung der „Welt“, wie sie innerhalb unserer Lebensspanne in historisch wohl beispielloser Geschwindigkeit abläuft. Aber ich sehe sie nicht mit dem Denken Stirners gekoppelt, sondern mit dessen panischer Abwehr. Die Dämonisierung Stirners und die aus ihr folgende quasi „populistische“, d.h. mehrheitsfähige Abwehr in ihren verschiedenen Ausprägungen durch Marx, Nietzsche und nicht wenige Andere – bei gleichzeitigem Ignorieren Stirners durch den Großteil der akademischen Philosophie, insbesondere der angelsächsisch geprägten – war für mich stets eine zuverlässige Orientierungshilfe im wildwüchsigen Gestrüpp der Unmassen philosophischer Literatur. Durch sie fand ich zu meiner „Methode“, die ich für den Hausgebrauch als „investigative Ideengeschichte“ bezeichne. Mit ihr entdeckte ich 1991 „Nietzsches initiale Krise“ (infolge Konfrontation mit Stirners vermeintlichem Nihilismus) als Movens seiner Karriere und Basis seines Erfolgs – was allerdings die Nietzsche-Forschung bis heute nicht interessiert. Mit ihr entdeckte ich 2012, in mancher Hinsicht als Pendant dazu, die wahrscheinliche, gleichwohl wie im Falle Nietzsche vom Denker unbewusst verschleierte Ursache für Rousseaus berühmte illumination, die Konfrontation mit dem (vermeintlichen) Nihilismus La Mettries. Bei Interesse schicke ich Ihnen gern ein Separatum meiner Arbeit 1750 – Rousseau verdrängt La Mettrie. Eine ideengeschichtliche Weichenstellung. Sie schreiben gegen Ende Ihres Briefs vom 12.10. von der aus Stirners Halbheit resultierenden „Gefahr, dass die Menschheit in der Dämmerung nichtiger Beliebigkeit versinkt.“ Sie glauben aber, „vom Ende des Weges her den Irrtum aufklären zu können“, und fragen (rhetorisch), ob man das „den Stachel Stirners“ nennen könne. Sie kennen meine Antwort. – In einem sind wir uns aber wohl ziemlich einig: in der Wahrnehmung, dass die Entwicklung, trotz Aufklärung des „Irrtums“ – egal ob durch Ihre oder durch meine Version – weiter ins Versinken geht. Sie folgt der Agenda, die Thilo Sarrazin mit der Formel „Deutschland schafft sich ab“ prägnant erfasst hat, die aber offenkundig für die gesamte europäische Kultur gilt. Ich sehe den tieferen Grund dafür in der von mir fokussierten Selbstsabotage der Aufklärung (indem Marx und Nietzsche über Stirner triumphierten,

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zuvor Rousseau über La Mettrie); der Grund für diese allerdings bleibt mir ein Rätsel. 15. November 2014 Sehr geehrter Herr Laska! Ihre Stirner-Deutung, die Sie der meinigen entgegensetzen, ist in Ihrem Brief vom 13.11. in den Satz zusammengefaßt: „Ich meine, Stirners Eigner würde sagen (können): Hier stehe ich und will nicht anders (kann nicht anders wollen), und zwar auf Grund einer ‚eigenen‘, selbstgeschaffenen Autorität mit unbedingtem Ernst.“ Diese Deutung ist unhaltbar, weil unverträglich mit der Definition der Norm (bzw. der Autorität) mit unbedingtem Ernst, die Sie im 1. Kapitel „Allgemeine Normenlehre“ meines Buches „Das Reich der Normen“ nachlesen können. Unbedingten Ernst können nur verbindlich geltende Normen haben, also solche, die für jemand in seiner Perspektive unabhängig von seinem Belieben gelten. Der eigene Wille fällt aber notwendig zusammen mit dem, was einem beliebt; folglich kann eine von ihm gegebene Norm nicht verbindliche Geltung haben. Über das, was der unbedingte Ernst der bloßen Verbindlichkeit hinzufügt, siehe a.a.O. Kant suchte Pflicht (verbindliche Geltung) und Autonomie durch eine phantastische und logisch problematische Zerlegung des Menschen in einen transzendenten homo noumenon und einen diesem unterworfenen homo phainomenon zu vereinigen; so etwas liegt Stirner fern. Ich möchte Sie eindringlich bitten, nicht mehr in der Diskussion mit mir über die richtige Auslegung der Intention Stirners fortzufahren; wir kommen nicht weiter. Daher möchte ich auch Ihr freundliches Angebot der Mitteilung eigener Aufsätze an mich nicht wahrnehmen. 24. November 2014 Sehr geehrter Herr Schmitz, selbstverständlich respektiere ich Ihre eindringliche Bitte, unsere Diskussion über Stirner nicht fortzusetzen. Ich hatte dies ohnehin nicht vor und in meinem letzten Brief geschrieben, dass es mir natürlich gar nicht um Stirner geht; dass ich ihn bzw. seinen Einzigen aber als das geeignetste Vehikel betrachte, um Einsicht in unsere aktuelle Situation sowie deren Entstehungsgeschichte zu erhalten. Und in diesem Punkt sah ich mich mit Ihnen (bei gegensätzlicher Interpretation der Grundintention des Einzigen) einig, als ich erneut den Schlussabsatz Ihres Buches Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie las. Dies bewog mich dann zur Wiederaufnahme des Kontakts nach langer Pause. Hinzu kam der schon zitierte Satz, den Sie in Selbstdarstellung als Philosophie (S. 83) über den „Stachel“ Stirner schrieben; er ermutigte mich, Ihnen ungebeten meinen Artikel Der Stachel Stirner zu schicken, in dem es um ein monströses Buch geht, dessen Autor

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über 1000 Seiten zu suggerieren versucht, dass wir in stirnerianischen Zeiten leben, in denen Stirner zwar kaum noch bekannt, aber im vulgärhedonistischen Alltag ubiquitär präsent sei. – Wenn ich in meinem letzten Brief anbot, Ihnen auch noch meine Arbeit 1750 – Rousseau verdrängt La Mettrie. Eine ideengeschichtliche Weichenstellung zu schicken, so hatte dies natürlich nicht direkt mit Stirner zu tun, aber mit der Parallelisierung zu 1865 – Nietzsche verdrängt Stirner, womit ich zweimal paradigmatisch das Abirren und letztliche Scheitern der Aufklärung nicht einer immanenten „Dialektik“, sondern einer „Selbstsabotage“ zuschreibe. Jedenfalls möchte ich Sie, falls ich durch meine Einlassungen zu einem Zeitdieb geworden bin, um Entschuldigung bitten. 24. August 2015 Sehr geehrter Herr Schmitz, ich hatte neulich die Muße, unseren Briefwechsel, der 1993 begann und mit Unterbrechungen bis 2014 dauerte, zu sichten und war erstaunt über dessen Umfang, zeitweilige Dichte und Intensität. Es waren tatsächlich über 300 Briefe, hauptsächlich aus den Jahren 2000 bis 2007, davon nicht wenige, die drei bis vier, einige auch mehr Seiten umfassten. Aus meiner Sicht diskutierten wir darin Fragen und Probleme, die, wie mir auch Ihr letztes Buch „Selbst sein“ zeigt, in Ihrem Werk durchaus nicht von marginaler Bedeutung sind. Deshalb scheint mir der Gedanke naheliegend, dass irgendjemand irgendwann einmal es für sinnvoll hält, diesen Briefwechsel zu veröffentlichen. Deshalb möchte ich Sie fragen, was Sie davon halten, dass wir gegenseitig unser Einverständnis mit einer Veröffentlichung der Briefe schriftlich bekunden, vorsorglich eingedenk unserer Lebensalter. 25. August 2015 Sehr geehrter Herr Laska, ebenso wie Sie meine ich, daß unser Briefwechsel es verdient, eines Tages veröffentlicht zu werden; gegenwärtig wird er in der Schmitz-„Forschungsstelle“ an der Universität Rostock kopiert, und ich soll das Original in wenigen Tagen zurückerhalten. Es kann aber noch lange dauern, bis das Publikum oder ein Verleger ein Auge darauf wirft. Immerhin fasse ich Ihren Brief vom 24.08. als Einwilligung auf. Ich hätte die Korrespondenz mit Ihnen gern fortgesetzt, wenn wir dabei nicht in eine Sackgasse geraten wären, bezüglich auf die Bewertung der von uns beiden wichtig genommenen, aber unterschiedlich verstandenen Initiative Stirners.

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6. September 2015 Sehr geehrter Herr Schmitz, das ist ja ein schöner Zufall, dass meine Anfrage hinsichtlich einer gegenseitigen Einwilligung für eine Veröffentlichung unserer Briefe zeitlich mit der Bearbeitung (Kopien; Transkription?) der Briefe an der Universität Rostock zusammenfiel. Es freut mich, dass Sie diesen Briefwechsel ebenfalls als veröffentlichungswert ansehen. Die Einwilligung für meine Briefe wollte ich vorderhand nicht einseitig geben; ich dachte eher an eine Vereinbarung auf Gegenseitigkeit, die auf unbestimmte Zeit gelten sollte. Sie sprechen in Ihrem letzten Brief, wenn ich richtig lese, nicht ganz ohne Bedauern die Beendigung unseres Austauschs an, die erfolgte, weil wir in eine Sackgasse – seinerzeit: „Tretmühle“ – geraten waren. Ich war und bin darin durchaus Ihrer Meinung. Was ich mir vorstellen könnte, wäre stattdessen eine Diskussion über Stirners Sonderstellung in der Philosophiegeschichte anhand der Reaktionen auf ihn. Der Tross der akademischen Philosophen hat freilich von ihm kaum Notiz genommen, schon gar nicht nach der „Anglifizierung“ des Faches; aber viele durchaus namhafte Denker hatten mit Stirner zu kämpfen, oft vor ihrer Karriere, diese dann mit einer Abwehr Stirners beginnend und gerade deshalb so erfolgreich (Marx, Nietzsche, auch E. v. Hartmann, Steiner u.a. – s.a. beiliegendes Exposé). Am intensivsten bewegt mich jedoch seit langem das Schicksal der europäischen Kultur, die sich, wie ich meine, in rasant steigendem Tempo selbst zerstört. Jean Raspails Vision einer Masseninvasion in Le Camp des Saints (1973) wird sukzessive zur Realität. Europa ist bedroht und zugleich paralysiert durch die Ideologie, die es selbst erfunden und universell verbreitet hat (Menschenrechte etc.), und die letztlich aus der zweistufigen Selbstsabotage der Aufklärung (Rousseau, Voltaire et al. verdrängten La Mettrie; Marx, Nietzsche et al. verdrängten Stirner) hervorging. Ich hatte Ihnen am 13. und 24. Nov. 2014 von meinen neueren Arbeiten dazu kurz berichtet. 13. September 2015 Sehr geehrter Herr Laska, Ihren Vorschlag, statt über Stirner selbst über die Stirner-Rezeption brieflich zu diskutieren, halte ich nicht für ergiebig. Bei Marx ist die Sache ziemlich klar und kaum sehr strittig zwischen uns. Marx kennt den Menschen nur als Gattungswesen im Licht neutraler, objektiver Tatsachen; ihm ist nie aufgefallen, daß für ihn zu Berichten, daß ein gewisser Mensch (Herr Karl Marx) sich irgendwie befindet, etwas sehr Wichtiges hinzukommt, wenn er merkt, daß er selbst dieser Mensch ist. Davon aber sind Fichte, Friedrich Schlegel, Novalis, Kierkegaard und Max Stirner betroffen. Sie haben aber nicht durchschaut, daß es sich um den Überschuß der subjektiven

