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German Pages 350 Year 2017
Christine Scherzinger Berlin – Visionen einer zukünftigen Urbanität
Sozial- und Kulturgeographie
Band 18
Christine Scherzinger, geb. 1979, lehrt seit 2009 Humangeographie an der Freien Universität Berlin. Sie forscht aus der Perspektive der kritischen Stadtgeographie zu Zukunftsfragen urbaner Transformation und der Digitalisierung von Arbeits- und Stadtwelten. Sie bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Kunst und Geographie und arbeitet u.a. mit experimentellen und kreativen Methoden.
Christine Scherzinger
Berlin – Visionen einer zukünftigen Urbanität Über Kunst, Kreativität und alternative Stadtgestaltung
D188
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Inhalt
Einleitung | 7 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Theoretische Bezüge I: Kunst, Kultur und Kreativität | 17 Kultur als konstitutives Element in Gesellschaft und Wissenschaft | 17 Kunst, Kultur und Kreativität in der Geographie | 19 Ansätze aus der Kreativitätsforschung | 27 Kreativität und Stadt | 36 Künstler, Kunstprodukte und Produktionsweisen | 41 Theoretische Bezüge II: Erweiterte regulationstheoretische Ansätze | 53 Einführungen zur Regulationstheorie | 54 Entstehungsgeschichte und Beschäftigungsfeld | 55 Gesellschaftliche Entwicklungsformationen: Fordismus und dann? | 57 Zur heutigen Gesellschaftsformation: Krise oder offener Prozess? | 60 Erweiterungen: Zur Neuetablierung ökonomischer Vorstellungswelten | 63 Der Ansatz der ‚kulturellen politischen Ökonomie‘: eine Synthese? | 66
3.
Untersuchungsgegenstände: Visionen und Urbanität | 71 3.1 Visionen und Utopien | 71 3.2 Das qualitative Element der Stadt: Urbanitätskonzepte | 74 3.3 Vorannahmen und Forschungsfragestellungen | 81 4.
Forschungsstrategien | 85
4.1 Transdisziplinäre Forschung | 86 4.2 Forschungsstrategie Fallanalyse | 100
5.
Methodendesign | 109
5.1 Qualitative Interviews | 110 5.2 Datenbasis | 113 5.3 Gruppendiskussion | 119
6.
Analysen: Künstlerpositionen | 123 Christoph N. Fuhrer: DADA oder auf der Suche nach der Vision | 124 Larissa Fassler: Mappings as embodied experiences | 141 Roos Versteeg: Pop-Up-Schamane | 159 Kietzmann & Kübert: Brache als Metapher | 172 Tamara Rettenmund: Das Spiel mit der Flüchtigkeit | 190 WE TRADERS: Tausche Krise gegen Stadt | 211 Silvia Marzall: Der Pilotplan der Moderne und seine Trampelpfade | 228 6.8 Lars Wunderlich: Dystopische (Stadt-)Welten | 245 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7
7.
Zusammenfassende Analyse und Interpretation | 261
7.1 Vision, Urbanität, Kunst und Kreativität | 261 7.2 Grenzen künstlerischer Lösungsangebote für eine Vision zukünftiger Urbanität | 261 7.3 Formen neuer Zukunftsbetrachtungen | 265 7.4 Wertedebatte einer zukünftigen Urbanität | 278 7.5 Impulse für eine zukünftige Stadtgestaltung | 280 7.6 Theoretische Rückbindung | 285 7.7 Reflexion der Forschungsstrategie | 287 7.8 Methodologische Überlegungen | 292
8.
Fazit – Re-Imaging und Re-Thinking Urbanity | 295
Literatur- und Quellenverzeichnis | 301 Anhang: Index | 333
Einleitung
AUSGANGSPUNKT: STÄDTE IM FOKUS WISSENSCHAFTLICHER AUSEINANDERSETZUNG Heute lebt weltweit mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Die Tendenz ist steigend, laut einer Schätzung soll die Anzahl bis 2050 auf zwei Drittel steigen (vgl. Stiftung-Weltbevölkerung 2014: www.*)1. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts liegen somit in den urbanen Räumen, weshalb der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan im Jahr 2000 bei der Eröffnung der Konferenz ‚Urban 21‘ das Jahrtausend der Städte ausgerufen hat. In Städten wird Zukunft gemacht. In ihnen entstehen Innovationen und neue Formen der Wissensproduktion. 80% des weltweiten Bruttoeinkommens werden in ihnen erwirtschaftet. Die Städte sind dem Druck der Globalisierung, Migration, Polarisierung, den Auswirkungen des demographischen Wandels und des Klimawandels besonders ausgesetzt (vgl. Rousbeh 2012: www.*). Durch die steigenden Anforderungen an Städte werden komplexe Gebilde geschaffen, in denen sich „die sozialen und ökologischen Probleme wie unter einem Brennglas [zeigen]: „Der demographische Wandel, die steigende Armut, Verdrängungsprozesse, die Auswirkungen der Finanzmarktkrise, bestehende Abhängigkeiten und unsichere Arbeitsmärkte werden in ihren Auswirkungen in Städten am ehesten sichtbar. Dies führt vielfach dazu, dass Stadt für diese Probleme verantwortlich gemacht wird.“ (Läpple 2013: www.*)
Gleichzeitig sind Städte Seismograph und Motor der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in der westlichen Hemisphäre durch eine Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Lebensentwürfen auszeichnet. Sie bringen zudem veränderte
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In dieser Forschungsarbeit werden Quellen aus dem Internet mit www.* markiert. Der vollständige Link wird in dem Literatur- und Quellenverzeichnis aufgeführt.
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Wertevorstellungen, neue Kommunikationsformen und Anpassungsstrategien sowie Widerstandsbewegungen hervor, die zunehmend die vorherrschenden Mechanismen des Staates und der Wirtschaft hinterfragen. Die größte Herausforderung ist, die Möglichkeiten und vorhandenen Potenziale der Stadt für die Zukunft zu nutzen (vgl. Marcuse 2013: 9ff). Darunter fallen formale Wesensmerkmale von Städten wie die Verdichtung, die Spezialisierung, die Ausdifferenzierung von Arbeit, die Vernetzung, die Interaktion zwischen Menschen und ihre Infrastruktur. Diese Merkmale können Potenziale für eine nachhaltige2 Entwicklung darstellen. Zwar wird die Dichte einer Stadt als notwendige Dimension erachtet, um eine ressourcenschonende, ökologische und soziale Entwicklung zu befördern, aber diese Gegebenheit ist nicht hinreichend für die Qualität und die Formen eines guten urbanen Zusammenlebens: Die Tatsache, dass Städte als Verdichtungsräume potentiell nachhaltig sind, sagt nichts darüber aus, wie Zugänge zu Wissen, Information, Arbeit, Infrastruktur, Entscheidungen und Ressourcen verteilt und organisiert sind. Ebenso offen bleibt, welche Macht- und Hierarchiestrukturen dort vorhanden sind, die maßgeblich die Entwicklungen und Entscheidungsprozesse beeinflussen können: Weltweit sind nach wie vor viele Städte weit entfernt davon, eine gesunde, autarke, soziale und nachhaltige Stadt für die Bewohner3 zu sein (vgl. Wolfrum 2012: 24f). Vor allem Veränderungen in der Art der Wertschöpfung, der Leistungsfähigkeit und der Aufgaben des Staates sowie in den städtebaulichen Leitbildern – die z.T. auf Vorstellungen und der Deutungsmacht bestimmter gesellschaftlicher Gruppen beruhen – trugen zur Neuformation städtischer Strukturen und zur Polarisierung städtischer Gesellschaften bei. Die Restrukturierung der Stadt (wie auch in Berlin) drückt sich in staatlicher Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen – z.B. im Wohnungsmarkt, ÖPNV etc. – aus. Die 2
Im zusammenfassenden Sinne der ursprünglichen Definitionen von Nachhaltigkeit laut der Studie ‚Die Grenzen des Wachstums‘ von 1972, des Brundlandt-Reports von 1987 und der Rio-Konferenz von 1992 ist Nachhaltigkeit zu verstehen als ein auf die Zukunft bezogenes, gemeinsames und generationengerechtes Handeln, das alle ökologischen, sozialen und ökonomischen Aspekte menschlichen Zusammenlebens gleichermaßen umfasst und sich zum Ziel setzt, eine Gesellschaft im weltweiten Gleichgewicht zu schaffen (vgl. u.a. Meadows & Club of Rome 1972).
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Im Grundsatz ist davon auszugehen, dass Sprachregeln – wie die grundsätzliche Nutzung des generischen Maskulinums – eine diskriminierende Wirkung haben können. Dennoch wird aus Gründen der Lesbarkeit dieses umfassenden Texts in der Regel das generische Maskulinum genutzt. In diesem Fall beziehen sich die Angaben auf beide Geschlechter. In spezifischen Fällen werden sowohl generisches Maskulinum als auch Femininum genutzt.
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städtischen Verwaltungen haben vielfach die neoliberalen Glaubenssätze aus der Wirtschaft übernommen bzw. die Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse im Übergang in die postfordistische Ökonomie zugunsten des Kapitals in ihrer Politik nachvollzogen (vgl. Bernt et al. 2013). So wurde die Basis für das Leitbild der ‚unternehmerischen Stadt‘ geschaffen, das nicht mehr die Daseinsvorsorge der Stadtbevölkerung in den Fokus ihres Handelns stellt, sondern die Basis zur Ansiedlung von Unternehmen stärkt (vgl. Harvey 1989; Häußermann et al. 2008b). Im globalen Zeitalter wetteifern Städte untereinander um Zukunftsindustrien. Ziel ist, sich der Kapitalverwertung anzupassen und möglichst viele Rahmenbedingungen zu schaffen, um Humankapital und monetäres Kapital anzulocken. Kreativität und Innovationen sollen entstehen, denn sie gelten als Garant, möglichst flexibel auf die neuen Anforderungen und die immer kürzeren Innovationszyklen zu reagieren, um Wachstum zu sichern (vgl. Florida 2005b; Harvey 1989). DIE TRANSFORMATION DER STÄDTE UND DIE ROLLE DER KREATIVEN Die Wettbewerbsfähigkeit der Städte in der globalen Städtehierarchie soll durch Kooperationen zwischen privaten und öffentlichen Akteuren und durch die Privatisierung öffentlicher Leistungen sowie des kommunalen Eigentums gestärkt werden. Die öffentliche Daseinsvorsorge ist zunehmend eingespart und Verantwortung und Risiken immer mehr auf den Einzelnen übertragen worden. Durch steuerpolitische Reformen wurde in vielen Industrieländern einerseits die öffentliche Hand geschwächt. Andererseits ist der Verwertungsdruck privaten Kapitals kontinuierlich gestiegen, dem sich in der Privatisierung öffentlicher Leistungen gute Anlagemöglichkeiten eröffnet haben. Zugänge zu einer gemeinwohlorientierten, städtischen Daseinsfürsorge für Menschen am Rande der heutigen Arbeitsgesellschaft sind erschwert und durch das geschlossene System eines ‚urbanen Ambientes‘ für Konsum, höherwertige Dienstleistungen und Wohnungen ersetzt worden (vgl. Heeg & Rosol 2007). Nach Florida (2005a) werden Kreativität sowie die ‚Kreativen‘ einer Stadt heute unter dem Leitbild der ‚unternehmerischen Stadt‘ als notwendiger Schlüssel für die heutige Stadtentwicklung und als wesentlicher Bestandteil der städtischen Wertschöpfungsgrundlage gesehen. Die ‚Kreativen‘ – Künstler, Wissenschaftler, etc. – sollen mit ihrer Innovationsleistung, ihrem kulturellen Kapital und ihrer Flexibilität das Regulativ eines nach dem Fordismus in die Krise geratenen stabilen Wachstumszusammenhangs ausgleichen. Kreativität stellt mittlerweile eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Leitfunktion dar (vgl. Florida 2005a; Florida 2005b). In diesem Kontext übernehmen ‚Kreative‘ – vor allem Künstler – im urbanen Umfeld eine Pionierrolle in der künstlerischen und kon-
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zeptionellen Nutzung brachliegender Räume und erproben neue Arbeits-, Organisations- und Lebensweisen. Künstler werden zu Raumproduzierenden, Reframern sowie Stadtakteuren und gelten weiterhin als Pioniere zukünftiger gesellschaftlicher Normen (vgl. Springer 2007; Zukin 1989). Künstler schaffen aus stadtplanerischer Sicht durch die Verwertung ihres kulturellen Kapitals neue Kreativräume, eine scheinbar lebendige Urbanität sowie Images und setzen in vernachlässigten Stadtquartieren Aufwertungsprozesse in Gang. Viele Künstler geraten durch die Einbindung in städtische Verwertungsprozesse in eine prekäre Arbeits- und Lebenssituation, was dazu führt, dass sie selbst Opfer dieser Entwicklung der Aufwertung werden. Hieran werden die einseitige Ausrichtung auf eine stark marktförmig gestaltete Stadtplanung sowie die daraus folgenden Handlungslogiken deutlich, die soziale Aspekte und qualitative Formen des städtischen Zusammenlebens weitgehend außer Acht lassen. Die Stadtpolitik und Stadtplaner agieren im Sinne dieser Verwertungslogik und gelten nach Scott (1998) als Social Engineers der staatlichen Technokratien, die die vorherrschenden Macht- und Wirtschaftsparadigmen reproduzieren, sie nicht hinterfragen und humane Ressourcen für die Umsetzung der Paradigmen nutzen. PROBLEME DER HEUTIGEN STADTGESTALTUNG UND STADTPOLITIK: EINE VISIONSLOSE ANGELEGENHEIT? Ein Problem heutiger Stadtgestaltung liegt nach Ratcliffe & Krawczyk (2011) darin, dass Stadtplaner und politische Entscheidungsträger keine tragfähigen Lösungsmodelle, Konzepte und Strategien zukünftiger Stadtgestaltung anbieten. Stadtplaner und Entscheidungsträger orientieren sich oftmals an eingeübten Mustern und tragen diese weiter. Es fehlt meist die Reflexion gesellschaftlicher Zusammenhänge und die Voraussicht gesellschaftlichen Wandels auf einer Meta-Ebene (vgl. Dörner 2008). Nach Streich (2014) liegt eine weitere Ursache darin, dass die Stadtplanung in der heutigen Form die Fortführung der selbigen seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert ist. Sie geht von den Bedürfnissen einer aufstrebenden industriellen Stadtgesellschaft aus, die nach einer Wachstumslogik ausgerichtet ist und sich schließlich institutionalisiert hat (vgl. Streich 2014: 163). Bis in die 60er Jahre schien es, als gäbe es zumindest einen Überblick und eine Klarheit über die fortlaufende gesellschaftliche Entwicklung. Die These war, dass die Zukunft sich nicht wesentlich von der Gegenwart unterscheiden würde. Der Blick auf die Zukunft änderte sich, als es in den 80er Jahren im Zuge der Globalisierung weitere ökonomische und soziale Umbrüche gab. Die Zukunft galt nicht mehr als vorhersehbar und damit als unsicher: Mehrere Möglichkeiten einer zukünftigen Stadtgesellschaft waren denkbar (vgl. Ratcliffe & Krawczyk 2011: 643). Die zunehmende Komplexität blieb in Modellen zukünf-
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tiger Stadtgestaltung und Stadtpolitik jedoch weitgehend unbeachtet: Dazu gehören die Vielfalt der Bedeutungskonstruktionen, die technologischen Entwicklungen wie schnellere Innovationszyklen, der Wertewandel als Motor gesellschaftlichen Wandels sowie Überlegungen, welche Folgen Eingriffe in komplexe Systeme haben können (vgl. Ernst & Laur-Ernst 2009: 96). Nach Dörner (2008) werden durch die Unterschätzung dynamischer Prozesse und durch einen Rückzug in kleinteilige Projekte die gesellschaftlichen Probleme ignoriert. Schnelle Lösungen, Kurzzeitansätze und die fehlende Weitsicht blockieren zusätzlich ein visionäres Denken und die Frage, wie Stadt unter anderen Bedingungen anders sein kann. Dadurch bleibt die Möglichkeit ungenutzt, die zukünftigen Entwicklungen zu beeinflussen bzw. aktiv zu formen (vgl. Dörner 2008: 96). Trotz der unterschiedlichen Erklärungsweisen kann zusammengefasst gesagt werden, dass die institutionellen Strukturen sich machterhaltend reproduzieren und sich die Stadtgestaltung durch Stadtplanung und Stadtpolitik zunehmend von den Bedürfnissen der Menschen entfernt hat (vgl. Bourdin et al. 2014: 13ff). VISIONEN EINER ZUKÜNFTIGEN URBANITÄT? Durch die genannten Entwicklungen sind Debatten um eine zukünftige Urbanität neu entfacht und die marktförmigen Konzepte der ‚unternehmerischen Stadt‘ sowie der zwischenstädtische Wettbewerb – auch aktuell u.a. im Kontext der Finanzmarktkrise – hinterfragt worden. So werden u.a. die Forderungen nach einem ‚Recht auf Stadt‘ und nach einer Teilhabe an der kollektiven Konsumption laut (vgl. Holm 2009; Mayer 2000). Einerseits wurde die Befriedigung existenzieller materieller Bedürfnisse eingefordert. Andererseits wurden Begehren, Wünsche und Visionen von Personen artikuliert, die teilweise in die Gesellschaft integriert, aber zugleich von ihr entfremdet sind (vgl. Marcuse 2009: 190ff). Heute stellen sich Fragen danach, wie die Qualität des städtischen Zusammenlebens konstituiert sein soll, wie städtische Planungsprozesse partizipatorisch gestaltet werden und wie Nachhaltigkeitsprinzipien für Städte aussehen können. Es verstärkt sich der Wunsch, die Stadt mit ihrer zunehmend heterogenen Zusammensetzung und der daraus resultierenden Dynamik als Basis und Modell einer gesellschaftlichen Vision zu begreifen (vgl. Hall 2002; Manderscheid 2008; Siebel 1999). Bewohner einer Stadt, aber auch Vertreter aus unterschiedlichen Disziplinen und Denkrichtungen wie Philosophen, Künstler und Wissenschaftler gehen der Frage nach, welche qualitativen Dimensionen für eine zukünftige Stadtgesellschaft notwendig sind. Die ‚europäische Stadt‘ war immer schon eine Inspiration für die Generierung von Visionen, Utopien und alternativen Ideen, die entweder aus einer materiellen Notwendigkeit oder aufgrund von Begehren entstanden sind. Städte gelten danach als Laboratorien gesellschaftli-
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cher Entwicklungen, in denen neue Visionen und Zukunftsentwürfe des gesellschaftlichen Lebens entstehen oder bereits gelebt werden (vgl. Häußermann et al. 2008b; Marcuse 2009; West 2013). Angelehnt an Castells (2012 [1975]) Überlegungen, Protestbewegungen als Forschungsfeld zu untersuchen und als eine mögliche soziale Praxis zu begreifen, um tiefgreifende gesellschaftliche Prozesse und Rahmenbedingungen für sozialen Wandel zu verstehen, ergibt sich für diese Arbeit die zentrale erkenntnisleitende Fragestellung: Inwieweit kann raumbezogene Kunst als Mittel und Methode von Künstlern gesehen werden, Kritik an Gegenwärtigem zu äußern und Visionen für eine zukünftige Urbanität, generell oder am Beispiel Berlin, zu erzeugen? Die Beantwortung der Frage, wie eine zukünftige Entwicklung von Städten und Gesellschaften aussehen könnte und damit einhergehend eine zukünftige Urbanität, kann einerseits unter der Berücksichtigung existierender Rahmenbedingungen erfolgen, die diskursive, ökonomische, soziale Tendenzen und bestehende Probleme einschließen. Andererseits wäre eine Betrachtung einer visionären und utopischen Wunschvorstellung ebenfalls zukunftsweisend, die existierende Rahmenbedingungen hinterfragt. Städtische Proteste verstand Castells (2012 [1975]) als eine mögliche Form gesellschaftlicher Praxen, die eine Doppelfunktion einnehmen, weswegen sie für eine Analyse interessant werden: Sie prägen einerseits Alltagserfahrungen und sind von ihnen beeinflusst und stehen andererseits im Fokus von Verteilungsund Interessenskonflikten. Künstler hingegen repräsentieren an sich keine städtische Bewegung, aber auch ihnen kommt derzeit eine gesellschaftliche Doppelfunktion zu: sie bewegen sich einerseits in der Arena der Interessenskonflikte. Andererseits werden sie als integrale Bestandteile der einseitig ausgerichteten Stadtplanungspolitik vereinnahmt. Die einzelnen Künstler befinden sich im Spannungsfeld zwischen öffentlichen Ansprüchen, Rollenzuschreibungen, privaten Verwertungsansprüchen und staatlichen Planungspraxen, Vermarktung, prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen und freier Entfaltung. In diesem Spannungsfeld nehmen die Künstler wiederum unterschiedliche Positionen ein, je nach ihrer sozialen Situation (vgl. Castells 1975: 124ff). KREATIVITÄT NEU GEDACHT? Künstler sind auf gesellschaftlicher Ebene Teil des derzeitigen Kreativitätsdiskurses. Auf individueller Ebene wird der Kunst eine Form der Kreativität zugeschrieben, die durch eine künstlerische Praxis über konventionelle Rahmenbedingungen heraus zu denken scheint. Künstlerische Erkenntniswege gelten als affirmativ, intuitiv sowie hermeneutisch und könnten einen Gegenpol zu den linear denkenden Wissenschaften und Institutionen bieten (vgl. Mareis 2012;
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Suwala 2014; Tröndle 2012). Durch die Verbindung von Erkenntnis, Wahrnehmung und Erfahrung von zwei Denkprozessen kann ein gesellschaftlicher wechselseitiger Rückkopplungseffekt erfolgen, der einerseits Aufschlüsse zur jetzigen Funktionalität der Städte gibt und eine alternative Antwort auf die einseitig ausgerichtete Stadtlogik bietet und somit auf die Gesellschaft, in der wir leben. Aber er kann andererseits sowohl, so eine Vorannahme, Möglichkeitsfelder eröffnen und der Frage nachgehen, wie Stadt unter anderen Bedingungen anders sein kann, als auch Visionen transportieren. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Fragestellung, wie Visionen einer zukünftigen Urbanität aussehen könnten, erlaubt einen neuen Blick auf die Stadt. Symbolisch gesehen geht es um (Vorstellungs-)Bilder von Städten, die durch künstlerische Werke, Malereien, Zeichnungen oder durch Konzeptionen und Interventionen übertragen werden. Die gesellschaftliche Relevanz der Forschungsarbeit leitet sich aus der Beschäftigung mit Urbanität ab wie auch der Möglichkeit, künstlerische Praktiken zu untersuchen, die neue Ideen, Perspektiven und Zugänge zur Stadt erlauben sowie einen Austausch über die Rolle der Künstler innerhalb der Stadt Berlin eröffnen. In der vorliegenden Arbeit sollen Künstler nicht als eine generalisierte Personengruppe verstanden werden, denen bestimmte gleichförmige soziale, individuelle und gesellschaftliche Eigenschaften zugesprochen werden. Vielmehr soll bereits im Vorfeld darauf hingewiesen werden, dass Künstler unterschiedlich definiert werden und dieser Umstand gleichzeitig die Ausdifferenzierung innerhalb der künstlerischen Praktiken widerspiegelt: Es können Künstler nach ihren künstlerischen Arbeitsweisen unterschieden werden, nach ihrer Einbindung in Kunstmärkte, nach dem gehandelten Wert ihrer Kunst, nach ihrer Rolle in der Gesellschaft sowie nach dem eigenen Selbstverständnis etc. (vgl. Mundelius 2006; Mundelius & Fasche 2010). Wenn in dieser Forschungsarbeit von den Künstlern gesprochen wird, besteht das Bewusstsein, dass zahlreiche Künste nebeneinander existieren und das jeder Künstler eine eigenständige Person ist. In der vorliegenden Forschungsarbeit wird während des Forschungsprozesses ein eigenes Verständnis von Künstlern ausgearbeitet, das sich aus den vorliegenden Fragestellungen und dem Untersuchungsgegenstand ergibt. Es stehen Künstler im Fokus, die sich mit urbanen Fragestellungen beschäftigen, urbane Themen zum Gegenstand ihrer künstlerischen Auseinandersetzung machen bzw. machen wollen und die sich somit innerhalb des Feldes der Urbanität bewegen (vgl. Hildebrandt 2012; Nippe 2011).
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AUFBAU DER ARBEIT Im ersten Kapitel wird ausgehend von der Problemstellung der derzeitige Forschungstand der vielfältigen Untersuchungen zum wechselseitigen Verhältnis von Kreativität, Künstler, Kunst und Stadt dargestellt. Dieses bettet sich in die derzeit vorherrschenden Kreativitätsdiskussionen ein und schließt an die Trendwende des Cultural Turns an. Diese Diskussionen zeigen – je nach erkenntnistheoretischer Herangehensweise – einerseits gesellschaftliche und individuelle Dimensionen auf und geben andererseits Hinweise über Potenziale und Bedeutsamkeit von Kreativität, Kunst und Künstlern innerhalb städtischer Prozesse. Dabei werden von den jeweiligen Kreativitätsdebatten ausgehend Bezüge zu Kunst und Künstlern hergestellt, aber auch untersucht, wie Neues und (künstlerische) Ideen entstehen und als solche überhaupt wahrgenommen werden können. Anhand zahlreicher Untersuchungen wird gezeigt, dass sich Künstler als Bestandteil gesellschaftlicher Bedingungen verstehen und Kunst verstärkt auch kontextualisiert auftritt. Dabei wird den Potenzialen von Künstlern im Hinblick auf die Problemstellung neuer Raum gegeben. In Kapitel zwei wird anhand der Regulationstheorie der theoretische Bezugsrahmen zur Problemstellung bzw. den abgeleiteten Vorüberlegungen geschaffen, um sich dem Untersuchungsgegenstand aus der Synthese von makroökomischen und mikroanalytischen Ansätzen aus der Geographie sowie den Kunstwissenschaften zu nähern. Dabei kann die Regulationstheorie eine Diskussion darüber eröffnen, wie gesellschaftliche, kapitalistische Formationen entstehen und wie sich diese weiterentwickeln. Sie kann somit einen aktuellen Bezug zur derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung herstellen. Sie dient daher als Folie für die gesellschaftliche Entwicklung und zur Beschreibung des Umfeldes des Forschungssettings. Des Weiteren wird in diesem Kapitel gezeigt, welche Anknüpfungsmöglichkeiten die Regulationstheorie an mikroanalytische Ansätze bietet, um sowohl strukturelle Bedingungen als auch die Alltagspraxis gleichberechtigt zu untersuchen und sie als wechselseitiges Konglomerat zu verstehen. Außerdem dient sie als Analyserahmen des empirischen Vorgehens. Im dritten Kapitel wird der Untersuchungsgegenstand detaillierter erläutert. Es werden einerseits unterschiedliche Begrifflichkeiten und Formen von Visionen und Utopien herausgearbeitet, die ein ‚Was-wäre-wenn‘ denken lassen. Andererseits werden unterschiedliche Urbanitätskonzeptionen vorgestellt, die unterschiedliche Dimensionen und Werte beinhalten und u.a. Urbanität auch als Aushandlungsprozess begreifen können. In der Verknüpfung beider Konzeptionen von Vision und Urbanität werden erste Überlegungen zugelassen, wie eine stadtbezogene zukünftige Vision aussehen könnte. Als nächster Schritt werden die
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theoretischen Erläuterungen im Hinblick auf die Empirie aufgelöst und Hypothesen wie auch Unterfragestellungen eingeführt. Das vierte Kapitel eröffnet den Einblick in die beiden angewandten Forschungsstrategien: Dazu gehört zum einen die transdisziplinäre Ausrichtung dieser Forschungsarbeit und zum anderen die Auswahl Berlins als Fallbeispiel. Die transdisziplinäre Ausrichtung bezieht sich auf die Annäherung von Kunst und Geographie. Damit werden zunächst getrennt erscheinende Wissensbestände und kreative Prozesse zusammengeführt und Praktiken der räumlichen und visuellen Wissensproduktion generiert, die sowohl einen explorativen als auch einen experimentellen Charakter haben. Berlin soll als Ausgangspunkt der Analyse der vorliegenden Untersuchung dienen, da dort die dargestellten Entwicklungen verdichtet auftreten und sich die Transformation besonders sichtbar vollzieht: Ein Grund dafür ist die Sonderstellung durch die jahrelange Isolationslage Berlins bis 1989. Berlin galt bislang als Stadt, die über zahlreiche günstige Räume und Nischen – die sich dem Vermarktungsdruck entzogen – verfügte und damit ein Experimentierfeld für Künstler darstellte; sie bot zugleich unterschiedliche Entwicklungspotenziale und zog zahlreiche Menschen an. Seit 2005 scheint diese Entwicklung im Umbruch zu sein. In dem letzten Jahrzehnt findet eine Anpassung an die entstandene internationale Wettbewerbssituation statt u.a. durch Leitbilder wie die der ‚kreativen Stadt‘ und der ‚unternehmerischen Stadt‘. Das zeigt sich darin, dass hier unterschiedliche Interessen, Ideale und Vorstellungen städtischer Lebensweisen aufeinandertreffen und neue Aushandlungsmechanismen fortgeführt werden (vgl. Heeg 1998; Heeg & Rosol 2007; Manderscheid 2008). Im fünften Kapitel wird das Methodendesign dargestellt. Zunächst wird auf den Essay eingegangen, der den Ausgangspunkt der gemeinsamen Auseinandersetzung zwischen Forschender und Künstlern darstellt. Er beleuchtet den Wandel, die Potenziale und Probleme von Städten in regulationstheoretischer Sichtweise und formuliert erste Vorannahmen zur Verbindung von Kreativität, Stadt und Kunst. Auf dieser Grundlage werden vorhandene oder dafür eigens bearbeitete künstlerische Positionen hinsichtlich ihrer Vision oder ihrer künstlerischen Zugangsweise zu Städten und Urbanität untersucht. Dafür werden künstlerische Positionen durch Interviews und Gruppendiskussionen interpretiert und reflektiert. In diesem Verfahren sollen sowohl wahrgenommene Problemlagen und Krisenerscheinungen eruiert als auch Visionen für eine zukünftige Urbanität abgeleitet werden. Zusätzlich werden gesellschaftliche Rahmenbedingungen, vorherrschende Diskurse und künstlerische Ausdrucksweisen in ihrer Entstehung und ihrer Wechselseitigkeit im ersten Schritt untersucht, um im zweiten Schritt Potenziale und Grenzen dieser transdisziplinären Wissensproduktionen zu erläu-
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tern. Diese eröffnen einerseits Zugänge zu derzeitigen urbanen Prozessen, könnten aber andererseits auch für die offene Stadtforschung erkenntnisgenerierend genutzt werden. Kapitel sechs ist der Darstellung und Einzelanalyse der verschiedenen Künstlerpositionen vorbehalten. Hier werden jeweils die Künstler als Akteure vorgestellt, ihre künstlerische Produktion analysiert und diese vor dem Hintergrund der Einzel- und des Gruppeninterviews betrachtet. In diesem Kapitel sollen Künstler mit ihren Positionen selbst zu Wort kommen. Das siebte Kapitel dient der zusammenfassenden Analyse bezogen auf die zentralen erkenntnisleitenden Fragstellungen sowie der theoretischen Rückbindung bezugnehmend auf den politisch-ökonomischen Kontext. Zudem werden Forschungsstrategien und Methoden kritisch reflektiert und ein Ausblick für die geographische Forschung gegeben.
1. Theoretische Bezüge I: Kunst, Kultur und Kreativität
Im ersten Kapitel wird das Feld beschrieben, in dem Kunst, Kultur und Kreativität für die vorliegende Forschungsarbeit Bedeutung haben. Ausgehend vom aktuellen Forschungsstand werden darin sowohl die gesellschaftlichen Bezüge thematisiert als auch die Rezeption von Kunst, Kultur und Kreativität in Forschung und Wissenschaft und darin explizit der Geographie.
1.1 K ULTUR ALS KONSTITUTIVES E LEMENT IN G ESELLSCHAFT UND W ISSENSCHAFT Kultur ist zu einer respektierten Kategorie der Gesellschaftsanalyse geworden, mehr noch: Kultur wird als konstitutives Merkmal von Gesellschaft betrachtet (vgl. Soja 2003). Durch die Verbindung von Tradition und Innovation scheint Kultur das Potenzial zu besitzen, neue Bedeutungsebenen zu konstruieren und entgegenlaufende Sinn- und Bedeutungskonstruktionen als Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zu begreifen. In der Diskussion um Kultur und ihre Bedeutung für gesellschaftliche sowie ökonomische Wandlungs- und Sinnstiftungsprozesse haben sich ökonomische Umstrukturierungen, innergesellschaftliche soziale und räumliche Veränderungen sowie ihre kulturalisierten Deutungen einerseits sowie kulturelle und künstlerische Praxis und Produktion andererseits auf vielfältige Art durchdrungen. So hat beispielsweise der Cultural Turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften auf unterschiedlichen Ebenen thematisch als auch erkenntnistheoretisch neue Felder erschlossen: Kultur wurde (1) zur essentiellen Kategorie von Gesellschaft (vgl. Soja 2003). Dabei rückte der Kulturbegriff von einer phänomenologischen Sichtweise ab und betonte verstärkt das Prozesshafte sowie kulturelle Handlungen und gesellschaftliche Aushandlungs-
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taktiken. Kulturorientierte Forschungsansätze nahmen zu: Dies wiederum drückte sich in der anwachsenden Anzahl von Publikationen aus, die Kultur als Gegenstand der Untersuchung und das Potenzial von Kunst betrachteten (vgl. Gebhardt et al. 2003; Glasze & Mattissek 2009b; Ley 2003; Lossau 2006; Werlen 2003). Dabei spielte vorwiegend das städtische Umfeld eine Rolle wie auch die Hinwendung zum Alltag und zu kulturellen Themenbereichen. Kultur wurde (2) auch zum Dreh- und Angelpunkt einer methodischen Neuausrichtung hinsichtlich einer poststrukturalistischen Herangehensweise, die u.a. die Methoden der Dekonstruktion und Diskursanalyse umfasste. Und Kultur floss (3) in Form von kulturellen Strategien – wie dem Cultural Planning – in die Stadtentwicklung ein (vgl. Mercer 2006). Diese kulturellen Strategien können als Antwort auf die Frage verstanden werden, wie sich Städte innerhalb der Globalisierung etablieren können. Dabei stellen Kreativität, Technologie sowie Humankapital die Motoren der Innovationsgenerierung und der New Economy dar, die als Hoffnungsträger neuer Arbeitsplätze gilt. Kreativität ist damit das Wachstumsparadigma der ‚unternehmerischen Stadt‘ (vgl. UN-HABITAT 2004: 31ff), in der Wirtschaftswachstum durch Investitionen in Kulturindustrie-Areale befördert wird und öffentliche Räume in Aufwertungsstrategien eingebunden werden (vgl. Lüddemann 2007: 43; Schmidt 2003). Diese Fragen der Kulturalisierung der Ökonomie wurden spätestens seit den 80er Jahren im angloamerikanischen und seit den 90er Jahren im deutschsprachigen Raum gestellt. Zeitgleich wurde aber auch begonnen, die Ökonomisierung der Kultur zu diskutieren. Demzufolge wurde Kultur zunehmend als Ware gehandelt und Waren, Prozesse und Dienstleistungen immer mehr mit kulturellen Inhalten gefüllt (vgl. Jameson 1986; Merkel 2012: 15). Diese zunehmende Ökonomisierung des Kulturbereichs, oftmals definiert in einem top-down gesteuerten Prozess, hat nach Rothauer (2005: 11) neue Diskussionen produziert und Aufgaben sowie Erwartungen im Kontext des städtischen Verwertungsprozesses an die Kunst bzw. für Künstler geschaffen. In den letzten Jahren hat sich diese Form der Auseinandersetzung zwischen Kunst und Stadt ein weiteres Mal verändert und gleichzeitig die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld verstärkt. Zunehmend werden Fragen etwa nach der Veränderung der Rollen und des Images des Künstlers und der Kunst reflektiert (vgl. Cameron & Coaffee 2005; Gantner 2013; Zukin 1989). Gefragt wird auch, wie Künstler und Kunst die heutigen sozialen Veränderungen reflektieren, verarbeiten und neue Perspektiven eröffnen, aber auch, wie sie als Akteure innerhalb der Stadt verhandelt werden. Aus dieser Akteurssicht sollte auch erwähnt werden, dass Künstler und Kunst deshalb häufig mit dem urbanen Umfeld verknüpft werden, da dieses viele ihrer Bedürfnisse am besten befriedigen kann (vgl. Gantner 2013;
1. T HEORETISCHE B EZÜGE I: K UNST , K ULTUR UND K REATIVITÄT
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Moser 2013). Es gibt eine Nähe zu den unterstützenden Institutionen, eine Plattform für unmittelbaren Austausch und für Inspiration und Präsentation sowie Märkte. Die Stadt bietet außerdem Nischen für Kreativräume und Entfaltungsmöglichkeiten. Und eine Wechselbeziehung zwischen Kunst und Stadt findet schon lange statt. Bereits die Expressionisten haben den industriellen Wandel von Städten und die Problemlagen bildnerisch dargestellt. Sozialkritische Kunst – beispielweise von Baluschek, Kollwitz und Zille – hat auf die soziale Spaltung in Städten verwiesen, die sich aufgrund der damaligen Produktionsverhältnisse ergab und diese bildnerisch umsetzte. Es gab von Künstlern verfasste politische Forderungen und Manifeste, die den Künstler auf seine prekären Verhältnisse hinwiesen und zu Akteuren innerhalb des Stadtgeschehens machten. Andererseits unterstützten sie mit ihrer Kunst auch z.T. die vorherrschenden Machstrukturen (vgl. Roters et al. 1987; Serner 1964).
1.2 K UNST , K ULTUR UND K REATIVITÄT IN DER G EOGRAPHIE 1.2.1 Kunst und Geographie Erste Bezüge zwischen Kunst und Geographie lassen sich in der englischsprachigen Geographie seit den 80er Jahren verorten. So verwies Meinig (1983) bereits auf unterschiedliche geographische Erkenntniswege in Bezug auf Kunst hin. Sie sah in der Beschäftigung mit künstlerischen Ausdrucksmitteln, die sie anhand der Literatur aufzeigte, neue Möglichkeiten, eine menschlichere, an den Träumen und Ideen der Menschen ausgerichtete Geographie zu etablieren. Sie forderte zudem Geographen auf, künstlerische Praxen zu übernehmen. Das Ziel sollte nach Meinig (1983: 315ff) sein, das technokratische und elitäre Wissenschaftsverständnis hinter sich zu lassen und eine humane Wissenschaft zu etablieren, die gesellschaftliche visionäre Aspekte integriert. Auch in der ikonographischen Analyse von Landschaftsbildern wie beispielsweise von William T. Turner (1775-1851) Ende der 80er Jahre lassen sich Zusammenhänge zwischen Kunst und geographischen Bezügen nachweisen (vgl. Daniels 2008: 430ff). Dabei steht nicht die relationale räumliche Verteilung bestimmter künstlerischer Bauwerke und Stile im Vordergrund des Erkenntnisinteresses, sondern das künstlerische Medium selbst. Bildliche Darstellungen werden dabei auf den symbolischen Wert des Bildes hin und mit Hilfe von Fragen nach nationaler Macht, Grenzen und Identitäten untersucht (vgl. Cosgrove 1984; Cosgrove & Daniels 1988; Daniels 1993; 2008). In den letzten zwei Jahrzehnten erfolgte in
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Kunst und Geographie die Einbeziehung einer weiteren Bandbreite von künstlerischen Ausdrucksformen, die über die Malerei hinausging: Dazu gehören die Performance, die Installation als auch Skulpturen im öffentlichen Raum (vgl. Hawkins 2013: 53). Dies hatte auch eine Erweiterung der Forschungsgebiete zur Folge: von der Untersuchung von Landschaft hin zu körperlichen Bewegungen im Raum, von der künstlerischen Wahrnehmung hin zu Handlungen im Raum. Sie bewirkte unter anderem die Öffnung über das Medium des Bildes hinaus, also über die Interpretation und Darstellungsweisen der Landschaft hin zur Beschäftigung mit gesellschaftlichen und geopolitischen Ansätzen (vgl. Hawkins 2011; Hawkins 2013; Tolia-Kelly 2010). Eine ähnliche Stoßrichtung bzw. gesellschaftliche Kontextualisierung verfolgt auch der aus den USA stammende geographische Ansatz Experimental Geography von Paglen (2008), der selbst Geograph und Künstler ist. Nach Paglen (2008) sollen Geographen nicht fragen, was Kunst ist oder welchen Nutzen Kunst besitzt, sondern vielmehr, wie ein Raum durch Kunst produziert wird und welche raumrelevanten Praxen Kunst verfolgen kann. Dieser geographische Ansatz betont die Interdisziplinarität als Chance, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. Paglen 2008: 36). EXKURS: EXPERIMENTAL GEOGRAPHY UND DOPPELTE TRIADE Der aus den USA stammende geographische Ansatz Experimental Geography von Paglen setzt sowohl am Begriff des Experiments als auch am Raumkonzept Lefèbvres an: In dem Buch ‚La production de l’espace‘ entwickelte Lefèbvre (1974) das Konzept der doppelten Triade. Für Lefèbvre (1974) ist der Raum ein soziales Produkt, in dem soziale und gesellschaftliche Prozesse stattfinden. In ihm werden abstrakte Prozesse und Strukturen sichtbar. Die Dimensionen der Raumproduktionen bestehen aus drei räumlichen Kategorien, die wechselseitige Beziehungen aufweisen: der ‚wahrgenommene Raum‘ bzw. die ‚räumliche Praxis‘ (Materialität des Raums), der ‚konzipierte Raum‘ bzw. ‚Repräsentation des Raums‘ (konzipierte Wirklichkeit durch Interessen, Stadtplanung, Leitideen) und der ‚gelebte Raum‘ bzw. ‚Räume der Repräsentation‘ (Raum der Vorstellung, des Alltags der Bewohner, des Nichtsprachlichen und der Kunst). Die Begriffspaare können einerseits zusammengedacht und andererseits als drei integrale Dimensionen für die gesellschaftliche Produktion des Raumes begriffen werden (doppelte Triade). Sie können einzeln, und dennoch dialektisch aufeinander bezogen werden (vgl. Lefèbvre 1974: 30ff).
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Dabei stellt die Experimental Geography keine eigene Theorie dar, sondern eine neue Bezugnahme auf Lefèbvres Ansatz, um die kulturellen und sozialen Produktionen des Raums zu untersuchen und den experimentellen und immateriellen Charakter dieser Raumproduktionen zu betonen (vgl. Thompson 2008: 13). Dabei wurden über gestalterische räumliche Elemente hinaus funktionalistische und symbolische Interpretationen des Räumlichen aufgenommen, untersucht und künstlerisch visualisiert: „Experimental geography means practices that take on the production of space in a self-reflexive way, practices that recognize that cultural production and the production of space cannot be separated from each other, and that cultural and intellectual production is a spatial practice. Moreover, experimental geography means not only seeing the production of space as an ontological condition, but actively experimenting with the production of space as an integral part of one’s own practice. If human activities are inextricably spatial, then new forms of freedom and democracy can only emerge in dialectical relation to the production of new spaces. I deliberately use one of modernism’s keywords, ,experimental‘, for two reasons. First is to acknowledge and affirm the modernist notion that things can be better, that humans are capable of improving their own conditions, to keep cynicism and defeatism at arm’s length. Moreover, experimentation means production without guarantees, and producing new forms of space certainly comes without guarantees. Space is not deterministic, and the production of new spaces isn’t easy.“ (Paglen 2008: 32)
Mit Raumproduktion und Kunst hat sich auch Toscano (2009) beschäftigt. Seine These lautet, dass es einen Artistic Turn innerhalb der sozialen Gesellschaftstheorie gegeben hat. So wurden performative Gehpraxen untersucht, wie auch Raumaneignungsstrategien, welche der Kunst eine subversive Kraft unterstellen. Diese Kraft beinhaltet alternative normative Formen der Raumnutzung und hinterfragt Alltagsroutinen. Und Pinder (2011) geht der Frage nach, inwieweit Kunst bestehende Machtrelationen, bestehende Normen und Alltagsroutinen heute noch aufdecken kann und verweist in seiner Untersuchung auf die Grenzen der Kunst und deren gesellschaftlicher Wirkung. Er warnt vor einer Romantisierung künstlerischer Prozesse und der Vernachlässigung der Fragestellung in der Auseinandersetzung mit Kunst und Raum. Der gesellschaftliche Wandel bewirkte laut Pinder (2005: 37; 2011) aufgrund neuer kultureller Verwertungslogiken, dass die von Lefèbvre (1974) und Debord (1973) zugesprochene subversive Kraft der Kunst ihr Potenzial eingebüßt hat, gesellschaftlich festgesetzte Strukturen zu hinterfragen oder gar zu verändern.
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Bedeutende Impulse wurden in den letzten Jahren durch die Etablierung des Forschungsfelds Art and Geography im angelsächsischem Raum gesetzt (vgl. Hawkins 2011; Hawkins 2013; 2014a: www.*; Royal-Geographical-Society 2015: www.*). Es beleuchtet die wechselseitigen Beziehungen und Schnittmengen zwischen Kunst und Geographie und sieht ein großes Potenzial in der Erkenntnisgewinnung durch die Annäherung der beiden Bereiche in Theorie und Praxis, die sich in den letzten 30 Jahren ergeben hat. Art and Geography kann als ein Sammelbegriff verstanden werden, der unterschiedliche Ansätze, Theorien und Methoden subsummiert und ist nicht gleichzusetzen mit dem in Deutschland kursierenden Begriff ‚Kunstgeographie‘. Art and Geography bezieht sich stellenweise auf Ansätze der Kunstgeographie, bleibt aber nicht in dem Verständnis der Kunstgeographie verhaftet. In der Kunstgeographie werden räumliche Verteilungsmuster sowie die Diffusion und Genese bestimmter Kunstformen untersucht. Nach Bornemeier (2006) zeigt Kunstgeographie, basierend auf dem Basisbuch von Kaufmann (2004) ‚Toward a Geography of Art‘, „[…] die räumlichen Beziehungen zwischen der (Bau-)Kunst und den naturräumlichen, historischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten ihres Entstehungsraumes auf und stellt sie kartographisch dar“ (Bornemeier 2006: 17). Die Kunstgeographie bleibt damit einem Raumverständnis und einer Sichtweise von Kulturgeographie verhaftet, die den Raum als statische Einheit sieht und in der seine Strukturen als naturalisierend und fest gelten. Art and Geography hebt hingegen vor allem die gemeinsame Erschaffung von Bedeutungen, die Erzeugung der Räume durch gesellschaftliche Praktiken, Handlungen, soziale Konstruktionen und künstlerische Aufzeichnungen in den Vordergrund (vgl. Hawkins 2013: 64f). Dieser epistemologische Unterschied in Bezug auf die Raumeigenschaften der Kunstgeographie spiegelt sich hier deutlich: bei Art and Geography werden Synergien und die Transdisziplinarität zwischen Geographie und Kunst beleuchtet, die dort ansetzen, wo das Raumverständnis der Kunstgeographie aufhört. Dadurch wird eine Verbindung der Kunstgeschichte zur Sozialgeographie bzw. Anthropogeographie hergestellt (vgl. Hawkins 2013). In Art and Geography wird das gemeinsame Ziel von Kunst und Geographie – die kooperative Zusammenarbeit – betont. Einen Überblick über die Themenfelder und historische Bezüge der Art and Geography zeigt auch die Oxford Bibliographie auf und beleuchtet verschiedenste Ebenen, auf denen sich Kunst und Geographie annähern können (vgl. Hawkins 2014a). Gegenwärtig werden in der Geographie verstärkt kollaborative Formen und kreativ-experimentelle transdisziplinäre Praxen betont und deren Potenziale benannt. Dabei agieren Geographen vermehrt als Kuratoren oder als Künstler (vgl. Hawkins 2015; Paglen 2011), während Künstler zunehmend geographische Ar-
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beitsweisen aufnehmen. Die Legitimation dieser transdisziplinären Wissensproduktion beruht auf der These, dass sich kreative Prozesse zum einen durch eine Annäherung der dargestellten Praxen, Methoden und Kulturen und zum anderen durch Themenbereiche und gesellschaftliche raumbezogene Fragestellungen ergeben haben. Durch den Cultural Turn innerhalb der Geographie verstärkte sich die Fokussierung auf Potentiale von Visualisierung und Semiotik, auf die nochmals vertieft eingegangen wird (vgl. Kap. 4.1.3). Vorab ist an dieser Stelle festzuhalten: Geographie und Kunst pflegen beide eine visuelle Kultur und visuelle Forschungsfelder. Beide beschäftigen sich mit Karten, Mappings, mit Images sowie der Konstruktion und Dekonstruktion von Landschaften, (Stadt-)Räumen und (Welt-)Bildern. Diesbezüglich wird Kunst sowohl weiterhin als empirische Quelle als auch bezogen auf die visuellen Praxen, Herangehensweisen und Methoden der Verarbeitung untersucht (vgl. Rose 2011). Beide Bereiche verfolgen eine Gestaltungspraxis, erschaffen Räume oder untersuchen sie (vgl. Hawkins 2014b; Miggelbrink 2009; Miggelbrink & Schlottmann 2009; Roberts 2013). 1.2.2 Kreativität in der geographischen Debatte In der Stadtforschung werden Kreativitätskonzepte in Bezug auf Kunst, Künstler und Stadt implizit und explizit genutzt. Sie haben sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vorwiegend um die Kreative-Stadt-Debatte und Innovationsforschung entsponnen. Vor allem in der von Florida (2004)4 angestoßenen 4
Florida (2005b) beförderte die Ausbreitung von Begriffen wie Creative City (kreative Stadt), Creative Industries (Kreativwirtschaft), Creative Class (kreative Klasse), die einen Diskurs über Stadtentwicklung unter Globalisierungsprozessen anstoßen. Er sieht die im Aufstieg befindliche ‚kreative Klasse‘ als die treibende Kraft hinter einer städtischen Erneuerung. Seine Grundannahme ist, dass vorhandenes Humankapital und vorhandene Kreativität sowie der von ihnen ausgehende kreative Output und die Innovationsleistung für das Wirtschaftswachstum von Regionen und Städten entscheidend sind. Die Einbindung von kreativem Potenzial beispielsweise in städtische Arbeitsprozesse ist nach Florida (2005a) die zeitgemäße Reaktion auf die Transformation der Wirtschaft (vgl. Kap. 2.1). Die Wirtschafts- und Stadtpolitik setzt daher dieses Konzept als „Mittel zur Attraktivitätssteigerung von Standorten“ (Rothauer 2005: 11) ein. Somit müssen Städte nach Florida (2004; 2005a) lernen, für kreativ Arbeitende eine angenehme urbane Atmosphäre zu etablieren, damit Kreativität initiierte werden kann. Florida (2004; 2005a) entwickelt das Modell der drei T’s, um das Potenzial einer Region für eine globale Wettbewerbsfähigkeit zu analysieren. Dieses Modell besteht aus den Dimensionen Technologie, Talent und Toleranz. Toleranz steht für die
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Kreative-Stadt-Debatte sind dazu zahlreiche Untersuchungen entstanden, die je nach Forschungsfrage die Wechselwirkung zwischen kreativer Klasse, ihrem Innovationspotenzial und dem kreativem Milieu untersuchten (vgl. Krätke 2011; Landry 2008). Kreativität wird darin ein brauchbarer Nutzen zugeschrieben. Sie wird auf Verwertbarkeit und Planbarkeit hin untersucht. Innerhalb der Geographie lag der Fokus auf der Erschaffung und den Dimensionen von Kreativräumen, auf spezifisch künstlerischen und kreativen Unternehmenspraktiken (Culturpreneurs) sowie auf entstandenen Governance-Strukturen (vgl. Lange 2007; 2009; Suwala 2014). Ebenso wurden Vernetzungsstrategien und soziale Praktiken im Raum diskutiert, die als zukunftsweisende Raumentwicklungen gelten (vgl. Behr et al. 1989; Ebert & Kunzmann 2007; Ebert et al. 2012; Ibert 2004; 2014; Kunzmann 2004; SenStadt 2007). In diesem Zusammenhang wird beispielsweise gefragt, wie arbeitsorganisatorische, umgebende gesellschaftliche und lokal räumliche Rahmenbedingungen die Kreativität fördern, um diese in eine wirtschaftliche oder wissenschaftliche Innovationsleistung überführen zu können (vgl. Dirksmeier 2014; Törnqvist 2004: 228). Die Fokussierung auf die wirtschaftlichen Komponenten von Kreativität führt in der Wirtschaftsgeographie nach Suwala (2014) zu einem lückenhaften Verständnis des Kreativitätsprozesses, das vorwiegend die (wirtschaftliche) Effektivität betont und nicht die Originalität (vgl. Suwala 2014: 66). Hier wird klar, dass sich vorwiegend technologische und wirtschaftliche Modelle des Kreativitätsprozesses innerhalb der geographischen Forschung durchgesetzt haben (vgl. Ibert & Müller 2015; Kline & Rosenberg 1986; Krätke 2011; Kulke 2004). In Herstellung oder das Vorhandensein einer Offenheit einer Gesellschaft. Durch diese Offenheit wird Humankapital angelockt und der hochmobile Kreative als wertvolle Ressource an einen Standort gebunden. Unter Technologie wird das Innovationspotenzial einer Region gefasst, das sich durch die räumliche Ansiedlung von wissensintensiven Wirtschaftsbranchen auszeichnet. Talent steht für die Anzahl der kreativ Tätigen in einer Region. Die vorhandene Anzahl der freiberuflichen oder angestellten Kreativen in einer Region sind nach Florida wiederum ausschlaggebend für die Ansiedlung von Unternehmen. Dabei unterscheidet Florida (2004: 68ff) aufgrund der Art der kreativen Tätigkeit die ‚Kreative Klasse‘ in zwei Gruppen. Der Gruppe der Creative Professionals gehören jene an, deren Berufsfeld eigenständiges Denken und kreative Problemlösungsstrategien erfordert. Dazu zählen Manager, Facharbeiter, Ärzte etc. Die zweite Gruppe umfasst den Supercreative Core, die ihr vorhandenes Humankapital ‚schöpferisch‘ einsetzt. Diese Gruppe produziert Innovationen, die sich sowohl materiell als auch immateriell formieren, und arbeitet in wissensintensiven Berufsfeldern. Zu dieser Gruppe zählen Wissenschaftler, Professoren, Lehrende, Designer, Unternehmer und auch Künstler.
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dieser Auffassung von Kreativität wird ihr ein eigenständiger Wert beigemessen (vgl. Thrift 2005: 133). Darin kommt gewissermaßen eine elitäre Auffassung von Kreativität zum Tragen, die bereits der Nationalökonom Schumpeter als wichtige Komponente wirtschaftlichen Wachstums ansah. Schumpeter (1964 [1934]) prägte den Begriff der ‚kreativen Zerstörung‘ und betonte das Schöpferische an einem Unternehmen5 (vgl. hierzu Exkurs: Zur etymologischen Bedeutung des Wortes Kreativität). Durch den Wechsel zwischen Innovation und Zerstörung galt für ihn Kreativität als Wundermittel für Politik und Wissenschaft. Nach Dirksmeier (2014) wird in dem geographischen kollektiven Verständnis von Kreativität die individuelle Kreativität innerhalb des Austauschprozesses nur unzureichend untersucht. Der Fokus wird einseitig auf die ‚kreative Klasse‘ gelegt, die einen Mehrwert im unternehmerischen Sinne ergeben kann. Welche kreativen Strategien Menschen in ihrem Lebensalltag hervorbringen, wird bislang kaum berücksichtigt. Die ungenaue Definition von Kreativität reduziert sich in der wissenschaftlichen Diskussion und Schöpferkultrhetorik auf eine Debatte, die innerhalb der Kreativitätsforschung bereits diskutiert und längst überwunden geglaubt wurde (vgl. Kap. 1.3).
5
Törnqvist (2011), der sich mit Kreativität und Geographie in unterschiedlichen Arbeiten auseinandersetzte, betont, dass Chaos und Kreativität miteinander korrelieren und die Entstehung von Kreativität von der Wahl mehrerer Möglichkeiten (Kontingenz) abhängt. Nach Holm-Hadulla (2011) steht Kreativität in einen Wechselspiel zwischen Schöpfung und Zerstörung, Chaos und Ordnung, Konstruktion und Destruktion. Dabei ist die Kreativität als Teilprozess der Innovation und der Erfindung abhängig von Diversität, Variation, Vielfalt. Gleichheit und Einheitlichkeit hemmen hingegen kreative Prozesse. Kreativität und strukturelle Instabilität gehören demnach zusammen. Kreativität wird dadurch sogar gefördert. Diese Prozesse können raumgebunden und gesellschaftlich auftreten (vgl. Bukow 2011). Sie werden auch individualistisch gesehen, da ein kreativer Mensch die Störung als Chance sehen und neue Ideen ins System implementieren kann (vgl. Dirksmeier 2013a). Diese Auffassung, die vorwiegend in der Wirtschaftsgeographie auftaucht, sieht Kreativität als ökonomische Ressource, die die fortwährende Schaffung von Innovationen zum Ziel hat, da der Markt und der globale Wettbewerb sie einfordern. Dieses unternehmerische Denken bewirkt, dass ein Mensch, eine Gesellschaft und ein kreatives Milieu nicht einfach kreativ sein dürfen, sondern kreativer als die Konkurrenz und somit permanent schöpferisch tätig sein müssen (vgl. Bröckling 2004).
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EXKURS: ZUR ETYMOLOGISCHEN BEDEUTUNG DES WORTES KREATIVITÄT Die in der Geographie bislang vorwiegend einseitig ausgestaltete elitäre Sichtweise auf das kreative Milieu nimmt vorwiegend die etymologische Bedeutung des Wortes Kreativität auf, welches auf das lateinische Wort ‚creare‘ zurückgeht, das so viel bedeutet wie ‚schöpferisch tätig‘ sein. Dies bezieht sich auf den Schöpfergott, der aus Nichts etwas Neues schaffen kann. Dem Menschen wurde diese Fähigkeit lange Zeit im theologischen Sinne abgesprochen: Erst im 17. Jahrhundert wurde Menschen mit besonderen Eigenschaften eine schöpferische Gabe zugesprochen und ein Geniestatus zugestanden, wodurch sich die Menschen in der Unterscheidung ihrer kreativen Produkte auszeichnen konnten. Dieser Geniestatus wurde zunächst aufgrund der Leistungen in Kunst und in Wissenschaft, später in Politik und Wirtschaft aufgenommen (vgl. Brodbeck 2006: 248). Dass diese Zusprechung von Kreativität auch gesellschaftlich destruktive Kräfte entfalten konnte, sieht HolmHadulla (2011) in den politischen und historischen Ereignissen des zweiten Weltkriegs verwirklicht. Mit fatalen Folgen wurde Hitler durch den eigens kreierten und gesellschaftlich reproduzierten Schöpferkult von den Massen als Genie beschworen. Danach wurde der Begriff des ‚Genialen‘ durch Kreativität ersetzt (vgl.Holm-Hadulla 2011: 54f). Das bedeutet aber nicht, dass die Rhetorik vom Genie ganz verschwunden wäre. Vor allem wird der Schöpfungsmythos weiterhin mit dem Künstler in Verbindung gebracht (vgl. Kap. 1.5.1). Hinter der ungenauen Verwendung des Begriffs ‚Kreativität‘ werden Interessen verdeckt (vgl. Kirchberg 2010). Teilaspekte der Kreativität werden nicht explizit benannt, sondern in Metaphern verkleidet wie: künstlerisches Handeln, kreative Problemlösungsstrategien, Re-Brandings, Emergenz, Innovation, Spiel, Revolution etc. (vgl. Merkel 2012: 37). Diese Teilaspekte münden beispielsweise in folgenden wissenschaftlichen Fragestellungen: Welches Ziel verfolgt kreatives Handeln (vgl. Joas 2002: 106f)? Wie und unter welchen Bedingungen werden Neuheiten, Ideen aber auch auf gesellschaftlicher Ebene Paradigmenwechsel generiert und wie entstehen neue Werte und sozialer Wandel (vgl. Hradil 2002)? Diese Teilaspekte gründen auf einer Konzeption und Perspektive von Kreativität, die trotz der Mehrdeutigkeit und Ungenauigkeit der Verwendung des Begriffs eines gemein haben: Die Minimaldefinitionen reduziert sich auf die „Neukombination von Informationen“, wodurch Neues oder Ideen entstehen, die einen Nutzen haben (Holm-Hadulla 2011: 7).
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1.3 ANSÄTZE
AUS DER
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K REATIVITÄTSFORSCHUNG
Im Folgenden wird auf die Kreativitätsforschung eingegangen, die eine differenzierte Unterscheidung des Begriffs ‚Kreativität‘ vornimmt. Die Kreativitätsforschung besteht vor allem aus psychologischen, kulturwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Ansätzen und bietet eine differenzierte Auseinandersetzung sowie unterschiedliche Forschungsperspektiven für die vorliegende Forschungsarbeit an. Sie liefert zahlreiche Erkenntnisse über die Entstehung, Bedeutung und Dimensionen von Kreativität und eröffnet mögliche Untersuchungsebenen. Die Kreativitätsforschung ermöglicht es darüber hinaus, Rückschlüsse auf die hinter Metaphern verborgenen Kreativitätskonzepte und Argumentationslogiken zu ziehen und interessensgeleitete Strategien der Förderung bestimmter Formen von Kreativität zu erkennen (vgl. Bröckling 2004: 240). Psychologen haben in den Anfängen der Kreativitätsforschung Bereiche von Kreativität in vier P’s (Person, Process, Product, Press) unterteilt, die bis heute als Dimensionen bei der Untersuchung von Kreativität dienen (vgl. Barron 1969; Rhodes 1961: 307ff). Diese vier Facetten der Kreativität sind zwar meist positiv konnotiert, jedoch wird auch die Zerstörungskraft von Kreativität zunehmend erforscht (vgl. Cropley & Cropley 2013). PERSON Der kreativen Person (Person) wird eine hohe Ambiguitätstoleranz zugeschrieben. Sie zeichnet sich durch Folgendes aus: komplexe und widersprüchliche Situationen können gut ausgehalten und sogar als inspirierend empfunden werden (vgl. Kaufmann 2003). Dazu gehören mehrdimensionale Betrachtungsweisen und gute Konfliktlösungsstrategien. Im Gegensatz dazu stehen schwarz-weißDenkschemata, die letztendlich zur Reduktion komplexer Situationen und Sachverhalte führen. Die Neurowissenschaft geht der Frage nach, wie unterschiedliche Denkweisen im Gehirn identifiziert, bemessen und kreative Prozesse durch Aktivitäten und Verbindung von Synapsen im Gehirn nachgewiesen werden können (vgl. Sternberg 1999b: 3). Dabei wird zwischen konvergentem und divergentem Denken unterschieden. Konvergentes Denken befähigt dazu, gute Leistungen in Bezug auf ein klar dargestelltes Problem zu erzielen, das eine logisch ableitbare Lösung fordert. Diese Form des Denkens löst eine „starke Aktivität kleinerer Gebiete der Großhirnrinde“ aus (Martindale 1999: 138) während divergentes Denken alle Teilbereiche im Gehirn gleichermaßen aktiviert, aber im schwächeren Ausmaß. Diese Verbindung auch entfernter Gehirnareale erlaubt es nach Jansovec (1994) vielseitige und ungewöhnliche Lösungen zu einer Problemstellung zu finden. Divergentem Denken werden Originalität, Flexibilität,
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Ideenflüssigkeit und Problemsensitivität zugeschrieben. Intelligenz und Kreativität sind demnach nicht aneinander gekoppelt. Entscheidend für kreative Leistungen ist die neugierige Suche nach zahlreichen und ungewöhnlichen Lösungen, um eine Informationslücke (Information-Gap) zu schließen (vgl. Golman & Loewenstein 2003). PROCESS Der Prozess (Process) der Kreativität kann sich sowohl auf mentale als auch auf gesellschaftliche Prozesse und Organisationssysteme beziehen: etwa, wenn Wissen in ein neues Licht gerückt wird, ungewöhnliche Perspektiven eingenommen und Unterschiedliches kombiniert werden kann oder wenn neue und alternative Möglichkeiten geschaffen werden (vgl. Cropley & Cropley 2008; Funke 2009; Sternberg 1999a; Wallas 1926). Popitz (2000) unterscheidet drei Wege, wie Neuheiten erzeugt werden. Bei dem ersten Weg wird Neues durch das Entdecken und durch die bewusste Suche nach neuem Wissen, also erkundend generiert. Der zweite Weg kann gestaltend angelegt sein, wenn im Herstellen und Formen von Artefakten Neues erschafft wird. Der dritte Weg, Neues zu kreieren, kann sinnstiftend durch Deuten, Begründen und Rechtfertigen erfolgen. Diese Formen können sich auch überlagern. Formen eines kreativen Prozesses lassen sich in kulturell-künstlerische, wissenschaftliche und technologische Kreativität unterteilen. Kulturell-künstlerische Kreativität unterscheidet sich von technologischer dadurch, dass sie eine Vision oder Idee kreiert, die zunächst neuartig ist. Technologische Kreativität hingegen zielt auf Effektivität ab, die auf dem Markt als nutzbar und wertvoll gilt (vgl. Suwala 2014: 52). Unsworth (2001) kritisiert, dass in die Forschung vorwiegend nur Beispiele erfolgreicher Ideen und Lösungsstrategien aufgenommen werden. Also steht vor allem der wirtschaftliche Nutzen im Vordergrund des Forschungsinteresses. Um anregende Forschungsergebnisse zu erreichen, schlägt Unsworth (2001) vor, die Ausganglage, den Auslöser, der sowohl intrinsisch als auch extrinsisch motiviert sein kann, und die Entstehungsphase der Kreativität zu untersuchen. Dabei unterscheidet Unsworth (2001) zwischen einem bestehenden Problem, welches vor dem Kreativitätsprozess explizit formuliert wurde (closed form), einem Problem, das selbst entdeckt wurde (open form) und dem Auslöser, der entweder von außen oder innen beeinflusst ist. Durch die Kombination dieser Möglichkeiten ergibt sich eine Matrix von vier Typen von Kreativität: (1) Die ‚reaktive Kreativität‘ reagiert auf präsentierte Probleme, die von außen gesteuert und beeinflusst werden (bspw. Think Tanks). (2) Bei der ‚erwarteten Kreativität‘ werden Probleme selbst durchdrungen, sind aber von externen Faktoren abhängig (etwa Kunstwerke). (3) ‚Mitwirkende Kreativität‘ reagiert auf eine formulierte Problemstellung aufgrund der ei-
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genen Motivation. ‚Kreativität, die (4) auf Eigeninitiative‘ beruht, ist weder von außen gesteuert, noch besteht eine bereits dargestellte Problemstellung. Hier wird selbstständig ein Problem definiert (vgl. Unsworth 2001: 294ff). Dieser Form der Kreativität und der Entstehung von Ideen wird innerhalb der Forschung und in der Betrachtung von Problemlösungsprozessen wenig Beachtung geschenkt. Die Aufmerksamkeit wird vor allem auf Innovationen gelegt, die bereits in irgendeiner Form umgesetzt wurden. Innovationen definieren sich hierbei als Einführung einer Neuheit in ein funktionierendes Produktions-, Marketingund Managementsystem sowie dadurch, dass sie messbar und sichtbar sind und von entsprechenden Institutionen gefördert werden (vgl. Cropley et al. 2013). Kandel (2012) vergleicht Wissenschaftler und Künstler in ihrem kreativen Prozess. Ihm zufolge wollen beide etwas Neues erforschen oder gestalten, aber Ziel und Funktion sind unterschiedlich: Das Potenzial der Kunst besteht darin, eine mehrdeutige Blickrichtung zu etablieren und holistisch vorzugehen. Der künstlerisch-kreative Weg gilt als experimentell. In der Kulturgeschichte der westlichen Welt haben Künstler versucht, mit ihren Bildern (auch auf einer Leinwand) eine dreidimensionale Welt zu erschaffen, die ihren eigenen Regeln entspricht. Sie nutzen eigene Tricks, um die Betrachter von ihren Regeln zu überzeugen und sie haben gelernt, nach welchen Regeln die Welt rekonstruiert wird. Kandel (2012) nennt das Bottom-up-Verarbeitung.6 Demnach ist die kulturell-künstlerische Kreativität von gelebten und erfahrenen Werten sowie einer intrinsischen Motivation gesteuert. Sie blendet aber auch erfahrene Werte aus der Umwelt bewusst aus (vgl. Simonton 2000; Amabile1983 zitiert in Suwala 2014: 49). Dagegen verfolgt die Wissenschaft ein anderes Ziel und hat eine andere Funktion: Sie versucht eindeutige Aussagen und Ergebnisse zu schaffen: „Obwohl wissenschaftliche Kreativität vordergründig auf der Entdeckung (discovery) von Neuem (z.B. Idee, Denkstil, Objekt, Verfahren, Prozess) durch eine kognitive Leistung basiert, ist auch eine gewisse Nutzbarmachung (z.B. gesellschaftlicher Nutzen durch Veröffentlichung) erwünscht. In der Regel entspringt wissenschaftliche Kreativität einer Suche (Runco 2007: 390), bei der es darum geht, zu experimentieren und Ideen oder Hypothesen zu formulieren, diese zu testen und die Problemlösungsvorschläge bzw. Resultate
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Das Bottom-Up-Prinzip verfolgt die Strategie, aus der Summe von Einzelheiten ein Gesamtbild zu erschaffen. Diese können aus Farbe, Textur, Position und Bewegung von Formen bestehen. Das Top-down-Prinzip hingegen geht von der Vorannahme aus, dass der Mensch eine konkrete Vorstellung von einem Objekt in seiner Umgebung hat. Aus der Erkenntnis aller Einzelheiten des Objektes, die benannt werden können, formt sich ein Gesamtbild (vgl. Uni-Paderborn 2014: www.*).
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zu kommunizieren (Torrance 1995: 23, Throsby 2010: 15). Sie rührt aus einer Kombination von Logik, Talent, Zufall und Zeitgeist (Simonton 2004: 4).“ (Suwala 2014: 54)
Snow (1965) verwies auf die Kluft zwischen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen. Dabei standen zunächst die Naturwissenschaften den Geisteswissenschaften gegenüber. Die Trennung zweier Denkwelten kann nach Kandel (2012) auch auf künstlerische und wissenschaftliche kreative Prozesse übertragen werden. Heute stellt sich die Frage nach einer dritten Kultur, die diese Gegensätze versöhnt und die Interaktionslücke schließen kann. Das kann gelingen, wenn das Menschsein das Essentielle darstellt und seine Sichtweisen in Forschungsprozesse verstärkt integriert werden. Diese Aussage deutet auch auf das Potenzial hin, zwei unterschiedliche kreative Prozesse zusammenzuführen, um neue Erkenntnisse zu generieren (vgl. Kap 4.1). PRODUCT Das kreative Produkt (Product) kann sich entweder in Sprache, in einem materiellen Produkt, in Methoden oder einer anderen Ausdrucksform widerspiegeln, die sich beispielsweise im künstlerischen Bereich in Kunstwerken und Artefakten zeigen. Das Hauptinteresse von kreativen Produkten wird in der Kunst (Kunst als Innovation), Literatur, in konkreten Entdeckungen, in Wissenschaften (varieties of creativity or world of creativity) und technologischen Innovationen diskutiert (vgl. Krätke 2011: 199; Landry 2008: 12). PRESS Erwartungen aus der Umgebung (Press) beeinflussen die Kreativität. Rhodes (1961) eröffnet die Diskussion der sozialen Kontextualisierung von Kreativität mit der Frage, unter welchen Bedingungen, welche Form von Kreativität entstehen kann und welche gesellschaftlichen Erwartungshaltungen sich an Kreativität richten. Er fragt zudem, welche Problemlösungsstrategien gesellschaftlich als kreativ angesehen werden und unter welcher Bedingung solche Problemlösungsstrategien letztlich für welche Zwecke umgesetzt werden. Innerhalb der Forschung wird daher vermehrt auf die Bewertungsebenen von Kreativität eingegangen: Der Begriff ‚Kreativität‘ beinhaltet daher nicht nur die Ebene, dass Neues entsteht, sondern auch die Bewertungsebene, die eine Idee zunächst als Neuheit begreift und sie letztendlich umsetzt. An diese zweite Ebene der Kreativitätsdiskussion schließen sich Fragen an, ob es Ideen und Neuheiten gibt, die als solche nicht erkannt oder umgesetzt werden (vgl. Merkel 2012: 50). Es gibt unterschiedliche Bewertungsformen auf gesellschaftlicher Ebene innerhalb eines sozialen Kontextes, aber auch im Einzelnen: Was als neu gesehen
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wird, kann je nach Perspektive und Standpunkt variieren: So kann ein Individuum oder eine Gruppe etwas als neu bewerten, was aber gesellschaftlich nicht neu sein muss (vgl. Brodbeck 2006: 4). Das Auftauchen von Kreativität als Ereignis in Form einer Idee und seine Bewertung sind also zwei voneinander zu unterscheidende Prozesse. Damit aus dem Auftauchen von Neuem eine Neuheit wird, muss dieses Neue wahrgenommen, diskutiert und bewertet werden. Daher kann die Bewertung von Kreativität auch als Kommunikations- und Aushandlungsprozess begriffen werden. Der Kreativitätsbegriff bildet demnach die Schnittmenge beider Ebenen (vgl. Brodbeck 2006; Csikszentmihalyi 1999; Merkel 2012: 62ff). Auf individueller Ebene kann eine Eigenbewertung in Bezug auf eigene Problemlösungsstrategien und Ideen stattfinden, ohne dass diese von außen bewertet werden. In diesem Zusammenhang spielen subjektive Kriterien eine Rolle, die als Wertemaßstab gelten (vgl. Holm-Hadulla 2011). Innerhalb einer Gruppe oder innerhalb der Gesellschaft gelten hingegen Normen oder festgelegte Gütekriterien, Logiken und vorherrschende Paradigmen als Maß für die Bewertung von Kreativität. Boden (1994: 6) unterscheidet zwischen persönlicher Kreativität (P-Creativity) und historischer Kreativität (H-Creativity), die gesellschaftlich bedeutsame Errungenschaften hervorbrachte. Eine modifizierte Rangfolge schlägt Suwala (2014: 53) in Anlehnung an NACCCE (1999) vor, die eine feldgebundene Kreativität (F-Creativity) einschließt. Diese bezieht sich auf eine sinnvolle Neuerung in einem bestimmten Fach, Feld oder innerhalb einer Expertengruppe: Die feldgebundene Kreativität lässt sich auch auf den künstlerischen Bereich ausdehnen, wenn dieser nach Luhmann (2002) als systemtheoretisch autonomes Teilsystem der Gesellschaft betrachtet wird. Das künstlerische Feld besitzt eigenständige Regeln und Wertesysteme, nach denen Kunst gehandelt und verhandelt wird (vgl. Bourdieu 2011; Moser 2013; Müller-Jentsch 2012; Mundelius & Fasche 2010). Der Wert der Kunst obliegt eigenen institutionellen Vorgaben. So hat die Kunst nach Lüddemann (2007) seit Beginn der Moderne, eine innovative Schlagkraft erreicht, da die Kunst nicht mehr ausschließlich einem Auftraggeber folgen musste. Nach Held (2007) ist Innovation ein Kennzeichen moderner Kunst (vgl. Held zitiert in Lüddemann 2007: 195). Dabei sind sowohl die Neuerungen im künstlerischen Ausdruck, als auch bearbeitete Themen, Methoden, technische Verfahren und neue Materialitäten gemeint. Dieses Feld mit den einzelnen Akteuren und Rezipienten bestimmt auch, inwieweit eine künstlerische Innovation vorliegt. Dann verlässt die Kunst den Status der Originalität, wird als wertvoll angesehen und ihr wird ein ästhetischer oder auch ein sozialer Nutzen zugesprochen. Somit kann sich die Kunst Markgeboten unterwerfen. Die intrinsische Motivation wird hier von äußeren Erwartungen abge-
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löst. Oder sie stimmt mit einem Zeitgeist überein, der den gesellschaftlichen oder feldgebundenen Wertesystemen entspricht. 1.3.1 Individuelle oder kollektivistische Kreativität? Guilford (1950) unterstützte die individuelle und moderne Kreativitätsforschung durch seine Veröffentlichung ‚Creativity‘. Er hat neue Akzente gesetzt. Das Kreativitätsverständnis wurde auf alle Menschen erweitert und die diskriminierende und ausgrenzende Genie- und Hochbegabtendiskussion beendet (vgl. Brodbeck 2006: 248). Den sozialen Nutzen und die Bedeutung von Kreativität begründet Guilford (1950: 446) mit der Hilflosigkeit der Wissenschaft gegenüber damaligen gesellschaftlichen Herausforderungen, darunter dem Sputnikschock, der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West und dem technologischen Wandel. Er bemängelte, dass Verwaltung und Wissenschaft routinierte Praxen und feste Standpunkte nicht aufgeben konnten, um neue Denkweisen und Visionen zu verfolgen und notwendige neue Ideen zur adäquaten Problemlösung zu generieren. Um diesem Missstand entgegenzuwirken war sein Ziel, ein Instrumentarium zu entwickeln, welches helfen sollte, kreative Begabungen besser einzuschätzen und sie auch schulisch besser zu fördern. Trotz individualistischer Herangehensweise gibt es bei Guilford (1950) kollektivistische und systemtheoretische Bezüge, weil der Aufruf zu Kreativität letztendlich einem gesellschaftlichen Nutzen und der Planbarkeit von Kreativität folgt. Kruse (2011) entwickelte ein Kreativitätskonzept, das ein Pendant zu Guilford (1950) darstellt und sich auf die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Problemlagen bezieht. Die gesellschaftliche Herausforderung sieht er heutzutage in der Zunahme der Vernetzungsdichte, die durch Globalisierung und Digitalisierung entstanden ist. Lineare Prozesse werden durch nicht-lineare Prozesse ersetzt: Die Komplexität und eine damit einhergehende Unberechenbarkeit von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen nehmen zu. Dies erfordert eine neue Legitimation von Entscheidungenstrukturen in komplexen Systemen. Dahinter steht die Frage, wie überhaupt Entscheidungen getroffen werden können. Ein Verfügungswissen, das zielorientierte und schnelle Handlungen impliziert, ist nach Kruse (2011) nicht mehr zeitgemäß. Hingegen könnte ein Orientierungswissen befähigen, Einsichten in Rahmenbedingungen zu erlangen, Zusammenhänge zu verstehen, um letztendlich Muster der Komplexität verlustfrei zu reduzieren. Individuelle kognitive Fähigkeiten reichen nach Kruse hierfür nicht aus. Er beruft sich auf Ashby (1956), der die These proklamierte, dass komplexe Problemstellungen ein komplexes Lösungssystem benötigen. Kollektive Entscheidungsprozesse durch Vernetzung können hierfür nach Kruse (2011) einen
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ersten Lösungsansatz bieten. Hierzu werden psychologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse wie die Funktionsweisen von mentalen Prozessen und des Gehirns auf gesellschaftliche – sowie auf Organisationssysteme übertragen – um Innovationsprozesse zu fördern. Dabei werden Komponenten des Prozesses über drei Charaktere bestimmt: Der Creator, der unkonventionell kreativ denkende Mensch, der Owner, der einen Wissensbereich in seinem Umfang beherrscht, und der Broker, der zwischen wissenden Personen vermitteln kann. Diese Personenkonstellation entspricht im übertragenden Sinne neurologisch einem Gehirn, in dem kreative Prozesse zwischen Erregung, Bewertung, und Lösungsfindung ausgelöst werden. Diese Widersprüche sollen Kreativität steigern. Durch die Zusammensetzung dieser unterschiedlichen Personen soll eine strukturelle Instabilität erschaffen werden. Dazu gehören interne Spannungsverhältnisse, Chaos, Zerstörung, divergente Denkweisen, Diversität sowie die Auflösung stabiler Zustände. Durch gezielte Vernetzungsstrategien können Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Kreativität und Innovation entstehen lassen. Ausgehend von neuen gesellschaftlichen Anforderungen und neuen Problemlösungsstrategien wird Kreativität bewusst initiiert, um neue Antworten zu erhalten. Welche Antworten es auf welche Fragestellung gibt, ist meist abhängig vom Kontext: „Kreativitätsförderung ist Kontextsteuerung – sie schafft nichts, sie ermöglicht“, stellt Bröckling (2004: 240) fest. Vorwiegend in Marketingprozessen und in ökonomischen Bereichen werden neutrale wissenschaftliche Erkenntnisse auf Menschengruppen übertragen, um Ideen und Lösungen zu finden und um diese in ein System zu implementieren. 1.3.2 Ökonomische versus sozial-nachhaltige Kreativitätskonzeptionen Im Kapitalismus entsteht nach Brodbeck (2006: 250) eine „brutalisierte“ und institutionalisierte Form der funktionalen Zweiteilung zwischen Neuheit (Idee) und Wert/Nutzen (Innovation), also auch einer Zweiteilung zwischen Originalität und Effektivität, die vorwiegend technologisch, marktorientiert, aber auch feldgebunden gesteuert wird. Der Zwang zur Generierung von Innovationen nimmt aufgrund der Ökonomisierung und der Schnelllebigkeit von Innovationszyklen im Wettbewerb zu. Neue Produkte und Ideen unterliegen dem Wettbewerb und daher einer ökonomischen Bewertung. Wenn Kreativitätskonzepte konkret an Herausforderungen gesellschaftlichen Wandels ausgerichtet werden, wird durch manipulative Prozesse vorwiegend das gefördert, was für die Erhaltung des Systems notwendig ist. Das kann dem vorherrschenden ökonomischen Paradigma dienen oder den technologischen Innovationen, die entscheidend für
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einen Wachstumsschub sind und letztendlich für einen gesellschaftlichen Wandel. Die Fokussierung auf vorwiegend technologische Innovationen beinhaltet die Gefahr, dass menschliche Aspekte zu Gunsten der technologischen Erhabenheit in den Schatten gestellt werden und der Mensch zum Modell eines rational handelnden homo oeconomicus degradiert wird (vgl. Brodbeck 2006; Foucault et al. 2013). Es wird um divergierende Vorstellungen von Kreativität im Bereich der ‚sozialen Innovationen‘ gerungen, die nicht in den vorherrschenden Kreativitätsdiskurs passen und eine Normabweichung darstellen. So beschreiben Gibson & Klocker (2005: 100), dass alternative kreative Handlungsweisen wie eine soziale und nachhaltige Kreativität, die nicht in das ökonomische und technologische Paradigma fallen, kaum Platz in der gesellschaftlichen Diskussion finden. Diese Handlungsweisen fallen aus dem Paradigma, weil sie zunächst nicht einfach in eine ökonomische Akkumulationsweise übernommen werden können oder selbst Kritik am System üben. Landry (2000) hat auf die Potenziale sozialer Kreativität für die Stadtentwicklung hingewiesen: „Social creativity is a forgotten dimension, undervalued and not seen as innovation. New social institutions are as vital to renewal as new products, services or technology. The same is true of political, environmental and cultural creativity. It is time to move investment away from technologically driven innovations to how we live, how we organize and how we relate to each other.“ (Landry 2000: 17)
Bis zur Finanzkrise 2008 wurde innerhalb der wissenschaftlichen (stadt-)geographischen Debatte weitgehend soziale Kreativität vernachlässigt. Kritische Auseinandersetzungen, die den Kreativitätsdiskurs als Wundermittel in Politik, Wirtschaft und in Kultur und die von Florida (2005a) angestoßene ‚KreativeStadt-Debatte‘ in Frage stellten sowie die Kurzlebigkeit von Innovationen hinterfragten, wurden zwar schon zuvor geführt, nehmen seither aber zu (vgl. HolmHadulla 2011; Peck 2008; Rauning & Wuggenig 2007: 9ff; Siebel 2013). Bis dahin waren soziale Wirklichkeiten und zentrale städtische Probleme nach Scott (2007) vielfach verschleiert worden. Vernachlässigt wurden auf städtischer Ebene auch die sich verstärkende Polarisierung zwischen Arm und Reich, veränderte städtische Arbeitsmärkte und die damit einhergehenden räumlichen Fragmentierungs- und Segregationsprozesse. Selbst Florida et al. (2013) räumten ein, dass sich der aus der Anwendung des Kreativen-Stadt-Konzepts versprochene Wachstumseffekt für die Gesamtstadt nicht einstellte, sondern dass Städte mit einer hohen Anzahl von Kreativen einen besonders hohen Segregationsindex aufweisen. Studien haben belegt, dass die Ungleichheit in solchen Städten sogar
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zugenommen hat. Das liege daran, dass die Schattenseiten der Kreativitätswirtschaft, wie die prekäre Arbeitssituationen ignoriert und die Entwicklung des Immobilienmarktes wenig beachtet wurden (vgl. Kotkin 2013: www.*; Rauning & Wuggenig 2007; Scott 2007: 1472). Eine weitere Ambivalenz zeigt sich in den Forderungen der Kreativen nach Selbstständigkeit und Kooperation. Diese wurde euphemistisch als Maßstab der neuen Arbeitswelt übernommen, ohne die weiteren Folgen zu thematisieren (vgl. Lange & Bundesinstitut für Bau- Stadtund Raumforschung 2011: 8). So beschreiben Boltanski & Chiapello (2006) das Phänomen, dass diese Forderungen (auch Künstler-Forderungen genannt) sowie Gegenkulturen in den derzeitigen neuen ‚Geist des Kapitalismus‘ aufgenommen werden und sich in der New Economy wiederfinden: „Die ehemalige antikapitalistische Künstlerkritik von 1800-1968, die Kritik an der Entfremdung im Namen der Selbstverwirklichung, Kooperation und Authentizität ist in das aktuelle projektorientierte Arbeiten und in die Organisation mit ihren flachen Hierarchien bereits eingebaut.“ (Reckwitz 2012: 15)
Dies bedeutet konkret, dass eine weitere Auflösung von typischen Arbeitsformen durch Flexibilisierung und Deregulierung stattfindet, was zu prekarisierten Arbeitsverhältnissen und neuen Alltagsroutinen führt (vgl. Vogelpohl 2012). Diese existenzielle Unsicherheit der prekär Beschäftigten bewirkt, dass eine weitere soziale Gruppe den städtischen Preissteigerungen nicht Stand halten kann und potentiell von Verdrängung bedroht ist. Dies löst innerhalb der Stadtforschung Diskussionen über neue Vergemeinschaftungsformen, alternative Ideen des miteinander Lebens und Arbeitens sowie in der Bevölkerung Interesse an der Gestaltung des urbanen Umfelds aus. Diese Aspekte können ebenfalls als Ausdruck städtischen kreativen Handelns gewertet werden. Dazu gehören neue konsumptionale Entwicklungen wie Share Economy und die Do-it-yourselfBewegung, die Selbstorganisation und Re-Organisation des Städtischen, die Sicherung nachhaltiger Lebensweisen innerhalb der Stadt sowie die Entwicklung kooperativer Formen als Reaktion auf die existenzielle Unsicherheit (vgl. Krieger 2014: www.*; Nicolaus 2014; Urbanize 2014: www.*). Die Kreativitätsforschung eröffnet die Diskussion, in welchem Feld, welche Form von Kreativität stattfindet und wie Künstlern und ihrer Kunst außerhalb des gängigen Effektivitätsschemas einen Platz für eine gemeinsame Diskussion von Ideen sowie Visionen von städtischen Entwicklungsprozessen eingeräumt werden kann. Dies ist als experimentelle Herangehensweise zu verstehen, die nicht nur wissenschaftliche, sondern auch künstlerische Denkschemata berücksichtigt. Hier könnten sich ebenfalls wissenschaftliche Fragen anschließen wie:
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Welche Ziele verfolgt eine soziale Kreativität? Zeigen diese Ziele den Wandel der Gesellschaft und einen bevorstehenden Wertewandel auf? Sind sie wiederum Ausdruck einer geförderten Kreativität? Welche kreativen Prozesse bleiben außen vor? Der Begriff ‚Kreativität‘ umfasst Eigenschaften des Menschen, von Handlungen sowie Bewertungs- und Aushandlungsprozessen und kann als Teilprozess einer Innovationsleistung verstanden werden. Dabei spielen die Ressourcen, die Anwendungsfelder, die Motivation sowie die Innenperspektive, wie etwa die Wahrnehmung, oder auch die Außenperspektive des Handelns und die Situation eine Rolle. Aber Kreativität kann auch konsumorientiert betrachtet werden. Das heißt, Kreativität kann je nach Forschungsinteresse individuell, kollektiv, systemtheoretisch, prozessual, auch als sozialer Prozess betrachtet werden (vgl. Brodbeck 2006: 248). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich in den letzten Jahren vorwiegend technologische und wirtschaftliche Konzeptionen von Kreativität durchgesetzt haben und die Grundlage für stadtpolitische Strategien bilden. Die Frage ist, ob menschliche Ideen und Bedürfnisse überhaupt durchdringen und eine gesellschaftliche Relevanz bekommen, wenn ökonomische Logikmuster unsere Welt bestimmen? Laufen Ideen und alternative Vorstellungen Gefahr, als nicht kreativ zu gelten, wenn sie weder in die unternehmerische Denklogik fallen noch als Innovation auf den Markt gebracht werden? Künstlerischer Kreativität wird ein großes Potenzial zugeschrieben, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu reflektieren. Künstlerische Kreativität gilt als Wesensmerkmal eines kreativ denkenden Menschen, wie eines Künstlers. Sie kann aber auch als eine Möglichkeit verstanden werden, gesellschaftliche Prozesse zu denken, die nicht in die vorherrschende Logik eingebettet sind.
1.4 K REATIVITÄT
UND
S TADT
Viele umfangreiche Studien zielen darauf ab, Handlungsfelder für stadtplanerische Prozesse zu bestimmen und anwendungsorientierte Lösungsmodelle vorzuschlagen, die in der Lage sind, das städtische Umfeld gegenüber Kreativen und Kreativität zu öffnen (vgl. Helbrecht 1996; Kunzmann 2011; Lange 2009). In diesem Rahmen sind zahlreiche Bezüge zu Kunst und Stadt zu finden. Kunst wird vielfach als Hoffnungsträger stadtentwicklungspolitischer Prozesse verhandelt und gilt als fester Bestandteil zahlreicher städtischer Leitbilder und Stadtentwicklungsprogramme. Er gilt aber auch als Image- und Marketingfaktor für Touristen, als zentraler Wirtschaftsfaktor für eine ökonomische Standortpolitik
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und wurde als gezieltes Instrument und Medium von urbanen Aufwertungsprozessen und als Stärkung von Identitätsfaktoren von Städten gesehen (vgl. Hildebrandt 2012; Kulmer 2008; Rode et al. 2009; Springer 2007). So werden beispielsweise Zwischennutzungskonzepte in die städtische Verwertungslogik eingebunden, indem Künstler Nischen wie Brachflächen, leer stehende Gewerbe- und Wohnflächen nutzen und eine Transformation des Gebietes bewirken können. Dies geschieht nach Zukin (2006) durch einen positiven Imagetransfer beziehungsweise durch ein Reframing, indem kulturelles Kapital in symbolisches und ökonomisches verwandelt wird. Des Weiteren gelten städtische Freiräume als Experimentierflächen für neue Arbeitsformen und Innovationen. Hier sind Kunst und Künstler wichtige Faktoren, um Stadtgebiete attraktiv zu gestalten und weiche Standortfaktoren zu schaffen (vgl. Springer 2007: 107). Mit diesem Kreativitätsprinzip werden nach Peck (2008) die vorherrschenden Formen einer neoliberalen Stadtplanung sukzessive weitergeführt, vor allem dort, wo die soziale Infrastruktur abgebaut, der öffentliche Dienst eingeschränkt und eine wettbewerbsorientierte Standortpolitik betrieben wird. Beinahe subtil rechtfertigt das Kreativitätsprinzip „eine regressive Umverteilung innerhalb der Stadt“ (Peck 2008: 2), die zugunsten der Kreativen in dem Forschungs- und Entwicklungssektor ausfällt. Ihnen soll eine lebendige Urbanität mit einer Kunstszene und möglichen Kreativräumen angeboten werden, damit sie als hochflexible und mobile Talente der Stadt möglichst lange als kostbare Ressource zur Verfügung stehen, sich durch das kreative Umfeld weiter inspirieren lassen und zum städtischen ökonomischen Wachstum beitragen. Innerhalb der von Florida (2004) angestoßenen Debatte über die drei T‘s (Technologie, Talent und Toleranz) gelten Künstler insofern als Inbegriff von Toleranz und Offenheit, als dass sie durch den Austausch neuer Ideen ein günstiges Innovationsklima induzieren. Künstler sollen in diesem Sinne ihren Beitrag zu einem guten Geschäftsklima in Städten leisten (vgl. Kirchberg & Kagan 2013; Molotch & Treskon 2009). Diese urbane Atmosphäre herzustellen, wird als neuer Imperativ der Städteentwicklung gesehen. Dieser Imperativ kann aber auch zu Lasten der Kreativen wie der Künstler gehen: Künstler sollen durch ihr kulturelles Kapital Räume formen, die als ‚angesagte Viertel‘ für die Kreativen im Forschungs- und Entwicklungssektor attraktiv sind. Zahlreiche Künstler gehören allerdings langfristig selbst zu denjenigen, die aus diesen Räumen verdrängt werden (vgl. Kahoutek & Kamleithner 2006). Daher weisen Kritiker des Kreativitätsdiskurses auf die Gefahr hin, dass schöpferische Praxen vor allem im Umfeld von Künstlern und die dort oftmals vorherrschenden prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen idealisiert und verallgemeinert werden (vgl. Bröckling et al. 2004; Götz & Lemberger 2009; Rauning & Wuggenig 2007).
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In akademischen Debatten haben vorwiegend kulturgeleitete Ansätze die Verbindung von Künstlern, quartiersbezogenen Aufwertungsprozessen und gesellschaftlichem Wandel hergestellt. Das Invasions-Sukzessionsmodell beispielsweise diente als nachfrageorientiertes Erklärungsmodell für Gentrifizierungsprozesse (vgl. Blasius 1993; Clay 1979). Das vierstufige Modell beschreibt einen doppelten Austauschprozess eines Gebietes von Alteingesessenen durch Pioniere, die durch symbolische Aufwertung einen Nachfragedruck von Menschen mit urbanem Lebensstil und geringerer Risikobereitschaft erzeugen. Pioniere werden wiederum von diesen Menschen verdrängt. Nach Holm (2010: 70ff) lassen sich zu jeder dieser Phasen der Gentrifizierung Verknüpfungen zu Kunst und zu Künstlern ziehen. Künstler gelten als Subgruppe der Pioniere mit selbstorganisierten Clubs, unkommerziellen Projekten, Kooperationen, Galerien und Performance-Räumen. In der zweiten Stufe beginnt die symbolische Aufwertung der bislang vernachlässigten Gebiete, wodurch deren Image aufgewertet wird. Dadurch steigt die Nachfrage nach diesen Gebieten und somit auch die Mietund Bodenpreise. Der Lebensstil der neu Zugezogenen steht in Konflikt mit den subkulturellen Lebensstilen, sodass Künstler aufgrund dieser Aufwertung- und Konfliktsituation die Gebiete verlassen (vgl. Helbrecht 1996: 2f; Kirchberg & Kagan 2013: 140ff; Lloyd 2010; Zukin 1990;1991). Holm (2014) kritisiert die alleinige Verwendung von nachfrageorientierten Ansätzen, die im Wandel der Lebensstile, Konsumverhalten, Arbeitsgrundlagen oder der Demografie den Erklärungsansatz von Gentrifizierungsprozessen sehen. In diesen Konzepten verschleiern die personalisierten Debatten um Künstler marktwirtschaftliche Prozesse und Verwertungsinteressen von globalen Immobilienmärkten. Diese Prozesse sind durch die Privatisierung und staatliche Deregulierung entstanden und haben größere Einflüsse auf Verdrängungsprozesse als Präferenzen und Handlungen von Künstlern. In die Erklärung dieser Prozesse wurden angebotsorientierte Ansätze aus angloamerikanischen Debatten einbezogen. Sie stellten Fragen nach der Bedeutung von kulturgeleiteten Strategien, um Städte aus der Krisenhaftigkeit und hin zur Regeneration zu führen (vgl. Smith 1982;1987). Innerhalb der Ausweitung der unternehmerischen Stadtlogik kamen dem Künstler in den Gentrifizierungsprozessen als „potentieller Aufwerter“ (Holm 2014: 103) und als Verdrängter eine doppelte und zugleich widersprüchliche Rolle zu. Daraus ergaben sich neue Debatten über die Rolle von Kunst und Künstlern innerhalb der Stadt (vgl. Harris 2012; Ley 2003). Dabei wurde das emanzipatorische und politische Potenzial von Kunst als Reaktion auf die zunehmenden Verwertungsinteressen thematisiert. Kunst, die nicht auf kommerzielle Ziele ausgerichtet ist, sondern gesellschaftliche und politische Aussagen transportiert und Visionen entwickelt, galt in den durch den kul-
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turellen Aufbruch ab 1968 geprägten Jahren noch als Bestandteil einer Gegenkultur (vgl. Babias 2006: 106). Mittlerweile werden Werte von Gegenkulturen gewissermaßen als Mainstream von den meisten Menschen akzeptiert. Deswegen haben diese Werte ihre Sprengkraft verloren und werden Antriebsfaktoren des sich wandelnden Kapitalismus. Insofern werden Kunst und Kunsträume, die nicht kommerziell agieren, entweder verdrängt oder als neue Kreativschmieden tituliert: „Kreative Räume in einer Stadt sind gesellschaftliche Laboratorien auf Zeit, in denen neue Lebens- und Arbeitsformen erprobt werden. Sie sind Pionierräume, in denen gesellschaftliche Entwicklungen vorweggenommen werden.“ (Ebert & Kunzmann 2007: 65)
Als Ausdruck alternativer – oftmals aus einer Notwendigkeit entstandenen – Lebensformen, werden Kreativräume und die damit neu entstandenen Arbeits- und Lebensweisen in Potenziale für eine Vermarktung transformiert. Anknüpfend daran, zeigt Kirchberg (1998) auf: „Nur die Aspekte der Stadtkultur können langfristig überleben, die sich mit der Wachstumskoalition, nicht gegen sie entwickeln. ‚Alternative‘ oder Avantgarde-Kultur, die ihr Image aus ihrer Gegnerschaft zur Wachstumskoalition schöpfen, bleiben unwichtig und verschwinden wieder oder sie steigen in die Ränge einer etablierten Kultur auf, weil sie sich in die Koalition integrieren lassen, sich also für die Zwecke der Wertsteigerung von Grund und Boden vereinnahmen lassen.“ (Kirchberg 1998: 44)
Durch die künstlerische Aneignung von Räumen können neue verwertbare Lifestyle-Produkte und Images entstehen. Diese Art von Kunst wird zwar nicht direkt durch den Marktwert, aber indirekt durch die Entstehung von symbolischem Kapital und durch ihren Modellcharakter kommerzialisiert (vgl. Babias 2006; Kulmer 2008). Lewitzky (2005) untersuchte unter den Vorzeichen der postmodernen Stadtgesellschaft, welche Funktionen ‚Kunst im öffentlichen Raum‘ oder ‚Kunst im öffentlichen Interesse‘7 hat, welche Einflussmöglichkeiten sie auf politische Pro7
Es können drei unterschiedliche Bezüge von Kunst und öffentlichem Raum hergestellt werden. Es kann zwischen ‚Kunst im öffentlichen Raum‘, ‚Kunst als öffentlicher Raum‘ und ‚Kunst im öffentlichen Interesse‘ unterschieden werden. Unter ‚Kunst im öffentlichen Raum‘ sind Skulpturen oder künstlerische Mahnmale zu verstehen, die auf öffentlichen Plätzen platziert werden. Die ‚Kunst als öffentlicher Raum‘ schafft durch Kunstpraktiken eigene Kommunikationsräume oder alternative Öffentlichkeiten. ‚Kunst im öffentlichen Interesse‘ setzt sich u.a. mit (stadt-)politischen Frage-
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zesse haben und ob sie als Anti-Gentrifizierungs-Maßnahme eingesetzt werden könnten. Kunst wurde als Türöffner partizipativer Stadtgestaltung verstanden, insofern sie auf Missstände in bestehenden Beteiligungsprozessen innerhalb der Stadtpolitik aufmerksam macht. Diese Kunst ist prozessual und interventionistisch angelegt, berücksichtigt den sozialen und ortspezifischen Kontext und bindet die lokalen Bevölkerungsgruppen mitein (vgl. Grothe 2005; Lewitzky 2005: 85ff). Vor diesem Hintergrund entstanden weitere Forschungsarbeiten, die den Fokus auf die Wechselseitigkeit von Kunst, Partizipation, Öffentlichkeit und Stadt vertieften und die Widerständigkeit künstlerischer Mittel gegenüber städtischen Verwertungslogiken untersuchten. Das Potenzial der Kunst in dieser Funktion wurde darin gesehen, dass Kunst differenzierter mit der Öffentlichkeit umgehen kann, als die stadtplanerische Ebene (vgl. Hawkins 2013; Mader 2015). Einerseits werden gesellschaftliche und soziale Themenfelder innerhalb dieser Kunst angesprochen und das Publikum in künstlerische Prozesse integriert, wodurch eine Demokratisierung und Öffnung der Kunst vorangetrieben werden soll. Andererseits sind die Künstler nach Kwon (2002) in ihren künstlerischen Handlungen in die Logik der Schaffung von Orten involviert und somit in die Reorganisation ökonomischer Verhältnisse eingebunden. Deutsche (1988; 1996) thematisiert in ihren Essays bereits diese Ambivalenz, die Kunst im ‚öffentlichen Raum‘ bzw. im ‚öffentlichen Interesse‘ einnehmen kann. Künstler, die sich ursprünglich gegen die ökonomische Verwertungslogik des Kunstmarktes richten und daher außerhalb institutioneller Rahmenbedingungen arbeiten, suchen nach Einmaligkeit und Authentizität ihres künstlerischen Schaffens im öffentlichen Raum. Dieser Gedanke wird von der ‚unternehmerischen Stadt‘ aufgenommen, indem Kunst in dieser Funktion als weicher Standortfaktor in die städtischen Verwertungsprozesse integriert wird (vgl. Lewitzky 2005: 92). Des Weiteren kann Kunst, die ursprünglich auf ein öffentliches Publikum abzielt, auch zur Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten und zur Verdrängung sozialer Gruppen beitragen, indem sie beispielsweise durch ihre künstlerische Vorgehensweise eine soziale Ausgrenzung fortschreibt. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn der öffentliche Raum in seiner materiellen und normativen Konstituierung Nutzergruppen im Vorfeld ausschließt. Das bedeutet auch, dass die Kunst in diesem öffentlichen Bereich nur von diesen Nutzergruppen des Raums rezipiert wird. Kunst sollte daher nach Auffassung von Deutsche (1988: 11) eine politische Funktion einnehmen. Das kann nur gelingen, indem die eigene Kunstpraxis unter den Vorzeichen des gesellschaftlistellungen auseinander. Es werden soziale Fragen aufgenommen und die Rezipienten in den künstlerischen Prozess in einer partizipatorischen Funktion integriert (vgl. ausführlich hierzu Hildebrandt 2012: 726ff).
