Berühren und berührt werden: Zur Phänomenologie der Nähe 9783495997758, 9783495997741


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Einleitung
Berühren und berührt werden – phänomenologische Ausgrabungen
Berührung – leibliche Erfahrung im Kontakt. Zur Mehrdimensionalität von Berührungen im direkten und indirekten Sinne
1. Berührung im Fokus der fünf Sinne und der Leiblichkeit
Berührung als Beziehungsmedium
Berührung und Begegnung
Berührungen sind Halbdinge mit wechselnden Gesichtern
2. Berührung und ihre Raum-, Orts- und Zeitbeziehungen
3. Berührung als Sozialbeziehung
4. Atmosphärische Berührungen
Der Sonderfall des Numinosen
5. Das Plötzliche
Die Plötzlichkeit des Blitzes
Das Plötzliche in der Imagination
6. Ephemere Berührungen durch Malerei und Musik
7. Über Berührungen sprechen
Von Leib zu Leib. Das Spiel von Nähe und Distanz oder: Zur Hermeneutik und Ethik menschlicher Berührungen und Begegnungen
1. Conditio humana in (post-)pandemischen Zeiten: Distanz als Form der Nähe?
2. Die Menschlichkeit der Nähe: Von Leib zu Leib
3. Vollzüge menschlicher Nähe: Blick, Berührung, Wort und Werk
3.1. Von Antlitz zu Antlitz: der Blick
3.2. Von Hand zu Hand: die Berührung
3.3. Von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr: das Wort
3.4. Vom Menschen her: Werk und Ding
4. Das Spiel von Nähe und Distanz: Gegebenheit und Entzug
5. Kulturen der Nähe im technischen Zeitalter: Kunst und Religion
Spüren, Berühren, Berührtwerden. Über die Schlüsselrolle der Herzgefühle bei leibseelischen Berührungen
1. Einleitendes
2. Leiblichkeit versus Körperlichkeit, Spürleib versus Körperding: Hermann Schmitz
3. Kopf, Herz, Bauch: drei große, komplexe, dynamische Leibesinseln
4. Phänomenologische Kopf-Herz-Bauch-Topographie: ein Desiderat
5. Die Herzinsel und ihre kommunikative Mittelpunktstellung beim Spüren und Berühren: Alexander Lowen
5.1 Wie das Herzgefühl im und mit dem Körper in Erscheinung treten kann
5.2 Authentischer Ausdruck versus bloße Geste. Gefühlswarme Berührung versus gefühlskaltes Betasten
5.3 Negation »Herzspann« – Position »Herzfluss«: über verhärtende und aufweichende Strömungen im Leib
5.4 Die Integration und Verbindung von Kopf-Herz-Bauch ist wichtiger als deren Hierarchisierung
5.5 Das Herz verbindet uns mit Menschen, Tieren, Welt und Natur
Strukturelle Analyse der Auffassung von Umgebung, Nähe und Berühren in Hermann Schmitz' Neuer Phänomenologie. Neuansatz zur Strukturanalyse leiblicher Räume
1. Vorüberlegung und Einführung
2. Übergänge zwischen leiblichen Räumen und körperlichem Ortsraum
2.1 Fall: Das Tragen von Lasten
2.2 Fall: Das Erwachen
2.3 Zusammenfassung
3. Topologische Charakterisierung
3.1 Topologie
3.2 Anwendung der Topologie auf leibliche und Ortsräume
4. Erste Schlussfolgerungen und weiteres Vorgehen
Atmosphären berühren. Überlegungen zum japanischen Wort fureru
1. Einleitung
2. Sakabes Überlegungen zu fureru und sawaru
3. Homosphäre, Heterosphäre, Pansphäre
4. Drei Beispiele aus der modernen japanischen Literatur
4.1 Die neue Luft der Zeit in Tokyo (Shûsei Tokuda)
4.2 Berührt von etwas Herbstlichem (Motojirô Kajii)
4.3 Das Hautgefühl des Zuges (Hiroshi Noma)
5. Fazit und Ausblick: Berühren, Riechen, jenseits der fünf Sinne
Berühren und berührt werden von Menschen
Die Zwischenleiblichkeit der Berührung. Phänomenologische und therapeutische Aspekte
1. Einleitung
2. Allgemeine Phänomenologie des Tastsinns
3. Phänomenologie der sozialen Berührung
4. Zur Entwicklung und Psychologie der Berührung
5. Resümee
Warum bist Du so ungehalten? Über die Verzweiflung, unberührt zu sein
1. Einleitung
2. Körper – Haut – Berührung
3. Berührung in der Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung
4. Einleibung mit und ohne Haut
5. Die Haut als Vermittler zwischen Körper und Leib
6. Die Berührung als Element der leiblichen Kommunikation
7. Fazit
Wär nicht das Auge sonnenhaft … – Vollständige Relationalität als Leitfaden von Psychotherapie
1. Generelle Verschränkung von aktiv und pathisch
2. Verschränkung von »Wirklichkeit« und »Konstruktion«
2.1 Beispiel: ein Frühlingsgefühl
2.2 Beispiel: eine große Trauer
3. Wirklichkeit als Hand in Hand von Aktion und Passion
Beispiel: Anfänger auf dem Eis
4. Über die verbundene Freude
Auf die Situation kommt es an – Beziehung und Berührung in der Pflege
1. Einleitung: Über Berührung und Beziehung
2. Fiktives Fallbeispiel: Ronja und Tobias im Patientenzimmer
3. Eine kleine Beziehungstypologie des »Ein-Ander«
4. Über die Vorgängigkeit der Situationen vor den Beziehungen
5. Situation, Beziehung und Berührung in der Pflege: Eine exemplarische Analyse
6. Beziehung und Berührung in der Pflegearbeit
Berühren und berührt werden von Tieren
Reiten als leibliche Kommunikation. Zum Potenzial der Neuen Phänomenologie für die Human-Animal-Studies
1. Einleitung
2. Reiten als leibliche Kommunikation
2.1 »Feine Hilfen«
2.2 Reiten als Begegnungswert
2.3 Reiten mit Dingen und in Atmosphären
2.4 Grobe Hilfen
3. Reiten als Situation
4. Fazit
Fütterungen von Nilgänsen – Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit
1. Einleitung
2. Normative und diskursive Distanziertheit zur Nilgans
3. Fütterungsbegegnungen zwischen Menschen und Tieren
4. Fütterungsbegegnungen erforschen
5. Fütterungen von Nilgänsen aus neophänomenologischer Perspektive
5.1 Situationen
5.2 Atmosphären
5.3 Leibliche Kommunikation
6. Fazit
Wolfsbegegnungen – Eine Annäherung des Fremden
1. Einleitung: Eine phänomenologisch-ethnografische Annäherung an das wölfische Fremde
2. Die Verlockungen des wölfischen Fremden
3. Empörung in Angesicht des wölfischen Fremden
4. Ohnmacht in der Begegnung des wölfischen Fremden
5. Im Bewusstsein des wölfischen Fremden
6. Vertraut-sein mit und Vertrauen-haben zum wölfischen Fremden
7. Fazit
Berühren und berührt werden – Erlebnisberichte und therapeutische Ansätze in der Liebenthaler Pferdeherde
1. Einleitung
2. Die Liebenthaler Pferdeherde
2.1 Die Geschichte
2.2 Das Besondere in der Herde
2.3 Das Besondere am Pferd
3. Ein Besuch in der Liebenthaler Pferdeherde
3.1 Erlebnisbericht
3.2 Aufgaben
3.3 Ankommen – vor dem Zaun
3.4 Hineingehen – hinter dem Zaun
3.5 Mittendrin
3.6 Hinausgehen
4. Schlussgedanken
Berühren und berührt werden von Artefakten
Berühren und Spüren – Versuch über die leibliche Kommunikation zwischen Menschen und technischen Objekten
1. Einleitung: Mensch und Technik
2. Soziotechnische Ensembles: Die Mitwelt der Menschen
3. Affektives Berührtsein – Die kalte Botschaft technischer Objekte
4. Haptisch-taktiles Berühren und leibliche Anmutungen
5. Maschinelle Selbstbewegung und haptisch-taktile Kontakte an den Oberflächen
6. Wenn die Technik als Problem berührt: »Noli me tangere.«
Berührungen zwischen Mensch und Technologie – Ein alltägliches Oszillieren zwischen ›Leichtigkeit‹ und ›Kernschmelze‹
1. Berührung zwischen Mensch und Technologie
1.1 Mehr als Körperkontakt – Berührung im Diskurs
1.2 Affektive Betroffenheit – Berührung leibphänomenologisch wenden
2. Von der Leibphänomenologie zur empirischen Sozialforschung – am Fallbeispiel leibliches Befinden beobachten
2.1 Alltag von Diabetiker*innen mit Technologie(n)
2.2 ›Leibliches‹ methodisch fixieren
3. Ausprägungen von affektiver Betroffenheit: ›Leichtigkeit‹ und ›Kernschmelze‹
3.1 ›Zusammenkommen‹ von Technologie(n) und Nutzer*innen
3.2 ›Zusammensein I‹ – »oder kurz vor der Kernschmelze«
3.3 ›Zusammensein II‹ – von affektiver Betroffenheit zu leiblichen Freiheiten im Alltag
4. Berührung, affektive Betroffenheit und Technologie(n) – ein ambigues Verhältnis
Je näher das Handy, desto dümmer der Mensch?
1. Einleitung
2. Experiment: Welche Rolle spielt die Nähe des Handys?
3. Erklärungsversuche
4. Das Ablenkungsphänomen: Objektive und subjektive Zugänge
5. Rekonstruktion des Handy-Check-Phänomens aus subjektiver Sicht
6. Unwillkürliche und unbewusste Phänomene
7. Einordnung: Verhaltenssucht oder habituelle Fixierung?
8. Von der Neuen zur Transformativen Phänomenologie
9. Resümee
Physisch abwesend, aber leiblich anwesend: Leibliche Kommunikation und gemeinsame Gefühle in Online-Situationen
1. Einleitung
2. Leibliche Kommunikation
3. Gemeinsame Gefühle
4. Kleine Phänomenologie von Onlinekonferenzen und -seminaren
5. Die verschiedenen Formen von Einleibung in Onlinekonferenzen und -seminaren
6. Störung der leiblichen Kommunikation?
7. Sprachliche Bedeutung und Imagination
8. Situation und Atmosphäre bei Onlinekonferenzen und -seminaren
9. Vorläufige Ergebnisse: Anwesenheit und gemeinsame Gefühle
Handgreiflich (und) berührt werden. Interaktionen von Material und Künstler*in im gestalterisch-ästhetischen Prozess
1. »Berühren verboten!«
2. Berühren und Berührtwerden
3. Die Beziehung von Tasten und Sehen
4. Agency des Materials
5. Berührt werden von der Atelieratmosphäre
6. Ein Prozess beginnt
7. Die Rolle der Hand
8. Berührungen durch das Entstehende
9. Zufälliges und Entstandenes begrüßen
Über die Autorinnen und Autoren
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Berühren und berührt werden: Zur Phänomenologie der Nähe
 9783495997758, 9783495997741

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Neue Phänomenologie

| 35

Uzarewicz | Gugutzer | Uzarewicz | Latka (Hrsg.)

Berühren und berührt werden Zur Phänomenologie der Nähe

https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. phil. Michael Großheim Prof. Dr. phil. Hilge Landweer Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Hasse Prof. Dr. phil. Barbara Wolf Prof. Dr. disc. pol. Charlotte Uzarewicz Prof. Dr. phil. Robert Gugutzer Prof. Dr. phil. Jens Soentgen Band 35

https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Charlotte Uzarewicz | Robert Gugutzer Michael Uzarewicz | Thomas Latka (Hrsg.)

Berühren und berührt werden Zur Phänomenologie der Nähe

https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Mit freundlicher Unterstützung der

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99774-1 (Print) ISBN 978-3-495-99775-8 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Berühren und berührt werden – phänomenologische Ausgrabungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Jürgen Hasse Berührung – leibliche Erfahrung im Kontakt. Zur Mehrdimensionalität von Berührungen im direkten und indirekten Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Holger Zaborowski Von Leib zu Leib. Das Spiel von Nähe und Distanz oder: Zur Hermeneutik und Ethik menschlicher Berührungen und Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Robert Josef Kozljanič Spüren, Berühren, Berührtwerden. Über die Schlüsselrolle der Herzgefühle bei leibseelischen Berührungen . . . . . .

75

Henning Hintze Strukturelle Analyse der Auffassung von Umgebung, Nähe und Berühren in Hermann Schmitz' Neuer Phänomenologie. Neuansatz zur Strukturanalyse leiblicher Räume . . . . . .

105

Yuho Hisayama Atmosphären berühren. Überlegungen zum japanischen Wort fureru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

5 https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Inhaltsverzeichnis

Berühren und berührt werden von Menschen . . . . . .

153

Thomas Fuchs Die Zwischenleiblichkeit der Berührung. Phänomenologische und therapeutische Aspekte . . . . .

155

Barbara Wolf Warum bist Du so ungehalten? Über die Verzweiflung, unberührt zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

Rudolf Gaßenhuber Wär nicht das Auge sonnenhaft … – Vollständige Relationalität als Leitfaden von Psychotherapie . . . . . . .

201

Charlotte Uzarewicz Auf die Situation kommt es an – Beziehung und Berührung in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221

Berühren und berührt werden von Tieren . . . . . . . .

239

Robert Pütz Reiten als leibliche Kommunikation. Zum Potenzial der Neuen Phänomenologie für die Human-Animal-Studies . .

241

Elisa Kornherr Fütterungen von Nilgänsen – Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit . . . . . . . . . . . . .

277

Thorsten Gieser Wolfsbegegnungen – Eine Annäherung des Fremden . . . .

309

Kerstin Morton Berühren und berührt werden – Erlebnisberichte und therapeutische Ansätze in der Liebenthaler Pferdeherde . .

333

6 https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Inhaltsverzeichnis

Berühren und berührt werden von Artefakten . . . . .

359

Michael Uzarewicz Berühren und Spüren – Versuch über die leibliche Kommunikation zwischen Menschen und technischen Objekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

361

Julia Sellig Berührungen zwischen Mensch und Technologie – Ein alltägliches Oszillieren zwischen ›Leichtigkeit‹ und ›Kernschmelze‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

385

Thomas Latka Je näher das Handy, desto dümmer der Mensch? . . . . . .

413

Hilge Landweer Physisch abwesend, aber leiblich anwesend: Leibliche Kommunikation und gemeinsame Gefühle in OnlineSituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

435

Birgit Dorner Handgreiflich (und) berührt werden. Interaktionen von Material und Künstler*in im gestalterisch-ästhetischen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

461

Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . .

485

7 https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Einleitung

Im Jahr 2021 – mitten in der Corona-Krise – ist der Nobelpreis für Medizin an die amerikanischen Molekularbiologen David Julius und Ardem Patapoutian verliehen worden. Ihre Entdeckung: Warum wir Berührungen und Temperaturen fühlen können. In der ZEIT-online war dazu am 04.10.21 zu lesen: »Die menschliche Fähigkeit, Wärme, Kälte und Berührung zu spüren, ist überlebenswichtig und bildet die Grundlage für unsere Interaktion mit der Welt um uns herum.« Welch zentrale Erkenntnis und Botschaft ausgerechnet in einer Zeit des physical und social distancing! Aber nicht nur die Naturwissen­ schaften haben etwas zum Thema Berührung zu sagen, schließlich sind Berührungen nicht nur mess- und quantifizierbare Sinnesdaten. Berührungen spürt man üblicherweise, sofern sie über einen bloßen Körperkontakt hinaus leiblich nahegehen. Sie sind deshalb ebenso ein Thema für die Phänomenologie, da sie die zentrale Disziplin ist, die sich mit dem eigen- und zwischenleiblichen Spüre befasst. Der vorliegende Band versammelt eine Vielzahl an Beiträgen aus unter­ schiedlichen Disziplinen, die den Gewinn einer Phänomenologie von Berührungen und leiblicher Nähe verdeutlichen. Die abendländische Sinnesgeschichte hat die Fernsinne betont, und auf diese wurden wir auch in der Coronazeit mit Fernunterricht, Remote Work und Online-Kommunikation zurückgeworfen. Die Nahsinne waren auf wenige Kontakte reduziert. Nähe und Berührung wurden staatlich reguliert, da sie eine Gefahr für Leib und Leben darstellten. So aber wurden Nähe und Berührung paradoxerweise wieder zum Thema, als etwas, dass uns fehlt, wenn es nicht sein darf. Die Rationierung machte Nähe und Berührung wieder attraktiver, und viele haben sich über staatliche Verbote hinweggesetzt, weil ihnen Nähe und Berührung doch wichtiger waren als sie selbst dachten. Gesetze wurden gebrochen, um anderen nahe zu sein und sie berühren zu können. Die Nahsinne wurden mehr denn je als wichtige Bedürfnisse thematisiert und die Defizite wissenschaftlich aufgearbeitet. Nah- und Fernsinne teilen sich jetzt die Aufmerksam­ keit, und das ist gut so.

9 https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Einleitung

Die »Ordnung der Berührung« (Gesa Lindemann), die in jedem Sozialverband, in jeder Gesellschaft zu finden ist, ist während der Coronazeit aus den Angeln gehoben worden. Es sind die ungeschrie­ benen kulturellen Gesetze, die wir alle kennen und die uns sagen, wann man wo, wie, wen berühren darf und wann, wie, wen nicht. Diese Berührungsordnung ist durch die Coronakrise in Unordnung geraten. Kontaktbeschränkungen, Hygieneregeln, staatliche Regle­ mentierungen in Bezug auf körperliche Nähe und Distanz haben die informellen Regelungen in Bezug auf den Körperkontakt im Alltag vielfach abgelöst. Diese Veränderungen sind so fundamental gewesen, dass sie in der Zeit nach Corona immer noch ihre Wir­ kungsmächtigkeit entfalten – auf der individuellen wie auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Die Frage, welche Berührungsordnung wir wünschen bzw. brauchen, lenkt den Blick auf die philosophische Frage, wie wir in der Welt sind und sein wollen. Unser leibliches ZurWelt-Sein wird herausgefordert, und wir können uns positionieren, manchmal müssen wir es sogar, ohne dass wir es wollen: Für was stehen wir und wie nah wollen wir mit anderen stehen, wie halten wir es mit Nähe und Berührung? Zentral bei der Bearbeitung dieser Fragen, ist das Verhältnis von Körperlichkeit und Leiblichkeit. In Merleau-Pontys Phänomeno­ logie der Wahrnehmung ist die Unterscheidung zwischen Leibkörper (Vitalität und Handeln) und Dingkörper (Objekt) ein Versuch, unser Sein in und zur Welt zu fassen. Der Leib als natürliches Ich ist Wahrnehmendes und Wahrnehmbares zugleich, er ist Medium des Welterlebens (eine Welt haben), und durch ihn findet die Veranke­ rung in der Welt statt (in der Welt sein). Diese dialektische Struktur des Leibes, die im Phänomen der Doppelempfindung zu Ausdruck kommt, verweist auf das nach wie vor rätselhafte Verhältnis von Körper (Physis, Objekt) und Leib (Spüren): In der Selbstberührung spüre ich meinen Leib zugleich als wahrnehmendes Subjekt und als wahrgenommenes Objekt. Berühren und berührt werden, Subjekt und Objekt, Ich und Welt(-Beziehung) werfen lebensweltlich rele­ vante Fragen auf, die im vorliegenden Sammelband erörtert werden: Nähe und Distanz, Eigenes und Fremdes, Lust und Unlust sind bipo­ lare Dimensionen von Berührung und zugleich Strukturmerkmale von Berührung – die obendrein in unterschiedlichen phänomenalen Kombinationen auftreten können. Zum Beispiel korrespondiert mit einer körperlichen Berührung unweigerlich eine körperliche Nähe, nicht notwendigerweise aber auch eine leibliche Nähe: Körperliche

10 https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Einleitung

Nähe kann sich auch leiblich distanzierend anfühlen, wie bei der erkalteten Liebe eines Paares, in der Berührungen nur noch unlustvoll erlebt werden. Umgekehrt kann körperliche Distanz mit leiblicher Nähe einhergehen. Wer den geliebten Partner nur durchs Telefon hört und die sanfte, weiche liebevolle Stimme als Streicheln empfindet, ist trotz – oder wegen, Stichwort ›Liebesgeflüster‹ – körperlicher Distanz leiblich berührt. Auch ein liebevoller Blick wärmt und geht angenehm spürbar nahe, obwohl man sich nicht körperlich berührt. Aber auch der eigene Körper kann unlustvolle Berührungen auslösen. Wenn mir ein Stück Zahn abbricht, fühle ich das mit meiner Zunge, was sich befremdlich anfühlt in meinem Mund. Der eigene Körper wird zum Fremdkörper. Um über Berührung sprechen zu können, sind drei Aspekte von zentraler Bedeutung: affektives Betroffensein, Situationen, Haut. In den nachfolgenden Beiträgen bildet diese Trinität so etwas wie einen Leitfaden der Berührungen. Zusammen mit den genannten Struktur­ merkmalen von Berührung (Leib/Körper, Nähe/Distanz, Eigenes/ Fremdes, Lust/Unlust) wäre es so vielleicht möglich, in Anlehnung an Hermann Schmitz ein »Alphabet der Berührung« zu entwickeln, deren Kombination es ermöglicht, diesen Phänomenbereich genauer beschreiben und damit verstehen zu können. Berühren ist etwas Anderes als anfassen. Wir haben in unse­ rer Sprache verschiedene Begriffe, die aber unterschiedlich weit in den Phänomenbereich hineinreichen: Das Taktile, das Haptische, das affektiv Berührende. Nur Letzteres bezieht sich auf den doppel­ ten Sinn von aktiv-körperlichem Berühren und passiv-leiblichem Berührtwerden; beide sind von fundamentaler Bedeutung für das menschliche Selbsterleben, die menschliche Selbstentwicklung, das menschliche Selbst- und Weltbild. Und sie sind darüber hinaus ein zentrales Medium von Sozialität, wobei ihre Besonderheit darin besteht, dass Berührungen auch eine transhumane Sozialität ermög­ lichen. Aus Sicht der Neuen Phänomenologie lässt sich nämlich die These aufstellen, dass das Soziale nicht auf Menschen begrenzt ist, sondern Sozialität immer dann vorliegt, wenn leibliche Wesen (z.B. Menschen oder Tiere) mit was auch immer (z.B. anderen Menschen, Tieren, Natur oder Technik) eine leibliche Beziehung eingehen, von diesem Was also berührt werden. Um dieser thematischen Vielfalt gerecht zu werden, haben wir das Buch in vier große Kapitel gegliedert. Im ersten Teil wird das Thema grundlagentheoretisch aufgespannt; im zweiten Teil geht es

11 https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Einleitung

aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven um Berühren und Berührtwerden zwischen Menschen. Der dritte Teil greift das Thema mit Blick auf die Beziehungen von menschlichen und nicht menschli­ chen, aber dennoch leiblich verfassten Lebewesen auf; und im vierten Teil geht es um Interaktionsbeziehungen und deren Berührungsqua­ litäten mit nicht lebendigen Entitäten. Berührungsphänomene sind all diese Beispiele insofern, als hier Menschen, wie man mit Hermann Schmitz sagen kann, mit Tieren und der Technik in gemeinsamen Situationen leiblich kommunizieren: Im Fall von Tieren ereignet sich eine wechselseitige, im Fall der Technik eine einseitige leibliche Kom­ munikation. Zu den Beiträgen: Jürgen Hasse beschäftigt sich in seinem grundlegenden Aufsatz mit dem transitiven und intransitiven Charakter von Berührungen, sowohl im semiotischen wie im phänomenologischen Sinne. Berüh­ rungen sind Resultat von Situationen, wie sie solche auch konstitu­ ieren. Ob es sich um zufällige Berührungen, z.B. beim Einsteigen in die U-Bahn, oder um existenzielle Vernichtung infolge der indi­ rekten »Berührung« durch Kriegswaffen geht, Hasse spannt aus anthropologischer Sicht die Weite des Themas auf. Ein beispielhaft konkretisierender Teil widmet sich Berührungen, die von Medien der Kunst (Malerei und Musik) ausgehen. Das führt zur Diskussion der Frage, was eine Berührung zu welchem Zweck kommuniziert. Holger Zaborowski geht der Frage nach, warum Menschen über­ haupt der Berührung bedürfen. Er untersucht vielfältige Vollzüge menschlicher Nähe ebenso wie Kulturen der Nähe im technischen Zeitalter. Anhand seiner Unterscheidung von äußerer (räumliche, zeitliche, verwandtschaftliche) Nähe und innerer (hermeneutische, ethische) Nähe kommt er zu dem Schluss, dass Nähe ein zutiefst menschliches Phänomen und als solches eine Sache der Freiheit ist. Robert Josef Kozljaničʼ philosophisch-geschichtlicher Exkurs zum Thema Gefühle, Atmosphären, Berührung geht anhand von Homer, Platon, Carus und Lowen über Körper und Leib hin zum Konzept der Leibesinseln, wobei er die Leibphänomenologie einer lebensphiloso­ phischen Revision unterzieht. Er nimmt die Sprichwörter aus dem Volksmund ernst und begründet damit das Konzept der ›Herzinsel‹ bzw. ›Herzgefühle‹ als bedeutsamstes für das Leben und die Leben­ digkeit, in der authentische Berührung stattfinden kann.

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Einleitung

Henning Hintze entwirft eine Skizze der Struktur leiblicher Räume und ihres Verhältnisses zu körperlichen Ortsräumen unter Verwendung mathematisch-topologischer Begriffe und Theoreme, die über Vorstellungen von Schmitz hinausweist. Für die topologi­ schen Strukturen sind Begriffe von Umgebung und Berühren grund­ legend. Dabei wird gezeigt, warum ein leiblicher Raum grundsätzlich keine Abstandsbegriffe aufweisen kann und in welchem Sinne er als flächenlos zu verstehen ist. Phänomenologisch richtet sich die Untersuchung am Übergang zwischen leiblichen und körperlichen Räumen in beiden Richtungen aus, der luizide an den Beispielen des Tragens von Lasten und des Erwachens illustriert wird. Berühren, Berührtwerden und Einleibung werden in dabei in ihren topologi­ schen Verfasstheiten untersucht. Yuho Hisayama führt eine interkulturelle Perspektive in das Thema ein. Er erläutert die japanischen Begriffe für Berührung durch Atmosphären und zeigt, dass auch im Japanischen zwischen taktiler, an Materialität orientierter Berührung, und der immateriellen Berüh­ rung durch Stimmungen und Atmosphären unterschieden wird. Thomas Fuchs schlägt eine Brücke zwischen naturwissenschaft­ lichem und philosophischem Denken und untersucht die zwischen­ leiblichen Aspekte von Berührung im therapeutischen Kontext. Er zeigt auf, dass die Physiologie das Fundament ist, nicht nur für phy­ sikalisch-materielle Berührung, sondern auch für soziale, leibliche, emotionale. Der Tastsinn mit seinen multiplen Polaritäten gilt dabei als zentraler Sinn und als zentrales Bindeglied zwischen Körper und Leib – eine These die Barbara Wolf aus pädagogischer Sicht in diesem Band aufnimmt. Bedeutungsvoll im Zusammenhang von Berührung sind dabei Bewegung und Abstände. Barbara Wolf befasst sich, wie Thomas Fuchs, mit der Haut bzw. dem Hautkontakt – allerdings aus einer pädagogischen Perspektive. Die Dialektik des Sich-Selbst-Erkennens und der Entwicklung eines Zur-Welt-Seins hängt aufs Engste mit Berühren und berührt werden zusammen. Die Haut bildet Wolf zufolge den Übergang zwischen leiblichem und körperlichem Empfinden bei der Genese der persönli­ chen Situation. Rudolf Gassenhuber setzt sich mit der Relationalität von ›aktiv‹ und ›pathisch‹ auseinander und plädiert für ein Weltbild verbundener Freude, das sich dann einstellen kann, wenn wir akzeptieren, dass Handlungen und Widerfahrnisse immer gleichzeitig sind.

13 https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Einleitung

Für Charlotte Uzarewicz sind Berühren und Berührtwerden untrennbar verbunden mit Beziehung. Anhand eines Fallbeispiels aus der Pflege verbindet sie eine soziologische Beziehungstypologie mit der Schmitzʼschen Situationstheorie, um aufzuzeigen, wie komplex eine alltägliche Interaktionssituation ist. Sie erklärt damit, warum Stimmungen in Situationen so schnell kippen können. Robert Pütz geht der Frage nach, inwieweit die Neue Phänome­ nologie eine Erweiterung und Fundierung der human-animal-studies darstellen kann. An seinem empirischen Beispiel, dem Reiten als leibliche Kommunikation, wird deutlich, dass diese transhumane Theorie einen wichtigen Ansatzpunkt liefert, um den Natur-KulturDualismus zu überwinden. Gleichzeitig sieht er die Möglichkeit, mit Hilfe der Schmitzʼschen Situationstheorie Einblicke in grundlegende Zusammenhänge zu gewinnen, wie die Gesellschaft ihr Verhältnis zu Tieren organisiert. Elisa Kornherr liefert ein weiteres Beispiel aus dem Bereich der human-animal-studies. Im Spannungsfeld von Soziologie und Neuer Phänomenologie analysiert sie die Fütterung von Nilgänsen in einer Großstadt in Deutschland. Sie zeigt mit Hilfe der Schmitzʼschen Situationstheorie, den Konzepten der Atmosphäre, der leiblichen Kommunikation und dem affektiven Betroffensein, wie die normati­ ven Dichotomien einer Gesellschaft aufgeweicht werden. Thorsten Gieser erläutert in seiner phänomenologisch-ethnogra­ fischen Erkundung an verschiedenen Beispielen mit Wolfsbegegnun­ gen, wie wir mit dem horror alieni umgehen. Die Ambivalenzen von Fremdheit zwischen Verlockung, Empörung, Ohnmacht und Bewusstheit zeigen sich im Kontakt mit dem Wolf als Raubwild, als Prädator besonders deutlich. Zu einer gelingenden Mensch-WolfKoexistenz kann es führen, wenn wir das Leben als relational verste­ hen, d.h. als ein Miteinander-Leben im Bewusstsein des Anderen. Gieser plädiert für die Entwicklung eines wachsamen Vertrauens in unsere response-abilities. Kerstin Morton beschreibt die leibliche Kommunikation mit einer Wildpferdeherde im psychotherapeutischen Kontext. Sehr anschau­ lich werden die leiblichen Bezüge zu Berühren und Berührtwerden nachgezeichnet und deutlich gemacht, dass es im Leben oft auf das Geschehenlassen ankommt. Wir postmoderne Menschen leben dominant in einer Kultur des Machens und Managens. Aber gerade im Begreifen dieser pathischen Dimension unseres Daseins können

14 https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Einleitung

sich – so paradox es klingen mag – für uns neue Verhaltens- und Handlungsweisen eröffnen. Michael Uzarewicz thematisiert das unspaltbare Verhältnis wechselseitiger Berührung von Mensch und Technik. Technik, Mensch und Welt sind gleichursprünglich. Die Kommunikation erfolgt über leibliche Berührung. Berührung gibt es auf zweierlei Wegen: haptisch-taktil und affektiv. Technik ist auf ambigue Weise eine Erweiterung und eine Einschränkung des Handlungsspielraumes der Menschen, von denen die (vormenschlichen) Tiere noch nicht betroffen sind. Ob es Technik ohne Menschen geben kann, wird sich noch zeigen. Julia Sellig untersucht das von Berührung gespeiste affektive Betroffensein bei Diabetikern im Zusammenhang mit technischem Gerät und arbeitet das ambigue Verhältnis zwischen Technologie und affektivem Betroffensein heraus. Basis hierfür bildet das Konzept der leiblichen Kommunikation von Hermann Schmitz. Thomas Latka zeigt am Beispiel der Handynutzung, wie bedeut­ sam es ist, subjektive und objektive Tatsachen gleichermaßen in den Blick zu nehmen, denn viele Handyberührungen geschehen unwillkürlich und sind uns überhaupt nicht bewusst. In seiner Zusam­ menschau von psychologischen Experimenten, phänomenologischen Fragestellungen und praktischer Veränderungsarbeit erkennt er eine Chance für die Neue Phänomenologie, sich in Richtung einer Trans­ formativen Phänomenologie weiterzuentwickeln. Hilge Landweer setzt sich mit der Frage auseinander, wie ein Gefühl von Gemeinsamkeit in Situationen erlebt werden kann, in denen die Teilnehmenden nicht körperlich kopräsent sind. Am Bei­ spiel von Onlineseminaren und -konferenzen arbeitet Landweer die phänomenalen Bedingungen und Erscheinungsformen heraus, die für das technisch vermittelte Erleben von Gemeinsamkeit entscheidend sind. Sie zeigt, dass wechselseitiges leiblich-affektives Berührtwerden und damit ein Gefühl von Gemeinsamkeit in digitalen Kommunika­ tionssituationen voraussetzungsvoll, aber möglich ist. So bekannt die Berührungsverbote von Kunstwerken in Museen auch sind, so wichtig ist die Frage nach dem Einfluss der Materie und des Materials auf das Kunstwerk. Birgit Dorner arbeitet in ihrer Ana­ lyse und an einem konkreten Beispiel der Malerei diese Frage auf. Sie geht mit Schmitz über Schmitz hinaus, der in seinen zentralen Werken die Bedeutung der materiellen Gestaltung für Gestaltverläufe wie die leibliche Wirkung von Kunstwerken weitgehend ausgeklammert hat.

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Einleitung

Sie entwickelt eine Begründung für ihre These, dass Material und Werkzeug Co-Autoren beim Erstellen eines Kunstwerks sind. Dieser Sammelband geht zurück auf eine Tagung des Münchner Arbeitskreises für Neue Phänomenologie im Jahr 2021. Wir danken der Katholischen Stiftungshochschule für ihre Unterstützung bei der Durchführung der Tagung sowie der Stiftung Neue Phänomenologie (SNP), die nicht nur die Tagung finanziell unterstützt, sondern auch dieses Buchprojekt großzügig gefördert hat. Die Leserinnen und Leser finden hier ein breites Spektrum von Berührungsthemen, die jedoch alle auf verschiedene Weise mit zentralen Ideen und Konzepten aus Hermann Schmitzʼ Werken verbunden sind. Vielleicht werden die einen oder anderen dadurch angeregt, mit Schmitz über Schmitz hinaus zu gehen und weiter aus dem »unerschöpflichen Gegenstand« der Neuen Phänomenologie zu schöpfen. Für die Inhalte und die Genderschreibweise sind die Autorinnen und Autoren selbst verantwortlich. Die Herausgeber im Mai 2023

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Berühren und berührt werden – phänomenologische Ausgrabungen

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Jürgen Hasse

Berührung – leibliche Erfahrung im Kontakt. Zur Mehrdimensionalität von Berührungen im direkten und indirekten Sinne

Ein Stein berührt einen anderen Stein nicht in gleicher Weise wie ein Mensch einen anderen Menschen, ein Hai einen Schwimmer und ein Krieg die in ihn involvierten Menschen. Aber wie berührt ein Stein einen anderen Stein? Er kann an ihm abgleiten, ihn aber auch sprengen. Wie berührt ein Mensch einen anderen? Er kann seine Haut erotisch berühren, ihn aber auch mit einem Messer erstechen. Wie berührt ein Hai einen Schwimmer? Er kann ihn mit der Flosse streifen und (da er satt ist) weiterschwimmen, ihn (wenn er Hunger hat) aber auch angreifen. Wie berührt ein Krieg die in ihn involvier­ ten Menschen? Das letzte Beispiel lässt schneller und leichter als die anderen erkennen, dass jede Differenzierung eines Berührungs­ ereignisses ins Uferlose führt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Berührungen stets in situative Kontexte eingebettet sind. Deshalb gibt es auch eine Mannigfaltigkeit korresponsiven Geschehens, das auf eine Berührung folgt. Über Berührung kann nur innerhalb ontologischer Bezirke sinn­ voll gesprochen werden. Die Frage, wie eine Berührung »ist«, schließt die Frage nach ihrem Sein und Wesen im transitiven wie im intransiti­ ven Sinne ein. Man berührt den Sand des Strandes, zugleich wird man von ihm (und seiner Wärme) berührt. Es schließt sich die Frage an, wie und als was die Wärme (als Ausdruck wovon) erlebt wird.1 Die Erleb­ nisperspektive betrifft dabei nicht allein Berührungen, die leibliche Wesen an sich selbst spüren können, sondern auch die, die man in der Berührung toter Gegenstände bemerken kann. Berührung verdankt sich stets einer Bewegung – von Körpern, Gefühlen, Gedanken.

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vgl. Schwemmer 1995.

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Jürgen Hasse

1. Berührung im Fokus der fünf Sinne und der Leiblichkeit Das aus lebensweltlicher Perspektive evidente Verständnis von Berührung betrifft meistens den taktilen Körperkontakt. Dabei kann es z. B. um eine Makrele gehen, die in der Küche zubereitet wird. In spezifischer Weise berührt ihr Geruch, anders als der intuitiv prü­ fende Blick auf den Zustand des Tieres. Schon die »einfache« taktile Berührung überschreitet indes sinnliche Grenzen. Zumindest für jene Personen, die mit der Küchenzubereitung von »rohen« Fischen (samt Kopf, Innereien und Schwanz) nicht geübt sind, weckt schon das Auf­ schneiden des Fischkörpers zur Entnahme der Innereien eigenartige Gefühle, die eine gewisse Selbstbeherrschung bei der Überwindung von Aversionen verlangen. Bereits von der Berührung der Fischhaut gehen ungewohnte Empfindungen aus: des Weichen, Glatten und Rutschigen, des Scharfkantigen und Harten beim Vorbeigleiten der Finger an den kleinen Schuppen. Der Blick ins Innere des Fischbauches mag sogar einen leichten Ekel evozieren, der das Tun in einem zähen Zögern verlangsamt. Dieses mannigfaltige Erleben geht aber nur scheinbar auf den Fisch zurück, viel mehr auf einverleibte kulturelle Standards des Umgangs mit toten »Speise«-Tieren. In spätmodernen Gesellschaften ist es nämlich schon lange selbstverständlich, »archaische« Arbeiten an und mit ganzen Tieren, die dem täglichen Essen als Rohstoffe die­ nen, in die Schattenwelten der Nahrungsmittelindustrie zu verschie­ ben. Solche Verschiebungen sinnlicher, ästhetischer und ethischer Kontaktzonen kommen vor allem einer Schwächung der Konsumbe­ reitschaft zuvor. Deshalb dürfte, was die Gelegenheitsköchin mit dem Fisch tut, bei einem Fischer oder einer Fischhändlerin auch andere ästhetische Objekt- und Selbstbeziehungen zur Folge haben. Mit anderen Worten: Welche Beziehung sich zu einem berührten Gegenstand konkret einstellt, ist wesentlich von der Art und Intensität der Betroffenheit abhängig, die eine Berührung weckt. Bereits ein vage sich ankündigender Ekel macht auf ein Erleben aufmerksam, das über das Fassungsvermögen der einzelnen Sinne hinausgeht. Was der eigene Körper mit dem Messer in der Hand berührt, gibt sich im Leib2 (dem Medium ganzheitlich-gefühlsmä­ 2 Hermann Schmitz definiert Leib so: »Unter dem eigenen Leib eines Menschen ver­ stehe ich das, was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne […] zu stützen.« (Schmitz 1998: 12.) Nach Schmitz ist der

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Berührung – leibliche Erfahrung im Kontakt

ßiger Wahrnehmung) als etwas zu spüren, das mit Bedeutungen geladen ist.

Berührung als Beziehungsmedium Weil Gefühle am eigenen Leib zwischen Enge und Weite verspürt werden, haben sie nach Hermann Schmitz leiblichen und räumlichen Charakter. Der Leib ist »in der Gegend« des Körpers spürbar; er steht »zwischen Enge und Weite in der Mitte und kommt weder von dieser noch von jener ganz los, wenigstens so lange, wie das bewußte Erleben währt.«3 Der dabei entstehende Eindruck ist ein doppelter. Er betrifft den körperlichen Kontakt zum Fisch (als Gegenstand) und die durch diesen Kontakt vermittelten Gefühle. Ekstatisch affizierende Eindrücke wie Ekel greifen in die weitgehend ausgeglichene Balance zwischen Enge und Weite irritierend ein: »Der Ekel ist eine Zerset­ zung der Leiblichkeit in Extreme«4. Räumliche Bedeutung hat eine Berührung am gegebenen Bei­ spiel, weil sie ein leiblich beengendes Zurückschaudern bewirkt, ein Bedürfnis nach Distanz, Vermeidung, Abwehr und Abwendung. In der Berührung wird eine Beziehung zum Berührten konkret; weniger begrifflich und in kognitiven Strukturen als gefühlsmäßig im eigen­ leiblichen Spüren – nicht zuletzt in Nähe- und Ferne-Beziehungen. In der hantierenden Berührung (und nicht schon aus »sicherem« visuellem Abstand) zeigt sich, was und wie etwas ist, das auf den Leib rückt. Das Berührte ist im stofflich-taktilen Kontakt unmittel­ bar gegenwärtig. Berührungen schaffen potentiell plurale Beziehungen zu etwas. Bleiben wir am Beispiel des Fisches, um den Unterschied durch die Ergänzung ethischer Gefühle noch etwas facettenreicher hervortreten zu lassen. Mit anderen Worten: Eine berührungsbedingte Objektbe­ ziehung bleibt nicht bei Empfindungen wie Kälte, Wärme oder Ekel. Die im tagtäglichen Auktionshandel in den fischereiwirtschaftlich bedeutenden Nordseehäfen massenhafte Gegenwart von Fisch, der in Leib »im Gegensatz zum sicht- und tastbaren Körper kein stetig zusammenhängendes Ganzes, sondern ein Gewoge verschwommener Inseln in wechselnder Besetzung und Anordnung« (ebd.: 8.). 3 Schmitz ebd.: 121. 4 Schmitz 1990: 127.

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Kisten hoch übereinander gestapelt ist, berührt die Händler in ganz anderer Weise als die Zuschauer einer solchen Auktion. Während ein auktionserfahrener Einkäufer mit seiner ganzen Aufmerksamkeit dem hohen Tempo des Handels folgen muss, mag der Zaungast in seinem affektiven wie kognitiven Fassungsvermögen an den Rand der Überforderung geraten. Wo einen Händler Unterschiede zwi­ schen guter und schlechter Qualität sowie niedrigen und absurd hohen Preisen berühren, affizieren den mit all dem nicht vertrau­ ten Außenstehenden eher die Mengen des gehandelten Fischs, gibt das massenhaft tot daliegende Meeresgetier doch ein Problem im Mensch-Natur-Verhältnis zu spüren.5 Grenzerfahrungen steigern die Sensibilität gegenüber ethischen Situationsbewertungen.

Berührung und Begegnung Die zufällige, an einem leichten Druck (über die Kleidung) spürbar werdende Berührung eines Fremden in der U-Bahn mag ausreichen, um das Gleichgewicht aus dem Lot zu bringen. An solchen marginalen Berührungen haften aber im Allgemeinen keine Bedeutungen, die sich zwischen die »kollidierenden« Personen stellen. Ganz und gar oberflächliche körperliche Kontakte bedeuten im engeren Sinne gar nichts. Eine emotionalisierende Berührung im leiblichen Sinne wird daraus erst, wenn ein persönliches Beziehungsmoment in eine solche Kollision hineininterpretiert wird und die Betroffenen sich von der Deutung in ihrem Befinden treffen lassen. Noch deutlicher wird die »Reichweite« einer Berührung im Kon­ trast zwischen atmosphärisch unterschiedlichen Berührungsmodi. Eine aggressiv-kämpferische Konfrontation ruft strukturell andere Gefühle wach als eine erotisierend-berauschende6 Annäherung. Die Stimmung eines Kampfes ist das Andere einer freudigen Erregung. Die einen wie die anderen Gefühle versteht Schmitz als »Atmo­ sphäre[n], in die der affektiv Betroffene so hineingerät, daß er seine

vgl. dazu Hasse 2018: Kapitel 4.3. Schmitz weist daraufhin, dass »Lust und Unlust […] niemals Merkmale der Gefühle selbst, sondern stets nur Merkmale des affektiven Betroffenseins von Gefühlen oder leiblichen Regungen« sind (Schmitz 1981: 180). 5

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Berührung – leibliche Erfahrung im Kontakt

Ergriffenheit als einen Zug oder Trieb oder Sog spürt.«7 Mit wel­ cher immersiven Macht und Reichweite eine Berührung affiziert, hängt vom subjektiven, bedeutungsgeladenen Erleben einer damit einhergehenden Begegnung ab. Nach Romano Guardini ist Begegnung nämlich mehr als Berührung in einem einfachen, z. B. taktilen Sinne. Sie setzt nicht nur voraus, dass man in einen Kontakt mit der Wirk­ lichkeit gerät. Entscheidend ist für ihn vielmehr, dass ich nicht »bloß auf sie treffe, in eine nur mechanische, biologische, psychologische Wechselwirkung zu ihr trete; sondern Abstand nehme, sie richtig in den Blick bekomme, von ihrer Eigentümlichkeit betroffen werde, mich praktisch auf sie hin verhalte«8. Begegnung geht in ihrer bewussten Reflexion über die allein sinnliche Berührung hinaus. Deshalb kann noch die räumlich distanzierteste Berührung (je nach ihren sozialen Rahmenbedingungen) extreme Erregungen bewirken. Ein ephemerer Kontakt kann zum einen »nichts« bedeuten, zum anderen aber auch eine höchst ergreifende Macht entfalten. Das Betroffenheit evozierende Moment einer Berührung hat seinen Ver­ ankerungspunkt nämlich in situativen Bedeutungen. Deshalb kann eine Berührung der Haut ebenso immersiv ins persönliche Befinden eingreifen wie das berührende Wissen um einen räumlich fernen aber individuell essentiellen Sachverhalt. Eine Berührung bettet das erle­ bende Subjekt als Folge der Situationsabhängigkeit9 eines Gesche­ hens in eine spezifische Gefühlslage ein. Daher haben Berührungen in der sozialen Welt auch oft eine beziehungsrelevante Bedeutung. Aber schon Gegenstands-Berührungen können kulturell dispo­ nierte Gefühlsantworten auslösen, die in Normen ihre Wurzeln haben und mit gesellschaftlich-kollektiven Gefühls- und Handlungsgeboten einhergehen. So macht es einen Unterschied, ob man ein Stück Brot mit der Hand von einer Stelle zur anderen bewegt oder mit dem Fuß. Wenn die meisten das alltägliche Geschehen regulieren­ den Normen auch als unreflektierte Verhaltensimperative einverleibt sind, so können sie doch eine große subkutane Steuerungsmacht entfalten. Das betrifft das Spektrum des Gebotenen wie des Verbote­ nen. Ein Brot berührt »man« in diesem Sinne nur dann mit einer unteren Körperextremität, wenn es z. B. von Schimmel befallen und Schmitz 1990: 305. Eine Erregung, die keine Richtungsquelle hat (wie der Kummer oder die blanke Verzweiflung) bezeichnet er als »abgründig« (ebd.: 306). 8 Guardini 1965: 11. 9 Zum Situationsbezug von Berührung vgl. auch den Beitrag von Charlotte Uzarewicz in diesem Band. 7

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offensichtlich für den Verzehr nicht mehr geeignet ist. Erst wenn es Abfall ist, darf es auch mit dem Fuß bewegt werden. Wie und womit etwas berührt werden darf, ist weitgehend durch gesellschaftliche Konventionen geregelt. Im Prinzip gilt das auch für die Einstellung von Ekel-Schwellen. Im Allgemeinen ist jedoch, was wir als eklig oder appetitlich empfinden, für die persönliche Bewertung zumindest in Grenzen offen. Was dagegen durch fortgeschrittene Fäulnis, verstö­ rende Verwesung oder übelriechende Zustände sinnlich unmittelbar und archaisch angreift, ist gegenüber einer interkulturell variierenden Wahrnehmung weitgehend versiegelt. Der Eindruck einer Berührung ist in zweifacher Weise zentriert: zum einen an einem Verankerungspunkt, d. h. in jener Gegend, in der sie ihren Ausgangsort hat (z. B. an der Quelle eines Geräusches). Zum anderen hat der Eindruck einer Berührung in seinem Erleben seinen Verdichtungspunkt. Dieser kann den vielleicht nur oberflächlichen Charakter einer (Druck)Empfindung haben (wie bei der Berührung der Kleidung in der überfüllten U-Bahn) oder aber auch den eines gerichteten Gefühls, das am emotionalen Gewicht einer spezifischen Betroffenheit hängt. Während sich eine arbiträre taktile Berührung lediglich in einer gleichsam »flachen« Regung zu spüren gibt, stellt sich eine affektiv ergreifende ethische Berührung in einem gravie­ renden Gefühl dar. Bei ihm fallen Verdichtungsbereich und Veranke­ rungspunkt so auseinander, dass der Verdichtungsbereich den Veran­ kerungspunkt verdrängt.10 Mit anderen Worten: Das Erleben einer z. B. erotischen oder mit Aggressionen geladenen Berührung klam­ mert sich mehr an die Person als an ihre Ereignisquelle der Berührung. Diese ist über die Grenzen der einzelnen Sinne auf komplexe Weise mit situativen Gefühlen und Atmosphären verknüpft.

Berührungen sind Halbdinge mit wechselnden Gesichtern Von Dingen, die über ihre Feststofflichkeit wahrgenommen werden (Stein, Stuhl, Tisch oder Fisch) unterscheidet Hermann Schmitz Halbdinge11, die zwischen Qualen und Dingen in der Mitte stehen.12 Beispiele für Halbdinge sind der Wind, die Wärme, der auf der 10 11 12

vgl. Schmitz 1966: 317. vgl. auch im Detail Schmitz 1989: § 245. vgl. ebd.: 117.

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Haut spürbare Druck, der Blick oder die Atmosphäre. Halbdinge gehen in ihrer treffenden und betroffen machenden Kraft auf. Sie kommen vor, »indem sie zudringlich werden«13. Sie verschwinden und kommen wieder, ohne in der Zwischenzeit an einem anderen Ort gewesen zu sein.14 Berührungen ist mindestens ein flüchtiges Bezie­ hungsmoment eigen, wenn dieses auch auf ganz unterschiedlichen Wegen zustande kommt. Die Unterscheidung zwischen Charakter und Gesicht, worin sich Halbdinge zeigen, hilft beim differenzierten Verstehen von Berührungen. »Der Charakter eines wahrgenomme­ nen Dinges oder Halbdings gibt im allgemeinen zu verstehen, um was für ein Ding (Halbding) es sich handelt und worauf man insofern von ihm gefaßt zu sein hat.«15 Während der Charakter einer Berührung (z. B. die meiner Hand durch die Hand einer anderen Person) relativ beharrt, so kann sich Vieles an der Art und Weise ändern, wie diese Berührung stattfindet. Schmitz spricht hier vom Gesicht eines Halbdings, das »auch bei kon­ stantem Charakter beständig zu wechseln«16 pflegt. Tatsächlich kann schon eine Begrüßung mit der Hand je nach der Art einer persönlichen Beziehung viele Gesichter haben (fest und entschlossen, schlaff und schwach) oder eine situationsspezifische Beziehungsqualität ausdrü­ cken. Das Entschlossene, Schlaffe, Persönliche oder Distanzierende einer Berührung mit der Hand trifft ja nicht als isolierter Eindruck. Entschlossenheit, Schlaffheit, persönliche Nähe oder Distanziertheit gibt es nicht an sich, viel mehr als Spiegel einer spezifischen Situation. Entschlossenheit ist – wie Distanziertheit – im Charakter der Berüh­ rung schon Ausdruck einer Beziehung. Eine moralische Berührung hat dagegen einen ganz anderen Charakter als eine taktile oder olfak­ torische. Aber auch deren Gesichter können facettenreich wechseln (z. B. zwischen flauer Erregung und erschütternder Entrüstung).

ebd.: 122. »Halbdinge unterscheiden sich von Volldingen durch zwei Eigenschaften: 1. Ihre Dauer ist unterbrechbar, d. h. sie kommen, gehen und kommen wieder, ohne dass es Sinn hat, zu fragen, wie sie die Zwischenzeit verbracht haben. 2. Während die Kausalität der Dinge dreigliedrig ist, gegliedert in Ursache (z. B. fallender Stein), Einwirkung (z. B. Stoß) und Effekt (z. B. Zertrümmerung oder Verrückung des getroffenen Gegenstandes), ist die der Kausalität der Halbdinge zweigliedrig und unmittelbar, indem Ursache und Einwirkung zusammenfallen.« (Schmitz 2009: 84). 15 Schmitz 1989: 129. 16 ebd. 13

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2. Berührung und ihre Raum-, Orts- und Zeitbeziehungen Taktile Berührungen finden a priori im proxemischen Raum statt, dem Nah- und Greifraum des Menschen. Dies auch dann noch, wenn sich ein Stock oder ein anderes Distanzmedium als Greifinstru­ ment reklamiert. Olfaktorische Berührungen überschreiten nur unter bestimmten Bedingungen die mittlere Distanz, etwa dann, wenn ein sehr starker und immersiver Geruch oder Gestank von irgendwo aus einer Ferne herbeiweht. Lautliche Berührungen kommen aus naher bis mittlerer Distanz. Visuelle Eindrücke bauen dagegen Brücken zu etwas, das auch weiter entfernt sein kann. Generell sind Abstände beim Zustandekommen einer Berührung wichtig. Sie werden zum einen vom Wahrnehmungsvermögen der Sinne reguliert, hängen zum anderen aber auch von der Entfernung des Verankerungsortes eines Eindrucks ab (der Gegend, aus der er kommt). Schließlich bleiben die von einem sinnlichen Eindruck ausgehenden Berührungen insofern nicht bei sich, als sie oft intermodale Kaskaden von Folge­ berührungen freisetzen. Das Beispiel der Zubereitung eines ganzen Fisches hat das gezeigt. Was man berühren kann und was berührt, hat im Raum seinen Ort und in der Zeit seine Dauer. Der für ein Menü gekaufte Fisch liegt, solange er nicht gegessen wird, z. B. auf einem Teller. Im Vergleich zu seinem gleichsam »wartenden« Daliegen hat die kulinarisch verzeh­ rende Berührung in ihrem performativen Charakter ihre ganz eigene Zeitlichkeit. Der Ort der Zubereitung des Fisches wie seiner Verspei­ sung ist in aller Regel ein Tisch. Aber weil Tische situiert sind, gibt es diese und jene Tische. Ein Tierkadaver liegt, wenn er obduziert werden soll, auf keinem Esstisch, sondern auf einem Obduktionstisch. Mit besonderen Tischen gehen spezifische Berührungsszenarien einher. Ähnliches gilt in der Zeit für die Summe der Momente, die sich in der einen wie der anderen Berührung zur Dauer bündeln. Viele Berührungen sind an »ihren« Ort gebunden – wie die Zubereitung eines Essens an den Raum der Küche. Dabei gibt es Berührungen, die ihre eigene im Raum gleichsam flottierende Dauer haben – wie ein vorüberwehender Geruch oder eine Erinnerung. In der Zeit kann also auch dauern, was nicht über ein feststoffliches Medium an einem relativen Ort im mathematischen Raum verwurzelt ist (wie der Fisch zunächst auf einem Teller im Kühlschrank und dann in der Pfanne). Zwar ereignet sich auch die Berührung durch einen Geruch

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im Raum17, aber es »genügt« ein flächenloser leiblicher Raum der Atmosphären, der spürbar in die Weite oder in die Enge geht. Gerüche wehen wie der Wind ohne Ortsfixierung umher, Gefühle (wie Angst und Freude) oder Imaginationen (Traum oder Erinnerung) bewegen sich affizierend andrängend zwischen den Polen der Enge und der Weite im leiblichen Raum, aber nicht von A nach B in einer Talaue.

3. Berührung als Sozialbeziehung Schließlich tragen Berührungen nicht nur eine raumzeitliche Signa­ tur. Ihre Beziehung zu Raum und Zeit ist infolge ihrer Einbettung in Situationen komplexer. Darauf weist schon die Vorsilbe be- von Berührung hin. Das »be-“ steht für eine transitive Bedeutung der Einwirkung auf etwas.18 Bei Theodor Storm heißt es: »Da das Mittag­ essen eben aufgetragen war, so ruhte die Meisterin nicht, bis auch er seinen Platz am Tische eingenommen hatte; aber er berührte die guten Speisen kaum […]«19. Die Nicht-Berührung ist in diesem Beispiel kein Ausdruck von Ekel vor dem Aufgetischten, sondern Spiegel einer emotionalen Distanz gegenüber der sozialen Situation bei Tisch. Sowohl physische wie gefühlsmäßige Einwirkungen können in ihrem sich bewegenden Hindurch, Hinein oder Hinüber an Grenzen stoßen. Mit anderen Worten: Der Begriff der Berührung impliziert eine potentielle Grenzproblematik. Eine Barriere macht eine Berührung im unmittelbaren Sinne unmöglich – wie das Glas des Aquariums, das den Fisch daran hindert, etwas außerhalb des Glases zu berühren und den Betrachter daran, den Fisch zu ergreifen. Neben materiellen Berührungsgrenzen gibt es solche der Ethik und des Rechts. Sie haben – je nach ihrer Art – ein eher leichtes oder schweres soziales Gewicht. Im Sozialraum entstehen berührungsbedingte Grenzprobleme oft als Folge konfliktiver Bedeutungen, die den zwischenmenschlichen Verkehr regulieren. Wie eine Berührung geschieht, wann sie zwischen wem sein darf und was sie bedeutet, ist in aller Regel keinem Zufall geschuldet, sondern Spiegel der Ordnung einer sozialen Kosmologie. Aus der Perspektive seiner Kindheit beschreibt Rainer Maria Rilke eine emotional spannungsreiche Situation familiären Zusam­ 17 18 19

vgl. Hasse 2017: Kapitel 6. vgl. DWB: Band 1, Sp. 1203. Storm 2005.

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menseins beim Essen. Man saß da »wie aufgelöst« – in einer Leere, in der sich Übelkeitsgefühle ausbreiteten, wie man sie von der See­ krankheit kennt. Eine dabei entstandene kryptische Berührung mit dem Knie seines Vaters umschreibt Rilke als »leise«. Die Kontaktauf­ nahme unter dem Tisch gab dem Kind »die Kraft […], die langen Mahlzeiten auszuhalten.«20 Die körperliche Berührung war dabei von untergeordneter Bedeutung, wie hätte er sie sonst auch als »leise« erleben können. Viel mehr war die spürbare taktile Geste eine Form leiblicher (und atmosphärischer) Kommunikation. Unter den Halbdingen können auch Phänomene der Natur berühren, neben dem Wind z. B. das Feuer. Wenn die Flamme beginnt, vom Haus des Nachbarn Besitz zu ergreifen, hat sie es schon berührt – um es sukzessive aufzuzehren. Die Berührung durch einen Blitzschlag (s. auch Abschnitt 5) hat im Unterschied zu dem Feuer, das ein übler Zeitgenosse gelegt hat, um Schaden anzurichten, zunächst keine (soziale) Bedeutung. Persönlichkeitsverletzende Berührungen setzen indes keine physische Gewaltanwendung voraus. Ein Blick reicht, je nachdem, welche gestische Suggestion von ihm ausgeht, um persön­ lichkeitszersetzende Miss- oder gar Verachtung zum Ausdruck zu bringen. Stechende und bohrende Blicke können nachhaltiger berüh­ ren als Schläge mit der Faust. Schon eine hauchhafte Berührung mit den Fingerspitzen kann (je nach der Qualität einer zwischenmensch­ lichen Beziehung) ausreichen, um das Selbstbewusstsein einer Per­ son zu destabilisieren. Gesten leiblicher Kommunikation können stark genug sein, um mit der Eindrucksmacht einer Atmosphäre das gefühlsmäßige So-Sein eines Menschen umzustimmen – zur Euphorie oder zur Depression hin. Aber nicht nur Art und Heftigkeit einer Berührung machen den stimmenden Ton einer Geste aus. Von atmosphärisch grundlegender Bedeutung ist auch das Medium, mit dessen Hilfe eine Berührung ausgeführt wird. Eine Hand berührt anders als ein Fuß, ein scharfkan­ tiger Stein anders als eine weiche Feder. Stets kommt es vor allem auf die Situation an, in deren Rahmen eine Berührung geschieht. Es gibt die Liebkosung mit der Haut des Gesichts ebenso wenig im Allgemeinem wie die herabwürdigende Berührung mit einem abfälligen Blick. Wie eine Berührung berührt, wurzelt in beziehungs­ spezifischen Bedeutungen. 20

Rilke 1997: 27.

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Berührung – leibliche Erfahrung im Kontakt

Berührungen drücken soziale Beziehungen also nicht nur aus; sie tragen auch zu ihrer Konstitution bei. Auf kollektivem wie individu­ ellem Niveau entstehen auf der einen Seite fruchtbare Beziehungen, auf der anderen Seite finale Zerstörungen. Aber auch jenseits des Sozialen können Kontakte Beziehungen stiften, selbst dann, wenn sie ohne jede Intention einfach nur geschehen. So berührt schon eine Windböe oder ein vorüberwehender Geruch. Auch diese Eindrücke können das subjektive Ergehen um-stimmen und damit die Bezie­ hung des Erlebenden zu sich selbst und einer aktuellen Situation (z. B. in Bezug auf das Wetter) verändern. Zahlreiche Berührungen ziehen aufgrund der Vielfalt der Bedingungen ihres Zustandekommens zumindest potentiell konträre emotionale Reaktionen nach sich. Mit anderen Worten: Eine Berührung kann äußerlich bleiben und nur den Körper einer Person (beinahe unbemerkt) tingieren. Ebenso kann sie ins Zentrum emotionaler Betroffenheit einschlagen wie der Blitz ins trockene Holz. Auf einem überindividuellen Niveau gibt es politische Ereig­ nisse, die auch diesseits kriegerischer Handlungen berühren, wie die Veränderung der Handels-Modalitäten mit Großbritannien nach dem sogenannten »Brexit«. Sie treffen das Individuum, wenn eine Lieferung von der Zollabfertigung aufgehalten wird oder eine Ware sich (aus politischen Gründen) verteuert. Eine Berührung als Folge juristischer bzw. fiskalpolitischer Entscheidungen muss aber nicht in eine persönliche Betroffenheit münden. Die Beziehungsnetze der globalen Ökonomie sind komplex wie kompliziert ineinander verwi­ ckelt, und die »Berührungspunkte« der Geld- und Warenströme als Ausdruck autopoietischer Markt-Beziehungen abstrakt.

4. Atmosphärische Berührungen Berührungen haben oft mit Grenzen zu tun, sie finden auf ihnen statt und machen sie bewusst; sie berühren sie wie sie sie überschreiten, annullieren oder verändern. Stets müssen sie über eine Schwelle hinweg – eine physische, emotionale, atmosphärische oder politi­ sche. Meistens liegen diese Grenzen nicht geordnet nebeneinander, sondern chaotisch in- und übereinander. Schon ein zudringlicher Blick kann stark genug sein, um atmosphärisch in einen privaten

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Raum vorzudringen.21 Gerade Blicke machen die Unumkehrbarkeit von Richtungen im Raum leiblicher Kommunikation deutlich. Sie illustrieren die atmosphärische Macht einer Berührung diesseits phy­ sischer Kontakte. Blicke werden als leibliche Gesten in einer gro­ ßen Differenzierung des habituellen Ausdrucks geworfen, empfan­ gen, genommen und abgewehrt – zwischen Verführung, betörender Schmeichelei, sozialer Bindung, sentimentaler Sedierung, Diszipli­ nierung, Herabwürdigung etc. Blicke fungieren in ihrer immersiven Berührungsmacht als Medien der Herstellung sozialer Nähe oder Distanz. Wie alles was Menschen tun, sind sie situationsabhängig und mit multivalenten Bedeutungen geladen. Über die Macht des Blickes sagt Schmitz, man werde von ihm getroffen: »Man spürt den Einschlag am eigenen Leib und weiß überraschend genau, wann einem der Andere in die Augen blickt und wohin er blickt.«22 Es versteht sich von selbst, dass Blicke vor allem dann atmosphärisch berühren, wenn sie auf Beziehungen einwirken oder deren Ausdruck sind. Ein Beispiel aus Canettis Stimmen von Marrakesch illustriert das. Darin geht es um ein tollwütiges Kamel, das zum Schlachthaus geführt wird. In der turbulenten Marktsituation gibt es zwei unauf­ hebbar ineinander gelagerte Atmosphären. Die eine zentriert alle sinnlichen Eindrücke, die den gewaltsam zerrenden Umgang mit dem Tier betreffen. Die andere betrifft die aus diesem Situationserleben resultierende ethische Berührung, die sich an dem atmosphärisch spürbaren Eindruck gleichsam festbeißt, in dem »die Luft um das Kamel […] von Angst geladen«23 war, denn – so der Erzähler – das Tier habe den Schlächter schon gerochen. Ein sinnlicher und ein ethischer Eindruck haben sich in der aktuellen Situation des Mit-Seins zu einem Ganzen verbunden. Dabei erweist sich der Kör­ per des Kamels als Medium, das im Sinne von Karl Jaspers eine »Grenzsituation« vermittelt. Das Ergehen des Tieres darin drückt sich in spezifischen Verhaltensmustern, Bewegungsgestalten und Geräuschen aus, die im teilhabenden Erleben einen ethischen Impuls auslösen. Der Körper des Kamels ist das Berührungsmedium, an dem sich das leibliche Befinden des Tieres widerspiegelt – spürbar und über das Sichtbare hinaus.

21 22 23

vgl. dazu Hasse 2022: 1. Schmitz 1994: 126. Canetti 2010: 10.

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Berührung – leibliche Erfahrung im Kontakt

Mit der Präsenz des Tieres ist eine atmosphärisch im Raum schwebende Existenzangst gegenwärtig; sie äußert sich in lautem Schreien, Brüllen und bizarren Zuckungen. Das sich damit wachru­ fende ethische Problem bedarf der Aussprache nicht, weil es sich durch die Szene von selbst zu verstehen gibt. Die im engeren Sinne affizierende und immersiv berührende Atmosphäre hat zwei Verdichtungspunkte: einen unmittelbar sinnlich-leiblichen und einen ethischen, der auf die Art und Intensität der gefühlsmäßigen Wahr­ nehmung zurückwirkt. Was eindrücklich wird, steht in einem überaus scharfen Kontrast zu allem Gewohnten. Es weckt die (sinnliche) Aufmerksamkeit und in der Folge dieser Berührung eine (morali­ sche) Bewertung. Die emotionale Resonanz auf das Geschehen ist eine pathische Antwort auf das martialische Agieren. Deshalb ist auch nicht das im engeren Sinnen erlebte Geschehen berührend, sondern das aus der Situation transzendierende Erhabene, das in seiner emotionalen Ambivalenz fesselt und zugleich zurückschreckt: »Die Ästhetik des Erhabenen ist eine Ästhetik des Widerstreits.«24 Was bei Jean-François Lyotard mit der Gleichzeitigkeit von Lust und Unlust beschrieben wird25, findet bei Hermann Schmitz in Gefühlen einer zwischen Enge und Weite gespaltenen Leiblichkeit würdigende Aufmerksamkeit. Das Merkmal des Erhabenen besteht darin, dass seine tragenden Gefühle nicht polar gegeneinander stehen wie das Schöne hier und das Hässliche dort, sondern ganzheitlich ineinander gespannt sind.

Der Sonderfall des Numinosen Mit einer Berührung durch doppelwertige Gefühle hat man es auch bei Atmosphären im sakralen Raum zu tun. Medien der Gewahrwerdung des Numinosen sind in den verschiedenen Religionen auratische Dinge und flüchtige Halbdinge, beharrende Gegenstände und in besonderer Weise Atmosphären. Christliche Kirchen beeindrucken durch eine reichhaltige Kombination von Ausdrucksmedien, die sich zum einen der Architektur des Kirchenschiffes verdanken (u.a. Höhe, Größe und Weite des Raumes), sodann auratisch strahlender Dinge (Pfeiler, Altar, Fenster, Skulpturen) und schließlich hergestellter 24 25

Welsch/Pries 1991: 14. vgl. Lyotard 1989: 112f.