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Tatsachen des affektiven Betroffenseins (die einem nahe gehen) an reicherer Tatsächlichkeit handelte. Dieser Unklarheit verdanken wir das ironistische Zeitalter, das einen großen Anteil an dem von uns beiden beklagten gegenwärtigen Verhängnis des Abendlandes hat. Ihre weitergehende Diagnose, daß eine Inkonsequenz der Aufklärung daran schuld sei, teile ich nicht. Als Marx auf Stirner stieß, merkte er, daß ihm in seinem geistigen Horizont etwas fehle, das er nicht identifizieren konnte, statt dessen half er sich, indem er Stirners strikte Subjektivität auf das Niveau der objektivneutralen Tatsachen, besonders der Sozialverhältnisse, herabdrückte, und redete in endlosen Tiraden an ihm vorbei. Weil er ahnte, daß er damit ins Leere stieß, ließ er das literarische Produkt ungedruckt zurück. Ob seine Wendung zum historischen Materialismus darauf zurück geht, wie Sie meinen, ist mir nicht sicher; es ist aber ganz plausibel. Nach Marx ist Nietzsche der größte Brocken im Feld der Stirner-Rezeption. Wir wissen, daß Nietzsche das Buch von Stirner kannte, darüber aber absolutes Stillschweigen bewahrte. Das ist sehr auffällig, Sie bauen darauf weitgehende, aber durchaus unbegründete Vermutungen, z.B., daß die von Nietzsche für sich bezeugte Schopenhauer-Krise in Wirklichkeit eine Stirner-Krise gewesen sei. Darin kann ich Ihnen nicht folgen, und eine Auseinandersetzung unserer Meinungen darüber würde wenig bringen. Was andere Autoren – Sie nennen Rudolph Steiner und E. v. Hartmann – über Stirner beigetragen haben, oder der eitle Carl Schmitt, interessiert mich zu wenig, um dem mühsam nachzugehen, schon gar nicht mit Ihrer Stirnerapologetischen Tendenz. Ich pflichte aber gern Ihrer These bei, daß bei solchen Autoren eine nicht abreagierte Unruhe durch die Konfrontation mit Stirner virulent ist. Eine förmliche, vertragsähnliche Vereinbarung zwischen uns über künftige Veröffentlichung unseres Briefwechsels scheint mir überflüssig, weil die Realisierung noch gar zu weit entfernt ist. Mir genügt, daß wir beide zum Ausdruck gebracht haben, daß wir nichts dagegen hätten. Vielleicht nehmen Sie Anstoß an meiner ungleichmäßigen Zeichenführung. Schuld daran ist eine plötzliche Schmälerung meiner Nahsichtschärfe in den letzten Wochen. Ihre Bemühungen nehme ich der Richtung nach ernst, auch wo ich dem Inhalt nicht zustimmen kann. 28. September 2015 Sehr geehrter Herr Schmitz, mein Vorschlag einer „Diskussion über Stirners Sonderstellung in der Philosophiegeschichte anhand der Reaktionen auf ihn“ war nicht so gemeint, wie Sie ihn vermutlich verstanden haben: detailliert die Stirner-Rezeption zu erörtern. Es ginge mir dabei um den Aspekt der Stirner-Rezeption, den ich für den wesentlichen halte – und der in dem Titel meines dem

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letzten Brief beigelegten Exposés zum Ausdruck kommt: Vade retro! – Max Stirner als Satan der Moderne. Ich sehe natürlich, dass der Titel reißerisch klingt, meine aber, dass er sachlich nicht nur gerechtfertigt ist, sondern – in der Kürze freilich zugespitzt – den Sachverhalt auf den Punkt bringt. In dem Artikel, den das Exposé ankündigt, werde ich diese „These“ an vier berühmten Denkern des 19. Jahrhunderts ausführen. Im 20. Jahrhundert wurde die „Verteufelung“ Stirners fortgesetzt, freilich nicht beim Tross der akademischen Philosophen, die Stirner ignorierten, aber doch bei einer Reihe renommierter Philosophen. Der Basler Professor Karl Joël etwa sprach von einer von Stirner begründeten „Teufelsreligion“; Heidegger schweigt – wie Nietzsche – in seinem riesigen Werk zu Stirner, ebenso Husserl, von dem wir aber dank einer im Archiv erhaltenen Notiz wissen, dass er in kleinem Kreise eindringlich vor der „versucherischen Kraft“ Stirners warnte; Klages befürchtete, dass die Stirnersche „Willensüberzeugung“, würde sie allgemein, den „jüngsten Tag“ der Menschheit herbeiführte; so auch einige Philosophen in der Nachfolge von Marx, wie Hans Heinz Holz, der warnte, dass „der Stirnersche Egoismus, würde er praktisch, in die Selbstvernichtung des Menschengeschlechts“ führte. Beispiele gibt es noch zahlreich und ausführlicher. Meist geht man dabei davon aus, dass der Leser ohne Begründung des Urteils Bescheid weiß und zustimmt. Diese hier bruchstückhaft skizzierte Charakteristik der Stirner-Rezeption lässt viele der einflussreichen Philosophen nach 1845 als, meist in ihren Anfängen, durch die Abwehr Stirners motiviert erscheinen. Es handelte sich jedoch meist um eine Abwehr nach „politischer“ Methode, die die öffentliche argumentative Auseinandersetzung vermied – Hauptprotagonisten waren freilich Marx und Nietzsche. Wenn auch diese m.M.n. wahre Motivation vermutlich schnell aus dem Bewusstsein der Autoren verschwand, so schufen diese in rastloser Tätigkeit doch jeweils ein Werk, dessen große Popularität sich nicht zuletzt aus seiner Funktion ergab, die durch Stirner aufgeworfene Problematik zu verschütten. Dies zeigt sich eindrucksvoll in der Literatur, wenn jemand die Stirner-Marx-Frage oder die Stirner-Nietzsche-Frage thematisierte – oder auch beschwieg, wie etwa Althusser, dessen Ruhm gerade durch seine Deutung des „Bruchs“ in Marx’ Entwicklung begründet wurde. Wenn Sie, wie im letzten Brief, bei mir eine „Stirner-apologetische Tendenz“ erkennen, so kann ich dieses Urteil nicht beglaubigen. Mir dient Stirner, der „Fall“ Stirner, als Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dabei ignoriere ich stillschweigend vieles in seinem Buch, das mir als falsch, zeitbedingt oder irreführend, jedenfalls als unwesentlich, erscheint, um jene Idee herauszupräparieren, die offenbar so „brisant“ ist, dass sich viele große Geister gegen sie stellten,

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und zwar vorwiegend auf unphilosophische Weise: Vade retro!, teils ausgesprochen, teils unausgesprochen. Dieselbe Idee mutatis mutandis fand ich – aufgrund einer „detektivischen“ Lektüre von Kondylis’ Buch über die Aufklärung – auch bei La Mettrie, dazu passend die gleiche entschiedene Abwehr, vor allem die gleichartige „politische“ Abwehr – Totschweigen und pompöse Gegenphilosophien produzieren, die den Aufsteller ebenso beruhigen wie sein Publikum – durch die Enzyklopädisten und vor allem durch Rousseau, der für seine Leistung ebenso geschätzt wurde wie später Marx und Nietzsche als Bewältiger Stirners. À propos Rousseau habe ich in der am 24. November 2014 genannten Arbeit plausibel dargelegt, dass seine Erweckung zum Philosophen durch jene berühmte illumination auf dem Weg nach Vincennes eine unglaubwürdige Geschichte ist; dass vielmehr seine Erschütterung infolge Lektüre des gerade erschienenen Discours sur le bonheur von La Mettrie – der den scheinbaren „Nihilismus“ Stirners in damaliger Terminologie enthielt – ihn auf seine Laufbahn brachte. Ich erwähne dies, weil Sie am 13. September 2015 äußerten, meine Annahme zur „initialen Krise“ Nietzsches als Folge einer Konfrontation mit Stirner bei Mushacke sen. sei unbegründet: schließlich habe doch Nietzsche selbst eine Schopenhauer-Krise bezeugt. Ich habe das entsprechende Belegstück immer als verdächtig empfunden, konnte dies jedoch in meiner Arbeit von 2002 noch nicht triftig begründen. Inzwischen wurden jedoch Dokumente gefunden, die Nietzsches Beteuerung, er habe vor seinem legendären Fund im Buchladen nichts von Schopenhauer gewusst, widerlegen. Kurz, eine „story“ wie bei Rousseau, wobei nicht einmal bewusste Täuschung zu unterstellen ist. Kurz: ich meine in „La Mettrie“ und „Stirner“ zwei neuralgische Punkte entdeckt zu haben, über die das Scheitern der Aufklärung durch Selbstsabotage erklärbar ist. 9. Oktober 2015 Sehr geehrter Herr Laska, Ihr heute empfangener Brief veranlaßt mich, Ihnen meine Stellung zu Stirner noch einmal zu verdeutlichen, weil ich in gewissem Sinn auf der Seite der von Ihnen aufgeführten Gegner Stirners stehe, aber nicht mit einem wohlfeilen Exorzismus, der ihn als abscheulichen Satan wegzubannen sucht, sondern mit geduldiger Analyse einer großen und akuten Gefahr menschlicher Selbstverkennung, in der er einen respektablen Platz einnimmt, den ich einzugrenzen suche. Ich gehe dabei von meiner Unterscheidung der strikten Subjektivität von einer bloß positionalen, auf eine besondere „Stellung des Menschen im Kosmos“ (Scheler) abzielenden aus. Die strikte Subjektivität besteht darin, daß in allen objektiven und neutralen, „steckbrieffähigen“ Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug

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weiß und gut genug sprechen kann, kein Grund dafür enthalten ist, daß es sich z.B. um mich handelt. Nach meiner Überzeugung liegt das an der reicheren Tatsächlichkeit der für jemand subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins, die höchstens er im eigenen Namen aussagen kann, im Gegensatz zu der abgeblaßten Tatsächlichkeit der daraus durch Abschälung der Subjektivität entstehenden objektiven Tatsachen, von denen aus die subjektiven unerreichbar sind. Statt dessen hat man, als die strikte Subjektivität als Thema des Nachdenkens entdeckt war – zuerst von Fichte als Kompensation der naturalistischen Versachlichung im „baconischen“ Zeitalter –, den Sitz der strikten Subjektivität in einem hypostasierten Subjekt gesucht, das über den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen irgendwie „schweben“ sollte (wie die zwischen den unvereinbaren Gegenteilen von Begrenztheit und Unbegrenztheit schwebende Einbildungskraft, der Ersatz des absoluten Ichs bei Fichte). Aus diesem Schweben machte Friedrich Schlegel die romantische Ironie als die Wendigkeit, sich von jedem Standpunkt erheben und eben deshalb auf jeden anderen versetzen zu können; bei Kierkegaard wurde daraus das Schweben in Angst nach Art des Höhenschwindels. Während die romantische Ironie bei Schlegel und Novalis ein ästhetisches Spiel war, nahm Stirner sie buchstäblich und humorlos, sozusagen „blutig“, ernst und machte aus dem über allen Tatsachen schwebenden Subjekt die Figur des Einzigen, der von allen Bindungen emanzipiert ist. Das Entsetzen über solches Maß an Emanzipation bestimmte Hegel, in der „Phänomenologie des Geistes“ (Kapitel 6 C c), den noch eher unschuldigen Friedrich Schlegel unter dem Titel des „Bösen“ vorzuführen, als hätte er den „Satan der Moderne“, der später Max Stirner wurde, schon geahnt. Statt dessen ging von Schlegel und Stirner das ironistische Zeitalter aus, dessen heutige Gestalt die Coolness und das Herumspielen („Zappen“) am Fernseher, Computer usw. ist. Diese Wendigkeit, die den Menschen das konsequente Wollen abkauft, verbindet sich mit der dynamistisch-konstellationistischen Verfehlung in Gestalt der modernen Technik, die den Menschen ein wucherndes und sich immer mehr verdichtendes Netz von Angeboten für kurzfristige Weichenstellungen zur Verfügung stellt und ihnen dadurch den Durchblick auf die ungeformten Möglichkeiten, aus denen sie gestaltend schöpfen könnten, nimmt. Dieses Bündnis degradiert die Menschen zu scheinbar souveränen Puppen in einem Maschinenpark und verführt sie zum Verharren in einer durch endlose Abwechslung langweiligen Pubertät ohne Reifungschance. Die besondere Gefahr, die daher von Stirner als Verführer ausgeht, besteht in seinem Angriff auf die Heiligkeit im weitesten Sinn, d.h. auf die Autorität von Gefühlen, dem Ergriffenen für ihn mit unbedingtem Ernst verbindliche Normen in Geltung zu setzen. Dieser Angriff hat noch nicht vollen Erfolg gehabt; viele Menschen haben z.B. noch ein Gewissen. Viele Eltern stehen zu ihren Kindern (und umgekehrt) dank solcher Autorität