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chen Wandels reflektiert und das dadurch neu entstandene Verhältnis zwischen Kunst und Raum ausgelotet wird. In diesem Zusammenhang ist der öffentliche Raum keine festgeschriebene und für sich stehende Größe, sondern er wird durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen immer wieder neu konstituiert. In diesem Zusammenhang findet sich die ambivalente zugesprochene Rolle von Künstler und Kunst in der ‚unternehmerischen Stadt‘ wieder, die sie z.T. bewusst oder unbewusst einnehmen, indem sie sich der unternehmerischen Logik anpassen oder versuchen, sich ihr entgegenzustellen. Mittlerweile werden künstlerische Beteiligungsprojekte bewusst von stadtplanerischer Ebene initiiert, gerade dann, wenn um Legitimation bestimmter Projekte gerungen wird oder wenn eine offene Atmosphäre bei lokalen Krisenerscheinungen geschaffen werden soll (vgl. Kwon 2002: www.*; Wagner 2013). Freie Künstler können daher sowohl als integrierter wie auch als marginalisierter Bestandteil im städtischen Verwertungsprinzip betrachtet werden. Einerseits sind sie mit sozialem und kulturellem Kapital ausgestattet und beliefern die städtische Wertschöpfung indirekt mit Humankapital (Kreativität, Schaffung eines innovativen städtischen Umfelds), andererseits bleiben sie marginalisiert (prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse). Trotz dieser ambivalenten Rolle verweisen Hildebrandt (2012) und weitere Autoren (vgl. Kagan 2011; Kirchberg & Kagan 2013; Pinder 2005) auf eine privilegierte Position der Kunst: Städtische künstlerische Praktiken haben demnach das Potenzial soziale Themen zu beobachten und zu visualisieren. Sie generieren Gesprächspotenzial zu Ideen, Positionen und Entwürfe zu „alternativen Stadtnutzungen“ und zu „möglichen Entwicklungen des urbanen Gemeinwesens und demokratischen Prozessen“ (Hildebrandt 2012: 722).
1.5 K ÜNSTLER , K UNSTPRODUKTE P RODUKTIONSWEISEN
UND
Um mich der Fragestellung zu nähern – inwieweit Künstler sowie ihre raumbezogene Kunst als Mittel und Methode gesehen werden können, Kritik an der gegenwärtigen Stadtplanung und den städtischen Krisen zu äußern sowie Visionen für eine zukünftige Urbanität zu erzeugen – werden die aus der Kreativitätsforschung bereits aufgeführten Dimensionen von Kreativität, Person, Process, Product und Press genutzt (vgl. Kap. 1.3): Sie entsprechen in etwa der in der Kunstsoziologie etablierten Einteilung in (1) Künstler, (2) künstlerische Produktionsweisen, künstlerisches Handeln und Prozesse, (3) in Kunstobjekte/Kunstwerke und in ein (4) Umfeld, in dem sich die Künstler bewegen. In der letztgenannten
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Dimension werden auch Kategorien wie die künstlerische Wahrnehmung des Umfeldes, die Rezeption und die Bewertungsformen einer künstlerischen Position gezählt (vgl. Danko 2012: 16ff). Ziel dieser Einteilung ist, zunächst ausgehend von dem dargestellten Forschungsstand den Fokus auf Künstler, Kunst und ihr Umfeld Stadt zu legen, die Forschungslücke herauszuarbeiten, um schließlich ein für die vorliegende Arbeit gültiges Verständnis der jeweiligen Dimensionen abzuleiten. Dieses Verständnis dient als Basis für das weitere wissenschaftliche Vorgehen und in Folge für die Formulierung von Unterfragestellungen. Des Weiteren soll diese Basis einen Ausgangspunkt darstellen, um Bezüge zu weiteren theoretischen und methodischen Überlegungen und zu den einzelnen Kapiteln herzustellen. 1.5.1 Künstler Es gibt zahlreiche divergierende Vorstellungen davon, welche Aufgaben, Bedeutungen und Funktionen Künstler und Kunst haben sollen. Die Fragen, ob und unter welchen Bedingungen Kunst frei und autonom sein kann und welcher Spielraum für Kunst existiert, werden in der Kunstsoziologie, in der kritischen Theorie sowie der Kunsttheorie ebenso verhandelt wie die Frage, welche repräsentativen Aufgaben Kunst übernimmt. In der Kunsttheorie existieren zwei widersprüchliche Sichtweisen, wie Kunst und Künstler gesehen werden können, die sich an die Kreativitätsdiskussion um kollektivistische oder individualistische Perspektiven anlehnen (vgl. Danko 2012: 18ff; Nippe 2011: 20f; Rebentisch 2013: 165ff). Aus der individualistischen Perspektive wird der Künstler als jemand verstanden, der über eine besondere Schöpfungsgabe verfügt, die direkt an seine Kunst und sein Kunstwerk gekoppelt ist: Der Künstler verfügt über sinnstiftende Fähigkeiten und Perzeptionsmöglichkeiten, die andere Menschen nicht mit ihm teilen oder teilen können. Der Künstler besitzt demnach ein sogenanntes Vermögen, aus sich selbst heraus zu schöpfen (vgl. Kap. 1.3.1). Ein Kunstwerk entsteht, dessen Entstehung unerklärlich erscheint. Die Wertschätzung der Kunst ist in dieser Sichtweise an die Rolle des Künstlers geknüpft, so dass der Künstler – um seinen Sonderstatus in der Gesellschaft zu verteidigen – kein Interesse hat, den Prozess der ‚mystischen‘ Werkentstehung zu offenbaren (vgl. Tröndle 2012: 172). Diese Perspektive wurde etwa in der Renaissance durch den Geniekult besonders gepflegt. In dieser Zeit kam es zu einer Aufwertung und zur Statusveränderung des Künstlers und der Künste: Der Künstler wurde nicht mehr als Handwerker gesehen, sondern als Subjekt, das mit Eigenschaften wie Individua-
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lität, Authentizität, Originalität und Kreativität beschrieben wurde (vgl. Nippe 2011: 21; Tröndle 2012: 171). Die andere Perspektive, vorwiegend soziologisch und kollektivistisch geprägt, begreift den Künstler in einem gesamtgesellschaftlichen System. Die individualistische Argumentation – die eine völlige Autonomie des Künstlers impliziert – wird in der kollektivistischen Sichtweise hinterfragt. Stattdessen werden der Künstler und seine Kunst gesellschaftlich kontextualisiert. In dieser Perspektive werden zudem seine möglichen gesellschaftlichen Rollen näher betrachtet. So werden gesellschaftliche Rollenerwartungen an den Künstler herangetragen oder Rollen werden von den Künstlern selbst definiert (vgl. Danko 2012: 7). Seit Ende der 60er Jahre haben sich Diskurse über den ‚Tod des Autors‘ entwickelt, in dem der Rezipient mehr Autorität erlangte und in Folge die Rolle des Künstlers immer mehr zurückdrängt wurde (vgl. Foucault 1974). Kwon (2002) sieht eine Verschiebung in der Autonomie des Künstlers in seiner Autorenschaft hin zu einer Unterteilung in mannigfaltige partizipative, künstlerische, kreative Prozesse, Projekte und Handlungen, in denen Produktion, Interpretation, Rezeption und Konzeption mit dem Umfeld und den Rezipienten im Wechselspiel stehen (vgl. hierzu auch Michalka et al. 2006: 8). Dem Künstler wird in dieser Perspektive durchaus ein besonderes Talent unterstellt. Dieses ist meist auf seine kreative künstlerische Tätigkeit und Praxis bezogen und auf die Fähigkeit, sich auf multisensualen Ebenen auszudrücken zu können (vgl. Kirchberg & Kagan 2013). Die individualistischen und kollektivistischen Perspektiven verschwimmen sehr häufig in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um Künstler (vgl. Kap. 1.4). Ein Beispiel dafür ist die in der Geographie geführte ‚Kreative-StadtDebatte‘, in der eine begriffliche Trennung zwischen Kunst und Künstlern fehlt. Das liegt daran, dass beides in den letzten Jahren innerhalb einer unternehmerischen Stadtpolitik funktionalisiert wurde. Übergeordnet ging es um die Kreativität und das kulturelle Kapital der Künstler, welches beides einen einseitig ausgerichteten Beitrag auf unterschiedlichen Ebenen für die Stadtentwicklung liefern konnte. Daher lag auch oftmals der wissenschaftliche Fokus auf dem ökonomischen Mehrwert in Form von Innovationen, weniger auf einem künstlerischen Produkt, das einen, auch möglicherweise raumbezogenen, Inhalt oder eine Idee transportieren kann. Die Lebenswirklichkeit und der Alltag des Künstlers wurden außerdem nicht betrachtet. Für die vorliegende Forschungsarbeit ist es wichtig, diese Unterscheidungen zu treffen, da ich einerseits den Künstler in seinem städtischen Umfeld sehe, andererseits die entstandenen künstlerischen Produktionen hinsichtlich meiner Fragestellung auswerte. Des Weiteren vertrete ich den Standpunkt, dass diese drei Komponenten Kunst-Künstler-Umfeld (Gesellschaft/Stadt) in einem wechselsei-
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tigen und zeitlichen Verhältnis zueinander stehen. Ich folge nicht einem elitären, geniebezogenen und rein individualistisch geprägten Verständnis von Künstlern. Vielmehr sollen im Folgenden Lefèbvres (1974) Überlegungen zu der ‚doppelten Triade‘ (vgl. hierzu auch den Exkurs: Experimental Geography und doppelte Triade) aufgegriffen werden, um bestehende Dualismen zwischen individuellen und kollektiven Perspektiven, Handlung und Struktur, Subjekt und Objekt zu überdenken.8 EXKURS: STRUKTUR UND HANDLUNG Die handlungsorientierte Sozialgeographie stellte nicht den Raum in den Fokus des Erkenntnisinteresses, sondern die subjektiven Ziele, Entscheidungsprozesse und Handlungen von Individuen und Akteuren anknüpfend an Sinnund Wertvorstellungen in Bezug auf die Rechtfertigung ihrer Umsetzung. Räume sind dabei nicht als vorgegebene Container (absolutes Raumverständnis) zu verstehen, in denen soziale Prozesse ablaufen. Stattdessen wirken subjektive Handlungsziele auf den Raum konstituierend ein und sind als Ergebnis eines Geographie-Machens zu werten (vgl. Weichhart 2008; Werlen 1997). Dabei sind die handelnden Individuen nach Werlen (1997) gleichzeitig in einen sozialen und normativen Kontext eingebunden. Dieser mikroanalytische Ansatz geht vom Subjekt und einer individualistischen Methodologie aus. Als Grundlage dient die Drei-Welten-Theorie, die wiederum auf dem Konzept der Drei-Welten-Lehre von Popper basiert (vgl. Schmid 2010: 232). Sie beinhaltet drei unterschiedliche Welten: Die erste Welt ist die Außenwelt, die physikalische Welt mit materiellen Objekten (materielle Welt). Die zweite Welt beinhaltet das subjektive Empfinden und das Bewusstsein (mentale Welt mit Gefühlen) sowie Erfahrungen aus dem Alltagsleben. Die dritte Welt bezieht sich auf die objektivierbaren Gedankenprozess, die „Welt der möglichen Ge-
8
Ein grundlegendes ontologisches Problem ist, die Makro- und Mikroebene theoretisch miteinander zu verbinden. Die Wissenschaft spricht von einem MikroMakroproblem oder Dualismus-Problem, das die Frage beinhaltet, wie zwei unterschiedliche erkenntnistheoretische Zugänge zusammengebracht werden. Giddens (1988) greift dieses Problem in seinem ‚Strukturationsmodell‘ auf, das die handlungsgeographischen Ansätze mitgeprägt hat: der handelnde Akteur agiert nicht losgelöst von gesellschaftlichen Strukturen sondern in vorgegebenen Umständen. Der Akteur ist somit in seinen gesellschaftlichen Kontext eingebunden, welcher damit seine Handlungsweise maßgeblich mitbestimmt (vgl. Reuber 2001; Werlen 2008).
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genstände des Denkens“ (Schmid 2010: 232), die Welt des Wissens und der logischen Auseinandersetzungen. Dazu gehören Sprache, Institutionen und die soziale Welt. Die zweite Welt wird als Scharnierfunktion zwischen der ersten und dritten Welt verstanden. Solange die Gedanken nur gedacht werden, gelten sie als subjektiv und der mentalen Welt zugehörig. In dem Moment, in dem Ideen und Gedanken geäußert werden, nehmen sie einen objektiven Charakter an. Sie sind nicht länger allein vom Subjekt abhängig und nehmen schließlich den gesellschaftlichen Charakter von Argumenten und Ideen an. Die erste und dritte Welt sind objektiv und die zweite gilt als subjektiver Teil, der zwischen den beiden Welten nicht nur vermittelt, sondern auch durch das Erkennen und durch persönliche Erfahrungen eine wechselseitige Beziehung herstellt (vgl. Schmid 2010: 232). Lefèbvre (1974) bezieht sich ähnlich wie die Drei-Welten-Theorie, auf der die handlungsorientierte Sozialgeographie basiert, auf drei Raumkategorien. Er entwickelt jedoch in seinem Ansatz der Raumproduktion ein anderes Verständnis davon, ob eine Raumkategorie individualistisch und gesellschaftlich gedeutet werden kann. Schmidts Interpretation von Lefèbvres Raumkonzeption sieht wie folgt aus: Der ‚mentale Raum‘ wäre demnach objektiv, wenn Konzepte und Leitgedanken eine gesellschaftliche Gültigkeit bekommen und Einfluss erlangt haben. Diese sind in der ‚Repräsentation des Raumes‘ zu finden. Der ‚soziale Raum‘ ist bei Lefèbvre hingegen subjektiv, da er erlitten und erfahren wird. Schmid (2010) verweist des Weiteren auf die Ambivalenz, dass ‚sozial‘ im Sprachgebrauch mit gesellschaftlichen Prozessen verbunden ist und die Begriffe ‚sozial‘ und ‚subjektiv‘ sich normalerweise ausschließen würden. Dies sei aber nur dann der Fall, wenn subjektiv als individualistisch im Sinne einer individualistischen Perspektive von Popper und Werlen (1997) verstanden werden würde. Daher geht Lefèbvre nach Schmidt (2010) implizit in seinen Raumkonzepten auf das Dualismus-Problem der Trennung von Subjekt und Objekt ein: „Lefèbvre geht von einer dialektischen und materialistischen Konzeption der Gesellschaft aus und damit vom Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft. In einer solchen Konzeption gibt es kein subjektives Zentrum des Handelns: Aktionen wie Akteure sind immer zugleich individuell und gesellschaftlich. Dementsprechend sind sowohl das ‚Mentale‘ oder ‚Konzipierte‘ wie auch das ‚Soziale‘ und ‚Erlebte‘ in dieser Widersprüchlichkeit zu fassen. Während ‚objektive Konzepte‘ oder ‚Gedankenformen‘ einer individuellen Interpretation offenstehen und ohne diese individuelle Interpretation oder Aneignung gar nicht gesellschaftlich wirksam sein könnten, ist das Erlebte
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zwar subjektiv, jedoch gesellschaftlich hergestellt. In diesem Sinne erscheint das ‚Subjektive‘ geradezu als Kern des Sozialen, mithin von gesellschaftlichen Beziehungen und Bindungen, die ja immer auch Gefühle beinhalten – Liebe, Begehren, Wut, Hass, Trauer [affektive Dimensionen, Anm. der Autorin.] und somit subjektiv erfahren und erlitten werden. Damit ist ein radikaler Positionsbezug verbunden. Der Mensch ist nicht nur ein rational kalkulierendes Individuum, sondern auch ein gefühlsbetontes und somit zutiefst gesellschaftliches Wesen.“ (Schmid 2010: 234)
Durch dieses Konzept wird das in den Wissenschaften vorrangige binäre Denken überwunden und stattdessen der Dualismus von Subjekt und Objekt sowie Struktur und Handlung in seiner Widersprüchlichkeit gesehen und aufgehoben. Dies eröffnet neue methodische und theoretische Anknüpfungspunkte auf mikro- und makroanalytischer Ebene, weshalb das Konzept von Lefèbvre in der Wissenschaft und in der Kunst breit rezipiert wird. Monoperspektivische wissenschaftliche Zugänge können in dieser Perspektive durch hybride Forschungsansätze (Triangulation) ersetzt werden (vgl. Kap. 4 & 5). Die Überlegungen, dass Handlungen von Akteuren sowohl gesellschaftlich als auch individuell sind, bietet eine weitere Verbindung zwischen städtischer künstlerischer Praxis und der Idee, den Künstler als Akteur in seiner gesellschaftlichen Wechselwirkung zu begreifen. Darüber hinaus zeigt Lefèbvre durch die Verbindung von Kunst und Alltag in seinem Raumkonzept, dass er sich an den Bedürfnissen von Menschen orientiert und dass Mögliches gedacht werden kann. Aus diesem Verständnis heraus werden Künstler für die vorliegende Forschungsarbeit als Akteure und Personen verstanden, die städtische Erfahrungen und das Erlebte aus dem Alltag künstlerisch verarbeiten. Ihre individuellen Zugänge und Wahrnehmungsformen, die sich in Form eines künstlerischen Werkes oder einer künstlerischen Position ausdrücken, stehen einer weiteren Interpretation und Rezeption gegenüber offen, ohne die die künstlerischen Konzepte gesellschaftlich nicht wirksam sein könnten. Daher sind das Erlebte und die Wahrnehmung von Künstlern subjektiv, aber auch in Bezug auf die Fragestellung und Ausrichtung der Arbeit gesellschaftlich hergestellt und eingebunden. 1.5.2 Kunstwerke und künstlerische Produkte Kunstwerke und künstlerische Positionen werden in der vorliegenden Arbeit hinsichtlich der Fragestellung gemeinsam reflektiert und analysiert. Dafür ist zu
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diskutieren, wie künstlerische Werke als Medium der Erkenntnisgewinnung genutzt werden können. Festzuhalten ist, dass das künstlerische Produkt (Product) nicht mehr nur als materielles Objekt zu verstehen ist, sondern vermehrt immaterielle Züge annimmt (vgl. Gielen & Bruyne 2009). Das ergibt sich einerseits aus der eigenen Positionierung der Künstler und andererseits aus den Rollen, die von außen an den Künstler herangetragen werden. Diese Rollen stellen neue Anforderungen an die Kunst, aus denen sich neue künstlerische Praxen und ihre Darstellungsweisen ableiten lassen. Eine künstlerische Avantgarde hat sich in den 70er Jahren dafür entschieden, keine Objekte mehr zu produzieren, die als Waren verkäuflich wären. Sie haben sich bewusst gegen den Kulturbetrieb gestellt und die Aufgabe der Kunst in der Veränderung der Gesellschaft gesehen. Kunst sollte damals eine politische und subversive Funktion übernehmen und Irritationen hervorrufen, die debattiert werden konnten (vgl. Babias 2006; Lavaert & Gielen 2009). Dies bedeutete eine Hinwendung zu Installationen, Interventionen und Performances, die sich meistens ephemer, also zeitlich begrenzt, in einem Raum wie in einem Museum oder auch im städtischen öffentlichen Raum realisieren lassen. Heute gehören diese künstlerischen Praktiken zu einem selbstverständlichen Repertoire an künstlerischen Ausdrucksmitteln, was den traditionellen Werkbegriff nochmals zu Gunsten der neuen künstlerischen Praxen in den Hintergrund drängt. Nach Held & Norbert (2007: 187) hat dies zu einem neuen Selbstverständnis des Künstlers geführt, der sich auch als Kurator verstehen kann und sich investigativ mit Hilfe seiner künstlerischen Methoden an Themen annähert und die gewonnenen Erkenntnisse in Szene setzt. Damit wird eine Durchdringung von wissenschaftlichen und künstlerischen Bereichen zur Erforschung einzelner Themenbereiche und Orte beabsichtigt. Daher verlagern sich künstlerische Kompetenzen auf ein multiples Aufgabenfeld, das theoretische Kenntnisse, räumliche Sichtweisen, Erfahrungen aus dem Lebensraum, unterschiedliche Kunstpraxen, kreative Denkprozesse und Managementaufgaben vereint. Diese Kompetenzen werden institutionalisiert und gelten als Legitimation für neue Studiengänge und die Etablierung eines eigenständigen universitären Bereichs der künstlerischen Forschung (vgl. Böhme 2003; Heid 2003; KunsthochschuleWeißensee 2014: www.*). Tröndle (2012) beschreibt diesen Wandel und das zunehmende wissenschaftliche Interesse an der Werkentstehung und somit am künstlerischen, kreativen Prozess wie folgt: „Seit wenigen Jahren wächst das Interesse an der Werksentstehung und der Materialität […]. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen neuerdings Begriffe wie ‚Design‘ und ‚Kunstforschung‘, ‚künstlerische Forschung‘ und ‚künstlerische Methoden‘. Der Entwurf wird
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zur Methode, um Unsichtbares und Flüchtiges erfahrbar und gleichzeitig produktiv zu machen, Entwurfskompetenzen und wissenschaftlicher Diskurs sollen in einem forschenden Prozess zusammengeführt werden.“ (Tröndle 2012: 173)
Dahinter steht ein weiteres Interesse an den künstlerischen Erkenntniswegen, die zu neuem Wissen, zu Lösungen von komplexen Fragestellungen und Innovationen führen können und die vorwiegend aus anderen Wissenschaftsbereichen und der Wirtschaft an die künstlerische Forschung herangetragen werden. Nach Tröndle (2012: 191) sind künstlerisch kreative Forschungsprozesse, Strategien und Methoden geprägt durch ein implizites und explizites Wissen, das weder linear noch rational hergeleitet sein muss und daher weder vorhersehbar noch planbar ist. Das heißt, jeder künstlerische Prozess führt zu einem neuen Ergebnis und ist daher experimentell angelegt. Im Gegensatz zur Wissenschaft gibt es keine Auswertung der experimentellen Anordnung und keine Veränderung der ‚Variablen‘. Viele künstlerische Erkenntniswege sind nicht erlernbar bzw. werden an Hochschulen nicht gelehrt. Daher wird der Künstler mit seinen jeweiligen kreativen Methoden als Wissensproduzent für inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekte, für Think Thanks, für Labs oder auch für die Wirtschaft interessanter. In der vorliegenden Forschungsarbeit wird das künstlerische Werk nicht nur als materielles Produkt, sondern auch als ephemerer künstlerischer Prozess verstanden. Das bedeutet, dass einerseits die künstlerische Ausdrucksweise in ihrer inhaltlichen Dimension erfasst und andererseits das jeweilige Erkenntnisinteresse und die Methode berücksichtigt werden, die der Entstehung der künstlerischen Position dient. Das Product kann auch der Process sein, was unterschiedliche Auswertungsschemata der Inhalte von künstlerischen Positionen notwendig macht (vgl. Kap. 5). 1.5.3 Künstlerisches Handeln, Prozesse und Produktionsweisen Der künstlerisch-kreative Prozess erfährt in anderen Wissenschaftsbereichen und in kollektiven Praxen eine erhöhte Aufmerksamkeit. Dieser Prozess kann zur Erkenntnisgewinnung innerhalb einer transdisziplinären Wissensproduktion beitragen. Gleichzeitig öffnet sich die Kunst gegenüber anderen Themen und Disziplinen (vgl. Held & Norbert 2007). Anknüpfend an den dargestellten Wissensstand und die Potenziale künstlerischer Praxen sowie die Annäherung geographischer und künstlerischer Wissensproduktionen möchte ich in der vorliegenden Forschungsarbeit eine Positionierung zu der Frage erarbeiten, wie eine Stadtgestal-
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tung und Visionen einer zukünftigen Urbanität aussehen könnten. Dieser Wissensproduktionsprozess soll als ein wechselseitiger kommunikativer Prozess verstanden werden, der Inhalte, Thesen und Methoden aus der Geographie mit künstlerischen Themenschwerpunkten, Forschungsprozessen und Praxen kombiniert. Zwar nutze ich die Potenziale künstlerischer Praxen für meine Forschungsfrage, diese sollen aber nicht als eine einseitig ausgerichtete Verwertungsstrategie verstanden werden, die einem übergeordneten ökonomischen Zweck dient. Hingegen möchte ich im Gegensatz zu zahlreichen Forschungsarbeiten, die über die Kunst und den Künstler schreiben und einen Bezug zu städtischen Entwicklungen herstellen, dem Künstler als Akteur in seiner widersprüchlichen Rolle innerhalb der Stadt und seinen künstlerischen Ausdrucksformen einen eigenständigen Platz in der Arbeit einräumen. Das heißt, der Künstler soll mit seinem jeweiligen methodischen Zugang, seinem Erkenntnisinteresse und seiner Thematik in dieser Forschungsarbeit vorgestellt werden. Meiner Forschungsarbeit liegt die Basisannahme zugrunde, dass Kunst und künstlerische Prozesse als Medium einer Gesellschaftsanalyse zu verstehen sind, da sie selbst einem Wandel und gesellschaftlichen Rückkopplungseffekten unterliegen: Durch die Verbindung von Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis des Künstlers kann zusätzlich ein gesellschaftlicher, wechselseitiger Rückkopplungseffekt auftreten, der einerseits Aufschluss über die jetzige Funktionalität der Städte und damit über die Gesellschaft gibt, in der wir leben. Andererseits eröffnet er aber auch die Möglichkeit, über gewünschte Werte und Normen, über ein zukünftiges Zusammenleben und Urbanität zu reflektieren, um daraus eine Vision abzuleiten. Die folgende Tabelle 1 bietet einen Überblick darüber, wie die bereits angeführten Dimensionen der Kreativität in Anlehnung an die vier P’s in den transdisziplinären Forschungsprozess integriert werden können. Dabei wird zwischen dem Künstler, Kunstwerk und künstlerischen Prozess und dem möglichen gemeinsamen Wissensproduktionsprozess, der zwei Denkrichtungen vereint, unterschieden. In meiner Arbeit verstehe ich die gemeinsame Wissensproduktion als eine experimentelle Herangehensweise, die in einem gleichberechtigten prozessualen Austausch zweier Denklogiken, der künstlerischen und der wissenschaftlichen besteht. Er verknüpft die geographische Sichtweise mit künstlerischen Prozessen, um neue Aussagen über das vorliegende Forschungsthema zu generieren.
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Tab. 1: Dimensionen von Kreativität in Anlehnung an die vier P’s Dimensionen von Kreativität Person
Wechselspiel von und Kunst Wissenschaft, Künstler und Forschenden •
• •
Kontextualisierung
Künstlern wird ein bestimmtes Potenzial zugeschrieben Selbst- und Fremdwahrnehmung Interessenslage intrinsisch vs. extrinsisch motiviert
•
Wissenschaftler, Rezipient
•
• •
• Product
Kunstwerke Dokumentationen künstlerische Methode Vorstellungen, Meinung, Bild, Idee
•
•
Ende des Forschungsprozesses Ergebnis: Visionen zu Urbantät/Haltungen/Zugänge
•
•
künstlerisches Handeln und Praxis (als eine Form des kreativen Prozesses)
•
Methoden, Mittel und Strategien der künstlerischen Vorgehensweise
•
Problemstellung der Forschungsarbeit Wissensproduktionsformen, experimentelle, hermeneutische vs. lineare Verfahren
• •
Wissensproduktion Transdisziplinarität und Analyse der Künstler, Reflexionsebenen (vgl. Kap. 4) Forschungsstrategie (vgl. Kap. 5)
•
•
•
• Press (Umgebung)
geographischer Zugang Motivation des Forschenden
• • • •
• • Process
künstlerischer Zugang, Wahrnehmung Theorie- und Raumbezug des Künstlers Motivation des Künstlers
• •
•
•
Metaebene: Gesellschaftlicher Wandel Mesoebene: Städtischer Kontext: Diskurse, Vorstellungswelten, Paradigmen, Normen, die ‚unternehmerische Stadt‘ Mikroebene: Wahrnehmung des Kontextes, Einbindung in den Kontext Bewertung
• •
einzelne künstlerische Kunstwerke Dokumentationen
wissenschaftliche Darstellung künstlerische Position, Vision
Regulationstheorie (vgl. Kap. 2) Untersuchungsgegenstand Urbanität, Vision (vgl. Kap. 3) am Beispiel Berlin (vgl. Kap. 4.2.)
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Dimensionen von Kreativität
Wechselspiel von und Kunst Wissenschaft, Künstler und Forschenden • •
•
Wissenschaftler haben Ideen Bewertung von Ideen nachInnovationsleistung, Erwartungen aus dem Umfeld Institutionelle Einbindung in den Diskurs
Quelle: Eigene Darstellung (2015)
Kontextualisierung
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2. Theoretische Bezüge II: Erweiterte regulationstheoretische Ansätze
Die folgende regulationstheoretische Diskussion dient der Darstellung eines allgemeinen Analyserahmens für das gesellschaftliche Umfeld der Künstler. Dieses Umfeld oder auch Press (vgl. Kap 1.3 & Kap. 1.5) beeinflusst die Wahrnehmung des Künstlers, die Erzeugung bestimmter Ideen und die Erwartungen an den Künstler sowie seine künstlerischen Ausdrucksweisen. In dem Umfeld werden künstlerische Positionen bewertet, rezipiert und neue Wissensproduktionen erprobt. Es kann sich auf unterschiedliche Ebenen beziehen: Das Umfeld kann ein (1) institutionelles sein, das über eigene Regeln und Wertesysteme verfügt und Kunst als Produkt dieses sozialen Umfeldes sieht. Es kann (2) über eigenständige Netzwerke verfügen und als eigenständiges System oder Feld verstanden werden (vgl. feldgebundene Kreativität; Suwala 2014), und es kann (3) in systemtheoretischer Hinsicht verstanden (vgl. Luhmann 2002) sowie als vergleichende und vertiefende Analyse über die Kunstszene als sozialem Feld in Berlin angelegt werden (vgl. Bourdieu 2011; Moser 2013). Jenseits netzwerk- und institutionentheoretischer Aspekte liegt der Fokus dieser Forschungsarbeit auf dem städtischen Kontext, verstanden als ein Umfeld (Press), in dem sich die Künstler bewegen können und das als Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung und künstlerischen Praxen dient. Dieses Umfeld ist einem permanenten gesellschaftlichen Wandel unterworfen, der in sich verändernden räumlichen Erscheinungsformen seinen Ausdruck findet. Vorherrschende Diskurse, Leitbilder und Vorstellungswelten prägen oder festigen maßgeblich dieses Umfeld. Die Künstler sind als Teil dieser Diskurse zu begreifen. Sie leben im städtischen Umfeld und sind deshalb strukturell in die Dynamik des Gesellschaftssystems eingebunden, das sich wiederum auf den städtischen Kontext auswirkt. Dies zeigt sich in der Zunahme künstlerischer Praktiken, die sich mit städtischen Themen – und implizit mit dem Thema Urbanität – auseinandersetzen (vgl. Kap. 1.4).
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Lefèbvre (1974) stellt in seinen Überlegungen zur Raumproduktion eine Beziehung zwischen Raum und Kunst her. Kunst kann als Ergebnis einer Ausdrucksweise verstanden werden, die sich auf alltägliche Erfahrungen des Künstlers und auf den Lebensraum der Menschen bezieht. Diese Ausdrucksweise sieht er im ‚Raum der Repräsentationen‘ verwirklicht (vgl. Exkurs: Experimental Geography und doppelte Triade und Exkurs: Handlung und Struktur). In dieser Raumvorstellung können gesellschaftliche Werte entstehen. Hier entsteht die Möglichkeit, sich der Alltagssprache, den vorherrschenden Narrationen, den wissenschaftlichen und den städtischen Diskursen zu entziehen. Dieser ,Raum der Repräsentationen‘ kann auch Visionen, Träume, Erfahrungen und Ideen transportieren. Eine Analyse des städtischen Umfelds und Aussagen über neue Visionen müssen jedoch berücksichtigen, dass sich Lefèbvres Konzeption auf ein fordistisches Gesellschaftssystem stützte. Es muss also ein theoretischer Bezugsrahmen entwickelt werden, der die neuen gesellschaftlichen Dynamiken integriert und die Veränderungen im städtischen Raum und ihrem zeitlichen Kontext einordnen kann. Dies soll im Folgenden geschehen.
2.1 E INFÜHRUNGEN
ZUR
R EGULATIONSTHEORIE
Die Regulationstheorie wird als Metatheorie für die vorliegende Forschungsarbeit zu Grunde gelegt. Sie dient als Analyserahmen für das Setting des Forschungsgegenstandes. Ihre Inhalte und Begrifflichkeiten helfen, die gesellschaftlichen und sozioökonomischen Bedingungen und Prozesse einzuordnen. Da sie sowohl makroökomische Entwicklungsmuster als auch sozioökomisch-institutionelle Rahmenbedingungen betrachtet, kann die Regulationstheorie Erklärungsansätze dafür bieten, wie komplexe soziale und ökomische Verhältnisse entstanden sind, wie sich der wirtschaftlich-technologische Wandel unter kapitalistischen Vorzeichen vollzogen hat, wie mögliche gesamtgesellschaftliche Entwicklungstendenzen aussehen könnten und wie sich wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse, Vorstellungswelten und Bedeutungskonstruktionen geformt haben. So hat sie entscheidende Vorteile gegenüber institutionellen und neoklassischen Theorien, die in ihrer Reichweite und Perspektive nur unzureichend über die komplexen gesellschaftlichen Strukturen Aufschluss geben können (vgl. Reuber & Pfaffenbach 2005). Des Weiteren ermöglichen die Regulationstheorie und ihre theoretischen Erweiterungen Bezüge zu wissenschaftlichen Paradigmenwechseln herzustellen und den Wandel theoretischer und methodischer Felder und Forschungsrichtungen nachzuvollziehen (vgl. auch hierzu Kuhn 1976). Sie bietet begriffliche Einordnungen für den Umbau des Kapitalismus
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(vgl. Atzmüller et al. 2013a: 10ff): Begriffe, wie ‚Fordismus‘ und ‚Postfordismus‘, ‚Krise‘, ‚Wandel‘ und Cultural Turn bilden im wissenschaftlichen Kontext einen Referenzrahmen für die Analyse des gesellschaftlichen Wandels. Die Regulationstheorie wird die in Kapitel 1 dargestellten Konzepte zu Kreativität, Kunst, Stadt und Künstler in einen gesellschaftlichen Gesamtkontext gestellt. Sie kann zusätzlich Impulse zur Analyse rezenter gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und Veränderungspotenziale auch in Bezug auf Urbanität und wandelbare Verständnisweisen von Visionen liefern. Darüber hinaus bietet die Regulationstheorie die Folie, den Wandel auf städtischer Ebene zu deuten und zu verstehen. In der Anwendung der Theorie wird daher der Wandel in Berlin untersucht und gedeutet: Die Stadt vollzog nach Beendigung ihrer Isolationslage in den letzten zwei Jahrzenten einen rasanten Wandel, der einmalig in Europa ist. Berlin ist sowohl in makroökonomische globalisierte Prozesse eingebunden als auch Stadtplanungsstrategien unterworfen. Zu diesen makroökonomischen Prozessen gehören der zunehmende globale Wettbewerb um Humankapital, Spekulation, beschleunigte Privatisierung und hohe Mietsteigerungsraten (vgl. Heeg 1998; Krajewski 2013; Krätke 2004a).
2.2 E NTSTEHUNGSGESCHICHTE B ESCHÄFTIGUNGSFELD
UND
Seit etwa 30 Jahren wird die Regulationstheorie in ökonomischen, geographischen und sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen rezipiert, diskutiert und angewandt. Sie gilt neben der Weltsystemtheorie als eine der wichtigsten makroökonomischen Gesellschaftstheorien. Sie umfasst unterschiedliche Denkschulen und inhaltliche Erweiterungen in Bezug auf Regulationsweisen des Fordismus und Postfordismus. Mittlerweile werden auch neue globale und lokale Krisenerscheinungen in den Ansatz einbezogen (vgl. Atzmüller et al. 2013a: 10; Becker 2013: 26). Die Regulationstheorie erklärt, wie Perioden stabiler gesellschaftlicher und ökonomischer Zusammenhänge über einen längeren Zeitraum – zeitlich und räumlich differenziert – innerhalb der widersprüchlichen kapitalistischen Produktionsweise überhaupt entstehen, sich stabilisieren und reproduzieren können. In dieser Theorie werden Instrumente zur Analyse der kapitalistischen Entwicklungszusammenhänge bereitgestellt, um mögliche Auswege aus der Krise zu finden (vgl. Atzmüller et al. 2013a: 9; Becker 2013: 17; Krätke et al. 1997: 4). Die im System des Kapitalismus verankerten, periodisch auftretenden Krisen führen meist zu „großen Zusammenbrüchen, die in der Regel zu grundlegenden
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gesellschaftlichen Umwälzungen führen“ (Hirsch 2009: 1). Das System nimmt mit veränderten Rahmenbedingungen in Produktionsprozessen, institutionellen Gefügen und Akteurskonstellationen eine neue Form an. Diese spezifische Form gilt innerhalb der Regulationstheorie als stabile Phase. Diese ist durch eine spezielle Regulationsweise und ein Akkumulationsregime bestimmt. Die Regulationsweise beschreibt die referenziellen und die dominierenden sozioökonomischen Rahmenbedingungen. Diese bestehen aus Institutionen, Arbeit-Organisations-Beziehungen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Werten, Normen, Netzen und Verhaltensmustern sowie politischen Steuerungsmodi und stellen die „stabile Reproduktion des jeweiligen ökonomischen Entwicklungsmodells bzw. das makroökonomische Entwicklungsmuster“ (Bathelt & Glückler 2003: 254) als Akkumulationsregime her. Das Akkumulationsregime erklärt die Produktionsweise (technologisches Paradigma, Arbeitsteilung, Unternehmensstruktur etc.) und die Konsummuster (Nachfrage, Einkommensverteilung, Präferenzen, Lebensstile, Gewohnheiten), die in der Regel über Jahre reproduzierbar sind (vgl. Bathelt & Glückler 2003; Lipietz 1985). Hirsch (2013) verweist darauf, dass das Akkumulationsregime und die Regulationsweise in keiner kausalen Abhängigkeit stehen, sondern dass sie als Artikulationszusammenhang gesehen werden können und ihre jeweils eigenen Dynamiken aufweisen. Die stabile Gesellschaftsformation, bestehend aus Regulationsweise und Akkumulationsregime, kann krisenhaften konjunkturellen Schwankungen unterliegen, die die Reproduktion und Konsistenz des Zusammenhangs nicht bedrohen. Eine strukturelle Krise hingegen entsteht erst dann, wenn die makroökonomischen Entwicklungsmuster und der sozioökonomische Referenzrahmen nicht mehr miteinander kompatibel sind. Die beiden geraten in Gegensätze und erzeugen in ihrer Widersprüchlichkeit spezifische Erscheinungsweisen einer Krise, die jede kapitalistische Formation aufweisen kann. Technologische Paradigmen, die an ihre Grenzen stoßen, ein grundlegender Wertewandel – Veränderungen durch Großerzählungen, Narrative, Vorstellungswelten – der zu neuen Konsumgewohnheiten führt, aber auch politische Rahmenbedingungen, die verändert werden – Überakkumulation von Geld, Kriege – können Auslöser einer strukturelle Krise sein (vgl. Bathelt & Glückler 2003: 255; Hirsch 2013: 284).
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2.3 G ESELLSCHAFTLICHE E NTWICKLUNGSFORMATIONEN : F ORDISMUS UND DANN ? Insgesamt wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts drei Entwicklungsformationen bzw. Artikulationszusammenhänge empirisch identifiziert: (1) Vor dem ersten Weltkrieg war die erste Formation durch arbeitsintensive Produktion in Manufakturen gekennzeichnet. Nach dem ersten Weltkrieg setzte sich (2) in den USA und nach dem zweiten Weltkrieg auch in Deutschland der sogenannte Fordismus9 durch. Dieser bezeichnet eine stabile Phase innerhalb der kapitalistischen Entwicklungsstruktur und stellt sich in der historischen Rückschau als eine besonders prosperierende Phase dar, die von Wachstum, Massenproduktion, Vollbeschäftigung und Massenkonsum innerhalb des Akkumulationsregimes gekennzeichnet war. Ein Merkmal der Regulationsweise im Fordismus war, dass den Gewerkschaften ein maßgeblicher Einfluss auf politische und ökonomische Entscheidungen zukam (Sozialpartnerschaft, betriebliche Mitbestimmung). Diese korporatistischen Verhandlungsmechanismen und der von der Ost-WestSystemkonkurrenz ausgehende Druck führten nach Hirsch (2009: 1ff) zur Ausweitung sozialer Sicherheitssysteme, zum Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Aspekte und verliehen dem Fordismus eine besondere Stabilität, auch unter dem Namen keynesianisch-fordistische Regulationsweise bekannt. Das kapitalistische System verstand sich in Konkurrenz zum realsozialistischen. In den 70er Jahren traten Veränderungen in dieser Formation auf. Das Akkumulationsregime sowie auch die Regulationsweise entwickelten jeweils neue Dynamiken, die im Gegensatz zu einander standen und die stabile Phase auflösten (vgl. Hirsch 2013: 384; Kulke 2004: 98). Unternehmen waren an ihre Wachstumsgrenzen gestoßen. Die
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Von Gramsci wurde der Begriff ‚Fordismus‘ entlehnt (vgl. Brand & Raza 2003: 7) und soll an Henry Ford erinnern, der in der Automobilindustrie zum ersten Mal die Fließbandproduktion einführte. So konnten große Stückzahlen an Produkten hergestellt werden. Des Weiteren ist der Fordismus von einer tayloristischen Arbeitsweise geprägt: Arbeitsschritte werden aufgeteilt, sodass niedrigqualifizierte Arbeiter diese übernehmen konnten. Das Leitprinzip Economic of Scale sollte so ermöglicht werden (vgl. Kulke 2004: 98). Großunternehmen zeichneten sich durch einen hohen Grad der vertikalen Integration und geringere Flexibilität aus. Die Ausweitung der Produktion konnte sich auf das gleichzeitig reale Wachstum der Löhne stützen, was eine zunehmende Nachfrage garantierte. Somit waren Lohnanstiege an die Produktivität gekoppelt.
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Nachfrage nach standardisierten Produkten stagnierte, sodass sich ein rückläufiges Produktivitätswachstum ergab. Daraus folgte, dass „die in dem fordistischen Modell von tayloristischer Massenproduktion und Massenkonsum enthaltenen Produktivitätsreserven nicht mehr ausreichten, die Unternehmensprofite unter den Bedingungen der korporatistisch regulierten Einkommenspolitik und dem Ausbau sozialstaatlicher Sicherungen zu gewährleisten“ (Hirsch 2013: 384).
Auf der Makroebene wurden bereits während der Phase des Fordismus Kapitalbeziehungen internationalisiert. Dadurch wandelte sich laut Hirsch (2013) das Verhältnis von Kapital und Staat grundlegend und das Kapital entzog sich einzelstaatlichen Regulierungen. Maßgeblichen Einfluss auf den Prozess hatten die sich etablierenden liberalen Regierungen in Großbritannien (Thatcher) und in den USA (Reagan), die die politischen Voraussetzungen für die Liberalisierung der Kapital-, Finanz und Warenmärkte und somit „verschärfte Standortkonkurrenzen“ schufen (Hirsch 2013: 385). Durch die ansteigende Weltmarktkonkurrenz, die sich durch eine Verschlankung und Restrukturierung der internationalen Arbeitsteilung in Unternehmen zeigte, erfolgte dort sowohl eine interne als auch externe Flexibilisierung. Es folgten die Deregulierung der Arbeitsprozesse (flexible Arbeitszeiten, Teilzeit, Werksaufträge etc.), Massenarbeitslosigkeit und der Abbau von wohlfahrtsstaatlichen Elementen (Workfare zu Workcare) durch die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und die Absenkungen von Transfereinkommen. Des Weiteren verschoben sich die Einkommens- und Kräfteverhältnisse durch die „Schwäche der Gewerkschaften und nicht zuletzt wegen des Wegfalls der Systemkonkurrenz nach dem Untergang der Sowjetunion“ (Hirsch 2013: 386) zugunsten der Kapitalseite. Weitere Veränderungen, die sich seit der Krise des Fordismus als charakteristisch herausgestellt haben, beziehen sich vor allem auf die Staatsebene und die Geldform, die sich etablierte. Die Geldform im Fordismus wurde als nationales Geld betrachtet, mittlerweile ist die Entwicklung dahingehend, dass das Geld als internationale Währung bzw. als staatenloses Geld behandelt wird. Das Geld hat sich vom Produktivkapital zum Finanzkapital entwickelt und wird statt im produktiven Sektor zunehmend auf dem Finanzmarkt angelegt, der keinen Mehrwert produziert. Die Stärke des nationalen Geldes auf den Währungsmärkten hängt somit von der Wettbewerbsstärke der jeweiligen Volkswirtschaft ab, die von Ratingagenturen bewertet wird. Dieses hochmobile Kapital kann jederzeit aus „unrentablen“ Regionen, Orten oder Nationen abgezogen werden, was wiederum den Druck des Wettbewerbs steigen lässt. Diese Normen des Wettbewerbs verankern sich in der Regierung, in den Medien und in der Wissenschaft.
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Somit werden außerökonomische und ökonomische Bereiche sowie weiche gesellschaftliche Faktoren miteinander verknüpft, die zum globalen Benchmarking beitragen. Die Akkumulation ist somit komplexer geworden. Auf unterschiedlichen Ebenen – transnational, national und regional – haben sich Innovationssysteme oder auch Netzwerkökonomien entwickelt, aus denen sich Kostenvorteile durch interne Flexibilisierung ergeben (von Economie of Scale zu Economie of Scope) (vgl. Kulke 2004: 110). Das Ziel ist, durch die von staatlicher und privater Seite geförderte Etablierung von Netzwerkökonomien Wissen abzuschöpfen und für den Wettbewerb nutzbar zu machen (vgl. Hirsch 2013: 381; Jessop 2003: 101). Diese Entwicklungen und alle neueren Prozesse, die nicht als fordistisch galten, wurden durch die Regulationstheorie unter den Begriff ‚Postfordismus‘ subsumiert. In der ‚Postfordismus-Debatte‘ wird erörtert, ob es sich um eine neue gesellschaftliche Entwicklungsformation handelt, ob er über eine längere Phase einen stabilen Zusammenhang bilden wird oder ob er nur der Übergang zu einer neuen Phase ist (vgl. Alnasseri & Sablowski 2001; Brand & Raza 2003: 7; Hirsch 2001; 2009). Demirovic (2003) weist darauf hin, dass erst im Nachhinein Aussagen darüber getroffen werden können, ob der Postfordismus eine eigenständige Phase darstellt. Daher sollten nicht zu schnelle Rückschlüsse darüber gezogen werden, wie die hegemonialen Strukturen innerhalb des Postfordismus zu bewerten sind, denn er bleibt zunächst eine offene Entwicklung, die sich auch in einem Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen Akteuren ausdrückt. Demirovic (2003: 55) betont auf Grundlage von Arrighi & Moore (2001) – die von vier sich über Jahrhunderte ersteckendenden Perioden kapitalistischer Entwicklungen ausgingen – dass der Fordismus eine besondere Bedeutung hatte und er insofern auf eine tiefgreifende Veränderung im kapitalistischen System hinweisen könnte, die bis heute andauert. Demirovic (2013) sieht daher in den Begriffen wie ‚Risikogesellschaft‘, ‚Informationsgesellschaft‘ und ‚Netzwerkgesellschaft‘, die sich nach der fordistischen Krise etablierten, eine Überbewertung der neuen gesellschaftlichen Ordnung und diese Zuschreibungen als zu voreilig. Während der Begriff ‚Fordismus‘ ein charakteristisches Merkmal der damaligen Arbeitsprozesse beschreibt und als Symbol für Fords Fließbänder in Verbindung mit der keynesianistischen Wohlfahrtpolitik steht, verweist hingegen der Begriff ‚Postfordismus‘ nicht auf ein sich typisch herausbildendes arbeitstechnisches Paradigma dieser kapitalistischen Formation. So blieb der Begriff des ‚Postfordismus‘ bis heute immer ein Hilfsbegriff (vgl. Hirsch 2013: 381).
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2.4 Z UR HEUTIGEN G ESELLSCHAFTSFORMATION : K RISE ODER OFFENER P ROZESS ? Seit der Finanzmarktkrise 2008 ist die bisherige Kategorisierung der heutigen Gesellschaftsformation möglicherweise in Frage zu stellen. Laut Hirsch (2013: 391) zeichnen sich neue Merkmale einer Gesellschaftsformation ab, die den marktradikal deregulierten Kapitalismus ablösen und nach denen sich tendenziell ein autoritär-staatsmonopolistisch regulierter Kapitalismus durchsetzen könnte. Die aktuelle Krise basierte auf den widersprüchlichen Entwicklungen, die sich seit der Krise des Fordismus bis heute durchgezogen haben. Ein wesentlicher Faktor ist, dass zunehmend Profite vorwiegend in den Finanzsektor verlagert und nicht im produzierenden Sektor angelegt wurden. Die These von Hirsch lautet: „dass die aktuelle Krise tatsächlich eine Endkrise der Formation bezeichnet, die hilfsweise als ‚Postfordismus‘ bezeichnet wurde und womit die neoliberale Umstrukturierung des globalen Kapitalismus – oft als Globalisierung bezeichnet – begrifflich zu benennen versucht“ (Hirsch 2013: 383).
Dabei betont Hirsch (2013) die Rolle des Staates: Zunächst wurden nach der Bankenkrise im Jahr 2008 keynesianistische, staatsinterventionistische Methoden eingesetzt, um die Nachfrage zu steigern und die Krise zu bekämpfen. Kurz darauf folgte eine verstärkte neoliberale Politik (vgl. Atzmüller et al. 2013a: 7). Die im Fordismus existierenden korporatistischen Verhandlungsmechanismen der Einkommens- und der Sozialpolitik sind nur noch schwach ausgeprägt, während Individualisierungsprozesse, marktförmige Durchdringung und Privatisierung weiter vorangetrieben werden. Dahinter stehen nach Hirsch (2013) auch Kräfteverhältnisse und die Logik der ökomischen Vorstellungswelt, die sich mit ihren elitären Strukturen durchgesetzt haben. EXKURS: ZU DEN BEGRIFFEN KRISE UND AUSTERITÄT ‚Krise‘ ist ein wesentlicher Begriff der Regulationstheorie. ‚Krise‘ bezeichnet epistemologisch einen problematischen Wendepunkt, einen Bruch, der eine Entscheidungssituation erfordert. Das heißt, es gibt in diesem Verständnis keine Krise ohne einen Ausweg aus der Krise, der einen Neuanfang oder Aushandlungsprozesse für eine zukünftige Entwicklung beinhaltet. Revault d'Allonnes (2012) erklärt, dass seit der Subprime-Krise 2007, die dann die Bankenkrise und die weltweite Konjunkturkrise auslöste, eine Umkehrung der Bedeutung des Begriffs ‚Krise‘ erfolgte. Krise wird zur permanenten Erschei-
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nung. Alle möglichen Daseinsebenen werden mit Krise in Verbindung gebracht. Krise wird zu einem Narrativ, das alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Die gängige Lesart auf gesellschaftlicher Ebene ist derzeit die Wirtschafts- und Finanzkrise, die eng an die Diskussion um Austeritäts- und Sparpolitik geknüpft ist. Auf dieser Ebene können die Folgen der Krise weitere Krisen auf existenzieller Ebene der Menschen auslösen. Aber nicht nur in der Wirtschaft wird von Krisen gesprochen. Es muss daher gefragt werden, welche Formen von Krisen es heute gibt: Krisen sind gesellschaftlich interpretierbar und einsetzbar, für wirtschaftliche und politische Legitimationsansprüche und Interessen. Krisen sind abhängig von der Geschichte des Ortes, dem Raum und der Zeit. Auch wenn Krisen generell ein globales Phänomen darstellen, sind sie unterschiedlicher Ausprägung (Wertekrise, individuelle Krise, Wirtschaftskrise). Daher nimmt jedes Land Krisenerscheinungen anders wahr, und somit sind Krisen auch immer Ausdruck der Gesellschaft, in der sie auftauchen (vgl. Mergel 2012). Auch wenn derzeit eine nicht endende Krise proklamiert wird, können Krisen in ihrer ursprünglichen Bedeutung nach Revault d'Allonnes (2012) auch zu etwas Positivem führen. Dieses Positive kann eine Reflexion und Weiterentwicklung von Werten beinhalten. Nach Revault d'Allonnes kann die Integration alter Werte in Gedankenprozess dazu führen, Neues zu denken, etwa wie eine gemeinsame Welt gestaltet werden kann. Krisen können daher neue Strukturen oder auch Vorstellungen hervorbringen, aber auch alte verstärken. Die Auffächerung und Zunahme der Verwendung des Begriff ‚Krise‘ zeigt sich nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch in den Bucherscheinungen in den unterschiedlichen Disziplinen – auch in den Kunstwissenschaften (vgl. Atzmüller et al. 2013b; Belina 2011a; Hedinger & Meyer 2013; Mergel 2012). So fragen sich Hedinger & Meyer (2013), welche Rolle Kunst in einer neuen Gesellschaftformation nach der Krise einnehmen könnte. Dabei werden gesellschaftliche Krisenerscheinungen in Essays und Interviews von unterschiedlichen Autoren besprochen und es wird der Frage nachgegangen, wie Kunst auf Krisen reagieren kann. Ebenso wird diskutiert, wie ein Kunstverständnis in Bezug auf Rezeption, Produktion, Vermittlung und Vermarktung im globalen und digitalen Zeitalter aussehen könnte. Hirsch (2013) hebt die regulationstheoretische Sichtweise von einer nationalstaatlichen auf eine globale Ebene. Die Kritik an dem Regulationsansatz, er sei nur auf einzelne westliche Nationalstaaten anzuwenden, die in sich geschlossen
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agieren, umgeht er damit und greift internationale Entwicklungen auf: Eine der wichtigsten Veränderungen seit der Bankenkrise im Jahr 2008 sieht er in einer engeren Verflechtung zwischen Kapital und Staat. Die Mächteverhältnisse haben sich demnach zu Gunsten der Finanzindustrie entwickelt. Die Macht, Entscheidungen fällen zu dürfen, wird seitens des Staates, des Parlaments und der öffentlichen Hand weiter abgegeben und langfristig durch klientelistische Strukturen ausgehebelt. Diese Veränderung der Machtverhältnisse wirkt sich mittelbar auf die Motivation der Bevölkerung aus, sich an Entscheidungsprozessen, etwa an Wahlen, zu beteiligen. Damit geht ein Vertrauensverlust in die Politik einher (vgl. Beveridge & Richter 2014: 53; Crouch 2008). Weltweit bestimmen Ratingagenturen, die einen Bestandteil der Finanzindustrie darstellen, über die Zahlungsfähigkeit und die Haushaltspolitik der Staaten. Dies führt dazu, dass die Autonomie des Staates beeinträchtigt wird. Der Staat muss sich den Anforderungen des Finanzkapitals anpassen und die Rahmenbedingungen für seine optimale Verwertung schaffen (marktkonforme Demokratie). Die Folge ist eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse, die sich europaweit, national, aber auch auf kommunaler Ebene verstärkt zeigt: Gewinne werden zunehmend privatisiert – z.B. im Kontext der Bankenrettung, bei Wohnungsspekulationen und den kalkulierten Risiken beim Verkauf öffentlicher Flächen – und Risiken auf die Allgemeinheit verlagert. Das heißt, es gibt nicht nur einen weiteren Rückzug des Staates, der sich bereits im Postfordismus zeigte, sondern auch ein zusätzliches Risiko für die öffentliche Hand, die dieses direkt an die Bürger und Bürgerinnen weitergibt (vgl. Peck 2010: 108). Klein & Rumpfhuber (2014: 4ff) sprechen in diesem Zusammenhang von einer inflationären Verwendung der Begriffe ‚Austerität‘ und ‚Knappheit‘, die sich seit der Bankenkrise 2008 und im Zuge der Staatsverschuldungen in der Eurozone am Beispiel von Südeuropa verstärkte. Der Begriff der ‚Austeritätspolitik‘ wird nach Hirsch (2013) als Legitimation genutzt, sowohl weitere Deregulierungen der Arbeitsverhältnisse unter dem Spardiktat als auch Umstrukturierungen der Wohlfahrtssysteme umzusetzen. Es wird vermittelt, dass als einziger Ausweg aus den krisenhaften Erscheinungen eine weitere Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit notwendig sei. Die Folge dieser Austeritätspolitik ist, dass sie genau die Menschen trifft, die einst von dem Trickle-Down-Effekt der neoliberalen Wirtschaftspolitik profitieren sollten. Polarisierung und Verarmung im nationalen und internationalen Maßstab nehmen zu und bewirken neue Migrationswellen aus Ländern, die krisenhafte Erscheinungen haben, wie Massenarbeitslosigkeit, Kriege etc. (vgl. Peck 2012: 629f). Die Diskussion um Knappheit trifft auf Vorbehalte gegenüber endlosem Wachstum, aber auch die sich verringernde Verfügbarkeit von Ressourcen (Peak Oil) im ökologischen Zusammenhang (vgl.
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Meadows & Club of Rome 1972; Peach & Peach 2012; Wolfrum 2012). Dies bewirkt nach Klein & Rumpfhuber (2014: 5f) eine neue Auseinandersetzung über die Vorstellung, wie wir in Zukunft zusammen leben werden. Und die Frage stellt sich erneut, wie die Verteilung und der Zugang zu Ressourcen in Zukunft aussehen können. Diese Fragen werden in der Zukunft vor allem auch die Städte in Bezug auf neue Inklusions- und Exklusionsmechanismen betreffen. Nach der Finanzmarktkrise in den USA im Jahr 2008 hat sich die Diskussion dahingehend zugespitzt, ob wir uns in einer konjunkturellen oder strukturellen Krise befinden. Diese Entwicklung zeigt, dass der postfordistische Begriff langsam von der Knappheitsdiskussion und Krisenrhetorik abgelöst bzw. ergänzt wird.
2.5 E RWEITERUNGEN : Z UR N EUETABLIERUNG ÖKONOMISCHER V ORSTELLUNGSWELTEN Jessop (2003) betont die Wichtigkeit von Vorstellungswelten als Voraussetzung für eine stabile Formation. Diese ökonomischen Vorstellungswelten können als Erweiterung bzw. als Ergänzung des Regulationsansatzes verstanden werden. Sie sind als gesellschaftliche Diskurse zu verstehen, die auf unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Ebenen rezipiert werden. Es sind oftmals Paradigmen oder mobile Ideen (vgl. McLennan & Osborne 2003: 57f), die in der Gesellschaft, in den Wissenschaften, in der Kunst und im Alltag langsam Eingang gefunden haben und letztendlich selbstverständlich genutzt werden. Jessop (2003: 95) betont daher, dass es geeigneter wäre, ein herausgebildetes Akkumulationsregime nach dem jeweilig vorherrschenden technologisch-ökonomischen Paradigma zu benennen, das die neuen Unternehmens- und Wettbewerbsstrukturen und sich herausbildende industrielle Sektoren charakterisiert. Deswegen hat er dominante Entwicklungslinien des Postfordismus herausgearbeitet, ohne diese als umfassende Analyse des Postfordismus anzusehen. Er sucht nach einer vergleichbaren Großerzählung, nach Leitlinien zum Fordismus und einem Narrativ, das das Konzept des Postfordismus tragfähig macht. Jessop (2003) stellt heraus, welche Bedeutungen Diskurse und Handlungen für die Kapitalakkumulation in einem widerspruchsvollen kapitalistischen System haben. Durch die Ausformulierung spezifischer Akkumulationsstrategien kann es zu einer neuen Festigung einer Formation kommen. In diesem Prozess der Stabilisierung macht er die Rolle von unterschiedlichen Vorstellungswelten (Imaginaries) deutlich, welche „diskursive Vereinfachungen spezifischer Bereiche sozialer Verhältnisse und darin je spezifische soziale, materielle und raumzeitliche Handlungshorizonte“
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(Jessop 2003: 95) schaffen. Das Akkumulationsregime kann sich nicht allein durch technologische Innovationen und die sich daraus ergebende Gestaltung von Arbeitsverhältnissen und -prozessen, Unternehmensformen und Wettbewerbsstrategien reproduzieren. Eine mögliche Festigung des Akkumulationsregimes hängt maßgeblich von der „politischen, intellektuellen und moralischen Führung“ (Jessop 2003: 97) sowie der Neuorganisation der gesamten Gesellschaftsordnung ab. In dieser Neuformierung – neue Innovationen, Änderungen von Arbeitsprozessen und Unternehmensformen – kommt es zur Herausbildung einer neuen ökonomischen Vorstellungswelt. Jessop (2003) sieht in interessengeleiteten Aushandlungsprozessen zwischen politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Akteuren eine Neudefinition von Ökonomien, bezogen auf die Subjekte und die geographischen Orte als Objekt der Regulation. Der Autor beschreibt darüber hinaus weitere Auseinandersetzungen zwischen individuellen und kollektiven Kräften, die alleine, systematisch oder organisiert auftreten: Diese zeigen in Projekten Visionen und Handlungsstrategien, wie auf unterschiedlichen Ebenen die Widersprüchlichkeiten des kapitalistischen Systems bearbeitet werden können, wie die Konflikte zu benennen und diese gegebenenfalls beigelegt werden können. Sie vermitteln direkt oder subversiv, wie „[e]ine umfassende Hegemonie errungen werden kann“ (Jessop 2003: 98), etwa durch politische Parteien, Think Thanks, Massenmedien, soziale Bewegungen und auch durch die Kunst. Die entstandenen Vorstellungswelten müssen auf unterschiedliche gesellschaftliche Ebenen übersetzt werden, damit sie Wirksamkeiten erlangen. Als ökonomische Vorstellungswelt hat sich nach Jessop (2003) zunächst der Begriff der ‚wissensbasierten Ökonomie‘ als hegemonial werdender Diskurs nach der Krise des Fordismus herausgebildet und außerökonomische Bereiche durchdrungen. Dieses Vergesellschaftungsprinzip wird wirkungsmächtiger, wenn es irgendwann als naturalisierter Prozess wahrgenommen wird. Die Ausdehnung dieser ökonomischen Vorstellungswelten in außerökonomische Bereiche sieht Jessop (2003: 101) als ein dominantes Merkmal der Kapitalakkumulation an, das mit dem Prinzip der Wettbewerbsfähigkeit einhergeht. Die ‚wissensbasierte Ökonomie‘ als sich etablierendes ‚ökonomisches Narrativ‘ bietet somit in ökonomischen und außerökonomischen Bereichen weiterhin einen Aushandlungsrahmen. Jessop (2003) benennt repräsentative Begrifflichkeiten um die ‚wissensbasierte Ökonomie‘ und teilt dieser bestimmte Funktionssysteme der Gesellschaft zu. Er unterscheidet bei den Funktionssystemen zwischen Technologie, Ökonomie, Kapital, Arbeit, Wissenschaft, Kultur, Bildung, Vergesell-
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schaftung, Stadt und Raum.10 Dieses Konzept ist auf unterschiedlichen Ebenen bereits übersetzt worden, findet sich in alltäglichen Äußerungen und in Wissenschaftsdiskursen wieder und wird selten hinterfragt. Vorstellungswelten gehen in die Regulation mit ein und verselbständigen sich. Zwar existiert das Narrativ von der ‚wissensbasierten Ökonomie‘ bis heute, aber es werden neue Dynamiken sichtbar. Reckwitz (2012) erkannte in den letzten Jahren die Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen Narrativs. Er spricht in seinem Buch ‚Erfindung der Kreativität‘ davon, dass sich in der Gegenwartskultur ein Kreativitätsdispositiv herausgebildet hat, das sich in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, Praktiken, Diskursen, Subjektivierungsweisen sowie Arbeitsweisen ausdrückt. Dieses Narrativ überlagert bzw. führt die wissensbasierte Ökonomie fort. Reckwitz (2012) betont, dass Kreativität in der gegenwärtigen Gesellschaft unvermeidbar und präsent geworden ist: „Das Doppel von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ [ist] seit den 70er Jahren immer tiefer in die kulturelle Logik der privaten Lebensführung der postmaterialistischen Mittelschicht (und darüber hinaus) eingesickert.“ (Reckwitz 2012: 12)
Kreativität bezieht sich demnach auf die Formung des Selbst, des Individuums und nicht auf den schöpferischen Akt, der Dinge im materiellen Sinn hervorbringt oder auf die Selbstverwirklichung und die Erfindung und Erschaffung der eigenen Originalität. Auf den Künstler und den künstlerischen Schaffensprozess bezogen hat Kreativität eine doppelte Bedeutung: Dahinter steht zum einen die Fähigkeit, Neues zu erschaffen, welches einen repetitiven Prozess darstellt, und zum anderen das Schöpferische, das sich an die „moderne Figur des Künstlers und an das künstlerische und Ästhetische zurückbindet“ (Reckwitz 2012: 10). Durch diese Zu10 Im Kontext von Raum, Wissenschaft, Bildung und Kultur haben sich folgende repräsentative Begrifflichkeiten herausgebildet: Teleworking, geistige Arbeit, Wissensarbeiterin, symbolische AnalystInnen, immaterielle Arbeit, impliziertes Wissen (tacid knowledge), Humankapital, Cyborgs (Arbeit), innovatives Milieu, lernende Region, intelligente Stadt, digitale Stadt, Technopolis, Wissensflüsse, intelligente Gemeinschaften, Wissensbasis, wissenschaftlich-technische Revolution, Live Sciences, Triplehelix (Wissenschaft), Wissensfabriken, lebenslanges Lernen, unternehmensfinanzierte Universitäten, Ausbildungstechnologien, kreative Branchen, Kulturindustrien, kulturelle Waren, Cybercultur, kulturelles Kapital, Verwissenschaftlichung, Informationszeitalter, Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft, intellektuelle Gemeingüter, komplexe Gesellschaft, Gesellschaft ohne Visionen etc. (vgl. Jessop 2003: 99).
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schreibungen wurden neue kreative Produktionstechniken und Arbeitsweisen etabliert, die sich auf Handlungen und auf das Alltagsdenken der Menschen ausgewirkt haben (vgl. Sennett 2012). Bereits Jameson (1986) wies als postmoderner Vertreter darauf hin, dass sich die Kultur im Sinne einer Hochkultur mit ihren sozialen Praktiken auflöst. Die Autoren sehen eine Ästhetisierung des Alltagslebens vorwiegend in den westlichen Gesellschaften. Auf der ökonomischen Ebene entwickelt sich nach Reckwitz (2012) ein ästhetischer Kapitalismus, der seinen Ausdruck in unterschiedlichen Vorstellungen und Ansätzen wie der Etablierung von Creative Industries und der New Economy findet. Kreativität wurde demnach in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Kunst und im Alltag zu einer gesellschaftlichen Norm erhoben, gleichzeitig wurde eine Verbindung von Kreativität zur wissensbasierten Ökonomie hergestellt.11 Auf wissenschaftlicher Ebene findet eine generelle Hinwendung zu kulturellen Themen (Cultural Turn) statt, zudem werden neue Methoden und Theorieansätze – u.a. poststrukturalistischer Ausprägung – etabliert.
2.6 D ER ANSATZ DER ‚ KULTURELLEN Ö KONOMIE ‘: EINE S YNTHESE ?
POLITISCHEN
Sum & Jessop (2014) greifen den Cultural Turn auf, den sie als Wende in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen interpretieren. Die These der beiden Autoren lautet, dass „die kritische Auseinandersetzung mit Kultur so rasch wie möglich erfolgen sollte, da Kultur, definiert als Sinneserzeugung, kokonstitutiv für alle gesellschaftlichen Verhältnisse und umso mehr für das Kapitalverhältnis“ ist (Jessop & Sum 2013: 57). Kultur ist als Dimension in gesellschaftliches Leben eingeschrieben und kann nicht gesondert von anderen Lebensbereichen gesehen werden. Jessop & Sum (2013) entwickelten daher den Ansatz der ‚kulturellen politischen Ökonomie‘ (KPÖ, Lancaster Schule), indem sie regulationstheoretische, staatstheoretische und die durch den Cultural Turn entstandenen Methoden und Ansätze verbunden haben. Dabei knüpften Jessop & Sum (2013) an die Arbeit von 2003 (vgl. Kap. 2.5) und die Frage an, wie Vor-
11 So heißt es zum Europäischen Jahr zu Innovation und Kreativität beispielsweise: „Kreativität und Innovation sind zentrale Elemente der heutigen wissensbasierten Gesellschaften Europas, um den Chancen und Herausforderungen der Globalisierung wirksam begegnen zu können. Beide sind eng verknüpft, denn persönliche Kreativität ist unabdingbare Voraussetzung für die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft“ (vgl. www.ejki2009.de: Europäisches Jahr zu Innovation und Kreativität im Jahr 2009).
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stellungswelten, Diskurse bzw. Imaginaries innerhalb der Gesellschaft entstehen, sich etablieren und welche Mechanismen diesbezüglich wirken. Demnach existieren zahlreiche unterschiedliche Imaginaries auf politischer, ökonomischer und sozialer Ebene. Jede dieser Vorstellungswelten vereinfacht soziale Verhältnisse und reduziert je nach Ausrichtung komplexe gesellschaftliche Strukturen. Diese nehmen eine wichtige Rolle in den Aushandlungsprozessen ein. In jeder Vorstellungswelt sind spezifisch materielle, soziale und raumzeitliche Handlungsebenen verankert. Setzt sich eine Vorstellungswelt gesellschaftlich durch, wird diese übernommen und als gesellschaftlich vertretbar betrachtet bzw. nicht hinterfragt. Der Cultural Turn lässt sich somit in die gesamtgesellschaftliche Veränderung einordnen, die ökonomisch als Übergang vom Fordismus zum Postfordismus und kulturell als Übergang von der Moderne zur Postmoderne beschrieben werden kann. Unter ‚Postmoderne‘ wird die gegenläufige Entwicklung zur ‚Moderne‘, die sich vorwiegend in der Auflösung von vorherrschenden Denkstrukturen, der Neuformierung von Werten und Wissensproduktionen innerhalb der Gesellschaft ausdrückt, verstanden (vgl. Huyssen & Scherpe 1986; Inglehart 1995). Die Definitionen von Moderne und Postmoderne unterscheiden sich in den fachwissenschaftlichen Disziplinen. Ähnlich wie der Postfordismus-Debatte wird hinterfragt, ob die Postmoderne überhaupt besteht und wie ihre Merkmale aussehen könnten. Festzuhalten gilt, dass die Begriffspaare wie ‚Fordismus/Postfordismus‘ und ‚Moderne/Postmoderne‘ eine Dichotomie darstellen, die entgegengesetzte Entwicklungen implizieren, die neue Denkstrukturen und Paradigmenwechsel wie den Cultural Turn in der Humangeographie oder den Spatial Turn in den Kulturwissenschaften etablieren.12 Jessop & Sum (2013) verbinden Potenziale der Regulationstheorien mit denen des Cultural Turns. Der Ansatz der ‚kulturellen politischen Ökonomie‘ integriert somit neuere wissenschaftliche Forschungsansätze des Cultural Turns und verweist erstens auf thematische Neuerungen, mit denen sich die Forschung be12 Vor allem wenden sich postmoderne Denkweisen gegen den absoluten Wahrheitsanspruch und gegen große Erzählungen der Moderne, die sich in totalitären Systemen wiederfänden (vgl. Lyotard 2005 [1982]: 112). Durch die prognostizierte Auflösung dieser großen Erzählungen werden die in der Moderne erlangten gesellschaftlichen Werte und das Wissen in Frage gestellt und darüber diskutiert, an welchen Fixpunkten sich Akteure nun neu orientieren. Der Subjektbegriff wird in der Postmoderne hinterfragt: Sinn ergibt sich nicht aus dem Bewusstsein des Egos, sondern die Sinnerzeugung ergibt sich aus der Sprachverständigung, den Diskursen und aus der ‚Relationalität von Zeichen‘. Das Subjekt ist eine Erfindung der Moderne, die deskonstruiert werden soll (vgl. Weichhart 2008: 346).
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schäftigt hat, und erweitert zweitens den Fokus auf Wahrnehmungen, Handlungen und gesellschaftliche, intersubjektive Bedeutungskonstruktionen: „Dazu gehören Elemente wie Hermeneutik, Diskurs, Reflexivität, Argumentation, Framing, Historizität, Ikonografie, Identitätsbildung und -aktivierung, Interpretation, Legitimation, literaturwissenschaftliche oder postkoloniale Studien, Mediation, Metapher, Narrative, Performativität, Pragmatik, Rechtfertigung, Repräsentationen als Visionen, Rhetorik, Story Telling, Stilistik, Subkultur, Translation und das Visuelle.“ (Jessop & Sum 2013: 65)
Die Autoren betonen, dass die Gesellschaft nicht auf eine semiotische Ebene reduziert werden kann. Die Semiose kann nicht unabhängig von der Untersuchung und Analyse der außersemiotischen Bereiche, also struktureller Bedingungen, stattfinden (vgl. Jessop & Sum 2013: 65). Die Autoren reagieren somit auf die Kritik, dass poststrukturalistische Forschungsfelder kaum eine Rückkopplung an die Gesellschaft bilden (vgl. Gebhardt et al. 2011: 562; Jessop & Sum 2010). In einem widersprüchlichen kapitalistischen System und im Spannungsfeld verschiedener Diskurse sind Akteure gezwungen, Entscheidungen zu treffen und Handlungsstrategien auszuwählen. Durch diese Selektion findet eine Komplexitätsreduktion statt. Die beiden Autoren betonen in diesem Zusammenhang, dass die Semiose gegenüber anderen Perspektiven wie „der Gesellschaftsstruktur oder individuelle[n] und kollektive[n]“ Handlungspraxen (Jessop & Sum 2013: 66) nicht bevorzugt werden kann: „Die Komplexität zwingt die Akteure zur selektiven Fokussierung und auf einige Aspekte der Welt als Ausgangspunkt, um in ihr aktiv mitzuwirken und/oder sie als desinteressierte Beobachter zu beschreiben und zu interpretieren. Somit sind Akteure und Beobachter gleichermaßen gezwungen, einige Aspekte der Welt mehr zu beachten als andere. Diese Aspekte sind in der realen Welt weder objektiv vorgegeben oder subjektiv durch vorprogrammierte kognitive Fähigkeiten vorgeschrieben. Vielmehr hängt ihre selektive bewusste Wahrnehmung (Erkennung und Verkennung) größtenteils von den vorherrschenden Bedeutungssystemen der jeweiligen Akteure ab, die im Laufe der Zeit bestimmt und modifiziert werden. Sinnerzeugungen (Semiosen) wiederum helfen dabei, die allgemeine Verfasstheit der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeiten insofern zu formen, als sie eine kritische Menge an Pfad gestaltenden Handlungen lenkt, die mehr oder richtig erkennen lassen, dass der Rahmen der Welt eine andere ist. Die Strukturierung schafft eine komplexe Assemblage asymmetrischer Möglichkeiten für gesellschaftliche Handlungen und privilegiert somit Akteure gegenüber anderen.“ (Jessop & Sum 2013: 72)
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Jessop & Sum (2013) wenden sich mit dieser Aussage klar von einer mikroanalytischen Perspektive ab, die die Aktivitäten und Wahrnehmungen von Menschen in ihrer sozioökomischen Umwelt in kognitiven Verhaltensmodellen erklärt. Diese gehen davon aus, dass die Menschen autonom und frei agieren können und zwar unabhängig von einschränkenden ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen. Die Kritik an diesen kognitiven Verhaltensmodellen ist, dass sie die Einbindung eines handelnden Menschen in seine soziale Umwelt nicht berücksichtigen. Der Mensch reagiert demnach rational auf außenstehende Impulse, Reize und Umweltfaktoren, eigene Intentionen und Zielvorstellungen; das Schöpferische wird in den Modellen vorwiegend vernachlässigt. Diese von einer Richtung aus gesteuerte Kausalitätskette begreift den Menschen als reaktives Wesen, ohne, dass es fähig wäre, auf seine Umwelt mit bewussten Entscheidungen innerhalb des gesellschaftlichen Kontextes (raum-)wirksam einzugreifen (vgl. Weichhart 2008: 242ff). Der Ansatz der ‚kulturellen politischen Ökonomie‘ begreift die im Cultural Turn angelegte semiotische Analyse als notwendige Selektion und Reduktion von komplexen Sachverhalten und geht der Frage nach, wie die Wechselseitigkeit von semiotischen und außersemiotischen Bereichen konstituiert ist. Ein weiteres Interesse ist, die Mechanismen von gesellschaftlichen Bedeutungskonstruktionen und Vorstellungswelten bis hin zu ihrer Etablierung aufzuzeigen und zu fragen, wie individuelles, organisatorisches Lernen in die Dialektik von Strukturierung und Semiose einbezogen wird. In diesem Ansatz wird erklärt, warum Kultur ein wesentlicher Bestandteil sowohl für die makroökomische Ebene, als auch für die Akteursebene ist. Der Cultural Turn, der die ontologische, thematische sowie methodische Wende in Bezug auf Kultur einleitete, ist also nicht isoliert von den Strukturierungsprozessen (Makroebene) zu begreifen. Der Ansatz der ‚kulturellen politischen Ökonomie‘ bringt zwei unterschiedliche Denkschulen wie strukturalistisch-materialistische und poststrukturalistische Ansätze zusammen. Er verweist auch auf die wahrnehmenden und handelnden Akteure, die gezwungen sind, innerhalb der vorgegebenen strukturellen Rahmenbedingungen, Entscheidungen zu treffen, die wesentlich von den eigenen Bedeutungskonstruktionen abhängen. Diese mikroökomischen Anknüpfungspunkte, die den handelnden Akteur einbeziehen sowie individuelle Strategien berücksichtigen, finden sich in der Regulationstheorie jedoch nur ansatzweise in den Bereichen der Produktionsweise (Arbeitsstruktur, Technologien) und in der Regulationsweise wieder. Die Bereiche beziehen sich auf den rechtlichen, normativen und politischen Handlungsrahmen, der mögliche Vorstellungswelten produziert, soziale Praktiken von Akteuren und Menschen beeinflusst und von ihnen gegebenenfalls reproduziert wird. Der entscheidende Faktor
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ist, dass die wahrnehmende und handelnde Person bei Jessop & Sum (2013) in einen sozioökonomischen Kontext eingebettet ist und die Person nicht völlig autonom und subjektiv auf Umweltfaktoren in einer gerichteten Kausalkette reagiert (vgl. Weichhart 2008b: 242ff). Somit eröffnet der Ansatz der ‚kulturellen politischen Ökonomie‘ neue Diskussionspunkte über die Erweiterung des Regulationsansatzes um eine handlungstheoretische Konzeption. Durch diese Erweiterung wird eine Verbindung von Makro-, Meso- und Mikroperspektiven zugelassen. Dadurch werden binäre Logiken überdacht und methodische Überlegungen erlaubt, den Ansatz für die empirische Forschung fruchtbar zu machen. Durch die Einbindung von regulationstheoretischen Diskussionen werden des Weiteren aktuelle Diskussionen um die derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen eingebunden, die in den Ansätzen beispielsweise von Lefèbvre nicht integriert sind. Jessop (2002) betont, dass seine Begriffsbildungen und Konzeptionen jedoch keinen Ersatz für empirische Untersuchungen darstellen können. Sie können aber als Anker und theoretische Referenzpunkte für die empirischen Analysen dienen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Ansatz der ‚kulturellen politischen Ökonomie‘, verstanden als erweiterter Denkansatz der Regulationstheorie, die Möglichkeit folgender Synthesen anbietet: Er verbindet (1) wissenschaftliche Diskurse und Wenden, wie den Cultural Turn mit der strukturellen Ebene sowie (2) die wechselseitige Beziehung von Menschen und Akteuren zu den Vorstellungswelten. Durch ihre Praxis beeinflussen sie die strukturelle Ebene und es entsteht eine wechselseitige Beziehung. Diese Handlungspraxis kann sich in Bezug auf meine Forschungsarbeit auf künstlerische Prozesse und Praxen eines Künstlers innerhalb eines Umfeldes wie der Stadt Berlin mit unterschiedlichen sich überlagernden Vorstellungswelten (Kreativitätsdispositiv und Diskurse) beziehen, die einem steten Wandel unterliegen. Der Ansatz zeigt auch auf, dass (3) sich Kultur und Struktur auf wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene nicht ausschließen und dass (4) semiotische Verfahren für Bedeutungskonstruktionen wichtig sind (vgl. Kap. 1.5.2).
3. Untersuchungsgegenstände: Visionen und Urbanität
Städte in neuen Zusammenhängen zu denken, kann einen Anlass bieten, die Bandbreite von Vorstellungen für eine zukünftige Stadt auszuloten. Diese Vorstellungen können einerseits physisch umgesetzt werden, wie etwa in einer Modellstadt. Diese wird komplett neu gestaltet und hat keinerlei Anknüpfungspunkte an eine bestehende Stadt. Andererseits kann die Auseinandersetzung mit alternativen Vorstellungen auch mit einer Kritik an bestehenden Städten einhergehen, indem die vorherrschenden ökonomischen und sozialen Mechanismen, die den jeweils bestehenden und strukturellen Rahmenbedingungen zugrunde liegen und als gegeben erscheinen, hinterfragt werden (vgl. Marcuse 2013: 9). Unterschiedliche Zugänge zeigen auf, wie über die zukünftigen Veränderungen der Gesellschaft nachgedacht werden kann; diese können visionäre oder utopische Züge aufweisen. Im Folgenden sollen die zentralen Untersuchungsgegenstände dieser Forschungsarbeit – ‚Visionen‘ und ‚Urbanität‘ – auf theoriebasierter Ebene behandelt werden, um daran anschließend die Vorannahmen transparent zu machen und weitergehende Forschungsfragen abzuleiten.
3.1 V ISIONEN
UND
U TOPIEN
Die Beschäftigung mit den Begriffen ‚Vision‘ und ‚Utopie‘ wirft die Fragen nach der Bedeutung des Zukünftigen in der Gegenwart, nach der Möglichkeit des Intervenierens und der Umsetzbarkeit von Wünschen und Ideen für eine bessere Zukunft oder nach der Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse auf (vgl. Roth 2009: www.*; Zeilinger 2004). Beide Begriffe denken das ‚What if‘, also das ‚Was-wäre-wenn‘ (vgl. Jungk & Müllert 1995: 24).
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Unter ‚Vision‘ wird im Sprachgebrauch meist ein Gedankenbild assoziiert, das sich auf die Zukunft bezieht und dessen Ziel – entweder negativ oder positiv ausgelegt – bewusst verfolgt wird. Dahinter können Wünsche, Werte oder auch menschliche Bedürfnisse stehen. Auf gesellschaftlicher Ebene fließen Visionen beispielsweise in Leitbilder ein, die eine strategische Ausrichtung und eine konkrete Vorstellung verfolgen. Eine ‚Utopie‘ hingegen wird meist mit einer bestmöglichen Version einer Welt in Verbindung gebracht, die einen besseren Gesellschaftsentwurf beinhaltet (vgl. Poltrum 2009; Schölderle 2012). Dahinter wird eine oft nicht realisierbare Gedankenwelt verstanden, die unter bestehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als nicht umsetzbar gilt. Gründe dafür, dass eine Verwirklichung der Utopie unmöglich erscheint, sind unterschiedlicher Natur: Entweder sind (1) die technischen Rahmenbedingungen noch nicht erfüllt, sie umzusetzen. Oder (2) kann eine Realisierung durch Machteliten verhindert werden bzw. die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt diese nicht. Möglich ist auch, dass eine Utopie (3) eine Fiktion ist, die literarisch oder künstlerisch erschaffen wurde und somit nicht auf eine direkte Umsetzung abzielt, sondern als symbolischer Akt gilt (vgl. Marcuse 1980). Ein prominentes Beispiel hierfür liefert Thomas Morus literarisches Werk ‚Utopia‘ (1516), das auf einer weit entfernten Insel in einer fernen Zeit den Idealzustand einer Gesellschaft – eine ZeitRaum-Divergenz – beschreibt. Solche Entwürfe von Utopien beschreiben meist modellhaft ein fiktives Gemeinwesen, das keinen dynamischen Entwicklungen und Einflüssen von außen ausgesetzt ist. Diese Modelle kennen keinen sozialen Wandel und stellen somit ein statisches Grundgerüst einer Gesellschaft dar (vgl. Schölderle 2012: 12).13 In der politischen Auseinandersetzung wird ‚Utopie‘ als Kampfbegriff verwendet, wenn oppositionelle Meinungen als unrealistisch und als nicht umsetzbar abgewertet werden. Der Einsatz des Begriffs kann sich je nach Ort und Zeit unterscheiden und sollte nach Schölderle (2012) immer zeitlich kontextualisiert betrachtet werden. Daher kann auch das Bedeutungsfeld der Visionen und Utopien ein Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels sein. Eine weitere Dimension von Utopie besteht darin, (4) zeitliche gesellschaftliche Missstände aufzudecken. Somit verfolgt ein Utopie-Diskurs die Intention, Sozialkritik auszuüben. Utopie kann (5) aber auch ein Gedankenexperiment einer alterna13 Dieser statische Begriff der ‚Utopie‘ wird auch auf städtebauliche Umsetzungen angewandt, die als Realutopien meist mit negativen Assoziationen verbunden werden. Dahinter wird vor allem die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen von Planern, den ideologischen geprägten Machteliten und den sozialen Bedürfnissen der Menschen betont. Dahinter steht die Logik eines Gesellschaftsverständnisses, in dem Veränderungen und Unterschiede nicht toleriert werden und somit das Mögliche, was für eine Utopie immanent wäre, nicht gedacht werden kann oder darf (vgl. Raulff 2006).
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tiven Welt sein. Somit beinhalten Utopien die Möglichkeit, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, eine kritische Analyse jetziger Wirklichkeit zu sein und eine Reflexion auf unterschiedlichen Ebenen anzustoßen (vgl. Poltrum 2009: 122ff; Schölderle 2012: 14). EXKURS: ZU DEN BEGRIFFEN VISION UND UTOPIE Die Fordismus-Krise, in der Umbrüche auf unterschiedlichen Ebenen deutlich wurden und sich eine neue Gesellschaftsformation abzeichnete, bot Anlass für eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen und für die Arbeit an konkreten Utopien (vgl. Laimer 2013: 5f). Vor allem die Frage der Umsetzbarkeit von Visionen und Utopien im Spätkapitalismus wurde diskutiert. Marcuse & Kurnitzky (1967) kritisierten die spätkapitalistische Gesellschaft und proklamierten das ‚Ende der Utopie‘. Marcuse (1980: 11) betont, dass nichts gegen die Umgestaltung in eine freie und soziale Gesellschaft sprechen würde, da die Mittel dafür vorhanden seien, sie aber nicht entsprechend eingesetzt würden. Bereits in den frühen 40er Jahren definierte Bloch (1985 [1954]) den Begriff der ‚konkreten Utopie‘ folgendermaßen: Die Vorstellung der ‚konkreten Utopie‘ beinhaltet nicht eine bereits verwirklichte Utopie (Realutopie), oder die Vorstellung einer unerreichbaren Utopie, sondern eine Zukunftsvorstellung, für deren Umsetzung die konkreten Voraussetzungen gegeben wären. Damit wird eine Diskussion über alternative Vorstellungen und die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Zustände eröffnet. Zugleich vertrat Adorno (1969) den Standpunkt, dass das utopische Bewusstsein in der Gesellschaft langsam verschwindet. Er sah voraus, was Lyotard (2005 [1982]) als ‚Ende der großen Erzählungen‘ und der Postmoderne als antiutopische Zeit bezeichnete (vgl. Traub 1975). Bloch (1985 [1954]: 104) sieht das ‚Utopische‘ jedoch im Alltag eines jeden Menschen verankert. Dadurch, dass jeder Mensch nach einem besseren und erfüllteren Leben fragt, ist Menschsein immer damit verbunden, Utopien zu haben (vgl. Bloch 1961: 36). Dieser Gedanke des Möglichen ist mit der Ontologie des ‚Noch-Nichts‘ verbunden und spielt auf die Bedeutung des Wortes ‚U-topie‘ an. ‚Topos‘ heißt im Griechischen Ort und ‚U‘- ist die Negation des Ortes: Dies kann einerseits so verstanden werden, dass dieser Ort physisch nicht vorhanden ist und niemals vorhanden sein wird, oder andererseits so, dass die Möglichkeit eines Ortes, den es noch nicht gibt, im Werden begriffen ist (vgl. Schwendter 1994). Hier verlässt der Gedanke der Utopie die abstrakte Diskussion um Wesensinhalte und die Phänomenologie und nimmt eine hybride Form an: Er wird realer, konkreter und gleicht sich der Idee einer Vision an. Dahinter steht
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der Gedanke einer Utopie, die den gestalterischen Moment von Möglichkeitsräumen betont. In Bezug auf das Städtische greift Lefèbvre (1968: 38) diesen Gedanken auf. Städte sind demnach Orte, in denen das Mögliche noch nicht umgesetzt wurde, die aber das Potenzial gesellschaftlicher Veränderung besitzen. Er versteht das Urbane begrifflich als Werk und als einen Ausdruck menschlicher Kreativität. Dahinter steht kein klares Ziel oder eine endgültige Vorstellung einer Utopie. Durch das Erkennen widersprüchlicher Verhältnisse kann das Mögliche in einem permanenten Aushandlungsprozess von Visionen aber zur Realität werden. Anknüpfungspunkte an die Überlegung von Lefèbvre (1972: 14ff) bietet das Konzept der ‚Heterotopien‘ (hetero = anders, Topos = Ort) von Foucault an (vgl. hierzu auch Foucault 1967; Foucault et al. 2013). Im Gegensatz dazu sind gesellschaftliche Gegenentwürfe bereits räumlich und zeitlich fixiert und in die Gesellschaft eingezeichnet, unterliegen aber einem permanenten Wandel. Nach Foucault (1967) werden in ‚Heterotopie‘ nicht gesamtgesellschaftliche normative Strukturen verfolgt, sondern ein abweichendes Verhalten und Regeln. Demnach sind diese Orte, die außerhalb der vorgegeben Norm existieren, Projektionsflächen gesellschaftlicher Verhältnisse. Foucault et al. (2013) bezeichnen sie als lokalisierte Utopien, da sie auf ihre Weise vorhandene Strukturen reflektieren, sie negieren, umkehren oder neu auslegen und somit neue Wirklichkeiten schaffen. An der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen setzten auch Jungk & Müllert (1995) an und sehen in der Entwicklung von Utopien ein emanzipatorisches Potenzial und einen Beitrag zu einer Lösung gesellschaftlicher Probleme. Jungk als Realisierungsbefürworter sah in der Utopie – verstanden als konkrete Reaktion auf gesellschaftliche Missstände – eine Möglichkeit, Gesellschaft zu verändern. Er kritisierte das Ungleichgewicht zwischen der Produktion technischer Erfindungen und sozialen Ideen, „die das menschliche Leben und Zusammenleben humanisieren“ (Jungk & Müllert 1995: 30). Demnach würden humane Ideen den technologischen Innovationen hinterherhinken.
3.2 D AS QUALITATIVE E LEMENT U RBANITÄTSKONZEPTE
DER
S TADT :
Bei dem Begriff ‚Urbanität‘ handelt es sich um ein sehr weitgefasstes, vielschichtiges Konglomerat an Ansätzen, Theorien und Konzepten. Es lässt sich daher konzeptionell schwer fassen. Dennoch wird im folgenden Kapitel eine
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Annäherung an den Begriff vorgenommen: Künstler beschäftigen sich in der vorliegenden Forschungsarbeit mit urbanen Fragestellungen. Um Aussagen darüber treffen zu können, wie Visionen einer zukünftigen Urbanität aussehen könnten, werden daher bestehende Dimensionen und Ansätze zum Thema Urbanität vor- und einen Bezug zum gesellschaftlichen Wandel hergestellt. Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter dem Begriff ‚Urbanität‘ das Produkt der Urbanisierung, das neue städtische Lebensformen und gesellschaftliche Verhältnisse hervorgebracht hat (vgl. Selle 2012: 54f). Eine differenzierte Unterscheidung nimmt Manderscheid (2004: 53f) vor und unterteilt das Verständnis von Urbanität in drei Kategorien: (1) In der objektbezogenen Kategorie wird Urbanität als eine messbare und physisch materielle Eigenschaft eines städtischen Raums verstanden. Demnach wird Urbanität durch den Bau und die bauliche Zuweisung von Funktionen der Architektur hergestellt. (2) Auf der Ebene der Individuen ist Urbanität eine Verhaltensweise oder Lebensform, die sich aus dem Städtischen ergibt, nur in den Städten zu finden ist oder von ihnen ausgeht. Simmel (2006 [1903]) beschreibt in seinen städtischen Beobachtungen den Charakter eines Großstädters, der durch Distanziertheit, Blasiertheit und Reserviertheit gekennzeichnet sei. Simmel beschreibt die Stadt der Moderne und wie das Individuum in den Massen der Menschen versucht, Subjekt zu bleiben. Demnach fördere das Großstadtleben die Individualisierung. Wirth (1974 [1938]) begreift Urbanität als Lebensform, die durch Dichte, Größe der Stadt und Heterogenität der Stadtbewohner geprägt wird. In dieser Definition beeinflussen sozialökologische Faktoren das soziale städtische Verhalten. Jeder der drei Faktoren hat Auswirkungen auf den urbanen Lebensstil. So bewirke die Dichte eine Komplexität und eine Ausdifferenziertheit der Stadt, woraus eine soziale Distanz zwischen den Menschen entsteht. Heterogenität dagegen führe zu Unsicherheit gegenüber fremden Menschen. Wirth (1974 [1938]: 11) stellt dar, dass die Ausdifferenzierung der urbanen Werte sich nicht nur auf den urbanen Raum beschränkt, sondern auch darüber hinaus gesellschaftlich greift. Die Herausbildung spezifischer urbaner Lebensweisen und Werte deren Nützlichkeit. Diese sei vorteilhaft für die Einbindung in die entfremdete, kapitalistische Wirtschaftsweise. Bahrdt (1961) versteht Urbanität als Lebensstil, der durch das Wechselspiel von Öffentlichkeit und Privatheit geschaffen wird. Nur in der Stadt sei diese strenge Aufteilung der Sphären möglich. Dieses Verständnis von Urbanität nach Bahrdt (1961) galt lange als Grundlage für einen soziologischen Begriff von Stadt in der bürgerlichen Gesellschaft und prägt bis heute die Diskussion über die Bedeutung öffentlicher Räume als Begegnungsmöglichkeiten in Zeiten der Privatisierung und Digitalisierung.
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(3) Unter dem normativen Charakter von Urbanität werden vor allem die politischen, demokratischen und emanzipatorischen Errungenschaften verstanden, die mit dem städtischen Umfeld verbunden werden. In diesem Moment wird für Menschen Urbanität erfahrbar. Diese Errungenschaften werden vor allem mit positiven städtischen Aspekten wie mit Offenheit, Toleranz, Freiheit, Öffentlichkeit und Heterogenität in Verbindung gebracht (vgl. Manderscheid 2004; Selle 2012). Das Konzept Urbanität ist nach Siebel (2000) meistens mit der Frage verbunden, wie die Qualität des städtischen Lebens konstituiert sein sollte. In der individuellen Dimension zeigt sich eine normative Vorstellung von Urbanität darin, dass meist jeder Mensch eine individuelle Vorstellung von dem hat, was urban ist und daran eigene Ideen, Werte und Normen knüpft. Normative Vorstellungen in Bezug auf die objektbezogene Dimension zeigten sich bereits in der in den 60er Jahren entstandenen städtebaulichen Diskussion und in der Kritik, dass sich Urbanität nur durch städtebauliche Vorgaben wie bauliche Dichte und Bevölkerungsdichte herstellen ließe. Leitbilder wie ‚Urbanität durch Dichte‘ wurden im Technik- und Fortschrittsglauben des Fordismus umgesetzt und sahen sich in Großwohnsiedlungen, Trabantenstädten und Satellitenstädten verwirklicht. Daran wurde kritisiert, dass die in den 60er Jahren vorherrschende Funktionalität des Städtebaus keine hinreichende Bedingung darstellen würde, eine lebendige Urbanität im Sinne eines guten Zusammenlebens zu erreichen. Im Gegenteil, das funktionalistische Verständnis führte zu einem Verlust von Urbanität und zu einer Krise der Städte. Diese Krise der fordistischen Stadt wurden von Mitscherlich (1967) in Deutschland in ‚Die Unwirtlichkeit der Städte‘ diskutiert, von Jacobs (1961) für die USA mit ‚The death and life of great American cities‘ und von Lefèbvre (1986) in ‚Die Revolution der Städte‘ auf Frankreich bezogen. Die Autoren forderten eine Stadt, die auf die Bedürfnisse des Menschen ausgerichtet ist und diese nicht durch bauliche Maßnahmen entfremdet oder entmenschlicht. Auf Städte- und Geographentagen (1970, 1973) wurde gefordert, dass soziale, politische sowie historische Aspekte in die Vorstellung von Urbanität integriert werden müssen und eine Rückbesinnung auf die Werte und Qualitäten der ‚europäischen Stadt‘ angestrebt (vgl. Berndt 1967; Salin 1960). Siebel (1994) greift die Werte der ‚europäischen Stadt‘ auf und sieht in einer städtischen Gesellschaft einen hohen Standard an Urbanität gegeben, wenn folgende fünf Dimensionen inbegriffen sind: Dazu gehören als erste Dimension die ‚Befreiung vom Arbeitszwang‘, als zweite die ‚durchgesetzte Demokratie‘, als dritte eine ‚entfaltete Individualität‘, als vierte eine ‚produktive Differenz‘ in städtischen Gesellschaften und als fünfte Dimension eine vorhandene ‚soziale Integrität‘. Siebel (2004) betont damit die Qualität einer emanzipatorischen Entfaltungskraft einer Demokratie, die durch die aktive Beteiligung der Stadtein-
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wohner zustandekommt. Diese fünf Dimensionen scheinen aber in der Entwicklung von Städten nur für bestimmte Gruppen zur Verfügung zu stehen. Davon spricht Salin (1960) bereits im Zusammenhang mit der städtebaulichen Debatte um Urbanität und zeigt die Ambivalenz auf, dass Urbanität immer nur ‚eine Zeit der Wenigen‘ für die ‚Urbaniten‘ war: Nur die Menschen, die politisch aktiv, privilegiert, gebildet und mit entsprechendem Habitus ausgestattet waren, konnten ihre Werte und Tugenden innerhalb der Stadt durchsetzen, sich von anderen sozialen Gruppen abgrenzen und ihre Privilegien sichern. So kann Urbanität auch als eine Konzeption verstanden werden, die sich nach bürgerlichen Tugenden ausrichtet (vgl. Dirksmeier 2009b; Helbrecht 2014; Selle 2012). 3.2.1 Urbanität als hegemoniale Durchsetzung neoliberaler Werte Kapitalistische Gesellschaften sind durch räumliche und soziale Differenzierung geprägt. Nach den jahrelangen Prozessen der Suburbanisierung im Fordismus, konnte seit den späten 90er Jahren ein gegenläufiger Trend der Wanderungsbewegung in Richtung Innenstädte identifiziert werden: eine Reurbanisierung (vgl. Helbrecht 2014). Durch die Neubewertung der Stadtkultur und die Wiederentdeckung des Städtischen als Wohn-, Arbeits- und Konsumort erfuhr der Begriff Urbanität eine Renaissance (vgl. Messling et al. 2011). Die zunehmende Reurbanisierung kann auch im unmittelbaren Zusammenhang mit der Umstrukturierung der Städte im Übergang von der fordistischen zur postfordistischen Regulationsweise und einer zunehmend globalisierten Ökonomie gesehen werden. Wissenschaftlich wird dieses Phänomen mit den Begriffen ‚Renaissance der Innenstädte‘, New Urbanismus14, Urban Revitalisation bzw. Urban Regeneration beschrieben. Aus der Sicht der Kommunen wurden aufgrund der bevorste-
14 Der Begriff des New Urbansimus etablierte sich zunächst in den USA und ist mit Vorstellungen einer nachhaltigen urbanen Planungspraxis verbunden. In dieser Planungspraxis wird die auf die großflächige Zersiedlung urbaner Räume reagiert. Eine solche ist jedoch in diesem Ausmaß in Deutschland nicht zu finden. Ziel ist, die Attraktivität von Innenstädten und dezentral angelegten Zentren zu steigern, um einer weiteren Zersiedelung und Versiegelung von Flächen entgegenzuwirken. Eine nachhaltige Stadtentwicklung ist demnach durch eine Verdichtung zu erreichen; öffentliche Strukturen wie öffentlicher Nahverkehr müssen dafür ausgebaut werden. So soll der Individualverkehr eingedämmt und somit Ressourcen und Energie eingespart werden. Diese Planungspraxis geht mit dem in der Stadtforschung diskutieren Smart Growth einher (vgl. Nelson & Watcher 2002: www.*).