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Bedingungen des Lichteinfalls (Gestaltung der Fenstergläser) sowie liturgischer Praktiken mit dem Effekt einer gewissen Sedierung der Gläubigen (z. B. durch den Gebrauch von Weihrauch). Affizierend ist letztlich die Wirkung all dieser Arrangements, also das atmosphärisch aus ihnen erwachsende Gefühl einer mythischen Anwesenheit Got­ tes. Die atmosphärische Sprache der Moscheen folgt zum Teil ande­ ren Wirkungsgesetzen als die christlicher Kirchen. Man denke an den Ausdruck einer sich im Raum ausdehnenden »Leere«26, wie sie in besonders eindrücklicher Weise in der Kölner Zentralmoschee (entworfen von Paul und Gottfried Böhm) erfahren werden kann. Für Rudolf Otto ist eine Moschee »von allen Bauwerken der Welt das numinoseste«27. Die Spürbarkeit mystischer Leere ist von grund­ legender Bedeutung für das Zustandekommen von Atmosphären im heiligen Raum. Aber auch im japanischen Shintō-Schrein spielt sie eine zentrale Rolle.28 Im atmosphärischen Sinne ist sie Voraussetzung für die Konstitution des Numinosen, eines Gefühls, in dem sich die Gegenwart eines Jenseitigen (bei Heidegger nicht Gott, sondern »das Göttliche«) zu spüren gibt. Das Numinose ist ein ergreifender und bewegender »Gefühlsre­ flex im Gemüte«29, der jenes Berührungsgefühl vermittelt, das sich im Moment der atmosphärischen Gewahrwerdung des Heiligen ein­ stellt. Eindrucksmächtige Wirksamkeit entfaltet darin das mysterium tremendum, das zwischen »schwebender, ruhender Stimmung ver­ sunkener Andacht«30 und einem Absinken »zu fast gespenstische[m] Grauen und Schaudern«31 aufgespannt ist. Furcht und »Schrecken voll innerem Grauen«32 bringen »das Höhere ziemlich rein zum Anklin­ gen«33. Der Erfahrungskern dessen, was numinos berührt, ist etwas Gespenstisches, das stets an der Idee eines Gottes bzw. Göttlichen haf­ tet. Affizierende Gewalt geht dabei vom inneren Erzittern angesichts einer Erfahrung des Heiligen aus. »Mystisches Erschauern«34 bildet 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Otto 1923: 109. ebd. vgl. ebd.: 112. Otto 1924: 12. ebd. ebd.: 12f. ebd.: 14. ebd. ebd.: 18.

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einen emotionalen Kontrapunkt zum Gefühl »eigener Nichtigkeit, eigenen Versinkens gegenüber dem erlebten Schauervollen«35. In der Ambivalenz des Numinosen gärt ein Übermächtiges, das sich im »Gefühl eigenen Versinkens, Zunichtewerdens, Erde-, Asche- und Nichts-Seins« konzentriert und so zum »numinose[n] Rohstoff für das Gefühl der religiösen ›Demut‹“36 wird. Es war stets Aufgabe der Baukunst, die Erfahrbarkeit des Numi­ nosen im Medium des Erhabenen architektonisch anzubahnen bzw. vorzubereiten. Mittler war und ist die Gestaltung des Raumes und seine Ausstattung mit auratisch »strahlenden« Dingen37 und Halb­ dingen wie dem Licht: »Erst das Halbdunkel ist ›mystisch‹. Und sein Eindruck vollendet sich, wenn es mit dem Hilfsmomente des ›Erha­ benen‹ sich verbindet.«38 Deshalb sollte die Kuppel der Hagia Sofia nach dem Bericht des Prokop (dem Geschichtsschreiber von Kaiser Justinian) eine »überwältigende Größe«39 haben und den Eindruck wecken, »daß der Kirchenbau zugleich schwebt und auf gesicherter Grundlage ruht.«40 Die Kuppel sollte dank ihrer extraordinären Bau­ ausführung aber nicht (gleichsam passiv) nur über allem schweben. Sie sollte auch das Licht des Tages in einer Weise aufnehmen, dass der Eindruck entsteht, »der Platz werde nicht von außen her durch die Sonne erleuchtet, sondern empfange seine Helligkeit von sich aus, eine solche Lichtfülle ist über das Heiligtum ausgegossen.«41 Das Arrangement des Erhabenen lässt sich im Bereich sakraler Architektur als eine Art gestisches Bauen begreifen, das eine Berührung durch das Göttliche ermöglichen soll. Nur selten »passen« Eindrücke des Numinosen in ihrer ergrei­ fenden Macht durchs Nadelöhr satzförmiger Rede. Leibliche Span­ nungen, die sich infolge der widersprüchlichen Spreizung der Ästhetik des Numinosen aufgebaut haben, können sich in Gefühlen entladen. Otto weist darauf hin, dass dies auch in der Artikulation numinoser Urlaute geschieht. Das »Hu!« ist ein solcher »Lautausdruck nicht eines Schreckens überhaupt, sondern eines Schreckens mit leichtem

35 36 37 38 39 40 41

ebd. ebd.: 20. vgl. ebd.: 78. ebd.: 81. Prokop 1977: 29. ebd. ebd.: 25.

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Grausen, also eines numinosen Schreckens.«42 In diesem Sinne »funktioniert« auch das »Om« in der Brahmanmystik. Das darin hal­ lend ins Endlose auslaufende »m« »ist eigentlich nichts als eine Art Raunen, das reflexartig in gewissen numinos-magischen Zuständen von Ergriffenheit als eine Selbstentladung des Gefühls von fast fysi­ kalischer Nötigung«43 aus dem Inneren herausströmt.

5. Das Plötzliche Indem eine Berührung dauert, verweist sie auf ein Sein, mehr aber noch auf ein Werden. Trotz aller Plötzlichkeit »ist« sie in einem Moment nicht einfach da. Sie bahnt sich an, nähert sich. Sie kann sich in Gestalt eines situativen Gärens von einem (nah)räumlichen Ort her ankündigen, aber auch plötzlich in die Gegenwart einbrechen. Aber auch dann dauert es, bis sie (vor dem Hintergrund einer Protention44) vernehmbar wird. Schon in der Vorgestalt keimt ein zumindest in Umrissen vorhersehbares Gesicht dessen, was schließlich eindrück­ lich wird. Das vage Bild einer solchen Vorgestalt findet in der Erinne­ rung abgesunkenen Wissens um etwas, das dem Erwarteten ähnlich ist, oft zusätzlichen Halt. Längst nicht alle Berührungen kündigen sich an wie die lang­ sam näherkommende Hand oder eine Kollision, die sich Schritt für Schritt in einen akuten Konflikt zuspitzt. Viele Berührungen kommen plötzlich wie aus dem Nichts. Sie überraschen und fordern die Rekon­ stitution der Orientierung heraus. Es liegt auf der Hand, dass es im Hinblick auf die Wege der leiblichen Kommunikation einen relevan­ ten Unterschied macht, ob ein Ereignis (wenn auch nur kurzzeitig) vorhersehbar ist oder plötzlich überfällt. Die Art und Weise, in der sich ein Eindruck raumzeitlich nähert, wie und als was er erlebt wird, hat Rückwirkungen auf die Affizierung vom Ereignis und eine daraus erwachsende Stimmung des Mit-Seins. Schon die Näherung einer Berührung hat in ihrer Sinnlichkeit wie der daraus resultierenden Bewegtheit eine pathische Bedeutung. Keine Berührung ist nur ein Reiz, der allein neuronal bzw. biochemisch in körperlichen Organen verarbeitet wird. Daher spricht Jean-Paul Sartre von der »erlittenen« 42 43 44

Otto 1923: 11. ebd.: 14. Zur Bedeutung der Protentionen in der Wahrnehmung s. auch Schmitz 1989: 158f.

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Emotion eines Eindrucks. Über dessen pathische Qualität sagt er: »Man kann sich von ihr [der Emotion, JH] nicht nach Belieben befreien; sie geht von selbst zu Ende, aber Einhalt gebieten können wir ihr nicht.«45 Im Eindrücklichwerden einer Berührung verdient das Plötzliche eines Geschehens spezielle Aufmerksamkeit. Die Orkanböe bricht im Modus des Plötzlichen in eine eben noch dahinwährende Ruhe hinein – wie der Blitz die kontemplative Stille zerreißt. Das Plötz­ liche ist eine »Absage an Kontinuität des Zeitbewußtseins«46 und deshalb ein erkenntnistheoretisch »gefährlicher Augenblick«47. Das Plötzliche vermittelt gleichsam auf der Stelle die zumindest tempo­ räre Verwirrung. Hermann Schmitz versteht es auch als »absoluten Augenblick«48, in dem die entfaltete Gegenwart (das lebensweltlich selbstverständliche Wissen um die Bezugspunkte der Orientierung) zusammenbricht – wenn auch nur für Momente. Ein absoluter Augenblick kennt keine Relativierung, weshalb er auch dazu führt, dass die meisten plötzlich eintretenden Berührungen die Aufmerk­ samkeit bannen. Unter der Macht dieses Banns spitzt sich ein schreck­ haft affizierendes Gefühl schlagartig in die Enge des Leibes zu.

Die Plötzlichkeit des Blitzes Ein Blitzschlag repräsentiert das Plötzliche einer Berührung per excellence. Aber es gibt erlebnis- bzw. perspektivisch bedingte Unter­ schiede. Ein Blitzereignis dürfte in eine lediglich fade Berührung münden, wenn sich das Gewitter in sicherer Entfernung am Horizont abspielt. Davon unterscheidet sich das (für die meisten Menschen nie eintretende) Erlebnis des unmittelbar vor den eigenen Augen (z. B. in einen Baum) einschlagenden Blitzes. Dieser schlägt ja nicht nur in einen Baum ein, sondern – wenn auch auf ganz andere Weise – zugleich ins Befinden des Dastehenden. Er berührt dann ungleich intensiver und immersiver als der sich ins ästhetische Bild einer Land­ schaft geradezu romantizistisch einfügende Blitz »da ganz hinten«. Wo eine Person im Moment eines Blitzschlages leiblich zugegen ist, 45 46 47 48

Sartre 1964: 185. Bohrer 1981: 43. ebd. Schmitz 1990: 257.

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gibt sich urplötzlich eine Sensation (im Sinne des Wortes) zu spüren. Auch wenn es in diesem Moment nur diesen einen »originalen« Blitzeinschlag gibt, so hat das Ereignis doch keinen singulären Cha­ rakter. Genau betrachtet impliziert der Blitzschlag eine ganze Kette mikrologischer Abläufe. Tatsächlich ist in der »Sensation« von Anfang an Vieles unauf­ löslich in Einem: Zunächst der immens laute Knall eines Donners und ein greller Lichtblitz. Unmittelbar darauf, d. h. ohne irgendeine Unterbrechung oder »Pause«, folgt (im Vergleich zur Schnelligkeit von Donner und Lichtblitz scheinbar »langsam«) die Spaltung des Baumstammes. Dies ist ein Vorgang, in dem wiederum segmentier­ bare Eindrücke dynamisch ineinander verlaufen: die sichtbare und hörbare Aufsplitterung des Holzes und das damit einhergehende Krachen des zu Boden gehenden Stammes, das sich schließlich in einem lautlichen Rauschen und spürbaren Beben des Bodens abschließt. Danach breitet sich eine unheimliche Stille aus, die für Momente die Aufmerksamkeit einfriert. Dieses Erstarren macht den Schwefelgeruch noch eindrücklicher, der in der nahen Umgebung der Einschlagstelle wie aus dem Nichts aufsteigt und die ohnehin schon überforderte Aufmerksamkeit in einen sinnlichen Spagat zwingt. Im Moment der sich nun ausbreitenden Atmosphäre des »Nichts« wird die Wahrnehmung auf neue Weise herausgefordert. Am Boden liegen zahllose Teile des zersplitterten und geborstenen Baumstam­ mes, überall zerbrochene Äste, in kleine und kleinste Teile zerfetztes Faserzeug, frisches chaotisch herumliegendes Laub, umhergewirbelte Holzstücke und Splitter – Undefinierbares, das noch eben durch die Luft geflogen ist. Die Frage, was an diesem Ereignis berührend ist und wie sich diese Berührung zu spüren gibt, mündet in eine Kaskade von Folgefra­ gen, in deren Fokus das objektive Geschehen viel weniger fragwürdig erscheint als dessen Auswirkung auf das persönliche Mit-Sein und Befinden. Die affizierende Berührung basiert auf einer Wahrneh­ mung, die aus mindestens zwei Gründen ergreifend ist: Erstens, weil etwas gänzlich Ungewohntes geschieht (zu dessen Erfassung folglich auch treffende Protentionen weitgehend fehlen), und zweitens, weil die überaus schnelle Gleichzeitigkeit der eng aneinander gereihten Teilprozesse die Wahrnehmung an den Rand ihres Fassungsvermö­ gens bringt und die Aufmerksamkeit in gewisser Weise fixiert. Das Geschehen berührt auf einer Objektseite, zugleich aber auch in der Art seines Erlebens auf der Subjektseite einer Person. Die emotio­

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nale Bannung der Aufmerksamkeit, der augenblickliche Einbruch in eine Situation »primitiver Gegenwart«, in der die Bezugspunkte der Orientierung zu kollabieren beginnen, sind Antworten eines Individuums auf ein prekäres Geschehen. Man könnte auch von einer pathischen Resonanz der Wahrnehmung auf etwas zunächst Unfassbares sprechen. Mit anderen Worten: Gegenstand der Berührung ist angesichts eines eindrücklich werdenden nicht-alltäglichen Geschehens Vieles: (a) das »ganze« Ereignis, das noch »vor« jeder Zuschreibung seines Charakters als eine Natur-Ekstase die Aufmerksamkeit bannt sowie – je nach segmentierender Aufmerksamkeit – (b) der donnernde Knall und der gleichzeitig grell aufzuckende Blitz und der damit einhergehende Schreck, der das aktuelle Bewusstsein eines Hier und Jetzt außer Kraft setzt; (c) das visuelle und lautliche Spektakel des niedergehenden Baumes; (d) das im Prinzip gleichzeitige Zerbrechen des Stammes, sodann (e) sein zu Boden gehender Sturz, (f) das dabei entstehende laute Krachen, (g) ein sich plötzlich ausbreitender Schwe­ felgeruch; (h) die Seltenheit einer solchen »Begegnung«49 überhaupt, d. h. die bewusste situativ-unmittelbare Teilhabe an einem Naturer­ eignis und (i) die aufschreckende Irritation durch die Plötzlichkeit all dessen, was sich mit einem Schlage ereignet. Schließlich stellt sich die Frage nach der Schwelle, auf der das eindrückliche Erleben in ein (in sich wiederum plurales) Gefühl transzendiert. Mit anderen Worten: Was macht aus einem Eindruck ein berührendes Gefühl, das jede Aufmerksamkeit überlagert, die noch an ein Thema oder objektiv Gegebenes gebunden wäre? War es – auf einer Metaebene der Wahrnehmung – ein gleichsam »tierhaf­ ter« Schreck, in dessen Bann die Welt- und Selbstwahrnehmung an eine Grenze gestoßen ist? Schon die hypothetische Einnahme dieser Perspektiven macht auf eine analytische Sichtweise aufmerksam, die der Situation einer aktuellen sinnlichen Involviertheit in ein plötzlich ergreifendes Geschehen kaum gerecht wird. Dennoch machen es die möglichen Perspektiven erforderlich, noch genauer zu unterscheiden zwischen den Phasen dessen, was auf der Objektseite vor sich geht und dem, was in Augenblicken dieses Geschehens wahrgenommen werden kann. Dabei fallen zwei Situationen auseinander: erstens eine „›Begegnung‹ im eigentlichen Sinne findet erst statt, wenn der Mensch es ist, der mit der Wirklichkeit zusammentrifft« sagt Romano Guardini. Das bedeutet zunächst nur, dass es sich bei einer Begegnung um keinen medial vermittelten Eindruck handelt, es sei denn, dieser gehört selbst zur Wirklichkeit dazu (Guardini 1965: 11.). 49

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ganzheitliche Situation, in der die innere Pluralität des Geschehens augenblicklich erfasst wird und zweitens eine Folge segmentierter Situationen, in denen das Erlebte im Einzelnen für die durcharbeitende Reflexion in Erinnerung gerufen wird. Nicht nur das Ereignis hat seine Dauer (der Blitzschlag und seine unmittelbaren Folgen); auch die Berührung erstreckt sich in der Zeit (der Wahrnehmung des Ereignisses). Etwas Plötzliches kann in sei­ nem Augenblicks-Charakter aber nicht in einzelne Subsachverhalte segmentiert werden. Erst in der (abgeklärten) Retrospektive emotio­ naler und zeitlicher Distanz kann es analytisch in Teile zerlegt und durch die Abhebung von Einzelheiten zur Sache der Reflexion werden. In der aktuellen Wahrnehmung ist alles Einzelne in einem rahmenden Ganzen aufgelöst. Daher kann das Erhabene des Gewittergeschehens auch erst in der Retrospektive ins Bewusstsein treten. Ein Blitz ist (gleichsam paradigmatisch) »das Unerwartet-Über­ raschende, das Gespenstisch-Furchtbare, das Übermächtige, das ganz Prachtvolle, das Blendende, das Entsetzende und Entzückende«50. Sein Erleben ist deshalb nach Otto auch »hart am numinosen Ein­ druck, ja häufig dieser selbst.«51 Die Enge des Plötzlichen verdankt ihre berührende Eindrucksmacht dem Schreck, der wie ein Pfahl in den Leib fährt, mit anderen Worten einer unmittelbaren, leiblichen Resonanz.52 Das Eindrucksmoment der Berührung ist im Affekt gefangen und gegenüber nachdenkenden und reflektierenden Gedan­ ken, detaillierten Erwägungen und Überlegungen, Berechnungen und sachlichen Kommentaren zunächst abgeschottet. Erst nach einer »Abkühlung« der Gefühle öffnet sich ein Spielraum, in dem eine Person in der nacherlebenden Explikation auf das Erlebte antworten kann. Schmitz fasst diesen Wechsel der persönlichen Situation mit dem Übergang von primitiver und entfalteter Gegenwart.53 Solche Distanzierung vom aktuellen Geschehen braucht zumindest so viel Otto 1923: 13. ebd. 52 Auf eine ganze Fülle unmittelbar sinnlich-leiblicher Resonanzen auf das Gesche­ hen in der Umgebung einer Person weist auch Hartmut Rosa hin, wenn auch unter der Kategorie »körperliche« Weltbeziehungen (vgl. Rosa 2016: 83ff.). 53 Mit dem Begriffspaar von primitiver und entfalteter Gegenwart macht Schmitz auf eine Differenz zwischen den Graden bewusster Orientierung in der Welt aufmerksam. Die fünf Momente der Orientierung (das Hier, das Jetzt, das Sein, das Dieses und das Ich) sind in der primitiven Gegenwart ineinander verschmolzen, um sich durch die Nötigung zur Handlung zu entfalten, auf dass das Subjekt seiner Handlungswelt gerecht werden kann (vgl. Schmitz 2009: 55ff.). 50

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Zeit, bis das Eindrückliche in subjektiv verfügbare Muster der Inter­ pretation eingeordnet werden kann. Nicht gesagt ist damit, dass es nur im Fokus primitiver Gegen­ wart zu einer Berührung kommen kann. Indes ist eine Berührung aus emotionaler Distanz in ganz andere Weise vom Welt- und Selbstbe­ wusstsein getragen als jene, die im plötzlichen Augenblick »festsitzt«. Deshalb reklamiert die plötzliche Berührung im Allgemeinen auch die durcharbeitende Reflexion des Erlebten. Jedoch erst aus der Sicherheit des Abstands vom Einbruch in primitive Gegenwart kann verständlich werden, was eine leiblich unmittelbar angreifende Affizierung auf bestimmte Weise im Ergehen bewirkt.

Das Plötzliche in der Imagination In einer Erzählung von Edgar Allen Poe bewirkt das Plötzliche einer katastrophischen Situation auf See einen ultimativen Alptraum. Seine Erzählung Ein Sturz in den Malstrom aus dem Jahre 1841 wird geradezu von der Eindrucksmacht eines Plötzlichen getragen, das sich in wechselnden Gesichtern existenzbedrohender, übermächtiger Situationen zeigt. Im Dauermodus der Übertreibung schildert Poe im Malstrom »ein Erlebnis, wie es zuvor noch keinem Sterblichen widerfuhr«54 – ein Geschehen, in dem er »sechs Stunden tödlichen Grauens […] erduldete«55. Was er darüber schreibt, berührt nicht nur in einem flüchtigen Sinne wie ein ephemerer Hauch, sondern existenziell. Nicht zuletzt wegen der Maßlosigkeit seiner dramatisie­ renden Rede. Das Ekstatische ist es dabei, das in maximaler Intensität und Immersivität berührt: »Weniger als eines Tages bedurfte es, um dieses Haar von pechener Schwärze in Weiß zu verwandeln, um meine Glieder erschlaffen und meine Nerven schwach werden zu lassen.«56 Vieles von dem, was ihn angriff, berührte ihn im wörtlichen Sinne, vor allem aber plötzlich. Schließlich sollte ihn der leibhaftige Schrecken in die Tiefe der See reißen: »Plötzlich – ganz plötzlich«57 nahm der Wirbel ein riesiges Ausmaß an, »ganz plötzlich [wurde das Schiff] von 54 55 56 57

Poe 2011: 33. ebd. ebd. ebd.: S. 38.

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einer Brise«58 back getrieben und es »schoß dann wie ein Blitzstrahl in der neuen Richtung fort.«59 Das Plötzliche berührt meistens durch eine Bewegung – eine äußerliche (wie eine Orkanböe) oder einer befindliche (wie ein Schreck). Edgar Allen Poes Hypersensibilität und Offenheit für die Erwäh­ nung einer ganz und gar undenkbaren Berührung resultiert aus seiner Stimmung, die ihn dazu bringt, seine Sensibilität extrem zuzuspitzen. Zweifellos verfügte Poe über außergewöhnliche Fähigkeiten, das (fik­ tiv) um ihn herum Geschehende wie das, was davon am eigenen Leib spürbar wurde, in Worte zu fassen. Über die welt- wie selbstbezogene Schärfe seiner Beschreibungen sagte Charles Baudelaire: »Er zerlegt das Allerflüchtigste, er wägt das Unwägbare, und beschreibt mit jener bis ins Kleinste gehenden wissenschaftlichen Manier, deren Wirkungen erschreckend sind, jene ganze Welt des Wahns, die den Nervenmenschen umschwebt und ihn ins Verderben führt.«60 Dass er in seinem ekstatisch affizierenden Stil die Grenze zwi­ schen suggerierter Wirklichkeit und Phantasie für jedes durchschnitt­ liche Vorstellungsvermögen überschritten hatte, weist auf das Maß einer Berührung hin, die erst Produkt seiner Phantasiegebilde war. Seine Hypersensibilität war aber auch Ausdruck seiner prekären persönlichen Situation als gesellschaftlich umstrittener Autor. »Weil er einen Stil schrieb, der allzu hoch über dem Durchschnitt lag«61, erntete er viel Unverständnis und Beschimpfungen für seine Schrif­ ten. Aufgrund seines Hangs zum Alkohol62 und einer Anfälligkeit für delirierende Zustände verstarb er schließlich im Alter von nur 37 Jahren. Das Delirium tremens hatte ihn besiegt, »jener Schreckensgast, der sein Gehirn schon ein- oder zweimal heimgesucht hatte.«63 Berührend sind in seinem Text zwei Quellen: zum ersten (in einer imaginierten Objektwelt) die ekstatische See, seine 70-Tonnen-Schmack samt Mannschaft und der alles in seinem Fortbestand bedrohende Malstrom. Zum zweiten (in seiner subjektiven Vorstel­ lungswelt) das eigene gleichsam erträumte Ergehen in der Mitte des sich öffnenden Strudels mit seinem »schimmernd stäubenden Was­ ebd.: S. 48. ebd.: 54. 60 Baudelaire: in Poe 2011: 65. 61 ebd.: 35f. 62 Charles Baudelaire merkt dazu an, der »Alkoholdunst seines Atems [hätte] an einer Kerzenflamme Feuer gefangen«; ebd.: 36f. 63 ebd.: 47. 58

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serschaum«, jenem »fürchterlichen Trichter«64, der sich in abgründige Tiefen verliert. Die Trennung zwischen objektivem Geschehen und subjektivem Befinden lässt sich in vielen seiner Beschreibungen aber gar nicht nachvollziehen. An dem geradezu übersinnlichen Geschehen, dessen apokalyptische Macht ihn so mächtig erfasst hat, ging durcheinander, was nicht nur um ihn herum, sondern auch an und mit ihm geschah. So konnte es ihm auch nur selten gelingen, ekstatische Ereignisse ohne Bemerkungen zu seiner affektiven Invol­ viertheit auszudrücken. Poe beschreibt einen Sturm nicht wie ein Wettereignis, vielmehr wie ein böses Wesen vom Charakter eines entfesselten Ungeheuers: »Zur Flutzeit rast der Strom mit tobender Schnelle […], doch selbst wenn er dann ins Meer zurück verebbt, kommt seinem Brüllen noch der lauteste und fürchterlichste Katarakt kaum gleich; noch meilenweit vernimmt man sein Brausen, und die Strudel oder Trichterschlünde sind von solchem Ausmaß und von solcher Tiefe, daß sie ein Schiff, welches in den Bereich ihres Sogs gerät, unweigerlich verschlucken und auf den Grund hinunterreißen, um es dort auf den Felsen in Stücke zu zerschlagen.«65

Im intuitiven Wissen um die Unmöglichkeit einer Beschreibung all dessen, was er letztlich dann doch in Worte fasst, merkt Poe an: »Die Beschreibung eines Orkans, wie er damals losbrach, auch nur zu versuchen, wäre Torheit.« 66 Es macht seine persönliche Rolle und gesellschaftliche Situation als Autor aus, dass er sich diese Quadratur des Kreises leisten kann. So gibt er im phantastischen Spiegel der Ima­ gination einer im Prinzip unvorstellbaren existenziellen Berührung ein Gesicht. Dabei schwingen sich seine Einlassungen immer wieder ins gänzlich Absurde auf. Noch auf der Grenze zwischen Leben und Tod münden sie in die Meta-Reflexion numinoser Eindrücke. Umso mehr insistiert Poe (als eine sich selbst parodierende »Warnung« vor dem halluzinativen Gehalt seiner Erzählung) in einer Vorbemerkung auf dem Wahrheitsgehalt seiner prahlerisch anmutenden Rede: »[…] ich begann mir Gedanken zu machen, welche herrliche Sache es doch sei, einen solchen Tod zu finden, und wie kindisch von mir, ange­

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Poe 2011: 38. ebd.: 40. ebd.: 49.

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sichts einer so wundersamen Offenbarung von Gottes Macht an ein so jämmerliches Ding wie mein eigenes bißchen Leben zu denken.«67

Darin anklingende Mächte des Numinosen bleiben als maximale Berührung von einem Göttlichen grotesk. Angesichts des Umstandes, dass es eine »authentische« Berührung weder mit dem nahen Tod noch im Kampf ums Überleben im Auge des Orkans geben kann, mag die Simulation existenzieller Berührungen einer ganz anderen Berührung gegolten haben: dem Wunsch nach einer imaginären Nähe zu seiner fiktiven Leserschaft, die sich als Folge seines suggestiven bis dissuasiven Stils aufs Ekstatische eingestellt haben mag. Wo sonst sollten die heftigen Reaktionen auf seine Werke hergekommen sein, als aus der Erregung über eine Schreibweise, die die Vorstel­ lungswelt der »normalen Leute« krass überfordert hatte. Selbst in jenem Augenblick, in dem er mit seinen Gefährten kopfüber in den Abgrund gerissen wurde und noch »ein Stoßgebet zu Gott« murmelte, spielt er mit dem ganz und gar Unvorstellbaren: »Nie werde ich das Empfinden von Grauen, Schrecken und Bewunderung vergessen, mit dem ich um mich sah.«68 Die simulierte Nähe-Berührung galt dem schönen Grauen der Natur, einem Erhabenen, das sich angesichts der Plötzlichkeit seiner situativen Gefangenheit als ambivalentes Gefühl in der von ihm beschriebenen Situation gar nicht durchsetzen konnte. Die Bewusstwerdung des Erhabenen setzt Distanz voraus, in die­ sem Falle die der persönlichen Sicherheit gegenüber einem drohenden Unheil. Erst aus der Position garantierter Sicherheit waren ihm des­ halb auch Explikationen möglich, in denen er noch das Grässlichste als ästhetisches Erlebnis auskosten konnte – in maßloser Lust am Eksta­ tischen. Die Imagination gewährte ihm den Abstand, aus dem nichts von dem, was er beschrieben hatte, ihm selbst spürbar nahekommen konnte. Indem Poe hoch pokert, konnte er sich einer imaginären Nähe zu seiner Leserschaft gewiss sein, wenn diese ihm auch nicht immer wohlgesinnt war. Die Berührung durch seine Erzählung verdankt sich einer medialen Verwandlung, in der das Imaginierte zu einem Medium leiblicher Berührung zweiter Ordnung wird. Mit gelebter Wirklichkeit hat Poes Geschichte nicht das Mindeste zu tun. Umso mehr lehrt sie, auf welche Weise imaginäre Berührungen medial inszeniert werden können, um eine große Macht der Affizierung zu entfalten und die absurdesten Gefühle erlebbar zu machen. 67 68

ebd.: 55. ebd.: 59.

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6. Ephemere Berührungen durch Malerei und Musik Auratische Erzeugnisse der Kunst berühren über die durch sie kom­ munizierten Ideen, Wünsche und traumähnlichen Vorstellungen. Die ästhetischen Suggestionen der schönen Künste sind vor dem Hintergrund des Zeitgeistes im Allgemeinen aber eher an besser gebildete Kreise adressiert und nicht an die breite Masse. Im Medium leiblicher Spürbarkeit knüpfen sie ein emotionales Band subjektiver Bedeutsamkeit. In der Religion wurzeln diese suggestiven Potentiale in imaginierten mythischen Kräften auratisch verklärter Gottheiten. Medien der Kommunikation können schon einfache Alltagsdinge sein, sofern sie sich mit religiösen Narrativen aufladen lassen. Im folgenden Zitat aus Goethes Italienischer Reise ist dies ein Buch: »Den massiven Hirtenstab in der Linken, blickt er entzückt in die Höhe, mit der Rechten hält er ein Buch, woraus er soeben eine göttliche Berührung empfangen zu haben scheint.«69 Im Jahre 1880 hatte Arnold Böcklin von Marie Berna (der späte­ ren Gräfin von Oriola) den Auftrag zur Anfertigung eines Bildes »zum Träumen« erhalten70, das dem Gedenken ihres früh verstorbenen Ehemannes dienen sollte. Gegenstand seines Auftrages war damit ein Gefühlsmedium der Trauerbewältigung. Wenn Gemälde als visuelle Medien auch mit den Augen gesehen werden, so dienen sie im enge­ ren Sinne doch einer emotionalen Berührung. So auch das Gemälde Die Toteninsel, das die größte Intensität immersiver Berührung in der fünften Version (aus dem Jahre 1886) erreichte. Das Bild zeigt einen Fährmann im weißen Gewand, der einen Sarg mit einem Nachen über ein ruhiges Gewässer auf einen steil zum Himmel aufsteigende Felseninsel überführt. Wesentlicher Unterschied zu früheren Versio­ nen ist der drückend dunkle Farbton, der die Atmosphäre des Bildes beherrscht und die nach vorne geneigte Haltung des Fährmanns, in der sich die Stimmung existenzieller Niedergedrücktheit in Gestalt einer Geste überaus eindrücklich zu spüren gibt. Thema der Darstel­ lung ist im Sinne von Karl Jaspers eine existenzielle Grenzsituation, deren Bewältigung durch die ästhetisch ergreifende Emission des Gemäldes unterstützt werden soll.71 Über die affizierende Macht auch Goethe: o.J. vgl. Zelger 1991: 8; zur atmosphärischen und synästhetischen Suggestivkraft des Gemäldes vgl. auch Hasse 2011. 71 Ähnlich eindringlich berührend ist Böcklins Gemälde Bergsee mit Möwen von 1847.

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anderer Landschaftsbilder von Alfred Böcklin sagt Georg Simmel, sie erheben uns »in die Tiefen unseres innersten Herzens«72. Im phäno­ menologischen Sinne »erhebt« die Toteninsel aber nichts; vielmehr senkt sie im Ausdruck emotionaler Schwere die Stimmung nach unten in die numinos-abgründige Tiefe der Trauer ab. Mit eindringlicher Macht affizieren im Bereich der Kunst vor allem die Kompositionen der Musik. Im Medium der Lautlichkeit verbinden sie sich auf ganz anderen atmosphärischen Wegen mit Gefühlen als ein Ölgemälde, ein Obelisk oder eine Theaterauffüh­ rung. Musikalische Kompositionen – ganz gleich ob Sinfonie oder elektronische Trance-Musik – greifen unmittelbarer in die Engeund Weitedynamik des Leibes ein als visuelle Medien. Eingängige Rhythmen, harmonische bis enharmonische Klangfolgen und sedie­ rende Tonfolge sprechen auf ästhetisch je eigene Weise korresponsive Gefühle an, die über synästhetische Brücken spezifischen Bewe­ gungsangeboten folgen. Durch das atmosphärische Erleben (mehr als das nur »akustische« Hören) von Musik werden die Menschen in ihren Gefühlen gestimmt. Solche Berührungen resultieren aus affizie­ renden Bewirkungsprogrammen. Ihre Funktion besteht im engeren Sinne sogar darin, Stimmungen zu erzeugen. Die Komposition musikhistorisch bemerkenswerter Sinfonien diente weder der »Erheiterung« noch der dahinplätschernden »Unter­ haltung«, sondern der Übertragung gerichteter Gefühle, um auf syn­ ästhetischem Wege (gleichsam »spürbare«) Bedeutungen zu sugge­ rieren. Ein herausragendes Beispiel ist das Adagio for Strings von Samuel Barber, 1938 in New York vom NBC-Symphony Orchestra uraufgeführt. Wegen seiner emotionalen Eindrucksmächtigkeit wurde das Stück bei der Beisetzung von Persönlichkeiten des politi­ schen und öffentlichen Lebens immer wieder aufgeführt (z. B. bei der Bestattung der US-Präsidenten Franklin Roosevelt und John F. Ken­ nedy, des Aristokraten Rainer III. von Monaco, des Physikers Albert Einstein und der Filmikone Grace Kelly). Aufführungen gab es ebenso bei politischen Events, sofern sie einer nachhaltigen emotionalen Rahmung bedurften (z. B. Gedenkfeier zum ersten Jahrestag der Ter­ roranschläge des 1. September 2001 in New York oder im April 2021 in Berlin anlässlich einer Veranstaltung zum Gedenken der Corona­ toten). 72

Simmel 1922: 12.

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Berührung – leibliche Erfahrung im Kontakt

Die immersive Mächtigkeit des nur acht Minuten dauernden Stückes ist so groß, dass die Komposition für die Verwendung in Dis­ cos und Dance Clubs sogar ins Genre der Trance-Music transformiert wurde. Zu den bekanntesten Adaptionen dürfte eine Version des Rot­ terdamer DJs Tiësto (2005) zählen, die fast 90 Millionen Aufrufe auf YouTube erreichte. Eine andere elektronische Version im charakteris­ tisch-atmosphärischen Stil, die der Engländer William Orbit umsetzte, stieg im Jahre 1999 zur No. 4 der single charts in Großbri­ tannien auf. Über die Wirkung der Musik sagt Orbit: »It sounds sim­ ple, but it isn’t.«73 Und der niederländische Produzent »Flashover Recordings« (Ferry Corsten) präzisiert: »This is the time when trance music was really peaking. […]. One minute, you're completely sad, and about to cry […] and then the next, you're throwing your arms up in the air.«74 Berührung im Medium emotionalisierender Musik geht »unter die Haut« (in upper- wie in lower-class-Milieus). Sie wird zwar mit den Ohren gehört, kommt im Sinne leiblicher Kommuni­ kation aber doch erst als Stimmung an ihr Ziel. In der (leiblichen) Kommunikation von Medien aus Religion und Kunst geht es stets um die programmatisch gelenkte Berührung von Gefühlen durch inszenierte Atmosphären. Die Wege intendierter Gefühlsübertragungen unterscheiden sich von denen berührender Naturereignisse dadurch, dass das ästhetische Kalkül nach Kriterien der Wirksamkeit disponiert ist, während Naturekstasen, die als erha­ ben oder numinos wahrgenommen werden, meistens nur Spiegel aktueller Bedingungen des Klimas und des Wetters sind.

7. Über Berührungen sprechen Den Menschen fällt die Reflexion eigener Gefühle im Allgemeinen schwer. Dies vor allem dann, wenn sie in ihrer Betroffenheit gefan­ gen und »dem Ergreifenden nicht durch Besonnenheit gewachsen [sind], weil ihnen Philosophie und Wissenschaft nicht die begriff­ lichen Mittel liefern, rechenschaftsfähig davon zu sprechen, was ihnen geschieht.«75 Wie und zu wessen Nutzen sollte das Erleben emotionaler Berührungen auch ausgesagt werden? Wenn die Expli­ 73 74 75

Tsioulcas 2019. ebd. Schmitz 1990: 37.

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kation von Gefühlen auch eine Schwelle der Inkommensurabilität überwinden muss, so bieten sich doch schon mit den Mitteln der Alltagssprache wenigstens annährungsweise treffende Aussagen von Eindrücken an. Zwar sagt Friedrich Nietzsche über die Grenze der Aussagbarkeit emotionaler Berührungen durch Musik, die Sprache könne »nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Außen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, nur in einer äußerlichen Berührung mit der Musik«76. Die prinzipielle Inkommensurabilität zwischen einem ästhetischen Eindruck und einer darauf bezogenen sprachlichen Aussage stellt sich im Umgang mit den anderen Künsten kaum anders dar. Als was und in welcher Weise sich eine substantielle Berührung (und nicht nur ein zufälliger taktiler Kontakt mit der Kleidung eines anderen) zu spüren gibt, bleibt gegenüber der expressis verbis artikulierten Aussprache weitgehend verschlossen. Aber es gibt die Möglichkeit der (gleichsam übersetzenden) Übertragung in eine Ausdrucksform, der unter der Voraussetzung geübten Sprechenkönnens über leib­ lich Widerfahrenes eine Annäherung an die Eindrucksqualität eines Gefühls gelingen kann. Edgar Allen Poes Erzählung Der Malstrom gibt eher die Sehn­ sucht nach einem existenziellen Grenzerleben wieder als dieses selbst. Gleichwohl illustriert das Beispiel, in welcher Weise die gewohnte Sprache Mittel der Explikation bietet, mit deren Hilfe sogar extreme Ergriffenheit anderen in der wörtlichen Rede mitgeteilt werden kann, auf dass das Gesagte sodann der Reflexion zur Verfügung stehen mag. Zu einer Sache der reflektierenden Rekapitulation subjektiven Erlebens wird auf solchen Wegen zum einen das Erleben selbst, zum anderen das eindrücklich werdende Erscheinen von Dingen, Halbdingen und Situationen auf einer Objektseite. Das Beispiel der Situation eines Blitzeinschlages hat gezeigt, welcher Mittel sich die Versprachlichung eines berührenden Erlebens bedienen kann. Dabei muss stets bewusst sein, dass es keine Simul­ taneität von sinnlichem Erleben und sprachlicher Explikation geben kann. Die Aktualität, in der sich ein Eindruck spürbar macht, impli­ ziert eine Art Gefangenheit des Authentischen und einen Zwang zur nachlaufenden Bewusstwerdung von Eindrücken. Die unmittelbare Explikation gibt es nicht, und deshalb sind Eindrucksverfremdungen 76

Nietzsche 1988, Bd. 1: 51.

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Berührung – leibliche Erfahrung im Kontakt

auch unvermeidbar.77 Jede Explikation eines Eindrucks impliziert die ästhetische Transformation und damit die subjektive Überschreibung; zwischen Eindruck und Ausdruck gibt es keine lineare in gewisser Weise »authentische« Beziehung. An vielen Beispielen habe ich an anderer Stelle gezeigt78, dass die Beschreibung in situ dem gleichwohl nahekommen kann, was Jean-Paul Sartre als pathisch »erlittenes« Erleben anspricht.

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77 78

vgl. Hasse 2022.2: Kapitel 3. vgl. u.a. Hasse 2017.

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Jürgen Hasse

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Holger Zaborowski

Von Leib zu Leib. Das Spiel von Nähe und Distanz oder: Zur Hermeneutik und Ethik menschlicher Berührungen und Begegnungen

1. Conditio humana in (post-)pandemischen Zeiten: Distanz als Form der Nähe? Als gegen Ende des Jahres 2019 die ersten Nachrichten über das neue Coronavirus die europäische Öffentlichkeit erreichten, ließ sich noch nicht absehen, wie sehr sich – teils nur für eine kurze Zeit, teils auch für wesentlich länger – die Lebenswelt ändern würde. Schnell zeigte sich der Abstand von anderen Menschen als Gebot der Stunde. »Social distancing« war zu einer neuen Tugend geworden: Distanz von anderen Menschen gerade auch um anderer Menschen willen. Beistand also durch Abstand. Nähe durch Entfernung. Denn es galt, nicht nur sich selbst, sondern andere Menschen vor dem Virus und seinen Folgen zu schützen, vor allem Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen, chronisch kranke oder ältere Menschen, deren Immunsysteme schwächer sind und bei denen die Krankheit mit einer größeren Wahrscheinlichkeit einen schwereren Verlauf nehmen würde. Mittlerweile – in den ersten Monaten des Jahres 2023 – ist die Pandemie zur Epidemie geworden. In Deutschland sind Masken im öffentlichen Nah- und Fernverkehr keine Pflicht mehr. Das Coro­ navirus hat aufgrund bereits erfolgter Infektionen und aufgrund der Impfung fast der gesamten Bevölkerung seinen Schrecken verloren. Die Gesellschaft muss sich nun mit den Spät- und Nebenfolgen der Virusinfektion wie auch der gegen das Virus getroffenen Maßnah­ men auseinandersetzen. Eine gewisse Normalität ist zurückgekehrt. Jedoch gibt es bislang noch keine vollständige Rückkehr zu den zwischenmenschlichen Verhaltensweisen und Normen, die vor der Pandemie galten.

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Wenn man, um ein Beispiel zu nennen, einem anderen Men­ schen begegnet, ist derzeit oft unklar, ob man sich – wie aus vorpan­ demischen Zeiten gewohnt – die Hand schüttelt oder ob man eine der vielen alternativen Begrüßungszeremonien verwendet, die sich im Verlauf der Pandemie entwickelt haben. So kann es passieren, dass einem bei der Begrüßung bewusst oder mittlerweile auch unbewusst die Hand verweigert wird. Was einmal – freilich in bestimmten Kulturkreisen und Kontexten – tägliche Routine und unhinterfragte Norm war, hat seine Selbstverständlichkeit verloren: dass Menschen einander zur Begrüßung oder auch zur Verabschiedung berühren und sich dadurch nahekommen. Nun ist die Berührung beim Hän­ deschütteln, die Wohlwollen und friedliche Absichten signalisieren soll, zu einer möglichen Gefahr geworden. Die Begegnung zwischen Menschen ist unter diesen Vorzeichen nur noch in eingeschränkter Form möglich. Gelegentlich trägt, so ein anderes Beispiel für die langfristigen Folgen der Pandemie, der ein oder andere Fahrgast im öffentlichen Nah- und Fernverkehr noch eine Maske. Vermutlich wird es auch langfristig noch der Fall sein, dass sich besonders vulnerable oder auch nur besonders furchtsame Menschen mittels einer Maske vor einer Infektion zu schützen versuchen. Einerseits ist dies gut nachvollziehbar. Es bedeutet aber auch, dass sie sich schützen, indem sie Teile ihres Gesichtes vor anderen Menschen verbergen und so eine Begegnung, eine Berührung – des Gesichts durch die Augen des Anderen – nur in begrenzter Weise ermöglichen. Auch dieses Beispiel zeigt, dass eine zuvor selbstverständliche Form der einander berührenden oder begegnenden Annäherung von Menschen im Gefolge der Pandemie und der gegen sie ergriffenen Maßnahmen ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. Man kann derzeit noch nicht sagen, ob es sich bei beiden Beispie­ len um zeitlich begrenzte Trends handelt oder ob sie permanente Ent­ wicklungen zeigen. Diese Frage muss an dieser Stelle offenbleiben. Im Folgenden soll vielmehr gefragt werden, was sich eigentlich verliert oder verlieren könnte, wenn Menschen derart auf Distanz zueinander gehen und einander nicht berühren, oder – umgekehrt – warum Menschen der Berührung bedürfen, wie Menschen sich überhaupt berühren, begegnen und einander annähern können und, zunächst einmal, inwiefern Nähe ein zutiefst menschliches Phänomen ist.1 1

vgl. Zaborowski 2018, 2020.

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Von Leib zu Leib. Das Spiel von Nähe und Distanz

2. Die Menschlichkeit der Nähe: Von Leib zu Leib Menschen sind leibliche Wesen. Sie haben keinen Leib, auch wenn ihr faktisches Verhältnis zum Leib oft so gestaltet ist, als handle es sich um einen Gegenstand, über den sie – d. h. der Geist oder das Bewusstsein des Menschen – verfügen, den sie wie ein Objekt analysieren oder den sie nach bestimmten Maßgaben optimieren können. Descartesʼ dualistische Unterscheidung von res extensa – der körperhaften aus­ gedehnten Sache oder Substanz – und res cogitans – der denkenden Sache oder Substanz – wirkt bei dieser Betrachtungsweise noch nach. Das Wort 'Leib' klingt vor diesem Hintergrund nahezu altmodisch: als zeige sich in ihm ein unmodernes und unwissenschaftliches Ver­ ständnis des Menschen. Daher wird auch häufiger vom Körper – den der Mensch zudem mit anderen Lebewesen, aber auch mit Dingen teilt – statt vom Leib – d. h. von diesem konkreten Menschen in seiner leiblichen Gegebenheit – gesprochen. Darin zeigt sich jedoch nur eine – und eine eingeschränkte – Sicht des Menschen. Die Naturwissenschaften und die Medizin können zwar gut und auch erfolgreich mit ihr arbeiten. Aber auch innerhalb dieser Disziplinen stößt dieses Verständnis des Menschen an Gren­ zen, ganz zu schweigen von der vorwissenschaftlichen Lebenswelt. Denn es abstrahiert von den konkreten Leibvollzügen (als Lebensvoll­ zügen), die immer auch geistige oder seelische Phänomene sind. Menschen sind, existieren, leben nämlich immer auch und immer schon als Leib. Ihr Leib lässt sich nicht von anderen Teilen oder Ebenen des Menschen – wie auch immer man sie nennt: ob Seele, Geist oder Bewusstsein – radikal trennen und auf ein bloßes Objekt des menschlichen Handelns reduzieren. Sie begegnen einander in ihrer Leiblichkeit, als Leiber, von Leib zu Leib, wenn sie sich beispielsweise berühren, sich anschauen oder auch einfach beieinander stehen. Die Nähe, die sich in der Berührung und Begegnung von Menschen zeigen kann, ist daher nicht allein und noch nicht einmal vornehmlich ein mit den Mitteln der Empirie objektiv fassbares Phänomen, das nur von äußeren Koordinaten abhängig wäre. Sie ist auch ein innerliches, die Innerlichkeit des Menschen berührendes oder betreffendes Phäno­ men. Nah ist mir zwar zunächst das, was mir äußerlich, d. h. in empi­ risch fassbarer Weise, nahe ist. Zunächst ist damit die räumliche oder zeitliche – also geographische oder geschichtliche – Nähe gemeint. Da aber Menschen auch Naturwesen sind, gibt es noch eine dritte

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Form der äußerlichen Nähe, nämlich die biologisch begründete Nähe zu den eigenen Verwandten. Die Menschen meiner Stadt stehen mir daher näher als die Menschen in einer fernen Metropole; die Welt der Neuzeit ist mir näher als die Welt des 12. Jahrhunderts; meine Geschwister oder Eltern, auch wenn sie nicht nahe bei mir leben oder gerade auch wenn ich mich von ihnen mit einer gewissen Heftigkeit zu distanzieren versuchen sollte, sind mir näher als andere Menschen, mit denen ich nicht verwandt bin. Es fällt mir daher leichter, meine Nachbarn, mit denen ich aufgrund der Nähe zu ihnen vieles teile, zu verstehen als Menschen einer fremden oder längst vergangenen Kultur. Meine Geschwister oder Eltern sind mir oft vertrauter als viele andere Menschen. Der Grund dafür ist weniger die genetisch fassbare Abstammung als vielmehr eine andere Form der Verbundenheit, die mit dem familiären Kontext eng verbunden ist: Wir haben nicht nur zusammen vieles erlebt, Erfahrungen geteilt und miteinander intensiven Umgang gehabt, sondern stehen auch gemeinsam in einer weit über unsere Geburt hinausreichenden Geschichte. Daher kann ich mit Blick auf sie auch viel über mich selbst erfahren – auch manche Schwächen und Mängel, die wir teilen und die mir vielleicht unangenehm sind. Nähe erleichtert jedoch nicht allein das Verständnis anderer Menschen. Sie ist nicht nur ein Phänomen der Hermeneutik, sondern auch der Ethik. Wie im Deutschen die Wendung, dass mir ein anderer Mensch nahestehe, impliziert, etabliert Nähe auch ein ethisches Verhältnis. Oder anders: Zunächst nur äußere – räumliche, zeitliche, verwandtschaftliche – Nähe kann zusätzlich zur hermeneutischen auch eine ethische Dimension haben oder eine solche gewinnen. Während ich für mir nahe Menschen bereitwillig Verantwortung übernehme, wenn es ihnen schlecht geht, weil ich es auch soll, berührt mich das Schicksal fern lebender Menschen anders. Nicht selten nehme ich ihr Leid nur mit einem gewissen oberflächlichen Mitleid zur Kenntnis. Der frühe Tod meiner Nachbarin kann mich, auch wenn ich sie kaum kannte, zutiefst treffen – während ich doch weiß, dass jeden Tag auf der Welt unzählige Menschen zu früh aus dem Leben gerissen werden. Denn sie ist mir, und sei es nur dadurch, dass wir uns gelegentlich auf dem Hausflur gegrüßt haben oder dass ich ein wenig von ihrem Leben mitbekommen habe, näher gekommen als andere Menschen. Auch die ethischen Verhaltensweisen des Menschen, d. h. die Verantwortungsverhältnisse, unterliegen also dem Spiel von Nähe und Distanz, auch wenn sie sich, wie sich noch zeigen wird, darauf

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Von Leib zu Leib. Das Spiel von Nähe und Distanz

nicht reduzieren lassen, sondern eingebettet sind in einen universa­ len, alle Menschen einbeziehenden Horizont. Max Scheler spricht in diesem Zusammenhang im Anschluss an Augustinus (z. B. De Civitate Dei, XV, 22) und die an ihn anschließende Tradition von einem ordo amoris, einer »Ordnung der Liebe«.2 Allerdings lässt sich innere Nähe nicht auf äußere zeitliche, räumliche oder auch biologische Faktoren reduzieren. Es ist möglich, dass sich trotz einer äußeren Nähe keine innere Nähe einstellen will oder dass eine einmal gegebene Nähe sich verliert. Man kann sich von engsten Verwandten oder Nachbarn entfremden oder ihnen von Anfang an mit Distanz begegnen. Es »klickt nicht«, wie man dann sagt. Sie – ihr Leben, ihre Interessen, ihr Schicksal – berühren mich nicht. Sie sind mir trotz der äußeren Nähe fremd und fern. Hingegen kann ein Mensch, der mir zeitlich und räumlich fern ist und mit dem ich nicht verwandt bin, nahekommen oder sogar näher rücken, als mir zunächst lieb sein mag. Der Blick eines Fremden kann mich plötzlich treffen, so dass ich mich ihm nahe fühle und für ihn Verant­ wortung übernehme, weil ich in der Begegnung mit ihm ein Sollen, einen Imperativ erfahre. Das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigt eine solche Annäherung. Ohne dass sich dies hätte planen lassen, gerät der Samariter in ein Nähe-Verhältnis, das ihn zum Handeln – zum Tun für den Anderen – auffordert. Nähe – verstanden als hermeneutische und ethische, als innere Nähe – ist ein zutiefst menschliches Phänomen. Sie geschieht zunächst einmal zwischen Menschen, d. h. von Mensch zu Mensch, und zwar nicht einfach triebhaft – als Naturphänomen –, sondern – als Phänomen der Hermeneutik und der Ethik – aus Freiheit heraus. Auch wenn ich zu einem bestimmten inneren Näheverhältnis nie eine bewusste Entscheidung getroffen habe, ist dieses Verhältnis eine Sache der Freiheit. Denn ich könnte mich dem anderen Menschen gegenüber auch anders verhalten und entfernen. Freiheit zeigt sich somit in der Nähe zu einem anderen Menschen. Nähe setzt zudem als Phänomen des Zwischen in der Regel, wenn auch nicht immer oder notwendigerweise, Wechselseitigkeit voraus. Zumeist kann ich einem anderen Menschen nicht nahe sein oder mich nicht annähern, ohne dass der Andere dies aus eigener Freiheit heraus auch zuließe und sich auf mich und meine Nähe einließe, indem er selbst auch mir nahekommt. Trotzdem mag es eher einseitige Formen der Nähe 2

vgl. hierzu neben Scheler 1957 auch Ulrich 2005.

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geben: Eltern können ihren Kindern noch nahe sein, auch wenn diese sich ausdrücklich von ihren Eltern distanziert haben. Freundschaften können sich so entwickelt haben, dass der eine Freund sich dem anderen noch nahe fühlt, während der andere ihm mit großer Gleich­ gültigkeit, d. h. mit innerer Distanz, gegenübersteht. Im Phänomen der Nähe zeigt sich somit die soziale Natur des Menschen: Menschen leben nicht isoliert voneinander oder mit Abstand zueinander. Ihr Verhältnis zueinander ist nicht primär neu­ tral oder gleichgültig. Sie leben immer schon miteinander, zusam­ men mit, d. h. in der auch ethisch bedeutsamen Nähe zu anderen Menschen. Dieses Miteinander von Menschen ist immer auch ein Von- und ein Füreinander. Denn um leben zu können, bedürfen Menschen anderer Menschen, und indem sie leben, sind sie für andere Menschen da. Die menschliche Gemeinschaft ist daher durch ein dynamisches Geben und Empfangen charakterisiert. Sie ist keine Zusammenstellung primär autonomer Individuen, die sich nur auf Augenhöhe begegnen, sondern eine Beziehungsgemeinschaft, die durch vielfältige Formen der Abhängigkeit und Bezogenheit, der Verbundenheit, Kommunikation und der Hingabe charakterisiert ist. Nähe ist insofern grundlegend oder primär, d. h. weil es Nähe gibt, kann es auch Distanz – die vielfältigen Möglichkeiten der Differenzie­ rung von anderen Menschen – geben. Vielleicht ist Nähe daher auch ein anderes Wort für Solidarität oder Liebe – oder zumindest engstens mit Solidarität und Liebe verbunden. Denn wer solidarisch handelt, tut dies aus der Nähe zum anderen Menschen hinaus und erfährt in seinem Handeln zugleich Nähe. Und wer einen Menschen liebt, will dem Anderen möglichst nahe sein und sehnt sich nach ihm und seiner Nähe oder erfährt sogar bei großer räumlicher oder langer zeitlicher Trennung eine tiefe Nähe zum geliebten Menschen. Menschliche Nähe, die Begegnung oder Berührung (im weiteren Sinne) von Menschen äußert oder konstituiert sich in leiblichen Äußerungen: im Blick, in der Berührung (im engeren Sinne) von Haut zu Haut, im Wort und auch in einem Werk, in dem ein Mensch sich in seiner Leiblichkeit zeigt. Freilich ist nicht jeder Blick, nicht jede Berührung, nicht jedes Wort und nicht jedes Werk ein Zeichen der Nähe. Diese leiblichen Phänomene können sehr verschiedene Bedeutungen annehmen. In ihnen kann sich auch Distanz oder die ausdrückliche Verletzung von Nähe zeigen. Aber dies kann sich nur zeigen, weil sich in ihnen primär Nähe eröffnet – oder besser: eröffnen soll.

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Von Leib zu Leib. Das Spiel von Nähe und Distanz

3. Vollzüge menschlicher Nähe: Blick, Berührung, Wort und Werk 3.1. Von Antlitz zu Antlitz: der Blick Sehen lässt sich als ein physikalisch oder medizinisch zu erklärendes Geschehen des Körpers fassen. Im Sehen eröffnet sich aber, wenn man es vertieft als leibliches Phänomen zu erfassen versucht, auch die ›Innenseite‹ des Menschen. So sagt man, dass die Augen der Spiegel der Seele oder, in anderen Formulierungen, das Tor oder Fenster zur Seele seien. In den Augen – wenn er selbst sieht, aber auch wenn er angesehen wird – zeigt oder öffnet sich ein Mensch in besonderer, über die äußerlich-organische Dimension hinausweisender Weise. Blicke sind daher zutiefst bedeutungsvoll. Ein Blick kann tatsächlich mehr als tausend Worte sagen.3 Es gibt den vergegenständlichenden Blick, der der Welt gegenübertritt und sie wissenschaftlich zu erklären versucht. Es gibt aber auch viele andere Blickweisen. Denn zumeist schaue ich nicht einfach nur mit einem Sehorgan wie mit einer Kamera, um die äußere Welt und darin auch einen anderen Menschen in ihrer objektiven Vorhandenheit zu erfassen. Sehend kann sich mir Welt jedoch auch ganz anders eröffnen: nicht als Gegenstand oder Summe von Gegenständen, sondern als Horizont, innerhalb dessen ich mit anderen Menschen, aber auch mit allem anderen, das ist, zusammenlebe. Welt ist dann die mit anderen Menschen geteilte, gemeinsam bewohnte Welt. Ich kann das, was mir, indem ich es anblicke, begegnet, innerhalb dieses Welthorizontes in einer bestimmten Weise – z. B. wohlwollend, freudig, wissbegierig, mit einer gelassenen Gleichgültigkeit oder auch mit Abscheu oder Ekel – zu erkennen und zu verstehen suchen. Insofern gibt es auch eine Hermeneutik des Blickes. Was ich sehe, zeigt sich als bedeutungsvoll und spricht mich irgendwie an, d. h. es stellt einen Anspruch an mich, der sich unterschiedlich artikulieren kann. Dieser Zusammenhang von Anblick und Anspruch zeigt sich in besonderer Weise angesichts eines anderen Menschen, der mir im Blick – wenn ich ihn wirklich anschaue und nicht nur auf ihn schaue oder durch ihn hindurchschaue – auf einer zutiefst ethischen

3

vgl. zum Blick und Antlitz auch Käte Meyer-Drawe 2020.

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Weise nahekommen und mir so zum Nächsten werden kann.4 Dann zeigt sich der Andere als Mensch, mit dem ich zusammenlebe und für den ich – von Mensch zu Mensch – auch in die Verantwortung gerufen werde. Daher ist das Auge nicht nur ein hermeneutisches, sondern auch ein ethisches Organ. Besonders deutlich zeigt sich die Nähe zum anderen Menschen, wenn ich ihn nicht nur anschaue oder auf die Augen blicke, sondern wenn wir uns in die Augen schauen. Der Blick wird dann zu einem wechselseitigen Sehen: Ich sehe den Anderen; er sieht mich. Wir antworten einander, indem wir uns anblicken und in unserem Blick das Auge als Fenster auf das hin »durchschreiten« oder »durchsehen«, was sich in ihm zeigt. Mein Blicken und sein Blicken sind jedoch nicht als zwei getrennte Vorgänge zu verstehen; es handelt sich um ein einziges Geschehen, an dem wir beide – der Andere und ich – beteiligt sind: Wir sehen einander an. In diesem wechselseitigen Einander-Anblicken kann sich Nähe auftun – plötzlich und ereignishaft. Das muss nicht geschehen. Wenn es sich aber ereignet, dann zeigt sich uns, dass wir miteinander leben und daher auch voneinander leben müssen und füreinander da sein sollten. »Blicke«, so Käte Meyer-Drawe, »sagen mitunter nicht nur mehr als tausend Worte, sie modulieren unser soziales Gewebe, ohne dass uns das explizit zu Bewusstsein kommen muss.«5 Wenn wir daher einem um Hilfe bittenden Menschen begegnen, diesem aber nicht helfen wollen oder können, versuchen wir, schon von vornherein seinem Blick auszuweichen, um nicht in die Gefahr zu kommen, in die Wechselseitigkeit des Blickes zu geraten und dadurch in jene Relation eintreten zu müssen, in der wir uns immer schon befinden. Neben dem ausweichenden Blick gibt es auch den gleichgültigen Blick, der, wie man manchmal sagt, durch den anderen hindurchgeht – so als sei dieser gar nicht da oder ein beliebiger Gegenstand. Aber dies ist ein defizienter Blick, weil in ihm die ethische Beziehung, die Nähe zum Anderen nicht anerkannt wird, in der ich durch das gemeinsame Menschsein mit Anderen immer schon stehe und durch die ich mit dem anderen verbunden bin. Blicke, so sagt man auch, können sogar töten. Sie können dies aber nur, weil sie – von Antlitz zu Antlitz 4 vgl. zur Phänomenologie des Antlitzes und des Ereignisses der Nähe des Anderen u. a. Emmanuel Levinas 1992: 236–260 und 261–294; Levinas 1992: 182ff. Gerade in seinem radikal ethischen Verständnis von Nähe zeigt sich Levinas‘ Kritik, Korrektur und Weiterentwicklung des Denkens Heideggers, der Nähe zunächst fundamentalon­ tologisch und später seinsgeschichtlich verstanden hat (vgl. hierzu Kettering 1987). 5 Meyer-Drawe 2020: 25.

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Von Leib zu Leib. Das Spiel von Nähe und Distanz

– zunächst Leben schenken und Verbundenheit, Verantwortung und Liebe zeigen – als Dimensionen der Nähe zwischen Menschen. Wenn nun ein Mensch, dem wir begegnen, eine Maske trägt, ist zwar immer noch der direkte Blick in die Augen möglich. Aber gerade bei fremden Menschen, so scheint es, ist ein längerer Blick in die Augen nur schwer auszuhalten, weil dies eine zu große und unangemessene Nähe erzeugen könnte. Schamvoll – weil uns jemand zu nahe gekommen ist oder zu nahe kommen könnte – schauen wir dann weg. Wir bedürfen, so scheint es, der Fläche des Gesichtes, um die Intensität des direkten Augenkontaktes und der Wechselseitigkeit des Blickes immer wieder in seiner Radikalität abzumildern. Wir schauen einander in die Augen und dann wieder aufs Gesicht (oder ganz woanders hin). Man kann diesen Wechsel von Nähe und Distanz gut bei Menschen, die in ein Gespräch vertieft sind, beobachten. Vielleicht bedürfen die Augen daher ihres leiblichen Umfeldes. Viel­ leicht sind sie eingeordnet in die Einheit oder Gestalt des Gesichts, so dass man vermuten kann, dass nicht allein die Augen, sondern das Gesicht, das Antlitz der Spiegel der Seele ist – die sichtbare Erscheinung eines unsichtbaren, empirisch nicht fassbaren Phäno­ mens, des inneren Kerns oder Wesentlichen einer konkreten Person. Nicht allein in den Augen, sondern im offenen Gesicht begegnen Menschen daher einander und kommen sich nahe. Und es ist genau diese Dimension der menschlichen Begegnung, die verloren geht, wenn man einem Menschen mit einer Maske oder einem verhüllten Gesicht begegnet. Das bedeutet nicht, dass man nie eine Maske tragen oder sein Gesicht niemals verbergen darf. Aber es muss dafür gute Gründe geben, da ansonsten die menschliche Beziehung – die Nähe zwischen Menschen in der Begegnung von Antlitz zu Antlitz – ohne angemessene Rechtfertigung gestört wird.

3.2. Von Hand zu Hand: die Berührung Auch die Hand ist nicht nur ein Organ, ein Werkzeug, mit dem Menschen sich die Welt aneignen oder andere Menschen betasten und rein äußerlich berühren können.6 Ein solches Verständnis der Hand würde nur in eingeschränkter Weise erfassen, was eine Hand 6 vgl. Schmalenbach 2020: 99–131; Focillon 2017; und die grundlegende interdiszi­ plinäre Studie von McGinn 2017.

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ist. Die Hand selbst ist wesentlich mehr. Denn nicht allein in den Augen oder im Gesicht, sondern auch in der Hand zeigt sich ein Mensch in einer besonderen Weise. Auch sie lässt sich als Fenster zur Seele betrachten. Albrecht Dürers berühmtes Bild der betenden Hände zeigt nicht einfach zwei anatomisch korrekte Hände oder – anders formuliert – zwei Hände an sich. Die Vorlage waren Dürers eigene Hände und damit die Hände eines konkreten Menschen, dessen Leben, dessen Geschichte, dessen Tun, dessen Freude und dessen Sorgen gerade in diesen Händen Spuren hinterlassen haben. In den Händen – auch in ihren konkreten Gesten – verdichtet sich menschliches Leben. Sie stecken voller Geschichten. Auch in ihnen äußert sich ein Mensch. Daher lässt sich auch eine Hermeneutik der Hand bzw. der Hände formulieren. In ähnlicher Weise zeigt sich auch im Händedruck der jeweilige Mensch – nicht als abstraktes Subjekt, sondern in der konkreten Situation und Beziehung zu einem anderen Menschen. Ist der Hän­ dedruck – und somit der Mensch, der ihn ausübt – zugreifend oder zögerlich? Ist es eine weiche, eine angenehm definierte, eine zupackende oder gar eine zu harte Geste, die dem anderen Menschen Schmerzen bereitet? Es gibt einen herzlichen, vom Herzen kommen­ den, besondere Nähe zeigenden Händedruck, aber auch einen kalten, schlaffen, distanzierten oder auch einen übergriffigen, die in aller Annäherung gebotene Distanz verletzenden Händedruck. Man kennt den gleichgültigen, aber auch den besorgten, pflegenden, diagnos­ tischen oder therapeutischen Händedruck. Neben dem erotischen Spiel mit der Hand des anderen Menschen findet sich auch der Händedruck, der ein Machtgefälle zum Ausdruck bringen soll. Gerade wenn man einen anderen Menschen gut kennt (oder wenn man in diesem Bereich eine besondere Übung oder Begabung hat), kann einem die wechselseitige Berührung der Hände sogar viel über den gegenwärtigen Gemütszustand des anderen Menschen sagen. Sucht der andere Mensch die Nähe? Entzieht er sich? Ist er vielleicht schwach und krank? Geht es ihm nach einer Phase der Trauer wieder besser? Noch viel mehr kann sich im Händedruck zeigen: Vermag es ein Mensch, sich, indem er einem anderen Menschen die Hand reicht, auf diesen anderen Menschen einzustellen, d. h. tritt er in Beziehung zu diesem anderen Menschen und passt seine Berührung diesem anderen Menschen an? Antwortet er auf den anderen Menschen und seine Art, die Hand zu reichen? Und was sagt die zeitliche Länge des Händedrucks über die Begegnung und die Beziehung zwischen den

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Menschen aus, die sich die Hand reichen? Durch die Hand zeigt sich somit nicht nur, wer jemand ist, sondern auch die Beziehung, in der er zu einem anderen Menschen steht. Die wechselseitige Berührung der Hände hat auch eine beson­ dere ethische Bedeutung, weil sich in ihr – wie beim wechselseitigen Einander-Anblicken – eine Gemeinschaft, ein Wir etabliert. Man kann nicht die Hand eines anderen Menschen schütteln, ohne dass dieser auch aus eigener Freiheit heraus die eigene Hand schüttelt – sonst wäre es ein rein äußerliches Schütteln, so wie man ein Stück Stoff schüttelt, um Dreck zu entfernen. Sich die Hände zu schütteln ist ein einziger, gemeinsam ausgeführter Akt; es ist nicht die äußere Summe von zwei getrennten Handlungen, sondern zwei Menschen lassen sich aufeinander ein, handeln zusammen und zeigen in dieser gemeinschaftlichen Geste ihre Nähe, aufgrund derer dann auch wieder Distanz möglich ist. Die Hand kann aber nicht nur zum Händeschütteln dienen. Sie ist auch jener Teil des Leibes, mit dem ich einem anderen Menschen, indem ich ihn – seine Haut, die auch als Spiegel der Seele bezeichnet wird – streichelnd, besänftigend oder tröstend berühre, konkret helfen und nahe sein kann. Nähe kann sich einstellen, wenn der andere Mensch und ich gemeinsam etwas tun und in einer Handlung oder in einem gemeinsam gestalteten Netz von Handlungen – etwa in einer tiefen Freundschaft oder in einer Liebesbeziehung – Welt gestalten. Die innere Nähe zu einem anderen Menschen setzt das Herz, den beherzten, gefühlshaften Willen voraus – aber eben auch die Hand, das konkrete Tun, die Handlung um willen des anderen Menschen oder die Handlung zusammen mit ihm. Daher kann man auch die Hand wie das Auge als ein ethisches Organ des Menschen verstehen. Mittels der Hand kann ich konkret für einen anderen Menschen da sein; und ich erfahre in der Geste der Hand die fürsorgende Zuwen­ dung des Anderen. Wenn wir einem Menschen die Hand reichen oder geben, geschieht also viel mehr als nur eine äußere Handreichung. Wir schenken unsere Zeit, unsere Kraft und Stärke, unseren Willen, ja, letztlich uns selbst – einander. Aufgrund dieser ethischen Bedeutung des Kontaktes mit der Hand – der inneren Dimension einer leiblichen Geste – konnte die Kontaktlosigkeit, wie sie während der Zeit der Pandemie zur Pflicht wurde, zu einem beträchtlichen Unbehagen führen. Denn etwas Wichtiges fehlt oder ist nur in eingeschränkter Weise möglich, wenn ich einen anderen Menschen nicht berühren darf. Was fehlt, ist ein

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wichtiges Moment der Nähe – die konkrete, zutiefst ethische Begeg­ nung von Leib zu Leib, von Haut zu Haut. Diese lässt sich, weil sie die konkrete Nähe der Leiber voraussetzt, nicht vermitteln. Sie bedarf der Unmittelbarkeit der Begegnung. Man kann Grüße ausrichten, aber keine Berührungen. Wenn man versucht, Berührungen technisch nachzuahmen, so handelt es sich dabei um teils sehr erfolgreiche Simulationen von Wirklichkeit. Die konkrete Nähe eines anderen Menschen können diese Vorspiegelungen jedoch nicht ersetzen, und es ist eine offene Frage, inwiefern wir uns – individuell, aber auch als Gesellschaft – auf einen solchen Schein des Wirklichen einlassen können oder sollen.