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von Gefühlen. Aber die Tendenz zum Abbau der Heiligkeit schreitet voran. Wenn sie sich durchsetzt, steht nichts mehr der Verkindischung durch Emanzipation im Wege. Die wichtige Aufgabe, die ich für die Zukunft der Religion zuschreibe, besteht nicht in der Verkündigung irgend welcher metaphysischer Dogmen, einschließlich der Aussicht auf Erlösung oder Verdammung, sondern in Schutz und Pflege der Heiligkeit im angegebenen Sinn. Wir scheinen uns in den pessimistischen Zügen unseres Urteils über den Stand und die Entwicklungstendenz der gegenwärtigen westlich-europäischen Zivilisation ziemlich nahe zu stehen, die von beiden anerkannte Bedeutung Stirners in diesem Prozeß aber gegensätzlich einzuschätzen. Nach meiner Meinung verdankt sie sich einer Verkennung der zwar entdeckten, aber falsch verstandenen strikten Subjektivität, worin er Erbe der Frühromantik ist; dieser Fehler ist zwar theoretisch leicht zu heilen, aber seine praktischen Wirkungen sind noch unabsehbar. Sie verorten das Übel dagegen in einem Abbruch der Aufklärung, über den Stirner hinausgewachsen sei, weswegen er von den Protagonisten der abgebrochenen Aufklärung abgelehnt oder ignoriert wurde. Ihre Stirner-Deutung, die Sie mir kürzlich noch einmal skizziert haben, halte ich für widerspruchsvoll, und ich glaube nicht einmal, daß Stirner sie akzeptiert hätte. Erst recht kann ich nicht glauben, daß der Kasper La Mettrie so tiefen Eindruck, wie Sie annehmen, auf Rousseau gehabt haben könnte. Dessen Renaturierungspathos bringe ich vielmehr mit seinem Ekel vor dem von Gracián und La Rochefoucauld gespiegelten raffinierten Treiben der betrogenen Betrüger an den absolutistischen Höfen und den Salons der Zeit in Verbindung. Mit Dank für die Gelegenheit, die Gemeinschaft unserer Interessen und den Gegensatz unserer Überzeugungen noch einmal zu verdeutlichen etc. 26. Oktober 2015 Sehr geehrter Herr Schmitz, haben Sie besten Dank für Ihre Ausführungen vom 9. Oktober, mit denen Sie erläutern, warum Sie zwar auf der Seite der von mir genannten Gegner Stirners stehen, aber nicht zu deren „wohlfeilen Exorzismen“ greifen müssen, um den „Satan der Moderne“ zu bannen. Ich möchte jetzt auf die Einzelheiten Ihrer dankenswerterweise noch einmal konzis dargestellten Position nicht eingehen, weil dies voraussehbar unsere alte „Tretmühle“ wieder in Gang setzen würde. Einig scheinen wir uns aber doch darüber zu sein, dass zahlreiche Philosophen, die mit Stirner konfrontiert waren, eine öffentliche argumentative Auseinandersetzung mit dessen Gedanken mieden und zu jenen mehr oder weniger versteckt zelebrierten Exorzismen Zuflucht nahmen. Ich würde sogar noch weiter gehen und sozusagen kulturblasphemisch an-

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nehmen, dass in etlichen Fällen – jedenfalls bei Marx und Nietzsche – ihre nach der Stirner-Konfrontation bis zum letzten Atemzug rastlos geschaffenen Werke vom Antrieb her beurteilt die Fortsetzung der initialen exorzistischen Abwehr waren. Ich möchte die allgemein als hochwertig betrachteten Werke dieser Denker beileibe nicht pauschal herabwürdigen, aber im Kern sehe ich in ihnen Ausweichmanöver. Vielleicht können Sie darin in groben Zügen Affinitäten zu Ihrer Lehre von den Verfehlungen des abendländischen Geistes erblicken. Die Abwehr Stirners scheint doch, bis ca. 1890 durch „Vergessen“, danach durch die dominanten Geistesströmungen, vollkommen gelungen. Stirner hatte nur sehr wenige Anhänger, und die wehrten ihn ebenfalls ab, nämlich, indem sie sein „Satanisches“ nicht einmal wahrnahmen. Trotzdem schreiben Sie von einer Gefahr, die von „Stirner als Verführer“ noch heute ausgehe. Sie bestehe in seinem „Angriff auf die Heiligkeit im weitesten Sinn, d.h. auf die Autorität von Gefühlen, dem Ergriffenen für ihn mit unbedingtem Ernst verbindliche Normen in Geltung zu setzen.“ Stirner greife also an, obwohl ihn kaum einer mehr kennt, obwohl nicht einer der abstrusesten postmodernen Philosophen sich auf ihn beruft. Stirners Angriff, sagen Sie, habe zwar „noch nicht vollen Erfolg gehabt“, viele Menschen „haben noch ein Gewissen“, aber „die Tendenz zum Abbau der Heiligkeit schreitet voran“. Sie sehen den zigfach Verschütteten vor seinem Endsieg. So oder so ähnlich wird Stirner heute auch dezidiert von Alexander Stulpe (s. meinen Rezensionsessay Der Stachel Stirner) und von Peter Sloterdijk (s. Anlage) gesehen: als Schlüsselfigur, die für den Zerfall der okzidentalen Kultur steht, und für dessen antreibende quasi diabolische Macht. Obwohl die besten geistigen Potenzen des Abendlandes alles taten, um den Einfluss Stirners zu unterdrücken, sei er unaufhaltbar vorangeschritten und stehe bald vor seinem Ziel. So verstehe ich auch Ihre Aussage, Stirner habe „noch nicht vollen Erfolg gehabt; viele Menschen haben noch ein Gewissen.“ In meinen Augen ist das eine selektive Sicht auf Stirner, die gerade das ausblendet, was ihn wirklich auszeichnet: die Unterscheidung zwischen einem „eingegebenen“ Gewissen und einem „angeregten“ Gewissen, also einem mir (zunächst) „fremden“ und einem „eigenen“ (im Sinne von Stirners Figur des „Eigners“). Ich meine, ich hätte darüber schon in einem früheren Brief gesprochen: als von einem zwanghaften Gewissen im Gegensatz zu einem dranghaften. Die grundlegende Bedeutung dieser Unterscheidung liegt darin, dass beim Entstehungsprozess des zwanghaften Gewissens zu allererst die Triebe, Tendenzen, Neigungen entstehen, deren spätere Niederhaltung ihm später oft nicht gelingt. Zu meinem Bedauern können Sie kein näheres Interesse für den Vorgang aufbringen, über den ich unter dem Titel „1750 – Rousseau verdrängt La Mettrie. Eine ideengeschichtliche Weichenstellung“ geschrieben habe,

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in der französischen Version mit dem Untertitel „D’une orientation des Lumières lourde des conséquences“. La Mettrie, den Sie am 9. Oktober einen Kasper nennen, erscheint darin sozusagen als Stirner des 18. Jahrhunderts: inhaltlich (mit seiner théorie des remords) ebenso wie biographisch (er löste, wie Stirner beim jungen Nietzsche, bei Rousseau die „initiale Krise“ aus, die ihn auf die philosophische Bahn warf). Auch rezeptionsgeschichtlich finden sich, erwartungsgemäß, erstaunliche Entsprechungen. Wenn ich dort im Untertitel von einer „ideengeschichtlichen Weichenstellung“ spreche, so ist das zurückhaltend formuliert. Ich bin vielmehr der Ansicht, dass jene Weichenstellung von 1750 fatal war, auch und vor allem für die politische Entwicklung der europäischen Kultur. Stichwort: universelle Menschenrechte. Bislang war das Fatale dieses Konzepts, für das maßgeblich u.a. Rousseau steht, sorgsam verborgen, zumal die Reaktionäre, die es anfeindeten, nichts Besseres zu bieten hatten. Heute, ja besonders in diesen Tagen/Monaten, zeigt sich das Fatale dieses Konzepts, indem es m.E. die Schwäche und den Unwillen der Europäer zur Folge hat, ihr angestammtes Territorium gegen riesige gewaltlos eindringende Menschenmassen fremder Kulturen zu verteidigen. Im Gegenteil: sie heißen diese ausdrücklich willkommen und hoffen auf deren dauerhaftes Bleiben. Dies und die demographische Entwicklung werden für die Annullierung der Menschenrechte sorgen. – Hätte man 1750ff. die „Weiche“ im Sinne La Mettries gestellt … 29. Oktober 2015 Sehr geehrter Herr Laska, Sie irren, wenn Sie mir in Ihrem Brief vom 26.10. die relative Unbeachtetheit Stirners entgegenhalten, als ob ich ihn für einen geistigen Imperator hielte, der durch mächtig ausstrahlenden Einfluß seines Buches das Übel angestiftet hätte. Nach meiner Konstruktion schwimmt Stirner mit im Strom, der von Fichte ausgeht, nämlich von der Entdeckung der strikten Subjektivität (d.h. dem Umstand, daß z.B. in meinem Fall mir eine Auskunft über Hermann Schmitz wesentlich weniger Information gibt, als wenn hinzukommt, daß ich selbst Hermann Schmitz oder sonst etwas bin) zusammen mit ihrer Verkennung als rezessiv entfremdete Subjektivität (d.h. als über oder zwischen allen Tatsachen schwebendes Ich). Dieser Strom führt von der romantischen Ironie über die Dandys und den Weltschmerz tief in das ironistische Zeitalter absoluter Wendigkeit zur Coolness der modernen Jugend und zum „Zappen“ an elektronischen Geräten aller Art und sonstigen Freizeitvergnügen. Die Auszeichnung Stirners besteht in meinen Augen nur darin, daß er die rezessive Entfremdung mit trockener Humorlosigkeit blutig ernst nimmt, während die Ironisten damit eher ein Spiel treiben, das harmlos wirken kann, während Stirner mit seinem Ernst zeigt, wohin die Reise wirklich geht. Er ist ein Offenleger des