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henden Herausforderungen neue Strategien für eine nachhaltige Stadtentwicklung gesucht. Diese können Elemente wie die Förderung der Kompaktheit und der Verdichtung der Innenstädte, eine Fokussierung auf kulturelle und wissensbasierte Ökonomie, eine Integration ökologischer Aspekte in den Städtebau und die Förderung einer Funktionsmischung beinhalten. Diese Aspekte wurden unter den Begriff ‚Neuer Urbanität‘ subsumiert und finden sich in zahlreichen städtebaulichen Leitbildern wieder (vgl. Häußermann & Siebel 1987a: 8ff). Häußermann & Siebel (1987a) schaffen eine soziologische Urbanitätstheorie der ‚Neuen Urbanität‘, die städtische Phänomene unter dem Vorzeichen der postfordistischen bzw. postmodernen Stadt beschreibt. Sie analysieren die Neuausrichtung der Stadtpolitik, die nicht mehr den sozialen Ausgleich der Bevölkerung verfolgt, sondern marktförmig als Unternehmen agiert. Sie beschreiben die Kehrseiten der ‚unternehmerischen Stadt‘ wie die Ausrichtung auf Großprojekte, die Festivalisierung der Städte, neue urbane Ausgrenzungs- und Sicherheitspolitiken, den Übergang von der Mieter- zur Eigentümerstadt, Verdrängungsmechanismen wie Gentrifizierung und die Entstehung dualistischer Arbeitsmarktstrukturen. Der Begriff ‚Neue Urbanität‘ beschreibt diesen Wandel und dient zusätzlich zur Beschreibung neuer struktureller Realitäten wie der Zunahme segregierter städtischer Teilräume und der fragmentierten Entwicklung. Letztere ist dadurch gekennzeichnet, dass die Teilräume entweder in ökonomische Prozesse eingebunden oder von ihnen abgeschnitten sind (vgl. Häußermann & Siebel 1987a; Jameson 1986; Wood 2003). Auch zahlreiche städtische Leitbilder, Diskurse, aber auch das Stadtmarketing verfolgen mit ihrer marktorientierten Logik das Ziel, Urbanität herzustellen (vgl. Kap.1.4). Urbanität wird als weicher Standortfaktor etabliert, um kaufkräftiges Publikum, innovative Unternehmen und Humankapital anzulocken, um in der internationalen Städtekonkurrenz bestehen zu können (vgl. Heeg & Rosol 2007; Mayer 2003: 266). Die Fokussierung der marktorientierten Stadtentwicklung auf die Mittel- und Oberschicht und auf die Vermarktung, Inszenierung und Einbindung endogener Potenziale, wirkt sich auf den städtischen Zusammenhalt sowie den Alltag aus. Laut Burkhardt-Bodenwinkler (2013) findet eine Verarmung nicht nur im materiellen Sinn statt. [Auch] „politische Teilhabe, soziale Sicherheit und ästhetische Respektierung sowie öffentliche Versammlungsräume gehen zunehmend verloren. Menschen bekommen immer mehr Angst um Arbeitsplatz, Krankheits- und Altersversorgung und sie werden entwürdigenden Verboten und Kontrollen unterworfen.“ (Burkhardt-Bodenwinkler 2013: 7)
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Private Räume mit bestimmten Kontrollmechanismen und Zugängen nehmen zu, Nischen und Freiräume werden weniger, Räume für Begegnungen nehmen ab. Die Folge ist, dass Marginalisierte zunehmend aus den Innenstädten verschwinden. In diesem Zusammenhang wird zunehmend von einer Auflösung der ‚ursprünglichen Urbanität‘ gesprochen, oder von einer Etablierung einer ‚exklusiven Urbanität‘, an der nur noch einzelne soziale Gruppen teilhaben können (vgl. Eick et al. 2007; Füller et al. 2013). 3.2.2 Urbanität als normativer Aushandlungsprozess Urbanität kann als eine bestimmte Qualität des städtischen Zusammenlebens oder als ein Standard des sozialen Zusammenlebens begriffen werden (vgl. Burkhardt-Bodenwinkler 2013; Häußermann 2006). Urbanität ist demnach kein Zustand, sondern wird durch permanente Interaktion neu geschaffen (vgl. Feldtkeller 1994: 37). In Folge kann Urbanität als Ergebnis eines „langandauernden und komplexen gesellschaftlichen Prozesses verstanden werden, der ambivalente, ökonomische, soziale und politische Zustände beinhalten kann“ (Selle 2012: 54). Urbanität steht somit in einem Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen und verändert in ihrer historischen Dimension je nach Gebrauch und Zeit die Werte und Normen.15 Jede Gesellschaft und jede Epoche hat ihre eigene Ur15 ‚Normen‘ sind nach außen an einen Empfänger gerichtet, von dem bestimmte Verhaltensweisen oder -regeln gefordert bzw. erwartet werden. Damit Normen eingehalten werden, gibt es Regelwerke und (informelle) Gesetze. Dabei üben vor allem Institutionen die Kontrolle zur Einhaltung der Normen aus. Sanktionen bei Nichteinhaltung der Normen können diejenigen Menschen oder Institutionen ausüben, die die Macht oder die Exekutive besitzen.‚Werte‘ hingegen sind Zielvorstellungen unterschiedlicher Gemeinschaftsgruppen. Hinter Werten kann eine Auffassung von Wünschenswertem stehen, die für ein Individuum oder eine Gruppe kennzeichnend ist (vgl. Laub 2011: 95ff). Mit Werten kann eine sinnstiftende Struktur gegeben werden, mittels der die Welt gedeutet wird (vgl. Laub 2011). Man kann gesellschaftliche und individuelle Werte unterscheiden. Gesellschaftliche Werte können allgemeingültigen Status haben. Dahinter stehen aber keine Regeln oder bestimmte Verhaltensweisen, sondern Ideale (vgl. Hradil & Schiener 2001; Laub 2011). ‚Wertewandel‘: Wertevorstellungen und Prinzipien verändern sich im Laufe der Zeit und gelten als ein bestimmender Faktor des sozialen Wandels. Regulationstheoretisch gesehen, stehen veränderte ökonomische Verhältnisse und der Wandel der Werte in einem wechselseitigen Verhältnis. Mit zunehmendem Wohlstandsniveau nehmen ebenfalls immaterielle Werte zu (Freiheit, Selbstbestimmtheit), während materielle Werte in ihrer Bedeutsamkeit abnehmen (vgl. Inglehart 1995).
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banität (vgl. Siebel 1994: 12). Urbanität wird als hegemonialer Aushandlungsprozess zwischen Stadtplanern, Institutionen und Stadtverwaltungen einerseits und privatwirtschaftlichen Akteuren andererseits verstanden. Diesem Aushandlungsprozess kommt auch ein Kampf um neue Deutungshoheiten zum Ausdruck, in dem divergierende Interessen und Erwartungen an städtisches und gesellschaftliches Leben zusammenkommen und bestehende Urbanitätskonzeptionen hinterfragt werden. Neue Konzepte von Urbanität können durch Formen von Kreativität, Aneignungsformen und widerständige Tendenzen geprägt und gestaltet werden. Beispielsweise fordern zivilgesellschaftliche Kräfte in lokalen Bündnissen weltweit nicht nur ihr ‚Recht auf Stadt‘, sondern rücken auch solidarische Werte sowie das funktionierende Gemeinwesen in den Vordergrund (vgl. Manifest: Initiative Not in our Name 2010: www.*; West 2013: www.*). Sie fordern eine Teilhabe an städtischen Gütern, stellen sich gegen Spekulation und Privatisierung, fordern mehr politische Teilhabe ein und versuchen ein Gegenkonzept zu den etablierten Vorstellungen von Urbanität zu formulieren und durchzusetzen. 3.2.3 Visionen einer zukünftigen Urbanität Siebel (1994: 17f) proklamiert für eine zukünftige Urbanität ein neues Verhältnis zur Natur, ein neues Zeitregime und einen veränderten Umgang mit Geschichte und mit dem öffentlichen Raum. Des Weiteren sollten in einem zukünftigen Urbanitätsverständnis aktuelle gesellschaftliche Entwicklungstendenzen aufgegriffen und die Schattenseite der ‚unternehmerischen Stadt‘ überwunden werden. Der Abbau sozialer Disparitäten und eine Offenheit Fremden gegenüber sollten beispielsweise als Aspekte in eine zukünftige Urbanität einfließen. Siebel (1994; 2004) sieht die Ambivalenzen städtischer Entwicklungen jedoch erst in ferner Zukunft vereint und betont so den utopischen Charakter dieser Forderungen, die seiner Meinung nach schon immer an die Vorstellungen der ‚europäischen Stadt‘ geknüpft waren. Das heißt, die Integration der genannten sozialen Ansprüche in ein einziges Urbanitätsverständnis ist zunächst als geäußerter Wunsch bzw. als Utopie zu verstehen. Lefèbvre (1968: 31ff) hingegen begreift den urbanen Raum als konkrete Utopie, in der Urbanität kein gegebener Zustand, sondern ein positives Ziel einer gesellschaftlichen Entwicklung darstellt: Urbanität muss daher immer wieder produziert und prozessual erschaffen werden, indem eigene Wünsche, Visionen und Ideen verhandelt und gelebt werden können. Stadt ist demnach ein Ort, in dem Unterschiede auftreten und sich verschiedene Wirklichkeiten überlagern.
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Der urbane Raum verspricht daher die Möglichkeit einer zukünftigen Urbanität, aber beinhaltet noch keine erfüllte Wirklichkeit (vgl. Lefèbvre 1972: 23). Ausgehend von Lefèbvres Überlegungen und vor dem Hintergrund weltumspannender Urbanisierungsprozesse, der Auflösung des Städtischen als Raumeinheit, globaler Vernetzung und zunehmender globaler Ungleichheiten, muss nach Schmid (2011: 33) ein neues Urbanitätskonzept formuliert werden. Dieses neue Urbanitätskonzept sollte sich nicht ausschließlich auf die Werte der ‚europäischen Stadt‘ und nicht auf die Distinktion städtischer Lebensweisen beziehen, sondern von einer spezifischen Qualität eines urbanen Raumes ausgehen. Ein solches zukünftiges Urbanitätskonzept wäre dann nicht auf einzelne Städte reduzierbar, sondern universaler angelegt. Das Konzept einer zukünftigen Urbanität sollte nicht nur westliche Diskurse reproduzieren, sondern auch menschliche Erfahrungen in und theoretische Auseinandersetzungen über unterschiedliche Städten miteinfließen lassen. Das Potenzial des urbanen Raums liegt nach Schmid (2011) u.a. in der Präsenz und Verdichtung unterschiedlicher sozialer, kultureller und ethnischer Gruppen, ihren Wertevorstellungen, Kenntnissen, Erfahrungen, Aktivitäten und der Möglichkeit, diese unterschiedlichen Elemente zusammenzubringen. Die wachsende Vielfalt in Städten entsteht derzeit weltweit auch durch die Zunahme der transnationalen Migrationsströme (vgl. Valentine 2008: 327ff). Eine entscheidende Rolle spielt vor allem die Gestaltung der Interaktionsprozesse und Begegnungsqualitäten (vgl. Schmid 2011: 34; Valentine 2008).
3.3 V ORANNAHMEN UND F ORSCHUNGSFRAGESTELLUNGEN Zunächst wird davon ausgegangen, dass eine transdisziplinäre kreative Auseinandersetzung mit dem urbanen Raum eine Möglichkeit bietet, die Vision einer bislang nicht vorhandenen Wirklichkeit gestalterisch zu kreieren: Wie kann die aus der Einleitung formulierte Problemstellung unter Berücksichtigung der theoretischen Bezüge operationalisiert werden? Im Folgenden werden die getätigten Vorüberlegungen zusammengeführt, um daran anschließend Forschungsfragen abzuleiten. Im vorhergehenden Kapitel wurde diskutiert, was Urbanität im Sinne eines guten gesellschaftlichen Zusammenlebens ausmacht und wie sie den Anforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung gerecht wird. Die Künstler können aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit dem urbanen Raum und ihrer künstlerischen Möglichkeiten Aussagen darüber treffen, wie eine Qualität des städtischen Zusammenlebens aussehen könnte. Dabei, so eine weitere Vorannahme, werden
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bestehende städtische Potenziale, aber auch Probleme als Ausgangspunkt der künstlerischen Auseinandersetzung ausgelotet. Diese Auseinandersetzung kann als Chance gesehen werden, zum einen Alternativen – ein ‚Was-wäre-wenn‘ – zu denken. Zum anderen können neue mögliche urbane Vorstellungsbilder und visuelle Welten erschaffen werden, welche Ausgangspunkt eines Interaktionsprozesses um eine Vision einer zukünftigen Urbanität sind. Dabei kann die Integration künstlerischer Werke eine weitere Reflexionsebene in einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung anstoßen. Für die vorliegende Forschungsarbeit begreife ich die Diskussionen um das Verständnis von Urbanität am Beispiel von Berlin in unmittelbarer Wechselwirkung zum gesellschaftlichen Wandel: In Zeiten von Umbrüchen und Krisen auf gesellschaftlicher Ebene zeigt sich diese Wechselwirkung auch in der Schnelllebigkeit der Urbanitätskonzepte (vgl. Helbrecht 2014: 178). Damit kann Urbanität gleichzeitig als Analysekategorie gesellschaftlichen Wandels verstanden werden, die unterschiedliche städtische Phänomene beschreibt und je nach kontextueller Verwendung implizite Wertevorstellungen überträgt. Diese Erkenntnisse macht sich die vorliegende Forschungsarbeit zu Nutze. Es wird die Frage diskutiert, wie unter den Vorzeichen neuer gesellschaftlicher Entwicklungen eine urbane Gesellschaft in Zukunft gestaltet werden kann. Die Frage danach, wie die Qualität des städtischen Zusammenlebens in Zukunft aussehen könnte, lenkt den Fokus auf die Bedürfnisse von Menschen im städtischen Raum und konkret auf die Lebenswelt der Künstler. Dieser Fokus kann daher, so eine weitere Vorannahme, Impulse an die Stadtpolitik setzen. Darüber hinaus können durch die Zusammenarbeit mit Künstlern und durch die Betrachtung ihrer spezifischen Zugänge zu Stadt, weitere methodische und theoretische Überlegungen für eine transdisziplinär ausgelegte geographische Stadtforschung abgeleitet werden. Die Vorannahme dahinter ist, dass künstlerische Erkenntniswege den wissenschaftlichen Forschungsweg inhaltlich und methodisch sowie vice versa bereichern können. Folgende Fragen werden zu Beginn des Forschungsprozess gestellt, um möglichst präzise Erkenntnisse zu gewinnen: 1.
2.
Warum setzen sich Künstler mit städtischen Themenfeldern auseinander? • Ordnen sich die Künstler einem bestimmten Kunstgenre zu? • Welche Motivationen und Beweggründe führen zu einer Auseinandersetzung mit dem städtischen Themenfeld? • Positionieren sich die Künstler bewusst als Akteure innerhalb der Stadt und wenn ja, auf welche Weise? Welche städtischen Themen werden künstlerisch im Zusammenhang mit der vorliegenden Forschungsfrage reflektiert?
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3.
4.
5.
6.
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• Inwieweit werden städtische Probleme aufgenommen? • Inwieweit werden Potenziale von Städten rezipiert? • Wird auf den städtischen Wandel reagiert? • Wie werden diese Themen bearbeitet? • Wird bewusst ein Berlin-Bezug hergestellt? Inwieweit findet eine (Selbst-)Reflexion des gesellschaftlichen Kontextes und des städtischen Umfeldes seitens des Künstlers statt? • Reflektieren die Künstler die Rollen und Fremdzuschreibungen, die ihnen zugeschrieben werden? • Welche gesellschaftlichen Rollen bzw. Aufgaben schreiben sie sich selbst zu? Welche Zugänge haben die Künstler zu städtischen Themenfeldern und zu Urbanität? • Inwiefern bewegen sich die Künstler im Umfeld der Urbanität? • Inwiefern wählen die Künstler Raumbezüge bzw. raumtheoretische Ansätze? • Welche methodischen Zugänge nutzen die Künstler? Inwieweit geben künstlerische Ausdrucksweisen Hinweise auf potentielle und gewünschte Werte und Normen für ein zukünftiges Zusammenleben und Urbanität? • Können aus den künstlerischen Positionen raumbezogene Visionen einer zukünftigen Urbanität abgeleitet werden? • Inwieweit werden diese als Teil eines Aushandlungsprozesses verstanden? Können transdisziplinäre Auseinandersetzungsstrategien mit städtischen Themen zu neuen Denkweisen und Erkenntnissen in Bezug auf Stadt und Urbanität führen? • Inwieweit ist raumbezogene Kunst Mittel und Methode einer Kritik an aktueller Stadtplanung, Krisen, Diskursen, Vorstellungswelten etc.? • Welche methodischen Erkenntnisse sind aus dieser Forschungsstrategie zu ziehen? Welche inhaltlichen Erkenntnisse lassen sich schlussfolgern?
4. Forschungsstrategien
Die Entwicklung einer geeigneten Forschungsstrategie für die der Arbeit zugrunde liegenden Fragestellungen hat mich vor mehrere Herausforderungen gestellt. Zum einen galt es, auf theoretischer Ebene unterschiedliche Erklärungsansätze miteinander zu verbinden. Zum anderen musste der transdisziplinäre Forschungsprozess theoretisch fundiert sowie methodisch konzipiert und die Einzelfallstudien in diesen Hintergrund eingebettet werden. In theoretischer Hinsicht wurden subjektorientierte Erklärungsansätze mit strukturellen verbunden. Diese Verbindungen finden sich sowohl in der Diskussion über ‚Handlung und Struktur ‘ als auch in den Theoriediskussionen wieder, die politisch-ökonomische und kulturbezogene Ansätze zusammendenken. In letzteren wurden die makrotheoretisch fundierte Regulationstheorie und der Ansatz der ‚kulturellen politische Ökonomie‘ von Jessop (2013) zusammengedacht: Indem Kultur als integraler Bestandteil gesellschaftlicher Prozesse begriffen wird, zeigen sich in der Etablierung von Diskursen und Vorstellungswelten gleichzeitig die konstituierenden Elemente der Struktur. Auf wissenschaftlicher Ebene bedeutet eine Übertragung dieser Vorstellung die Verbindung von poststrukturalistischen Themen und Methoden mit subjektorientierten und strukturbedingten Erklärungsansätzen. In dieser Arbeit wird deshalb eine Verbindung zwischen dem (1) Künstler als Subjekt und in seiner Einbindung in strukturelle Prozesse, (2) dem gesellschaftlichen Wandel in struktureller Hinsicht und bezogen auf neue Visionen und Vorstellungswelten und (3) der Kunst auf den Ebenen des Akteurs, des Produktionsprozesses und des Out-Puts hergestellt (vgl. Lange 2007: 157; Reuber & Pfaffenbach 2005). In der Konsequenz bedient sich diese Forschungsarbeit eines rückkoppelnden Verfahrens. Es wurde ein interpretativ-verstehender Zugang gewählt, dessen Ziel die Erfassung der Vielschichtigkeit durch die Aufdeckung von Wirkungszusammenhängen ist. Es geht um die Konstruktion von Wirklichkeiten und die Interpretation eigener Erfahrungen und Wahrnehmungen. Und es geht um die Erfassung und das Verstehen von kom-
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plexen Ausgangsbedingungen und subjektiven Sinngebungsprozessen, die sich aus dem jeweiligen sozialen Kontext ergeben können (vgl. Davies & Dwyer 2007; Mattissek et al. 2013). Gleichzeitig werden diese Sichtweisen und die strukturellen Gegebenheiten der städtischen Gesellschaft in ihrer gegenseitigen Durchdringung und Beeinflussung herausgearbeitet. In den folgenden Kapiteln werden die transdisziplinäre Forschungsstrategie sowie die Fallstudien thematisiert. Dazu gehört auch die Auswahl der Fälle, sowohl was die Einzelfallstudie Berlin als auch die Fallauswahl der Künstler betrifft.
4.1
T RANSDISZIPLINÄRE F ORSCHUNG
In den letzten Jahrzehnten hat die transdisziplinäre Forschung einen Bedeutungszuwachs erfahren. Der Grund dafür liegt in der Komplexität heutiger gesellschaftlicher Problemstellungen. Diese können oft einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen nicht mehr allein zugeordnet werden: Die Sichtweise einer einzelnen wissenschaftlichen Perspektive reicht zudem nicht mehr aus, um die Komplexität von Gesellschaft zu erfassen. Eine angemessene Lösungsstrategie kann daher oft nur durch eine transdisziplinäre Herangehensweise entwickelt werden. Unter transdisziplinärer Forschung im akademischen Bereich wird die Zusammenarbeit zweier oder mehrerer Fachbereiche verstanden, die über die bloße interdisziplinäre Kooperation zur Erkenntnisgewinnung hinausgeht. Im transdisziplinären Zusammenspiel unterschiedlicher Fachrichtungen werden bestenfalls nicht nur neue Erkenntnisse generiert, sondern Fragestellungen, Aussagen und Methoden übergreifend kritisch reflektiert. Transdisziplinäre Forschung wird auch als Wissenschaftsprinzip verstanden, das praktisches Wissen mit wissenschaftlichem Wissen verbindet. Dieses Wissenschaftsprinzip soll mit Hilfe integrativer Methoden auf hybride Problemstellungen reagieren (vgl. Bergmann et al. 2010: 23). 4.1.1 Transdisziplinäre Wissensproduktion Eine transdisziplinäre Annäherung von Kunst und Geographie zeigt sich im Forschungsfeld Art and Geography und Experimental Geography in der theoretischen und visuellen Praxis, in der Anwendung kreativer Methoden und der Hinwendung zum Räumlichen. Sie kann sich auf urbane Umwelten, auf städtische Diskurse sowie auf den Alltag und damit auf Urbanität beziehen. Die Legitimation der gemeinsamen Wissensproduktion beruht darauf, dass zunächst getrennt
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erscheinende Wissensbestände und kreative Prozesse zusammengeführt werden und sich an den bereits genannten gemeinsamen Schnittpunkten treffen (vgl. Abb. 2). Das, was als neu definiert werden kann, sind erstens Praktiken der räumlichen Wissensproduktion – die einen explorativen und experimentellen Charakter haben – zweitens die Darstellungsweisen und drittens die entwickelten Ideen und Visionen. Transdisziplinäre Annäherungen sind als Trend innerhalb der gesamten Forschungslandschaft zu sehen, die u.a. die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung zum Thema ihrer Auseinandersetzung machen. Die Zunahme transdisziplinärer Projekte in Bezug auf Fragen nach gegenwärtigen und zukünftigen urbanen Entwicklungen ergibt sich dadurch, dass diese komplexer und unsicherer verlaufen, Innovationszyklen sich hingegen verkürzen und diese Entwicklung bestärken. Daher sind Lösungen und Ideen nicht mehr nur in wissenschaftlichen Disziplinen zu finden, die eine konventionelle Sichtweise vertreten und durch Trennung von Wissenschaft und Gesellschaft nur wissenschaftlich abgesichertes Wissen reproduzieren (vgl. IRS 2014: www.*). Lösungen werden vielmehr in wissenschaftlichen Gebieten erzeugt, die andere Disziplinen und gesellschaftlichen Akteure offen als integralen Bestandteil der Forschung begreifen. Diese Argumentation geht auf Gibbons (1994) Überlegungen zu neuen Formen der Wissensproduktionen zurück. Er sieht im Kontext von Internationalisierung und Kommerzialisierung von Wissen eine verstärkte Konkurrenz um Wissensproduktionen. Wissensproduktion sei anwendungsorientierter und ein wirtschaftliches Gut geworden und diene dem Nutzen der Auftraggeber (vgl. Gibbons 1994: 4ff). Die Universität habe ihre Monopolstellung innerhalb der Wissensproduktion verloren. Außeruniversitäre private wie öffentliche Forschungseinrichtungen wie Think Tanks, Fabs bzw. (Kunst-)labs nähmen zu. Sie lösen durch ihre Vernetzung Disziplinen ab und arbeiten problemorientiert an konkreten Fragestellungen: Diese sind in einem Feld zwischen Wirtschaft und Kunst, Wissenschaft und Kunst, Stadtforschung und künstlerischer Forschung zu finden. Symposien und Workshops, die die zukünftige Stadtentwicklung in Deutschland, aber auch im internationalen Umfeld zum Thema ihrer Auseinandersetzung haben, bestätigen die weitere thematische Annäherung zwischen Stadt und Kunst und die Relevanz des Themenbereichs (vgl. De La Iglesia 2010; Hildebrandt 2012; Schäfer 2010). Das Spektrum solcher Veranstaltungen ist breit gefächert. Sie thematisieren die Rolle des Künstlers innerhalb der Stadtgesellschaft, mögliche neue Arbeitsmodelle, kooperative und kollaborative Wissensproduktionen sowie Prozesse der Wissensgenerierung, welche die Stadt in ihren Veränderungen zu begreifen und zukünftige Entwicklungen vorauszusehen versucht. Eine Rolle spielen (1) neue Strategien der Selbst- und Wissensorgani-
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sation sowie (2) Überlebensstrategien und (3) deren räumliche Ausprägungen im urbanen Umfeld unter verstärkten Wettbewerbsbedingungen und bei Abnahme öffentlicher Ressourcen. Think Tanks und kollaborative Wissensproduktionen werden von Künstlergruppen, Stadtforschern, der Stadtpolitik oder auch der Wirtschaft – wie beispielsweise das temporäre Guggenheim-Lab von BMW im Jahr 2012 – ins Leben gerufen. Nach eigenen Beschreibungen des Laboratoriums ging es darum, urbane Trends durch kreative Köpfe der Stadtforschung, Architektur, Kunst und Technologie zu sondieren, um mögliche Ideen einer zukünftigen Stadt zu entwickeln, zu denen auch die Menschen aus unmittelbarer Nachbarschaft beitragen durften (vgl. Guggenheim-Lab 2014: www.*).16 In der vorliegenden Forschungsarbeit verstehe ich unter ‚Transdisziplinarität‘ die Verbindung wissenschaftlicher und künstlerischer Denk- und Erkenntniswege, Darstellungsweisen und Methoden, die eine gemeinsame Wissensproduktion zur Problemstellung zum Ziel hat (vgl. Mersch 2007; Tröndle 2012). Dabei ist es notwendig, über die methodischen und thematischen Grenzen der eigenen Fachrichtung hinaus zu gehen und zugleich die eigene disziplinäre Verortung nicht außer Acht zu lassen (vgl. Abb. 1). Erforderlich sind eine experimentelle Herangehensweise und die Entwicklung einer Forschungsstrategie, die die Grenzen und Potenziale der geographischen Fachrichtung sowie der Kunst kritisch reflektiert (vgl. HU-Berlin 2015: www.*), um ein transdisziplinäres Integrationskonzept in Bezug auf die Problemstellung und Methoden zu entwickeln. Des Weiteren benötigt es nach Bergmann et al. (2005) die konkrete Darstellung des Problems, das sich auf die städtische Lebenswelt der Akteure bezieht – in meinem Fall auf die der Künstler – und das die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berücksichtigt (vgl. Abb. 1). Daher soll es im Folgenden um Aspekte gehen, die 16 Die Kritik am Guggenheim-Lab bezog sich auf mehrere Aspekte: Zum einen lautete der Vorwurf, dass der Konzern (1) mit seinem privatwirtschaftlichen Interesse die aktuelle stadtpolitische Lage in Berlin nicht berücksichtigte, (2) Berlin als Marketingstandort und das Lab als Marketingstrategie nutzte und (3) einen Partizipationsprozess simulierte, der außer der Wissensabschöpfung keine weiteren Spill-Over-Effekte auf die reale Stadtplanung und Einwirkungen auf das städtische Leben habe. Hingegen werden (4) in privaten Labs informelle Planungspraxen und Mitbestimmungsszenarien gefördert, die die demokratischen öffentlichen Strukturen im Dienste der Entwicklung des BMW-Geschäftsmodells aushöhlt (vgl. Oswald et al. 2014; Wagner 2013: 22f). In dieser Entwicklung sehen Kritiker (5) eine Einbindung gesellschaftlicher Alternativvorstellungen, kollaborativer Praxen, kreativer und künstlerischer Methoden, von Alltagsaussagen und Meinungen in das kapitalistische System sowie (6) eine Übertragung von Verantwortung auf den Einzelnen in Zeiten des Sparens (vgl. Mareis 2012: 205; Pinder 2008: 734).
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eine Annäherung der beiden Disziplinen ermöglichen. Es werden die jeweiligen Potenziale der Disziplinen, die Erfahrungsbereiche und die Annäherungen beider Denkrichtungen herausgearbeitet aber auch die Divergenz dargestellt, die für die Erarbeitung der eigenen Forschungsstrategie als Basis dienen. In transdisziplinärer Hinsicht erhöhen die Schnittpunkte (vgl. Kap. 4.1.2) zwischen Geographie und Kunst zunächst den Grad der Integration der beteiligten Disziplinen. Trotz ihrer Annäherung, weisen Kunst und die Durchführung künstlerischer Prozesse epistemologische und ontologische Unterschiede zu einer in der Wissenschaft üblichen Erarbeitung von Themen oder Problemstellungen auf. Nach Tröndle (2012) unterliegen künstlerische Arbeitsprozesse keiner Linearität oder Rationalität. Vielmehr wird künstlerisches Wissen intuitiv, assoziativ und affektiv erstellt. Das heißt, dass einerseits in der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Künstlern das gegenseitige Verstehen durch divergierende Prozesse erschwert werden, andererseits aber auch die Verbindung zweier Denkprozesse ein Potenzial für eine kreative Wissensproduktion darstellen könnte (vgl. Hawkins 2015). Um Blockaden im Forschungsprozess vorzubeugen bzw. entgegenzuwirken, sind eine hohe Interaktionsdichte, eine hohe gegenseitige Offenheit und ein hoher Freiheitsgrad in Bezug auf Ergebnisse und Zeit notwendig (vgl. Borgdorff 2009: 23; Tröndle 2012). Auch die unterschiedliche bzw. die fehlende Einbindung in institutionelle Kontexte kann ein Potenzial in Bezug auf die Generierung von Wissen auf thematischer und wissenschaftlicher Ebene sein und kann neue Zugänge und Reflexionsebenen erlauben. So könnten Künstler Problemstellungen anders reflektieren und künstlerisch darstellen, da sie nicht in institutionelle Rahmen eingebunden sind. Diese Überlegungen flossen in die ersten Umsetzungsschritte des Forschungsvorhabens ein. 4.1.2 Transdisziplinäre Annäherungen und Kooperationen In den Ansätzen Experimental Geography und Art and Geography werden gegenseitige Lernprozesse und eine Zusammenarbeit zwischen Geographen und Künstlern als breites Feld für Kooperationsmöglichkeiten diskutiert. Während vor allem in der angelsächsischen Geographie in Forschungsbeiträgen eine kooperative Zusammenarbeit rege diskutiert und erprobt wurde und wird, blieb diese Debatte im deutschsprachigen Raum bisher noch eher randständig. Zu den Themen gehören u.a. (1) der Synergieeffekt und die kollaborativen Formen der Zusammenarbeit zwischen Kunst und Geographie, (2) die Aufnahme kunsttheoretischer, bildwissenschaftlicher und bildtheoretischer Überlegungen in die geographische Forschung und (3) im Gegenzug die Integration künstlerischer und
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Abb. 1: Forschungsstrategie der vorliegenden Forschungsarbeit
Quelle: Eigene Darstellung (2015), in Anlehnung an Bergmann et al. (2005)
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kreativer Praktiken in die Methoden geographischen Arbeitens (vgl. Hawkins 2015; Paglen 2011). Zudem werden Erfahrungswerte und Ansätze einer Transdisziplinarität zwischen Kunst und Geographie angeführt, die sich über geteilte Inhalte, gemeinsames Bearbeiten einer Problemstellung, Verwenden ähnlicher Theoriebezüge bis hin zur Integration der jeweiligen methodischen Erfahrungen in den jeweils anderen Bereich erstrecken (vgl. Foster & Lorimer 2007). Darin wird betont, dass Erfahrungen in der Zusammenarbeit von Geographen und Künstlern auch in außeruniversitären Kontexten hilfreich sind und als Ergebnis einer Perspektiven- und Methodenerweiterung begriffen werden können. Dabei übernehmen Geographen beispielsweise kuratorische Aufgaben, während Künstler auf geographischen Konferenzen performen oder Kunstwerke ausstellen (vgl. Davies & Dwyer 2007). Künstler können als kulturelle Raumproduzenten verstanden werden, die durch ihre Praxis Wissen für die geographische Forschung oder durch ihre materiellen Werke neue Erkenntnisse auch für die transdisziplinäre Forschung liefern. Eine sehr hilfreiche Überlegung stellt Hawkins (2014b) an, die die gegenwärtige Entwicklung innerhalb der Disziplinen Kunst und Geographie einschließt und darin die Grundlage eines multiperspektivischen und kreativen Forschens sieht: „Elsewhere, rich intersections are developing around shared exploration of place. So artists draw together multiple forms of material and practice based research to engage with specific places, while geographers experimenting with artistic techniques and visual culture more broadly. These aid in their coming to terms with changing epistemological assumptions regarding places and the associated methodological demands for multisensuous and affective exploration.“ (Hawkins 2014b: 4)
Der Spatial Turn, der auf unterschiedlichen Konzepten beruht und seit den 80er Jahren sowohl in den Sozial- als auch in den Kunstwissenschaften beobachtet werden konnte, bewirkte eine Perspektivenerweiterung und eine Hinwendung zum Räumlichen. Raum-Relationen und Raumkonzepte werden daher teilweise implizit und explizit in die Kunst aufgenommen und diskutiert (vgl. Busse 2007). In Bezug auf das Städtische zeigt sich die Hinwendung zum Räumlichen durch die künstlerischen Auseinandersetzungen mit urbanen Fragestellungen dadurch, dass der Raum zum Anlass künstlerischer Auseinandersetzung genommen wird und theoretische Überlegungen in künstlerische Prozesse eingebunden werden. Auch die Zunahme künstlerischer urbaner Forschungsstrategien führt zu raumbezogenen Ergänzungen, die in der Stadtforschung als transdisziplinäre Erweiterungen aufgenommen werden können (vgl. Liinamaa 2014; Nippe 2011; 2012).
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Der Cultural Turn innerhalb der Geographie verstärkte hingegen die Fokussierung auf Potenziale von Visualisierung sowie Semiotik und eröffnete Diskussionen darüber, wie eine Einbindung von Visualität und ein Umgang mit visuellen Methoden im Forschungsalltag gelingen könnten. Im Folgenden möchte ich diese transdisziplinäre Annäherung zwischen Kunst und Geographie, die sich durch den Spatial Turn innerhalb der Kunstwissenschaften und den Cultural Turn in der Geographie ergeben hat, erläutern. Dabei werden Erfahrungen aus der Geographie mit der visuellen Kultur dargestellt und mögliche Überscheidungspunkte herausgearbeitet. Das Ziel ist, eine für die vorliegende Problemstellung adäquate Forschungsstrategie abzuleiten, um eine Basis für methodische Überlegungen zu liefern. 4.1.3 Transdisziplinäre visuelle Praktiken Geographie und Kunst pflegen beide eine visuelle Kultur. Sie beschäftigen sich beispielsweise mit Karten, Mappings und Images sowie Konstruktionen und Dekonstruktionen von Landschaften, (Stadt-)Räumen und übergeordnet mit (Welt-) Bildern. Beide erstellen visuelles Material, erschaffen bzw. konstruieren Bilder oder interpretieren sie. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in beiden Bereiche eine visuelle Gestaltungspraxis verfolgt wird (vgl. Hawkins 2014b; Lynch 1960; Roberts 2013; Schlottmann & Miggelbrink 2009). Trotz der dargestellten gemeinsamen visuellen Beschäftigungsfelder ist es notwendig, den spezifischen Umgang mit dem Visuellen in der Geographie darzustellen. Dabei stellt sich für die vorliegende Forschungsarbeit die Frage, wie eine Einbindung von Kunst und künstlerischen Praxen für eine gemeinsame Wissensproduktion gelingen und welche Grundlage dadurch für eine transdisziplinäre Arbeitsweise abgeleitet werden kann. Rose (2003) stellte fest, dass jede Disziplin ihren eigenen Zugang zur Visualität hat. Danach ist Geographie vor allem durch eine Visualität geprägt, die auf die Interpretation und Herstellung räumlicher Repräsentation fokussiert ist (vgl. Crang 2010; Oldrup & Carstensen 2012; Rose 2003). Geographisches Wissen ist zudem vorwiegend daran gekoppelt, was beobachtbar und sichtbar ist. Historisch gesehen, waren geographische Arbeitsweisen und Praxen schon seit ihrer Anwendung im akademischen Bereich an bilderzeugende Verfahren, Techniken und Produkte geknüpft (vgl. Schlottmann & Miggelbrink 2009). Bis zum Cultural Turn beschränkte sich die visuelle Praxis jedoch vorwiegend auf anwendungsbezogene Bereiche innerhalb der Forschung und zielte darauf ab, ein möglichst objektives Bild der Welt zu erlangen. Trotz der Fülle an unterschiedlichem visuellen Material wie Karten, Pläne, Filme, Dias, Diagramme und Zeich-
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nungen, die im geographischen Alltag genutzt, erstellt oder interpretiert werden und als Dokumentation dienten, wurde die Reflexion darüber, wie das Visuelle und die Geographie aufeinander bezogen sind, vernachlässigt (vgl. Oldrup & Carstensen 2012; Rose 2003). Geographie als eine bildanwendende Disziplin hinterfragte andere visuelle Praxen im Vergleich zu bildwissenschaftlichen Disziplinen wie den Kunstwissenschaften und Kommunikationswissenschaften kaum. Darüber hinaus gab es keine systematischen „Bemühungen einer Bildtheorie“ (Miggelbrink & Schlottmann 2009: 13). Ein breites bildtheoretisches Interesse entwickelte sich disziplinübergreifend in zahlreichen Forschungsrichtungen im Kontext des Cultural Turns. Unter den Begriffen Iconic Turn (Sachs-Hombach 2002) und Pictoral Turn (Mitchell 1992) als Unterkategorien des Cultural Turns wurde die konkrete Hinwendung zum Visuellen sowie zum Bild als wesentlicher wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand betont. Dieses Interesse am Visuellen spiegelte sich geringfügig in dem in der Geographie aufgenommenen Visual Turn wieder. Danach wurden zunächst im deutschsprachigen Raum die Bedingungen, die Verbreitung und die Herstellungspraxen geographischer Visualisierung wie beispielsweise Kartenmaterial diskutiert. Aber die Darstellungsweise von Karten, Bildern und Fotos als visuelle Repräsentation einer Wirklichkeit wurde nicht weiter theoretisch hinterfragt. Es gab eine unreflektierte Praxis in der Selbsterzeugung von visuellem Material oder in der Interpretation vorgegebener Darstellungsweisen, da der Entstehungskontext nicht berücksichtigt wurde (vgl. Rose 2003; Schlottmann & Miggelbrink 2009). Erst die an den im Pictoral Turn angelehnte Diskussion eröffnete neue Möglichkeiten im Umgang mit Visuellem und konnte an den beschriebenen Defiziten ansetzen. Sie wurde vorrangig im angelsächsischen Raum geführt: Eine Einbindung eines bildtheoretischen Verständnisses lieferte ein erweitertes und differenziertes Verständnis von Visualität und eröffnete eine neue Sichtweise im Umgang mit Bildern. Dennoch ist bis heute eine Unsicherheit im Umgang mit dieser visuellen Praxis zu erkennen. Der Bildtheoretiker Mitchell (2008) bietet als Vertreter des Pictoral Turns ein differenziertes Verständnis von Bildern an. Unter dem Begriff Bild werden nicht nur äußerlich wahrnehmbare Darstellungsweisen gefasst, die in ihrer Machart, Funktion und Verbreitung unterschieden werden können, sondern es werden auch innere, geistige Bilder einbezogen. Bilder können somit auch abstrakte kognitive Prozesse darstellen, welche Vorstellungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle erzeugen. Darunter fallen Träume, Erinnerungen, Hoffnungen und Befürchtungen. Die inneren Bilder, auch mentale Bilder genannt, sind Ergebnis einer vielseitigen Wechselwirkung zwischen Menschen, Umwelt und der Gesellschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (vgl. Cosgrove
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2008; Daniels 2011; Roberts 2013). Die mentalen Bilder verweisen nicht nur auf die Außenwelt, sondern stellen auch ein subjektives Verhältnis zur wahrgenommenen Realität dar und sind zunächst unsichtbar (vgl. Mitchell 2008: 20). Diese können für andere Personen erst wieder sichtbar und erlebbar werden, wenn sie als Ausdruck des Befindens, einer Haltung, einer Meinung oder von Werten materielle Gestalt annehmen. Im übergeordneten Verständnis können das Visionen und auf sprachlicher Ebene Metaphern sein. „Vision is more than optics and perception, […], and cultural geographers have carefully dissected many of its ideological complexities and tensions. Vision also implies reworking – and pre-working – experience in the world through imagination, and imagination’s expression in the creation of images. Geography has always entailed making and interpreting images.“ (Cosgrove 2008: 15)
Innere Bilder können durch unterschiedliche Trägermedien wieder zugänglich gemacht werden. Auf diese Weise entstehen Artefakte wie künstlerische Werke oder Positionen, die nicht als Abbild der Wirklichkeit gelten, sondern ein ‚Mehr‘ als eine Kopie der Realität darstellen. Anders als in der Fotografie sind künstlerische Werke Ausdruck von inneren Bildern und Werten und bedienen sich einer eigenen Formsprache und symbolischen Elementen. Der Umgang mit visuellem Bildmaterial, seien es Fotografien, Karten oder auch Kunstwerke erfordert die Anerkennung der ‚piktoralen Differenz‘ (Eckardt 2014: 191), die den doppelten Charakter des Bildes und die Differenz zwischen innerem Bild und äußerem Bild beinhaltet: Bilder stellen nicht die Realität dar, sondern sind ein Abbild der Realität und erschaffen somit eine neue Realität. Das zeigt sich in solchen Kunstwerken am deutlichsten, die fiktive Momente aufweisen und neue Wirklichkeiten – u.a. bezogen auf die Gefühlswelt – herstellen können: „Das Bild steht hier für etwas, das ohne das Bild selbst nicht ohne weiteres erkennbar wäre und erst durch die Konstruktion des Bildes transzendiert wird.“ (Dirksmeier 2007: 2)
Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, besitzt die Geographie Erfahrungen mit dieser ‚piktoralen Differenz‘ beispielsweise in Bezug auf die Diskussion um Räume als Vorstellungswelten bzw. Geographical Imaginations (Gregory 1994). Vorstellungen von Orten und Räumen entstehen durch medial geprägte und verbreitete Bilder, in die auch politische Ideologien einfließen. Raumbilder als mentale Bilder sind demnach an eine bestimmte Weltsicht gebunden. Geographical Imaginations verweisen nicht nur auf Vorstellungen von Orten, sondern beziehen auch die Perspektive des Betrachters mit ein (vgl. Lossau et al. 2014; Oldrup
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& Carstensen 2012). Zudem arbeitet die Geographie mittlerweile auch mit übergeordneten Bildern wie Raumbildern, Vorstellungswelten, Weltbildern und Leitbildern, die normative Strukturen festlegen sowie vorherrschende Logiken unterstreichen und reproduzieren können. Diese werden oftmals in diskurstheoretischen Vorgehensweisen entschlüsselt (vgl. Miggelbrink & Schlottmann 2009). Einen weiteren impliziten Umgang mit der ‚piktoralen Differenz‘ kennzeichnet die Wahrnehmungsgeographie. Sie unterscheidet zwischen mentalem und physischem Bild und visualisiert subjektive Raumvorstellungen durch eine Mental Map, eine kognitive Karte. Ein prominentes Beispiel für diese Form der visuellen Forschung liefert Lynchs ‚Image of the City‘, in der die Raumwahrnehmung städtischer Lebensräume untersucht wurde (vgl. Lynch 1960). Dabei sollten strukturelle Beziehungen städtischer Kognitionen sichtbar gemacht werden, um Rückschlüsse auf visuell wahrnehmbare städtische Elemente ziehen zu können, welche ein Image und das Visuelle der Stadt prägen (vgl. Weichhart 2008: 187). Dieser Ansatz wurde in den 70er Jahren entwickelt und ist vorwiegend auf kognitionspsychologischen Überlegungen aufgebaut. Bildwissenschaftliche Aspekte wurden hingegen vernachlässigt, was sich in Auswertungsschwierigkeiten der mentalen Karten äußerte. Daher wurde diese Form des visuellen Forschens nur unzureichend verfolgt (vgl. Dirksmeier 2007; Lynch 1960). Dirksmeier (2013b) nahm in jüngster Zeit die ‚piktorale Differenz‘ in die Entwicklung einer neuen humangeographischen visuellen Methodologie auf. Als Quellen dieser Methodologie dienen Fotografien. Nach seinen Überlegungen sind Fotografien dann als Quelle für Wissen sinnvoll, wenn die Herstellung des Bildes rekonstruierbar wird. Das heißt, Fotografien können nicht als neutrale Datenquelle gesehen werden, sondern kommunizieren eine Realität unter der Bedingung der visuellen Begrenzung. Zudem wird Wissen nicht ausschließlich über das eigene Sehen erzeugt, sondern erst durch die Kontextualisierung der Datenquelle. Sie entsteht also nicht ausschließlich durch die Interpretation des Betrachters bzw. Forschenden (vgl. dazu auch Eckardt 2014: 191). Um den Kontext miteinbeziehen zu können, wendet Dirksmeier (2007; 2013b) die Methode der ‚reflexiven Fotografie‘ an. So wird bei der Auswertung des Bildmaterials das Subjekt miteinbezogen: Er nimmt narrative Interviews zu Hilfe, um Sinnzusammenhänge wie die Motivation und die Wahrnehmung der Probanden bezüglich seiner Fragestellung oder das Wechselspiel zwischen subjektiver Wahrnehmung und gesellschaftlichem Kontext zu erfahren. In dieser Arbeit soll von einem sogenannten erweiterten Bildbegriff ausgegangen werden. Das heißt, dass Kontext und Subjekt einbezogen werden. Bilder können in diesem Verständnis immaterielle Bilder wie Visionen, Imaginationen und Vorstellungen sein, die sich konkret auf das städtische Umfeld und auf Vor-
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stellungen von Urbanität beziehen können. Darüber hinaus verfolgen Künstler selbst eine visuelle Praxis, die auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden kann und deswegen die Erweiterung des Bildbegriffs notwendig macht. Innere Bilder, die sich aus der lebensweltlichen Umgebung ergeben, können auf unterschiedlichen Trägermedien und in künstlerischen Prozessen sichtbar gemacht werden. 4.1.4 Transdisziplinäre räumliche Praktiken Sowohl in der Kunst als auch in der Geographie haben sich in den letzten 40 Jahren grundlegende Veränderungen hinsichtlich verwandter Raumkonzepte und Raumbilder ergeben. Die Kunst beispielsweise wurde bis in die 70er Jahre nur in Präsentationsräumen wie Galerien, Museen und Vereinen wahrgenommen. Seitdem aber hat sie begonnen, ihr Interesse zunehmend auf die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum und dessen Bedeutungsebenen zu fokussieren. So entwickelte sich – im Gegensatz zu den im Stadtraum aufgestellten Skulpturen und Werken (Drop-Sculptures), die keinerlei Bezüge zum Raum herstellten – eine künstlerische Praxis, die den Ort (Site-Specific) und dessen sinnliche Erfahrungen in das Kunstwerk integrierte. Seit den 90er Jahren gab es eine erneute Abwendung von der räumlich-sinnlichen Ebenen hin zu einem Raumverständnis, das den Ort in seinen sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen zu begreifen versucht: Dazu gehört u.a. die ,Sozial engagierte Kunst‘, die NewGenre-Kunst sowie die Kontextkunst (vgl. Rebentisch 2013). Neue künstlerische Methoden und Strategien sind entstanden, die den Schwerpunkt auf Partizipation und Kommunikation legen. Vor allem temporäre und immaterielle, flüchtige Kunst erschuf neue Raum-Relationen: Kunst konnte sich an der materiellen Umwelt orientieren, an der Rezeption eines Ortes, an sozialen, aber auch individuellen Themenstellungen. Kunst nahm Diskurse und Raumkonzepte auf, hinterfragte sie und machte sie durch künstlerische Darstellungsweisen wieder visualisiert erlebbar. Künstler können seitdem als handelnde oder als wahrnehmende, reflektierende Akteure verstanden werden (vgl. Müller 2012; Schäfer 2010; Temel 2008: 108). So findet sich in künstlerischen Ausdrucksformen heute auch eine Anlehnung an die ‚Situationistische Internationale‘ (SI), indem Stadt als Aktionsfeld von Interventionen, Performances und skulpturaler Praxis begriffen und sich verstärkt mit situationistischen, kapitalismuskritischen Theorieansätzen auseinandergesetzt wird.17 17 Ein spielerisches Mittel der SI sind gezielte Wahrnehmungsspaziergänge, sogenannte Dérives, die durch ein experimentelles Umherschweifen in Städten für neue Handlungsweisen und Erkenntnisprozesse sorgen. Diese Spaziergänge sollen Regeln einer bewusst oder unbewusst gestalteten städtischen Umwelt aufdecken, indem eine routi-
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Zu den bis heute – in Kunst und Geographie – relevanten Raumkonzepten gehören u.a. das ‚absolute Raumverständnis‘, der ‚sozial konstruierte Raum‘, die ‚politikökologische Sichtweise‘ auf den Raum wie auch das von Lefèbvre entwickelte Konzept der ‚Raumproduktion‘, die im Folgenden kurz erläutert werden. (1) DAS ABSOLUTE RAUMVERSTÄNDNIS Im absoluten Raumverständnis wurde in der geographischen Auseinandersetzung in Deutschland die Kategorie Raum bis in die 90er Jahre meistens an spezifische Themen und an materiell-physische Eigenschaften gekoppelt. Gesellschaftliche Prozesse wurden als natürliche Dimensionen eines abgeschlossenen räumlichen Containers wie ‚Stadt‘, ‚Landschaft‘, ‚Nationen‘, etc. wahrgenommen. Dieser Ansatzpunkt wurde jedoch zunehmend hinterfragt (vgl. Häußermann & Siebel 1978: 484) und um Fragen nach der Entstehung, Definition und strukturellen Beschaffenheit des Raums und nach seiner gesellschaftlichen Herstellung ergänzt (vgl. Belina 2008; Massey et al. 2009). Dieses Raumkonzept lässt sich auch auf die historischen Anfänge der Art and Geography übertragen, wenn innerhalb der geographischen Untersuchungen Kunstwerke auf die Verortung und Kategorisierung räumlicher Elemente hin analysiert werden (vgl. Cosgrove & Daniels 1988; Daniels 2008). Dieses absolute Raumverständnis findet sich auch in kunstwissenschaftlichen Diskussionen in der Suche nach der Antwort auf die Frage, in welchen Räumen Kunst präsentiert wird wieder. Der räumliche Kontext von Kunst kann sich entweder auf physisch abgeschlossene Innenräumen wie Museen (White Cube) oder Kirchen beziehen, die nur einem bestimmten Publikum zugänglich sind und in denen Kunst als ein Inventargegenstand des Raumes gehandelt wird. Demgegenüber kann Kunst im absoluten Raumverständnis auch in Außenräumen betrachtet werden. Kunst bezieht sich demnach entweder auf den materiell beschreibbaren räumlichen Kon-
nierte Alltagspraxis hinterfragt und durch Begegnung mit Menschen im Alltag eine Situation geschaffen wird, in der menschliche Bedürfnisse entgegen ihrer Entfremdung formuliert werden können. Dies ermöglicht aus bestehenden Normen und auferlegten Mustern auszubrechen und eine gesellschaftliche Veränderung anzustoßen. Die SI sah in dieser Praxis eine Herangehensweise an das städtische Umfeld, die den gängigen Methoden aus geisteswissenschaftlichen Disziplinen – wie der Auswertung von Kartenmaterial und Interviews, Statistiken und Grafiken – entgegenstand. Die Forschungsergebnisse der SI, die durch das Umherschweifen entstanden waren, wurden kartographisch festgehalten und zur Grundlage weiterer politischer Auseinandersetzungen genutzt (vgl. SI-Revue 2015: www.*).
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text oder Kunst selbst wird als eine beschreibbare Kategorie eines öffentlichen Raumes erfasst (vgl. Cosgrove 1999; Held & Norbert 2007: 145). (2) DER SOZIAL KONSTRUIERTE RAUM Der sozial konstruierte Raum wurde in der Mitte der 70er Jahre in der USamerikanischen Humangeographie als erkenntnistheoretische Perspektive des sozialen Konstruktivismus etabliert. Das Räumliche dient als unverzichtbare „Grunddimension für die Gesellschaftlichkeit“ (Reuber 2012: 25), die aus geographischen Imaginaries, Repräsentationen, Verortungen und Merkmalen der gesellschaftlichen Strukturierungen besteht. Vor allem wurde in diskurstheoretischen Ansätzen, die die Gesellschaft strukturieren und aus denen Handlungen erfolgen, der symbolische Gehalt physisch-materieller Gegebenheiten betont. Die Dekonstruktion dieser Logiken soll Machtstrukturen aufdecken (vgl. Glasze & Mattissek 2009a; Mattissek 2004). Zahlreiche künstlerische Handlungen innerhalb des städtischen Raums zielen bewusst auf Konstruktion und Dekonstruktion sprachlicher und symbolischer Bedeutungen ab (vgl. Hawkins 2013: 57). Vor allem greift das Forschungsfeld Art and Geography methodisch dieses raumtheoretische Konzept auf. (3) DIE POLITIKÖKOLOGISCHE SICHTWEISE Aus der politikökologischen Sichtweise wird versucht, Ökonomie, Macht und Raum vor dem Hintergrund globaler Prozesse zu deuten. Daher ist in dieser Raumkonzeption ‚das Städtische‘ Ausdruck ambivalenter Prozesse und Widersprüchlichkeiten. Es ist eine Raumkategorie, in der städtische Proteste, soziale Ungleichheit und Fragmentierungsprozesse sowie soziale Ausgrenzung in gebündelter Form auftauchen. Entsprechend werden nicht nur räumliche Praktiken wie Überwachung, Kontrolle und Sicherheitskonzepte in das Blickfeld von geographischer und künstlerischer Auseinandersetzungen genommen, sondern auch städtische Protestformen. In der ‚Sozial Engagierten Kunst‘18 beispielsweise fin-
18 Ende der 80er und 90er Jahren hat die ‚Sozial Engagierte Kunst‘ zunächst in den USA und später in Deutschland eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Kunstinstitutionen und später in wissenschaftlichen Untersuchungen in Bezug auf politische und aktivistische Kunstpraxen in der neoliberalen Stadt erfahren. Dazu gehörte die Infragestellung des Kunstbetriebs, der nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgerichtet war, des autonomen Künstlers und des „Genies“ als elitäre Distinktion. Die ‚Sozial engagierten Kunst‘ sollte an gesellschaftliche Fragestellungen anknüpfen. Im Projekt Passion Impossible arbeitete beispielsweise Christoph Schlingensief mit mar-
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den sich implizit kritisch-materialistische Raumansätze, die sich als Element einer neuen Gesellschaftstheorie anbieten und an die wissenschaftliche Debatte um Harvey und Castells anschließen: beide Autoren kritisierten an der Perspektive des ‚sozialen Konstruktivismus‘, dass soziale Prozesse auf semiotische Praxen und Diskurse reduziert und strukturelle Rahmenbedingungen zu wenig berücksichtigt werden (vgl. auch hierzu Kap. 2.6). Der Raum werde als Dimension aufgrund der Überbewertung von Kultur auch in Bezug auf die Kreative-StadtDebatte vernachlässigt, lautet hierbei die Kritik (vgl. Castells 2012; Castells 2012 [1975]; Harvey 1996; 2001; 2006) So soll die Raumtheorie in die Gesellschaftstheorie integriert werden. (4) RAUMPRODUKTION NACH LEFÈBVRE Raumtheoretische Debatten innerhalb der Geographie gingen der Frage nach, welche Raumtheorie komplexe gesellschaftliche Strukturen berücksichtigt, aber auch den Alltag und das Individuum sowie dessen Handlungsmacht integriert. Lefèbvre, wie im Vorfeld bereits angedeutet, bot eine theoretische Basis, die alltägliche Praxis und die strukturellen Rahmenbedingen durch eine trialektische Verfahrensweise zu verbinden und einen Bezug zu Kunst und Stadt herzustellen versucht (vgl. Lefèbvre 1974). Diese Bezüge stellt Lefèbvre zu den ‚Räumen der Repräsentation‘ bzw. ‚dem gelebten Raum‘ her. Der ‚Raum der Repräsentation‘ weist nach Lefèbvre (1974) nicht auf den Raum selbst, sondern auf etwas Drittes, etwas Übergeordnetes hin. In dieser Raumkategorie werden Werte, Träume, Visionen aber auch Erlebnisse und Erfahrungen aus dem Alltag sichtbar. Aus dieser Dimension kann eine gesellschaftsverändernde Wirkung ausgehen, wenn sich das Alltagsleben in Symbolen und Bildern manifestiert. Ausdruck finden Symbole und Bilder in Kunst und Literatur (vgl. auch hierzu Schmid 2005: 223ff). Auch innerhalb der Kunst wurden Methoden entwickelt, die an Lefèbvres Raumkonzeptionen anknüpften. Kunst ist bis heute in städtische Raumproduktionen involviert (vgl. Dickel & Scharvogel 2012). Lefèbvre (1986) nahm in seine theoretischen Auseinandersetzungen vor allem die emanzipatorische und subversive Wirkung von Kunst auf, die gesellschaftliche Verhältnisse hinterfragt, um neue Möglichkeiten für Denk- und Wahrnehmungsräume zu erschaffen. Methodische Parallelen sind bei der später einsetzenden Entwicklung der Stadtbildanalyse seit Anfang der 1960er Jahre durch Kevin Lynch zu finden, die eine individuelle Wahrnehmung und das räumliche, psychische Erleben städtischer Umwelt
ginalisierten Gruppen im öffentlichen Raum zusammen, die nach seinem Tod selbstorganisiert das Projekt weiterführten (vgl. Grothe 2005).
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und Strukturen in Mental-Maps (mentale Repräsentation, kognitive Karten) propagiert (vgl. Lynch 1960; Streich 2014: 40f). Neu an dieser Ausrichtung ist, sich visuell an gestalterische städtische Elemente anzunähern und diese als empirische Quellen für ein Analyseinstrument wahrnehmungsgeographischer Ansätze zur Lesbarkeit von Städten zu benutzen (vgl. Weichhart 2008a: 196).
4.2 F ORSCHUNGSSTRATEGIE F ALLANALYSE Diese Arbeit wurde in zweifacher Hinsicht als Einzelfallstudie konzipiert. Zum einen wurde die Stadt Berlin als Fallbeispiel analysiert und zum anderen wurde ein Einzelfall-Sample von Künstlern erarbeitet. Da Fallanalysen eine eigene Forschungsstrategie darstellen (vgl. Pflüger et al. 2010: 6ff; Yin 2009: 1ff), werden an dieser Stelle kurz ihre wesentlichen Merkmale erläutert. ‚Fallanalysen‘ zeichnen sich durch ihren Kontextbezug, ihre Multiperspektivität, die Methodenkombination und die Offenheit des Forschungsprozesses aus (vgl. Pflüger et al. 2010: 6). Unter Kontextbezug ist zu verstehen, dass durch die Kombination unterschiedlicher empirischer Erhebungs- und Auswertungsverfahren bei der Analyse eines sozialen Prozesses dessen Kontext systematisch berücksichtigt werden kann. Durch die Beschränkung auf einen einzelnen Fall oder Einzelfälle sowie die intensivere Beschäftigung mit dem Untersuchungsmaterial können unterschiedliche Erfahrungs- und Handlungsperspektiven Berücksichtigung finden. Nach Pflüger et al. (2010) schließen Fallstudien vielfältige methodische Varianten ein, die auf unterschiedliche Erfahrungswelten, Deutungen, Perspektiven und Zugänge der Fälle reagieren. Das heißt, es können innerhalb des Forschungsverlaufs mit einem zirkulären Verfahrens noch weitere methodische Entscheidungen getroffen und theoretische Erklärungsansätze ergänzt werden. Die offenen Verfahrensweisen beziehen sich auf den Forschungsprozess, auf die untersuchten Fälle sowie die Erhebungssituationen. Insbesondere Fallstudien ermöglichen eine solche Offenheit, die in der Lage ist, auch das Forschungsdesign flexibel anzupassen. Einzelfallstudien bieten damit einen Anschluss an eine explorative, experimentelle und qualitative Herangehensweise. Zugleich integrieren Fallstudien auch eine Vorstrukturierung. So sind mit dem inhaltlichen Schwerpunkt, der definierten Problemstellung und dem analytischen Rahmen (Metatheorie, Falldefinition und Methodenkombination) feste Bezugsgrößen gegeben. Fallstudienforschungen werden unterschiedlich kategorisiert. Pflüger et al. (2010: 6ff) unterscheiden vier differierende Typen von Fallstudienforschung: die interventionsorientierte Fallstudienforschung, die exemplarisch vertiefende Fall-
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studienforschung, Fallstudienforschung zur Erfassung von Vielgestaltigkeit und die generalisierende gesellschaftsdiagnostische Fallstudienforschung. Vielfaltorientierte Fallstudien sind vergleichend angelegt und erfassen die wichtigsten Formen und Merkmale eines sozialen Prozesses. Die explizit auf Generalisierung angelegte Fallstudie hat eher die Analyse genereller gesellschaftlicher Entwicklungen im Fokus. Die interventionsorientierte Fallstudienforschung verbindet den Forschungsprozess mit einem Gestaltungsprozess, der sich im dialogischen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis ergibt. Und die exemplarisch vertiefende Fallstudienforschung verfolgt das Ziel der analytischen Durchdringung von sozialen Prozessen durch die „analytische Durchdringung markanter Einzelfälle“ (Pflüger et al. 2010: 7). Die Fälle können sich durch ihre Homogenität oder Heterogenität auszeichnen, sie stellen Idealtypen oder Extremtypen dar. Für die vorliegende Forschungsarbeit wird eine Kombination von einer interventionsorientierten und einer vertiefenden Fallstudienforschung vorgenommen, weil so einerseits ein besseres Verständnis von den künstlerischen Zugängen erlangt werden kann und andererseits in einem gemeinsamen Wissensproduktionsprozess für die Problemstellung relevante Aussagen entwickelt werden können. Die in der interventionsorientierte Forschung charakterisierende Gestaltungs- bzw. Kommunikationsprozesse zwischen Wissenschaft und Praxis liegen in dieser Arbeit im Austausch zwischen geographischen und künstlerischen Zugängen. Das Besondere an diesem Ansatz ist, dass die Transdisziplinarität und der gemeinsame Wissensproduktionsprozess betont werden. Dadurch können gemeinsame methodische Herangehensweisen und Inhalte entwickelt und im Forschungsprozess erweitert werden. Die vertiefende Fallstudienforschung ermöglicht einerseits die für diese Arbeit wesentliche offene und experimentelle Herangehensweise und erlaubt andererseits theoretische Rückbezüge. Sie ermöglicht zudem eine Methodenvielfalt in der Erhebungs- und Auswertungsphase. Der empirische Prozess hat sich räumlich ausschließlich auf Berlin bezogen. Die Auswahl Berlins (vgl. Kap. 4.2.1) lässt sich forschungsstrategisch als exemplarisch vertiefende Einzelfallstudie einordnen. Einerseits geht es um Gestaltungs- bzw. Kommunikationsprozesse zwischen Wissenschaft und Praxis in einem räumlichen Umfeld, das angesichts der Bedeutungszunahme kreativer Impulse für die Weiterentwicklung der Stadt prädestiniert ist für eine solche Untersuchung. Vor allem aber hat die Untersuchung andererseits den Anspruch, der Komplexität des gewählten Falls durch eine vertiefte Analyse und eine hohe Methodenkombination gerecht zu werden. Sie versteht sich als grundlagenorientiert, ihr liegen theoretische Konzepte und ein deduktiv-induktiv-alternierendes Ver-
102 | B ERLIN – VISIONEN EINER ZUKÜNFTIGEN U RBANITÄT
fahren zugrunde. Und nicht zuletzt können durch die Beschränkung auf einen einzelnen Fall und die intensivere Beschäftigung mit dem Untersuchungsmaterial unterschiedliche Erfahrungs- und Handlungsperspektiven besser Berücksichtigung finden. Eine Messlatte für die Güte einer Fallstudie ist nach Meinung von Pflüger et al. (2010) vor allem die Fallkonstruktion. Demnach ist Wert darauf zu legen, die gezielte Konstruktion des Falles als Untersuchungsgegenstand hinreichend zu begründen. 4.2.1 Einzelfallstudie: Das Fallbeispiel Berlin Berlin als urbanes Umfeld künstlerischen Wirkens stellt den urbanen Bezugspunkt der Untersuchung dar. Die Fallauswahl begründet sich durch das verdichtete Auftreten folgender Entwicklungen: (1) ein in der Vergangenheit günstiges Experimentierfeld u.a. für Künstler sowie (2) eine in der Gegenwart weiterhin lebendige künstlerische, diskursmitbestimmende Szene. Die für die Forschungsarbeit ausgewählten Künstler leben in Berlin und beschäftigen sich inhaltlich mit städtischen Themenfeldern, die sich sowohl auf Berlin beziehen als auch auf allgemeinere Themen. Und sie sind zumindest als künstlerische Akteure in die derzeitigen Diskurse in Berlin eingebunden. Weitere fallauswahlbestimmende Faktoren sind (3) der Umbauprozess unter den Leitbildern der ‚kreativen Stadt‘ und der ‚unternehmerischen Stadt‘, (3) die daraus resultierende Neuausrichtung stadtentwicklungspolitischer Planungsprozesse und Konsequenzen wie (4) soziale Polarisierung, (5) räumliche Fragmentierung, (6) fehlende gesellschaftliche Kohäsion in den Städten und (7) flexibilisierte Arbeits- und Alltagsbedingungen der Menschen. Inwiefern Berlin vor dem Hintergrund dieser Kategorien als adäquates Beispiel für die vorliegende Einzelfallstudie dient, soll im Folgenden verdeutlicht werden. Berlin stand und steht vor zahlreichen Herausforderungen, die sich aus dem derzeitigen Strukturwandel und Berlins symbolischem Bedeutungswandel nach der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West ergeben haben. Diese Herausforderungen entstanden aus der Wiedervereinigung und einer funktionalen Aufwertung Berlins zur Hauptstadt (vgl. Brake 2004: 105; Heeg 1998; Krajewski 2013: 20). Die anfängliche Erwartung, dass Berlin ähnlich wie andere Metropolen einen enormen Zuzug an Firmen und Bevölkerung erfahren und zu einer Global City aufsteigen würde, bestätigte sich zunächst nicht. Bis 2004 kämpfte Berlin mit strukturellen Defiziten und einer wirtschaftlichen sowie demographischen Schrumpfung, die eine Umorientierung auf eine globalisierte Ökonomie erschwerte. Da der industrielle Sektor in Berlin fast zum Erliegen kam, standen zahlreiche Industriebetriebe vorwiegend im innstädtischen Bereich leer (vgl.
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Brake 2004). Dies eröffnete Überlegungen hinsichtlich einer Neunutzung dieser Gebiete und führte zu einer Neuausrichtung auf Dienstleistungen, was jedoch den Arbeitsplatzverlust nicht kompensieren konnte (vgl. Kulke 2013: 17). Dennoch wurden wirtschaftliche Potenziale für Berlin in der Kulturwirtschaft und der wissensintensiven Ökonomie identifiziert und die Ziele der Stadtpolitik auf deren Förderung ausgerichtet (vgl. Brake 2004; Brake & Mundelius 2011; Lebuhn 2007: 543). Das Konzept der ‚kreativen Klasse‘ so Lanz (2013), sollte eine Antwort auf den industriellen, wirtschaftlichen Abschwung der Stadt bieten und stellt bis heute eines der wichtigsten Dispositive der Stadt dar. Die Ausrichtung auf dieses Konzept zeigt die Transformation in Berlin zu einer unternehmerischen Stadtpolitik am deutlichsten. Das eröffnete die Tür für den neuen ‚Geist des Kapitalismus‘ in dem Sinne, dass Prinzipien der Selbstvermarktung, das ‚unternehmerische Selbst‘ und zunehmend prekarisierte Beschäftigungsverhältnisse in die Stadt vordrangen (vgl. Boltanski & Chiapello 2006; Lanz 2013; Reckwitz 2012). Krätke (2004b) beschreibt den Wandel Berlins im Jahr 2004 wie folgt: „Berlin appears to be one of the most challenging cases of socio-economic restructuring within the contemporary urban system of Germany (Cochrane and Jonas, 1999). The city of talents' concept represents a new urban marketing formula for Berlin, which draws on the debate on knowledge-based regional development (Cooke, 2002) and touches upon some of the particularly strong points of Berlin. Furthermore, the notion of a city of talents is related to Richard Florida's recent work on The Rise of the Creative Class (Florida, 2002). As far as current tendencies of innovation-driven economic restructuring in Western Europe and North America have led to a growing importance of knowledge-intensive economic activities and related creative forces e.g. ‘talented' people in science and research, engineering and design, management and organization, cultural production and the media creativity and talent have the potential to become a central basis of successful urban development in the future.“ (Krätke 2004b: 511)
Mit einem wettbewerbsorientierten Stadtmarketing begann 2001 die Berliner Stadtpolitik mit der Vermarktung des Standorts Berlin und weitete ihre Aktivitäten ab 2008 mit der Be-Berlin Kampagne international aus (vgl. Berlin-Partner 2015: www.*): „Innovation leben, Zukunft gestalten – Berlin macht diese Vision sicht- und greifbar. Die deutsche Hauptstadt ist Kultur- und Medienstadt, aber auch einer der interessantesten Produktions- und Entwicklungsstandorte Europas mit hohem kreativem Potenzial. 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung hat die Region einen rasanten Strukturwandel durchlaufen. Die Berliner Industrie ist heute jung, innovationsorientiert und international
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wettbewerbsfähig […]. Denn in Berlin kommt vieles zusammen: Talent, Technologie und ein weltoffenes, kreatives Klima machen die Stadt zum place to be for future industries.“ (Berlin-Partner 2015: www.*)
Seit 2014 hat sich die Marketing-Kampagne Be Berlin laut eigener Aussage um sieben Themen erweitert, die für die Zukunftsfelder von Berlin stehen sollen. Dazu gehören die „[w]eltoffene Stadt, Wirtschaftswachstum, Familie und Talente, Technologie und Innovation, Elektromobilität, Sport, Wissenschaft und Smart City“ (Be-Berlin 2015: www.*). Dieses Image soll in die Welt getragen, die Potenziale Berlins als ‚Stadt der Chance‘ genutzt werden. Die Stadt Berlin und ihre Urbanität werden als Marke inszeniert, indem spezifische städtische Qualitäten betont werden. Nach Rogers (2014: www.*) wurde Berlin deswegen als lebenswerte und lebendige Stadt verhandelt und vor allem für Künstler und Kreative in der Nachwendezeit interessant, da Berlin in seiner historischen Entwicklung Einschnitte erlebt hat. Diese Spuren können räumlich verfolgt werden und bieten auf unterschiedlichen Ebenen eine Inspiration für kreatives Arbeiten. Nach Mundelius (2006: 321f) waren es vorwiegend Künstler und Kreative, die nicht nur an einer Gewinnmaximierung interessiert, sondern intrinsisch motiviert waren, ihre Ideen und Lebenskonzepte umzusetzen. Die geringen Lebenshaltungskosten und die Freiräume machten die Stadt attraktiv. Diese Freiräume entstanden durch die nach der Wende einsetzende Deindustrialisierung und Abwanderung der Bevölkerung, die bis 2005 anhielt. Innerstädtische Brachflächen und (Industrie-)Gebäude boten Räumlichkeiten für experimentelle, informelle und künstlerische Praxen und ließen subkulturelle Szenen in Musik und Kunst entstehen (vgl. Bader & Scharenberg 2010; Nippe 2012). Durch gezielte Zwischennutzungskonzepte für Künstler und Kreative sollten erstens städtische Gebiete eine Aufwertung erfahren und zweitens die Arbeit der Künstler als symbolisches Kapital verwertet werden (vgl. Ebert & Kunzmann 2007; Senatverwaltung-fürStadtentwicklung 2007: www.*). Dieses Branding ist mittlerweile auch stark mit dem Städtetourismus verknüpft, der neben der Kreativwirtschaft zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor in Berlin geworden ist. So wurde Urbanität als Ware gehandelt und ermöglichte eine „Monopolrente für in dieser Stadt fixiertes Anlagekapital“ (Bader 2011: 117). So ist Berlin für Investitionsanlagen und internationales Kapital interessant geworden. Die Schattenseiten einer sich globalisierenden Stadt und Möglichkeiten alternativer Steuerung jenseits der unternehmerischen Stadtlogik werden in der Stadtpolitik eher selten thematisiert (vgl. Krätke 2004a; Mayer 1996). Bis 2005 wurden in Berlin, vor allem im Innenstadtbereich, mehrere Gebiete mit hohem
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Entwicklungsbedarf identifiziert und in das ‚Soziale Stadt‘-Programm eingebunden. Diese Gebiete waren durch Defizite in der baulichen Infrastruktur, durch ansteigenden Leerstand, hohe Arbeitslosigkeit, hohe Abhängigkeit von Transfereinkommen und den Wegzug einkommensstärkerer Haushalte gekennzeichnet (vgl. Quartiersmanagement-Berlin 2015: www.*; SenStadt 2000: www.*). Mittlerweile fließt immer mehr anlageträchtiges Kapital nach Berlin in nahezu alle Innenstadtgebiete. Auch in ehemals ausgewiesenen Entwicklungsgebieten der ‚Sozialen Stadt‘ sind zunehmend Gentrifizierungsprozesse, die Privatisierung öffentlichen Eigentums und der Aufkauf sowie Bau spekulativer Anlageobjekte zu beobachten (vgl. Krajewski 2013; Rossbach 2014). Immobilien-Experten gehen davon aus, dass aufgrund der günstigen Kreditzinsen der Anlagedruck durch diese künstlich erzeugte Nachfrage auf Berlin steigen wird, da in Berlin aufgrund des späten Eintritts in den Immobilienmarkt im Gegensatz zu anderen Großstädten in Deutschland Renditeversprechen noch nicht voll eingelöst sind und Steigerungen der Bodenrenten zu erwarten wären (vgl. Rossbach 2014: www.*). Die Folge ist eine weitere soziale Polarisierung und sozialräumliche Segregation (vgl. Brake & Mundelius 2011; Füller et al. 2013; Krajewski 2013). Diese Entwicklung wird dadurch verschärft, dass trotz der Senkung der Erwerbslosenquote auf 11% (März 2015) – dem niedrigsten Stand seit der Wende – der Berliner Arbeitsmarkt von niedrigen Einkommen und prekären Arbeitsbedingungen geprägt ist (vgl. KKI 2014; Nicolaus 2014). 4.2.2 Fallanalysen und transdisziplinäre Kooperation: Die Künstler Die Fallanalyse als Forschungsstrategie nach Wrona (2005) eignet sich insbesondere dann gut, wenn im Mittelpunkt der Forschungsarbeit einzelne Individuen oder soziale Einheiten stehen. Die Einzelfälle beziehen sich in der vorliegenden Forschungsarbeit auf die ausgewählten Künstler und ihre jeweilige künstlerische Position. Bei jedem Einzelfall werden das Typische und das Besondere in Bezug auf die vorliegende Forschungsfrage herausgearbeitet. Das Auswahlverfahren in Bezug auf die Künstler richtet sich in der vorliegenden Forschungsarbeit nach dem Grundsatz des Theoretical Sampling, der in der Grounded Theory verankert ist (vgl. Glaser & Strauss 2010). Unter Theoretical Sampling versteht man die Auswahl eines Falls vor dem Hintergrund vorangegangener theoretischer Überlegungen. Nach Empfehlung von Helfferich (2005) wurde ein dreistufiges Verfahren gewählt. In einem ersten Schritt wurde die Gruppe der Künstler hinsichtlich der Auswahlkategorien – deutlicher Bezug der künstlerischen Produktionen zu städtischen Themenbereichen und zum
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Schaffensstandort Berlin – präzise bestimmt. In einem zweiten Auswahlschritt wurde darauf geachtet, dass die Variation innerhalb der Gruppe möglichst groß ist. Bezogen auf die Künstler wurde daher insbesondere auf eine große Variationsbreite der künstlerischen Produktionsweise wie auch der künstlerischen Produkte geachtet. Im dritten Schritt wurde nach Führung aller Interview- und Zwischenanalyseschritte noch einmal der Geltungsbereich der Aussagen überprüft (vgl. Lamnek 2010). Insofern sind in der Analyse aufgrund des qualitativen Herangehens zwar keine repräsentativen Aussagen möglich, dennoch werden Existenzaussagen in Sinne eines „Es gibt…“ (Lamnek 2010: 350) getroffen. Durch ein Anschreiben wurden die Künstler auf das Forschungsprojekt aufmerksam gemacht (vgl. Anhang: A 1). In dem Anschreiben wurde ein möglicher transdisziplinärer Forschungsverlauf skizziert und es wurde entweder direkt an Künstler oder an potentielle Multiplikatoren aus unterschiedlichen Berliner Kunstinstitutionen übergeben. Diese leiteten es wiederum an Künstler weiter, die sich entweder im Vorfeld bereits künstlerisch mit städtischen Fragestellungen beschäftigt haben oder bei denen ein Interesse vermutet wurde. Um eine weitere Integration der Künstler in einen gemeinsamen Forschungsprozess zu erreichen und ihr Interesse an der Mitarbeit zu wecken, wurde die Fragestellung auf die lebensweltliche städtische Kontextualisierung ihrer Kunst bezogen (vgl. Abb. 1). In dieser Fragestellung war die wissenschaftliche Problemstellung integriert. So konnte davon ausgegangen werden, dass sich Künstler melden, die kontextualisiert künstlerisch arbeiten bzw. arbeiten wollen (vgl. Kap. 1.4). Als nächster Schritt wurde den Künstlern ein Essay zur Verfügung gestellt, der den Anspruch formulierte, interventionsorientierte und vertiefende Fallstudienforschung zu kombinieren und Ideen zur zugrundeliegenden Forschungsstrategie aufgriff (vgl. Anhang: A 2): Folgende Ziele wurden mit dem Essay verfolgt: •
•
Der Essay diente als Samplingstrategie, mit der Künstler ausgewählt wurden, die das Untersuchungsfeld interessant fanden oder sich angesprochen fühlten. Der Essay umriss die Problemstellung, die sich einerseits auf die lebensweltlichen und kontextualisierten Problemlagen der Künstler bezieht und andererseits auf regulationstheoretischer Basis den gesellschaftlichen Wandel und zukünftige Herausforderungen für Städte herausarbeitet. Diese Herausforderungen wurden in den Zusammenhang von Urbanitätskonzepten gestellt, die das qualitative Spektrum der Städte als normativer Aushandlungsprozess um ein zukünftiges Zusammenleben in Städten beinhalten. Des Weiteren stellte der Essay die Frage, wie ein künstlerischer urbaner Blick auf diese Prozesse und wie eine entsprechende Vision in
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•
•
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Form eines künstlerischen Produkts oder einer künstlerischen Position als potentieller Mehrgewinn für den transdisziplinären Forschungsprozess aussehen könnte (vgl. Abb. 1). Der Essay bot trotz der Vorstrukturierung und Kontextualisierung durch eine offene Fragestellung die Anschlussfähigkeit an eine explorative und experimentelle, qualitative und offene Herangehensweise. Im Essay wurde Fachliches wie Determinanten für die Künstler, Begrifflichkeiten und Thesen dargestellt. Diese dienen zum einen als Ausgangspunkt für die Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses von Begriffen und zum anderen für die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache (Pidgin-Sprache), die eine thematische Auseinandersetzung und abstrakte Diskussion über den Untersuchungsgegenstand erlauben sollte (vgl. Galison 1999).
5. Methodendesign
Zur Beantwortung der Fragestellungen in diesem transdisziplinären Forschungsprozess eignen sich vorwiegend qualitative Erhebungsmethoden. Den Impuls für die erste Gesprächssituation als aktivierendes Verfahren hat der Essay geboten. Dieser spiegelt nicht nur die übergeordneten Forschungsstrategien wider. Er kann auch als Methode verstanden werden, das Interesse der Künstler an einem Gespräch und einer Mitarbeit zu wecken und gleichzeitig den Rahmen des Untersuchungsbereichs und des Forschungssettings vorzugeben. Mit dem reflexiv-explorativen Interview und der Methode der Gruppendiskussion kombiniert, ist dieser Ansatz methodologisch als Triangulation zu fassen (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Methodische Zugänge
Quelle: Eigene Darstellung (2014), verändert nach Flick (2011: 327)
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In der fachlichen Auseinandersetzung mit der Triangulation wird die kombinierte Verwendung unterschiedlicher methodischer Erhebungs- und Auswertungsverfahren diskutiert und legitmiert. Bei der Triangulation werden in Bezug auf die Fragestellung unterschiedliche Datenquellen, Theorien und Methoden genutzt (vgl. Exkurs: Handlung und Struktur). Bezogen auf eine Problemstellung werden unterschiedliche Lösungswege gesucht und die Ergebnisse verglichen. Dabei können Schwächen eines Analyseweges durch die Stärken eines anderen kompensiert werden (vgl. Flick 2011: 325ff; Mayring 2002: 147). In Folgenden werden neben den Methoden – reflexiv-exploratives Interview und Gruppendiskussion – die Kategorien erläutert, nach denen die geführten Interviews ausgewertet wurden. Daraufhin wird das Datenmaterial der künstlerischen Positionen dargestellt, das jeweils aus Bild- und Textmaterialien besteht.
5.1 Q UALITATIVE I NTERVIEWS REFLEXIV-EXPLORATIVES INTERVIEW Die Methode des qualitativen Interviews orientiert sich an der von Dirksmeier (2007; 2009b; 2013b) entwickelten Methode der ‚reflexiven Fotografie‘ als semistrukturelle, offene Befragung. Die Offenheit der Interviews geht auf die Verwendung zweier Impulse zurück, die in das Gespräch einflossen: dem Essay und der Darstellung der künstlerischen Betätigungsfelder, die oftmals im ersten Gespräch als visuelles Datenmaterial vorlagen und als Erzählanlass gedient haben. Es bedurfte keinerlei weiterer gezielter Lenkung des Gesprächs, da der Essay gleichzeitig eine Vorstruktur bot, die zur Fokussierung auf den Untersuchungsgegenstand beitrug. In dem Gespräch wurde das jeweilige wissenschaftliche oder künstlerische Verständnis von Zugängen zur Stadt eruiert. Außerdem wurde diskutiert, welche Themenfelder im jeweiligen Kontext die besten Anknüpfungspunkte zur weiteren Zusammenarbeit bieten und wie eine künstlerische Position in Bezug auf die Fragestellung aussehen konnte. Darüber hinaus wurden unterschiedliche Begrifflichkeiten, Wahrnehmungen und erste Querbezüge zu dem Untersuchungsgegenstand ausgelotet. Mit diesem reflexivexplorativen Vorgehen wurden Grenzen, Potenziale und Möglichkeiten diskutiert, das künstlerische Datenmaterial rezipiert und die Interpretation bezüglich des Untersuchungsgegenstandes in einem zirkulären Prozess gemeinsam reflektiert. Das Verfahren bot zudem Anlass, Informationen bezüglich der Motivation des Künstlers zur Teilnahme am Projekt sowie künstlerische Aussagen zu den Untersuchungsgegenständen zu extrahieren. Während der Gespräche wurde sehr schnell ersichtlich, dass es unterschiedlichste Methoden und Formen der künstle-
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rischen Arbeitsweisen und Praxen gibt, die über das materielle Bild als Kunstwerk hinausgehen. Sie bestätigten die Annahme, dass das künstlerische, innere Bild vielfältige Ausdrucksweisen hat. Das visuelle Material lag daher als Dokumentation bereits durchgeführter künstlerischer Projekte, als Kunstwerk (Zeichnung, Illustration) oder als Fotografie vor. Das heißt, dass bereits erste gemeinsame Interpretationen der künstlerischen Arbeitsweisen in Bezug auf die vorliegende Forschungsarbeit stattfanden. Somit wurde das visuelle Material gleichzeitig kontextualisiert und im gemeinsamen Austauschprozess reflektiert. Diese Interpretationen flossen als textuell-sprachliche Deutungen in das Transkript für eine weitere Auswertung ein (vgl. Mattissek et al. 2013: 231). Teilweise folgten zu einem späteren Zeitpunkt weitere Nachfragen per Telefon oder E-Mail, die im Feldtagebuch als Feldprotokolle festgehalten wurden. Darin wurde teilweise fokussierter auf die künstlerische Position eingegangen, die entweder neu entstanden war oder bereits bestand und somit als künstlerischer Beitrag im Forschungsprozess gewertet werden konnte. Diese Fokussierung entstand aus der Generierung neuer Fragestellungen, die sich als Erweiterungen der zunächst übergeordneten allgemeinen Fragen während der ersten Interviewphase ergaben und als wichtig für die Annäherung an das Verständnis künstlerischen Handelns und somit zur Lösung der Problemstellung erachtet wurden. ZITATION UND AUSWERTUNGSKATEGORIEN In dieser Auswertung und Analyse werden Zitate im Text folgendermaßen gekennzeichnet: • •
Reflexiv-exploratives Interview: (Name des Künstlers 2014, TS: Z. Zeilennummer) Feldprotokoll: (Name des Künstlers 2014, FP: Z. Zeilennummer)
Tabelle 2 stellt im Folgenden die Auswertungskategorien dar, die sich an den Vorüberlegungen sowie den erweiterten Fragestellungen orientieren und die vier Ebenen Person, Process, Product und Press einbeziehen.
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Tab. 2: Auswertungskategorien Allgemeine Kategorien: Offene, explorative Phase
Erweitertes Kategorienschema
Künstler Person
• •
Eigene Zuordnung zu einem Kunstgenre Künstlerisches Selbstverständnis
Gesellschaftliches Rollenverständnis des Künstlers Press Person
•
Reflektion des gesellschaftlichen und städtischen Rollenverständnisses (Eigenzuschreibung/Fremdzuschreibung) Künstlerische Positionen, die das Rollenverständnis im städtischen Verwertungsprozess aufnehmen Gesellschaftliche Aufgaben des Künstlers
•
• Künstlerischer Zugang zu Stadt bzw. zu städtischem Raum Person/Process/Press
• • •
• • • • • • Wahrnehmung städtischer Probleme/Potenziale Person -> Press
• • •
• Dimensionen Urbanität: Künstlerischer Ausgangspunkt/Zugang Person Press
•
•
Thema der künstlerischen Position Thematische Verbindungen zur Problemstellung des Essays Motivation bzw. sonstige Beweggründe des Künstlers in Bezug auf die Auseinandersetzungen mit dem städtischen Themenfeld Bezugnahme auf einen Ort in der künstlerischen Position Raumtheoretische Überlegungen Aufnahme eines Raumkonzepts Aufnahme von Vorstellungswelten/Diskursen Bewusst gewählte theoretische Zugänge der Künstler Formen gemeinsamer Wissensproduktion (theoretisch, inhaltlich, methodisch) Wahrnehmung städtischer Probleme/Irritationen/Potenziale Künstlerische Verarbeitung städtischer Probleme Städtische Probleme als Ausgangspunkt oder als Reaktion für die künstlerische Auseinandersetzung (Ursache-Wirkung) Berlin-Bezug Physisch-materieller Raum, Erfahrungsraum, Städtische Lebensformen, Verhaltensweisen, Lebensstile Standards von Urbanität? Werte von Urbanität? 1. Normativität: politisch-demokratischemanzipatorische Errungenschaften 2. Ökonomisch-gesellschaftliche Verhältnisse: Neue Urbanität ? 3. Hegemoniale Aushandlungsprozesse zwischen kommunaler Verwaltung, kommunaler Politik und privatwirtschaftlichen Akteuren (öffentlich vs. privat)
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Allgemeine Kategorien: Offene, explorative Phase Künstlerische Mittel und Methoden, Produkte, Datenbasis Product/Process
Erweitertes Kategorienschema
•
• •
Ableitung von Visionen für eine zukünftige Urbanität Person/Product/Process/Press Ergebnis (Product/Process)
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• • • • • • • • • •
Verwendete künstlerische Methoden im Erschließen eines Raums, Ortes oder aufgrund einer Problemstellung Unterscheidung künstlerischer von wissenschaftlichen Methoden Daraus resultierende Erkenntnisse Darstellung fiktiver Momente oder – anhand einer Problemstellung – konkreter weiterer Ideen Zeitverständnis hinter dem künstlerischen Zugang Vermittlung von Werten in der Kunst, die sich auf eine zukünftige Urbanität beziehen lassen In den künstlerischen Positionen konkret sichtbar Visionen/Anzeichen von Visionen/Utopien Neue Ideen/Sonstiges Verhältnis der Ideen zur herrschenden Logik Vermittlung von Werten in der Kunst, die sich auf eine zukünftige Urbanität beziehen lassen Bewertung der Balance zwischen ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene (Nachhaltigkeit) Aufgezeigte Handlungsspielräume alternativ zu Visionen in Bezug auf Urbanität Aufgabe bzw. Impulse an Stadtplanung/Stadtpolitik
Quelle: Eigene Darstellung (2015)
5.2 D ATENBASIS BILDMATERIAL Im Folgenden wird auf die Besonderheit im Umgang mit visuellem Material auf allgemeiner Ebene und zugleich auf die Spezifik des Bildes in der Bildenden Kunst und ihren besonderen Auswertungsmöglichkeiten eingegangen. Das Bildmaterial beeinflusst insbesondere die Interviewsituationen, weil eine gegenseitige Durchdringung der Erhebungs- und Interpretationssituation des vielgestaltigen künstlerischen Datenmaterials stattfindet. Es verdeutlicht gleichzeitig die unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Zugänge von Kunst und geographischer Wissenschaftspraxis, die hier transdisziplinär verknüpft werden. Anders als in der Methode der ‚reflexiven Fotografie‘, in der ‚nur‘ Fotografien als visuelles Datenmaterial herangezogen werden, liegt aufgrund der explorativen Herangehensweise in dem vorliegenden Forschungsprozess Kunst in
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vielfältigeren Erscheinungsformen und Funktionen vor. In dieser Forschungsarbeit wird im Gegensatz zur Methode der ‚reflexiven Fotografie‘ Kunst nicht als Methode verstanden, sondern als eigene Ausdrucksform, die in den Forschungsprozess integriert wird und u.a. als Sprachrohr der Künstler sowie als Bestandteil einer gemeinsamen Wissensproduktion dient. Generell reichen Ausdrucksformen der Bildenden Kunst von Malerei, Grafik, Collage, Skulptur, Plastik, Aktionskunst bis hin zu Performance. Jede dieser Formen der Kunst bietet aus kunstwissenschaftlicher Sicht unterschiedliche Möglichkeiten im Umgang mit Grundelementen der Bildsprache an. Nach Kirschenmann & Schulz (2001) richtet sich die Bildsprache an das Rationale, Irrationale und Emotionale gleichzeitig und zeichnet sich dadurch durch Vieldeutigkeit aus: „Kunst ist also eine Sprache, in der Mensch mit all seinen Gefühlen und Gedanken, Erfahrungen und Erkenntnissen, Vorstellungen bewusst und unbewusst Eingang findet und angesprochen wird.“ (Kirschenmann & Schulz 2001: 16)
Diese Aussage zeigt einerseits die bereits angesprochene ‚piktorale Differenz‘ von Bildern und andererseits die Vielseitigkeit der Kunst, die als Spezifika gesehen werden kann. Während die Wissenschaft Eindeutigkeit verfolgt, ist der Kunst eine Mehrdeutigkeit in den Ausdrucks- und Rezeptionsweisen implizit (vgl. Omlin et al. 2012: 38). Die Kunstwissenschaften betonen u.a. die eigene Sprache des Bildes, die nonverbal kommuniziert und je nach vorhandener Bildsprache im Rezipienten eine psycho-physische Wirkung auslöst und so als künstlerische Aussage gewertet werden kann. Diese Wirkungen haben nach Regel (1986) folgende unterschiedliche Ausprägungen: • • • • •
Gegenständlich: Art und Weise der Darstellung, Abstraktionsgrad, Ready Mades, neue Kontextualisierungsformen Physiognomisch: Gesamtausstrahlung des Bildes in menschlichen Eigenschaften beschrieben Synästhetisch: Verbindung zweier getrennter Wahrnehmungsbereiche Sinnbildhaft: Symbole, Metaphern Objekthaft: verweist auf eine andere Bedeutung der Formen und Farben
Demnach entwickeln Künstler eigene Strategien, Methoden oder Prinzipien, aus denen sich ein eigenständiges System von Wirkungen ergibt. Die Kunstwissenschaften halten mehrere Techniken der Bildanalyse bereit, um sich der Bildsprache zu nähern. Die traditionellen Methoden der Bildbetrachtung untersuchen materielle Kunstwerke und beziehen sich in ihrer Analyse ausschließlich auf das
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Kunstwerk selbst. Diese Methoden sollen eine Annäherung an die Bildsprache des Kunstwerkes darstellen und sehen das Kunstwerk vom Künstler entkoppelt. Dieses Verständnis der Bildinterpretation geht von einer klaren Trennung von Bild und Rezipienten aus. Dabei gehörten die Ikonographie, Semiotik, Ikonologie und Hermeneutik als Auswertungsart zu diesem Verständnis (vgl. Held & Norbert 2007: 355; Panofsky 1980; Roberts 2013; Rose 2011).19 Der Fokus jener Analysen liegt dementsprechend auf den Darstellungsinhalten, Gestaltungselementen und auf dem symbolischen Wert des Bildes. Neue kunstwissenschaftliche Überlegungen – die auch dieser Arbeit zugrunde liegen – sprechen demgegenüber von einem erweiterten Bildbegriff, der durch eine ‚Öffnung des Bildes‘ über die materiellen Bildgrenzen hinaus definiert ist. Diese ‚Öffnung des Bildes‘ kann mehrere Bedeutungen haben und bedingt ein Rezeptionsverständnis, das eine neue Wechselwirkung zwischen Bild, Künstler und Rezipient beinhaltet. Der Betrachter kann beispielsweise in einen Bildraum treten: Bei einer Installation wird er ein Teil des Bildes. Der Rezipient wird bei einem künstlerischen Prozess – einer Performance oder Aktionskunst – zum Zuschauer, Teilnehmer oder sogar zum Mitwirkenden. Vorstellungen beim Betrachter werden angeregt, innere Vorstellungsbilder beim Künstler ergänzt oder der Betrachter selbst wird künstlerisch tätig (vgl. Eco 1973; Kirschenmann & Schulz 2001; Rebentisch 2013). Das heißt, Kunst öffnet sich von einem rezeptiven, passiven Zugang zu aktiver Partizipation, die auch Interaktionen auf verbaler und nonverbaler Ebene zulässt (vgl. Held & Norbert 2007). Dieses Verständnis der ‚Öffnung des Bildes‘ innerhalb der Kunstwissenschaften bietet trotz der Berücksichtigung der Mehrdeutigkeit von Kunst Anknüpfungspunkte für die Einbindung in die vorliegende Interviewmethode an (vgl. Eco 1973). In diesem Verständnis wird einerseits weiterhin von einem Bild ausgegangen, aber nicht von dem Bild, das ausschließlich durch traditionelle 19 Traditionelle Methoden der Bildbetrachtung, die sich auf das Kunstwerk und deren Gestaltungselemente beziehen: In der hermeneutischen Analyse als Methode der Bildbetrachtung werden Fragen an das sichtbare Bild gestellt. Ziel ist, durch die Fragen wieder auf neue Fragen gestoßen zu werden, um sich an das Bild anzunähern und Neues zu erkunden. Dabei wird das Bild erst durch seine Einzelteile verstanden und durchdrungen. Das Ergebnis der Interpretation ist demnach immer ein vorläufiges. Der semiotische Ansatz verfolgt die Decodierung von Zeichen aus dem Alltagsverständnis des Betrachters heraus. Zeichen sind Verweise auf übergeordnete Zusammenhänge, die auch eine kulturelle und historische Zuweisung erfahren können. Der ikonologische Ansatz (vgl. Panofsky 1980) untersucht die Darstellungsinhalte und vergleicht diese in ihrem zeitlichen Verlauf. Der sozial-historische Ansatz analysiert aus den Darstellungsinhalten historische Besonderheiten.
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Bildbetrachtungsmethoden erkannt und interpretiert werden kann. Das neue Verständnis bindet den Betrachter in die Rezeption ein und wird deswegen als Ansatz in dieser Arbeit aufgegriffen. Mit dieser Methode soll erzielt werden, dass zum einen die Herstellung des Bildes durch die Einbindung des Künstlers rekonstruierbar wird. Zum anderen werden innere Bilder, die im übertragenen Sinn Bilder der Stadt, Vorstellungen der Stadt oder Visionen über eine zukünftige Urbanität sein könnten, in den Interviews versprachlicht. Diese Interaktion und der Dialog führen zu anderen Auswertungsergebnissen, als wenn das visuelle Material nur von dem Forscher selbst ausgewertet werden würde. Die Methode bezieht daher anders als die traditionellen Bildbetrachtungsmethoden sowohl den sozialen Kontext der Entstehung als auch die Rolle des Betrachters oder des Mitwirkenden ein. Durch die Darstellung des Untersuchungsgegenstands und des Forschungssettings wurde die urbane Kontextualisierung der künstlerischen Positionen bereits im vorigen Kapitel vorgenommen. Daher wurden Künstler auch in der Funktion von Wahrnehmenden und Experten städtischer Prozesse begriffen und als Auswertende und Interpreten ihrer urbanen Bilder im wechselseitigen Austausch mit dem Forscher in Bezug auf das Thema integriert. Durch diese Methode wurde der Kommunikationsprozess gestärkt und das Ziel verfolgt, das gegenseitige Verstehen durch die Integration der Interpretation- und Reflexionsebene auf sprachlicher, künstlerischer, wissenschaftlicher und inhaltlicher Ebene zu fördern (vgl. Borgdorff 2009: 29) und eine weitere Annäherung dieser Ebenen im Sinne eines transdisziplinären Forschungsprozesses zu erreichen. Reflexion und Interpretation wird als gemeinsames Charakteristikum zwischen den Disziplinen und der Methode verstanden. Tabelle 3 stellt eine Übersicht des Bildmaterials dar, das in die Empirie einfloss.
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Tab. 3: Übersicht Bildmaterial Künstler/ Künstlergruppe
Bildmaterial (Zeichnungen/Illustrationen/Fotoprints)
Fassler, Larissa
•
Drei Zeichnungen: Serie ‚Kotti‘ (2008, 2010, 2014)
Fuhrer, Christoph, N.
• •
Zeichnung; ‚Die Rote Stadt, die Hure Babylon‘ (2014) Zeichnung; ‚Gehwegschäden‘ (2008)
Kietzmann, Eva & Kübert, Petra
• •
Karte: Privatisierten Flächen in Mitte, Textcollage I +II, Foto ohne Titel (aus Katalog: Die Schöne Kunst des Wohnens (2013)) Fotoprint: Ausstellungsansicht Entwicklungsgebiet Rummelsburger Bucht - Vermutungen über Oberflächen (2011); Fotoprint: ;Broken Windows’ (2014)
• • Marzall, Silvia
• • • •
Zeichnung: ‚ÜBER BLICK‘ (2010) Fotoprint: Monumentalachse und Trampelpfade in Brasilia (2010) Fotoinstallation: ‚belveder‘ (2010) Fotoprint; ‚Trampelrutsche‘ (2010)
Rettenmund, Tamara
•
Fotodokumentationen ihrer künstlerischen Arbeiten: ‚Das Leben geht weiter‘ (2009), ‚Bei Karstadt wohnen‘ (2011) und ‚Engelfallen‘ (2011)
Studierende – Hochschule Weißensee
•
Zeichnung: Versuchsanordnung: ‚Mehrwert schaffen umsonst‘ (2014) Fotodokumentation: ‚Action Set – Mehrwert schaffen umsonst‘ (2014)
Versteeg, Roos
•
•
Wunderlich, Lars
•
Drei Beispielsseiten aus dem Booklet: ‚Gebrauchsanleitung für die Karl-Marx-Straße‘ (2012) Fotodokumentation zum Projekt ‚Schachteldenken‘ (2009)
•
Zeichnung/Illustration: ‚Die Zukunft der Stadt‘ (2012)
-
Quelle: Eigene Darstellung (2014)
TEXTE So unterschiedlich die künstlerischen Zugänge zum Thema Stadt sind, so verschieden sind auch die Formen des empirischen Ausgangsmaterials. An Datenmaterial lagen zum einen die transkribierten Interviews vor. Sie wurden als textuell-sprachliche Deutung von künstlerischen Positionen mit einem Diktiergerät aufgenommen und transkribiert. Zum anderen wurden Sekundärdaten wie Kataloge in die Analyse integriert, die die künstlerischen Arbeitsweisen oder Zugänge und die Projekte visuell und textlich dokumentierten (vgl. Tab 4).