3.3. Von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr: das Wort Menschen berühren sich nicht nur durch Hand und Blick. Sie können sich auch – und nicht selten in besonderer Weise – berühren und einander in einer hermeneutisch-ethischen Weise begegnen, wie u. a. die dialogischen Denker gezeigt haben, indem sie mittels Worten miteinander kommunizieren und in einen Dialog eintreten. Auch die dialogische Kommunikation ist ein wechselseitiges Geschehen, die die grundlegende Struktur menschlicher Sozialität zeigt: Menschen leben miteinander, indem sie zueinander sprechen und von- oder aufeinander hören. Dabei gibt es – vermutlich wegen der stärker geistigen Natur des Wortes – einige Unterschiede zwischen der Berührung durch Hand und Auge und der Berührung durch das Wort. So kann man auch über räumliche oder zeitliche Distanzen hinweg durch das Wort berührt werden. Die Hand ist, wie sich gezeigt hat, auf den unmittelbaren Nahbereich beschränkt. Der Blick reicht schon weiter. Man kann sich auch über eine Distanz hinweg anschauen. Doch ist immer noch eine gewisse räumliche Nähe notwendig. Ein Mensch kann zwar bei allzu großer Distanz immer noch einen ande­ ren Menschen sehen, und dieser kann ihn sehen; nur können sie sich nicht mehr in die Augen schauen. Auch ein Foto oder ein Gemälde eines anderen Menschen kann den Blick eines Menschen nur sehr eingeschränkt vermitteln. Wer das Foto eines Menschen betrachtet, sieht vielleicht den typischen Blick dieses Menschen, wird aber nicht von diesem Menschen angeschaut und kann ihm nicht in die Augen schauen, sondern nur auf die Augen blicken. Die Wechselseitigkeit

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des Blickes setzt zeitlich-räumliche Nähe voraus und lässt sich tech­ nisch nicht vermitteln. Ohne Zweifel führt zwar auch eine Videokonferenz zu Nähe. Ich sehe und höre einen Menschen, dem ich vielleicht lange nicht begegnet bin oder anders gar nicht begegnen könnte. Gerade wäh­ rend der Pandemie konnten diese neuen Kommunikationsformen den unmittelbaren Kontakt oft ersetzen.7 Aber was genau bedeutet in diesem Zusammenhang ersetzen? Denn so realistisch wir den anderen Menschen wahrnehmen und so erfolgreich die Simulation von Nähe ist, so unrealistisch bleibt das Bild, das mir von dem anderen Menschen präsentiert wird. Er bleibt mir trotz aller Nähe fern. Denn das Bild von ihm ist, selbst wenn der andere seinen Hintergrund nicht unscharf stellt oder einen bestimmten Bildhintergrund nutzt, in vielfacher Weise verzerrt und blendet viele Aspekte aus. Wir erfahren nicht, wie warm oder kalt es im Raum des anderen ist. Und vor allem können wir ihm nicht in die, sondern nur auf die Augen schauen. Um einander wirklich ansehen zu können, bedürfen wir der realen Gegenwart des Anderen. Zwar kommt auch dem unmittelbaren Gespräch, das von Ohr zu Ohr und somit auch von Antlitz zu Antlitz und von Leib zu Leib geführt wird, eine besondere Bedeutung zu. So weiß man, dass technisch vermittelte Gespräche oft einen anderen Verlauf nehmen als in leiblicher Präsenz geführte Gespräche und dass sich nicht über alle Themen in gleich guter Weise mittels digitaler Kommunikation verhandeln lässt. Doch lässt sich das Wort leichter technisch vermit­ teln und auch über größere Distanzen übertragen. Die telefonische Kommunikation kann wirkliche Nähe erzeugen. Auch durch einen Brief lässt sich das Wort und somit die Nähe eines Menschen vermit­ teln. Dabei überbrückt der Brief nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Distanz, da ich ihn nicht nur lese, nachdem er geschrieben wurde; ich kann ihn auch immer wieder lesen. In einem Brief kann sich der andere Mensch in seiner Leiblichkeit manchmal sogar noch mehr als er selbst zeigen als in einem Telefonat, bei dem ich nur – mehr oder weniger gut übermittelt – die Stimme des anderen höre. Wenn ich nämlich einen handschriftlichen Brief lese, höre ich oft nicht nur innerlich auch die Stimme des Freundes. In der Handschrift zeigt sich vermittelt auch die Hand des Freundes. Er hat dieses Blatt Papier in den Händen gehalten und mit seiner Hand in 7

Siehe hierzu auch den Beitrag von Hilge Landweer in diesem Band.

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der für ihn charakteristischen Handschrift diese Zeilen geschrieben. Vielleicht kann ich an der Handschrift sogar ablesen, in welcher Gemütsverfassung oder in welchem gesundheitlichen Zustand mein Freund gewesen ist, als er diesen Brief schrieb. Es wird deutlich, ob er bewusst ein bestimmtes Briefpapier ausgewählt hat oder ob er – in Zeiten der materiellen Not etwa – Papier recycelt hat und es sehr klein und eng beschrieben hat, um möglichst wenig Papier zu verbrauchen. Ich kann vielleicht auch Spuren des Alters oder von Flüchtigkeit entdecken. Vielleicht gibt es viele Korrekturen, die mir Anzeichen für eine gewisse Eile oder Nervosität beim Schreiben des Briefes sind. Unter Umständen zeigt sich in der äußeren Form auch, dass der Freund sich für diesen Brief viel Zeit genommen hat und dass ihm dieser Brief wichtig war. Im geschriebenen Wort rücken mein Freund und ich uns nahe. Ich kann ihn verstehen und werde von ihm angesprochen und herausgefordert, ihm zu antworten. Auch das Wort zeigt wie der Blick der Augen oder die Berührung der Hände eine hermeneutische und eine ethische Dimension. Und so, wie Blicke töten oder Berührungen verletzten können, kann auch ein Wort Distanz erzeugen oder Menschen wie ein Pfeil treffen und verwunden. Dass das, was menschliche Nähe zeigt und erzeugt, zugleich auch Distanz schaffen kann, gilt auch für das Wort. Es kann verbinden – und trennen; es kann Zeichen der Gemeinschaft, der Fürsorge und der Verantwortung sein – und das genaue Gegenteil davon.

3.4. Vom Menschen her: Werk und Ding Selbst Menschen, die ich nie gekannt habe, können mir in ihren Worten gegenwärtig werden. Auch wenn sie nicht ausdrücklich zu mir gesprochen haben, können sie mich ansprechen und mich durch ihren Anspruch geistig oder emotional berühren. Ich kann Gedichte einer verstorbenen Dichterin lesen und von ihren Worten auch über die Zeiten hinweg, und ohne dass ich ihr physisch nahe wäre oder direkt von ihr angesprochen würde, berührt werden. In diesem Fall ist es zwar im strengen Sinne nicht möglich, ein wechselseitiges Gespräch zu führen. Doch kommt die Lektüre von Literatur einem solchen Gespräch oft sehr nahe: Ich fühle mich, wenn ich ein bestimmtes Gedicht lese, derart von der Autorin angesprochen, dass ich auf diesen Anspruch antworte und wieder aus dem Werk dieser Dichterin heraus eine Antwort vernehmen kann. Auch wenn ich etwas lese, das nicht

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wie ein Brief ausdrücklich für mich geschrieben wurde, kann ich also von dem Wort eines anderen Menschen berührt werden und ihm – mittels eines Werkes, zu dessen Empfänger ich, indem ich es lese, werde – nahekommen. Nicht zuletzt kann mich gerade auch dieses Wort, das zunächst gar nicht ausdrücklich an mich gerichtet war, derart angehen, dass ich mich unter seinem Einfluss wandle. Lesen ist in diesem Sinne nicht nur ein hermeneutisches, sondern auch ein zutiefst ethisches, lebensveränderndes Geschehen. Was über das Wort oder das literarische Werk gesagt wurde, gilt auch für andere Weisen, in denen Menschen sich äußern, also sich selbst – wer sie sind, ihr Innerstes –, soweit dies ihnen möglich ist oder soweit sie dies möchten, nach außen kehren oder veräußern – oder anders: in denen sie sich für andere (hin-)geben. So kann man die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach hören und dabei erfahren, dass nicht nur die Musik – das Werk –, sondern auch Bach selbst oder ein Interpret einem sehr nahe rücken können. So kann man in manchen Konzerten erleben, dass sich plötzlich eine Verbindung – eine Nähe – einstellt, die dann auch die anderen Zuhörerinnen und Zuhörer umfasst. Dass menschliche Nähe auch durch ein Werk ent­ steht, könnte erklären, warum viele Menschen sich für die Biografie eines Künstlers oder einer Künstlerin interessieren und ihm oder ihr als Menschen nahekommen möchten. Umgekehrt erlaubt die bessere Kenntnis der Person auch wieder eine neue Annäherung an ihr Werk. Wie das Wort einer Dichterin kann dieses Werk mich derart berühren, dass es mich verändert oder dazu herausfordert, anders zu leben. Dies kann, es muss nicht geschehen. Nicht zu allen Kunstwerken stellt sich dieselbe Nähe ein. Vielem begegnen wir, ohne dass es uns berührt; manches mag gar dazu führen, dass wir auf Distanz gehen. Wir werden nicht angesprochen und erfahren – vielleicht nur zunächst, bis wir uns neu auf ein Werk einlassen – einen Graben zwischen uns und einem bestimmten Werk. Neben Kunstwerken können auch alltägliche Dinge Nähe erzeu­ gen. Die Dinge der Welt sind nicht nur als Gegenstände zu verstehen, die uns – unseren Interessen – als Objekt gegenüberstehen. Sie selbst können zu bedeutungsvollen Zeichen werden und einen Anspruch formulieren. Sie berühren uns, wenn wir uns ihrer Geschichte und ihres besonderen Verhältnisses zu einem anderen Menschen bewusst werden. Daher bewahren wir oft Dinge auf, die verstorbenen Ver­ wandten oder Freunden gehört haben, auch wenn wir sie gar nicht brauchen oder sie in materieller Hinsicht wertlos sind. In der längst

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kaputten Uhr des Großvaters wird er selbst mit seiner Welt präsent, kommt uns nahe und berührt uns. Diese Uhr ist nicht einfach ein Hilfsmittel für unsere Erinnerung. Denn dann wäre sie leicht aus­ tauschbar. Es würde dann auch ausreichen, wenn wir einen Zettel mit der Aufschrift »An Großvater denken!« schrieben oder zu bestimmten Daten im Jahr entsprechende Kalendereinträge machten. Doch wir bezeichnen diese Memorabilien oft als ›unersetzbar‹ oder als in ihrem Wert ›unschätzbar‹. Und als ›Andenken‹ – nicht als Zeit messende Uhr und noch nicht einmal als Wertgegenstand – sind sie dies auch. Denn genau dies ist die Uhr, die unser Großvater über Jahre getragen hat; es ist die Uhr, die er zu einem runden Geburtstag von unserer Großmutter geschenkt bekommen hat; die Uhr, die wir als Kind so sehr an ihm bewundert haben, und die Uhr, die uns – anderes als alle anderen Uhren – an ihn denken lässt. Selbst in einer Uhr kann daher der Mensch, dem sie einmal gehört hat, nahe sein. Auch dies ist eine Nähe, die zum Handeln herausfordern kann. Die Nähe des Großvaters in seiner Uhr lässt uns vielleicht die Frage stellen, ob wir ihm und seinen Erwartungen in unserem Leben gerecht werden. Könnte er auf uns stolz sein? Genügen wir seinem Anspruch, der sich nun in der Uhr vermittelt? Der Reliquienkult der katholischen Kirche folgt einer ähnlichen Logik. Denn in den Reliquien sind Heilige präsent – und mit ihnen nicht nur die Hoffnung auf ihren Schutz, sondern auch ihr Anspruch: Folge ich ihnen, so kann sich der gläubige Mensch in ihrer Nähe fragen, und somit Christus wirklich nach oder gehe ich durch mein Leben zu ihnen auf Distanz? Es ist fraglich, in welchem Maße auch digitale Spuren oder Hinterlassenschaften eines anderen Menschen als Andenken dienen können. Manche Briefe bewahrt man ein ganzes Leben lang auf. Vermutlich gehen die meisten Menschen anders mit E-Mails als mit Briefen um, auch wenn vielleicht das, was in ihnen geschrieben wurde, ähnlich wichtig ist. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass die technische Übertragung von Botschaften zu einer anderen, anders vermittelten, weniger leiblichen und insofern distanzierteren Form von Nähe führt. Oft werden daher besonders wichtige Botschaften – Einladungen zu besonderen Festen, Todesanzeigen oder in anderer Hinsicht wichtige Nachrichten – noch brieflich übermittelt. Denn nur so stellt sich eine gewünschte Nähe ein bzw. nur so kann diese geäußert werden.

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4. Das Spiel von Nähe und Distanz: Gegebenheit und Entzug Es gibt nicht nur menschlich positive, sondern auch defiziente, teils höchst schmerzhafte und missbräuchliche Formen der Nähe. Dann fehlt die immer auch gebotene Distanz, die insofern kein negatives Phänomen ist. Sie ist nicht das radikal Andere einer nur positiv bestimmten oder bestimmbaren Nähe. Es gibt daher eine oft sehr komplexe Beziehung von Nähe und Distanz: Keine Nähe ohne Dis­ tanz. Das gebotene Verhältnis von Nähe und Distanz hängt von der konkreten Situation und von verschiedenen biologischen, sozialen, kulturellen oder religiösen Faktoren ab. In jeder konkreten Berührung – mit den Augen, mit der Hand, mit dem Wort oder einem Werk – zeigt sich das Spiel von Nähe und Distanz, das in seiner Ernsthaftigkeit nicht zu unterschätzen ist. Es ist alles andere als ein belangloses Spiel­ chen. Wenn ich eine vertraute Person herzlich umarme, kann dies angemessen, ja sogar erwartet und geboten sein. Aber die äußerlich identische Umarmung könnte bei einem anderen Menschen oder wenn sie zu lange dauert, zu intensiv ist oder sogar gegen den Willen eines anderen Menschen oder gegen eine geltende Konvention verstößt, völlig unangemessen und unmoralisch sein. Eine besondere Situation – die Freude oder auch die Trauer eines anderen Menschen – kann, weil ich mit ihm die Freude oder Trauer teile und mich mitfreue oder mitleide, zu einer größeren Nähe führen, die sich auch äußerlich ausdrückt. In dieser Situation mag möglich oder sogar angebracht sein, was in anderen Situationen ungewöhnlich, wenn nicht sogar übergriffig wäre. Ähnlich beim Blick oder Wort. Auch wenn Gewohn­ heit, Konvention und auch biologisch-anthropologische Rahmenbe­ dingungen in diesen Bereichen vieles bestimmen, sind die Fragen, wie lange man einen anderen Menschen anschauen darf, wie intensiv man sich in die Augen schauen sollte oder was man wie einem anderen Menschen sagen kann oder soll, nicht eindeutig festgelegt. Auch das Einander-Ansehen und das Miteinander-Sprechen unterliegen einem je situativen Spiel von Nähe und Distanz. Menschen bedürfen aber auf jeden Fall des Respektes vor ihrem Eigen- oder Schutzraum, dem unmittelbaren Nahbereich. Kommt man sich – etwa in einem Aufzug oder in einem Flugzeug – ungewollt zu nahe, geht man dadurch, dass man den Blicken des anderen Menschen ausweicht und nach unten schaut, zugleich auf Distanz. Daher gehört

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auch die Distanz zu den menschlichen Grundphänomenen. Ein dis­ tanzloser Mensch beherrscht die sozialen Regeln der Abstandnahme nicht. Dieser Mensch drängt sich mir auf und kommt mir zu nahe. Er rückt mir auf die Pelle, auf die Haut, und zwar so sehr, dass ich mich bedrängt oder verletzt fühle. Distanzlosigkeit kann daher als Gewaltakt verstanden werden. Es liegt ein Missbrauch vor, wenn der Schutzraum eines Menschen oder sogar seine ausdrücklichen Signale, die auf eine größere leibliche Distanz drängen, nicht anerkannt wer­ den. Auch durch eine zu große emotionale oder geistige Annäherung kann man die gebotene Distanz verletzen. So kann ein Mensch mir Fragen stellen, die mir unangenehm sind – weil sie zu intim, zu innerlich sind. Mit diesen Fragen ist er mir zu nahe gerückt – näher, als wir uns eigentlich stehen und als ihm daher zusteht. Was er wissen möchte, geht ihn nichts an. Diese räumliche Metapher bringt deutlich zum Ausdruck, dass es hier eine zu wahrende Distanz gibt. Ich suche dann das Weite, entferne mich vom Anderen und versuche, ihn auf Abstand zu halten. Jede Annäherung setzt also eine Distanzierung voraus. Es gibt keine Symbiose, kein dauerhaftes Nahekommen oder Verschmelzen mit einem anderen Menschen, das zu einer neuen und dauerhaften Einheit führte. Manchmal – gerade in der Phase einer ersten Verliebtheit – mag man sich nach einer solchen Einheit sehnen. Doch bleibt das Wir bei aller momenthaften Vereinigung immer die Gemeinschaft von Ich und Du. Die Wechselseitigkeit, die darin liegt, einander anzuschauen, die Hände zu schütteln oder miteinander zu sprechen, hebt die unterschiedlichen Seiten nicht auf. Es gibt jedoch noch einen anderen Grund dafür, dass in aller Nähe immer auch eine Distanz bleibt. Gerade wenn man einem Menschen sehr nahe ist, wenn man sich ihm – in Freundschaft oder Liebe – immer weiter annähert, kann man erleben, dass dieser andere Mensch sich immer auch entzieht. Damit ist nicht die populärpsycho­ logische Erkenntnis gemeint, dass es in sehr nahen Verhältnissen zwischen Menschen – sei es in einer Liebesbeziehung, in einer engen Freundschaft oder im Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern – um der Beziehung willen immer auch Phasen der Distanzierung gibt oder geben sollte. Es ist damit vielmehr auf eine vertiefte Form der Distanzerfahrung Bezug genommen: Je näher ich einem anderen Menschen komme, umso mehr zeigt sich dieser andere Mensch als zutiefst geheimnisvoll. Man kann nämlich einen anderen Menschen nie ganz kennen. Erkenntnis ist immer mit einem Entzug verbunden. Gerade indem der Andere sich mir zuwendet und sich zeigt, eröffnet

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sich etwas, das nicht ans Licht kommt, das in der Präsenz des Anderen abwesend bleibt und gerade als abwesend präsent ist. Menschen, die einander sehr gut kennen, weil sie seit Jahrzehnten engsten Umgang miteinander pflegen, alte Freunde oder langjährige Ehepart­ ner, berichten daher, dass sie immer noch Neues und Überraschendes an ihrem Freund oder Partner entdecken können und dass es immer noch Dimensionen gibt, die sich ihnen entziehen. Freundschaften oder Beziehungen können sogar scheitern oder werden höchst proble­ matisch oder sogar missbräuchlich, wenn der eine die Ansicht hat, nun endlich die andere gänzlich verstanden oder durchschaut zu haben. Bereits im Selbstverhältnis zeigt sich diese Dialektik von Gege­ benheit und Entzug. Eigentlich sollte man sich selbst sehr nahe sein, und doch entzieht sich das eigene Selbst immer auch dem eigenen Zugriff und Verstehen. So ist es mir möglich, ein Versprechen zu geben, also auf Zukunft hin einem anderen Menschen etwas – im äußersten Fall mich selbst und meine Treue – zu versprechen. Aber es könnte der Fall eintreten, dass es mir nicht möglich ist, dieses Versprechen zu halten, obwohl ich selbst fest daran geglaubt habe. Ich scheitere an meinem eigenen Vorhaben und verstricke mich in einer Schuld, die ich als tragisch erfahren kann – da ich wider meinen eigenen Willen schuldig geworden bin. Ich wollte doch gar nicht, was ich getan habe, und doch habe ich es getan. In dieser Erfahrung von Schuld kann ich mir selbst fremd und fern werden. Ich verstehe mich nicht mehr, bin mir nicht mehr nahe und gehe darüber hinaus zu mir selbst auf Distanz, bis es mir vielleicht möglich ist, mich mit dem Menschen, dem ich ein Versprechen gegeben habe, zu versöhnen. Es gibt – umgekehrt – auch den Fall, dass ich wider Erwarten über mich selbst – also über das, was ich selbst oder andere von mir erwarten – hinauswachse. Auch dies ist eine Erfahrung, in der ich mir fremd werde – allerdings in einer positiveren Weise. Ich bin über mich selbst angenehm überrascht. In diesem Fall fällt es freilich leichter, dass wieder eine neue Nähe zu einem selbst entsteht, als in dem Fall, dass ich mich selbst – und andere Menschen – enttäuscht habe. Es gibt also keine Nähe ohne Distanz. Andererseits gibt es unter Menschen keine Distanz ohne Nähe. Gegen diese These könnte man einwenden, dass es viele Menschen zu geben scheint, die mir so fern stehen, dass ich gar nicht mehr von Nähe sprechen kann: Sie wohnen weit weg, ich kenne ihre Namen nicht. Sie gehen mich nichts an, d. h. sie bewegen sich nicht auf mich zu, sie nähern sich mir nicht an und formulieren keinen Anspruch an mich. Es scheint zwischen ihnen

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und mir keine Bewegung zu geben und somit auch keine Form von Annäherung oder Nähe. Doch übersieht dieser Einwand die Erkennt­ nis des moralischen Universalismus, dass alle Menschen einander – letztlich – nahe sind, weil sie Teil der einen Menschheit(sfamilie) sind und miteinander, also auch für- und voneinander auf diesem Planeten leben. Selbst der fernste Mensch kann mich daher berühren und mir nahekommen. Sein Schicksal kann mich so betreffen, dass ich von ihm zum Handeln herausgefordert werde. Nicht selten geschieht dies, ohne dass ich es zunächst wollte. In meiner Freiheit werde ich durch den anderen Menschen angesprochen, berührt und heraus­ gefordert. Sein Schicksal ruft mich in die Verantwortung hinein: Ich soll ihm beistehen, d. h. nahe sein. So höre ich zum Beispiel von einer Naturkatastrophe in einem fernen Land – und plötzlich packen mich die Bilder, die ich sehe, oder sogar nur meine eigene Imagination. Ich stelle mir vor, wie schlecht es den Menschen ergeht, die dort leben, und wie sehr sie auf Hilfe angewiesen sind. Dann kann ich mich zwar in billigem Mitleid ergehen. Ich kann aber auch im Rahmen meiner Möglichkeiten tätig werden und die Herausforderung der Nähe, die sich eingestellt hat, praktisch annehmen. Das tue ich jedoch nur in eingeschränkter Weise, wenn ich im Rahmen einer Versicherungsmentalität handle – wenn ich also tätig werde, weil es mir selbst auch einmal schlecht gehen könnte, ich dann auf Hilfe angewiesen sein könnte und ich möchte oder erwarte, dass man mir dann auch hilft. Das wäre kein Handeln aus echter Nähe zum anderen Menschen, sondern letztlich aus Nähe zu mir selbst. Ich würde dann den Anderen auf ein Objekt meiner Interessen reduzieren. Wenn ich hingegen wirklich aus der Nähe zu einem anderen Menschen handle, erkenne ich an, dass dieser als er selbst mir nahesteht und ich insofern von ihm her und auf ihn hin handeln soll. Denn ich bin ihm trotz aller bisherigen äußeren und inneren Distanz irgendwie immer schon nahe gewesen und nun gilt es, diese Nähe primär um seinetwillen – und insofern um unseretwillen, um willen unserer gemeinsamen Geschichte – weiter zu gestalten. Dabei ist ganz offen, ob wir einander nahe bleiben oder nach einer kurzen Weile der Nähe – wie auch der barmherzige Samariter und das Opfer, dem er geholfen hat – wieder auseinandergehen.

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5. Kulturen der Nähe im technischen Zeitalter: Kunst und Religion In den Überlegungen zu den verschiedenen leiblichen Dimensionen der Nähe hat sich immer wieder eine wichtige Herausforderung gezeigt. Die gegenwärtige Lebenswelt ist immer stärker – bis in den zunächst unmittelbar leiblich bestimmten Alltag hinein – technisch bestimmt. Wir bewältigen nicht nur unsere vielfältigen Aufgaben technisch, wir stehen mit anderen Menschen auch in immer stärker technisch geprägten Verhältnissen und daher immer mehr in einem vermittelten Verhältnis. Wir kommunizieren, d. h. wir begegnen uns, teilen uns mit und nehmen aneinander Anteil, in einer zunehmend technisch vermittelten Weise. Das ist zunächst einmal kein negatives Phänomen. Vieles ist heute möglich, was bis vor kurzem noch ins Reich der Fantasie gehörte. Auch technisch vermittelte Kommunika­ tion ist Kommunikation und erlaubt die Begegnung von Menschen. Der Erfolg der medialen Techniken ist jedoch auch mit einem Verlust verbunden. Man kann in diesem Zusammenhang von einem wachsenden Verlust der Unmittelbarkeit sprechen. Dadurch gerät eine bestimme Form der Nähe in Gefahr: die für den Menschen grundlegende leibliche Nähe, die sich technisch, wie sich gezeigt hat, nur in Abschattungen vermitteln oder übertragen lässt. Begegnungen (und eben auch Berührungen) werden dadurch immer abstrakter, d. h. immer mehr vom konkreten Lebens- und somit vom Leibvollzug gelöst. Diese Entwicklungen haben Folgen, die sich aufgrund der komplexen Zusammenhänge – und weil wir uns derzeit noch mitten in dieser Medienrevolution befinden, ohne dass wir abschließend über sie befinden könnten – bislang nur schwer bestimmen lassen. Aber zumindest einige Fragen können formuliert werden: Vermut­ lich kommunizieren wir mittels der neuen sozialen Medien mehr als je zuvor. Aber ist mit der quantitativen Erweiterung auch eine qualitative Vertiefung unserer Kommunikation verbunden? Ist es nur Zeugnis einer romantischen Kulturkritik, wenn man vermutet, dass sich mit der Zunahme von ›Freunden‹ oder ›Likes‹ in sozialen Medien die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht unbedingt ver­ tiefen? Wäre ansonsten Einsamkeit ein solches Schlüsselproblem moderner Gesellschaften? Könnte es nicht sein, dass die technische Vermittlung menschlicher Begegnungen auch zu einer moralischen Abstumpfung führen kann? Wie leicht lässt man sich zum Beispiel

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bei einem Telefonat von einem Gespräch in einer Weise ablenken, die bei einer unmittelbaren Begegnung völlig ausgeschlossen wäre? Wie normal ist bei digitalen Sitzungen das Multitasking geworden, also die Beschäftigung mit mehr als nur einer Tätigkeit? Und kann die mediale Vermittlung von Leid, so wichtig sie ist, wenn es gilt, uns über die Situation anderer Menschen zu informieren und zur Hilfe zu motivieren, uns nicht auch gleichgültig werden lassen, weil wir tagein, tagaus sehr ähnliche Bilder sehen, an die wir uns schon längst gewöhnt haben?8 Könnten gewisse technische Neuerungen uns nicht menschlich überfordern, gerade weil sie uns voneinander entfernen, auch wenn sie zunächst den Anschein von Nähe erzeugen? Das sind Fragen, die in dieser oder prinzipiell vergleichbarer Weise seit Beginn der Neuzeit zwischen fortschrittsbegeisterten und kulturkritischen Denkern diskutiert werden. Unabhängig davon, wie man diese Frage beantworten mag, zeigt sich, dass die Technik nicht nur ein Mittel ist, das Menschen nutzen, ihr Leben zu erleichtern, also um beispielsweise schneller, besser, kostengünstiger kommunizieren zu können.9 Sie verändert auch die Art und Weise, wie sich Wirklich­ keit zeigt. Denn die Logik der Vermittlung und der Mittel drängt sich im Rahmen einer zunehmende (Vor-)Herrschaft der Technik immer stärker in den Vordergrund. Alles, was ist, selbst jede unmittelbare Begegnung, wird auf ein Mittel, ein Instrument reduziert. Daher fällt es immer schwerer, sinnvoll Zwecke zu finden, die dauerhaft Bestand haben und die als solche eine Quelle von Sinn und Zufriedenheit sein können. Bestenfalls können temporäre Zwecke gefunden werden, die nur Rechtfertigung haben, wenn sie sich wieder als Mittel für etwas anderes erweisen. Ein Beispiel kann diese Entwicklung in ihrer Ambivalenz illus­ trieren. Heute ist an die Stelle der ›Krankenschwester‹ in der Umgangssprache10 weitestgehend die ›Pflegekraft‹ getreten. Ein Grund dafür liegt in der Professionalisierung – und das bedeutet eben auch: der Technisierung und ›Instrumentalisierung‹ – der pflegen­ 8 vgl. hierzu Wolfgang Welsch (1998: 13ff.), der die psychische und soziale Anästheti­ sierung als systematische Desensibilisierung beschreibt. Für den Hinweis auf das Buch von Welsch sowie für weitere wertvolle Anmerkungen zu diesem Text danke ich sehr herzlich Charlotte Uzarewicz. 9 vgl. hierzu die Beiträge im dritten Teil des vorliegenden Bandes, insb. den Beitrag von Michael Uzarewicz. 10 Offiziell spricht man von Gesundheits- und Krankenpflegerin bzw. Gesundheitsund Krankenpfleger.

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den Berufe. Daran ist zunächst nichts auszusetzen. Es geht nämlich bei der Pflege eines Menschen auch darum, dass bestimmte Ziele möglichst effizient erreicht werden. Aber es gilt, auch zu verstehen, was mit dieser Entwicklung verloren geht. Die ›Pflegekraft‹ ist eine abstrakte, für verschiedene Zwecke einsetzbare ›Kraft‹, die sich auf die Menschen, die zu pflegen sind, im Normalfall positiv auswirkt. Mit ‚-kraft‘ wird dabei noch nicht einmal eindeutig auf eine Person Bezug genommen. Die Person der Pflegekraft wird somit ihrer ›Per­ sonhaftigkeit‹ und ihrer Persönlichkeit entledigt und rückt ein in die Reihe aller möglichen Kräfte, die positive oder negative Wirkungen haben und die zunächst einmal in der Physik untersucht werden, um dann technisch angewandt zu werden. Dagegen steht die Kran­ kenschwester (oder der „-bruder«, den es, von Ausnahmen wie den »Barmherzigen Brüdern« abgesehen, so nie gegeben hat und den man schon lange darauf reduziert hat, »Wärter« oder – später – »Pfleger« zu sein – aber immerhin eine Person!) schon von ihrer Bezeichnung her in einer verwandtschaftlichen Nähe zu den kranken Menschen, die sie pflegt. Auch wenn die Bezeichnung christliche Wurzeln hat, drückt sich darin auch eine philosophisch plausible Verwandtschaft aller Menschen miteinander aus: Wir gehören alle zur umfassenden Menschheitsfamilie. Die Person, die mich pflegt und sich um mich sorgt, ist in diesem Sinne meine Schwester, meine Nächste (oder mein »Bruder«, mein »Nächster«). Wir stehen uns nahe – einfach dadurch, dass wir Menschen sind und mit-, für- und voneinander da sind. Es ist nicht möglich, die ›entfernende‹, Distanzen nicht nur ab-, sondern auch aufbauende Entwicklung der Technik rückgängig zu machen. Es ist aber möglich und notwendig, kritisch diese Entwick­ lung zu begleiten und der technischen Rationalität und somit der technischen Aufhebung von Nähe nicht nur gelegentlich Einhalt zu gebieten, sondern prophetische Kulturen der Nähe an die Seite zu stellen. Solche Kulturen der Nähe finden sich u. a. in der Kunst und in der Religion. Auch wenn beide zunehmend in die Einflusssphäre der Technik geraten sind, also selbst sich der Technik bedienen und dabei auch technisch transformiert werden, so besitzen sie trotzdem das Potential, an Formen der Nähe zu erinnern, die sich technisch nicht vermitteln lassen – nicht selten dadurch, dass sie zunächst einmal neue Distanzen erzeugen. Allein schon das verbreitete Verhältnis zur Kunst zeigt einen gewissen Widerstand zur technischen Welt. Denn die meisten Men­ schen wollen nicht nur technische Reproduktionen von Kunstwerken

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Holger Zaborowski

sehen, sondern sehnen sich danach, wenigstens einmal das Original eines berühmten Kunstwerkes zu sehen. Auch wenn man nur wenige Sekunden mit gebotenem Abstand davor stehen bleiben kann, möchte man die ›Mona Lisa‹ einmal ›in echt‹ oder ›wirklich‹ gesehen haben. Anders als Walter Benjamin dachte,11 führt die technische Repro­ duktion von Kunstwerken nicht zum Verlust ihrer Aura, sondern kann sie noch intensivieren. Gerade weil die ›Mona Lisa‹ unzählige Male reproduziert wurde und man so aus einem Abstand heraus dieses Kunstwerk sieht, will man endlich auch einmal dem Original nahe sein. Museen sind daher auch Orte der Nähe. Kunst kann aus der Erfahrung von Distanz – angesichts einer Reproduktion – neue Nähe schaffen und dabei auch Menschen zueinander führen. Denn genau dies ist eine der wichtigsten Aufgaben von Kunst in spätmodernen Zeiten, der sich manche Künstlerinnen und Künstler auch ausdrücklich stellen: Räume von Nähe unter Menschen, also von Begegnung, Berührung und Kommunikation, zu eröffnen. Das kann auch bedeuten, dass diese Räume zunächst einmal irritieren und gewohnte Sichtweisen radikal in Frage stellen. Indem sie uns distanzieren, eine Distanz zwischen sich und unserer Lebenswelt und ihren Erwartungen erzeugen, erlauben sie neue Möglichkeiten der gewandelten, veränderten Annäherung an die Welt. In der Religion zeigen sich ähnliche Formen der expliziten oder impliziten Auseinandersetzung mit der technischen Welt und ihrer Vermittlungen von Nähe. Denn trotz aller heute möglichen Formen der medialen Vermittlung, hat die konkrete Nähe für den religiösen Vollzug eine besondere Bedeutung. Digital lässt sich vieles vermitteln, aber nur in sehr eingeschränkter Weise die für den religiösen Vollzug unverzichtbare leibhafte Dimension des Religiösen. Man kann einem anderen Menschen ohne Frage digital Segen zusprechen; aber es ist nicht möglich, dass man sich dabei in die Augen schaut und sich auch berührt. Dabei sind für das Segnen die konkreten leiblichen Gesten von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Interessanterweise finden sich im religiösen Bereich wie auch in der Kunst Gegentendenzen zu Formen technisch bedingter Distanzierung. So hat das Pilgern in den letzten Jahren eine neue Aktualität gewonnen. Wenn man pilgert, entfernt man sich aus dem Bereich des Gewohnten (und somit auch aus der technischen Welt). Man macht sich auf einen Weg, der nicht nur ein Mittel ist, sondern selbst schon ein Zweck, weshalb sich auch 11

vgl. Benjamin 1980.

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Von Leib zu Leib. Das Spiel von Nähe und Distanz

nicht die Aufgabe stellt, ihn möglichst schnell – mit dem Auto oder Flugzeug – zu bewältigen. Es gehört gerade zur Pilgerschaft, sich langsam – entschleunigt, weniger distanziert zum Weg selbst, mit der Möglichkeit, der Welt und ihren Menschen (und sich selbst) näher zu kommen – fortzubewegen, um wieder zu sich kommen und eine neue Nähe zu gewinnen. Aus der Ferne kann man das Altbekannte neu entdecken. So kann gerade Distanz zu neuer Nähe führen. Die Distanzierung von der technischen Welt – sei es in der Religion oder in der Kunst oder auch auf anderem Wege – mag daher notwendig sein, um neu sich selbst, anderen Menschen und der Welt nahe zu kommen: in der Begegnung des Blickes, der Berührung, des Wortes und des Werkes.

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Holger Zaborowski

Ulrich, Jörg: Virtus est ordo amoris. Zum Prinzip der Ordnung der Liebe bei Augustinus, in: K. Tanner (Hg.), »Liebe« im Wandel der Zeiten, Leipzig 2005: 53–61. Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, Stuttgart 1998. Zaborowski, Holger: Nähe. Annäherungen an ein menschliches Grundphäno­ men, in: G. Giovanni (Hg.), Von Angesicht zu Angesicht. Zur Bedeutung der persönlichen Begegnung in der Medizin, Freiburg/Basel/Wien 2020: 156–182. Zaborowski, Holger: Identität, Alterität, Nähe. Menschsein und das Ereignis der Barmherzigkeit, in: J. Bündgens /C. E. Vasseur: Identität, Freiburg/München 2018: 18–30.

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Robert Josef Kozljanič

Spüren, Berühren, Berührtwerden. Über die Schlüsselrolle der Herzgefühle bei leibseelischen Berührungen

1. Einleitendes Nur wer leiblich spüren kann, kann berührt werden und berühren. Dabei ist es manchmal wichtig, die Augen zu schließen: um besser hinspüren zu können. Dann gibt es wieder Situationen, wo wir genau hinschauen sollten. Etwa, wenn es darum geht, das Leid oder die Liebe Anderer zu sehen. Dann gilt: Augen auf. Aber ebenso: Spürsinn auf. Denn nur, wenn wir spürend schauen, können wir sehen, wie es Anderen geht: um uns von ihrem Leid oder ihrer Liebe berühren zu lassen. Meist wird es vergessen, aber es ist doch wahr: Berühren und berührt werden, sich leiblich und seelisch berühren lassen, sind zutiefst menschliche Erlebnisse und Vollzüge. Ohne sie kein Sichund Andere-Fühlen, kein Mitleid, keine Mitfreude, kein Mitgefühl, keine Liebe. Ich mache mich in diesem Aufsatz auf die Suche nach dem, was es braucht, um berührt zu werden und Andere zu berühren. In den Blick kommen dabei: der Spürleib, die leibliche Herzinsel und ihre strömenden Herzgefühle, die leibseelische Herzkommuni­ kation zwischen Bauch und Kopf, zwischen Innen und Außen. Das in den Blick Gebrachte stellt eine Vertiefung dessen dar, was in den beiden Gemeinschaftsarbeiten zur »Leiblichkeit des Herzens« skizziert wurde.1

1 vgl. Kozljanič/Rösing/Scheuchl 2020: 37–39; Kozljanič/Scheuchl/Walker 2021: 40–43.

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Robert Josef Kozljanič

2. Leiblichkeit versus Körperlichkeit, Spürleib versus Körperding: Hermann Schmitz Anfangs eine erste Unterscheidung: Körperlichkeit versus Leiblich­ keit. Diese Unterscheidung ist an Hermann Schmitzʼ Neuer Phä­ nomenologie (und hier wiederum v. a. an seiner Leibphänomenolo­ gie2) orientiert, aber von mir (er-)lebensphilosophisch gerahmt und geöffnet.3 Und deshalb betone ich gleich, dass ich diese Unterschei­ dung nicht wie Schmitz absolut, sondern relativ und heuristisch auffasse. In diesem lebensphilosophisch-neophänomenologischen Sinne ließe sich formulieren: Körperlich ist zunächst das, was sich am Körper betasten, sehen, wiegen, messen lässt; was sich also in der Außen- oder Beobachterperspektive einzelsinnlich-dinglich erfas­ sen und quantifizieren lässt. Leiblich soll uns dagegen zunächst das sein, was sich nur am und mit dem eigenen Leib qualitativ erspüren lässt. Der von der Lebensphilosophie und Existenzphänomenologie ausgehende Psychotherapeut Eugene T. Gendlin (1926–2017) spricht diesbezüglich vom »von innen gefühlten Körper« oder auch davon, dass es darum gehe »wie man den Körper von innen erlebt«.4 Die­ sen von innen gefühlten und erlebten Körper meint auch Hermann Schmitz, fasst ihn aber terminologisch schärfer und einschränkender als »Leib«. Schmitz unterscheidet den subjektiv spürbaren (und spürenden) »reinen Leib« vom objektiv sicht- und betastbaren »reinen Körper«; also, in meinen Worten, den Spürleib vom Körperding. Dazwischen steht für ihn ein merkwürdiges Zwitterwesen: der »körperliche Leib«, der sowohl spüren, als auch einzelsinnlich wahrnehmen – und dadurch in gewisser Weise zwischen den beiden anderen vermitteln soll.5 Zum spürbaren Leib gehört alles, »was jemand von sich, als zu seinem eigenen Zustand gehörend, in der Gegend (nicht unbedingt in den Grenzen) seines eigenen sichtund tastbaren Körpers spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) und des

Schmitz 1965. vgl. Kozljanič 2006: 58–65; 322–325. 4 Gendlin 2008: 113; vgl. hierzu Croome 2007: 237–249. 5 vgl. hierzu den Abschnitt »Reiner Leib, körperlicher Leib und reiner Körper« in: Schmitz 1965: 53–55; zur Kritik dieser Unterscheidung vgl. Kozljanič 2006: 62–65.

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perzeptiven Körperschemas (des habituellen Vorstellungsbildes vom eigenen Körper) zu stützen.«6

Um den Leib und seine Regungen zu spüren, bedarf es eines Fühl­ vermögens; und mit ihm zwangsläufig einer spürenden Innenper­ spektive und damit auch eines, wie Schmitz es nennt, »affektiven Betroffenseins« von berührenden oder in Besitz nehmenden Gefüh­ len: »Gefühle sind Atmosphären, die den Menschen durch leibliches, affektives Betroffensein (eigentliches Fühlen im Gegensatz zum Füh­ len im Sinne bloßen Wahrnehmens dieser Atmosphären) ergreifen können.«7 Mit meinen Worten: Ohne ein Zulassen, Wahrnehmen und Anerkennen des Selbstgespürten, Selbstgefühlten kommt Leib­ lichkeit nicht in den Blick. Wer also wissenschaftlich, philosophisch und/oder persönlich mit der Leiblichkeit ›ein Problem hat‹, tut gut daran, das berührende und betroffen machende Selbstgespürte von vornherein methodisch auszuschließen und zu ignorieren. Ein Großteil aller ›streng‹ wissen­ schaftlichen Methoden verfahren, offen oder subtil, genau in dieser Weise. Dahinter steht die (letztlich fundamentalistische) Ansicht, Rationalität können nur unter Ausschluss des Gefühlten und Gespür­ ten funktionieren. Dabei ist doch entwicklungspsychologisch und erkenntnisgenetisch offensichtlich, dass sich Rationalität erst auf der Basis des Gefühlten konstituiert und stets in feiner Abstimmung dazu hält. Wie bereits Bollnow sah, stellt die »theoretische Haltung« eine spezielle Weise des Gestimmtseins des inneren Gefühlshaushaltes dar: »als ein nur in gewisser Reife erreichbarer und immer gegen Stö­ rungen besonders empfindlicher Gleichgewichtszustand«, der aber selbst »Stimmungscharakter« trage.8 Das Austreiben der Gefühle aus den Wissenschaften ähnelt einer subtilen exorzistischen Praxis. Diese unterschwellige Praxis sollte meines Erachtens, mehr als bisher, entlarvt und therapiert werden.9 Denn sie verschweigt und vergisst: Den Gefühlen wohnt eine spezifische und unersetzbare »Urteilskraft« ein.10 Ohne sie keine »lebendige Vernünftigkeit«, keine »Lebens­ erfahrungsvernunft« – letztlich auch keine Menschlichkeit.11 Ein Schmitz 2003: 25. Schmitz 1995: 201. 8 Bollnow 1988: 64f. 9 vgl. Jahrbuch für Lebensphilosophie 8/2016–2017. 10 siehe: Meier-Seethaler 1997. 11 siehe: Pothast 1998; und: Kozljanič 2018: 181–204. 6 7

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sinnverstehender menschlicher Zugang zu Lebenswelt und Lebens­ wirklichkeit ist ohne diese emotionale Urteilskraft nicht möglich. Am Leib ist nun nicht nur der Zustand der eigenen Gesamt­ befindlichkeit zu erspüren. Es sind auch einzelne »Leibesinseln«12 spürbar. So machen sich etwa beim Ein- und Ausatmen verschiedene Leibesinseln, vom Bauch- über den Brust- bis zum Hals- und Rachen­ bereich bemerkbar. Leibesinseln, die weder eigentlich sicht- und betast-, noch auch riech-, schmeck- oder hörbar, wohl aber deutlich spürbar sind. Oder: Bei plötzlichem Erschrecken ist ein blitzartiges Aufzucken einer Leibesinsel um den Solarplexus zu spüren; ein Auf­ zucken, das sofort in ein spürbares Nach-unten-Abgleiten übergeht, wozu der Volksmund treffend sagt: »Da ist mir das Herz in die Hose gerutscht«. In manchen sorgenbeladenen Lebenssituationen spüren wir einen deutlichen Druck auf bzw. in der Brust; wir atmen dann schwer und seufzend und sagen: »Ach, mich bedrückt etwas, mir liegt etwas auf der Brust«. Bei Beklommenheit und herannahenden Tränen macht sich ein krampfendes Gefühl im Hals bemerkbar: der sprichwörtliche Kloß im Hals. Das Phänomen der Phantomglieder – dass z. B. jemand an der Stelle seines nicht mehr vorhandenen amputierten Beines Schmerzen spürt – zeigt, dass leibliches Spüren nicht zwangsläufig in die Grenzen des dinglichen Körpers gebannt sein muss. Schmitz fasst das präzise so zusammen: »Einige Leibesinseln sind beständig mit charakteristischer Gliederung und/oder Dynamik mehr oder weniger unaufdringlich spürbar, z. B. in der oralen, analen oder Sohlengegend; die meisten kommen und gehen flüchtig, als ein Gewoge verschwommener Inseln, das aber nicht völlig unberechenbar ist, sondern mit Variationen des vitalen Antriebes gesetzmäßig zusammenhängt.«13

Leib und Leibesinseln haben demnach ihre ganz eigene Topographie, Struktur und Dynamik. Im eigenleiblichen Spüren wird ein ganz eigener, lebensweltlich fundamentaler Phänomenbereich greifbar; ein Phänomenbereich, der rein körperlich-objektiv nicht einholbar ist. Und – so möchte ich einen wichtigen Punkt ergänzen – obwohl der Spürleib über die körperdinglich aufgefassten Einzelsinne nicht einzuholen ist, hängt er doch mit diesen Einzelsinnen engstens (sozusagen hintenherum) zusammen. Er ist der ›Sinn‹, in dem alle einzelnen Sinne wurzeln und ihren Ursprung haben. Die Psychologie 12 13

zum Begriff der »Leibesinseln« vgl. Schmitz 1995: 119. Schmitz 2003: 29.

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der Romantik wusste darum und sprach vom »Gemeingefühl«. Carl Gustav Carus (1789–1869) hebt in seinen »Vorlesungen über Psycho­ logie« hervor: »1.) daß jedesmal die erste und ursprüngliche Wahrnehmung, welche die Seele von der Natur haben kann, das unbestimmte Gefühl des Zustandes der eigenen Organisation sein muß, eine Wahrnehmung oder einen Sinn, welchen wir mit dem Namen des Gemeingefühls zu bezeichnen pflegen; 2.) daß alles, was wir besondere Sinne zu nennen pflegen, nichts anderes sein könne, als Modifikationen dieses Gemeingefühls; 3.) daß jede dieser Modifikationen des Gemeingefühls, oder jeder einzelne Sinn, uns gewisse, durch äußere Einwirkungen verursachte Änderungen unseres Zustandes zum Bewußtsein bringen müsse, durch welche Änderungen wir dann eben zum Wahrnehmen jener äußeren Einflüsse selbst kommen.«14

Im leiblichen Spüren ist für Schmitz nicht nur Eigenes zugänglich, sondern auch Nicht-Eigenes: Gefühle und Befindlichkeiten anderer Menschen, Anmutungsqualitäten von Dingen und Kunstwerken, cha­ rakteristische Stimmungen von Orten und Landschaften, klimatische und jahreszeitliche Atmosphären: also die ganze Welt gefühlsarti­ ger, atmosphärischer und sonstwie erfühlbarer Phänomene. Wie es Gernot Böhme aus neophänomenologischer Perspektive klarstellt: »Das Entscheidende an der Rede von den Atmosphären ist, daß mit ihnen Gefühlsqualitäten draußen, an der Umgebung, an den Dingen erfahrbar werden.«15 Gerade auf dem Gebiet der Aufdeckung und Explikation leiblich spürbarer Atmosphären als räumlich ergossener Gefühle liegt eine der Stärken der Neuen Phänomenologie. Schmitz drückt das wieder sehr präzise aus: »Die auffälligste Provokation der hergebrachten Denkweise durch die Neue Phänomenologie betrifft die Auffassung des Gefühls. Gefühle sind Privatsache, die jeder in seiner persönlichen Innenwelt, z. B. in seiner Seele verwahrt – das gilt als ausgemacht; die letzten, die nach Aischylos und Empedokles anders glaubten, waren die Urchristen.«16

14 15 16

Carus 1931: 118; vgl. auch: Fuchs 1995: 103–112. Böhme 1985: 199. Schmitz 2003: 43.

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»Die Neue Phänomenologie«, so Schmitz, stelle dieses vor-ontologi­ sche, antike »Gefühlsverständnis wieder her, indem sie scharf zwischen dem Gefühl selbst und dem Fühlen des Gefühls unterscheidet und das Fühlen nochmals differenziert: als affektives Betroffensein oder bloßes Wahrnehmen des Gefühls. Das so verstandene Gefühl ist eine räum­ lich ausgedehnte Atmosphäre, räumlich nicht [im körper-dinglichen Sinne] wie eine Figur in 1–3 Dimensionen mit Lagen und Abständen, sondern [im spürleiblichen Sinne] wie die feierliche Stille eines hohen Festes und die drückende eines schwülen Mittags, oder wie das Wetter, in das man eintaucht, wenn man z. B. aus einem von Menschen überfüllten Binnenraum mit dumpfer Luft tief aufatmend ins Freie einer frischen, kühlen Dämmerung tritt.«

Solche Atmosphären«, so Schmitz weiter, würden »den Betroffenen leiblich spürbar ergreifen und aufnehmen […]; in diesem Sinne nenne ich sie ›randlos ergossen‹.«17

3. Kopf, Herz, Bauch: drei große, komplexe, dynamische Leibesinseln Das enorme lebensphilosophische Erhellungspotenzial, das der Lei­ besinselbegriff in sich birgt, zeigt sich u. a. dann, wenn wir die drei leibseelischen Instanzen, die die Umgangssprache mit den Wörtern Kopf, Herz, Bauch bezeichnet, leibphänomenologisch ernst und wört­ lich nehmen. Wenn z. B. jemand sagt: »Dieser Mensch ist ein reiner Kopf­ mensch, er ist völlig verkopft«, dann meint er ja nicht, dass dieser Mensch – rein körperlich gesehen – nichts als Kopf wäre oder besten­ falls noch ein Kopf mit Händen und Füßen, aber ohne Brust-BauchBereich. Nein, er meint vielmehr, dass dieser Mensch ein einseitiger Rationalist sei, nur Denk- aber eben nicht Gefühls- und Stimmungs­ mensch. Er meint dann, leibphänomenologisch ausgedrückt, dass bei dem betreffenden Menschen gewisse Leibesinseln unterentwickelt, abgedrängt oder nicht vorhanden seien: Leibesinseln im Brust- und Bauchbereich, also dort, wo mensch normalerweise Gefühle und gefühlsartige Resonanzen vernimmt. Und Gegengleiches gilt für die 17

Schmitz 2003: 44.

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Redensart vom »Bauchmenschen« als einem Menschen, der ›aus dem Bauch heraus lebt, handelt und entscheidet‹. Ein anderes Beispiel: wenn jemand umgangssprachlich sagt: »Dieser Mensch da hat kein Herz, er ist herzlos, sonst würde ihm das Leiden seines Mitmenschen zu Herzen gehen«, dann meint er damit nicht, dass dieser Mensch, rein körperlich gesehen, kein Herz im Körper habe. Er meint etwas anderes. Nämlich dass der Betreffende kein Mitgefühl habe oder, leibphänomenologisch ausgedrückt, dass er genau dort, wo ein emo­ tional integrierter Mensch sonst beim Anblick eines leidenden Mit­ menschen oder Lebewesens ein schmerzlich ziehendes (Mit-)Gefühl in der eigenen Brust- und Herzgegend spüre, anscheinend nichts spürt. Er meint also, dass die Leibesinsel ›Herz‹ nicht oder nur rudimentär vorhanden sei oder auch vom Bewusstsein abgespalten bleibe; jedenfalls nur schlecht bis gar nicht aktiviert werden könne. Rein körperlich gesehen ergeben alle diese umgangssprachlichen Wendungen keinen Sinn. Physiologisch-naturwissenschaftlich und psychologisch-naturwissenschaftlich gesehen, sind diese Wendungen nicht wirklich sinnvoll und der ›Realität‹ entsprechend. Darin ist wohl auch der Grund zu sehen, wieso alle bisherigen Versuche, diese umgangssprachlichen Wendungen mit naturwissenschaftlichen Theorien in Übereinstimmung zu bringen, gescheitert sind.18 Ganz anders sieht die Sache aber aus, wenn sie leiblich betrachtet wird. Dann gelingt es, zu sehen, dass den diversen Redensarten tatsächliche lebensweltliche Erfahrungen entsprechen; dann können diese Erfah­ rungen erst anerkannt und leibphänomenologisch untersucht wer­ den. Werfen wir einen Blick in das hierfür entscheidende Buch von Hermann Schmitz: »System der Philosophie. Band 2, Teil 1: Der Leib.« Schmitz bringt darin viele Beispiele zum eigenleiblichen Spüren dieser drei leiblichen Großinseln – ohne diese drei Großinseln eigens herauszuarbeiten oder zu benennen. Mit einer Ausnahme: nur einmal spricht er von der »Herzinsel«.19 In jedem Fall sind seine Beispiele sehr erhellend. Er trägt sie aus der Geistesgeschichte und Literatur sowie aus der psychologischen Forschung zusammen. Und schafft damit 18 Und darin mag auch ein Grund liegen, wieso die Kultur- und Geisteswissenschaf­ ten – zumindest insofern sie direkt oder indirekt am mathematisch-quantifizierenden Paradigma der Naturwissenschaften orientiert sind – diese Wendungen nicht wörtlich nehmen können/wollen. 19 Schmitz 1965: 296.

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die Möglichkeit, erstmals leibphänomenologisch fundiert über diese komplexen Leibesinseln zu reden. Zunächst einige Beispiele zum Kopf-Erleben. Als eine besondere Fundgrube hat Schmitz das Buch von Karl Girgensohn »Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens. Eine religionspsychologische Unter­ suchung auf experimenteller Grundlage«20 entdeckt. Er zitiert daraus eine Versuchsperson: »Es waren da so recht, recht viele Gedanken, aber keiner war ganz klar außer einem. Der trat immer mehr in den Vordergrund, so daß die andern ganz verschwanden. Es war mir so, als ob sie weggingen und der eine Gedanke sich räumlich in mir immer mehr ausdehnte und die anderen verdrängte. ([Versuchsleiter:] Wo war das?) Im Kopfe. (Wie weit gingen die äußeren Grenzen seiner Ausdehnung?) Nach der einen Seite bis zur Stirn. Rückwärts war die Grenze unbestimmt.«21

Schmitz weiter: »Wahrscheinlich ist die Leibesinselbildung beim Denken bei vielen Menschen nicht so aufdringlich. Kant z. B. scheint jedoch Ähnliches gespürt zu haben, wie seine Bemerkung verrät: »Die herrschende Meinung der Seele einen Platz im Gehirn anzuweisen, scheint haupt­ sächlich ihren Ursprung darin zu haben, daß man bei starkem Nach­ sinnen deutlich fühlt, wie die Gehirnnerven angestrengt werden.»[22] Darüber hinaus zeigt sich die Neigung der Kopfgegend zu besonders leicht beweglicher Inselbildung auch im autogenen Training. […] »Das subjektive Erlebnis bei der Vergegenwärtigung: die Stirn ist ein wenig kühl wird von der Mehrzahl gut beobachtender Versuchspersonen so geschildert, als […] liege der Körper schwerwarm irgendwo unten, der Kopf schwebe kühl darüber, so daß häufig zum Vergleich mit Mondlandschaften usw. gegriffen wird«.[23] […] Dieser Wandelbarkeit ungeachtet, weist aber auch die statische Gliederung des Leibesinselge­ füges gesetzmäßige Züge auf.«24

Bezüglich des Brust-Erlebens bringt Schmitz ebenso bezeichnende Beispiele. Wenn jemand emotional attackiert oder verletzt wird oder sich sonst wie affektiv konfrontiert sieht, kann es sein, dass sich etwas Leipzig 1921 Girgensohn 1921: 266. Zit. in: Schmitz 1965: 9 u. 290. Die Passage geht weiter: »(Ging es bis zum Halse?) Nein.« 22 zit. aus: Kant 1912: 325. 23 zit. aus: Schultz 1956: 84. 24 Schmitz 1965: 290f. 20

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in seiner Herzinsel anspannt und verschließt. Davon berichtet eine Versuchsperson Girgensohns: »Es kommt mir so vor, als ob ich in der Brust, Mittelpunkt in der Herzgrube, etwas zusammenziehe und zuschließe. D. h. vielleicht kann ich auch sagen, es zieht sich dort etwas zusammen.«25 Schmitz expliziert: »Das Spüren eines Mittelpunktes und einer Zusammenziehung deutet abermals auf zentralisierte Glie­ derung einer Leibesinsel.«26 – Wie wir alle wissen, tritt in Momenten der Entspannung und Erleichterung eine gegenpolare Bewegung auf: uns fällt, wie es heißt, ›ein Stein vom Herzen‹, d. h. wir atmen und stöhnen erleichtert auf, die Brust weitet und öffnet sich, lustvoll dehnen sich Atmung und Leib. »Beim freudigen Blick in eine weite, einladende Landschaft wird uns ›weit ums Herz‹, ebenso in ähnlichen Fällen«.27 – Wieder anders bei Mitgefühl und Mitleid: Hier fühlen wir das Leid eines anderen Menschen und Lebewesens mit. Nicht als kör­ perlichen Originalschmerz, sondern als leibseelischen Mitschmerz. Diesen Mitschmerz spüren wir leiblich in unserem Brustbereich. Dort verkrampft sich dann etwas – ohne dass es sich um einen körperlichen Muskelkrampf handeln würde. Daraufhin kann sich – v. a. wenn wir ohnmächtig zur Untätigkeit verdammt sind – ebenfalls etwas in der Brust verschließen und wir verbittern. Es kann aber auch anders kommen, etwa so, dass ein klarer Handlungs- und Hilfsimpuls hervorgeht, dass Gedanken aus der Brust aufsteigen. Davon zeugen andere, aufschlussreiche Beobachtungen von Girgensohns Versuchs­ personen: »Ich habe dort in Wirklichkeit natürlich keine Gedanken, denn ich weiß, daß man nur mit dem Gehirn denkt. Wenn ich das nicht wüßte, könnte ich mit Gewißheit annehmen, daß ich in der Brust denke. Die Gedanken, die mit dem Mitleid verbunden waren, entstanden alle in der Brust und stiegen von da auf. Erst zum Aussprechen holte ich die höher hinauf.«28 »Ich hatte das Empfinden, als ob aus der Brust dieses Gefühl, das ursprünglich dort entstand und festsaß, sich loslöste und emporstieg,

Girgensohn 1921: 233. Zit. in: Schmitz 1965: 289. Schmitz 1965: 289. 27 Schmitz 1966: 23. 28 Girgensohn 1921: 249. Außer den ersten beiden Sätzen zit. in: Schmitz 1965: 9 u. 294. 25

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ohne ein festes Ziel zu finden, aber etwas nach den Augen zu. […] Die Stirn war ganz frei; von da schien nichts zu kommen.«29

»Das Gefühl wurde zum Gedanken. Aber das ist ein anderes Den­ ken als sonst, denn es kommt gar nicht bis zur Stirn. Trotzdem weiß ich unmittelbar in der Brust, was ich fühle.«30 Wie sich zeigt, können aus dem Brustbereich (aber auch Bauchbereich) Gefühle aufsteigen und zu Gedanken werden. Diese aufsteigenden Gefühle, die zu Gedanken werden (können), bilden die Basis dessen, was ich ›lebendige Vernunft‹ oder auch ›Lebenserfahrungsvernunft‹ nenne. Auf diesen entscheidenden Punkt bin ich in anderen Publikationen bereits eingegangen.31 Hier genügt es zunächst, darauf hinzuweisen, dass das möglich und erlebbar ist; und dass es offensichtlich zwischen den Leibesgroßinseln vermittelnde (Kommunikations-)Prozesse gibt. Ich komme darauf zurück. Was das Bauch-Erleben betrifft, zunächst meine eigenen Beob­ achtungen. Was ich in Momenten echter Existenzangst oder auch in Phasen einer Angst vor einer ungewissen beruflichen Zukunft wiederholt und ganz deutlich spüren konnte, war ein hintergründig mächtiges, drohend lähmendes Gefühl im Unterleib; eine tiefe und abgründige Bauchangst, die mich wie ein unhörbares unheilvolles Dröhnen in der Tiefe unterschwellig begleitete.32 – Gut erinnere ich mich auch daran, wie meine Geschwister und ich in Kindertagen auf angstbesetzte Herausforderungen mit dem Bauch reagierten. Z. B. mit einem unbewussten Zurückhalten von Urin und Stuhlgang bis hin zu Bauchweh und Unterleibskrämpfen. Es war, als hätten wir vor Angst den ganzen Bauch verkrampft und gleichsam eingefroren. – Mit dem Verkrampfen des Unterleibs werden nicht nur Urin und Stuhlgang zurückgehalten, sondern auch die tieferen Bauchgefühle eingefroren. Mit einem körperpsychotherapeutischen Zitat sei hier kurz veranschaulicht, welche emotionalen Auswirkungen solch ein Einfrieren bei Erwachsenen haben kann. Der Bauch, so hat es der Wil­ Girgensohn 1921: 250. Zit. in: Schmitz 1965: 294. Girgensohn 1921: 314. Zit. in: Schmitz 1965: 294. 31 vgl. hierzu Kozljanič 2018: 181–204; aber auch: ders. 2016–2017: 171–187; wichtig auch: ders. 2012–2013: 19–42. 32 Schon lange versuchen Hollywood-Filme diese Bauchangst durch einen tiefen und gleichsam unterirdisch im Hintergrund leise mitdröhnenden Basston suggestiv einzusetzen bzw. an spannend-bedrohlichen Stellen bei den Zuschauer/innen hervor­ zulocken. 29

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helm-Reich-Schüler Alexander Lowen formuliert, kann z. B. zusam­ mengezogen und gehalten werden, »um Gefühle von Traurigkeit zu unterdrücken. Wir ziehen den Bauch ein, um Tränen und Schluchzen zu kontrollieren. Wenn wir loslassen, sind wir in Gefahr, ein tiefes Weinen aus dem Bauch herauszulassen. Damit ermöglichen wir aber auch ein tiefes Bauchgelächter. Ob wir nun lachen oder weinen, es ist im Bauch, wo wir unser Leben mit Saft und Kraft erleben. Hier wird das Leben empfangen und ausgetragen. Hier beginnen unsere tiefsten Wünsche. Wenn Sie Gefühle unterdrücken wollen, halten Sie den Bauch angespannt. Aber dann müssen Sie die Tatsache akzeptieren, kein lebendiger, pulsierender Mensch zu sein. Und wenn Sie sich über innere Leere beschweren, sollten Sie sich bewußt sein, daß Sie Ihre eigene Fülle abschneiden.«33

Reich und Lowen haben immer wieder beobachtet, dass neuroti­ sche Menschen, die ja oft traumatische Erlebnisse einfrieren und abpanzern müssen, einen chronisch harten – oder wie sie sagen: muskulär gepanzerten – Bauch haben, eine hohe Bauchspannung.34 Reich spricht davon, dass vermittels verhaltenem Atem und der »Bauchpresse« sowohl »Bauchangst« als auch »Sexuallust« eingefro­ ren werde. Eine depressive Patientin drückte das so aus: wenn Bauch­ gefühle hoch kommen wollten, »rückte sie sich im Bauch zurecht«. Daraufhin hielt sie »den Atem an und starrte durchs Fenster wie in weite Ferne. Die Augen bekamen dabei einen leeren, wie nach innen gekehrten Ausdruck. Die Bauchdecke wurde angespannt und die Gesäßbacken eingezogen. Sie sagte später: ›Ich mache den Bauch tot, dann spüre ich nichts mehr; sonst hat mein Bauch schlechtes Gewissen.‹ Gemeint war: ›Sexuallust und daher schlechtes Gewissen.‹«35

Die Muttersprache und ihre Redensarten scheinen beides zu bestä­ tigen: sowohl die tiefen Bauchgefühle als auch die dortigen Abla­ gerungs- und Einfriervorgänge. Etwa wenn es heißt ›Ich hab eine solche Wut im Bauch‹, ›Ich hab Schmetterlinge im Bauch‹, ›Mich treibt ein heißes Verlangen‹; oder: ›Mir ist eine Laus über die Leber gelaufen‹, ›Das hat mir auf den Magen geschlagen‹, ›Der Schreck hat mich erstarren lassen‹, ›Mir kommt die Galle hoch‹, ›Das hat sich in mir festgefressen‹. 33 34 35

Lowen 1984: 30f. Zum Begriff der »muskulären Panzerung« vgl. Reich 1971: 226–233, v. a. 228. Reich 1971: 232f.

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Dass die Leibesinsel Brust nicht nur nach oben Richtung Kopf, sondern auch nach unten Richtung Bauch ausstrahlen kann, zeigt Schmitz am Beispiel des volkstümlichen »Herzspanns«. »Ein Anhaltspunkt böte sich solchen [leibphänomenologischen] Untersuchungen in der Volksüberlieferung, die mehr als naturwissen­ schaftliche Medizin vom unbefangenen leiblichen Spüren Kunde gibt. Herzspann ist z. B. eine Krankheit, die im Volk mit großem Eifer ernst genommen und durch allerlei Volksmedizinen und Heilverse bekämpft wurde, naturwissenschaftlich aber rätselhaft bleibt.«36

Herzspann meint volksmedizinisch eine krankmachende Verspan­ nung, die Brust und Herz bedrückt, und zwar so, dass sie nach oben und unten ausstrahlen kann. Im Abschnitt »Strömungen im körperlichen Leibe« geht Schmitz nochmals darauf ein: »Diese verwischenden Strömungen scheinen für die große Verschieb­ barkeit der Leibesinseln im Rumpf verantwortlich zu sein. Volkstümli­ che Redensarten zeigen für die Herzinsel [Hervorhebung von mir, R. J. K.] solche Verschiebbarkeit nach oben und unten an.«37

Schmitz verweist auf Redensarten wie ›Mir schlägt das Herz bis zum Halse‹, ›Mir sitzt das Herz vor der Kehl‹ oder: Es ›fällt das Herz in die Hose‹. Schließlich heißt es: »Die vom Herzen absinkenden Ströme dürften dafür verantwortlich sein, daß Herz und Magen in alten Büchern und im Volksmund vertauschbar sind«.38 Statt von »vertauschbar« würde ich eher von ›ähnlich‹ sprechen: Herz und Magen haben ähnliche Rollen und Stellvertreterfunktionen, aber mit unterschiedlichen Schwerpunkten. In der Regel gilt ›volkspsy­ chologisch‹: Zu Herzen genommene Kränkungen, Einengungen und Trennungen werden eher auf das Herz, heruntergeschluckter und schwer verdaulicher Ärger und Frust eher auf den Magen schlagen. Festhalten möchte ich an dieser Stelle einen Begriff, den Schmitz, soweit ich sehe, nicht weiter verwendet oder ausbaut, auf den ich mich aber im Folgenden konzentrieren möchte: den Begriff ›Herzinsel‹. Ich werde diesen Begriff im Folgenden nicht nur im rein leiblichen Sinne, sondern auch in einem seelischen und psychosomatischen Sinne verwenden. Denn die Leibesgroßinsel Herz ist m. E. nicht nur eine (Schmitzʼsche) Leibesinsel, sondern auch ein seelisches 36 37 38

Schmitz 1965: 295. Schmitz bezieht sich hier v. a. auf: Bargheer 1931. Schmitz 1965: 296. Schmitz 1965: 296f.