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tiefen Sinns des ironistischen Zeitalters, ein Mahnmal, nicht ein suggestiver Anstifter. Er wirkt abschreckend, so daß sich die von Ihnen entlarvten „Exorzisten“ an ihm vorbeizudrücken suchen. Der Schrecken hat aber reales Gewicht, ohne daß Stirner als Autor der Anstifter wäre. Mit Ihrer Stirnerdeutung, wie Sie in dem Brief formuliert ist, bleiben Sie meines Erachtens hinter der wirklichen und originellen Bedeutung Stirners zurück. Sie schreiben ihm die Option für das eigene, dranghafte Gewissen im Gegensatz zu dem von fremden Einflüssen auferlegten oder eingegebenen zwanghaften Gewissen zu. Dafür brauchen wir keinen Stirner. Es genügen Marx und Freud. Die Rücknahme der Selbstbestimmung und Eigenentfaltung aus der Entfremdung durch die Produktionsverhältnisse, durch Religion, Staat und Geld ist das Kernthema des jungen Marx, das sich in modifizierter Form bei ihm und seinen Nachfolgern durchhält. Bei Freud ist das zwanghafte Gewissen das eingegebene und „verinnerlichte“ Über-Ich, das zusammen mit dem Es vom Ich unterworfen werden soll. Stirner ist radikaler. Er fordert darüber hinaus absolute Bindungslosigkeit des Eigners. Vergleichen Sie bitte die Stelle (aus den Kleineren Schriften, hg. v. Mackay 21914, S. 274–276), die ich in meinem Buch „Selbstdarstellung als Philosophie“ auf S. 68f. anführe. Stirner verwirft dort die altruistische Liebe, weil sie Fremdbestimmung enthalte, zu Gunsten der Vernünftigkeit des freien Menschen. Daher entspringt das Liebesbedürfnis dem eigenen Drang des Menschen, wird ihm nicht auferlegt, ist also mit einem eigenen, dranghaften Gewissen und mit Selbstbestimmung (zum Sichbestimmenlassen) vereinbar, aber das ist Stirner schon zu viel. Mir ist keine Stelle bekannt, an der er sich zu einem Drang bekennt. Von allem, was ihn mit sich ziehen könnte, muß der Einzige frei sein. Bezüglich der degenerierenden Wirksamkeit der Proklamation der allgemeinen Menschenrechte berühren wir uns, doch halte ich dieses Dogma für ambivalent. Seine gute Seite kommt zum Vorschein, wenn man die Menschenrechte restriktiv versteht, als Anspruch der Menschen, nicht bloß als Mittel für Zwecke eines anderen verbraucht, vielmehr in ihrer Eigenart respektiert, nicht mit Füßen getreten, auch nicht ganz gleichgültig übergangen zu werden. Wie wenig das noch im 19. Jahrhundert selbstverständlich war, zeigt die Naivität, mit der die Kongogreuel (an den zum Kautschuksammeln verpflichteten Negern) hingenommen wurden; erst im 20. Jahrhundert, angesichts der Wiederholung solcher Greuel in den Diktaturen, wurde das öffentliche Gewissen wach. Ich freue mich auch, daß die Achtung vor der Würde anderer auch den höheren Tieren zugute kommt, wenn das auch von radikalen Tierschützern und Veganern übertrieben wird. Hier scheint ein neuer Sitz des von Stirner verpönten „Heiligen“, der Verbindlichkeit mit unbedingtem Ernst, heranzureifen. Fatal wird das Dogma der allgemeinen Menschenrechte erst, wenn es die Menschen nivelliert und mit aggressiv gewendeten Forderungsrechten ausstattet. So

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kommt es der autistischen und ironistischen Verfehlung zugute, dem Leichtsinn der Verleugnung des Eigenen, der ahnungslos vor den Folgen den Islam einlädt, der zu Deutschland gehöre. Mir wäre eine Kultur völkischer Gesinnung lieber gewesen, wie sie an manchen Beispielen in meinem Buch „Adolf Hitler in der Geschichte“ auf S. 245–263 belegt ist, aber die ist leider bei Hitler und seinen Leuten in die falschen Hände geraten und dadurch diskreditiert worden. Über die schädlichen Wirkungen des Fortschrittsoptimismus und der voreiligen Verallgemeinerung in der Aufklärung, denen ich allerdings als begeisterter Anhänger der kritischen Aufklärung deren segensreiche Vernünftigkeit gegenüberstelle, sind wir also anscheinend ziemlich einer Meinung; wie Sie aber glauben können, daß ein vorzeitiger Abbruch der Aufklärung um 1750 den Schaden verursacht habe und La Mettrie mit seiner Abschaffung aller Gewissensskrupel (remords) hätte helfen können, ist mir unerfindlich, und ebenso wenig kann ich Ihre Ableitung der Denkimpulse von Rousseau und Nietzsche mitmachen. Daß Stirner starken, aber versteckten Einfluß auf Nietzsche gehabt und diesen in gewisse Verteidigungsstellungen (z.B. den Vitalismus) gedrängt hat, halte ich für möglich und nicht einmal unplausibel, aber es gibt keine Belege, die mich überzeugten. 26. November 2015 Sehr geehrter Herr Schmitz, vier Wochen sind seit meinem letzten Brief verstrichen und mehr als drei Wochen seit Ihrer Antwort darauf. Deshalb möchte ich Ihnen jetzt kurz schreiben und um Nachsicht für die Verzögerung meiner Antwort bitten. Diese könnte ich auch jetzt nur in großer Eile schreiben, hoffe aber, sie bald, in den nächsten zwei Wochen, geben zu können. Der Grund liegt zum einen in häuslichen Umständen, die Zeit und Nervenkraft beanspruchen, zum anderen aber auch in dem Zustand, in den dieser Staat in den letzten Monaten geraten ist – wozu gehört, dass man sich darüber durch die so genannten Qualitätsmedien nur noch unter starken Vorbehalten informieren lassen kann, was wiederum zeitaufwendige Recherchen im Netz und in alternativen Quellen erfordert. Wie Sie wissen, sehe ich diesen historischen Vorgang, der freilich nicht nur Deutschland betrifft und offenbar von einer seit langem zu beobachtenden schleichenden Gangart zu einer galoppierenden übergegangen ist, im Lichte meiner Auffassungen von einer Selbstsabotage der Aufklärung, zu deren Verständnis mir La Mettrie, Stirner und Reich als Schlüsselfiguren dienen. Zumindest zur Rolle Stirners dabei – also, wenn Sie so wollen, zu Stirners „Aktualität“ – wollte ich Ihnen in meiner Antwort ebenfalls schreiben. Auch darin liegt ein Grund für die Verzögerung.

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16. Februar 2016 Sehr geehrter Herr Schmitz, meine am 26. November letzten Jahres angekündigte Unterbrechung unserer Korrespondenz, derentwegen ich Sie um Entschuldigung bat, ist nun doch länger geraten als erwartet. Ich begründe dies mit dem abgewandelten ersten Satz Ihres Hitler-Buches: „Merkel ist ein Ereignis, das die Besinnung erschlägt.“ Ich will nun keineswegs einen Merkel-Hitler-Vergleich machen, wie er im Internet schon gelegentlich zu lesen ist, um Merkel zu diffamieren. Nein: während Hitler in den Jahren bis 1933–38 oder gar bis 1941, wie Joachim Fest, Sebastian Haffner und andere zugestanden, zum Staunen der Welt Großartiges für Deutschland vollbracht hat, hat Merkel mit ihrer servilen Allparteienkoalition in mehreren Anläufen, vor allem aber mit der Masseneinwanderung von Kulturfremden, die kaum gestoppt und durch Familiennachzug in den nächsten Jahren noch multipliziert werden wird, vermutlich den Umkehrpunkt für den nachhaltigen Ruin Deutschlands überschritten. Verbrämt wurde und wird dieses Betreiben mit „Menschlichkeit“. Vor fünfzig Jahren, als die ersten Türken angeworben wurden, hieß es bald: „Wir suchten Arbeiter, aber es kamen Menschen.“ Schon diese wollte man nach Ablauf ihres Vertrages zur dauerhaften Niederlassung bewegen und unbedingt „integrieren“. So ging es, erst schleichend, inzwischen galoppierend, weiter. Heute, wo man sich nicht einmal des weiteren Zustroms erwehren mag, herrscht ein Taumel der Xenolatrie, der auch durch Ereignisse wie zu Silvester in Köln und anderen Städten nur kurze Zeit zu irritieren ist. Auch wenn Merkels Position in den letzten Tagen etwas bedrängt wurde, fasst kaum noch jemand der hiesigen Nomenklatura die wirkliche Rückführung der Millionen „Schutzsuchenden“ ins Auge; sie wäre, abgesehen von vielen juristischen, administrativen und „humanitären“ Hindernissen, schon technisch-logistisch kaum machbar, auch wenn Einsicht und Wille sich entwickelten. Begleitet wird dies alles durch einen immer dichter werdenden öffentlichen „Lügenäther“ (Peter Sloterdijk). Soviel in Kürze, um mein temporäres briefliches Verstummen grosso modo zu erklären. Ich hatte und habe derzeit viel mit „meinem Michbesinnen auf mein Michfinden in meiner Umgebung“ (Hermann Schmitz), dem Durchdringen jenes Lügenäthers, zu tun. Es wäre wohl zu einfach, Merkel (sowie Vorgänger und willfährige Mittäter, in Parteien, Medien, Kirchen, Verbänden) als heuchlerische oder landesverräterische Verschwörer und Vollstrecker eines abgewandelten Morgenthau-Plans zu verstehen, letzteres schon deshalb nicht, weil die meisten anderen westeuropäischen Staaten, insbesondere die „Siegerstaaten“ England und Frankreich, in einer ähnlich paralysierten Politik angesichts der bisherigen und der drohenden Massenmigrationen gefangen sind.

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À propos Sloterdijk, von dessen erstaunlicher – gleichwohl durchaus von einigen Kollegen prinzipiell geteilter – Sicht auf Stirner ich Ihnen per Beilage zu meinem Brief vom 26. Oktober 2015 berichtete: ich las kürzlich, dass er mit Ihnen die Podiumsdiskussion des nächsten GNP-Symposions im April bestreitet und einen Vortrag hält, allerdings leider keinen zur m.E. vordringlichsten Problematik der Zeit. Im Februarheft von Cicero hat er die Politik der USA (die Zerstörung gerade der leidlich säkularen und stabilen Regimes im Nahen Osten – Irak/Libyen/Syrien – und den Krieg gegen Afghanistan, zugleich Stützung von Saudi-Arabien und der Emirate), die die massenhafte Völkerwanderung ausgelöst hat, als geostrategisch motiviertes Vorgehen gegen Europa bezeichnet. Sloterdijk zeigt sich zuversichtlich: die Grenzpolitik der Europäer werde das „früher oder später“ aber bewältigen; es gäbe „schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung.“ Ironisch oder ironistisch? – Jedenfalls kein „blutiger Ernst“… Im Brief vom 29. Oktober 2015 scheinen Sie, betreffs Stirner, meine begriffliche Scheidung eines zwanghaften und eines dranghaften Gewissens – die in der Realität stets in Mischung vorkommen – zunächst einmal zu akzeptieren. Zu erörtern hätte ich wohl aber doch, warum ich diese konzeptionelle Unterscheidung für wesentlich halte und einen Vorteil darin sehe, wenn der Anteil/Einfluss des zwanghaften zu Gunsten des dranghaften Gewissens möglichst gering ist. Ich hatte das zwar bereits gesagt, aber in nur wenigen Worten, die offenbar nicht unmissverständlich formuliert waren, denn Sie schreiben: „Dafür brauchen wir keinen Stirner. Es genügen Marx und Freud.“ Beide, Marx und Freud, sowie der Freudomarxismus, speziell die Position Wilhelm Reichs, standen aber so ziemlich am Anfang meines Weges. Sollte ich Jahrzehnte lang im Kreis gelaufen sein? – Da müsste ich dann doch wohl weiter ausholen. Dasselbe gilt für eine Antwort auf Ihren Satz: „Mir ist keine Stelle [bei Stirner] bekannt, an der er sich zu einem Drang [dranghaften Gewissen] bekennt.“ Tatsächlich wüsste auch ich kein Zitat, das klipp und klar belegt, was ich aus dem Buch herauslese. Aber ich bin sicher, dies überzeugend darlegen zu können. – Dabei geht es mir, wie ich vielleicht Ihnen gegenüber nicht mehr zu betonen brauche, keinesfalls um eine Art Rehabilitierung des verkannten, vergessenen oder verfemten Stirner, sondern um anderes: Wer heute behauptet, Stirners Ideen, seine Vorstellungen, seine „nihilistische“ Geisteshaltung stünden am Grunde der Basis-Ideologie der modernen westlichen Zivilisation, der geht darüber hinweg, dass Marx, Nietzsche und eine Reihe anderer maßgeblicher westlicher Denker auf eine verdrängende (im psychologischen und im geistesgeschichtlichen Sinne) Weise auf Stirner reagiert haben und damit ihren „demagogischen“ Erfolg begründeten. Diesen gälte es als erstes abzuwickeln. Diese Selbstsabotage der „Aufklärung“ gälte es einzusehen und als den tieferen Grund der geistigen Schwäche Europas anzuerkennen.