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Tab. 4: Übersicht Textmaterial Künstler/ Künstlergruppe Fassler, Larissa
Textmaterial
•
• •
Transkript des reflexiv-explorativen Interviews (TS) Feldprotokoll (FP) (Gedächtnisprotokoll, Erstgespräch, E-MailAustausch, künstlerisches Selbstverständnis) Drei Sekundärtexte aus Ausstellungskatalogen und einem Buch Homepage-Texte: http://www.septemberberlin.com/artist/review/30/en (05.07.2015)
Fuhrer, Christoph
•
Transkript des reflexiv-explorativen Interviews (TS), Transkript der Gruppendiskussion (GD), Feldprotokoll (Pressetexte, E-Mail-Austausch) (FP)
Kietzmann, Eva & Kübert, Petra
•
Transkript des reflexiv-explorativen Interviews (TS), Transkript der Gruppendiskussion (GD), Feldprotokoll (E-MailAustausch, Selbstverständnis, Pressetexte) (FD) Katalogtext: Die schöne Kunst des Wohnens (2013) , Katalogtexte: Rummelsburger Bucht: Notizen zur Thematik, Beobachtungen und Überlegungen (2011)
•
Marzall, Sylvia
•
Transkript des reflexiv-explorativen Interviews (TS), Transkript der Gruppendiskussion (GD), Feldprotokoll (Pressetexte, E-Mail-Austausch) (FP)
Rettenmund, Tamara
•
Transkript des reflexiv-explorativen Interviews (TS), Transkript der Gruppendiskussion (GD), Feldprotokoll (E-MailAustausch, Selbstverständnis) (FP), Portfolio-Texte (2012) Masterarbeit (2014)
• Studierende – Hochschule Weißensee Berlin
• • •
Ausstellungskatalog WE TRADERS Ausstellungsbeschreibung im Internet Transkript des reflexiv-explorativen Interviews in der Gruppe (TS)
Versteeg, Roos
•
Transkript des reflexiv-explorativen Interviews (TS), Transkript der Gruppendiskussion (GD), Feldprotokoll (E-MailAustausch, Pressetexte, Essay: ‚Pop-Up-Schamane‘) (FP) Booklet: Gebrauchsanleitung für die Karl-Marx-Straße (2012)
• • Wunderlich, Lars
•
Transkript des reflexiv-explorativen Interviews (TS), Feldprotokoll (E-Mail-Austausch) (FP)
Quelle: Eigene Darstellung (2015)
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Weiterhin ist während des gesamten Forschungsprozesses ein Feldtagebuch geführt worden, dessen Aufzeichnungen in Einzelfällen in die Analyse mit aufgenommen wurden (vgl. Tab. 4). Für die erste Interpretationsphase wurden die Transkripte der reflexivexplorativen Interviews ausgewertet. Da in dieser reflexiven Kommunikation vorwiegend die Offenheit bezüglich des Verstehens im Vordergrund stand, scheint für die vorliegende Forschungsarbeit das Auswertungsverfahren der „sozialwissenschaftlichen-hermeneutischen Paraphrase“ (Mattissek et al. 2013: 219) am geeignetesten zu sein. Dies begründet sich darin, dass sich der Schwerpunkt des Auswertungsverfahrens auf transdisziplinäre Kommunikationselemente stützt. Es geht um ein konsensorientiertes Verstehen. Das heißt, der Forscher geht nicht davon aus, Sinnkonstruktionen und Situationen besser zu kennen als der Befragte selbst (vgl. hierzu auch Kleining 1995: 187ff). Es geht einerseits darum, dass der Forscher vorliegende Materialien interpretiert, um fremde Zusammenhänge und Sinnkonstruktionen von Welt und fremde Zusammenhänge von dem Gegenüber zu verstehen und sich hinein zu denken. Andererseits geht es darum, dass der Forscher in die Diskussion und Analyse seinen Hintergrund einbringt, das Alltagsverständnis sowie sein theoretisches Wissen. Des Weiteren wird in diesem Verfahren die Einseitigkeit der Interpretation dadurch vermieden, indem mehrere Interpreten hinzugezogen werden. Durch gegenseitiges Nachfragen werden Schlussfolgerungen gezogen, die anschließend mit den Befragten diskutiert werden. So wird Reflexivität und Transparenz hergestellt.
5.3 G RUPPENDISKUSSION Nach Liebig & Nentwig-Gesemann (2009: 104) stehen bei der Gruppendiskussion die Eruierung von Erfahrungszusammenhängen, Meinungen, Orientierungen und Einstellungen im Vordergrund des Erkenntnisinteresses. Dabei geht es nicht primär – wie in dem reflexiv-explorativen Interview – um subjektive Deutungen oder Positionen, sondern um (halb-)öffentliche Ansichten, die an einen sozialen Kontext gebunden sind. So können im Gruppenprozess ergänzend zu den Interviews grundlegende Zusammenhänge, kollektive Deutungsmuster und Auffassungen aufgedeckt werden: Der Forscher bekommt innerhalb der Gruppendiskussion Einsicht darüber, was die Gruppe „hinsichtlich typischer Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen sowie dahinter stehender Wertestrukturen ausmacht“ (Kühn & Koschel 2011: 34). Dahinter steht die Grundannahme, dass das wechselseitige Bearbeiten eines Themenbereichs und die wechselseitige Stimulation durch die bestehende Dynamik innerhalb einer Diskussion themati-
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sche Bezüge vertiefen und Kernaspekte eines Themenbereichs zum Vorschein treten lassen (vgl. Mattissek et al. 2013: 183). In diesem Forschungsprozess diente die Aufnahme der Gruppendiskussion ins Methodensetting folgenden Zielen: • • • • •
als Austausch- und Kennenlernplattform der beteiligten Künstler, als Ausgangspunkt der Diskussion für die künstlerischen Positionen, als Basis einer kollektiven Rezeption und Interpretation in Bezug auf die Problemstellung, als Rückbindungsmöglichkeit an die strukturelle, gesellschaftlich-theoretische Ebene sowie als Deutungshilfe des Künstlers in seiner Funktion in städtischen Prozessen.
Die Gruppendiskussion fand im Rahmen eines Workshops statt. Durch ein Handout, das im Vorfeld des Workshops an alle Künstler versendet wurde und wesentliche Inhalte des Essays zusammenfasste, ergab sich eine inhaltliche Vorstrukturierung. Damit wurde sichergestellt, dass die als wichtig erachteten Themenfelder in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand im Workshop Berücksichtigung fanden. Der Ablauf des Workshops war in vier Panels unterteilt. Als erstes wurden Erwartungshaltungen, Vorstellungen und Ziele des Workshops zusammengetragen. Dann gab es von meiner Seite ein kurzes Inputreferat zum Wandel der Städte. Darauf folgte die Vorstellung der künstlerischen stadtbezogenen Arbeiten oder Ideen. Zum Schluss wurden weitere Themen, die während des Workshops aufgekommen waren, angesprochen. Am Ende des Workshops wurden Parallelen und Unterschiede des künstlerischen Arbeitens herausgearbeitet. Dabei standen folgende Aspekte im Vordergrund: • • • • • •
Ähnliche oder divergierende Zugänge zum Thema Stadt und zu städtischen Visionen, Beobachtungen des städtischen Wandels anhand der künstlerischen Positionen, Visionen von Städten, die über die künstlerischen Arbeiten hinausgingen, die Rolle des Künstlers im Stadtgeschehen sowie eigene Erfahrungen und Positionierungen, Kunst und die Frage ihrer Verwertung sowie mögliche Ideen für kooperative Projekte und Ausstellungen über das Forschungsprojekt hinaus.
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Tab. 5: Auswertungs-, Analyse- und Interpretationsprozess Analyse I: Fallstudien der Künstler •
Bereits bestehende Werke (visuell), Interventionen, Dokumentationen
•
Neu entstandene künstlerische Positionen und Produktionen
Textuelles Datenmaterial
•
Reflexionsebenen
•
Transkription der reflexiv-explorativen Interviews (Interviewphase I), beinhaltet die erste Rezeptions- und Interpretationsebene der künstlerischen Positionen Entstandene Kooperationen: transdisziplinäre, künstlerische Forschung, Bilder, Vorstellungen, Visionen, Urbanität
Visuelles Datenmaterial
Analyse II: Gruppendiskussion Textuelles Datenmaterial Diskursive Ebenen und Rezeption
•
Transkripte der Gruppendiskussion: zweite Rezeptionsebene der künstlerischen Positionen
•
Rückkopplung an strukturelle Ebene
Ziel
•
Darstellung der künstlerische Einzelpositionen in Bezug zur Fragestellung
Analyse III: Abschließende Analyse Analysestufen
• • •
Ziel •
Eigene Schlussfolgerung in Berücksichtigung der übergeordneten Kategorien Reflexion der unterschiedlichen Ebenen Problembezogene Integration und wissenschaftliche Integration der Ergebnisse Theoretische Rückbindung
Quelle: Eigene Darstellung (2015)
Die Ergebnisse wurden verschriftlicht und dienten als Ergänzungsmaterial für die Darstellung der künstlerischen Position. In der Auswertung des Textmaterials wurden im ersten Schritt Kernaussagen identifiziert, im zweiten Schritt die Aussagen systematisiert und gewichtet und im dritten Schritt in der textlichen Darstellung der künstlerischen Position verdichtet. Danach erfolgte die letzte Interpretation des Textmaterials, die ausgehend von den künstlerischen Positionen und Informationen aus dem Workshop eine eigene Schlussfolgerung unter Berücksichtigung der übergeordneten Kategorien und der Reflexion der unterschiedlichen Ebenen auf einem höheren Abstraktionsgrad erlaubte. Die Zitate aus der Gruppendiskussion werden in der Auswertung und Analyse innerhalb dieses Textes folgendermaßen gekennzeichnet: (Name des Künstlers 2014, GD: Z. Zeilennummer). In Tabelle 5 werden die unterschiedlichen Schritte des Analyse- und Auswertungsprozesses in einer Übersicht dargestellt.
6. Analysen: Künstlerpositionen
Im Folgenden werden acht Künstlerpositionen vorgestellt. Jeweils einleitend wird zunächst der Künstler (bzw. die Künstlergruppe) vorgestellt und sein künstlerischer Werdegang erläutert. Darüber hinaus wird dargestellt, welche künstlerischen Positionen und zusätzlichen Bild- und Schriftmaterialien neben den Interviews die Grundlage der Analyse bilden. Anschließend werden das Kunstwerk bzw. die künstlerischen Produkte beschrieben und analysiert. Aufgrund der großen Variationsbreite der künstlerischen Produktionen und der unterschiedlichen Positionierungen wird in der Analyse Bezug auf den spezifischen Entstehungskontext der Bilder (Press), das Produkt selbst (Product) sowie die Produktionsweise bzw. den Schaffensprozess (Process) genommen. Im nächsten Schritt werden die künstlerischen Einzelpositionen, die eine Varianz an Problemwahrnehmungen und künstlerischen Zugängen aufweisen, aufgefächert und separat dargestellt. Im Anhang werden zusätzlich zwei künstlerische Positionen in einer verkürzten Version vorgestellt, um die Vollständigkeit der empirischen Studie darzustellen (vgl. Anhang: A 3 & 4). Die Künstler haben mit ihrer Teilnahme am Workshop, der Präsentation ihrer Kunst, ihren Haltungen und Positionen wesentlich zu dem Gruppenprozess und der Entwicklung der Diskussion beigetragen. Beide Positionen sind inhaltlich allerdings ähnlich gelagert wie die folgenden Positionen, aber weniger umfangreich und würden daher in einer detaillierten Darstellung für die Forschungsfrage keine neuen Einsichten ergeben.
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6.1 C HRISTOPH N. F UHRER : DADA ODER AUF DER S UCHE NACH DER V ISION 6.1.1 Person Christoph N. Fuhrer ist am 30. Mai 1969 in Bern geboren. Er absolvierte von 1987 bis 1989 den Studiengang ‚Grafik‘ an der Schule für Gestaltung in Bern. Der Schweizer lebt und arbeitet seit 2008 in Berlin. Er hat unter anderem in den letzten Jahren folgende Einzelausstellungen verwirklicht: in der Galerie Incontro Zürich ‚Die Geographie von Schöneberg‘ (2011) bestehend aus Zeichnungen und Radierungen. Dann folgte die Ausstellung ‚Schatz, schau: Die Blumentapeten des Prekariats‘ in der Galerie Peppi-Guggenheim in Berlin-Neukölln. 2013 hatte er eine weitere Einzelausstellung ‚Also sprach Zarathustra' in der Galerie Ardes in Berlin. Seine letzten beiden Ausstellungen im Jahr 2014 und 2015 in Berlin-Schöneberg und in Bern widmete der Künstler dem Essayisten und Dadaisten Walter Serner mit dem Titel ‚Lust ist der einzige Schwindel, dem ich Dauer wünsche. Eine Hommage an Walter Serner‘. Neben seinen Ausstellungen verwirklicht Fuhrer seine Kunst in dem Format des Livezeichnens. In Kneipen oder zu künstlerischen Events zeichnet der Künstler während Live-Musik zu vorgegeben Themen, zu eigenen Fragestellungen oder er lässt sich von dem Umfeld inspirieren. Die Zuschauer bzw. die Besucher der jeweiligen Events oder der Lokalität können das Entstehen seiner Zeichnungen über eine BeamerProjektion, die an die Wand geworfen wird, live verfolgen. Zur Auswertung für die vorliegende Forschungsarbeit liegen drei künstlerische Positionen von Fuhrer vor. Im Mittelpunkt steht die Zeichnung mit dem Titel: ‚Die Rote Stadt, die Hure Babylon‘. Diese künstlerische Position ist auf der Grundlage des Essays und zeitlich parallel zu seiner Vorbereitungsphase zur Einzelausstellung ‚Lust ist der einzige Schwindel, dem ich Dauer wünsche. Eine Hommage an Walter Serner‘ im Jahr 2014 entstanden. Diese Zeichnung nimmt die Fragestellung auf, wie Stadt unter anderen Bedingungen anders sein kann. Der Künstler stellt in der vorliegenden Zeichnung sein künstlerisches Selbstverständnis dar und formuliert bildnerisch und symbolisch Funktionsweisen sowie Aufgaben der Kunst, die nach seinem Verständnis notwendig sind, um mit künstlerischen Mitteln Stadt anders denken zu können. Des Weiteren bietet die Zeichnung visuelle Elemente an, die im gemeinsamen Gespräch erlaubten, Querbezüge zu seinem persönlichen und künstlerischen Zugang zu Stadt und seinen konkreten Visionen für eine zukünftige Urbanität generell und am Beispiel Berlin herzustellen. Das reflexiv-explorative Interview eröffnete des Weiteren theoretische Anknüpfungspunkte und Diskussionen, inwieweit Visionen im
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Wandel der Zeit als eine mögliche Funktionsweise der Kunst überhaupt formuliert werden können und inwieweit utopisches Potenzial in der Kunst entfaltet werden kann. Neben dieser künstlerischen Position liegt zur Auswertung für die vorliegende Forschungsarbeit eine weitere Zeichnung vor, die den thematischen und konzeptionellen Zugang des Künstlers zu Stadt dokumentarisch unterstreicht. Zusätzlich bilden insgesamt zwei Transkripte aus der Gruppendiskussion (GD) und aus dem reflexiv-explorativen Interview (TS) sowie ein Feldprotokoll (FP) die Datenbasis, das Pressetexte und den schriftlichen E-MailAustausch bei inhaltlichen Nachfragen beinhaltet. 6.1.2 Product – ‚Die Rote Stadt, die Hure Babylon‘ BESCHREIBUNG In der künstlerischen Position ‚Die Rote Stadt, die Hure Babylon (Wie kann Stadt unter anderen Bedingungen anders sein)‘ (vgl. Abb. 3), wird aus einer Vogelperspektive grundrisshaft die Stadt Berlin angedeutet. Abb. 3: ‚Die Rote Stadt, die Hure Babylon‘
Quelle: Fuhrer (2014), Zeichnung mit Blattgold, Dimension: 42,0 x 59,4 cm
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Dass es sich um Berlin handelt, wird an der dargestellten Silhouette ersichtlich: Es sind Wahrzeichen wie der Fernsehturm am Alexanderplatz und der Potsdamer Platz zu erkennen. Des Weiteren ist perspektivisch eine städtische Struktur mit Linien angedeutet. Der Horizont der Stadt besteht aus Blattgold, das die dominanteste flächenhafte, farbliche Komponente des Bildes ausmacht und die je nach Perspektive des Betrachters eine Spiegelung verursacht. Im Vordergrund inmitten des Bildes fällt ein großes Emblem in Form eines Sternes auf, das eine Sichel und einen Pinsel mit der Aufschrift ‚DADA‘ trägt. Links neben dem Emblem wird ein Ozelot mit Flügeln dargestellt, dessen Fellzeichnung sich in Auflösung befindet. Rechts neben dem Stern ist ein nackter, rauchender Mann dargestellt, der in seiner rechten Hand einen Pinsel und in seiner linken Hand eine Pistole trägt und den Betrachter des Bildes anschaut. Der Mann wiederum trägt dasselbe auflösende Muster wie der Ozelot. Am Horizont ist ein überdimensionierter Kopf visualisiert, der über die Linie des Horizontes ragt. Dieser trägt zwei Brillen und sein Blick ist auf die Stadt gerichtet. Außer den bildlichen Komponenten fällt nicht nur der provokant wirkende Titel auf, sondern auch die Jahreszahl 1913 neben der Signatur des Künstlers und die Jahreszahl 2014, also das Entstehungsjahr der Zeichnung. WALTER SERNER ALS KÜNSTLERISCHE INSPIRATIONSQUELLE Die Jahreszahl 1913 auf dem Bild veweist auf den ‚Reisenden, Essayisten und Dadaisten‘ Walter Serner (vgl. Fuhrer 2014, FP: Z. 174) und auf das Jahr, ab dem Serner bis 1914 in Berlin lebte (vgl. Puff-Trojan 1993). Walter Serner wurde 1889 in Karlsbad in Böhmen geboren. Serner begleitete den Künstler Fuhrer bereits seit seinen Jugendjahren als Vorbild und Inspiration für sein künstlerisches Schaffen, insbesondere mit dem literarischen Werk ‚Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen‘ (Serner 1964). Fuhrer suchte als Jugendlicher nach einer künstlerischen Haltung und Position und fand sie bei Walter Serner, der als ‚Mitbegründer und trotzdem Antipode der Dada-Bewegung‘ und als ‚geistiger Bruder‘ des Künstlers verstanden werden kann (vgl. Fuhrer 2014, FP: Z. 176ff). Die literarischen Werke von Serner wurden aufgrund seiner gesellschaftskritischen Haltung von den Nazis zunächst auf den Index ‚schädliche und unerwünschte Schriften‘ gestellt, verboten und letztendlich verbrannt. 1942 wurde Serner von den Nazis im Wald von Bikernieki in Riga ermordet. Nach Aussagen des Künstlers wurde das literarische Gesamtwerk bis heute kaum gewürdigt bzw. „totgeschwiegen“ (Fuhrer 2014, FP: Z. 78ff). Das auf der Zeichnung von Fuhrer dargestellte sternenförmige Emblem trägt die Aufschrift ‚DADA‘, was ein weiterer Verweis auf Walter Serner und die Anfänge des literarischen Dadaismus ist. Der künstlerische Dadaismus etablierte
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sich 1916 während der Zeit des ersten Weltkriegs in Zürich. Zürich wurde während des ersten Weltkrieges ein neutraler Anlaufort zahlreicher Exilanten aus Europa, die sich auf der Flucht vor dem Krieg dort niederließen. In dieser Stadt gab es somit den Raum und das Bedürfnis bestimmter Gruppen, ihre Freiheit auszuleben und ihrem Protest gegen den Krieg Ausdruck zu verleihen. Dazu hat sich für die künstlerischen Kreise das Cabaret Voltaire in Zürich angeboten, in dessen Umfeld sich auch Walter Serner bewegte. Das Cabaret Voltaire gilt als Geburtsort des Dadaismus. Die Räumlichkeiten des Cabaret Voltaire wurden als Bühne, als Treffpunkt, als Ausstellungsort, als Kneipe oder Theater genutzt (vgl. Bolliger & Verkauf 2015: www.*). Dort wurden die ersten dadaistischen Manifeste, die sich gegen den ersten Weltkrieg richteten, verfasst. Daher wird in den Kunstwissenschaften der Dadaismus oftmals einerseits als Bewegung einer künstlerischen politischen Protestkultur gegen den Krieg gesehen Andererseits verstand man sich als Bewegung, die sich gegen die damals vorherrschenden Werte, Normen und Ideale der Gesellschaft richtete, die als Auslöser des ersten Weltkriegs galten (vgl. Korte 1994). Der Dadaismus galt in diesem Zusammenhang als erste Kunstbewegung, die sich mit damaligen gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzte und sich gegen gesellschaftliche Repräsentanten und Machtapparate richtete. Diese Haltung wurde auch in die Kunst und künstlerische Praxis transferiert, indem sich die Dadaisten gegen die bislang vorherrschenden konventionellen, künstlerischen und ästhetischen Sehgewohnheiten und Kunstformen richteten und eigene künstlerische Verfahrensweisen entwickelten, die zufalls-, aktionsorientiert und experimentell ausgerichtet waren. Mit ihren künstlerischen Mitteln, die durch oftmals ironische und humorvolle Überspitzung und Verfremdung gekennzeichnet waren, wurden damals gesellschaftliche und künstlerische Tabus gebrochen. Durch neu entwickelte künstlerische Reproduktionstechniken wie die der Fotomontage oder Collagen sollte aufzeigt werden, dass hinter der Kunst nicht nur ein Abbild der Wirklichkeit steht, sondern Kunsterfahrung immer eine subjektive Haltung sei. Daher könne nach dem Verständnis der Dadaisten Kunst von außen nicht bewertet und in ihrer Wertigkeit keine Hierarchisierung vorgenommen werden (vgl. Bolliger & Verkauf 2015: www.*; Held & Norbert 2007: 46ff). Die Künstler richteten sich durch neue künstlerische Formate an die Öffentlichkeit. Sie wollten das Publikum provozieren, aber auch integrieren. Durch ihre vergänglichen Darstellungsweisen positionierte sie sich zudem gegen die Konservierung von Kunst in Museen (vgl. Korte 1994).20 Die Dadaisten wollten trotz des ‚-ismus‘ keine Ideologie darstel20 Die Dada-Bewegung breitete sich im Laufe des ersten Weltkrieges in weiteren Großstädten in Europa aus. In Berlin konnte sich der Dadaismus erst nach dem ersten Weltkrieg etablieren. In der Kunstgeschichte wird der Dadaismus als Zäsur gesehen,
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len und sich nicht definieren lassen. In dem Moment, in dem der Dadaismus als Bewegung Züge einer Ordnungsstruktur aufwies, wollten die Anhänger der Bewegung diese wiederum zerstören, mit dem Ziel, diese Kunstbewegung nicht zu kategorisieren oder zu fassen (vgl. Bolliger & Verkauf 2015: www.*; Korte 1994). Die Faszination an Serner als Repräsentant des Dadaismus und an dem Dadaismus als Kunstbewegung selbst, begründet Fuhrer damit, dass Serners Beobachtungen, Handeln und Schaffen eine bis heute noch gesellschaftliche Gültigkeit und Aktualität besitzen: „Serner sieht die Kunst als Spaß, Gesellschaftskritik und Waffe, als Instrument, die vorherrschenden Machtsysteme zu hinterfragen und aufzudecken. Serners Handeln und Schaffen stellen somit die bourgeoisen Werte, die gesellschaftliche Ungerechtigkeit und das Großkapital in Frage. Mit viel Nähe und Liebe zum Menschen, mit umwerfendem Humor und einem unbestechlich scharfen Blick will er ein Bewusstsein für soziale Missstände schaffen.“ (Fuhrer 2014, FP: Z. 181-188)
Aus der Denktradition der Dadaisten leitet der Künstler ab, dass die Kunst gesellschaftliche Aufgaben und Funktionsweisen hat, die auch noch heute Bestand haben sollten. Mit humorvollen, künstlerischen Mitteln übt er Kritik an bestehenden Verhältnissen und sucht nach einem Weg, gegen soziale Ungerechtigkeit zu kämpfen. Daher sollte laut Fuhrer die Kunst nicht nur für das Kunstsystem produziert werden, sondern sich gesellschaftlich öffnen und sich einen gesellschaftlichen Platz zuweisen (vgl. Fuhrer 2014, FP: Z. 78ff). 6.1.3 Person – Press – Process – Blick, Haltung und Subversion als strategisches Mittel In der vorliegenden Zeichnung werden in subjektgebundenen oder abstrakten Symbolen (1) die Voraussetzungen für die Zugänge zu Stadt, (2) die politische und künstlerische Haltung und (3) die Methoden und künstlerischen Mittel dargestellt, die jeweils dem Künstler auf der Suche nach Visionen für eine zukünftige Urbanität behilflich sein könnten. Ausgehend von seinem künstlerischen
in der neue Techniken und Neuerungen in den Darstellungsweisen in der bildenden Kunst hervorgebracht und das Werk (Product) und die Autorenschaft des Künstlers hinterfragt wurden. Inwieweit die Dada-Bewegung in ihrem politischen Anliegen und als künstlerische pazifistische Protestkultur durch ihre Gesellschaftskritik Auswirkungen auf gesellschaftliche Prozesse hatte, bleibt in der wissenschaftlichen Diskussion bis heute umstritten (vgl. Blissett & Brünzels 2012).
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Selbstverständnis stellt sich Fuhrer auf der Zeichnung dreimal selbst dar: Als Seher, als nackter Künstler und als Ozelot. (1) DER SCHARFE BLICK: VORAUSSETZUNGEN FÜR ZUGÄNGE ZU STADT Am Horizont wacht der Künstler in seiner Selbstdarstellung mit doppelter Brille über die Stadt. Symbolisch stellt das nach Aussagen des Künstlers den ‚scharfen Blick‘ dar, der darauf fokussiert ist, gesellschaftliche Prozesse innerhalb der Stadt wahrzunehmen und diese zu analysieren (vgl. Abb. 5). „Ich versuche scharf zu schauen und bilde das ab, was ich sehe. Ich versuche eine Vision abzubilden und zwar eine Vision einer gerechteren Stadt: Jeder Mensch soll unabhängig seiner Herkunft, Geschlecht und Ethnie das Recht haben, sich zu verwirklichen. Es soll ein freier Zugang zu der Daseinsvorsorge geben, mit dem Ziel, auch eine gerechtere Welt zu gestalten. Stadt ist ein Teil der Welt, Stadt verstehe ich als Essenz der Welt, weil sich dort alles komprimiert, weil dort die Prozesse ablaufen und Entscheidungen getroffen werden. In der Stadt trifft sich die Welt aus unterschiedlichen Motivationen und Gründen.“ (Fuhrer 2014, TS, Z. 10-17)
Nur durch genaue Beobachtungen und die Analyse bestehender Prozesse innerhalb der Stadt können laut Aussage des Künstlers Visionen für eine zukünftige Urbanität generiert werden. Während des Zeichnens versucht der Künstler selbst mit diesem geschärften Blick auf die Prozesse der Stadt zu sehen und seine Visionen während des Zeichnens zu vergegenwärtigen (vgl. Fuhrer 2014, TS: Z. 18f). Diese vom Künstler formulierte Vision, wird in der Zeichnung nicht bildhaft dargestellt, sondern bleibt abstrakt. Sie kann laut Fuhrer auch metaphorisch als ‚Prinzip Hoffnung‘ verstanden werden, die er in der Zeichnung am Horizont als goldene Morgendämmerung darstellt. Je nach Perspektive des Betrachters werden andere farbliche Facetten aufgrund der goldenen Patina reflektiert. Diese Vielfältigkeit der Farbreflexionen soll die unterschiedlichen Visionen, Begehren und Wünsche der Betrachter, aber auch die Hoffnung des Künstlers an eine bessere Stadt darstellen: „Die Morgenröte zeigt unter anderem die Hoffnung für die Stadt und bessere Gesellschaft auf.“ (Fuhrer 2014, TS: Z. 70-71)
Der benannte ‚scharfe Blick‘ als Voraussetzung für den Zugang zur Stadt und zu den darin ablaufenden Prozessen kann als Analogie zu Serners beschriebener Beobachtungsgabe verstanden werden, die er voraussetzt, um soziale Missstände offenlegen zu können. Dieses genaue Sehen führte Serner zu seiner Gesell-
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schaftskritik und zu seinem neuen Kunstverständnis, das eine Vision einer besseren Gesellschaft beinhalten konnte (vgl. Fuhrer 2014, TS, Z. 72f). Der ‚scharfe Blick‘ des Künstlers innerhalb des Bildes verweist auch auf den Blick des Künstlers im Moment der Entstehung der Zeichnung. Diese entstand durch den Blick aus seinem Fenster. Hier reflektiert der Künstler zunächst den Ort, an dem die Zeichnung entstanden ist: an ihn verknüpft er eine materialisierte und stadtpolitische Umsetzung einer Vision: „Das ist die Aussicht über das Fenster im Pallasseum über die Stadt. Hier ist die Vision von einem besseren Ort, wo zunächst etwas Schreckliches passiert ist, hier stand der geschichtsträchtige Sportpallast. Jetzt steht hier eine realisierte Vision und zeigt, obwohl in die Jahre gekommen, dass eine bessere Welt möglich ist, die durch architektonische Umsetzungen und soziale Ausrichtung gekennzeichnet ist.“ (Fuhrer 2014, TS: Z. 58-62)
In dieser Aussage bezieht sich Fuhrer auf das in Berlin Schöneberg gelegene Pallasseum. Dabei handelt es sich um einen großen Wohnkomplex mit zwölf Etagen, insgesamt 36.0000 Quadratmetern auf denen sich 514 Wohnungen und insgesamt 2000 Menschen befinden. Dieser entstand zwischen den Jahren 1973 und 1976 als Vorzeigeprojekt für modernes Wohnen und war als öffentlich geförderter sozialer Wohnungsbau deklariert. Dieser Wohnkomplex entwickelte sich laut Quartiersmanagement-Berlin (2015) vor allem nach der Wende zu einem sozialen Brennpunkt, bis das Soziale-Stadt-Programm ab 1999 mit baulichen und sozialen Maßnahmen intervenierte. Heute bietet das Pallasseum im Gegensatz zu den umliegenden Gebäuden noch immer relativ günstige Mieten an und ist somit eine Nische für Menschen mit geringerem Einkommen, auch wenn der Mietendruck und die Aufwertung im gesamten Gebiet und auch auf den Wohnkomplex derzeit ansteigen (vgl. Krajewski 2013). Durch seine Aussage verweist der Künstler auf die stadtplanerische Möglichkeit und Regulationsfähigkeit, Visionen für die gemeinsame Stadtgesellschaft umzusetzen. Zuvor stand an selbiger Stelle von 1910-1973 der Sportpalast, auf den der Künstler in seiner Aussage als schrecklichen Ort verweist. Der Sportpalast war in der Weimarer Republik zu einem der größten modernen Berliner Veranstaltungsorte geworden, der u.a. für die Durchführung der Sechstagerennen große Beliebtheit bei den Berlinern erfuhr. Später wurde dieser Veranstaltungsort auch von unterschiedlichen Parteien genutzt. Dort sprach 1928 nach Aufhebung des preußischen Redeverbots der NSDAP zum ersten Mal Adolf Hitler und von dort beschwor 1943 Goebbels den ‚Totalen Krieg‘ (vgl. Nägele & Markert 2011: 186; Vollbrechtshausen 2013: www.*). Bis heute zeugt noch ein nicht sprengbarer Bunker von dieser Zeit, der in die Bauweise des Wohnkomplexes integriert ist.
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Künstlerische Bezüge zum Stadtraum ergeben sich zudem aus Beobachtungen und städtischen Alltagserfahrungen sowie aus der Reflexion seiner eigenen Lebenssituation als Künstler und als Bewohner der Stadt Berlin: „Ich mache oft einzelne Beobachtungen, weil ich in unterschiedlichen Städten gelebt habe. Da ich in der Stadt lebe, ist Stadt auch immer mal wieder Thema auf den Zeichnungen. Ich habe auch bei einer der letzten Ausstellungen, die ich gemacht habe, ein städtisches Thema aufgenommen, das sich mit der prekären Arbeitssituation von Künstlern, aber auch von zahlreichen Menschen in der Stadt beschäftigt. Diese Ausstellung hieß: Schatz schau, die Blumentapeten des Prekariats.“ (Fuhrer 2014, GP: Z. 334-335)
Fuhrer nimmt den Stadtraum auch als gesellschaftlichen und politischen Raum wahr, den er ausgehend von seinen Eindrücken als Flaneur in einigen seiner Zeichnungen aufnimmt. So werden einerseits Straßenszenen (vgl. Abb. 4) dargestellt oder auch aktuelle politische Ereignisse in seinen Zeichnungen dokumentiert. Dem Künstler geht es darum, keine moralisierende Wirkung bei den Betrachter zu erzielen, sondern lieber hart, kritisch und provokativ vorzugehen (vgl. Fuhrer 2014, TS: Z. 22-25). „Ich bin dann auch ein Fußgänger, der oft in meinem Skizzenbuch Spuren, Systeme und Eindrücke der Stadt festhält. Ja einerseits das, andererseits gibt es Sachen, die mich stadtpolitisch interessieren und versuche, wenn sie mich stören, eine gewisse Kritik auszuüben. Gerade von der Dekonstruktion des Palasts der Republik, der nur aus politischen Gründen abgerissen wurde, entstehen Zeichnungen oder ich thematisiere die Aufwertung dieses Kiezes und die Gentrifizierung (Berlin-Mitte), in dem ich den Prozess auf eine plumpe und platte Art zeichnerisch auf die Schippe nehme.“ (Fuhrer 2014, GD: Z. 489-493) (vgl. Abb. 4)
Als schweizerischer Wahlberliner nimmt er nicht nur die gesellschaftskritischen und widersprüchlichen Prozesse wahr, die sich aus einer wechselseitigen Beziehung zwischen urbanem Alltag, Gesellschaft und Politik ergeben, sondern auch die Potenziale, Eigenschaften und Möglichkeiten, die eine Stadt wie Berlin generell für ihn als Künstler bereithalten: Die Stadt als solches stellt sein Biotop dar, in dem er sich wohlfühlt. Die Stadt bietet ihm eine Schnelligkeit an Informationen an, die er auf dem Land nie finden würde. „Ich könnte nie auf dem Land leben, da die Prozesse zu langsam gehen, ich brauche vor der Haustür die Menschen, die die Prozesse machen […] und ich möchte Teil des Prozesses sein und auch Publikum für meine Kunst haben.“ (Fuhrer 2014, TS: Z. 19-22)
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Abb. 4: ,Gehwegschäden‘
Quelle: Fuhrer (2008), Dimension: 21,0 x 29,7 cm
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Sein widersprüchliches Verhältnis zu Berlin und die Diskrepanz zwischen dem dargestellten Potenzial und den beobachteten Entwicklungsdynamiken der Stadt drückt der Künstler in dem Titel der Zeichnung aus: ‚Die Rote Stadt, die Hure Babylon‘. In der Betitelung Berlins als ‚Hure Babylon‘ bezieht sich der Künstler auf die Johannes-Offenbarung 17,18 in der Bibel. In dieser Offenbarung geht es um die Stadt Babylon, um die sich bis heute zahlreiche Legenden und Mythen ranken. Der Stadt Babylon apokalyptische Züge zugeschrieben, weil dort alle Gräuel auf Erden komprimiert sind.In diesem Zusammenhang wird die Stadt als Mutter der Hurerei bezeichnet (vgl. Eaton 2003). Nach Fuhrer ist die Betitelung seiner Zeichnung nicht als Vorwurf, sondern als Kompliment an die Stadt Berlin zu verstehen (vgl. Fuhrer 2014, TS: Z. 334-335) und sie greift die gängige Redewendung von der ‚babylonischen Sprachenverwirrung‘ auf, die er als Metapher für die Sprachenvielfalt in Berlin sieht: „Ich beziehe mich hier auch auf den Turmbau zu Babel in einem positiven Sinn. Das Bild, wie alle Leute in verschiedenen Sprachen sprechen, ist für mich ein Bild des Nebeneinanders von allen verschiedenen Menschen in Solidarität.“ (Fuhrer 2014, TS: Z. 92-94)
Mit Berlin wurde lange Zeit in der Schweiz ein Bild des Sündenpfuhls und des Lasters verbunden, das der Künstler jedoch als positives Bild bewertet. Damit verbindet er in Berlin die Freiheiten und Nischen, die Fuhrer sehr wertschätzt. Dieses Bild der Stadt verändert sich sowohl derzeit für die Schweizer als auch für ihn. Es befindet sich gerade in Auflösung. Daher können mit dem Titel dystopische und gleichzeitig utopische Bezüge zu Stadt hergestellt werden: „Der Reichtum und die Pracht der „Hure Babylon“ sind vergänglich, von einem Tag auf den anderen, ja sogar in einer Stunde wird sie in bitterste Armut, Nacktheit und Einsamkeit gestürzt werden. Darüber werden sich die unter der Herrschaft der Hure Leidenden […] freuen und laut jubeln. In der Zeichnung ‚Die rote Stadt‘, steht dieser Name vielleicht dafür, wie reaktionäre Zeitgenossen eine wirklich rote, soziale, sozialistische Stadt sehen: Als sündig und dem Untergang geweiht.“ (Fuhrer 2014, FP: Z. 331-333)
Daher trifft der Künstler im Titel ‚Die rote Stadt‘ Aussagen (vgl. Abb. 5), in der sich einerseits eine sozial ausgerichtete Stadt im Verschwinden befindet und andererseits politische Gegenmodelle oder alternative Ideen in derzeitigen stadtpolitischen Entwicklungen kaum Berücksichtigung finden. Diese Aussage spiegelt in ihrer Umkehrung gleichzeitig seinen persönlichen Wunsch an eine zukünftige Stadt und seine politische Haltung wider.
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(2) DER NACKTE KÜNSTLER: SEINE HALTUNG Neben der Aussage im Titel ‚Die Rote Stadt‘, wird Fuhrers politische Haltung zusätzlich im Bild verstärkt, indem er sich als Künstler auf der Zeichnung mit Pinsel und Pistole und einem sternförmigen Emblem darstellt, das an einen Kommunistenstern erinnert. Dieses Emblem ist aber anstelle von Hammer und Sichel mit einem Pinsel und einer Sichel versehen. Nach Fuhrer wechselt er das Symbol des Arbeiters, den Hammer mit dem Symbol des Künstlers aus, dem Pinsel. Diese Darstellungen auf der Zeichnung sollen nach Aussagen des Künstlers nochmals die Verschränkung seiner politischen Haltung mit seinen künstlerischen Absichtsweisen zeigen und gleichzeitig symbolisieren, dass er als Künstler die ‚Kunst als Waffe‘ nutzen möchte (vgl. Fuhrer 2014, TS, Z. 65-71). Durch diese Symboliken vertritt der Künstler klar seine gesellschafts- und systemkritische Haltung und seine Sicht auf die Funktion und Rolle der Kunst in der heutigen Zeit. Abb. 5: ‚Die rote Stadt – die Hure Babylon‘: Ausschnitte
Quelle: Fuhrer (2014)
Dass der Künstler sich selbst auf der Zeichnung nackt dargestellt, begründet er mit zwei Absichten: er offenbart darin seine politischen Haltung gegenüber einem Publikum, das über seine Zeichnungen, noch weitere Einblicke in seine Gedankenwelt und Wahrnehmungen erhält:
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„Ich glaube, dass jeder Künstler, sei er noch so bemüht, politisch zu sein, immer auch ein Narzisst ist. Er bildet ja nicht die Welt ab, wie sie ist, sondern wie er sie sieht, sich selbst also. Es braucht eine Portion Narzissmus, sich dem Publikum zu zeigen, es ist immer eine Entblätterung, ein sich nackt machen.“ (Fuhrer 2014, FP: Z. 83-86)
Nach Aussagen des Künstlers steht der Narzissmus einerseits stellvertretend für eine zunehmende gesellschaftliche Individualisierung und andererseits für seine eigene Einsamkeit, die sich dadurch ergibt, dass er sich er sich von der Gesellschaft oftmals unverstanden fühlt (vgl. Fuhrer 2014, TS: Z. 72-73). (3) DER OZELOT: METHODEN UND KÜNSTLERISCHE MITTEL Der Ozelot stellt das dritte Wesen des Künstlers dar, das mit Flügeln versehen (vgl. Abb. 5), symbolisch für die künstlerische Weiterentwicklung steht. Mit entsprechenden Mitteln und Methoden sucht der Künstler nach Wegen, diese Weiterentwicklung auf der gesellschaftlichen und individuellen Ebene zu beschreiten: „Seit Jahren stelle ich mich auf Bildern als Ozelot dar, vielleicht, weil dieses scheue, aber wilde Tier aus dem Gebüsch und aus dem Untergrund agiert. Oft fließen ja auf meinen Darstellungen das Muster seines Felles, die Punkte über den Körper des Tieres hinaus als Symbol und Wunsch mit der Welt zu interagieren.“ (Fuhrer 2014, TS, Z. 10-17)
Das Muster auf dem Fell des Ozelots erscheint in Auflösung. Es zeigt auf, dass der Künstler sich wünscht, in Interaktion mit Menschen zu treten und Erkenntnisse und Visionen in Wechselwirkung mit Menschen entstehen zu lassen: „Die Aufgabe der Kunst ist, eine bessere Welt zu gestalten und eine Vision der Menschen zu schenken. Wenn sie nur Markt ist, hat sie keinen Mehrwert, weil sie in dem Moment nur art pour l‘art ist.“ (Fuhrer 2014, TS: Z. 40-42)
Der Mehrwert der Kunst ist nach Fuhrer dann gegeben, wenn sie bei den Rezipienten gesellschaftsbezogene Reflexionsebenen eröffnen oder wenn Perspektiven und Ideen der Rezipienten in den künstlerischen Entwicklungsprozess eingebunden werden. Deswegen nutzt Fuhrer nicht den konventionellen Kunstmarkt oder Kunstbetrieb, der marktorientiert ausgerichtet ist, und ein entsprechendes marktorientiertes Publikum anziehen würde. Stattdessen sucht er nach Wegen, seine Kunst so zu verbreiten, dass er seine Fragen an die Gesellschaft stellen kann und er als Künstler durch institutionelle Vorgaben nicht eingeschränkt ist (vgl. Fuhrer 2014, TS: Z. 68f). In der Eigenorganisation von Ausstellungen und in
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dem Format des Livezeichnens findet er eine Alternative zum herkömmlichen Kunstbetrieb. Der Künstler verfolgt das Anliegen, dass seine Kunst einerseits humorvoll und andererseits für ein breites Publikum beispielsweise in Kneipen zugänglich gemacht wird. „Ich zeichne gerne live: Das beinhaltet die Demokratisierung der Kunst. Ich möchte mich auf Serner beziehen, um ein zeitgenössisches Cabaret Voltaire zu initiieren: Dahinter steht das Ziel, einen demokratischen Zugang zu Kunst zu finden und zu suchen, der nicht auf das Bildungsbürgertum ausgerichtet ist. Einerseits ist es eine Unterhaltung, aber es werden auch Fragestellungen auf Politisches aufgeworfen und teils politische Antworten gegeben.“ (Fuhrer 2014, TS: Z. 30-34)
Mit diesem Anliegen schließt Fuhrer an die damaligen Vorstellungen von Walter Serner an, der die Kunst demokratisieren wollte, indem die Menschen an Orten Zugang zu Kunst bekommen, an denen ihr gegenüber sonst Schwellenängste vorherrschen. Fuhrer versucht damit nicht nur, nach seinem Verständnis eine Politisierung und Demokratisierung der Kunst zu initiieren, indem er künstlerische und inhaltliche Darstellungsweisen durch Beobachtung und Einbeziehen seines Umfelds integriert. Ihn beschäftigen außerhalb der Formfragen auch Strategiefragen der Kunst, die gesellschaftsverändernd wirken könnten. In diesem Zusammenhang bemängelt Fuhrer, dass die Kunst heute im Allgemeinen zahlreiche Funktionen verloren hat, vorwiegend unpolitisch geworden ist und kaum noch Visionen und Utopien transportiert. Seine Forderung an die Kunst ist, dass sie wieder subversiver und provokanter wird. Diese beinhaltet auch einerseits den Umgang mit dem Kunstbetrieb und andererseits den Mut, einen Optimismus zu entwickeln, das bestehende Kunst- und Gesellschaftssystem zu Gunsten aller Menschen verändern zu wollen (vgl. Fuhrer 2014, TS: Z. 40-42; FP: Z. 83-86).21 21 In diesem Zusammenhang erwähnt der Künstler das ‚Zentrum für politische Schönheit‘, als ein Beispiel für die Durchsetzung gelungener Kunst. Durch seinen provozierenden Stil und den Bruch mit gesellschaftlichen Tabus, macht das Zentrum für politische Schönheit auf gesamtgesellschaftliche Missstände aufmerksam, sie sichtbar und sensibilisiert die Menschen für politische Inhalte, die medienwirksam verhandelt werden. Durch die letzte Aktion ‚Die Toten kommen‘, hat es dadurch Schlagzeilen gemacht, indem an der Außengrenze zu Europa gestorbene Flüchtlinge nach Berlin gebracht wurden, um ihnen in Berlin eine würdevolle Beisetzung zu ermöglichen. Die Kunst als Protestform gegen die EU-Flüchtlingspolitik band durch niedrigschwellige Angebote die Menschen ein (Partizipationsprojekte, Crowdsourcing) und zwang Politiker durch ihre Aktionen zu einer Reaktion (vgl. Zentrum-für-Politische-Schönheit 2015: www.*). Diesbezüglich können aber auch Fragen danach gestellt werden, wer
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SUBVERSION ALS ABSICHT UND STRATEGISCHES KÜNSTLERISCHES MITTEL Generell wird der Begriff ‚Subversion‘, wie es auch der Künstler getan hat, mit einem subkulturellen künstlerischen Umfeld und einer künstlerischen Avantgarde wie etwa die des Dadaismus in Verbindung gebracht (vgl. Streich 2014). Ohne dass die Dadaisten den Begriff ‚Subversion‘ selbst benannten, bedienten sie sich dem künstlerischen Mittel der Subversion. Dies wurde von den Kunstgenres ‚Fluxus‘ und ‚Surrealismus‘ weiter aufgegriffen und sie benannten ihre Kunst auch als subversiv. In diesem Zusammenhang kann die von Agnoli (2014) entwickelte ‚subversive Theorie‘ herangezogen werden, die zwei Verständnisweisen des Begriffs ‚Subversion‘ unterscheidet. Einerseits kann Subversion in Verbindung mit dem Umsturz und der Zerstörung bestehender Ordnungsverhältnisse und Normen gebracht werden und andererseits mit einer strukturellen Neuordnung im bestehenden System einhergehen. Diese Zerstörung kann sich auf gesamtgesellschaftliche Verhältnisse beziehen oder auf andere Subsysteme, wie die des Kunstbetriebs. Streich (2014) unterscheidet nach den zu erzielenden Wirkungsweisen von Subversion zwischen funktionaler und intentionaler. Die ‚funktionale Subversivität‘ bezieht sich auf eine bestehende Ordnung, in denen subversive Aktionen langfristig – trotz Kritik an den Strukturen – das Bestehende weiterentwickeln und es letztendlich weiter fortführen. Diese Form der Subversion ist nicht unbedingt auf Freiheit abzielend, sondern kann eine Machtstruktur durch eine andere ersetzen (vgl. Rauterberg 2009: www.*). Die ‚intentionale subversive Vorgehensweise‘ hingegen, kann zu einem dauerhaften Umsturz eines bestehenden Systems führen und eine emanzipatorische Wirkkraft entfalten: „Im Nachdenken über schlechte Zustände und die Einsicht von der Notwendigkeit der Umwälzung, im Entwurf des Neuen: Denn nur so konjungiert sich Subversion mit Emanzipation. Es gibt auch Angriffe auf Institutionen, die nicht Freiheit meinen, sondern eine noch ordentlicherer Ordnung. Keine Gegenmacht, sondern Macht gegen Macht, keine Negation des Ganzen. Kritisches Denken ist damit gleichgesetzt, sich nicht einer inhumanen Wirklichkeit anzupassen.“ (Agnoli 2014: 19)
In diesem Zusammenhang können Blochs Überlegungen zur möglichen emanzipatorischen Wirkkraft der Kunst herangezogen werden (vgl. Bloch 1997: 75). Nach Bloch (1961) kann Kunst als ‚Ort der Entstehung von Phantasie‘ in ihrer freien Ausgestaltung, ohne die Schranken des Vorgegebenen zu berücksichtigen,
mit welchen Mittel die Macht hat, Diskurse zu setzen, wer hier zu Sprache kommt, und welches Eigeninteresse die Künstler mit der Aktion verfolgen, das von den Medien in den Vordergrund gerückt wurde (vgl. Kaul 2015: www.*).
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zum Wesen des Gegenstandes vordringen und zum ‚Experimentierfeld bedeutsamer Bilder‘ werden. Darin ist eine Ausdrucksweise des ‚Noch-nichtBewussten‘ enthalten, eine weitere Erkenntnisform, die einen gesellschaftlichen Mangel und unerfüllte menschliche Versprechen aufspürt, die in einem Hoffen Ausdruck finden können. Der Mangelzustand findet in der Kunst mittels Vorstellungskraft und Kreativität wieder einen Ausdruck und zwar in einer Sprache, die sich einer begrifflichen Erfassung bislang verwehrt hat (vgl. Vidal 1994). Kunst zeigt demnach im doppelten Sinn das, was möglich sein könnte und fördert in ihrer Vermittlungsfunktion das utopische Denken. Kunst wie Malerei oder Literatur besitzt nach Bloch (1961: 16) einen ‚utopischen Überschuss‘, der sich durch sein utopisches Potenzial gegen die zeitgenössische Ideologie erheben kann, in diesem Sinne wäre die Kunst subversiv. Kunst hat nach Bloch (1961) aber auch immer mit ihrem ‚utopischen Überschuss‘ zur Stärkung der vorherrschenden Ideologie beigetragen, was in diesem Fall die Utopie der Herrschenden wäre und die Kunst somit affirmativ macht. Die Kritik von Fuhrer, dass die Kunst immer unpolitischer wird und kaum noch Vorstellungen von Utopien und Visionen generiert, wird in der Literatur oftmals mit der These vom ‚Ende der Geschichte‘ in Zusammenhang gebracht (vgl. Laimer 2013: 4f). Diese besagt nach Fukuyama & Dierlamm (1992), dass sich Prinzipien der Marktwirtschaft und des Liberalismus bzw. der Kapitalismus als Gesellschaftssystem mit ‚demokratischen Werten‘ gegenüber ‚realsozialistischen Systemen‘ behauptet und sich mit wettbewerbsorientierten Prinzipen weltumspannend durchgesetzt haben. Diese Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse galt als Zäsur, die demnach die Gedanken an Utopien und alternative Gesellschaftsentwürfe verblassen ließen (vgl. Laimer 2013). Jameson (2001) äußert zusätzlich Zweifel, inwieweit innerhalb des Kapitalismus überhaupt noch Alternativen zu einem globalisierten Kapitalismus gedacht werden können. Dass utopische Gedanken verhindert werden, gründet er einerseits auf die zunehmende gesellschaftliche Komplexität, andererseits auf die zunehmenden Restriktionen und Vereinnahmungstendenzen bzw. auf die Vergesellschaftungsprinzipien (vgl. Bergenthal 2001: www.*: Interview mit Jameson Fredric). Fuhrer wirft genau diese These auf, dass Visionen und Utopien aus Furcht vor Vereinnahmungsprozessen nicht mehr gedacht werden oder bewusst keine Ideen entwickelt werden, die implizit in Visionen enthalten sind, da ihnen dadurch die ursprüngliche Intention abgesprochen wird und sie keinerlei Wirksamkeit mehr entfalten könnten: „Ich glaube, da fürchten sich alle [Künstler, Anmerkungen von der Autorin] etwas davor mit der Vision. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass das Verständnis eines Künstlers
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und Künstlerin nicht unbedingt die eines Visionärs ist. Da Visionen auch immer Lösungen bereithalten. Da sind alle, wie ich herausgehört hatte, ängstlich geworden.“ (Fuhrer 2014, GD: Z. 1692-1694)
Borries (2012) sieht, dass subversive künstlerische Mittel immer mehr von der Politik und der Werbung aufgenommen werden. Rauterberg (2009) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die auf temporäre und ereignishafte Aktionen angelegte Kunst den Festivalisierungs- und Eventkonzepten des Stadtmarketings oder von Werbekampagnen ähnlich sind. Dadurch wird die Intention einer subversiven Kunst in eine affirmative Funktionsweise überführt. Des Weiteren entsprechen zahlreiche Elemente künstlerischer subversiver Mittel – flexibel, temporär, auf destabilisierende Prozesse hinwirkend – den Eigenschaften der jetzigen Gesellschaftsformation. Trotz widersprüchlicher Diskussionen um die Wirkungsmacht subversiver Methoden, hält der Künstler an dem Mittel der Subversion fest. Der Künstler glaubt an ein vorhandenes kritisches Denken in der Gesellschaft und bleibt daher der Subversion als Strategie und Methode treu. Für ihn ist die Wirksamkeit der Subversion dann gegeben, wenn künstlerischer Spürsinn und eine politische Haltung zusammenkommen, die alternative Gesellschaftsentwürfe denken lassen oder künstlerische utopische Gegenwelten beinhalten (vgl. Fuhrer 2014, TS: Z. 50-51). Es bleibt aber die Frage bestehen, wie subversive Strategien im Wandel der Gesellschaft angepasst werden müssen, um ihre emanzipatorische Wirkung entfalten zu können. 6.1.4 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Künstler ausgehend von seiner vielschichtigen künstlerischen Position zahlreiche Reflexionsebenen und gesellschaftstheoretische Anknüpfungspunkte in Bezug auf Visionen, Subversion, Gesellschaft und Urbanität in ihrer Wechselwirksamkeit und ihren zeitlichen Dimension findet. Fuhrers verfolgt die Frage, wie Visionen für eine zukünftige Urbanität geschaffen werden könnten. Ausgehend von seinem persönlichen Anliegen, lebensweltlichen Erfahrungen und Beobachtungen in der Stadt, spricht er in Bezugnahme auf Überlegungen von Walter Serner sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene der Kunst eine Funktion zu. Auf persönlicher Ebene sieht Fuhrer in seinen konkreten künstlerischen Umsetzungen – mit subversiven Mitteln der Provokation und der Überspitzung – die Umsetzung seiner Versuche, herrschende Diskurse zu hinterfragen und eine Systemkritik auszuüben. Durch seine künstlerischen Formate will er sich zusätzlich den unterschiedlichen Verwertungslogiken entziehen und beispielsweise für sich eine Al-
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ternative zum marktorientieren Kunstbetrieb schaffen. Für eine gesellschaftliche Funktion der Kunst formuliert Fuhrer ausgehend von seinen eigenen Prämissen den Wunsch, dass sie eine Fähigkeit zur Beobachtungsgabe und Analyse entwickelt, dass sie zunehmend wieder eine politische Haltung einnimmt, die emanzipatorische Denkweisen beinhaltet und dass sie Visionen einer besseren Gesellschaft transportiert. Darin ist auch der Wunsch enthalten, dass Kunst mit all ihren verfügbaren Methoden und Mitteln ihren ‚utopischen Überschuss‘ im Sinne Blochs wieder entfalten kann, um den Rezipienten weiterhin provokative, aber auch humorvolle Gegenmodelle zur Wirklichkeit offenbaren zu können. Diese sollen kritisches und politisches Denken in der Öffentlichkeit fördern, aber auch Reflexionsebenen auf beiden Seiten – Künstler und Rezipient – anstoßen. Die Aufgabe der Kunst wäre nach dieser Logik demnach auch, nicht affirmativ zu werden, sondern immer neue subversive Wege zu finden. Viele Anliegen von Fuhrer, beispielsweise die Demokratisierung der Kunst, Visionen zu denken, politisch zu sein etc. können als Antworten zu den genannten Missständen in der urbanen Gesellschaft verstanden werden. Er möchte durch seine künstlerischen Mittel diesen Mangel wieder auffüllen. Dahinter steht auch seine Vorstellung für eine zukünftige Urbanität mit solidarischen Grundwerten sowie die Möglichkeit, dass jeder auf einer bestehenden Existenzgrundlage seinen Wünschen und Bedürfnissen nachkommen kann, und dass ein friedliches Miteinander weiterhin möglich ist oder wieder möglich wird. Dazu gehört auch, dass unterschiedliche Zugänge für Menschen zu einer Daseinsvorsorge nicht verbaut oder wieder geöffnet werden (der scharfe Blick), dass die kapitalistischen Logiken nicht das Leben der Menschen bestimmen und Stadtpolitik wieder ihre Verantwortung kennt (Pallasseum). Seine Vision einer zukünftigen Urbanität beinhaltet aber vor allem, dass alle Menschen die Grundvoraussetzungen besitzen, Visionen und Utopien zu denken, damit ausgehend von dem bestehenden Potenzial innerhalb der urbanen Gesellschaft eine bessere urbane Gesellschaft für die Zukunft möglich und umsetzbar wird.
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6.2 L ARISSA F ASSLER : M APPINGS
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AS EMBODIED
EXPERIENCES 6.2.1 Person Larissa Fassler wurde 1975 in Vancouver in Kanada geboren. Sie studierte in Montreal an der Concordia University (Bachelor of Fine Arts), am Goldsmith College in London (Master of Fine Arts) und lebt seit 1999 in Berlin. Fassler beschäftigt sich in ihren Zeichnungen, Skulpturen und Installationen übergeordnet mit öffentlichen Räumen und urbanen Fragestellungen. Sie legt den künstlerischen Fokus auf Stadtviertel und Räume, die sich in einem Transformationsprozess befinden und untersucht vor Ort unterschiedliche Dimensionen der Wechselwirkung zwischen der Konstitution öffentlicher Plätze und den Menschen vor Ort. Neben verschiedenen künstlerischen Arbeiten zu Orten in Berlin, wie z.B. zur Warschauer Straße, zum Kottbusser Tor (2008-2014), zum Hallesches Tor, zum Schlossplatz (2014) und zur Potsdamer Straße (2015), realisierte sie weitere Werke in Städten wie London und Paris. Zu den letzten Gruppen- und Einzelausstellungen in Berlin gehörten 2015 ‚Epicentre‘, verwirklicht mit LittleKrimminals und im Jahr 2014 ‚Circling the Void‘ in der Galerie SEPTEMBER in Berlin. Für die vorliegende Forschungsarbeit wird als künstlerische Position die Serie ‚Kotti‘ ausgewählt, die aus drei Zeichnungen besteht. Diese drei Zeichnungen über das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg sind zeitversetzt jeweils in den Jahren 2008, 2010 und 2014 entstanden. An dieser Serie kann exemplarisch offengelegt werden, wie die Künstlerin die Orte ihrer künstlerischen Auseinandersetzung auswählt. Des Weiteren erlaubt die Serie ‚Kotti‘ erstens einen Einblick in ihre künstlerische Herangehensweise und zweitens in ihre allgemeinen Zugänge zu urbanen Orten (vgl. Abb. 6-10). Dadurch, dass die Serie über mehrere Jahre entstanden ist, gewährt sie drittens Einblicke in die Veränderungsprozesse des Ortes in Wechselwirkung mit Fasslers künstlerischer Perzeptionsweise über die Zeit. Diese Einblicke eröffnen darüber hinaus im Gespräch nicht nur gemeinsame Anknüpfungspunkte zu Themen wie Urbanität, Öffentlichkeit und urbane Kommunikation in Bezug auf gesellschaftlichen Wandel, sondern sie weisen auch durch ihre Art der künstlerischen Darstellungsweise und durch ihr spezifisches methodisches Erschließen von Orten Ähnlichkeiten zu geographischen Darstellungs- und Arbeitsweisen auf. Dies soll zum Anlass genommen werden, theoretische Bezüge zu künstlerischen und geographischen Methoden sowie Themenschwerpunkten herzustellen und diese in ihren Überschneidungspunkten und Unterschieden näher zu erläutern und zu beleuchten. Zur Auswertung lagen
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ein Transkript aus dem reflexiv-explorativen Interview (TS) sowie ein Feldprotokoll (FP), das den E-Mail-Austausch bei inhaltlichen Nachfragen, das Selbstverständnis der Künstlerin und ein Gedächtnisprotokoll des ersten Treffens beinhaltet vor. Des Weiteren wurden drei Sekundärtexte aus Ausstellungskatalogen und einem Buch verwendet, die sich auf die Arbeiten von Fassler beziehen. 6.2.2 Press – Process – Zur Auswahl der Orte Fasslers Fokus liegt auf dem wechselseitigen Verhältnis zwischen dem materiellen Raum, der geschaffenen Welt der Stadtplaner und dem Alltag der Menschen. In der Annäherung an einen Ort verfolgt die Künstlerin das Ziel, alltägliche Wahrnehmungen und Handlungen von Menschen in öffentlichen Begegnungsräumen visuell festzuhalten, die die räumlichen Begebenheiten und Funktionsweisen dieser Orte in Frage stellen bzw. sie unterminieren: „Mich interessiert das symbiotische Verhältnis zwischen urbanen Orten und ihren Bewohnern, die Art und Weise, wie diese Orte die Menschen physisch und psychisch beeinflussen und umgekehrt – wie die Wahrnehmung und das Verständnis der Umwelt sich in Bauwerken und städtischer Architektur und Planung manifestieren.“ (Fassler 2014, FP: Z. 7-10)
Daher begibt sie sich auf die Suche nach Orten, die Spuren einer Diskrepanz beispielsweise zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, zwischen Realität, Vorbehalten und Mythen oder zwischen umgesetzter Stadtplanung, Architektur und Bedürfnissen der Menschen aufweisen. Dazu können auch Orte gehören, die beispielsweise in der Öffentlichkeit auf diskursiver Ebene als Konflikträume oder als sozial ‚schwierige Räume‘ bezeichnet werden. Oder Räume, die eine Form von ‚Zwischenräumen‘ der Begegnung darstellen, wie Bahnhöfe, Unterführungen und Verkehrsknotenpunkte (vgl. Fassler 2014, TS: Z. 7-10). Es handelt sich bei ihren künstlerischen Untersuchungen zwar immer um öffentliche Begegnungsräume. Diese können sich aber in ihrer kommunikativen Qualität unterscheiden. In diesem Zusammenhang kann Augé (1994; 2010) mit seinen konzeptionellen Überlegungen herangezogen werden. Er unterscheidet demnach zwischen zwei Formen von Begegnungsorten: dem ‚anthropologischen Ort‘ und dem ‚Nicht-Ort‘. ‚Nicht-Orte‘ sind Transiträume, die in ihrer Nutzung monofunktionale Aspekte aufweisen wie Flughäfen, Supermärkte, Autobahnen, wie überwachte und virtuelle Räume. Die Monofunktionalität von ‚Nicht-Orten‘ ergibt sich nach Augé (1994; 2010) dadurch, dass dort kaum authentische Begegnungen mit Menschen stattfinden und sie daher von menschlichen Bezügen
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entkoppelt sind: Die dort verwendete Sprache ist monokausal ausgerichtet, und ein kommunikativer Austauschprozess findet kaum statt (vgl. hierzu auch Busse 2007: 140). Diese Orte produzieren Einsamkeit, Ähnlichkeiten und Standardisierung. Der ‚anthropologische Ort‘ grenzt sich hingegen von dem ‚Nicht-Ort‘ nach Augé (1994: 64) durch drei Merkmale ab. Der ‚anthropologische Ort‘ ist geprägt durch Identität, Geschichte und Beziehungen. Es sind Orte, an denen sich, geometrisch betrachtet, Linien schneiden und sich somit virtuell Schnittpunkte bilden: dort treffen Bewegungsbahnen von Menschen aufeinander und stellen Kreuzungs- oder Verkehrsknotenpunkte dar. Dabei weisen diese Orte der Begegnung entweder Monumente auf, die – städtebaulich betrachtet – bestimmte Leitbilder repräsentieren oder machtpolitische oder religiöse Eigenschaften aufweisen. Diese baulichen, architektonischen Begebenheiten wurden von Menschen erschaffen, die darin ihre eigenen Grenzen und Räume im Verhältnis zu anderen Menschen definiert und materialisiert haben (vgl. Augé 1994: 69). An diesen Orten entsteht nach Augé (1994) eine kulturelle Praxis, die sich durch Erfahrungsaustausch, Kommunikation und Identität auszeichnet. Dieser Ort ist in diesem Verständnis ein diskursiver Raum, aus dem eine semiotische Landschaft hervorgeht. Dieses Verständnis greift Fassler auf und bewegt sich in ihrer Auswahl der Orte zwischen ‚Nicht-Orten‘ und ‚anthropologischen Orten‘, greift die jeweilige Spezifika und Qualitäten des Ortes auf und übersetzt sie in unterschiedliche (visuelle) Raumebenen. Als erste Ausgangspunkte ihrer künstlerischen Herangehensweise dienen ihr die materielle Ebene der Stadt, die Architektur, das Sichtbare und somit zunächst die Oberfläche der Stadt, die sie als Künstlerin an den jeweiligen Orten liest. Über die semiotische Topographie des Raums hinweg, versucht sie als Künstlerin auch das zu begreifen, was das Menschsein und die Begegnungen an diesen Orten ausmachen. Es geht ihr darum, eine Kartierung zu erschaffen, in der sie die Widersprüchlichkeiten des Ortes festhält. Torisson (2015), der sich inhaltlich mit Fasslers Zeichnungen und künstlerischen Kartierungen beschäftigt hat, verweist auf theoretische Bezüge zu Lefèbvre. Mit Lefèbvre lässt sich Fasslers Raumbezug als ‚Raum der Repräsentationen‘ bezeichnen. Damit ist ein experimenteller Raum gemeint, ein Raum in dem die Menschen leben und ihren Alltag verbringen und in den sich Fassler als Künstlerin begibt (vgl. Exkurs: Experimentelle Geographie und doppelte Triade und Kap. 4.1.4). Dieser Raum steht im Gegensatz zu dem Raumtypus des ‚konzipierten Raumes‘, den Lefèbvre als ‚Repräsentationen des Raums‘ bezeichnet: Dieser letztere ist ein Raum der Stadtplaner, der Stadtpolitik, in dem deren Interessen sowie ihre Leitbilder und Visionen durchgesetzt und abzulesen sind. Dagegen geht es der Künstlerin in dem gegenwärtigen Bezug um Prozesse, die in
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den Städten ablaufen: Es geht ihr um die Frage, welche Rolle Stadtplanung in aktuellen städtischen Prozessen einnimmt, um Fragen zu Gentrifizierung, Segregation, Nutzung des öffentlichen Raums sowie um politische und ideologisch geführte urbane Konflikte (vgl. Fassler 2014, FP: Z. 18ff). 6.2.3 Product –‚Kotti‘ BESCHREIBUNG Fasslers Interesse am Kottbusser Tor entstand dadurch, dass dieser Ort sich durch die bereits beschriebenen Diskrepanzen auszeichnet (vgl. Fassler 2014, TS: Z. 129f): Der öffentliche Platz ist einerseits ein großer Verkehrsknotenpunkt, er gilt als einer der größten Drogenumschlagplätze der Stadt und zählt nach dem Quartiersmanagement-Berlin (2015: www.*) als Gebiet mit besonderem Entwicklungsbedarf. Andererseits ist das Kottbusser Tor, wie viele Innenstadtgebiete von Berlin, von Umstrukturierungsprozessen wie sozialer Aufwertung, Gentrifizierung und Touristification betroffen (vgl. Füller & Michel 2014; Krajewski 2013). Das Kottbusser Tor könnte nach Augé (1994) als ein ‚anthropologischer Ort‘ gesehen werden. Den Platz umgibt ein in den 70er Jahren fertiggestelltes halbkreisförmiges Hochhaus, das zu fordistischen Zeiten als öffentlicher Sozialwohnungsbau umgesetzt wurde. Dieses Gebäude erhielt den Namen ‚Neues Kreuzberger Zentrum = NKZ‘. Es entstand unter den städtischen ‚Leitbildern der autogerechten Stadt‘ und ‚Urbanität durch Dichte‘, die das erste Berliner Stadterneuerungsprogramm in West-Berlin maßgeblich bestimmten: „Wie etwa in ‚Kotti‘ [damit ist die die Serie ‚Kotti‘ gemeint, Anmerkung der Autorin] konzentriere ich mich auf Fußgängerunterführungen, U-Bahnstationen, auf Straßen, Verkehrswege und Plätze, die aus einer Mischung von Utopie und ökonomischem Pragmatismus entstanden und in ihren ursprünglichen Intentionen gescheitert sind.“ (Fassler 2014, FP: Z. 11-14)
Das Kottbusser Tor ist ein Symbol der Geschichte Kreuzbergs geworden und spiegelt die historischen Mythen, die sich um das Stadtviertel Kreuzberg ranken, wider. So beschreibt Lang (1998), dass Kreuzberg zu Zeiten Westberlins als ein utopischer Ort für diejenigen galt, die vor dem bundesdeutschen ‚Mainstream‘ flüchteten, wie Kriegsdienstverweigerer, Künstler, Schwule und Aktivisten. Sie alle fanden in Kreuzberg eine Nische für ihren Lebensstil, ihre kulturellen Ideen und ihre politischen Aktivitäten. Der Mythos von Kreuzberg wurde durch die Handlungen der Bewohner vor Ort erzeugt, aber er wurde nach Lang (1998) auch medial verstärkt. Dieser Mythos umgibt Kreuzberg bis heute noch und hat
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in die Imagepolitik von Berlin Einzug gehalten. Er zieht Touristen und Künstler an, die auf der Suche nach dem ‚authentischen‘ Berlin sind. Aus medialen und historischen Versatzstücken ergibt sich eine erste Vorstellung des Ortes. Diese Vorstellung nimmt Fassler als Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Des Weiteren geht sie ihren eigenen Vorbehalten über den Ort, der ihr zunächst fremd erscheint, nach und überprüft durch ihre künstlerische Herangehensweise, ob sie überhaupt zutreffen. Dadurch erlangt sie ihrer Aussage nach ein Verständnis über die Gesellschaft oder eine Möglichkeit, das städtische Leben zu verstehen. Abb. 6: ‚Kotti‘ 2008
Quelle: Fassler (2008), Fine Art Print, Dimension: 157x 160 cm
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Um sich dem Ort anzunähern, begeht sie ihn zunächst und beobachtet ihn ausführlich. Sie beobachtet die Menschen vor Ort, zeichnet Gesprächsfetzen auf, verfolgt die Wege der Menschen, dokumentiert und kommentiert sie. Sie fotografiert alle sichtbaren Details im öffentlichen Raum und erkundet so die semiotische Ebene, die Zeichensprache des Raumes. Sie hält in Fotografien kommerzielle Poster, Schriftzüge, politische Botschaften, Reklameschilder, GraffitiKunst, Verkehrsschilder, Denkmäler und urbane Interventionen fest und sammelt Google-Suchergebnisse, Literatur von und über den Ort, historische Zeugnisse und Erinnerungskulturen (vgl. Abb. 6). Sie liest somit zunächst von der Oberfläche der Stadt das Narrative ab, recherchiert zu dem Ort und übersetzt ihn in eine eigene kartographische Darstellung. Dadurch wird der Ort ihrer Aussage nach zu einem Raum, der sich durch unterschiedliche Bedeutungsebenen auszeichnet. Abb. 7: Ausschnitt aus ‚Kotti‘ 2008
Quelle: Fassler (2008), Fine Art Print „Fotografien von historischen Ereignissen, die an diesen Orten stattfanden, werden ebenfalls in die Kartographie integriert: Anti-Atom Demos aus den Neunzigern, Bulldozer, die in den späten sechziger Jahren Altbauten abtragen, wo neue Wohnblocks entstehen. Ein Porträt des türkischen Gewerkschaftsführers Celalettin Kesim, der 1980 von einer rechtsextremen türkischen Gruppe ermordet wurde. Hinzukommen abgezeichnete Zeitungsartikel, Kostenvoranschläge und Statistiken zur Neubebauung Kreuzbergs oder auch drei Sei-
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ten aus Ian McEwan’s Roman ‚Unschuldige‘, der am Kottbusser Tor spielt. Auch das Porträt Liebknechts taucht auf, da nach ihm die Stadtbücherei am Platz benannt wurde.“ (Fassler 2014, FP: Z. 29-36)
Wie in ihrer kartographischen Darstellung aus dem Jahr 2008 zu erkennen ist (vgl. Abb. 6), umrahmt den Platz ein scheinbar detailgetreuer Aufriss des Wohnblocks ‚Neues Kreuzberger Zentrum‘. Abb. 8: ‚Kotti revisited‘ 2010
Quelle: Fassler (2010), Fine Art Print, Dimension: 157x 160 cm
Die Fotografien der Zeichen und Symbole werden mit Buntstift, Filzstift und Bleistift nachgezeichnet, eingescannt und in die vorliegenden Zeichnungen integriert (vgl. Abb. 7). Das führt zu einer weiteren Übersetzungsleistung – von der Fotografie zu einem gezeichneten Bild. Die semiotischen Zeichen der Stadt, die als Bilder in ih-
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ren Zeichnungen verortet wurden, werden aber noch durch die Visualisierung ihrer Handlungen und Wege und die Visualisierung der Handlungen der Menschen in dem Begegnungsraum überlagert. Fassler zeichnet darüber hinaus ihre eigenen Gedanken, Assoziationen wie auch Recherchen zu dem Ort auf. In die Zeichnungen werden deswegen sowohl mentale als auch physisch materielle Repräsentationen aufgenommen, sowohl individuelle als auch kollektive Vorstellungen über den Raum sowie Mythen. Außerdem wechselt die Künstlerin in der kartographischen Darstellung auch zwischen den räumlichen Ebenen. Sie verbindet große Maßstabebenen mit dem ‚kleinen Blickwinkel‘ der Menschen, der sich nach ihrer Aussagen in unspektakulären Alltagsgesten äußert: „Blaue Linien und Ziffern markieren meine Wege und die Wege von Passanten, Stellen, an denen Jugendliche trinken, Fahrräder abgestellt werden.“ (Fassler 2014, FP: Z. 24-16)
In der Zeichnung aus dem Jahr 2010 (vgl. Abb. 8) sind vor allem ihre Wege als Künstlerin im Raum dargestellt. Daher erscheint dieses Bild etwas reduzierter in der Darstellungsweise. Die im Jahr 2014 (vgl. Abb. 9) entstandene Zeichnung weist im Gegensatz dazu eine größere Fülle an Zeichen und Information auf, die durch ihre Überlagerungen eine komplexere Darstellung bewirken. ANALYSE Auf visueller Ebene zeigt die Künstlerin auf, dass das Materielle, dargestellt in der Zeichnung als architektonischer Aufriss, durch die Zeichen der Handlungen und Symboliken des gelebten Raums in den Hintergrund gedrängt wird. Damit gibt sie auf ihrer Zeichnung dem ‚gelebten Raum‘ mehr Platz und hinterfragt dadurch die Wahrheit des ‚materiellen, konzipierten Raums‘ als die einzig gehandelte Raumkategorie (vgl. Torisson 2015). Dadurch zeigt die Künstlerin visuell auf, dass die Menschen und ihre Aushandlungsprozesse an diesem Ort vorhanden sind. Die Künstlerin gibt einen Ausschnitt eines Bildes der Gegenwart wider, der als weiteren Bestandteil oder als Folge des Aushandlungsprozesses auch die urbanen Konfliktlinien an diesem Ort aufzeigt. Dazu gehören die Darstellungen der Ankündigungen von Protesten gegen Mietenerhöhungen, die Forderungen der Protestgruppe „Kotti und Co“, die Symboliken im Raum, die sich gegen die zunehmende Anzahl von Touristen aussprechen (Berlin don’t love you), Symbole der Sicherheitspolitik und Kameras (‚Am Kottbusser Tor herrscht Big Brother‘), Symbole gegen Rassismus, (‚Gegen Rassismus‘), die Auswirkungen der Arbeitsmarktpolitik (,Weiterbildungsmaßnahmen‘) (vgl. Abb. 7 & Abb. 10).
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Abb. 9: ‚Kotti revisited‘ 2014
Quelle: Fassler (2014), Fine Art Print, Dimension: 157x 160 cm
So erschafft Fassler einen künstlerischen Raum, der neue Bedeutungsebenen durch die Verdichtung und Überlagerung entsprechender Informationen aufzeigt. Fassler lernt durch das Mapping, verstanden als subjektive Kartierung, in die die Präsenz des Körpers bewusst in die Methode einfließt, den öffentlichen Raum, das Feld bzw. den Ort ihrer Auswahl kennen. Die Erkenntniserweiterung, die sich durch den Prozess des Kennenlernens des Ortes ergibt, ist die Grundvoraussetzung für ihre Werksentstehung: Die Künstlerin arbeitet die Ortsspezifik des Kottbusser Tors künstlerisch heraus. Diese Besonderheiten des Ortes, die sich aufgrund der semiotischen Struktur des Raums, der Handlungen und Bewegungen der Menschen in deren Alltag ergeben, lassen wiederum Rückschlüsse auf urbane Vorstellungswelten und den gesellschaftlichen Wandel zu. Fassler erschafft auf visueller Ebene durch die Anordnung und Ordnungsstrukturen der
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Darstellungselemente einen Möglichkeitsraum, der ihre Wünsche an eine bessere Stadt für die Zukunft implizit ausdrückt: Sie rückt die Handlungen der Menschen und die Geschichte des Ortes in den Vordergrund des Bildes und deckt die planerischen Ungereimtheiten auf. Sie weist auch auf die politischen Dimensionen des Ortes hin. Sie arbeitet im Hier und Jetzt, denn die Wahrheit ist nach Fassler nicht die, die uns vorgegeben wird, sondern die, die im Moment auch körperlich erfahren wird. Das drückt die Künstlerin in der Serie ‚Kotti‘ in dem Bild aus dem Jahr 2014 (vgl. Abb. 9 & Abb. 10) dadurch aus, dass der Alltagsraum, bestehend aus Skizzen, Zeichen und Symbolen, den materiellen Raum (den Aufriss des Gebäudes) überzeichnet: Der Begegnungsraum wird künstlerisch zum Verhandlungsraum, indem die Menschen visuell den Vorrang haben und das Materielle, das Gegebene in den Hintergrund gedrängt wird. Abb. 10: Ausschnitt aus ‚Kotti revisited‘ 2014
Quelle: Fassler (2014), Fine Art Print
Städtische Konfliktlinien haben nach Fassler in den letzten Jahren zugenommen. Diese verlangen nach neuen Handlungsweisen und fordern einen neuen Verhandlungsraum ein. Somit kann festgehalten werden, dass die Künstlerin sich mit dem Qualitativen der Stadt als thematischen Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung beschäftigt (vgl. Abb. 10). Ihre Aufgabe als Künstlerin sieht sie nicht darin, Lösungen und konkrete Visionen zu den urbanen Problemen anzubieten, sondern die Kommunikation zu
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diesen Orten, zu der Entwicklung von Städten oder gesellschaftlichen Prozessen anzuregen und die Menschen in ihrer Wahrnehmungsweise abzuholen. Die Verantwortlichkeit, Lösungen und Visionen zu generieren, sieht sie bei denjenigen, die Entscheidungsträger in der Gestaltung der Stadt sind. Sie fühlt sich lediglich als Gestalterin visuell konstruierter Räume und zeigt in der Anwendung ihrer Methode des Mappings möglicherweise den praktischen Gestaltern auf, wie Wissen vernetzt und wie der Blick auf die Stadt verändert werden kann, indem sie komplexe gesellschaftliche Phänomene ganzheitlich erfasst (vgl. Fassler 2014, TS: Z. 710-713). Ganzheitliche Betrachtungsweisen sind nach Toscano (2012) in Institutionen und Wissenschaftsbetrieben nicht nur aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität in den Hintergrund getreten, sondern sie sind auch nur schwer mit institutionellen Interessen zu vereinbaren. Viele Institutionen sind nur an kurzfristigen Ergebnissen interessiert oder verfolgen ein konkretes, auch oft ökonomisches Ziel, das zahlreiche weitere gesellschaftliche Teilbereiche, vor allem soziale, außer Acht lässt. Daher zeigen die Methoden und der Ansatz einer ganzheitlichen Betrachtungsweise der Künstlerin auch auf, wo die Defizite in der Stadtplanung, aber auch die in der wissenschaftlichen Forschung liegen und wo im Umkehrschluss Visionen zu suchen sind, diesen entgegenzuwirken: Die Künstlerin zeigt in ihrer Kunst und ihrer künstlerischen Herangehensweise auf, dass persönliche Erfahrungen mit gesellschaftlichen Bedingungen abgeglichen werden können. Dazu gehört die Integration des Körpers in die Reflexion des Wissens- und Erkenntnisprozesses. Es geht darum, den Alltag und die Bedürfnisse der Menschen in die gesellschaftliche und institutionelle Ebene zu integrieren und nicht aus einem top-down gesteuerten Prozess die Richtung vorzugeben. Zudem erweitern auf institutioneller Ebene visuelle Ansätze in der Erarbeitung einer spezifischen Aufgabenstellung spielerisch die Sicht auf Stadt und schaffen neue Zugänge. Darüber hinaus kann in diesem Zusammenhang überlegt werden, wie ein Umgang mit dem Visuellen in der geographischen Forschung aussehen soll und wie oppositionelle Formen der Visualisierung in die Wissenschaft Eingang finden können, die eine erweiterte Reflexion der Herstellungsweisen von Karten beinhalten und machtreproduzierende Repräsentationen hinterfragen. Es kann festgehalten werden, dass Fasslers Arbeiten auch Anknüpfungspunkte an kooperative Projekte bieten. Fassler sieht beispielsweise ein großes Potenzial im Urban Design, einer wissenschaftlichen Fachrichtung, die transdisziplinär arbeitet und wechselseitigen Austausch mit Architekten, Stadtgeographen, Künstlern, Kunstwissenschaften und Menschen vor Ort pflegt. Die Künstlerin betont, dass Transdisziplinarität allein nicht hinreichend ist, Antworten und Lösungen auf ge-
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sellschaftliche Konflikte zu finden, sondern dass es notwendig ist, diese außerhalb der ökomischen Logik zu bewerkstelligen. Daher geht es nicht nur darum, Gebäude zu bauen, sondern auch das ‚Urbane‘ zu designen, also das zu gestalten, was das Qualitative der Stadt ausmacht, indem die Menschen vor Ort in den Gestaltungsprozess integriert werden (vgl. Fassler 2014, TS: Z. 304ff). Die Künstlerin hat durch ihre Mappings einen eigenen Zugang zu Berlin erhalten und aufgrund ihrer Erfahrungen in anderen Städten einen Vergleich zu Berlin vorgenommen. Als Kanadierin sieht sie in Berlin immer noch große Freiheiten, trotz zunehmender gesellschaftlicher Diskrepanzen. Dieses Potenzial sieht sie darin verwirklicht, dass in Berlin, trotz des gegenwärtigen Trends dahin, nicht nur ökonomische Werte vorherrschen: „Die Werte sind hier noch anders als wo anders: Es gibt noch nicht das Muss, sich über den ökonomischen Status zu definieren: Es gibt Anonymität, Fremde, aber auch eine Verbundenheit.“ (Fassler 2014, TS: Z. 490-492)
Sie betont, dass in Berlin nicht das Selbstverständnis vorherrscht, den Alltag und das Leben auf das Geldverdienen zu reduzieren. Es könne so viel verdient werden, dass es zum Leben reicht, um letztendlich die gewonnene Lebenszeit zum Denken und zur Entwicklung neuer Ideen zu nutzen. Das ist nach der Künstlerin ein Luxus und ein Freiraum, der immer mehr durch den ökomischen Wandel eingeschränkt wird (vgl. Fassler 2014, TS: Z. 488ff). 6.2.4 Process – Mappings UNTERSCHIEDE IN KUNST UND GEOGRAPHIE Fassler bewegt sich nach eigenen Angaben an der Schnittstelle zwischen Architektur und Kunst. Sie nutzt konventionelle Mittel architektonischer Darstellungsweisen, um Orte abzubilden: Sie erschafft Skulpturen (die in der vorliegenden Arbeit nicht vorgestellt werden), die maßstabverkleinerten Architekturmodellen ähneln oder sie fertigt Zeichnungen an, die an architektonische Karten, Pläne, Skizzen, Grund- oder Aufrisse, wie die Serie ‚Kotti‘, erinnern (vgl. Fassler 2015). Die Künstlerin verfolgt jedoch letztendlich eine andere Absicht als Architekten: Inhaltlich erforscht sie, wie Architektur und die materiellen urbanen Begebenheiten das Denken der Menschen, ihre Bewegungen innerhalb des Raumes und ihre Interaktionen beeinflussen. Fassler nutzt Instrumente, die sowohl in der Architektur als auch in der Geographie gängiger Bestandteil der theoretischen und empirischen Forschung sind (vgl. Feireiss & Klanten 2014: 148). Sie hat sich von wissenschaftlichen Methoden und Theorien vor allem aus
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der Architektur für ihre künstlerische Arbeit inspirieren lassen. Daher wird Fassler regelmäßig zu wissenschaftlichen Symposien eingeladen, in denen sie die Spezifik ihrer künstlerischen Methodik in der Erschließung der Räume darstellt und erläutert, wie sie diese Methodik in ihre künstlerische Forschung integriert. Ihre künstlerischen Werke sind nach Feireiss & Klanten (2014) eine Möglichkeit, durch ihre künstlerische Neureflexion des Raumes die Definition der Architektur auszudehnen. Aus dieser Überlegung heraus können auch Schnittstellen zwischen ihrer künstlerischen Arbeit und der Geographie gefunden werden: Fassler beschäftigt sich einerseits mit urbanen Fragestellungen, die ein ähnliches Forschungsinteresse vermuten lassen und sie nutzt Methoden, die nicht nur Architekten, sondern auch Stadtgeographen zur Erschließung des Raumes bekannt sind. Stadtgeographen erkunden in der Phase der Feldforschung Stadträume, in dem sie sie begehen, beobachten, Menschen befragen und räumliche Begebenheiten kartieren. Ergebnisse werden verschriftlicht, dokumentiert oder je nach Fragestellung in Karten visualisiert. Fassler vermutet, dass das wissenschaftliche Interesse an ihrer künstlerischen Arbeit darin besteht, Unterschiede zwischen ihren eigenen und wissenschaftlichen Methoden herauszuarbeiten und ihre Methoden auf die Fähigkeit zu überprüfen, neues Wissen zu generieren. Obwohl Fassler ein Interesse an dem jeweiligen Ort hat, ist dies nicht durch Fachwissen entstanden. Sie fühlt sich auch nicht den Zielen von Planung und Umsetzung verpflichtet. Ein weiterer Unterschied zu Architekten besteht darin, dass Fassler ‚wissenschaftliche‘ Instrumente anwendet, die nicht vom künstlerischen Werk zu trennen und nicht wissenschaftlich erlernbar sind: Diese Instrumente gehören ihrer Meinung nach zu den integralen Bestandteilen des künstlerischen Schaffensprozesses und funktionieren nicht unabhängig voneinander. Sie betont somit das, was ihre Arbeit zu Kunst macht: „Zum künstlerischen Schaffensprozess gehört auch mehr als die urbane Fragestellung und die Frage von Wissenschaftlern nach ihren methodischen Teilschritten. Es gibt mehr, was Kunst ausmacht, auch die formellen Fragen, wie ein Sockel oder ein Kunstwerk eingebettet ist und wie der atmosphärische Moment entsteht. Können die formellen Fragen und der Prozess der Schaffung des Kunstwerkes vom Kunstwerk getrennt verstanden werden und nur als eigene Methode funktionieren?“ (Fassler 2014, TS: Z. 331-337)
Die Künstlerin verneint diese Frage und stellt fest, dass Kunst in den künstlerischen Prozessen eigenständige Methoden und Spezifika entwickelt hat, Räume und Orte zu erfassen.
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Übergeordnet verfolgt Fassler die Methode des Mappings, das als ein Kartographieren von Bildern verstanden werden kann (vgl. Busse 2007). Sie sammelt eigenständig Informationen über den Ort, durch Gehen, Beobachten, Spuren lesen und legen, Fragen, Markieren, Suchen, Recherchieren und erschafft in einer selbst angelegten Ordnungsstruktur eine eigene Welt aus den versatzstückhaften gesammelten Elementen. Durch das Mapping wird eine fiktive semiotische Landschaft geschaffen (Busse 2007: 279). Ihre Kunst und ihr künstlerischer Prozess zeigen auf, wie Annäherungen an die Lebenswirklichkeiten des Ortes aussehen können, indem sie die Relikte aus der Vergangenheit und Gegenwart sammelt. Des Weiteren bestimmen folgende Kategorien den Inhalt ihrer visuellen Darstellungen: Sie hat eine Kartographie des ‚anthropologischen Raums‘ geschaffen, in der sich die Begegnungspfade und die kommunikativen Elemente symbolisch überlagern. Die Serie ‚Kotti‘ weist unterschiedliche Raumnutzungen von Menschen und Raumbewegungen auf sowie unterschiedliche Raumebenen. Die Serie ‚Kotti‘ zeigt stellvertretend das zunehmende Interesse der zeitgenössischen Kunst an kartographischen Darstellungsweisen und Methoden zur Untersuchung von Räumen. Zwar experimentierten verschiedene Künstler wie z.B. die Surrealisten, Situationisten, Fluxus-Künstler, Pop-Art Künstler bereits ab Anfang des 20. Jahrhunderts mit Karten (vgl. Wood 2006: 5ff), aber in jüngster Zeit stellen Künstler den Prozess der Herstellung von künstlerischen Karten in den Fokus ihrer künstlerischen Arbeit. Nach Busse (2007) ist das künstlerische Mapping der Ausdruck des Spatial Turns in der Kunst und spiegelt das veränderte Kunstverständnis wider, das die Entstehung und Analyse in einem wechselseitigen Verhältnis zu dem Ort sieht, an dem das Werk entstanden ist. Die Kartographie in der zeitgenössischen Kunst antwortet nach Toscano (2012) in einer unkonventionellen Art auf die Veränderungen, die sich durch das kapitalistische System ergeben haben. Das künstlerische Mapping kann nach Angaben der Künstlerin somit als Gegenmodell einer architektonischen oder auch geographischen kartographischen Arbeit verstanden werden, indem Fassler unabhängig von institutionellen Vorgaben und Fragen agiert und wortwörtlich ihren eigenen Weg geht und Normen aushebelt (vgl. Fassler 2014, TS: Z. 401f). Kartographie als traditioneller Bestandteil geographischer Arbeitstechniken und Darstellungsweisen prägte lange Zeit den geographischen Zugang zur Bildlichkeit (vgl. Schlottmann & Miggelbrink 2009). Die Serie ‚Kotti‘, verstanden als ‚Kartographie eines anthropologischen Ortes‘ eröffnet eine Diskussion, die sich in der Geographie über die Entstehungsweise, Beschaffenheit und die soziale Konstruktion der Karte, erst in letzten Jahren in der wissenschaftlichen Debatte entsponnen hat (vgl. Cosgrove 1999; Crampton 2003; Crampton 2009; Glasze
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2009). Kunst verfährt in diesem Fall transparenter als die Kartographie in der Geographie. Nach Crampton (2001) verrät jede Karte etwas über den Zugang zur Welt. Was bei Fassler durch den gegebenen künstlerischen Kontext und ihre Darstellungsweise schnell einleuchtet, wie auch, dass es sich bei ihr um eine subjektiv gestaltete Karte handelt und sie eine fiktive Landschaft erzeugt, wurden Karten in der Geographie im Gegensatz dazu lange Zeit als objektive Vermittler von Wahrheiten und als symbolische Abbilder einer geographischen Wirklichkeit gehandelt (vgl. Crampton 2001: 240). Mittlerweile werden die Herstellungsweisen von Karten in der Geographie zunehmend untersucht und somit – wie in der künstlerischen Debatte – nicht nur das Produkt, sondern auch der Prozess der Entstehung reflektiert. Das entspricht genau der Forderung Glaszes (2009), nämlich gesellschaftliche und diskursive Rahmenbedingungen der Herstellung von Karten zu berücksichtigen und zu überlegen, was die vorwiegend durch einen technokratischen Zugang produzierten Weltbilder für soziale Effekte haben. Durch die Festlegung bestimmter kartographischer Kategorien werden Grenzen gesetzt, Menschen ausgeschlossen und sozialräumliche Hierarchien festgelegt. Durch einen unreflektierten Umgang mit und der Herstellung von Kartenmaterial, können nach Glasze (2009) gesellschaftliche Ordnungen als natürlich gegeben erscheinen und außerdem soziale Ordnungen und Machtinteressen reproduziert werden. Mittlerweile finden diese Überlegungen Eingang in die (kritische) wissenschaftliche Forschung. Allerdings wird diese Methode immer noch vorwiegend im außerakademischen Bereich angewendet. Dort wird das Ziel verfolgt, sich in der kritischen Geographie eine kartographische Praktik anzueignen, die vor allem dazu genutzt wird, Machtdiskurse aufzudecken und zu verstehen, soziale Mechanismen aufzudecken oder Menschen zum Handeln zu ermächtigen (vgl. Bittner & Michel 2014; Orangotango 2015: www.*). Fassler zeigt auf, wie Mapping, verstanden als Methode, fiktive Landschaften formt und neue Zugänge schafft sowie dazu befähigt, Stadt außerhalb der Normen zu entdecken und zu denken. Sie zeigt Sachverhalte und Darstellungselemente, die in institutionell geprägten kartographischen Darstellungsweisen nicht gängig wären: Durch die Verdichtung von semiotischen Zeichen, aber auch indem sie Vergessenes, Unsichtbares, Fremdes und Verdrängtes darstellt, erschafft sie einen Möglichkeitsraum, eine Topographie des Sozialen und zeigt, wie Annäherungen an die Lebenswirklichkeiten dieser Orte möglich werden. Es ist ein Self-Mapping, das den Forschungsweg der Künstlerin beschreibt und einen weiteren Aspekt in den künstlerischen Ausdruck integriert, nämlich den eigenen Körper.
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BODY AND SPACE An Fasslers künstlerischem Beispiel lässt sich aufzeigen, welche Bedeutung der Körper in ihrem Werk(-sprozess) hat. Die Künstlerin betont, dass ihr Körper in ihre künstlerische Arbeitsweise und in das Mapping integriert wird. Die Integration des Körpers in den künstlerischen Prozess des Mappings ist ein weiterer Unterschied zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen und somit konventionell geographischen Instrumenten zur Erschließung des Raumes. Grundlage der Grundrisse und Skulpturen in ihren künstlerischen Werken sind ihre eigenen Abmessungen, die sie als Fußschritte in die Karte einzeichnet (vgl. Fassler 2014, FP: Z. 47ff). Der Körper dient ihr somit als Untersuchungswerkzeug und sinnliches Messinstrument im öffentlichen Raum. Ihre Präsenz und ihre Bewegungen im Raum werden in ihren Zeichnungen blau markiert. So beschreibt Feireiss (2012) Fasslers künstlerische Arbeit: „Frequently, she notes a wide variety of phenomena on her maps: the number of people crossing a bridge, the current weather, places where punks hang out or people urinate, or where street vendors sell their wares. Urban history is told through the bodily and sensual experience of the artist. The body of the city only takes form through the interplay with the body of the artist. In this sense, Fassler’s works turn out to be explicitly topological. They are discussions of place in an emphatic and radical sense, devoted to an intensive reading of the illustrated body of the city – and they have the ability to read between the lines.“ (Feireiss 2012: www.*)
Der Körper wird zum Medium des Erfahrungswissens, das in den künstlerischen Prozess und in die Werkentstehung einfließt. Nach Tröndle (2012: 184) lässt sich dieses Phänomen mit dem Konzept Embodiment, das in die Kunstwissenschaften Eingang gefunden hat, nachvollziehen. Danach läuft die Werksentstehung nicht rational ab oder in einem linearen Prozess, in dem es einen Einfall gibt und am Ende das Werk steht. Stattdessen ist die Entstehung eines Werkes ein zirkulärer Prozess, in dem sich sinnliche und kognitive Tätigkeiten abwechseln. Die Entscheidungsreaktionen werden durch ein Wechselspiel der umgebenden Materialität sowie der emotionalen und sinnlichen Rezeptionsfähigkeit der Künstler beeinflusst. In diesem Zusammenhang kann festgestellt werden, dass der Körper in der geographischen Betrachtungsweise lange ausgeschlossen war. Die Gründe der strikten Trennung zwischen Kopf und Körper in der Wissenschaft lagen der feministischen Debatte zufolge in der vorherrschenden Dominanz der Rationalität im Wissenschaftsbetrieb. Emotionale Zugänge dagegen, die vorwiegend Frauen zugeschrieben wurden, werden danach als unsachlich und hysterisch bewertet
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(vgl. Rose 1996: 7). Aus dieser Schlussfolgerung argumentierten Wissenschaftler, dass Gedanken und das Wissen objektiver, transparenter und autonomer seien und einen universalen Charakter erhielten, wenn eine klare Abtrennung des Körpers vom Verstand vollzogen würde, die auch eine Abspaltung eigener Emotionen, Werte und Erfahrungen miteinschließt. Daher wurde der Körper zunächst von der wissenschaftlichen Analyse ausgeschlossen, weil er als ein emotionales und daher als unwissenschaftliches Phänomen galt. Erst die zunehmende Kritik, die konzeptionell und formell an der abstrakten und entkörperlichten Vorgehensweise der geographischen Arbeitsweise formuliert wurde, bewirkte eine langsame Annäherung an die Thematik des Körpers (vgl. Dickel & Scharvogel 2012). Strüver (2014) betont die Wichtigkeit der Integration des Körpers in die geographische Analyse, denn erst durch das (An-)Erkennen des menschlichen Körpers wird die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen möglich. Das Einbeziehen des Körpers in die geographische Analyse ist demnach legitim, da Raum und Körper ähnliche theoretische Konzeptionen aufweisen. Crang (2003) plädiert für die Aufnahme von Themen, die den Körper einerseits als individualisiert, aber andererseits auch als gesellschaftlich beeinflusstes Phänomen betrachten. Der Körper wird nicht nur als ‚materieller Behälter‘ verstanden, sondern auch als ‚sozial konstruiert‘. Danach wird der Körper durch Rollenzusprechungen sich wiederholender sprachlicher Akte konstruiert und in entsprechende Rollen inkorporiert (vgl. Butler 1997). Darüber hinaus kann der Körper Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse sein, die sich aufgrund von gesellschaftlich definierten Normen gegenüber Körpern und ihren Abweichungen ergeben können. Durch diese Zusprechung von Normen an Körper würden sich bestimmte Zugänge zur Gesellschaft ergeben, während andere Körperlichkeiten gesellschaftlich marginalisiert und ausgeschlossen würden (vgl. Strüver 2014: 181). Nash (2000) stellt weitere Überlegungen zur Integration des Körpers in die geographische Forschung an, die in der künstlerischen Praxis bei Fassler als selbstverständlich erachtet werden. Demnach kann der Körper nicht nur als Untersuchungsgegenstand betrachtet, sondern der Körper selbst kann in den empirischen Forschungsprozess integriert werden. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist die Gemeinsamkeit zwischen Künstlern und Geographen die Frage danach, welches Erfahrungswissen durch die Wechselwirksamkeit zwischen Körper und Raum generiert wird. Die bewusste Integrität des Körpers im Wissensproduktionsprozess kann eine Möglichkeit bieten, die Erfahrungen in der Feldforschung zu erweitern (vgl. Hawkins 2014b: 182) und einen empirischen Zugang zum Körper während des Forschungsprozesses zu gewähren (vgl. Crang 2003; Gibbs 2014). Dadurch werden neue Reflexionsebenen geschult: Der
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menschliche Aspekt wird in die wissenschaftlichen, rein rational ausgelegten Denkweisen integriert, institutionelle Rahmen werden hinterfragt, neue Kooperationsformen ausgetestet, die die eigene Praxis reflektieren. Es entstehen neue experimentelle Outputs, die kreative Formen des Schreibens und des Visualisierens erlauben. 6.2.5 Zusammenfassung Fassler legt ihren künstlerischen Fokus auf Stadtviertel und Orte, die sich in einem Transformationsprozess befinden und untersucht das wechselseitige Verhältnis zwischen dem materiellen Raum, der geschaffenen Welt der Stadtplaner und dem Alltag der Menschen. Ihre Wahl fällt auf Orte, die Spuren von Diskrepanzen tragen: Diskrepanzen zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, zwischen Realität, Vorbehalten und Mythen oder Orte, die auf diskursiver Ebene als Konflikträume verhandelt werden. In ihren Mappings erschafft sie in Bezug auf das Kottbusser Tor Kartographien des ‚anthropologischen Raums‘: dabei handelt es sich um alltagsräumliche Kartierungen, in der diese Widersprüchlichkeiten, Aushandlungsprozesse und urbanen Konfliktlinien festgehalten werden. Die Kartierungen bestehen aus Skizzen, Zeichen und Symbolen, die den materiellen Raum überzeichnen und überlagern. Dadurch werden die dargestellten Begegnungsräume künstlerisch zu Verhandlungsräumen, in dem menschliches Handeln visuell den Vorrang hat und materialisierte Stadtstrukturen im Hintergrund platziert werden. Gleichzeitig visualisiert sie Möglichkeitsräume, indem sie auf die politische Dimension des Ortes hinweist. Es stehen somit weniger Lösungen und konkrete Visionen zu den urbanen Problemen im Vordergrund; stattdessen richtet sich ihr Fokus auf die Kommunikation zu und über diese Orte, die impulsgebend für die Entwicklung von Städten oder gesellschaftlichen Prozessen ist. Fasslers Arbeit ist auch hinsichtlich ihrer Positionierung zwischen Wissenschaft, Architektur und Kunst bereichernd. Zum einen ist sie als Verweis auf die Produktivität transdisziplinären Arbeitens zu lesen. So sieht sie Urban Design in seiner Funktion, Menschen in den Forschungs- und Stadtentwicklungsprozess zu integrieren. Gleichzeitig definiert sie ein Abgrenzungsmoment, indem sie das künstlerische Mapping als Gegenmodell einer architektonischen oder auch geographischen kartographischen Arbeit verstanden wissen möchte. Ihre Arbeit agiert unabhängig von institutionellen Vorgaben und Fragen, geht eigene Wege und hebelt Normen aus. Eine Nähe ihrer Arbeiten ergibt sich jedoch zur kartographischen Praxis kritischer Geographie, die Machtdiskurse aufdecken und ver-
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stehen, soziale Mechanismen beschreiben und Menschen zum Handeln ermächtigen will. Zudem ist ihre künstlerische Praxis auch als Erweiterung wissenschaftlicher Zugänge zu lesen. Mit der Integration ihres Körpers erhebt sie sich über die Konventionen des Wissenschaftsbetriebes, der in der Regel den rationalen, mentalen Zugang zu Erfahrungswissen als ausschließlichen Erkenntnisweg wissenschaftlichen Arbeitens betrachtet. Indem sie ihren Körper als sinnliches Messinstrument des öffentlichen Raums einsetzt und ihn zum Untersuchungswerkzeug werden lässt, erschafft sie ein zusätzliches Medium des Erfahrungswissens. Der Körper erweitert die Erfahrungen in der Feldforschung, er schult neue Reflexionsebenen und lässt neue experimentelle Outputs wie Visualisierung des Räumlichen und neue Bildräume entstehen.