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Refugium authentischen Spürens und Fühlens, das, gerade in Zeiten überbordender Digitalisierung, Technisierung und Kapitalisierung, wichtiger ist als je. Mehr noch: Die Herzinsel ist nicht nur ein mensch­ liches Rückzugs- und Rekreationsgebiet, sondern Kern und Zentrum mitfühlenden Wahrnehmens und Handelns. Ohne Herzinsel kein Berühren, kein Berührtwerden und kein Sich-Berühren-Lassen. Was Rudolf Gaßenhuber mit dem schönen Wort »Herzsinn« benennt, ist die seelische Seite der leiblichen Herzinsel.39 »Empathie, Mitgefühl, das Auge des Herzens […]. Ich schlage vor, hierfür den […] fast schon ausgestorbenen Begriff ›Herzsinn‹ wieder zu verwenden. Mit dem Herzsinn besitzen wir ein eigenes Sinnesor­ gan, eine Art passiven Tastsinn für das Seelische der anderen Wesen; wir werden berührt und angesprochen.«40

4. Phänomenologische Kopf-Herz-Bauch-Topographie: ein Desiderat Daran kann kein Zweifel sein: Schmitz ist der Pionier auf dem Gebiet der Leibphänomenologie. Jedoch: so viele wertvolle Hinweise und Fingerzeige Schmitz auch gibt: an einer elaborierten Kopf-HerzBauch-Topographie scheint er nicht interessiert.41 Ihm reicht ein Skizzieren derselben. Dabei wäre es für Schmitz ein Leichtes gewe­ sen, solch eine, an vorontologisch-antiken Gefühls- und Leibkonzep­ ten geeichte Topographie zu verfassen. Alle entscheidenden geistes­ geschichtlichen Analysen und leibphänomenologischen Bausteine wären vorhanden gewesen. So untersucht er die homerischen Schlüs­ selkonzepte »thymós« und »phrénes« mit Exkursen, Nebenerwägun­ gen und Entwicklungstendenzen detailliert auf etwa 100 Seiten.42 Zur Erläuterung: Der thymós bezieht sich bei Homer v. a. auf die leibseelischen Regungen im Brustbereich; wofür Homer auch Wörter wie etor [Inneres, Lunge, Herz, …], ker [Herz], kradin/kardía [Herz, Gemüt, Inneres, …], stethos [Brust, Herz, Inneres, …] verwendet. Und die phrénes beziehen sich v. a. auf die leibseelischen Regungen im Zwerchfell- und Bauchbereich. Und wenngleich Schmitz peinlich 39 40 41 42

vgl. Gaßenhuber 2018: 68–71. Rudolf Gaßenhuber in: Gaßenhuber/Kozljanič 2019: 14. v gl. Schmitz 1965: 289 u. 295. siehe: Schmitz 1965: 373 ff.; 445ff.; 451ff.; aber auch: 462ff.

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darauf bedacht scheint, die phrénes nicht zu tief in den Bauch rutschen zu lassen, ist das doch der Fall. Das zeigt etwa die Stelle in der Ilias, an der Homer den von den Troiern heftig bekämpften Menelaos mit einem Löwen, den Männer und Hunde mit Spießen und Lärm hart bedrängen, vergleicht: »da fährt ihm vor Schreck das tapfere Herz [etor] in den Bauch [en phresìn]«. (Hom. Il. 17, 111) Wie Schmitz zeigt, verblasst die Bedeutung der homerischen phrenés bald, wird aber von Aischylos noch einmal reaktualisiert und, wenngleich nur kurz, zu neuer Prägnanz geführt. Für das bereits etwas vergeistigte Wort phrenés »findet Aischylos in seiner kühnen Bilder türmenden Sprache farbi­ gen Ersatz, etwa durch Einführung der Leber (epar) und Eingeweide (splágchna) als Stätten des Erlebens, während ihm kardía (= kradín) und kéar (= ker) in diesem Sinn mit Homer gemeinsam sind. Die Leib­ lichkeit des affektiven Betroffenseins wird namentlich in den Eumen­ iden sehr lebhaft und originell ausgemalt. Mit Bauches Feuer sollen die Rachegeister nach dem Wunsch des Gespenstes der Klytaimnestra den verzweifelten Orestes plagen 138; das Schelten dieses Gespenstes trifft sie wie ein mitten eingreifender Geißelschlag unter das Zwerchfell und den Leberlappen 156–158; als sie sich in Athen nicht würdig behandelt fühlen, dringt ihnen Jammer unter die Flanken 842.«43

Im „§ 82: Platon« kommt Schmitz schließlich beim platonischen See­ lenkonzept an. Platon unterscheidet in seinem Dialog »Timaios« drei leiblich lokalisierbare Seelen: die Kopfseele [das »logistikón« mit dem Gehirn als Hauptorgan], die Brustseele [das »thymoeidés«, mit dem Herz als Hauptorgan] und die Bauchseele [das »epithymetikón« mit der Leber als Hauptorgan].44 Hierzu Schmitz: »Die Verwandtschaft der platonischen Seelenteilung mit homerischen Vorstellungen geht am weitesten an einer Stelle im Gespannmythos des Phaidros, der die Lehre von den drei Seelenteilen gleichnishaft verkleidet (254b). Da heißt es nämlich, daß der Wagenlenker (das logistikón) und das gute Roß (das thymoeidés) dem Trieb des schlechten Rosses (des epithymetikón) gelegentlich weichen […]. Die Seelenteile werden von Platon also als eigenwillige, energische und gelegentlich sogar gegen Widerstände der Person das Verhalten bestimmende

43 44

Schmitz 1965: 458. Platon, Timaios: 69c-70d u. 87a.

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Impulsgeber behandelt, so wie in der Ilias die leiblichen Inseln und Regungen, die Homer für das Erleben verantwortlich macht.«45 »Eine neue Chance für die Würdigung der leiblichen Anteile des Erle­ bens liefert die späte Abhandlung Timaios dadurch, daß nun die drei Seelenteile im Körper lokalisiert werden: das logistikón als göttlicher und allein unsterblicher Teil der Seele im Kopf, das thymoeidés in der Brust, das epithymetikón als Komplex der schlechten Regungen im Bauch. […] Diese Lehre gibt Gelegenheit zur Wiederentdeckung der Leibesinseln, die bei Homer z. B. als phrénes [Zwerchfellgegend] und stethos [Brust, Herz, Inneres] eine bestimmende Bedeutung für das Erleben haben. Platon hat diese Gelegenheit aber nur gestreift, nicht mit gründlichem Interesse ergriffen. Allein die Schilderung des in der Brust angesiedelten Erlebens enthält phänomenologisch beachtliche Züge (70a-d). Die Aussicht auf Schwellen der zornigen Regungen (70c) läßt an leibliche Schwellung in der Brustgegend denken. Das ménos [der Eifer] des thymós [des Zornes] soll dort kochen (70b); mit dieser Angabe sind zwei Schlüsselworte der homerischen Deutung des Erlebens als leibliches Geschehen von Platon übernommen. Wenn vom thymós gesagt wird, daß er im Herzen aufblühe (70 d), dann kann das Herz eigentlich nur als Leibesinsel – als Stätte einer leiblichen Regung – gemeint sein, nicht als Teil des reinen Körpers.«46

Können neben dem thymós auch die phrenés ums Zwerchfell aufblü­ hen und aufblühend Sinnvolles oder Schönes bewirken? Für Homer sehr wohl. Das zeigt etwa die berühmte Stelle, an der Hera ihren Gatten auf dem Berg Ida zu einem Schäferstündchen verführt. Da heißt es von Zeus: »Liebe [éros] umhüllte seine gewaltigen Sinne [prenés].«47 Es kommt zum Beischlaf. Darauf »erblühte die heilige Erde von sprießenden Gräsern, / Tauigem Lotosklee und Hyazinthen und Krokos, / Dicht und üppig und weich, die über den Boden sie hoben. / Beide lagerten dort und deckten sich zu mit den schönen / Goldenen Wolken; es fielen herab die Tropfen des Taues.«48

Für Homer ist es selbstverständlich, dass auch der Bauch aufblühen und schöne Früchte zeitigen kann. Für Platon nicht. Denn Platon legt über die homerische Psychologie seine Folie der ontologisch 45 46 47 48

Schmitz 1965: 479f. Schmitz 1965: 484. Hom. Il. 14, 294. Hom. Il, 14, 347–351.

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sinnesfeindlichen Wertung (mit Nietzsche gesagt: die Folie seiner ›Hinterwelt‹-Ideologie). Die befehlende Instanz, das hegemonikón, der Schutzgeist, soll die Kopfseele sein. Und sie schreibt Brust- und Bauchseele vor, wo es langgehen soll. Die Brust wird überredet, der Bauch bestraft, denn er versteht laut Platon nur die Sprache der Peit­ sche.49 Nachvollziehbar, dass sich christliche Mönche und Kleriker diese Ansicht zu eigen machten: sie passt bestens in ihr asketisch sinnesfeindliches Weltbild. Von der Ontologie Platons zur Ontotheo­ logie des Mittelalters ist es kein allzu großer Schritt. Nicht umsonst bezeichnet Nietzsche den Platonismus als präexistentes Christentum. Wie gesagt: Schmitz sieht zwar diese »neue Chance für die Würdigung der leiblichen Anteile des Erlebens« durch eine leibphäno­ menologische Revision der platonischen Herz-Kopf-Bauch-Psycho­ logie,50 ergreift sie aber nicht. Das hat auch damit zu tun, dass Schmitz den ontologischen (ontotheologischen und transzendentalontologi­ schen) Seelenbegriff ablehnt. Sein Hauptargument: Die Seele sei letztlich nichts als eine philosophisch begriffliche »Konstruktion« einer abgekapselten »Innenwelt«, in der all das, was »sich der redu­ zierenden Vergegenständlichung« und Verwissenschaftlichung von Selbst und Welt »entzieht […] eingelagert« werde.51 Damit lehnt er einen reduktionistischen Zerrbegriff, einen schulphilosophisch abstraktionistischen Schattenbegriff von Seele ab. Und das ist gut so. Jedoch sollte im gleichen Zuge gesehen und betont werden: Das, was Seele eigentlich meint oder meinen sollte, ist damit noch gar nicht in den Blick gekommen. Wie auch immer: Ich möchte mich jenem schulphilosophischen Schatten(begriffs)boxen jedenfalls nicht anschließen und überlasse das den genau dafür in Dienst genom­ menen Universitätsprofessoren. Ich bin auch nicht der Meinung, dass der geniale Schmitzʼsche Leibbegriff einen tiefenpsychologisch fundierten Seelenbegriff ersetzen soll oder gar kann. Die Schmitzʼsche Ablehnung der Seele aus absolut gesetzten leibphänomenologischen Gründen ist für mich genauso wenig akzeptabel wie die Klagesʼsche Ablehnung des Leibes aus ideologisch metaphysischen Gründen.52 Ich halte mich lebensphilosophisch an das Wahrwort von Carl Gustav vgl. Platon, Phaidros: 253d–e. Schmitz 1965: 484. 51 Schmitz 1995: 18f. 52 Aus diesen Gründen versteigt sich Klages zu der Aussage: »Was immer die Seele erlebt, sie erlebt es leibentrückt« (Klages 1981: 811). 49

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Carus, dass »der Leib nur die Erscheinung der Seele selbst ist«53 – und die Ergänzung dieses Wahrwortes durch [den unideologischen] Klages – und die »Seele ist der Sinn des Leibes«.54 Anders gesagt: »Wo immer lebendiger Leib, da ist auch Seele; wo immer Seele, da ist auch lebendiger Leib.«55 Leib und Seele sind synexistential, koexistential. Oder sie sind nicht. Sowohl der schulphilosophische Seelenbegriff als auch die Ablehnung desselben durch Schmitz gehen an der leibseelischen Lebenswirklichkeit vorbei. Beides geht auch an der muttersprachlichen Dimension mit ihren psychosomatischen Wechselbezügen vorbei. »Betrachten wir die vielen Redewendungen, in denen das Herz vor­ kommt, dann sehen wir, daß es immer mit emotionalen Situationen in Verbindung steht. […] Man sagt: Das Herz hüpft mir vor Freude – das Herz fällt mit vor Schreck in die Hose – das Herz zerspringt vor Freude – springt mir aus der Brust – schlägt bis zum Hals – es liegt mir etwas auf dem Herzen oder am Herzen – es geht mir etwas zu Herzen oder man nimmt sich etwas zu Herzen. Fehlt bei einem Menschen dieser vom Verstand unabhängige emotionale Bereich, dann wirkt er auf uns herzlos. Begegnen sich zwei Liebende, so sagt man: Ihre Herzen finden zueinander. In diesen Formulierungen ist das Herz ein Symbol für ein Zentrum im Menschen, das nicht vom Intellekt und nicht vom Willen gesteuert ist. Es ist aber nicht nur ein Zentrum, sondern das Zentrum.«56

Aus diesen [und anderen] Gründen ist und bleibt die leibphänomeno­ logische Revision der platonischen Herz-Kopf-Bauch-Psychologie ein Desideratum. Etwas besser ist es um die lebensphilosophische und psychologisch-anthropologische Revision bestellt. Hierzu gibt es das Schlüsselwerk des verdienstvollen Carl Gustav Carus: »Psyche – Zur Entwicklungsgeschichte der Seele«.57 Die m. E. glücklichste termino­ Carus 1860: 55. Klages 1988: 61; vgl. auch: ders. 1936: 71: »der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele der Sinn der Leibeserscheinung«. – Ja, Klages‘ Philosophie zeigt zwei Gesich­ ter: ein ideologisch-metaphysisches und ein ausdruckspsychologisch-phänomenolo­ gisches; vgl. dazu meine demnächst erscheinende Untersuchung »Die Befreiung der Phänomene. Über Schmitz und Klages zu einer (er)lebensphilosophischen Phänome­ nologie«. 55 Klages 1988: 61. 56 Dethlefsen/Dahlke 1983: 277. 57 Pforzheim 1846. Zur Carusʼschen Psychologie und Philosophie vgl. meine detail­ lierte Darstellung in: Kozljanič 2004: 59–83. Dort weitere Literatur. 53

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logische Fassung der drei Seelenschichten findet sich bei Karl Kleist. Er unterscheidet: Somatopsyche, Thymopsyche und Autopsyche.58 Als körperfixierter Psychiater lokalisiert Kleist diese drei Schichten natürlich im Gehirn als dem physiologisch notwendigen (also ›mit­ ursächlichen‹, aber eben nicht hinreichenden) Bedingungsort. Leib­ lich, so lässt sich mit und nach Schmitz sagen, wären sie jedoch woan­ ders zu verorten, eben in der Bauch-, Herz- und Kopfinsel des menschlichen Leibes.

5. Die Herzinsel und ihre kommunikative Mittelpunktstellung beim Spüren und Berühren: Alexander Lowen Ich zitierte oben Dethlefsen und Dahlke mit den Worten, das Herz sei »ein Symbol für ein Zentrum im Menschen, das nicht vom Intellekt und nicht vom Willen gesteuert ist. Es ist aber nicht nur ein Zentrum, sondern das Zentrum«.59 Das kann ich nur unterstreichen: Das Herz ist dieses Zentrum, aber, wie ich hinzufügen möchte, nicht nur im symbolischen, sondern auch im leibseelischen Sinne. Was das bedeutet, haben Wenige so klar gesehen, untersucht und in einfache Worte gefasst wie Alexander Lowen (1910–2008), der Begründer der Bioenergetik, einer tiefenpsychologischen und leiborientierten Therapieform. Lowen benennt drei wichtige Kommunikationswege der Herzinsel. »Der wichtigste Kommunikationsweg des Herzens besteht aus Kehle und Mund. Beim Kleinkind, das mit Lippen und Mund nach der mütter­ lichen Brust sucht, handelt es sich um den ersten Kommunikationsweg überhaupt. Ein Baby sucht allerdings nicht nur mit Lippen und Mund, es sucht und ›greift‹ gleichzeitig mit dem Herzen. Diese Bewegung hat sich im Kuß zum Ausdruck der Liebe sublimiert. Ein Kuß ist aber 58 »Auf allen drei Stufen sind sensorische und motorische Leistungen und Anteile zu unterscheiden: Urgefühle und Triebe, Affekte und Ausdrucksbewegungen, Gesinnun­ gen und Handlungen. Die psychomotorischen Funktionen sind also nichts neben dem Ichbewußtsein Bestehendes, sondern Teile oder besser gesagt Leistungen an demsel­ ben. Sie gehören je nach dem Grade ihrer Differenziertheit als rohe Reaktiv- und Triebbewegungen der Somatopsyche, als Ausdrucksbewegungen der Thymopsyche und als Handlungen der Autopsyche an.« (Kleist 1925: 28). 59 Dethlefsen/Dahlke 1983: 277.

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nicht unbedingt Ausdruck der Liebe, er kann auch eine bloße Geste der Liebe oder Sympathie sein; der Unterschied liegt darin, ob man mit dem Herzen dabei ist oder nicht, und das hängt wiederum davon ab, ob der Kommunikationsweg zwischen Mund und dem Herzen frei oder blockiert ist. Eine zugeschnürte Kehle und ein steifer Nacken können jedes Gefühl daran hindern, nach außen zu fließen. Dann ist das Herz relativ isoliert, von der Außenwelt abgeschnitten.«60 »Der zweite Kommunikationsweg des Herzens läuft durch Arme und Hände. Wir benutzen ihn, wenn wir Arme und Hände ausstrecken, um etwas oder jemanden zu berühren. Eine Mutter streichelt ihr Kind zärt­ lich und liebkosend, um Liebe auszudrücken. Wenn dieser Ausdruck der Liebe echt sein soll, muß das Gefühl ebenfalls vom Herzen kommen und in die Hände fließen. Wahrhaft liebende Hände sind stark mit Energie geladen. Ihre Berührung hat Heilkraft. Der Fluß von Gefühl oder Energie in den Händen kann durch Schulterverkrampfungen oder Verspannungen der Handmuskeln blockiert sein.«61 »Der dritte Kommunikationsweg vom Herzen zur Welt führt durch Taille und Becken nach unten zu den Genitalien. Geschlechtsverkehr ist ein Akt der Liebe, aber wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist, handelt es sich nur um eine Geste und nicht um einen Ausdruck des Gefühls. Wenn das Gefühl der Liebe für den Partner stark ist, erreicht die sexuelle Erfahrung eine Stufe der Intensität und Erregung, auf der der Höhepunkt zu einem ekstatischen Ereignis wird. […] Dann fühlt man richtig, wie einem das Herz vor Freude hüpft, wenn man den Höhepunkt erreicht hat. Allerdings kann auch dieser Weg versperrt oder blockiert werden, und zwar durch verschieden starke Spannungen in der unteren Körperhälfte.«62

Das (sicher nicht erschöpfende) Konzept der drei Kommunikations­ wege von Lowen beruht auf seinen jahrzehntelangen körperpsycho­ therapeutischen Erfahrungen und auch auf einer, über Wilhelm Reich (1897–1957) und seine Vegetotherapie vermittelten und modi­ fizierten psychoanalytischen Theorie. Das lowensche Konzept ist voraussetzungsreich, voll weiterführender Implikationen – und auch nicht ohne Probleme und Unausgegorenheiten. Doch dies soll hier nicht weiter vertieft werden. Mir geht es nun – auch aus Raumgrün­ den – v. a. um die leibphänomenologisch und lebensphilosophisch

60 61 62

Lowen 1979: 69. Lowen 1979: 69. Lowen 1979: 70.

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anschlussfähigen und aufschlussreichen Beobachtungen und Einsich­ ten Lowens.

5.1 Wie das Herzgefühl im und mit dem Körper in Erscheinung treten kann Lowen unterscheidet terminologisch nicht zwischen (Spür-)Leib und Körper(-Ding), aber es ist offensichtlich, dass sein therapeutischer Schwerpunkt im leiblichen Spüren liegt bzw. genauer noch, in dem, was Schmitz einmal kurz die »Herzinsel« nannte. Obwohl dort sein Schwerpunkt ist, betrachtet er – ausgebildeter Arzt und Körper-Psy­ chotherapeut, der er ist – den Mensch nicht nur leibphänomenolo­ gisch, sondern immer auch physiologisch und körperdinglich. Doch trotz dieser dinglichen Betrachtung vergisst er nie, dem Körper, seinen Muskeln und Glieder von innen her nachzuspüren. Daher ist seine Theorie sozusagen leib- und körperphänomenologisch relevant. Das ist das Besondere. Und genau dadurch gelingt ihm eine Beobachtung, die in der Neophänomenologie – die sich bisher mehr auf den ›reinen‹ Leib konzentrierte – zu kurz gekommen ist. Diese Beobachtung bzw. Erfahrung Lowens zeigt: Wichtiger als die ›begriffsstrenge‹ Unterscheidung zwischen »reinem Leib«, »reinem Körper« und »kör­ perlichem Leib«63 ist es zu sehen, dass und wie wir mit unseren Körpern und Gliedern ›Leibherzliches‹ ausdrücken können – und wie nicht. Denn das sind doch die zwei entscheidenden Punkte, die in der Neuen Phänomenologie gern in Vergessenheit geraten: dass der leibliche und herzensechte Ausdruck nur nach außen dringen kann (in Erscheinung treten kann), wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens, eine notwendige: dass die körperlichen Blockaden (Muskel­ panzerungen) diesen Ausdruck nicht ausbremsen und abschotten. Zweitens, eine hinreichende: dass »man«, wie Lowen sagt, »mit dem Herzen dabei ist«; dass also das Herzgefühl im unblockierten Körper und mit ihm seinen authentischen leiblichen Ausdruck finden kann. Ich nenne diese zweite Bedingung eine hinreichende. Sie ist m. E. die entscheidende. All das legt nahe: Die medizinische und schulphilosophische Reduktion des Spürleibes zum Körperding ist ein Problem, aber sie ist nicht das Hauptproblem. Das Hauptpro­ 63 vgl. hierzu: Schmitz 1965: 53–55; zur Kritik dieser Unterscheidung vgl. Kozljanič 2006: 62–65.

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blem ist die Trennung des eigenleiblichen Herzens (der Herzinsel) vom eigenen Körper. Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist diesbezüglich nur ein schulphilosophischer Neben- und Schattenschauplatz. Das Entscheidende ist, ob ein Mensch herz-körper-gespalten oder ob er herz-körper-integriert ist. Ob also seine leiblichen Herzgefühle in den Körper fließen und dort ihren Ausdruck finden können. Denn nur dann kann sich der Leib im und mit dem Körper richtig entfalten. Nur dann sind leiblich-spürendes Berühren und Berührtwerden möglich.

5.2 Authentischer Ausdruck versus bloße Geste. Gefühlswarme Berührung versus gefühlskaltes Betasten Führen wir uns nochmals Lowens so klare wie treffende Unterschei­ dung von »Ausdruck« und »Geste« vor Augen. Er sagt: Soll ein Kuss, eine Berührung oder ein Geschlechtsakt ein innerlicher und echter »Ausdruck der Liebe« und nicht bloß eine rein äußerliche »Geste« sein, muss »man mit dem Herzen dabei« sein. Dazu »muß das Gefühl […] vom Herzen kommen und in die [Lippen,] Hände [oder Genitalien] fließen.«64 So kommt es zu einer gefühlswarmen Berührung, andernfalls zu einem gefühlskalten Betasten. – Auch diese Beobachtung ist so einfach wie genial. Um zu sehen, was damit geleistet wird, möchte ich sie zumindest kurz mit zwei zentralen ausdruckspsychologischen Prinzipien von Ludwig Klages kontras­ tieren: dem »Ausdrucksprinzip« und dem »Darstellungsprinzip«.65 Das erste bezieht sich auf das biologische instinktive unwillentliche Ausdrucksverhalten, das sich bei Tier und Mensch beobachten lässt, etwa als Ausdruck des Zorns, der Scheu, der Begierde. Das zweite bezieht sich auf das nur dem Menschen voll zugängliche willentliche (auch spielerische) Darstellen- und Mimenkönnen: also das beinah unbegrenzte Erweitern der Ausdruckssphäre durch instinktbefreite Darstellung und Zur-Schau-Stellung, durch biologisch entbundene Mimik und Gestik, durch kulturell wie persönlich beeinflusste Selbst­ darstellung und Selbstverstellung, etwa wenn jemand Zorn, Scheu oder Begierde darstellt, spielt, vortäuscht – oder auch verbirgt. Das »Ausdrucksprinzip« hat biologisch generelle (für Klages letztlich kosmische) Bedeutung, wohingegen das »Darstellungsprinzip« nur 64 65

vgl. Lowen 1979: 69. vgl. hierzu: Klages 1936: 79–101, v. A. 95ff. u. S. 239–270, v. A. 269f.

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dem Menschen (und seiner Autopsyche) zugehört. Nur der Mensch kann qua (selbst)bewusster Reflexion, Phantasie und Vorstellung wil­ lentlich etwas darstellen, das über den unwillkürlichen biologischen Ausdruck und sein unmittelbares Verstehen hinausgeht und einer anderen, neuen Sphäre angehört. Nur er kann alle Arten von biologi­ schen und überbiologischen Expressionen bewusst wie unbewusst darstellen, das meint: mimen, vormachen, nachmachen, spielen, vorspielen, vortäuschen – auch habitualisieren. Für Klages ist das Ausdrucksprinzip die biozentrische Basis, das Darstellungsprinzip der logozentrische Überbau aller Lebensvorgänge. Ersteres braucht im Prinzip nur Somatopsyche und Thymopsyche, letzteres zudem die Autopsyche. – So wichtig diese beiden Klagesʼschen Prinzipien aus biozentrisch-lebensphilosophischer Sicht auch sind, wichtiger ist, so können wir jetzt mit Lowen in menschlicher Perspektive sagen, ob ein körperlich-empathischer Ausdruck – soll er mehr als gestisch, soll er berührend sein – von Herzen kommt. Ob nun dieser Ausdruck ein dargestellter oder nicht dargestellter ist, bildet für Lowen (im Unterschied zu Klages) gar nicht das Hauptkriterium. Für Lowen gilt: kommt er von Herzen, dann ist er echt, berührend-warm; kommt er nicht von Herzen: dann ist er eine bloße Geste, betastend-kalt. Denn auch ein biologischer Ausdruck wie Zorn oder Sexbegierde kann, wenn er nur vom Bauch, nicht aber auch vom Herzen kommt, für Lowen bloße Geste sein. Solch ein Ausdruck führt dann zu gefühls­ kalten Betastungen, zu körperlichen oder verbalen Schlagabtäuschen – oder kann dazu führen. Damit zeigt sich: Lowen zielt mit seinen Begriffen »Ausdruck« und »Geste« nicht wie Klages auf biologischbiozentrische Kriterien, sondern auf menschlich-empathische. Lowen ist alles andere als ein Logozentriker. Er ist aber auch nicht wie Klages rein biozentrisch orientiert. Seine Grundorientierung bezeich­ net am besten das von Erich Fromm (1900–1980) gern verwendete Wort »Biophilie«,66 Lebensliebe (im Unterschied zur Nekrophilie, der Todesliebe). In diesem Sinne kann Lowen sagen: 66 »Diese Begriffe der Nekrophilie und der Biophilie haben sich bei mir selbst gebildet, durch meine klinischen Erfahrungen, aber auch durch Freuds Begriff des Lebens- und Todestriebes. […] man kann nämlich zeigen, daß die zerstörerischen Tendenzen, also die Todestriebtendenzen, Resultate eines Versagens der Kunst des Lebens sind, des Nicht-richtig-Lebens, daß der Mensch, der keine Möglichkeit hat, frei zu sein und sich zu entfalten, der eingeengt ist, der in einer Klasse oder Gesellschaft lebt, in der alles mechanisch, alles unlebendig ist […] daß dieser Mensch die Fähigkeit des Sprudelns verliert.« (Fromm 1974: 28f.).

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Spüren, Berühren, Berührtwerden

»Wenn man ein erfüllteres und reicheres Leben führen möchte, muß man sein Herz zuerst dem Leben und der Liebe öffnen. Ohne Liebe – zu sich selbst, zum Mitmenschen, zur Natur und zum Kosmos – ist ein Mensch kalt, isoliert und inhuman, also unmenschlich. Die Wärme, die uns mit der Welt vereint, in der wir leben, fließt von unserem Her­ zen.«67

5.3 Negation »Herzspann« – Position »Herzfluss«: über verhärtende und aufweichende Strömungen im Leib Erinnern wir uns an Schmitzʼ obige Darlegungen zum »Herzspann«. Herzspann meinte dort volksmedizinisch eine krankmachende Ver­ spannung, einen spürbaren Druck auf Brustkasten und Herz, der spezifisch ausstrahlen kann. Schmitz zitiert die Aussage einer Frau aus dem Volk: »denn hast du dat vör de Bost, Hattspann fangt inʼn Nacken an, tüt denn no vörn no de Bost, und den Rücken dol inʼt Krüz.« (In deutsche Standardsprache übersetzt: »dann hast du das vor der Brust, Herzspann fängt im Nacken an, zieht dann nach vorne zur Brust und den Rücken hinab ins Kreuz.«)68 Im Abschnitt »Strömungen im körperlichen Leibe« kommentiert Schmitz: »Diese verwischenden Strömungen scheinen für die große Verschiebbarkeit der Leibesinseln im Rumpf verantwortlich zu sein. Volkstümliche Redensarten zeigen für die Herzinsel solche Verschiebbarkeit nach oben und unten an.«69 Wir können jetzt, dank Lowens Beobachtungen und Darlegungen, zwei Punkte besser fassen: Erstens, diese Strömungen sind in der Regel gar nicht so »verwischend« wie Schmitz meinte, sondern folgen psychosomatisch aufweisbaren Regeln. Ausstrahlungen nach oben machen sich, so Lowen, etwa als »zugeschnürte Kehle« und/oder »steifer Nacken«70 bemerkbar; Ausstrahlungen nach unten »durch verschieden starke Spannungen in der unteren Körperhälfte«,71 »häu­ fig im Zwerchfell, in den Muskeln, die das Becken umgeben, und in der oberen Hälfte der Beine«.72 Zweitens, der krankmachende »Herzspann« hat einen gesundmachenden Gegenpol: ich nenne ihn 67 68 69 70 71 72

Lowen 1979: 72. Schmitz 1965: 296. Schmitz zitiert aus: Bargheer 1931: 360. Schmitz 1965: 296. Lowen 1979: 69. Lowen 1979: 70. Lowen 1979: 71.

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in Anlehnung an Lowens Rede von den nach außen fließenden Herzgefühlen »Herzfluss«. Im Abschnitt »Der Kern der Therapie« skizziert Lowen sein »Idealbild«: »Lassen Sie uns einmal annehmen, es sei möglich, sämtliche Abwehr­ haltungen der Persönlichkeit zu beseitigen. Wie würde ein gesunder Mensch funktionieren? […] Alle Impulse würden vom Herzen fließen, das heißt, der Betreffende würde bei allem, was er tut, ›mit dem Herzen dabei sein‹.«73

»Die Behandlung soll das Herz erweitern, nicht nur den Geist.«74 Dieses Idealbild verdeutlicht, dass Lowen mit seiner Bioenergetik die ins Stocken geratenen Ströme eines herzverspannten Leibkörpers wieder ins Fließen bringen will: Herzfluss als Gegenmittel zum Herzspann. Und das ist m. E. weit mehr als ›nur‹ eine leiborientierte psychotherapeutische Methode. Es ist regelrecht ein zivilisationsthe­ rapeutisches Verfahren: der jahrtausendealten Leibes-Lust-Verdrän­ gung75 und Herzens-Verhärtung des abendländisch-patrizentrischen Geistes etwas so Einfaches wie Menschliches entgegenzusetzen: die Befreiung des Herzflusses. Lowen nimmt, metaphorisch gesagt, den abendländischen Rittern vom Geistesorden ihren Brustpanzer ab und zeigt ihnen, dass es Schöneres gibt als Logik, Konstruktion und Dominanz. Er zeigt ihnen, dass ihr Geist erst dann richtig aufblühen kann, wenn er im Fluss – im Herzfluss – ist. Nicht Elite-Orden, nicht Militär-Orden und auch keine Bundesverdienstorden sind anzustre­ ben. Nur das Herz kann freie Menschen adeln.

5.4 Die Integration und Verbindung von Kopf-Herz-Bauch ist wichtiger als deren Hierarchisierung Nicht nur in Bezug auf körperliche Blockaden und leibliche Aus­ drucksdynamiken der ausstrahlenden Herzgefühle finden sich bei Lowens augenöffnende und weiterführende Kriterien, sondern auch in Bezug auf eine Kopf-Herz-Bauch-Psychologie. Mit Lowen kann gezeigt werden, dass die bisherigen Hierarchisierungen und Wertun­ gen das Entscheidende gar nicht in den Blick bekamen, sondern Lowen 1979: 105. Lowen 1979: 72. 75 Zur Verdrängungsgeschichte des lebendigen und lustvollen Leibes vgl. Kozljanič 2006: 11–24. 73

74

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nach oben wie nach unten daran vorbeizielten. Platon, Aristoteles und die ganze, ihnen nachfolgende ontologische Tradition meinten, das Entscheidende sei oben, sei das logistikón: von ihm her und zu ihm hin müssten Sein und Seiendes interpretiert und konstruiert werden. Anders die radikalen Biozentriker Nietzsche und Klages, aber auch Freud und Reich. Sie meinten, das Entscheidende sei unten, sei das epithymetikón mit seiner orgiastischen und libidinösen Potenz: und von dort her müsste dann genealogisch und entwicklungspsy­ chologisch Werden und Gewordenes interpretiert und rekonstruiert werden. Lowen ist der Erste, der entschieden das thymoeidés – die Thymopsyche – in den Mittelpunkt stellt und damit die beiden bisherigen Hierarchisierungen und Wertungen so einfach wie ele­ gant aushebelt und als künstlich entlarvt. Dazu muss er zwar auch interpretieren, aber viel weniger konstruieren. Statt sich in system­ philosophischen oder systempsychologischen Abstraktionismen und Zwangsoptionen zu verstricken, löst er therapeutisch-pragmatisch die entwicklungsgeschichtlichen Verpanzerungen und folgt dann dem leibseelischen Herzfluss, um so eine schonende Explikation des in Erfahrung Gebrachten zu geben. Dabei stellt sich heraus, dass die Integration der drei Seelenbereiche wichtiger ist als ihre Hierarchisie­ rung. Für Lowen liegt der Schwerpunkt auf der Befreiung, Verbindung und Integration der drei Bereiche: »Eine der häufigsten Störungen des menschlichen `Gefühlshaushalts` ist die Abkapselung der oberen Hälfte des Körpers von der unteren Körperhälfte. […] Wenn die beiden Hälften mehr oder weniger vonein­ ander abgekapselt sind, können die natürlichen Atmungsbewegungen nicht mehr frei durch den Körper strömen. Der Betreffende atmet entweder mit dem Brustkorb und macht nur sehr schwache Unterleibs­ bewegungen, oder er atmet mit dem Zwerchfell und bewegt seine Brustpartie kaum. […] Mangelnde Einheit zeigt an, daß Kopf, Herz und Geschlechtsorgane nicht integriert, nicht aufeinander abgestimmt sind. Die chronischen Muskelspannungen, die den freien Fluß von Erregung und Gefühl blockieren, entwickeln sich häufig im Zwerchfell, in den Muskeln, die das Becken umgeben, und in der oberen Hälfte der Beine. Man löst sie durch eine kombiniert physische und psychologi­ sche Therapie und schenkt dem Menschen damit wieder das Gefühl, ›Verbindung‹ zu haben. Mit diesem Wort läßt sich das Phänomen am besten ausdrücken, und die Betroffenen benutzen es auch selbst.«76

76

Lowen 1979: 70f.

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Im letzten Abschnitt fand sich eine kurze Skizze des Lowenʼschen Therapieziels: Blockaden zu lösen, Verbindungen und Kommunika­ tionswege (wieder)herzustellen, um so die Herzgefühle fließen und ihren adäquaten leiblich-körperlichen Ausdruck finden zu lassen. Darauf sagt Lowen: Die »Reaktionen« eines kopf-herz-bauch-inte­ grierten Menschen »würden immer ein Gefühlsfundament haben. Er könnte, je nach den Umständen, zornig, traurig, ängstlich oder freudig sein. Diese Gefühle würden echte Reaktionen darstellen, weil sie nicht mehr von unterdrückten, auf Kindheitserfahrungen beruhenden Empfindungen vergiftet werden könnten. Außerdem würden seine Aktionen und Bewegungen anmutig und zielsicher sein, da die chronischen Spannun­ gen aus seiner Muskelschicht gewichen wären. Einerseits würden sie seine Gefühle widerspiegeln, andererseits der Steuerung seines Ich unterliegen. Sie wären also harmonisch und angemessen. […] Er […] wäre […] in all seinen Reaktionen ein im wahrsten Sinne des Wortes »herzlicher« Mensch. Das ist natürlich ein Idealbild. Man kann den idealen Zustand zwar nie so vollständig erreichen, ist aber auch nicht so von seinem Herzen abgekapselt, daß man keinen freudigen Augenblick empfindet, wenn es sich öffnet und frei ist. Wenn sich ein Herz völlig von der Welt abschließt, wird es aufhören zu schlagen, und der Mensch muß sterben. Es ist eine traurige Tatsache, daß viele Menschen mehr tot als lebendig durch das irdische Dasein gehen.«77

5.5 Das Herz verbindet uns mit Menschen, Tieren, Welt und Natur Die in Abschnitt 5.2 zitierte Passage – »Die Wärme, die uns mit der Welt vereint, in der wir leben, fließt von unserem Herzen« – setzt sich fort: »Das Gefühl der Liebe ist nichts anderes als diese Wärme.«78 Dieses Zitat deutet an, dass für Lowen empathische Herz­ gefühle (»Liebe«) nicht nur in den eigenen Körper und seine Glieder strömen können, um von dort aus dann auf andere Menschen überzu­ fließen. Nein, empathische Herzgefühle können in die Welt und in die Natur hinausströmen. Sie ermöglichen Verbindung, Berührung und Berührtwerden in einem viel umfassenderen Sinn. Im Abschnitt 5.4 sprach Lowen davon, dass ein kopf-herz-bauch-integrierter Mensch 77 78

Lowen 1979: 106f. Lowen 1979: 72.

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in »Verbindung« sei. Damit meinte er, dass dieser Mensch eine Verbindung zu sich, eine Verbindung zu seinen Herzgefühlen und seinen drei leibseelischen Bereichen habe.79 Doch unschwer lässt sich erkennen, dass auch diese Verbindung viel weiter reicht – und für Lowen Welt, Natur und Kosmos miteinbegreifen kann. Wie hieß es oben? »Wenn man ein erfüllteres und reicheres Leben führen möchte, muß man sein Herz zuerst dem Leben und der Liebe öffnen. Ohne Liebe – zu sich selbst, zum Mitmenschen, zur Natur und zum Kosmos – ist ein Mensch […] isoliert«.80 Ich frage an dieser Stelle: Sind diese nach außen fließenden Herzgefühle, sind diese Liebes-Verbindungen Projektionsvorgänge, also tiefenpsychologisch gesagt Übertragungsvorgänge, emotionale Übertragungsvorgänge? Oder gar, mit Freud gesagt, projektive Libi­ doübertragungen, Libidofixierungen? Lowen würde sich auch hier nicht vom Wesentlichen ablenken und zu einem erkenntnistheoreti­ schen oder erkenntnispsychologischen Disput verführen lassen. Er würde einfach wiederholen: »Wenn man ein erfüllteres und reicheres Leben führen möchte, muß man sein Herz zuerst dem Leben und der Liebe öffnen. Ohne Liebe – zu sich selbst, zum Mitmenschen, zur Natur und zum Kosmos – ist ein Mensch […] isoliert«.81 Und aus lebensphilosophischer Sicht hätte er Recht. Metaphorisch aus­ gedrückt: Über den Herzfluss sind wir verbunden und stehen in Beziehung zum ›Herz der Welt‹ und zum ›Busen der Natur‹. Das ist es doch, was mit diesen zwei Redewendungen eigentlich gemeint ist, oder? Genau dieses In-Beziehung-Treten-Können, die Begegnung mit anderen Wesen und Dingen, mit anderen Welt- und Naturgestalten auf der Herzebene, das von ihnen seelisch wie leiblich Berührtwerden ist doch das Entscheidende. Doch dies lässt sich weder wissenschaft­ lich beweisen, noch auch erkenntnistheoretisch absichern. Es ist nur im herzkommunikativen, begegnend-berührenden Vollzug präsent.

79 80 81

Lowen 1979: 70f. Lowen 1979: 72. Lowen 1979: 72.

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Spüren, Berühren, Berührtwerden

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Henning Hintze

Strukturelle Analyse der Auffassung von Umgebung, Nähe und Berühren in Hermann Schmitz' Neuer Phänomenologie. Neuansatz zur Strukturanalyse leiblicher Räume

1. Vorüberlegung und Einführung Die Untersuchung gilt nicht der Interpretation Hermann Schmitzʼ Leibphänomenologie und Lehre vom Raum, sondern gibt nur eine kurze Skizze – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit oder Schil­ derung einer Entwicklung –, auf Basis derer eine neue Perspektive mit alternativen, hoffentlich aufschlussreichen Strukturen entwickelt wird. Die Ergebnisse weiten die Perspektive und vertiefen Einsichten in die Struktur leiblicher Räume und ihr Verhältnis zur körperlichen Welt sowie dem nach Schmitz auf ihnen gründenden Ortsraum1, einem körperlichen Raum, dessen Bestandteile in messbaren wech­ selseitigen Distanzbeziehungen stehen. Dies steht aber nicht im Gegensatz zu Schmitzʼ zentralen Resultaten. Schmitz gibt die folgenden vorläufigen Definitionen für »leib­ lich« und den »Leib«2: »Leiblich ist, was jemand in der Gegend (keineswegs, wie z. B. am Blick deutlich wird, immer in den Grenzen) seines materiellen Körpers von sich selber (als zu sich selber, der hier und jetzt ist, gehörig) spüren kann, ohne sich der fünf Sinne (Sehen, Tasten, Hören, Rie­ chen, Schmecken) und der aus ihrem Zeugnis abgeleiteten perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen. Als Leib kann das Ganze der leiblichen Regungen mit seiner noch zu bestimmenden räumlichen und dynamischen Beschaffenheit verstanden werden […].« 1 2

Schmitz 1967: 31 ff. Schmitz 2011: 5.

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Henning Hintze

Der Blick ist dabei als leiblich vom körperlichen Sehen zu unterschei­ den. Für die folgende Untersuchung seien einige zentrale Ergebnisse der Leibphänomenologie Herrmann Schmitzʼ in den folgenden The­ sen festgehalten: a)

b)

c)

Der Leib wird in unserer Kultur verdeckt. Seit Homers Odyssee wird er zunehmend durch eine eher künstliche Konzeption von Körper und Seele ersetzt3. »Die abendländische Kultur hat […] den spürbaren Leib allenfalls in einer dunklen Ecke der Seele einem asylum ignorantiae, […] untergebracht.«4 Der Leib ist in andere Raum- und Zeitstrukturen integriert, die u. a. keine Flächen und keine Abstandsbegriffe oder -messungen aufweisen. Mathematisch spricht man hier sehr allgemein von einer Metrik d auf einer Menge M, die dann als ein metrischer Raum bezeichnet wird5. Der bekannte Abstandsbetrag auf der Menge der reellen Zahlen IR als Betrag der Differenz zweier Zahlen ist bei weitem nicht die einzige Metrik. In Schmitz 19676 weist Schmitz nach einer gründlichen und in der Gestaltung mit Paul Lorenzens Vorgehen verwandten Einführung von Lagen auf die Definition einer Metrik hin, die er »Abstand« nennt und dadurch abqualifiziert, dass sie von einer Maßeinheit ausgehen müsse. Die Allgemeinheit dieser Struktur unterschätzt er aber möglicherweise, da er stets nur eine bestimmte Metrik für leibli­ che Räume ausschließt. Diese leiblichen Strukturen sind im Ausgang von der primitiven Gegenwart, einem im extremen Schreck erreichbaren Zusam­ menbruch aller körperweltlichen und leiblichen Strukturen auf einen Punkt hin7, ontologisch als primär und fundierend gegen­ über den körperweltlichen oder ortsräumlichen Strukturen auf­ zufassen. Ebenso ist der Gegenstandsbezug durch sinnliche

Schmitz 1965. In Kapitel 7 wird der Weg von der Ilias über die Odyssee bis hin zu Platon sehr erhellend beschrieben. 4 Schmitz 2011: 5. 5 d ist auf M eine Metrik genau dann, wenn: 1. d(x,y) = 0 dann und nur dann, wenn x = y gilt. 2. d symmetrisch ist, d.h. stets d(x,y) = d(y,x). 3. Für alle x,y,z aus M gilt: d(x,z) ≤ d(x,y) + d(y,z). Dann ist M ein metrischer Raum. 6 Schmitz 1967: 87. 7 Mathematisch wäre dies mit einer Singularität zu modellieren. Keinesfalls fiele es, wie zuweilen vermeint, aus der Betrachtung. Diese Auffassung teilte Hermann Schmitz gesprächsweise. 3

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Strukturelle Analyse der Auffassung von Umgebung, Nähe und Berühren

d)

e)

Wahrnehmung ontologisch nachrangig gegenüber der Einlei­ bung, in welcher ein Leib andere Leiber, Körper, auch leblose Gegenstände wie einen Fußball in sein Leibschema – meist vorübergehend – integrieren kann.8 Leib und Körper sind ontologisch verschieden, »sogar ihr räumli­ cher Zusammenhang ist ohne einsichtige Notwendigkeit«9. Kei­ nesfalls ist der Leib nur eine Innenperspektive des Körpers. Das eigenleibliche Spüren erlebt beispielsweise dauerhaft Phantom­ schmerzen an einem oder in der Nähe von einem amputierten Glied, wie dies zuvor am körperlich realen geschah.10 Leibliche Räume gibt es mehrere: Raum des Schalls, des leibli­ chen Agierens, aller Formen der Schwellung oder räumliches Erlebnis beim Treiben im Wasser. Allgemein sind noch rich­ tungslose reine Weiteräume von Richtungsräumen zu unter­ scheiden, in denen die leibliche Dynamik und Kommunikation sowie die Einleibung Richtungen »einträgt«.11

Während Schmitz mehrfach sehr genau untersucht, dass sich der Leib vom Körper abhebt, und, wie er sich aus der primitiven Gegen­ wart auffaltet und danach erst ermöglicht, die Körperwelt und die wissenschaftlich technische Welt aufzubauen, und seine strukturelle Verschiedenheit von dieser betont, bleiben bei Schmitz aber drei sich eigentlich sehr natürlich ergebende Fragen nicht oder nicht erschöp­ fend behandelt: a)

8 9 10 11 12

Weisen diese leiblichen Räume über die Einordnung als Weite- und Richtungsraum hinaus durchgängige, vielleicht sogar gemeinsame Strukturen auf oder sind sie nicht nur vom körper­ lichen Raum, sondern auch untereinander insgesamt oder sogar wechselseitig paarweise verschieden? Welche durchgängigen Strukturen wären eventuell hervorzuheben? In seinem Haupt­ satz der Lehre vom Raum12 identifiziert Schmitz die »maßlose Weite des Raumes« mit der Weite des eigenen Leibes, für jeden Menschen und jedes leibliche Tier. Dies lässt auf eine einheitliche Struktur schließen, reicht die Frage nach der Struktur damit aber an den Leib weiter. Dies wird in Schmitz 2011 ebenso wie Schmitz 1967 ausführlich dargelegt. Schmitz 2011: 143. ebd.: Kapitel 1 und 16. ebd.: 122 ff. Schmitz 1967: 203ff.

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b)

c)

Wenn wir einerseits einen ganz natürlichen und privilegierten Zugang zum Leib haben, ihn aber alltäglich dauernd überse­ hen, wie steht es dann mit den Übergängen von leiblichen Räumen in den körperlichen Ortsraum und zurück? In diesem Feld sind interessante Phänomene zu erwarten, welche den Leib und den leiblichen Raum charakterisieren, indem sie zugleich die Strukturunterschiede zum körperlichen Ortsraum und ihr Zusammenspiel erhellen. Wenn leibliches Wirken den leiblichen Raum, aber auch den körperlichen Raum alltäglicher Erfahrung betrifft, wenn wir uns als Leiber als Ausgangspunkt von Handlungen im körperlichen Ortsraum verstehen, wie fügt sich dann der leibliche Raum in den körperlichen Ortstraum ein? Schmitz spricht nicht ganz zutreffend von einer »Einbettung« des Ortsraumes in den leibli­ chen Raum13. Inhaltlich fundierend ist dies zutreffend, dennoch versteht man unter einer Einbettung eine eineindeutige struk­ turerhaltende Abbildung auf eine Teilmenge des Zielraumes. Hier wäre nicht sicher, wie diese Abbildung der vereinzelten Ele­ mente des Ortsraumes Bilder im leiblichen Raum fände, dessen Bestandteile nicht durchgängig als einzeln vorausgesetzt werden sollten und günstigenfalls erst aus diesem durch Begriffsverwen­ dung oder eben durch diese Abbildung »vereinzelt« worden sein könnten. Weit problematischer ist aber die wohl verfehlte Überzeugung, dass die Strukturen erhalten bleiben. Resultat der Untersuchung wird sein, dass hinsichtlich topologischer Strukturen gerade keine Einbettung vorliegt und dass auch noch die Richtung dieser räumlichen Einordnung in relevanten Fällen umgekehrt, also eine Einordnung bestimmter leiblicher Räume in den Ortsraum ist.

Wenn Schmitz Philosophie definiert als »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sich-Finden in seiner Umgebung«14 und mit der Primitiven Gegenwart auch den Anker dieses Sich-Findens an die Hand gibt, dabei Irritation im Sich-Finden und Schock als Ausgangspunkt der Lösung setzt, so sollte die Frage nach Irritation im Übergang zwi­ schen körperlichem und leiblichem Raum als natürlich erscheinen. Schmitz fokussiert sich aber auf die Entwicklung und die ontologische ebd.: 74: »Soweit die Phänomene der Räumlichkeit reichen, ist jeder Ortsraum in einen leiblichen Richtungsraum eingebettet.« 14 u. a. Schmitz 1964: 15.

13

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Strukturelle Analyse der Auffassung von Umgebung, Nähe und Berühren

Fundierung in seinem Gang der Untersuchung vom leiblichen in den körperlichen Raum. Es wird sich als ergiebig erweisen, auch die umgekehrte Denkrichtung zu verfolgen. Schmitz wählt viele seiner Beispiele zur Schilderung des reinen leiblichen Erlebens (wie das Sich-Treibenlassen in Rückenlage im Wasser) und die Charakterisierung des leiblichen Raumes bewusst so, dass in ihnen der körperliche Ortsraum gänzlich aus der Aufmerk­ samkeit gerät, und weicht damit dem Konflikt aus. Im Folgenden soll dieser dagegen methodisch gesucht werden. Die Fragen b) und c) richten sich in diesem Sinne auf den Über­ gang aus solchen Phasen glatten Funktionierens leiblicher Vorgänge im leiblichen Raum in das andere Extrem vermeintlich bruchloser Prozesse im körperlichen Raum, welche den Leib vergessen lassen. Die Hypothese ist, dass zwischen diesen Polen Übergänge zu suchen und zu finden sind, an denen ein Problem des Übergangs augenfällig wird, das quasi »explizit« übersehen wird, obwohl es eigentlich aufdringlich präsent ist. Zur Frage a) über eine einheitliche Struktur der leiblichen Räume oder der Weite- und Richtungsräume und deren Abgrenzung von einem körperlichen Ortsraum wird primär ein scheinbar unwichtiger Strukturaspekt untersucht: die Konzeption von Umgebung, Berühren und Nähe. Wenn man sie mathematisch mit den Methoden der Topo­ logie15 erfasst, erweist sich diese Konzeption aber als der wesentliche Strukturaspekt, weil sich aus ihm final klären lässt, warum leibliche Räume grundsätzlich keine Abstandsbegriffe aufweisen können und auch in welchem Sinne sie wesentlich oberflächenlos und in diesem Sinne sekundär flächenlos sind. Schmitz versucht eine Erklärung über die Rolle der Flächen, die er dabei aber – zumindest leitend – enger als Ebenen oder Teilebenen versteht und nicht als Oberflächen beliebig geformter Körper. Schmitz reflektiert im Zusammenhang der Untersuchung zu Raumdimensionen einmal kurz die mathematische Topologie, zeichnet aber kein ganz adäquates Bild von ihren Mög­ lichkeiten, doch fordert er im Einklang mit der vorliegenden Untersu­ chung: »…muß also den Begriffen der Umgebung eines Punktes und der Begrenzung einer Umgebung einen neuen Sinn geben, der sich nicht 15 Als Referenz wird die knappe Darstellung der Grundlagen in Von Querenburg 1979 verwendet.

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Henning Hintze

oder wenigstens nicht nur auf Gedankengebilde der höheren Zah­ lentheorie16 bezieht, sondern an konkret räumlichen Phänomenen anschaulich dargestellt werden kann.«17

Im folgenden Abschnitt 2. werden daher zunächst mehrere Fallbei­ spiele kurz geschildert und analysiert – mit dem Ziel, die Übergänge in der Charakterisierung von Nähe und Umgebung herauszuarbeiten, die sich dann als tragend für den Übergang zwischen den leiblichen Raum und dem körperlichen Ortsraum erweisen werden. Für eine – sicherlich lohnende – ausgiebige Phänomenanalyse ist in diesem Rahmen leider keine Gelegenheit. Im folgenden Abschnitt 3. wird gezeigt werden, dass es sich bei diesen Übergängen strukturell um einen Topologiewechsel handelt. Die umfassende Frage, etwa nach Raumdimensionen und Richtungen und damit eine weiterführende oder möglicherweise sogar komplette Analyse des leiblichen Raumes kann in diesem Rahmen nicht beant­ wortet werden. Zuletzt werden die vorläufigen Ergebnisse kurz umrissen und ein Ausblick auf eine mögliche umfassende Untersuchung der durch­ gehenden Struktur des leiblichen Raumes und auf das Potenzial der topologischen Analyse hinsichtlich des Situationsbegriffs und der ontologisch grundlegenden Frage nach der Individuierung skizziert. Dabei erweist sich die topologische Charakterisierung als eine bislang unbeachtet gebliebene wesentliche Komponente der für Schmitz so wichtigen intensionalen Ensemblebildungen wie zuletzt der unspalt­ baren Verhältnisse.

2. Übergänge zwischen leiblichen Räumen und körperlichem Ortsraum 2.1 Fall: Das Tragen von Lasten Wenn etwa ein Glaskasten oder ein anderer zerbrechlicher großer und harter Gegenstand getragen wird, so ist dieser als Körper para­ digmatisch hart, eckig, flächig und unflexibel. Der eigene Körper Hier wäre »Mengentheorie« passender, die algebraische und die analytische Zahlentheorie sind hier beide nicht adressierbar. Schmitz meint einfach mathemati­ sche Zahlenmengen. 17 Schmitz 1967: 376f.

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dagegen weicher, runder, flexibler, biegsamer und in Berührungen weniger definit. Durch die ungleichmäßige Form und Behaarung des Körpers sind Berührungen normalerweise weiche Übergangsprozesse und nicht harte Anstöße. Leiblich spürt man sich als ein Verbund flexibler, dynamischer und eher weicher Leibesinseln. Versucht man nun, diesen Glaskasten durch einen engen metal­ lenen Türrahmen zu bugsieren, so wird dieser, aber auch der Türrah­ men im leiblichen Fluss der Bewegung im Sinne Schmitzʼ eingeleibt. Der Mensch bewegt sich mit dieser Last ebenso flüssig wie zuvor. Er benötigt keine Abstandsmessungssysteme oder einen Begleiter, der warnt. Er hat den Kasten und auch den Türrahmen vorübergehend in sein Leibschema integriert, sie erscheinen dem Träger nicht mehr als fest umrandet, eher unbegrenzt und weich, sie wirken runder und flexibler. Im körperlichen Ortsraum scharf unterschieden, bilden Körper und Kasten dagegen im leiblichen Richtungsraum eine leib­ liche Einheit, die vom vitalen Antrieb18 in Richtung eines Zieles bewegt wird. Mit allerlei geschickten Drehungen, Kippungen und Verrenkungen wird die Gruppe aus Körper und Kasten durch die Engstelle bugsiert. Wird es aber nun am Türrahmen wirklich eng und kritisch, wenn der Glaskasten anstoßen und zersplittern könnte, dann erfolgt schlagartig ein Einschnitt: Die Einleibung entfällt, der Glaskasten und der Türrahmen erscheinen als hart, flächig und eckig, jede flüssige Bewegung sperrend oder gefährdend, selbst der nun separierte eigene Körper steht dem Transit im Wege. Der Träger ist zurückgeworfen in den körperweltlichen Ortsraum. Er schätzt Entfernungen ab, zieht einen Zollstock hervor und versichert sich der physikalischen Mög­ lichkeit der Passage, um dann einen Bewegungsablauf zu sondieren. Dann packt er an und findet meist zurück in die vorige leibliche Orientierung. Dieser Wechsel kann sich mehrmals wiederholen. Im schlimmsten Fall, wenn der Kasten etwa die Sicht verstellt, muss er sich mit Hilfe eines Beobachters mit Richtungswechselangaben (»2cm nach links!«, »Nein, das andere Links! Jetzt noch einen Tick nach oben!«) im Ortsraum körperlich aus der Klemme navigieren lassen. Reflektiert man den Wechsel im Erleben, so scheinen Türrahmen und Glaskasten schlagartig zu gefrieren. Der Träger selbst bleibt leiblich in Bewegung, doch ist er sehr beklommen, steif und seiner 18

Schmitz 2011: 15f.

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Gewandtheit beraubt. Gewicht und Kontaktdruck des Tragens neh­ men spürbar zu. Wenn dann Beobachter oder Helfer nach Zahlen­ angaben für Abstände gefragt werden, wird ein dreidimensionales körperliches Schema leitend, das vorher offensichtlich keine Rolle gespielt hat. Wenn der Kasten von zwei erfahrenen Trägern getragen wird, kommt es zu einem unspaltbaren Verhältnis, das Schmitz am Beispiel des Sägens mit der doppelgriffigen Säge erläutert hat. Dieses Verhält­ nis würde aufgelöst in gerichtete Beziehungen zwischen den Trägern, dem Kasten und der Umgebung19. Ein vergleichbarer Fall ist das Einparken eines Autos mit Ein­ parksystemen, bei dem akustische und optische Systeme fließende und einleibungsfähige Abstandswerte ausdrücken und zugleich eine geschwungene Einparkführung auf einem Kamerabild eine einlei­ bungsfähige richtungsräumliche Lösung vermitteln soll. Auffällig ist, dass keine Abstandsangaben erfolgen, obwohl Geschwindigkeit, Drehzahl und Reichweite in Zahlen angegeben werden. Der Einpark­ vorgang erfolgt leiblich richtungsräumlich, während die Zahlenanga­ ben der Orientierung im Ortsraum dienen. Die zugrundeliegenden Daten werden aber ortsräumlich ermittelt, so dass ein Auto als Roboter mit diesen selbständig ortsräumlich einparken kann.

2.2 Fall: Das Erwachen Ein zweiter Fall wird nicht vollständig bewusst erlebt. Wer erwacht, findet sich, aus einer Traumwelt kommend, zunächst als Leib in einem Weiteraum. In einem zweiten Schritt richtet sich der Erwachende auf naheliegende Gegenstände wie Brille, Mobiltelefon, Lichtschalter, Uhr oder Wecker aus, die er über die Schlafphase hinweg einzuleiben vermag und nach durchschlafener Nacht recht sicher ergreifen kann, ohne sie anzuschauen. Hier können manchmal nach langem Schlaf mit Positionswechseln oder eng beieinander positionierten Gegen­ ständen leichte Irritationen auftreten. Dies funktioniert gewöhnlich aber sehr zuverlässig, auch wenn der Schläfer plötzlich erwacht, unmittelbar agieren muss und sich nichts ortsräumlich zurechtlegen oder ordnen kann. Dieses wichtige Thema seiner späten theoretischen Philosophie kreist um eine verwandte Frage. Es ist auch in ebd.: 77 angerissen.

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Kompliziert und damit interessant wird es, wenn die meist nur schemenhaft erkennbare Struktur des Raumes, des Schlafzimmers, als Ortsraum verstanden, aufscheint und nun der leibliche Richtungs­ raum mit diesem körperlichen Ortsraum, der durch seine Wände und damit durch Flächen in Erscheinung tritt, verknüpft werden muss. Zunächst scheitert der Erwachende meist daran, die Ausrichtung seines Leibes in diesem Ortsraum zu bestimmen. Der Leib und alles griffbereit Eingeleibte müssen in vielen Fällen (ohne statistische Untersuchung, eher aus Eigenerleben) um 180° gedreht werden.20 Dann erst gelingt dieser Orientierungsprozess, der sonst so selten in den Blick kommt. Die bekannten Tollpatschigkeiten beim Aufstehen, das Laufen in die falsche Richtung, das Anstoßen etc. rühren von dieser Findungsphase her. Die leibliche Halbkugel des nach vorn gerichteten Zugriffs auf die handgreifbar abgelegten Gegenstände und diese um 180° gedrehte Grundausrichtung in den Ortsraum einzufügen, das ist beim Aufstehen eine kleine Herausforderung. Ist der Leib in den Ortsraum eingefügt, so ist der Mensch wach und kann nicht mehr ohne weiteres in den Schlaf zurückfallen. Bevor dies geschehen ist, ist dies dagegen kein Problem. Ausdrücklich wird hier nicht der Ortsraum in den Richtungsraum integriert oder gar einge­ bettet, wie Schmitz meint, sondern umgekehrt der Richtungsraum in den Ortsraum. Auch die 180°-Drehung ist keine des Ortsraumes, sondern des leiblichen Raumes. Dies mag im ontologischen und begriffslogischen Sinne, wie Schmitz betont, anders sein, erlebt wird es aber als Drehung des Leibes. Der Schlafwandler dürfte in der richtungsräumlichen Orientie­ rung verharren und seine Schritte im leiblichen Richtungsraum set­ zen. Ganz ähnlich dem Verfahren eines Bergsteigers, der den Schwin­ del überwinden möchte und ganz bewusst nur richtungsräumlich sicher Schritt auf Schritt in eingeleibte Tritte setzt, ohne sich dabei verunsichernd ortsräumlich zu orientieren. Hätte Schmitz eine Alternative für die primitive Gegenwart, jenen extremen Schreck finden wollen, in dem alles, Körperliches wie Die 180° Drehung lässt sich vermutlich in der körperlichen Welt so erklären: Der Mensch sieht optisch die Welt auf dem Kopf stehend und korrigiert dies in der Verarbeitung der Signale. Setzt man einem Menschen eine Brille auf, welche das Bild wiederum auf den Kopf stellt, korrigiert er nach einer Weile auf das gewohnte Bild einer nicht auf dem Kopf stehenden Welt zurück. Im Schlaf dürfte gerade diese Korrektur wieder aufgehoben werden. 20

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Leibliches, alle Ausdehnung, Weitung und Räumlichkeit auf einen Punkt hin kollabiert, die zur Findung und absoluten Lokalisierung seiner selbst in Raum und Zeit dient, und aus der alles wieder ent­ wickelt werden muss, dann hätte er auch das schnelle Erwachen aus dem Tiefschlaf betrachten können21. Hier wird zwar nicht ein absolu­ ter Ort und absolute Identität vermittelt, aber die Auffaltung des leib­ lichen Raumes und die Verbindung zum Ortsraum allmorgendlich augenfällig. Hier ist der Ausgangspunkt nicht extreme Engung, son­ dern extreme Weitung. Beim Aufwachen liegt ein Phänomen vor, das sich nicht, wie z. T. leibphänomenologisch angenommen, adäquat nur aus der leiblichen Perspektive aufhellen lässt, sondern es ist das Zusammenspiel leiblicher und ortsräumlicher Aspekte erforderlich, um gerade den Übergang des Erwachens zu erfassen.

2.3 Zusammenfassung Der erste Fall zeigt ein Hin- und Herwechseln zwischen leiblichem Richtungs- und körperlichem Ortsraum, der zweite den Übergang aus Weiteraum zu Richtungsraum und dann die Eingliederung in den Ortsraum. In beiden Fällen kommt es zu den gesuchten Irritationen, die es nun topologisch zu interpretieren gilt. Angenommen, diese Irritationen wären aufgebauscht und leib­ theoretisch wie auch topologisch überinterpretiert, dann wäre man in der Situation eines Roboters, der mit zwei hinreichend weit distan­ zierten Kameras die Umgebung abbilden würde und die Entfernungen seines Kopfes zu den Gegenständen seiner Umgebung berechnen könnte. Fließende Bewegungen würden auf seinen Beobachtungen, deren Auswertungen und einer Integration des eignen Körpers als beweglichen Ursprung der Beobachtung in den körperlichen Raum resultieren. Die Integration seiner Beobachtungen in den als IR3 interpretierten Ortsraum würde einfach mittels einer Verschiebung (Translation) des Koordinatensystem-Ursprungs (Punkt (0,0,0)) in den Mittelpunkt der Achse seiner beiden Kamera-Augen erfolgen (mathematisch ein affines Koordinatensystem), die mit einer Dreh­ matrix (lineare Abbildung) für seinen Kopf ergänzt würde. Eine Ver­ änderung der topologischen Charakteristika würde in keiner Weise 21

In Schmitz 1965: 216 streift er diesen Aspekt.

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erfolgen. Man spricht dann von einem Homöomorphismus22 und auf dieser Grundlage von einer Einbettung. Diese Interpretation könnte – leibvergessen – durchaus für die alltägliche Bewegung zumindest näherungsweise überzeugen. Sie erklärt aber gerade nicht die Topo­ logiewechsel beim Tragen der Lasten in kritischen Momenten und sie erklärt nicht, wie die Brille zur Hand sein kann, während Mauern, Fenster und Türen, ja sogar das Bett, in dem man schläft, um 180° gedreht zum Leib erscheinen, dabei Türe und Wände so unzugänglich wirken, dass sie im perfekt verdunkelten Raum mühsam zu ertasten sind. Diese beiden Fälle eröffnen Einsichten, welche gerade die von der Körperwelt weit entfernten Phänomene wie das Treiben in Rückenlage im Wasser übersehen lassen.

3. Topologische Charakterisierung 3.1 Topologie In Situationen und auch in der leiblichen Orientierung ist das primär Begegnende nicht ohne weiteres als eine Mannigfaltigkeit von lauter Einzelnem zu verstehen. Schmitz definiert Einzelnes als solches, das unter einen Begriff fällt und damit potenziell Element einer endlichen Menge (z. B. eines endlichen Begriffsumfangs) ist. Vielmehr begegnet uns in Situationen chaotisch Mannigfaltiges, das solches umfasst, das noch nicht einmal nach Identität mit sich selbst (absolute Identität) entschieden sein muss, erst recht nicht nach Identität mit anderem (relative Identität zwischen unter einen Begriff fallenden Entitäten) und damit Schmitzʼ erwähnter Definition des Einzelnen genügen muss. Nicht ausgeschlossen ist, dass aus chaotisch Mannigfaltigem durch Begriffsbildung und -verwendung Einzelnes herausgehoben oder genauer etwas in den Status des Einzelnen gesetzt wird. Diese Ausschöpfung bleibt aber stets potenziell partiell und unvollständig. Daher ist die Anwendung einer mathematischen Disziplin nicht in dem Sinne möglich, dass man solche chaotischen Mannigfaltigkeiten adäquat mit einem mengentheoretischen Ansatz erfasst, denn das hieße, sie fälschlich oder naiv als Mengen zu verstehen. Denn dann wären aber nach Schmitzʼ Definition ihre Bestandteile alle einzeln 22

Von Querenburg 1979: 24.