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16. Februar 2016 Sehr geehrter Herr Laska, über die „deutsche Katastrophe“ (frei nach Meinecke) von 2015/16 urteile ich nicht weniger scharf als Sie. Ich fasse die Parallele zwischen Hitler und Merkel sogar noch etwas konkreter. Weder dem Charakter noch den Motiven nach sind beide Menschen vergleichbar. Das Übereinstimmende zwischen dem Herbst 1939 und dem Herbst 2015 sehe ich darin, daß ein einzelner Mensch auf Grund seiner bloßen Intuition, ohne Nötigung zur Beratung, zur Auseinandersetzung mit Kritik und zur Rechtfertigung, eine Entscheidung treffen konnte, die für das Schicksal des Volkes auf Jahre, Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte hin potentiell verhängnisvoll ist. Ihre antithetische Unterscheidung zwischen Drang und Zwang scheint mir schwer durchführbar zu sein. Der Drang ist sehr oft Zwang und wird als Störung empfunden, denken Sie nur an Süchte oder an Zwangsneurosen. Man könnte versuchen, dieser Vermischung durch die Unterscheidung von äußerem und innerem Zwang abzuhelfen, aber das fruchtet nichts, denn auch der innere Zwang ist oft durch äußeren eingegeben, etwa die Zigarettensucht durch Suggestion der Reklame. Außerdem ist die Unterscheidung von äußerem und innerem Zwang so sehr mit Unwägbarkeiten belastet, daß mir eine begriffliche Präzisierung unerreichbar scheint. „Gegen den äußeren Zwang“ ist wohl nur so eine griffige Parole wie Schillers „In tyrannos“. Bis zu einer eventuellen Widerlegung halte ich den Vorwurf aufrecht, daß Sie das Alleinstellungsmerkmal Stirners verkennen, wenn Sie ihn für den Drang einschließlich eines „dranghaften Gewissens“ (diese Formulierung kommt mir besonders unstirnerisch vor) in Anspruch nehmen. Mit Marx, Freud und Reich dürfen Sie sich verlieben und der oder dem Geliebten „willig gezwungen“ (Goethe, Amyntas), d.h. einem Zwang nachgebend, anhängen. Für den Einzigen nach Stirner kommt das nicht in Frage. Dessen vernünftige Freiheit beruht auf völliger Bindungslosigkeit. 1. März 2016 Sehr geehrter Herr Schmitz, Sie verweisen auf die Parallele zwischen dem Herbst 2015 und dem Herbst 1939, weil da jeweils ein einzelner Mensch eine Entscheidung treffen konnte, die für das Schicksal des ganzen Volkes (das inzwischen ja lieber Bevölkerung genannt wird und dies auch de facto ist) verhängnisvoll ist. Gesagt ist damit auch, dass bei einer solch wichtigen Entscheidung der Unterschied in der Verfasstheit des jeweiligen Staates kaum eine Rolle spielt, jedenfalls im aktuellen Fall keine spielte. Ich stimme Ihnen zu, dass beide Entscheider weder dem Charakter noch den Motiven nach [Hitler und Merkel] vergleichbar (im Sinne von: ähnlich) seien. Man könnte, natürlich mit der notwendigen Vergröberung und Pauschalisierung, eher

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sagen, dass beide Personen ausgesprochen gegensätzlich seien: der Eine sprach seine Absichten klar und deutlich offen aus, die Andere verbirgt sie durch vieldeutiges Reden hinter einer humanitären Larve der Harmlosigkeit und Güte („Mutti“). Doch was sind ihre Absichten? Was führt sie im Schilde? Ich neige dazu, der in meinem letzten Brief genannten Einschätzung Sloterdijks zuzustimmen, dass Merkel und ihre Entourage (in dieser existentiellen Frage alle Bundestagsparteien, Medien, Kirchen, Gewerkschaften, Verbände) wie Kompradoren einer fremden Macht agieren (raunend: „Eines Tages wird man nachlesen können, wer die Flüchtlingsströme gelenkt hat“), die die Zerstörung Europas auf historisch neuartige Weise erreichen will; nur würde ich dies nicht, wie Sloterdijk im Cicero-Interview, ironistisch kommentieren – es gäbe „keine Pflicht zur Selbstzerstörung“ – und nicht wie er erwarten, dass sich alles wieder „normalisieren“ und auf längere Sicht „der territoriale Imperativ sich durchsetzen“ werde. Dagegen teile ich Ihre Befürchtung, dass die aktuelle Eskalation der seit Jahrzehnten propagierten und betriebenen Bevölkerungspolitik auf unabsehbare Zeit verhängnisvolle Folgen zeitigen wird. Die Morschheit der westlichen Kultur und ihre ideologische Verranntheit, die dazu geführt hat, dass man massenhaft potentiell feindliche Völkerschaften anlockt, sie alimentiert und mitsamt nachgeholtem Familienclan „integrieren“ will, scheint mir zu weit fortgeschritten, als dass eine Selbstheilung zu erwarten wäre. Von der Feststellung der Fehlentwicklung der westlichen Kultur führt eine direkte Verbindung zu dem Hauptgegenstand unserer bisherigen Diskussionen: Stirner. Alexander Stulpe hat ihm ja in einer gelehrten Abhandlung auf tausend Seiten eine Schlüsselrolle für die aktuelle Ideologie und Lebensform des Westens zugewiesen – Stirner sei heute „allgegenwärtig“, auch wenn er kaum noch bekannt sei – ähnlich wie Sloterdijk, der kürzlich, angeregt durch Stulpe, den Stirner’schen Eigner als die „Reflexionsgestalt“ des westlichen Kulturmenschen, des „schrecklichen Kindes der Neuzeit“, entdeckt hat. Auch die in einigen Ihrer Werke verstreuten Bemerkungen zu Stirner liegen m.E. grundsätzlich auf dieser Linie, etwa, wenn Sie in Kurze Einführung … abschließend von der Hoffnung sprechen, dass das Fortschreiten des ironistischen Zeitalters zu vollendeter Frivolität in den Spuren Max Stirners noch aufhaltbar ist – offenbar mit einer bestimmten Signalwirkung rechnend, die die bloße Nennung des Namens Stirner hat, zumindest bei Kognoszenten. Um nicht erneut in unsere alte „Tretmühle“ zu geraten, habe ich zuletzt versucht, meine Sicht Stirners von einer anderen Seite her zu erläutern: indem ich die Unterscheidung zwischen zwanghaftem (fremderzeugtem) und dranghaftem (selbsterzeugtem) Gewissen hervorhob. Letztere Formulierung, schreiben Sie, käme Ihnen besonders unstirnerisch vor. Ich meine dagegen, dass sie, die freilich meine ist und – so formuliert – nicht von Stir-

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ner stammt, strikt zum Kern des Stirnerischen, zur Erläuterung der Gestalt des „Eigners“ führt. Dieser Kern wurde damals – wie offenbar auch heute noch – nicht oder falsch bzw. halbiert verstanden: als platter „Nihilismus“. Als solcher wäre Stirners Einziger keiner näheren Betrachtung wert; vor allem aber wäre seine Verdrängung oder Verteufelung nicht verständlich. Nein: wie ich nach intensiver Befassung mit der Stirner-Rezeption meine, wurde das Werk oft aus verborgen gehaltenen, aber erschließbaren Motiven missverstanden und mit Methoden abgewehrt, die auf eine tiefgreifende Beunruhigung und „Notwehr“ der Akteure schließen lassen. Dass sie – in erster Linie Marx und Nietzsche, aber auch eine Phalanx weniger einflussreicher Denker – für ihre Stirner abwehrenden Leistungen stillschweigende Anerkennung fanden, spiegelt den ubiquitären Bedarf, noch heute (s.o.). Stirners Bemühen, jener gleichsam halbierten Sicht auf den Einzigen zur ganzen zu verhelfen, findet sich in seiner Replik Recensenten Stirners. Er versucht dort, u.a. anhand des Begriffspaars des Interesses und der Interesselosigkeit, den – für ihn fundamentalen – Unterschied zwischen innerem Drang und innerem Zwang deutlich zu machen, etwa in der folgenden Passage: „[Stirners Egoismus sei] kein Gegensatz zur Liebe, kein Gegensatz zum Denken, kein Feind eines süßen Liebeslebens, kein Feind der Hingebung und Aufopferung, kein Feind der innigsten Herzlichkeit … kurz: kein Feind eines wirklichen Interesses … nicht gegen die Liebe, sondern gegen die heilige Liebe …“ usw. Auch im Einzigen findet man zahlreiche Stellen, die die „verteufelnde“ Sicht auf den „Nihilisten“ als einäugige zeigen, etwa: „Ein Ehrenwort, ein Eid ist nur für den eines, den Ich berechtige, es zu empfangen.“ Ich glaube nicht, dass Stirner die Absicht hatte, den moralisch über ihn empörten Leser zu beschwichtigen oder zu verwirren. Er habe, schreibt er, zur Klärung dieser Dinge einen leider „noch sehr unbeholfenen Anfang“ gemacht. 25. März 2016 Sehr geehrter Herr Laska, mein Gesundheitszustand mag mein Zögern mit der Antwort auf Ihren Brief vom 1.03. entschuldigen, aber auch der Umstand, daß inhaltlich nichts zu sagen ist. Der Brief hat mich noch einmal überzeugt, daß wir in Bezug auf Stirner nicht weiterkommen. Unsere politischen Überzeugungen zur Flüchtlingskrise stimmen weitgehend überein, wenn ich mir auch Spekulationen über verdeckte Motive versage. So bleibt mir nur die Empfangsbestätigung.

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505

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Personenregister

Abbagnano, Nicola 6, 339 Adler, Alfred 440 Adorno, Theodor W. 29, 296, 395 Aenesidemus-Schulze 52 Albertus Magnus 296 Antisthenes 309 Arendt, Dieter 36, 53, 88, 260 Aristipp von Kyrene 78, 308 Aristoteles 18, 47, 107, 214, 281, 285, 288, 292, 401 Aristophanes 308 Augustinus v, 28, 31 Augustus 292f. Avenarius, Richard 480 Ayleen 354, 380f. Babeuf, François Noël 44f. Bach, Johann Sebastian 107, 113, 178, 375 Bacon, Francis 181, 370f., 373, 376, 489 Baker, Elsworth F. 400 Bakunin, Michail A. 110, 264 Barth, Karl 62 Bataille, Georges 294 Bauer, Bruno 59, 93, 205f., 216, 218, 349, 352, 425 Baumgartner, Adolf 212 Bernays, Paul 23 Best, Werner 334 Böhme, Gernot 231 Borgius, Walther 369 Bruegel, Pieter 330 Bühler, Charlotte 182 Bülow, Hans von 36, 206, 208 Burckhardt, Jacob 18 Bush, George W. vii, 334, 374

Calasso, Roberto 254, 264 Carnap, Rudolf 248 Catull 159, 170 Cézanne, Paul 15 Church, Alonzo 182 Cicero 281 Crocker, Lester G. 460 Daumer, Georg Friedrich 4, 59, 148, 479 Demokrit v, 28, 31, 202f., 265, 367, 391, 421 Descartes, René 134, 181 Diderot, Denis v, 29, 44–46, 112, 156, 184, 270, 272, 284, 290, 296, 323, 325, 395, 458, 462 Dilthey, Wilhelm 256 Diogenes Laertios 78, 298f., 303, 307, 310, 313 Dionysos 34, 82f., 217, 308, 351, 360 Don Quijote 72, 74, 366 Duns Scotus, Johannes 296 Dutroux, Marc vii, 317 Eichendorff, Joseph von 457, 477 Einstein, Albert 182 Émile 20, 108, 110 113, 117f., 120, 122, 367, 382, 428, 438f. Engels, Friedrich 10, 51, 215f., 219, 264, 266, 342, 349, 366, 368–373, 379, 383 Epikur vii, 28, 34–36, 275, 277– 281, 283–299, 301–313, 319 Erler, Michael 285–289, 292 Eudoxos von Knidos 281