6.3 R OOS V ERSTEEG : P OP -U P -S CHAMANE 6.3.1 Person Roos Versteeg wurde 1979 in Rotterdam geboren, sie studierte dort von 20012005 an der Willem De Kooning-Akademie im Masterstudiengang Fine Arts und von 2007-2009 an der Kunsthochschule Weißensee die Fachrichtung Raumstrategien. Seit 2006 lebt die Künstlerin in Berlin und hat zahlreiche kommunale und interaktive künstlerische Projekte mit unterschiedlichen Gruppen umgesetzt (weitere Projekte siehe Versteeg 2014: www.*). Die Künstlerin Versteeg wurde durch das Anschreiben und den Essay auf die vorliegende Forschungsarbeit aufmerksam. Sie sieht sich nicht als Beobachterin eines (urbanen) Raums, sondern als Mitwirkende, also als Intervenierende in räumlichen Konstellationen. Sie arbeitet vorwiegend zum und im öffentlichen Raum und gestaltet partizipatorische Kunstprojekte. Sie arbeitet daher interaktiv mit unterschiedlichen Gruppen von Menschen und setzt Rahmenbedingungen für Begegnungs- und Gestaltungsräume oder schafft diese erst. In diesen Räumen eignen sich die Menschen experimentell und spielerisch Themen an und tauschen sich aus. In ihren künstlerischen Arbeiten werden Workshops, Interventionen, Performances und ‚Soziale Plastiken‘22 umgesetzt, um Zielgruppen, die
22 Den Begriff ‚Soziale Plastik‘ prägte der Künstler Joseph Beuys 1967 und eröffnete damit ein neues Kunstverständnis. Dieses wurde durch den Aufruf „Jeder ist ein Künstler“ unterstrichen. Alle Menschen seien demnach fähig, durch kreatives und künstlerisches Handeln einen gestalterischen Beitrag zu dem Gesamtwohl des Ge-
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sonst kaum Gehör finden, mit ihrem (Alltags-)Wissen und Erfahrungen in ihre Arbeit zu integrieren. Der Fokus zahlreicher künstlerischer Projekte ist daher auf den Alltag der Menschen gerichtet. Dabei fragt sie, wie der Alltag in die künstlerische Forschung Eingang finden, wie er neu reflektiert und erfahren werden kann. Ihr Ziel ist, Alltags-Routinen generell und speziell im Stadtraum bewusst werden zu lassen. Versteeg begreift ihre künstlerische Herangehensweise als eine Art soziologische Erforschung ihrer Nachbarschaft, in der sie Methoden anwendet, die an die soziologische empirische Forschung angelehnt sind. Sie recherchiert zu den Orten, beobachtet, befragt und arbeitet mit Menschen zusammen. Der Unterschied in ihrem methodischen Vorgehen beispielsweise bei einer Befragung von Menschen vor Ort im Gegensatz zu wissenschaftlichen Methoden ist, dass sie keine wissenschaftlichen Fragebögen nutzt, um Erkenntnisse zu generieren, sondern dass sie bürokratische Formulare, auf die jeder Mensch in seinem Alltag stößt und von unbeliebten Behördengänge kennt, in künstlerische Formate transformiert. Ihre Arbeitsweise ist so ausgelegt, dass ihre Kunst für alle Menschen zugänglich sein soll und nicht nur einem bestimmten Publikum. Das Interesse der Künstlerin an der Mitarbeit an dem vorliegenden Forschungsprojekt lag weniger darin, ein weiteres künstlerisches Projekt auf meine Fragestellung hin zu entwickeln, sondern sie nahm den Essay zum Anlass, ihre bereits bestehenden und durchgeführten Projekte hinsichtlich ihrer Rolle als Künstlerin vor dem Hintergrund des städtischen Wandels zu reflektieren und zu evaluieren. Anhand zweier bestehender künstlerischer Positionen ‚Gebrauchsanweisung für die Karl-Marx-Straße (2012)‘ und ‚Schachteldenken (2009)‘ werden ihre Arbeitsweise, ihr Zugang und ihr bisheriges Verständnis zum städtischen Raum exemplarisch dargestellt und ein Querbezug zu Fragen von Stadt und Urbanität geschaffen, um dann auf die Reflexion ihrer künstlerischen Rollen und Funktionen in den derzeitig stattfindenden urbanen Entwicklungen und ihre Visionen einzugehen. Die Reflexion der Künstlerin liegt in Form eines Essays mit dem Timeinwesens zu leisten und entsprechend auf die Gesellschaft einzuwirken. Beuys Überlegungen zu seinem Konzept der Sozialen Plastik war, wie Politik und Wirtschaft kreativ und sinnlich gestaltet werden können, um auf die Gesellschaft langfristig einzuwirken. Hinter diesem Konzept steht auch die Idee, dass die Entwicklung der Gesellschaft ein lange andauernder kreativer Prozess ist (vgl. Beuys 1967). Dieser Kunstbegriff geht mit der Entwicklung des Performativ Turns in den 60er Jahren innerhalb der Kunstwissenschaften und mit dem Iconic-Turn in den Bildwissenschaften einher (vgl. Sachs-Hombach 2002). Diese Entwicklung leitet eine Abkehr von dem traditionellen Werk-, Bild- und Kunstverständnis hin zu einer integrierten Handlungsweise neuer kommunikativer und sozialer Prozesse.
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tel ‚Pop-Up-Schamane‘ vor, der als Antwort auf meinen Essay und Reflexion des ersten Gesprächs gesehen werden kann. Der Auswertung ihrer künstlerischen Arbeit lagen ein Feldprotokoll (FP) zugrunde, das den E-Mail-Austausch, Pressetexte und den Essay ‚Pop-Up-Schamane‘ beinhaltet und Inhalte des ersten reflexiv-explorativen Interviews widerspiegelt und das Transkript aus der Gruppendiskussion (GD). 6.3.2 Press – Probleme des städtischen Miteinanders Der Anreiz, sich mit öffentlichen Räumen künstlerisch auseinanderzusetzen, entsteht nach Angaben der Künstlerin meistens durch selbst erfahrene und wahrgenommene Probleme im städtischen Raum. Diese Probleme ergeben sich aus den vorhandenen strukturellen Rahmenbedingungen, baulichen Begebenheiten wie der Architektur und Infrastruktur sowie aus „unausgesprochenen Gesetzen“ (Versteeg 2014, FP: Z. 15), die das Verhalten des Menschen maßgeblich steuern und regulieren sollen. Diese Gesetzmäßigkeiten beeinflussen den Tagesablauf und die Alltagsstrukturen der Menschen. Die Künstlerin hat den Eindruck, dass die Wahrnehmung der Menschen durch solche Gesetze gelenkt wird. Sie sieht eines der größten Probleme innerhalb des städtischen Lebens in der Entfremdung der Menschen, denn trotz räumlicher Nähe bestimmen zunehmend Anonymität und Individualismus das Zusammenleben. Das fehlende Gemeinschaftsgefühl wird ihrer Meinung nach zusätzlich von ökonomisch geprägten Segregationsmechanismen und Barrieren in der Verständigung unterschiedlicher Kulturen verstärkt. Dabei sind die Brüche, Irritationen und eigenen Vorbehalte, die Versteeg gegenüber Orten entwickelt hat, weitere Gründe für ihre Beschäftigung mit der jeweiligen Umgebung (vgl. Versteeg 2014, FP: Z. 18ff). 6.3.3 Products – ‚Gebrauchsanleitung für die Karl-Marx-Straße‘ und ‚Schachteldenken‘ GEBRAUCHSANLEITUNG FÜR DIE KARL-MARX-STRASSE: BESCHREIBUNG Eine Anfrage einer Neuköllner Galerie nach ihrer künstlerischen Mitarbeit für eine geplante Ausstellung im Jahr 2012 war der Anlass, sich mit einem Stadtgebiet innerhalb Neuköllns zu beschäftigen. Versteeg wollte ihrem Anspruch gerecht werden, Projekte in situ zu entwickeln, also direkt vor Ort, um auch einen unmittelbaren räumlichen Bezug zur Neuköllner Galerie herzustellen. So entschied die Künstlerin sich für die Karl-Marx-Straße als ortspezifischen Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Arbeit. Diese Straße hatte ihr Interesse und ihre Neugierde bereits im Vorfeld der geplanten Ausstellung erregt, weil sie einer-
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seits fasziniert, andererseits irritiert war über das, was sie beobachtet und über die Straße erfahren hatte (vgl. Versteeg 2014, GD: Z. 732ff). Die Karl-MarxStraße grenzt nördlich an Kreuzberg an und endet südlich der Ringbahn. Sie durchquert ein Drittel des Stadtbezirks Neukölln. Neukölln galt in der Literatur lange Zeit als sozial benachteiligter Bezirk mit einer Verdichtung sozialer Probleme (vgl. Häußermann et al. 2008a: www.*). In Neukölln wurden 2001 im Rahmen des Bund-Länder-Programms ‚Soziale Stadt‘ Teilgebiete mit ‚besonderem Entwicklungsbedarf‘ zur finanziellen Förderung ausgewiesen. Insgesamt elf solcher Entwicklungsgebiete bestehen noch (vgl. Berliner-Senat 2015: www.*) innerhalb des S-Bahnrings. Die Arbeitslosenquote und die Anzahl der Haushalte mit Transferbezug liegen in Gesamt-Neukölln bis heute über dem Berliner Durchschnitt (vgl. Krajewski 2013: 21). Dennoch lassen sich einzelne Gebiete innerhalb des Bezirks ausmachen, in denen Steigerungen im mittleren Haushalteinkommen festzustellen sind. Diese Gebiete befinden sich vorwiegend im nördlichen Neukölln und am Anfang der Karl-Marx-Straße (Reuterkiez und zunehmend Schillerkiez). Sie gelten mittlerweile als Szene- und Kultkieze und haben ihr Image als Problemkieze abgelegt. Nach einer Sozialstudie aus dem Jahr 2011 konnte ein Bevölkerungsaustausch mit einer soziokulturellen Aufwertung und einer Zunahme touristischen Interesses nachgewiesen werden (vgl. ToposStadtforschung 2011). Des Weiteren sind Zuzüge aus Europa (vorwiegend Griechenland, Italien, England) und Israel zu verzeichnen. Die Straße spiegelt aus Sicht der Künstlerin diese Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Merkmale wider und symbolisiert die gegensätzlichen Entwicklungen des Bezirks: „An der Karl-Marx-Straße findet man eine enorme Bandbreite an Einkaufsmöglichkeiten und Eigenschaften. An ihr reihen sich zahlreiche Dönerstände, Spätis, Kleidungsgeschäfte, Blumenläden, Cafés, Telefonläden und Apotheken. Sie ist lebendig und unruhig, laut und voll, bunt und grau, gastfreundlich und anonym, teuer und billig; und das alles gleichzeitig. Hier sieht man Zugezogene aus zirka 150 Ländern, und alteingesessene Deutsche, die schon seit 80 Jahren hier leben. Meine Leitfrage bei dem Projekt war es zu entdecken, wie Menschen an der Karl-Marx-Straße mit dieser Vielfalt und diesem Überfluss umgehen und zu ermöglichen, dass die Antworten für alle Nutzer der Straße zur Verfügung stehen würden.“ (Versteeg 2014, FP: Z. 91-98)
Aus diesen Beobachtungen leitete die Künstlerin ihre ‚soziologischen‘ Fragestellungen ab, u.a. wie das Leben an dieser Straße gestaltet und organisiert ist, wie die eigentlichen Nutzer im ‚alltäglichen‘ Gebrauch die Gleichzeitigkeit und Vielfältigkeit der Straße wahrnehmen und damit umgehen. Ihr künstlerischer Ansatz ist, ein Inventar bzw. ein Archiv des Alltags zu erstellen, die die Informationen
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der Menschen beinhalten (vgl. Versteeg 2014, GD: Z. 737). Die Künstlerin betont, dass sie lediglich den Rahmen schafft, in dem sie die Daten sammelt. Sie verfährt ergebnisoffen und prozessorientiert, was dazu führt, dass sich neue Fragestellungen eröffnen: „Meine Arbeiten entstehen in situ, sie sind im Hier. Das Gesammelte an Gedanken, könnte neu sortiert werden und andere Fragestellungen aufwerfen. Es ist eine Bestandsaufnahme eines Containers im Hier und Jetzt.“ (Versteeg 2014, FP: Z. 5-9)
In einem Aufruf bat die Künstlerin Menschen, die an der Straße arbeiten und leben, Hinweise, Tipps und Assoziationen über die Straße auf Karteikarten zu schreiben. Dafür richtete sie für die Dauer der Ausstellung eine interaktive Installation mit dem Namen ‚Auftauchschrank‘23 ein, die als temporäre ‚Sammelund Umnutzungsstelle‘ für diese Gedanken, diente. In die Installation integrierte die Künstlerin ihre eigenen Vorbehalte gegenüber der Straße. Sie erschuf während der Installation ein kommerzielles Ambiente, das ihrem ersten Eindruck der Straße entsprach: „Ich habe die ganze Installation aufgezogen wie die Straße so ist, also kommerziell. Ich wollte einen kommerziellen Eindruck machen, nur für eine kurze Zeit. Das war dann so, ich war dann auch in einem blauen Kostüm gekleidet. Man konnte da rein gehen, und da gab zunächst einen Flyer und man hatte das Gefühl: Kann man da jetzt was kaufen? Oder was ist jetzt eigentlich hier?“ (Versteeg 2014, GD: Z. 746-749)
Der kommerzielle Anstrich und somit die anfängliche Irritation, die sich bei Betreten der Installation ergab, wurde dadurch aufgelöst, dass die Menschen trotz des suggerierten Kommerzes nach ihren persönlichen Meinungen und nach ihrem Umgang mit der Straße befragt wurden und daher nichts konsumieren mussten. Die aufgeschriebenen Gedanken wurden dann als ‚Gebrauchsanweisungen‘ auf Karteikärtchen gedruckt, in einem Archivschrank gesammelt und anderen Interessierten zur Verfügung gestellt (vgl. Versteeg 2014, GD: Z. 749ff). Auf diese Weise wurden die vielfältigen Ansichten und Perspektiven über die Straße unab23 ‚Auftauchschrank‘ leitet sich von der Nachahmung sogenannter Pop-up-Stores ab, die für die Künstlerin gleichzeitig das Kommerzielle und Temporäre repräsentieren: In einem zeitlich begrenzten Rahmen werden in Pop-up-Stores Waren meist mit beschränkten Sortiment angeboten. Durch das plötzliche Auftauchen (Pop-up) des Einzelgeschäfts wird eine bestimmte Aufmerksamkeit bei den Menschen erregt. Durch Mundpropaganda und aufgrund der Ungewissheit der Dauer des Geschäftes werden Werbekosten gespart und ein schneller Warenabsatz gefördert.
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hängig von Alter, sozioökonomischem Status und der Herkunft gesammelt, woraus sich ein sichtbares und erfahrbares gesellschaftliches Abbild der Straße ergab. Symbolisch gesehen wurde das anfängliche Bild der Straße, das die Künstlerin hatte, mit den Gebrauchsanweisungen der Menschen überlagert und somit auch ihr ein neuer Zugang und Blick auf das Gebiet eröffnet. Durch eine Annäherung an ein Gesamtbild der Straße wurden die eigenen selektiven Wahrnehmungen und Momentaufnahmen des Gebietes hinterfragt (vgl. Versteeg 2014, GD: Z. 775ff). Abb. 11: Gebrauchsanleitung Karl-Marx-Straße (Titelbild Booklet)
Quelle: Versteeg (2012)
Als Ergebnis der Ausstellung entstand ein 44-seitiges Booklet über die KarlMarx-Straße, in dem Versteeg (vgl. Abb. 11 & Abb. 12) ‚subjektive Wahrheiten‘ und Einschätzungen in 17 Kategorien textlich entlang der Straße visuell zuordnet. Das Buch spiegelt die kulturelle Vielfalt, die unterschiedlichen Generationen und die sehr divergierenden Perspektiven und Wahrnehmungen des Ortes wider. Die Neukategorisierung wirft neue Assoziationen gegenüber dem Ort bzw. neue Fragestellungen auf. Dadurch entsteht auch ein neues Bild der Straße, das Versteeg alleine nie erschlossen hätte (vgl. Versteeg 2014, GD: Z. 771f).
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Abb. 12: Kategorien aus dem Booklet
Quelle: Versteeg (2012:7)
Auf diese Weise sollte ein persönliches künstlerisches Produkt entstehen, das nicht über die Menschen der Straße berichtet, sondern die Menschen als Experten über den Ort zu Wort kommen lässt. 2500 Booklets wurden wieder an die Menschen der Straße verteilt. Einerseits sollten so weitere Nutzer der Straße erreicht und ihnen eine unkonventionelle Hilfe angeboten werden, sich in der KarlMarx-Straße zurechtzufinden, andererseits sollten die gesammelten Informationen wieder an die Menschen zurückgehen, die einen Beitrag zu dem künstlerischen Produkt geliefert haben.
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Versteeg sieht das Kunstwerk auch nicht als ihr Eigentum (vgl. Versteeg 2014, GD: Z. 783ff). Übergeordnet handelt sich bei dem künstlerischen Produkt um ein textliches Mapping, das sprachliche Verortungen im Raum vornimmt (vgl. Abb. 13). Abb. 13: Auszug aus dem Booklet
Quelle: Versteeg (2012: 11)
HANDLUNGSRAUM HERSTELLEN: ‚SCHACHTELDENKEN‘ Das folgende künstlerische Projekt ist von Versteeg & Stock im Jahr 2009 auf einer Brachfläche in der Nähe einer Plattenbau-Großwohnungssiedlung in Lichtenberg im Rahmen des Studiengangs ‚Raumstrategien‘ der Kunsthochschule Weißensee in Berlin entwickelt und umgesetzt worden. Der Begriff ‚Schachteldenken‘ sollte eine Irritation bei den Betrachtern hervorrufen, das Wort Schachtel eine Parallele zur Plattenbau-Architektur sein: Die Gebäude der Plattenwohnsiedlung erinnerten die Künstlerinnen an aufeinandergestapelte Schachteln, die ihrer Meinung nach eine isolierende Wirkung auf die Umgebung und Menschen haben (vgl. Versteeg 2014, FP: Z. 56ff). Die Plattenbauweise war vor allem Ausdruck der in der DDR vorherrschenden Baupolitik, die antikapitalistisch ausgelegt sein sollte und sich an den Prinzipien der modernen Architektur anlehnte. Die Großwohnsiedlungen stellen so-
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mit bis heute die auffälligste Realisierung des Gesellschaftsideals der DDR dar, das in Gleichheitswohnungen die Vorstellung einer entdifferenzierten Gesellschaftsstruktur auf baulicher Ebene manifestierte (vgl. Hannemann 1996). Diese industrielle Bauweise sollte eine schnelle Lösung der damaligen Wohnungsnot und eine Alternative für die am Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen Mietskasernen bieten. Die Plattenbauten wiesen durch Warmwasser, Zentralheizungen und Sanitäreinrichtungen einen höheren Wohnstandard auf und waren deswegen bei der Bevölkerung sehr begehrt. Die Mietskasernen hingegen wurden in der DDR vernachlässigt, da sie als Symbol einer unmenschlichen Unterbringung aus kapitalistischen Zeiten galten. Abb. 14: ‚Schachteldenken‘
Quelle: Versteeg ( 2009) „Der Anspruch der Gleichheit schlug sich vor allem in der Eintönigkeit der Fassaden und Grundrisse nieder. Die einheitliche Bauweise sollte jedoch auch vereinen, die Menschen zusammenbringen. Heutzutage leben wir in einer individualisierten Gesellschaft, darin wirken die Plattenbauten wie aufgestapelte Zellen, wo jeder, unabhängig von seinem Nachbarn, sein Leben führt. Diese Zellen werden somit gleichzeitig zu Behältern, für Menschen, Tiere und Dinge; eine vielfältige Diversität, die unsichtbar bleibt. Die Bauten des Wohnungskomplexes Weißenseerweg/Landsberger Allee stehen wie eine riesige, moderne Burg da. Die Fassaden blicken abweisend nach außen, und gruppieren sich schützend um den Innenhof. Im Zentrum gibt es eine Brachfläche, ein meist ungenutzter Freiraum der der strengen Architektur entgegensteht.“ (Versteeg 2014, FP: Z. 63-73)
Da die ‚Platte‘ nach Hannemann (1996) das Grundelement der Großtafelbauweise des in der DDR vorherrschenden industriellen Wohnungsbaus darstellte, stell-
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ten die Künstlerinnen ein Bauprovisorium auf der Brache auf, das diesem Grundelement der Platte/Schachtel ähnelte, aber den Betrachtern gegenüber einen offenen und einladenden Charakter haben sollte (vgl. Abb. 14): „Alle konnten hinkommen. Es war auch eine gewisse Kritik damit verbunden […] wo sind denn die Orte: wo man sich treffen kann? Es gibt zwar viele Grünflächen zwischen den Häusern, und die Leute gehen vielleicht spazieren. Aber es gibt keine Orte, wo man gemeinsam einen Kaffee trinken kann. Es gibt auch keine Cafés. Dieses sehr getrennte Wohnen und Arbeiten ist immer noch so vorhanden und da was entgegenzusetzen, war unsere Absicht. Das war so die Inspiration, wenn man möchte. Dieses sehr Gerasterte und Gittermäßige der Plattenbauten aufzubrechen, war das Ziel des sozialen Projekts.“
(Versteeg 2014, GD: Z. 803-809)
Abb. 15: Kommunikationsraum ‚Schachtel‘
Quelle: Versteeg (2009)
Ähnlich wie bei dem zuvor vorgestellten Projekt, ist die Künstlerin mit bestimmten Vorannahmen ins ‚Feld‘ gegangen und wollte wieder einen Rahmen für einen Begegnungsraum für Menschen schaffen. Dieses Mal war ihre These, dass diese Plattenbauweise nicht mehr gesellschaftskonform sei und daher eine selektierende Wirkung auf die heutige Gesellschaft habe. Auf der Brache sollte deswegen ein Raum entstehen, der den Menschen vor Ort als Kommunikationsfläche dienen sollte. Das Ziel war es, Menschen zusammenzubringen, die sich zu-
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vor noch nie gesehen hatten und die sich durch die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk vernetzen. Eine Art Versammlungsort sollte geschaffen werden, an dem gemeinsam gelacht, sich ausgetauscht und zusammen gedacht wird: „Die Sammelstelle war auch eine Art Wohnzimmer, das eingerichtet wurde mit den eingesammelten Möbeln und Gegenständen. Menschen konnten vorbei schauen, auf einen Kaffee und ein Gespräch. Somit fand ein Austausch im weitesten Sinne statt, indem nicht nur die Gegenstände Menschen miteinander in Kontakt brachten, sondern auch ein Ort für Begegnung geschaffen wurde. Darüber hinaus gab es den Austausch zwischen den Bewohnern und dem beteiligten internationalen Künstler.“ (Versteeg 2014, FP: Z. 80-84)
Das interaktive künstlerische Projekt ‚Schachteldenken’ war laut der Künstlerin auch als ‚Soziale Plastik‘ zu verstehen und diente dazu, das Bauprovisorium mit Leben zu füllen sowie der Vielfalt, die sonst hinter den Mauern verborgen bleibt, eine Bühne zu bieten. Jeder konnte teilhaben an dem Projekt und dadurch wurde es erst lebendig. Mit ihren Vorstellungen und Analogien schufen die Künstlerinnen einen Bildraum, der in einem partizipativen Prozess erweitert wurde (vgl. Abb. 15). Zwar zeigten die Menschen vor Ort zunächst eine gewisse Skepsis gegenüber dem Projekt und der ‚Form‘ der Kunst, aber bald öffneten sie sich für die Intentionen des Projekts genau deswegen, weil es sich ‚nur‘ um Kunst handelt und nicht um ein offizielles soziales Projekt (vgl. Versteeg 2014, GD: Z. 829ff). REFLEXION: POP-UP-SCHAMANE Die räumlich und kulturell intervenierenden Elemente in Versteegs künstlerischen Arbeiten zeigen auf, dass die Künstlerin zunächst auf gesellschaftlichsoziale Probleme hinweist, um im nächsten Schritt Veränderungsprozesse anzustoßen, indem sie Gemeinschaften kreiert. Ihr Interesse, Begegnungsräume zu erschaffen und Menschen zusammenzubringen, stammt gleichzeitig aus dem Interesse, als Künstlerin dem Individualismus zu entkommen und der individualisierten Gesellschaft etwas entgegenzusetzen (vgl. Versteeg 2014, FP: Z. 36ff). Daher bekommen ihre Kunstprojekte auch einen sozialen Charakter und wecken das stadtpolitische Interesse. Zahlreiche künstlerische Projekte von Versteeg wurden mit öffentlichen Mitteln und Förderungen unterstützt. Die Verteilung öffentlicher Mittel ist aber laut Versteeg an bestimmte Ziele, Vorgaben und Erwartungen gebunden, die in den jeweiligen Projekten erfüllt werden müssen. Daher befindet sich die Künstlerin oftmals in einem Spannungsfeld zwischen ihren eigenen Intentionen, ihrer künstlerischen Freiheit und den ‚diffusen Erwartungen‘ der Geldgeber (vgl. Versteeg 2014, FP: Z. 140ff). Nach Ansicht der Künstlerin
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werden diese öffentlichen Mittel oftmals mit der Erwartung vergeben, soziale Probleme im urbanen Raum nachhaltig zu lösen. Nach zehnjähriger Arbeit in sozial ausgerichteten und partizipativen Projekten kritisierte sie in ihrem Essay ‚Pop-up-Schamane‘, der anlässlich der vorliegenden Forschungsarbeit entstanden ist, dass Künstler heute wieder als Genies und Allheilbringer verhandelt werden (vgl. Exkurs: Zur etymologischen Bedeutung des Wortes Kreativität). Sie sollen Lösungen auf gesellschaftliche Probleme gerade in sozio-kulturellen Projekten anbieten. Es wird laut Versteeg von Künstlern erwartet, dass sie durch ihre Sensibilität Einblicke in Problemlagen bekommen, die sich andere Institutionen nicht erschließen können: „Das schließt an bei der Idee von einem Künstler als ein Universalgelehrter, von dem erwartet wird, eine interdisziplinäre Sensibilität zutage zu fördern. Der Künstler von heute ist wie ein moderner Schamane zu verstehen. Denn traditionell war die rituelle Tätigkeit von Schamanen auf den Erhalt des Lebens in der Gemeinschaft und Gruppensolidarität ausgerichtet und somit sollte er alle Komponenten des Gemeinschaftslebens kennen.“ (Versteeg 2014, FP: Z. 145-149)
Künstler werden der Künstlerin zufolge in der unternehmerischen Stadtlogik zu Pop-up-Schamanen gemacht, die plötzlich auftauchen und in einem zeitlich begrenzten Rahmen auf komplexe urbane Problemlagen reagieren sollen, deren Ursachen aber auf einer übergeordneten gesellschaftlichen und politischen Ebene liegen und die auch nur auf dieser Ebene zu lösen sind. Sie fühlt sich in ihrer Arbeit nicht wertgeschätzt und ausreichend entlohnt und meint, dass Künstler oftmals nur als kostengünstigere Variante zu Sozialarbeitern gesehen werden, die niedrigschwelliger arbeiten und einen besseren Zugang zu den Menschen haben. Zudem bemängelt die Künstlerin, dass eine bestimmte gesellschaftliche Vorstellung von Kunst immer noch vorherrscht und in die Erwartungen von Stadtentwicklungsprojekten einfließt: „Der Begriff der ‚Kunst‘ an sich ist vorbelastet; denn obwohl einerseits alles, was man nicht einordnen oder verstehen kann, Kunst sein kann, gibt es andererseits sehr spezifische Anforderungen an die Kunst. Es gilt das Bild von dem Künstler als der Urheber von ästhetischen Bildern. In dem Bereich Kunst im öffentlichen Raum kollidieren die Erwartungen an Künstler oft miteinander.“ (Versteeg 2014, FP: Z. 132-136)
Bei geförderten Projekten wird davon ausgegangen, dass am Ende ein handhabbares Produkt und somit eine konkrete Lösung vorliegt. Dem Prozess innerhalb der Arbeit wird hingegen kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser ist es jedoch,
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der ihrer Meinung nach genau den nötigen kreativen Veränderungsprozess in ihrem Sinn anstoßen könnte, weil er Fragen von Menschen an die Gesellschaft zulässt sowie die Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse lenkt und Routinen hinterfragt. Das Hauptziel der Künstlerin wäre demnach, prozesshaft ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen, das Ähnlichkeiten und Verwandtschaften zwischen den Menschen sichtbar macht (vgl. Versteeg 2014, FP: Z. 139ff). 6.3.4 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Versteegs Arbeiten Werte für ein städtisches Zusammenleben in der Zukunft verfolgen. In den beiden vorgestellten Beispielen aus Berlin reagiert sie künstlerisch auf Problemlagen, die sich aus den derzeitigen Stadtentwicklungsprozessen ergeben haben. Sie greift dabei zahlreiche Begriffe auf, die sich auf die Dimensionen und Standards von Urbanität beziehen lassen. Versteeg möchte Gemeinschaften, die derzeit separiert sind, durchlässiger gestalten. In ihren Projekten entstehen neue Interaktionsräume, die wie Wissensplattformen funktionieren, in denen alle Menschen partizipieren dürfen (vgl. Versteeg 2014, FP: Z. 10ff). Ihre geschaffenen Kunsträume sollen offene Zugänge für alle Menschen bieten und eine soziale Integrität erzeugen, indem bislang unbekannte Menschen aufeinandertreffen und sich austauschen. Es entstehen gemeinsame Geschichten, die das Miteinander in Berlin ausmachen. Die Geschichten hinter den Menschen werden aufbereitet und an andere Menschen weitergegeben. Versteeg wird zu einer Archivarin, die das Wissen und die gesammelten Erfahrungen teilt und fremde Orte dekonstruiert. Existierende Vorbehalte und Vorstellungswelten überlagern sich: Dies geschieht durch das Wissen der Menschen, durch ihre Kritik am Alltag und gesellschaftlichem Wandel sowie durch ihre Kenntnis der Potenziale urbaner Erfahrungen.
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6.4 K IETZMANN & K ÜBERT : B RACHE
ALS
M ETAPHER
6.4.1 Persons Im folgenden Kapitel werden zwei künstlerische Positionen von Eva Kietzmann und Petra Kübert vorgestellt und diskutiert: zum einen das künstlerische Projekt ‚Entwicklungsgebiet Rummelsburger Bucht (2011/2012)‘ und zum anderen das Projekt ‚Die schöne Kunst des Wohnens (2013)‘, das innerhalb der letzten beiden Jahre von den beiden Künstlerinnen inhaltlich und gestalterisch weiterentwickelt wurde (‚Broken Windows 2014‘). Eva Kietzmann wurde 1977 in Mainz geboren. Sie studierte von 1998 bis 2005 an der Hochschule für Gestaltung Film und Video. Petra Kübert wurde 1975 in Würzburg geboren und studierte von 1997 bis 2005 ‚Experimentelle Raumkonzepte‘ an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. Für beide folgte zwischen 2006 und 2009 ein Studium an der Universität der Künste in Berlin im Fachbereich Art in Context. Eva Kietzmann war 2013 zudem Stipendiatin im ‚Goldrausch Künstlerinnenprojekt art IT‘ in Berlin. Beide Künstlerinnen arbeiten seit 2009 in Berlin an gemeinsamen Projekten zu urbanen Fragestellungen und beschäftigen sich vorwiegend mit der Inszenierung öffentlicher Räume sowie mit der Imageproduktion von Städten. Dabei beziehen sie als theoretischen Hintergrund ihrer Arbeiten Diskurse um die Umstrukturierung von Städten sowie Stadtentwicklungsprozesse unter neoliberalen Vorzeichen ein. Ihr künstlerischer Fokus ist auf Orte in Berlin gerichtet, die sich in einer sichtbaren Transformationsphase befinden. Das sind vorwiegend öffentliche Orte, die in naher Zukunft privatisiert werden oder bereits wurden. Zu ihren Berlin-bezogenen gemeinsamen Ausstellungen gehören u.a.: ‚Islands+Ghettos – über territoriale Segregation in den Städten des 21. Jahrhunderts‘, Kunstraum Bethanien 2009; Entwicklungsgebiet Rummelsburger Bucht – Vermutungen über Oberflächen, ‚After the butcher‘ – Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst und soziale Fragen, Berlin 2011-2012; Klang Orte Berlin – Perspektiven akustischer Stadtentwicklung, Stadtraum Rummelsburger Bucht, Berlin 2012. An diesen Orten untersuchen sie künstlerisch die ästhetischen und sozialen Auswirkungen der Privatisierung. Die Orte nehmen sie als Ausgangspunkt ihrer explorativen künstlerischen Recherche und Interventionen (vgl. Kietzmann & Kübert 2013). Des Weiteren reflektieren sie in ihren Arbeiten ihre eigene Position als Künstlerinnen und die ihnen zugeschriebenen Doppelrollen: einerseits sind sie Mitwirkende und andererseits Betroffene von Gentrifizierungsprozessen und leben in prekarisierten Verhältnissen in einem auf Selbstoptimierung ausgelegten Kulturbetrieb. Als Konsequenz verstehen sie daher nicht nur ihre Kunst
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als kontextualisiert, sondern sie sehen ihre Aufgabe als Künstlerinnen darin, die neutrale Beobachterebene aufzugeben, um aktiv durch eine künstlerische interventionistische Praxis in den Raum einzugreifen. Beide Projekte weisen Schnittpunkte zum Essay auf, die dem reflexiv-explorativen Interview als Ausgangspunkt dienten und theoretische und methodische Zugänge zu Stadträumen und zum Thema Urbanität schufen. Darüber hinaus fand ein wechselseitiger Austausch statt. Ich konnte sowohl an der Ausstellung ‚Broken Windows (2014)‘ als auch an dem Sound-Walk/Audiospaziergang teilnehmen. Die Teilnahme ließ einen ersten Eindruck in ihre Arbeitsweise und in ihr Verständnis von Stadtraum zu. Zur Auswertung der künstlerischen Positionen lagen Transkripte des reflexiv-explorativen Interviews (TS) und des Gruppengesprächs (GD) vor. Darüber hinaus wurde ein Feldprotokoll angelegt, das das Selbstverständnis der Künstlerinnen enthält sowie Pressetexte und den E-Mail-Austausch bei Nachfragen (FP). Neben den beiden künstlerischen Positionen gab es jeweils einen Katalog, in dem die Künstlerinnen ihre Vorgehensweisen dokumentierten und ihre Projektergebnisse vorstellten, wie auch eine Fremdinterpretationen der Arbeiten von Kietzmann & Kübert (vgl. Berkes 2013; Kietzmann & Kübert 2013). 6.4.2 Press – Process – Interventionsraum: Sollbruchstelle Brache SOLLBRUCHSTELLE BRACHE Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Herangehensweise ist die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum. Kübert hat sich während ihres Studiums in Offenbach an der Kunsthochschule mit experimenteller Raumgestaltung beschäftigt und interessierte sich für die künstlerische temporäre Aneignung von ‚(Nicht-)Orten‘ und Brachen (vgl. Augé 1994; Kap. 6.2.2), während Kietzmann aus ihrer Videopraxis vor allem Erfahrungen in der Gestaltung experimenteller und performativer Prozesse mitbringt. Die beiden Künstlerinnen fokussieren daher in ihren künstlerischen Arbeiten Ereignisse sowie das Prozesshafte und schließen ihre unterschiedlichen Rezeptionsweisen des Ortes in ihre künstlerische Arbeitsweise mit ein (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, TS: Z. 12-18). Die beiden Künstlerinnen betonen, dass sie keine Kunst für den öffentlichen Raum produzieren, sondern der öffentliche Raum einen Anlass bietet und als Kontext zu verstehen ist, in dem sie ihre interventionistische künstlerische Arbeitspraxis verfolgen und umsetzen. Zu ihren künstlerischen Interventionen zählen Installationen, zeitlich begrenzte Aktionen und situationsabhängige Projekte (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, TS: Z. 27ff). Die Interventionen besitzen meist einen ephemeren Charakter, sind prozessorientiert und partizipatorisch angelegt.
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Unter ‚künstlerische Interventionen‘ (Borries 2012: 126) ist die Selbstbezeichnung einer künstlerischen Arbeitsweise verschiedener Zielsetzungen zu verstehen, die für die interventionistische Praxis unterschiedliche experimentelle Methoden nutzt. Ziele können sein, auf unterschiedliche räumliche Ebenen und auf die darin befindlichen Subsysteme einzuwirken, um Irritationen beim Rezipienten hervorzurufen, Störungen zu bewirken oder Impulse zur Veränderung der sozialen und politischen Rahmenbedingungen und Subsysteme zu bewirken. Als Subsysteme können institutionalisierte Bereiche wie Schulen, Behörden, der Kunstbetrieb, Alltagswelten, ökonomische und ästhetische Vorstellungswelten gesehen werden, die jeweils eine ähnliche Form des gesellschaftlichen Umgangs hervorbringen und die sich durch bestimmte Regeln, Normen, Handlungsweisen, Hierarchien, Kräfteverhältnisse, Deutungsmuster und Ausstattungen etc. auszeichnen (vgl. Blissett & Brünzels 2012: 19). Der Mechanismus hinter den künstlerischen Interventionen ist meist der, dass gesellschaftlich vorhandene Kriterien und bestehende Normen in unterschiedlichen Subsystemen durch ein künstlerisches Mittel hinterfragt werden, um wiederum außerhalb der festgesetzten und eingeübten gesellschaftlichen Kriterien der Kunstbetrachtung eine neue Perspektive auf das wahrzunehmende Problem in dem jeweilig angesprochenen Subsystem zu erlauben. Interventionen können (1) auf einer Mikroebene in der Alltagspraxis gewohnte Alltagsroutinen hinterfragen (vgl. Certeau 1989; Debord & Bittermann 1996), sie können sich (2) auf städtischer Ebene auf die Semiotik der Stadt beziehen, in dem das vermittelte Narrativ gestört, verfremdet und gehackt wird (vgl. Blissett & Brünzels 2012; Friesinger 2010). Ebenso können Interventionen (3) auf gesellschaftlicher Ebene Räume enthierarchisieren und eigene Raumproduktionen können angestoßen werden. Diese evozierte Wahrnehmung soll bei dem Rezipienten bestehende Konventionen erfahrbar machen und eine Reflexion anstoßen. So können durch Interventionen ambivalente und widersprüchliche Prozesse aufgedeckt werden. Die beiden Künstlerinnen verfolgen vor allem raumbezogene Interventionen und verstehen sie nicht als politische Interventionen. Sie beziehen in die Interventionen ihre eigene Künstlerinnenperspektive ein. Diese beinhaltet die Reflexion der Rolle von Künstlern hinsichtlich der Instrumentalisierung des Kultur- und Kunstbetriebs in urbanen, gesellschaftlichen, neoliberalen Prozessen (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, FP: Z. 36ff). Sie suchen auf semiotischer Ebene die Oberfläche im Stadtraum nach Bruchstellen ab, die auf sie grotesk wirken und auf ambivalente urbane Entwicklungsprozesse im städtischen Raum hinweisen. Solche Bruchstellen treten den Künstlerinnen in den letzten Jahren vorwiegend in Form von Brachflächen vor Augen:
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„Dann haben wir uns mit Brachen beschäftigt oder auch berlinweit mit Brachen, auf denen exklusives Wohnen geplant ist. Eigentlich bei jeder Brache, die es in Berlin gibt, wird irgendwann ein Bauschild kommen, auf dem exklusives Wohnen angekündigt wird. Das ist uns ziemlich aufgefallen und dazu haben wir zu den Brachen ziemlich recherchiert.“ (Kietzmann & Kübert 2014, GD: Z. 540-543)
Auf diesen Flächen zeigt sich die Umwidmung von öffentlichen zu privaten Flächen als Ausdruck neoliberaler Stadtprozesse. Daher steht die Brachfläche symbolisch für einen Transformationsprozess und ist ein äußerlicher Ausdruck eines Strukturwandels. Die Räume haben zunächst ihre ursprüngliche ökonomische oder soziale Funktion verloren. Nach Dissmann (2011: 8) wird eine Brache in der Stadtplanung oftmals als Makel betrachtet, der beseitigt werden muss. Vor allem in schrumpfenden Städten werden Brachflächen als eine Gefahr angesehen, von denen weitere schleichende Prozesse wie Abwanderung der Bevölkerung und wirtschaftlicher Rückzug ausgehen, die eine weitere Ausdehnung von ‚unbrauchbaren Flächen‘ zur Folge haben. In diesem Zusammenhang spiegeln Brachflächen eine Krise und eine fehlende Zukunftsperspektive wider. Nach dem Mauerfall und durch die Deindustrialisierung in Berlin entstanden zahlreiche innerstädtische Brachflächen wie Bahnbrachen und Mauerstreifenbrachen, die seitens der Berliner Stadtpolitik zunächst als Missstand betrachtet wurden (vgl. Kap. 4.2.1). Seit der Wachstumsphase ab 2005 wurden Brachen zu einer der wertvollsten Ressource der Stadt umgedeutet, die durch gezielte Zwischennutzungskonzepte stadtpolitisch gefördert wurden und zu einer Aufwertung der Gebiete beitrugen (vgl. Bader & Scharenberg 2010; Nippe 2012). INTERVENTIONISTISCHE PRAXIS Städtische Bruchstellen geben den Künstlerinnen Anlass, das Setting, das sich rund um die Brachfläche entspinnt, genauer anzuschauen und zu erforschen. Dazu nähern sich die Künstlerinnen dem Ort über einen längeren Zeitraum mittels einer künstlerischen Recherche an (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, FP: Z. 1012). Eine künstlerische Recherche zielt nicht auf Wissenschaftlichkeit, sondern sie ist assoziativ, experimentell und intuitiv gestaltet und frei von institutionellen Vorgaben und Konventionen. Selbstgestellte Themen werden bereits im Prozess der künstlerischen Recherche durchdrungen. Die künstlerische Recherche ist nicht nur als Vorarbeit der künstlerischen Auseinandersetzung zu verstehen, sondern sie ist ein Bestandteil der künstlerischen Position (vgl. Kap 6.2.4.). Dabei recherchieren die Künstlerinnen zu der Geschichte des Ortes. Sie beobachten den Raum und dokumentieren die Ereignisse und Prozesse. Sie integrieren die Betrachtungsweisen unterschiedlicher Akteure zu dem Ort in ihre künstlerische
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Recherche. Dazu bieten sie Formate an, die die Menschen an ihrer künstlerischen Praxis teilhaben lassen. Ihre ‚Produkte‘ sind Ausstellungen, Sound Walks und Workshops mit dem Ziel, einen dialogischen und partizipativen Prozess anzustoßen, mehr Transparenz zu schaffen und somit Möglichkeitsräume zu eröffnen. Sie experimentieren mit Text, Raum und Sound, integrieren performative Elemente und temporäre Interventionen in ihre Untersuchungen und entwickeln ihre eigene Raumpraxis: „Bei unseren Projekten treten wir in eine aktive offene Kommunikation mit möglichst vielen Beteiligten und Interessierten. Es geht uns um eine Ermöglichung von Debatte und transparente Information. Dabei interessieren wir uns auch für Praktiken der Repräsentation, Geschichtsschreibung, das Recht auf Teilhabe an Stadt und für Möglichkeiten des Intervenierens. Mit künstlerischen Mitteln suchen wir nach dritten Räumen und nach Momenten, in denen eine Planung nicht unbedingt aufgeht. Den gesamten Vorgang verstehen wir als künstlerische Arbeit, innerhalb der am Ende kontextbezogene Installationen (Filme, Fotos, Objekte, Texte, Hörstücke, Publikationen) bleiben, die an anderen Orten, etwa in Ausstellungen und Präsentationen, vom Ereignis berichten.“ (Kietzmann & Kübert 2014, FP: Z. 14-28)
Ihre künstlerische Arbeitsweise spiegelt somit die Veränderungen der Kunstpraxis wider, die sich in den letzten drei Jahrzehnten in Teilbereichen der Kunst vom künstlerischen Produkt hin zum temporären Prozess und zum Ereignis entwickelt hat. Darin wird verstärkt die gemeinsame Arbeitsweise, eine kontextbezogene künstlerische Arbeit und die künstlerische Recherche in den Vordergrund gerückt und die Haltung der Künstlerinnen zu den Prozessen gespiegelt (vgl. Kwon 2002: www.*). 6.4.3 Products – ‚Entwicklungsgebiet Rummelsburger Bucht‘ und ‚Die schöne Kunst des Wohnens‘ ‚ENTWICKLUNGSGEBIET RUMMELSBURGER BUCH‘ In dieser künstlerischen Position werden exemplarisch das künstlerische Vorgehen und die Arbeitsweisen von Kietzmann & Kübert aufgezeigt. Die Rummelsburger Bucht wurde 1992 vom Berliner Senat als Entwicklungsgebiet festgelegt (vgl. SenStadt 2007: www.*). Die Wasserstadt GmbH, treuhändischer Entwicklungsträger des Landes Berlin, wurde damit beauftragt, einen Masterplan für das Gebiet zu entwickeln mit dem Ziel, es zu privatisieren und einen geeigneten Investor zu finden (vgl. Kietzmann & Kübert 2011). Das Gelände lag nach Festlegung zum Entwicklungsgebiet 15 Jahre lang brach, bis auf Stellwänden ange-
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kündigt wurde, dass dort neue Wohnkomplexe gebaut werden sollen, die auf ein einkommensstarkes Publikum abzielen. Diese Ankündigung weckte das Interesse der beiden Künstlerinnen an dem Gebiet: „Was auch wichtig ist, dass wir in der Stadt, in der wir wohnen, Orte einfallen, die mich persönlich erstmal aufregen. Ich gehe relativ viel spazieren, ich liebe das, mindestens eine Stunde am Tag. Die Rummelsburger Bucht ist mir auch durch das Spazierengehen aufgefallen. Irgendwann kam die Frage: Ach, hier wird gebaut, was ist hier eigentlich los? Hier sind die ehemaligen denkmalgeschützten Arbeitshäuser. Hier sollen Eigentumswohnungen entstehen. Das war für mich ein Bruch, dass ein ehemaliges Gefängnis und Arbeitshaus, das für mich auch eine Form der Exklusivität und Abschottung beinhaltet, durch eine neue Form der Exklusivität abgelöst wird und zwar durch die Form des exklusiven Wohnens.“ (Kietzmann & Kübert 2014, TS: Z. 51-61)
Abb. 16: ‚Rummelsburger Bucht‘ – Vermutungen über Oberflächen
Quelle: Kietzmann & Kübert (2011), Mixed-Media-Installation/,After the butcher‘
Der Gebäudekomplex rund um das Arbeitshaus bestand aus mehreren denkmalgeschützten Gebäuden. Das Arbeitshaus war zunächst ein preußisches Arbeitshaus (1879-1933) und wurde in der NS-Zeit als Gebäude für Zwangsarbeiter genutzt (1933-1945), dann, nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR als Strafvollzugs- und Untersuchungshaftanstalt (vgl. Kietzmann & Kübert 2011). In einer künstlerischen Recherche näherten die beiden Künstlerinnen sich diesem Ort.
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Sie bestand aus Interviewsequenzen und dokumentarischen Fotos über das Areal. Es wurden insgesamt 20 Personen zu dem Gebiet befragt und somit in das Kunstprojekt eingebunden. Darunter fielen Bezirkspolitiker, Zeitzeugen aus der DDR, der Investor, Planer und Gestalter, Bewohner und Aktivisten etc., die verschiedene Interessen verfolgten und unterschiedliche Perspektiven auf das Areal nahmen. Durch die Recherche wurde den beiden Künstlerinnen schnell klar, dass alle diese Personen nicht in direkter Kommunikation miteinander standen. Ein von der Bezirksseite aus angekündigter Runder Tisch Ende 2011, der Inhalte zur historischen Aufarbeitung und die von einigen Bürgern eingeforderte Schaffung eines würdigen Gedenkens aufgreifen sollte, fand nie statt (vgl. Kietzmann & Kübert 2011: 4). Auf diesen Missstand reagierten die Künstlerinnen, indem sie die Interviewpartner eine Stunde vor Eröffnung der Ausstellung zu einem symbolischen Runden Tisch einluden. Dieser Runde Tisch war als Soundinstallation angelegt, die aus 20 Hörstationen bestand. Bei jeder Hörstation könnte man sich ein Interview eines Akteurs in voller Länge anhören. Durch diese Soundinstallation wurden die unterschiedlichen Perspektiven der Akteure symbolisch an einem ‚Runden Tisch‘ zusammengeführt (Kietzmann & Kübert 2014, TS: Z. 128ff) (vgl. Abb. 16). Dahinter stand das Interesse der Künstlerinnen, unterschiedliche Meinungen zuzulassen und einen basisdemokratischen Dialog darüber zu führen, wie Stadt gestaltet werden kann. Zudem zeigen die Interviews bzw. die Hörstücke implizit auf, wie Entscheidungen am Ort Rummelsburger Bucht gegenwärtig gefällt werden, welche Interessen in der Auseinandersetzung erfolgreich waren und welche sich innerhalb des Aushandlungsprozesses nicht durchsetzen konnten. Der symbolische Runde Tisch (vgl. Abb. 16) bot somit die Gelegenheit, allen Perspektiven auf das Gebiet und Interessen an dem Gebiet eine Stimme zu verleihen. Im Laufe der künstlerischen Recherche stellte sich heraus, dass der Geschichte der NS-Zeit kaum Raum geboten wurde, was bedeutete, dass durch die Umsetzung des Bauvorhabens eine aktive Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit außer Kraft gesetzt würde. Die Künstlerinnen konnten sich in diesem Umfeld aufgrund ihrer Rolle relativ autonom bewegen und bekamen Zugang zu unterschiedlichen Akteuren und Interessensvertretern, u.a. auch zum Investor. Sie erhielten Informationen, die sonst vor allem für Journalisten, Initiativen und besorgte Bewohner schwer zugänglich waren und konnten somit einen Beitrag zur Transparenz leisten. Sie betonen ihre Autonomie als Künstlerinnen auch dadurch, dass für sie am Ende der Arbeit kein endgültiges und nachweisbares Resultat stehen muss (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, TS: Z. 152-156):
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„Wir sind keine Historikerinnen und keine Journalisten. Wir hatten als Künstlerinnen weniger den Anspruch, in diesem Projekt eine lineare Geschichte zu erzählen, noch die Geschichte in ihrer Gänze und Komplexität aufarbeiten und darstellen zu können. Diese Arbeit soll vielmehr einen prozessual angelegten Raum aufmachen, in dem Positionen und Wissen, Unsichtbarkeiten und Nichtwissen mit Unklarheiten und Leerstellen gebündelt werden, um mit künstlerischen Mitteln Fragen zu den Bedingungen einer ästhetischen und sozialen Gestaltung dieses städtischen Ortes aufzuwerfen, die im Zeitalter des Standortwettbewerbs und des Werbens um Verdienende aus der Kreativindustrie, Wissenschaft und Forschung seine Attraktivität betonen.“ (Kietzmann & Kübert 2011: 10)
Dadurch konnten die Künstlerinnen unter die semiotische Oberfläche des Areals dringen und aufzeigen, was ein Ort alles sein kann. Darüber hinaus fragen sich die Künstlerinnen, wie Wahrnehmung und Bewertung des Gebiets konstruiert werden und wie die Geschichte, die sich in diesem Gebiet verbirgt, nach außen vermittelt wird. Den Künstlerinnen geht es darum, bauliche Entscheidungen und ökonomische Interessen in der Wechselwirkung mit den vorgefundenen sozialen, historischen und ästhetischen Räumen abzugleichen (vgl. Kietzmann & Kübert 2011: 4). Nach Aussagen der Künstlerinnen werden durch die Entscheidung für exklusives Bauen andere Entwicklungspotenziale des Ortes negiert. Durch Privatisierung öffentlicher Flächen werden irreversible Entscheidungen getroffen, die weitere Möglichkeiten und Potenziale in einem gemeinwohlorientierten Sinn die Entwicklungen des Ortes außer Kraft setzen (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, TS: Z. 90ff). PROCESS – PRODUCTS – KARTIERUNG
UND
TEXTCOLLAGE: ‚DIE
SCHÖNE
KUNST
DES WOHNENS‘
In der zweiten künstlerischen Position beziehen sich die Künstlerinnen auf bereits umgesetzte Bauvorhaben und bestehende Architekturen exklusiveren Wohnens. Dabei kartieren sie die Zunahme des Baus von Luxuswohnungen und wollen die quantitativen und qualitativen Auswirkungen der Aufwertungsprozesse des Gebietes rund um den Volkspark am Weinbergsweg in Berlin-Mitte darstellen (vgl. Abb. 17). Sie entwickeln Fragestellungen zu dieser Thematik, die zum Bestandteil ihres künstlerischen Prozesses werden. „Wir fragen uns, mit welchem Versprechen genau aktuell Werbung gemacht wird. Welches Bild der Stadt wird aufgegriffen, inszeniert, und inwieweit manifestiert sich dieses schließlich? Was erzählt diese neuartige Qualität der Architektur über urbane Segregation und die Sehnsucht nach Teilhabe an Prozessen der Stadt? Welche ästhetischen und sozialen Auswirkungen hat die neue Wohnarchitektur auf das Gebiet und dessen Bewohner?
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Welche Rolle spielen Kunst und Kultur bei der Bildung von Wertsteigerungen? Müssen wir das ernst nehmen?“ (Kietzmann & Kübert 2013)
In dieser Arbeit integrieren die Künstlerinnen die funktionalen Zuschreibungen der Stadtpolitik, in denen den Künstlerinnen, der Kunst und einer alternativen Kultur innerhalb des Aufwertungsprozesses eine zentrale Rolle zugewiesen wird. Künstler und Kunst sollen zur Wertsteigerung der Flächen beitragen, indem sie eine Grundlage eines kreativen Flairs bilden. Vor allem können seitens der Stadtpolitik initiierte künstlerische Zwischennutzungskonzepte auf Brachflächen als weiteres Zugpferd von Wertsteigerungsprozessen gesehen werden, die sich in der wachsenden Nachfrage und dem zunehmenden Interesse in der Anlage von Kapital äußern. Diese Wertsteigerungen von innerstädtischen Flächen gehen nach Aussagen der Künstlerinnen meist mit einem Versprechen der Stadtpolitik oder privater Investoren an einen kreativen Lifestyle einher und knüpfen an eine Diskussion um urbane Lebensstile an, die auch in der Geographie stattfand (vgl. Krätke 2002). Exklusives Wohnen wird immer mit einem bestimmten Lifestyle verbunden, der sich auch in den Werbeauftritten der einzelnen Wohnquartiere widerspiegelt. In Werbebroschüren und Werbetexten über Atelierhäuser, Townhouses oder Urban Villages wird durch den Kauf in der entsprechenden Lage eine Teilhabe an diesem kreativen Lebensgefühl suggeriert. Solche vorgefundenen Werbetexte und die dahinter stehenden Imagekampagnen bilden den Ausgangspunkt der weiteren künstlerischen Arbeit der beiden Künstlerinnen: „Was wird über einen Stadtteil ausgesagt, um vielleicht neue potenzielle Bewohner anzulocken? Wir waren ganz viel auf diversesten Webseiten und haben die Werbeslogans gesammelt. Gerade in Berlin-Mitte ist uns aufgefallen, dass die alternative und künstlerisch experimentelle Szene von Mitte ein großes Werbebild ist und Begehren schüren sollte. Wir haben explizit in dieser Arbeit als Künstlerinnen auch selbst agiert. Einmal als Künstlerinnen, die selbst diesen Ort verursacht haben, und gleichzeitig nicht mehr hier wohnen können. Wir haben uns dann dafür interessiert, was eigentlich passiert, wenn wir uns als Künstlerinnen weiter an andere Orte verdrängen lassen und gefragt, was eigentlich passiert, wenn wir bleiben und innerhalb des Neuen versuchen, uns künstlerisch zu betätigen. Das natürlich auch mit einem leichten Augenzwinkern. Was finden wir an diesen Orten, was können wir damit anstellen? Was passiert denn da?“ (Kietzmann & Kübert 2014, GS: Z. 554-564)
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Abb. 17: Karte der Neubauprojekte im Bereich Weinbergsweg
Quelle: Kietzmann & Kübert (2013)
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Die Künstlerinnen experimentierten zunächst mit Zitaten aus der Presse, von Werbeauftritten der Wohnquartiere aus Mitte – Marthashof, Choriner Höfe, Premium Lofts etc. – sowie Publikationen von der Webseite des Bezirks Mitte und kreierten in einer Neuzusammensetzung von Zitaten eine Textcollage ‚Ich mag es spannend‘ (vgl. Abb. 18 und Abb. 20; vgl. Kietzmann & Kübert 2013). In dieser Textcollage erschufen die Künstlerinnen eine fiktive Person, die mit großer Informationsdichte über das Gebiet und über die Qualität des Wohnens berichtet. So spielen die Künstlerinnen mit den Versprechen, mit denen die neuen Orte beworben wurden, mit dem Mythos des kreativen Lifestyles und der Konstruktion und Dekonstruktion von Orten. Abb. 18: ‚Ich mag es spannend‘ – Textcollage, Teil I
Quelle:Kietzmann & Kübert (2013)
Die bereits umgewandelten privatisierten Brachflächen bezeichnen die Künstlerinnen im Kontrast zu ‚leerstehenden‘ öffentlichen Brachen als LifestyleBrachen, weil diese laut der Künstlerinnen nichts mehr mit einem authentischen Leben in der Stadt zu tun hätten, das Konzept des Lifestyles eine Hülle wäre und
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lediglich eine weitere Leere darstelle. Die Urban Villages seien hermetisch von dem restlichen Leben im Kiez abgeschottet und suggerierten eine materielle Abgeschlossenheit (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, GD: Z. 566f). Daher haben sich die Künstlerinnen gefragt, was diese Form des Wohnens so attraktiv macht. Trotz der Abgeschlossenheit des Areals bieten große Glasfassaden Einblicke in das Leben einer Abgeschlossenheit. In diesem Zusammenhang betonen Kietzmann & Kübert, dass es nicht darum geht, die Menschen, die dort wohnen, zu diskreditieren. Vielmehr gehe es darum, die Mechanismen, die sich um ein solches Urban Village Bauprojekt gruppieren, aufzudecken und zu hinterfragen. Daher untersuchen sie, was die Architektur über Segregation erzählt. Davon ausgehend, dass ihnen als Künstler eine Aufwerterrolle zugeschrieben wird, wollen sie ebenso ihre ambivalente Rolle als Künstlerinnen in der unternehmerischen Stadtlogik thematisieren. Durch ihre Präsenz vor Ort und mittels künstlerischer Interventionen wollen sie sich diesen Ort wieder neu aneignen und in ihrem Sinn symbolisch aufwerten. Als Raumpioniere dringen sie damit erneut in den entstandenen privaten Raum ein und untersuchen ihn künstlerisch, indem sie zu der vorgefundenen Architektur körperliche Bezüge herstellen (vgl. Abb. 19), die wortwörtlich ihre Haltung gegenüber den Wohnkomplexen zeigen: ihr Motto subsumiert sich unter ‚Lifestyle-Flächen aufwerten‘‚ (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, GD: Z. 575f). Hinter dieser Haltung verbergen sich die Fragen, die sich die Künstlerinnen bezüglich dieser neuen Aufwertungsstrategie stellen. Wer hat letztendlich die Deutungshoheiten über ein Gebiet? Und kann Architektur nur die Aufgabe erfüllen, zwischen öffentlichem und privatem Raum zu trennen? Dürfen den Politikern und Immobilienhändlern, die in der Wachstumslogik agieren, diese Deutungshoheiten überlassen werden? Diesbezüglich schreibt Berkes (2013) in Bezugnahme auf die künstlerische Arbeit von Kietzmann & Kübert, dass die beiden Künstlerinnen aber letztendlich auf die Fragen, die sie sich selbst stellen, keine abschließenden Antworten geben können. Vielmehr entstehen neue Fragen, die sich an die alten Fragen anschließen, die wiederum in den neuen künstlerischen Prozess einfließen und aufzeigen, dass ihre Wirkungsmächtigkeit als Künstlerinnen in diesem Bereich aufhört. PROCESS – PRODUCT – AUDIO-GUIDE: ‚DIE SCHÖNE KUNST DES WOHNENS‘ Im Rahmen der Gruppenausstellung L‘espace de l‘espèce: X in der Kunstfabrik HB55 (2014) in Berlin-Lichtenberg entwickelten Kietzmann & Kübert ihre künstlerische Position ‚Die Schöne Kunst des Wohnens‘ (2013), die sich zunächst auf den Transformationsprozess in Berlin-Mitte bezog, weiter und dehnten ihre künstlerische Recherche zur Imageproduktion von Berlin-Mitte, die in der Textcollage ‚Ich mag es spannend‘ (vgl. Abb. 18 & Abb. 20) verarbeitet
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wurde, auf die mediale Repräsentation an den an Berlin-Mitte angrenzenden Bezirk Lichtenberg aus. Sie fragten sich, wie Lichtenberg mittlerweile in der Öffentlichkeit, in Medien und in der Presse rezipiert wird und wie sich die medialen Aussagen zwischen dem Bezirk Mitte und Lichtenberg unterscheiden. Dazu haben sie wiederum unterschiedliche Aussagen aus der Presse und anderen Medien zum Bezirk Lichtenberg gesammelt und in eine Textcollage umgewandelt. Im Rahmen des Ausstellungsprogramms boten die Künstlerinnen der Öffentlichkeit einen Audiospaziergang mit dem Titel ‚Ich mag es spannend‘ an. Dieser führte mit der Tram durch die Bezirke Mitte und Lichtenberg (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, GD: Z. 631f). Während der Tramfahrt hörten die Teilnehmer in einem Hörstück in dem jeweiligen Gebiet die entsprechenden Textcollagen – ohne zu wissen, dass es sich um solche handelt. Zunächst wirkte das Hörstück so, als würde eine männliche Person in monotoner Stimmlage aus der Ich-Perspektive von seinem Umfeld Bezirk-Mitte erzählen. Ab der Grenze von Berlin-Mitte zu Lichtenberg begann eine weibliche Stimme, über ihr Umfeld und die vermeintlichen Potenziale von Lichtenberg zu sprechen. So wurde den Zuhörern aus einer Ich-Perspektive, die gleichzeitig computertechnisch verfremdet war, ein Bild der Bezirke suggeriert, das sich erst nach dem Audiospaziergang dekonstruierte. Nachdem die Künstlerinnen die Entstehungsweise des Audiostücks erklärt hatten, konnten sich die Teilnehmer der Audiotour einen Eindruck darüber verschaffen, wie die Orte in ihrem derzeitigen Entwicklungsstatus medial und kommerziell verhandelt und konstruiert werden. Außerdem konnten sie reflektieren, wie es wirken würde, wenn diese Aussagen über Lichtenberg als selbstverständliches Bild eines Bezirkes gelten würden. Die Künstlerinnen betonen durch diese Audiotour, dass die alternative und künstlerische Szene im Bezirk Mitte nicht nur immer noch als Aushängeschild und Werbepotenzial gilt, sondern auch weiterhin in die Imageproduktion von Orten einfließt, obwohl es sich dabei bereits um einen Mythos handelt, weil die künstlerische Szene aufgrund fehlender Freiräume und der gestiegenen Mieten bereits in die umliegenden Bezirke verdrängt wurde. In Lichtenberg hingegen wird nach Aussagen der Künstlerinnen noch medial ein Begehren an einen authentischen Ort geschürt. Dieses Bild wird in Lichtenberg vorwiegend von der Presse und den Politikern vor Ort bestimmt (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, GD: Z. 644f). In den gesammelten Aussagen der Künstlerinnen wird Lichtenberg bereits als neues Kreuzberg oder Prenzlauer Berg dargestellt. So würde eine kommerzielle Aufwertung suggeriert, die für Lichtenberg in dieser unternehmerischen Stadtlogik bedeutet, demnächst Berlin-Mitte zu folgen.
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Abb. 19: Ohne Titel, Fotoserie: ‚Diverse Wohnquartiere in Berlin-Mitte
Quelle: Kietzmann & Kübert (2013)
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Abb. 20: ‚Ich mag es spannend‘ – Textcollage, Teil 2
Quelle: Kietzmann & Kübert (2013)
PRODUCT – INSTALLATION: BROKEN WINDOWS Die beiden Künstlerinnen entwickelten in der Ausstellung eine Installation, die sich auf die Beobachtungen und Recherchen zu den jeweiligen Bezirken Mitte und Lichtenberg bezog. In Mitte konnten sie während ihrer Besuche in den Urban Villages Spuren von Farbbeutelwürfen an den Hausfassaden feststellen und Versuche erkennen, Panzerglas einzuwerfen. Diese Spuren sind als Protest gegen die Aufwertung zu deuten. Gleichzeitig konnten sie eingeworfene Scheiben im Bezirk Lichtenberg auf leerstehenden Industriebrachen beobachten. Die Zerstörung der Fenster in den jeweiligen Gebieten war der Anlass, sich mit der BrokenWindows-Theorie auseinanderzusetzen und der Frage nachzugehen, wie sauber ein Stadtteil überhaupt sein muss, damit er noch rentabel für Investitionen ist (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, GD: Z. 635). Dabei reflektierten die Künstlerinnen, wie dieses Konzept mittlerweile symbolisch in den Medien, in der Politik, aber auch von Investoren aufgegriffen wird. Die Broken-Windows-Theorie gilt vorwiegend in der wissenschaftlichen Debatte als eine umstrittene Erklärung, wie ein Stadtgebiet durch den ersten Einschlag von Fenstern von einer weiteren Zerstörungswelle und langfristig von einem Verfall des Gebietes bedroht sein könnte. Vertreter der Broken-WindowsTheorie begründen, dass Stadtviertel, in denen öffentlich sichtbare Spuren räumlicher Vernachlässigung auftauchen, kriminogen wirken und als Anzeichen fehlender sozialer Kontrolle zu deuten sind, die wiederum weiteres kriminelles und
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normabweichendes Verhalten nach sich zieht (vgl. Glasze et al. 2005; Wilson & Kelling 1982). Diese Spuren von Vernachlässigung als Erklärung und Initiierung gesellschaftlich sozialer Phänomene werden nach Belina (2011b) von Vertretern der Politik gezielt genutzt, um sicherheitspolitische Maßnahmen zu legitimieren. Abb. 21: ‚Broken Windows‘
Quelle: Kietzmann. & Kübert (2014): Ausstellungsansicht der Installation, Kunstfabrik HB55, Berlin
In ihrer Installation innerhalb der Gruppenausstellung L‘espace de l‘espèce: X in der Kunstfabrik HB55 wurde eine eingeschlagene Fensterscheibe aus einem leerstehenden DDR-Kulturzentrum aus dem Bezirk Lichtenberg – der bereits als neues kreatives Kulturzentrum gehandelt wird – einem durch Aktivisten beschädigten Panzerglas aus einem der Urban Villages aus dem Bezirk Mitte gegenübergestellt (vgl. Abb. 21). Dazu wurden zwei Indexbilder ausgestellt, die die Ursprungsgebäude der Fenster abbildeten. Daneben wurden zwei Zeitungsausschnitte gezeigt, die sich mit Aussagen in der Presse über den Ort auseinandersetzen: So hieß es in einem der beiden Zeitungsausschnitte zu dem eingeworfenen Panzerglas des Urban Village: „Auch bei den Choriner Höfen ging der Plan der Randalierer nicht auf, wir haben momentan sogar eher mehr Anfragen für die Wohnungen […] vielleicht auch, weil wir so viel Aufmerksamkeit bekommen haben.“ (Kietzmann & Kübert 2014, GD: Z. 649-651)
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Durch die Gegenüberstellung der beiden zerstörten Fenster mit ihren künstlerischen Überlegungen geben Kietzmann & Kübert den aus der Wissenschaft stammenden Diskussionen über die kriminalsoziologische Bedeutung von Spuren im öffentlichen Raum eine neue Interpretationsmöglichkeit. Danach sehen die Künstlerinnen, dass die Broken-Windows-Theorie mittlerweile in eine Strategie überführt werden könnte, um einen authentischen Ort zu schaffen. Sie erkennen in der impliziten Verwendung des Konzepts mittlerweile eine weitere Möglichkeit, den Wert des Gebietes zu steigern (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, GD, Z. 656ff). Die These, dass eingeschlagene Fenster eine Abschreckung für Investoren oder potenzielle Neubewohner sein könnten, konnten sie in ihrer künstlerischen Recherche nicht bestätigen. Aus dieser Perspektive werden die Spuren von zerstörten Fenstern nicht mehr als potenzielle Stigmatisierung eines Ortes gesehen, sondern im Gegenteil: Das Einwerfen der beiden Fenster wird nach der Interpretation der Künstlerinnen in den kommerziellen Prozess überführt. 6.4.4 Zusammenfassung In den künstlerischen Positionen von Kübert & Kietzmann wird die Brache zur Metapher für den gesellschaftlichen Wandel. Die Brache erzählt einerseits von unterschiedlichen historischen Brüchen und Funktionen. Andererseits wird sie in den vorherrschenden Stadtentwicklungsprozessen zu einer neuen Sollbruchstelle, um die sich unterschiedliche Bedeutungsebenen spinnen. Sie stellt eine zeitliche Vermittlerfunktion zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dar. Diese unterschiedlichen Ebenen greifen die Künstlerinnen auf und verweben sie in eine Assemblage, indem sie unterschiedliche Materialien zusammenführen und neu anordnen. Dadurch eröffnen sich neue Gestaltungs- und Interpretationsraum. Die beiden Künstlerinnen zeigen, welche Deutungshoheiten und Kräfteverhältnisse auf ein solches Gebiet einwirken. Sie machen diese durch ihre künstlerischen Interventionen sichtbar und stellen durch ihre künstlerische Praxis Möglichkeiten dar, wie Handlungsoptionen und Gestaltungsspielräume im Umgang mit Brachflächen aussehen könnten. Aber sie zeigen auch Grenzen auf, die sich durch die Privatisierung und Verwirklichung der Bauvorhaben ergeben haben. Die Privatisierung öffentlicher Ressourcen und die einhergehende bauliche Verdichtung der Stadt zu Ungunsten leerer Brachen verhindert eine potenzielle Neugestaltung und eine weitere Möglichkeit einer öffentlichen Verhandlung, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen innerhalb der Stadtgesellschaft ausgerichtet ist. Die nach außen erscheinende Leere einer Brachfläche wird laut den Künstlerinnen mit einer neuen gesellschaftlichen Bedeutungsleere besetzt. Der ökonomische Aufwertungsprozess folgt nur einer Logik, in die die Künstlerin-
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nen durch ihre Imageproduktion integriert werden. In ihrem symbolischen Akt der Umwidmung und ihrer Definition von Aufwertung von privatisierten Lifestyle-Brachen weisen sie auf die Irreversibilität politischer Entscheidungen hin. Die Stadt entscheidet nach kommerziellen Gründen, aber Stadt als gemeinsamer gesellschaftlicher Lebensraum wird negiert. In diesem Sinn wird gezeigt, dass der Umgang mit der Leere eines Raums nicht nur als technische, städtebauliche und ökonomische Herausforderung gesehen werden kann, sondern als eine Aufgabe, die gesamtgesellschaftliche Dimensionen und Entwicklungsprozesse beinhaltet. Die Künstlerinnen weisen in ihrer Kunst darauf hin, dass der öffentliche Ort als konstitutives Moment der Stadt und konstitutives Merkmal von Urbanität im Verschwinden begriffen ist – und somit auch andere Möglichkeiten und Handlungsoptionen außerhalb der ökonomischen Logik. So kann die Brache in diesem Zusammenhang als Ausdruck gegensätzlicher urbaner Entwicklungsmuster und einer Dichotomie zwischen Realität und Möglichkeit, monotoner Gestaltung vs. Sammelstelle verschiedener Ideen, die nicht einem Verwertungsdruck unterliegt, verstanden werden. Symbolisch stellt die Brache einen Übungsraum im Umgang mit gesellschaftlicher Unvorhersehbarkeit dar, der auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren könnte. Sie symbolisiert sowohl Entschleunigung als auch Entwicklungsdruck. Es geht den Künstlerinnen darum zu zeigen, dass die kommerziell produzierte Lifestyle-Urbanität durch demokratische Aushandlungsprozesse für eine Gestaltung des Öffentlichen ersetzbar ist, indem das Miteinander der Stadtgesellschaft gefördert und segregierenden Kräften in urbanen Prozessen entgegengewirkt wird. Die jetzige Stadtplanung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu sehr vorbestimmt und lässt weder Unvorhersehbarkeit noch wirkliche Veränderungsprozesse zu Gunsten der Mehrheit der Bevölkerung zu. Ihre künstlerische Arbeitsweise und ihre Fragestellungen können als Reaktion auf einen bestehenden Mangel in der städtischen Gesellschaft gesehen werden. Dennoch betonen die Künstlerinnen, dass es ihnen nicht darum geht, Visionen in einer fernen Zukunft zu denken, sondern die Brüche, die Stadtgesellschaft derzeit zu bieten hat, im Moment ihres Entstehens aufzunehmen. Die Künstlerinnen betonen zudem, dass sie immer eine Analyse des Ist-Zustandes vornehmen. Sie üben in ihrer künstlerischen prozessorientierten Praxis eine Gesellschaftskritik aus, die sich im klassischen Kunstbetrieb nicht monetarisieren lassen würde. Daher geht es ihnen weder um ein endgültiges künstlerisches Produkt, noch in Bezug auf die vorliegende Fragestellung um konkrete Lösungsangebote für die Probleme oder um konkrete zukünftige Visionen. Hingegen werfen sie in ihrem prozesshaften Arbeiten neue Fragestellungen auf, verknüpfen
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theoretische Denkweisen, um stadtgesellschaftliche Diskussionen anzustoßen und eine Transparenz in die derzeitige städtische Dynamik zu bringen (vgl. Kietzmann & Kübert 2014, GD: Z. 1541f). Sie werfen durch ihre künstlerische Praxis immer neue Fragen auf, aus denen sie ihr künstlerisches Handeln ableiten. Gute Fragen an eine urbane Gesellschaft zu richten und sie immer wieder weiter zu entwickeln, bedeutet, Deutungshoheiten neu zu reflektieren und Möglichkeiten auszuloten, welchen Spielraum es tatsächlich gibt, in die derzeitigen Stadtprozesse einzuwirken, und wie ein Handeln diesbezüglich aussehen könnte.
6.5 T AMARA R ETTENMUND : D AS S PIEL MIT DER F LÜCHTIGKEIT 6.5.1 Person Tamara Rettenmund wurde 1972 in Bern geboren. Seit 2004 wohnt die Künstlerin in Berlin-Neukölln. Sie studierte von 1997 bis 1998 Tanz und Participatory Arts in Oakland und San Francisco. Danach folgte von 1998 bis 2003 ein ‚Mime Studium‘ der Hochschule für Kunst in Amsterdam, an der sie mit einem Bachelor als Theatermacher/Mimeperformer abschloss. In dieser Zeit publizierte sie auch das Bilderbuch ‚Little Old Big Beard‘. Von 2010-2014 studierte sie in Berlin an der Kunsthochschule Weißensee den Masterstudiengang ‚Raumstrategien‘. Seit 1998 hat sie die Konzeption und Inszenierung von Theaterstücken und theatralen Interventionen, Filme sowie Klanginstallationen in Amsterdam, Bern, San Francisco und Berlin verwirklicht. Sie arbeitet als Performancekünstlerin, Schauspielerin und hatte Lehraufträge am Bewegungstheater ‚Mime und Chi Kung am Europäischen Theaterinstitut‘. Im Folgenden werden drei künstlerische Positionen von Rettenmund vorgestellt, die anhand des Essays ausgesucht wurden, da sie besonders Rettenmunds Zugänge zur Stadt und ihre Rolle als Künstlerin in urbanen Prozessen reflektieren. An diesen Beispielen können auch ihre raumkonzeptionellen Vorstellungen und ihre künstlerischen Stilmittel nachvollzogen werden. Diese künstlerischen Positionen und ihr methodisches Vorgehen bieten darüber hinaus Anknüpfungspunkte zu stadtpolitischen und gesellschaftstheoretischen Themenstellungen sowie Schnittmengen mit kunstwissenschaftlichen und geographischen Ansätzen. Zur Auswertung der künstlerischen Positionen lag folgendes schriftliches Material vor: (1) Ein Feldprotokoll (FP), das ihr selbst formuliertes künstlerisches Selbstverständnis, den E-Mail-Austausch über mögliche künstlerische Ideen und Nachfragen enthielt, wie auch Auszüge aus ihrer Masterarbeit, die ihre künstleri-
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schen Arbeiten theoretisch reflektieren und einen Bezug zum Essay herstellen sollten. Des Weiteren liegen (2) das Transkript der Gruppendiskussion (GD), (3) das Transkript des reflexiv-explorativen Interviews (TS), (4) ein Portfolio von Rettenmund, das einen Kurzüberblick über ihre künstlerischen Projekte (2013) gibt, sowie (5) Fotografien für die künstlerische Position vor.
6.5.2 Products – ‚Das Leben geht weiter‘ – ‚Engelfallen‘ – ‚Bei Karstadt wohnen‘ Die Künstlerposition ‚Das Leben geht weiter‘ von 2009 war eine ihrer ersten Performances im öffentlichen urbanen Raum, nachdem Rettenmund sich entschieden hatte, das Theater zu verlassen. Sie nahm damals die Krise und den Börsencrash 2009 als thematischen Anlass, sich verkleidet als gut verdienende Frau – mit Pelzmantel, Handschuhen, langen Wimpern und Ringen an den Fingern – vor ein öffentliches Publikum zu begeben. Abb. 22: ‚Das Leben geht weiter‘ I
Quelle: Hensel (2009)
Auf dem Boden kriechend schrieb die Künstlerin entlang des Kurfürstendamms – eine der längsten und bekanntesten Einkaufsstraßen Berlins – über Stunden hinweg mit Kreide: „Das Leben geht weiter“ (vgl. Abb. 22):
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„Ein beweglicher, tierähnlicher Stolperstein, der sich stetig fortbewegt, weiße Kreidespur hinter sich zurück lassend. Oder auch schöne Damen, in Strumpf, Pelzmantel, mit hohen Hacken, schwarzen Handschuhen, am Boden, schreibend ohne Unterlass.“ (Rettenmund 2013: 8)
In ihrer Performance fokussiert sie unterschiedliche Ebenen, die auf die Flüchtigkeit und Temporalität hindeuten. Diese beiden Sujets manifestieren sich auch in der Frage, was denn letztendlich übrig bleibt, wenn alles flüchtig ist. Auf das künstlerische Stilmittel der Performance bezogen, hinterlässt sie temporäre Spuren, die zunächst in den Stadtraum eingeschrieben sind, jedoch beim nächsten Regen wieder weggewaschen werden. Das geschriebene Wort auf der Straße verweilt jedoch länger als die einzelnen performativen Situationen, die die Künstlerin in ihrer Fortbewegung schafft: Durch ihre körperliche Anwesenheit werden jedes Mal neue temporäre Situationen, neue Räume und Bilder beim Publikum erzeugt, indem sie immer wieder den Satz schreibt: „Das Leben geht weiter“: „Die hinterbliebene Spur teilt die Fußgänger auf dem Kudamm in Links- und Rechtsgänger. Niemand will das Leben mit Füssen treten, wollen Linksgänger nach rechts wechseln, dann nur mit einem großen Schritt über die Kreidespur hinweg. Auch die Rechtsgänger, die nach links müssen, verfahren so.“ (Rettenmund 2013: 27)
Die Flüchtigkeit findet sich auch auf inhaltlicher Ebene der Performance wieder. Dahinter steht der Entwurf einer überspitzt dargestellten Situation der ‚Krise‘. In dieser Inszenierung schlüpft die Künstlerin in die Rolle einer reichen Frau, die aufgrund der Krise alles Materielle verloren hat. Was bleibt von einer Krise übrig? Woran hält sich die Frau fest? Lässt sich in diesem Zusammenhang fragen: Was passiert, wenn sich die materielle Schale verflüchtigt hat? Was bleibt letztendlich übrig? (vgl. Rettenmund 2014, TS: Z. 1372ff). Sind es vielleicht Bilder der Erinnerung an eine bessere Zeit? Das, was gerade im Moment zählt und was noch vorhanden ist, ist das Leben selbst, das genauso den Moment der Flüchtigkeit und des Vergänglichen in sich trägt wie die Krise auf der Ebene der Gesellschaftskritik. Die Künstlerin brachte dieses Bild auf die Straße in den öffentlichen Raum, das unmittelbare Reaktionen bei den Passanten hervorrief. Ihr Ziel ist es, die Reaktionen der Menschen aufzufangen, die sich durch neue RaumZeit-Konstellationen im urbanen Stadtraum ergeben. Ihr geht es nicht darum, fertige Lösungen anzubieten, sondern Denkanstöße zu liefern.
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„Es ist mir brennend wichtig, Dinge nicht einfach hinzunehmen, nur weil sie ‚nun mal so sind‘. Gängige Wahrnehmungslogiken müssen dringend hinterfragt werden. Indem Alltägliches ein kleines Stück verrückt wird, soll der Stadtbewohner einen flüchtigen Augenblick lang aufmerken. Kunst soll nicht Konsum, also gemütliches Zurücklehnen im gut gepolsterten Sessel bedeuten. Kunst soll keine pfannenfertigen Lösungen anbieten, son-
dern zum Nachdenken verführen.“ (Rettenmund 2014, FP: Z. 29-34)
Rettenmund möchte Irritationen im Alltag hervorrufen, welche die Wahrnehmungsweisen der Leute beeinflussen können, sodass Wahrnehmungsmuster hinterfragt werden. Sie bietet unterschiedliche Bruchstücke an, zu denen die Menschen selbst eine Geschichte und ein Bild entwerfen können. Rettenmund spricht die unterschiedlichen Situationen und Reaktionen an, die sie durch ihre Performance bei den Menschen beobachtet und selbst wahrnimmt (vgl. Abb. 23).
Abb. 23: ‚Das Leben geht weiter‘ II
Quelle: Hensel (2009) „Und ich habe eigentlich nur eine Sache geschrieben, und das war ‚Das Leben geht weiter‘. Die Polizei hat gefragt, was das hier soll, ob es politisch ist … und ich hab gar nichts gesagt. Es gab so ganz verschiedene Menschen, die da mitgegangen sind und mein Tun der Polizei erklärt haben. Jemand hat gesagt, ja das ist wegen den Pelzen gegen die Fleischindustrie. Jemand hat gesagt, das ist Kunst. Dann hat die Polizei gesagt: Dann ist es ja gut. Ich wurde auch von so Jugendlichen beschützt, die dann irgendwie den Weg frei-
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gemacht haben, damit ich weiterschreiben konnte.“ (Rettenmund 2014, GD: Z. 13761382)
Rettenmund betont, dass sie in ihrer performativen Praxis Verschiebungen in der Wahrnehmung bewirken und Denklogiken aufbrechen möchte: „Wahrscheinlich bin ich im Geheimen doch so ein Missionar. Oder ich möchte gerne so Verschiebungen bewirken, damit die Leute irgendwie aufmerken. Damit die Leute auch, sei es auch nur einen Augenblick lang, in ihrer Alltäglichkeit bisschen einen Schubs kriegen oder ein bisschen ‚Äh, o.k?‘, ja, das war mir wichtig in dieser Arbeit. Das ist ja auch nicht verwertbar, und das kann man nicht verkaufen. Vielleicht ist das auch Spiel, aber es berührt ganz viele Leute irgendwie: Ein Mann hat sich dann noch total aufgeregt, als andere Leute gelacht haben und hat gemeint, ob sie denn kein Herz hätten, ob sie nicht sehen würden, dass ich sozusagen eine gefallene Frau sei oder … ja das ist auch das Tolle an Berlin, ja genau.“ (Rettenmund 2014, GD: Z. 1382-1390)
In dieser Aussage spricht Rettenmund die Ebene der Unmöglichkeit an, ihre Kunst verwertbar zu machen. Es geht ihr darum, eine Haltung zu übermitteln, Begegnungsräume zwischen fremden Menschen zu schaffen und eine Emotionalität bei den Menschen hervorzurufen. Dabei verweist sie in dem letzten Satz darauf, dass es trotz ihrer überspitzten Darstellung bzw. Inszenierung auch Raum für ernsthafte Empathie und Solidarität gibt, was sie als berlintypisch bezeichnet. ‚ENGELFALLEN‘ Das Projekt ‚Engelfallen‘ entstand im Rahmen des Masterstudiums ‚Raumstrategien‘ an der Kunsthochschule Berlin Weißensee im Jahr 2011. Ein halbes Jahr lang hat Rettenmund 2011 am Mehringplatz in Kreuzberg gearbeitet. Zu Beginn wurde der Hochschule ein Ladenlokal zur Verfügung gestellt, von dem aus Rettenmund und zwei weitere Künstlerinnen – Yianis Pappas und als Tänzerin Astrid Brandt – als Gruppe ihre Arbeit aufnehmen konnten. Ziel der Arbeit war, eine künstlerische Position zu entwerfen, die Bezüge zum bestehenden Raum und zu den Menschen vor Ort herstellt. Seit 1843 stand auf dem Mehringplatz, der damals Platz Belle Alliance hieß, eine 1800 Kilo schwere und 19 Meter hohe Säule, auf der die Siegesgöttin Victoria angebracht war. Aufgrund von Sanierungsarbeiten in dem darunter liegenden U-Bahn-Schacht und der Fragilität der rostigen Statue, wurde diese 2006 abmontiert (vgl. Spangenberg 2011: www.*). Das Verschwinden der Statue verursachte bei den Bewohnern Wut und Unbehagen. Die Statue war zu einer Identitätsfigur des Platzes geworden, die zwei
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Weltkriege unbeschadet überstanden hatte. Vor diesem Hintergrund entstand die künstlerische Position ‚Engelfallen‘: „Grundlage für ‚Engelfallen‘ war die reale Geschichte des ‚verschwundenen Engels‘, der ehemals mitten auf dem Platz als gutes Omen die Bewohner beschützte. In ‚Engelfallen‘ wird eine vorgefundene Metapher mit einer performativen Intervention verbunden. Am Mehringplatz herrscht laut der lokalen Behörde die höchste Kriminalitätsrate der Stadt. ‚Engelfallen‘ erinnert einerseits an den gefallenen Engel, aber auch daran, dass die Fallen überall lauern. Dementsprechend wurde die Intervention in einem baufälligen Parkhaus, auf einem verlassenen Kinderspielplatz und in einem kleinen Park, der als Treffpunkt der lokalen Drogenszene dient, zur Aufführung gebracht.“ (Rettenmund 2013: 16)
Die Idee der Künstler war, dass die Siegesgöttin ‚Victoria‘ den Bewohnern am Mehringplatz wieder zurückgebracht werden sollte (vgl. Rettenmund 2014, GD: Z. 1404ff). Vor ihrer Initiative gab es diverse Aktionen der Bewohner wie etwa Geldsammelaktionen, um den Engel wieder zurückzubekommen. Diese hatten jedoch bis zu diesem Zeitpunkt keinen Erfolg. Die erste Vorstellung der Künstler war zunächst, den Bewohnern den Engel auf Zeit in Form einer engelsgleichen Tänzerin zurückzugeben. Da aber diese Vorstellung von den Menschen vor Ort als paternalistischer Eingriff wahrgenommen werden könnte, haben sie ihre Idee modifiziert: „Das ist einfach arrogant und überheblich, um jetzt hier als Künstler, gut gebildet, und auch mit genug Geld, um eine Kunsthochschule zu besuchen … und jetzt komme ich her und gebe den Bewohnern für einige Augenblicke lang eine goldene, schöne, engelsgleiche Tänzerin. Und das hat sich dann so entwickelt zu einem sehr dreckigen und wütenden Engel, der innerhalb dieser besonderen Architekturen und Strukturen vom Mehringplatz immer wieder mal aufgetreten ist und aufgetaucht ist.“ (Rettenmund 2014, GD: Z. 1404ff)
Das hieß in der Folge, dass sie zwar mit der Tänzerin, verkleidet als Engel, gearbeitet haben, aber der ‚Engel‘ nur hin und wieder auftauchte. Sie haben sich für eine Intervention entschieden, die nur im Zwielicht stattfinden sollte, das heißt, dass sie nicht dauerpräsent war, sondern nur ab und an. Diese Form der Intervention hat nach Aussagen der Künstlerin auch den flüchtigen Charakter des Engels unterstrichen (vgl. Abb. 24): „Es konnte passieren, dass niemand davon Notiz nahm; manchmal aber manifestierte sich der Engel in der Wahrnehmung der zufällig Anwesenden für einen Moment ganz real, um dann um die nächste Hausecke zu verschwinden.“ (Rettenmund 2013: 16)
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Abb. 24: Performance von Rettenmund zur Ausstellung ‚Engelfallen‘
Quelle: Döring (2011)
In die performative Intervention haben sie somit die Geschichte des Ortes sowie die urbanen Elemente integriert. Die Architektur des Platzes, die vorhandene Beleuchtung, das Echo und die Menschen wurden „mit dem heraufbeschworenen Bild des Engels verbunden“ (Rettenmund 2013: 16).24 „Wir hatten zwei Wochen eine Ausstellung, und ich habe dann immer das Kleid ausgestellt in diesem Ladenlokal, immer, wenn die Tänzerin nicht unterwegs war, und zum Schluss hat es vor Dreck gestarrt. Der Engel hat diese Wut, diesen Zorn, der ja den Platz auch ausmacht, ausgedrückt. Er war wunderschön [...]. Da habe ich aber gemerkt, es ist so schwer, sich nicht instrumentalisieren zu lassen und eben zu verhindern, dass dann die Mieten steigen.“ (Rettenmund 2014, GD: Z. 1412-1418)
Während der Zeit am Mehringplatz hat sie nicht nur die aktuellen und präsenten Themen des Raums zum Gegenstand ihrer künstlerischen Auseinandersetzung gemacht und diese in ihre künstlerischen Arbeit integriert, sondern auch ihre
24 Das Wahrzeichen ‚Victoria‘ nahm seinen Platz als Identitätsfigur erst nach sieben Jahren Abwesenheit im April 2014 und in restauriertem Zustand auf dem Mehringplatz ein (vgl. Schlucker 2014: www.*).
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Rolle als Künstlerin in einem solchen Projekt reflektiert. Einerseits hat sie zahlreiche Menschen vor Ort kennengelernt, aber andererseits hat sie nach dem halben Jahr diesen Ort wieder verlassen. Da stellte sie sich die Frage, inwieweit sie als Künstlerin etwas für die Menschen vor Ort tun kann, auch vor dem Hintergrund, dass gerade Künstler in solchen Raumproduktionen immer wieder auch von der Stadtpolitik instrumentalisiert werden (vgl. Rettenmund 2014, FP: Z. 1726). Sie stellte sich auch die Frage auf theoretischer Ebene, wie sie ihre künstlerischen Mittel ausbauen kann, um der städtischen profitorientierten Verwertungslogik zu entkommen, stellte aber fest, dass diese theoretischen Ansätze zu weit entfernt sind von der Lebenswirklichkeit vieler Menschen: „Also ein Weg zu einer Kunst hin, die vielleicht nicht erzählt, sondern eher Bruchstücke gibt, die dann in jedem Einzelnen, der sie rezipiert, wieder gefüllt werden kann mit eigenen Hintergründen und mit eigenem Wissen. Aber vielleicht ist das alles viel zu intellektuell gedacht, so weit weg von den Kindern am Mehringplatz, ich weiß es nicht, aber ich glaube Flüchtigkeit und Spielen sind irgendwie gute Ansätze, weil sie sich nicht so leicht verkaufen lassen. Die Frage ist, von was lebe ich dann?“ (Rettenmund 2014, GD: Z. 14591465)
Mit dieser Aussage weist sie auf Dualitäten hin, die sich aufgrund ihres Zwiespalts zwischen Theorie und Praxis ergeben. Aber auch die Sujets der ‚Flüchtigkeit‘ und des ‚Spiels‘ wird in ‚Engelfallen‘ aufgenommen, die den Charakter des Engels, eines Zwischenwesen, widerspiegeln. Letzteres weist wiederum auf weitere Dualitäten hin: das Dazwischen-Sein als Künstlerin innerhalb ihrer Ideale und ihrer materiellen Zwänge sowie der zugeschriebenen Rolle von außen und der Rolle, die sie sich selbst geben möchte. In der folgenden künstlerischen Position nimmt Rettenmund Stellung zu der ambivalenten gesellschaftlichen Rolle als Künstlerin in Berlin. ‚BEI KARSTADT WOHNEN‘ Die künstlerische Position ‚Bei Karstadt wohnen‘ ist als weitere Arbeit im Rahmen eines interdisziplinär angelegten Projekts im Masterstudiengang ‚Raumstrategien‘ an der Kunsthochschule Berlin Weißensee 2011/12 in Berlin entstanden, und zwar in Kooperation mit dem ‚Department of Visual Communication Design‘ der Srishti School of Art in Bangalore/Indien (vgl. Raumstrategien 2012: www.*). Mit dem Titel ‚Gesetz des Marktes‘ sollten sich die Studierenden beider Universitäten nach Aussagen der Projektbeschreibung mit der Frage beschäftigen, inwieweit die ökonomische Wirklichkeit – die mit dem Ausdruck ‚Gesetze des Marktes‘ in Verbindung gebracht wird – mit künstlerischen Mitteln verän-
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dert, oder wie Einfluss genommen werden könnte. Dabei wurden Folgen der Globalisierung, die das städtische Umfeld und den Alltag der Menschen zunehmend verändern, in den Fokus des Projekts gerückt. Dazu sollten die Studierenden beider Universitäten eine lokale Ökonomie entweder in Berlin oder in Bangalore untersuchen, die sich in einer Transformation in Folge von Globalisierungsprozessen befindet. In Berlin diente die ‚Markthalle Neun‘ am Lausitzer Platz in Kreuzberg dem Projekt als Ausgangspunkt der künstlerischen Auseinandersetzung, während es in Bangalore eine Straße war, in der sowohl geduldete informelle Märkte als auch etablierte Händler nebeneinander existieren. Das Ziel des Projekts war, künstlerische Positionen und Stellungnahmen zu den jeweiligen Orten zu entwickeln, in denen eine Haltung als Gestalter und Künstler gegenüber Planern, Politikern und Standortvermarktern transportiert werden sollte. Laut Projektbeschreibung sollten durch die Künstlerpositionen ‚Bilder‘ übermittelt werden, die im Gegensatz zu den Vorstellungsbildern der Planer und Standortvermarkter die Bedürfnisse der Menschen vor Ort darstellen (vgl. Rettenmund 2014, FP: Z. 292ff). Rettenmund stellte den Vorgaben des Projekts eine Kritik entgegen, die ihre Einstellung gegenüber Orten dokumentiert, die sich in Umstrukturierungsprozessen befinden. Sie sah trotz der sozialen Ausrichtung der Ausgangsfragestellung die Gefahr, als Künstlerin mit ihrer Raumproduktion zu einer Aufwertung des Gebietes beizutragen. Sie hatte das Gefühl, dass dieses alternative Bild, das sie an ökonomisch beeinflussten Orten generieren könnte, eher einem Verdrängungsszenario alteingesessener Betriebe und Menschen in diesem Gebiet dienen würde, als dass es eine wirkliche Funktion oder Wirkungsmächtigkeit gegen den Aufwertungsprozess und die Planer erzielen könnte: „Das nächste Uniprojekt war dann auch wieder an einem Platz, wo irgendwie Kreativwirtschafter dafür sorgen sollten, dass der Kiez aufgewertet wird, und zwar am Lausitzer Platz, ich weiß nicht, ob ihr diese Markthalle dort kennt. Das war die Markthalle von den Einwohnern, da war KIK drin, da war ALDI drin, und unser Projekt hieß: ‚Das Gesetz des Marktes‘ und wir sollten dort eine künstlerische Position entwickeln […]. Ich habe gesagt, für mich ist „Das Gesetz des Marktes“ nicht in dieser Markthalle, wo jetzt ALDI raus soll und KIK raus soll, und dafür gibt es demnächst oder es gibt jetzt tatsächlich so ein Sonnenblumenkernbrot für fünf Euro. Und deswegen habe ich gesagt: Ich gehe zu Karstadt, das ist für mich auch ‚Gesetz des Marktes‘, und ich habe dann ein Projekt gemacht, das hieß ‚Bei Karstadt wohnen‘, und ich habe von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends bei Karstadt gewohnt und mich nicht vermarkten lassen, und ich glaube, man kann mir nicht den Vorwurf machen, dass ich zur Kreativwirtschaft am Lausitzer Platz beigetragen habe […].“ (Rettenmund 2014, GD: Z. 1421-1434)
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Infolgedessen nahm sie nicht an diesem Projekt teil. Sie kreierte stattdessen ein alternatives Bild, das ihr Bedürfnis als Künstlerin transportierte, sich städtischen Verwertungsprozessen zu entziehen. Sie entschloss sich für eine WohnPerformance an einem Ort, an dem der Konsum und die Verwertung offensichtlicher waren, um dort die vorgefundene Wirklichkeit zu verstehen: Ihre Wahl fiel auf das Kaufhaus ‚Karstadt‘ am Hermannplatz in Neukölln (vgl. Abb. 25). Abb. 25: ‚Bei Karstadt wohnen‘
Fotografien: Lauw (2011) „In einem Versuch, die vorgefundene Wirklichkeit zu transkribieren und das Absurde, aber auch das zerbrechliche Schöne dazwischen aufzuzeigen, habe ich das Haus von oben bis unten abgehorcht, vermessen, analysiert, katalogisiert und beschrieben. Ich habe Gespräche geführt über undankbare Enkelsöhne und Toastbrot, die veränderlichen Populationen der Schokoladen-Weihnachtsmänner beobachtet und inventarisiert und wurde vom Warenhausdetektiv vor die Türe gesetzt.“ (Rettenmund 2013: 9)
Die künstlerischen Ergebnisse ihrer explorativen Feldforschung aus dem Kaufhaus ‚Karstadt‘ am Hermannplatz wurden im Rahmen der Ausstellung des Projekts im Freien Museum in Berlin vorgestellt. Als Gegenposition und alternatives Bild stellte Rettenmund in einer performativen Klanginstallation ihre konkreten Erfahrungen und ‚subjektiven Seelenverfasstheiten‘, die sie während ihres Aufenthalts in dem Kaufhaus erfahren hatte, aus (vgl. Raumstrategien 2012: www.*). Ihre künstlerische Auseinandersetzung mit diesem ‚Markt‘ wurde zu einem Bild ihrer Kritik an Künstlern, die ihre eigene Rolle in Aufwertungsprozessen nicht reflektieren und einer Stadtpolitik, die künstlerische Raumproduktionen für sich vermarktet. Auch wenn die ursprüngliche Absicht des Projekts ein löbliches Ziel verfolgt hatte, kann die künstlerische Antwort an einen Ort, die die Bedürfnisse der Menschen widerspiegeln sollte, nach Rettenmund nur der bewusste Entzug der künstlerischen Raumproduktion sein. Zwar finden auch Auf-
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wertungen ohne künstlerische Raumproduktionen statt, aber sie möchte als Künstlerin nicht in den Verruf geraten, an den einseitig ausgerichteten ökonomischen Interessen der Stadtpolitik beteiligt gewesen zu sein. 6.5.3 Person – Process – Press – Zur Performance der Raumstrategin Rettenmund begreift sich als Raumstrategin und macht sich somit den Namen ihres letzten Studiengangs zu Eigen. Dieser Name beinhaltet den Raum, die Strategie und sie selbst als künstlerisch umsetzende Person, die diese Elemente in ihrer Wechselwirksamkeit zu begreifen versucht: Rettenmund nutzt den Raum als Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Arbeit und versucht, künstlerische und theoretische Strategien für sich abzuleiten, wie sie mit Räumen verfahren soll. Laut Aussagen der Künstlerin ist es einerseits ihre Leidenschaft, neue bestehende Räume zu entdecken, in denen sie ihre künstlerische Arbeit umsetzen kann und andererseits Räume neu zu kontextualisieren, indem sie neue Regelwerke schafft und diese dann in ihrer Wirksamkeit ausprobiert (vgl. Rettenmund 2014, TS: Z. 103f). „Das Gegenwärtige ist das, was zählt: Mir liegt der Raum am Herzen als Raumstrategin. Ich gehe vom Raum aus, und die Umgebung betrachte ich mit. Ich arbeite mit Elementen, die der Raum hergibt.“ (Rettenmund 2014, TS: Z. 94-96)
Darüber hinaus stellt sie sich die Frage, wie überhaupt neue Räume entstehen können, welche Grenzsetzungen es bei Räumen generell gibt – und darin Schwellen existieren: Gibt es vielleicht auch ein Dazwischen-Sein als Künstlerin, das es zu überwinden gilt – und wenn ja, mit welchen Mitteln? Rettenmund ist nicht nur auf der Suche nach Räumen, sondern auch nach Bildern in Räumen oder Bildern, die sie durch ihre künstlerische Arbeit produziert. Dabei berücksichtigt sie die Betrachter oder das Publikum als Bestandteil des Werkprozesses in der Bildproduktion. Zwar betont Rettenmund, dass sie selbst keine konkrete Einordnung ihrer künstlerischen Arbeiten und Methoden vornehmen möchte, da jedes Werk und jede künstlerische Aufgabenstellung anderer Ansätze bedarf. Dennoch arbeitet sie vorwiegend mit den Mitteln der Performance, die Licht, Projektionen oder Klang in ihre künstlerischen Arbeiten integrieren (vgl. Rettenmund 2014, FP: Z. 51-56; Rettenmund 2014, GD: Z. 1364ff). Diese Mittel der Performance werden im folgenden künstlerischen Selbstverständnis dargelegt:
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„Meine Arbeiten ergeben sich aus der Schnittmenge von Performance und Installation. Was mich begeistert, gründet in der Flüchtigkeit, im Geschehen, das sich in seiner eigenen Gegenwart erschöpft und hiernach unwiederbringlich verloren ist. Die damit verbundene Endlichkeit, aber auch der innewohnende Aspekt des Wandels sind für mich Ausgangspunkt und Inspiration. Das Generieren von unbequemen Reibungen in Bild, Bewegung und Ton ist unabdinglich, denn in der Diskrepanz, im ‚Auseinander-Krachen‘ erst entstehen Bilder, die vielschichtig wahrnehmbar sind und Myriaden von Räumen entstehen lassen. In jedem Fall soll das Publikum auf einem Pulverfass sitzen; ob es zur Explosion kommt, sei dahingestellt.“ (Rettenmund 2014, FP: Z. 5-13)
Phelan (2006) beschreibt, dass das Wesen der Performance darin liegt, auf die Gegenwart bezogen zu sein, auf den Moment und die Herstellung einer sozialen Wirklichkeit. Es trägt bereits zum Zeitpunkt der Durchführung der Performance den Prozess des Vergänglichen in sich. Daher ist die künstlerische Performance in ihrer Ausführung nur an eine bestimmte Zeit und an einen bestimmten Raum gekoppelt und performative Handlungen sind nicht identisch wiederholbar. Jede Wiederholung dieser performativen Handlungen transportiert aufgrund unterschiedlicher Zeit-Raum-Konstellationen eine andere Qualität der Wirklichkeit, übermittelt wiederum ein neues Bild und schafft in Folge aufgrund anderer Raum-Zeit-Konstellationen neue Situationen. Wenn Form und Intensität der Ausübung der Performance bewegte Bilder in die Wahrnehmung des Betrachters transportieren, dann bleibt nach Phelan (2006) nur eine Spur von Bildern in der Erinnerung zurück. Erst durch das Erinnern des Betrachters werden die Bilder wieder in die Gegenwart geholt. Die Aufgabe der Performance ist es, besonders intensive Bilder zu erzeugen, an die sich der Rezipient besonders gut erinnern kann. Meyer (2015: www.*) spricht in diesem Zusammenhang von Bildern des Körperwissens, die mit tatsächlichen Erfahrungen in Raum und Zeit verbunden sind. Das Bild wird während einer Performance durch den Künstler selbst, durch seine Anwesenheit des Körpers für den angelegten Zeitraum im Raum geschaffen und verschwindet dann wieder, wenn der performative Prozess endet. Die Bilder der Erinnerungen sind nach Rettenmund besonders konstituiert, und sie weist in diesem Zusammenhang auf Sontag (2004) hin, die Bilder der Erinnerung als unbewegte Bilder begreift. Das heißt, dass Abläufe der Erinnerung einzelne Bilder hervorrufen und keine zusammenhängenden Bewegungsabläufe. Eine Frage, die sich Rettenmund diesbezüglich stellt, ist, wie mit diesem Wissen darüber, dass Bilder der Erinnerung nur als Einzelbilder abgespeichert werden, künstlerisch verfahren werden kann. Sie versucht, die oszillierende Wirkung, die sich durch das Zusammenspiel zwischen dem Moment des Sehens der Bewe-
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gung und der Bilder des Vergänglichen ergeben kann, in ihre Kunst zu integrieren (vgl. Rettenmund 2014, TS: Z. 86-90). Das Ziel ihrer Arbeit ist, die Menschen mit ihrer Kunst und den geschaffenen Bildern zu berühren. Sie möchte durch Bilder Geschichten bei den Menschen hervorrufen, die keiner linearen Logik folgen. Durch übermittelte Bruchstücke und Sequenzen soll der Betrachter selbst die Kunst mit seinen Vorstellungen und Geschichten befüllen, die ihm den Moment der Entstehung näher bringen. Daher sind performative Aktionen Ereignisse, die mit Erinnerung und Wahrnehmung gekoppelt sind: „Ich möchte in meiner Arbeit von Schichtungen ausgehen, von Materialien, Klang und Körper, die ineinander verflochten sind, einander beeinflussen, Polaritäten bilden, aber nie ihre Eigenständigkeit verlieren. Ich möchte die Linearität der Erzählung aufheben, keine Collagen schaffen, in denen ein Element über das andere ‚geklebt‘ wird, sondern Sammlungen, Assemblagen hervorbringen. Keinen Filz, stattdessen einen fein gewebten, vielschichtigen Stoff entstehen lassen. Ich möchte Bilder in Bewegung schaffen. Im weitesten Sinne könnte man es vielleicht sogar Tableaux Vivant nennen - lebende, atmende, schwankende, sich in ihrem Entstehen sogleich wieder auflösende Bilder. Impressionen, die sich nicht mehr mit einem Mal in den Blick nehmen lassen.“ (Rettenmund 2014, FP: Z. 102-112)
Die deutschsprachige Humangeographie befasst sich zunehmend mit Performance-Ansätzen, die ähnliche Überlegungen – wie die bereits dargestellten – aus den Theaterwissenschaften und Kunstwissenschaften einfließen lassen (vgl. Dirksmeier 2009a; Hasse 2010; Helbrecht & Dirksmeier 2013). Hierbei wird zwischen ‚Performanz‘ und ‚Performativität‘ unterschieden: Performanz ist als Inszenierung, Ereignis oder Aufführung im Sinne von Handlung und Praxis zu verstehen, Performativität spricht der Sprache sowie den Bildern und Modellen eine wirklichkeitskonstituierende Wirkung zu. Dabei fließen in die Herstellung von Wirklichkeit bei der Performativität und bei der Performanz gleichberechtigt Emotionen, Affekte und der Körper in seiner Präsenz wie auch bereits bestehende Kategorien ein. Zu diesen Kategorien gehören beispielsweise Geschlecht und Raum, die wie selbstverständlich in der Gesellschaft und Wissenschaft genutzt werden (vgl. Dirksmeier 2009a: 250f). Ein geographisches Forschungsinteresse an den performativen Ansätzen liegt darin, wie Wahrheiten und wie gegenwärtige soziale Wirklichkeit durch körperbezogenes Handeln (Performanz) oder durch Sprache (Performativität) erschaffen werden (vgl. Dirksmeier 2009a). Nach Helbrecht & Dirksmeier (2013) kann der Blick auf Stadt unter Zuhilfenahme performanztheoretischer Gesichtspunkte erweitert werden.