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im Gegensatz zur Charakterisierung des chaotisch Mannigfaltigen. Man kann den Standpunkt vertreten, dass es nur Einzelnes gibt und damit chaotisch Mannigfaltiges auf mangelnder Analyse basiere, aber Schmitz lehnte einen solchen Singularismus als naiv ab, weil dieser gerade die Bedingungen oder Voraussetzungen der Einzelheit übersehe und das Einzelne dann zur Grundlage für die Bildung von Begriffen und Abstrakta nehmen wolle, welche aber logisch und ontologisch vorgängig seien. Diese Fragestellung führt in das Univer­ salienproblem, das nicht an dieser Stelle diskutiert werden kann23. Da sich im Folgenden bestimmte strukturelle Einsichten aus der theoretischen Mathematik als hilfreich erweisen werden, ist es daher für ihre Anwendbarkeit zunächst notwendig, methodisch von der Körperwelt und dem Ortsraum auszugehen. Dadurch ist Schmitzʼ ontologische Vorgängigkeitsthese in Bezug auf den leiblichen Raum nicht notwendig in Frage gestellt. Nimmt man einmal in diesem methodischen Sinne die Erfassung der körperlichen Welt und des Ortsraumes als dreidimensionalen Raum reeller Zahlen (IR3) als unproblematisch an, was gerade wegen seiner tiefen Verknüpfung mit leiblichen Räumen ontologisch und phänomenologisch nicht unproblematisch ist, aber außerhalb phäno­ menologischer Betrachtung gewöhnlich akzeptiert wird, und lässt subatomare Problematiken der Quantentheorie außer Betracht, so kann man diese Welt topologisch in einer gängigen Form charakteri­ sieren: Die Gegenstände unserer Umgebung in Städten sind meist harte und glatte Artefakte wie Wände, Möbel, Wege, Straßen oder Maschi­ nen. In physikalischen Beispielen würden sie mit Mengen reeller Zahlen beschrieben, die Randpunkte, -linien und -flächen beinhalten, in der mathematischen Topologie nennt man sie abgeschlossen. Für Gegenstände der lebendigen Natur gilt dies selten, in der Welt natür­ licher toter Gegenstände sind Felsen, Steine und Eis abgeschlossen, nicht aber weiche oder bewachsene Böden, lebendige Pflanzen und Tiere, auch nicht Wasser. Am menschlichen Körper sind die Finger­ nägel und die Zähne hart und abgeschossen, nicht aber der restliche Körper, der weicher und zu großen Teilen unregelmäßig behaart und damit ohne feste Kontaktpunkte ist. Die Nägel (Krallen) und die Zähne sind bei vielen Raubtieren wie Katzen genau die Waffen. 23

Hintze 1998.

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In der Topologie gelten die mengentheoretischen Komplemente abgeschlossener Mengen – diese sind das, welches nach Ausschluss einer abgeschlossenen Menge von einem topologischen Raum, der Gesamtmenge, übrig bleibt – als offen. Positiv charakterisiert ist eine offene Menge solcher Art, dass alle ihre Punkte innere Punkte sind. Es gibt keine Grenze, keinen Rand, keine Oberfläche. Entfernt man von einem abgeschlossenen Gegenstand den äußeren Rand oder die Hülle, so ist das Innere offen. Das für die Oberflächen Gesagte gilt nicht für sämtliche Topologien, sondern zunächst einmal für die gewohnte oder natürliche Topologie in der Auffassung des IR3, die nachfolgend erläutert wird. Der eigene Körper taugt weitgehend dazu, als offen wahrgenom­ men zu werden. Die Haut ist keine feste, harte Hülle. Er hat wesentlich keine abgeschlossene Oberfläche, sondern seine Punkte haben kör­ pereigene Umgebungen. Diese Übergänge sind nicht mathematisch präzise, sie werden aber bei der alltäglichen Anwendung von Phy­ sik und damit Mathematik auf die Körperwelt in analoger Weise vollzogen und sind damit nicht künstlich und sollen hier als Betrach­ tungsperspektive etabliert werden. In der Wahrnehmung des eigenleiblichen Spürens gilt dies ver­ stärkt. Leibesinseln sind räumlich nicht stabil, sie entwickeln sich dynamisch und sind nicht fest abgegrenzt. Ihre topologische Charak­ teristik ist offen.24 Wenn andere Körper eingeleibt werden, d. h. in das Leibschema integriert werden, erhalten diese ebenfalls eine offene toplogische Struktur. Dies gilt ähnlich für Zähne und Fingernägel, die entweder als fremd gefühlt werden oder ebenfalls in die offene Leibstruktur integriert werden. An dieser Stelle wird ein vorgreifender Transfer vom Ortsraum in seiner mengentheoretischen Konzeption als IR3 in den leiblichen Raum vorgenommen, der daher zunächst heuristisch zu nehmen ist. Topologien sind abstrakte Charakterisierungen von Mengen durch eine Auszeichnung bestimmter Teilmengen als offen und anderer als abgeschlossen. Die Komplemente einer abgeschlossenen Menge sind offen und umgekehrt die Komplemente offener Mengen abgeschlossen. Es ist möglich, dass eine Menge und ihr Komplement 24 Schmitz charakterisiert den Leib im gleichen Sinn: »Jede Leibesinsel hat ein verschwommenes prädimensionales Volumen ohne Flächen und Ränder.« (Schmitz 2011: 8) In der vorliegenden Arbeit wird nur präzisiert, dass Fläche und Rand in der Vorstellung einer Oberfläche zusammenkommen.

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sowohl abgeschlossen als auch offen sind. Es kann sehr extreme Topologien, z. B. die nur Gesamtmenge und die leere Menge (indis­ krete Topologie), geben. Hier wären die Gesamtmenge und die leere Menge offen und abgeschlossen zugleich. Das andere Extrem ist, die gesamte Potenzmenge (Menge aller Teilmengen) als offen zu bezeichnen (diskrete Topologie). In dieser ist wieder jede Teilmenge offen und abgeschlossen zugleich25. Das bekannteste Beispiel ist die bereits einführend verwendete sogenannte natürliche Topologie auf den reellen Zahlen, die auf offe­ nen Intervallen aufbaut. Das Intervall von 1 bis 2, das aber die Grenz­ punkte 1 und 2 nicht beinhaltet, ist offen (Notation:]0,1[), das abge­ schlossene Intervall, das diese Grenzpunkte enthält, ist abgeschlossen (Notation: [0,1]). Wenn beliebige Vereinigungen von offenen Men­ gen als offen, beliebige Schnitte abgeschlossener Mengen als abge­ schossen gelten sollen, aber nur endliche Vereinigungen abgeschlos­ sener Mengen als abgeschlossen und entsprechend endliche Schnitte offener Mengen als offen, so kann man aus diesen Intervallen durch mengentheoretische Verknüpfungen (Vereinigungsmengenbildung) alle erforderlichen offenen Mengen und durch Komplementbildung auch die abgeschlossenen Mengen kreieren. Man spricht in diesem Sinne bei den offenen Intervallen von einer topologischen Basis.26 Wenn man das auf den dreidimensionalen Raum erweitern möchte, so kann man offene Quader (in jeder Dimension ein offenes Intervall) als topologische Basen auszeichnen, mittels derer sich alle weiteren Mengen per Vereinigung und Schnitt bilden lassen. Offene Mengen werden dadurch charakterisiert, dass jedes Ele­ ment oder, wie der Mathematiker sagt, jeder Punkt im topologischen Raum (die Ausgangsmenge mit ihren topologisch charakterisierten Teilmengen) ein innerer Punkt ist. D. h., dass zu diesem Punkt P eine Umgebung (Teilmenge) existiert, welche eine offene Teilmenge enthält, deren Element P ist. Im offenen Intervall oder im offenen Quader ist dies für alle Punkte dieser Intervalle oder Quader der Fall. Im abgeschlossenen Intervall oder Quader scheitert man genau an den Randpunkten. Zu einer offenen Menge kann man genau die Punkte hinzu­ nehmen, die benötigt werden, um sie zu einer abgeschlossenen zu

25 26

Von Querenburg 1979: 17. ebd.: 18.

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machen. Dann spricht man von dem Rand dieser Mengen27. Für einen Ball oder einen Quader ist dies genau die Oberfläche. Es gibt nun verschiedene Arten von topologischen Räumen, die sich durch Trennungseigenschaften charakterisieren lassen. Diese Trennungseigenschaften werden sich als leitend für die Unterschei­ dung leiblicher Richtungsräume von Ortsräumen erweisen. Ein topologischer Raum X heißt T1-Raum genau dann, wenn für alle x, y aus X gilt: es existieren Umgebungen U und V, mit: x liegt in U und y liegt nicht in U, und V, mit: y liegt in V und x liegt nicht in V. T2-Raum oder Hausdorff-Raum genau dann, wenn für x, y aus X disjunkte Umgebungen U für x und V für y existieren. Mit T2 gilt auch T1. T3-Raum genau dann, wenn jede abgeschlossene echte Teil­ menge A von X und jeder Punkt außerhalb von A disjunkte Umgebungen besitzen. T4-Raum genau dann, wenn zu jedem Paar disjunkter abge­ schlossener echter Mengen zwei disjunkte Umgebungen existie­ ren. Ein Raum heißt normal genau dann, wenn er ein T1- und ein T4-Raum ist. Normale Räume sind auch hausdorffsch28. Reguläre Räume sind Räume, die zugleich T1- und T3-Räume sind. Normale Räume sind insbesondere reguläre Räume. Reguläre Räume sind aber nicht notwendig hausdorffsch29. Nun gilt der Satz, dass ein topologischer Raum, der metrisierbar ist, d. h. er ist auch metrischer Raum mit einer Metrik, welche seine Topologie erzeugt, auch ein normaler Raum und damit ein regulärer und ein Hausdorff-Raum ist30. Die Topologie bestimmt nicht eindeutig die Metrik, wenn der Raum metrisierbar ist, aber andersherum die Metrik eindeutig seine Topologie31. Interessant ist nun, dass die Frage, ob sich in einem Raum über­ haupt eine Abstandsmetrik etablieren lässt, bereits mit seiner Topo­ logie entschieden ist: Nur reguläre, normale und Hausdorff-Räume 27 28 29 30 31

ebd.: 21. ebd.: 62f. ebd.: 63. ebd.: 04, Satz 10.3 und S. 108, Satz 10.12. ebd.: 107.

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können über eine Metrik verfügen. Eine Metrik, nicht unbedingt die vorliegende, lässt sich aus der Topologie gewinnen, die Topologie kann man aber auch mit Hilfe der Metrik definieren – etwa nach Art der beispielhaften Einführung mit den Intervallen und Quadern. Diese Überlegungen werden sich für den Übergang von leibli­ chen Räumen zum körperlichen Ortsraum und für die Charakterisie­ rung des leiblichen Raumes als verständnisleitend erweisen. Das Verständnis von Umgebung und Nähe entscheidet, wenn es nach den Trennungseigenschaften T1-T4 analysiert ist, bereits darüber, ob ein Abstandsbegriff im Sinne einer Metrik möglich ist. Wenn der leibliche Raum, betrachtet in Fällen, deren Nähe zum körperlichen Raum bereits in der Wandlung, welche die Anwendung einer Metrik möglich erscheinen lässt, Umgebungscharakteristika aufweist, die eine Metrisierbarkeit ausschließen, dann kann man die Metrisierbar­ keit generell ausschließen und nicht nur wie Schmitz eine spezielle mit Zahlenabstandsbeträgen. Andersherum betrachtet: Wer um das Metrisierbarkeitstheorem der Topologie weiß, der muss erwarten, dass der nach Schmitz nicht metrisierbare leibliche Raum eine nicht metrisierbare Topologie aufweist, wenn er nicht wie Schmitz zumin­ dest in seinem Verständnis von derselben eine topologische Charak­ terisierung generell abweisen möchte. Der Rekurs darauf, dass der leibliche Raum ja nicht vollständig aus einzelnem bestehe, ist so nicht gültig, weil dies auch für das im Ortsraum Begegnende nicht durchgängig behauptet werden kann32 und gerade in den Übergangsphasen die physikalische Interpretation, die die Menge der reellen Zahlen verwendet, ja über den Ortsraum zur Verfügung steht. Auch bei der Verwendung der Physik in ihrer gängigen Gestalt in Differentialgleichungen über reelle Zahlenräume ist festzuhalten, dass niemand Grenzwerte wie bei Ableitungen oder auch nur bei der Definition der Kreiszahl π präzise zu Ende ausrechnen oder operativ im Raum auffinden kann. Die mathematischen Anwen­ dungen in der Physik erschienen dann im selben Sinn als unsinnig. 32 Die Gegenstände eines Ortsraumes stehen in Abstandslagebeziehungen, welche ihre Einzelheit voraussetzen. Dennoch kann man sich ortsräumlich orientieren und dabei an Situationen teilnehmen, die einem begleitend nicht einmal explizit gewahr sein müssen. Der Ortsraum liegt zumindest nicht mit einer expliziten Inventarliste von allen seinen einzelnen Gegenständen mit den Begriffen, unter welche diese fallen, vor. Für Gegenstände außerhalb des zentralen Gesichtsfeldes dürfte nicht durchgängig, aktuell und stabil entschieden sein, ob sie körperlich oder eingeleibt vorliegen oder nur situativ an einer chaotischen Mannigfaltigkeit teilhaben.

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Die Verweigerung dieser Interpretation würde zudem die Frage nach der Metrisierbarkeit des leiblichen Raums zu einer Scheinfrage mutieren lassen, da sie einen so genannten Kategorienfehler beinhal­ ten würde nach Art der Frage, ob Caesar eine Primzahl sei. Wenn eine Metrik begrifflich nicht über den Ortsraum applizierbar wäre, bliebe für die Untersuchung der Metrisierbarkeit ironisch nur die Betrachtung, ob eine Operationalisierung mit einem eingeleibten Zollstock sinnvoll wäre. Die folgenden Untersuchungen sollen zeigen, dass der leibliche Raum viel Anhalt für eine topologische Interpretation gibt: Er ist nicht metrisierbar, der Leib erscheint wesentlich als offen und eingeleibte Gegenstände mit ihm, sie zeigen sich in diesem Sinne als randlos und gehen zwar in Umgebungen ein, können durch diese aber nicht wie in einem T2-, T3- oder T4 -Raum getrennt werden.

3.2 Anwendung der Topologie auf leibliche und Ortsräume Man stelle sich einmal eine abgeschlossene Kugel als eine Billardoder Bowlingkugel vor. Eine offene Kugel wäre dagegen theoretisch als ihr Inneres, handlungspraktisch als ein Softball vorzustellen. Dieser hat noch eine nicht topologische Qualität, die Flexibilität oder – physikalisch – die Elastizität als Eigenschaft aufzuweisen. Sein topologisch abgeschlossenes Pendant könnte auch ein glattleder­ ner Fußball sein, der ebenfalls elastisch ist. Präzise physikalisch ist natürlich weder die Billardkugel noch der Fußball abgeschlossen, da atomar oder gar subatomar keine präzise Oberfläche anzugeben wäre. Ganz bewusst stützt sich die Untersuchung auf die in der Physik gängige praktische Modellierung in Beispielen, in denen unbedenklich der Abstand von zwei Billardkugeln gleicher Größe als Abstand ihrer Oberflächen an ihrem Äquator definiert würde. Wenn diese »Idealisierung« dort akzeptiert wird, sollte sie auch in diesem Zusammenhang in all ihrer Begrenztheit zulässig sein. Wenn man die Situation des Lastenträgers aus Fallbeispiel 1 in der leiblichen Perspektive charakterisieren möchte, stelle man ihn sich selbst nach Art eines Softballs vor, der den Glaskasten wiederum als eine Art Softball einleibt und als Produkt beide offe­ nen Strukturen zu einer weiteren offenen Struktur vereinigt. Der Türrahmen wird ebenfalls als ein rundliches weiches Konstrukt wie eine Schaumstoffsäule wahrgenommen. Präzise Abstände sind nicht

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zu erfassen. In dieser Wahrnehmung ist das Bugsieren nicht von Abstandsmessungen, sondern vom Drehen und Kippen getragen und kann als topologische Annäherung an einen Richtungsraum verstan­ den werden. Hier klebt der Richtungsraum noch stark am körperlichen Ortsraum. Dies ist aber nicht fehlleitend, da das hier wesentliche Hinund Herwechseln zwischen Richtungs- und Ortsraum die umfassende Ablösung des Richtungsraumes vom Ortsraum verhindert. Im Über­ gang in die Körperwelt werden schlagartig die Abstände zwischen Glaskasten und Türrahmen auffällig wie auch handlungsleitend oder – genauer – handlungshemmend. Die Softbälle erhalten glatte Ober­ flächen, erscheinen wieder als eckig wie auch als hart und können definiert aneinanderstoßen. Es ist der erlebte Übergang aus einem nicht metrischen Raum, getragen von offenen Gegenständen, der abgelöst wird von einem körperlichen Raumkonstrukt aus Artefakten, die Oberflächen haben, abgeschlossen sind und eine metrische Topologie aufweisen. Die Frage nach Abständen wird sofort laut und leitend, wenn das Risiko des Anstoßens im körperlichen Ortsraum gesehen wird. Ein Helfer oder ein zweiter Träger wird etwa gefragt, wieviel Platz noch vorhan­ den sei. Betrachtet man den Vorgang topologisch genau, so lässt er sich in zwei Schritte zergliedern. 1.

2.

Die Gegenstände im Ortsraum verlieren bei der Einleibung zunächst ihre Ränder oder Rand-Oberflächen und erscheinen offen in der metrischen Topologie des Ortsraumes. Hier geht die Fläche als Oberfläche verloren. Die Topologie bleibt aber auf dieser Stufe erhalten. Dann wird die Topologie von einer metrischen und damit nor­ malen und hausdorffschen in eine Topologie des Typs T1 oder sogar ohne alle Trennungseigenschaften verändert, in der man ohne Abstandsbegriffe, aber leiblich sicher rangiert. Die Aufgabe ist nur noch, seinen erweiterten Leib berührungslos durch den Rahmen zu winden. Diese Berührungslosigkeit erfordert leiblich Umgebungen um markante Punkte wie Ecken zu bilden, die berührungsfrei zum ausgegliederten Türrahmen bleiben, aber keine Abstände oder beidseitige Trennungsumgebungen zu eta­ blieren. Die einfache und undifferenzierte Topologie erlaubt die flüssige Bewegung, während die differenzierte Topologie diese hemmt.

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Es wäre durchaus möglich, dass der leibliche Raum eine höhere Topologie enthielte, ohne metrisierbar zu sein. Dass er nicht einmal hausdorffsch ist, ist eine inhaltlich phänomenologische Behauptung und von großer Tragweite für die Frage nach einer durchgängigen Struktur des leiblichen Raumes. Der Leib hat weitere Strukturcharakteristika wie Elastizität, eine deutlich andere geometrische Dimensionierung oder Halb-Dimen­ sionierung (primär nach vorn gerichtet, während der leibliche Rück­ raum gänzlich anders, nämlich weiteräumlich strukturiert erscheint33 als der körperliche Ortsraum oder gar der IR3. Diese Strukturen müs­ sen an dieser Stelle wegen des inhaltlichen Fokus auf Umgebungen weitgehend unbearbeitet bleiben. Warum nun ist es plausibel, den leiblichen Raum topologisch maximal als T1-Raum ohne höhere Trennungseigenschaften anzuse­ hen? Einfach ist es beim leiblichen Raum des eigenleiblichen Spürens: Wenn man ein Äquivalent für Punkte im Raum des eigenleiblichen Spürens sucht, kann man das Erleben zweier Insektenstiche34 betrach­ ten. Umgebungen wären als solche Leibesumgebungen aufzufassen, die in abnehmendem Maße von Schmerz, Brennen oder Juckreiz erfüllt wären. Man könnte von einem Ausklingen nach außen spre­ chen. Wenn man durch Kratzen eine Linderung eines Juckreizes per Überblendung durch Schmerz erwirken möchte, kann man dies leiblich in dieser Umgebung versuchen, die so sicher ohne Hinsehen getroffen wird, wie die Einstichstelle selbst. Sind die Insektenstiche im Ortsraum körperlich weit entfernt, gelingt es, vollständig überschnei­ dungsfreie getrennte Umgebungen zu finden, bei hinreichender Nähe der Einstiche gelingt dies dagegen nicht mehr. Das Kratzen betäubt beide Juckreize, während diese zuvor noch getrennt erlebt worden sind. Schmitz selbst thematisiert Insektenstiche sowohl als Beispiel für absolute Orte als auch für Stellen oder in unserem Sinne Punkte im Raum. Der Leib ist damit nicht Menge, aber wenn man topolo­ gisch charakterisieren möchte, kann der Ortsraum hier hausdorffsch trennen, der leibliche Raum aber nicht, obwohl Umgebungen im genannten Sinne empfunden werden. Es scheint hier eine feinere Trennbarkeit als bloß nach Leibesinseln vorzuliegen, aber keine Z. B. Schmitz 2011: 12. Schmitz selbst verwendet dieses Beispiel ebd.: 7 und ebenfalls in Schmitz 1967: 253ff.

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durchgängige Erfüllung von T2 innerhalb von Leibesinseln, eher noch von T1. In diesem Sinne ist der Raum des eigenleiblichen Spürens dann höchstens noch T1, aber nicht T2 und damit nicht metrisierbar. Für den behandelten Fall ist die Analogie naheliegend: Wenn der Eintritt der Abstandserlebnisse mit dem Übertritt in den Ortsraum stattfindet, dann dürfte im Richtungsraum der leiblichen Bewegung mit eingeleibten Gegenständen eine Störung der ortsräumlichen Topologie zu suchen sein. Sie muss sich aber nicht auf T2 ausrich­ ten, da der eingeleibte Gegenstand ursprünglich ein abgeschlossener gewesen ist. Hier wären auch Verstöße gegen T3 oder T4 möglich, die ebenfalls eine Metrisierbarkeit ausschlössen. Betrachtet man aber den Vorgang der Einleibung, die Verrundung von Kanten und Ecken, dann wird klar, dass orträumlich nah beieinander liegende Ecken eines Gegenstandes nicht mit disjunkten leiblichen Umgebungen versehen und damit getrennt werden können. Die Stellen verschmelzen in einer Umgebung. Möglich ist, beim Tragen den Gegenstand links und rechts von einem Türrahmen zu schützen, diese beiden Seiten oder Kanten getrennt abzuschirmen. Eine beliebig fein separierende Einleibung und Schirmung von ausgezeichneten Punkten mit überschneidungs­ freier Trennung erscheint dagegen nicht oder nur nach wiederholtem ängstlichen Übertritt in den Ortsraum schrittweise möglich. Hier muss der Ortsraum, der beliebig fein trennen kann, stützend her­ angezogen werden. Eine genauere Untersuchung müsste sich wohl an feinmechanischen Prozessen orientieren, welche Montagen von abgeschlossenen metallischen Gegenständen, etwa in der Erstellung optischer Apparaturen beinhalten. Wie weit hier leiblich auch unter dem Mikroskop hantiert werden kann oder ob Roboter erforderlich wären, das wäre zu betrachten. Eine Hypothese der vorliegenden Arbeit ist, dass sich die Verlet­ zung des Hausdorff-Kriteriums durch alle Richtungsräume hindurch­ zieht. Darauf wird im Schlussteil einzugehen sein. Schmitz selbst schildert die Entwicklung vom Weiteraum zum Richtungsraum und dann zum Ortsraum35. Dabei fokussiert er sich auf die Rolle der Fläche36: »Der leibliche Raum ist flächenlos, am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während man sie am eigenen Körper sehen und betas­ 35 36

Schmitz 2011: Kapitel »Leib und Raum«. ebd.: 124f.

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ten kann.« […] »Nicht so sehr Flächen werden gesehen, sondern etwas wird als Fläche gesehen. In diesem Sehen als Fläche ist diese aber direkt gegeben, nicht erst durch Schlüsse oder Abstraktion.« […] »Sobald die Fläche einmal entdeckt ist, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten zur Überformung der Weite.«37 […] »Von der Fläche kann man durch Schnitte und Kanten absteigen zu Strecken, von diesen durch Ecken zu Punkten.«38

Aus den Flächen lässt sich dann ein Raum umschließen, der als physischer Körper als undurchdringlich vorgestellt werden kann. Als Konstrukt ist er durch Flächen teilbar. Erst durch Einsatz der Flächen gelingt es, umkehrbare Verbindungen zwischen Blickzielen herzustellen und dann Abstände und Lagen zu bestimmen, die den Ortsraum mit seinen relativen Räumen ausmachen.39 Schmitz verweist am Ende des Kapitels wie an vielen anderen Orten und Thematiken (z. B. Zeitmessung) auf einen Zirkel in der außerleiblichen Welt, hier im Ortsraum, hin, den er als eine begriffli­ che Konstruktion mit Abständen zwischen einzelnen Körpern oder als eine Konstellation ansieht, die auf leiblichen Strukturen fußt. »Dann aber setzt der Ort begrifflich Ruhe voraus; umgekehrt aber setzt Ruhe begrifflich den Ort voraus, wenn sie mit den für den verfügbaren Begriffen als Beharren am Ort (Fehlen des Ortswechsels) bestimmt wird.«40 Die Lösung ist der Rückgriff auf den leiblichen Raum mit seinem absoluten Ort. Sowohl die Konstruktion aus der Fläche als vielmehr auch die überraschende Übernahme sehr hoher Erklärungslast wie hier die für Ruhe und Bewegung41, zeigt eine auffällige Parallele zu Überlegungen des Erlanger Konstruktivismus von Paul Lorenzen, dessen frühe Ansätze zur Geometrie in Schmitz 196542 diskutiert werden.43 ebd.: 125. ebd.: 125. 39 ebd.: 126. 40 ebd.: 128. 41 Ähnlich in Schmitz 2014:61 ff. (2.1.4), wo die Schnelligkeit und Langsamkeit einer Bewegung qualitativ an Phänomenen und nicht, wie aus der Physik gewohnt, räumlich extensional eingeführt wird. 42 Schmitz 1965: 350ff. 43 In einer unserer vielen Diskussionen seiner theoretischen Philosophie räumte Hermann Schmitz ein, dass seine akribische Definitionsarbeit durch Lorenzens Kritik und Beispiel geprägt sei, dessen Wirken er in Kiel erlebte. Ich denke, dass der Einfluss Lorenzens auf Schmitz weiter reicht. Die konsequente und lückenlose Rückführung 37

38

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Bei Schmitz (2011) bleibt im Ansatz etwas unklar, wie man denn auf die bei ihm alles erklärenden ebenen Flächen gekommen ist. In Schmitz 1967 ist er ausführlicher, aber die Flächen bleiben Konstruktionen oder Artefakte und kommen außer als Eisfläche oder Granitwand selten in der Natur vor. Seine natürlichen Ansätze, wie Körperoberflächen, sind nicht eben und schon gar nicht ohne Gewalt abtrennbar. Wenn sie zu den gewünschten Knickungen etc. herange­ zogen werden sollen, müssen sie aber abgetrennt wie Häute oder Papyrus vorliegen. Im hier vorgeschlagenen Ansatz dagegen wird die Rolle der Oberflächen, ihr Verschwinden und erneutes Auftauchen, sehr deutlich u.a. in der alltäglichen Verrichtung des Tragens von Lasten beleuchtet unter Verzicht auf abgetrennte Flächen. Der Fall des Aufwachens liegt deutlich anders. Hier ist der Ausgangspunkt der Eintritt in einen Weiteraum beim Erwachen. In ihm scheint es wenig sinnvoll, nach Metrisierbarkeit zu fragen, da hier der Erwachende sich eher subjektiv als schwebend oder dahintreibend, auf eine Überprüfung eines Sitzes in der unwillkürlichen Lebenserfahrung ist ein Äquivalent zu Lorenzens Konstruktionen und dessen Wunsch, zirkelfreie Gesamtauf­ bauten zu bieten. Ein Ansatz im Phänomen erzwänge nicht, die Bewegung oder die Zeitmessung geschlossen zu erklären. Lorenzens Anliegen in der Geometrie war aber gewesen, einen Distanzbegriff in der konstruktiven Geometrie als Grundlage für eine konstruk­ tive Naturwissenschaft zu erhalten. Sein später ausgeführter Ansatz aus Lorenzen 1984 tritt prima facie mit dem Anspruch auf vollständige Ausführung auf, obwohl sein Formprinzip unbewiesen bleibt. Im Schlusskapitel »Ausblick« trägt Lorenzen bewusst entgegen dem üblichen Verständnis von Geometrie und Physik der klassischen eukli­ dischen Geometrie die Aufgabe auf, einen Längenbegriff einzuführen, welcher der Physik vorgängig ist und sie fundieren soll. Vgl. auch die transparentere Darstellung des Gegenstandes in Rüdiger Inhetveen (1984), mit dem ich Gelegenheit hatte, die Thematik gründlich zu diskutieren. Diese Denkfigur überträgt Schmitz auf seine leibliche Fundierung von Raum und Zeit. Vermutlich hat auch Paul Lorenzen Schmitz‘ Bild von der analytischen Philosophie und von der Wissenschaft wesentlich beeinflusst. Lorenzen war damals über die Lan­ desgrenzen hinaus von erheblichem Einfluss auf diese neue philosophische Richtung. Seine Perspektive auf Wissenschaft war kritisch-präskriptiv und bot einen Neuansatz in Konstruktionen und einer geteilten Praxis. Schmitz geht hier mit seinen situativen und leiblichen Fundierungen nicht grundsätzlich anders vor, nur dass er nicht wie der habilitierte mathematische Topologe (!) Lorenzen und seine Schule von der Aufgabe einer Fundierung einer neuen wissenschaftlichen Welt inspiriert ist, sondern Gefühle, Leib und Situatives wieder in ihr Recht setzen will, dadurch aber auch von eher ressentimentgeladenen Kritikern der Naturwissenschaft, ihrer mathematischen Methoden oder gar der Rationalität als solcher gegen seinen ausdrücklichen Wunsch vereinnahmt zu werden droht.

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aber an einem absoluten Ort erlebt und keinen Bezug zu anderem oder zu anderen Gegenständen (im weitesten Sinne) herstellt oder erlebt, sondern von reiner Weite umgeben scheint.44 Ein Bezug zu einem potenziell umgebenden Ortsraum wird nicht hergestellt oder erlebt. In der zweiten Phase des Erwachens werden greifbare oder erreichbare Gegenstände wie Brille, Wecker, Mobiltelefon oder Hausschuhe über eine Richtung eingeleibt. Hier ist zweierlei von Interesse: Der Leib zeigt die aus dem ersten Fall bekannte offene Charakteristik, ist nicht fest oder hart umrissen. In diese Charakteristik hinein werden die Gegenstände eingeleibt, eine Brille ist greifbar, aber nicht gläsern oder hart und flächig. Liegen sie im Ortsraum sehr eng beieinander, so kann es zu Irritationen oder Verwechselungen kommen. Dann sind sie ortsräumlich zu trennen, etwa durch die Erinnerung, was vorn auf einem Nachtisch abgelegt worden ist, oder, welcher dieser Gegenstände sich wie anfühlt oder wie geformt ist. Mit diesen orts­ räumlichen Überlegungen wäre man vollständig erwacht und könnte nicht mehr ohne weiteres in den Weiteraum zurücksinken. Ähnliches gilt, wenn man besorgt ist, die Brille nicht fallen zu lassen. In die­ sem Richtungsraum gibt es neben den Richtungen der eingeleibten Gegenstände, deren Einleibung vor dem Einschlafen im Erwachen reproduziert werden kann, auch eine Griffweite, denn man greift recht genau und trifft gewöhnlich die Brille, ohne sie zu sehen. Diese leibliche Griffweite dürfte auch für ein Umgreifen beim Tragen und Drehen von Lasten ohne Blickkontakt relevant sein. Dieser Vorgang entspricht weitgehend demjenigen, wenn man durch blindes Greifen in die Manteltasche einen Schlüssel oder eine Brieftasche hervorziehen möchte. Die leibliche Erfassung der Gegen­ stände gleicht nicht deren ortsräumlichen Bild. Sie werden eher mit­ gezogen als umfasst oder dabei gar als dreidimensional abgetastet45. Alternativ zur Irritation beim Finden der handgerecht liegenden Gegenstände führt nach Eintritt in Weite- und Richtungsraum der

Bei Schmitz (1965: 211ff.) findet sich eine gründliche Analyse der Reintegration der Leibesinseln durch Wiederherstellung der Spannung. Sie bezieht auch Rausch­ zustände und Betäubungen ein, geht inhaltlich jedoch an der hier behandelten Fragestellung vorbei, da sie eine abweichende verfolgt. 45 vgl. Schmitz 1967: 39f. mit ausführlichen Untersuchungen zu rein taktilen leibli­ chen Räumen und Phänomenen. 44

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dritte Schritt, die Erfassung oder Rekonstruktion des Ortsraumes, zum unumkehrbaren Erwachen46.

4. Erste Schlussfolgerungen und weiteres Vorgehen Es hat sich ergeben, dass der Leib zwar gewöhnlich übersehen wird, aber dennoch Bruchstellen bei der Einpassung leiblicher Räumlich­ keit in den Ortsraum körperlicher Gegenstände auch für Menschen auffällig sind, die nicht Leibphänomenologen sind. Sie sind eine Art unabhängiges Zeugnis für die Leibphänomenologie, neben den eher reinen leiblichen Phänomenen. Die schrittweise Zerlegung der Charakteristika der leiblichen Räume in einem mengentheoretischen Modell erlaubt es, gerade aus der gängigen Perspektive eines körper­ lichen Lageraumes oder gar eines IR3, schrittweise in die Konzeption eines leiblichen Raumes zu gelangen. Um nun die Frage nach durchgängigen topologischen Strukturen oder Charakteristika leiblicher Räume zu behandeln, wären so unter­ schiedliche Phänomenbereiche wie das Hören, das Riechen, der Blick, das Erwachen, das Treiben im Wasser, das Atmen, die Bewegung mit Einleibung von Gegenständen und Menschen, das Rückwärtstanzen und dagegen das Rückwärtsschreiten zu untersuchen und dabei ihre primäre räumliche Struktur von einem körperlichen Ortsraum oder einem IR3 abzugrenzen. Aus ihrer jeweils eigenen und vom Ortsraum abweichenden Verfasstheit folgt nicht, dass sie primär durchgängig gleich oder ähnlich strukturiert sind, nicht einmal, dass sie jeweils wenigstens einige durchgängige Strukturen aufweisen. Auch ist im Lichte der Untersuchung zu unterscheiden, ob sie, wie Schmitz es hervorhob, primär anders verfasst sind und gängige Konstellationen wie der IR3 oder auch ein körperlicher Ortsraum diese primäre Verfasstheit verdecken, oder, ob sie phänomenologisch lediglich in Übergängen aus körperlichen Ortsräumen aufscheinen und später in diesen wieder aufgehen. Zusätzlich ist zu fragen, welche weiteren, nicht-topologi­ schen Strukturen, etwa in Dimensionen oder Dynamiken hier zu finden wären. Auf diese vielen Fragen kann in diesem Rahmen nur 46 Im erwähnten Kapitel zum Erwachen gibt Schmitz für das Erwachen eine abwei­ chende Erklärung, die sich an der leiblichen Spannung orientiert.

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hinsichtlich der Topologie und hier auch nur perspektivisch und exemplarisch geantwortet werden. Der Weiteraum hat vermutlich kein Äquivalent zu Punkten und damit keine Erfüllung eines topologischen Trennungsaxioms, nicht einmal T1. Dennoch erscheint der Leib im Weiteraum nicht scharf umgrenzt. Offenheit würde sich zur Charakterisierung durchaus anbieten, aber in einer wenig differenzierenden nahezu indiskreten Topologie. Weitung und Engung sind die verbleibenden Strukturele­ mente. Die Offenheit wäre dann topologisch nur in Analogie zum Richtungsraum anzusetzen, das mengentheoretische Konstrukt wäre im Weiteraum selbst ohne Erklärungsleistung. Der Übergang im Aufwachen in den Richtungsraum liefert einen Anhaltspunkt dafür, dass eine Charakterisierung als offen plausibel erscheint, da der Leib dort als offen einzustufen ist und man im Übergang auch keine topologische Veränderung nach Art der beim Tragen von Lasten geschilderten erlebt. Schmitz unterscheidet für den Richtungsraum drei diesem eigene Richtungstypen47 und grenzt einen vierten davon ab: 1.

2.

3.

47

»Leiblich spürbare Richtungen: Sie entquellen in einer am eige­ nen Leib unmittelbar spürbaren Weise der Enge des Leibes.« Als Beispiel fungiert der Blick. Schmitz selbst diskutiert an dieser Stelle die Möglichkeit, ihn zu schwächen bis hin zur Abwesenheit und ihn graduell nach innen zu richten. Scharfe, berandete Ausprägung ist nicht gegeben. Eine Charakterisierung als offen erscheint plausibler als eine als abgeschlossen. »Richtungsbahnen leiblich spürbarer Richtungen.« Schmitz denkt »an die Bahnen des Schreitens, des Greifens, des Handelns im Umgang mit Werkzeugen«, also an solche wie in den Fällen diskutierten Richtungen. »Leiblich-geometrische Richtungen.« Sie sind im eigenen Leib zentrierte Richtungen nach links und rechts, oben und unten, vorn und hinten, die geometrisch idealisiert, als angelehnt an die Körperachse vorgestellt werden. Sie treten beim Tragen von Lasten im Irritationsfall, der ortsräumlich interpretiert wurde, deutlich zu Tage. Sie sind interessant für die Verknüpfung leibli­ cher Aktivität im Ortsraum. Gute Beispiele sind die Irritationen beim Aufdrehen von Schrauben oder Gewinden und Öffnen von Schlössern, bei denen es häufig zu Richtungsverwechselungen Schmitz 1967: 55ff.

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kommt, die dem Problem aus dem Fall des Erwachens mit der 180° Drehung des gesamten Leibes verwandt sind. »Objektiv geometrische Richtungen«, wie etwa Himmelsrich­ tungen, haben im leiblichen Raum keine Bedeutung.

4.

Beispielhaft kann der akustische Raum diskutiert werden48. Im akus­ tischen Raum sorgt zunächst die Überlagerung mit ortsräumlichen visuellen Vorstellungen immer wieder für Irritationen. Menschen glauben, den Raum und die Körper an ihren Stellen im optischen Raum so zu hören, wie sie dieselben sehen. Tiefe Frequenzen, zumin­ dest unter 100 Hertz, sind akustisch aber gar nicht lokalisierbar, den­ noch glaubt der Hörer, sie im Orchester dort zu hören, wo Bässe oder Bassfagotte stehen. Bei elektrischer Mehrkanalwiedergabe können entsprechend die Tiefbässe mit einem und nicht zwei oder mehreren Tieftonlautsprechern ohne Informationsverlust reproduziert werden. Der akustische Richtungsraum ist demnach nicht frequenzunabhän­ gig. Bevor topologische Überlegungen verfolgt werden, sollte die Frage gestellt werden, ob es ein akustisches Analogon zum Ortsraum geben könnte. Wenn etwa mit Metronomen oder zur Fehlersuche von Dirigenten, Musiklehrern, Aufnahmeleitern oder kritischen Kol­ legen gehört wird, kommt es durchaus zu gerastertem, vergleichend abschätzendem Hören, das einem leiblich verschmelzenden Hören entgegensteht. Dies hat nicht die Stabilität eines Ortsraumes, ist aber auch nicht zu ignorieren oder mit einem normalen leiblichen, eher ganzheitlichen Hören zu verwechseln. Der Klang hängt physikalisch einmal am Obertonspektrum, zum anderen aber an den Ein- und Ausschwingvorgängen, stark aber auch an Resonanzen, gerade auch des Raumes, in dem man hört. Tiefe, obertonarme Töne mit sanftem Ein und Ausschwingen, legato gespielt, tendieren zu weiterräumlicher Ansprache, erleichtern z. B. das Einschlafen, hohe, dazu obertonreiche und hart nach Art von staccato angeschlagene Töne führen dagegen in den Richtungsraum und schaffen Aufmerksamkeit, wecken auf. Instrumentengruppen wie Streicher tendieren zum Verschmel­ zen, während Schlagwerk (nicht die Pauke) und gerichtet abstrahlende Blasinstrumente sich leichter trennen lassen. Instrumente weisen eine Art akustische Aura auf, in der Aufnahmetechnik spricht man von Air, das als akustische Umgebung ihres Klanges verstanden werden kann. Es ist schwierig, aber möglich, dies bei Wiedergabe zu 48

vgl. Schmitz‘ eigene Darlegungen in Schmitz 1967: 57ff.

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reproduzieren. In diesem Feld liegt keine hausdorffsche Trennbarkeit vor, wenn die Streichinstrumente in Gruppen wie der Ersten oder Zweiten Violine platziert sind. All dies spricht gegen einen T2-Raum. Unterhalb dieses maximal als T1 zu qualifizierenden Raumes sind noch weiteräumliche Strukturen zu finden. Die Behandlung des Kla­ viers im musikalischen Impressionismus kann stark pedalisierend ein Verschwimmen in Klangfarben von eher weiträumlicher Charak­ teristik mit richtungsräumlichen Staccatopassagen mischen, die das Klavier eher als Schlaginstrument verwenden, wie etwa in Ravels G-Dur Klavierkonzert. Richtungsräumliche Strukturen spielen im akustischen Raum im Alltag eine wesentliche Rolle. Es ist sehr leicht, auf Geräusche wie von einem knackenden Ast auch mit verbundenen Augen sehr genau gerichtet zu reagieren, auch weite Abstände können genau überbrückt werden, etwa durch Werfen auf die Geräuschquelle mit verbundenen Augen. Schwierig ist es dagegen, zwei Geräusche aus unterschiedlichen Richtungen in ihrem relativen Abstand zueinander zu bestimmen, obwohl dies geometrisch im Ortsraum aus Winkel und Länge zweier Strecken errechenbar wäre. Bei der Wiedergabe von Blechblasinstrumenten ist eine Richtung auf den Hörer in Form eines fast drückenden Stechens in den Raum zurück auf den Hörer wahrzunehmen. Eine solche gegengerichtete Struktur schloss Schmitz für den reinen Richtungsraum eigentlich aus. Der akustische Raum weist offene Umgebungen ohne höhere Trennbarkeiten auf, ist aber zusätzlich von Interesse wegen seiner Mischung von Richtungs- und Ortsraum. Es scheint sich insgesamt das Strukturelement durchzuhalten, dass der Leib selbst in leiblichen Räumen eine offene und nicht scharf umrandete Struktur aufweist. Stellen oder »Punkte«, sofern man sie aus dem Ortsraum sinnvoll in den Leib übertragen kann, finden offene nicht scharf umrandete Umgebungen, dies gilt auch für fest umrandete abgeschlossene Gegenstände wie innerkörperlich ein Zahn oder außerkörperlich ein Stein oder ein Werkzeug. Die offenen Umgebungen tendieren nicht zur Trennbarkeit bei ortsräum­ licher Nähe der Punkte oder abgeschlossenen Mengen, so dass keine Hinweise auf Hausdorffstrukturen oder auch T3- und T4-Räume vorliegen. Dies wäre natürlich mindestens in der Tiefe zu analysieren, die Schmitz 1967 wählt, um ein abschließendes Urteil zu fundieren. Wenn es erlaubt ist, an Schmitzʼ in fundamentalontologische Richtung weisende Untersuchung anzuknüpfen, dann kommt er in

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seinem Hauptsatz der Lehre vom Raum: »Die maßlose Weite des Rau­ mes ist die eigene Weite jedes menschlichen oder tierischen Leibes,“49 zu dem Ergebnis, dass Weite eines jeden Raumes letztlich in Weite des Leibes gründet und Engung erst die Individuation ermöglicht.50 Es erscheint erwägenswert, ob die Trennbarkeiten (T2-T4), die für Abstände und Zählbarkeit und damit nach Schmitz auch für Ver­ einzelung notwendig sind, nicht ebenso wie die Zeit mit dem Einbruch des Neuen eine fundierende Rolle beim Aufbau einer ortsräumlichen Welt spielen. In diesem Sinne wäre es auch erforderlich, Schmitzʼ Vorstellung von einer Situation toplogisch zu beleuchten. Die begriffliche Hervor­ hebung von Einzelnem aus Situationen dürfte in relevanten Fällen topologische Modifikationen von offen zu abgeschlossen implizie­ ren. Vereinzelung und Zählbarkeit fallen für Schmitz zusammen, zur Zählbarkeit gehört aber Be- und Abgrenzbarkeit, damit auch Abtrennung und Distanzierung. Es erscheint plausibel, dass auch in dieser ontologischen Perspektive eine topologische Ausprägung phä­ nomenologisch zu beachten wäre. Insbesondere Schmitzʼ wichtigste Innovation in seiner späten Ontologie, die unspaltbaren Verhältnisse, sind in dem Sinne unspaltbar, dass sie nach einer Aufspaltung von gänzlich anderer Art wären, u. a. in Einzelnes und die daraus gebilde­ ten gerichteten Beziehungen zerfallen würden und dieses Verhältnis aufgelöst wäre. Genau diese Auflösung findet im betrachteten Fall beim Wechsel der Topologie beim (gemeinsamen) Tragen von Lasten statt. Die für Schmitzʼ Ontologie zentralen intensionalen und modal charakterisierten Ensembles und Ganzheiten tragen offenkundig in ihrem phänomenalen Zugang einen topologischen Zug, der sie auch topologisch von extensionalen Mannigfaltigkeiten aus lauter Einzel­ nem unterscheidet.

Literaturverzeichnis Hintze, Henning: Nominalismus, Primat der ersten Substanz versus Ontologie der Prädikation, Freiburg, München 1998. Inhetveen, Rüdiger: Konstruktive Geometrie, Mannheim/Wien/Zürich 1984. Lorenzen, Paul: Elementargeometrie, Mannheim/Wien/Zürich 1984. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. I: Die Gegenwart, Bonn 1964. 49 50

ebd.: 206. ebd.: 207.

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Strukturelle Analyse der Auffassung von Umgebung, Nähe und Berühren

Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. II, Teil 2: Der Leib, Bonn 1965. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. III, Teil 1: Der leibliche Raum, Bonn 1967. Schmitz, Hermann: Der Leib, Berlin/Boston 2011. Schmitz, Hermann: Phänomenologie der Zeit, Freiburg/München 2014. Von Querenburg, Boto: Mengentheoretische Topologie, Berlin/Heidelberg/ New York 1979.

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Atmosphären berühren. Überlegungen zum japanischen Wort fureru1

1. Einleitung Folgt man Adelungs Wörterbuch (Bd. 1, 1793), dann bedeutete das Wort »berühren« am Ende des 18. Jahrhunderts »so neben einer andern Sache seyn, daß nichts dazwischen Statt finden kann«.2 Von dieser Definition, die vieles offen läßt, gehen die folgenden Überle­ gungen aus, mit deren Hilfe versucht werden soll, die Spannweite dieses Begriffs aus einer interkulturellen und phänomenologischen Perspektive so weit wie möglich auszuloten. Noch heute sagt man im Deutschen, dass man mit Teilen seines Körpers wie mit der Hand oder mit den Lippen etwas »berührt«, das außerhalb des eigenen Leibes existiert, wie zum Beispiel eine andere Person oder ein Ding. Das Verb »berühren« kann man ebenso auf etwas Immaterielles anwenden: Eine schöne Melodie berührt mein Innerstes, zwei sonst unterschiedliche Meinungen können sich in einem Punkt berühren usw. Auch im metaphorischen Sinne wird das Wort verwendet, wie zum Beispiel: in einem Text ein Thema mit wenigen Worten nur skizzenhaft behandeln, oder sich mit etwas näher befassen, umgehen, sich abgeben. Auf jeden Fall zielt oder Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, den ich am 3. Juni 2023 beim Workshop „Phänomenologie der Natur“ in Kiel gehalten habe. An dieser Stelle danke ich dem philosophischen Seminar der Universität Kiel sowie Herrn Professor Konrad Ott für die Einladung ganz herzlich. Ermöglicht wurde die vorliegende Untersuchung durch die finanzielle Unterstützung der Japan Society for Promotion of Science (JSPS 17K02255, 19K12967, 23H00574). 2 Adelung 1793–1801, Bd. 1. Sp. 888. Grimms Wörterbuch gibt zwar einige lateini­ sche und deutsche Entsprechungen (»tangere, attingere, attrectare« und »anrühren, angreifen«) am Anfang des Artikels, nicht jedoch eine allgemeine Erklärung wie Adelung (vgl. Grimm/Grimm: https://www.woerterbuchnetz.de/DWB; zuletzt abgerufen am 19.09.2022). 1

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richtet sich aber das Berühren immer auf eine »ander[e] Sache« (s. o.), d. h. einen bestimmten, normalerweise einzelnen Gegenstand, der grammatisch mit dem Akkusativ bezeichnet wird. Was uns nun im Folgenden speziell beschäftigen soll, ist die Frage, ob man Atmosphären, die sich undeutlich und ganz ver­ schwommen um unseren Leib verbreiten, im oben genannten Sinne ebenfalls »berührt«, denn die Atmosphäre ist ja weder dinghaft noch einzeln, sondern in der Umgebung des Ichs, wie es Hermann Schmitz, der Begründer der Neuen Phänomenologie, formuliert hat, »ortlos ergossen«3. Ebenso lässt sich nicht eindeutig – wenn überhaupt – bestimmen, ob die Atmosphäre subjektiv oder objektiv ist, weshalb dann auch Gernot Böhme von der »Beziehung von Umgebungsqua­ litäten und menschlichem Befinden« spricht, wozu es dann weiter heißt: »Dieses Und, dieses zwischen beidem, dasjenige, wodurch Umgebungsqualitäten und Befinden aufeinander bezogen sind, das sind die Atmosphären«.4 Nach dieser Sichtweise entzieht sich die Atmosphäre also der von Schmitz sogenannten »psychologistischreduktionistisch-introjektionistische[n] Abstraktionsbasis« der Sub­ jekt-Objekt-Spaltung.5 Somit schließt die Definition Adelungs, das Berühren bedeute »so neben einer andern Sache seyn, daß nichts dazwischen Statt finden kann«, wohl auch die Möglichkeit mit ein, dass man die Atmosphäre »berührt«, denn sie ist immer unmittelbar um uns da. Passend dazu spricht man im Japanischen von der Berührung der Atmosphäre. Das Berühren gilt in diesem Kontext als eine bemer­ kenswerte Ausnahme, weil man – in der japanischen Alltagssprache – die Atmosphäre weder sieht, noch hört, noch riecht, sondern nur »berührt«6, wobei es wiederum interessant ist, dass es für das »Berühren« im Japanischen zwei dem deutschen Wort entsprechende Verben gibt: fureru und sawaru, die jedoch nicht in jeder Hinsicht bedeutungsgleich sind. Im Folgenden wird deshalb der Einfachheit und Klarheit halber fureru mit »berühren« und sawaru mit »tasten« wiedergegeben. In der japanischen Sprache »berührt« man, um genau zu sein, die Atmosphäre fast ausnahmslos im Sinne von fureru, und man verwendet prinzipiell sawaru hier nicht. Durch eine nähere Hin­ Schmitz 2005: 98–106, 342–343. Böhme 2013: 22 f. 5 Schmitz 1999: 34, 32–37. 6 Im Rahmen der sogenannten fünf Sinne könnte man sonst noch im Japanischen sagen, dass man Atmosphären »schmeckt« (ajiwau). 3

4

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Atmosphären berühren. Überlegungen zum japanischen Wort fureru

terfragung des japanischen Verbs fureru soll daher versucht werden, ein neues Licht auf die Frage zu werfen, was es eigentlich heißt, Atmo­ sphären zu berühren.

2. Sakabes Überlegungen zu fureru und sawaru Der japanische Philosoph Megumi Sakabe7 (1936–2009) hat in seinem Essay Fureru koto ni tsuite no nôto (Eine Notiz über das fureru-Berühren)8, soweit mir bekannt ist, den Unterschied von fureru und sawaru zum ersten Mal philosophisch näher betrachtet, und diese seine Arbeit gilt immer noch als grundlegend zu diesem Thema.9 Obwohl Sakabe seine Gedanken nicht mit streng wissenschaftlichen, sondern eher mit poetischen Ausdrücken darlegt und nirgends auf das Verhältnis von Atmosphäre und fureru eingeht, soll trotzdem im Folgenden ein erster Schritt unternommen werden, aufgrund seiner Thesen zum fureru das Berühren der Atmosphäre neu zu überdenken. In seinem Essay betont Sakabe immer wieder, dass das Berühren im Sinne von fureru nicht nur ein körperliches Tasten (d. i. sawaru) bedeutet, sondern darüber hinaus »das ursprüngliche Erlebnis« kon­ notiert, »das die gewöhnliche alltägliche Grenze [zwischen Ich und Du] überschreitet und die Unterscheidung von aktiv und passiv, innen und außen, eigen und fremd überwindet« (S. 4–5). Dabei fällt auf, dass Sakabe bei der Betrachtung dieser scheinbar ganz kulturspezifi­ schen Eigenschaft von fureru auf einen deutschen Philosophen, näm­ lich Johann Gottfried Herder (1744–1803), zurückgreift, der in seiner Abhandlung Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume, die Sakabe in der japanischen Übersetzung ausführlich zitiert, das »Gefühl« als Sinn der Berührung mit Gesicht und Gehör verglichen hatte.10 Bei Herder selbst heißt es:

In der japanischen Schreibweise steht der Familienname immer an erster Stelle, also: Sakabe Megumi. 8 Sakabe 1982: 3–47. Im Folgenden werden im laufenden Text die Zitate aus diesem Aufsatz in meiner Übersetzung direkt mit der jeweiligen Seitenangabe zitiert. 9 Sakabes Ansatz wird dann von Washida, Iwakawa und Itô weiterentwickelt, wobei aber das Thema des atmosphärischen Berührens ebenfalls eher am Rande behandelt wird (Washida 1999; Iwakawa 2007; Itô 2020). 10 Siehe dazu auch Zeuch 2000. 7

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»Einen Sinn haben wir, der Teile außer sich neben einander, einen andern, der sie nach einander, einen dritten, der sie in einander erfasset. Gesicht, Gehör und Gefühl. Teile neben einander geben eine Fläche: Teile nach einander am reinsten und einfachsten sind Töne. Teile auf einmal in- neben- bei einander, Körper oder Formen. Es gibt also in uns einen Sinn für Flächen, Töne, Formen, und wenns dabei aufs Schöne ankommt, drei Sinne für drei Gattungen der Schönheit, die unterschieden sein müssen, wie Fläche, Ton, Körper. Und wenns Künste gibt, wo jede in Einer dieser Gattungen arbeitet, so kennen wir auch ihr Gebiet von außen und innen, Fläche, Ton, Körper, wie Gesicht, Gehör, Gefühl. [...] Und alle Drei verhalten sich zu einander als Fläche, Ton, Körper oder wie Raum, Zeit und Kraft, die drei größten Medien der allweiten Schöpfung, mit denen sie alles fasset, alles umschränket.«11

Sakabe gibt darüber hinaus weitere Stellen bei Herder an, um zu zeigen, dass das »Gefühl« in diesem Kontext nicht nur mit der Ober­ fläche des Kunstwerkes, sondern mit dessen »innerem ganzheitlichem Wesen« zu tun habe: »Die Bildnerei arbeitet in einander, Ein lebendes, Ein Werk voll Seele, das da sei und daure«.12 »Bildnerei schafft schöne Formen, sie drängt in einander und stellt dar; notwendig muß sie also schaffen, was ihre Darstellung verdient, und was für sich da steht. Sie kann nicht durch das Nebeneinander gewinnen, daß Eins dem Andern aushelfe und doch also Alles so schlecht nicht sei: denn in ihr ist Eins Alles und Alles nur Eins.«13

Ein so begriffenes »Gefühl« ist, so Sakabe, etwas anderes als ein blo­ ßes Tasten, das außerhalb der eigenen Haut ein jeweiliges objektives Dasein als einen konkreten Gegenstand voraussetzt, 14 und eben die­ ser Unterscheidung entspreche die Gegenüberstellung von sawaru und fureru, die er in diesem Kontext Herder folgend einführt (S. 27– 28). Nach Sakabe hat das Erlebnis von fureru »das wesentliche Moment des Ineinanderseins«, das nicht auf der Oberfläche des Ande­ ren bleibt, sondern in die Tiefe der »chiastisch« zusammengesetzten Allheit hineinsinkt, bei der sich dann das Berühren und das Berührt­ sein nicht mehr klar unterscheiden lassen. Den von Sakabe angeführ­ ten Beispielen nach berührt (fureru) man die Geliebte oder ein kleines 11 12 13 14

Herder 1994: 257. ebd.: 258. ebd. zu Tasten und Haut siehe auch Benthien 1999, Kap. 10.

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Kind so, dass die objektive körperliche Grenze zwischen dem Ich und dem Du nicht mehr klar empfunden wird. In Fällen wie diesen exis­ tiere demnach also keine klare Unterscheidung von Subjekt und Objekt, und folglich, so Sakabe, gibt es dabei auch kein asymmetri­ sches Verhältnis von aktivem Tun und passivem Leiden. Das japanische Verb fureru hat tatsächlich, wie auch Sakabe erwähnt, die gerade in diesem Kontext bemerkenswerten Charakte­ ristika: Während die sonstigen japanischen Verben für die fünf Sinne, nämlich miru (sehen), kiku (hören), kagu (riechen), ajiwau (schme­ cken) und auch sawaru (tasten) transitive Verben sind, d. h. sich auf den japanischen Akkusativ (im Jap. wo) beziehen, ist das Verb fureru eine Ausnahme und als intransitiv anzusehen, denn es verlangt nor­ malerweise den japanischen Dativ (im Jap. ni). Sakabe weist zudem darauf hin (S. 29), dass diese grammatische Regel bedeuten könnte, dass nur das Verb fureru – anders als die übrigen Verben – keine klare Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt voraussetze. Eine wei­ tere besondere Eigenschaft von fureru sei, so Sakabe weiter, dass es mit dem logischen Urteil des Subjekts wenig zu tun hat: Seiner Ansicht nach geht es hier vielmehr um die ursprüngliche »über-logi­ sche« Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt (S. 29–33). Daraus zieht Sakabe den Schluss, dass fureru eigentlich nicht als einer der fünf Sinne anzusehen ist. Das Berühren als fureru verweise auf einen noch tieferen, ursprünglicheren Sinn, der wohl der Synäs­ thesie nahekomme (S. 28) und letztendlich »unsere Begegnung mit dem Kosmos« bezeichne, die nicht nur in der Tiefe jeder Sinneswahr­ nehmung liege, sondern auch unsere metaphysischen oder religiösen Erfahrungen stifte (S. 28).

3. Homosphäre, Heterosphäre, Pansphäre Auf diese Weise hat Sakabe, auch wenn seine Analyse zum Teil vage bleibt, eine ganz neue und bemerkenswerte Unterscheidung zwischen sawaru und fureru in einen philosophischen Kontext eingeführt. Seine Thesen tendieren jedoch meiner Ansicht nach allzu stark dazu, bei der zwischenmenschlichen Berührung (fureru) die Verschmelzung von Subjekt und Objekt zu betonen. Zu fragen wäre nun im Hinblick darauf, ob und inwiefern diese Betonung mit der ihr entsprechenden Beschränkung des Wortfeldes (neo-)phänomenologisch akzeptabel ist, da offensichtlich erst mit einer ontologischen Unterscheidung zwi­

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schen Subjekt und Objekt, oder besser: zwischen dem Berührenden und dem Berührten überhaupt, das Berühren ermöglicht wird, so, wie nach Adelung das kennzeichnende Merkmal des Berührens darin besteht, »neben einer andern Sache« zu sein. Das Verhältnis dieser ontologischen Unterscheidung bei Atmo­ sphären habe ich in einer früheren Arbeit15 mit dem dort neu eingeführten Begriffspaar von Homosphäre und Heterosphäre zu analysieren gesucht. Diese verstehen sich als zwei Unterbegriffe der Atmosphäre: Die Voraussetzung ihres Gegensatzes ist der Unter­ schied zwischen der Stimmung der Sphäre, die man als die räumliche Engung und Weitung des eigenen Leibes wahrnimmt (das wäre in der von mir eingeführten Terminologie die »Leibessphäre«), und der Stimmung der den eigenen Leib umgebenden Sphäre (dies wäre die »Atmosphäre«). Jede Atmosphäre wird durch die Leibessphäre gespürt, wobei die Grenze zwischen beiden Sphären sehr oft nur verschwommen wahrgenommen wird. Ist die Atmosphäre nun noch in zweierlei Hinsicht unterschieden, dann bezeichne ich, wie oben schon angemerkt, die der Leibessphäre ähnlich gestimmte Atmo­ sphäre als »Homosphäre«, und hingegen die der Leibessphäre anders oder fremd gestimmte Atmosphäre als »Heterosphäre«. Homo- und Heterosphäre bilden aber keinen absoluten Gegensatz im Sinne einer starren Dichotomie, sondern stehen als Polarität dynamisch einander komplementär gegenüber. Jede Atmosphäre ist somit eine relative Mischung von Homo- und Heterosphäre, d. h. jeder Homosphäre wohnen immer auch heterosphärische Züge inne und umgekehrt.16 Was Sakabe darüber hinaus als »unsere Begegnung mit dem Kosmos« bezeichnet, ist in meiner Terminologie der »Pansphäre« ähnlich, denn als Pansphäre bezeichne ich eine ganz spezifische Sphäre, in deren Erfahrung die besondere, entdifferenzierende Reso­ nanz von Leibessphäre und Atmosphäre gespürt wird, wobei dann die Diskrepanz zweier Sphären sich aufhebt und eine Kontinuität der Stimmungen entsteht. Die oben erläuterte »Homosphäre« ist von der Definition her eine Art Atmosphäre und deshalb immer von der Leibessphäre unterschieden, wie nahe sie ihr auch gestimmt sein mag. Die »Pansphäre« hingegen ist keine Atmosphäre in meinem Sinne, indem man sie nicht als die sich umgebende Raumqualität vergegenständlichen kann. Eine pansphärische Erfahrung als »sub­ 15 16

Hisayama 2014: 31–45. ebd.: 40.

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jektive[r] Mitvollzug des objektiven Geschehens«17 bringt dadurch ein Gefühl der Kontinuität und der harmonischen Leere mit sich: Das Ich fühlt sich in diesem Zustand mit der Welt verschmolzen, so dass eine tiefe Harmonie zwischen ihnen beiden gespürt und dementsprechend jede Unterscheidung zwischen Leibessphäre und Atmosphäre aufgehoben wird. Dabei handelt es sich also um ein Gefühl annähernd vergleichbar dem, was Sakabe als »unsere Begeg­ nung mit dem Kosmos« bezeichnet. Gerade in diesem Kontext spielt das Wort fureru in der Tat hin und wieder eine wichtige Rolle, wie ich bereits in meiner frü­ heren Analyse einer literarischen Darstellung der pansphärischen Erfahrung zu zeigen gesucht habe, nämlich am Beispiel einer Passage aus dem Roman Kusamakura von Sôseki Natsume (1867–1916), einem der bekanntesten modernen japanischen Schriftsteller. Der im folgenden Zitat kursiv gesetzte Nebensatz (daß [...] habe) lässt sich dem Original folgend wortgetreu ungefähr durch »Berührung mit der Strömung des weiten ki zwischen Himmel und Erde« (im Original: tenchi no kôki ni fururu [d. h. fureru]) übersetzen. »Man darf jetzt jedoch nicht schließen, der Dichter lasse sich nur dadurch inspirieren, daß er einer einzigen Sache folge, zu einem Ding werde. Er kann zwar zu einer einzelnen Blüte, aber auch zu einem Pärchen von Schmetterlingen werden, dann wieder verwandelt er sich wie Wordsworth in ein Grüppchen Narzissen [Anspielung auf das Gedicht The Daffodils von William Wordsworth (1770–1850)]18 und läßt wie dieses sein Herz von einer milden Brise durcheinanderwehen. Manchmal aber wird sein Geist auch von etwas Unbestimmtem in seiner Umgebung in Beschlag genommen, ohne daß er sich genau bewußt ist, wovon. Einer würde das dann vielleicht so ausdrücken, daß die leuchtende Grundsubstanz der Welt ihn angerührt [fureru] habe. Ein anderer würde sagen, er habe in seiner Brust den Klang einer saitenlosen Wölbbrettzither [= koto, ein japanisches traditionelles Musikinstrument: Y. H.] vernommen. Ein Dritter würde den Zustand so beschreiben, daß seine Füße in einem grenzenlosen Land zögerten, weil er nichts begreife und nichts erklären könne, da er auf unendlich fernen, kaum erkenntlichen Wegen herumstreife. Jeder ist frei, den Zustand so darzustellen, wie er will – jedenfalls sah es in meiner

ebd.: 34. zur entsprechenden Fußnote der deutschen Übersetzung von Langemann siehe Natsume 2009: 88.

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Seele genauso aus, als ich mich geistesabwesend und müßig an das Tropenholz-Schreibpult lehnte.«19

Das oben als »weite[s] ki« übersetzte Wort lautet im Original kôki: sein erster Bestandteil kô bedeutet ungefähr so viel wie »hell«, »hei­ ter« oder »leuchtend«. Der zweite Bestandteil ki ist ein in diesem Kon­ text höchst wichtiges sino-japanisches Wort, das sich aber nur schwer übersetzen lässt: Es bezeichnet sowohl das Bewusstsein, das Gemüt oder die Stimmung eines Menschen als auch die Atmosphäre der Umgebung und sogar die Lebensenergie des ganzen Kosmos.20 Bei jener »Berührung« mit dem »weiten ki zwischen Himmel und Erde« wird man »geistesabwesend und müßig«, auch wenn man sich seiner selbst ebenso wie eines solchen Zustandes bewusst bleibt – das eigene ki ist dabei zwar nicht verschwunden, aber es wird in der völligen Harmonie mit der es umgebenden Welt gespürt. In der zweiten Hälfte des Zitates werden dementsprechend die Gegenstände vom Dichter nicht mehr klar wahrgenommen, sondern es verbreitet sich um ihn nur noch die Atmosphäre, mit der seine Leibessphäre verschmilzt und in der er »geistesabwesend und müßig« die Pansphäre verspürt. Aus alledem wird deutlich, dass fureru auch eine pansphärische Erfahrung bezeichnen kann, wobei aber, wie oben schon erwähnt, nicht nur eine solche besondere Erfahrung der tiefen Harmonie mit der Umwelt, sondern auch die alltäglichere Erfahrung mit diesem Verb ausgedrückt wird. So gesehen fehlt in Sakabes Überlegungen der Blick auf das heterosphärische Moment von fureru als Voraussetzung jeder Berührung, die laut Adelung ja eine »andere Sache« benötigt. Um die Berührung der Atmosphäre noch umfassender zu betrachten, scheint es nunmehr angebracht, verschiedene für jeden nachvollzieh­ bare heterosphärische Erfahrungen exemplarisch zu analysieren. Dies soll im Folgenden an drei Beispielen aus der modernen japanischen Natsume 2009: 87 f. Im Original (Natsume 1994: 73f.) heißt es wie folgt: 去れど一事に即し、一物に化 するのみが詩人の感興とは云はぬ。ある時は一瓣の花に化し、あるときは一双の 蝶に化し、あるはウオーヅウオースの如く、一団の水仙に化して、心を沢風の裏 に撩乱せしむる事もあらうが、何とも知れぬ四辺の風光にわが心を奪はれて、わ が心を奪へるは那物ぞとも明瞭に意識せぬ場合がある。ある人は天地の耿気に触 るゝと云ふだらう。ある人は無絃の琴を霊台に聴くと云ふだらう。又ある人は知 りがたく、解しがたきが故に無限の域に儃佪して、縹緲のちまたに彷徨すると形 容するかも知れぬ。何と云ふも皆其人の自由である。わが、唐木の机に憑りてぽ かんとした心裡の状態は正にこれである。 20 siehe dazu Hisayama 2014: 13–30. 19

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Literatur geschehen, in denen das Verb fureru in Bezug auf die jewei­ lige Atmosphäre verwendet wird.