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Euphorion 25 Euripides 36, 107, 309 Fellmann, Ferdinand 229, 231 Fest, Joachim 495 Feuerbach, Ludwig 4, 59, 61, 73f., 93, 148, 205, 210, 215f.218, 342, 345, 348f., 425 Feyerabend, Paul 457 Fichte, Johann Gottlieb v, 3, 8, 10f., 36f., 42, 47, 51–54, 56, 60–62, 64, 77, 81f., 85, 100, 149, 159f., 162, 165f., 168, 170–172, 174f., 178f., 183, 187, 190, 203, 206, 208f., 211, 217, 226, 228,249, 258, 261–264, 266, 270, 274, 277, 330, 334, 336f., 348, 364, 366, 369f., 372, 374, 378f., 381, 384, 386, 391, 413, 415–418, 420f., 423–427, 441, 448f., 456, 463, 468f., 476, 485, 489, 492 Fischer, Kuno 4, 257, 349 Foerster, Friedrich Wilhelm 13 Fontane, Theodor 292, 393 Freud, Sigmund v, 16, 29, 39, 44–46, 68, 71f., 103, 112, 135, 156, 168, 184, 226, 240, 242, 270, 272, 290, 342, 356, 361f., 367, 395, 400, 402, 431, 434, 451–454, 463, 493, 496f. Friedrich II 274, 393, 412, 426 Fries, Jakob Friedrich 272 Fuchs, Thomas 26f., 39 Fukuyama, Francis 142 Garff, Joakim 352 Gebühr, Otto 392 Gehlen, Arnold 405 George, Stefan 182

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Geulincx, Arnold 266, 269–271 Gigon, Olof 290f., 293f. Gödel, Kurt 182 Görland, Ingtraud 468 Goethe, J.W. v. 15, 20, 25f., 30f., 50, 55, 73, 86, 109, 115, 119, 125, 133, 137, 140, 186, 193, 196, 198–200, 211, 239, 273, 276, 282, 285, 295, 298, 307, 309, 330, 347, 359, 367, 407, 420, 423, 426, 428f., 431, 436, 446, 457, 497 Gorgias 257, 308, 459 Gorgo Medusa 47, 90 Gottfried von Straßburg 110, 159, 170 Gracián, Baltasar 108, 190f., 285, 490 Grimm, Jacob 250 Großheim, Michael 337, 339 Gundolf, Friedrich 404 Habermas, Jürgen 4, 88, 143, 325, 480 Haffner, Sebastian 495 Haider, Jörg 220 Hamilton, Alexander 296 Hartmann, Eduard von 4, 46, 148, 264, 485f. Hartmann, Nicolai 209 Hauser, Kaspar 117, 124, 412f. Hauskeller, Michael 231 Hebbel, Friedrich 22 Hecker, Max 109, 115 Hegel, G.W.F. 3, 11, 13, 23, 47, 52f., 56, 61, 81, 85, 95, 98, 110, 146, 167, 209, 211f., 259, 261, 264, 272f., 278, 282, 341, 457, 466–468, 473, 489 Hegesias Peisithanatos 42, 48, 256 Helms, Hans G. 64, 264

Heidegger, Martin 6, 8, 46f., 52– 54, 61, 82, 128, 176, 182, 208f., 262f., 280, 339, 359, 361, 366, 369, 400, 467f., 470–472, 487 Heisenberg, Werner 182 Hilbert, David 23, 182 Himmler, Heinrich 83 Hitler, Adolf vi, 7f., 10, 13–16, 18, 21f., 30, 37, 48, 57, 63, 73, 77f., 82f., 85, 107f., 114, 118f., 124, 131, 134, 137, 139–141, 143, 145f., 155, 181f., 187, 191–194, 198, 200, 202f., 205, 208, 214, 216, 220–223, 235f., 239, 243, 246, 248, 253, 261, 263, 265f., 268, 271, 273, 275– 277, 279, 285, 288, 307, 310, 314f., 323, 329, 331–334, 337, 357, 366, 368, 372, 374f., 392, 413, 415, 418f., 463, 469, 494f., 497 Hölderlin, Friedrich 341, 363, 420, 423 Hofmannsthal, Hugo von 182 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 29, 284, 458 Holz, Hans Heinz 64, 254, 256, 264, 339, 472, 487 Horaz 292f. Humboldt, Wilhelm von 190f. Husserl, Edmund 4–6, 8, 34, 46f., 53f., 59, 61, 88, 136, 143, 148, 207, 257, 280, 339, 467f., 470–472, 474, 487 Ibsen, Henrik 162, 165, 292, 407f., 421, 434 Irnerius von Bolognia 182 Jacobi, Friedrich Heinrich 37, 208, 261, 264, 278, 340

Jaschke, Hans-Jochen 480 Jaspers, Karl 44f. Jefferson, Thomas 296 Jesus von Nazareth 18, 28, 31, 392 Joël, Karl 254, 264, 487 Jünger, Ernst 5, 46, 60, 266, 269, 334, 343 Jung, Carl Gustav 19, 82, 430 Kallikles 257, 308, 459 Kanne, Johann Arnold 6 Kant, Immanuel 10f., 28, 35, 37, 39, 41f., 44, 62, 64, 80, 92f., 108, 110, 128, 133, 193, 209, 227, 259, 274, 280, 282, 284, 330, 333, 338, 382, 421, 423f., 461, 478, 480, 483 Keller, Helen 117, 124 Kempski, Jürgen von 12, 49 Kierkegaard, Sören 8, 37, 96, 179, 208, 262, 270, 340, 350, 352, 366, 369, 378, 386, 433, 468, 477, 485, 489 Klages, Ludwig 4, 56, 59, 61, 82, 254, 256, 264, 323–335, 337–341, 344, 467, 472, 487 Kleist, Heinrich von 55, 62, 90, 101, 103, 106f., 112, 116, 133, 426, 478 Kleist, Marie von 101, 478 Kleist, Ulrike von 101, 103, 106f., 112, 478 Kolakowski, Leszek 4, 6, 254, 256, 264, 339, 472 Kondylis, Panajotis 39, 49, 138, 142, 315, 460, 488 Laïs 78, 308 Landkammer, Joachim 220f. Lanfranconi, Aldo 146, 148 La Mettrie, Julien Offray de v., vi, 5, 9, 29f., 34, 36f., 39,

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41–44, 46, 48, 54, 77, 110, 112f., 116, 129, 151, 153, 155f., 168, 183–185, 218, 241, 244, 246, 255, 258, 270, 272, 274, 276, 284, 287, 290, 292, 294, 311, 323, 325, 332, 348, 354, 362, 376, 395, 413, 415, 422, 426, 429f., 432, 434, 439, 456, 458–462, 464f., 469, 482–485, 488, 490–492, 494 Lange, Friedrich A. 4, 148, 462 La Rochefoucauld, François de 108, 490 Lauterbach, Johanna 221, 480 Lehmann, Barbara vi Lehmann, Gerhard 49 Lepinasse, Julie von 259 Lessing, Gotthold Ephraim 176 Löwith, Karl 4 Lord Byron 25 Ludendorff, Erich 316 Luhmann, Niklas 435 Luther, Martin 66, 68, 338, 424 Mach, Ernst 8 Mackay, John Henry 36, 464, 482, 493 Madame Guyon 28 Maecenas 292 Mao Tsetung 159, 320 Marcuse, Herbert 29, 290 Marsden, Dora 49 Marx, Karl v, vi, 4f., 10, 12, 17f., 22, 25–30, 32, 34–36, 38, 44–47, 49–53, 5, 59, 61, 73f., 88, 112, 134–139, 141– 144, 146–148, 150f., 156, 168, 184, 201, 210–222, 226, 254, 257, 264, 267, 270, 272, 284, 290, 311, 325, 328f., 335, 342–346, 348–350, 352, 368, 370, 372, 395, 434, 459,

510

461–463, 466f., 469–474, 479, 482, 485–488, 491, 493, 496f., 499 Meier, Volker 49 Meinecke, Friedrich 497 Meinong, Alexius 221 Meister Eckhart 266f., 269, 271 Meiwes, Armin vii, 315 Menenius Agrippa 23 Mephistopheles 20 Merkel, Angela vii, 495, 497f. Metrodoros von Lampsakos 281 Mühlenhardt, Horst 222 Mushacke, Eduard 43, 46, 143f., 195, 206, 209, 214, 217f., 220f., 345, 347, 488 Mussolini, Benito 139 Nasselstein, Peter viii Neoptolemos 90 Nietzsche, Elisabeth 212 Nietzsche, Friedrich v–vii, 3–5, 12, 17f., 22f., 25–30, 32, 34– 36, 38f., 42–47, 49f., 53, 55f., 59f., 74, 82, 86, 88, 90, 112, 135, 137–139, 141–154, 167f., 182, 184, 186, 195, 201, 204, 206–212, 214, 216–222, 226f., 249, 254, 256–258, 261–265, 267, 273–275, 280, 284, 290, 308, 311, 320, 324f., 328–330, 335, 339–352, 362, 372, 374, 395, 416, 418, 424, 426, 439, 458f., 462f., 466–472, 474, 478f., 482, 484–488, 491f., 494, 496, 499 Novalis v, 209f., 217, 258, 261, 263, 270, 378, 477, 480, 485, 489 Odin 83 Otto, Rudolf 62, 89, 91, 137

Overbeck, Franz 44, 143, 146, 212 Overbeck, Ida 212 Paulus 31, 86 Pindar 42, 227–229, 231, 237 Philoktetes 90 Platon v, 28, 31, 61, 108, 131f., 193, 202f., 209, 227f., 265, 281, 285, 288–290, 292, 308, 313, 315, 323, 367, 421, 428, 459 Plotin 181f., 407 Plutarch 311, 313 Pol Pot 107, 111, 159 Pomponius Mela 89 Pries, Christine 222 Properz 159 Puchta, Jonas viii Raspail, Jean 485 Reich, Wilhelm v–vii, 3, 5, 9, 29f., 38f., 43f., 46, 54, 72f., 77, 80, 87, 90, 96, 104, 108, 110, 112f., 116, 129, 135, 151, 153, 155f., 161, 168, 183f., 189, 218, 224, 226, 241, 244, 246, 255, 258, 270, 272, 274, 276, 287, 290, 294f., 306, 310f., 327, 332, 354, 361f., 365, 373f., 376– 378, 382, 384, 387–389, 391, 393f., 395–400, 413, 419, 422, 431, 434, 437, 450, 453–457, 463–465, 469, 494, 496f. Rilke, Rainer Maria 28, 31, 82, 170, 182, 420 Rodin, Auguste 182 Roosevelt, Franklin D. 334 Rosenkranz, Karl 209, 349–351 Rothacker, Erich 182, 407, 417

Rousseau, Jean-Jacques v, 20, 24, 107f., 110f., 113f., 116–118, 120–122, 124, 126, 250, 252, 274, 362f., 366, 382, 395, 428, 438–440, 442f., 458– 460, 462, 482–485, 488, 490–492, 494 Ruge, Arnold 4, 257, 349 Sade, Marquis de 294, 314 Safranski, Rüdiger 47, 49, 143f., 218 Salomé, Lou 39 Sarrazin, Thilo 482 Sartre, Jean-Paul 12, 36, 47, 366 Scheler, Max 81, 185, 209, 338, 488 Schiller, Friedrich 295, 312, 446, 497 Schlegel, Friedrich v, 78, 146, 209f., 256, 258, 261–263, 270, 370, 378, 423, 467, 476f., 480, 485, 489 Schleiermacher, Friedrich 256 Schmidt, Hermann Josef 147 Schmitt, Carl 4–6, 22, 25f., 46, 59, 143, 148, 257, 325, 328, 344, 472, 474, 486 Schopenhauer, Arthur 42f., 47, 146–148, 193, 195, 197, 212, 217f., 220f., 339, 344f., 486, 488 Schuler, Alfred 82 Schultheiß, Hermann 210 Schumacher, Michael 399 Schweitzer, Albert 81 Seneca 37, 430 Sextus Empiricus 330 Shakespeare, William 312, 411 Siger von Brabant 296 Simmel, Georg 359 Sloterdijk, Peter 23, 476, 491, 495f., 498