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In dieser Überlegung werden Auftritte und Rollen von Menschen, die sie innerhalb der Stadt oder in öffentlichen Räumen im übertragenen Sinn einnehmen, mit den Theateraufführungen als spontane Praktiken unwiederholbarer Abläufe verglichen und als performatives Handeln gesehen werden, an das das körperliche und das räumliche soziale Umfeld geknüpft sind. Dadurch entstehen performative Räume, die nicht vergleichbar mit materiellen oder statischen Räumen sind. Es sind Erlebnis- und Erfahrungsräume, die durch Bewegung, Sprache, Objekte und Musik entstehen. Sie erschaffen Situationen, die eine Verschmelzung von gelebter Zeit und gelebtem Raum bewirken (vgl. Hasse 2010).25 Die Performanz bezieht sich auch in diesem Verständnis auf die Wahrnehmung von Raum und Zeit und bewirkt sowohl bei dem Teilnehmer als auch bei dem Zuschauer emotionale Nachwirkungen. Es entsteht ein Raum, indem die Performerin ihn aneignet, erschafft und wahrnimmt und wiederum unterschiedliche Sinne und Bedeutungsebenen bei den Zuschauern anspricht. Durch Konzepte der Performance nähert man sich an den Sachverhalt des Moments an, der an sich hochkomplex ist (vgl. Dirksmeier 2009a: 251). So werden jeweils bei dem Betrachter und Performer neue Räume und Situationen geschaffen, in denen die Momenthaftigkeit sozialer Prozesse bedeutend ist. Dieser Moment gibt einen Raum für die Wandelbarkeit sozialer Rollen und Verhältnisse, an den auch immer die Eigenschaften der Flüchtigkeit und des Vergänglichen gekoppelt ist.
25 Helbrecht & Dirksmeier (2013) prägen den Begriff der ‚performativen Urbanität‘ und übertragen performanztheoretische Überlegungen auf den öffentlichen Raum sowie auf situative Bedingungen im urbanen Raum. Helbrechts & Dirksmeiers (2013: 285) These ist, dass vor allem die Räume in der Stadt interessant sind und einen hohen Urbanitätsfaktor aufweisen, die keine festgelegten Strukturen haben, sondern eine hohe „Wandelbarkeit der Nutzungen, des Ambientes und der Nutzer aufweisen“. Des Weiteren sind performanztheoretische Ansätze nach Helbrecht & Dirksmeier auch hilfreich um herauszufinden, wie ,performative Mikroräume öffentlicher Begegnungen‘ hergestellt werden und funktionieren. Dieses Verständnis kann für die Stadtpolitik hilfreich sein, die möglicherweise darauf abzielt, mit Differenz oder produktiver Differenz in öffentlichen Räumen umzugehen und dadurch eventuell Begegnungsqualitäten zu verbessern (vgl. Helbrecht & Dirksmeier 2013: 285). Performanztheoretische Ansätze können nach Helbrecht & Dirksmeier ausgehend von ihren Erklärungsweisen auf Mikroebene auch zur Erklärung von Prozessen auf der Makroebene herangezogen werden. Die performanztheoretischen Erklärungsweisen von Entstehung von Wirklichkeiten können laut der Autoren auch sinnvolle Ergänzungen zu strukturellen, poststrukturellen und mikroanalytischen Ansätzen sein.
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DAS SPIEL MIT DER FLÜCHTIGKEIT „Ja, vielleicht ist wirklich dieser Punkt der Flüchtigkeit so das, was sich durch mein ganzes Arbeiten hinzieht. Ich habe als Tänzerin gearbeitet, habe in Amsterdam eine Ausbildung zur Theatermacherin gemacht.“ (Rettenmund 2014, GD: Z. 1364-1366)
Die Sujets der ‚Flüchtigkeit‘ und ‚Temporalität‘ begleiteten die Künstlerin bereits als Tänzerin und Theatermacherin und sind somit Bestandteile ihrer performativen Praxis, die sich durch ihre gesamte künstlerische Arbeit hindurchziehen (vgl. Rettenmund 2014, GD: Z. 1364ff). Dabei können unterschiedliche Ebenen der Flüchtigkeit unterschieden werden, die in Rettenmunds Arbeiten auftauchen: darin kann die Flüchtigkeit erstens als Eigenschaft – der Kunst, des Inhalts, des Raums – verstanden werden sowie zweitens als (künstlerische) Strategie, mit der sie – mit entsprechenden Mitteln und Methoden – dem Verwertungsprozess als Künstlerin entkommen möchte. Drittens kann Flüchtigkeit als Ansatz verstanden werden, an dem sie ihre künstlerischen Denkweisen und bildtheoretischen Überlegungen weiter reflektiert mit dem Ziel, Wahrnehmungslogiken zu hinterfragen und gleichzeitig ihre Erkenntnisse zugänglich für den Betrachter zu machen. Dieses Sujet taucht in unterschiedlichen Kombinationen in ihren Arbeiten auf. Rettenmund wollte eine performative Praxis auch auf den Stadtraum bzw. in den öffentlichen urbanen Raum übertragen. Ausschlaggebender Grund hierfür war, dass sie einerseits ihre künstlerische Arbeit nicht mehr in einem Theater mit entsprechendem Publikum anbieten wollte und andererseits als „Raumstrategin“ ein Interesse an dem öffentlichen Stadtraum entwickelte und auch an dem Publikum, das sie dort erwartet. In der Konsequenz verlagerte sie somit das Theater auf die Straße: „Und mein Bezug zur Stadt oder zum Stadtraum ist daraus entstanden, dass ich dachte, ich mag nicht mehr irgendwie in diesen Maschinen bzw. in dieser Maschinerie sein. In einer Blackbox, in einem Theater wo das gut bezahlte Publikum hinkommt, das kulturinteressierte, das gebildete, […]. Ich habe da irgendwie kein Interesse, für so ein Umfeld zu arbeiten. Ich will mehr, ich will auch andere Leute erreichen.“ (Rettenmund 2014, GD: Z. 1366-1371)
Das heißt, ihr Zugang zur Stadt und zum öffentlichen Raum beinhaltet die Überlegung der zufälligen Begegnung von unterschiedlichen Menschen und die Idee, diese in ihre Kunst oder in den künstlerischen Prozess zu integrieren: „Im öffentlichen Raum zu arbeiten, ist direkt; öffentlicher Raum bedeutet, mit einem ganz anderen ‚Publikum‘ umzugehen, öffentlicher Raum ist für alle - nicht nur für das zahlkräf-
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tige, kulturinteressierte Klientel. Das kann auch bedeuten, mit gelangweilten Jungsgangs am Mehringplatz, die auf die Kunst ‚scheißen‘ und mühselig aufgebaute ‚Kunst‘ möglichst zerstören, zu rechnen. Es bedeutet mitunter, die ermüdenden, sich wiederholenden Geschichten der herumsitzenden Alkoholiker anzuhören, die seit ewig kaputten Fahrradschläuche der Kinder zu reparieren und die mitgebrachte Stulle zu teilen. Es bedeutet, sich mit dem Ordnungsamt und manchmal der Polizei auseinandersetzen zu müssen, und es kann bedeuten, die Nachbarschaft zu Kaffee und Kuchen zu laden ... all das ist manchmal anstrengend, aber auch äußerst inspirierend und bereichernd.“ (Rettenmund 2014, FP: Z. 17-26)
Rettenmund spricht nicht nur von der Verwertung künstlerischer Prozesse in der ‚unternehmerischen Stadt‘, sondern auch von der Funktionalisierung gesellschaftlicher Bereiche, die bereits in der Industrialisierung ihre Anfänge nahm, und führt danach aus, welche Auswirkungen dies auf das gesellschaftliche Leben bis heute haben kann. In diesem Zusammenhang reflektiert sie die zunehmende Abgabe der Verantwortung an die einzelnen Menschen und die Individualisierung. Rettenmund stellt sich die Frage, wie der Mensch – oder in ihrem Fall der Künstler – diesen Verwertungs- und Funktionslogiken entkommen kann. Dabei versucht sie einerseits, künstlerische Mittel einzusetzen, mit denen es möglich ist, Funktionalitäten aufzudecken, um sie wiederum neu denken zu können. Aber andererseits geht es ihr auch darum, wie sie in der Rolle der Künstlerin städtischen Verwertungsprozessen entkommen kann. Können Performance und das Spiel mit der Flüchtigkeit weiterhelfen? „In der Industrialisierung waren wir ja nur so Teilchen von einem größeren Gefüge. Da sind Gefängnisse und Schulen entstanden, damit all die Teilchen auch richtig funktionieren. Mittlerweile haben wir das ja so verinnerlicht, dass wir immer die Schuld uns selbst geben: […] wir haben zu wenig Weiterbildung gemacht, deswegen klappt es nicht im Leben, oder wir haben nicht die richtige Vision, deswegen funktionieren wir nicht in der Gesellschaft. Dann kriegen die Leute ihr Öl-Auto und werden depressiv. Ich glaube, für Künstler ist es super spannend, diese Verwertungslogik, sei es im städtischen Raum oder in der Gesellschaft an sich. Um dem irgendwie zu entkommen, ist es super gut rumzuspielen, um zu sagen: Flüchtigkeit ist das Thema, das kann man aber auch schlecht verkaufen, das ist die andere Frage der Prekarität.“ (Rettenmund 2014, GD: Z. 1106-1114)
Rettenmund bezieht in ihre Aussagen immer wieder den Begriff des ‚Spiels‘ ein, den sie auch für ihre künstlerische Praxis und theoretischen Überlegungen in Anspruch nimmt. In diesem Zusammenhang soll ein kurzer Exkurs zu dem Begriff ‚Spiel‘ gemacht werden. Es soll gefragt werden, wie das Spiel überhaupt
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definiert wird, und wie das Spiel als Methode und Strategie derzeit in der Gesellschaft und in der Kunst verhandelt wird. EXKURS: DAS SPIEL Das Spiel hat in die Kunst Eingang vor allem dann erhalten, als die Kunst ihren Bildbegriff erweiterte und das Kunstwerk öffnete (vgl. Eco 1973; Kap. 4.1.3). Spielerische Elemente finden sich daher automatisch in künstlerischen Interventionen und der Performance. Diese können subversiv oder auch affirmativ sein (vgl. Kap. 6.1.3). Was aber macht das Spiel so interessant für die Kunst und auch für die Gesellschaft? Um diese Frage beantworten zu können, werden im Folgenden sechs Merkmale nach Caillois (1982) dargestellt, die gleichzeitig auch Querbezüge zu der Performance aufweisen: (1) Zunächst ist das Spiel freiwillig, (2) der Verlauf des Spiels und das Ergebnis sind nicht planbar und vorhersehbar, und am Ende wird kein (3) Produkt geschaffen. Daher ist es unproduktiv und nur auf den Prozess orientiert. (4) Das Spiel besitzt ein eigenes Regelwerk, (5) es ist vom Alltagsleben abgetrennt und findet daher in einer (6) fiktiven Wirklichkeit statt. Carse (1987) unterscheidet in unendliche und endliche Spiele, die als immerwährende Bestandteile das Leben von Menschen begleiten. Endliche Spiele sind auf einen begrenzten Zeitraum angelegt und finden in Form von Debatten, kriegerischen Auseinandersetzungen, Wettkämpfen, Prüfungen immer wieder Eingang ins Leben. Das unendliche Spiel nach Carse (1987) ist das Leben selbst, das immer wieder neue Formen hervorbringt und einen Prozess beinhaltet, der eine gewisse Unbestimmtheit im Fortlauf besitzt. Spiele können zudem hinsichtlich ihres Ziels unterschieden werden: entweder sind sie kooperativ oder nicht-kooperativ angelegt. Auf gesellschaftlicher Ebene wird immer wieder die ‚Spieltheorie‘ herangezogen, um die strategischen Entscheidungs- und Verhaltensmuster als beidseitigen Kommunikationsprozess von in Konkurrenz tretenden Akteuren zu untersuchen, die von äußeren Anreizen und Interessen, also von einem Gewinn oder von Vorteilen bestimmt sind. Diese Verhaltensstrategien weisen Ähnlichkeiten von Spielern in Gesellschaftsspielen auf. Diese Spieler sind, um zu gewinnen, von den Entscheidungen des Gegenübers abhängig, über dessen Strategie sie keine Kontrolle haben. Die Spieler sind aber beiderseits von egoistischen Motiven gesteuert und können versuchen, eventuelle Verhaltensweisen des Gegenübers im Vorfeld zu reflektieren und vorwegzunehmen, sodass dessen Verhalten wiederum zu ihrem Vorteil bestimmt ist (vgl. Neumann 1928). Eine weitere interessante Auseinandersetzung mit den Fragen, wie sich ökonomische
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Logiken gesamtgesellschaftlich durchsetzen, neue Machteliten geschaffen werden und wie sich diese im menschlichen Dasein manifestieren, bietet Schirrmacher in dem Buch ‚Ego. Das Spiel des Lebens‘ (vgl. Schirrmacher 2013). Die Grundlage seiner These bildet die dargestellte Spieltheorie, die sich nach seinen Aussagen im Kalten Krieg als Strategie etablierte, potenzielle Handlungen des Gegners vorauszusehen, um selbst im Vorteil zu bleiben. Um diese Kontrolle zu erlangen, sollten Maschinen, später Computer, Algorithmen berechnen, die Aufschluss darüber geben, welche nächsten Schritte der Gegner vollziehen könnte. Dahinter steht das Bild des homo oeconomicus, das den Menschen als rational denkendes Wesen fasst, welches tendenziell misstrauisch ist, nur auf seinen Vorteil bedacht handelt und daher egoistische Grundzüge trägt. Diese Vorstellung lässt den Menschen und seine Handlungen zu einem kalkulierbaren Faktor werden. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Logik der Spieltheorie in wirtschaftlichen Bereichen weiterverfolgt mit dem Ziel, Kontrolle über Entscheidungen von Akteuren auszuweiten. Schirrmacher (2013) zeigt, dass diese Kalkulation im Finanzmarkt heute weitergeführt wird und bereits zu Krisen durch Spekulationen führte. Des Weiteren werden Algorithmen auch im Netz bei Suchmaschinen, APPs etc. eingesetzt, um die Menschen als Konsumenten in ihren Handlungen zu verstehen und ihnen auf sie zugeschnittene Angebote zu unterbreiten. Darüber hinaus geht es durch die Sammlung dieser Daten darum, Entscheidungsmuster herauszuarbeiten und die Algorithmen zu perfektionieren. Der Mensch hat diese Handlungsmuster, so Schirrmacher (2013), bereits in sein alltägliches Leben eingebaut. Das heißt, spielerische Züge des nichtkooperativen Spiels sind bereits in den Alltag integriert. Diese Normen und Werte aus der Spieltheorie, die sich in ökonomischen Modellen wiederfinden, wurden somit auf den Menschen übertragen, um ihn zu einem kalkulierbaren, funktionalen Wesen zu machen. Weitere Parallelen sind bereits in den industriellen Arbeitsmärkten zu finden, die den Menschen aufgrund der Arbeitsteilung nur bestimmte Funktionen für den Profit abverlangten, aber sie mit ihren Bedürfnissen nicht weiter berücksichtigten. Heute werden kooperative Formen des Arbeitens angestrebt, die aber den Nutzen nicht im gemeinsamen Arbeiten sehen und das Solidarprinzip aufgreifen, sondern kooperative Formen als Mittel zum Zweck sehen, um Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Aber was passiert, wenn genau diese Funktionalisierung gesellschaftlicher Bereiche, die die Elemente des nicht-kooperativen Spiels bereits einverleibt haben, durch spielerische Elemente in der Kunst hinterfragt werden? Kann das überhaupt gelingen? Nach Hartlieb (2005: www.*) ist das Spiel in der Kunst we-
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der auf die Vorwegnahme von Entscheidungs- und Verhaltensstrukturen ausgerichtet, um in einen Vorteil zu gelangen, noch auf Effizienz, wie es in politischen oder wirtschaftlichen Bereichen zu finden wäre, oder wie es Schirrmacher darstellt. Beim Spiel in der Kunst geht es vielmehr darum, offenere Wege zu gehen, die Möglichkeitsstrukturen auszuloten, um vorhandene Strukturen aufzubrechen, welche durch das vice versa von Zufall, Notwendigkeit und Regeln erst entstanden sind. Dahinter steht auch eine Flexibilität, vorgefundene Begebenheiten in neue Versuche anzuordnen – das Entdecken, Experimentieren sowie das Ausprobieren von neuen Handlungsweisen. Das Spiel, wie es bei Rettenmund ersichtlich wird, besteht aus eigenen Regeln, die in dem Moment des Entstehens entweder hinterfragt werden können oder die bis zum Ende der Performance verfolgt werden. Innerhalb des Regelwerks können einerseits neue Alternativen ausprobiert und andererseits bestehende Wahrnehmungsmuster aufgelöst und in Frage gestellt werden: dabei betrifft die spielerische Ebene nicht nur die Performance selbst, sondern auch die Rolle der Künstlerin. Die Künstlerin schlüpft in den Performances immer in neue Rollen und bezieht den Betrachter mit in den künstlerischen Prozess ein, der freiwillig oder unfreiwillig zum Mitspieler des Werkprozesses wird. Die Betrachter werden nach Auffassung Bätzners (2005) in dieser spielerischen Weise zu Betrachtern ihrer Wahrnehmung und Verarbeitungssequenzen. In diesem Moment begibt sich der Betrachter in eine Sinnsuche nach Bedeutungsebenen. Diese kann sich auf thematischer, semiotischer, physischer, struktureller oder auf wahrnehmungsperspektivischer Ebene vollziehen. Auf jeder der Ebenen kann eine Bedeutungskonstruktion einsetzen, die Eco (1973) einem offenen Werk (vgl. hierzu Kap. 5.2) zuschrieb, das nicht einer ästhetischen Form, sondern seiner Strukturierung folgt. Das heißt, die Bedeutungsgenerierung bei den Betrachtern ist immer auch eine flüchtige, temporäre und spielerische. Nach Lösel (2013) erzeugt die Improvisation in einem Performance-Setting bei den Betrachtern ‚perzeptive Multistabilitäten‘, die sich durch den Wechsel zwischen den Bedeutungsebenen Fiktion, Spiel und Wirklichkeit ergeben (vgl. Lösel 2013: 238). Hier zeigt sich der Prozess, wie soziale Realitäten bei den Betrachtern konstruiert werden und unterschiedliche Interpretationen des Betrachters Realität werden können.26 In dem
26 Diese Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit, die solche offenen Kunstwerke evozieren, sah Eco (1973) auf der einen Seite bereits vor 40 Jahren als eine Spiegelung der Krise der damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen, die von diesen Eigenschaften zunehmend bestimmt wurden. Anderseits kann diese Mehrdeutigkeit auch im positiven Sinn
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Sinne erlaubt das Spiel mit performativen bzw. die Performance mit spielerischen Elementen einen Versuch, der Realität zu entkommen, da es Strukturen aufbricht, Regeln hinterfragt, neue Rollen definiert, neue Perspektiven erlaubt und neue Kombinationen denkt. Diese Kombinationen von Elementen könnten auch ein Türöffner für neue Variationen sein: In diesem Zusammenhang verweist Rettenmund auf ihre Themen und die Begriffe, mit denen sie in ihrer Kunst spielt: „Stolperfallen gibt es einige - mit denen hat man natürlich andererseits auch viel ‚Spielmaterial‘ zur Verfügung, viel Material zum willentlich ‚verdrehen‘: KREATIV-WIRTSCHAFT STARRE GESETZE PREKARITÄT (das allerdings lässt sich nicht so leicht verdrehen).“ (Rettenmund 2014, FP: Z. 39-44)
Dennoch weist Rettenmund auch auf Grenzen des künstlerischen Spiels hin: Die Realität lässt sich nicht spielerisch beseitigen. Immaterielle Werte, Diskurse, Normen und Wahrnehmungslogiken können zwar spielerisch aufgedeckt und hinterfragt werden, ihnen kann zumindest etwas Flüchtiges entgegensetzt werden, aber materielle Werte lassen sich durch das Spiel nicht erzeugen. Es ist in der Logik des Spiels enthalten: Das Spiel ist unproduktiv und besitzt nicht die Wirkungsmächtigkeit, Gesetze zu ändern. Eine weitere Stolperfalle, die sich nach Aussagen der Künstlerin für sie ergibt, ist die Auseinandersetzung mit städtischen Aufwertungsprozessen. Gentrifizierung greift ihre Existenz an, woraus sie Überlegungen anstellt, wie sie auf diesen Prozess reagieren kann. „Ich finde es unumgänglich, sehr genau nachzudenken über die Instrumentalisierung von Künstlern. Gentrifizierung lässt sich natürlich nicht einfach verhindern oder umgehen, die Stadt lebt, bewegt, verändert sich. Vielleicht liegt meine ganz persönliche Antwort darin, Kunst zu schaffen, die flüchtig ist, die sich nicht aufbewahren lässt, die in dem Sinne nicht artefaktisch funktioniert und sich auch nicht leicht vermarkten lässt. (Rettenmund 2014, FP: Z. 46-52). Dennoch besteht die Frage, lässt man sich verdrängen oder kann man tatsächlich durch Spielen noch eine Extra-Strategie entwickeln? Wie kann man noch mal über das Gesamtgesetz etwas verändern. Ich weiß es nicht […]. Ich bin da ziemlich ratlos
nach Bätzner (2005) verstanden werden, dass nämlich die Offenheit gegenüber einer Mehrdeutigkeit einem Menschentypus entspricht, der fortwährend an seiner Erkenntniserweiterung arbeitet und Resilienzstrategien entwickelt, um auf die Unbestimmtheit und Unsicherheiten gut reagieren bzw. mit ihnen umgehen zu können.
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gerade, auch in Neukölln wohnend. Auch wenn ich das total toll finde, dass es so viele Künstler und Ateliers mittlerweile gibt, andererseits denke ich auch, dass es nicht gut ist.“ (Rettenmund 2014, GD: Z. 1202-1221)
Sie spricht in diesen Aussagen nochmals die Doppelrolle an, in der sie sich als Künstlerin befindet: Sie bewegt sich in dem Feld von künstlerischen Raumproduktionen, die als Place Making in die städtische Verwertungslogik einfließen und zur Aufwertung des Gebiets beitragen können. Und gleichzeitig ist sie als Künstlerin und Bewohnerin davon betroffen, wenn sie aufgrund der Aufwertung aus einem Gebiet verdrängt wird. Eine weitere Doppelrolle entsteht durch ihre immateriellen Bedürfnisse, die sie in ihrer Kunst ausdrückt, und den materiellen Zwängen, denen sie als Künstlerin ausgeliefert ist. Sie personalisiert die Aufwertungsdebatte und stellt sich die Schuldfrage. Auf diese Schuldfrage reagiert Rettenmund zwar auf künstlerischer Ebene, aber auf gesellschaftlicher Ebene hat sie dafür keine Antwort oder Vision. 6.5.4 Zusammenfassung Rettenmund schafft mit ihren künstlerischen Mitteln Begegnungsräume in einem öffentlichen urbanen Raum, in dem fremde Menschen unabhängig ihres sozialen Status und ihrer Herkunft zufällig und situativ zusammentreffen und die für die Künstlerin einen Bezugspunkt darstellen. Rettenmund schafft durch ihre Inszenierung einerseits einen Moment der Gleichheit – dadurch, dass alle Menschen einen gleichberechtigten Zugang zum öffentlichen Raum haben – und andererseits, indem die Menschen den gleichen (gefühlsmäßigen) Augenblick miteinander teilen, den die Künstlerin mit ihrem Körper, Bildern und Themen inszeniert. Die anfängliche situative Gleichheit erlaubt aber auch die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmungs- und Bedeutungsebenen der Menschen. Da die Gegenwart und der Moment der Ausgangpunkt ihrer künstlerischen Praxis ist, überträgt sie keine Visionen zukünftiger Urbanität, sondern schafft soziale Wirklichkeiten und Situationen, in denen Menschen aufeinandertreffen. Sie arbeitet im Hier und Jetzt, daher ist ihre Kunst nicht gezielt auf eine Zukunft ausgerichtet. Ihr exploratives Vorgehen schafft einen Raum, der Unvorhersehbares zulässt: Der Begegnungsraum wird zum Experimentierraum, in dem produktive Differenz und Vielfalt entstehen können. Dieser Raum zeigt auch auf, wie temporär mit dieser Vielfalt umgegangen wird – ein Umgang, der auf eine Qualität von Urbanität hinweist, wie städtisches Miteinander inszeniert werden könnte. Als Beobachterin begibt sie sich in urbane Begegnungsräume, um diese künstlerisch zu erforschen und um zu erfahren, welche Routinen, welche Regeln und welche
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Strukturen vorherrschen, aber auch welche Überraschungen dort auf sie warten. Als weitere Möglichkeit ihres künstlerischen Handelns interveniert sie als Akteurin in einen Raum, in dem sie selbst Bestandteil eines Entwicklungsprozesses wird. Sie interagiert mit den Menschen vor Ort und versucht durch künstlerische Mittel, sich aktionsorientiert an den Bedürfnissen der Menschen und Konfliktsituationen vor Ort zu orientieren und eine Veränderung von Problemlagen zu bewirken. Dabei reflektiert sie gleichzeitig ihre Rolle und Möglichkeiten ihres künstlerischen Handelns. Rettenmund versucht, ihre eigenen Wahrnehmungsmuster und die der Rezipienten zu irritieren und zu verändern. Dazu nutzt sie Gestaltungsmittel sowohl aus der Bildenden Kunst (Klang, Installation, Sprache, Video, Fotos) als auch aus der Darstellenden Kunst für ihre Performances. Sowohl das Thema der Flüchtigkeit als auch das Spiel ist ihr innewohnend. Sie spielt nicht nur mit Wahrnehmungsmustern, sondern auch mit gegenwärtigen Begrifflichkeiten wie ‚Kreativwirtschaft‘, ‚starre Gesetze‘ und ,Prekariat‘, die wiederum auf Problembereiche der städtischen Gesellschaft, auf ihren Lebensalltag und die gesellschaftliche Rolle als Künstlerin hinweisen, die sie verändern möchte. Sie fragt sich, wie es gelingen kann, übergeordnet ein geschaffenes Bild jenseits einer Verwertungsstrategie nachhaltig verfügbar zu machen, obwohl diese Veränderungen in der Wahrnehmung im Begriff sind zu verschwinden. Dennoch stoßen ihre künstlerischen Mittel und Methoden dann an die Grenze, wenn es um strukturelle gesellschaftliche Veränderungen geht: Hier bleibt das künstlerische Spiel eine Fiktion, ein Gedankenraum, der Stadt zwar anders denken lässt, der in dem gesellschaftlichen Spiel auf struktureller Ebene mit wirkungsmächtigeren Regeln aber keine Wirkung erzielt. Die künstlerischen Zugänge von Rettenmund eröffnen eine Reflexion von Kunst, die zwischen Marktwert und dem Überleben in der Stadt in einer prekären Lebenssituation hin und her jongliert.
6.6 WE TRADERS: T AUSCHE K RISE
GEGEN
S TADT
Im Folgenden wird zum einen die Ausstellung WE TRADERS und zum anderen die im Rahmen dieser Ausstellung entstandene Performance ‚Mehrwert schaffen umsonst‘ vorgestellt. Das vom Goethe-Institut initiierte Ausstellungsprojekt ‚WE TRADERS: Tausche Krise gegen Stadt‘ fand vom 4. Juli bis 17. August 2014 im Kunstraum Bethanien statt. Die Performance wurde von einer Gruppe Studierender des künstlerischen Studiengangs ‚Raumstrategien‘ an der Hochschule Berlin Weißensee unter Leitung von Prof. Kathrin Wildner entwickelt. Die Gruppe fand sich für dieses Projekt zusammen. Ausstellung und künstlerische Position der Studierenden wurden für die Forschungsarbeit deswegen ausge-
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wählt, da der Entstehungskontext für die vorliegende Forschungsarbeit interessante theoretische und inhaltliche Anknüpfungspunkte bietet und mögliche urbane Entwicklungslinien und Trends aufzeigen kann. Zunächst werden erstens (1) aus regulationstheoretischer Perspektive die Inhalte, Ziele und Thesen der Ausstellung beleuchtet, im nächsten Schritt (2) die über die Ausstellung transportierten urbanen diskursiven Aussagen bzw. Vorstellungswelten und Handlungsoptionen erläutert. Anschließend werden diese (3) unter einen übergeordneten wissenschaftlichen Diskurs gestellt, um dann daran anknüpfend (4) die Performance der Künstlerinnen kontextual einzubetten. In einem gemeinsamen Gespräch mit ihnen wurden ihre Intention, ihre Spezifik und ihre Zugänge zu Stadt herausgearbeitet und gemeinsam in den Zusammenhang der Ausstellung gestellt. Dieses Gespräch entstand nach dem Besuch der Performance im Kunstraum Bethanien durch die Forschende. Zur Auswertung der Künstlerposition lag nur eine Transkription des reflexiv-explorativen Interviews mit den Studierenden vor (TS). Während des Besuchs der Performance wurden Fotos aufgenommen, der Rahmen der Performance begutachtet und die Ausstellung ‚WE TRADERS: Tausche Krise gegen Stadt‘ besucht. 6.6.1 Press – Zur Ausstellung INHALTE, ZIELE, THESEN Die Ausstellung ‚WE TRADERS: Tausche Krise gegen Stadt‘ befasst sich mit den räumlichen und urbanen Auswirkungen der Finanzmarktkrise am Beispiel einzelner Städte in Europa. Als Auswirkungen der Finanzkrise werden in dem Ausstellungsrahmen Immobilienspekulation, die Ausrichtung auf schnelles Wachstum und die zunehmende soziale Polarisierung einzelner Bevölkerungsgruppen gezeigt. Diese Auswirkungen treffen auf weitere urbane Herausforderungen wie den demografischen Wandel, die Digitalisierung der Welten und das Schwinden der Demokratie (vgl. Goethe-Institut 2014a: www.*). Zusätzlich werden laut den Kuratoren der Ausstellung durch eine weitere symptomatisch auftretende Krisenerscheinung, die sich in leeren öffentlichen Kassen ausdrückt, neue städtische Handlungsmöglichkeiten notwendig: „In Lissabon, Madrid, Toulouse, Turin und Berlin zeigt die Krise unterschiedliche Gesichter, von leeren Kassen und sozialer Polarisierung bis zu einer schwachen Zivilgesellschaft durch exzessives Wachstum. WE TRADERS sind in diesen Krisenzeiten besonders interessant, weil Mitbestimmung hier zur Mitgestaltung wird. WE TRADERS erhöhen die ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit, denn wer aktiv in Entwicklung, Produktion und Tausch involviert ist, trägt Sorge für die Dinge.“ (Fitz & Epple 2014: www.*).
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Unter WE TRADER werden in diesem Zusammenhang Bürger oder Gruppen zusammengefasst, die als aktiver Teil der Zivilgesellschaft selbstorganisiert Lösungsmodelle zur Überwindung der Krise suchen und diese in Low-CostProjekten umsetzen. Diese Lösungsmodelle befinden sich im Bereich des aktiven Gestaltens von Mitbestimmungsrechten und Aushandlungsprozessen. WE TRADERS sehen in dieser Begriffsdefinition eine Möglichkeit, durch Eigeninitiative Märkte im Sinne eines Austausches von Waren, Wissen und Dienstleistungen neu zu gestalten, um letztendlich „das Verhältnis von Wert, Profit und Gemeinwohl neu zu definieren“ (Fitz & Epple 2014: www.*). Dies soll geschehen, indem nicht nur ökonomischer, sondern auch sozialer, kultureller und ökologischer Mehrwert erzeugt wird. Demnach können diese Initiativen laut den Kuratoren Fitz & Epple (2014) Impulse für die in die Krise geratene Stadtplanung geben oder vielmehr durch ihre Projekte in den Bereichen der sozialen Innovation kompensatorisch wirken. WE TRADERS tauschen demnach in einem WE TRADE, einem Tauschgeschäft, ihre Ideen und ihr Wissen gegen die Krise ein. Ziel der Ausstellung war, unterschiedliche Initiativen von Künstlern, Designern und Aktivisten aus fünf europäischen Städten (Madrid, Turin, Berlin, Lissabon, Toulouse) zu vernetzen, ihren auf den Raum bezogenen kreativen Umgang mit krisenhaften Erscheinungen und gleichzeitig ihre Lösungsangebote in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen und Städten vorzustellen. Zu den Berliner Initiativen gehören u.a. das Urban-Gardening-Projekt ALLMENDE CONTOR, der Co-Workingspace BETAHAUS und die Wohnungsbaugenossenschaft Möckern-Kiez. Das Urban-Gardening-Projekt beispielsweise reagiert demnach konkret auf die Krise der Privatisierung der Räume, auf soziale Isolation und auf fehlende Grünflächen in den Straßen, indem es das Common-Prinzip, die Begegnung von Menschen in der Öffentlichkeit und die Selbstorganisation fördert (vgl. Goethe-Institut 2014b: www.*). DISKURSE, VORSTELLUNGSWELTEN, HANDLUNGSOPTIONEN Die für die Ausstellung kreierten Wortschöpfungen wie WE TRADERS/WE TRADE als Begriffe für ein sogenanntes Tauschgeschäft gegen die Krise vermitteln zusätzlich eine normative inhaltliche Ausgestaltung der Ausstellung. Diese zeigt sich in den formulierten Imperativen sehr deutlich, die als Eingangsstatements auf der Homepage dargestellt sind und die inhaltliche Konzeption die Ausstellung begleiten: „Tausche Bürokratie gegen Eigeninitiative Tausche Industriebrache gegen Gemüsebeet Tausche Kunst gegen Kontext
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Tausche Investorenruine gegen Experimentierfeld Tausche Wegwerfen gegen Wiederverwenden Tausche Zuschauen gegen Selbermachen WE TRADERS tauschen Krise gegen Stadt.“ (WE TRADERS 2014)
Sie beinhalten Appelle zum selbst Handeln, Tauschen und Machen. Dahinter steht nicht nur die Haltung, dass Menschen selbst soziale und kreative Innovationen als Reaktion auf das Staatsversagen in der Krise entwickeln sollen, indem sie sich ehrenamtlich engagieren, Eigeninitiative und Selbstorganisation zeigen. Die Appelle sind auch der Ruf nach einer Neuformation des Werteverständnisses um Konsum, Wert und Profit, welches als eine potenzielle Vision für ein neues soziales Gemeinwohl funktionieren könnte. Vor allem kommt dem WE, dem Wir, und dem TRADE, dem Tausch, eine besondere Rolle zu. Die Ausstellung greift die Schlagworte wie Partizipation, Beteiligungsformen, Transparenz, Selbstorganisation, Emanzipation sowie soziale Innovation auf und setzt damit an gegenwärtigen stadtpolitischen Diskursen um Wissenstransfer, Urban Commoning (städtische Vergemeinschaftungsformen und ihre Handlungspraxen), Open Source, Diversität und Nachhaltigkeit an. Sie versucht, ein eigenständiges Paradigma auf die krisenhaften Erscheinungen zu erschaffen, mit dem Ziel, den Diskurs um das Thema Urbanität mitzuprägen (vgl. Fitz & Epple 2014: www.*). Dieses normative Verständnis der Ausstellung knüpft übergeordnet an wissenschaftlichen Debatten an, die sich mit dem Fortgang gesellschaftlicher Entwicklungen auseinandersetzen und Einschätzungen zum gesellschaftlichen (Werte-)Wandel abgeben. Auf Grundlage der Analyse des Ist-Zustands des Systems oder des gesellschaftlich urbanen Kontextes schätzen Experten den gesellschaftlichen Fortgang unterschiedlich ein. Ihre Stellungnahmen münden entweder in einer konkreten Vision oder beschreiben mögliche Zukunftszustände. Beide Einschätzungen beinhalten in ihren Konsequenzen spezifische Vorstellungen davon, wie Nachhaltigkeitsprozesse gestaltet werden sollten (vgl. Heinrich & Michelsen 2014). Im Folgenden werden die divergierenden Diskussionen und wissenschaftlichen Einschätzungen dargestellt, die einerseits die medial kontrovers geführte Diskussion über die Ausstellung wiedergeben, um andererseits die künstlerische Position entsprechend inhaltlich zu verorten.
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WISSENSCHAFTLICHER DISKURS IN BEZUG AUF ‚WE TRADERS: TAUSCHE KRISE GEGEN STADT‘
DIE
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AUSSTELLUNG
Die in der Ausstellung vorgestellten Tauschgeschäfte, die sogenannten WE TRADES, können einerseits als Möglichkeit und andererseits als Notwendigkeit gesehen werden, wie auf die Krisenhaftigkeit in der Stadt reagiert wird. Dabei lassen sich unterschiedliche Formen dieser ‚Tauschgeschäfte‘ kategorisieren und in Bezug zu gesellschaftlichen und urbanen Entwicklungsprozessen setzen. Färber (2014) stellt fest, dass die Sparpolitiken, die mit dem verstärkten neoliberalen Rückzug des Staates einhergehen, zu neuen Formen urbaner Raumproduktionen führen, die langfristig eine Neuorganisation der Städte zur Folge haben werden. Danach entstehen vermehrt „basisorientierte Räume und Initiativen, die als solidarische Antwort und Reaktion auf die ansteigende Unsicherheit in der Versorgung mit sozialen Ressourcen gelesen“ (Urbanize 2014: www.*) und als autonome urbane Subsistenzen verstanden werden können. Diese urbanen Subsistenzen zeichnen sich durch drei Output-Faktoren aus, die auch als nachhaltige Strategien in der Ausstellung aufgenommen und diskutiert wurden: Erstens wird die Nutzungsdauer von Materiellem durch Pflege und Reparatur verlängert und durch Upcycling (Do it Yourself) aus Restmaterialien neue Nutzungsformen entwickelt. Zweitens wird der Konsument auch Produzent, um drittens als Prosument (englische Wortschöpfung aus Konsument und Produzent) subsistente Gemeinschaftsnutzungen zu ermöglichen. Diese sind konkret in Tauschringen, Selbsthilfe-Netzwerken, selbstverwalteten Strukturen wie Allmende-Konzepten etc. bereits verwirklicht (vgl. Theurl et al. 2015). Dahinter entwickelt sich nach Färber (2014) eine Vorstellung einer ‚Low-BudgetUrbanität‘, die zukünftig das Leben in Städten prägen und mitbestimmen wird. Der Begriff bezeichnet ein Konglomerat aus Strategien der Austeritätspolitik und des Sparens auf stadtpolitischer Ebene, aus einer Zunahme des Prekariats und der städtischen Armut sowie aus autonomen (urbanen Subsistenzen) und unternehmerischen semi- und vollprofessionell geprägten Initiativen (vgl. HafenCityHamburg 2015: www.*; Urbanize 2014: www.*). Dahinter steht im übergeordneten Sinn das Prinzip des Collaborative Consumption, die Ökonomie des Teilens, des Mitnutzens und Tauschens, ein neues (Konsum-)Verhalten; alle genannten Fälle weisen Sharing-Bezüge auf (vgl. Hochgerner 2011: www.*). Rifkin (2014), Vordenker der Share Economy, prognostiziert das Ende des Kapitalismus bis zum Jahr 2060, dessen Rückzug durch dieses veränderte Konsumverhalten bewirkt und als monetärer Rückzug verstanden werden kann. Diese Form des Wirtschaftens löst das Teilen/Tauschen vom Kaufen und das Nutzen von Konsumgütern vom Besitzen der selbigen ab. Dahinter erkennt er nicht nur mehr als eine Vision eines neuen Zusammenlebens, sondern er sieht diese alter-
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native Konsumkultur bereits in der Gesellschaft verwirklicht. Diese neue Wirtschaftsweise beinhaltet zahlreiche nachhaltige Elemente und setzt daher an Vorstellungen der Postwachstumsgesellschaft an, da Ressourcen durch das Teilen und Tauschen langfristig geschont werden. Dahinter steht nach Rifkin (2014) ein Wertewandel, der sich demnach weg von materiellen Werten hin zu Werten von Gemeinschaftlichkeit, dem WE (Wir) verschiebt. Nach diesen Prognosen kommt die Share Economy, die das Denken und die wirtschaftliche Praxis verändert, einer Vorstellungswelt nach Jessop & Sum (2013) gleich, die langfristig zu einer neuen Regulationsweise führen würde (vgl. Kap. 2.5). Heinrich & Michelsen (2014) sehen hingegen in der Etablierung der Ökonomie des Teilens eine Fortführung der jetzigen Regulationsweise, die eine notwendige Anpassung an eine fortführende Flexibilisierung, Deregulierung und Unbeständigkeit der Wirtschaft und der Arbeitsmärkte beinhaltet. Dahinter steht in der unternehmerischen Logik eine neue Konsumform, die den Konsum nicht abschafft, sondern eine neue Nachfrage fördert (vgl. Theurl et al. 2015). Die Grundlage und die Leitwährung der Share Economy basieren auf Kommunikation, Information, Vertrauen, Ereignissen, Wissen, Daten und bedingen einen neuen Ressourcenverbrauch an Produkten (Smartphones, Computer, Netzwerke), die diese Grundlage des Tauschens erst gewährleisten kann. Daher kann das Sharing nicht als eine Abkehr vom Kapitalismus und dem Wachstumsgedanken gesehen, sondern im Schumpeterischen (1964) Sinn als eine kreative Zerstörung alter Strukturen und Geschäftsmodelle verstanden werden. Nach diesem Prinzip gilt die Zerstörung als notwendige Konsequenz eines instabilen, krisenanfälligen Kapitalismus, die neue Innovationen notwendig macht (vgl. Hochgerner 2011: www.*; Schumpeter 1964 [1934]). Darüber hinaus beinhaltet die Vorstellungswelt auch Fragen nach neuen Verteilungsstrukturen, Inklusions-ExklusionsMechanismen, Machtkonstellationen und Zugängen zu den Märkten und neuen Ressourcen. Sharing-Konzepte können nach Krieger (2014) bislang eher als gesellschaftliche Randerscheinung in Wohlstandsgesellschaften betrachtet werden und greifen am ehesten in urbanen Gesellschaften. Es sind nicht die sozial niedrigen Schichten, die von diesem neuen Markt profitieren oder diesen in Anspruch nehmen. Vor allem nehmen die Gutverdiener in prekären kreativen Milieus die Leistungen in Anspruch, die zum Tausch materielle Güter oder Dienstleistungen anzubieten haben (vgl. Hochgerner 2011; Krieger 2014). Daher kann man nicht von sozialer Nachhaltigkeit, die alle Bevölkerungsgruppen betreffen würde, sprechen.
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6.6.2 Persons – Product – Process – Action-Set: ‚Mehrwert schaffen umsonst‘ Die Ausstellung war von einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm begleitet, das die vorangegangenen Diskurse zum Teil aufgenommen hat. In diesem Rahmen wurde die Kunsthochschule Berlin Weißensee bzw. Prof. Dr. Kathrin Wildner in Berlin seitens der Kuratoren für einen künstlerischen Beitrag angefragt, der Bezüge zur Ausstellung herstellen sollte. PERSONS: STUDIERENDE DER KUNSTHOCHSCHULE BERLIN WEISSENSEE Eine Gruppe Studierender nahm diese Anfrage zum Anlass, über die Inhalte der Ausstellung zu reflektieren und eine ihr entsprechende künstlerische Darbietungsform zu kreieren. So entstand die performative Gemeinschaftsarbeit: ‚Aktion-Set: Mehrwert schaffen umsonst‘ im Rahmen eines Semesterprojekts in dem Masterstudiengang ‚Raumstrategien‘ der Kunsthochschule Weißensee. Die Studierenden sind eine Gruppe von Künstlerinnen aus unterschiedlichen kulturellen und künstlerischen Kontexten. Folgende Studierende haben sich für dieses temporäre Projekt zusammengefunden: Eva Schmidhuber, Laura Engelhardt, Maria Fernandez Verdeja, Patricia Breves, Pailin Tansawat, Sonja Hornung, Jolanda Todt und Mari Poller. BESCHREIBUNG Die Künstlergruppe kreierte ein Performance-Setting, das sich nicht nur durch die dargestellten Inhalte auszeichnete, sondern die Dimensionen Raum, Zeit sowie die Körper der Künstlerinnen mit einbezog. Dadurch entstand ein situationsbezogener ephemerer Bildraum, der wiederum eine wechselseitige Beziehung vom Künstler zum Rezipienten erlaubte. Abbildung 26 stellt eine Skizze der ersten Versuchsanordnung, einen möglichen Ablauf und den Rhythmus der Performance dar. Sie dient als Grundlage für die Durchführung der Performance, ist aber gleichzeitig offen, um sich bei neuen Anforderungen an die Inhalte oder den Verlauf, die sich während des künstlerischen Prozesses ergeben können, anpassen zu können.
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Abb. 26: Versuchsanordnung der Performance ,Mehrwert schaffen umsonst‘
Quelle: Hornung (2014)
Die in der Versuchsskizze enthaltene Dramaturgie und die zugrunde liegenden Regeln konnten somit jederzeit erweitert und umgeändert werden. Die Skizze (vgl. Abb. 26) zeigt das Setting der Performance und die unterschiedlichen Aufgabenbereiche der Künstlerinnen, die sie während der Darbietung übernehmen. In der Performance entsteht sowohl durch Handlungen der einzelnen Künstlerinnen als auch der Rezipienten eine prozessorientierte Produktionskette. In der Produktionskette übernimmt jede Person eine bestimmte Produktionsaufgabe in dem arbeitsteiligen Prozess. Die Produktionskette besteht aus sechs Kettengliedern, für die die jeweiligen Arbeitsschritte fest definiert wurden. Es entsteht ein Fließband an einer Werkbank (vgl. Abb. 27; vgl. Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 70ff). Dabei können während der Performance einzelne Objekte von dem Betrachter interaktiv in den Produktionsprozess eingespeist werden (vgl. Abb. 28).
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Abb. 27: Action – Set: ‚Mehrwert schaffen umsonst‘
Quelle: Scherzinger (2014)
Abb. 28: Einspeisung in die Produktionskette
Quelle: Scherzinger (2014)
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Jedes Objekt durchläuft den Produktionsprozess. Die Objekte wurden von den Künstlerinnen gemessen, dekonstruiert bzw. zerstört, um sie dann wieder neu zusammenzusetzen. Der Mehrwert in der Performance wurde somit sowohl durch materielle Arbeit als auch durch immaterielle Arbeit geschaffen. Die immaterielle Arbeit wurde in der Performance dadurch symbolisiert, dass ein Objekt beispielsweise nur betrachtet oder bewegt wurde, ohne an ihm etwas zu verändern. Zum Schluss der Produktionskette wurde das Objekt designt und symbolisch mit einer Marketingstrategie versehen (vgl. Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 154ff). Am Ende entstanden neue ‚Produkte‘, die von den Rezipienten kostenlos mitgenommen werden konnten (vgl. Abb. 29). Abb. 29: Ende Produktionsprozess
Quelle: Scherzinger (2014)
ANALYSE Die Performance ‚Mehrwert schaffen umsonst‘ knüpft an den Diskurs der Ausstellung WE TRADERS an, indem der Selbstorganisation und Eigeninitiative von Menschen eine Schlüsselrolle in den in die Krise geratenen Stadtentwicklungsprozessen zugewiesen werden – und kritisiert diese Entwicklungsprozesse zugleich. Die Kritik richtet sich aber auch gegen das Selbstverständnis der Ausstellung, dass WE TRADERS neue Werte für die Stadt schaffen sollen, die nicht nur
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im monetären, sondern vor allem in den sozialen und ökologischen Bereichen liegen sollen. Dieses Selbstverständnis verkennt nach Aussagen einiger Künstlerinnen die Realität: Künstler als Akteure befinden sich oftmals zwischen Selbstausbeutung und Selbstbestimmung. Gleichzeitig werden die Forderungen nach neuen Lösungsmodellen nur an Akteure gerichtet, während die Politik als statischer unveränderbarer Rahmen in ihrem Interesse weiteragieren darf und selbst keine sozialen Lösungsmodelle anbietet. „Der Titel ‚Tausche Krise gegen Stadt‘ […] ist sehr positiv angelegt, und es gibt ja immer diese Gefahr, und Deutschland ist ja immer noch ein Sozialstaat, und in dieser Hinsicht gibt es viele Aufgaben, die die Stadt machen müsste, machen sollte. Langsam werden die öffentlichen Aufgaben zurückgezogen. Also wo die Aufgaben der Stadt nicht mehr da sind und wo sie sich nicht mehr um die Leute kümmert, ist eine andere Geschichte, und dann glaube ich, kann man sagen, dass eine Krise etwas Positives sein kann, wo die Menschen sich sammeln und wieder etwas für sich selber machen können. Ich habe z.B. mit Menschen gesprochen, die nach der argentinischen Krise im Jahr 2001 gesagt haben, das war etwas sehr, sehr Gutes für das Gemeinwesen, für die Stadt. Aber in Orten wie Berlin ist es etwas kompliziert zu sagen, es ist gut, wenn die Leute ihr Leben für sich selber schaffen müssen, dann vergisst man auch, welche Aufgabe der Staat eigentlich noch haben sollte, und langsam wird alles zurückgefahren werden.“ (Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 176-186)
Die Folge ist, dass eine weitere Subjektivierung der Probleme stattfindet. In der Ausstellung wird daher ein euphemistischer Begriff der ‚Krise‘ transportiert, der die Krise als austauschbares Phänomen ansieht, das mit entsprechender Kreativität und mit Ideen von Akteuren nach Vorstellungen der Ausstellungsmacher ersetzt werden kann. Dahinter bleibt aber die Macht- und Verteilungsfrage um Ressourcen weiterhin unangetastet (vgl. Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 188ff). Durch die Anfrage der Kuratoren an die Künstlerinnen, ob sie etwas für die Ausstellung beitragen können, reflektierten die Künstlerinnen in diesem Zusammenhang ihre Rolle. und darüber welcher Mehrwert sie für die Ausstellung liefern können. Folgende Überlegungen haben die Künstlerinnen in die Performance integriert und daduch ihre Reflexionen selbst zum Thema gemacht: sie liefern durch ihren künstlerische Beitrag einen Mehrwert, der in dem Ausstellungsrahmen nicht vergütet wurde, aber als kultureller Mehrwert in das Verständnis der Ausstellung einfließt: ‚Mehrwert schaffen umsonst‘. Dieses Prinzip erinnerte die Künstlerinnen u.a. auch daran, dass Kunst in den letzten Jahren zunehmend als potenzieller Mehrwert in die profitorientierte Berliner Stadtpolitik
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eingeflossen ist. Dieser erschaffene Mehrwert wird jedoch weder in direkter Form (Förderungen, Lohn) oder indirekter Form (Sozialpolitik, Wohnungspolitik) an diejenigen zurückgeführt, die ihn erzeugt haben: Im ‚Kreativen-StadtDiskurs‘ wird Kunst als Aushängeschild für eine tolerante und offene Stadt genutzt sowie für Marketing- und Imagestrategien (vgl. Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 118ff). Die unternehmerische Ausrichtung der Stadtpolitik fördert mit der Wettbewerbsorientierung und ihren Umverteilungspolitiken zuungunsten der Stadtbevölkerung genau diese krisenhaften Erscheinungen, die nun in der Ausstellung thematisiert und ‚eingetauscht‘ werden sollen. So unterstützt Kunst in den Augen der Künstlerinnen unwillentlich genau jene stadtpolitische Ausrichtung: Kunst wird zu einem wichtigen verwertbaren Wirtschaftsfaktor und somit unter die Gesetze des Marktes gestellt: „Ich habe unterschiedliche Texte gelesen, aber ein Haupttext war der Text von Richard Florida ‚The Creative Class‘ und wie Kreative politisch eingesetzt und in Hamburg ausgenutzt wurden. Die kulturelle Produktion kann bewusst eingesetzt oder instrumentalisiert werden, sie erzeugt Geld für die Stadt. Und dann haben […] wir auch diskutiert, was genau Kreativität ist, und der Unterschied zwischen Kreativität und Produktivität. Kreativität eigentlich im kommerziellen Sinne […] diskutiert über Innovation und die Verknüpfung zwischen kreativ und innovativ und über die Frage, ab wann etwas nützlich sein kann. […] Geht es als kreatives Wesen darum, eine ökonomische Blase auszufüllen, sollen wir, um eine Antwort zu finden, an die Peripherie der Stadt gehen, damit man nicht ausgenutzt werden kann? Und auch was Peripherie der Stadt ist, im Allgemeinen, es geht ja weiter.“ (Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 349-362)
Ausgehend von dieser Basis stellen sich einige Künstlerinnen die Frage, welche gesellschaftliche Vorbildfunktion die Kunst noch hat und inwieweit die Kunst überhaupt noch frei sein kann oder darf (vgl. Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 448ff). Diese Fragen, wie auch unterschiedliche Erfahrungen zum Thema Krise, zur Rolle der Kunst und die des Künstlers haben die Künstlerinnen in die Performance aufgenommen. Die Performance kann in diesem Zusammenhang auch als eine Selbstuntersuchung der Künstlerinnen gesehen werden, um sich künstlerisch diesem komplexen inhaltlichen Gegenstand zu nähern und der Frage, wie Mehrwert auf unterschiedlichen Ebenen entsteht. Als Ergebnis des Gesprächs mit den Künstlerinnen kann daher die ‚prozessorientierte Produktionskette‘ auf unterschiedlichen Ebenen gedeutet werden, die einerseits unterschiedliche Zugänge der Künstlerinnen verdeutlichen, aber auch die äußeren Betrachtungsweisen wiedergeben. Nach Angaben der Künstlerinnen stellt die Produktionskette den individuellen künstlerisch-kreativen Prozess dar,
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am Ende der Kette steht ein Kunstwerk in Form eines künstlerischen Produkts. Die Produktionskette offenbart daher den Rezipienten in einzelnen, transparenten und arbeitsteiligen Schritten, wie ein Kunstwerk entsteht. Das Ergebnis des künstlerisch-kreativen Prozesses kann der Rezipient kostenlos mitnehmen (vgl. Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 139ff). Auf der Mikroebene dient dieser Prozess einer individuellen und kollektiven Selbstverortung der Künstlerinnen und ihrer Arbeit im urbanen Umfeld unter seinen spezifischen Bedingungen (vgl. Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 113ff). Auf der Mesoebene betrachtet, kann die Produktionskette als städtische Verwertungskette interpretiert werden. Demnach speisen Künstler Mehrwert in Form ihres kulturellen und symbolischen Kapitals in die städtische Verwertungskette ein. Eine Studierende bemängelte in diesem Zusammenhang, dass zahlreiche Kunstprojekte in Berlin, seien sie privat oder öffentlich ausgeschrieben, nicht finanziell unterstützt werden. Auch Berlin als Stadt hat sich dieses Prinzip auf städtischer Ebene zu Nutze gemacht, beispielsweise in der Zwischennutzungsstrategie des Tempelhofer Felds, wo Künstler kostenlos ihre Arbeitszeit für ideelle und soziale Projekte zur Verfügung stellen. In diesem Zusammenhang weisen die Künstlerinnen im Gespräch auf ihre prekarisierte Lebenslage hin. Zahlreiche Künstler befinden sich wie WE TRADERS zwischen Selbstbestimmung und Selbstausbeutung. „Ich bin in Berlin seit zwei Jahren. Ich muss sagen, meine Erfahrung ist, dass die Krise in dieser Stadt noch nicht angekommen ist, aber ich glaube, ich bin auch nicht lang genug hier, um das richtig zu begreifen, […] Ich war sehr überrascht, als ich hier angekommen bin, im Allgemeinen, wie prekär es ist. Mich hat als erstes vor allem überrascht, dass es hier noch keinen Mindestlohn gab und ich sämtliche Arten von Arbeit gemacht habe und überhaupt nicht klargekommen bin. Das hat mich sehr überrascht, da die Vorstellung von Europa von außen her ganz anders, ist. Jetzt hat sich das nochmals geändert wegen der Krise, aber aus meiner eigenen Erfahrung kann ich nicht so viel dazu sagen, mit diesem Problem mit Arbeit finden, ach und dass die Mieten immer teurer werden.“ (Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 275-283)
Nach Aussagen der Künstlerinnen ist es symptomatisch für Berlin, dass sie unter prekären Bedingungen kreativ sind, obwohl Berlin als Stadt mit ihren Imagepolitiken marktwirtschaftlich weiterhin von den Künstlern profitiert: „Die Stadt ist eine Fabrik, in der Mehrwert produziert wird, vorwiegend umsonst. Die Identität der Stadt bzw. das Image wurden durch unterschiedliche Menschen mitgetragen: Auch Künstler und Kulturproduzierende haben einen Mehrwert geliefert und unbezahlt
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etwas für die Stadt, wie sie jetzt ist, beigetragen. Wie wird Mehrwert erschaffen? Was heißt Mehrwert auch für heutige Verhältnisse?“ (Studierende Weißensee 2014, TS: Z. 7075)
Auf gesellschaftlicher Ebene stellt die Produktionskette das kapitalistische System dar, das fortdauernd Krisen produziert und nach Innovationen verlangt. Auf dieser Ebene betrachtet, zeigt die Performance in einem transparenten Prozess, wie Krisen entstehen, und wie sie durch neue Innovationen überwunden werden können. Aber sie zeigt auch, dass danach die nächste Krise folgt. 6.6.3 Process – Persons – Performance als Selbstuntersuchung Die Performance ermöglicht den Studierenden, die anfängliche Frage, wie Mehrwert auf den unterschiedlichen Ebenen umsonst erschaffen wird, prozessorientiert zu verfolgen. Es geht ihnen im Gegensatz zu Rettenmunds Performance (vgl. 6.5.3), die eine Öffentlichkeit in ihre Bildproduktionen einbindet und Begegnungsräume schaffen möchte, vielmehr darum, die Performance als Eigenuntersuchung und als einen Erkenntnisprozess zu verstehen. Dazu haben die Studierenden einen Mikroprozess entwickelt, der das Anliegen verfolgt, sich semiotisch reduziert in Form einer Produktionskette, einem komplexen Sachverhalt, zu nähern: „[…] Kunst oder Performance ist eine Art von Selbstuntersuchung. Ich habe manchmal das Gefühl, was in dieser Stadt abläuft, ist die Spitze der Änderungen der globalen Ökonomie, und in dieser Hinsicht ist unsere eigene künstlerische Position im übertragenen Sinn wie eine kulturelle Produktion in dieser Stadt, wie eine Art von Experiment zu verstehen. Und wenn man sich selbst in diesem Prozess beobachten kann, in so einer Produktionskette, vielleicht macht das auch etwas für das eigene Bewusstsein. Man kann ja viel diskutieren und theoretisieren: Was bedeutet Kreativität in der Stadt etc., aber wenn man es selbst macht, kommen neue Erkenntnisse.“ (vgl. Studierende Weißensee 2014, TS: 113121)
Durch die Einbindung ihres Subjekts in die Produktionskette versuchen sie auch zu erforschen, welche Funktionen sie als Künstlerinnen konkret in den Arbeitsabläufen einer urbanen Produktionskette einnehmen und welche Rolle ihnen auf diskursiver Ebene zugeschrieben wird. In diesem Moment wird die Performance ein Erfahrungsraum, in dem die Studierenden in einem offenen, explorativen Prozess Handlungs- und Sinnzusammenhänge und die darin befindlichen Widersprüche erproben. Die gewonnenen Erkenntnisse beruhen somit auf unmittelba-
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ren und spontanen Einsichten sowie Erfahrungen im Prozess, in den sowohl die intuitive als auch die diskursive Ebene einfließen. Durch die Überlagerung mehrerer Ebenen stoßen sie immer wieder auf Unerwartetes, das neue Fragen konkret auf die arbeitsteiligen Prozesse aufwirft. Dabei erschaffen die Studierenden, ähnlich wie bei Rettenmund, immer wieder neue unvorhersehbare Situationen. Durch neue Versuchsanordnungen und die Neukombination von unterschiedlichen Materialien und Strukturen wird diesen neuen Fragen nachgegangen, und alte Fragen werden verworfen. Die Künstlerinnen übernehmen in den jeweiligen Versuchsanordnungen wiederum neue Funktionen und Rollen und erweitern somit ihre Perspektiven auf den Prozess. Neu zusammengesetzte Strukturen erfordern ein neues kollektives Zusammenspiel der unterschiedlichen zugewiesenen Funktionen der Künstlerinnen. Mögliche Anordnungen werden miteinander verglichen und neue Kommunikations- und Aushandlungsprozesse innerhalb der Performance angestoßen. Die Performance dient daher den Künstlerinnen nicht nur dazu, einen methodischen Zugang zur Stadt und den komplexen Dynamiken zu eröffnen, sondern auch zur Suche nach einer Haltung und Meinung, wie sie sich selbst als Künstlerinnen in den urbanen Vorstellungswelten zukünftig verorten wollen. Die Rezipienten der Performance zeigten sich gegenüber der Ausstellungsthematik interessiert. So kann die Performance trotz formulierter Kritik der Studierenden gegenüber dem Selbstverständnis der Ausstellung selbst zur Reproduktion des Selbstverständnisses beitragen. „Es war eine Kritik, ja, aber wir haben sie auch akzeptiert, oder ansonsten hätten wir auch die Wahl gehabt, die Teilnahme an der Ausstellung abzulehnen oder etwas anderes zu machen, was keine Performance gewesen wäre. Aber wir haben den Rahmen für uns genutzt, in der Hinsicht können wir ihn nicht kritisieren, das wäre ja auch eine Selbstkritik an uns.“ (Studierende Weißensee 2014, TS: 108-111)
Die Fokussierung der Performance auf den Suchprozess einer Positionierung der Künstlerinnen trägt dazu bei, dass sich für den Rezipienten nur ein Teil eines Bildraumes eröffnet. Dadurch kann der Rezipient lediglich den arbeitsteiligen Prozess beobachten, die diskursive Kritik hingegen dringt nur wenig durch. Erst durch eine klarere Positionierung und durch eine weitere Öffnung über den Ausstellungskontext hinaus könnten Diskurse und Reflexionsebenen angestoßen werden, die es ermöglichen, Erfahrungen und Kritik mit dem Rezipienten auszutauschen.
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6.6.4 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Künstlerinnen auf unterschiedlichen Ebenen in die gesellschaftlichen Prozesse eingebunden fühlen. Zunächst nehmen sie in ihrer künstlerischen Position die Perspektive des Individuums – des Künstlers selbst – ein, der künstlerische Produkte und Prozesse entwirft und somit einen Mehrwert erschafft, der auf urbaner Ebene in die Verwertungslogik des ‚Kreativen-Stadt-Konzepts‘ einfließt. Auf der Ebene des Systems gesehen, werden immer wieder Krisen oder Gegebenheiten erschaffen, die wiederum neue Ansprüche an die Kunst formulieren und zur Neudefinition des Selbstverständnisses sowie der Rolle des Künstlers führen werden. In diesem Zusammenhang kann die Performance als künstlerische Methode verstanden werden, um sich einem komplexen thematischen Sachverhalt anzunähern, in den sowohl körperliches und theoretisches Erfahrungswissen als auch Alltagswissen einfließen und der zu neuen Erkenntnissen und Zugängen führt. In der Performance wird in einem gemeinschaftlichen Prozess der Sachverhalt künstlerisch erforscht. Durch kleine Veränderungen in der Performance, initiiert von den Künstlerinnen, werden immer wieder neue Gestaltungsspielräume bezüglich des Themas und des Performance-Settings ausgelotet und die eigene Positionierung angestoßen. Es werden zwar keine konkreten Lösungen an die selbst formulierte Kritik angeboten, jedoch gedankliche Reflexionsebenen eröffnet. Diese beziehen sich auf die Frage, wie performative Wissensproduktionen funktionieren, wo ihre Potenziale und Grenzen liegen und welche Analogien zu wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen gezogen werden könnten. Hierzu können Überlegungen angestellt werden, inwiefern der wissenschaftliche Prozess bereits Ebenen und Mittel der Performance integriert hat: Inwiefern entsteht in der Wissenschaft ein Mehrgewinn darin, das forschende und mitforschende Subjekt stärker einzubinden (vgl. Peters 2013), den Forschenden im Forschungsprozess besser zu reflektieren und ergebnisoffen vorzugehen? Kann die Wissenschaft, wenn sie diese transparente und experimentelle Vorgehensweise, die aus der performativen Praxis ersichtlich wird, adaptiert, besser auf komplexe Anforderungen reagieren und so ein Feld einer transdisziplinären Forschungsweise erweitern? Kann Wissenschaft stets neue Fragen stellen, die wie in der performativen Praxis innerhalb des wissenschaftlichen Forschungsprozesses immer wieder hinterfragt werden (vgl. Wildner 2015)? Können wir eine multimodale Herangehensweise kreieren, die den komplexen Erfordernissen des gesellschaftlichen Wandels gerechter wird und neue Erkenntniswege integriert, die im Wissenschaftsjargon als vorwissenschaftlich gelten (wie Meinungen, Haltungen, Erfahrungen, Träume) (vgl.
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Dickel & Scharvogel 2012)? Ermöglicht die Integration der Erkenntniswege, einerseits Stadt in neuen Zusammenhängen zu denken und andererseits näher an den Bedürfnissen zu sein? Aus der Erfahrung der Performance der Studierenden heraus kann Wissen nicht nur innerhalb bestehender institutioneller Rahmenbedingungen erzeugt werden, das zur Reproduktion dieser Rahmenbedingungen führen könnte. Vielmehr kann die Erzeugung von Wissen auch als Prozess verstanden werden, der Reflexionsebenen integriert, die außerhalb der institutionellen Rahmenbedingungen zu finden sind und eine breitere Öffentlichkeit ansprechen. Genau dieser letzte Reflexionsraum wird durch die Performance eröffnet und zeigte in diesem Fall ihre Grenzen auf. Die Studierenden agieren in dem institutionellen Rahmen, den sie auch kritisieren. Mit ihrer Performance schaffen sie einen kostenlosen Mehrwert für die Ausstellung und haben keine alternative Antwort auf die Frage, wie auf städtische Krisen reagiert werden sollte, sondern sie reproduzieren den Diskurs, indem sie ihre soziale Kreativität kostenlos vermarkten. Durch die Fokussierung der Performance auf die Gruppe der Studierenden selbst wird die Einbindung des Betrachters marginal. Die Studierenden kreisen um ihre Ideen, die sich erst durch das Gespräch in Form von Wissen materialisieren. Erst als die Studierenden im reflexiv-explorativen Gespräch über die performative Methode nachgedacht haben, zeigt sich, welche Alltagserfahrungen die Künstlerinnen in Berlin gemacht haben und wie sie diese beurteilen. Da die Performance keine Visionen und konkreten Lösungsangebote offeriert, zielen weitere Fragen des reflexiv-explorativen Interviews darauf ab, ob es Wünsche oder Begehren aus der Alltagspraxis gibt: Diese könnten auch aus der Kritik, die die Künstlerinnen an dem Selbstverständnis der Ausstellung formulieren, abgeleitet werden. Auf die Frage, was aus dieser Kritik in Bezug auf eine Umkehrung der Ansätze oder in Bezug auf Visionen für eine zukünftige Urbanität folgen könnte, wurde folgende Antwort formuliert, die auch das Wesen der Performance widerspiegelt: „Wenn man kritisiert, muss man auch eine Alternative im Kopf haben oder eine Vorstellung oder einen Vorschlag – ethisch eigentlich, wenn man eine Kritik äußern möchte, dann sollte man auch einen Vorschlag haben, in diesem Fall kann ich keinen nennen, die Probleme der Welt sind so viele: man hat in seinem Kopf immer Vorstellungen: Wie schön wäre es, wenn wir alle zum Beispiel in einer großen WG wohnen könnten oder in einem Haus, wo alles selbst designt ist, und wo man seine eigene politische Wirklichkeit lebt, einen kleinen ‚Umkreis‘ gestalten könnte und sozialistische Ideen über Teilen und nicht mehr Geld benutzen und solche Geschichten diskutiert. Natürlich hat man die Visionen – wie man dazu kommt, ist eine andere Frage – aber ich sehe keine konkrete Lösung.“ (Studierende Weißensee 2014, TS: 376-383)
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In dieser Aussage zeigt sich, dass Visionen zwar formuliert werden, sie aber als nicht umsetzbar erscheinen. So scheint der Weg dahin oder die prozesshafte Annäherung an eine Vision eher eine vorstellbarere Idee zu sein, denn eine Vision. Es werden Potenziale von kollektiven Arbeitsformen und Gemeinschaften betont, die einen Gegensatz zur Individualisierung der Gesellschaft darstellen könnten. Diese würden nur dann einen bedeutsamen gesellschaftlichen Wert haben, wenn die Existenzgrundlage der Menschen gesichert wäre (vgl. Studierende Weißensee 2014, TS: 229). Daher ergab sich im Gespräch die Frage, was Arbeit überhaupt noch in diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen heißt und welcher neue Wert ihr beigemessen werden müsste. Zudem wurde vorwiegend auf die Transparenz hingewiesen, die seitens der Stadtpolitik notwendig sei, um Prozesse und die Komplexität zu durchschauen, um entsprechend neue, auch politische Ansatzpunkte, zu kreieren. Diesen Transparenzprozess wollten die Studierenden in ihrer Performance zeigen. Die Suche nach Antworten in der Performance steht in Wechselwirkung mit der Suche nach einer übergeoredneten Antworten auf Fragen, wie eine bessere Gesellschaft entstehen kann. Der Moment und die Auslotung der Möglichkeiten in der Gegenwart stehen im Vordergrund der Studierenden, um sich diesen Fragen zu nähern.
6.7 S ILVIA M ARZALL : D ER P ILOTPLAN UND SEINE T RAMPELPFADE
DER
M ODERNE
6.7.1 Person Silvia Marzall wurde 1980 in Brasilia/Brasilien geboren. Dort und in Rom/Italien aufgewachsen, lebt und arbeitet sie seit 2000 in Berlin. Sie studierte von 1998 bis 2000 an der Universidade de Brasília und setzte ihr Studium ab 2001 bis 2006 an der Universität der Künste in Berlin fort. Darauf aufbauend folgte von 2007 bis 2010 der Masterstudiengang ‚Art in Kontext‘, ebenfalls an der Universität der Künste. 2010 hat Marzall bei dem Stipendienprogramm ‚Goldrausch Künstlerinnenprojekt art IT, Berlin‘ teilgenommen. Sie hat zahlreiche Gruppen-, Einzelausstellungen und Projekte verwirklicht, so u.a. ‚Ongoing‘ in dem Projektraum ‚uqbar‘ in Berlin 2015, ‚Berlin-Brasília: linhas, percursos, tramas‘ in Brasilia 2013 sowie ‚Brasília Contemporânea‘, ebenfalls in Brasilia 2013. Die im Folgenden vorgestellten Arbeiten ÜBER BLICK (2010) und belveder (2010) stellen beispielhaft Marzalls Zugang und ihren urbanen Blick auf Brasilia dar. Marzalls Faszination und ihr Interesse an ihrer Heimatstadt, in der sie ihre
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Kindheit verbrachte, entdeckte sie verstärkt durch ihre letzte Reise dorthin, in der sie die Veränderungen der Stadt und die Veränderungen ihrer eigenen Emotionen gegenüber dieser Stadt durch die Entfernung wahrnahm und reflektierte (vgl. Marzall 2014, GD: Z. 182f). Sie suchte daher eine erneute Annäherung an Brasilia: „Dort bin ich Beobachterin einer mir gleichsam vertrauten und dennoch fremd gewordenen Umgebung. Vertrautheit und Fremdheit greifen ineinander über und lenken die Perspektiven, aus denen ich die Stadt neu wahrnehme. Der so verschobene Blick auf den Stadtraum ist zum einen geformt durch Erinnerung an einen Ort, der zu meinem Alltag gehörte, aber nun durch die gewonnene geographische Distanz eine fragmenthafte Bildlichkeit bekommt. Zum anderen wird er durch die Erfahrung des Besuchens, Zurückkehrens und Neuzurechtfindens geprägt.“ (Marzall 2010: 4)
Marzall erforscht Brasilia auf künstlerischer Ebene und erarbeitet in diesem Zusammenhang sowohl historische als auch formal kontextualisierte Bezüge der Stadt heraus. Sie reflektiert übergeordnet, was städtische Räume (1) in ihrer Konstitution an Möglichkeiten bieten, (2) welche Voraussetzungen sie schaffen, aber (3) auch, was Räume verhindern und nicht möglich machen. Marzall nimmt unterschiedliche Perspektiven ein, aus denen sie Brasilia als Stadt wahrnimmt. Diese Wahrnehmungen entstehen nach Angaben der Künstlerin immer in situ, also gegenwärtig in dem Augenblick, somit ist sie eine Beobachterin der Gegenwart (Marzall 2014, FP: Z. 192ff). Zwar sind die vorliegenden Kunstwerke und ihre (künstlerische) Forschung kontextuell nicht auf Berlin bezogen, aber vor dem Hintergrund meiner Fragestellung, wie eine künstlerisch raumbezogene Vision einer zukünftigen Urbanität aussehen könnte, schien Brasilia als verwirklichte Stadt einer Utopie einen interessanten Ausgangspunkt für den explorativen, transdisziplinären und empirisch angelegten Forschungsprozess zu bieten. Auf Grundlage des Essays wurden zwei vorhandene künstlerische Arbeiten von Marzall ausgewählt, die bereits Gegenstand ihrer Masterarbeit in dem Studiengang Art in Context (UDK Berlin) waren. Daher lagen zusätzlich zu dem visuellen Material schriftliche Kommentare der Künstlerin vor. In einem wechselseitigen inhaltlichen Austausch wurden unterschiedliche Reflexionsebenen über die Inhalte des Essays hinaus erarbeitet und Überlegungen angestellt, wie aus ihren künstlerischen Zugängen als Beobachterin und einer von mir durchgeführten Stadtführung zu dem Thema Urbane Visionen, Utopien, Zukunftsversprechen‘ (vgl. ‚Stadt(t)Räume: Scherzinger 2014), an der die Künstlerin teilnahm, Querbezüge zu Berlin und zum Thema Urbanität geschaffen werden könnten. So entstand in dem wechsel-
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seitigen Austausch eine Art vergleichende Studie zwischen den beiden Städten Berlin und Brasilia mit Fragen zu Visionen und Urbanität, aber auch der Frage, wie das derzeitige Potenzial von Städten in Verbindung mit ihren künstlerischen Methoden verstanden, dargestellt und untersucht werden kann. Als schriftliches Ergebnis fertigte Marzall ein Skizzenpapier an, das ausgehend von ihrer künstlerischen Herangehensweise und den gemeinsamen Gesprächen entstanden ist. Zur Auswertung der künstlerischen Position lagen neben dem Transkript aus dem reflexiv-explorativen Gespräch (TS) und dem Transkript aus der Gruppendiskussion (GD) auch ihre Masterarbeit (vgl. Marzall 2010) und ein Feldprotokoll (FP) vor. Das Feldprotokoll beinhaltet den E-Mail-Austausch bei inhaltlichen Nachfragen und das entstandene Skizzenpapier. 6.7.2 Press – Brasilia: Utopie der Moderne Brasilia gilt als gebaute Utopie der Moderne und zählt seit 1987 zum UNESCOWeltkulturerbe (vgl. UNESCO 2014: www.*). Visionen und Entwürfe von Idealstädten lassen sich bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen und einige wurden wie Brasilia verwirklicht (vgl. Benevolo 1990). Die am Reißbrett geplante Stadt wurde ab 1957 in vier Jahren erbaut und löste Rio de Janeiro 1960 als Regierungssitz und Hauptstadt Brasiliens ab. Sie spiegelt den Zukunftsglauben, das Machtsystem der damaligen Zeit, aber auch die sozialutopischen Ziele des für die Planung und für den Bau verantwortlichen Stadtplaners Lúcio Costas und des Architekten Oscar Niemeyer wider. Beide arbeiteten zuvor bereits mit Le Corbusier zusammen, der die Charta von Athen entwickelte und neue Aufgaben an eine moderne Stadtentwicklung formulierte. Diese Charta wurde 1933 auf dem IV. Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) von Stadtplanern und Architekten verabschiedet. Sie sahen die Charta als notwendige Reaktion auf die schlechten und segregierenden Lebensbedingungen der Menschen an, die sich durch Übervölkerung und funktionale Vermischung von Arbeit und Leben sowie durch das rasante Städtewachstum infolge der Industrialisierung ergaben. Eine baulich funktionale Einteilung der Städte in Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereiche und eine Ausrichtung auf den Individualverkehr sollten der Verdichtung und Segregation in Städten entgegenwirken und zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen führen. Zahlreiche dieser Überlegungen beeinflussten Costas und Niemeyer in der Planung Brasilias (vgl. Williams 2005: 123). Brasilia sollte eine „gerechte Stadt für gleichberechtigte Bürger werden, was sich in der Anlage der Wohnbauten und ihrer geplanten Einheitlichkeit ausdrückte“ (Bader 2010: www.*). Brasilia sollte auf die Zukunft verweisen und dem „Wunsch der Brasilianer nach einer modernen Gesellschaft“ (Bantel 1994:
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www.*) nachkommen. Dieser Fortschrittsglaube (auch technologischer Natur) zeigte sich stellvertretend im Grundriss in einer Form eines Flugzeugs mit einer Monumental-Achse und zwei Flügeln. In dem Rumpf des Flugzeugs sind die Regierungsgebäude angesiedelt und in den Flügeln die Wohnblöcke, die in einer Viererkonstellation zu Superquadras angeordnet sind: „Brasília wurde 1957 in die brasilianische Savanne hineingezeichnet. Als Exempel der städtebaulichen Moderne basiert die am Reißbrett entstandene Stadt auf dem Koordinatensystem einer Rasterstruktur und auf einem effizienten Straßensystem.“ (Marzall 2014, FP: Z. 82-85)
Die im Grundriss breit angelegten Straßen verbildlichen die Ausrichtung der Stadt auf das Auto. Zudem sollten sie die einzelnen Funktionseinheiten verbinden. Die Stadt wurde für 500.000 Einwohner geplant und war für weiteres Wachstum nicht ausgerichtet. Um der Segregation in der Stadt entgegenzuwirken, wurden einige Überlegungen städtebaulicher Art angestellt: Die Superquadras als Konstruktion wurden auf sogenannten Pilotis gebaut, die Stützpfeilern ähneln. Die Idee dahinter ist, dass das Erdgeschoss von privatem Besitztum ‚befreit‘ wird und es entsprechend nicht als privates Gelände markiert werden kann. Im Gegenzug sind diese offenen Pfeilerkonstruktionen der Öffentlichkeit zugänglich. Obwohl auch zu Beginn der Entstehung Brasilias Segregation vorhanden war, sah Niemeyer das Projekt und seine utopische Vorstellung einer besseren Stadt und den Sense of Community nach Vorstellungen Costas erst nach dem Militärputsch 1964 als gescheitert an (vgl. Bader 2010: www.*; Dekker 2000). Durch eine weltweite kapitalisierte Entwicklung und durch neoliberale Einflüsse auf die Stadt verschärfte sich die soziale Segregation in Brasilia zusätzlich, daher sah Costas kaum Möglichkeiten, ihr entgegenzuwirken (vgl. Zapatel 2005). 6.7.3 Products – ‚ÜBER BLICK‘ und ‚belveder‘ Die beiden Arbeiten ‚ÜBER BLICK‘ und ‚belveder‘ werden zunächst einzeln beschrieben und dann anschließend gemeinsam analysiert. Es handelt sich um zwei Darstellungen – eine Zeichnung und eine fotografische Dokumentation –, die zwar Ausdruck zweier Zugänge sind, aber das gleiche Thema behandeln. BESCHREIBUNG ‚ÜBER BLICK‘ In der vorliegenden Arbeit ‚ÜBER BLICK‘ erkundet die Künstlerin ihre Heimatstadt aus der Ferne bzw. aus der Vogelperspektive (vgl. Abb. 30).
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Abb. 30: ‚ÜBER BLICK‘
Quelle: Marzall (2010), Zeichnung, Dimension: 325 x 27 cm
Die Entfernung spiegelt zunächst auch ihre emotionale Entfernung von einem Ort der Erinnerung wider. Die Künstlerin stellt fest, dass zahlreiche Menschen das Hilfsmittel Google Maps verwenden, um sich einem Ort anzunähern oder ihn aufs Neue visuell zu erkunden. Auch die Künstlerin nutzt das kommerzielle Software-Programm Google Maps, um sich einen ersten Überblick über ihren Heimatort zu verschaffen. Für ihre künstlerische Annäherung nutzt sie als Grundlage eine Karte von Google Maps, die den kompletten Grundriss der Stadt Brasilia abbildet. Dabei zeichnet sie in Feinarbeit die Konturen der Grundrisse auf DIN-A4-Blättern nach (vgl. Marzall 2014, GD: Z. 195) (vgl. Abb. 30 & Abb. 31). Dieses künstlerische Herantasten an die Stadt erlaubt ihr, den planerischen Top-Down-Blick des Planers Lucio Costas einzunehmen, um sein Verständnis und seine Ideale einer Stadtgestaltung zu verstehen. Einerseits arbeitet sie die Monumental-Achse zeichnerisch heraus, die nach Marzall die Erhabenheit der Pläne der Stadt darstellt, und kontrastiert sie andererseits mit städtischen Strukturen, die normalerweise in dieser städtischen Textur verborgen bleiben (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 77). Abb. 31: Monumental-Achse und Trampelpfade
Quelle: Marzall (2010); (Ausschnitt aus ‚ÜBER BLICK‘)
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Marzall macht sie hingegen zeichnerisch sichtbar (vgl. Abb. 31). Dabei handelt es sich um Strukturen, die von Menschen erschaffen sind. Es sind Spuren, die eine menschliche Aktivität verdeutlichen, in den Raum eingezeichnet sind und dort nicht erwartet werden würden: Die Spuren sind Trampelpfade, die die großen Rasenflächen der Monumental-Achse Brasilias netzartig durchziehen (vgl. Guidi 2015: www.*; Marzall 2010). Diese Wege sind folglich in keiner offiziellen Karte eingezeichnet. BESCHREIBUNG ‚BELVEDER‘ Die zweite vorgestellte künstlerische Arbeit ‚belveder‘ (Fotoinstallation mit 44 Fotografien, vgl. Abb. 32) ebenfalls im Jahr 2010 in Brasilia entstanden und stellt eine Erweiterung der Sicht der Künstlerin auf Brasilia und auf die im Grundriss entdeckten räumlichen Irritationen dar. In dieser Arbeit wechselt Marzall die Perspektive von der Horizontalen zur Vertikalen und begibt sich zu den netzförmigen Spuren vor Ort. Die Künstlerin untersucht im städtischen Raum die sichtbaren räumlichen Aneignungsformen, die Trampelpfade von Menschen, die durch das Gehen entstanden sind und die ihrer Meinung nach im Widerspruch zur autogerechten Planung der Stadt Brasilia stehen: Nach Brasilia kommen täglich fast eine Million Menschen aus den Satellitenstädten, um in der Innenstadt zu arbeiten. Sie sind gezwungen, von dem Busterminal in das Stadtzentrum zu laufen. „Das Gehen spricht in einer Stadt für Autobesitzer sozialökonomische Aspekte des Stadtraumes an. Die soziale Segregation, die kolonialen Strukturen entspringt, setzt sich stadträumlich fort und hinterlässt sichtbare Trampel-Spuren als Index für die organische Umnutzung des geometrischen Pilotplanes.“ (Marzall 2014, FP: Z. 91-94)
Marzall untersucht die räumlichen Irritationen, in dem sie den sichtbaren Spuren des Gehens vor Ort folgt und die Spuren in der Stadtlandschaft fotografisch dokumentiert. So entdeckt sie die Pfade der brasilianischen Arbeiter. In diesem Moment verlässt die Künstlerin den übergeordneten Blick des Planers, den sie zuvor eingenommen hatte, und taucht in die urbane Realität der Menschen ein, in der sie das Gehen als eigenständige Praxis und Methode der Erkenntnis erfährt. Durch ihre fotografische Dokumentation ergibt sich eine Straßenansicht, die auch von Google View bekannt ist und ihre neu eingenommene Perspektive darstellt.
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Abb. 32: ‚belveder‘
Quelle: Marzall (2010), Fotoinstallation, Größe variabel
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ANALYSE Nach Marzall stehen die Trampelpfade sinnbildlich für eine Umnutzung der vorgegebenen Strukturen und Normen, die sich aufgrund unterschiedlicher Bedürfnisse der Bewohner oder der Pendler, die in Brasilia arbeiten, ergeben. „Trampelpfade und ähnliche Spuren ungeplanter Nutzung (wie die Rodelspuren) weisen einerseits auf die Fehlbarkeit von Plänen hin und können gleichzeitig als Optimierung des bestehenden Systems betrachtet werden, mittels Aneignung und Umnutzung der vorgegebenen Struktur durch die in ihr existierenden Menschen.“ (Marzall 2014, FP: Z. 117-120)
Unsichtbare bzw. drängende menschliche Probleme und Bedürfnisse finden demnach laut Marzall ihre eigenen räumlichen Lösungen. Diese räumlichen Lösungen können aber auch Konflikte und Spannungen erzeugen, da sie für einen transformativen Prozess stehen, der die vorgegebenen Normen und Strukturen hinterfragt. Dabei handelt es sich um ‚leise‘ Spuren, um materielle Einschreibungen, die nicht als Konflikte äußerer Gewaltanwendung zu verstehen sind. Vielmehr sieht Marzall in den Spuren eine unausweichliche Folge dessen, was in der Stadt benötigt wird. Diese Spuren sollten nach Aussagen der Künstlerin erkannt und dann ihre Botschaft entschlüsselt und gelesen werden. Die Menschen schreiben ihren Text und materialisieren ihn in Form von Spuren in den Raum, die oftmals übersehen und nicht weiter gelesen und interpretiert werden (Marzall 2014, GD: Z. 264ff). „Die Folge ist, dass das Raster als rein geometrisches Muster von Fußgängern aufgebrochen bzw. verändert wird. Durch die neuen Verbindungswege wird es zum Netz. Die zeitgenössische Stadtnutzung kehrt zu einer organischen Netz-Form zurück, wodurch in Teilen die Modellstadt umfunktioniert und angeeignet wird.“ (Marzall 2010: 5)
Symbolisch gesehen, wird durch das Gehen das Raster der Stadt und somit ihre strenge geometrische Anordnung aufgelöst. Durch die Verbindungen des Rasters und der Pfade ergibt sich eine visuelle organische Netzstruktur. Die sichtbaren Pfadspuren verweisen nach Marzall auf die Unmöglichkeit des Planens und gleichzeitig auf die Möglichkeiten eines alternativen räumlichen Gebrauchs (vgl. Marzall 2014, TS: Z. 30-33). Des Weiteren beinhalten diese in den Raum eingeschriebenen Texte nach Marzall jeweils eine eigene Geschichte, eine eigene Poesie, eine eigene Ästhetik und eine eigene Schönheit: „Ich glaube, das sind gewisse Zeichnungen, Markierungen und Oberflächen, also Materialien im öffentlichen Raum, die eine Geschichte erzählen und die wieder auf bestimmte
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Geschichten hinweisen, so wie die Pappen, mit denen die Leute in Brasilia den Hang runterrutschen. Der kleinste gemeinsame Nenner aller meiner Arbeiten ist: Die Welten der Umnutzung von vorgegebenen Räumen und Strukturen sowie Markierungen und Zeichnungen zu erkunden.“ (Marzall 2014, FP: Z. 764-768)
Durch die Untersuchung der Trampelpfade stieß sie auf weitere Zeichen im Raum. Sie entdeckte entlang der Pfade Pappkartons und die Geschichten dieser Spuren, die auf die Menschen und ihren Alltag sowie ihre Freizeitgestaltung verweisen (vgl. Abb. 33): Am Wochenende verwandelt sich die Hangfläche vor dem brasilianischen Parlament in eine Rodelbahn. Die Pappen, die als weitere Spur zu lesen sind, sind die Hilfsmittel der Rodler. Mit den Pappen rutschen Jugendliche und ganze Familien den Hang herunter. Mit Augenzwinkern verweist Marzall auf ein weiteres Nutzungskonzept der Stadt, in der die Menschen vor dem Hintergrund des Rodelns in ihrer Freizeit zu Experten der Rasenbeschaffenheit werden, und ein neues Erfahrungswissen entsteht (vgl. Marzall 2014, GD: Z. 264ff). Abb. 33: Trampelrutsche
Quelle: Marzall (2010), Fotoprint
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Dieses Nutzungskonzept bzw. dieser Aneignungsprozess der Menschen steht wiederum im Kontrast zu der Kulisse des monumentalen, funktionalen und politischen Architekturszenarios. Er spiegelt eine Spontaneität der Nutzung wider, die der baulichen Funktionalität entgegentritt (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 20ff). Marzalls künstlerische Untersuchung in Brasilia besitzt nach ihrem Verständnis auch einen Modellcharakter. Brasilia dient als Fallbeispiel, dem eine Beobachtung von Zusammenhängen zugrunde liegt, die auch auf andere räumliche Kontexte und Stadtlandschaften übertragen werden kann (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 9ff). Es geht zum einen um Planung des Vorgegebenen und zum anderen um dessen Umnutzung oder um die spezifische Aneignung von Räumen. Die Menschen, die in der Planung bewusst oder unbewusst unberücksichtigt bleiben, eignen sich zum großen Teil diese Räume an. Sie hinterlassen dabei, so die These von Marzall, Spuren, Markierungen und Zeichnungen, die auf die Diskrepanz zwischen Planung und realer Nutzung und den dahinter liegenden Geschichten verweisen (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 135ff). Diese Diskrepanz kann aber auch durch einen zeitlichen Wandel und durch neue Anforderungen an die Städte und die Aufnahme neuer Leitbilder entstanden sein. Im übergeordneten Verständnis zeigt die Planung immer auf, an wen sie sich konkret richtet und welche Leitbilder und Vorstellungswelten dahinter stehen, beispielsweise die ,sozialistische Stadt‘ oder die ‚europäische Stadt‘. Obwohl Brasilia für alle Menschen geplant wurde, finden neue Tendenzen von Distinktionen statt: „Stadtraumordnungen – vorgegebene oder durch die Nutzer erstellte – [sind] auch Machtordnungen, die bestimmte Nutzer eingliedern und andere ausgliedern oder ausschließen. Das System bietet zum einen Anwendungsregeln und zum anderen Formen (Straßen, Räume, Zeichen wie Schilder und Adressenkoordinaten etc.), die zur Nutzung oder NichtNutzung (Ausschluss, Verbote) zur Verfügung stehen. Es gibt demnach einerseits die Regeln für die Nutzung der Formen und andererseits die tatsächliche Verwendung dieser Formen. Die stadträumliche Ordnung bietet einerseits Möglichkeiten an – in Brasilia sind es schnelle Straßen, offene Durchgänge, Gärten – und andererseits setzt sie Verbote fest, oder besser gesagt, bietet sie gewisse Möglichkeiten nicht an. In Brasilia sind es z.B. mangelnde zum Straßennetz vergleichbar effiziente Fußgängerwege auf der MonumentalAchse. Der Gehende aktualisiert, er bestätigt die vorgegebenen Wege oder er erfindet neue Möglichkeiten durch Abkürzungen, Umwege, Improvisationen.“ (Marzall 2010: 72)
Ausgangspunkt der künstlerischen Forschung von Marzall sind Beobachtungen von punktuellen Vorgängen, die sie berühren und die sie wie auf der Überblickskarte von Google z.T. in Form von Spuren zufällig entdeckt hat. Hinter dieser Entdeckung stehen auch Überlegungen zu sichtbaren und unsichtbaren Struktu-
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ren in städtischen Räumen (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 778ff). Marzall zeichnet das Gesehene nach, um Zusammenhänge zu erkennen und sucht zugleich nach neuen Querverbindungen, um Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man Städte neu denken kann. Eine der Möglichkeiten, neue Erkenntnisse zu generieren, sind nach Marzall die beiden immer wiederkehrenden Strukturen aus ihren Beobachtungen im urbanen Raum: Einmal das ‚Raster‘, das rein geometrische Muster der Stadt Brasilia, und einmal das ‚Netz‘, das sich filigran durch das Raster in Form von Trampelpfaden zieht. Die Kombination von Raster und Netz ergibt eine neue organische Netzstruktur (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 197). RASTER UND NETZ ALS DENKMODELL Die Formelemente ‚Raster‘ und ‚Netz‘ sind der Ausgangspunkt zahlreicher Überlegungen von Marzall. Sie bilden (1) die formale Grundlage ihrer künstlerischen Arbeiten. Darüber hinaus dienen Raster und Netz (2) als Gegenstände ihrer Recherche zu Visualisierungen des urbanen Raumes und (3) als Gegenstände ihrer ästhetischen und theoretischen Auseinandersetzung mit urbanen Fragestellungen: demnach können Raster und Netz jeweils als eigenständiges Denkmodell oder als eigenständige Prinzipien gesehen werden. Das ‚Raster‘ kann in diesem Zusammenhang nach Marzall ein Denkmodell der Moderne darstellen, in dem die Vorstellung des Raums der Moderne starr, unbeweglich und standardisiert wirkt und auf Materialität ausgelegt ist (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 149ff). Hinter dieser modernen Vorstellung steht auch das rational lineare Denken, das normativ in die Planung Brasilias Eingang gefunden hat. Dieses Raster wird von einer Idee des sich verändernden Raums überlagert. Das ‚Netz‘ stellt in diesem Fall das Paradigma der Postmoderne dar und übernimmt durch die Überlagerung des Rasters eine neue zeitliche gesellschaftliche Formation. Marzall geht in ihrer künstlerischen Forschung auch auf die Bedeutung von Raster und Netz in der Kunst ein (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 229ff). Die Kunsttheoretikerin Krauss beschrieb in ihrem 1979 erschienenen Artikel Grids das Raster bzw. Gitternetz als formales Kennzeichnen, das die Kunst des 20. Jahrhunderts wesentlich von der Kunst des 19. Jahrhunderts abgrenzt. Das Raster gilt bis heute als ein ‚Emblem der Moderne‘, das als ein Abstraktionsmerkmal im Streben nach Autonomie des künstlerischen Objekts betrachtet werden kann (vgl. Krauss 1979). Indem die beiden Begriffe ‚Raster‘ und ‚Netz‘ nach Marzall als Begriffspaar zusammengedacht werden, werden zugleich die Unterschiede beider Denkmuster einsichtig: Einerseits das streng Geometrische und Modulartige und andererseits das Flexible, das sich Ausdehnbare, das Verdichtete (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 131). Diese Denkmodelle weisen in ihrer Dichotomie auch auf die Gegenüberstellung von fordistischen und postfordistischen städtischen Regulationswei-
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sen hin. In der Vorstellung der Gleichzeitigkeit und Überlagerung beider Strukturen ergibt sich das, was visuell und räumlich als Wandel abgebildet werden kann und was ein Indiz für die Gegenwart ist, um mögliche städtische Trends bzw. Zukunftsideen abzuleiten. Marzall schließt von den Strukturen des Rasters und des Netzes an theoretische Diskurse an, die in dieser Dichotomie der beiden Strukturen ein Handlungsmodell formen. Dazu knüpft sie an die ‚Strategie-Taktik-Theorie‘ von Certeau (1989) an: Verkürzt dargestellt sind Strategien nach Certeau (1989) Mechanismen, die den Raum kontrollieren und normieren. Es sind Strategien der Mächtigen, der Planer, die den Raum organisieren bzw. schaffen und die ein Kräfteverhältnis vorgeben (Raster), während Taktiken Handlungen von Menschen sind, die in der vorgegebenen Raum- und Zeitordnung die Lücken des kontrollierten Raumes und Inkonsistenzen vorgegebener Strukturen finden und diese dann für sich nutzen (Netz). Dabei können zwei Arten von Taktiken unterschieden werden: Einerseits unterwandern sie die Strategien der Planer und reinterpretieren den Raum, oder sie unterstützen die Mechanismen für ihre eigenen Belange. Folgende Einschätzung gibt Guidi (2015) in diesem Zusammenhang zu Brasilia in Bezugnahme auf Marzalls Arbeiten und Überlegungen: „In many cases, even the ,tactics‘ enacted by private citizens have been adopted to increase forms of exclusion instead of operating in favour of a collective project. Costa’s pilotis, for example, which were meant to elevate the buildings and liberate the ground, turning it into a shareable and public space, have slowly been deprived of their actual meaning; through subtle forms of appropriation the passages have increasingly been closed off, producing invisible but effective borders between the different social classes that inhabit Brasilia.“ (Guidi 2015: www.*)
Übergeordnet betrachtet haben wir eine Gegenüberstellung zweier Vorstellungsund Handlungspraxen: Einerseits von dem Plan mit dem dahinter stehenden Ideal bzw. der Vorstellungswelt der Stadtplanung der Moderne, die sich materialisiert und räumlich verfestigt und andererseits mit den Menschen und ihrer urbanen Alltagspraxis. Materialisierung und Verfestigung stehen den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen gegenüber. Diese Gegenüberstellung benötigt nach Andringa (2004: 11) eine Mediationsebene, in der ein beidseitiger Gestaltungsprozess eröffnet würde. In diesen sollen Expertise und Ideen Eingang finden, wie eine Stadt neu gedacht werden kann und dabei von Nutzen für die Stadtbewohner wäre. In diesem Zusammenhang kann kritisch hinterfragt werden, was Veränderung überhaupt bedeutet. Vor allem die weltweiten Globalisierungsprozesse er-
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fordern Umstrukturierungen in den Städten, auf die aber nicht alle Städte – verkürzt dargestellt – in ihrer Ganzheit betrachtet aufgrund etwa ihrer baulichen Determiniertheit reagieren können. In der Stadtforschung werden beispielhaft USamerikanische Städte aufgeführt, die in ihrer inneren städtischen (Infra-)Struktur lange Zeit auf den dominanten Sektor der Industrieproduktion ausgerichtet waren. Diese strukturelle und bauliche Ausrichtung jedoch ist hinderlich, um sich flexibel an neue Regulationserfordernisse anpassen zu können. Dieser Zustand läutet meist das Ende des Innovationszyklus einer Stadt ein (vgl. Eckardt 2012; Strelow 2006: www.*). Brasilia, die nach den Gestaltungselementen der Moderne und mit utopischen Ideen gebaut wurde, war nicht auf weiteres Wachstum ausgerichtet. Daher wird die Frage der flexiblen Anpassung der Stadt von Stadtplanern auch als gegenwärtiges Problem Brasilias diskutiert (vgl. Williams 2005). Vierzig Jahre nach der Fertigstellung der Stadt ist einerseits ein baulicher Zeitgeist konserviert worden, der den Gedanken an die Vergänglichkeit von Städten darstellt. Andererseits kann auf dieser Grundlage auch überlegt werden, ob nicht genau diese Stadt in der Unveränderbarkeit ihrer baulichen Strukturen eine Form des Protektionismus gegenüber äußeren Einflüssen darstellt, mit der Folge, dass sie nicht so schnell überformt werden kann. Daher kann das Raster auch als Sicherheit verstanden werden, welches zukünftige andere Normen verhindert. Die Künstlerin betont in diesem Zusammenhang, dass es in ihrer künstlerischen Arbeit nicht darum geht, fortschrittliche gesellschaftliche Gedanken in Frage zu stellen, sondern diese in ihrer Umsetzung in der Realität und im Alltag der Menschen vor Ort zu messen. Sie sieht trotz ihrer Planungskritik zahlreiche Potenziale der derzeitigen Stadtstruktur, die sich an der Brasilias verdeutlichen lassen. Sie betont, dass die baulichen Konstruktionen auch mögliche Schutzräume für Menschen anbieten wie einen Schutz vor Investoren, da bauliche Veränderungen kaum vorgenommen werden dürfen. Dadurch können mögliche nachteilige Veränderungen abgefedert bzw. verlangsamt werden (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 77ff). Die Denkmodelle Raster und Netz können in der gedanklichen und künstlerischen Anwendung als eine generelle Planungskritik verstanden werden, die sich nicht nur gegen Brasilia als realisierte Utopie, sondern auch gegen die gegenwärtigen Diskussionen von stadtplanerischen Visionen und Leitbildern richten kann. Somit können nach Marzall beispielhaft Visionen der Smart City analysiert werden, die als Leitvorstellungen zukünftiger Städte dienen und z.T. schon in neuen Städten umgesetzt wurden.