4. Drei Beispiele aus der modernen japanischen Literatur21 4.1 Die neue Luft der Zeit in Tokyo (Shûsei Tokuda) Das erste Beispiel stammt aus dem Roman Aojiroi Tsuki (»Der bleiche Mond«) des Schriftstellers Shûsei Tokuda (1872–1943). »Sie [= Yukie: Y. H.] hatte gehofft, nach ihrem Schulabschluss nach Tokyo zu ziehen und mit der neuen Luft (kûki) der Zeit in Berührung zu kommen (fureru), aber ganz von der Liebe ihrer festangestellten Schwägerin [...] vereinnahmt, wurde sie zur Hausfrau, die sie heute ist. Obwohl es ihr nicht ganz bewusst war, zeigte sich dies, soweit ich das beurteilen konnte, an einer etwas gedrückt-verkniffenen und dem Schicksal ergebenen Traurigkeit.«22

In Textstellen wie dieser kann man das Verb fureru nicht durch sawaru ersetzen, denn die hier erwähnte neue »Luft der Zeit« in Tokyo z. B. lässt sich nur schwer als ein »tastbarer« Gegenstand wahrnehmen, geschweige denn verdinglichen. Interessant ist aber an dieser Stelle ein weiterer Unterschied jener zwei japanischen Verben des Berührens, dass nämlich sawaru meistens auf die Hand bezogen ist, wobei dies auf fureru nicht immer zutrifft: Wie im Zitat berührt (fureru) man die Atmosphäre – hier die »Luft der Zeit« – nicht mit der Hand, sondern mit seinem ganzen Leibe. Dadurch, dass der Leib eines Menschen von einer gewissen Atmosphäre zur Gänze umhüllt bleibt, wird die Atmosphäre für ihn sozusagen der einzige Zugang zur Welt. Im Zentrum dieser Passage steht die vage Hoffnung auf eine eventuelle Homogenisierung von Leibessphäre und Atmosphäre, denn Yukie war ja willens, die Atmosphäre der Großstadt Tokyo an ihrem ganzen Leib zu spüren, so dass ihr Leben fortan von Grund Die Übersetzungen in die deutsche Sprache in diesem Abschnitt sind jeweils von mir. 22 Im Original heißt es wie folgt: 学校を出てから、東京へ出て、時代の新しい空 気に触れることを希望してゐながら、固定的な義姉〔中略〕の愛に囚はれて、今 のやうな家庭の主婦となつたことについては、彼女自身ははつきり意識してゐな いにしても、私の感じ得たところから言えば、多少抂屈的な運命の悲哀がないこ とはなかった。(Tokuda 1998: 5). 21

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auf homosphärisch so gestimmt sein würde, wie die Stadtatmosphäre an sich. Hinter einer solchen Homogenisierung ist eine heterosphärische Differenz der Stimmung als die Voraussetzung des Berührens verbor­ gen. Jemandem, der mit der »Luft der Zeit« in Tokyo völlig vertraut ist, bleibt ein solches Erlebnis des Berührens versagt, denn die Luft ist dieser Person bereits zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Mit anderen Worten: Die Atmosphäre kann nur so lange berührt werden, wie sie sich dem bzw. der Betroffenen fremd – heterosphärisch – zeigt. Einmal in die Homosphäre versunken, nimmt man sie kaum mehr als Atmosphäre wahr.23 Mit der besonderen Luft eines Ortes kommt man nur dann in Berührung (fureru), wenn sie mehr oder weniger der eigenen Leibessphäre gegenüber heterosphärisch ist. In einem solchen Zustand wäre dann eine klare Unterscheidung von der Stimmung der jeweiligen Person und »der neuen Luft der Zeit« unmöglich. In gewisser Weise steht man ja immer unter dem Einfluss der spezifischen Atmosphäre des jeweiligen Ortes, an dem man sich befindet, indem man von ihr leiblich umgeben und – mal bewusst, mal halb- oder gar unbewusst – gestimmt wird. Jene Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt, die Sakabe als ein Charakteristikum von fureru betont, lässt sich hier an einer ganz alltäglichen, uns allen wohlbekannten Erfahrung beobachten, und in der Tat hatte Yukie in dem oben zitierten Beispiel gerade deshalb die Absicht, »nach Tokyo zu ziehen«, um die dortige heterosphärische Luft zu berühren, oder umgekehrt von der neuen Heterosphäre berührt zu werden, sodass ihr alltägliches Leben dadurch neu gestimmt werden könnte.

4.2 Berührt von etwas Herbstlichem (Motojirô Kajii) Das zweite Beispiel ist der Novelle Shiro no aru machi nite (»In einer Stadt, wo ein Schloss ist«) von Motojirô Kajii (1901–1932) entnom­ men. »Auf den trockenen Sommer folgten ein oder zwei Schauer, und jedes Mal, wenn der Schauer aufhört, änderte sich das Wetter so, dass etwas Herbstliches die Haut berührte (fureru). Und eben diese Ruhe des Herzens und der leise Hauch des Herbstes 23

siehe dazu auch Hisayama 2015: 56–70, hier bes.: 58–61.

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hielten ihn [= den Protagonisten Takashi: Y. H.] von den Büchern und Fantasien in seinem Zimmer ab.«24

Bemerkenswert an dieser Stelle ist das grammatikalische Subjekt zum Verb fureru, denn in dieser Passage ist es kein Mensch, sondern »etwas Herbstliches (yaya aki meita mono)«, das sinngemäß wohl als »die herbstliche Atmosphäre« übersetzt werden könnte. Das Verb fureru kann, wie das Zitat zeigt, also auch auf ein absichtloses Subjekt ohne eigenen Willen bzw. eigenes Bewusstsein bezogen werden. Im Japani­ schen sagt man zum Beispiel, dass die Luft die Wasserfläche »berührt (fureru)«: In einem solchen Satz verwendet man dann keinesfalls das Verb sawaru, denn das Subjekt von sawaru »(be)tastet« meist etwas mit Absicht: Im Falle von fureru lässt sich, selbst wenn das Subjekt ein Mensch ist, konnotieren, dass das Subjekt absichtslos oder zufällig etwas berührt. Das Verb fureru kann aber auf der anderen Seite, wie oben erwähnt, ein wechselseitiges »Einander-Berühren« bedeuten, bei dem das Subjekt-Objekt-Verhältnis unklar wird. Bei der gegenseitigen Berührung ist es schwer zu sagen, ob ich dich berühre oder du mich. Wessen »Haut« es eigentlich ist, die im obigen Zitat berührt wird, lässt sich im Falle der angeführten Stelle nicht deutlich bestimmen und bleibt damit für den Leser eigentlich offen. Inhaltlich lässt sich also nicht entscheiden, ob der Protagonist die Luft berührt, oder die Luft den Protagonisten. In der japanischen Sprache kann diese SubjektObjekt-Beziehung, allgemein gesprochen, daher viel vager bleiben als etwa in der deutschen oder in anderen europäischen Sprachen. Auf jeden Fall bestimmt die Atmosphäre des Nachsommers die ganze Szene von Grund auf. Bei dieser Passage geht es somit um den heterosphärischen Wechsel der Jahreszeit, der von jedem der an diesem Ort Anwesenden gespürt wird, und zu ihnen gehört eben auch der Protagonist. Sein atmosphärisches Berührtwerden erfolgt auch hier nicht etwa mit der Hand, sondern mit dem ganzen Leib. Dieser leiblich gespürte Einfluss der herbstlichen Heterosphäre ist, dem Erzähler folgend, nur »leise (kasuka)« gewesen, was dem oben erwähnten allgemeinen Wortgebrauch entspricht, denn fureru bezeichnet, anders 24 Im Original heißt es wie folgt: そして旱の多かった夏にも雨が一度来、二度来、 それがあがる度毎に稍々秋めいたものが肌に触れるように気候もなって来た。 さうした心の静けさとかすかな秋の先駆は、彼を部屋の中の書物や妄想にひきと めてはおかなかった。(Kajii 1999: 18).

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als sawaru, keinerlei mit Gewalt verbundene Handlung. Dennoch übt der »Hauch des Herbstes« zusammen mit der »Ruhe des Herzens« eine entscheidende Wirkung auf das Leben des Protagonisten aus: Takashi, dessen Schwester vor kurzem gestorben war und der unter Depressionen gelitten hatte, verlässt nun sein Zimmer und geht nach draußen, wo das herrliche Herbstwetter auf ihn wartet. Jener »leisen« heterosphärischen Wirkung gegenüber verhält er sich jedoch nur passiv: Das, was ihn zum Handeln veranlasst hat, scheint zwar auf den ersten Blick sein eigener Wille gewesen zu sein. Was ihn aber wirklich treibt, ist nicht nur sein Ich, sondern vielmehr neben der herbstlichen Luft seine »innere« Ruhe. Von beiden atmosphärisch-leiblich beein­ flusst, fällt es ihm schwer, sich von ihren Einwirkungen zu lösen.

4.3 Das Hautgefühl des Zuges (Hiroshi Noma) Das letzte Beispiel stammt aus einem literaturkritischen Essay Kan­ kaku to yokubô to mono ni tsuite (»Über die Sinne, die Begierden und die Dinge«) des Schriftstellers Hiroshi Noma (1915–1991). In der hier zitierten Passage kritisiert Noma den im Kontext der japa­ nischen Literaturgeschichte sogenannten »Neuen Impressionismus« (Shin-kankaku-ha), der vor allem von Riichi Yokomitsu (1898–1947) und Yasunari Kawabata (1899–1972) vertreten wurde. »In der oft zitierten Formulierung von Riichi Yokomitsu »der kleine Bahnhof entlang der Strecke verstummte wie ein Stein« ist zwar ein Gefühl der Bewegung enthalten, das die Bewegung des Schnellzuges einfängt, der an den kleinen Bahnhöfen nicht anhält, sondern sie in rasantem Tempo durchfährt. Was jedoch fehlt, ist das »Hautgefühl« des vorbeifahrenden Zuges, der die kalte Luft berührt (fureru).«25

Das Subjekt der Berührung ist an dieser Stelle eindeutig kein Mensch, denn es ist der Zug, der die kalte Luft berührt (fureru). Interessanter­ weise spricht Noma trotzdem anthropomorphisch oder metaphorisch vom »Hautgefühl« des Zuges, was der oben erwähnten Leiblichkeit des Berührens entsprechen mag. Wie schon mehrfach erwähnt, wird fureru nicht nur auf die Berührung mit der Hand bezogen, denn 25 Im Original heißt es wie folgt: よくひかれる「沿線の小駅は石のやうに黙殺さ れた」という横光利一の表現には、小駅を停車せず、はげしい勢いで通過し去る 急行列車の運動をとらえる運動感覚はあるが、そこに欠けているものは、むしろ 通過し去る列車が冷たい空気にふれる皮膚感覚である。(Noma 1988: 284).

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ein Zug hat ja keine solche: Hier wird er mit seiner Masse, seiner ganzen Körperlichkeit mehr oder minder als »Subjekt« jenes Hautge­ fühls dargestellt. Dass der Zug schnell fährt, ermöglicht offensichtlich das Berüh­ ren immer neuer Heterosphären, denn durch die fortdauernde Bewe­ gung kommt es zu keiner Anpassung an die ihn umgebende Atmo­ sphäre, in diesem Falle an »die kalte Luft«. Weil aber diese Bewegung allzu schnell ist, lässt sich hier keine Homogenisierungstendenz beobachten. Es stellt sich zudem die Frage, ob eine solche Tendenz bei einem Zug überhaupt möglich ist, weil der in dieser Passage personifizierte Zug die atmosphärische Änderung offensichtlich nicht verspürt und deshalb keine innere Änderung an sich erfährt, denn die tiefinnerliche Wirkung der atmosphärischen Berührung betrifft wohl nur Lebewesen, weshalb auch Noma hier nicht mehr von irgendeiner atmosphärisch bewirkten Veränderung des Zuges spricht. In diesem Sinne kann man dieses Beispiel als eine Ausnahme ansehen, in der die Auswirkung der Heterosphäre eigentlich nicht dargestellt wird.

5. Fazit und Ausblick: Berühren, Riechen, jenseits der fünf Sinne Abschließend soll nun versucht werden, die eingangs gestellte Frage zu beantworten, was es heißt, Atmosphären zu berühren. Aus den hier analysierten Textbeispielen lassen sich zumindest die folgenden vier Charakteristika der atmosphärischen Berührung herausfiltern und abstrahieren. a) b)

c) d)

Das atmosphärische Berühren vollzieht sich nicht mit irgendei­ nem Körperteil wie z. B. mit der Hand, sondern mit dem ganzen Leib, den die betreffende Atmosphäre zur Gänze umhüllt. Durch dieses Berühren der Atmosphäre wird ein Mensch, der sich innerhalb der betreffenden Atmosphäre befindet, zutiefst beeinflusst, indem seine Stimmung sich der Stimmung der Atmosphäre annähert, auch wenn ihm diese Veränderung unbe­ wusst bleibt. Ein solches atmosphärisches Berühren setzt also voraus, dass das Subjekt nicht in die betreffende Atmosphäre komplett »versun­ ken« ist, sondern ihr gegenüber anders gestimmt. Bei dem Subjekt der atmosphärischen Berührung muss es sich nicht unbedingt um einen Menschen handeln, wobei das Berüh­

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ren auch ein gegenseitiges »Einander-Berühren« bedeuten kann, bei dem das Subjekt-Objekt-Verhältnis unklar ist. Das Berühren der Atmosphäre geschieht nicht etwa durch die Hand, sondern mit dem ganzen Leibe. Genau gesagt, handelt es sich dabei um die Begegnung der Leibessphäre mit der sie ganzheitlich umge­ benden Atmosphäre, die immer eine dynamische Mischung von Homo- und Heterosphäre darstellt. Darauf aufbauend lässt sich weiter sagen, dass jedes Berühren der Atmosphäre ein fremdes heterosphärisches Moment voraussetzt. Während das Berühren als fureru, wie Sakabe immer wieder betont, uns auch eine gewisse sinnliche Kontinuität von Subjekt und Objekt spüren lässt, erweist sich ihre versteckte Voraussetzung der Andersheit vom Berührenden und dem Berührten als wichtig, wobei das Subjekt der Berührung nicht unbedingt ein Mensch sein muss. Das atmosphärische Berühren wirkt darüber hinaus, selbst wenn es nur schwach empfunden wird, maßgeblich auf den Menschen, der sich in der Atmosphäre befindet. Ein in diesem Kontext wichtiges Merkmal des Berührens (fureru) ist die Homogenisierung der Heterosphäre. Dieser Vorgang erinnert uns seinerseits an die sogenannte »Adaptation« des Geruchsinns. Im Japanischen kann man das Wort für den Geruch (nioi) metaphorisch im Sinne von Atmosphäre ver­ wenden und, was gut in diesen Kontext passt, ohne Weiteres sagen: »den Geruch berühren (nioi ni fureru)«. Da in der bisherigen phi­ losophisch-phänomenologischen Forschung immer wieder auf die Verwandtschaft der atmosphärischen Phänomene mit dem Geruch hingewiesen wurde26, möchte auch ich zum Schluss kurz auf eine mögliche Nähe des Riechens zur Berührung der Atmosphäre einge­ hen. Die bahnbrechende Arbeit zu diesem Thema ist fraglos Hubertus Tellenbachs Buch Geschmack und Atmosphäre (1968) gewesen, das nicht nur den Geschmack im engeren Sinne, sondern auch den Geruch unter einer ganz neuen Perspektive thematisiert hat. Dieser »Oral­ sinn« ist, wenngleich er in der europäischen Philosophiegeschichte nur wenig beachtet wurde, laut Tellenbach eines der unabdingbaren »Medien menschlichen Elementarkontaktes«, wie es im Titel seines Buches heißt: »Im Verlauf der Entwicklung des Menschen zur aufrech­ ten Haltung, wenn Gehör und Gesicht die Fühlung übernommen 26

siehe z. B. Böhme 1998: 49–70; vgl. ferner Griffero 2022: 75–90.

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haben, bleibt freilich der Oralsinn [...] eindeutiger als die anderen Sinne der Vitalperson, der vegetativen digestiven sexuellen Vitalität verhaftet«.27 Wir müssen, um überhaupt leben zu können, permanent ein- und ausatmen, wodurch wir unvermeidlich von der uns umge­ benden Luft gestimmt werden.28 Bemerkenswert in diesem Kontext ist, dass Tellenbach im Hin­ blick auf das Verhältnis von Geruch und Atmosphäre vor allem deren Beziehung zu etwas Vertrautem oder Schützendem betont: »Wenn wir im Atmosphärischen eine Emanation des Personalen sehen, so kann es naturgemäß nicht von Anbeginn als Eigenständiges mit­ gegeben sein. Es muß sich erst bilden, und diese Bildung bedarf einer besonderen Hut. [...] Das Kind nimmt zunächst die vorgegebene Atmosphäre der Familie an und ist angewiesen auf dieses Annehmen [...]. Die von der Familie erworbene Atmosphäre ist in der Tat dem »Nestgeruch« an Jungtieren vergleichbar, die aufs schwerste gefährdet sind, wenn fremde Berührung dieses Atmosphärische zerstört.«29

Zwar erkennt Tellenbach durchaus die Wichtigkeit der fremden, d. h. heterosphärischen Züge an, wie z. B. seine Analyse von Dostojewskis Romanen Der Idiot oder Die Brüder Karamasoff erkennen lässt,30 jedoch benennt er immer wieder die homosphärische Vertrautheit bzw. die atmosphärische »Hut« als wichtigeres Merkmal, das die wesentliche Nähe der Atmosphäre zum Geruch zeigt. Was diese Vertrautheit bzw. Hut bereitet, ist offenbar, wie oben erwähnt, die Adaption des Geruchsinnes. Wenn jemand längere Zeit permanent einem bestimmten Geruch ausgesetzt ist, dann verändert sich nach und nach die Emp­ findlichkeit ihm gegenüber. Wir kennen das Phänomen z. B. daher, dass der eigene Körper- oder auch Mundgeruch, dem man kontinu­ ierlich ausgesetzt ist, von anderen Personen oft spontan und meist als unangenehm oder »heterosphärisch« bemerkt und empfunden wird, obwohl man ihn selbst kaum oder nur gelegentlich wahrnimmt. Eine solche sensorische Anpassung oder »Adaptation« ist zwar allen Sinnen eigen, jedoch auf unterschiedliche Weise: Sie ist beim Riechen stärker ausgeprägt als z. B. beim Hören. Dieser Vorgang der Adapta­ tion entspricht der Homogenisierung der Heterosphäre, an deren 27 28 29 30

Tellenbach 1968: 23. vgl. dazu auch Škof/Berndtson 2018. Tellenbach 1968: 52. ebd.: 83–95.

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Ende alle heterosphärischen Züge aufgehoben werden, so dass kein Berühren der Atmosphäre mehr möglich wird. Wenn Sakabe meint, dass fureru eigentlich nicht nur das bloße Berühren bezeichnet, dann ist es somit in Bezug auf die Atmosphäre zunächst einmal dem Riechen zu vergleichen, das letztendlich als Berührung der Atmosphäre mit der Innenseite der Nase angesehen werden kann. Aber auch das Hören vollzieht sich gewissermaßen als eine Berührung mit der den Hörenden umgebenden gestimmten Luft, und zwar nicht nur mit den Ohren, sondern eigentlich mit dem ganzen Leib.31 Und der Geschmack, der ja dem Geruch durchaus verwandt ist, entsteht zu einem großen Teil aus der Berührung der Aromen beim Essen und Trinken durch Gaumen oder Zunge. Das Sehen hingegen scheint auf den ersten Blick die einzige Sinneswahrnehmung zu sein, die sich auf räumlich entferne Dinge bezieht und keine unmittelbare Berührung braucht, doch kennt die Geschichte der Philosophie auch mehrere Beispiele, die das Sehen für eine Art Berührung halten. Wie die bisherigen Untersuchungen der Atmosphäre im philosophischen Bereich immer wieder gezeigt haben, lässt sich das Spüren der Atmo­ sphäre nicht auf ein einzelnes Sinnesorgan statisch beschränken, sondern ist als ein synästhetischer und dynamischer Prozess zu verstehen, der mit dem ganzen Leib vorgeht.32 Dem japanischen Verb fureru wohnen somit, wenn es um das Berühren der Atmosphäre geht, spezifische Charakteristika inne, die uns das »Berühren« im weitesten Sinne als etwas Synästhetisches begreifen lassen. Was hier am Ende meiner Überlegungen zu fureru mit Sakabe kritisch anzumerken wäre – und an dieser Stelle sei nochmals an die anfangs zitierte Definition Adelungs erinnert –, ist der kulturspezifisch beschränkte Denkrahmen hinsichtlich der sogenannten »fünf Sinne«, der zwar in unserem Alltagsleben immer noch vorhanden ist, aber sowohl bei den (neo-)phänomenologischen Untersuchungen der Synästhesie der Atmosphäre als auch bei den transkulturellen Erweiterungen der Philosophie nicht vorausgesetzt, So z. B. auch Gumbrecht 2011: 11, wo es heißt: »Bekanntlich hören wir nicht nur mit unserem inneren und äußeren Ohr; Hören ist eine komplexe, ganzkörperliche Verhal­ tensform, für die unsere haptischen Wahrnehmungsfähigkeiten eine wichtige Rolle spielen. Jeder Ton, den wir wahrnehmen, ist natürlich eine physische Wirklichkeit (wenn auch eine unsichtbare physische Wirklichkeit), welche als solche auf unseren Körper trifft (›it hits our body‹ kann man im Englischen sagen) und unseren Körper umgibt (›it wraps our body‹)«. 32 Siehe dazu Böhme 2013: 85–98. 31

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Atmosphären berühren. Überlegungen zum japanischen Wort fureru

sondern von Grund auf neu durchdacht und, wenn nötig, revidiert werden sollte. Dabei könnte die Thematisierung des Berührens der Atmosphäre, das sich ganz offensichtlich dem Rahmen der klassi­ schen fünf Sinne entzieht, künftigen Forschungen neue und mit Sicherheit interessante Denkanstöße vermitteln.

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Berühren und berührt werden von Menschen

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Thomas Fuchs

Die Zwischenleiblichkeit der Berührung. Phänomenologische und therapeutische Aspekte

1. Einleitung Der Tastsinn ist der erste Sinn, mit dem wir der Welt begegnen, und der letzte, der uns verlässt, wenn wir uns der Schwelle des Todes nähern. Er gehört dem größten Organ unseres Körpers an, nämlich der Haut, mit der wir den ausgedehntesten Kontakt mit der Welt haben. Und er bildet die weite Sphäre der Berührung mit ihren vielfältigen sinnlichen, sozialen, kommunikativen und eroti­ schen Dimensionen. Dennoch hat der Tastsinn in letzter Zeit eine Ära der Prohi­ bition erfahren. Mit der Corona-Pandemie wurde Berührung zum ultimativen Tabu; das Gebot des »social distancing« untersagte den Händedruck und die Umarmung ebenso wie die berührende Pflege alter Menschen oder die manuellen Therapien unterschiedlicher Art. Die Pandemie hat uns einen Eindruck davon vermittelt, wie ein Leben ohne Berührung aussehen würde, wie sehr wir die spontanen Umarmungen, das Händeschütteln oder das Klopfen auf die Schulter vermissen. Doch schon zuvor hatte sich in der Gesellschaft eine Hemmung, Vorsicht und manchmal Angst gegenüber der Berührung verbreitet – so dass etwa Elisabeth von Thadden bereits 2018 die »berührungslose Gesellschaft« diagnostizierte.1 Die digitalen und medialen Technologien haben wesentlich zu dieser Form des »social distancing« beigetragen, denn besonders für Kinder und Jugendliche wurden soziale Netzwerke zur wichtigsten Quelle sozialer Interak­ tion. Nicht zuletzt hat auch die me-too-Bewegung zur Vorsicht vor der Berührung zwischen den Geschlechtern und zu mehr Distanz 1

von Thadden 2018.

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Thomas Fuchs

beigetragen. Die Zwischenleiblichkeit der Berührung ist nicht mehr selbstverständlich; sie scheint sich heute rechtfertigen zu müssen. Diese einleitenden Bemerkungen führen mich zu der Frage, wie Berührung eigentlich Sozialität vermittelt. Was genau ist es am Tastsinn, das ihn zum primären sozialen Sinn macht, so dass auch der viel allgemeinere Begriff des »Kontakts« sich von ihm ableitet? Wir sprechen von E-Mail-Kontakten, obwohl sie sicher nichts mehr mit einer Berührung des anderen zu tun haben. Doch könnte es sein, dass wir ohne den Tastsinn gar nicht zur Erfahrung des Anderen gelangen würden, dass er also für unsere Sozialität konstitutiv ist? Diesen Fragen will ich im Folgenden nachgehen. Ich beginne mit einer allgemeinen Phänomenologie des Tastsinns, um mich dann seiner sozialen Bedeutung zuzuwenden.

2. Allgemeine Phänomenologie des Tastsinns Betrachten wir den Tastsinn im Verhältnis zu den anderen Sinnen, so fällt auf, dass er als einziger die Erfahrung einer Grenze unserer selbst vermittelt. Hören und Riechen sind gleichsam durchlässig für die Welt; auch beim Schmecken ist es nur der Tastsinn der Zunge, der eine Grenze zur Nahrung erzeugt. Das Gleiche gilt für den Sehsinn: Er trifft auf Oberflächen, die aber ohne Berührung keine Erfahrung von physischen Grenzen und Widerständen vermitteln könnten. Auch die gesehenen Oberflächen des eigenen Körpers würden sich nicht prinzipiell von denen anderer Objekte unterscheiden, wenn sie nicht mit taktilen und propriozeptiven Empfindungen zusammentreffen würden. Allein im Berühren haben wir es wirklich mit Grenzflächen zu tun, nämlich mit dem Widerstand, den sie unserer Anwendung von Kraft entgegensetzen, und mit ihrer Undurchdringlichkeit. Zugleich spüren wir in jeder Berührung uns selbst, nämlich als Leib, der wir sind, und zwar an seiner äußeren Grenze, der Haut. Der Tastsinn ist also bipolar gerichtet: Im Berühren erfahren wir also ebenso das Andere wie uns selbst. Betrachten wir die Erfahrung, die Rinde eines Baumes zu fühlen. Zum einen spüre ich dabei die Affektion meiner Hand bzw. meines Leibes, das »pathische« Moment der Wahrnehmung, wie Erwin

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Die Zwischenleiblichkeit der Berührung

Straus es ausdrückte.2 Nun kann ich aber durch diese Affektion meiner tastenden Hand zugleich die Rauigkeit und Struktur der Rinde spüren. Indem ich meine Aufmerksamkeit leicht verlagere, erlebe ich die Affektion meiner Hand als die Oberfläche, die ich betaste.3 In Strausʼ Begriffen wird das »pathische« zum »gnostischen«, erkennenden Moment der Wahrnehmung. Durch mein Spüren nehme ich die Oberfläche des Baumes wahr; und wie das Beispiel eines Blinden zeigt, der die Braille-Schrift liest, können die Berührungen sogar Träger von Bedeutungen werden. Der Tastsinn wird transparent nicht nur für Oberflächen der Dinge, sondern sogar für die Semantik von Symbolen. Es ist die Bipolarität des Tastsinns, die die Unterscheidung von Leib und Nicht-Leib, Selbst und Nicht-Selbst ermöglicht, und damit auch die primäre Erfahrung der Körpergrenzen. Denn im Widerstand der Oberflächen der Dinge zeigt sich auch der Leib selbst als begrenzt und als seinerseits widerständig, undurchdringlich. Durch das Tas­ ten konstituiert er sich selbst als materielles Ding, als Körper. Der Tastsinn ist also auch insofern bipolar als er die Umschlagstelle zwischen Leib und Körper bildet. In besonderer Weise vermitteln die von Husserl4 eingehend analysierten Doppelempfindungen diese Körperlichkeit des Leibes: Berühren wir eine Stelle des eigenen Kör­ pers, z. B. die linke Hand mit der rechten, so spüren wir sie in gleicher räumlicher Lokalisation einerseits »von innen«, tasten sie andererseits »von außen« ab. Wir spüren die Hand als »berührt«, d. h. zuständlich affiziert, durch das Berühren mit der anderen Hand aber zugleich als widerständig, als gegenständlich. Fremde Oberflächen haben diese ambivalente Qualität nicht. Das, was ich berühre und was nicht selbst mit Empfindung reagiert, das ist von mir unterschieden. Die Doppelempfindungen haben damit eine zentrale Funktion für die Konstitution des Eigenleibes. Er zeigt sich in ihnen zugleich von innen und von außen, als ein empfindendes Ding oder als ein »subjektives Objekt«.

Straus 1966. »Dieselbe Empfindung des Druckes bei der auf dem Tisch liegenden Hand ‹wird› aufgefaßt einmal ‹als› Wahrnehmung der Tischfläche […] und ergibt bei ›anderer Richtung der Aufmerksamkeit‹, in Aktualisierung einer anderen Auffas­ sungsschicht, Fingerdruckempfindungen« (Husserl 1952: 146). 4 Husserl 1952: 144ff. 2

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Die herausragende Funktion des Tastsinns für die Selbstkonstitution zeigt sich auch in der Ontogenese. Aristoteles bezeichnet den Tastsinn als die »ursprünglichste Wahrnehmung«, ohne die »ein Lebewesen nicht bestehen kann«.5 Tatsächlich entwickelt er sich in der Embryo­ genese als frühester Sinn:6 Bereits der 8 Wochen alte Embryo reagiert auf Streicheln der Oberlippenregion oder der Nasenflügel mit einem Zurückweichen des Halses und Körpers, in einem Stadium, in dem Augen und Ohren noch nicht als Sinnesorgane entwickelt sind.7 Er kann auch unterscheiden, ob er sich selbst tastet oder die umgebende Gebärmutter8, und vermittels der Selbstberührung bildet er ein erstes Körperschema aus.9 Nach der Geburt zeigt der Säugling einen Suchre­ flex und sucht nach der Mutterbrust, wenn er am Mund berührt wird; dieser Reflex erfolgt jedoch nicht, wenn man das Baby mit seinem eigenen Finger am Mund stimuliert.10 Auch daran zeigt sich die Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst, die der Fetus bereits in der Schwangerschaft erworben hat. In der weiteren Entwicklung lernt der Säugling seinen Körper immer besser kennen, indem er durch Doppelempfindungen seine eigene von fremden Oberflächen unter­ scheidet. Nun kommt noch eine weitere zentrale Konstitutionsleistung hinzu, die der Tastsinn vollbringt: In der Verbindung von Druck und Widerstand, die er enthält, gründet auch unsere Erfahrung von der Wirklichkeit der physischen Welt. Diese Einsicht findet sich bei ver­ schiedenen Philosophen, etwa bei Maine de Biran, Wilhelm Dilthey, Max Scheler, Karl Jaspers oder Hans Jonas. Die Erfahrung der Realität machen wir, so Dilthey, in jenen Momenten, »in denen ein sinnlicher Impuls einen Widerstand erfährt, den wir als Hemmung unserer Absicht erleben.«11 Bei Jaspers heißt es: »Wirklich ist, was uns Widerstand leistet. Widerstand ist, was die Bewegung unseres Leibes hemmt, und Widerstand ist alles, was die unmittelbare Verwirklichung unseres Strebens und Wünschens ver­ hindert.«12 De Anima III: 434 b 20ff. Bernhardt 1987. 7 Montagu 1980: 7. 8 Kravitz et al. 1978, Reissland et al. 2018. 9 Kazhipov et al. 2004. 10 Rochat/Hespos 1997. 11 Dilthey 1924: 98. 12 Jaspers 1973: 79. 5

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Ausführlicher zitiere ich aus Hans Jonasʼ »Organismus und Freiheit«: »Realität bezeugt sich primär im Widerstand, der ein Bestandteil der Tast-Erfahrung ist. Denn physischer Kontakt ist mehr als geometrische Berührung; er involviert Zusammenstoß. […] So ist Tasten der Sinn, in dem die ursprüngliche Begegnung mit der Wirklichkeit qua Wirklich­ keit stattfindet«.13 »Aus diesem Grunde ist Tasten die wahre Probe der Realität: ich kann jeden Verdacht einer Illusion dadurch zerstreuen, dass ich das verdäch­ tige Objekt anfasse und seine Realität an dem Widerstand prüfe, den es meinem Verdrängungsversuch entgegensetzt. Anders ausgedrückt: äußere Wirklichkeit kommt zur Evidenz im gleichen Akt mit der Evidenz meiner eigenen Wirklichkeit – nämlich in transitiver Aktion meinerseits. Im Fühlen meiner eigenen Realität durch irgendwelche Art von Anstrengung, die ich mache, fühle ich die Realität der Welt«.14

Realitätserleben entsteht also durch Widerstand, Hemmung unserer Wirkung durch Gegenwirkung, und an dieser Erfahrung ist der Tastsinn primär beteiligt. Erst Druck und Widerstand erlauben uns, die Dinge in ihrer konkreten Materialität zu spüren, ihre Undurch­ dringlichkeit buchstäblich zu begreifen. Der Sehsinn ist notorisch unzuverlässig, Illusionen und Scheinbildern wie der sprichwörtlichen Fata Morgana in besonderem Maße ausgeliefert. Wenn wir sicherge­ hen wollen, dass wir es mit der Realität zu tun haben, brauchen wir dazu unseren Körper und all unsere Sinne. Wir müssen in den Raum hineingehen, die Dinge anfassen, tasten, riechen, handhaben, mit ihnen umgehen. Berührung ist mit Handlung verbunden; mit dem Tastsinn sind wir viel aktiver als mit anderen Sinnen. Und nur im Tastsinn treten wir buchstäblich in »Kontakt« mit der Welt. Der Sehsinn lässt die Welt als Schauspiel, in der Distanz oder als Gegenüber vor uns erscheinen; die Subjekt-Objekt-Trennung ist hier verankert. »Die Tasterfahrung aber hängt der Oberfläche unseres Leibes an, wir vermögen sie nicht vor uns auszubreiten, niemals wird sie ganz und gar Objekt«.15 Jonas 1973: 213. ebd. 213f. 15 Merleau-Ponty 1966: 366. Das bedeutet freilich, dass der Sehsinn der Eigenstän­ digkeit der Wirklichkeit, die wir primär durch den Tastsinn erfahren, eine neue Dimension hinzufügt: Die Tatsache, dass wir sie im Sehen auf Distanz erfahren, liegt, wie bereits erwähnt, der Subjekt-Objekt-Trennung zugrunde und erlaubt es uns, Objekte als solche zu begreifen, die für sich selbst existieren. Entscheidend für diese 13

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Noch eine letzte Konstitutionsleistung können wir dem Tastsinn zuschreiben: Die Gegenwirkung beim Tasten wirft uns auch auf uns selbst zurück. Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass der Tastsinn uns vom Ganzen der Welt trennt; ohne ihn würden wir immer eins mit ihr bleiben. Das scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem zu stehen, was zuvor über Berührung und Kontakt gesagt wurde. Tat­ sächlich aber sind in jeder Grenzerfahrung Berührung und Trennung dialektisch miteinander verbunden. Die anderen Sinne öffnen Wege in die Welt, der Tastsinn vermittelt die Erfahrung der Trennung. Wir tasten und werden zurückgewiesen: Es ist diese Umkehrbewegung, das »Sich-Tasten am Anderen«, das dem Leib die Existenz einer Welt anzeigt und in uns ein erstes Selbstbewusstsein wachruft. Dies hat vor allem Scheler gesehen: „ […] der primär ekstatisch erlebte Widerstand ist es […], durch den der Triebimpuls erst bewusstseinsfähig wird. Das Bewusstwerden (und der mit ihm verknüpfte Ich-Bezug) ist in allen den mannigfaltigen Stufen und Graden, in denen es erfolgt, immer erst die Folge unseres Erleidens des Widerstandes der Welt«.16

Reflexives Bewusstsein entwickelt sich im Erleiden der Grenze, also gerade an der Körperlichkeit des Leibes, die sich von den Gegenstän­ den abstößt. Dieses Sich-Abstoßen setzt einen Bewegungsimpuls voraus, der dem elementaren Drang des Leibes bzw. seinen Triebre­ gungen entspringt. „ […] Bewusstsein wird erst in der primitiven re-flexio der Empfin­ dung, und zwar stets gelegentlich auftretender Widerstände – alles Bewusstsein gründet in Leiden und alle höheren Stufen des Bewusst­ seins in steigendem Leiden – gegenüber der ursprünglichen sponta­ nen Bewegung«.17

Das reflexive Bewusstsein ist also bereits in der elementaren Refle­ xion angelegt, die sich im Widerstand der Dinge gegen unsere Eigen­ bewegung manifestiert. Nun sind wir dem Tastsinn in seinen elementaren konstitutiven Leistungen gefolgt: Er ist einerseits selbstkonstituierend, nämlich durch die Erfahrung der Selbstbegrenzung und Selbstberührung, Objektivität ist jedoch die Konstitution gemeinsamer Objekte durch Intersubjektivität (vgl. Fuchs 2020a). 16 Scheler 1927: 214. 17 Scheler 1976: 15.

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andererseits realitätskonstituierend, nämlich durch die Erfahrung von Widerstand und Undurchdringlichkeit. Ja er trägt wesentlich zur Bewusstwerdung bei, da er uns von den undurchdringlichen Dingen abstößt und reflexiv auf uns selbst zurückverweist. Wenden wir uns nun der Sozialität des Tastsinns zu.

3. Phänomenologie der sozialen Berührung Wie wir sahen, liegt es in der Dialektik der Grenze begründet, dass der Tastsinn ebenso die Trennung von der Welt begründet wie den ursprünglichen Kontakt mit ihr. »Berührung ist Trennung und Verbindung zugleich«, schreibt Novalis.18 Die Bipolarität der Berüh­ rung ist damit auch die Voraussetzung für ihre Wechselseitigkeit im sozialen Kontakt. Die Berührung eines anderen Menschen bedeutet eine leibliche Kommunikation, die besagt: Dies bin ich, und dies bist du. Gerade indem wir uns als voneinander abgegrenzt erleben, spüren wir einander. Diese Wechselseitigkeit und Synchronie ist das Besondere an der Berührung im Vergleich zu den anderen Sinnen. Während wir sehen können, ohne gesehen, hören ohne gehört zu werden, sprechen ohne eine Antwort zu erhalten, können wir nicht berühren, ohne gleichzeitig berührt zu werden. Die Haut ist daher zugleich trennende und verbindende Grenz­ fläche. Damit dient sie im sozialen Kontakt nicht nur als Sinnes-, son­ dern auch als Ausdrucksorgan. Bestimmte dynamische, rhythmische Tastverläufe stellen zugleich Ausdrucksqualitäten dar: langsam oder rasch, oberflächlich oder tief, sanft oder grob, zärtlich oder unwirsch, achtsam oder beiläufig – all diese Berührungsformen drücken auch die emotionale Beziehung zum Gegenüber aus. Wir nutzen Berüh­ rungen tagtäglich, um jemandem mitzuteilen, dass wir ihm nahe sind, mit ihm fühlen, dass wir ängstlich, traurig, glücklich, verliebt sind und vieles mehr. Interessant ist auch die Bandbreite der taktilen Metaphern, die im sozialen Umgang verwendet werden: Menschen können mit anderen »auf Tuchfühlung gehen«, von ihren Äußerungen »gerührt« oder »ergriffen« sein; Menschen können als »dick«- oder »dünnhäutig«, »glatt«, »weich« oder »stachelig« erlebt werden, ihr Verhalten als »sanft« oder »rau«, »kratzbürstig« usw. 18

Novalis 1968: 293.

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Doch der Tastsinn konstituiert Sozialität bereits auf einer noch elementareren Ebene. Er lässt uns erfahren, dass wir es mit einer anderen, lebendigen Subjektivität zu tun haben, also mit unseresglei­ chen, und stellt so eine primäre Verwandtschaft mit dem Leib des Anderen her. Berühren wir Lebendiges, so verhält es sich anders als unbelebte Objekte, denn das Lebendige reagiert, es rührt sich unter unserer Berührung. Eine menschliche Hand zu tasten und zu ergreifen, fühlt sich anders an als eine Roboterhand, selbst wenn diese sich mechanisch bewegt. Die soziale Berührung hat etwas Federndes, Schwingendes, Resonantes. Zugleich vermittelt sie die gleiche Einheit von Lebendigkeit und Dinglichkeit, wie wir sie schon am eigenen Leib erfahren haben. Merleau-Ponty hat darauf hingewiesen, dass in den Doppelempfindungen, also etwa im Berühren der linken Hand durch die rechte, auch der Leib des anderen vorweggenommen ist: »Indem ich erfahre, dass mein Leib ein ›empfindendes Ding‹ ist, dass er reizbar ist – er und nicht nur mein ›Bewusstsein‹ – bin ich darauf vorbereitet zu verstehen, dass es andere Animalia und möglicherweise andere Menschen gibt. […] Wenn mir das Dasein eines Anderen dadurch evident ist, dass ich ihm die Hand drücke, so deshalb, weil sie sich an die Stelle […] [meiner] linken Hand setzt, weil mein Leib sich dem des Anderen […] einverleibt […] er und ich sind wie die Organe einer einzigen Zwischenleiblichkeit.«19

Die Verschränkung von Interiorität und Exteriorität, die bei der Selbstberührung ineinander umschlagen, überträgt sich also auf die Zwischenleiblichkeit der Berührung: Auch der andere Leib ist wie mein eigener ein »subjektives Objekt«, das sich mir in seiner Belebt­ heit zeigt, eine Einheit aus leiblichem Erscheinen und gegenständli­ chem Körper. Auf dieser Grundlage kann er auch zum Medium des Selbstausdrucks werden. Im Leib des Anderen, seinen Bewegungen und Gesten, nehme ich zugleich sein Erleben, seine Empfindungen und Gefühle wahr, denn sein Leib ist wie mein eigener nicht nur ein dingliches Objekt, sondern Manifestation seines Erlebens. Aber auch die Wirklichkeitserfahrung, die der Tastsinn vermit­ telt, erstreckt sich auf den Anderen. Sich zur Begrüßung beim Hän­ degeben haptisch miteinander zu verbinden, für einen Moment die Eigensphäre zu überschreiten, ist Ausdruck einer verkörperten, nicht nur distanzierten oder gar virtuellen Begegnung, in der wir uns wechselseitig unserer Anwesenheit versichern. Daher wollte auch 19

Merleau-Ponty 2003: 256.

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der ungläubige Thomas im Johannes-Evangelium den auferstandenen Christus berühren und den Finger in seine Wunde legen. Er wollte sicher sein, dass er es nicht nur mit einem Geist, heute würden wir vielleicht sagen, mit einer »virtual reality« zu tun hatte, und dazu musste er den Körper Jesu spüren; und zwar nicht nur irgendeinen Körperteil, sondern gerade seine Wundmale, die sich als Ausdruck der Leibgeschichte Jesu verstehen lassen, also seiner Verletzlichkeit als eines irdisch-körperlichen Wesens. Eine ähnliche Geschichte findet sich in der Odyssee (19, 357– 502): Als Odysseus verkleidet und unerkannt in seinen Palast zurück­ kehrt, wird seine alte, blinde Amme Eurykleia damit beauftragt, ihm die Füße zu waschen. Dabei ertastet sie an seinem Oberschenkel die Narbe einer Wunde, die ihm als Kind von einem wilden Eber zugefügt wurde, und erkennt ihn daran. Auch der Tastsinn hat eine Geschichte, er bewahrt die Erinnerung an einen vertrauten Menschen; man weiß, wie sich der geliebte Partner anfühlt, auch ohne ihn zu sehen. Es ist kein Zufall, dass die meisten religiösen Rituale auch mit leiblicher Anwesenheit und Berührung verbunden sind, wie z. B. Taufe, Hochzeit, letzte Ölung oder auch die Heilungsrituale traditio­ neller Kulturen. Es ist die leibliche Präsenz, die das Ritual wirksam macht, und die Berührung des Priesters oder Heilers vermittelt die spirituelle Kraft, die auf den Gläubigen übergeht. Schließlich sei daran erinnert, dass der Händedruck auch dazu dient, eine Verein­ barung zu besiegeln; der Handschlag bekräftigt die Verbindlichkeit des Vereinbarten. In all diesen Phänomenen sehen wir, wie die Zwischenleiblichkeit der Berührung eine gemeinsame Wirklichkeit ebenso hervorbringen kann wie eine gemeinsame Geschichte. Im Zeitalter der Digitalisierung und Virtualisierung erscheinen uns solche zwischenleiblichen Rituale und leiblich geteilten Wirklich­ keiten nur allzu leicht überholt. Dennoch bleibt jede virtuelle oder Online-Kommunikation immer auf die Möglichkeit der realen Begeg­ nung mit dem Anderen bezogen, auf die leibliche Präsenz, die letztlich nur die Berührung vermitteln kann. Andere Sinnesmodalitäten lassen sich digitalisieren, so dass man im Online-Kontakt beispielsweise das Gesicht einer Person sehen und sich mit ihr unterhalten kann; für die Berührung hingegen muss man sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden. Virtuell kann nur die Vorstellung, berührt zu werden, geweckt werden; es gibt keine »Telepräsenz« der Berührung selbst. Die gegenseitige Berührung ist die ultimative Bestätigung der gemeinsamen Realität, und sie muss zumindest als Möglichkeit

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auch in leiblicher Präsenz gegeben sein, damit wir füreinander wirk­ lich werden.

4. Zur Entwicklung und Psychologie der Berührung Betrachten wir nun die Rolle der Berührung in der Ontogenese, so werden wir sehen, wie die allgemeine Phänomenologie durch die Entwicklung der Sozialität in der Kindheit bestätigt wird. Wie schon erwähnt ist die Haut das primäre Sinnesorgan des Kindes; bereits im Mutterleib spürt es den elastischen Widerstand der Gebärmutterwand als Gegenüber oder Nicht-Selbst, an dem es seiner selbst gewahr wird. Nach der Geburt ist diese enge taktile Umhüllung zunächst verloren; umso mehr bedarf der Säugling des Gehalten- und Berührtwerdens, der Nähe und Wärme der Mutter. Er spürt auch sogleich, ob er sanft, zärtlich, fest oder gar grob angefasst wird, also die affektive oder Ausdrucksqualität der Berührung. Die Haut wird damit zum ersten Medium der interpersonalen Beziehung. Sie lässt den Säugling den Widerstand und damit die Wirklichkeit der Mutter ebenso erfahren wie ihre Zuwendung, Wärme und Zärtlichkeit. Jede grundlegende Aktivität der Babypflege beinhaltet Berüh­ rungen, wie das Stillen, Füttern, Baden, das Wechseln der Windeln, das Streicheln und Kuscheln. Diese ständige taktile Kommunikation ist unerlässlich für das vitale Wachstum des Säuglings ebenso wie für seine seelische Entwicklung. Ein Mangel an Wärme und Haut­ kontakt in der frühkindlichen Phase beeinträchtigt die neuronale Differenzierung, führt zu Wachstumsretardierung und später zu Ver­ haltensstörungen.20 Bereits in den 1940er Jahren erkannte René Spitz die biologische Notwendigkeit der liebevollen Zuwendung an institutionalisierten Säuglingen und Kleinkindern in Heimen, die nach Trennung von der Mutter zwar mit ausreichender Nahrung und Hygiene versorgt, aber kaum berührt und gehalten wurden. Sie gerie­ ten in eine von Spitz so benannte »anaklitische Depression«, zeigten erhebliche Verhaltensstörungen und sogar eine hohe Sterblichkeit.21 In den 1990er Jahren gab es eine Vielzahl von Forschungsarbeiten, die die Folgen von Berührungsentzug für die menschliche Entwick­ 20 21

Montagu 1980: 142ff., Field 2010. Spitz/Wolf 1946.

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lung aufzeigten: Kinder aus rumänischen Waisenhäusern, die in den ersten Lebensjahren kaum berührt wurden, wiesen später erhebliche kognitive, emotionale und soziale Defizite sowie Rückstände in der Gehirnentwicklung auf.22 Wichtige Erkenntnisse der frühen Berührungsforschung wurden auch durch die Experimente von Harry Harlow an Rhesusäffchen in den 60er Jahren gewonnen.23 Vor die Wahl gestellt zwischen einer aus Draht nachgebildeten, milchgebenden Mutterattrappe und einer mit Stoff überzogenen Attrappe ohne Milch, stillten die Äffchen viel eher ihr Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt mit der weichen, kusche­ ligen Mutter als ihren Hunger mit der Drahtmutter. In einem anderen Experiment flüchteten die Äffchen, wenn sie mit beängstigenden Reizen konfrontiert wurden, zur Stoffpuppe; waren sie dagegen nur mit der Drahtpuppe aufgewachsen, dann kauerten sie sich hilflos zusammen, erstarrten buchstäblich oder schrien und weinten. Har­ lows Experimente waren aus tierethischer Sicht sicher problematisch, doch sie belegten die zentrale Bedeutung von Berührungskontakten in einer Zeit des vorherrschenden Behaviorismus und bildeten damit den Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung der Bindungstheorie auch beim Menschen. Ein anderes bedeutsames Ergebnis der Berührungsforschung war in den 80er Jahren die Entdeckung besonderer taktiler Rezeptoren in der Haut, der sogenannten C-taktilen Afferenzen, die nicht wie die sonstigen Rezeptoren auf raschen, sondern auf langsamen Hautkon­ takt reagieren.24 Inzwischen ließ sich zeigen, dass diese Rezeptoren am meisten auf eine Streichelgeschwindigkeit von 1–10 cm/sec und sanften Druck reagieren, wie es einer zärtlichen Berührung entspricht, also z. B. auf Streicheln, Liebkosen, Kraulen oder sanftes Massieren.25 Die Aktivierung dieser Afferenzen ist beim Berührten mit einem leiblichen Wärme- und Wohlgefühl verbunden – sie wandeln also gewissermaßen die mechanische Stimulation der Haut in eine sanfte, zärtliche Berührung um, und diese wirkt bekanntlich beruhigend, angstlösend und schmerzlindernd. Die Wirkung ist unter anderem auch durch die Freisetzung des Hormons Oxytocin vermittelt.26 Oxy­ tocin wird besonders intensiv beim Stillen, aber auch beim engen 22 23 24 25 26

Kaler/Freeman 1994, Beckett et al. 2006, Mackes et al. 2020. Harlow/Zimmermann 1959, Harlow/Harlow 1962. Olausson et al. 2002. Crucianelli/Filippetti 2020. Di Plinio et al. 2022.

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Hautkontakt zwischen Mutter und Säugling bei beiden ausgeschüttet; es fördert in besonderem Maß die Stimmung der sozialen Nähe, die Zuwendung, Liebe und Bindung. Weniger starke, aber im Prinzip ähnliche Wirkungen hat das sanfte Berühren und Streicheln aber auch später. Die Umarmung ist in fast allen Kulturen nicht nur Ausdruck von Vertrautheit, Zunei­ gung, Freundschaft oder Liebe, sondern hat auch nachweislich stress­ reduzierende, blutdrucksenkende und antidepressive Wirkungen.27 Die vielfältige Anwendung der Berührung in manuellen Therapien, Massage, Körpertherapie, Osteopathie, Feldenkrais-Arbeit und vielen anderen Verfahren beruht auf der leiblich gespürten und zugleich physiologischen Umstimmung, die die Berührung der Haut durch den Anderen auszulösen vermag. Die uralte Heilkraft des Handauflegens geriet in der Neuzeit in Vergessenheit und musste erst wieder entdeckt werden, so etwa um 1800 durch den Wiener Arzt Franz Anton Mesmer, der durch Berührung erstaunliche Heilerfolge erzielte und daraus schloss: »Von allen Körpern in der Natur wirkt auf den Menschen am allerwirksams­ ten der Mensch selbst.«28 In Ermangelung einer Erklärung führte er diese Wirkung auf den sogenannten »tierischen Magnetismus« zurück, also die elektrische Reizbarkeit von lebendigem Gewebe, die gerade entdeckt worden war. Wir haben heute bessere physiologische Erklärungen, die aber nichts daran ändern, dass die zwischenleibliche Berührung immer auch etwas Magisches hat. Zu den intensivsten Formen des Kontakts gehört natürlich die erotische Berührung, die den gesamten Leib in Erregung zu setzen, förmlich zu elektrisieren vermag. Der Tastsinn ist wohl überhaupt der erotischste der Sinne. Und diese Dimension der Berührung besteht wesentlich darin, dass dabei der eigene Leib weich wird, sich öffnet und der streichelnden Hand des anderen hingibt – gleichsam in Resonanz gerät wie eine Geige, die von einem Bogen gestrichen wird. Natürlich bedarf es für die Erotik der Berührung auch der Grenze, also des Unterschieds von Selbst und Nicht-Selbst, der aber nicht als solcher betont und festgehalten wird, sondern sich aufhebt in der Bewegung der Öffnung, der Resonanz und Verbindung.29 McGlone et al. 2014. zit. n. Zweig 1931: 63. 29 In diesen Zusammenhang gehört auch die Tatsache, dass man sich bekanntlich nicht selbst kitzeln kann, weil dabei die implizite »Vorhersage« der Wirkung der

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Die Erotik der Berührung liegt freilich nicht nur in der besonde­ ren Qualität des Tastens oder Streichelns begründet, sondern auch in ihrer Intimität. Die Berührung der Haut stellt die bedeutsamste Markierung in dem subtilen Gefüge von Nähe und Distanz dar, das die sozialen Ordnungen charakterisiert. Außerhalb der familiären Bezie­ hungen bedeutet die nicht nur flüchtige, sondern langsame, zärtliche Berührung von vorne herein die Überschreitung einer Grenze, die eine erotische Atmosphäre entstehen lässt. Eine nächste Stufe stellt dann der Kuss dar, da das Berühren der Lippen, erst recht der Zunge, die körperliche Distanz zwischen zwei Menschen weitgehend aufhebt. Phänomenologisch lässt sich leicht erkennen, warum der Kuss diese Qualität besitzt: Die Lippen sind zum einen besonders tastempfindlich; zum anderen bilden sie gleichsam das Tor zum Inneren des Leibes. Ihre Feuchtigkeit und Weichheit ebenso wie ihre Nähe zum Speichel, der ersten die Nahrung auflösen­ den Flüssigkeit des Körperinneren, weicht auch den Widerstand auf, den die Haut sonst bietet. So kann der Lippenkuss auch die sexuelle Vereinigung andeuten, die dann im Zungenkuss als Eindringen in den Leib des Anderen vorweggenommen wird. Der Tastsinn markiert also die Zonen der Begegnung, der Zunei­ gung und des Übergangs zur Vereinigung und Verschmelzung, wie sie zur erotischen Sphäre gehört. Auf der anderen Seite kann die Berüh­ rung, sieht man einmal vom Händedruck ab, gerade wegen ihrer Inti­ mität auch eine unerlaubte Grenzüberschreitung und Zudringlichkeit darstellen. Entwürdigende und erniedrigende Behandlungen, erst recht Vergewaltigungen oder Folter beginnen meist mit einem rohen Anfassen der Haut, gefolgt von einer gewaltsamen Inbesitznahme des Körpers. Die Missachtung der Körpergrenzen vollzieht sich also durch die Umkehrung der liebevollen Berührung in ein rohes Zugreifen. Wir bezeichnen die Würde des Menschen gleichsam beschwörend als »unantastbar«, aber das ändert nichts daran, dass ein grobes Betasten gerade besonders entwürdigend sein kann.30 Der Tastsinn als Sinn der Grenze und des Übergangs impli­ ziert also auch immer eine soziale Ambivalenz, nämlich zwischen liebevoller Annäherung und Kommunikation einerseits und Grenz­ Eigenbewegung auf die Haut den Überraschungseffekt nicht entstehen lässt, der für den Kitzel erforderlich ist. Auch dem Kitzeln muss man sich sozusagen »hingeben« können, sonst entsteht nicht die vibrierende, zum Lachen treibende Empfindung auf der Haut. 30 Fuchs 2008.

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überschreitung und Intrusion andererseits. Auf diese ambivalente Bedeutung der Berührung verweisen auch Begriffe wie »Takt« oder »Taktgefühl« als übertragene Bezeichnungen für einen mitmenschli­ chen Umgang, der das Verhältnis von Nähe und Distanz behutsam und einfühlsam zu handhaben weiß. Solches Taktgefühl wird beson­ ders bedeutsam, wenn in der Pflege alter Menschen die Berührung Grenzen überschreitet, die wir seit unserer Kindheit nicht mehr dem fremden Anderen preiszugeben gewohnt sind.

5. Resümee Der Tastsinn weist eine mehrfache Polarität auf, die ihn unter allen Sinnen als Sinn der Grenze, des Kontakts und des Übergangs aus­ zeichnet. Er ist zum einen rezeptiv (er reagiert auf Kontakt), zum anderen aktiv (er erkundet die Dinge durch Bewegung). Er ist einer­ seits selbstkonstituierend, nämlich durch die Erfahrung der Selbstbe­ rührung und der Selbsttätigkeit, andererseits realitätskonstituierend, nämlich durch die Erfahrung von Widerstand und Undurchdringlich­ keit. Mit dieser Erfahrung ist zugleich eine elementare Reflexion ver­ bunden, die zur Selbstbewusstwerdung des leiblichen Subjekts bei­ trägt. Damit ermöglicht der Tastsinn dem Subjekt (1) Unterscheidung und Abgrenzung vom Anderen und Fremden, (2) Selbsterfahrung und Selbstreflexion, (3) aber auch Kontakt und Kommunikation. In diesen ambivalenten Erfahrungen des Tastsinns manifestiert sich grundsätzlich das charakteristische Verhältnis, welches ein Lebewe­ sen zu seiner Grenze hat. Denn durch sie differenziert es sich von seiner Umwelt und definiert sich selbst; zugleich aber tritt es durch sie in Austausch und Kontakt mit der Umwelt. Insofern bestätigt die phänomenologische Analyse die Aussage von Aristoteles, der Tastsinn sei bei allen Lebewesen der ursprünglichste der Sinne. Der Tastsinn ist schließlich aber auch konstitutiv für die mensch­ liche Sozialität. Die Verschränkung von Leib und Körper in der Doppelempfindung, die den Leib zu einem »subjektiv empfundenen Objekt« macht, kehrt in der Berührung des anderen wieder, so dass ich seinen Leib als subjektiv, d. h. als belebt und ausdrucksvoll wahrnehme, ohne dass ich mir durch eine Theory of Mind, durch Analogieschlüsse oder Projektionen erst klar machen muss, dass ich es möglicherweise mit einem anderen Subjekt zu tun habe. Die

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Die Zwischenleiblichkeit der Berührung

Wirklichkeit und tatsächliche Gegenwart des anderen vermittelt kein anderer Sinn so wie der Tastsinn. Tasten und Berührung sind Aus­ druck der sozialen Polarität zwischen Bezogenheit und Abgrenzung, eine Polarität, die in Erfahrungen der intimen Nähe, aber auch der intrusiven Grenzüberschreitung münden kann. Die intimste Form erotischer Verschmelzung ist nur durch unmittelbaren Körperkontakt möglich, aber umgekehrt werden auch die gravierendsten Formen der Erniedrigung, des Missbrauchs oder der Gewalt vom berührten Körper erfahren. Ich erwähnte zu Beginn, dass wir, nicht zuletzt im Gefolge der Corona-Pandemie, immer mehr in eine berührungslose Gesellschaft zu geraten scheinen, in der digitale und mediale Technologien unsere realen, verkörperten Begegnungen ersetzen (Fuchs 2020b). Doch eine Gesellschaft, in der wir voneinander nicht mehr berührt und damit nicht mehr affiziert werden, im leiblichen und zugleich im emotionalen Sinn – eine solche Gesellschaft können wir auf die Dauer nicht ertragen. Die virtuelle Präsenz des anderen ist, was sie ist: ein Schein, den letztlich nur die Tasterfahrung auflösen kann. Niemand blickt uns aus einem Smartphone an. Die virtuelle Gegenwart des anderen kann die Zwischenleiblichkeit der Berührung nicht ersetzen.

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Warum bist Du so ungehalten? Über die Verzweiflung, unberührt zu sein

1. Einleitung Der Mensch kann im Sinne der philosophischen Anthropologie als physiologische Frühgeburt betrachtet werden. Der neugeborene Mensch ist »völlig hilflos und faktisch in seiner Entwicklung nicht fertig«1, weil er aus biologischen Gründen zu früh geboren wird. Adolf Portmann spricht von einem »extrauterinen Sonderjahr«, innerhalb dessen sich der Säugling jenseits des Mutterleibs entwickeln muss.2 Er betont die biologische Notwendigkeit der sozialen Gruppe, die als Ersatz für den geschützten Raum des Uterus zur Verfügung steht. Eine wesentliche Eigenschaft des Uterus in der Schwangerschaft ist die enge Umfassung des Embryos, die Berührung seiner Haut und seines gesamten Körpers. Ein sozialer Uterus außerhalb des mütterlichen Körpers hat somit neben Ernährung, Hygiene, Raum und Schutz die Aufgabe der Berührung zu erfüllen. Es erscheint fast selbstver­ ständlich, dass der Säugling Verbindung mit seiner sozialen Mitwelt durch Hautkontakt benötigt.3 Dabei geht es einerseits buchstäblich um den körperlichen Kontakt, andererseits um das sensitive Gerich­ tetsein des Gegenübers auf das Individuum durch wechselseitige Einleibung,4 ein affektives Berührtsein und spürbares Eingebettetsein in einer Gemeinschaft.5 Somit gehört Halt zu haben, gehalten und berührt zu werden nicht nur zu den Grundbedürfnissen des Menschen, sondern kann darüber hinaus auch als existenzielle Erfahrung für die Genese der 1 2 3 4 5

Plessner 1976: 34. Portmann 1979: 81. Anders/Weddemar 2002: 27. Schmitz 2019d: 23ff. Ott et al. 2021: 134.

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Person betrachtet werden. Trotz dieser Erkenntnis kommt es vor, dass in der Kindheit diesbezüglich ein Mangel entsteht, der später kaum noch aufzuholen ist. Das folgende Beispiel zeigt, wie sehr fehlende Berührung Kinder in Mitleidenschaft ziehen kann: Wie sollte Pia in der Nacht schlafen können »wenn sie sich nicht riechen kann, sie weiß dann gar nicht, ob sie da ist, vielleicht verschwindet sie langsam. Manchmal wird sie plötzlich wach, riecht nichts, spürt ihren Bauch nicht, ihre Füße scheinen woanders zu sein, ihr Po […] – da muss sie natürlich ins Bett machen.«6 Pia spürt sich nicht, riecht sich nicht, ist zutiefst verunsichert. Es gab einmal eine Zeit, da wusste sie, wo alles war, damals durfte sie nachts zwischen ihren Eltern liegen beim Einschlafen, in dichtem Körperkontakt, da spürte sie sich, wo sie anfing und aufhörte.7 Jetzt ist das anders, der Vater ist weg, die Mutter hat wohl keine Zeit. Die körperlich-leibliche Basis, das soziale Nest, das sie benötigt, um Sicherheit und Halt zu finden, hat sich zu früh aufgelöst. Um sich zu spüren, muss Pia Spielzeug zerschlagen, andere Kinder anrempeln, an den Haaren ziehen, damit sie angeschaut wird. Pia ist ungehalten, sucht Halt, Berührung, Umfassung. Trotz aller Selbstverständlichkeit wird das Thema Körperkontakt und taktile Nähe in psychologischen Entwicklungstheorien eher am Rande behandelt. Die Bindungstheorie John Bowlbys beschreibt zwar die Notwendigkeit einer Bindung zu mindestens einer Bezugsperson, die durch Nähe und Sensitivität gekennzeichnet ist, aber über Qualität und Intensität des Körperkontaktes ist wenig zu finden.8 Auch in der Entwicklungspsychologie wird Berührung als notwendige Erfah­ rung erwähnt, aber kaum differenziert dargestellt.9 Wenn jedoch das »Gehalten werden« des Säuglings eine hohe Bedeutung hat für sein leibliches Wohlbefinden,10 die Genese der »persönlichen Situation«11 oder Persönlichkeit, sollte das Phänomen Berühren und Berührt wer­ den einmal genauer betrachtet werden. Dabei besteht die Frage, ob das Berührt werden eher eine körperliche oder eine leibliche Erfahrung ist. Werden bei der Berührung der Haut physikalische Nervenreizungen erzeugt oder Leibesinseln gespürt – oder womöglich beides? Können Körper und Leib bei diesen Vorgängen körperlicher und leiblicher Gudmundsdottir 2019: 24. ebd. 8 Bowlby 2021: 99. 9 vgl. Schneider/Lindenberger 2012, Rothgang/Bach 2015, Brisch 2021. 10 Wolf 2016: 91. 11 Schmitz 2019c: 19. 6

7

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Kommunikation überhaupt getrennt voneinander betrachtet werden? Wo kann eine Grenze zwischen Körper und Leib ausgemacht werden und wo bestehen Überschneidungen? Diese elementaren Fragen soll­ ten im wissenschaftlichen Diskurs zwischen Anthropologie, Phäno­ menologie und Embodiment diskutiert werden. Im Folgenden wird nun zunächst das Thema Berühren und Berührt werden aus einer anthropologischen12 und heilpädagogi­ schen13 Perspektive beleuchtet, welche vor allem die physische Seite des Körperkontaktes erhellt. Danach wird ein Blick auf die Relevanz des Themas innerhalb der psychologischen Entwicklungs- und Bin­ dungstheorie14 geworfen. Daraufhin wird die leibliche Dimension des Phänomens eröffnet und mit anthropologischen,leibphänomenologi­ schen Argumenten und Perspektiven des Embodiment untersucht.15 Dabei werden Überschneidungen und Grenzen der beiden Konzepte des Körpers und des Leibes ausgelotet, um die Bedeutung des Körper­ kontaktes und der Haut phänomenologisch zu fassen. Abschließend wird diskutiert, inwieweit Menschen in unserer Gesellschaft zuneh­ mend »ungehalten« werden und social distance zu einem Leitprinzip der Gesellschaft wird.

2. Körper – Haut – Berührung Die Bedeutung des Körperkontaktes wird eindrucksvoll in dem Werk des Anthropologen und Psychologen Ashley Montagu beschrieben, der in den 1980er Jahren seinen Forschungsfokus auf dieses Phäno­ men richtete. So beschreibt er die Funktion der Haut: »Die Haut umhüllt uns vollkommen, ist das früheste und sensitivste unserer Organe, unser erstes Medium des Austausches und unser wirksams­ ter Schutz«.16 Die Haut wird im Mutterleib sehr früh ausgebildet und ermöglicht es dem Embryo, gleichzeitig sich zu spüren und die Umwelt zu ertasten. Nach der Geburt erfüllt die Haut u. a. mehrere Funktionen17: 12 13 14 15 16 17

Montagu 1980. Anders/Weddemar 2002. z. B. Schneider/Lindenberger 2012, Brisch 2021. u. a. Plessner 1975/1976, Fuchs 2013, Schmitz 2019a, Schmitz 2019c. Montagu 1980: 7. ebd.: 2, Anders/Weddemar 2002: 36ff.

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a)

Schutz vor Strahlen, Substanzen, Organismen und mechani­ schen Verletzungen Sinnesorgan des Spürens und Tastens, der Wahrnehmung und Kommunikation Regulation der Körpertemperatur Stoffwechselorgan für Sauerstoff, Kohlendioxid, Wasserund Salzhaushalt

b) c) d)

Abgesehen von diesen rein körperlich-physikalischen Funktionen besitzt die Haut jedoch auch integrale Bedeutung für den leiblich verfassten Organismus. Die Haut spiegelt das Befinden wider18 und ist beteiligt am affektiven Betroffensein von leiblichen Regungen und Atmosphären.19 In umgangssprachlichen Redewendungen kommt dies zum Ausdruck: »Jemand ist dünnhäutig« im Sinne von empfind­ lich oder »hat ein dickes Fell,“ ist also eher resistent.20 Wir fühlen uns »berührt« von einem guten Wort, einer Melodie oder den Tränen anderer. In Konflikten sollen wir jemanden »richtig anfassen« und »nicht vor den Kopf stoßen«, um eine einvernehmliche Lösung zu finden. Erschütternde Ereignisse gehen uns »unter die Haut« und der begeisternde Auftritt einer Band verursacht »am ganzen Körper Gänsehaut«. Unter Betrachtung solcher Metaphern wird deutlich, dass die Haut nicht nur eine Hülle ist, welche die inneren Organe und das Skelett zusammenhält,21 sondern sie verortet auch Leibesinseln,22 die Hinweise über das leibliche Befinden des Menschen liefern kann.23 Dabei besitzt die Haut jedes Individuums eine unterschiedliche Sensibilität bezüglich Drucks, Berührung, Wärme, Kälte, Schmerz, usw. und kann sich daher sensitiv auf Eindrücke der Umwelt einstel­ len.24 Ohne auf physikalische und neurologische Details eingehen zu wollen, kann weiter konstatiert werden, dass gerade auch das Schmerzempfinden eine wichtige Fähigkeit des Organismus darstellt, um ihn vor Schädigungen zu bewahren. Die Haut als Grenze nach außen veranlasst die Person dazu, sich zu schützen und dem Einwir­ ken der Umwelt wenn nötig Grenzen zu setzen. 18 19 20 21 22 23 24

Klages 1964. Schmitz 2014: 24. Montagu 1980: 9. ebd.: 10. Schmitz 2019a: 25f. Anders/Weddemar 2002: 37. ebd.: 39.