511

Smith, Adam 432 Sokrates 61, 108, 131f., 292, 459 Sophokles 89 Speusipp 281 Sternberg, Kaspar Maria Graf 50 Stalin, Josef 155, 248 Stirner, Max passim Stulpe, Alexander 476, 481, 491, 498 Tauler, Johannes 269 Theweleit, Klaus 393 Thomae, Hans 70 Thomas von Aquin 296, 451 Thomas von Kempen 266 Thukydides 18 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 278 Toynbee, Arnold J. 158 Trakl, Georg 182 Vischer, Friedrich Theodor 438 Voltaire 29, 46, 112, 184, 290, 296, 395, 485 Wagner, Cosima 206 Wagner, Richard 82, 139, 141, 145, 148, 182, 243

512

Walser, Martin 348 Weber, Max 109, 270, 285, 330 Wellhausen, Julius 317 Wildt, Andreas 231 Wilhelm von Ockham 296 Winckelmann, J.J. 15 Wittgenstein, Ludwig 3, 8, 10, 12, 28, 32, 34–38, 47, 52, 60, 149, 179, 208, 243, 248, 253, 263, 280, 339, 400, 424, 467f. Wolff, Christian 253 Xeniades von Korinth 330 Xenokrates 281 Zarathustra 82, 217, 243, 351 Zehm, Günter 348 Zeller, Eduard 23, 281, 283–286, 288 Zelter, Carl Friedrich 239 Zola, Émile 15 Zutt, Jürg 390–392, 395–397, 399f.

Sachregister

1800 59, 84, 133, 151, 168–171, 173, 180–183, 187, 242, 261, 271, 355, 362, 386, 413, 424, 438, 457, 461, 463 1945 33, 130, 175, 192 1968 44, 46, 158, 161 1989 33, 175 American Way of Life 143 Anglifizierung 245, 250f., 253, 485 Angstlust 440, 442f., 445, 447 animalisch 229f., 232, 234, 236f. – siehe auch tierisch Anthropologie 19, 21, 118, 382, 392 anthropologisch vii, 75, 80, 83, 118, 131, 133, 181, 237f., 254, 280, 376, 379, 385, 392, 395, 400, 445, 447 antiautoritär 11, 13, 16, 110, 361, 363 Antisemitismus 139, 141, 326 archimedischer Punkt 40, 178, 298, 443–445, 447–449, 452, 457f. Atheismus 13, 43, 104, 154, 220, 281, 284, 425 Atmosphäre 11, 61f., 69, 83, 89, 91, 93f., 104f., 107, 128, 137, 156, 181, 299, 308, 404, 430 Atombombe 140, 317 Aufklärung 9, 35, 39, 41, 110, 112, 114, 119–122, 126, 135, 147, 151, 153, 155, 202, 217, 245f., 267, 269–272, 274– 277, 321, 327, 335, 363, 366,

381f., 395, 422, 431, 435f., 448, 450, 456, 460, 482, 484f., 488, 494, 496 authentisch philosophieren 272, 274 Auschwitz 267, 292, 325 Autonomie 8, 10, 53, 62–64, 72– 74, 92–94, 109, 115, 126, 132f., 155, 157–160, 184, 186, 189, 226–228, 273, 425, 461, 478, 480, 483 Autorität 9, 42, 60–63, 65–70, 72, 81, 85f., 89–91, 93, 95, 99–101, 105f., 109, 112– 115, 119, 122, 149f., 158f., 185, 197, 205, 214, 227, 230, 232, 234–236, 240, 263, 312, 334, 336, 338, 404, 411, 425, 430–433, 451, 453, 455, 467, 470–472, 474f., 477f., 480– 483, 489, 491 Bamberger Reiter 11 Befriedigbarkeit 306, 372 Betroffensein 8, 10, 19, 50, 69, 75, 78, 81, 100, 115, 119, 122, 160, 167, 176, 178, 180–182, 205, 224, 226–228, 264, 268f., 274, 277, 317, 331, 337, 349, 356, 359, 382, 390, 404, 417, 419f., 479f., 486, 489 Binnendiffusion 15, 134, 363f., 435 Biologie 112, 114, 247, 385, 394, 445, 447 Biopathie 155, 397 Bürgerliches Gesetzbuch 23, 182

513

Charakterpanzer vii, 72f., 75, 80, 135, 155, 226, 365, 385–387, 389–399, 401f., 404, 406 Christentum v, 40, 107, 113, 119, 122, 153, 178, 263, 265, 268–272, 275f., 430, 446 cisnihilistisch 105, 353 Coolness 251, 270, 350, 366, 369, 476, 489, 492 Daimon vii, 14–16, 18–28, 76, 90, 171, 185–201, 203, 205, 240, 243, 256, 270–279, 282f., 286, 301–304, 306f., 309, 312, 392, 409, 430f., 433 Daimonion 61 darwinistisch 143, 162 Demokratie 32, 41, 63, 86, 137f., 141, 186, 268, 280–283, 286, 321, 323, 326, 350, 369f., 372f., 384 Dissens vii, 54, 64, 71, 235f., 238, 301, 375, 398, 403, 406, 408, 412, 456 Ehrfurcht 11, 80f., 83–91, 93f., 97–100, 113, 117, 119, 137, 139, 141, 153f., Eigenwille 56, 61–63, 269, 272, 451, 453–457 Eigner 14–16, 38, 77–80, 84, 94, 103, 111, 115–120, 189, 195,199f., 205, 271, 277f., 283, 287, 304, 321, 422–425, 431, 477f., 481–483, 491, 498f. Eindruckstechnik, 107, 111, 139 ejaculatio praecox 86f., 90 Emanzipation 9f., 12, 19f., 23, 54, 62–64, 66f., 69f., 72–79, 89, 95f., 99, 119, 158, 160–

514

162, 172f., 176, 227, 230, 233, 317, 326, 338, 358, 365f., 373, 387–390, 417, 454, 467, 471 Empfänglichkeit 63, 65, 69, 100, 115, 233, 249, 282, 306, 310, 312 end of history 27f., 310, 321, 368 Engung 86f., 306f., 310, 447 Enkulturation 21, 68, 72, 96, 99, 103, 111f., 129, 135, 150f., 153–155, 157f., 160–162, 166, 225, 235, 237–239, 241, 265, 287, 355f., 358, 360, 365, 375, 377, 384, 405, 408f., 424, 444, 481 Entdeckung der subjektiven Tatsachen 50f., 53, 81, 166, 249, 262–264, 269, 277, 331, 333, 336, 349, 386, 418, 476, 479 Epochenschwelle 6, 56, 97, 112, 150f., 155, 160, 162, 165– 167, 169, 172–174, 179, 183, 199, 202, 229, 232f., 247, 258, 271, 287f., 355, 413, 418f., 421f., 448, 460f., 463f., 467, 469 Ergriffenheit 11, 26, 63, 65, 69, 75, 78f., 82, 93f., 99, 109, 141, 167, 197, 228, 255, 259, 262f., 282, 307, 338 Ernst v, vi, 9, 42, 61, 70, 80, 90f., 95, 98, 101, 106, 115, 131, 149f., 185, 197, 227, 232– 234, 237, 263, 334, 338, 477, 481–483, 493 Erwachsenheit vi, 167–169, 172, 176–179, 419, 421–428, 432 Erziehung vii, 11, 13, 24, 56, 116, 239, 242f., 258, 265, 272, 361–369, 373–387, 389–394, 398f., 412, 414–

416, 428, 431f., 440–444, 450–453, 481 Esperanto 248, 251 Ethik 10, 64, 111, 129, 154f., 161, 209, 291, 437, 477 Europa 83, 112–115, 156, 181, 228, 245, 359, 391, 422, 445, 485, 492, 496, 498 Fassung vii, 205, 389–393, 395– 403, 406, 409, 413f., 419f., 431, 433, 443, 464 Feminismus 326 Flüchtlingskrise vii, 499 Französische Revolution 63, 125, 159, 203, 285, 374, 378, 420 Frau 15, 188, 196, 199f., 312, 316 freier Wille 80, 92, 113, 115, 117, 225f., 228, 371, 453f., 456 Freiheit 28, 72, 82, 90, 211, 268, 314–324, 326f., 331, 366– 369, 371, 373f., 384, 434, 454, 456 Freudomarxismus 496 Frivolität 47, 53f., 146, 209, 249, 252, 278, 326, 454, 471, 479, 498 Frühromantik v, 10, 42, 85, 209, 217, 266, 269, 274, 330, 374, 381, 457, 468, 473, 477, 490 funktionelle Identität 388, 391, 394 Gegenaufklärung 14, 29, 119, 202 Gehirnmythologie 82, 367 Genitalbeschneidung 369, 413 genitaler Charakter 189 Gesetz 11, 62, 73, 93, 109, 128, 262, 269, 273f., 368, 370, 373

Gewissen vi, 9, 42f., 54–56, 60f., 99, 102, 106, 233–235, 237, 338, 358, 430, 467, 469–471, 489, 491, 493f., 496–498 Gift der Tradition 116–118 Gott 36, 52, 70, 93, 172, 203, 242, 268f., 280, 322, 347, 355, 358, 360–362, 365, 369, 373, 375–377, 406f., 409, 416, 421, 425, 427, 429f., 437f., 440-443, 445 Gott ist tot 45, 149, 170, 206f., 378 Grausamkeit 81, 315 Hedonismus 256, 266, 275, 311, 484 Heiliger Geist 11, 62, 178f. Heiliges vii, 11, 60f., 78–81, 83f., 89f., 91–94, 119, 123, 131, 137, 141, 158, 178f., 185, 193, 229f., 232, 234, 239f., 246, 265, 270, 325, 334, 337f., 359, 384f., 479f. Heteronomie 11, 72, 91f., 94 Hindu-Götter 76–83, 155, 160, 167, 187, Historischer Materialismus 45, 215f., 218f., 342, 344f., 348, 368, 372, 486 hygienisch 138 Ichangst 8, 149, 208 Idealismus 3f. Ideologie 111, 138, 215, 220, 245, 264, 266f., 277, 289f., 297, 352, 415, 485, 496, 498 Identität 72, 99, 104, 123, 208, 236, 387 illumination 439, 458, 460, 482, 488 Imperialismus 114, 140, 203, 263, 265

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implantierende Situation siehe Nomos implantierender Situationen Impuls 47, 62, 66f., 69, 71f., 89, 115, 161, 196, 282, 306, 326, 387, 431 Individualismus 14, 114, 139, 263, 266, 268f., 275, 287, 290, 292, 310f., 313, 352 Intellektualkultur 8, 79, 265, 285, 292, 294, 367 Ironie 8, 52, 61, 78, 139, 146, 209, 217, 258, 262, 270, 282, 333, 364, 366, 378, 468, 489, 492 ironistisch v, 8, 144, 146, 203, 263, 270, 274–276, 333f., 337, 341, 347, 351, 468, 476, 489, 492f., 496, 498 Islam vii, 370, 374, 378, 417, 444, 494 Jahrtausendentdeckung vi, 54 88, 105, 111, 155, 161, 365f., 431f., 450, 491 Jenseits in uns 111, 154 Kapitalismus 114, 119, 202, 263, 269f., 330, 370, 372 Katholizismus 22f., 75, 77, 80, 104, 124, 130, 138, 209, 213, 285, 289, 408, 417 Katzenjammer 37, 73f., 86f., 138 Kernidee 19, 30, 151, 183, 195, 254, 272, 475 Kind 11, 13, 56, 61, 72, 105, 154, 243, 246, 267f., 272, 322, 355, 360f., 376f., 412–421, 427, 440–443, 450, 477, Kinderfrage 35 Kommunismus 45, 315, 370 Konservatismus vi, 23, 30, 109, 125, 290, 436