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TREND EINER ZUKÜNFTIGEN URBANITÄT – UND DIE NOCH VORHANDENE URBANITÄT Raster und Netz können einerseits als Kategorien der Raumbeschreibung dienen. Auf metatheoretischer Ebene betrachtet – im Sinne von Raummetaphern – bieten diese beiden Denkmuster einen Anstoß, über den Fortgang der gesellschaftlichen Entwicklung zu reflektieren. ‚Raster‘ und ‚Netz‘ andererseits als Handlungsmodell zu begreifen, eröffnet die Möglichkeit, die Spielräume der Menschen und ihre räumlichen Aneignungsmechanismen im Kontext der Kräfteverhältnisse zu beleuchten, die in den urbanen Raum eingeschrieben sind. Außerdem kann man die Frage aufwerfen, inwieweit in der Verschränkung beider Modelle auf der mediativen Ebene Stadt gestaltet werden kann.
Allgemein
Ängste, Gefahren
Beispiele
Wünsche
Allgemein
Tab. 6: Denkmodelle ‚Raster‘ und ‚Netz‘ Raster
Netz
linear, vorhersehbar, strenggeometrisch, modulartig, sich wiederholend, geplant
assoziativ, flexibel, ausdehnbar oder sich verdichtend
Sicherheit, Vorhersehbarkeit, Nachvollziehbarkeit und Plausibilität
Flexibilität, Wandelbarkeit Freiheit, Neuheit
Soziale/staatliche Absicherungssysteme: auf Gemeinwohl ausgerichtet
Social Networks, Parcour-Läufe, Abkürzungen, Car-Sharing, Zwischennutzungen, vertikale Gärten, Urban Gardening - Räume und Raumnutzungen, welche auch Unvorhersehbares in Kauf nehmen und Nischen des geplanten städtischen Raumes nutzen, improvisieren, reagieren und sich aneignen.
geradlinige, modulartige Strukturen: Ausschlussmechanismen, Starrheit, Konservatismus, Normativität, sich wiederholende Räume, die einem Muster folgen
flexible, anpassungsfähige oder wandelbare Strukturen: mangelnde Transparenz, durch die aufgezwungene Flexibilität und Mobilität eine andere Form von Kontrolle, fehlende Zuverlässigkeit und Selbstbestimmung oder Zusammenhalt
Beispiele
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Raster
Netz
linear, vorhersehbar, strenggeometrisch, modulartig, sich wiederholend, geplant
assoziativ, flexibel, ausdehnbar oder sich verdichtend
Shopping Malls, Geschäftsketten, geradlinige Straßen, Einkaufsstraßen, Fußgängerzonen, Parkhäuser, Condominios, Gated Communities
Abbau weiterer öffentlicher Förderungen und Grundsicherungen, Abbau von Kulturförderungsprogrammen
Quelle: Eigene Darstellung (2015), Daten nach Marzall & Scherzinger (2014, FP: Z. 140ff)
Diese Ebenen ergänzt Marzall mit der metaphorischen Ebene von Raster und Netz. So knüpft sie vor dem Hintergrund ihrer künstlerischen Zugänge und konkreten künstlerischen Beobachtungen und Alltagserfahrungen an die vorliegende Forschungsfrage an, wie eine zukünftige Urbanität aussehnen könnte. Dabei erweitert sie die Denkmodelle um die Kategorien ‚Sehnsüchte‘, ‚Ängste‘, ‚Gefahren‘, aber auch ‚Potenziale‘ städtischer Gesellschaften. Diese werden in der Tabelle 6 dargestellt und sind das Ergebnis des gemeinsamen transdisziplinären Austauschprozesses. Das Raster repräsentiert nach Marzall die Sehnsucht nach Vorhersehbarkeit, Nachvollziehbarkeit und Plausibilität. Das Netz hingegen vertritt laut Marzall die Sehnsucht nach Flexibilität, Freiheit, Neuheit und Wandelbarkeit. Diese Gegenüberstellung beider Denkmodelle entspricht sinnbildlich der Darstellung von materiellen und immateriellen Werten (vgl. Inglehart 1995), die ihrer Ansicht nach beide in der Gesellschaft vorhanden sind und parallel existieren. Es werden einerseits existenzielle Grundbedürfnisse des Menschen angesprochen, wie auch andererseits die Wünsche oder Begehren, die über die materiellen Werte hinausgehen. Dennoch verweist Marzall darauf, dass vor allem das „Netz als Denkund Handlungsform in der heutigen Zeit Hochkonjunktur hat, in dem Vernetzung, Mobilität, Flexibilität und Geschwindigkeit als Werte hochgehalten werden“ (Marzall 2014, FP: Z. 23-24). Als konkretes Beispiel nennt sie das Internet als virtuellen Raum, in dem sich mittlerweile zahlreiche Menschen bewegen, arbeiten, bilden, sich informieren und sozial interagieren. Diese Entwicklungen haben demnach zunehmend Einfluss auf den ‚realen Raum‘ und verweben sich mit ihm. Nach Marzall folgen daraus neue Kontrollmechanismen, Zwänge und Ausschlusskriterien, wie auch Intransparenz der Prozesse und neue Unsicherheiten bzw. Gefahren:
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„Die Einführung von Smartphones und damit der allgegenwärtige Internetanschluss, GPS sowie Social Media und die Beschleunigung von Kommunikations- und Informationswegen sind technische Errungenschaften, die genauso unser Tempo, Vorstellung von Räumen, Denkformen, unser Verhalten und Blickwinkel prägen wie im 19. Jahrhundert die Einführung der Eisenbahn.“ (Marzall 2014, FP: Z. 27-31)
Unter dem Denkmodell des Netzes werden vorwiegend gegenwärtige Entwicklungstrends als Beispiele dargestellt, in denen auch technologische Entwicklungen Berücksichtigung finden. Aus diesen Überlegungen gehen jedoch auch Gefahren hervor, die auf die Menschen bedrohlich oder nachteilig wirken (vgl. Tab. 6): „[…] geradlinige, modulartige Raster-Strukturen können Ausschlussmechanismen, Starrheit, Konservatismus sowie Normativität darstellen, während flexible, anpassungsfähige oder wandelbare Netz-Strukturen mangelnde Transparenz, durch die aufgezwungene Flexibilität und Mobilität andere Formen von Kontrolle, fehlende Zuverlässigkeit darstellen“ (Marzall 2014, FP: Z. 146-150).
Der Zukunftsforscher Horx (2014) geht davon aus, dass größere gesellschaftliche Trends in Form von Vorstellungswelten immer auch Gegentrends bewirken. Was nach Marzall die Sehnsucht nach Vernetzung, Flexibilität und Freiheit ist, kann auch ein Streben nach Sicherheit bewirken, wenn die Ausgangsposition als gefährlich angesehen oder bewertet wird: So kann die Beschleunigung der Gesellschaft auch die Sehnsucht nach ihrer Entschleunigung hervorrufen. Aus dieser Dialektik entgegengesetzter Trends entsteht nach Horx (2014) ein Synthesetrend, in den diese Widersprüche integriert werden. Dadurch entsteht in einer spiralförmigen Bewegung der Fortschritt, der die Abkehr eines linearen Prozesses bedeutet. In Bezug auf Marzalls Vorstellungen von Raster und Netz ergibt sich in der Verschränkung beider Formen die gesellschaftliche Entwicklung, die die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt. Da die Künstlerin eine Beobachterin des Jetzt-Zustandes ist, verweist sie auch auf die Potenziale der Gesellschaft, die ‚noch‘ vorhanden sind. Daher sind es weniger die Visionen einer unerfüllten Zukunft, die sie beschäftigen, sondern die Nischen und Möglichkeiten der Aushandlung im Hier und Jetzt. Sie zeigt künstlerisch Irritationen, Brüche und Krisen auf und verweist mit ihrem künstlerischen Blickwinkel auf Fehlstellungen der urbanen Entwicklungen, aber auch auf mögliche Aushandlungstaktiken. Dahinter steht eine Planungskritik, ohne dass sie utopische Gedanken verwerfen möchte. Für urbane Aushandlungsprozesse müssen jedoch ein gleichberechtigter
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Zugang zu Wissen sowie Transparenz trotz der komplexen gesellschaftlichen Entwicklung gegeben sein: „Was Urbanität und Lebensqualität in der Stadt bedeuten, ist Verhandlungssache. Um zu verhandeln, bedarf es Information. Ich glaube, dass Zugang zu Wissen und damit Aufklärung über die Möglichkeiten, Einfluss auf die eigene Umgebung zu nehmen, wichtig sind, um verschiedene Alters- und Interessensgruppen zu verbinden.“ (Marzall 2014, FP: Z. 4750)
Auf die gegenwärtigen Stadtentwicklungsprozesse bezogen, die auch in Berlin zunehmend zu finden sind, benennt Marzall in Tabelle 6 konkrete städtische Phänomene, die die Stadtplanung befördert oder festigt und die wiederum neue Inklusions- und Exklusionsmechanismen schaffen. In dem Zusammenhang erwähnt die Künstlerin „Shopping Malls, Geschäftsketten, geradlinige Straßen, Einkaufsstraßen/Fußgängerzonen, Parkhäuser, Condominios/Gated Communities“ (Marzall 2014, FP: Z. 151-153), die als neue Strukturen sowohl in Brasilia als auch in Berlin anzutreffen sind. Dahinter sieht Marzall ein strenges Raster, das wiederum hinderlich für ein urbanes ‚Zusammenleben‘ ist. Sie sieht vor allem in Berlin immer noch die Möglichkeit oder das Potenzial der flexiblen Stadtgestaltung gegeben. Das Potenzial des Netzes bezieht sie konkret auf die Möglichkeit der Vernetzung in der Nachbarschaft, in Institutionen und zwischen Privatpersonen, die sie in Berlin kennengelernt hat. Sie sieht aber auch die Gefahr, dass diese Spielräume in Berlin aufgrund der derzeitigen Ausrichtung immer geringer und von einem neuen Raster überzogen werden. Dann werden diese Potenziale zu einer Gefahr oder zu einer Überlebensstrategie (vgl. Marzall 2014, FP: Z. 217ff). 6.7.4 Zusammenfassung Der Ausgangspunkt der hier vorgestellten Arbeiten von Marzall ist die 1957 in die brasilianische Savanne gebaute Stadt Brasilia. Die Künstlerin untersucht die räumlichen Irritationen, taucht in die urbane Realität der Menschen ein, folgt ihren Spuren vor Ort und dokumentiert sie. Ihre Arbeit ist sowohl als Kritik an den gegenwärtigen Planungsrealitäten wie auch als Aufforderung zu Kommunikation und Aushandlung zu lesen. Die Kritik ist als Kontrastierung dichotomer Denkmodelle auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen formuliert. Dazu gehören: •
Ideal versus Realität = Idealstadt städtebaulicher Moderne versus Lebensrealitäten der Stadtbewohner
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• • • • •
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Funktionalismus versus Aneignung und Umnutzung materiell-verdichtet versus immateriell-flexibel Strategie versus Taktik bzw. Macht versus Gegenmacht Raster versus Netz fordistische versus postfordistische städtische Regulationsweisen
Gleichzeitig werden diese Gegensätze auf der visionären Ebene in zweierlei Hinsicht aufgelöst: Indem (1) das bestehende dichotome Denkmodell um Wünsche und Ängste erweitert und damit verdeutlicht wird, dass beide Seiten – Raster und Netz – sowohl Grundbedürfnisse als auch Grundängste des Menschen repräsentieren und eher nach der Horx’schen Synthese fragen; und (2) indem diese Gegensätze als Handlungsmodell und Ausgangspunkt mediativer Prozesse gesehen werden. Stadtentwicklungspolitische und planerische Vorstellungen einerseits sowie Nutzungs- und Aneignungsinteressen andererseits können so in akteursübergreifenden Aushandlungsprozessen eine produktive Stadtgestaltung befördern.
6.8 L ARS W UNDERLICH : D YSTOPISCHE (S TADT -)W ELTEN Lars Wunderlich wurde durch den Essay auf die vorliegende Forschungsarbeit aufmerksam. Die gemeinsamen Anknüpfungspunkte wurden relativ schnell ersichtlich, da er als Grafiker, Bildender Künstler und Graffiti-Künstler zahlreiche Zugänge, Perspektiven sowie (Aus- und Ein-)Blicke auf das Städtische anbietet. Wunderlich setzt sich im Allgemeinen in seinen Arbeiten künstlerisch und thematisch mit den Wechselwirkungen von Natur, Zeit und Mensch auseinander. Dabei stellt er die Frage, welche Rolle der Mensch in diesem Wechselspiel einnimmt und visualisiert künstlerisch ein eigenständiges urbanes Gesellschaftsbild. Zwei seiner Zugänge, die in einem gemeinsamen Austauschprozess ausgewählt wurden, werden als seine künstlerische Position zu den Fragen der vorliegenden Forschungsarbeit im Folgenden näher betrachtet. Bei dem ersten künstlerischen Zugang handelt es sich um eine Illustration zum Thema ‚Zukunft der Stadt‘, während der zweite Zugang auf die Praktiken der Graffiti-Kunst, die die Stadt als materielle Basis für ihre Entstehung und als Medium der Kommunikation versteht, abzielt. Beide Sichtweisen geben einen Einblick in Vorstellungen von zukünftigen und rezenten Entwicklungen des Urbanen und eröffnen einen allgemeinen Einblick in die gesellschaftlichen Wertevorstellungen des Künstlers. Anhand des durchgeführten reflexiv-explorativen Interviews (TS), das sowohl das
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visuelle Datenmaterial als auch die Aussagen des Essays als Grundlage der Diskussion aufgreift, wurden die Arbeiten auf visionäre bzw. utopische Aspekte und auf räumliche Dimensionen hin untersucht. Analogien zu theoretischen Vorüberlegungen der vorliegenden Arbeit wurden aufgenommen und in einem Abstimmungsprozess mit dem Künstler entsprechend erweitert. Die abschließende Interpretation der künstlerischen Position, aus der die abstrakten Rückschlüsse in Bezug auf die Fragestellung formuliert wurden, wurden in einem zweiten Gespräch mit dem Künstler abgestimmt (FP), da er an der Gruppendiskussion nicht teilnehmen konnte. 6.8.1 Person Wunderlich wurde 1981 in Mecklenburg geboren. Er begann, Freie Kunst in Greifswald zu studieren und setzte im Bereich Grafik-Design sein Studium in Berlin fort. 2007 gründete er mit seinem Partner das Design- und UrbanArtKollektiv PEACHBEACH und initiiert seitdem Design-Kampagnen weltweit. 1996 entdeckte er seine Faszination für Graffiti-Kunst und blieb ihr bis heute treu. Er ist Gründungsmitglied der Graffiti-Gruppe THE WEIRD, die seit 2011 für gemeinschaftlich erschaffene ‚postsurrealistische‘ Wandmalereien bekannt ist. Diese Murals (Wandbemalungen auf großen Flächen, Brandmauern etc.) sind auch in Berlin verwirklicht. In der Realisierung von Murals sieht Wunderlich auch weiterhin seine künstlerische Freiheit umgesetzt. Sie sind daher sein favorisiertes künstlerisches Medium. Sein künstlerischer Stil ist eine Mixtur aus Comic, Dada, Illustration und Graffiti (vgl. Weird 2015: www.*). 6.8.2 Product – Process – Press – Graffiti-Kunst und Stadt als Medium In der Graffiti-Kunst sieht Wunderlich seine größte künstlerische subjektive Freiheit umgesetzt. Dennoch gibt es eine weitreichende ambivalente Entwicklung, in die er eingebettet und welche Ausdruck der gesellschaftlichen Transformation ist. Die Grenzen zwischen Subversion und Anpassung der GraffitiKunst verschwimmen allmählich (vgl. Streich 2014: 37ff; vgl. Kap. 6.1.3). Graffiti-Kunst kann einerseits als kreativer Aktivismus verstanden werden, in dem es um informelle Besitznahme und symbolische Aneignung öffentlicher Räume geht, andererseits als eine Form der kreativen Kommunikation im städtischen Raum, die vor allem auch in die unternehmerische Stadtlogik eingebunden werden kann. Wunderlich verweist in diesem Zusammenhang auf unterschiedliche Begriffe, die mit Graffiti-Kunst in Verbindung gebracht werden:
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„Urban-Art und Street-Art sind Formen der monetarisierten und kommerzialisierten Kunst. Das hört sich ja auch schön an, diese Urban Art, und setzt sich mit Stadt auseinander. Ich bin ja nicht der Einzige, der sich darüber Gedanken macht. Aber es sind oftmals Leute, die sich nicht kritisch damit auseinandersetzen und von einer kommerziellen Logik herkommen. Es gibt Künstler, die komplett etwas gegen den Begriff Street-Art haben. Graffiti ist hingegen eine Kunstform, die sich bis heute nicht monetarisieren lässt. Wenn du mit einem Graffiti fremdes Eigentum bemalst, kannst du es nicht verkaufen. Das ist anders, wenn dir öffentliche oder private Flächen zur Verfügung gestellt werden.“ (Wunderlich 2014, TS: Z. 371-377)
Die ursprüngliche Intention eines Graffitis ist auf zeitliche Begrenztheit angelegt und daher vergänglich. Dies spiegelt die oppositionelle Haltung der GraffitiKunst gegenüber dem Kunstmarkt wider. Der Künstler deutet in seiner Aussage bereits an, dass Street Art und Urban Art unterschiedlich verwendet werden. Gerade im ‚Kreativen-Stadt-Diskurs‘ und in der unternehmerischen Stadtlogik wird der Urban Art eine große Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. McAuliffe 2012), die u.a. als Ausdrucksform in den ästhetischen Kapitalismus Eingang findet. Graffiti-Kunst dient in diesem Zusammenhang als Mittel der Herstellung von Räumen und als Symbol und Medium von Aufwertung. Graffiti-Kunst wird als authentisches und subversives Medium gehandelt (vgl. McAuliffe 2012: 194). Das Subversive gilt als Aushängeschild der Kreativität. Seitens der Stadtpolitik werden diese Prozesse integriert, weil sie sich einen Imagegewinn versprechen und in der Wettbewerbslogik nach außen Toleranz vermitteln. Daher wird Urban Art in öffentlichen Ausstellungen gezielt als imagefördernde Methode eingesetzt. Bei Festivals werden Areale für Urban Art zur Verfügung gestellt. Aufträge erfolgen entweder aus der öffentlichen Hand oder von privaten Unternehmen wie Adidas und Nike, die Graffiti als Marketingstrategie verstehen, in der die Produkte mit städtischem Lifestyle und Freiheit verbunden werden. Dadurch wird dem Urheber von Graffiti-Kunst mehr Beachtung geschenkt, auch wenn der Künstler meist im Hintergrund weiter agiert (vgl. Youkhana & Sebaly 2014). Wunderlich arbeitet sowohl als Street-Art-Künstler für offizielle Aufträge wie auch als Graffiti-Künstler, der sich künstlerisch städtische Räume erschließt. Als Künstler bewegt er sich daher zwischen Informalität und Kommerzialisierung (vgl. Reinicke 2006). Dadurch, dass er als Wandmaler in unterschiedlichen Städten offiziell tätig ist und war, sieht er eine ähnliche Entwicklung in europäischen Städten, die imagefördernde Maßnahmen ergreifen wollen (vgl. Wunderlich 2014, FP: Z. 38ff). Einerseits kommen Menschen zusammen, die sich für die entstandenen Murals interessieren, andererseits steht dahinter das Ziel, die Stadt attraktiv zu gestalten, um in dem Wettbewerb der Städte um Investoren
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und Touristen bestehen zu können. In dieser Ambivalenz sieht sich der Künstler mitverantwortlich für den Aufwertungsprozess, aber nicht ausschließlich weil er Künstler ist, sondern weil er sich nicht bewusst auf politischer Ebene wehrt (vgl. Wunderlich 2014, FP: Z. 50f). Dennoch kann festgehalten werden, dass Wunderlich – ausgehend von seinem Zugang als Künstler zur Stadt und seiner ambivalenten Rolle zwischen Verwertung und Anpassung – weitere Schlussfolgerungen aus urbanen Beobachtungen zieht und diese als Grundlagen in weitere künstlerische Arbeiten einfließen. Im nächsten Abschnitt werden seine urbanen Beobachtungen und seine gesellschaftlichen Fragestellungen im Product ‚Die Zukunft der Stadt‘ künstlerisch verhandelt. 6.8.3 Product – ‚Die Zukunft der Stadt‘ Die Arbeit ‚Die Zukunft der Stadt‘ entstand ursprünglich als Auftragsarbeit des PEACHBEACH-Kollektivs (Lars Wunderlich und Attila Szamosi) für die Zeitschrift Business Punk, einer bei jungen Menschen beliebten Business-LifestyleZeitschrift (vgl. Abb. 34 – Abb. 41). Auch wenn diese künstlerische Arbeit ein kollektives Produkt darstellt, werde ich mich im Folgenden vorwiegend auf den Künstler Lars Wunderlich beziehen, da er Ansprechpartner für die Arbeit war. In der Ausgabe 4/2012 des Magazins Business Punk wurde der Themenschwerpunkt auf die ‚Zukunft der Stadt‘ gelegt. In diesem Rahmen wurden Statements von Experten aus der Wissenschaft in Bezug auf ihre Einschätzung des Fortgangs der Entwicklungslinien in Städten gesucht. Im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Statements war es die Aufgabe der Künstler darzustellen, wie sie als Kreative die Stadt der Zukunft sehen, und wie sie mit diesem Thema künstlerisch umgehen. Wunderlichs Beitrag gilt somit als visualisierte und kreative Expertenmeinung, die einen eigenständigen Blick auf das Thema ‚Zukunft der Städte‘ wirft: „Ich glaube, dass Experten als Inselbegabte auf einen thematischen Punkt fokussiert sind. Sie können zwar andere Meinungen zulassen, aber sie bleiben Experten für ein bestimmtes Thema: Jemand, der über den Transport spricht, wird ganz sicher nicht über das Gesundheitswesen sprechen. Da fehlt immer ganz häufig das Große-Ganze, was sie betrachten. Ich als Künstler bin auf die Umsetzung der Ideen fokussiert, die müssen dir erst einmal kommen, und dafür musst du auch immer etwas wach bleiben. Du musst dich mit unterschiedlichen Themen beschäftigen, dadurch bekommst du einen universellen Überblick, zwar nicht tief und nicht wissenschaftlich, aber einen guten Überblick über die Dinge, die auf der Welt passieren.“ (Wunderlich 2014, TS: Z. 196-208)
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Die Illustration ‚Zukunft der Stadt‘ (vgl. Abb. 34) entstand ohne weitere Vorgaben, was heißt, dass das Illustratoren-Duo trotz einer Auftragsarbeit in seiner künstlerischen Ausgestaltung völlig frei war. Daher schien diese Illustration für die vorliegende Forschungsfrage als Beitrag geeignet zu sein (vgl. Wunderlich 2014, FP: Z. 18). Abb. 34: ‚Zukunft der Stadt‘
Quelle: Wunderlich & Szamosi (2012)
BESCHREIBUNG Die Illustration ‚Zukunft der Stadt‘ ist in einer halb-isometrischen Ansicht dargestellt: Indem alle Winkel gleich bleiben, entsteht keine optische Verkürzung. Das erlaubt den Einblick in alle Details, ohne, dass perspektivisch zeichnerische Elemente verloren gingen oder verdeckt werden würden. Abb. 35: ‚Zukunft der Stadt‘, Ausschnitt (Teil 1)
Quelle: Wunderlich & Szamosi (2012)
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Für Wunderlich ist dies eine bewusst hergestellte visuelle Ordnung (vgl. Wunderlich 2014, TS: Z. 146), die sich auf die dargestellte städtische Ordnung übertragen lässt und somit einen gleichberechtigten Einblick in die nebeneinander dargestellten vier Ebenen (Ringe/Welten) erlaubt (vgl. Abb. 34, Abb. 35 & Abb. 37). Das Zentrum der Stadt, die ‚erste Welt‘, befindet sich unter einer FrischluftGlasglocke und wird von einem Ring – einer Befestigungsanlage in Form eines Gates – von der Außenwelt abgeschirmt und beschützt. Im Zentrum findet das hedonistische und konsumorientierte Leben statt. Die Menschen leben laut Aussage von Wunderlich in digitalen Realitäten und vernachlässigen daher die physische Welt. Das zunächst bunt erscheinende Zentrum wird durch die Glasglocke bläulich eingetrübt (vgl. Abb. 35 & Abb. 36). Der angrenzende Ring stellt nach Aussagen von Wunderlich eine ‚Zukunfts-Favela‘ dar, die aller menschlichen Illusionen beraubt ist (vgl. Wunderlich 2014, TS, Z: 63ff). Auf dieser Ebene gibt es unterschiedliche Institutionen, die sich der Menschen vor Ort annehmen u.a. ‚Kirche des Geldes‘, ein Rathaus, in dem Stimmen für Wahlen gekauft werden und ein Flüchtlingsaufnahmezentrum. Hier siedeln sich nach Aussagen Wunderlichs zahlreiche Umwelt- und Kriegsflüchtlinge an, die zunehmend das Land entvölkern und ihre Hoffnung in der Stadt suchen. Abb. 36: Übergang der ersten zur zweiten Welt
Quelle: Wunderlich & Szamosi (2012)
In dieser Favela existiert das, was in der ersten Welt nicht erwünscht ist bzw. was nicht sichtbar werden darf. Müll der ersten Welt wird durch eine Klappe vom Zentrum in die angrenzende Welt als ‚Gift for you‘ befördert. Des Weiteren herrschen dort Korruption, Gewalt, Hunger etc. vor. Dieser zweite Bereich stellt
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eine Entrechtlichung des Menschen dar und eine sichtbare unfreie Gesellschaft, symbolisch angedeutet durch die zerstörte und umgekippte Freiheitsstatue. Abb. 37: ‚Zukunft der Stadt‘, Ausschnitt (Teil 2)
Quelle: Wunderlich & Szamosi (2012)
Der weitere angrenzende Ring, die ‚dritte Welt‘, stellt einen Industriestandort dar, der von ‚frustrierten und aufbegehrenden Robotern bevölkert‘ ist. Die Produktionsstätte Wolfcon produziert alles im Hinterland für das Zentrum. Die Bezeichnung Wolfcon ist eine Kombination aus Wolfsburg, der Stadt, die für die deutsche Automobilproduktion bekannt ist, und Foxconn, einem der weltweit größten Elektronikhersteller und Zulieferer von Apple und Samsung in China, der aufgrund widriger Arbeitsbedingungen in Verruf geraten ist. In der dritten Welt werden Roboter bzw. Mutanten dargestellt, die bei Wolfcon: ‚Manufacturing of everything‘ arbeiten. Einige der dargestellten Roboter haben Gefühle entwickelt (Mutanten) und sind sich ihrer Situation und Funktion im System bewusst. Als Konsequenz wollen sie sich aus ihrer ‚Knechtschaft‘ befreien (vgl. Abb. 38). Dieser Befreiungsversuch ist in der Illustration als Aufstand dargestellt (vgl. Wunderlich 2014, TS: Z. 92ff). Der dritte Ring steht für die ausbeuterischen Verhältnisse, die sich aufgrund der Lebensweise der ersten Welt ergeben. In der vierten Welt befinden sich keine Menschen mehr – es wird eine Siedlung aus Ratten und Kakerlaken dargestellt. Nach Wunderlich zeigt diese vierte Welt die Auswirkungen der Umweltprobleme, die dazu führen, dass Ratten und Kakerlaken zu intelligenten Wesen mutieren, die die Fähigkeiten besitzen, neue Zivilisationsformen zu entwickeln und lebensfeindliche Gebiete zurückzuerobern. Jede der dargestellten Welten bedingt hierarchisch die
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andere, daher stehen die Welten alle in unmittelbarer Verbindung zum Zentrum. Die erste Welt ist visuell ausschließlich medial mit der zweiten und dritten Welt verbunden, was dadurch gezeigt wird, dass von den Vorkommnissen der beiden Welten berichtet wird (vgl. Fernsehgeräte Abb. 35). Abb. 38: Die Dritte Welt – Aufstand der Mutanten
Quelle: Wunderlich & Szamosi (2012)
ANALYSE Die Darstellungsweise erinnert an ein Wimmelbild und beschreibt in dezidierter Ausführlichkeit viele Einzelgeschichten, die zu einem fiktionalen gesellschaftlichen Gesamtbild zusammenschmelzen. Die Illustration zeigt Elemente des Städtischen auf, etwa Aufschriften auf den Schleusen bzw. den Gates, die auf einzelne Ortsteile oder sogar Städte hinweisen wie ‚Welcome to Berlin 7‘ (vgl. Abb. 39). Nach Wunderlich handelt es sich jedoch bei der Darstellung um eine Random-Stadt, also eine zufällige Stadt, die sich in ferner Zukunft überall befinden könnte. Seiner Meinung nach wird es in Zukunft nur noch einzelne Regionen geben, die sich um solche Kerne gruppieren. Diese Auffassung kann sowohl kleinräumlich auf Städte und auf intraurbane Prozesse bezogen werden als auch auf globaler Ebene auf ungleiche Entwicklungsprozesse zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre (vgl. Wunderlich 2014, TS: Z. 163ff). Zentren stellen demnach die Funktions- und Organisationseinheiten kapitalistischer Gesellschaften dar, die als Folge differenzielle Raumeinheiten erschaffen.
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Abb. 39: Welcome to Bielefeld & Berlin
Quelle: Wunderlich & Szamosi (2012)
Die Illustration dient in diesem Sinne als Schablone, die auf unterschiedliche Maßstabsebenen angewandt werden kann, in denen differenzielle Raumeinheiten in kausaler Beziehung zueinander stehen. Diesbezüglich kann das Zentrum als Ausgangpunkt des machtpolitischen Geschehens verstanden werden, in dem neue Realitäten geschaffen werden. In den ersten drei dargestellten Raumeinheiten werden Bezüge zu technologischen Entwicklungen geschaffen (Roboter, Mutanten, mediale Ausgestaltung, Klima, standardisierte Lebensmittelerzeugung), die die Abhängigkeit aller menschlichen Bereiche vom technischen Fortschritt betonen. Der Technikglaube führt nach Wunderlich zu negativen entmenschlichten Szenarien und zur Entfremdung der Menschen von der Natur (vgl. Wunderlich 2014, TS: Z. 310). HIERARCHISCH STRUKTURIERTE RAUMEBENEN Wunderlich stellt visuell eine Zentrum-Peripherie-Szenerie dar und spielt künstlerisch mit der hierarchisch-räumlichen Ordnung. Auf der makroökonomischen Ebene betrachtet, erinnert die Darstellungsweise des Künstlers an die zuvor formulierte Weltsystemtheorie, in der durch die Ausweitung des Kapitalismus eine fortschreitende Aneignung von Ressourcen, Räumen, Umwelt und die Ausbeutung der Menschen in der Logik der Kapitalakkumulation stattfindet. Verkürzt dargestellt, bilden sich nach Wallerstein (1974) Zentren aus, die in der internationalen Arbeitsteilung meist ihre übergeordnete Sonderstellung bewahren und asymmetrische Handelsstrukturen ausbilden. Die Zentren konkurrieren um die Vormachtstellung, die Peripherie auszubeuten (vgl. hierzu auch Schmid et al.
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2011). In der Konsequenz führt dies zu einem Ungleichgewicht, das sich in der Hierarchisierung von Räumen zeigt (Zentren, Semiperipherie und Peripherie) und zu einer Zunahme der sozialen, ökonomischen und ökologischen Kluft zwischen den Gebieten führt. Wunderlich spricht davon, dass es sich bei den räumlichen, um das Zentrum angeordneten Ringen um Verwertungsketten oder im übergeordneten Verständnis um Warenketten handelt (vgl. Wunderlich 2014, TS: Z. 92). Daher ließe sich der Ansatz von Wallerstein (1974) in seiner Weiterentwicklung noch auf Warenkettenansätze und Ansätze von Wertschöpfungsketten unter Globalisierungsprozessen ausweiten und macht folglich dependenztheoretische Überlegungen möglich (vgl. Gereffi & Korzeniewicz 1994). Wenn Städte in diesem Zusammenhang in ihrer gesamten Erscheinungsweise als Zentren begriffen werden, sind sie meist nicht autark und folglich von ihrem Hinterland abhängig (vgl. Wolfrum 2012: 25ff). Sie konkurrieren um die Vormachtstellung und um Kapital. Werden intraurbane Prozesse und räumliche Strukturen in Städten betrachtet, werden hierarchisch strukturierte Raumordnungen in der Stadtforschung zeitlich dem Fordismus zugeordnet. Die Strukturen der Stadt waren im Fordismus meist auf die in den Städten selbst befindlichen Industrien ausgerichtet, während heute räumliche Restrukturierungsprozesse als Ergebnis der Flexibilisierung der Produktionsweise gesehen werden. Diese Neuordnung hat die hierarchische Anordnung innerhalb der Städte (Kern-Stadt, ringförmige Raummuster) aufgelöst und zunehmend differenzielle Raumeinheiten erschaffen. Postmoderne Konzepte wie die Dual City (vgl. Mollenkopf & Castells 1992), die ‚dreigeteilte Stadt‘ (vgl. Häußermann & Siebel 1987b), die Quartered City/‚viergeteilte Stadt‘ (vgl. Marcuse 1989) oder die ‚fragmentierte Stadt‘ (vgl. Glasze 2003; Kronauer & Siebel 2013) nehmen die neu entstandene räumliche Polarisierung als Ausdruck gesellschaftlicher Polarisierungsprozesse auf. In den erwähnten Konzepten werden Räume mit Eigenschaften versehen und zum Teil als eigenständig nebeneinander existierende Welten dargestellt. Die heutige Entwicklung städtischer Teilräume ist vorwiegend durch ihre Einbindung in den Weltmarkt und ihre Funktion innerhalb der Globalisierung bestimmt und von einer fragmentierten Raumstruktur gekennzeichnet. Wunderlich sieht diese Zunahme unterschiedlicher Teilräume innerhalb von Städten vorwiegend in den Gated Communities verwirklicht (vgl. Wunderlich 2014, TS: Z. 170ff). Diese Tendenz der Fragmentierung hält seiner Meinung nach in Berlin immer mehr Einzug, von daher geht die Illustration auf die damit verbundenen Abschottungsmechanismen ein.
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STADT ALS LEBENSFEINDLICHER RAUM Wunderlich schafft eine Gesellschaftsordnung, die zum Teil Schnittpunkte zur Realität aufweist, aber auch der realen Ordnung gegenübergestellt werden kann. Diese Hierarchie besteht daher nicht nur aus der Darstellung von ökonomischen und sozialen Unterschieden, sondern sie stellt nach Wunderlich auch einen umgekehrten Evolutionsprozess der Menschheit dar. Die Abfolge der Welten zeigt eine zeitliche Dimension auf, die eine Abschaffung des Menschen als Konsequenzen seiner Handlungen zur Folge hat. Vor dem Hintergrund, dass der Mensch die Ressourcen ausbeutet, greift er unwiederbringlich in seine Umwelt ein. In der vierten Welt deutet sich das Ende der Gesellschaft an, in der die Natur den Menschen überdauert. Wunderlich sieht eine Stadt als eine Konstruktion des Menschen an. „Stadt ist gleich Mensch ist gleich Stadt“ (Wunderlich 2014, TS: Z. 317). Genauso wie der Mensch unterschiedliche Systeme erschaffen hat, hat er die Stadt erschaffen. Die Stadt kann laut Wunderlich im Allgemeinen und nach jetzigen Prinzipien unter einer kapitalistischen Logik nicht langfristig überdauern. Die Stadt ist nicht autark und muss auf Ressourcen aus dem Umland zurückgreifen, um zu überleben. Wunderlich empfindet die Stadt als abstrakten Raum, der eigentlich lebensfeindlich ist und einer Entfremdung zwischen Mensch und Natur gleichkommt. Um dieser Entfremdung zu entkommen, müssen Städte autark werden und sich selbst versorgen können (vgl. Wunderlich 2014, TS: Z. 318ff). DYSTOPIE UND SCIENCE-FICTION Die Verhältnisse der Gegenwart legt Wunderlich überspitzt dar, woraus er ein Gedankenexperiment einer zukünftigen Stadt entwickelt: „Das ist natürlich die Zukunft der Stadt, wie ich sie sehe: eine Dystopie. Es handelt sich um eine Mehrklassengesellschaft, die ringartig um einen Kern herumgebaut wird. Die erste Welt befindet sich unter einer Kuppel, wo frische Luft herrscht, und außerhalb der Kuppel ist natürlich dann schlechte Luft, und da rauchen die Schornsteine, da herum befindet sich eine Roboterretortenstadt, wo die ganzen Industriegüter hergestellt werden. Daneben ist wieder ein Ring, der aus Mutanten besteht. Da kommt schon die nächste Evolutionsstufe sozusagen hervor. Du musst bedenken, die Roboter, die kämpfen irgendwie, weil sie intelligent geworden sind, gegen ihre Knechtschaft an.“ (Wunderlich 2014, TS: Z. 37-46)
Bei einer Dystopie handelt es sich im Gegensatz zu einer Utopie nicht um ein Wunschbild einer besseren (Stadt-)Gesellschaft, sondern in diesem Fall um ein visuelles Gedankenexperiment, das in einem explorativen Szenario mit fiktiven
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Elementen eine zukunftspessimistische Perspektive entwirft. Der Künstler stellt sich daher nicht die Frage, wie die Zukunft im positiven Sinn aussehen könnte, sondern sein Anliegen ist es, die derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungslinien visuell überspitzt darzustellen: „Die erste Welt ist eine Pervertierung unserer jetzigen Welt und Gesellschaft: (in Berlin und auf der Welt, Anmerkungen der Autorin) passieren gegenwärtig ja auch viele Dinge, die in der Illustration auch im zweiten und dritten Ring dargestellt werden.“ (Wunderlich 2014, TS: Z. 127-129)
Zur Überspitzung des Szenarios werden reale Begebenheiten und technische Möglichkeiten mit fiktionalen Annahmen vermischt. Als Vorlage seiner Ideen und seiner visuellen Einzelerzählungen dient u.a. der Science-Fiction-Roman von Dick Phillip ‚Träumen Androiden von elektrischen Schafen?‘ (1968). Dadurch wird die Illustration selbst zu einer Science-Fiction-Darstellung. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf die Überschneidungspunkte von Science-Fiction und Utopien/Dystopien zu werfen, der die dahinter stehende Denklogik aufdeckt. Nach Schwonke (1957) gibt es eine enge kategoriale Beziehung zwischen Utopie und Science-Fiction. Demnach wird Science-Fiction auch als naturwissenschaftlich-technische Utopie verstanden, die eine Weiterentwicklung des utopischen Denkens beinhaltet. Utopie und Science-Fiction verbindet somit die (utopische) Denklogik, die letztendlich eine literarische oder visuelle Darbietungsform sucht (vgl. Thomsen & Fischer 1980: 16). Es handelt sich bei der Darstellung von Wunderlich & Szamosi um eine Kombination aus ScienceFiction und Dystopie. Diese Kombination hat sich unter dem Oberbegriff eines Subgenres der Science-Fiction als Dark Future etabliert, was auch als ScienceFiction-Dystopie beschrieben werden kann. Dark Future bezieht sich genauso wie bei Wunderlich auf eine gedankliche Weiterentwicklung einer negativen Zukunftsvision, die sich aufgrund von überdurchschnittlichem Technologieglauben, Ausbeutung von Ressourcen und Menschen, Entmenschlichung und Entrechtung etc. ergibt (vgl. Wunderlich 2014, TS: Z. 348ff; Pappe 2011). So beschreibt Marcuse (2014) die Dystopie als mögliche Konsequenz, die in der Kritik der jetzigen Gesellschaft münden kann: „Dystopias are the presentation of an imaginary world, not as likely to be achieved, but to expose how the existing one was deficient. Utopias did it by showing what the better alternatives could be imagined, dystopias by what worse alternatives might be imagined to. They were not intended to be blueprints for a new society to be achieved. Both critical utopias and dystopias were critical calls to action, in fantasized forms, intended to influ-
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ence actions required to be undertaken in their contemporary societies […]. There remains, then, the question of whether the historical context today is still the same as that of the 1960’s, whether indeed the optimism of those days on the streets and universities around the world was justified, and if not, what the conclusion as to the utopianism of utopias is today. It is hard, in a time of economic instability, high unemployment, increasing inequality, environmental degradation, unaddressed climate change, war and campaign of bombing and attrition, strong right-wing and racist tendencies in even the most formally democratic countries, to visualize even the possibilities of an attainable utopia.“ (Marcuse 2014: www.*)
Gesellschaftliche Umbrüche und Erscheinungen sind Ausgangspunkt dystopischer Zukunftsvorstellungen, da eine konkrete Utopie nach Marcuse (2014) in der Komplexität von Problemlagen nicht mehr möglich und vorstellbar erscheint. Dennoch wird in dystopischen Darstellungen auf aktuelle Probleme hingewiesen. Diese werden auf eine nahe Zukunft übertragen und implizieren dennoch nach Thomsen & Fischer (1980: 32) ein positives Gegenideal. Durch eine reale Rückbindung der Dystopie an zeitgenössische Problemlagen und gesellschaftliche Missstände offenbaren sie eine punktuelle Zeit- und Gesellschaftskritik. Dahinter verbirgt sich, auch in Bezug auf die vorliegende Illustration, übergeordnet eine Konsum-Kapitalismus-Kritik an einer Gesellschaft, die an dem Leitbild des Wirtschaftswachstums festhält: „Die Konsumgesellschaft ist ja auf den Kapitalismus aufgebaut, genau wie sie jetzt funktioniert. Ich habe keine Lösung, wie man den Kapitalismus ablösen kann, da meiner Meinung nach das Geld zu mächtig ist und diese Idee stützt. Wenn ich sie hätte, hätte ich es anders gemacht, aber ich gehe davon aus, dass es so weiterläuft.“ (Wunderlich 2014, TS: Z. 249-254)
Die Krisenhaftigkeit innerhalb der Städte ist nach Wunderlich auch dadurch vorhanden, dass Konsequenzen globaler Krisenentwicklungen in Berlin sichtbar und spürbar werden. Dazu zählen Flüchtlinge, die immer mehr in der Stadt in Erscheinung treten und informelle Siedlungen errichten. Zudem sieht Wunderlich in der Aufwertung einzelner Stadtgebiete eine Gefahr der weiteren sozialräumlichen Polarisierung. Seine Kritik orientiert sich an bestehenden Problemen, die sowohl Berlin als auch die Welt betreffen. „Für die Leute wollte ich darstellen, dass es eine Klassengesellschaft gibt bzw. dass der Unterschied zwischen Arm und Reich sich zukünftig verschärfen wird, das wollte ich in dem Sinne darstellen. Es wird auch immer mehr Kriegs- und Klimaflüchtlinge geben.
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Mauern werden zunehmend errichtet, und diese Abschottungsgeschichten werden sich verschärfen. Im Grunde genommen ist die Illustration auch eine Kritik an Europa, das große Zäune baut, damit keine Flüchtlinge reinkommen“ (Wunderlich 2014, TS: Z. 154158).
Seine Resignation gegenüber positiven Veränderungsmöglichkeiten resultiert aus der aktuellen politischen Lage, die sich seiner Meinung nach „nur nach der Richtschnur des Geldes ausrichtet“ und nicht mehr demokratiefähig ist (vgl. Wunderlich 2014, FP: Z. 35). In politischen Partizipationsverfahren sieht er nur die Legitimation, bestehende Verhältnisse zu reproduzieren. Er sieht dahinter eine politische Entrechtung der Menschen. Mit diesen Aussagen knüpft er unwissentlich am Postdemokratiekonzept von Crouch (2008) an, das in Bezug auf Städte in dem Konzept der postpolitischen Stadt Eingang findet. Nach diesem Konzept werden in der städtischen Umgebung alternative (politische) Positionen aufgrund der Ausrichtung gegenwärtiger Stadtpolitik auf wettbewerbsorientierte Leitbilder und Vorstellungswelten zunehmend verdrängt. In dem bestehenden stadtpolitischen Konsens über Leitbilder wie der ‚kreativen Stadt‘– und nun auch verstärkt über das Leitbild der Smart City – sind demnach keinerlei politischen Handlungsspielräume und öffentlichen Aushandlungsprozesse mehr gegeben, woraus eine weitere Depolitisierung resultiert (vgl. Beveridge & Richter 2014). 6.8.4 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Wunderlich mit dieser Illustration dem Rezipienten einerseits die Auswirkungen und die immanent krisenhaften Erscheinungen des kapitalistischen Systems aufzeigt und andererseits auf die Verantwortlichkeit des menschlichen Handelns hinweist: „[…] ich will die Leute ja darauf hinweisen, dass es so ist, diese Verantwortung habe ich ja schon. Ich bin ja auch nicht der, der die Weisheit mit Löffeln gefressen hat. Ich maße mir nicht an, dass meine Idee eine ultimative Idee ist, und wenn jemand kommt und mir eine bessere Idee vorschlägt, würde ich diese übernehmen. Ich versuche den Leuten zu sagen, dass wir jetzt massiv alles an die Wand fahren.“ (Wunderlich 2014, TS: Z. 510-513)
Er entwirft aus Stilelementen des Science-Fiction-Genres und aus Erfahrungen und Beobachtungen aus dem städtischen Alltag einem ganzheitlichen Blick, der unterschiedliche Anknüpfungspunkte für den Rezipienten anbietet, gesellschaftliche Veränderungen und Krisenerscheinungen zu reflektieren.
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Abb. 40: Fünf vor Zwölf
Quelle: Wunderlich & Szamosi (2012)
Die Darstellung von Wunderlich ist nicht nur ein spannendes Sammelsurium einzelner Geschichten, sondern auch eine Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen, die auf städtischer Ebene aktuelle Stadtplanungen und Entwicklungen von Städten im Allgemeinen unter kapitalistischen Vorzeichen beanstandet. Dieses fiktionale Szenario – und hier insbesondere die unrealistischen Spekulationen – zeigen am meisten die uneingelösten Versprechen an eine zukünftige Stadt und das, was Urbanität qualitativ auszeichnen würde. Des Weiteren bietet die Science-Fiction-Dystopie nicht nur eine moralische Warnung vor dem „Wenn es so weitergeht (gesellschaftlich, machtpolitisch)“ oder dem „Wenn wir so weitermachen (individualistisch, konsumorientiert)“ an, die symbolisch in der Uhrzeit 11:55 Uhr abgebildet ist (vgl. Abb. 40), sondern sie zeigt auch kleine Geschichten der Hoffnungen auf, die sich vorwiegend um das Thema Liebe und Gefühle entspinnen.
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Abb. 41: Hoffnung
Quelle: Wunderlich & Szamosi (2012)
In kleinen Bildsequenzen stellt Wunderlich immer wieder positive Bezugselemente zur Gesellschaft her, indem der Mensch wieder seiner menschlichen Bestimmung folgen sollte. Es werden Mutanten dargestellt, die Gefühle entwickelt haben und durch eine Bewusstwerdung ihre Ansprüche an die Gesellschaft geltend machen. Außerdem erzählt Wunderlich kleine Liebesgeschichten, die beispielsweise im vierten Ring stattfinden. Somit lässt Wunderlich einen kleinen Hoffnungsschimmer entstehen, der symbolisch gesehen Möglichkeiten zur Veränderung bietet (Wunderlich 2014, TS: Z. 224ff). Diese Optionen der Veränderungen lassen sich auch aus der potenziellen Umkehrung seiner Aussagen ableiten und spiegeln sein positives Gegenideal wider. Zwar versucht er, inhaltliche Botschaften über seine Kunst zu vermitteln und die Menschen dazu zu bringen, über bestimmte gesellschaftliche Fragestellungen zu reflektieren, aber welche Schlagkraft die Aussagen innerhalb der Stadtlogik haben, lässt Wunderlich in seiner Einschätzung offen (vgl. Wunderlich 2014, FP: Z. 52-54).
7. Zusammenfassende Analyse und Interpretation
7.1 V ISION , U RBANITÄT , K UNST
UND
K REATIVITÄT
In diesem Kapitel wird auf übergeordneter Ebene geschlussfolgert, inwieweit die künstlerischen Positionen Aufschluss über Visionen einer zukünftigen Urbanität geben. Dazu werden zunächst die Grenzen künstlerischer Lösungsangebote für Visionen zukünftiger Urbanität diskutiert und dann erörtert, welche weiteren zukunftsweisenden Erkenntnisse sich aus der Rezeption der künstlerischen Positionen und der Zusammenarbeit mit den Künstlern ergeben haben. Zunächst wird auf die Vorüberlegungen und die eingangs abgeleiteten (Unter-)Fragen eingegangen. Anschließend werden Impulse für eine zukünftige Stadtgestaltung an die Stadtpolitik unter der Fragestellung, wie Stadt unter anderen Bedingungen anders sein kann, gerichtet. Daraufhin folgen eine Rückbindung an die theoretischen Bezüge dieser Arbeit und eine Reflexion über die gewählte Forschungsstrategie sowie über die Methoden. Am Ende des Kapitels wird ein Ausblick für die geographische (Stadt-)Forschung gegeben, der aus der Zusammenführung künstlerischer und wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse abgeleitet wird.
7.2 G RENZEN FÜR EINE
KÜNSTLERISCHER L ÖSUNGSANGEBOTE ZUKÜNFTIGER U RBANITÄT
V ISION
Während des Forschungsprozesses ist die Frage entstanden, inwieweit künstlerische Verfahren, Methoden und Ausdruckmittel ihrem Wesen nach überhaupt auf die Zukunft ausgerichtete Lösungsangebote generieren können oder wollen. Es wird deutlich, dass jenseits zukunftsweisender Handlungen und Denkmodelle
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kaum Visionen über eine konkret umsetzbare Modellstadt geschaffen werden und dass die Künstlerpositionen bis auf eine Ausnahme nicht explizit auf eine konkrete Zukunftsgestaltung hinauslaufen. Die Künstlerposition ‚Die Zukunft der Stadt‘ von Wunderlich ist die einzige, die sich inhaltlich klar auf die Zukunft ausrichtet. Hinter seiner Vision stehen jedoch dystopische Vorstellungen, die in der fiktionalen Überspitzung dem Entwicklungspfad der heutigen Gesellschaft folgen und erst in einem geschlossenen Bildraum ihre Entfaltung gefunden haben. Die anderen Künstler hingegen haben sich in der inhaltlichen und methodischen Verwirklichung ihrer Kunst ausschließlich in der Gegenwart bewegt. Sie fokussieren eher die Prozessgestaltung im ,Hier und Jetzt‘. Das ist insbesondere bei den Künstlern der Fall, die sich mit dem städtischen Umfeld direkt vor Ort auseinandergesetzt haben. Es geht in dem Selbstverständnis der Künstler darum, Beobachter der Gegenwart zu sein, um entweder unsichtbare Strukturen sichtbar zu machen (vgl. Marzall), räumliche Umstrukturierungen in Folge einer neoliberalen Ausrichtung der Stadt kritisch zu beleuchten oder alternative Handlungsweisen aufzuzeigen (vgl. Kietzmann & Kübert) sowie Alltagsroutinen und Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen (vgl. Rettenmund, Versteeg). Zunächst soll aber auf die Hintergründe eingegangen werden, die die Grenzen für die Visionen in den künstlerischen Positionen setzen. 7.2.1 Kunst als Denkfigur Im Forschungsprozess wird deutlich, dass Künstler eher intuitiv, assoziativ und unabhängig von wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen Vorgaben arbeiten und den Prozess meist nur solange weiterverfolgen, solange sie ihn für sinnstiftend halten. Die Künstler generieren in einem assoziativen Verfahren und in ihren Suchprozessen neue Fragestellungen, denen sie nachgehen. Die künstlerischen Prozesse verfolgen eine Mehrdeutigkeit, in die unterschiedliche Ebenen und implizite Wissensformen Eingang finden (vgl. Polanyi 1985). Zum einen fließen Kontext-, Erfahrungs- und Handlungswissen in den künstlerischen Erkenntnisprozess ein. Zum anderen kann auch körperliches Wissen bedeutend werden; in diesem Sinne kann der Körper auch als Wissensgenerator wie in Fasslers Mappings eingesetzt werden. Er wird zum Messinstrument des Raums. Der Körper bezieht im künstlerischen Prozess Stellung zu der physisch-materiellen Welt und kann sich diese symbolisch und affirmativ aneignen. Außer Fassler stehen auch Kietzmann & Kübert mit ihren Körpern zu ihrer materiellen Umwelt wie in den Urban Town Houses in Relation und beziehen wortwörtlich Stellung zu diesem Raum. In den performativen Künsten bei den Studierenden der Hochschule Weißensee und bei Rettenmund fungiert der Körper in der szenischen Gestaltung
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als konstituierendes Element in dem offenen Bildraum. Somit kann die Integration des Körpers als identitätsstiftender Bestandteil temporärer oder visuell sozialer geschaffener Realitäten gesehen werden. Drittens fließen auch Meinungen, Annahmen, Haltungen, Gefühle und Ideen ein und überlagern sich. Aber auch Theorien, Thesen und Vorstellungswelten werden teilweise in den künstlerischen Prozess integriert und überlagern sich. Düttmann (2015) beschreibt, dass die ,Idee‘ der Keim, die Essenz eines Kunstwerkes und die Motivation des künstlerischen Prozesses ist. Die ‚Idee‘ als solche ist nicht fassbar, sondern kreist um die impliziten Wissensformen. Daher ist eine Idee nach Düttmann (2015) eine Einsicht, die verschiedene Aspekte zusammennimmt und den Prozess des Denkens beinhaltet. Daher kann Kunst zunächst als Denkfigur verstanden werden, die als Anlass genommen werden kann, in einer gemeinsamen Reflexion, Wissen zu produzieren. Denn die Ideen und die (Vorstellungs-)Bilder der Künstler sind solange nicht greifbar, bis sie auf eine sprachliche Ebene transformiert werden; dann erst werden sie zu explizitem Wissen, das verfügbar wird. Kunst muss daher als Denkfigur im Gegensatz zu wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen keine Lösungen auf Fragen finden. Sie regt aber zum Nachdenken darüber an, wie Visionen in diesem Zusammenhang verstanden werden und wie neue Formen des Wissens produziert werden können. 7.2.2 Abgrenzung von außengeleiteter Verwertung Innerhalb des Gruppengesprächs haben zahlreiche Künstler gesagt, dass sie Schwierigkeiten damit haben, Visionen zu generieren. Diese Schwierigkeiten entstehen möglicherweise daraus, dass die Künstler mit einer Vision meist eine konkrete Vorstellung eines urbanen Gesellschaftsentwurfs oder Lösungsmöglichkeiten einer urbanen alternativen Zukunft verbinden. In diesem Zusammenhang möchte ich auf Jameson hinweisen: Jameson (2001) beschreibt in einem Interview, dass es den Menschen heutzutage besser gelingen würde, das Ende des Kapitalismus zu denken als Gegenwürfe für eine andere Gesellschaft zu entwerfen. Das gelte sowohl für die zeitgenössische Kunst als auch in der Literatur. Menschen wären demnach eher darauf fixiert, die Welt und deren Bedingungen anzunehmen, als das Mögliche – im utopischen Sinn – zu denken. Sie scheinen sich eher damit zu identifizieren, dass die Utopien nicht umgesetzt werden können, obwohl sie wissen, dass es anders sein könnte (vgl. Bergenthal 2001; vgl. hierzu auch das ‚Ende der Geschichte‘ vgl. Kap. 6.1.3). Als mögliche weitere Ursachen für fehlende Visionen im Sinne einer vorstellbaren Zukunft werden (1) eine Intransparenz gesellschaftlicher Vorgänge, (2) die gesellschaftliche Komplexität und (3) der unsichere Fortgang durch krisenhafte Erscheinungen in den
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Gesprächen genannt. Die Entscheidung und das Selbstverständnis einiger Künstler, ihre Visionen nicht zu konkretisieren und kein produktives, lösungsorientiertes Wissen zu erzeugen, ist als bewusster Prozess zu bewerten. In einer Gesellschaft, in der Wissen fortlaufend produziert wird, wird Wissen ihrer Einschätzung nach zur gesellschaftlichen Ressource und auf profitorientierte Effizienz überprüft. Daher ist Wissen in dieser Perspektive etwas, was verfügbar ist und unterliegt daher der Gefahr, nicht der ursprünglichen Intention folgend verwertet zu werden. Folgerichtig bedeutet das, dass die Verfügbarkeit von Wissen nicht automatisch zu einem nachhaltigen und bewussten Umgang damit führt. Die Künstler haben kritisiert, dass künstlerische Strategien und Methoden – also auch das Prozesshafte – bereits Eingang in die Stadtpolitik gefunden haben. Den Künstlern scheint bekannt zu sein, dass künstlerische Herangehensweisen lösungsorientierte Ansätze für eine in die Krise geratene Stadtpolitik der ‚unternehmerischen Stadt‘ bieten können. So werden subversive Strategien und interventionistische Praktiken in das städtische Marketingkonzept und die Imagepolitik aufgenommen sowie Street Art bereits als atmosphärisches Beiwerk einer authentischen Stadt genutzt. Diese Vorgehensweisen werden von künstlerischer Seite aus als kostengünstige Verwertung des endogenen Potenzials der Stadt interpretiert (vgl. Kietzmann & Kübert, Rettenmund, Versteeg, Wunderlich). Damit wird die reale Kontingenz und Gestaltbarkeit des Urbanen infrage gestellt. In der Konsequenz wird in einigen Künstlerpositionen und den Gesprächen mit den Künstlern deutlich, dass der Glaube an die derzeitige Stadtentwicklung verloren gegangen ist und ihr gegenüber ein großes Misstrauen besteht. Die Konsequenz ist, dass eine Vielzahl der Künstler keine konkreten Lösungsangebote für die Stadtpolitik bereitstellen oder sich entgegen ihrer ursprünglichen eigenen Intention verwertet lassen wollen. Sie stehen konkreten Aufträgen seitens der Stadtverwaltung oder Stadtentwicklungsprogrammen wie der ‚Sozialen Stadt‘ skeptisch gegenüber. Das geschieht vor allem dann, wenn der Künstler einen legitimatorischen Ersatz für Partizipationsprozesse darstellen soll (vgl. Landau & Mohr 2015: 173). In der Konsequenz verstehen einige Künstler ihre Kunst als Generierung von Ideen. Ideen müssen nicht, sie können aber ein Product im Sinne einer konkreten Vision werden. Das heißt, dass die Deutungen von Ideen wirkungsmächtiger sind als die sozialen Praxen der Künstler selbst. Solange Kunst nur aus Ideen besteht, ist sie fluide und nicht greifbar. Diese fluide Form, Ideen zu entwickeln, kann auch als Widerständigkeit gelesen werden und als Verweigerungshaltung, die als eine neue subversive Strategie gedeutet werden kann. Das Ungreifbare ist damit als nicht effektiv und nicht produktiv zu verstehen. Somit könnte diese Art der Verweigerung auch ein neu-
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es Prinzip der Kunst sein und setzt einer konkreten Visionsentwicklung damit zwangsläufig eine Grenze. 7.2.3 Das ‚Prinzip Hoffnung‘ und strukturelle Grenzen Dennoch sind die künstlerischen Produktionen oft vom ‚Prinzip Hoffnung‘ gespeist und versuchen gesellschaftliche Leerstellen mit gestalterischen Methoden transparent zu machen und alternativ auszugestalten (vgl. Bloch 1985 [1954]). Die Fragen beispielsweise nach Gemeinschaften in der Stadt und die Suche nach dem Gemeinsamen stehen im Vordergrund zahlreicher künstlerischer Positionen wie auch eine Suche nach einem besseren Leben. Aber auch die Suche nach Nischen, in denen Veränderungen stattfinden können, und die Umsetzung eigner Praktiken, wird von Hoffnung geprägt. Unabhängig davon, ob genügend Ideen für eine alternative Stadtgesellschaft vorhanden wären, stellen sich die Künstler allerdings die Frage, ob diese Ideen überhaupt einer gemeinwohlorientierten Stadt zur Verfügung gestellt werden würden. Durch entsprechende künstlerische Strategien und Ausdrucksmittel wird zwar versucht, sich der Verwertung zu entziehen und alternative Planungspraxen anzustoßen, um auf gesellschaftliche Mängel zu reagieren. Aber die reale Wirkungsmacht der künstlerischen Strategien bzw. die dahinterliegende Hoffnung auf Veränderbarkeit endet ihres Erachtens nach oftmals auch an den realpolitischen bzw. an den vorhandenen strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen. Auf dieser Ebene zeigt sich eine gewisse Resignation einiger Künstler gegenüber der Möglichkeit, Strukturen auf einer übergeordneten Ebene verändern zu können (vgl. Fassler, Fuhrer, Kietzmann & Kübert, Rettenmund, Versteeg).
7.3 F ORMEN
NEUER
Z UKUNFTSBETRACHTUNGEN
Nichtsdestotrotz, dass kaum Visionen entwickelt werden, thematisieren die künstlerischen Positionen gesellschaftliche Widersprüche, mögliche Ideen, Meinungen, Denk-, Interventions-, Aneignungs- und Handlungsstrategien sowie ihre Umsetzungsmöglichkeiten. Obwohl sie keine konkreten Lösungsangebote offerieren, entfalten sich jedoch mehrere Reflexionsebenen, die von der Gegenwart ausgehend in die urbane Zukunft weisen können. Alle künstlerischen Positionen besitzen Bezugspunkte zur Gegenwart und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen die Künstler leben. Aus der Bandbreite der künstlerischen Positionen setzt sich ein versatzstückhaftes Bild vom gegenwärtigen Zustand Berlins zusammen. Dieses Bild beinhaltet ur-
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bane Spannungsmomente, die sich (1) aus der ambivalenten Rolle des Künstlers in der Stadt und den Verwertungsinteressen der unternehmerischen Stadt, (2) aus urbanen Themenstellungen, die sich aus der gegenwärtigen Präsenz von Problemen und/oder (3) aus wahrgenommenen räumlichen Irritationen, Dysfunktionalitäten ergeben, die zwischen Stadtplanung, materiellem Raum, den Lebenswirklichkeiten von Menschen sowie durch sichtbare Brüche an Orten entstehen. Wie Harvey (2013) beschreibt, sind Städte immer wieder verstärkt von wiederkehrenden internen Krisenerscheinungen geprägt und bietet genau diesen Raum der Auseinandersetzung an, welchen die Künstler z.T. aufnehmen und reflektieren. Die krisenhaften Erscheinungen sind nicht nur als Folgen lokaler und nationaler Entwicklungsprozesse zu werten, sondern auch in Wechselwirkung zu gesellschaftlichen Prozessen, Wandel und Krisen auf makroökonomischer Ebene zu sehen wie z.B. der Austeritätspolitik, Außenpolitik, EU-Politik, Finanzmärkte. Die krisenhaften Erscheinungen wirken sich unmittelbar auf den urbanen Raum aus und manifestieren sich in Vorstellungswelten, die zum Bestandteil stadtpolitischer und gesellschaftlicher Realität werden. Aufgrund der historischen Sonderstellung Berlins und des verspäteten Eintritts in den Immobilienmarkt komprimieren und überlagern sich städtische Dispositive und profitorientierte Entwicklungsprozesse (vgl. Harvey 2013; Peck 2012; Wiegand 2014). Gesellschaft zu analysieren, Widersprüche zu erkennen und Kritik an Bestehendem zu äußern, sind nach Jungk (1994) Bestandteile einer UrsacheWirkungskette von Gesellschaftsanalyse, Kritik, Zukunftsentwurf und Strategie. Durch die Abarbeitung dieser Ursache-Wirkungskette können gezielt mögliche Ideen und Handlungsweisen bezogen auf gesellschaftliche Widersprüche und Probleme gefunden werden. Kritik wurde in den künstlerischen Positionen sowie in den Gesprächsrunden auf unterschiedliche Art geäußert: beginnend mit einer Form der Selbstkritik, die das eigene Handeln reflektiert, über ein weiter gefasstes Verständnis von Kritik, das Bewertungen des wahrgenommenen normativen Systems beinhaltet und Institutionen hinterfragt bis hin zur Gesellschaftskritik, die auf Fehlstellungen im System hinweist: Kritik an gegenwärtigen Rahmenbedingungen war Bestandteil zahlreicher künstlerischer Positionen. Kritische Reflektionen können als Grundlage gelten, um dennoch Aussagen über eine zukünftige Urbanität zu treffen. Daher wird in Anlehnung an Salewski (2014: 74) eine Differenzierung möglicher Zukunftsbetrachtungsweisen vorgenommen, die am Untersuchungsgegenstand von Visionen und Urbanität im Kapitel 3 anknüpft und die Kategorien, des ‚Was-wäre-wenn‘ erweitern. Diese Unterscheidung hat sich u.a. aufgrund der ausgewerteten künstlerischen Ausdrucksformen ergeben, die von materiellen Bildern bis hin zu zeitlich begrenzten Interventionen und Performances im städtischen Raum reichen. An die unterschiedlichen Zukunfts-
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betrachtungen ist auch der Grad der Einbindung des Künstlers in den städtischen Raum gekoppelt: Die Zukunftsbetrachtungen erstrecken sich von der Reflexion der Alltagserfahrungen bis zur Beobachterrolle des urbanen Raums sowie von einer gestalterischen und interaktiven Praxis bis hin zur Gestaltung visueller Wirklichkeiten. Die Tabelle 7 dient als Überblick über die Zuordnungen der Künstlerpositionen zu den einzelnen Formen der Zukunftsbetrachtungen. Diese stellen keine repräsentativ Verallgemeinerung dar, sondern sie sind im Sinne von Lamnek (2010) illustrative Beschreibungen von Tendenzen. Dabei wird zwischen folgenden Tendenzen unterschieden: (1) ‚Jetzt und Noch‘, (2) ‚Trend/Prognose‘ (3), ‚Möglichkeitsräume/Gestaltungsspielräume‘, (4) ‚Visionen‘, die eine klare Zukunftsvorstellung transportieren und (5) ‚visuelle Gedankenexperimente‘. Jede der Zukunftsbetrachtungen liefert eigene Erkenntnisse, Werte, Zugänge, Handlungsoptionen und Möglichkeiten. Sie rücken die derzeitige Funktionalität von Stadt in ein anderes Licht, um sie anders zu verstehen bzw. anders denken zu können. Dabei weisen die künstlerischen Positionen reale und fiktionale Elemente auf, die jeweils auf ihre Umsetzbarkeit hin überprüft werden können. Dabei überschneiden sich teilweise Betrachtungsweisen der einzelnen Künstler, da sie sich in mehreren künstlerischen Bereichen bewegen oder sie zusätzlich noch ihr Umfeld, ihren Lebensalltag bzw. ihre Rolle als Künstler reflektieren.
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Tab. 7: Formen der (künstlerischen) Zukunftsbetrachtungen
Quelle: Eigene Darstellung (2015), in Anlehnung an Salewski (2014: 76)
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7.3.1 Das ‚Jetzt und Noch‘ oder die vorhandenen Potenziale in Berlin trotz bestehender Kritik Die Kategorie ‚Jetzt und Noch‘ als eine Kategorie der Zukunftsbetrachtung betont trotz ‚jetzt‘ bestehende Widersprüche und Kritik an Berlins Entwicklungsdynamiken die ‚noch‘ vorhandenen Möglichkeiten und Ressourcen. Urbane Krisenerscheinungen werden von den Künstlern implizit oder explizit in ihre künstlerischen Arbeiten aufgenommen, bearbeitet bzw. in den Gesprächen reflektiert. Aus der Kritik des Gegenwärtigen wird die jetzige Situation beschrieben: Mietsteigerungsprozesse wie auch der ungleiche Zugang zum Wohnungsmarkt werden thematisiert. Die Künstler artikulieren die Gefahr eigener Verdrängung oder bereits beobachtete Gentrifizierungsprozesse: Es werden räumlich sichtbare Veränderungen, wie Privatisierung von öffentlichen Flächen, das Schwinden von Nischen (vgl. Kietzmann & Kübert; Rettenmund) und die Zunahme von sozialer Ungleichheit benannt, die sich in Segregationsprozessen zeigt (vgl. Versteeg; Wunderlich). Zusätzlich zeigen sie die Diskrepanzen zwischen städtebaulichen Leitbildern und ihrer materiellen Umsetzungen auf, die nicht auf vorhandene gesellschaftliche Bedürfnisse reagieren oder bereits überholt erscheinen (vgl. Marzall, Fassler, Rettenmund). Die Zunahme von Armut und prekarisierten Lebensverhältnissen ist oft von der Angst nach fehlenden Entwicklungschancen, sozialer Ausgrenzung sowie fehlender politischer Teilhabe und Transparenz begleitet (vgl. Marzall, Rettenmund, Studierende Weißensee). Daher hinterfragen einige der Künstler die bestehenden politischen Mitgestaltungsprozesse und demokratischen Grundformen, die ihres Erachtens nach kaum auf Veränderungsprozesse wirken (vgl. Fuhrer, Kietzmann & Kübert, Marzall; Rettenmund; Wunderlich). In diesem Zusammenhang steht auch die politische Debatte um den Begriff ‚Urbanität‘ und seine normative Aufladung, die seitens der Berliner Stadtpolitik in die Öffentlichkeit getragen wird. Die Stadtpolitik befüllt ‚Urbanität‘ mit stadtpolitischen Diskursen und Vorstellungswelten (vgl. Kap 2.5) von ‚sozialer Mischung‘, ‚kultureller Vielfalt‘ und ‚Kreativität‘, von der ‚weltoffenen Stadt‘ sowie einer innovativen Stadt, die als Marke gehandelt wird, mit dem Ziel, weitere Wettbewerbsvorteile bezogen auf Zukunftsindustrien zu sichern (vgl. Bayer et al. 2014). Es werden von stadtpolitischer Seite Normen und Werte nach außen vermittelt, die krisenhafte Erscheinungen überblenden und als Ressource in die Imagepolitiken einfließen. Diese Vorgehensweisen entsprechen nicht den Vorstellungen der Künstler von einer nachhaltigen und qualitativen Stadt. Die Folge ist, dass – wie bereits erwähnt – zahlreiche der vorgestellten Künstler eine in die Krise gekommene Stadtpolitik nicht weiter mit künstlerischen Praktiken und
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durch ihr kulturelles und soziales Kapital unterstützen wollen (vgl. Kietzmann & Kübert; Rettenmund, Versteeg, Wunderlich). Das würde eine Kontrolle und Funktionalisierung entgegen der eigenen Selbstbestimmtheit und auch den Fortlauf dieser Entwicklungsdynamik bedeuten. Diese Doppelkategorie ‚Jetzt und Noch‘ (vgl. Tab 7) bezieht sich vorwiegend auf die in Berlin gegenwärtige Lebenswirklichkeit und auf den Alltag der Künstler (vgl. Fassler, Fuhrer, Marzall, Studierende Weißensee, Rettenmund). Es wird trotz Kritik am Bestehenden auf vorhandene Potenziale aufmerksam gemacht: Diese werden von einigen Künstlern in den Gesprächen mit der Ergänzung des Wortes ‚Noch‘ in Verbindung gebracht. Das, was als Potenzial der Stadt gesehen wird, droht zu verschwinden. Das heißt, es steht einerseits eine Angst dahinter, etwas zu verlieren, was bereits vorhanden ist. Andererseits besteht aber auch der Wunsch, dass dieses Potenzial auch in Zukunft erhalten bleibt. Somit zeigen diese künstlerischen Narrative ein Bild der ‚Stadt in Veränderung‘ und gleichzeitig auch ein ‚Bild der Hoffnung‘ auf. Das ‚Noch‘ sehen vor allem die Künstler, die noch weitere Großstädte und Metropolen kennen und als Zugezogene das Potenzial in Berlin im Vergleich sehen. Aber was bedeutet das ‚Noch‘ in diesem Zusammenhang? Es beinhaltet die Möglichkeit, sich beispielsweise aufgrund einer prekären Lebenslage, Netzwerke zu schaffen, um materielle Bedürfnisse zu sichern. Zudem beinhaltet dieses ‚Noch‘ Nischen einer anders verstandenen Kreativität, die nicht profitorientiert genutzt wird, sondern auf Originalität setzt. Denn es sind noch Rahmenbedingungen jenseits standardisierter profitorientierter Vorstellungen vorhanden, die alternative Denkmuster und Handlungen zulassen. Dahinter können Erfahrungen, Handlungen oder Vorstellungen stehen, die sich auf emanzipatorische Werte wie Selbstbestimmtheit, Selbstorganisation und Solidarität berufen und in Berlin noch vorstellbar und neben den von den Künstlern identifizierten politischen Fehlstellungen auch noch erlebbar sind (vgl. Marzall, Fuhrer). Fassler beispielsweise beschreibt Berlin als eine Stadt, in der noch nicht ausschließlich ökonomische Werte zählen, Fuhrer und Rettenmund erleben solidarische Momente in ihrer künstlerischen Praxis oder in ihrem Alltag. Fuhrer verweist auch auf die Stadt als sein Biotop, in dem er sich wohlfühlt und als Künstler erstens sein Publikum hat und zweitens an den schnelllebigen Prozessen besser teilhaben kann. Die Studierenden der Hochschule Weißensee sehen lebenswerte Räume, die unabhängig von diesen Mechanismen funktionieren. Auch Marzall benennt Potenziale in Berlin, die sich durch gegenseitiges Pflegen von Netzwerken ausdrücken, aber auch als Notwendigkeit und als Reaktion auf den Wandel zu deuten sind.
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7.3.2 Trend und Prognose: Im Feld der sozialen Kreativität Ein Trend ist nach Horx (2014) eine Veränderungsbewegung oder ein Wandlungsprozess. Ein Trend kann sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Lebensbereichen zeigen. Zahlreiche künstlerische Positionen berühren entweder ihre eigenen Lebenswirklichkeiten oder die der Menschen im urbanen Umfeld. Dadurch erschaffen die Künstler intuitiv oder aufgrund wahrgenommener äußerer Fehlstellungen durch ihr künstlerisches Handeln neue soziale Begebenheiten oder Situationen. Sie setzen mit ihren Handlungen und der Vermittlung ihrer eigenen Werte einen kurzeitigen soziokulturellen Trend in Gang, der ein Veränderungspotenzial beinhaltet. Konkret entstehen in ortspezifischen Kontexten durch künstlerische Interventionen zeitlich begrenzte Begegnungsräume. Versteeg beispielsweise schuf ihn ihren Projekten ‚Schachteldenken‘ und ‚Aufbauschrank‘ solche temporäre Begegnungsräume. Sie sind als Plattformen des Austauschs und der Kommunikation zu verstehen, mit dem Ziel, Gemeinschaften zu stärken. Versteeg reagiert auf wahrgenommene urbane Defizite wie Segregation und Individualisierung. Fuhrer hingegen sucht Orte auf, um die Demokratisierung der Kunst im Sinne Serners (1964) voranzutreiben. An diesem Prozess der Demokratisierung sollen Menschen an seinen Live-Zeichnerei-Events teilhaben, die ansonsten wenige Berührungspunkte mit Kunst haben. Kunst wird als Anlass dafür genommen, mit den Betrachtern in einem wechselseitigen Prozess Gespräche anzuregen, deren Ergebnisse wieder Eingang in die Kunst finden. Ebenso schafft Rettenmund Räume der Begegnung im öffentlichen Raum, indem sie sie durch szenische Irritationen, Alltagsroutinen und Wahrnehmungsmuster bei den Betrachtern hinterfragbar machen möchte. Die Studierenden der Hochschule Weißensee eruieren ihre Haltung und suchen nach Positionen in einem gemeinsam geschaffenen Setting und stoßen aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber der Ausstellung auf Widersprüche. Marzall entwirft ausgehend von ihren Beobachtungen im Raum ein eigenes Gedankenmodell. Durch die Überlagerungen von Raster und Netz werden Vorstellungen bezüglich mediativer Ausgestaltungsprozesse entwickelt. Marzall rückt damit die Gestaltungswünsche von Menschen in den Stadtgestaltungsprozessen in den Vordergrund. In Fasslers Mappings fließen wahrgenommene soziale Realitäten in die künstlerischen Arbeiten ein. Sie schafft darin eine neue visuelle soziale Begebenheit, indem sie urbanen Konflikten, ihrem eigenen Alltag und dem Alltag der Menschen vor Ort, einen großen Anteil ihres Bildraums überlässt und diesen als Aushandlungsprozess begreift. In jeder dieser geschaffenen sozialen Realitäten wird auf den gesellschaftlichen Wandel Bezug genommen, um die gegenwärtigen Prozesse zu verstehen, hinterfragen und deuten zu können. Es
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geht nicht um eine konkrete Vorhersage, aber diese Prozesse enthalten mögliche Trends und Prognosen, worauf die Künstler z.T. reagieren bzw. sie sie auch mit ihrer künstlerischen Praxis selbst fortführen. Daher kann diese soziale Praxis der Künstler auch als soziale Kreativität verstanden werden. Soziale Kreativität ist ein gesellschaftliches Phänomen geworden, das als soziale Praxis einer Zukunftssicherung verstanden werden kann, die ein menschenwürdiges Leben in der Stadt ermöglicht. Sie kann einerseits der ökonomischen Kreativität als vorherrschender Trend – der gesellschaftlich proklamiert wird – entgegenstehen oder sie wird andererseits notwendig, um die ökonomische Kreativität erst zu ermöglichen (vgl. Rammert 2010). Dieser Widerspruch wird auch in der Diskussion deutlich, wenn soziale Kreativität als mögliche Basis für soziale Innovationen verstanden wird (vgl. Howaldt et al. 2014: 78f). Damit soziale Innovation entstehen kann, benötigt es Folgendes: „Kreative Abweichungen, Regelverletzungen und Überschüsse sind zwar notwendige Elemente für die Entstehung von Innovationen, reichen aber nicht hin. Erst die Auswahl, Wiederholung und Verbreitung dieser abweichenden Varianten machen aus wilden Ideen, ungewöhnlichen Praktiken und neuartigen Objekten eine Innovation der Gesellschaft. Auf der pragmatischen Ebene ist also neben der Variation durch kreatives Handeln auch die erfolgreiche Selektion durch nachahmendes, aneignendes und dauerhaft reproduzierendes Handeln zu untersuchen. Auch dabei reicht nicht die Behauptung und Befragung der Akzeptanz; sie muss sich vielmehr in den entsprechenden Performances des Umstellens und Lernens festmachen lassen. Wir sprechen dann von reflexiver Innovation.“ (Howaldt 2010: 60)
Zur Realisierung sozialer Innovationen bedarf es jedoch bestimmter institutioneller, politischer und sozialer Voraussetzungen (vgl. Howaldt et al. 2014: 60). Die Künstler suchen und erschaffen diese Räumen und Nischen meist jedoch außerhalb institutioneller Rahmenbedingungen (vgl. Fassler, Versteeg, Rettenmund). Im Folgenden wird daher auf künstlerische Strategien eingegangen, die auch als ein kreatives urbanes Handeln betrachtetet werden können, prozesshaft eigenen Regeln nachgehen, somit neue Optionen schaffen können und auch einen wesentlichen Zugewinn der Arbeit darstellen. 7.3.3 Der offene Bildraum: Verweise auf Möglichkeits- bzw. Gestaltungsspielräume Nach der Auffassung von Lefebvre (1968) ist die Utopie als fortlaufender urbaner Aushandlungsprozess zu verstehen, der sich durch das Erkennen gesell-
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schaftlicher Widersprüche ergibt. Erst dann kann das Mögliche als Vision real werden und im Urbanen Gestalt annehmen: dieses Utopieverständnis kommt den künstlerischen Praktiken, die sich mit (Möglichkeits-)Räumen beschäftigen und/oder sich im Stadtraum bewegen am nächsten. Das Mögliche ist nicht statisch. Es äußert sich nicht in konkreten Zukunftsvorstellungen und Forderungen, sondern ist offen und prozessual angelegt (vgl. Lefebvre 1968: 31). Das Prozessuale zeigt sich in den experimentellen und kreativen Methoden sowie in den künstlerischen Strategien. Zu diesen gehören das Spiel, die Subversion, das Mapping, die Intervention und die performativen Ansätze. Bei Fuhrer ist die Subversion ein mögliches Mittel und eine mögliche Strategie innerhalb der Kunst, Gesellschaft zu hinterfragen und zu verändern. Durch gezieltes Beobachten seines Umfeldes will er soziale Missstände erkennen und offenlegen sowie – auf Basis seiner politischen Haltung – eine Gesellschaftskritik durch die Kunst transportieren. Dies ist seines Erachtens nur möglich, indem seine Kunst jenseits des Kunstbetriebs präsentiert wird. In diesem Kontext könnte Kunst als politische Waffe gelesen werden, in die Visionen einer alternativen Vorstellungsweise von einer urbanen Gesellschaft einfließen und die Veränderungsprozesse für eine soziale Gesellschaft anstößt. Auch Kietzmann & Kübert versuchen durch ihre Interventionen in einem sich im Wandel befindenden Umfeld die dahinter liegenden sozialen Realitäten sichtbar zu machen und Reflexionsebenen über alternative Aushandlungsprozesse anzustoßen. Durch die symbolische Zusammenführung von Akteuren an der Rummelsburger Bucht an einen Runden Tisch zeigen sie auf, wie Partizipationsprozesse in diesem Raum gestaltet werden könnten. Damit transportieren sie auch Aussagen, wie eine Stadtgestaltung in der Zukunft wünschenswert wäre. In ihrer Rolle als Künstler begeben sie sich des Weiteren in bereits privatisierte Räume und versuchen als Pioniere dieses Gebiet performativ zurückzuerobern und sich anzueignen. Sie kontextualisieren Theorien neu und eröffnen dadurch Zugänge, wie urbaner Raum verstanden und interpretiert werden könnte. Rettenmund spielt mit Wahrnehmungsmustern und mit temporären Ansätzen, um der Verwertungslogik zu entgehen. Fassler erfährt durch das Mapping, wie Orte funktionieren, wie sie sich verändern und welche Bedeutsamkeit sie für die Menschen haben können. Sie stößt die Möglichkeit einer partizipativen Aushandlung an, die visuell ihren Raum findet. Versteeg verschafft sich durch ihre experimentellen Methoden – die Überschneidungspunkte zu sozialwissenschaftlichen Methoden aufweisen – Zugänge zu Menschen, um sie in ihren künstlerischen Prozess zu integrieren und dadurch einen Austausch und Begegnungen zu bewirken. Dabei versucht sie, sich innerhalb der städtischen Prozesse als Künstlerin zu positionieren und ihre Nische jenseits von
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Verwertbarkeit zu finden. Einige Künstler experimentieren mit Zeit und Raum und erschaffen ausgehend von eigenen Erfahrungen unter realen Bedingungen eine eigene fiktionale Wirklichkeit nach ihren Regeln. Sie kreieren eigenständige offene Bildräume, in denen Wahrnehmungswelten, Wahrheiten und Haltungen durch neue Versuchsanordnungen gesucht und gefunden werden (vgl. Fassler, Rettenmund, Studierende Weißensee, Versteeg). In all diesen künstlerischen Strategien werden Grenzen ausgelotet, um den Handlungsspielraum zu erfahren und die Wirkungsmächtigkeit eigener Strategien zu testen, denen experimentelle Prinzipien zu Grunde liegen. Hinter diesen experimentellen Verfahren steht der von Lévi-Strauss (1991) geprägte Begriff der Bricolage, der das bezeichnet, was alle diese Praxen übergeordnet ausmacht: Alltagsgegenstände, Handlungsroutinen und Regeln werden bei einer Bricolage neu kontextualisiert. Durch die Reorganisation, Umnutzung und die Zweckentfremdung vorhandener Gegebenheiten, Orte und Strukturen wird das Ziel verfolgt, einen normativen Bruch zu schaffen, der Verdecktes oder Ambivalenzen aufweist, um daraus neue Handlungspraktiken und Sichtweisen abzuleiten. Durch das Infragestellen bestehender Ordnungen, Vorstellungswelten, Wahrnehmungsmuster, kultureller Konventionen und Zeichen werden diese durch die künstlerischen Praktiken und Methoden situativ umgedeutet und somit neue, wenn auch meist kurzfristige oder visuell angelegte, soziale Realitäten geschaffen (vgl. Kap 1.2.4). In diesen sozialen Realitäten wird der Fokus oftmals auf die Menschen gerichtet und bindet sie z.T. ein. Der Künstler kann als Handelnder aktiv und zum städtischen Akteur werden. Darüber hinaus erlauben diese Methoden und Strategien in ihrer Anwendung neue Lesarten des urbanen Raums und setzen an der diskursiven Ebene an bzw. an das an, was Jessop & Sum (2013) als Vorstellungswelten beschrieben haben (vgl. Kap. 2.5). Es handelt sich somit bei den eingesetzten kreativen Strategien und Methoden im übertragenen Sinn um künstlerische Techniken, die auf der semiotischen Ebene des Urbanen wirken. Auf dieser Ebene bewegen sich die Künstler auch zwischen affirmativen und subversiven Strategien: Die Praktiken können zur Reproduktion von Vorstellungswelten beitragen (wie die künstlerische Performance der Studierenden der Hochschule Weißensee, Versteeg durch ihre Einbindung in soziale Stadtpolitiken) oder sie können Mittel und Wege aufzeigen, wie man den gängigen Vorstellungswelten entgegen wirken kann (vgl. Fuhrer, Rettenmund). Diese Strategien, Methoden und Herangehensweisen können auch als Metaphern des kreativen Handelns, die städtische Erfahrungswerte beinhalten, verstanden werden: Geschaffene – offene oder geschlossene – Bildräume können stellvertretend für eine prozesshaft und partizipativ gestaltete Zukunft stehen, die mit Unsicherheiten
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umgehen kann und flexibel auf Gegebenheiten reagiert (vgl. Rebentisch 2013: 31). In offenen Bildräumen werden ausgehend von realen Bedingungen mögliche Optionen erprobt und im Verlauf mögliche Ziele und weitere Fragen generiert.27 Daher kann dieser offene Bildraum bzw. Möglichkeitsraum auch als kontingenter Raum verstanden werden. Jain (2012) beschreibt, dass durch die bestehende Kontingenz und die Auslotung von Möglichkeiten auch immer eine Begrenztheit erfahrbar wird und die Grenze nicht beliebig gesetzt werden kann. Daher ist das Mögliche auch immer mit dem Unmöglichen verbunden: „Das Unmögliche ist der Rahmen. Und die Aufgabe. Der Horizont sollte sein – die Utopie, jener Bereich der Imagination, der der Unmöglichkeit angehört, die die Möglichkeit gebiert. Doch die Möglichkeit der Utopie ist in der aktuellen Realität der kontingenten Gesellschaft kaum mehr gegenwärtig, und die Illusion, die Ideologie, dass in der kontingenten Gesellschaft alles möglich wäre, limitiert tatsächlich ihre, unsere Möglichkeiten […]. Gerade für die kontingente Gesellschaft wäre aber der Horizont der Utopie tatsächlich eine Notwendigkeit, um nicht zu erstarren, um ihren Möglichkeitscharakter als reales Potenzial und nicht nur als Ideologie zu entfalten.“ (Jain 2012: 6)
Nach Kagan (2011) könnten solche raumbezogenen künstlerischen Praxen des Weiteren einen Beitrag zu kreativen Formen des kollektiven Lernens leisten. Darüber hinaus zeigen sie auf, was heute unter nachhaltiger und sozialer Kreativität verstanden werden kann: Menschen und die soziale Welt rücken wieder in den Vordergrund des Stadtgeschehens und es kann eine Kommunikation und Reflexion über das entwickelt werden, was besteht und möglich ist. Hier können die Komplexität der Strukturen und der eigene Gestaltungsspielraum erfahren werden. Diese Kategorie der Zukunftsbetrachtung pendelt zwischen dem ‚Jetzt und Noch‘ und kann auch als ‚Trend‘ verstanden werden: Offene Bildräume beinhalten eigene Raumvorstellungen, aber sie können auch als eigenständige Raumproduktionen betrachtet werden. Vor allem die beschriebenen künsterischen Techniken sind – wären sie in der Realität angesiedelt – die Voraussetzung für die Implementierung einer sozialen Innovation. Durch die Veränderungen von 27 Ähnliche Verfahren werden Urban Hacking genannt, die kulturelle Zeichen oder Codes z.B. im Raum dechiffrieren bzw. umcodieren, um neue Lesarten des urbanen Raums oder der vorhandenen Vorstellungswelten und bestehende kulturelle Bedeutungszuschreibungen zu hinterfragen (vgl. Semiose bei Jessop 2013, vgl. Kap. 2.6; Düllo 2005; Friesinger 2010). Dadurch werden Aushandlungsprozesse erprobt, die die vorgegeben Rahmenbedingungen und Vorstellungswelten als Ausgangspunkt haben. Zu dieser Ebene gehören auch die Vorstellungswelten nach Jessop (2013), als konstituierendes Element der Struktur.
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Semantiken, Theorien, die Transformation von gesellschaftlichen Leitbildern und Konzepten können soziale Innovationen angestoßen werden (vgl. Howaldt et al. 2014: 78). Das Neue wird vor allem im Bestehenden und im Möglichen gesucht, um gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen (vgl. Howaldt et al. 2014: 13). Soziale Innovationen können aber auch eine Symptombekämpfung vorherrschender Krisenerscheinungen bzw. urbaner Herausforderungen sein, die nicht an der Ursache anknüpfen, sondern sie gegebenenfalls reproduzieren. Einerseits werden Menschen befähigt, Lösungen zu generieren (vgl. Howaldt et al. 2014), die nachhaltige Aspekte wie Selbstorganisation, Flexibilität, Partizipation, Macht- und Konfliktausgleich sowie die Veränderungen von institutionellen Rahmenbedingungen beinhalten. Andererseits kann eine soziale Innovation auch eine Verantwortungsverlagerung auf den einzelnen Bürger bedeuten. Das spiegelt nicht unbedingt die ursprünglichen Intentionen der Künstler wider. 7.3.4 Der geschlossene Bildraum: ‚Visionen‘ und das ‚visuelle Gedankenexperiment‘ Diese beiden Kategorien ‚Visionen‘ und das ‚visuelle Gedankenexperiment‘ (vgl. Tab. 7) weisen einige Überschneidungen auf, die zunächst erläutert werden, um dann auf die Differenzierungen einzugehen. Diese beiden Kategorien zeigen das Spannungsfeld zwischen Gedankenspiel und Realität sehr deutlich auf: Die fiktionale Ebene beginnt dort, wo gestalterische Elemente in Trägermedien wie Zeichnungen verwandelt werden. Der Rahmen der Fiktionalität wird zwar auch von konkreten Wahrnehmungen, gesellschaftlichen Fehlstellungen und Alltagserfahrungen beeinflusst, die künstlerische Praxis wird aber in einem geschlossenen Bildraum umgesetzt. Die beiden Kategorien sind daher rein künstlerischvisuell. In diesen beiden Kategorien zeigt sich die ‚piktorale Differenz‘ (vgl. Kap. 4.1.3) am deutlichsten: Der Herstellungsprozess und die dahinterliegenden Vorstellungen, Intentionen und Zukunftsbetrachtungen konnten nur in der gemeinsamen Reflexion sichtbar gemacht werden. Diese beiden Kategorien bestehen aus der symbolischen und farblichen Umsetzung von Vorstellungen, Haltungen und Meinungen. Dieser Bildraum beinhaltet zusätzlich eine komplexe Überlagerung vielfältiger nichtsprachlicher Elemente: das Materielle und das Symbolhafte, die nur in Zeichnungen Gestalt annehmen können. Festzuhalten ist, dass auf visueller Ebene anstatt auf praktischer Ebene ganz anders mit gesellschaftlichen Komplexitäten umgegangen werden kann. So können auch neue Komplexitäten geschaffen werden, in dem sich zeichnerische oder räumliche Ebenen visuell überlagern. Sie lassen symbolische und visuelle Gedankenexpe-
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rimente entstehen und schaffen neue Denk- und Erfahrungsmodelle, an denen sich Diskussionen über Urbanität und Visionen anschließen können. Fuhrers Zeichnung beispielsweise illustriert mögliche künstlerische Handlungen und Zugänge dazu, wie Visionen generiert werden können. Das gilt sowohl für ihn selbst als auch für die Gesellschaft. Seine Vision ist, Rahmenbedingungen so zu schaffen, dass damit Visionen wieder denkbar werden und ihre Umsetzung tatsächlich auch in Betracht gezogen werden kann. Hinter dieser Intention steht ein Zukunftsbild, das eine klare Vorstellung transportiert. Auch wenn es keine Lösungen für eine andere Stadt beinhaltet, kommt diese Kategorie einer denkbaren ‚Vision‘ am nächsten. Der Künstler spielt mit Symboliken und liefert durch die gewählte Perspektive Anknüpfungspunkte an die Thematik der Forschungsarbeit. Dabei handelt es sich zum einen um Wörter und Jahreszahlen, denen er metaphorische Bedeutungen zuschreibt und zum anderen um Tiergestalten, die symbolisch für einen Zugang des Künstlers zu Stadt stehen. In der Kategorie das ‚visuelle Gedankenexperiment‘ werden bei Wunderlichs Illustration ‚Zukunft der Stadt‘ in überspitzter Form neue fiktionale dystopische (Stadt-)Welten geschaffen, die jedoch Elemente enthalten, die auf den Fortgang der Gesellschaft hinweisen. Es werden zum einen räumliche und zeitliche Ebenen überlappt. In einem Aufstand der Mutanten wird zum anderen von der Befreiung aus ausbeuterischen Verhältnissen erzählt, in der technische Gegebenheiten die sozialen Gegebenheiten dominieren. Es werden visuelle Gedankenexperimente erschaffen, die in ihrer Denkweise fast alles erlauben (Kakerlaken, die sprechen etc.) und dennoch bietet genau diese Darstellungsweise Anregungen an, gezielt über den Status Quo der heutigen Gesellschaft zu reflektieren, um daraus eine wünschenswerte Gestaltung der jetzigen urbanen Gesellschaft abzuleiten. Auch bei Fassler überlagern sich in einem geschlossenen Bildraum – in ihrer Serie ‚Kotti‘ – unterschiedliche Symboliken. Das Materielle des Stadtraums rückt durch ihre körperliche Präsenz, Messungen und ihre Beobachtungen menschlicher Aktivitäten in ihren Zeichnungen in den Hintergrund. In dem geschlossenen Bildraum setzt sie also ihren Wunsch um, dass den Menschen in der Stadtgestaltung zukünftig mehr Raum gegeben werden sollte. Die beiden Kategorien basieren am deutlichsten auf einer System- und Gesellschaftskritik und beinhalten Vorstellungen, die aber nicht unmittelbar umsetzbar wären oder gleich eintreten würden. Ihre Vorstellungen bleiben im geschlossenen Bildraum, aber sie zeigen auf, wie eine mögliche Zukunft aussehen könnte, die den Menschen in den Fokus rückt (vgl. Fassler, Fuhrer, Wunderlich). Daher bietet das Visuelle eine neue Form an, Bedeutungen und Räume neu zu schaffen. Auf dieser Ebene werden bestehende Modelle hinterfragt und spielerisch neu zusammenzusetzt.