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Montagu konnte zeigen, dass das Phänomen Mutterentbehrung, das schon früh sehr allgemein auf den Mangel an Zuwendung zurück­ geführt wurde, primär im Fehlen der mütterlichen taktilen Berührung begründet liegt.25 Rene Spitz entdeckte bei längeren Klinikaufhalten von Säuglingen und Kleinkindern eine »anaklitische Depression«, die verschwand, wenn die Verbindung zur Mutter nach fünf Mona­ ten wieder hergestellt wurde. Bei längerer Mutterentbehrung zeigte sich das bekannte Hospitalismus-Syndrom mit Symptomen wie Resi­ gnation, Kontaktstörungen, motorischer Unruhe, intellektueller und emotionaler Retardierung, Angstzuständen, usw.26 Dagegen konnten Salomon, Levin und Kraft zeigen, dass durch gezielte Hautstimula­ tion das Immunsystem und die Überlebensrate von Frühgeborenen verbessert wurde.27 Die Berührung selbst kann in vielfältiger Weise entfaltet werden. In der Pflege wird unterschieden zwischen instrumental touch, dem Hautkontakt im Sinne pflegerischer Handlungen und dem caring touch, also spontan eingesetzte, affektive Berührung.28 Als Art und Weise der Berührung werden folgende benannt: »in Kontakt treten, ergreifen, schlagen, halten, umarmen, küssen, heben, massieren, klopfen, picken, zwicken, stoßen, pressen, ziehen, stupsen, reiben, kratzen, schütteln, klopfen, drücken, streicheln«.29 Qualitative Merk­ male des Kontaktes sind die zeitliche Dauer (z. B. die Hand halten), der Ort der Berührung (Schulter, Wange, etc.) und vor allem die Intensität, also der Druck, der ausgeübt wird (sanft, grob, etc.). Auch die Häufigkeit taktiler Erfahrungen spielt eine Rolle in der alltäglichen Interaktion. Ein Pfleger beschreibt seine Tätigkeit folgendermaßen: »Berühren ist ein Reden mit den Händen«.30 Während die meisten Säugetiere ihre Neugeborenen mit der Zunge ablecken, übernimmt diese Funktion beim Menschen als Zweibeiner die Hand. Wischen, Halten, Wiegen und Streicheln sind Handlungen, die der Mensch entwickelt hat, um den Säugling zu berühren, zu stimulieren und zu reinigen. Dabei spielt die Hygiene nur eine Rolle unter vielen. Denn auch der Ausdruck von Beachtung, 25 26 27 28 29 30

Montagu 1980: 147. Spitz 1945, 1967. Joraschky 1983: 12. Helmbold 2007: 27. ebd.: 28. ebd.: 80.

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Zuwendung, Wärme und Sättigung wird durch Umarmen, Festhalten und den Stillvorgang erreicht. Nach der Geburt wird die Fürsorge für das Neugeborene intensiviert, da es aus der Symbiose im siche­ ren Uterus entlassen wurde, und kutane Erfahrungen existenzielle Bedeutung für sein Überleben erlangen.31 Beim Stillen erfolgt etwa eine periorale Anregung von Lippen, Zunge, Nase und Mund, welche die Atmung und damit die Funktion des gesamten Organismus anregt. Dabei geht es jedoch nicht nur um Reizung von Nervenzellen, sondern auch um die leiblich erfahrbare Zuwendung, die das Kind als Geborgenheit, Sicherheit, Wärme und Sättigung erfährt.32 Bei dem Hautkontakt mit einem Säugling ist hohe Sensibilität gefragt, denn jedes Kind hat ein individuelles Berührungsempfinden und es erfordert genaues Hinsehen, Zuhören und vor allem Gespür, welche Intensität und Dauer einer Berührung für das Kind angemessen ist. Folgende Situation beschreibt den wechselseitigen Austausch: »Damit das Kind nach dem Saugen überflüssige Luft ausstoßen kann, legen die Eltern es meist über die Schulter und klopfen sanft den Rücken. Dabei machen sie wiegende Bewegungen mit dem ganzen Leib, summen womöglich eine sanfte Melodie und gehen rhythmisch hin und her. Sie erspüren dabei, wann das Kind sich entspannt und ein »Bäuerchen« macht. Wenn die Bewegungen dem Bedürfnis des Kindes angemessen sind, lässt es sich auf den Rhythmus ein, entspannt die Muskulatur und es gerät von angespannter Engung […] in lockere Wei­ tung«.33

In der Moderne wurden jedoch vielfältige Möglichkeiten entwickelt, das Kind bequem abzulegen in Babywippen und -schalen, in Kinder­ wagen, Autositz, Gehfrei, usw. Es gilt gerade als Errungenschaft der Zivilisation, solche Entlastungsmöglichkeiten für Eltern zu schaf­ fen, um Kinder weniger tragen zu müssen. Der Dokumentarfilm »Babies«34 legt dies in kulturvergleichender Perspektive dar. Doch wie auch die Hospitalismus-Forschung zeigt, erfahren Kinder ohne ausreichende Nähe und Berührung Deprivation. Dies führt zu Appe­ titmangel, Gewichtsverlust, Trauer, Apathie bis hin zu Depression.35 Ein Kind, dessen Haut taktil stimuliert wird, kann durch diese beru­ 31 32 33 34 35

Montagu 1980: 24. Wolf 2016: 95. ebd.: 96. Balmes 2010. Montagu 1980: 65.

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higende Grunderfahrung Entbehrungen besser überstehen. Ein Hin­ weis auf das enorme Bedürfnis nach Berührung ist das Anschmiegen, Suchen und Klammern des Kindes, »weil es eine Bestätigung, eine erneute Versicherung vermittelt, dass es ein anderes Wesen gibt, bei dem man durch sein bloßes Dasein, dadurch, dass man es berührt, Freude findet«.36 In dem Werk »Häute schon berührt« (2002) greifen Wolfgang Anders und Sabine Weddemar die zentrale Bedeutung der Berührung aus heilpädagogischer Perspektive auf. Sie erörtern das Phänomen des Körperkontaktes, jedoch nicht reduziert auf den eher physikalisch belegten Begriff des Körpers, sondern sie führen im Sinne eines »gelebten« und »erlebenden Körper(s)« den Begriff des Leibes ein.37 Sie betrachten den Körperkontakt als eine nonverbale Kommunika­ tion von Menschen, die besonders die Beziehungsebene definiert. Wie nah lasse ich jemanden an mich heran und in welcher Weise darf mich die Person anpacken? Das Berühren beginnt beim unmittelbaren Hautkontakt und setzt sich vermittelt fort über Blicke, Gesichtsaus­ druck, Körperhaltung, Körperbewegung, stimmliche Signale, usw.38 Dabei interessiert an dieser Stelle vor allem die taktile Kommuni­ kation, die nach Argyle die ursprünglichste und basalste Form der sozialen Kommunikation darstellt.39 Dieser körperlich-leibliche Vor­ gang dient somit als Brücke der Wahrnehmung, durch den das Subjekt Menschen und Dingen entgegentritt, sich mit ihnen auseinandersetzt und in Bezug zur sozialen und sächlichen Umwelt tritt. Der Leib gilt dabei als zentraler Träger von Interaktionsprozessen mit der Umwelt.40 Dieses Vermögen zur leiblich vollzogenen Erkenntnis entsteht einerseits durch Integration von körperlich-leiblichen Dispo­ sitionen des Subjektes und andererseits durch seine Bezogenheit zur Umwelt.41 Diese Bezogenheit kann jedoch nur entstehen, wenn die Fürsorge der Bezugspersonen gegeben ist. Da der Säugling in den ers­ ten Monaten sehr abhängig ist, müssen Bedürfnisse nach Nahrung, Flüssigkeit, taktiler Stimulation, usw. befriedigt werden.42 Der Berüh­ rungsdialog führt zu der Erfahrung von Sicherheit, die wesentliche 36 37 38 39 40 41 42

ebd.: 83. Anders/Weddemar 2002: 23. ebd.: 25. Argyle 1979: 267. Merleau-Ponty 1966: 400. Fuchs 2013: 127. Anders/Weddemar 2002: 106.

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Grundlage von Selbstgefühl und Selbstvertrauen darstellt. Die Haut als Grenzorgan vermittelt die taktile Anlehnung, Umfassung, das Getragen sein. »Die Haut ist die Grenze seiner selbst und deshalb ist die Verarbeitung von Berührungsreizen eine erste Quelle des Gefühls der Sicherheit für das Kind«.43 Die Berührung gilt deshalb als Dialog, weil hier das Kind auch aktive Signale an die Mutter aussenden kann durch Greifen, Anschubsen, Zwicken und Streicheln. Bereits nach wenigen Tagen kann es die Sprache mit synchronen Bewegungen spiegeln: Das ist der Beginn der sozialen Interaktion.44 Dabei ist die Haut als vermittelndes Medium keineswegs nur als physikalisches Organ zu betrachten, das aus Oberhaut, Lederhaut und Unterhaut besteht.45 Sie ermöglicht auch – wie weiter unten noch zu zeigen ist – leibliche Kommunikation durch affektive leibliche Signale und durch spürende Erfahrung an Leibesinseln.46 Vor dem Hintergrund des leiblichen In-der-Welt Seins, kommt Montagu zu dem Ergebnis, »daß der Mensch mit und in seinem Leib lebt; dass der Leib das Mittel der menschlichen Weltbeziehungen darstellt; daß er dem Menschen die Welt erschließt; und daß er kein Werkzeug/Instrument ist, sondern im Grunde genommen ›Ich‹ selbst«.47

Somit erfährt bei mangelnder Berührung nicht nur die Haut einen Verlust an Nähe, Wärme und Stimulation, sondern die leiblich ver­ fasste Person erlebt kein Gegenüber, keine Resonanz und kein Einge­ bettet sein in einen größeren Zusammenhang (der Gemeinschaft). Die Person ist `ungehalten´, was sich in vielfältigen Auffälligkei­ ten widerspiegelt, etwa Reizbarkeit, Hyperaktivität, Kontaktstörung, Angststörungen, Schlafstörungen, Depressivität, mangelndes Kör­ pergefühl, Störungen des Verdauungsvorganges, Sprachstörungen, Anfälligkeiten für Infektionen, Hauterkrankungen, etc.48 Die Berüh­ rung der Haut bestätigt das Vorhandensein eines Anderen jenseits der eigenen, subjektiven Existenz mehr als jede andere Interaktion. Dies ermöglicht nicht nur die intensive Erfahrung des Anderen, sondern man fühlt auch sich selbst. Fühlen ist somit nicht nur als körperlicher Akt der Berührung von Hand auf Haut zu verstehen. Berühren hat 43 44 45 46 47 48

Ayres 1992: 87. Anders/Weddemar 2002: 113. ebd.: 34. Wolf 2016: 91, Schmitz 2019a: 25f. Montagu 1980: 96f. Anders/Weddemar 2002: 143ff.

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auch eine emotionale Dimension und zeigt, dass ein Mensch sensitiv und verletzbar ist.49 In der Sprache der Neuen Phänomenologie kann somit die Hypothese aufgestellt werden, dass affektives Betroffensein in wechselseitiger Einleibung entsteht, die unter anderem durch kör­ perlich-leibliche, kutane Erfahrungen aufgebaut und aufrechterhalten wird. Durch die Berührung erfährt das Kind auch Atmosphären seiner Umgebung. Über den Körperkontakt mit der Mutter spürt es, ob die Umgebung freundlich oder bedrohlich ist, ob die Mutter angespannt oder locker ist.50 Das sanfte Klopfen, Streicheln, Liebkosen verleiht das Gefühl von Sicherheit und der Rhythmus taktiler Stimulation findet sich universell in Wiegenliedern wieder.51 Aufgrund der ele­ mentaren Bedeutung in der frühen Kindheit sprechen manche For­ scher auch von der dermatalen Phase. Doch kutane Erfahrungen sind lebenslang bedeutsam.52 Gerade bei unterschiedlichen Verfassungen des Menschen (Angst, Trauer, Sorge, Unsicherheit, Liebe, Zuneigung) bleibt Berührung und Körperkontakt bis ins hohe Alter existenziell für das Wohlbefinden und findet nicht zuletzt bei Erwachsenen seinen Ausdruck in der Sexualität.53

3. Berührung in der Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung Obwohl die Bedeutung von Berührung für die kindliche Entwicklung als sehr bedeutsam gelten kann, wird das Thema in der Entwick­ lungspsychologie wenig beachtet. Bei der Lektüre entwicklungspsy­ chologischer Kompendien wird deutlich, dass neurologische und kognitive Prozesse weit umfangreicher wissenschaftlich untersucht wurden als Phänomene wie der Körperkontakt. Dabei wird inhaltlich darauf verwiesen, dass bei Kindern westlicher Kulturen, bei denen Independenz im Vordergrund steht, eher Wert auf Blickkontakt, verbale Interaktion und visuell-auditive Stimulation gelegt wird.54 In Kulturen mit Präferenz für den interdependenten Entwicklungspfad 49 50 51 52 53 54

Montagu 1980: 86. ebd.: 90. ebd.: 95. ebd.: 221. Anders/Weddemar 2002: 127. Keller et al. 2004.

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(Afrika, Asien) werden körperorientierte Praktiken bevorzugt. Dies schlägt sich auch in Lehrbüchern der Entwicklungspsychologie nieder, wenn lediglich am Beispiel des Tastsinns als Sinneserfahrung erwähnt wird, welche Bedeutung Berührung für die kognitive, emotionale und affektive Entwicklung habe. Mit dem Hinweis auf Winnicotts Theorie des »Holding« und »Handling« wird dem körperlichen Kon­ takt zwischen Mutter und Kind zwar »eine zentrale Rolle in der Entwicklung einer sicheren Bindung« zugeschrieben.55 Doch die Berührung der Haut wird lediglich als »Beruhigungshilfe« dargestellt, die »entwicklungsfördernde Wirkung« zeige (Babymassage).56 Durch die dichte Ansammlung von Hautrezeptoren sei die Sensibilität für Berührungen angenehmer oder schmerzhafter Art früh ausgeprägt. Die Bindung zur Bezugsperson wird als wesentliche Komponente der gesunden Entwicklung benannt, wobei dem Blickkontakt und der Stimme, sowie dem Gesichtsausdruck zentrale Bedeutung zuge­ sprochen werden.57 Die Bindung wird als Bindungsorganisation ver­ standen, ein kognitiver Prozess, bei dem überdauernde Erwartungen internalisiert werden und bei Gefahr abgerufen werden können. Dabei spielt bei der »emotionale(n) Wärme« der Hautkontakt keine Rolle.58 In der Bindungstheorie wird das Bindungssystem als motivatio­ nales System zwischen Mutter und Säugling beschrieben.59 Hier wird vor allem von unterschiedlichen »Signalen« zwischen Mutter und Kind gesprochen, wie Schreien, Lächeln, Anklammern von Seiten des Kindes oder Blickkontakt von Seiten der Mutter.60 In der Lite­ ratur zur Bindungsforschung sind wenig präzise Erörterungen zum Thema Körperkontakt oder Berührung zu finden. Klaus Grossmann verweist auf die Feinfühligkeit in der Bindungsbeziehung und die Notwendigkeit von subtilen, prompten und angemessenen Antwor­ ten, die durch Worte und Vokalmelodien erzeugt werden.61 Die müt­ terliche Feinfühligkeit wird nach Mary Ainsworth durch den Blick, die Interpretation der Äußerungen des Säuglings, durch prompte Reak­ tion und Angemessenheit in der Situation charakterisiert.62 Dabei 55 56 57 58 59 60 61 62

Draganski/Thelen 2012: 129. Elsner/Pauen 2012: 167. ebd.: 177. Schneider/Hasselhorn 2012: 206. Rothgang/Bach 2015: 147. Trautner 1997: 53. Grossmann 2008: 31. ebd.: 32.

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spricht Ainsworth auch von Nähe und Trost bei erfahrenem Leid, aber weniger vom Körperkontakt, als vielmehr von vorsprachlicher Kommunikation zwischen Mutter und Kind. Dazu wird der Fachbe­ griff des »Containment« verwendet, der die Fähigkeit der Mutter umfasst, Affekte des Kindes zu verstehen, zu beantworten und in positiver Weise zu modifizieren.63 John Bowlby selbst erwähnt auch die körperliche Seite der Mutter-Kind-Beziehung. Er beschreibt, wie eine Mutter ihr Kind nach der Geburt umfasst, beruhigt, mit der Hand Wangen und Körper streichelt und es nach einigen Minuten an die Brust nimmt.64 Dabei erwähnt er das aufeinander Einschwingen von Mutter und Kind, in sensitiver Wahrnehmung der Mutter und der Kooperationsbereitschaft des Säuglings.65 Sogar eine entspannte Atmosphäre beschreibt er, die im Fall der Unterstützung durch den Vater entsteht. Doch auch sein Konzept stützt sich vornehmlich auf abstrakte Begriffe wie Bindung, Nähe, Zuwendung, Trennungsangst, Signale, sichere Basis. Bindung gilt als imaginäres Band, das wenig auf Körperprozesse zurückgebunden ist. Schließlich konnte in einem aktuellen Werk über Bindung und psychische Störung noch eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema Bindung und Berührung entdeckt werden. Die Autoren66 zitieren zunächst den Philosophen Wilhelm Schmid: »Ich werde berührt, also bin ich«67 und stellen damit die aus ihrer Sicht fun­ damentale Bedeutung der Berührung in den Vordergrund.68 Dabei gehen sie davon aus, dass Berührung als biopsychosoziales Gesche­ hen über die gesamte Lebensspanne ein wichtiger Parameter für Gesundheit und Krankheit des Organismus darstellt.69 Weiterhin vertreten sie einen psychoneuroimmunologischen Ansatz (PNI), der die Auswirkungen auf das Immunsystem untersucht.70 Sie vertreten die These, dass körperlich-emotionaler Kontakt eine Schlüsselrolle bei der Entstehung einer sicheren Bindungsbeziehung spielt und erst

63 64 65 66 67 68 69 70

Dornes 2008: 55. Bowlby 2021: 6. ebd.: 8. Ott et al. 2021: 133ff. Schmid 2019: o. S. Ott et al. 2021: 133. ebd.: 147. ebd.: 135.

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über Berührung entsteht.71 Dieser Beitrag der Bindungsforschung diskutiert taktilen Kontakt somit als wesentlich.

4. Einleibung mit und ohne Haut In der Neuen Phänomenologie spielt das Eingebettetsein des Sub­ jektes in gemeinsame Situationen eine prominente Rolle. Die Per­ sönlichkeit wird bei Hermann Schmitz als persönliche Situation bezeichnet und soll zum Ausdruck bringen, welche Dynamik bei der Ausbildung der spezifischen Individualität im Gange ist.72 In einem fluktuierenden Prozess zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression erfolgt ein »Herantasten an ein Gefühl der Stim­ migkeit der verschiedenen Möglichkeiten und Aspekte der Situation mit einem bis dahin noch nie so erfahrenen Generalentwurf der eigenen Zukunft«.73 Dennoch bleibt der Entwurf der Identität bei Schmitz offen und ist weder von Phasen noch anderen Strukturen bestimmt. Jedoch hält er die leibliche Disposition, den persönlichen Charakter und die Willensfähigkeit für bedeutsame Faktoren der Per­ sönlichkeit.74 Für die leibliche Einbettung des Kindes in die gemein­ same Situation der Familie nimmt die leibliche Kommunikation und insbesondere die Einleibung eine wesentliche Funktion ein.75 Bei der wechselseitigen Einleibung wird die Person vom engenden Blick des Gegenübers getroffen und offenbart durch ein eigenes Blicksignal die Anerkennung des Sprechers, um dann selbst aktiv in Engung zu treten und beim Gegenüber einen Eindruck zu erzeugen.76 In der antagonistischen Einleibung fluktuiert die Dominanzrolle hin und her und der empfangene Eindruck wird simultan leiblich in einen entsprechenden Ausdruck umgeformt.77 So synchronisieren die Gesprächspartner Sprechgeschwindigkeit, Mimik und Gestik. In die­ ser Weise stellt der Mensch von Anfang an Kontakte her und erhält sie aufrecht. Dabei erläutert Schmitz zunächst, dass in der wechselseiti­ 71 72 73 74 75 76 77

Duhn 2010. Schmitz 2019c: 287. Thomae 1960: 154. Schmitz 2019c: 315ff. Schmitz 2019d: 23ff. Schmitz 2007a: 132. ebd.: 136.

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gen Einleibung ein Berührtwerden durch leibliches Betroffensein auf­ tritt, das sich bei Personen »in ihrem einander-leiblich-spüren« wie ein gegenseitiges Abtasten vollzieht.78 Dies geschiet jedoch zumeist nicht über Hautkontakt, sondern als ein Eingestelltsein aufeinander, das »gewisse Regungen und Verhaltensweisen hervorlockt, andere zurückhält, übrigens oft nicht gleichförmig, sondern so, daß die Rollen sich ergänzen […]«.79 Weiterhin spricht er der Stimme, der Mimik und dem Blick eine hohe Bedeutung für das wechselseitige Einschwingen in leiblicher Kommunikation zu.80 Taktile Momente der Einleibung werden bei Schmitz nur selten erwähnt. Eine Ausnahme bildet der Händedruck, der als eine Art korrespondierender Druck und Gegendruck als taktile Einleibung charakterisiert wird. Er wird simultan begonnen und beendet und geschieht fast beiläufig in Alltagssituationen, kann aber umfangreiche Informationen über die persönliche Situation des Gegenübers geben (energisch, kraftvoll, schwach, zart, etc.).81 In antagonistischer Einlei­ bung wird Über- und Unterordnung, Distanz oder Nähe ausgelotet. Schmitz bezeichnet diese Situation des Händedrucks als »synchrone Verschmelzung« und ein »Zusammenwachsen der Partner in einem spontan und eventuell nur für Sekunden sich bildenden leiblichen (selbstverständlich nicht körperlichen) Ganzen«.82 Dabei betont er die Möglichkeit eines Kräfteflusses von Leib zu Leib. Dies wird mit Beispielen belegt, wenn etwa ein Arzt die Hand der Patientin hält und Sicherheit und Vertrauen stiftet. Oder mit einem Zitat von Montagu, bei dem ein Mann sich durch die Berührung der Ehefrau gestärkt fühlt: »Sie berührt mich dann mit der Hand oder drückt mich ganz fest an sich, und ich erhalte von ihr neue Kraft«.83 Interessant an dieser Stelle ist, dass Schmitz hier den Einfluss der körperlichen Berührung ausschließt und einen Kräftefluss von Leib zu Leib beschreibt. Es stellt sich die Frage, warum die Bedeutung der taktilen Stimulation ignoriert und lediglich die leibliche Seite des Kontaktes betont wird.

78 79 80 81 82 83

Schmitz 2019d: 104. ebd.: 105. ebd.: 99. ebd.: 33f. Schmitz 2019d: 34f. Montagu 1974: 166.

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Dazu muss ein kurzer Exkurs zu der Unterscheidung von Leib und Körper bei Schmitz eingeführt werden. Er führt folgende Diffe­ renzierungsmerkmale an:84 a) b)

Das sinnlich Wahrnehmbare ist körperlich Das unsinnlich Gespürte oder Empfundene in der Gegend des Körpers ist leiblich Körperlich ist das, dessen Örtlichkeit relativ ist Leiblich ist, dessen Örtlichkeit absolut ist Leiblich können auch Korrelate sein, die mit dem Leiblichen eng zusammenhängen

c) d) e)

Weiterhin unterscheidet er zwischen dem Leib, dem körperlichen Leib und dem Körper. So spricht er davon, dass uns der eigene Leib gewöhnlich als körperlicher Leib gegeben ist. Dazu erläutert er das Körperschema als ein Raumbild, das die einzelnen Körperteile und ihre räumliche Beziehung zueinander umfasst.85 Dagegen wird der körperliche Leib in Inseln erfahren ohne stetigen räumlichen Zusammenhang. Diese Leibesinseln nehmen wir jedoch nur wahr, wenn aktuell eine besondere Sensation von ihnen ausgeht. Denn Leibesinseln werden nicht durch Sehen oder Tasten erkannt, sondern durch unmittelbares Spüren.86 Das heißt, wir spüren den Nacken oder ein Jucken der Kopfhaut und merken, ob sie über oder untereinander angesiedelt sind, aber wir erspüren keinen stetigen Zusammenhang aller Leibesinseln, wie das beim Körperschema der Fall ist. Leibesin­ seln sind dadurch gekennzeichnet, dass sie keinen scharfen Umriss haben und rasch dem Spüren entzogen sein können (z. B. wenn der Schmerz endet). Auch wenn der Leib in einzelnen Inseln erfah­ ren wird, bleibt das Bewusstsein von einem Ganzen erhalten,87 das durch den absoluten Ort begründet ist. Da der Leib alle Leibesinseln umfasst, ist er als absoluter Ort auf jeder Leibesinsel vorhanden.88 Abschließend können der Leib, der körperliche Leib und der Kör­ per in folgender Weise unterschieden werden: Der reine Leib ist abso­ lut-örtlich und kommt in personaler Regression bei Angst, Schmerz oder Wollust vor, wenn eine räumliche Orientierung nicht mehr mög­ 84 85 86 87 88

Schmitz 2019a: 5. ebd: 25. ebd.: 26. Scheler 1954: 412. Schmitz 2019a: 46.

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lich ist. Der reine Körper ist Gegenstand der medizinisch-biologischen Forschung und durch relativ-örtliche Eigenschaften bestimmt. Der körperliche Leib dagegen kann relativ-örtlich (Leibesinseln: Magen­ schmerz, Jucken am Fuß) und absolut-örtlich wahrgenommen werden (Behagen in der Badewanne). Das Leibliche bleibt unteilbar ausge­ dehnt, während das Körperliche teilbar ausgedehnt ist.89 In der Neuen Phänomenologie bleibt jedoch ungeklärt, wie der Übergang zwischen körperlichem und leiblichem Empfinden aussieht und welche Bedeutung die Haut und der Hautkontakt bei der Genese der persönlichen Situation hat. Es ist einleuchtend, wenn Schmitz die wechselseitige Einleibung als konstitutives Element zur Erschlie­ ßung von Sozialkontakten in gemeinsamen Situationen einführt. Als simultaner Prozess zwischen den Tendenzen von Engung und Weitung ermöglicht ein dialogisches In-Kontakt-treten als imma­ nent leiblicher Antagonismus den Anwesenden, ein Bezogensein aufeinander als übergreifenden Leib zu entwickeln.90 Doch wenn der menschliche Säugling darauf angewiesen ist, Gehalten zu sein, taktile Stimulation benötigt, die sich durch Streicheln, Wiegen, Tra­ gen, Umfassen, usw. vollzieht, wie kann der kutane Aspekt der Interaktion vernachlässigt werden? Daher soll im Folgenden geklärt werden, ob körperliche Wahrnehmung und leibliches Spüren nicht stärker verschränkt sind, als bisher in der Neuen Phänomenologie angenommen und die Haut nicht nur als Sinnesorgan dem Körper zugeschlagen, sondern gleichzeitig als Leibesinsel dem Leib zugeord­ net werden kann.

5. Die Haut als Vermittler zwischen Körper und Leib Bei Schmitz stellt die Haut die Grenze des Körpers dar und gehört als Sinnesorgan zunächst nicht im engeren Sinne zum Leib: »Der spürbare Leib besitzt keine flächige Grenze, wie etwa die Haut den Körper eingrenzt, sondern er kann darüber hinaus Qualitäten wie schwüle Wärme, schroffe Ablehnung oder wärmende Zuneigung spü­ ren«.91 Dennoch verweist er auf Hartmann und Schilder, welche die Haut gerade nicht als festumschriebene Fläche darstellen, sondern als 89 90 91

ebd.: 54. Schmitz 2019d: 24. Schmitz 1992: 11.

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Leibesinsel, die protopathisch als Gewoge verschwommener Inseln wahrgenommen wird.92 Weiterhin spricht er im Zusammenhang mit Leibesinselbildung davon, dass sanftes Streicheln der Haut zu entspannter Weitung bis hin zu Lustempfinden führen kann. Dabei schreibt er der Mutterhand beim beruhigenden Streicheln eine ent­ spannende Wirkung zu, die ein ängstliches Kind befrieden könne und beim Einschlafen unterstütze.93 Hier wird die Haut im Sinne einer Leibesinsel beschrieben, die spürendes Empfinden ermöglicht, also als Aspekt des körperlichen Leibes. Gleichzeitig bleibt sie jedoch auch Grenze des Körpers und Sinnesorgan. Somit scheint die Haut ein Zwitter zu sein auf der Grenze zwischen Körper und Leibesinseln, mit der die Person mir entgegentritt, ohne dass ich diese Tatsache ernsthaft bestreiten könnte. In diesem Zusammenhang soll nun auf Helmuth Plessner ver­ wiesen werden, der sich ebenso wenig mit dem Phänomen Haut und Körperkontakt beschäftigt hat, aber dafür mit dem Wechselverhältnis von Körper und Leib. In „die Stufen des Organischen und der Mensch“ diskutiert er die Grenze des menschlichen Körpers. Er beschreibt hier die Grenze zwischen Körpern folgendermaßen: »Anschauliche Grenzen liegen bei allen Dingkörpern da, wo sie anfangen oder zu Ende sind. Die Grenze des Dinges ist sein Rand, mit dem es an etwas Anderes, als es selbst, stößt«.94 Bei zwei Gegenständen bildet die Grenze das Zwischen (etwa bei zwei Steinen). Die Grenze eines lebendigen Körpers jedoch umfasst nicht nur einen Übergang zwischen Körper und angrenzendem Medium, sozusagen ein leeres Zwischen, sondern die Grenze gehört dem belebten Körper selbst an.95 Dies bedeutet, dass der Köper »nicht nur den Raum« einnimmt, »den er messbar ausfüllt«, sondern er ermöglicht ein Übergehen in das Medium der Umgebung und umgekehrt.96 An dieser Stelle könnte man nun die Bedeutung der Haut stark machen. Man kann die Haut als Membran auffassen, welche sowohl das perzipierende Wahrneh­ men des Spürsinns vollzieht, als auch das spürende Empfinden im Sinne einer Leibesinsel ermöglicht. Sie kann als Grenze des belebten Körpers gelten, die ihn umspannt und umfasst, als Sinnesorgan, welches das beschriebene Übergehen als atmendes Organ realisiert, 92 93 94 95 96

Hartmann/Schilder 1927: 672. Schmitz 2019a: 161. Plessner 1975: 100. ebd.: 103. Lindemann 2017: 75.

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aber auch als spürende Membran, die leibliches Befinden über die Hülle des Körpers hinaus entfaltet. »Die Grenze wird zu einer absoluten Innen-Außen-Richtungsdiver­ genz (d.i. Doppelaspektivität); in seiner Begrenzung ist der lebendige Körper aufgrund seines besonderen Verhältnisses zu seiner Grenze dieser Übergang von Innen und Außen selbst und erscheint damit in seiner Doppelaspektivität als Einheit von Innen und Außen«.97

Die Membran der Haut könnte diesen Übergang darstellen und somit würde das Gedankenkonstrukt eine leib-körperliche Manifestation erhalten. Damit wäre der Bruch der dreifach positionierten Existenz als Leib-Sein, Körper-Haben und Selbst nicht aufgehoben, findet aber einen Ausdruck in dieser Membran, welche die fundamentale Bedeutung von Berühren und Berührtwerden verdeutlichen könnte.98 Ähnlich wie Plessner sieht Thomas Fuchs Körper und Leib als komplementäre Aspekte der ontologischen Einheit des Lebewesens Mensch.99 Physis ist somit als gelebter/erlebter Leib (beseelt-leib­ lich) zu verstehen aber auch als physikalisch-materieller Körper (physiologisch-organisch). Der subjektive Leib und der organische Körper stehen in einem koextensiven Verhältnis, das durch Syntopie, eine räumliche Übereinstimmung von Leiblichem und Körperlichem, geprägt ist.100 Eine Entkoppelung von Körper und Leib sieht er nicht gegeben, ebenso wie Jens Soentgen, der in einer solch analytischen Trennung die Gefahr sieht, dass der Leib zu einem isolierten System wird.101 Letzterer schreibt der Haut nicht nur die Grenzfunktion des geschlossenen Körpers zu, sondern er bemerkt: »sie atmet« und steht im Wechselprozess mit der Umgebung.102 Körper und Leib sind womöglich weniger radikal getrennt, als Schmitz erwartet und ermöglichen spezifische Erfahrungen des Subjektes. Somit kann man Gesa Lindemann folgen, die das Verhältnis von Leib zu Körper »in einem Verhältnis wechselseitigen Bedeutens« interpretiert.103 Demnach nimmt die Haut als Membran zwischen Körper und Leib eine elementare Rolle ein in der Vermittlung von Innen und Pietrowicz 1992: 351. Gugutzer 2002: 65. 99 Fuchs 2013: 106. 100 Fuchs 2017: 102. 101 Soentgen 2017: 62. 102 ebd.: 63. 103 Lindemann 2017: 71. 97

98

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Außen, für den Selbst- und Weltbezug.104 Diese Sichtweise teilt auch der Pädagoge und Psychomotoriker Bernard Aucouturier, der den Körperkontakt zwischen Bezugsperson und Kind als essentiell not­ wendig erachtet. Er beurteilt die Bedeutung der Haut wie folgt: »Die Haut als […] Kontaktorgan stellt die Grenze des Ichs zu seiner Umwelt dar«.105 Durch die Berührung des anderen erlebt das Kind gleichzeitig sich und den anderen. Dabei ist die ungeteilte Gegenwart des Körpers erforderlich. Beide Körper müssen im selben Raum zur selben Zeit anwesend sein.106 Erst später kann der Kontakt auch aus der Distanz hergestellt werden durch Blick, Stimme und Geste. Wenn man im Ernst nicht bestreiten kann, dass Haut- und Körperkontakt eine existenzielle Rolle für die Genese der Person spielen, dann könnte ein differenzierter Blick in leibphänomenologi­ sche Konzepte womöglich doch eine Erklärung hervorbringen, welche Rolle die Haut bei der Einleibung spielt.

6. Die Berührung als Element der leiblichen Kommunikation Leibliche Kommunikation vollzieht sich im Antagonismus von Engung (Druck, Anspannung) und Weitung (Gelöstheit, Entspan­ nung), welche als extreme Pole zu verstehen sind, zwischen denen sich in unterschiedlicher Intensität das eigene Befinden abspielt und durch das die eigene Präsenz bewusst wird.107 Für das Verständnis leiblicher Kommunikation ist die Vorstellung wesentlich, dass sich das Spüren nicht auf den eigenen Leib beschränkt, sondern über diesen hinaus­ greift. Wahrnehmender und Wahrgenommenes vereinigen sich zu einem übergeordneten Gebilde.108 Die Fähigkeit, zwischen höchster Anspannung und tiefer Gelassenheit hin und her wechseln zu kön­ nen, zeigt die Lebendigkeit einer Person. Die Enge als spezifische Konzentration, Anspannung des Körpers und Intonation der Stimme oszilliert als Engepol in Intervallen zwischen den Interaktionspart­ nern. Dabei wird die Dominanz leiblich über Blick, Mimik, Gestik 104 105 106 107 108

Vgl. Thomas Fuchs in diesem Band. Anders/Weddemar 2002: 123. ebd.: 122. Schmitz 2019d: 23ff., Wolf 2019a: 31. Schmitz 2019d: 34f., Merleau-Ponty 1966.

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und Haltung verhandelt. Subtile Gesten der Zustimmung, Abneigung oder Indifferenz bilden den Faden, der das Gespräch am Laufen hält.109 In der Interaktion bildet sich eine dialogische Spannung: Alter stellt eine Frage, mit der sie in Engung einen bestimmten Habitus, eine spezifische Betonung, eine öffnende oder schließende Geste in die Interaktion einbringt, die leiblich auf Ego wirkt und sie mehr oder weniger affektiv betroffen macht, Befindlichkeiten und Reaktionen erweckt oder auch Schweigen.110 Einleibung ist die Grundlage der Wahrnehmung, durch die Wechselprozesse zwischen Subjekten erst möglich werden.111 Nun ist zu untersuchen, wie Berührung der Haut oder der Körperkontakt im Kontext der leiblichen Kommunikation und der wechselseitigen Einleibung verortet werden kann. In dem Band »Die Wahrnehmung« des Gesamtwerkes „System der Philosophie“ geht Hermann Schmitz im Zusammenhang mit der leiblichen Kommuni­ kation zunächst auf die Begriffe Suggestion und Suggestor ein. Er greift dazu das Konzept der Suggestion von Erwin Straus auf, das die Möglichkeit eines Wir-Gefühls oder eines Gemeinschaftserlebnisses ursächlich in der Suggestion begründet sieht.112 »Jede Äußerung ist zunächst Kundgabe«.113 Das heißt, eine Person muss sich bemerkbar machen durch eine Kundgabe, eine Äußerung, die keineswegs an Worte gebunden ist. »Auf dem Fungieren der einzelnen Äußerung als Kundgabe baut sich die Suggestion auf«.114 Es handelt sich also um eine anregende Aktion des Kundgebers, um den Empfänger der Kundgabe zu mobilisieren. Pflanz geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet die Suggestion als Grundvollzug zwischenmenschlicher Beziehung. »Die Bejahung oder Verneinung der fremden Person fundiert die Suggestionserscheinungen […]«.115 Damit wäre die Sug­ gestion als eine Aktivierung eines Grundvollzuges zwischenmensch­ licher Beziehung zu verstehen, die eine Ich-Du-Beziehung zwischen Personen begründet. Schmitz schreibt Personen als Suggestoren eine

109 110 111 112 113 114 115

Wolf 2017: 543. Wolf 2019b: 71. Schmitz 2007a. Schmitz 2019b: 76. Straus 1925: 25. ebd.: 37. Pflanz 1958: 71f.

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hohe Bedeutung zu, wie sie mit dem Blick, der Stimme, einer Bewe­ gung, etc. andere beeindrucken und fesseln können.116 Folgender entscheidender leiblicher Vorgang, der bei der Sugges­ tion stattfindet, kann nun aber weiter helfen, um die Bedeutung von taktiler Berührung zu erhellen. Schmitz beschreibt, wie der Kontakt zwischen Ich und Du aktiviert wird, indem »die nur annähernde Abspaltung der Enge von der Weite« des Betroffenen durch einen Reiz dem Suggestor die Gelegenheit gibt, »die Enge seines Leibes an die Stelle dieser abgespaltenen Enge zu setzen«.117 Das heißt, eine Person wird durch eine überraschende Annäherung, etwa ein Ansprechen oder ein Antippen auf den Arm aus der Mitte zwischen Enge und Weite gebracht. Doch statt selbst in Engung zu geraten, füllt quasi der Suggestor mit der Suggestion die Enge des Betroffenen auf und nimmt mit der eigenen Enge diesen Raum ein. Das heißt, ein Blick, ein Wort oder eine Berührung drängen sich in die leibliche Ökonomie des Anderen hinein und der »unterworfene Leib« übernimmt quasi diese untergeschobenen Enge.118 Ein Beispiel wäre ein Kind, das über die Straße laufen will und im letzten Moment von der Hand eines Erwachsenen gepackt wird und vor dem Auto weggezogen wird. Es lässt sich nun bereitwillig führen, weil die Engung der anderen Person sich über die eigene Engung des Schrecks geschoben hat. Aber auch ein Blick kann diese Wirkung erzielen, indem eine sich in der Warteschlange der Mensa vordrängelnde Studentin mit einem mahnenden Blick ans Ende der Reihe gedrängt wird. Die Wirkung der Suggestion führt Schmitz vor allem auf Bewe­ gungssuggestionen und Gestaltverläufe zurück, die eine Reaktion des Gegenübers vorzeichnen. Diese können durch Blicke, Gesten, Stim­ men, Geräusche, Worte und Bewegungen verursacht werden. Doch dies setzt im Grunde bereits ein symbolisches Verständnis voraus, das aus der Entfernung Richtungen und Bedeutungskontexte erschließen kann.119 Das ist jedoch bei einem Neugeborenen kaum vorhanden. Hier erscheint es evident, dass die wichtigste Suggestion gerade die taktile Einleibung darstellt, wie sie Hermann Schmitz am Beispiel des Händeschüttelns beschreibt. Dabei kommt der Assimilation der

116 117 118 119

Schmitz 2019b: 78. ebd.: 80. ebd.: 80. Anders/Weddemar 2002: 125.

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taktilen Einleibung eine besondere Rolle zu.120 Dies bedeutet, dass ein Hautkontakt immer eine Reaktion hervorruft. Anders als beim Händeschütteln, das eine rituelle Handlung darstellt, die in ihrem Vollzug bereits vorgezeichnet ist, gestalten sich die ersten Berührun­ gen zwischen Mutter und Kind eher vorsichtig, suchend, forschend. Die Hand der Mutter berührt die Wange und an der Reaktion des Säuglings spürt sie, ob der Druck zu grob, zu fein oder genau richtig war. Die Intensität, Dauer und der Ort der Berührung müssen erst zwischen Bezugsperson und Kind ausgehandelt werden und so spielt sich von Mal zu Mal eine Anpassung der Bewegungen ein. Es handelt sich um eine »synchrone Abstimmung«,121 die in der frühen Kindheit als taktile Berührung erfolgt. Mit zunehmendem Alter wird die Inter­ aktion dann auf symbolische Kommunikationsformen wie Gesten, Blicke, Mimik und Worte erweitert. Bei der taktilen Einleibung entsteht ein übergeordnetes Gebilde, das leiblich als Einheit erfahren wird, der Körperkontakt des Sugges­ tors bildet hier jedoch die Voraussetzung für das wechselseitige Emp­ finden, da der Säugling auf die Berührung angewiesen ist, bevor er andere Suggestionen deuten kann. Doch diese Bedeutung der taktilen Einleibung betrifft nicht nur Neugeborene, sondern auch Personen in personaler Regression (z. B. in einer psychosozialen Krise) oder ältere Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Auch hier kann es notwendig sein, dass jemand den Engepol (durch Körperkontakt) mit einer Suggestion übernimmt, um die Person von der Enge in Richtung Weite zu führen.122 An dieser Stelle ist zu klären, welche Bedeutung die Haut bei der taktilen Einleibung einnimmt. Plausibel scheint die Erklärung Schmitz`, dass die leibliche Erfahrung der wechselseitigen Sugges­ tion durch Synchronisation der Bewegungen zu einem kurzfristigen Erleben eines »Zusammenwachsens« der beiden Partner führt.123 Diese Erfahrung kann als leiblich eingestuft werden, da sie dem eigenleiblichen Spüren entspringt. Die Berührung selbst aber, etwa die Berührung der Lippen des Säuglings an der Brust der Mutter oder das leichte Klopfen des kindlichen Rückens nach dem Stillen, dehnt sich mindestens auf den körperlichen Leib aus. Gerade der Mund und 120 121 122 123

Schmitz 2019d: 33. ebd.: 34f. Wolf 2017: 550. Schmitz 2019d: 34f.

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die Brust der Mutter sind in der Stillsituation sensible Hautzonen und Leibesinseln, die wesentlich zu dem Empfinden der Verbundenheit beitragen. An anderer Stelle erwägt Schmitz die Möglichkeit, dass geistige oder physische Kräfte durch den Körper auch an Erwachsene übermittelt werden können: Durch das Ergreifen der Hand kann »ein beruhigender Einfluss« ausgeübt, »eine Verminderung der Angst« und ein größeres Sicherheitsgefühl« ausgelöst werden.124 Doch das spürende Empfinden an Leibesinseln und das Wahrnehmen von Nervenreizungen schließen sich nicht aus, sondern können im Sinne der Diskussion (Kapitel 5) als verschränkte Wechselwirkung betrach­ tet werden.125 Daher erscheint es als evident, dass die Haut des Menschen, über welche die Suggestion zur Einleibung vermittelt wird, als Membran zwischen Körper und Leib verstanden werden kann. Wie bei einem Vexierbild ist die Haut gleichzeitig Begrenzung des Körpers und eine erfahrbare Insel des Leibes. Sie ist Spürsinn und das Vermögen, zu spüren.126 Warum sollte bei so fundamentalen Vorgängen wie dem Stillen nicht auch die Sensibilität der Haut als Sinnesorgan relevant sein, welche dann als Leibesinsel leiblich empfunden werden kann? Die strikte Trennung zwischen Körper und Leib scheint dort nicht sinnvoll, wo wesentliche Lebensvollzüge erklärt werden, die am Körper erfahren werden und dennoch leibliche Erfahrungen auslösen. Daher lautet der Vorschlag an dieser Stelle, die Haut als verbindende Membran zwischen Leib und Körper gelten zu lassen, ganz im Sinne Plessners, bei dem die Grenze des belebten Körpers diesem selbst angehört.127 Lebensäußerungen lassen sich nicht in leibliche und physiologische Anteile zerlegen (höchstens analytisch), sondern sind immer Zustände eines Lebewesens.128 Leib­ lichkeit als Kommunikation ist nicht als Abgrenzen eines Innen von einem Außen zu denken.129 Dennoch kann sich zwischen zwei Personen auch ein affektives Berühren ohne Körperkontakt vollziehen. Die Leiblichkeit wird dann nicht nur vom einzelnen Subjekt gespürt als Ich und Du, sondern die Leiber greifen sozusagen in wechselseitiger »Einleibung« ineinander 124 125 126 127 128 129

ebd.: 35. Plessner 1975, Fuchs 2013, Soentgen 2017, Lindemann 2017. Fuchs 2013: 99. Plessner 1975: 103. Fuchs 2013: 104. Andermann 2017: 33.

194 https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

Warum bist Du so ungehalten? Über die Verzweiflung, unberührt zu sein

und bilden vorübergehend einen übergreifenden Leib aus.130 Beispiel­ haft beschreibt Schmitz hier die Kraft der Blicke, wie sie als »labile Konkurrenz leiblicher Engung und Weitung«, die »zwischen den Partnern ein Hin und Her der Gewichtsverteilung, ein Schwanken der Dominanzrolle und fesselnden Kraft mit sich bringt, wobei jeder Partner probend und erleidend an seiner eigenen Engung oder Wei­ tung das Maß der korrelativen Impulse des Anderen nimmt und die Anregung, die er diesem gegeben hat in eigenem Betroffensein zurück­ empfängt«.131

Hier kann die Einleibung ganz ohne physikalischen Kontakt auskom­ men und dennoch schaffen es die Partner diese synchrone Wechsel­ seitigkeit der Blicke – eine »Berührung« im übertragenen Sinne – herzustellen, gleichgültig ob diese liebevoll, aggressiv, zärtlich oder schroff ausfallen mag. In solch intensiver Einleibung kann sogar eine Aufwertung des Subjektes durch das Gegenüber geschehen. In der Zuwendung in der Partnerschaft der Einleibung kann eine »Subjekt­ verdoppelung« erfolgen, bei der »die Fortsetzung einer schon im einzelnen Leib angelegten Zuwendung« zu einer Verdoppelung führt und durch die dialogische Grundstruktur »aus dem bloßen leiblichen Befinden« sich eine Begegnung oder Berührung ereignet.132 Diese Form der sublimierten Berührung wird mit zunehmendem Alter bedeutsam, wenn unter dem Vorzeichen der Zivilisation die Unter­ drückung primärer Bedürfnisse gesellschaftlich gefordert ist und die Berührung nicht mehr als adäquates Verhalten akzeptiert ist.133 Über große Distanz kann in Brieffreundschaften, Internet-Chats und Videobotschaften diese Form von sublimierter Berührung ausge­ tauscht werden. Dennoch kann taktile Begegnung nicht vollständig durch distanzierte Formen emotionaler Berührung ersetzt werden. Die Berührung auf der Grundlage von Hautkontakt soll deshalb an dieser Stelle als wichtiger Sonderfall gelten, bei dem Berührendes und Berührtes in direkte Verbindung treten und eine unmittelbare Berührung mit der Körperoberfläche voraussetzen.134 Dabei findet Berühren nicht nur an der Oberfläche statt, sondern sie dringt tiefer ein und bedeutet »ein Betreten fremder Räume, ein Öffnen und Auf­ 130 131 132 133 134

Schmitz 2019d: 34f. ebd.: 27. Schmitz 2019d: 29. Elias 1986: 382. Katz 1969: 17ff.

195 https://doi.org/10.5771/9783495997758 .

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schließen«.135 Die Haut bildet eine Kontaktzone zwischen Eigen- und Fremdwelt und kann als Kontaktmedium aufgefasst werden zwischen Menschen und Welt.136 Die betroffenen Leibesinseln geben Auskunft darüber, wie die Berührung wahrgenommen wurde. Insgesamt kann also die taktile Berührung als eine bedeutsame Form von Einleibung verstanden werden, der besonders in Phasen der personalen Regres­ sion eine hohe Bedeutung zukommt.

7. Fazit Für die menschliche Entwicklung sind Körperkontakt und Berührung wesentliche Voraussetzungen, ohne die ein Mensch nicht zur Person werden kann. Die Zivilisation der Moderne zwingt zwar den einzel­ nen, immer stärker zu Selbstregulierung, Trieb- und Affektregulie­ rung zu kommen, um am Zusammenleben teilhaben zu können, doch bei der taktilen Stimulation sind hier Grenzen gesetzt.137 In Kinder­ tageseinrichtungen und Schulen wird zunehmend von Kindern und Jugendlichen mit »verhaltensoriginellen Tendenzen« gesprochen. Die Lebensbedingungen in der globalisierten, digitalisierten Welt sind nicht immer so gestaltet, dass Kinder optimale Bedingungen des Aufwachsens finden. Ein Aspekt davon stellt sicher die mangelnde Möglichkeit dar, Halt zu finden in unterschiedlichen, altersangemes­ senen Berührungen. Eltern sind häufig beruflich stark eingebunden und haben weniger Zeit, sich zuzuwenden oder Kinder auch mal in den Arm zunehmen. Der Studie »Familie und Zeit« zufolge ver­ bringen Eltern durchschnittlich nur noch 1:20h am Tag mit ihrem Kind,138 wobei hier Mahlzeiten, zu Bett bringen, usw. inbegriffen sind. Kinder können diesen Mangel nicht immer kompensieren und reagieren ungehalten, wenn sie mit anderen Kindern interagieren, wenn sie Leistung zeigen, sich konzentrieren sollen, wenn sie über­ fordert sind. In gewisser Weise werden auch Verhaltensweisen wie Hyperaktivität, Aggression, Unruhe, Übersensibilität, Vulnerabilität durch fehlende Berührung verstärkt. Gleichzeitig verbringen Kinder immer mehr Zeit in Organisationen der Bildung und Erziehung. 135 136 137 138

Waldenfels 1992: 82. Bienstein/Schnell 2004: 220. Elias 1986: 382. FaFo 2016: 13.

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Warum bist Du so ungehalten? Über die Verzweiflung, unberührt zu sein

In pädagogischen Institutionen wird Körperkontakt zunehmend mit Argwohn betrachtet, weil sich Fachkräfte rasch dem Verdacht sexueller Grenzüberschreitung schuldig machen, wenn sie Kinder umarmen, auf den Schoß nehmen, auf die Schulter klopfen. So kommt es auch hier zu einer Reduktion von Berührung. Die Pandemie zwischen 2020 und 2022 hat ebenfalls dazu beigetragen, dass Menschen soziale Distanz übten und Berührung geradezu als gefährlich einstuften. Die wechselseitige Einleibung mit anderen in gemeinsamen Situa­ tionen und gerade auch die taktile Einleibung bleiben jedoch eine notwendige Bedingung menschlichen Zusammenlebens.139 Daher sollte die Neue Phänomenologie nicht nur die sublimierten Formen der leiblichen Kommunikation untersuchen und in den Vordergrund stellen, sondern auch der taktilen Einleibung und insbesondere der Haut als Leibesinsel und sensitives Medium des lebendigen Organis­ mus Beachtung schenken. Denn »Leiblichkeit ist kein Raum innerer Natur und Ursprünglichkeit, seine leibliche Existenzweise macht den Menschen vielmehr höchst anpassungsfähig und offen«,140 gerade auch für Empfindungen, Einflüsse, Ansprüche und Berührung, die von außen an ihn gerichtet werden.

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Rudolf Gaßenhuber

Wär nicht das Auge sonnenhaft … – Vollständige Relationalität als Leitfaden von Psychotherapie

Unsere Sprache verleitet uns dazu, Handlungen und Widerfahrnisse strikt voneinander zu trennen. Tatsächlich sind beide fast unentwirr­ bar miteinander verschränkt (Teil 1). Ich werde durch etwas erfreut (pathisch) und ebenso freue ich mich (aktiv) über etwas Erfreuliches (aktiv-pathisch). Meine Freude ist mitgeprägt oder auch verschattet von meinen Assoziationen, Deutungen und Gefühlsmustern (Teil 2). Psychotherapie hat in meinem Verständnis die Aufgabe, die in jedem Ereignis, in jeder Wahrnehmung oder Handlung bereitliegende voll­ ständige Relationalität von Aktivem und Pathischem wieder freizule­ gen und dieses Zwischen, das Aktiv-pathische selbst wieder erlebbar werden zu lassen. Wenn es gelingt, werden Gegenwärtigkeit und echte Gegenwart wieder möglich (Teil 3 und 4).

1. Generelle Verschränkung von aktiv und pathisch Vorwegnehmend sei gesagt, »pathisch« meint nicht passiv oder tot, sondern eine aktive Rezeptivität, eine Kraft und Gelassenheit, sich bewegen zu lassen. Aktiv und pathisch sind all unsere Lebensäußerun­ gen. Aktiv und pathisch ist z. B. unser Handeln dann, wenn es nicht nur einseitig eingreift, sondern sich auch von seinem Gegenstand mehr oder weniger stark affizieren lässt. Aktiv und pathisch z. B. ist unser Wahrnehmen dann, wenn es nicht nur begreift und einordnet, sondern auch angesprochen werden kann. Ob vollständig oder einseitig, Relationalität ist, ganz allgemein gesehen, ein grundlegendes Strukturprinzip in einem relationalen Weltverständnis. Das Hauptaugenmerk liegt dabei nicht auf Substan­ zen, Dingen, Personen oder Ideen, sondern auf Beziehungen und Wechselwirkungen. In unserer phänomenalen Wirklichkeit »sind«

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demnach reife Kirschen nicht »an sich« rot, sondern sie zeigen sich rot im Zusammenspiel mit Licht und anderen Kontextbedingungen. In einem relationalen Verständnis von Psychotherapie sind Glück und Leid, Freude und Hoffnungslosigkeit keine für sich bestehenden Zustände, sondern Ausdruck eines Beziehungsgeschehens von gelin­ genden oder misslingenden Wechselwirkungen. Der Vorteil dieses Blicks besteht in einer Neigung zur Verzeitlichung und Kontextuali­ sierung von Phänomenen. Der Schmerz, die Störung kann sich mor­ gen oder in einem anderen Licht schon anders zeigen und auf einen Ausweg oder Heilungsansatz hinweisen. Dieses andere Licht verweist in der Regel, allgemein und nochmal vorwegnehmend gesprochen, auf die Ahnung einer möglichen Übereinstimmung oder neuen Kon­ kordanz von Aktivem und Pathischen. Relationalität ist nicht nur für Störungen bestimmend, sondern für unser gesamtes Dasein. Das, was wir, gemeinhin und so leicht dahin, Person, Gefühl oder Geist nennen, entpuppt sich bei genaue­ rem Hinsehen auch als aktuelle Frucht intersubjektiver Handlungen, als Resultat eines inneren, zwischenmenschlichen und zwischenwelt­ lichen Geschehens, als gegenwärtiger Sinn gemeinsamer Projekte. Eine Person beispielsweise entsteht und entwickelt sich wesentlich auch in Interaktion mit anderen und durch die Intersubjektivität mit anderen. Schon ein Embryo ist einerseits ein eigenes Wesen, ein eigener Organismus und er wäre ein Nichts ohne Plazenta und Fruchtblase. Dieses Grundverhältnis von partieller Autarkie und Autonomie einerseits, existenzieller Abhängigkeit und Bezogenheit andererseits, bleibt bestimmend in unserem ganzen weiteren Leben. Wenn wir von Beziehungsgeschehen sprechen, sprechen wir immer auch von partieller Autarkie und partieller Interaktivität. All unser Handeln und sei es noch so kraftvoll und selbstgewiss ist gleichzeitig ein Erleiden, ein Widerfahren, ist dem Dialog sei es von Mensch und Natur, von Mensch und Mensch oder Mensch und Technik ausgesetzt oder eingefügt. Wer sich anfangs als Handelnder fühlte, kann zum Getriebenen werden und zum Opfer der Verhältnisse. Aber auch im erfolgreichen Ausgang ist die Tat gelungen, weil sie glückte, weil nichts dazwischenkam, weil die Umstände günstig waren. Der Erfolgreiche freut sich über den glücklichen Ausgang, es gelang, das Schicksal war gnädig. Tatsächlich ist ein Handelnder fortwährend ein Beschenkter. In der Wechselwirkung von Handeln und Umständen haben sich Aktion und Passion tatsächlich bereits immer schon ver­ schwistert, auch wenn sie nicht als solche wahrgenommen werden.

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Vollständige Relationalität als Leitfaden von Psychotherapie

Zusammenfassend kann man sagen, in einem relationalen Welt­ verständnis sind aktives und pathisches immer und überall miteinan­ der kaum entwirrbar verflochten. Wir sind Akteure und Beschenkte oder Sich-mühende und Scheiternde. In jedem aufmerksamen Zuhö­ ren ist ein Sprechen, jedes Zu-jemandem-sprechen ist auch ein Zuhö­ ren, jedes wirkliche Sehen ein Darstellen, jedes lebendige Berühren ist auch ein Berührtwerden und jeweils umgekehrt. Sozialpsychologisch betrachtet handelt es sich um das Verhältnis von Selbstbehauptung und Zugehörigkeit. Wir tragen konfligierende Bedürfnisse in uns: wir wollen und müssen ein Individuum, ein eige­ ner Wille sein und wir wollen ein Teil einer Gruppe, eines größeren Ganzen sein. Zeitlebens sind wir damit beschäftigt, diese zwei Seiten unseres Selbst in Einklang zu bringen, d. h. beide Bedürfnisse zu entfalten und leben zu lassen. Bei psychischen Störungen ist diese Balance nicht gut gelungen. In der Kindheit oder späteren traumatischen Erfahrungen wurden hier Gefühlswege gebahnt, die für die aktuelle Situation des Patienten nicht optimal sind und seinem Glück im Wege stehen. Das Aktive und das Pathische, Selbstbehauptung und Zugehörigkeit arbeiten nicht Hand in Hand, sondern eher antipodisch. Es droht das tragische Dilemma von einsamer Sicherheit einerseits und bedrohlicher Sozia­ lität und angstmachender Welt andererseits. Relationalität kann ihre Vollständigkeit ganz verlieren.

2. Verschränkung von »Wirklichkeit« und »Konstruktion« Auf dem Feld der Wahrnehmungspsychologie begegnen wir der Ver­ schränkung von Pathischem und Aktivität als Ineinander von Wahr­ nehmung und eigener Deutung, eigener emotionaler Interpretation, eigener Konstruktion. Wenn in der Balance von Wirklichkeit und Konstruktion das Konstruktive überhandnimmt, verliert der Mensch seine Beziehungsfähigkeit, seine Möglichkeiten eines unbefangenen Kontakts mit seinem Gegenüber, mit seiner jeweiligen Situation. Im Strudel seiner alten Erinnerungen, im Bann seiner Gefühlsmuster, als Gefangener seines Kopfkinos, hat die Fähigkeit des Klienten – oft auch nur in bestimmten Bereichen der Wirklichkeit – zu gegenwärtiger Resonanz mehr oder weniger großen Schaden genommen. Genau genommen ist Gegenwart durch alte Gefühle, Erinnerungen und Gedanken oft so verdünnt oder ganz überlagert, dass man sagen

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kann, es gibt keine Gegenwart mehr. Worin aber besteht eine Gegen­ wartserfahrung? Ich meine, in einer »vollständigen Relationalität von aktiv und pathisch«, beide Pole sind auf gelungene Art und Weise so verschränkt, dass die Relation selbst erlebbar wird. Die etwas sperrige Formulierung hat den Vorzug, dass sie auf verschiedene Felder anwendbar ist: auf Handeln und Erleiden, auf Selbstbehauptung und soziale Verbundenheit, auf Wahrnehmung und Realität, auf Freiheit und Schicksal, auf Spontaneität und Gesetz und dergleichen mehr. In allen Fällen tritt etwas Individuelles im günstigen Fall in das Verhält­ nis einer Vieleinheit mit einem größeren Ganzen. Vollständig ist die wechselwirkende Bezogenheit oder Relationalität dann, wenn keine der beiden Seiten in den Vordergrund tritt, keine in ein Plus oder Minus gerät, sodass vielmehr beide als ein Ineinander, ein Zwischen erlebbar werden. Dazu gehört auch – das mag jetzt irritieren – dass der Ursprung der Situation nicht voll zu Bewusstsein kommt. Das Bewusstsein, jedenfalls das wache analytische Bewusstsein, ist eine Kraft, die das Gegenwartserleben, die einfache Unmittelbarkeit, aus­ setzt und unterbricht. Die Relationalität verschiebt sich dabei hin zum Subjektpol. Gegenwart zeigt sich jedoch in Unmittelbarkeit, manch­ mal Versunkenheit und in vollständiger, ausgeglichener Relationali­ tät. Zwei Beispiele mögen das Verhältnis erläutern. Das erste Beispiel schildert eine freudvolle Alltagsszene.

2.1 Beispiel: ein Frühlingsgefühl Gestern, Ende Dezember am Mittag eines kalten Wintertages sitze ich auf einer Bank an einer nach Süden gewandten Hauswand. Die Sonne bescheint mich überraschend angenehm warm. Und auf einmal werde ich von einem »Frühlingsgefühl« erfasst, ein Gefühlsraum öffnet sich, mitten im Winter, »Frühlingsgefühle« sind da, auch für andere um mich, ich werde angelächelt, man kann sagen »der Frühling« zeigt sich ein wenig, die warme Wintersonne, sie ergreift die Menschen. Ein leichtes, kleines Glück durchzieht die Situation und die friedliche Atmosphäre, die uns in diesem Naturereignis aufnimmt. Wir werden umfangen und wir stimmen zu, lächeln, freuen uns. Wir antworten in Einigkeit. Genau besehen waren das Frühlingsgefühl und auch die Atmo­ sphäre plötzlich da. So als wäre beides Eins, die Atmosphäre und

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Vollständige Relationalität als Leitfaden von Psychotherapie

das Gefühl. Insofern ist das Gefühl nichts Inneres oder Subjektives, sondern, worauf Hermann Schmitz immer wieder hinweisen wollte, mit der Atmosphäre selbst gegeben. Inneres und Äußeres erscheinen ungeschieden als eins. Das, was wir fühlen, scheint die Atmosphäre selbst, die Welt selbst zu sein in ihrem Fühlen und es gibt hier nicht den abtrennenden und abgründigen Unterschied von Subjektivität und einer fremden gegenüberseienden Welt. Bei Goethe findet sich das Gedicht1: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt es nie erblicken; Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken?«

Die Sonne ist nach diesen Zeilen nicht nur außerhalb von uns, sondern immer schon auch in uns. Unser Auge, unser Gesichtssinn, ist son­ nenhaft, es kann das Helle sehen und in unser Bewusstsein aufneh­ men. Das äußere Helle ist auch innen in einem eigenen inneren Licht. In der Empfindung der Situation ist anfangs beides ungeschieden, es ist hell-und-etwas-warm, noch ganz ungeschieden nach hell und warm und auch nicht nach innen und außen. Was wir hier empfinden können2 ist nicht unsere Konstruktion, sondern ist die Atmosphäre, Goethe 1948: 17–27 Das hier beschriebene Einheitserleben wird in unserer Kultur gewöhnlich über­ sprungen, man knüpft nicht groß daran an. Im Allgemeinen beziehen wir uns nicht auf diese uranfängliche Einheit, sondern auf nachträgliche Deutungen. Goethe etwa erlebt zwar eine »unmittelbare Verwandtschaft«, wie er schreibt (ebd.), eine Einheit von Licht und Auge, von Atmosphäre und »innerem Licht« ist ihm jedoch etwas, das er sich an dieser Stelle nur »denken« kann: »Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes und des Auges wird niemand leugnen, aber sich beide zugleich als eins und dasselbe zu denken, hat mehr Schwierigkeit.« (ebd.) – Ganz am Subjektpol siedelt sich eine Deutung des Gedichts durch Gernot Böhme an. Die Sonne und ihr Licht ermöglichen demnach dem Menschen, seine Identität als wahrnehmendes Wesen zu leben. Böhme versteht das Gedicht als »Selbsterfahrung des Naturseins«: »Im Sinn des Auges erfahre ich das Licht als etwas, dessen ich bedarf, um als Wahrnehmender wirklich zu sein.« (Böhme 1997: 29) – Solcherart nachträgliche Gedanken sind Überschüsse und setzen schon Distanznahme voraus. Das Erleben macht Angebote, die hier abgelehnt werden. Zu dieser Ablehnung ein Beispiel aus einem Aufsatz über Naturwahrnehmung von Hartmut Böhme: »Oder meine Traurigkeit findet sich – und das wäre inmitten dieses Gefühls, ein Moment des Glücks – in vollkommener Übereinstimmung mit der Umgebung: es ist genau dieses leise Geräusch langsam fallenden Regens auf den Blättern, was zu meiner Trauer hier jetzt paßt; darin scheint sich alles andere, Laute, Farben und Regungen, aufgelöst zu haben; dies spürt man ebenso wie bewußt ist, daß dies ein Schein ist.« (Böhme 1995: 7) Ein »Moment des 1

2

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die Atmosphäre als diese Einheit, die wir nachträglich in Realität und Rezeption aufspalten können. Die Anfangserfahrung aber lässt uns eine Einheit erleben. Das ist eine tröstlich verbindende Sicht, wie sie in der Romantik und der deutschen Klassik nicht unüblich war. Ich komme darauf zurück. Eine derart zustimmende freudige Antwort ist nun aber keines­ wegs zwingend oder selbstverständlich, sondern an seelische Voraus­ setzungen geknüpft. Eine gewisse Fähigkeit zur Selbstvergessenheit und Versunkenheit ist vonnöten. So ist z. B. speziell der Frühling von depressiven Menschen oft besonders schwer zu ertragen. Sie sehen die Freude und das Lebensglück der Anderen, das Flirren und Flirten der Verliebten, sind aber selbst davon um so deutlicher ausgeschlossen. Sie können hier nicht Mitschwingen und wenn sie es tun, wird der Kontrast zur eigenen Verfassung schmerzhaft deutlich. Psychotherapie ist ein Versuch, genau diese verschlossene oder eingefrorene Antwortmöglichkeit zu sich selbst, anderen und ande­ rem wieder zu öffnen oder aufzutauen. Wenn es gelingt, ist das Spiel von pathischem Ergriffenwerden und aktiver Freude, von Lächeln und Angelachtwerden wieder eröffnet. Das Auftauen eingefrore­ ner Gefühls- und Antwortmöglichkeiten kann überwältigend und schmerzhaft sein. Wenn man es behutsam angeht, muss das nicht der Fall sein. Das folgende dramatische Beispiel soll nicht Angst vor einer Therapie aufbauen. Es soll deutlich machen, dass Atmosphären, auch starke Atmosphären auf ebenso starke Widerstände, Ängste und Bedrohtheitsgefühle treffen können, die ein Mitgehen, ein Gesche­ henlassen zunächst gänzlich unmöglich machen.

2.2 Beispiel: eine große Trauer Das Beispiel schildert das extreme Schicksal des 16-jährigen Mäd­ chens Hannah, einen Fall von völligem Gegenwartsverlust durch Überflutung mit Emotionen aus der Vergangenheit, die plötzlich wieder Gegenwart werden. Glücks« wird als Schein wieder abgetan. Man spürt eine Strenge des Gedankens, die einen Grund liefert, zur Trauer zurückzukehren, das Glücksgefühl wird nicht weiter angenommen. Ich will in diesem Text versuchen, solche ersten Gefühle ernst zu nehmen und sie sogar als Wegweiser dafür nehmen, wo vielleicht das Glück zu suchen wäre.

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Vollständige Relationalität als Leitfaden von Psychotherapie

»Hannah hat Angst vor Menschen. Ihr WG-Zimmer hat sie im letzten Jahr selten verlassen. Sie hasst es, berührt zu werden. Dennoch trägt sich am zweiten Tag des Trekkings [im Rahmen einer Pferdetherapie] Folgendes zu: Es ist Abend, ein Tag voll langer Schatten und gleißen­ dem Sonnenlicht neigt sich dem Ende zu, alle sind erschöpft. Die Jugendlichen sollen nochmals nach den Pferden sehen und Futter vorbereiten. Tamino, Hannahs Pferd, steht mit gesenktem Kopf vor ihr. Plötzlich ergreift Tamino die Initiative und streckt seine Nase in die ausgebreiteten Arme der jungen Frau. Er lehnt seine Stirn gegen ihre Brust und blubbert sanft warme Luft aus seinen Nüstern, so dass ein hörbares Geräusch entsteht. Hannah springt zurück, Entsetzen in ihren Augen. Den ganzen Tag hat sie durchgehalten – wegen ihm. Sie ist neben ihm gewandert, hat ihn geführt und sich schaukelnd von ihm durch die Landschaft tragen lassen. Sie hat sich ihm anvertraut. Und nun, in dieser besonderen Umarmung schnaubt er ihr an den Bauch? Tamino tritt wieder näher an sie heran. Er hält dem Entsetzen stand und bleibt Hannah nahe. Da legt Hannah schluchzend ihre Arme um seinen Kopf. Ihr Gesicht sinkt zwischen seine Ohren. Tamino seufzt hörbar. Die junge Frau schluchzt in die Mähne des Pferdes. Ihr feingliedriger Körper bebt. Ich komme näher, überrascht, dass Hannah so viel Kontakt sucht und erträgt. Ich frage sie, ob ich meine Hand auf ihren Rücken legen darf. Hannah nickt still. Ihr Atem wird ruhiger. Tamino löst seinen Kopf aus ihrer Umklammerung und bläst in ihr verweintes Gesicht.,Es war grauenvoll‘, sagt Hannah ganz leise. ›Es war grauenvoll. Er hat mir eine SMS geschrieben, ich solle kommen. Es hat gebrummt in meiner Hand. Ich habe gewusst, es war schlecht, aber ich bin zu ihm in die Wohnung gefahren. Und da hing er, braun im Gesicht. Er hing einfach von der Decke.‹ Wieder schluchzt sie so, dass man sie nicht mehr verstehen kann, murmelt weiter und sinkt dann sanft zu Boden. Zu Füßen eines starken Pferdes, das sie zu tragen vermag. Hannah beginnt zu trauern, beginnt, die Geschichte ihres eigenen Lebens zu erzählen. In einem Stall, fernab der Welt, die sie so ent­ täuscht hat, auf einer erlebnispädagogischen Trekkingtour, die der Start ihrer traumatherapeutischen Behandlung werden soll.«3

Das Anschnauben des Pferdes an ihrem Bauch wird anscheinend assoziiert mit dem Brummen des Handys in ihrer Hand. Mit dem Brummen begann der Höhepunkt des Unglücks. Der, der sie jahrelang missbrauchte, rief sie zu sich, um ihn dann erhängt in seiner Wohnung vorzufinden. Ein schreckliches Ende. Das arme Mädchen kommt

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Hediger/Zink 2017: 13 f.