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Konstellationen 30, 162, 249f., 286, 359, 436, 489 kritische Prüfung 62, 66f., 69– 71, 92, 126, 130–133, 135f., 158, 230, 414 kulturblasphemisch 490 Kulturrevolution 159 Kulturscheide 133, 136, 242 kulturunfähig 112 Kunst 180, 314 Kyrenaiker 78, 256, 275, 307f. Labilität vi, 8, 21, 162, 165, 169, 171–174, 176, 185, 190, 205, 211, 227, 274, 389, 391 Lachen 20, 78, 417 lathe biosas vii, 272, 275, 277, 286, 291, 293, 296, 302, 305, 311 Laune 11, 25, 28, 54, 73f., 86, 88, 109, 158, 240–242, 256, 374, 386, 429–431 Lebensführung vi, 19, 40, 42, 90, 108, 111, 119, 185, 187f., 193, 311, 314, 319, 351, 425, 435 Lebenswille 123f., 229f., 232, 234, 236f. Leiblichkeit 3, 19f., 115, 306 Liberalismus 202, 268f., 283, 294, 297f., 310f., 313–315, 318f., 322 lingua franca 245, 248, 250, 252 LSR 5, 39, 40f., 66, 156f., 175, 246, 274, 284, 293, 446f. Lügenäther 495 Lust 75, 78, 94, 103, 290, 295f., 303, 305f., 308–314, 319, 387, 389, 437, 447 Macht der Kollektive 406 Märchen 322, 354, 360, 363, 365, 375, 407, 421, 427–431, 445

mainstream 25, 66, 150, 153, 169 Marxismus 64, 107, 111, 119, 134, 136–139, 141f., 202, 222, 266, 342, 345 Masochismus 94f., 97f., 107, 123, 245, 250, 319, 371 Massendemokratie 186, 369f., 372f., 384 Medium 11, 16, 55f., 61, 227, 229, 478, 255 Medien 251, 271, 283, 292, 320f., 325, 377, 384, 494f.,498 Meinungsdiktatur 320f., 323, 326 Meinungsfreiheit 288, 297, 311, 315–323 Menschenrechte 32, 48, 63, 167, 307, 452, 485, 492f. Monotheismus 62, 178, 180, 430 Mord 287, 340f. moral insanity 9, 11 Mühle vii, 449, 451–453, 455, 458, 460f., 463–467, 470, 473, 475 Mündigkeit 33, 35, 37–39, 376, 450 Mutter 11, 15f., 21, 63, 78, 95, 98, 169, 437 Muttersprache 23f., 74, 127, 137, 140, 155, 225, 243f., 250f., 358, 406f. Nationalökonomie 215 Nationalsozialismus 23, 63, 138, 139, 141, 264, 334, 404 Naturwissenschaft 47, 82, 100, 113, 181–183, 404f. Neoliberalismus 415, 417 Neue Phänomenologie v, 60, 182f., 203, 220, 229, 239, 245, 416, 418, 421f., 424– 426, 448f., 475,

Neuer Mensch 112, 120, 131f., 134, 142, 155, 205, 267f., 362, 375, 420, 423f., 427 Neugeborenes vii, 154, 241, 247, 397, 413, 424, 437–441 Nihilismus vi, 6, 13, 28, 37, 39, 53, 90, 104f., 208f., 260– 265, 328f., 332, 346f., 350, 353, 462, 472, 482, 499 Nomos implantierender Situationen 11, 14f., 20f., 25, 27, 30f., 63, 73f., 108, 158, 205, 227, 261, 270, 288, 312, 433, Orakel 16, 19, 22, 25–27, 30 Organismus vii, 104, 155, 158, 161f., 225, 272–274, 355, 382, 387f., 437, 439, 442, 450f. orgastische Potenz 87, 90, 419 Paarliebe 110, 159, 170, 182, 199 paralysiert 112, 120, 135, 485, 495 Paraphilosophie 35, 127, 145, 214, 475 Parteienstaat 323 Persönlichkeit 17, 19, 37, 75, 104, 273, 277–279, 312, 382, 387, 401f., 416, 429, 443 Phänomenologe 159, 340, 345f. phänomenologische Revision 66 Philosophiebetrieb 45, 211, 229, 267, 313, 318, 320, 472 Plagiat 12, 44 Plakat-Situation 17, 83, 156, 360 Plansprache 245–255, 259 political correctness 62, 292, 294, 297 Postmoderne 27f., 352, 491 Prävention 80, 400 Prophylaxe 74, 361, 363–369, 371, 373f.

517

Psychoanalyse vi, 5, 17, 19, 26, 38, 310, 335, 376f., 384, 393, 450, 453 Pubertätskrise 77, 80, 83f., 379 – siehe auch Reifungskrise pulsatorisch 87, 89f. Qualitätssprung in der Kulturentwicklung 112 Reanimation 110, 120f. Recht und Pflicht 31, 34, 243, 307, 374f., 378, 384, 386, 388, 390, 398, 407, 428 Regression 69, 75, 78, 167, 173, 195, 228, 274, 295f., 373, 386, 390, 417, 419–421 Rehabilitation 38, 218, 257, 260, 263, 265, 270, 286, 289, 323, 325, 469, 473, 496 Reifungskrise 81, 86, 366, 370f., 379, 386, 418, 420 – siehe auch Pubertätskrise Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte v, 17f., 32, 44, 67, 156, 195, 201, 206f., 257, 469, 473 Resubjektivierung 75f., 78f., 389 Roman 151–153, 156, 278, 348 Sadismus 316f. Salonkultur 30, 160, 285 Sankt Max 212, 215, 217, 342, 349 sapere aude 81 Schafstallleben 117, 280, 282, 284 Scham 24, 70, 98f., 102, 106, 233f., 235, 237 Schein der Freiheit 110 Schintoismus 356, 359 Schizophrenie 392f., 395–400

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Seelenfalle 75, 77, 80, 104, 124, 138 Selbstaufgabe Europas 112, 114, 422 Selbstaufklärung 114, 119, 163, 202, 392, 422 Selbstdarstellung 3, 37, 208, 217, 416, 418, 421–423 Selbstschöpfer 209, 255f. Sexualität 87, 90, 102, 114, 268, 290, 292, 294, 310, 312–317, 319, 322 Sinn des Lebens 189, 193 Situation passim Solipsismus 90, 467 sozialer Organismus 23, 30 Spaßkultur v, 109, 114 Spracherwerb 117, 119, 127, 244 Stachel 4, 50, 330f., 337, 478f., 482f. Stoiker 75–78, 82, 278f., 299 subjektive Tatsachen 8, 10, 42, 50–53, 81f., 149, 159f, 166f., 170, 172, 179, 185, 211, 239, 249, 258, 262–264, 269, 274, 277, 331, 333f., 336, 338, 349, 364, 382, 386, 404, 418, 433, 438, 461, 476f., 479, 480, 489 Subjektivität 8, 10, 52, 81f., 155, 167, 179 ,242, 274, 333, 374, 386, 418, 433, 457, 461, 468, 478, 480, 486, 488f. Sünde 105, 168, 177, 280, 470f. Sündenfall 175f., 178, 187, 366, 418, 423, 425, 427 Suizid 94f., 97f., 123, 221, 256, 478 super-ego esse delendam 105, 107, 124, 126f., 129, 138f., 327

Technik 112, 140, 171, 181, 183, 239, 248, 250f., 253, 265, 269, 350, 370, 386, 489 Teleologie 176, 190f., 192f., 194, 196–201, 204, 208, 441, 446f. Terrorismus 140, 142f. Tertiärverdrängung 212f., 346, 448 Tier 11, 20f., 87, 89, 95, 98, 100, 103, 106, 112f., 254, 256, 371, 375, 381, 385, 391, 493 tierisch 93–95, 97f., 100, 103, 105, 107, 112, 123–125, 205 – siehe auch animalisch Titanic 234 Totalitarismus 137 Transnihilismus vi, 6, 104f., 110, 265, 328f., 332, 346f., 350, 353f., 462 Tretmühle 476, 480, 485, 490, 498 Über-Ich vii, 13, 62, 68, 71f., 91, 96f., 99, 102–104, 110f., 123f., 155, 161, 225, 241, 271, 322, 355, 388, 400, 403, 416, 425, 427, 431f., 434f., 447, 450, 463, 481 Ultra-Liberalismus 266 Unbewusstes 166, 335 unwillkürliche Lebenserfahrung 203, 245, 247, 357–359, 361, 363–366, 369 unwillkürliche Regungen 62, 65, 67, 115, 119, 202f. Urchristentum 11, 62 urnihilistisch 110f. Ur- und Bildungserlebnis v, 214 Urvertrauen 213 U.S.A. 212 Utopie 13, 38, 117, 120, 124, 137, 159, 176f., 179, 224f.,

280, 283, 287, 302, 305, 315, 357, 372, 422 Veganer vii, 493 Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart 28, 34f., 63, 134, 159, 160f., 242f., 270, 289, 307, 330, 428 Verantwortung 82, 139, 162, 185, 211, 246, 370, 420, 469 Verdacht 156, 195, 215, 365, 434, 473 Verdrängung v, vi, 13, 27, 35, 41, 147f., 210–213, 215, 244, 320, 328–330, 335, 342f., 345f., 376f., 395, 448, 472, 499 Verfehlung v, 7f., 10, 13f., 28– 30, 86, 114, 122, 143f., 202f., 225f., 247, 263f., 268– 272, 274–278, 315, 323, 333f., 337, 341, 391, 456, 489, 491 Verkindischung vi, 139, 149f., 419, 490 Verschwörungstheorie 145, 325, 327 vielsagender Eindruck 17, 19, 61, 128, 172, 359, 407, 430 Vision vi, 40f., 44, 59, 74, 77f., 80, 95–97, 99f., 103, 132, 135, 142, 166, 186, 200, 239, 268, 336, 418f., 459, 485 vitaler Antrieb 15, 19, 40, 69, 86f., 89f., 108, 111, 306f., 310, 312, 447 vitaler Stolz 60f., 159, 161, 231, 232, 242, 256, 258, 268, 272, 302, 304, 306f., 309, 428f., 443 Wahngemeinschaft 76, 99, 113, 123, 125, 129f., 150f., 153f.,

519

236, 369, 408, 413–417, 419, 425, 435 Wahngenossenschaft 272, 277, 278f., 286f. wahnhaftes Misstrauen 153 Wahnidee 97, 107, 279 Wärmetod 326, 329, 332 Weihnachtsmann 242, 322, 355, 358, 360–362, 365, 406f., 409, 412, 421, 427–430, 437f., 442f. Weinen 20, 75, 417f. Weitung 86f., 306, 310 Wellenreiter 20, 79f., 83, 115, 117, 170–174, 176–179, 184–193, 200, 227, 274, 301–307, 309–311, 369, 371, 373, 377, 384, 386f., 409 Weltschmerz 37 Werte 65, 127–129, 154f., 208f., 227, 236, 261f., 265, 268, 283, 326, 338, 340, 350, 352, 374

520

Wissenschaft 44, 105, 113, 116– 118, 120, 130, 135, 215, 226, 236, 242f., 245, 248, 250f., 253, 283, 290f., 321–323, 333, 342, 372, 392 World Trade Center vii, 142 Zappen v, 270, 284f., 322, 350, 489, 492 zähflüssige Masse 19, 115, 237, 382 Zivilisation v, 181, 317, 334, 490, 496 Zorn 48f, 75, 106, 177, 391 Zufall 65, 193, 197, 200 Zurück vi, 7, 13, 29, 181, 233, 419