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7.4 W ERTEDEBATTE
EINER ZUKÜNFTIGEN
U RBANITÄT
Durch die Verbindung der Wahrnehmung von (Alltags-)Erfahrungen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seitens des Künstlers einerseits sowie seiner Rolle im städtischen Raum andererseits, tritt ein wechselseitiger Rückkopplungseffekt ein. Die in diesem Wirkungsfeld entstehenden künstlerischen Positionen können zum einen Aufschluss über die jetzige Funktionalität der Städte und über die Gesellschaft geben, in der wir leben. Zum anderen eröffnen sie auch die Möglichkeit, über gewünschte Werte eines zukünftigen Zusammenlebens und einer zukünftigen Urbanität zu reflektieren. In der Tabelle 8 werden alle Werte, die in den künstlerischen Positionen innerhalb des reflexiv-explorativen Gesprächs und in der Gruppendiskussion benannt wurden, dargestellt. In dieser Tabelle sind die individualistischen nicht von den kollektivistischen Wertevorstellungen getrennt dargestellt, da alle genannten Werte in den Künstlerpositionen in ihrer Wechselseitigkeit zu begreifen sind. Des Weiteren wird nicht zwischen noch vorhandenen Werten, die erfahrbar sind, oder den nicht (mehr) vorhandenen Werten unterschieden: In beiden Fällen handelt es sich um Wünsche und Bedürfnisse. Hinter diesen Werten verbergen sich vielmehr in ihrer Gesamtheit qualitative Merkmale einer möglichen Stadt bzw. das, was Stadt auch in Zukunft zusammenhalten kann. Diese Darstellung erweitert daher die vorgestellten Urbanitätskonzeptionen (vgl. Kap. 3.2). In Tabelle 8 wird zudem der Ausgangspunkt der künstlerischen Positionierung dargestellt. Er stellt einen Bezug zum städtischen Umfeld her und legt die Motivation des Künstlers dar, sich mit dem urbanen Umfeld zu beschäftigen. Die Künstlerpositionen und die zugrundeliegenden Zukunftsbetrachtungen zeigen einerseits eine Suche nach immateriellen Werten – wie Selbstbestimmtheit, Freiheit, Emanzipation, soziale Integration und Autonomie – und andererseits die Suche nach materiellen Grundwerten. Die Betonung von materiellen Werten kann als Wahrnehmung von Krise und sozialem Wandel verstanden werden: Di Fabio (2005) und Hradil (2002) sehen aufgrund der Wohlstandsverluste, der Krisen und der Rückkehr der Ressourcenknappheit eine neue Kombination von materiellen und immateriellen Werten. Diese Kombination hat die Tendenz, materielle, an der Existenz ausgerichtete Werte wieder in den Vordergrund treten zu lassen (vgl. Di Fabio 2005: 65; Heinemann 2012; Hradil 2002; Laub 2011).
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Tab. 8: Urbanität und die daran gekoppelten Werte: Das was die Stadt in Zukunft zusammenhält
Quelle: Eigene Darstellung (2015)
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Dahinter steht das Bedürfnis nach existenziellen Grundlagen und einer sicheren Zukunft. Diese Grundsicherungen betreffen das Einkommen, eine sichere Wohnsituation, aber auch den Wunsch nach Räumlichkeiten und Nischen zum Arbeiten. In diesem Zusammenhang steht die zunehmende Angst vor existenziellen Verlusten im Fokus der Aufmerksamkeit. Das heißt in der Quintessenz, dass sich die Künstlerpositionen in einem Spannungsfeld der Sicherheit, Beständigkeit und Stabilität einerseits und des Wandels andererseits bewegen. Dieses ‚Dazwischen-Sein‘ wird von Marzall in ihren Denkmodellen ‚Raster‘ und ‚Netz‘ symbolisch dargestellt. Ein anders gelagertes Spannungsfeld erlebt Rettenmund: Sie befindet sich zum einem zwischen eigenen Idealen und materiellen Zwängen, zum anderen zwischen der zugeschriebenen Rolle von außen und der sich selbst zugeschriebenen Rolle.
7.5 I MPULSE
FÜR EINE ZUKÜNFTIGE
S TADTGESTALTUNG
7.5.1 Aufdecken von Defiziten durch künstlerische Arbeiten Begriffskategorien wie Vision und Utopie verändern sich in ihren Ansprüchen und Intentionen im Wandel der Zeit. Vor allem in Krisen bzw. Umbruchphasen werden sie nach Laimer (2013) auf die Probe gestellt: Hier können sich neue Vorstellungen entwickeln, wie in den Zukunftsbetrachtungen der Künstlerpositionen aufzeigt wird. Die Künstler haben beispielsweise in ihrem künstlerischen Handeln im Raum auf wahrgenommene Probleme reagiert oder sie haben diese im gemeinschaftlichen Reflexionsprozess benannt. Dadurch decken die Künstlerpositionen gesellschaftliche Mängel auf. Diese Mängel verweisen auch auf Defizite der derzeitigen Stadtentwicklung und der Stadtpolitik sowie deren Regularien und Normen, gerade was den ‚kreative Stadt‘-Diskurs betrifft. Die dystopische Illustration von Wunderlich zeigt am deutlichsten auf, wie ein Fortgang einer defizitären gesellschaftlichen Entwicklung in ihrer Überspitzung schlussendlich aussehen könnte. Diese Entwicklung könnte im weitesten Sinn auch auf Städte wie Berlin übertragen werden. Durch die Künstlerpositionen werden daher Diskrepanzen der Stadtplanung zwischen sozial notwendigen Aufgaben und ökonomischer Ausrichtung sichtbar. Diese Ambivalenz zeigt sich auch darin, dass sowohl immaterielle als auch materielle Werte durch die Künstlerpositionen übertragen werden. Da in der Stadtgesellschaft gesellschaftliche Teilbereiche wie Kultur und Kunst bewertet und kontrolliert werden, besteht die Angst, dass soziale Teilhabe – die sich auch künstlerisch ausdrücken kann – der Effizienz zum Opfer fällt. In einer komplex und global gesteuerten Welt ist die
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Überschaubarkeit sowie Steuerung und Kontrolle der eigenen Existenz erschwert. Diese Fremdbestimmung, die die Künstler laut eigener Aussage alltäglich spüren, bedingt auch den Wunsch nach Stabilität, Kontinuität, Beständigkeit sowie nach sicheren Gemeinschaften und sinnvollen Zusammenhängen. Diese sinnvollen Zusammenhänge werden dort offenbart, wo es darum geht, Begegnungsräume, Öffentlichkeit, Demokratie und Solidarität zu schaffen. 7.5.2 Materielle Aspekte REGULARIEN UND STAATLICHE GRUNDSICHERUNG Der Wunsch einiger Künstler besteht darin, Kontinuität und Sicherheit zu schaffen, die ihre existenzielle Grundsicherung beinhaltet (vgl. Tab. 8). Wunderlich betont in seiner Künstlerposition ‚Zukunft der Stadt‘ als Grundvoraussetzungen zur Schaffung von lebenswerten (Stadt-)Räumen den nachhaltigen Umgang mit Materialität sowie einen guten Umgang mit – auch menschlichen – Ressourcen. Dafür müssten nach Wunderlich Regularien geschaffen werden, die international wirken und nicht nur an Konsum, mehrwertschaffenden sowie wachstumsbezogenen Prinzipien ausgerichtet sind. Andere Künstler beziehen sich aufgrund ihrer eigenen Lebenslagen oder ihrer Beobachtungen aus dem städtischen Umfeld auf den urbanen Wandel. Dieser Wandel beinhaltet die Ökonomisierung breiter gesellschaftlicher und kultureller Bereiche, die fortschreitende Privatisierung im Wohnungsbereich und in der Daseinsvorsorge (vgl. Fassler, Fuhrer, Marzall, Rettenmund, Versteeg). Dadurch wird der Gestaltungsspielraum immer geringer. Einerseits für die Menschen innerhalb der Stadt, die unter prekären Lebensbedingungen leben bzw. unter Armut leiden, andererseits schränkt er auch die Handlungsmöglichkeiten der Stadtpolitik ein, die auf Krisen materieller Art reagieren muss. EXISTENZSICHERNDE ARBEIT Viele der Künstler bewegen sich in prekären Verhältnissen bzw. auf der Ebene der Low-Budget-Urbanität, wie es Färber (2014) beschreibt (vgl. Kap. 6.6.1). In der Gruppendiskussion wurden vor allem die unsichereren Erwerbslagen, die geringen Honorare für Künstler, die zunehmenden Einsparmaßnahmen des kulturellen Bereichs, der nicht der Logik der ‚unternehmerischen Stadt‘ entspricht, und die häufig wechselnden Jobs thematisiert. Die Künstler gehen auch (niedrigbezahlten) Arbeiten nach, die mit Kunst im Kern nichts zu tun haben. Diese unsichere Situation ist sehr präsent. Wie in der Regulationstheorie bereits dargestellt wurde, zeichnet sich der städtische Arbeitsmarkt zunehmend durch flexible Strukturen und den weiteren Rückzug staatlicher Verantwortlichkeiten aus. Ret-
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tenmund etwa beschreibt, dass sie als Künstlerin durch ihre Kunst keine Stellschrauben an der vorhandenen prekären Situation drehen kann. Die Studierenden-Gruppe verweist durch ihre Performance ‚Mehrwert schaffen umsonst‘ auf ihre Einbindung in Produktionsbedingungen kultureller und kreativer Prozesse im städtischen Umfeld. So sollen die Defizite der in die Krise gekommenen Stadt – wie es die Ausstellung WE TRADES darstellt – mit sozialem Engagement und solch freiwilliger Arbeit kompensiert bzw. beseitigt werden, für die der Staat keine Gelder mehr ausgibt. Diese (soziale) Arbeit ist aber konstitutiv für den Fortbestand einer sozialen Gesellschaft und einer Stadt für die Zukunft. Kietzmann & Kübert betonen, dass ihre Kunst niemals verkäuflich wäre, auch weil gesellschaftskritische Kunst niemals einen Markt finden würde. Daher verfolgen sie aus ihrer Neugierde heraus ihre Arbeit und sehen in ihr, auch wenn sie nicht produktiv erscheint, einen gesellschaftlichen Mehrwert. Sie thematisieren aber gleichzeitig die Forderung nach einer finanziellen Anerkennung ihrer Arbeit. 7.5.3 Immaterielle Aspekte GEMEINWOHLORIENTIERUNG Einige der künstlerischen Praktiken deuten auf Aufgaben für eine alternative Stadtentwicklung hin. Diese liegen demnach darin, sich nicht an einer profitorientierter Logik zu orientieren, sondern sich vielmehr gemeinwohlorientiert und an den Bedürfnissen der Menschen auszurichten. Gerade einige rückbezügliche Betrachtungen der Künstlerpositionen stellen die soziale Frage. Fuhrer verweist beispielswiese darauf, dass die Stadtpolitik einst Visionen hatte und sich in den 70ern durch eine sozial ausgerichtete Wohnungspolitik auszeichnete, wodurch Menschen mit wenig Einkommen einen Platz in der Stadt fanden. Die Verdrängungsgefahr durch Gentrifizierung ist ihm wie auch Rettenmund sehr bewusst. Marzall bringt gegenüber der städtebaulichen Umsetzung von Brasilia, die einst emanzipatorische Werte verfolgte und bei der Planung den Fokus auf den Menschen legte, einen großen Respekt auf. Aber durch die Transformation dieser Stadt, die sie auch in Berlin wiedererkennt, werden neue mediative Prozesse notwendig, die das Gemeinwohl der Stadtbewohner in den Vordergrund rücken und in die städtischen Entwicklungsprozesse integrieren. Nach Marzall sollten Räume und Nischen geschaffen werden, die unabhängig von ökonomischen Interessen funktionieren. In diesem Raum könnte soziale Kreativität gelebt und soziale Innovation entwickelt werden; die Präsenz von Menschen wäre dort nicht verhandelbar.
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COMMUNITY BUILDING Gemeinschaften zu stärken, zu schaffen und integrative Aspekte der Stadtgesellschaft zu befördern, wird von einigen Künstlern als wichtige erachtet. Die Künstler erproben teilweise den Umgang mit integrativen Aspekten in ihren künstlerischen Arbeiten selbst oder haben in dem Gespräch diese Intention deutlich gemacht. So bestätigen diese Künstlerpositionen, dass die Stadt den Charakter einer Integrationsmaschine – wie es Häußermann einst beschrieb – verloren hat und neue soziale Ungleichheiten als Folge des ökonomischen Strukturwandels zu Tage treten (vgl. Häußermann 2009). Marzall betont, dass die Zunahme von Gated Communities, die die verstärkten Segregationsprozesse verdeutlichen und auch zunehmend in Berlin zu finden sind, nicht förderlich für ein gemeinsames Zusammenleben in der Stadt sind. Auch Kietzmann & Kübert sehen den Verkauf und die Privatisierung öffentlicher Flächen, die nur auf finanzkräftige Communities ausgerichtet, als Indikator dafür, dass diese sozialen Segregationsprozesse eine gemeinwohlorientierte und gemeinschaftlich ausgerichtete Stadt gefährden. Die Studierenden der Hochschule Weißensee hingegen erproben in dem Prozess der Performance und durch die gemeinsame Zusammenarbeit, welche Haltungen sie als Gruppe bzw. Gemeinschaft von Kreativen gegenüber einer äußeren Erwartungshaltung finden. Diese Performance war auch eine Versuchsanordnung unter dem Gesichtspunkt, wie identitätsstiftend ein gemeinschaftlicher Prozess sein kann. Auch für Versteeg sind Segregationsprozesse ein Aspekt, auf den sie einwirken möchte. Sie bringt Menschen, die – aufgrund sozialer, kultureller oder ethnischer Hintergründe – kaum oder wenige Berührungspunkte haben zusammen, konzentriert deren Wissen und trägt es wieder an sie zurück. Sie sieht in diesem Vorgehen auch ein Überprüfen ihrer eigenen Vorurteile gegenüber gewissen Orten. Rettenmund, die sich selbst als Raumstrategin bezeichnet, sucht gezielt den öffentlichen Raum, um ein breites Publikum zu haben, das in ihre künstlerischen Prozesse eingebunden wird. In diesem Moment teilen die Menschen unabhängig ihrer Herkunft und ihres sozialen Status eine inszenierte Situation, auf die sie gemeinsam, aber auf unterschiedliche Art und Weise reagieren. In dieser künstlerischen auch meist temporären Community Building wird aber meist nicht weiter reflektiert, welche neuen Distinktionsmomente dadurch entstehen können. Dennoch steht hinter der Erschaffung auch von temporären Gemeinschaften der Ansatz, in der Gegenwart offen und produktiv mit Differenzen umzugehen. Indem unterschiedliche Erfahrungswerte und Bedarfe in einen gemeinsamen Austauschprozess oder offenen Bildraum einfließen, können diese Gemeinschaften auch ein Wissen produzieren, das für eine zukünftige Urbanität als Aushandlungsprozess notwendig ist.
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TRANSPARENTE ENTSCHEIDUNGSWEGE IN DER STADTENTWICKLUNGSPOLITIK Für urbane Aushandlungsprozesse muss als Voraussetzung eine Transparenz aufgrund komplexer gesellschaftlicher Strukturen gegeben sein. Die Herstellung von Transparenz dient zur Befähigung, eigene Lösungen und Visionen zu generieren oder den Prozess der Stadtentwicklung mitgestalten zu können. Diese Aussage kommt von den Studierenden der Hochschule Weißensee, die auf die Komplexität und die Intransparenz stadtpolitischer Strukturen hinweisen. Sie versuchen durch ihre Versuchsanordnung in der künstlerischen Position ‚Mehrwert schaffen umsonst‘, u.a. diese Transparenz in komplexen Strukturen symbolisch herzustellen. Auf die politischen Verantwortlichkeiten verweist auch Wunderlich in seiner Künstlerposition. Danach seien Politiker erst dann ernst zu nehmen, wenn sie ihre Interessen in partizipativen Prozessen transparent machen. Marzall sieht als Voraussetzung dafür, einen Aushandlungsprozess über die Lebensqualität und Urbanität zu führen, einen Bedarf an Informationen. Dazu muss der Zugang zu Wissen gewährleistet sein. Erst dann kann ihrer Meinung nach Einfluss auf die Umgebung genommen und ein authentischer Aushandlungsprozess geführt werden. Fuhrer sieht auch die Notwendigkeit für die Menschen, gleichberechtigte Zugänge zu Wissen zu gewährleisten. Denn nicht jeder hat die Möglichkeit, diese Prozesse zu durchschauen. PARTIZIPATIVE STADTENTWICKLUNGSPOLITIK Zahlreiche künstlerische Positionen enthalten entweder hervorgegangen aus ihrer eigenen interventionistischen Praxis im Stadtraum oder aus ihren Beobachtungen des urbanen Umfeldes Anregungen, wie partizipative Stadtgestaltung aussehen könnte. Zahlreiche Künstler gestalten wortwörtlich einen offenen oder geschlossenen Bildraum aus. Entweder werden in ihre künstlerischen Praktiken partizipativ Menschen in die Kunst integriert (vgl. Fuhrer, Kietzmann & Kübert, Rettenmund, Versteeg) oder es wird in der Reflexion auf potentielle Aushandlungsprozesse hingewiesen (vgl. Fassler, Marzall, Wunderlich). Vor allem Kietzmann & Kübert initiieren partizipative Gestaltungsmomente, indem sie sich in ein Gebiet wie die Rummelsburger Bucht begeben. Sie sind dort selbst zu Akteuren geworden, die alternativ verstandene Partizipations- und Aushandlungsprozesse initiieren, um unterschiedliche Meinungen und Interessen sowie Kritik an der gegenwärtigen partizipativen Stadtentwicklungspolitik hörbar und sichtbar werden zu lassen. Auch Fassler schafft künstlerisch-visuell einen Verhandlungsraum, in dem die Menschen Vorrang haben und das Materielle, das Gegebene in den Hintergrund tritt. In ihrer Serie ‚Kotti‘ macht sie die städtischen Konflikte sichtbar, die sich in den letzten Jahren verschärft haben. Sie sieht die Notwendigkeit, dass die Stadtpolitik sich wieder mehr an den Bedarfen der Men-
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schen vor Ort orientiert. Nach Marzalls Interpretation sollen die Gegensätze einen möglichen Ausgangspunkt mediativer Prozesse verdeutlichen. Die Gegenüberstellung stadtentwicklungspolitischer und planerischer Vorstellungen einerseits sowie der Nutzungs- und Aneignungsinteressen andererseits kann so in akteursübergreifenden Aushandlungsprozessen eine produktive Stadtgestaltung befördern. Dazu gehört auch die Gestaltung von Möglichkeitsräumen, in denen Begegnung, Spontanität und Ungeplantes stattfinden kann.
7.6 T HEORETISCHE R ÜCKBINDUNG Die Regulationstheorie wird als Ausgangspunkt einer möglichen linearen Lesart des kapitalistischen Systems verwendet und durch den Essay in den empirischen Forschungsprozess einbezogen. Sie dient als Grundlage, die urbane Gesellschaft in ihrer strukturellen Verfasstheit und ihren Regularien beschreibbar zu machen und Bezüge zu den künstlerischen Positionen zu schaffen. Auch Kunst und künstlerische Handlungen können als Lesart und Spiegel gesellschaftlicher Zustände und krisenhafter Entwicklungen bzw. als Medium einer Gesellschaftsanalyse nutzbar gemacht werden, da sie selbst gesellschaftlichen Rückkopplungseffekten unterliegen. Künstlerische Handlungen nehmen Begrifflichkeiten auf, die zur Beschreibung der derzeitigen Gesellschaftsformation dienen können. Kunstformen und gewählte Strategien besitzen dann Eigenschaften der jetzigen Gesellschaftsformation: dazu gehören Flexibilität, Wandelbarkeit, Offenheit, Flüchtigkeit, Improvisation, Reversibilität, Immaterialität, Prozessorientierung, Temporalität und Kurzfristigkeit. Gleichzeitig werden Orte als Ausgangspunkt der künstlerischen Auseinandersetzung genommen, denen selbst – in einer Lesart – Flüchtigkeit und Unbeständigkeit innewohnen und die krisenhaften Erscheinungen der derzeitigen Stadtentwicklung widerspiegeln. Der Regulationsansatz versucht, den kapitalistischen Entwicklungsprozess in der Vergangenheit und der Gegenwart zu beschreiben. Wurden gesellschaftliche Prozesse in der Regulationstheorie als lineare und zeitliche Abfolge von Phasen dargestellt, die durch Brüche und Krisen voneinander getrennt sind, stellt sich heute die Frage, ob der derzeitige von den Künstlern thematisierte Wandel nicht eher als nicht-linear und diskontinuierlich sowie als sich überlagernd zu beschreiben wäre. Diese die Zeitdimension betreffende Fragestellung ist den künstlerischen Produktionen implizit und wird um die Frage nach der gesellschaftlichen Fortentwicklung bzw. den zukünftigen Trends erweitert. Daher könnte der Ansatz um folgende Überlegungen erweitert werden. Eventuell ist die gegenwärtige Situation – die regulationstheoretisch gesehen als krisenhafte Fortführung
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des Postfordismus bezeichnet werden kann – als doppeltes Paradoxon zu beschreiben. Ähnliches beschreibt Jörke (2006) für den Begriff der ‚Postdemokratie‘: „Postdemokratische Systeme setzen somit demokratische Formen voraus, überschreiten diese aber gleichzeitig auch. Es ist die doppelt paradoxe Form des ‚Gleichzeitigen im Ungleichzeitigen und des Ungleichzeitigen im Gleichzeitigen‘ ähnlich den Begriffen Postmoderne und Postfordismus.“ (Jörke 2006: 38)
Gegenwärtig muss davon gesprochen werden, dass sich die Zeitdimensionen verändert haben, die in der Beschreibung der regulationstheoretischen Phasen vorherrschend waren. Sie zeichnen sich verstärkt durch eine Vielzahl von sich überlagernden Prozessen und Diskursen aus. Das Situative ist präsenter, die absehbare Zukunft rückt immer mehr an die Gegenwart heran. Vieles, was früher – bezogen auf individuelle Lebensverhältnisse und Werte, aber auch bezogen auf Planungsprozesse – langfristiger gültig war, verliert schneller an Bedeutung. Von einigen Künstlern wird die Gegenwart als Ausgangspunkt genommen. Sie zeigen auf, wie Transformation vonstattengeht. Das heißt, sie antizipieren die in der Regulationstheorie unter dem Begriff ‚Postfordismus‘ beschriebenen gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, die in der Fortführung auch als ‚kontingente Gesellschaft‘ beschrieben werden könnten. Diese kontingente Gesellschaft ist zu charakterisieren als eine Gesellschaft, in der auch die Ungewissheit zukünftiger Entwicklungen eine Rolle spielt sowie als eine Gesellschaft der wählbaren Möglichkeiten und der Relativität menschlichen Wissens. In diesem Sinn bestehen die Zukunftsvorstellungen der Künstler tatsächlich mehr aus der Beschreibung von Möglichkeitsräumen, in denen immer wieder auf konkrete Kriterien der Prozessgestaltung verwiesen wird: dazu gehören u.a. CommunityBuilding, solidarische Räume, Transparenz und Partizipation, aber auch das Recht auf städtische Räume des Ungeplanten, des Unvorhersehbaren, der Spontanität, der Flüchtigkeit, des Experiments, der Destabilisierung und der Dekonstruktion. Neue Verunsicherungen, die Gestaltung eines sozialen Umfelds, gesellschaftliche Dynamiken, die neue Werte freisetzen, sind Bestandteile ihrer Empirie. Die Zukunftsvorstellungen und -betrachtungen der Künstler können dafür sprechen, dass das Prozesshafte für eine Gestaltungen einer offenen Zukunft steht und als Aushandlung zu begreifen ist, die flexibel auf gesellschaftliche Fehlstellungen reagieren kann. Das, was einige der Künstler in ihrem Austarieren von Gestaltungsmöglichkeiten als kreative Praktiken der Intervention und Veränderung praktizieren, hat emergentes Potenzial für eine spontane Herausbil-
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dung von neuen Eigenschaften oder Strukturen innerhalb der Stadt. Die künstlerischen Produktionen befinden sich damit auf der Ebene von Jessops (2013) Semiose: Kunst ist aus Sicht des Betrachters eine Verhandlung zwischen Visuellem, Semiotik und der Sprache sowie dem Körper, dem Körperlosen und dem Materiellen der Struktur (vgl. Jessop & Sum 2013). Um die Komplexität der derzeitigen Gesellschaftsformation erklärbar zu machen, werden mit den künstlerischen Zugängen Anregungspotenziale sowohl auf der Mikroebene geschaffen, die Erfahrungs-, Handlungs- und Körperwissen integriert. Gleichzeitig wird mit der Kontextualisierung der genannten Wissensformen seitens der Künstler auch die Mesoebene eingebracht. Von daher bilden der Regulationsansatz und die künstlerischen Zugänge zur Stadt eine sich ergänzende Verbindung. Die Künstler thematisieren in ihren Künstlerpositionen und Interpretationen die gesellschaftlichen Widersprüche der Gegenwart, die vor allem die Fragen nach dem sozialen Wandel und der sozioökonomischen Krise beinhalten. In den Aussagen zu den künstlerischen Produktionen wird oft – in Reaktion auf die städtische Sparpolitik und den Mangel an stadtplanerischen Prozessen – auf die Forderung nach Community- bzw. Gemeinschaftsbildung rekurriert. Auch diese Aspekte können als Regulationsmoment gelesen werden, insoweit Gemeinschaftsbildung auf Ebene der sozialen bzw. künstlerischen Netzwerke als resiliente Reaktion betrachtet wird. Damit ist die Fähigkeit gemeint, durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen sowie auch durch Bildung eines starken Zusammenhalts und eher kollektivistisch orientierter Gruppen, Krisen zu bewältigen.
7.7 R EFLEXION
DER
F ORSCHUNGSSTRATEGIE
POTENZIALE UND GRENZEN DER TRANSDISZIPLINÄREN WISSENSPRODUKTION Diese Forschungsarbeit hat sich zur Aufgabe gestellt, geographische und künstlerische Zugänge anhand der Untersuchungsgegenstände ‚Vision‘ und ‚Urbanität‘ transdisziplinär zu verknüpfen und zu bearbeiten. Diese Wissensproduktion hat also zum Ziel, den gleichberechtigten prozessualen Austausch zwischen Kunst und Geographie in Bezug auf theoretisch-inhaltliche, forschungsstrategische und methodische Herangehensweisen anzustoßen. Diese Herangehensweise stellt den Forschungsprozess jedoch vor neue Herausforderungen, die im Folgenden reflektiert werden. Aus der Analyse wird deutlich, dass sich aus der künstlerischen (Forschungs-)praxis, die einige Künstler verfolgt haben, inspirierende Anregungen für die geographische Forschungspraxis ableiten lassen. Diese Anregungen können als Erweiterung wissenschaftlicher Praktiken verstanden
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werden, die aber gleichzeitig der wissenschaftlichen Reflexion bedürfen, wie etwa die Raumkonzepte, die in die künstlerischen Positionen aufgenommen werden. Die in der Forschungsstrategie dargelegten Annäherungspunkte zwischen Kunst und Geographie, die sich durch den Spatial Turn und den Cultural Turn ergeben haben, betätigen sich zum Teil. Raumkonzepte werden bewusst oder unbewusst in den künstlerischen Positionen aufgenommen. Aus dem jeweiligen Raumverständnis können Rückschlüsse auf Sichtweisen und Haltungen gezogen werden (vgl. Kap. 4.1.4). Es geht beispielsweise um die Herstellung neuer Wirklichkeiten, das Hinterfragen bestehender Normen (sozialer Konstruktivismus), um die Schaffung neuer Raumproduktionen – wie bei der Künstlerin Fassler – oder um das Bearbeiten von beobachtbaren sozialen räumlichen Ungleichheiten (politökologische Sichtweise) (vgl. hierzu auch Kietzmann & Kübert, Rettenmund, Versteeg). Es wird aber auch aufgezeigt, dass sich mehrere Raumkonzepte in den Künstlerpositionen überlagern. In den geschlossenen Bildräumen, wie bei den vorliegenden Zeichnungen und Illustrationen, werden beispielsweise neue Raum-Zeit-Konstellationen geschaffen, die sich durch visuelle Überlagerung von Darstellungsformen, Wirklichkeiten und Prozessen ergeben (vgl. Fassler, Fuhrer, Wunderlich). Bei offenen Bildräumen, die sich durch eine performative und interventionistische Praxis auszeichnen, wird zusätzlich deutlich, wie zeitlich begrenzte soziale Wirklichkeiten geschaffen werden (vgl. Fassler, Versteeg, Rettenmund). Es werden neue Wahrnehmungsräume eröffnet oder körperliche Bezüge zum Raum herstellt (Body and Space vgl. Kap. 6.2.4). Dadurch werden geographische Raumkonzepte durch die Entstehung von künstlerischen Bildräumen, die als eigenständige künstlerische Räume verstanden werden können, ergänzt. Das bedingt weitere Überlegungen zu erweiterten Bildtheorien, um das Verhältnis von Kunst und Geographie weiter auszubauen. Des Weiteren hat sich während des Forschungsprozesses bestätigt, dass die Prozesse und Gedanken, die zur Entstehung von visuellen Produkten führen, eine größere Aussagekraft haben als die Produkte selbst. Das soll die Funktion von Kunst nicht entwerten: diese kennt die Betrachtung und Einbeziehung eines Rezipienten. Die Produkte aber haben den Anlass gegeben, bestimmte Reflexionsebenen zu ermöglichen. Im Kontext der Forschungsarbeit ist jedoch deutlich geworden, welche Qualität ein Forschungsprozess hat, der ausgehend von künstlerischen Produktionen Interpretationsprozesse in Gang setzt und den Herstellungsprozess transparent macht. Er kann zu neuen Sichtweisen führen und neue Vorstellungen entstehen lassen. Der Umgang mit epistemologischen Unterschieden zwischen Wissenschaft und Kunst werden in den theoretischen Bezügen reflektiert. Eine Herausforde-
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rung besteht darin, mit der in der Kunst vorhandenen Mehrdeutigkeit umzugehen und diese bezüglich der Fragestellung zu versprachlichen. Diese Mehrdeutigkeit zeigt sich sowohl in einer z.T. assoziativen Reflexion der Künstler als auch im gemeinsamen Austauschprozess, in den Kontextwissen, Erfahrungswissen und implizites Wissen einfließen. Künstler können meist in der Werksentstehung frei agieren und müssen diese nicht hinsichtlich einer Fragestellung interpretieren. Im gemeinsamen Austausch aber steht die Bewusstwerdung eigener Vorstellungen und Ideen im Vordergrund, die sich auch z.T. widersprechen oder sich ändern. Um allgemeinere, die Mehrdeutigkeit klärende Aussagen zu erhalten, wird daher auch auf weiteres textliches Material, wie beispielsweise auf Kataloge, zurückgegriffen. Die darin enthaltenen Aussagen oder Interpretationen seitens der Künstler bzw. Fremdinterpretationen können so mit den Inhalten der gemeinsamen Reflexion und den theoretischen und thematischen Erweiterungen abgeglichen werden. Eine weitere Rezeptionsebene wird in dem Gruppengespräch oder durch Nachfragen eröffnet. Die vorliegenden Einzelfallanalysen haben diesbezüglich deutlich gemacht, dass jede Künstlerposition ihrer eigenen Dramaturgie folgt und sich schwer kategorisieren lässt. Durch den explorativ angelegten offenen Forschungsprozess war es möglich, die notwendige Flexibilität aufzubringen, mit der Informationsdichte umzugehen, immer wieder die unterschiedlichen Bezugspunkte bzw. Schwerpunkte zwischen Geographie und Kunst herzustellen sowie die Informationen den jeweiligen Fragestellungen zuzuordnen. ORIENTIERUNGSWISSEN UND VERFÜGUNGSWISSEN In dem transdisziplinären Prozess wird Wissen produziert. Das bedeutet, dass Kunst ausgehend von einer Perspektive einer Denkfigur (vgl. Kap. 7.2.1) innerhalb der künstlerischen Positionen durch die sprachliche Reflexion eine Wissensgestalt annimmt. Aber von welcher Art Wissen kann gesprochen werden bzw. welche Form des Wissens wird produziert? Mittelstraß (2003: 11f) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Verfügungswissen und Orientierungswissen. Unter Verfügungswissen wird ein Sachwissen verstanden, das konkret anwendbar und umsetzbar ist, und daher einen praktischen Nutzen besitzt. Unter diesem Verfügungswissen kann in dieser Forschungsarbeit das erarbeitete theoretische Hintergrundwissen verstanden werden. Ein Orientierungswissen hingegen ist nach Mittelstraß (2013) ein regulatives Wissen. Das Orientierungswissen schafft einen Überblick über ein Themenfeld und befähigt das eigene Handeln, in einem größeren Kontext reflektieren und beurteilen zu können. Ein solches Orientierungswissen wird während des transdisziplinären Prozesses generiert und damit eine weitere Annäherung zwischen Geographie und Kunst geschaffen. Es hat zudem eine Debatte darüber angestoßen, wie Mensch und ur-
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baner Kontext in ihrer Wechselwirkung für eine zukünftige Urbanität zu begreifen sind. Hinter dem Orientierungswissen stehen Formen des Erfahrungs-, Handlungs- und Alltagswissen, die in die künstlerischen Positionen eingeflossen sind. Orientierung bedeutet in diesem Zusammenhang auch, sich einer gesellschaftlichen Komplexität anzunähern, um mögliche Entscheidungswege auszuloten, die neue Fragen aufwerfen können. Dazu schreibt Mittelstraß Folgendes: „Wissenschaft hat dieses Wissen [Orientierungswissen, Anm. der Autorin] aus dem Auge verloren - und die Gesellschaft häufig auch. Die Folge sind Orientierungsschwächen (nicht schon Orientierungsverlust), Selbstzweifel und neuerdings wieder die Anfälligkeit gegenüber jeder Art von Fundamentalismus. Die wesentliche Aufgabe, vor der moderne entwickelte Gesellschaften stehen, […], ist es daher auch, Verfügungswissen und Orientierungswissen, wissenschaftlich-technischen Verstand und moralisch-politische Vernunft, wieder in ein vernünftiges Verhältnis zueinander zu setzen.“ (Mittelstraß 2003: 12)
Dieses Orientierungswissen wird durch die erneute theoretische Einordnung in der zusammenfassenden Analyse wieder in Verfügungswissen rückgeführt. Das entstandene Verfügungswissen – wie die Zukunftsbetrachtungen und die Wertedebatte verdeutlichen – bedingt aber die Frage, wie ein nachhaltiger Umgang damit stattfinden kann. Durch das entstandene Orientierungswissen wird ein Regulativ aufgezeigt, das Verfügungswissen nicht entgegen der Intention folgend genutzt werden sollte. WISSENSGENERIERUNG UND KÜNSTLERISCHE SUBJEKTIVITÄT In der vorliegenden Forschungsarbeit wird dargestellt, wie Künstler sich in dem künstlerischen Prozess Themenfelder aneignen, wie sie raumbezogen handeln und welche Vorstellungsbilder und Intentionen hinter dem Werk bzw. hinter dem Werksprozess stehen und wie die Künstler eigene (künstlerische oder soziale) Wirklichkeiten schaffen. Dabei wird dem künstlerischen Prozess oftmals eine holistische Herangehensweise zugesprochen, die einerseits unterschiedliche Themenfelder integriert und andererseits keine Abtrennung von Subjekt, Kontext sowie den Prozessen und Methoden kennt. Die künstlerischen Methoden zeichnen sich deshalb häufig dadurch aus, dass Subjekt, Kontext sowie Prozesse und Methoden in den Werksprozess integriert sind. Das geschieht beispielsweise durch die Eigenkreation von Methoden und die Hinwendung zum Menschlichen, die die Wahrnehmung der Bedürfnisse, der Affekte und des Körperlichen innerhalb des Forschungsprozesses integriert. Zwar gilt, wie Dickel & Scharvogel zutreffend beschrieben haben, dass „alles Unsichtbare, Unplanbarkeit und Unbewusste und das Affektiv-Leibliche […] unter Verdacht [steht,] nicht exakt und
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wissenschaftlich zu sein“ (Dickel & Scharvogel 2012: 9). Das Arbeiten mit Vorstellungen, Phantasien und Sinnlichem wäre demgemäß der Kunst vorbehalten und sollte als nicht nennenswertes Begleitphänomen aus der wissenschaftlichen Forschung ferngehalten werden. In der Wissenschaft und speziell in der geographischen Forschung wird diese Trennung dementsprechend klar vollzogen und Subjektivität und Körperlichkeit, mithin die Positionalität des Forschenden wenig bis nicht berücksichtigt. Gleichzeitig aber bekommt die Wissenschaft immer mehr den Ruf, sich von der sozialen Realität zu entfernen (vgl. Peters 2013: 7ff). Gleichzeitig hat der Forschungsprozess verdeutlicht, dass die Integration der Positionalität des Künstlers Wissen generiert hat, das zur Wissensproduktion beigetragen hat. Dies gibt einen Hinweis auf eine möglicherweise notwendige Neuentwicklung eines Forschungsverständnisses, das auch die methodologischen und methodischen Zugänge in der Geographie betreffen kann. Dementsprechend erfährt der künstlerisch kreative Prozess gegenwärtig in der künstlerischen Forschung, in anderen Wissenschaftsbereichen und in kollektiven Praxen eine erhöhte Aufmerksamkeit (vgl. Back & Puwar 2012; Peters 2006). DIE SOZIALE PRAXIS DES GEMEINSAMEN FORSCHENS Die vorliegende Forschungsarbeit macht nicht Künstler oder Kunst zum Gegenstand der Forschung, sondern integriert beide Aspekte in den Forschungsprozess. Dahinter steht die Frage, wer erforscht eigentlich wen. Eine ähnliche Vorgehensweise zeigt sich in den räumlich-performativen Praktiken. Dort integrieren Künstler wie Fuhrer, Versteeg, Kietzmann & Kübert und die Studierenden der Hochschule Weißensee Rezipienten in ihren künstlerischen Prozess und stehen in einem Austausch mit einer (Teil-)Öffentlichkeit. Ziel könnte sein, die Distanz zu gesellschaftlichem Alltagshandeln abzubauen und die Gesellschaft nicht nur zum Gegenstand der Forschung, sondern zu Mitforschenden zu machen. Das beinhaltet nicht nur transdisziplinäre Annäherungen von Denkpraxen, sondern auch die Integration vielfältiger Perspektiven sowie eine Übertragungsleistung auf den Ebenen von Process, Product und Person etc. Das heißt auch, dass Kreativität nicht als etwas zu begreifen ist, das einer ökonomischen Logik folgen muss. Kreativität sollte auch als eine originäre Quelle gesehen werden, die die Gesellschaft als solche betrifft.
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FALLBEISPIEL BERLIN Das Fallbeispiel Berlin wird als Ausgangspunkt der Einzelfallanalysen gewählt. Vorüberlegungen dazu sind, dass (1) das Umfeld auf den Alltag und die Lebenswirklichkeiten der Künstler einwirkt und (2) dass deren Kunst und deren räumliche Auseinandersetzung mit Orten in Wechselwirkung stehen. Die der Forschungsarbeit zugrundeliegende Fragestellung ist sehr weit und abstrakt angelegt, um eine explorative Forschung zu ermöglichen. Darin kann Berlin als exemplarisches Beispiel erfolgreich einen konkreten Bezugspunkt für die Betrachtungen einer zukünftigen Urbanität darstellen. So kann ausgehend von den Beobachtungen des Umfelds der Künstler eine Reflexion in Bezug auf die Veränderungen und die ambivalente Entwicklung der Stadt stattfinden und gleichzeitig eine abstrakte Debatte über mögliche Zukunftsbetrachtungen und Werte einer zukünftigen Urbanität angestoßen werden. IDENTITÄT DER KÜNSTLER Die Kunstwerke und künstlerischen Prozesse sind in Ausstellungen, Zeitschriften, Katalogen und in performativen Prozessen bereits einer (Teil-)Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Daher werden die Künstlerpositionen in der vorliegenden Forschungsarbeit auch den jeweiligen Künstlern und ihrer Identität zugeordnet. Dahinter liegt das Verständnis, dass die Ideen und Haltungen der Künstler und ihre gemeinsame Reflexion weiterhin eine öffentliche Debatte anstoßen können. Aus der Nichtanonymisierung ergeben sich aber auch Schwierigkeiten. Die Kunst kann zum einen nicht auf allen Ebenen bewertet und kategorisiert werden. Aufgrund der intensiven Zusammenarbeit mit den Künstlern, ergeben sich zum anderen Erwartungshaltungen bezüglich weiterer Kooperationen und in Bezug auf die Veröffentlichung der Forschungsarbeit, die auch die Reputation der Künstler beinhaltet. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass diese Form transdisziplinärer Zusammenarbeit eine – den ethnologischen Forschungsprozessen vergleichbare – bewusste Positionierung der eigenen Rolle als Wissenschaftler innerhalb des Forschungsfelds erfordert.
7.8 M ETHODOLOGISCHE Ü BERLEGUNGEN In der vorliegenden Forschungsarbeit wird auf qualitative Verfahren zurückgegriffen. Das hat zum Ziel, ein überschaubares Sample von Einzelfällen in seiner Ganzheitlichkeit zu betrachten und ein Sinnverstehen zu ermöglichen. Damit liegt einerseits der Fokus auf dem Subjekt, dessen Lebenswirklichkeiten als kontextualisiert zu verstehen ist. Anderseits liegen weitere Schwerpunkte auf der
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Betrachtung der Kunst und den künstlerischen Prozessen, die nach eigenen Regeln und Methoden Visualität und Handlungsmuster schaffen. In diesen künstlerischen Arbeitsprozessen wird deutlich, wie die Subjektivität und die eigene Normativität den künstlerischen Forschungsprozess geprägt haben. Das heißt, der Künstler verfährt nach eigenen methodischen Verfahren. Dieses erforderte im gemeinsamen Interaktions- und Interpretationsprozess die Reflexion, dass die Wirklichkeit über multimodale und multisensuale Zugänge zu Stadt hergestellt wird, die neue Betrachtungsweisen beinhalten. POTENZIAL VON EINZEL- UND GRUPPENINTERVIEWS In den Einzelinterviews und der Gruppendiskussion offenbart sich ein gegenseitiger Lernprozess. Durch die Erstgespräche (Orientierungswissen) konnten die Unterfragestellungen bzw. die Vorannahmen erweitert und in ein Analyse- und Auswertungsschema verwandelt werden. Für die Gruppendiskussion bestand die Vorannahme, dass das wechselseitige Bearbeiten eines Themenbereichs und die wechselseitige Stimulation durch die bestehende Dynamik innerhalb einer Diskussion thematische Bezüge vertiefen und Kernaspekte eines Themenbereichs zum Vorschein treten lassen (vgl. Mattissek et al. 2013: 183). Diese Vorannahme hat sich bestätigt. Mehr noch: Durch die Kombination der künstlerischen Positionen wird eine Diskussion im Gruppenprozess angeregt, die bei allen Beteiligten eine Debatte um Wünsche an und Werte für eine zukünftige Stadtgesellschaft auslöst und sichtbar macht. Anhand der unterschiedlichen Zugänge werden Gesprächsanlässe und Rezeptionsweisen entdeckt. Dieser Gruppenprozess erhält den Charakter einer Zukunftswerkstatt, in der ausgehend von der vorliegenden Fragestellung die künstlerischen Positionen rezipiert werden. Dabei ist die Auseinandersetzung um die prinzipielle Möglichkeit, Visionen und Utopien zu denken, selbst Gegenstand der Auseinandersetzungen. In diesem Zusammenhang kann der gemeinsamen Reflexion von Kunst ein großes Potenzial zugeschrieben werden. Im dialogischen Prozess werden Themen reflektiert und erweitert. Damit ist die Gruppendiskussion als ein initiierter Aushandlungsprozess zu sehen, der ausgehend von den künstlerischen Position eine Debatte angestoßen hat, wie eine zukünftige Urbanität aussehen könnte.
8. Fazit – Re-Imaging und Re-Thinking Urbanity
Die Frage danach, wie Stadt unter anderen Bedingungen anders sein kann, steht im Mittelpunkt der Untersuchungen dieser Forschungsarbeit. Sie hat zum einen notwendig gemacht, den jetzigen Status Quo städtischer Rahmenbedingungen zu beleuchten. Zum anderen ist die erkenntnisleitende Fragestellung auch der Ausgangspunkt einer Suche nach experimentellen und kreativen Möglichkeiten, stadtpolitische Prozesse wahrzunehmen, sie zu gestalten und Impulse für eine zukünftige Stadtgestaltung zu geben. Die vorliegende Untersuchung geht daher unter Berücksichtigung des urbanen Wandels der erweiterten Frage nach, wie die Rezeption einer raumbezogenen künstlerischen zukünftigen Visionen einer Urbanität aussehen könnte, die den Status Quo hinterfragt und Alternativen aufzeigt. Als empirischer Ausgangspunkt der Forschungsarbeit wird Berlin als Fallbeispiel gewählt, weil dort aufgrund der jahrelangen historischen Sonderstellung profitorientierte Transformationsprozesse insbesondere seit 2005 konzentriert sichtbar werden und Leitbilder wie die ‚kreative Stadt‘ in die Stadtpolitik Eingang gefunden haben. Es zeigt sich, dass Berlin als exemplarisches Beispiel sehr dienlich ist, um die abstrakt angelegte Forschungsfrage konkret auf beobachtbare und wahrnehmbare Stadtentwicklungsprozesse zu beziehen und diese zu reflektieren. Im Forschungsprozess hat sich Berlin als Lebensrealität und Umfeld der Künstler dargestellt, das Aussagen über die urbanen Transformationen, über Potenziale und Qualitäten dieser Stadt und über diese Stadt hinaus ermöglicht sowie den Vergleich zu anderen Städten zulässt. In dieser Forschungsarbeit werden mit über den Kreativitätsbegriff der ‚Kreativen-Stadt-Debatte‘ hinausgehenden Kreativitätskonzepten gearbeitet, die ein differenziertes Verständnis der Wechselwirkung von Kunst, Künstlern und künstlerischen Prozessen sowie dem städtisch-gesellschaftlichen Wandel herauszuarbeiten in der Lage sind. Diese Differenzierung erweist sich zum einen me-
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thodologisch als gewinnbringend, da sie eine Operationalisierung ermöglicht und Vorüberlegungen sowohl zu Potenzialen als auch möglichen Grenzen im Umgang mit Kunst aufzeigt. Zum anderen sind Überlegungen zu den jeweiligen Kreativitätskonzepten dazu geeignet, gezielt Metaphern und die dahinterliegenden Motivationen, Interessen und Haltungen im Umgang mit Kreativität aufzudecken. Sie können zudem in ihrer Argumentationslogik kontextualisiert auf mögliche Visionen zu Urbanität untersucht werden. Gleichzeitig wird deutlich, dass der in der geographischen Forschung vorherrschende Ansatz, Kreativität vorwiegend unter marktwirtschaftlichen Aspekten zu untersuchen, einer Erweiterung bedarf. Kreativität hat in diesem Kontext den urbanen Blick auf die Stadt geschärft und Bilder, Vorstellungen, Haltungen jenseits der marktorientierten Wissensproduktion sichtbar gemacht und damit einen Beitrag zur Wissensproduktion geleistet. Als weitere theoretische Bezüge, um städtische Kontexte und künstlerische Vorstellungen in ihrer Wechselwirkung zu begreifen, wird ausgehend von Lefèbvres Überlegungen ein eigenständiges theoretisches Gerüst geschaffen, das die aktuellen Gesellschaftsdynamiken diskutiert, das Setting der Künstler beschreibt und in der Folge Kunst kontextualisiert begreift: Der strukturelle, makrotheoretisch fundierte Ansatz der Regulationstheorie wird mit Ansätzen von Jessop, z.B. seiner ‚kulturellen politischen Ökonomie‘ erweitert. Diese Verbindungen haben sich als gewinnbringend herausgestellt: Indem Kultur als integraler Bestandteil gesellschaftlicher Prozesse begriffen wird, zeigt sich in der Etablierung von Diskursen und Vorstellungswelten gleichzeitig die konstituierenden Elemente der Struktur. Dadurch wird eine Verbindung zwischen dem (1) Künstler – als Subjekt und in seiner Einbindung in strukturelle Prozesse – (2) dem gesellschaftlichen Wandel – in struktureller Hinsicht und bezogen auf neue Visionen und Vorstellungswelten – und (3) der Kunst – auf den Ebenen des Akteurs, des Produktionsprozesses und des Ergebnisses in Form der Künstlerpositionen – hergestellt. In dieser Forschungsarbeit werden geographische und künstlerische Denkweisen anhand der Untersuchungsgegenstände ‚Vision‘ und ‚Urbanität‘ transdisziplinär verknüpft und bearbeitet. Sowohl der Forschungsprozess als auch die Ergebnisse machen deutlich, dass eine transdisziplinär aufgestellte Forschung neben einer höheren Komplexität ein enormes Potenzial hinsichtlich der Erweiterung sowohl von theoretisch-inhaltlichen als auch forschungsstrategischen und methodischen Herangehensweisen beinhaltet. So können in dem Forschungsprozess die Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft erfolgreich austariert werden, um neue Sichtweisen und methodische Zugänge zu Stadt zu generieren und Zukunftsbetrachtungen von Urbanität abzuleiten.
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Die Verbindung von visuellem künstlerischen Datenmaterial und dem Essay eröffnet zwei Rezeptionszugänge zum Untersuchungsgegenstand. Die Datenmaterialien dienen erstens als Basis für den reflexiv gestalteten Austauschprozess und die Thematisierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. So werden vor allem die räumliche Praxis und die unterschiedlichen Raumkonzepte diskutiert, die sich die Geographie und die Kunst zu Nutze machen. Zweitens sind beiden Disziplinen visuelle Darstellungsformen vertraut. Durch das reflexiv-explorative Interview ist es möglich, Herstellungsprozesse transparent zu machen und Wissensproduktionsprozesse anzustoßen, die wiederum neue theoretische und inhaltliche Überschneidungspunkte zulassen. Aufgrund der verschiedenen Interpretationsebenen der künstlerischen Prozesse hat der Austauschprozess beide Seiten angeregt, über das Forschungsthema – entweder durch die Rückschau auf bestehende künstlerische Positionen oder die Entstehung neuer Positionen – detaillierter zu reflektieren. Mithilfe der Künstlerpositionen wird eine Debatte über eine zukünftige Urbanität, über gesellschaftliche Werte und einen nachhaltigen Umgang mit Wissen und Kreativität angestoßen. RE-THINKING UND RE-IMAGING URBANITY In der vorliegenden Forschungsarbeit ist die Sicht auf eine zukünftige Urbanität erweitert worden, auch wenn keine konkreten Zielvorschläge und Lösungen für eine Stadt unter anderen Bedingungen, also eine alternative urbane Zukunft, formuliert werden. Die künstlerischen Positionen zeigen stattdessen gesellschaftliche Widersprüche, Irritationen, Fehlstellungen und Brüche auf und machen sich selbst zum Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. So können neue künstlerische Kategorien der Zukunftsbetrachtungen abgeleitet werden, die ausgehend von der Gegenwart zukunftweisende Inhalte, Werte, Handlungen und Forderungen transportieren. Beispielsweise weisen die Künstler auf das ‚noch‘ bestehende emanzipatorische Potenzial Berlins hin, das im Verschwinden begriffen ist. Zudem zeigen sie neben möglichen Ideen, Meinungen sowie Interventionsund Handlungsstrategien auch die Grenzen ihrer Umsetzbarkeit auf. Zwei wesentliche Ergebnisse seien an dieser Stelle vorangestellt: Zum einen werden Vorstellungen darüber transportiert, wie Prozesse zukünftiger Stadtentwicklungspolitik angelegt sein müssen, um zu einer anderen Vorstellung von Stadt führen zu können. Zum anderen werden in den Künstlerpositionen Parallelgestaltungsräume von Stadtentwicklungsprozessen aufgezeigt. Künstlerische Möglichkeitsräume, die als urbane Gestaltungsspielräume begriffen werden können, und visuelle Gedankenexperimente hinterfragen die vorhandenen Normen und gesellschaftlichen Entwicklungspfade, um diese räumlich, gestalterisch oder visuell neu auszutarieren.
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Vor allem die Möglichkeitsräume verdeutlichen Vorstellungen davon, wie mit einer vorhandenen gesellschaftlichen Komplexität und Kontingenz in der Gegenwart sowie mit unbestimmten Zukunftsentwicklungen umgegangen werden kann. Im übergeordneten Sinn verdeutlichen einige der künstlerischen Positionen, welche künstlerischen Techniken notwendig sind, um widersprüchliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen aufzudecken, Funktionszuschreibungen von Räumen zu hinterfragen sowie die Suche nach Nischen zu fördern. Diese künstlerischen Techniken wurden in offenen oder geschlossenen Bildräumen erschaffen und umgesetzt. Dazu gehören performative, interventionistische, experimentelle und visuelle Strategien, aber auch die Fiktion: Es entstehen temporäre Wahrnehmungs- und Gestaltungsräume, die spielerische und experimentelle Elemente beinhalten, aber dennoch einen Bezug zu und Anregungen für reale Begebenheiten beinhalten sowie aufdecken können, wo die Fehlstellungen im System sind. In der Forschungsarbeit hat sich zudem gezeigt, dass durch die künstlerischen Positionen neue Diskurse geschaffen, aber auch bestehende reproduziert werden. Außerdem werden Grenzen der Veränderbarkeit städtischer Verhältnisse durch künstlerische Methoden und Strategien aufgezeigt, die an den übergeordneten Strukturen bzw. den strukturellen und materiellen Rahmenbedingungen scheitern. In geschlossenen Bildräumen haben visuelle Neukombinationen, erfundene Orte und Überlappung von Zeit- und Raumebenen die Phantasie angeregt, um über wesentliche gesellschaftliche Fragen nachzudenken. Die Kunst verlässt die imaginierten Gestaltungsspielräume, wenn sie öffentlich rezipiert und debattiert wird. In dem Moment bekommt sie einen politischen Charakter und kann auf gesellschaftlicher Ebene Veränderung bewirken sowie eine Debatte über mögliche Werte für eine urbane Zukunft anstoßen. Die Arbeit befruchtet daher die wissenschaftliche und gesellschaftliche Kreativitätsdebatte dahingehend, dass soziale Verhältnisse sichtbar gemacht und Wünsche der Stadtbewohner auf materieller und immaterieller Ebene erfahrbar werden. Dahinter steht eine soziale Kreativität, die den Menschen in den Fokus des künstlerischen und wissenschaftlichen Forschungsinteresses bzw. der Wissensproduktion rückt. In den Positionen wird übergeordnet eine Vorstellung von Urbanität deutlich, die auf Gemeinschaftsbildung setzt und daher der Individualisierung der Menschen entgegentritt. Vor diesem Hintergrund ist dann auch wieder eine Kunst denkbar, die durch angemessene Gestaltungsspielräume und Strategien ihrer gesellschaftlichen Funktion nachkommen kann, ohne – so die verlautbarte Kritik der Künstler – von der Stadtpolitik vereinnahmt zu werden. Viele der Künstler haben klargemacht, dass sie sich gezielt von dem marktorientierten Kunstbetrieb abwenden, um so einer Instrumentalisierung ihrer kreativen Ressourcen vorzubeugen. Sie entwickeln intuitiv Strategien und Widerstandsformen,
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um sich marktorientierten Verwertungsprozessen zu entziehen, nämlich indem sie kein Verfügungswissen bereitstellen. FORDERUNGEN FÜR EINE ZUKÜNFTIGE STADTGESTALTUNG UND STADTPOLITIK Aus den Künstlerpositionen lassen sich Forderungen für eine zukünftige Stadtgestaltung bzw. Stadtpolitik ableiten. Die Wertedebatte über eine zukünftige Urbanität fördert als ein Ergebnis des reflexiv-explorativen Austauschprozesses Überlagerungen von materiellen und immateriellen Werten zutage. Der Wunsch nach einem existenzsichernden Einkommen, nach der Anerkennung ihrer Kunst durch entsprechende Honorare, nach einem gesicherten Wohnort und nach vorhandenen Nischen zum Arbeiten ist ebenso vorhanden wie der Wunsch nach immateriellen Werten, wie etwa Selbstbestimmtheit, Freiheit, Emanzipation, sozialer Integration und Autonomie. Diese Überlagerungen werden z.T. durch die Kunst vermittelt, aber sie spiegeln sich auch in der Rolle des Künstlers im urbanen Umfeld wider. Konkrete Forderungen an eine zukünftige Stadtentwicklung wären einerseits, dass sie selbst diese Werte in ihrem institutionellen Rahmen integriert oder auch Rahmenbedingungen schafft, die die Umsetzung der gewünschten Werte ermöglichen. Die Stadtpolitik sollte demnach (1) gemeinwohlorientiert ausgerichtet sein und (2) die Bildung von Gemeinschaften fördern, die produktiv mit Vielfalt umzugehen in der Lage sind. Zudem wird aufgrund der komplexen gesellschaftlichen Strukturen eine (3) Transparenz bezogen auf stadtentwicklungspolitische Prozesse und Entscheidungen gefordert, die (4) eine umfassendere Teilhabe an stadtpolitischen Prozessen ermöglicht. Vor allem lassen die Künstlerpositionen den Schluss zu, dass in Zukunft auch städtische Entscheidungsfreiheiten offen gelassen werden sollten, um auf Unsicherheiten einer zukünftigen Entwicklung reagieren zu können. Das heißt auch, dass Planungsentscheidungen reversible Lösungen beinhalten sollten, so dass in Zukunft das Lebensumfeld nach eigenen Vorstellungen gestaltet und auf weitere Krisen reagiert werden kann. ANREGUNGEN FÜR DIE GEOGRAPHISCHE FORSCHUNGSPRAXIS Die dargestellten künstlerischen Positionen transportieren Ideen, Haltungen und Erfahrungswissen. Jenseits bestehender Kreativitätsdiskurse liefern sie Hinweise auf die Ausgestaltung einer lebenswerten Stadt. Und sie geben in ihrem künstlerischen Selbstverständnis einen zentralen Hinweis, nämlich die Gesellschaft selbst als originäre Quelle von Kreativität zu betrachten. In Anknüpfung an die Potenziale und Vorüberlegungen des Forschungsfelds Art and Geography führt das zu einer Perspektivveränderung für die zukünftige geographische (Stadt-)Forschung: Der Mensch wird danach nicht als Objekt beforscht, sondern als
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Wahrnehmender, Reagierender, Handelnder oder auch als Visionär in den Forschungsprozess integriert. Somit werden soziale Realitäten kenntlich gemacht, die auch öffentlich debattiert werden können. Wenn durch diesen Perspektivenwechsel Wünsche, Bedürfnisse und Träume nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Wissenschaft Eingang finden, kann letztere an vorhandene Ressourcen und Potenziale anknüpfen und neue Erkenntnisse generieren, wie Stadt unter anderen Bedingungen anders sein kann. Übertragen auf eine neue soziale Praxis des Forschens könnte das auch bedeuten, dass Wissenschafter sich außerhalb ihrer institutionellen Rahmenbedingungen der Öffentlichkeit öffnen und dadurch politische Debatten und Demokratisierungsprozesse zugänglich gemacht werden. Gleichzeitig wird im Forschungsprozess deutlich, dass die Integration der Positioniertheit des Künstlers Wissen generiert und eine Reflexionsebene zugänglich gemacht hat, die zur Erweiterung, aber auch Infragestellung bestimmter Wissensproduktionsprozesse beigetragen hat. Dies gibt einen Hinweis auf eine mögliche Neuentwicklung eines Forschungsverständnisses in der Geographie, das die methodologischen und methodischen Zugänge um experimentelle und kreative Zugänge erweitert. Nicht zuletzt werden geographische Raumkonzepte durch die Entstehung von künstlerischen offenen und geschlossenen Bildräumen ergänzt, die als eigenständige künstlerische Räume verstanden werden können. Denkbar wären Überlegungen zu Forschungsprozessen über erweiterte Bildtheorien, um das Verhältnis zwischen Kunst und Geographie näher zu erforschen.
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Anhang: Index
A 1: A 2: A 3: A 4:
Ausschreibungstext Essay für die teilnehmenden Künstler und Künstlerinnen Kurzdarstellung: Lätitia Norkeit Kurzdarstellung: Christian Schwister
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A 1: AUSSCHREIBUNGSTEXT Künstler und Künstlerinnen gesucht, die Lust haben, in einem transdisziplinären Projekt zum Thema: Visionen von Stadt/zukünftige Urbanität mitzuwirken. ZUM PROJEKT Ich bin Stadtgeographin und promoviere zum Thema: „Wie kann Stadt unter anderen Bedingungen anders sein? Rezeption einer künstlerischer raumbezogener Visionen einer zukünftigen Urbanität“. Die Bearbeitung des Themas ist transdisziplinär angelegt, da es sich an der Schnittstelle zwischen Geographie und Kunst bewegt.Im Rahmen meiner Promotion suche ich Künstler und Künstlerinnen, die sich mit der Entwicklung von Stadt, städtischen Realitäten, Visionen, Utopien oder/und mit Urbanität beschäftigen wollen bzw. bereits beschäftigt haben. Diese könnte beispielsweise eine künstlerische, konzeptionelle, individuelle und gesellschaftliche Auseinandersetzung beinhalten. Ich suche Künstler und Künstlerinnen, die sich beispielsweise in Netzwerken organisiert haben, arbeiten (z.B. Künstlerkollektive, Trägern, Netzwerken etc.) oder welche, die in anderen städtischen Kontexten agieren oder die einfach nur Lust haben, sich mit dem Thema „Visionen einer zukünftige Urbanität" zu beschäftigen. Die Arbeit so angelegt, dass es einen gemeinsamen Austauschprozess gibt und dass daraus, auch wenn es nur künstlerische Skizzen sind, neue Ideen und Visionen generiert werden. Ich untersuche den künstlerischen Prozess, die materiellen Objekte (Bilder, Grafiken, künstlerische Vorarbeiten), die Interventionen etc., die innerhalb dieser ‚Forschungs-Zeit‘ (die nach den jeweiligen verfügbaren Ressourcen festgelegt wird) entstehen, und welche Werte und Ideen existieren, die bzw. eine Form von Urbanität darstellen könnten. Des Weiteren untersuche ich die Rahmenbedingungen von Künstlern und Künstlerinnen, ihre Stellung und ihre persönlichen Vorstellungen eines Lebens innerhalb der Stadt. Die Vorgehensweise könnte wie folgt aussehen: •
Es gibt einen Essay, der aus geographischer Sichtweise die Entwicklungen, Potenziale und Probleme von Städten, insbesondere von Berlin, aufzeigt. Dieser soll als Anregung dienen, sich mit den urbanen Themenfeldern zu beschäftigen, um daraus eine künstlerische Arbeit zu entwickeln (das gilt nicht für Künstler und Künstlerinnen, die bereits in dem Feld arbeiten und ihre künstlerische Position haben). Da sich nicht alle Künstler und Künstlerinnen gleichermaßen mit dem Themenfeld beschäftigt haben,
A NHANG
•
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dient der Essay auch dazu, eine gleiche inhaltliche Basis für Alle zu schaffen. Wir legen einen Zeitraum fest, in der dieses Kunstwerk/Projekt entstehen soll, oder es gibt einen Raum, bzw. ein bestehendes Konzept/Kunstwerk, das in für diese Arbeit zur Verfügung gestellt wird. Darüber hinaus würde ich den künstlerischen Prozess mit Gesprächen und mit Interviews wissenschaftlich begleiten.
Das könnte für beide Seiten spannend werden, Methoden innerhalb der Geographie und der Kunst zu erweitern und das visuelle Moment zu untersuchen. Ein persönlicher, aber auch ein Austausch zwischen geographischen und künstlerischen Konzepten, könnten neue Sichtweisen im Hinblick auf Urbanität ermöglichen, die im weiteren Verlauf in der Öffentlichkeit, im Rahmen einer Ausstellung oder auf Veranstaltungen diskutiert werden könnten. Wenn Ihnen/Euch das Gesamtthema gefällt, würde ich mich sehr über ein Feedback freuen! Christine Scherzinger
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A 2: E SSAY
FÜR DIE TEILNEHMENDEN
K ÜNSTLER 28
D AS Z EITALTER DER S TÄDTE : D IE GEOGRAPHISCHE S ICHT AUF S TÄDTE , IHRE P ROBLEME , IHRE P OTENZIALE UND DIE M ÖGLICHKEIT IHRER AUSEINANDERSETZUNG UND V ISIONEN DIE BEDEUTUNG VON STÄDTEN UND IHREN PROBLEMEN Heute lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Die Tendenz ist steigend. 2013 wird geschätzt, dass zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts liegen somit in den urbanen Räumen, weshalb der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan im Jahr 2000 bei der Eröffnung der Konferenz ‚Urban 21‘ das Jahrtausend der Städte ausgerufen hat. In Städten wird Zukunft gemacht. In ihnen entstehen Innovationen und neue Formen der Wissensproduktion. 80% des weltweiten Bruttoeinkommens werden in ihnen erwirtschaftet (vgl. Rousbeh 2012: www.*). Städte sind dem Druck der Globalisierung, Migration, Polarisierung, den Auswirkungen des demographischen Wandels und des Klimawandels besonders ausgesetzt. Dadurch sind sie der Seismograph und Motor der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Übergang von der Moderne zur Postmoderne ist zusätzlich gekennzeichnet von einer Ausdifferenzierung von Lebensentwürfen, veränderten Wertevorstellungen, neuen Kommunikationsformen, Anpassungsstrategien wie auch Widerstandsbewegungen, die zunehmend die vorherrschenden Mechanismen des Staates und der Wirtschaft hinterfragen (vgl. West 2013: www.*). Obwohl urbanes Leben nicht nur in Städten stattfindet, ist die Stadt der Ort, in dem die oben genannten Entwicklungen verdichtet auftreten. Städte können als Laboratorien gesellschaftlicher Entwicklungen gesehen werden, in denen neue Visionen und Zukunftsentwürfe des gesellschaftlichen Lebens entstehen oder bereits gelebt werden. Um Städte, ihre Entwicklung und das, was sie sind, zu verstehen, können sie als ein komplexes System im System begriffen werden. Städte sind keine abgeschlossenen Räume (Container), die autark sind. Im Gegenteil. Historisch gesehen konnten Städte ihre Versorgung nur in Abhängigkeit von der Überproduktion des Agrarsektors im Hinterland, auf Kosten der Umwelt sowie ande-
28 Christine Scherzinger: Essay zum Thema: ‚Wie kann Stadt unter anderen Bedingungen anders sein? Alle angegebenen Quellen finden sich in dem Literatur- und Quellenverzeichnis dieser Arbeit wieder.
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rer Gesellschaften gewährleisten: „Der Reichtum zahlreicher europäischer Städte basierte auf der Ausbeutung der Kolonien (…)“ (Wolfrum 2012: 24). Die Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts löste in zahlreichen Städten in Nordamerika und in Europa eine Verstädterungs- und Urbanisierungswelle aus. Die Wanderungsströme von Menschen richteten sich auf die Stadt und ihre neu entstandenen Industriezweige. Die Infrastruktur der Städte wurde auf diese Produktion ausgerichtet. Zahlreiche Relikte wie Bauten zeugen bis heute von dieser Entwicklung. In den 50er Jahren begann in Deutschland das Zeitalter des Fordismus, das in den USA bereits 30 Jahre zuvor eingesetzt hatte. Der Fordismus realisierte durch technologische Fortschritte eine Massenherstellung von Konsumgütern in Fließbandproduktion. In großen Serien konnten nun in Massenanfertigung Produkte für den Massenkonsum hergestellt werden. Der Produktionsprozess war in einfache Arbeitsschritte zerlegt. Viele Menschen fanden Arbeit in den Städten, unabhängig von ihrem Bildungsstand. Die Menschen profitierten von dem Ausbau der Sozial- und Bildungssysteme und vom Zuwachs des Lohns, der an die Produktivität gekoppelt war. Die massenhafte Verbreitung des Autos führte dazu, dass an den Stadträndern großräumige Wohngebiete entstanden. Wohnen und Arbeiten wurden so voneinander entkoppelt. Dies entsprach auch dem derzeitigen städtebaulichen Ideal, wie es in der Charta von Athen von 1933 niedergelegt worden war. Durch die Trennung von Arbeit und Wohnen entstanden starke Pendelströme zwischen der Kernstadt und dem Umland. Die Lebensbedingungen innerhalb der Stadt verschlechterten sich. Es entstand eine soziale Differenzierung zwischen der Innenstadt und dem Umland. In der Innenstadt blieben meist die Menschen, die sich aufgrund ihrer finanziellen Lage kein Eigenheim leisten konnten, während in den Vororten der aufkommende Mittelstand lebte. Um 1970 fand ein grundlegender Wandel in der ökonomischen Struktur statt. In diesem Zusammenhang sprechen Stadtforscher von der Krise des Fordismus. Die Märkte waren gesättigt. Durch weitere technische Erneuerungen und Handelsabkommen mit Niedriglohnländern wurden einfache Produktionsschritte ins Ausland verlagert, um die Gewinnmargen der Unternehmen zu steigern. Viele Industriestädte verzeichneten einen dramatischen Arbeitsplatzverlust. Zahlreiche Menschen, die vor allem in einfache Produktionsschritte integriert waren, verloren ihr Beschäftigungsverhältnis. Die Gesellschaftsformation, die sich nun an den Fordismus anschloss, wird Postfordismus genannt. Ob diese Form heute schon ihren endgültigen Status erreicht hat, bleibt weiterhin diskussionswürdig. Städte als ökonomische Standorte haben zur Generierung von Innovationen an Bedeutung gewonnen: Der Austausch und die starke Vernetzung zwischen den Betrieben gelingt vor allem in
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hochverdichteten Räumen, also in Städten. Daher sprechen wir heute von einer Renaissance der Innenstädte. Die Globalisierung verändert Städte. Heute sind Städte und Gesellschaften in einem gemeinsamen Netz globaler Abhängigkeiten verknüpft. Elemente dieser Abhängigkeiten sind die zunehmende Internationalisierung, technologische Fortschritte, der Austausch von Ressourcen sowie die Interaktion zwischen den Märkten und Menschen. Darüber hinaus beeinflussen die Politik und ihre Entscheidungspraktiken maßgeblich die genannten Abhängigkeiten auf lokaler, nationaler und globaler Ebene (vgl. ARL 2013: www.*). Veränderte Lebensstile, der Anstieg der Erwerbsarbeit von Frauen und die Zunahme sowohl von wissensbasierten und hochwertigen, aber schlecht bezahlten Dienstleistungen ließen die Anzahl von Arbeitsplätzen vor allem in den letzten 10 Jahren in den Städten wieder steigen. Die hochwertigen Dienstleistungen finden sich in Kultur, Bildung, Verwaltung, Logistik und in der Forschung. Bei den einfachen Dienstleistungen handelt sich um Arbeitsstellen, die in den Niedriglohnsektor fallen: Putzjobs, Sicherheitsdienste etc. Ein Merkmal der postfordistischen Stadt ist, dass die Einkommensschere der beiden Gruppen sehr weit auseinander klafft. Die Arbeitsmärkte sind flexibler und unsicherer geworden. Städte gliedern sich in Teilräume: Stadtquartiere, Orte und Gebiete wandeln ihr Gesicht, ihre Sozialstruktur und Funktionen. Formen und Organisation von Arbeit, die Ausrichtung der Produktion wie auch der Konsummuster, Lebensstile und die Rolle der Politik tragen maßgeblich zu den Veränderungen von Teilräumen und der gebauten Umwelt bei. Grenzen verschieben sich, Orte verschwinden, neue kommen hinzu. Die Auswirkungen der Globalisierung führen zu einer neuen räumlichen Ordnung. Wenn wir die Stadt und ihre Räume betrachten, sehen wir, dass weiterhin fordistische Produktionsweisen und Relikte neben postfordistischen existieren. Räume wie z.B. Quartiere und Arbeitsorte können von Schrumpfung, andere wiederum von Wachstum gekennzeichnet sein. Manche Räume erfahren eine starke Aufwertung, andere hingegen starke Abwärtstendenzen. Die Aufwertung innerstädtischer Wohngebiete geht meist mit Verdrängungsprozessen einher. Sie unterliegen den Immobilienmärkten, in die überschüssiges Kapital in Form von Spekulationen fließt: Heute gelten Teilräume einer Stadt als weniger verletzlich, je mehr sie in globale Kapital-, Waren- und Personenströme eingebunden sind. Der Grad ihrer Vernetzung ist entscheidend für ihre Entwicklung (vgl. ARL 2013: www.*). Es entstehen neue Ordnungen von Räumen und Funktionen, die frühere hierarchisch organisierte Strukturen überlappen. Viele Räume innerhalb der Stadt verlieren ihre ursprüngliche Funktion. Ihre Einbindung in eine alte Produktionsform (Industrie, Gewerbe) wird durch technische Innovationen und
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die entsprechende Nachfrage abgelöst. Ein räumlicher Flickenteppich ist das Resultat. Wachstumsräume sowie ihre Eigenschaften und Funktionen ändern sich, neue Zugänge oder Ausschlussmechanismen für Räume und Menschen werden geschaffen. Je mehr das ökonomische Kapital über den Besitz von Wohnungen, Boden und Bildung entscheidet, umso mehr kommt es zur sozialen Segregation, also einer räumlichen Ungleichheit/Trennung und Polarisierung. Räume und Menschen werden Verlierer des Systems, die nicht genügend in die vorherrschende Logik eingebunden und mit entsprechendem Kapital ausgestattet sind. Zugänge zu Ressourcen, Informationen, Wissen, Bildung, Arbeit, Netzwerken und Interaktionsmöglichkeiten sind für die Menschen ungleich verteilt, das heißt nicht für alle Menschen sicht- und nutzbar. Einige soziale Gruppen haben die Möglichkeit, sich diese Zugänge zu erschließen, sie für sich zu sichern, neue zu schaffen und die Annehmlichkeiten einer Großstadt zu nutzen, während andere Menschen außen vor bleiben. Die städtischen Verwaltungen haben vielfach neoliberale Glaubenssätze aus der Welt des Wirtschaftens übernommen bzw. die Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse im Übergang in die postfordistische Ökonomie zugunsten des Kapitals in ihrer Politik nachvollzogen. In der Postmoderne wird die Stadt nicht selten als ‚Unternehmen‘ begriffen und entsprechend verwaltet. Die Vorstellung von der Stadt als Standort, der mit anderen Standorten in globaler Konkurrenz steht, hat Raum gegriffen. Städte wetteifern untereinander um Zukunftsindustrien. Ziel ist, sich der Kapitalverwertung anzupassen und möglichst viele Rahmenbedingungen zu schaffen, um Human- und monetäres Kapitel anzulocken. Kreativität und Innovationen sollen entstehen. Die ‚Stadt‘ agiert somit marktförmig, weniger sozial als im Fordismus und ist auf ökonomisches Wachstum ausgerichtet. Zugänge zu einer städtischen Daseinsvorsorge für Menschen am Rande der heutigen Arbeitsgesellschaft werden erschwert und durch das geschlossene System eines ‚urbanen Ambientes‘ für Konsum, höherwertige Dienstleistungen und Wohnungen ersetzt (vgl. Harvey 1989). Durch die steigenden Anforderungen an Städte werden komplexe Gebilde geschaffen: „In den Städten zeigen sich die sozialen und ökologischen Probleme wie unter einem Brennglas: Der demographische Wandel, die steigende Armut, Verdrängungsprozesse, die Auswirkungen der Finanzmarktkrise, bestehende Abhängigkeiten und unsichere Arbeitsmärkte werden in ihren Auswirkungen in Städten am ehesten sichtbar. Dies führt vielfach dazu, dass Stadt für diese Probleme verantwortlich gemacht wird.“ (Läpple 2013: www.*)
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Wie wir sehen, sind Städte per se nicht nachhaltig, aber sie bieten gleichzeitig die besten Voraussetzungen, für die genannten Entwicklungen und Probleme eine Lösung zu finden. DAS POTENZIAL VON STÄDTEN Die größte Herausforderung ist, die Möglichkeiten der Stadt für die Zukunft zu nutzen. Es sind die Wesensmerkmale von Städten, die bereits angesprochen wurden: die Verdichtung, die Spezialisierung, Ausdifferenzierung von Arbeit, die Vernetzung, die Interaktion zwischen Menschen und die Infrastruktur. Dies sind die Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung. Zwar ist Dichte notwendig, um eine ressourcenschonende, ökologische und soziale Entwicklung zu befördern, aber diese Gegebenheit ist nicht hinreichend für die Qualität des urbanen Zusammenlebens. In zahlreichen Städten ist Verdichtung nach wie vor ein Risiko für die Gesundheit und vor allem eine Lebensgefahr für Menschen mit niedrigem Einkommen. Darüber hinaus sagt Verdichtung noch nichts darüber aus, wie Menschen leben und welche Eigenschaften verdichtete Räume haben. Wenn wir einen kleinen Zeitsprung machen, sehen wir, wie Menschen beispielsweise während der Industrialisierung in Berlin unter widrigsten Bedingungen in Mietskasernen gelebt haben. Wenn wir uns heute Slums in den Megastädten des Südens anschauen, erschrecken wir darüber, wie dort die Lebensbedingungen in verdichteten Räumen sind. Aber auch heute und in Europa sagt die Tatsache, dass Städte als Verdichtungsräume potentiell nachhaltig sind, nichts darüber aus, wie Zugänge zu Wissen, Information, Arbeit, Infrastruktur, Entscheidungen und Ressourcen verteilt und organisiert, welche Macht- und Hierarchiestrukturen dort vorhanden sind und maßgeblich die Entwicklungen und Entscheidungsprozesse beeinflussen können: Weltweit sind nach wie vor viele Städte weit entfernt davon, eine gesunde, autarke, soziale und nachhaltige Stadt für die Bewohner zu sein (vgl. Wolfram 2012). Dennoch bieten Städte in der Zukunft potenziell die ressourcenschonendste und nachhaltigste Form des Zusammenlebens, wie es bereits 1992 auf der Siedlungskonferenz der UN-Habitat formuliert wurde. Zusätzlich ergänzte im Jahr 2012 Clos, der Chef des UN-Habitat, dass Städte der Zukunft soziale Gerechtigkeit erfordern. Die UN-Habitat- Agenda endet mit einem Statement, wonach sie "eine positive Vision von nachhaltigen menschlichen Siedlungsformen eröffnet wo alle angemessene Unterkunft, eine gesunde und sichere Umwelt, Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse und produktive und frei gewählte Arbeit finden“ (Rousbeh 2012: www.*). Nach der UN-Habitat-Agenda sollen alle Anstrengungen unternommen werden, um diese Vision Realität werden zu lassen. Die Stadt bietet die vernünftigste Form des Zusammenlebens an. Wie kann dieses urbane
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Leben entstehen, welche Werte und Normen müssten im Vordergrund stehen, wie kann eine zukünftige Urbanität aussehen? DIE STADT UND DIE GESELLSCHAFT: FORMEN UND WERTE DES ZUSAMMENLEBENS Die Stadt ist immer stark an den Begriff ‚Urbanität‘ geknüpft. Dieser Begriff ist genauso vielschichtig wie der Begriff der ‚Stadt‘. Er ist sehr unscharf in seiner Bedeutung: Er kann sich auf bauliche Strukturen und Objekte innerhalb der Stadt beziehen, die als besonders urban empfunden werden. Des Weiteren hat er einen normativen Charakter und bietet einen individuellen Zugang zur städtischen Wahrnehmung. Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter dem Begriff ‚Urbanität‘ das Produkt der Urbanisierung, das neue Formen von städtischen Lebensformen, Persönlichkeitsmerkmalen und gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgebracht hat. Dieser Begriff ist erfahrbar und wird oft mit positiven städtischen Aspekten in Verbindung gebracht: Offenheit, Toleranz, Freiheit, Öffentlichkeit, Diversivität und Heterogenität. Diese positiven Aspekte von Urbanität werden auch bei Konsum- und Veranstaltungsangeboten genutzt, um ein städtisches Image zu erzeugen (vgl. Selle 2012; Häußermann 2006: 31, Siebel 2004). In der Stadtforschung wird unter ‚Urbanität‘ das Ergebnis eines langandauernden und komplexen gesellschaftlichen Prozesses und Austauschprozesses verstanden: „Er beinhaltet ambivalente ökonomische, soziale, politische Zustände“ (Selle 2012: 54). Urbanität wird somit in den Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen gestellt und verändert je nach Gebrauch und Zeit die Werte. Siebel (2004) beispielsweise unterscheidet fünf Dimensionen, nach denen Urbanität zu messen ist: 1. Befreiung des Arbeitszwanges, 2. eine durchgesetzte Demokratie, 3. Entfaltete Individualität, 4. Produktive Differenz und 5. Soziale Integrität. Diese fünf Dimensionen scheinen aber in der derzeitigen Entwicklung von Städten nur für bestimmte Gruppen zur Verfügung zu stehen. Salin (1960) spricht sogar davon, dass Urbanität immer nur „eine Zeit der Wenigen“, für die sogenannten Urbaniten, war: Für die Menschen, die politisch aktiv, privilegiert, gebildet und mit entsprechendem Habitus ausgestattet waren, ihre Werte innerhalb der Stadt durchzusetzen (vgl. Siebel 2004). Dieser Umstand wirft die Frage auf, wie es um all die anderen Menschen in der Stadt bestellt ist. Bislang zeigt der Begriff ‚Urbanität‘ einerseits die Kontinuität der durchgesetzten Werte der Urbaniten (bürgerliche Werte der Polis bis heute) auf, andererseits spiegelt er den Kampf um neue Deutungshoheiten wider. Er kann also auch als Ergebnis historischer Prozesse verstanden werden So ist es nicht verwunderlich, dass Urbanität heute auch ein Aushandlungsprozess zwischen Stadtplanern, Institutionen und Stadtverwaltung mit ihren Imaginationen einerseits und privatwirtschaftlichen Akteuren andererseits ist. Darüber hinaus fordern zivilgesell-
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schaftliche Kräfte in lokalen Bündnissen weltweit ihr ‚Recht auf Stadt‘, das solidarische Werte und das funktionierende Gemeinwesen in den Vordergrund rückt (vgl. West 2013: www.*). Konzepte von Urbanität (Vorstellungen von städtischem und gesellschaftlichem Zusammenleben) können durch neue Formen von Kreativität, Aneignungsformen und widerständigen Tendenzen geprägt und verändert werden. Somit ist in dem Begriff auch ein visionärer Gedanke enthalten. „Was jeweils als urbane Qualität begriffen wird, hängt von der Lebenssituation ab und damit von den unterschiedlichen Interessen sozialer Gruppen“, das heißt nach Siebel: „die Stadt ist der Ort, wo divergierende Interessen aufeinandertreffen, wo Konflikte bewusst ausgetragen werden. Die urbane Stadt ist Bühne und Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte und politischer Auseinandersetzungen“ (Siebel 1994: 10). BILDER DER STADT, BLICK AUF DIE STADT Es gibt keine Theorie, welche die Stadt, ihre Mechanismen und Probleme in Gänze begreifen kann. Definitionen und Konzeptionen von Städten und Urbanität entstanden in unterschiedlichen Fachrichtungen, in unterschiedlichen Epochen und griffen die jeweils drängendsten Probleme auf. Sie verkürzen zwar den Blick auf Stadt und blenden Sachverhalte aus. Dennoch können Bilder oder Metaphern genutzt werden, um einen Zugang zur Komplexität von Stadt zu bekommen. Sie können dazu dienen, neue Erkenntnisse zu gewinnen und Sachverhalte neu zu strukturieren. Wenn wir die Stadt beispielsweise als Kaleidoskop verstehen, steht der Begriff bildhaft für die bunten, vielschichtigen Strukturen, die in ihrer Gesamtheit je nach Perspektive und Lichteinfall neu entstehen. Es gibt somit kein Festhalten des Ganzen und keine schnelle Beschreibung des Gesehenen. So wird das Kaleidoskop wie die Stadt selbst zu einem Lichtstrahl, der je nach Winkel neue widersprüchliche und ambivalente Muster erzeugt und so zu einem Untersuchungsgegenstand wird, der viele Fragen aufwirft und neue Perspektiven erlaubt (vgl. Eckhardt 2009:14). Mumfort (1963) hat das Bild der Stadt als Maschine entworfen: „Wesentlich für die Megamaschine ist der Kapitalismus, der das ökonomische Handeln auf den Profit orientiert. Die Arbeitsmaschine bedient sich nun nicht mehr der Gewalt, um den Mensch zur Arbeit zu zwingen, sondern des Zwangs, den Lebensunterhalt zu verdienen“. Diese Maschine läuft nur, wenn die Menschen die nötige Arbeit leisten. Sie tragen zum Funktionieren des ganzen Apparats bei. Die Stadt wird als Arbeitsorganisationsmodell des Sozialen gesehen, das den Motor des Wirtschaftswachstums antreibt (vgl. hierzu auch Henaff 2011).
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Heute wird in der Stadtplanung in Architekturkreisen häufig die Metapher ‚Die Stadt als Organismus‘ genutzt. Die Stadt ist dabei als ein autonomes System zu verstehen, das aus sich herauswächst. Die Dynamiken werden als natürlich angesehen. Ähnlich wie bei der Stadtmetapher wird ein funktionierender Mechanismus zu Grunde gelegt. Die Maschinen- und Organismus-Metapher zeigen beispielhaft, wie Stadt in unterschiedlichen Kontexten gedacht wird und welche Werte für die Umschreibung genutzt werden. Es entstehen neue Denkrichtungen, die den Aktualitätsbezug der jeweiligen Zeit aufzeigen. Sie eignen sich dafür, das komplexe Phänomen Stadt zu beschreiben. Interpretationsspielräume eröffnen sich zusätzlich, wenn wir uns fragen, welche Inhalte bei Metaphern nicht berücksichtigt werden: Die Maschinen- und Organismus-Metaphern blenden zum Beispiel die Verantwortlichkeiten und Entscheidungsprozesse von Menschen, Politik und Institutionen aus. Das Ergebnis eines Prozess wird als natürlich vorgesehen. Diese Metaphern negieren somit auch die Stadt als Ort permanenter menschlicher Kommunikation und die historischen Entwicklungspfade sowie die etablierten Machtkonstellationen. Wichtig ist es, Stadt als Ort zu begreifen, in dem zahlreiche Ambivalenzen und widersprüchliche Entwicklungen auftreten. Die Stadt spiegelt die Werte der Gesellschaft bzw. derjenigen wider, die sie durchgesetzt haben (vgl. Biachi 2012). KUNST UND STADT „Gestalt und das Image des Künstlers haben eine lange Geschichte im europäischen Diskurs“ (Gantner 2013). Die Künstler wurden häufig mit einem urbanen Umfeld verknüpft, da dieses ihre Bedürfnisse am besten befriedigen kann: Nähe zu den unterstützenden Institutionen, eine Plattform für unmittelbaren Austausch, Inspiration und Präsentation sowie Märkte. Stadt bietet Nischen für Kreativräume besonderer Art. Eine Wechselbeziehung zwischen Kunst und Stadt fand schon immer statt. Die Form der Auseinandersetzung zwischen Kunst und Stadt hat sich aber in den letzten Jahren stark verändert. Die zunehmende Ökonomisierung des Kulturbereichs, definiert in einem top-down gesteuerten Prozess, hat neue Aufgaben der Kunst bzw. für Künstler im städtischen Verwertungsprozess geschaffen. Vor allem dort, wo soziale Infrastruktur und der öffentliche Dienst eingeschränkt sind oder werden und eine wettbewerbsorientierte Standortpolitik betrieben wird, können Kunst und Kreativität kompensatorisch wirken. Künstler werden z.T. zu Raumproduzenten und Entwickler neuer Gesellschaftsformationen. Sie leben in Städten bereits das, was in Zukunft Wichtigkeit bekommen wird. Sie haben lange Zeit bevor das zum Regelfall wurde, flexibel
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und prekär gelebt und haben Wohnformen aus einer Notwenigkeit oder aus der vorhanden Kreativität heraus erschaffen: Loft living etc. (vgl. Zukin 1989). Diese Fähigkeiten wurden von der Stadtentwicklung bewusst aufgenommen. Künstler schaffen durch die Verwertung ihres kulturellen Kapitals neue Kreativräume, eine scheinbar lebendige Urbanität sowie Images und setzen in vernachlässigten Stadtquartieren Aufwertungsprozesse in Gang. Viele Künstler bleiben in einer prekären Arbeits- und Lebenssituation, was dazu führt, dass sie selbst Opfer dieser Entwicklung werden und wegziehen müssen. Künstler scheinen in der ‚unternehmerischen Stadt‘ eine perfekte Rolle einzunehmen. Mittlerweile treten sie auch ganz bewusst als Akteursgruppen auf, um mit den Investoren um Gebiete in der Stadt zu konkurrieren. Der Künstler wird zum Stadtakteur gemacht oder er entscheidet sich bewusst dafür (vgl. Lewitzky 2005: 24). Doch wo bleibt die Kunst? In den stadtentwicklungspolitischen Diskussionen wird meistens nicht zwischen Kunst als Form der Ausdrucksweise und den Künstler als Akteure innerhalb der Stadt unterschieden. Oft werden diese Ebenen miteinander vermischt. Und tatsächlich stehen sie auch in unmittelbarer Wechselwirksamkeit zueinander. Wenn es diese Wechselwirksamkeit gibt, können Künstler, die bestimmten Rahmenbedingungen unterworfen sind, als Reflekteur oder als Wahrnehmer der beschriebenen Entwicklungen und ihres urbanen Umfelds gesehen werden. Sie können durch unterschiedliche künstlerische Positionen dazu Stellung beziehen. Wie beeinflussen diese Entwicklungen das Verständnis von Kunst, ihre eigene Haltung und Wahrnehmung von Urbanität? Hier sollen Künstler zu Wort kommen. DEN KÜNSTLERISCHEN BLICK AUF STADT WAGEN Stadt ist mehr als nur ein Bild, das reproduziert wird, Stadt ist auch mehr als die Funktion, die ihr beigemessen wird. Dieses Mehr kann von unterschiedlichen Menschen und ihren Vorstellungen davon geprägt sein, wie ein Zusammenleben in der Stadt der Zukunft aussehen kann. Entscheidungen über den Entwicklungsweg einer Stadt sind immer an bereits vorhandene Rahmenbedingungen, Institutionen und Denklogiken gekoppelt. Sie werden innerhalb des Handlungsspielraums in einem Ursache-Wirkungsprinzip gefällt. Sie können starr sein und weisen kaum neue Ideen und Visionen auf, sondern legitimieren vielmehr die bestehenden Mechanismen.Wenn wir von den Annahmen ausgehen, dass • • •
Natur, Mensch, Kultur und Stadt Teile eines ineinander greifenden, komplex vernetzten Wirkungsgeflechts sind, Städte als Ergebnis historischer Prozesse zu verstehen sind, sie einer ökonomischen Handlungslogik unterworfen sind,
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Städte und Konzeptionen von Urbanität einen visionären Charakter aufweisen können und sich dynamisch verändern, Städte Orte für politische Entscheidungsprozesse sind und eine Bühne darstellen, auf der Deutungshoheiten austariert werden, Auseinandersetzungen geführt werden in Abhängigkeit von Sprache und Kommunikations- und Interaktionsformen, in ihnen Symboliken, Machtkonstellationen und Zugänge unterschiedlich verteilt und sichtbar werden, sie aber die nachhaltigste Form des Zusammenlebens bietet,
könnten wir uns fragen: Wie kann Stadt unter anderen Bedingungen anders aussehen? Wie kann eine zukünftige Urbanität aussehen? Dabei spielen die Lebenswelten der Künstler eine wesentliche Rolle, sie sind selbst Akteure innerhalb der Stadt und nutzen die Potenziale der Stadt. Gleichzeitig kennen sie ihre Schattenseite. Das Ziel dieser Arbeit ist es u.a., die beschriebenen Probleme aus geographischer Sichtweise als Anlass zu nehmen, sich mit der genannten Frage auseinanderzusetzen. Das Potenzial der Kunst besteht darin, dass sie eine eigene Ausdrucksweise bietet, auf die Entwicklungen und Visionen von Stadt zu schauen.Symbolisch gesehen geht es um Bilder von Städten wie künstlerische Werke, Malereien, Zeichnungen oder um Konzeptionen und Interventionen, die Vorstellungen von Stadt im übertragenen Sinn transportieren. Die Künstler können einen Schlüssel darstellen, wie Komplexität übermittelt bzw. reduziert wird, welche Sichtweisen auf die Probleme der Stadt bestehen (individuell, gesellschaftlich oder künstlerisch). Neu gewonnene Informationen können bestehende Konzepte ergänzen. Auf der wissenschaftlichen Ebene können geographische Sichtweisen mit einem visuellen Zugang geschärft werden. Daraus wird ein neues Verständnis von Urbanität abgeleitet. Das Forschungsprojekt: „Wie kann Stadt unter anderen Bedingungen anders sein? Rezeption raumbezogener künstlerischer Visionen einer zukünftigen Urbanität“ will der Frage nachgehen, wie Künstler in Berlin auf ihre zugewiesenen Rollen und auf sie einwirkenden Rahmenbedingungen reagieren und Vorstellungen und Visionen einer zukünftigen Urbanität oder gesellschaftlichen Zusammenlebens in ihren Werken und ihrer Raumkonzeption verarbeiten. Mit Künstlern soll gemeinsam mit ihrer Sensibilität und Perzeptionsfähigkeit, durch zusätzliche Interpretation von Werken, Analysen von Kreativräumen, Interviews und Diskursanalyse, ein Szenario bzw. ein Modell einer zukünftigen Stadt bzw. eine Alternative von städtischen Leitbildern generiert werden. Dabei wird oftmals nicht berücksichtigten Potenzialen von Künstler neuer Raum gegeben und
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ihre Selbstbestimmtheit und ihre künstlerischen Ausdrucksformen ins Zentrum des Forschungsvorhabens gerückt.
A 3: L ÄTITIA N ORKEIT Norkeit wurde am 20.01.1972 in Herborn geboren. Sie war Gesellin im holzverarbeitenden Handwerk und besitzt seit 2007 ein Diplom der ‚Freien Kunst‘ von der Kunsthochschule Bremen. Sie arbeitet frei, aber auch in verschiedenen kulturellen Projekten und in der Kunstvermittlung. Ihr künstlerischer Schwerpunkt liegt im öffentlichen Raum (vgl. Norkeit 2015: www.*). In ihrer künstlerischen Arbeit ‚Quasi grün‘ untersucht sie beispielsweise Erscheinungsformen und Ordnungsstrukturen (Wege, Anordnungen von Steinen, Bänken) in städtischen Grünanalagen und Parks und fragt sich, wie sich diese Gestaltung auf den Nutzen und den Alltagsgebrauch dieser Räume auf Menschen überträgt. Diese urbanen Grünflächen dienen der Künstlerin als Kulisse, in der sie ihre Gewohnheiten und die der Besucher untersucht und beobachtet. Öffentliche Parks im Allgemeinen wurden zu ihrem künstlerischen Untersuchungsraum, die sie fotografisch dokumentiert und zu denen sie assoziativ lyrische Texte schreibt. Daraus entstand die Arbeit ‚Quasi Grün‘, die sie bis heute mit unterschiedlichen Stilformaten weiterentwickelt hat (Buch, Video, Malerei, Mixed Media). Aus dieser Arbeit entstand ein weiterer thematischer Schwerpunkt. Sie beschäftigt sich mit ‚Organisation‘ im übergeordneten Sinn, die alle Teilbereiche des Lebens/Stadt/etc. beinhalten kann. Sie arbeitet im Hier und Jetzt, weswegen sie das Zukünftige in ihren Arbeiten nicht transportieren möchte. Da sie aber in unterschiedlichen öffentlichen Begegnungsräumen arbeitet, hat sie sich durch den vergleichenden Zugang Bewertungsebenen zu unterschiedlichen Qualitäten des Begegnungsraums geschaffen (vgl. Norkeit 2014; TS, Z. 338ff). Gemeinsam hat sie mit mehreren Künstlerinnen auf dem Tempelhofer Feld ein temporär und partizipativ angelegtes Projekt mit dem Namen ‚Gegekondu‘ (aus dem Türkischen: ‚über Nacht erbaut‘: informelle Siedlung, die aber im Nachhinein einen Rechtstatus erhalten hat) für Jugendliche in ehrenamtlicher Arbeit im Jahr 2012/2013 verwirklicht. Das Anliegen dieses Projekts war, den Jugendlichen einen Freiraum zu bieten, in dem sie sich künstlerisch handwerklich betätigen und aus kostengünstigen recycelten Materialien unkonventionelle Bauten entwerfen konnten und somit zu dem Bau der ‚Gegekondu‘ beitrugen. Dieses Projekt wurde medial auch als kreative Lösung gesehen, Wege aus der Krise zu finden (Do it yourself, Verwendung von recyceltem Material, gestalterische Prozesse anstoßen, etc., vgl. auch WE TRADERS) (vgl. Jugendkunst-
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Neukölln 2012: www.*). Die Künstlerin bemängelte eine Ambivalenz des Projekts: diese ergab sich dadurch, dass die mediale Aufmerksamkeit bezogen auf das Projekt aufgrund seiner nachhaltigen, partizipativen und sozialen Ansätze, dem Wesen des Projekts, das als Zwischennutzungskonzept seitens der Stadtpolitik definiert und unbezahlt war, ihrer Vorstellung eines Vorzeigeprojekts entgegenstand (vgl. auch Versteeg). Norkeit identifiziert sich nicht mit dieser Form der künstlerischen Arbeit, da darin gesellschaftliche Erwartungen an ihre Person und an Kunst herangetragen werden, denen auf anderen Ebenen nachgekommen werden müssten, etwa in Form von Sozialarbeit. Außerdem wird nach Aussagen von Norkeit ihre künstlerische Arbeit auch von der Stadtpolitik für Standortpolitik instrumentalisiert, ohne, dass sie daraus einen materiellen Nutzen ziehen könnte (Norkeit 2014; TS, Z. 876ff).
A 4: C HRISTIAN S CHWISTER Schwister studierte von 2002-2007 Architektur in Konstanz und schloss 20102013 den Masterstudiengang ‚Raumstrategien‘ der Kunsthochschule Weißensee in Berlin an. Ähnlich wie Rettenmund ist seine Intention, einen erweiterten Bildund Raumbegriff zu finden und nutzt als Ausgangspunkt seiner künstlerischen Arbeit seinen Berufsalltag als Fahrradkurier (Schwister 2014; TS, Z. 876ff). Er untersucht in unterschiedlichen Selbstexperimenten, wie sich seine Erfahrung und Wahrnehmung von Stadt und die Perspektiven auf urbane Prozesse durch den Job als Fahrradkurier verändern. Dabei werden Überlegungen bezogen auf das Spezielle an dem Job zur Grundlage seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit Stadtraum gemacht: Einerseits lernt er in der Funktion als Fahrradkurier neue Orte kennen und kann dadurch seine Perspektiven auf die Stadt erweitern. Andererseits ist der Körper der Ausgangspunkt, der ihn in Bewegung setzt und der ihm einen Rhythmus, den Herzschlag und Emotionen vorgibt und somit ein Messinstrument für seine Bewegung wird (vgl. Schwister 2013: www.*; siehe auch Fassler). Durch Überlegungen, wie seine eigenen Bewegungen gesteuert werden, schließt er Rückschlüsse auf die Dynamiken, den Rhythmus und die Bewegung in der Stadt bzw. der Stadt selbst. Entscheidungen, die er als Fahrradkurier in Sekundenbruchteilen intuitiv trifft, und die daher chaotisch und unvorhersehbar sind, sollen durch seine künstlerische Herangehensweise greifbar gemacht und in Bezug zum Stadtraum gestellt werden, der ähnlich funktioniert. Dabei stellt er sich die Frage, wie Repräsentationen einer chaotischen, unvorhersehbaren spontanen Bewegung aussehen können. Wenn ein Moment in einem Bild fixiert wird, verliert es bereits das Spontane in der Bewegung. Daher ver-
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sucht er seine körperlichen Referenzpunkte mit denen der Stadt zu synchronisieren und dafür eigene Spielregeln zu kreieren. Videos als Output seiner künstlerischen Herangehensweisen stellen diese Perspektiven und Prozesse dar; mit eigenen Regeln der Darstellung von Bildern und Bildsequenzen, wird sein eigener Rhythmus zu dem Umfeld dargestellt. Bei Schwister wird Stadtraum zum Forschungsobjekt. Ausgehend von seinem körperlichen Erfahrungswissen werden Wahrnehmungsweisen auf die Funktionsweisen von Stadt, Dichte, Flüchtigkeit, Schnelligkeit und Bewegung geschärft und in dieser Wechselwirksamkeit in seinem künstlerischen Vorgehen begreifbarer gemacht. Schwister versucht, in einer explorativen Herangehensweise die „spontanen, spielerischen, taktischen, körperlichen, experimentellen, unmittelbaren, instinktiven Aspekte von Bewegung in der Stadt zu verstehen“ und sucht nach Möglichkeiten, diese fassen zu können (vgl. Schwister 2013: www.*): das Spiel, das Experiment und das Umnutzen vorgegebener und eingeschriebener Strukturen heißt konkret in seinem künstlerischen Prozess als Fahrradkurier, beispielsweise andere Wege zu fahren, außerhalb der Wege zu fahren, das Fahrrad in eine Zeichenmaschine umzuwandeln, um Spuren im Stadtraum zu hinterlassen, eine Zeitebene zu integrieren, indem er auf Schnelligkeit und Langsamkeit achtet etc. Durch den Einsatz spielerischer Elemente werden laut Schwister Voraussetzungen dafür geschaffen, Visionen und Szenarien zu generieren, wie Stadt anders zu denken wäre. Dahinter steht nichts Produktives, sondern ein Prozess, der Neues entstehen lässt, in dem man sich selbst, den vorgegebenen Alltag und das städtischen Umfeldes versteht und in dem erst neue Möglichkeiten für neue Gestaltungsspielräume ausgelotet werden, die greifbar werden können (Schwister 2014; TS, Z. 1071).
Geographie Iris Dzudzek Kreativpolitik Über die Machteffekte einer neuen Regierungsform des Städtischen Juli 2016, 388 S., kart., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3405-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3405-5
Veronika Selbach, Klaus Zehner (Hg.) London – Geographien einer Global City Januar 2016, 246 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2920-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2920-4
Antje Schlottmann, Judith Miggelbrink (Hg.) Visuelle Geographien Zur Produktion, Aneignung und Vermittlung von RaumBildern 2015, 300 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2720-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2720-0
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Geographie Nicolai Scherle Kulturelle Geographien der Vielfalt Von der Macht der Differenzen zu einer Logik der Diversität August 2016, 296 S., kart., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3146-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3146-7
Raphael Schwegmann Nacht-Orte Eine kulturelle Geographie der Ökonomie Januar 2016, 180 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3256-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3256-3
Katharina Winter Ansichtssache Stadtnatur Zwischennutzungen und Naturverständnisse 2015, 262 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3004-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3004-0
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