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schließlich in die Hände von Menschen, die ihm helfen wollen und alles wendet sich vielleicht zum Besseren. Ich berichte von dieser fürchterlichen Geschichte, um deutlich zu machen, welche enormen und vollkommen unwiderstehlichen Kräfte von Assoziationen ausgehen können, wenn sie mit unbewältigten Erfahrungen und Traumen verbunden sind. Die eigentliche konkrete Wirklichkeit, die Abendsonne, das beruhigende Anschnauben des Pferdes, existieren für Hannah nicht mehr. Ihr wird ihr vergangenes Unglück zur alles überwältigenden Gegenwart, alles um sie herum verschwindet. – Ähnliches geschieht jedem in milder Form täglich. Wir sind abwesend, wir sind nicht hier, sondern drehen uns in Gedan­ ken und Tagträumen oder mit offenen Rechnungen und Problemen in einem Gedankenkarussell, das sich kaum bändigen lässt. Menschen sind in gewisser Weise Sklaven ihrer Gefühle und Gedanken, sie drängen sich Ihnen auf und halten Sie vom Wahrnehmen fern. Beden­ kenswert ist dabei, dass schon unsere allerersten Gefühlsreflexe beim Auftauchen einer Situation diese selten unbefangen beantworten, sondern durch verletzende Erfahrungen stärker oder milder mitge­ prägt bis konditioniert sind. Vor einer ungetrübten Resonanz und Empathie mit einer Situation hängt ein mehr oder weniger dichter Schleier aus alten Prägungen. Ein Erleben gegenwärtiger Wirklichkeit ist deshalb nicht selbstverständlich gegeben. Eine größere Eröffnung dieser Erfahrungswelt ist an – wie soll man es nennen – die Bedingung seelischer Freiheit geknüpft. Der Weg dahin führt oftmals über die Bearbeitung und Heilung alter, bisher nur notdürftig verkapselter und kompensierter Wunden und Defizite. Die Schleier können sich auflösen und der Grundton des Lebens kann fruchtvoller und rei­ cher werden.4

3. Wirklichkeit als Hand in Hand von Aktion und Passion Was macht nun genau den Unterschied der beiden Beispiele, der Wintersonne und der Abendstimmung aus? Im zweiten Beispiel sehen wir einen Bruch, einen Einbruch einer anderen Wirklichkeit, 4 Dieser Satz hieß ursprünglich, ganz unreflektiert formuliert: »Die Schleier können sich lichten und der Grundton des Lebens kann heller und reicher werden.« Ein schönes Beispiel für unsere/meine platonisch-christliche Prägung, für die das Gute immer hell und oben ist. Ich danke Reinhard Bögle für diese konkrete Neubewertung des »Unten«.

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der wie ein Dämon in die Szene fährt und sie absolut beherrscht. Die Abendstimmung kann nicht mehr erlebt werden, das Mädchen ist generell zu positiven Gefühlen kaum mehr in der Lage. Allgemein kann man sagen, jede Berührung durch eine Atmo­ sphäre lässt zu, dass etwas eine Antwort, ein Gefühl in uns wachruft, das selbst einerseits klar und deutlich und andererseits dennoch geheimnishaft ist. Etwas emotional Deutliches, aber zumindest ratio­ nal Diffuses setzt uns in Schwingung. Was ist das, wodurch unser Gefühl evoziert wird, worauf antworten wir mit einer Gestimmtheit? Unsere Stimmung ist offensichtlich in Resonanz mit etwas, das zugleich klar präsent und geheimnisvoll ist. Nun fällt auf, dass auch wir selbst, wir Menschen wie alle Lebewesen, zugleich klar präsent und geheimnisvoll, zugleich explizit und implizit, zugleich latent und manifest sind. Sind wir etwa struk­ turgleich mit einer Abendstimmung, gleich, wie sie und verschieden? Ist das der Grund für ein Glücksgefühl, wenn zwei Andere-aberauch-Gleiche in Übereinstimmung geraten? Goethe und die deutsche Philosophie der Einheit, der so genannte Deutsche Idealismus, haben es auf je verschiedene Weise so gesehen: Es gibt einen Einklang, es gibt ein tiefes Einverständnis, es wird immer wieder zu einer guten Einheit kommen. Wir müssen es nicht so genau wissen, wir müssen dem nicht zustimmen. Für unsere therapeutische Absicht genügt das Modell einer Wechselwirkung von Ungleichen-Gleichen, einer Begegnung zweier Wesen. Ist die Abendstimmung ein Weltwesen, wie wir Lebewesen sind? Gibt es hier wirklich eine Wechselwirkung, haben wir Menschen auch eine Rückwirkung auf die Abendstimmung, ändern wir sie, wenn wir mitfühlen, wenn wir tanzen und singen? So genau müssen wir das, wie gesagt, nicht beantworten. Therapeutisch gesehen genügt es, wenn wir die Frage oder wenigstens die Fragerich­ tung zulassen: Ist all unser Handeln und Wahrnehmen kein bloßes Tun, sondern eine Begegnung mit Anderem und Anderen? Wenn wir diese Frage offen lassen, ist jedenfalls nicht mehr von vornherein klar, dass die Welt fremd, kalt und tot ist. Es ist dann vielleicht auch nicht mehr so sicher, dass die anderen Menschen bedrohlich sind und nur Misstrauen verdienen. Und es ist vielleicht nicht mehr unbedingt abgemacht, dass wir selbst schlecht und wertlos sind und weder Respekt, noch Mitgefühl, noch Glück verdienen. Posi­ tiv formuliert zeigt sich hier, dass die Konkordanz von Aktivem und Pathischen, dass eine gelingende Begegnung zumindest im sozialen

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Feld an eine positive Voreinstellung gebunden ist: Hier begegnen sich zwei Ungleich-Gleiche, zwei Wesen wie ich, die es wert sind und verdienen miteinander in Beziehung zu treten. Allgemein gesagt, ist es möglicherweise so, dass ein Einheitserleben immer eine Art Begegnung zweier Wesen ist, dass Einheit nur möglich ist, wenn mir etwas zumindest Strukturähnliches begegnet, mit dem Einheit geschehen kann. Im zweiten Beispiel, dem Pferd in der Abendsonne, sind sol­ che Fragen und Einstellungen ganz und gar nicht zugelassen. Hier herrscht äußerste Gewalt bis hin zu leiblich-seelischer Vernichtung, bis hin zu realem Selbstmord. Hier geht es um Leben und Tod oder darüber hinaus, es hat sich der Verlauf schon für den Tod entschieden. Auch das Opfer ist psychisch kaum mehr ansprechbar, kaum mehr ins Leben zurückzuholen. In einer Welt der Vernichtung, der Depression und des Todes gibt es keine Frühlingsstimmung. Eine neue Öffnung setzt voraus, dass Flashbacks durch eine Bearbei­ tung der traumatischen Ereignisse zurückgehen, dass ihre emotionale Aufladung abnimmt, dass insgesamt verzerrende Prägungen und Voreinstellungen gelöster werden. Wenn wir dann die vorhin gestellte Frage – Ist all unser Handeln und Wahrnehmen kein bloßes Tun, sondern eine Begegnung mit Anderem und Anderen? – zulassen können, ist das möglicherweise wie eine Tür, die sich zu einer neuen Welt der Beziehungen und Relationen hin öffnet, einer Welt, der wir nicht mehr nur gegenüber­ stehen, sondern von der wir ein lebendiger, interagierender Teil sind. Wenn sich also zwei Verschiedene und Auch-gleiche aktiv-pathisch die Hand reichen, möchte man fragen, dann resultiert daraus Freude und Glück? Ja, das wird passieren, wenn es gelingt, wenn es passt und stimmig ist. Dazu ein Beispiel, das sicher viele auf ihre Art kennen und schon erlebt haben.

Beispiel: Anfänger auf dem Eis »An einem Winterabend gehen ein junger Mann und eine junge Frau zum ersten Mal miteinander aus. Sie kennen sich kaum. Ihr Weg führt an einer hell erleuchteten Schlittschuhbahn vorbei, und sie beschließen spontan, Eislaufen zu gehen. Keiner der beiden ist ein sonderlich guter Läufer. Sie leihen Schlittschuhe aus, stolpern auf die Eisfläche und vollführen einen unbeholfenen Tanz. Sie fällt beinahe auf den Po. Er

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hält sie fest, bis sie wieder sicher auf den Beinen steht. Dann verliert er das Gleichgewicht und droht auf die rechte Seite zu fallen. Sie streckt eine Hand aus, und er ergreift sie. [...] Vorübergehend gelingt es ihnen immer wieder, gemeinsam voran zu kommen, wobei sie sich an der Hand halten, so dass von der Hand und dem Arm des einen zahllose, plötzliche Muskelkontraktionen zur Hand und zum Arm des anderen übertragen werden, dank deren sie zusammen bleiben, das Gleichgewicht halten und sich fortbewegen können. Immer wieder brechen Sie in Gelächter aus, halten die Luft an, stolpern oder fallen hin. [...] Jeder von Ihnen hat das Erleben des anderen zum Teil unmittelbar miterlebt. Jeder ist durch eine Serie gemeinsamer Gefühlsreisen in den Körper, ins Denken und Fühlen des Anderen hineinversetzt worden. Sie haben ein implizites intersubjektives Feld erzeugt, das als Teil ihrer kurzen gemeinsamen Geschichte überdauert.«5

Die beiden gleiten Hand in Hand, stürzen fast und halten sich gegenseitig gerade noch. Das Halten geschieht großenteils reflexhaft, präverbal und vorbewusst. Ihre Körper sind über ihre Hände, Arme, über gegenseitige Einleibung und über das gemeinsame Laufen und Gleiten auf dem Eis in einer Art Vieleinheit verbunden; Vieleinheit deshalb, weil sie eine Einheit bilden und dennoch zwei eigene Indi­ viduen bleiben. Ihr Projekt auf dem Eis besteht darin, sich als zwei Individuen zu vereinen, als Paar ihren körperlichen Reflexen zu vertrauen, sie zugleich zu erkunden und weiter fortzubilden. Im Beinahesturz kommt schlagartig zu Bewusstsein, dass sie Körper sind, dass sie Anfänger sind, dass sie stürzen können und sie in diesem Fall nicht tatsächlich hingefallen sind. Das ist lustig. Stolpern ist lustig, das Stürzenkönnen ist angedeutet, wurde aber spielerisch aufgefangen. Beide freuen sich und lachen, es ging noch mal gut. Wenn einer tatsächlich hinfällt, prüft man kurz, ob es schlimm ist, und wenn nicht, hat man auch dann Grund zum Lachen, es ging noch mal gut, er hat sich nicht verletzt. Es bestätigt sich, Eislaufen ist nicht allzu gefährlich, wir und unsere Reflexe können das gut meistern. Wir kommen in dieser Welt zurecht, recht und schlecht vielleicht, aber es geht. Wir stolpern dahin und haben viel Freude. Das Lachen darüber, dass jemand stolpert, wurde traditionell so gedeutet, dass sich darin unsere Personalität doch über unsere Kreatürlichkeit behauptet hat. Dem Lachen sei ein Triumph beige­ mischt meinen manche, Th. Hobbes etwa oder auch H. Plessner und H. Schmitz. Das ist die Lesart in der Richtung des Erhabenen, 5

Stern 2005: 180 f.

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des Sieges der Kultur über die Natur. Ich kann das gut nachvollzie­ hen. Alles dreht sich dann um ein fragiles Selbstgefühl, dass in der Selbstbehauptung Stärkung und Angstabbau erfährt. Gespielt wird in diesem Fall vornehmlich auf einer inneren Klaviatur. Wenn jedoch die Wertschätzung von sich und Welt weniger fragil ist, wenn weniger Angst herrscht und im Inneren mehr Ruhe und Zutrauen ist, könnte die ganze Szene selbst ungestörter wirken. In einem Stolpern oder einem harmlosen Fallen könnten wir dann auch die pathische Seite der Situation erleben, dass die Welt Fehler verzeiht, dass wir zwar fallen aber dennoch aufgefangen werden, von einem Mitmenschen oder der Erde selbst. Unser Fallen ist nicht abgründig, es ist spielerisch und wir haben allen Grund zur Freude. Das ungestörte Wirken der Szene selbst mag durchaus etwas Seltenes sein, es bezeichnet die Essenz, auf die ich mit diesem Artikel hinweisen will. Hier liegt der dünne goldene Faden der Freude in der Welt, der sich durch unsere Kulturgeschichte zieht. Die Freude bleibt hier offensichtlich in der Welt, sie geschieht in einem Hin-und-Her von Fahren-Stolpern-Gehaltenwerden. Aktivität, Widerfahrnis und Passion gehen auf eine glückliche Art und Weise Ineinander, so dass wir lachen und uns freuen. Es ist dies weniger eine stolze Freude über uns, über unser Können, unseren Sieg, es ist vielmehr eine heitere, verspielte Freude und vielleicht auch eine leichte Berührung von einem Ganzen, von dem wir ein Teil sein dürfen.

4. Über die verbundene Freude Sehen wir uns, zum Schluss, auch noch einmal die Eingangsszene der Freude über die Sonne im Winter an und versuchen dann diese beiden Glücksmomente, das Schlittschuhlaufen und die Frühlingsstimmung miteinander zu vergleichen und ihr Gemeinsames zu finden. Zunächst die Frühlingsstimmung. Wenn ich mich in die im zwei­ ten Abschnitt oben geschilderte Situation der »Frühlingsstimmung« im Dezember hineinversetze und sie genauer untersuche, bin ich irritiert und muss entdecken, dass das darin herrschende Weltbild6 6 Jede Stimmung ist mit einem eigenen emotional-räumlichen Weltentwurf verbun­ den. Für die Angst beispielsweise ist die Welt dunkel, eng, bedrohlich; es herrscht ein Impuls, sich in ein Eck zu flüchten. In der Freude färbt sich die Welt hell, weit und bunt; außer in der stillen Freude herrscht der Impuls, sich auszuweiten und anzustecken.

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ein ganz anderes ist als unser klassisch-modernes wissenschaftliches Weltbild und auch ein ganz anderes als unsere überlieferten geo­ zentrischen Weltbilder aus Ägypten oder unserer Antike. Die Welt meiner Frühlingsstimmung könnte man so skizzieren:

Das Weltbild des Gegenüber-seins

Was ich mit diesem Bild versuche, ist mein emotional-räumliches Empfinden in einer Grafik zu skizzieren. Es ist ein Versuch eines Weltbilds, das wieder besser mit unserem tatsächlichen jeweils gegen­ wärtigen Empfinden übereinstimmt. Um mich hier verständlich zu machen, muss ich etwas ausholen. Die Weltbilder, die wir kennen, sind stark von Gedanken, Symbolen und später von Wahrnehmungsinstrumenten geprägt und haben sich, historisch gesehen, von einem unmittelbareren Bild der Welt immer weiter entfernt – hin zu religiösen Sinngebungen, hin zu modernen Erklärungen und jedenfalls Distanz schaffend gegen­ über dem unmittelbaren Empfinden. So gesehen ist das Weltbild des Gegenüberseins, das ich hier skizziere, auch der Versuch einer erinnernden Restauration. Unser heutiges Weltbild hat sich von unserem Empfinden äußerst weit entfernt. Die Erde ist nicht mehr feststehend, sondern kippt, z. B. beim Betrachten eines Sonnenuntergangs nach hinten, wir leben nicht auf einer Erdfläche, sondern auf einer nicht unmittelbar sichtbaren Kugel und das früher feste Himmelsgewölbe wird, durch

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den Blick durch Fernrohre und Teleskope, ersetzt durch eine unendlich tiefe und riesige Ansammlung von Sternen und Galaxien. Die geschichtlich darunter liegenden Weltbilder der basalen Erde, umwölbt von einem Himmelsgewölbe, entsprechen schon eher unserem Erleben. Im Alten Ägypten ist es die Himmelsgöttin Nut, die – über dem unten liegenden Erdgott Geb – mit ihrem Körper das Himmelsgewölbe bildet, durch den jeden Tag die Sonne wandert. Später findet sich dann oft ein Hügel, eine Erdscheibe umwölbt von einer festen Himmelssphäre, an der die Sterne befestigt sind. Wenn wir die ursprünglich mit dem Sichtbaren identische religiöse Symbolik einmal beiseite lassen, entsprechen diese Bilder schon viel eher unserem Erleben als unsere modernen Bilder. Stellen wir uns auf einen freien Hügel, schauen wir rundum, so sehen wir die Erde als gewölbte Scheibe. Ebenso sehen wir das Himmelsgewölbe, bei Tag oder bei sternenklarer Nacht, wenn wir uns bei freier Sicht rundum drehen und schauen. Es muss beides stattfinden: wir nehmen wahr und wir drehen uns im Kreis und bilden uns dabei eine Vorstellung. Diese Bilder sind also eine Mischung aus Erlebtem und gezielter, geführter Rundumbewegung. Wir schauen den Horizont entlang und im Kreis in einer Halbkugel herum und fügen alles in unserem bekannten Bild der Erdscheibe, umwölbt von einem sternenübersäten Firmament zusammen. Noch näher an unserem Erleben und vielleicht auch geschichtlich unter dem antiken Bild, ist ein Bild der Welt, das sich dem Erleben aussetzt, dessen Beobachter sich nicht im Kreis dreht, sondern dem Erleben stellt, das Weltbild des Gegenüberseins. Wir schauen durch kein Fernrohr, wir drehen uns nicht im Kreis, sondern wir stellen uns dem, was uns jetzt begegnet. Dazu müssen wir uns setzen, stehen bleiben oder entspannt bewegen; wir müssen unsere aktive Seite entspannen und unsere pathische Seite aufwachen lassen. Wie zeigt sich dann die Welt? Im Falle der obigen Abbildung und der damals empfundenen Stimmung, erlebe ich eine Verbundenheit zur Wintersonne hin, dargestellt durch einen Bogen auf der Sonnen­ seite. Der konkave, höhlenförmige Bogen ist gemeint als Zeichen der Geborgenheit und Verbundenheit. Auch hinter mir, hinter der abgebildeten Person ist ein Bogen, ein Gefühl des Urvertrauens, der rückwärtigen Geborgenheit, des angstfreien Rückens. Mein Erleben ist also bestimmt von der bezaubernden Begegnung der Wintersonne vorne und ihrem überraschend warmen Scheinen und einem warmen, sicheren rückwärtigen Bereich. Die Wellen in der Bildmitte sollen die

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erlebbare Wärme wenigstens andeuten. Der Mensch dieses Erlebens dreht sich nicht angstvoll, kontrollierend im Kreis, er lässt ein Hinten zu, was erst eine Begegnung vorne ermöglicht. Die beiden Bögen sind oben nicht geschlossen, es gibt in diesem Erleben eigentlich kein Oben, sondern es herrscht eine wesentlich horizontale Ausrichtung nach vorne, gestützt von einer rückwärti­ gen, gelassenen Sicherheit. – Die beiden Bögen sind ungleich groß gezeichnet. Ich kann dazu nur sagen, so fühlt es sich an; in der aktu­ ellen Unmittelbarkeit ist die vordere Bindung manifest und größer, die hintere bleibt latent und kleiner. Ich meine aber, das muss nicht in jedem Fall so sein. Allgemein kann man lediglich sagen, besteht die horizontale und gerichtete Räumlichkeit dieses Erlebens in einer Affektation von vorne und einer rückwärtigen Sicherheit. Ich bin auf eine im Wesentlichen horizontale Weise inkludiert und – das kommt hinzu – ich bin zugleich in Opposition, ich bin gegenüber und bleibe nicht ohne Antwort, die Sonne spricht mich an, soll heißen, affiziert mich, berührt mich. So bin ich zwar wie im antiken Weltbild innerhalb eines Ganzen und Teil eines Ganzen, das mich umfängt und auch in vielerlei Hinsicht zu mir passt, wie ich zu ihm. Dieses Umfangende und Bergende ist kein goldener, alles umstrahlender Hintergrund, wie in mittelalterlichen Ikonen, sondern durchaus prosaisch sichtbar und unmittelbar spürbar – und zwar in einer Welt, der ich auch gegenüber bin. Mein Gegenübersein ist allerdings auch nicht das unserer Moderne, ich stehe keineswegs als großes Ich nur einer fremden Welt gegenüber, ohne auch ihr Teil, ihr auch beschützter und willkommener Teil, zu sein. Links in der Abbildung der geschilderten Winterszene stehe ich also als Mensch innerhalb einer Winterwelt und zugleich bin ich einer Wintersonne und Winterwelt, rechts, gegenüber. Ich bin ein Teil der Winterwelt und bin ihr zugleich gegenüber. Die Winteratmosphäre umfängt mich vollständig, meine Kleider sind kalt, mein Atem ist sichtbar, ich spüre die Kälte in meinen Händen und im Gesicht. Gleichzeitig empfinde ich eine winterliche Atmosphäre, mit Raureif, einer schlafenden Natur und einem beson­ ders milden Sonnenlicht. Die Atmosphäre umhüllt mich, ich bin in ihr wie ein Fisch im Wasser. Mein Körperinneres ist warm, und ich weiß genau, diese Wärme ist in der übergroßen Winterwelt eine im Grunde fragile Besonderheit. Ich bin also wieder ein partiell und vorübergehend anderer, warmer Leib in dieser kalten Jahreszeit. Dies alles ist in der Szene implizites Wissen, ist mir unterschwellig klar.

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Deutlich aber bin ich, trotz all dieser Eingebundenheit, einer Szene gegenüber, ich empfinde die Atmosphäre, sehe den Himmel, den Fluss dort, die Stadt drüben, sehe die Sonne, ich spüre die Wärme. Und in mir ist nun – und ich meine genau in diesem Ineinander von Teilsein und Gegenübersein – diese Freude, die mich damit ein zweites Mal mit der Szene verbindet. Es ist mir, als wäre die Freude der Lohn und der Trost des Gegenüberseins. Die Freude bindet mich erneut, sie ist in meiner Brust und gleichzeitig ist sie die Szene, der kalte Himmel, in dem eine wärmende Sonne scheint. Meine Freude ist wie die wärmende Sonne, da ist auf jeden Fall eine Ähnlichkeit, wenn nicht sogar eine Gleichheit. Jedenfalls herrscht Übereinstimmung zwischen der Szene und meinem Gefühl. – Das sind freilich alles nachträgliche Gedanken und Nachempfindungen; in der Wirklichkeit sind Freude und Frühlingsstimmung in ihrem Ursprung mit einem Schlag da und aus einem Guss. Ist mein Gefühl der wirkende Ausdruck der Szene? Oder finde ich umgekehrt mein projiziertes Gefühl in der Szene nur wieder? Diese Problematisierungen reflektieren die Szene auf religiöse und auf moderne, kritische Weise. Die Freude verflüchtigt sich mit beiden Reflexionen. In meinem Erleben ist es weder so noch so. Am ehesten kann ich sagen, in meiner Freude empfinde ich eine klares und auch geheimnisvolles Gegenübersein, wie in einer Begegnung. Da ist ganz deutlich das Gefühl einer Übereinstimmung, wie in einer Verständigung, obwohl das ›Wesen‹ Sonne7 eine andere Art von ›Wesen‹ ist wie ein Mensch. Mit anderen Worten, meine Freude hängt nicht als bloße Projektion in der Luft und wird auch nicht von etwas ganz anderem in mir hervorgerufen. Das wären nachträgliche 7 Eine derartige Empfindungs- und Deutungsweise gilt in unserer an den Naturwis­ senschaften orientierten Zivilisation als mythisch, animistisch und gänzlich überwun­ den. Aber interessanterweise kommt auch die Phänomenologie immer wieder an den Rand dieser Auffassungen. Für Hermann Schmitz beispielsweise ist das Wesen der Nacht zwar kein personaler Partner, aber dennoch »einem solchen vergleichbar«, wir erleben ein »wie partnerschaftliches Betroffensein«. Der Übergang zu einer Personifikation ist nicht mehr weit. – Ich plädiere dafür, ihn nicht zugehen, aber auch dafür, ihn nicht abzureissen, sondern zugänglich und in der Schwebe zu halten. – Man muß konstatieren, dass die mythische und die phänomenologische Auffassung hier nahe beieinander liegen. So auch Gernot Böhme: »Der Glaube an den Mythos mag verloren sein und die Konventionen allegorischer Darstellung verblaßt. Und doch können wir nach der phänomenologischen Analyse sagen, daß sie geeignet waren, einen bestimmten Grundzug des Atmosphärischen als Gegenständen vom Typ Halbding zu artikulieren.« (Alle Zitate in Böhme 2001: 68).

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Erklärungsversuche, die meinem Erleben nicht entsprechen. Das Empfinden einer Art Verständigung ist sehr deutlich. Und es ist dieses Gefühl der Verständigung zwischen mir und diesem zauberhaften Weltmoment, der mich, in diesem Moment, in der Welt zuhause sein lässt, als Teil von ihr und als getrenntes Gegenüber. Das Glück beim geschilderten Schlittschuhlaufen liegt ebenso in diesem Dazwischen von trennend und inkludierend, ein Stolpern und doch Gehaltenwerden, ein Fallen und doch nicht in einen Abgrund fallen, eine Freude über die Freundlichkeit der Welt, die uns zustößt. Wir handeln etwas riskant und eine kleine Rettung widerfährt uns, ungefragt und überraschend. Hier überschneidet sich die Situation mit der beschriebenen Frühlingsstimmung: In beiden Fällen geschieht uns etwas überraschend und unerwartet. Wir beteiligen uns an einer Situation und mit uns8 geschieht etwas. Anders gesagt, wir sind in der Gegenwart angekommen. Gegenwart ist wechselwirken­ des Gegenübersein mit Anderem und Anderen, Angesprochenwer­ den und Antworten »im Strom der Wechselwirkung«9. Auch in seiner Wortherkunft hatte ›Gegenwart‹ ursprünglich diese Bedeutung des Gegenüberseins.10 8 Gernot Böhme hat für die Bedeutung von Wir und Uns oder Ich und Mir treffende Formulierungen gefunden: »Tiefer und ursprünglicher als das Ich erweist sich das ›Mir‹. [...] Das Mir ist im Unterschied zum Ich relational: mir fällt etwas ein, mir ist kalt. Im Mir erfahren wir uns im Ursprung schon in Zusammenhang mit anderem. [...] Mit dem Mir [...] gelingt eine Überwindung der Entgegensetzung von Aktiv und Passiv, von Tun und Erleiden. Die Dialektik von Ich und Mir zeigt, daß denken heißt: sich etwas einfallen lassen, und handeln: sich auf etwas einlassen.« (Böhme 1986: 236 f.) Und leben heißt, so könnten wir fortfahren: die Möglichkeit von Freude nicht von vornherein ausschließen. 9 Buber 1997: 33. 10 Das Wörterbuch Kluge schreibt zum Stichwort Gegenwart: „ [...] althochdeutsch gaganwertig ›gegenwärtig anwesend‹. Eigentlich ›gegenüber seiend‹.« (Kluge 1999: 306). – Darüberhinaus ist ein grundlegender historischer Wandel der Zeitauffassung für uns bedenkenswert. Im Begriffswandel von ›Gegenwart‹ als Gegenüber zugewendet hin zu bloßer Anwesenheit und gar hin zu einem etwas gedehnten Zeitpunkt in einem chronologischen Zeitverständnis scheint sich etwas Grundlegendes anzuzeigen, etwas Distanzschaffendes und Gegenwart verringerndes. Der Theologe Simon-Martin Schäfer schreibt über das frühere Zeitempfinden: »Für den Menschen zur Zeit des Paulus spielt die Gegenwart eine weit bedeutendere Rolle als für den modernen Men­ schen [...]« und im antiken Gegenwartsbegriff „ [...] gilt auch als gegenwärtig, was zwar vergangen, aber immer noch erfahrbar ist, und das, was zukünftig ist, insofern es bereits absehbar ist. Als vergangen gilt das nicht mehr Erfahrbare und als zukünftig das (noch) nicht Einsehbare.« (Schäfer 2018: 52 f.) Gegenwart scheint hier die Gesamtheit des Wirkenden, die ganze Wirklichkeit zu umfassen. Das, was uns Heu­

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Das, was uns nun geschieht ist zwar ein säkulares Geschehen, aber seine Quelle bleibt geheimnisvoll. Wieso sind wir eben nicht gefallen? Wieso kommt in diesem Moment Freude in mir auf? Hier­ über verfügen wir nicht, es bleibt geheimnisvoll. Sicher scheint ledig­ lich, dass Freude über pathische Momente an seelische Bedingungen geknüpft ist wie Resonanzfähigkeit. Um in Resonanz zu geraten, um wie ein Stimmkörper angestoßen werden zu können, darf unser Selbst nicht zu starr (und auch nicht zu fluid) sein und muss die Gelassenheit (und auch die Stabilität) besitzen, sich einem Geschehen überlassen zu können. Mitfühlen, Mitschwingen und Empathie aufbringen, das sind im Grunde aktive Bilder, Tätigkeitsbegriffe für etwas Nichtaktives, für ein Ergriffenwerden, ein pathisches Moment, eine Empfänglich­ keit. Welche Voraussetzungen hat diese Empfänglichkeit? Wenn sie fehlt, wird die Welt – im depressiven Formenkreis von Störungen – grau, bedeutungsindifferent und wir bleiben gefühllos. Das geschieht regelmäßig in tiefen Erschöpfungszuständen (Burnout), bei großem Stress, Schock oder durch Traumen. Unsere Seele scheint dann über­ lastet zu sein, wie erschlagen mit allem, nicht mehr die Kraft für weitere Lebenszeichen zu besitzen. Man sieht, das Pathische ist nicht bloß passiv, sondern eine innere Kraft des Geschehenlassens und potenziellen Angesprochenwerdens. Das Pathische ist aber auch nicht ›aktiv‹ im Sinne des Handelns, sondern eher im Sinne einer aktiven Rezeptivität, einer nicht stillgelegten Empfänglichkeit. Diese Empfänglichkeit wiederum meint kein bloßes, passives Empfangen, sondern eine Bereitschaft zu antwortendem Aufnehmen, eine »leben­ dige Empfänglichkeit« (Schleiermacher). Auch in Goethes Gedicht trifft die äußere Sonne auf ein inneres Licht. Und erst durch beide wird die Welt bunt und bedeutsam. Eine Voraussetzung von Empfänglichkeit ist demnach eine pathi­ sche Lebenskraft, eine pathische Aktivität. Wir spüren sie, anders als unsere Muskelkraft und unsere Selbstwirksamkeit, als Grundton von Freude am Leben, als Lebenslust und Lebensenergie. Unsere pathi­ sche Lebenskraft äußert sich in einer grundsätzlichen Bereitschaft für das, was da kommen mag, in unserer Neugier und Fähigkeit, uns an etwas zu freuen und etwas gern und mit Lust und Liebe zu tun. Von der Seite der Depression her gesehen, ist es im Grunde genau tigen gegenwärtig ist, scheint dagegen sehr wenig zu sein und sich zudem laufend zu entziehen.

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»diese Fähigkeit, uns an etwas zu freuen, die uns leben läßt« (Riemann 1981: 125). Unsere Vitalität hat also zwei Äste, einen aktiven und einen pathischen. Der pathische Zweig ist eine eigene vitale Energie und es kommt darauf an, beide Äste gedeihen zu lassen und es zuzulas­ sen, dass sie sich zuweilen verbinden und aus einer Einheit heraus wirken können. Wenn die Verbindung dann geschieht, geschieht sie oft plötzlich und unerwartet; überraschenderweise werden die Schlittschuhfahrer im letzten Moment gerade noch gehalten; plötzlich und unerwartet ist die Frühlingsatmosphäre da. Wir setzen uns einer Situation aus und es kann etwas Überraschendes mit uns geschehen, plötzlich und unerwartet. In einer Welt der verbundenen Freude bin ›ich‹ für solche Widerfahrnisse offen, sie kommen mir gelegen, mein Unbewußtes, mein Leib, meine tieferen Einstellungen der Welt gegenüber sind dafür bereit. Das Weltbild der verbundenen Freude ist in unserer Tradition nicht dominant kulturbildend geworden.11 Psychotherapie versucht den­ noch, den goldenen Faden der Lebensfreude mit dem Klienten wieder zu finden und unter dem Schutt von Isolation und Angst wieder daran anzuknüpfen, was wir alle als Kinder, selbst wenn wir es nicht mehr wissen, schon einmal erlebt oder zumindest erhofft haben: den offenen und vertrauensvollen Blick in die Welt.

Literaturverzeichnis Böhme, Gernot: Über eine notwendige Veränderung im europäischen Denken, in: ders., Philosophieren mit Kant, Frankfurt am Main 1986. Böhme, Gernot/Schiemann, Gregor (Hg.): Phänomenologie der Natur, Frank­ furt am Main 1997.

Eher, kann man sagen, zieht sich die verbundene Freude wie ein goldener dünner Faden durch die Geschichte und die Biographien. Goethe hat mit seinem Gedicht – Wär nicht das Auge sonnenhaft – über die grundlegende Gleichheit bei aller Verschiedenheit eine Äußerung von Plotin übertragen. Weiter zurück findet sich der Gedanke bei Empedokles, bei Platon und schon in der altindischen Philosophie Samkhya. Den Hauptstrang unserer europäischen Geschichte bildet jedoch nicht die verbundene Freude, sondern Grundstimmungen wie das Erhabene, Triumphalische (Überlegenheit des Geistes über Sinnlichkeit und Natur) und die Angst (Ungeborgen­ heit und Sicherheitsdenken), siehe dazu auch Gaßenhuber/Kozljanič 2018. Neben der Angst und dem Triumph, führt die verbundene Freude ein Nischendasein. 11

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Rudolf Gaßenhuber

Böhme, Gernot: Aisthetik, Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrneh­ mungslehre, München 2001. Böhme, Hartmut: Materialismus oder Konstruktivismus in der Naturästhetik: Eine falsche Alternative – aus der Sicht der Goethezeit, in: M. Großheim (Hg.), Leib und Gefühl. Berlin 1995: 129–140. Buber, Martin: Ich und Du, in: ders., Das Dialogische Prinzip, Heidelberg 1997. Gaßenhuber, Rudolf: Herzsinn und Weltangst, Philosophisch-psychologische Essays, München 2018. Gaßenhuber, Rudolf/Kozljanič, Robert J.: Auf der Suche nach der verlorenen Lebendigkeit, Natur, Herrschaft, Herzsinn – Vom langen Weg zur Natur­ freundschaft. Ein Briefdialog, Augsburg 2018. Goethe, Johann Wolfgang: Einleitung zur Farbenlehre, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Bd. 1–24 und Erg.-Bde. 1–3, Bd. 16, Zürich 1948 ff. Hediger, Karin/Zink, Roswitha: Pferdegestützte Traumatherapie, Mün­ chen 2017. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold, 23. erw. Aufl., Berlin, New York 1999. Riemann, Fritz: Die Kunst des Alterns: Reifen und Loslassen, Stuttgart 1981. Schäfer, Simon-Martin: Gegenwart in Relation, Eine Studie zur präsentischen Eschatologie bei Paulus ausgehend von Römer 5–8, Göttingen 2018. Stern, Daniel N.: Der Gegenwartsmoment, Veränderungsprozesse in Psychoana­ lyse, Psychotherapie und Alltag, Frankfurt am Main 2005.

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Charlotte Uzarewicz

Auf die Situation kommt es an – Beziehung und Berührung in der Pflege

»Von Lebensbeginn an sind wir an andere gebunden und in verschiedene Horizonte des Einanderberührens, -erlebens und -naheseins gestellt.«1

1. Einleitung: Über Berührung und Beziehung Der Titel ist eigentlich tautologisch, denn jede Beziehung berührt und jede Berührung drückt eine bestimmte Art von Beziehung aus. Diesem Verhältnis von Beziehung und Berührung kommt man mit Schmitzʼ Situationstheorie näher, was ich im Folgenden an Hand eines Praxisbeispiels aus der Pflege darlegen möchte. Dass diese beiden Konzepte (Berührung und Beziehung) irgendwie zusam­ menhängen, wird in der Rede von Pflege als Beziehungs- und Berührungsberuf deutlich. Auch Lindemann (2020) spricht in ihrer gesellschaftlichen Makroanalyse ganz selbstverständlich von Berüh­ rungsbeziehungen. Rebecca Böhme (2019) berichtet über Kuschel­ partys, bei denen sich fremde Menschen näher kommen und kör­ perlich berühren können. Das zeigt, welchen zentralen Stellenwert Berührung im Kontext von Beziehung hat. »Die erste Interaktion mit einem anderen Menschen, die jeder von uns erlebt, verläuft über Berührung.«2 Damit wird auch das Verhältnis von Körperlichkeit, Leiblichkeit und Sozialität angesprochen. Betrachtet man die Eintei­ lung der Sinne aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive, so wird auch hier der Tastsinn von einem »inneren Sinn« unterschieden. Bei 1 2

Gahlings 2016: 115. Böhme 2019: 7.

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Charlotte Uzarewicz

letzterem geht es um die »Wahrnehmung des Inneren«3. So weiß man, dass das »langsame Streicheln der Haut […] von speziellen Nervenfasern wahrgenommen und in einem anderen Bereich im Rückenmark verarbeitet [wird] als der Tastsinn.«4 Der Körper hat also verschiedene organische Strukturen, einmal für die Erforschung der Umwelt, die mittels spezifischer Rezeptoren, den A-Fasern, die den Tastsinn als aktiven Sinn ausmachen und uns Oberflächenstruk­ turen, Vibrationen etc. erkennen lassen. Zum anderen gibt es die C-Fasern, das sind Hautrezeptoren für die Selbstwahrnehmung (mir ist kalt oder warm, ich habe Schmerzen). Hier unterscheidet man noch die C-taktilen Fasern, die für eine ganz bestimmte Art der Berührung zuständig sind: das Streicheln.5 Auch ohne gründliche Kenntnisse über diese anatomischen Gegebenheiten, wissen wir um den Unterschied von Streicheln, Reiben, Rubbeln, Klopfen etc. D. h. der Körper selbst verweist mit seinen anatomischen Strukturen auf die Leiblichkeit, auf das leibliche und das soziale Selbst.6 Da wir Menschen keine singulären Monaden sind, sondern immer schon eingebettet in soziale Situationen, möchte ich die Situationen näher betrachten. Aus diesen erwachsen Beziehungen, die uns wiederum in verschiedenen Intensitäten berühren. Um diese Triade (Situation, Beziehung, Berührung) soll es im Folgenden gehen. Was eine Beziehung ist und wann sie uns berührt, ist eine Frage, die ebenso theoretisch schwierig wie alltagsrelevant ist; denn wir kommen ohne einander nicht aus. Besonders deutlich wird das in den so genannten »personenbezogenen Dienstleistungsberufen«, in deren Ausbildungskanons Vokabeln wie Wertschätzung, Achtsam­ keit, Empathie etc. durchbuchstabiert werden – alles unter einer normativ »guten«, weil als »richtig« geltenden Brille. Wenn mich jedoch ein Mensch »bis aufs Blut« reizt, so dass ich vor Wut fast explodiere, geht mir das sehr nahe und ich bin berührt – auch von dieser Beziehung. Ebenso gehen Phänomene wie Scham oder Ekel »unter die Haut«, sie berühren einen auch ohne taktilen Kontakt. Berührung hat eine körperlich-sinnliche Ebene, wenn es darum geht, jemanden oder etwas anzufassen und eine affektive Ebene, wenn ebd.: 8. ebd.: 8. 5 »Optimal ist eine Berührung bei etwa 32 Grad Celsius – dies entspricht etwa der Temperatur unserer Fingerspitzen – und mit einer Geschwindigkeit von ein bis zehn Zentimetern pro Sekunde.« (Böhme 2019: 22, 21–22) 6 Böhme 2019: 8, 25. 3

4

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Auf die Situation kommt es an – Beziehung und Berührung in der Pflege

mich z. B. ein Gedicht oder ein Musikstück berührt. Beide Ebenen kondensieren auf der leiblichen Ebene, als leibliche Kommunikation und leibliche Regung; es ist eine gespürte Bewegung mit Richtung und Rhythmus – ein Hin und Her, eben »rührend«. Mein Praxisfeld sind die Pflegeberufe, und hier »menschelt« es gewaltig. Pflege berührt permanent (fremde) Körper, das bringt der Job mit sich. Was Pflegende dabei leiblich berühren und wie sie berührt werden, steht auf einem anderen Blatt und wird nie bzw. sehr selten thematisiert. Diese Differenzen von körperlicher und leiblicher Berührung werden jedoch in der Art und Weise der Beziehung der Menschen widergespiegelt7, was wir gemeinhin als Sympathie oder Antipathie klassifizieren, als professionelle Distanz bezeichnen, oder mit Idiomen umschreiben wie z. B. »die hat ein Händchen für…«, oder: »der kann ich nicht aufs Fell gucken«. Die »Ordnung der Berührung« bezieht sich auf die Leiblichkeit8 und wird sichtbar an der Art und Weise des Umgangs miteinander, an unseren Beziehungen, die sich wiederum aus den Situationen speisen. Lademann und Büker haben 2019 in einem von ihnen heraus­ gegebenen Buch die »Beziehungsgestaltung in der Pflege« multiper­ spektivisch und praxisnah aufbereitet, wobei Beziehung sehr eng mit Kommunikation und Interaktion verbunden und konsequent auf den beruflich »richtigen Umgang« miteinander bezogen wird. Ich gehe einen umgekehrten Weg. Ich nehme zwar das Praxisfeld der Pflege als Grundlage, um dann aber von da aus mit Hilfe zweier hier vorgestellter Klassifikationen das Beziehungsgeschehen zu analysieren.9 Mit Hilfe einer soziologischen Beziehungstypologie und der Schmitzʼschen Situationstheorie möchte ich aufzeigen, wie aus spaltbaren Verhältnissen10 gerichtete Beziehungen werden. Und diese Gerichtetheit zeigt wiederum an, von welcher Art die Berührun­ gen sind – zentrifugal oder zentripetal. Zu beachten ist, dass sich Lindemann (2020) hat in ihrer Gesellschaftsanalyse eine »Berührungsordung« beschrieben, die auf den Koordinaten der körperlichen und leiblichen Nähe und Distanz basiert (Lindemann 2020: 14). Meine Überlegungen beziehen sich auf die Mikroebene der Interaktionen. 8 Lindemann 2020. 9 Immerhin ist in dem Wort Be-Ziehung ein anderer Richtungsimpuls inhärent als z. B. in allen Triebtheorien, die sich seit Freud auch in der Alltagssprache eingenistet haben. Im Englischen wird von relationship gesprochen, also von einer »VerhältnisSchaft«. 10 Das Thema der unspaltbaren Verhältnisse klammere ich hier aus (vgl. hierzu Schmitz 2016: 107 ff.). 7

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diese Klassifikationssysteme durch ihren idealtypischen Charakter auszeichnen. Das heißt, diese Typen kommen im gelebten Leben nie in reiner Form vor, sondern immer in verschiedenen Gemengelagen, wobei einige Aspekte zeitweise dominanter sein können als andere. Das ist wichtig zu beachten, damit die Realität nicht mit den Begriffen der Wissenschaften verwechselt wird. Solche Typologien leisten dann aber gute Dienste, wenn man sich den Wirklichkeiten annähern und verstehen möchte, was »zwischen den Zeilen« passiert.

2. Fiktives Fallbeispiel: Ronja und Tobias im Patientenzimmer Ronja und Tobias – beide ausgebildetes Gesundheits- und Kranken­ pflegefachpersonal treffen sich auf dem Weg zur Sonntagsfrühschicht. Sie arbeiten auf der gleichen internistischen Station. Tobias (legt die Hand zur Begrüßung kurz auf Sonjas Schulter): Hi Ronja, bist Du gestern wieder in der Disco versumpft oder wirst Du krank? Du siehst ja total fertig aus! Ronja (senkt den Kopf und sieht ihm nicht in die Augen): Lass mich bloß in Ruhe heute. Mir geht es nicht gut, ich glaube, ich werde krank. Hoffentlich ist nicht zu viel los auf Station. Tobias: Und ob da viel los ist heute. Wir sind voll belegt, jetzt müssen wir erstmal richtig ran. Aber in der Pause koche ich uns einen schönen Kaffee. Das wird Dir helfen! ... Aber schminken hättest Du Dich schon ein bisschen können, da kriegen ja die Patienten Angst vor Deiner Blässe! Nach der Übergabe von der Nachtschicht zur Frühschicht gehen beide zusammen in ein Zweibettzimmer, um die dort liegenden Patienten zu versorgen. Tobias: Guten Morgen die Herren, haben Sie gut geschlafen? Ronja: Guten Morgen. Herr Most: Oh, heute ist unser Dreamteam wieder da! Da kann ja nichts mehr schief gehen! Die Nacht war furchtbar; konnte nicht schlafen, weil Emil die halbe Nacht lang gekotzt hat. Ihm geht es richtig dreckig. Hoffe, die kriegen bald raus, was er hat, das ist ja nicht zum Aushalten. Bin ich froh, dass ich morgen entlassen werde!

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Auf die Situation kommt es an – Beziehung und Berührung in der Pflege

Ronja geht zum Bett des Patienten Emil Kaiser, beugt sich zu ihm hinunter, blickt ihm ins Gesicht, legt ihre Hand leicht auf seine Schulter und spricht ihn sanft an: Herr Kaiser, wie fühlen Sie sich denn jetzt? Möchten Sie sich etwas frisch machen? Sollen wir Ihre Kissen ein bisschen aufschütteln? Herr Kaiser (auf der Seite liegend, eine Hand vor den Augen): Ne, ne, lasst mich einfach in Ruhe. Ich kann nicht mehr. Herr Most (aufrecht im Bett sitzend und im Begriff aufzustehen): Mensch Emil, das wird schon wieder! Mir ging es vor zwei Wochen auch schlecht und ich konnte nichts mehr essen. Aber schau, die Behandlung ist gut, sie hat gewirkt – jedenfalls bei mir. Ich freue mich jetzt auf ein gutes Frühstück. Ronja geht zu Herrn Most (blickt ihm ernst ins Gesicht): Vor einer Woche wollten Sie das auch nicht hören, was Sie eben zu Herrn Kaiser gesagt haben! Es ist ja sehr schön, dass Sie wieder gesund geworden sind, aber Herr Kaiser ist eben noch nicht so weit! Herr Most zu Tobias (wendet sich von Ronja ab und schaut Tobias an): Oh je, was hat denn Ihre Kollegin heute? So kennʼ ich sie gar nicht. Wenn der Morgen schon so anfängt, dann freuen Sie sich auf die gemeinsame Schicht! Tobias (schaut niemanden an, ist mit der Bettwäsche beschäftigt): Ist schon o.k., das kriegen wir schon. So: Ihr Bett ist fertig; nun lassen Sie sich Ihr Frühstück schmecken. Tobias zu Herrn Kaiser von der Zimmertüre aus: So Herr Kaiser, wir sind gleich für Sie da, und wir machen heute nur das Nötigste, damit Sie Ruhe haben. Können wir sonst noch etwas für Sie tun? Herr Kaiser winkt nur schwach mit der Hand ab. Ronja und Tobias gehen aus dem Zimmer, um die gebrauchte Bettwäsche von Herrn Most zu entsorgen. Ronja (stützt sich auf den Wäschewagen und schaut Tobias traurig an): Manchmal denke ich schon darüber nach, mich einfach versetzen zu lassen. Diese Patienten hier und die ewig viele Arbeit ziehen mich auf Dauer doch ganz schön runter. Tobias (aufmunternd Ronja anblickend): Dann gehe ich mit; das kannst Du mir nicht antun! Immerhin sind wir ein Dreamteam – das merken sogar die Patienten hier. Wie soll ich das denn hier ohne Dich aushalten? Ronja (lächelt Tobias an): Na, na, wir sind ja nicht verheiratet. … Aber Du hast schon recht, wenn Du nicht da wärest, wäre ich wohl schon längst gegangen.

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3. Eine kleine Beziehungstypologie des »Ein-Ander« Das Beispiel zeigt eine typische alltägliche Situation in einem Kran­ kenhaus: Das kollegiale Miteinander, das Nebeneinander der Patien­ ten, die sich zufällig kennenlernen, weil sie in dem gleichen Zimmer untergebracht sind, das unterschwellige Gegeneinander, weil einer Person die Aussage bzw. das Verhalten der anderen nicht passt, auch das Füreinander in der Zuwendung wird deutlich. So kann die Vielfalt der menschlichen Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten wie folgt typologisiert werden, wobei die Beziehungsqualität sowie die Berührungsmodalität und -intensität in dem Ein-Ander schon immer enthalten ist: 1. Der Grad sowie die Art und Weise des Aufeinanderbezo­ genseins: Das Miteinander ist ein gemeinsame Zwecke verfolgen­ des soziales Gebilde: Ronja und Tobias treffen sich auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Sie sind auf die gleiche Aufgabe gerichtet und verfolgen den gemeinsamen Zweck der Versorgung der ihnen anvertrauten Patientinnen und Patienten. Das ist die allgemeinste Beschreibung von Beziehung. Im Miteinander gibt es Berührungen wie z. B. das freundschaftliche Auf-die-Schulter-klopfen sowie alltäg­ liche Berührungsrituale körperlicher Art (Begrüßung, Blickkontakt). Eine Spielart des Miteinanders ist das Füreinander. Hierbei gehen die Berührungen »unter die Haut«; die zentripetale Gerichtetheit der Beziehung wird in der affektiven Dimension der Beziehung spürbarer als im bloßen Miteinander. Ronja geht es selbst nicht sehr gut, so kann sie die Situation von Herrn Kaiser gut nachvollziehen und ist zunächst von Herrn Kaiser mehr berührt als von Herrn Most. Sie wendet sich ihm fürsorglicher zu als Herrn Most und solidarisiert sich mit ihm. Diese gemeinsame Situation erlaubt es ihr, dass sie Herrn Kaiser auch körperlich berührt und ihren Arm auf seine Schulter legt. Diese Geste bestärkt das Füreinander; im Gegensatz zu Herrn Most, den sie nicht körperlich, sehr wohl aber affektiv berührt, indem sie ihn direkt anblickt, während sie mit ihm spricht. Von ihm ist sie ebenfalls berührt, aber in der Art des Gegeneinander. Grundsätzlich sind Freundschafts- oder Liebesbeziehung Beispiele für das Füreinander. Diese Form der Beziehung ist reiner Selbstzweck ohne irgendeinen Bezug außerhalb ihrer selbst. Das Miteinander von Ronja und Tobias ist augenfällig; sie verstehen sich offenbar gut, was in den kurzen Unterhaltungssequenzen deutlich wird; gleichzeitig findet sich hier auch das Füreinander: Tobias möchte in der Pause für

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beide einen »schönen Kaffee« kochen. Dies basiert auf einer Nähe und Vertrautheit, die es erlaubt, dass Ronja ihm ihre momentane persönliche, private Situation offenbart (»mir geht es heute nicht gut«) und er ebenfalls Begriffe verwendet, die eher für eine intime Zweierbeziehung zutreffen (»das kannst Du mir nicht antun; wie soll ich das ohne Dich aushalten«). In diesem Beispiel berühren sie sich gegenseitig, in dem sie füreinander Sorge tragen. Das Nebeneinander hat zum Merkmal die Reihenhaftigkeit als Agglomeration Einzelner, die sich nicht zur Kenntnis nehmen müs­ sen; z. B. die Patienten auf der Station in den anderen Zimmern, von denen im Fallbeispiel nicht die Rede ist. Sollten Ronja und Tobias mittags in die Krankenhauskantine zum Essen gehen, wäre ihr Mit- und Füreinander eingebettet in ein Nebeneinander der Anderen. Auch Wartende im Bahnhof, an einer Bushaltestelle, an der Kasse im Supermarkt weisen diese anonyme Reihenhaftigkeit auf. Hier kann man nicht von Beziehung sprechen; hier gibt es keine Berührungspunkte oder -anlässe. Selbst wenn man in Bus oder Bahn zur Hauptverkehrszeit sehr eng aneinander steht, ist jede und jeder bemüht, Körper- oder Blickkontakt zu vermeiden. Die um mich herum sind quasi unberührbar. Die neben mir berühren mich nicht, sind neutral oder lassen mich kalt. (Hierzu zähle ich auch das Untereinander, Hintereinander, Übereinander, sofern es geografisch und nicht sozialhierarchisch gemeint ist. In letzterem Fall handelt es sich um Spielarten des Mit- bzw. Gegeneinander). Das Gegeneinander ist der Gegenpol zum Füreinander. Es bezeichnet Konkurrenzbeziehungen jeder Art, vom harmlosen Wett­ spiel bis hin zur Todfeindschaft. Im Fallbeispiel zeigt sich eine Tendenz des Gegeneinander in der Situation, als Ronja zu Herrn Most geht und ihn dezent zurechtweist. Ihr ernster Blick mag Herrn Most als abweisende Berührung vorkommen; daher beklagt er sich bei Tobias. Im Gegeneinander finden sich sowohl körperliche Berührun­ gen (Kampf), als auch affektive Berührungen, wenn mich z. B. der Hass auf jemanden anstachelt, ihm Böses tun zu wollen. Ist dieser Affekt auf eine Dauer gestellt, kann meine leibliche Disposition dahingehend verschoben werden. 2. Der Grad sowie die Art und Weise der Mittelbarkeit bzw. Unmit­ telbarkeit: Hier spielen Intentionen und Zwecke eine Rolle, warum wer wie mit-, für- oder gegeneinander interagiert. Ronja ist vom Zustand von Herrn Kaiser ebenso unmittelbar berührt (sie fühlt mit und wendet sich ihm besonders fürsorglich zu) wie Herr Most (er

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Charlotte Uzarewicz

konnte nicht schlafen, weil es Herrn Kaiser so schlecht ging). Wenn sich Ronja hingegen ausschließlich mittels der Pflegedokumentation darüber informiert, dass es Herrn Kaiser schlecht geht, wird sie seinen Zustand erstmal nur zur Kenntnis nehmen. 3. Der Grad sowie die Art und Weise der Direktheit bzw. Indirekt­ heit: Dies meint face-to-face-Beziehungen oder über dritte Personen oder auch kategoriale (z. B. Schicht, Berufsstand, Ethnien) oder struk­ turelle (z. B. soziale Positionen, Rollenträger, Geimpfte – Nichtge­ impfte) Beziehungen. Im vorliegenden Beispiel geht es ausschließlich um direkten persönlichen Kontakt in den Interaktionen. Gleichzeitig spielen indirekt das Rollenselbstverständnis von Pflegenden und zu Pflegenden sowie deren jeweilige soziale Position eine Rolle, die die Interaktionen und Kommunikation ebenso beeinflussen wie die Berührungsge- und verbote.11 Beziehungen können einseitig oder wechselseitig sein. In der klassi­ schen Soziologie wird nur dann von sozialer Beziehung gesprochen, wenn diese wechselseitig ist. Diese kann symmetrisch sein, wie im Fall von Ronja und Tobias, oder asymmetrisch, wie dies zwischen den Pflegenden und zu Pflegenden im Fallbeispiel deutlich wird. In diesem Sinne sind Beziehungen konkret und müssen durch das »reziproke (…) Aufeinander-Bezogensein« immer wieder bestätigt und praktiziert werden.12 Das neophänomenologische Verständnis von sozialer Beziehung beschränkt sich hingegen nicht auf unbedingte Wechselseitigkeit. Ein einseitiges »Sich beziehen auf« reicht aus, weil dieses das eigene Verhalten und auch Handeln beeinflusst. »Das subjektive, in gewisser Weise also objektiv ›unwirkliche‹, (Sich-) Beziehen auf einen oder mehrere Andere(n) ist (…) Grundvorausset­ zung des Sozialen (…).«13 Herr Most und Herr Kaiser sind z. B. über­ zeugt, dass das Krankenhaus eine Einrichtung zur Wiederherstellung der Gesundheit ist und dass sie hier auch gesund gemacht werden; unabhängig davon, ob es überhaupt Therapien für ihre Erkrankungen gibt und diese auch von kompetentem Gesundheitspersonal ange­ wendet werden kann. Aber genau diese Art der (einseitigen) sozialen Beziehung erlaubt es ihnen, ihre soziale Rolle als Patienten zu spielen 11 12 13

Uzarewicz/Uzarewicz 1998: 50–61. ebd.: 51f. Uzarewicz 2011: 222.

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und ermöglicht es auch, sich in spezifischer Weise berühren zu lassen – körperlich und affektiv. Diese unterschiedlichen Beziehungstypen erwachsen aus den Situationen, die wiederum bestimmte Berührungsqualitäten generie­ ren. Sie sind immer leiblich spürbar, aber nicht immer körperlich.

4. Über die Vorgängigkeit der Situationen vor den Beziehungen Hermann Schmitzʼ Situationstheorie bietet »mikroskopische« Einbli­ cke in das Zusammenleben und -wirken von Menschen. Eine gege­ bene Situation ist durch ihre binnendiffuse Bedeutsamkeit gekenn­ zeichnet. Das meint, dass in einer Situation Sachverhalte (also dass etwas ist), Programme (Wünsche, Normen, Werte, also wie etwas sein soll) und Probleme (also die Fraglichkeit der Sachverhalte) völlig indifferent vorhanden sind. Sie schlummern hier als spaltbare Verhältnisse. Die einzelnen Bedeutungen sind zwar latent vorhanden, treten aber nur in bestimmten Momenten als spezifische Beziehungen zu Tage. Menschen sind immer vielfältig in mehrere Situationen gleichzeitig eingebettet und mit ihnen verflochten. »Situationen sind die »primären Heimstätten, Quellen und Partner alles menschlichen und tierischen Verhaltens; alles Denken, Fühlen, Wollen, Vorstellen und Tun schöpft aus ihnen […].«14 Erst wenn aus diesen Situationen Einzelnes hervortritt und mehrere einzelne Faktoren miteinander vernetzt werden, entstehen Konstellationen.15 Situationen verhalten sich zu Konstellationen wie Verhältnisse zu Beziehungen: Situationen sind spaltbare und ungerichtete Verhältnisse, Konstellationen sind Relationen, also gerichtete Beziehungen (von etwas oder jemandem zu etwas oder jemandem). Im Mit-, Für-, Gegen- oder Nebeneinander kann die Gerichtetheit abgelesen werden. »Alle Beziehungen gehen aus Verhältnissen durch Spaltung hervor.«16 Dies geschieht durch Explikation einzelner Sachverhalte aus Situationen, die dann wiede­ rum erlauben, Berührungen qua Interpretation der Konstellation spezifisch wahrzunehmen. 14 15 16

Schmitz 2003: 91. Schmitz 2005: 11. Schmitz 2016: 108.

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Böhme17 beschreibt in ihrem Buch über »human touch«, wie aus einer Situation (heterosexuelle Männer im MRT18 werden von einer Frau am Bein gestreichelt) durch Explikation einzelner Sachverhalte (hier: Geschlechtlichkeit; die Männer bekommen Videos gezeigt, die suggerieren, dass sie sowohl von einer Frau, als auch von einem Mann gestreichelt werden) eine Konstellation (eine gerichtete Beziehung zu »Mann« und »Frau«) wird. Durch die Interpretation aufgrund der Programme (Normen, Wünsche; z. B.: heterosexuelle Männer lassen sich lieber von Frauen als von Männern streicheln) werden die Berüh­ rungen unterschiedlich empfunden und sogar neurologisch verschie­ den verarbeitet: Das Streicheln, das vermeintlich ein Mann ausgeführt hat, wurde als unangenehmer empfunden als die Suggestion, es sei eine Frau, die streichelt. Diese Situation (ungerichtetes Verhältnis), die sich durch eine abgeschlossene Ganzheit auszeichnet, beinhaltet eine chaotische Mannigfaltigkeit mit binnendiffuser Bedeutsamkeit (Sachverhalte, Programme und Probleme), die in dem Moment der Erfahrbarkeit des Gestreicheltwerdens gespalten und auf der Ebene der Konstellation (gerichtete Beziehung) empfunden werden. Es scheint uns nur »nor­ mal«, dass heterosexuelle Männer die Streicheleinheiten einer Frau angenehmer empfinden als die eines Mannes. In diesen Sachverhalten kommen spezifische Programme (Wünsche, Normen, Werte) sowie die eventuellen Probleme (warum etwas so ist, wie es ist) zum Tragen und zwar unmittelbar. Unser Körper, unsere Neurochemie, spielt das leibliche Spiel mit. Dieses Beispiel zeigt die enge Verflochtenheit zwischen Situation, Beziehung und Berührung.

5. Situation, Beziehung und Berührung in der Pflege: Eine exemplarische Analyse19 Das pflegerische Fallbeispiel stellt eine ganzheitliche Situation dar, die wiederum in verschiedene Situationen aufgeteilt werden kann: Die Situation im Patientenzimmer, die kollegiale Situation, die Situation Böhme 2019: 109. MRT = Magnetresonanztomographie. 19 Meine Bezugsquelle für die nachfolgende Analyse ist die Situationstheorie von Hermann Schmitz (2005: 18–32), die Robert Gugutzer (2017: 155–160) in die Soziologie übertragen hat. 17

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Auf die Situation kommt es an – Beziehung und Berührung in der Pflege

des gemeinsam auf Station-Gehens, die Situation am Bett von Herrn Most oder Herrn Kaiser und noch viele mehr.20 In der Binnendiffusität einer gegebenen Situation ist die Bedeutsamkeit chaotisch mannig­ faltig, aber noch nicht in einzelnen Bedeutungen expliziert. Z. B. ist alles pflegerische Wissen, alles Gelernte bei Ronja und Tobias irgendwie vorhanden. Aber es liegt als »unspezifische Gesamtmasse«, als chaotische Mannigfaltigkeit, im Fundus der persönlichen Situa­ tion. Sie handeln routiniert und automatisch. Wenn man sie fragen würde, warum sie das Bett genau so machen, wie sie es machen und nicht anders, könnten sie es wahrscheinlich nicht sachlich begründen, sondern eher formal (weil wir es so gelernt haben). Erst in dem sie etwas tun, kommen die Einzelheiten des Gelernten zum Ausdruck und die Pflegenden entwickeln nicht nur zu den ihnen Anvertrauten eine Beziehung und wissen, wann man wie jemanden berühren darf, soll, will, muss oder kann, sondern ebenso zu ihrem gelernten und erfahrenen Wissen (wie man ein Bett gut macht). Trotz des Übergabeberichts vom Nachtdienst (Sachverhalt) wis­ sen Ronja und Tobias nicht, was sie in der konkreten Situation erwartet, wenn sie die Zimmertür öffnen. Sie können höchstens auf Grund des Berichts Vermutungen anstellen (Programm, z. B. Ausbildungsinhalt, professionelles Wissen und Erfahrung). Es gibt viele Möglichkeiten, wie es den beiden Patienten gehen mag. Die Stimmung im Patientenzimmer beim Öffnen der Tür ist »gemischt«: Ein Patient ist gut drauf, der andere will von der Welt nichts wissen. Wie schlecht es Herrn Kaiser geht, zeigt sich nicht nur durch das, was Herr Most über ihn sagt, sondern besonders in dem Moment, in dem Ronja zum Bett von Herrn Kaiser geht, sich zu ihm hinunter beugt und in seine Atmosphäre eintaucht. Diese Stimmung erfassen die beiden Pflegenden als impressive Situation sofort. Indem sie sich nun den verschiedenen Patienten auf unterschiedliche Weise zuwenden, um ihr Tagwerk zu beginnen, wechseln sie permanent zwischen Situation und Konstellation: Die »gemischte« Stimmung wird konstellationistisch differenziert bzw. aufgespalten, so dass sie in entsprechend unterschiedliche Beziehungsarten des Mit-, Fürund Gegeneinander eintauchen können mit verschiedenen Graden der Nähe und unterschiedlichen Berührungsmodi. Daraus werden spezifische Verhaltens- und Handlungsmuster abgeleitet sowie je 20 Zu soziologischen Situationskonzepten wie Handlungsorientierung oder Erlebnis­ orientierung vgl. Elsbernd 2000.

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individuelle Kommunikationsstrategien (Programme). Herrn Kaiser wird die Hand auf die Schulter gelegt und mit ihm wird ganz anders gesprochen als mit Herrn Most. Dieser wird körperlich nicht berührt, aber die Zurechtweisung von Ronja mit direktem Blickkon­ takt berührt ihn auf affektiver Ebene unangenehm, deswegen beklagt er sich bei Tobias. Im ersten Fall liegt die Tendenz des Füreinander mit zentripetaler Berührungsmodalität vor (Nähe), im zweiten Fall die des Gegeneinander mit zentrifugaler Berührungsmodalität (Distanz). Das Alltagsgeschäft von Pflegenden ist das professionelle Wech­ selspiel zwischen Situationen und Konstellationen: Einerseits Ein­ tauchen in die gemeinsame Situation, Mitschwingen und Erspüren, was ist (Atmosphären, Gestimmtheiten); andererseits Herausgehen aus der Situation und Analysieren (in Einzelheiten zerlegen), Erken­ nen, Handeln. Für die Art und Weise der Beziehungsgestaltung und -veränderung ist es wichtig zu verstehen, dass Situationen die drei beschriebenen Merkmale aufweisen. Damit wird auch verständlich, dass sich Berührungsbeziehungen schnell verändern können, z. B. von einem Miteinander zu einem Gegeneinander, oder von einem Gegeneinander zu einem Füreinander. Das hängt von den Bedeu­ tungen ab, die sich herausschälen, und dies ist abhängig von den verschiedenen Situationstypen nach Schmitz, die ich im Folgenden weiter ausführen werde. Jegliche soziale Situation nehmen wir ganzheitlich wahr; es sind vielsagende Eindrücke, die wir erst in einem zweiten Schritt analysieren und selektieren. Dies geschieht vor dem Hintergrund unserer Alltagstheorien und der jeweiligen persönlichen Situation. Indem wir das Vermögen haben, aus Situationen aufzutauchen und uns in Konstellationen zu bewegen, sind wir auch in der Lage, unsere Beziehungen zu erkennen und uns berühren zu lassen. Die Beziehung zwischen Ronja und Tobias ist so gesehen eine Abstraktion und Reduktion des chaotisch Mannigfaltigen und binnendiffus Bedeut­ samen ihrer Situationen; und das ermöglicht die unterschiedlichen Berührungsmodalitäten und -intensitäten. Beim Dialog von Ronja und Tobias während des morgendlichen Gangs zum Arbeitsplatz merkt man, dass zwischen den beiden eine bestimmte Nähe, eine Art der Vertrautheit besteht; da »stimmt die Chemie«. Tobias erfasst mit einem Schlag, dass es Ronja nicht gut geht, ebenso wie Ronja den Zustand von Herrn Kaiser erfasst, als sie sich zu ihm beugt. In der je augenblicklichen Situation handelt es sich hier um den Typ der impressiven Situation, der erste Eindruck,

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Auf die Situation kommt es an – Beziehung und Berührung in der Pflege

der fast vorsprachlich zu Bewusstsein kommt. Wir sind uns über einen Sachverhalt sicher, können ihn aber nicht logisch begründen. Tobias »weiß« sofort, dass es Ronja nicht gut geht, als sich beide auf dem Weg zur Arbeit treffen. Beiden schlägt die Atmosphäre des Patientenzimmers entgegen und sie erfassen intuitiv, was los ist. Eingebettet in diese augenblickliche, impressive Situation findet sich auch die segmentierte Situation. Ronja und Tobias sind ausgebildete Gesundheits- und Krankenpflegefachkräfte und haben ein umfassen­ des Wissen über die doʼs und donʼtʼs der Pflege, über medizini­ sches, pflegerisches Wissen, über berufliche Normen und Werte und menschliches Selbstverständnis. Dies sind Sachverhalte, Programme und Probleme, die niemals vollständig und umfassend explizierbar sind, sondern je nach Situation segmentiert zum Vorschein kommen und Ronja dazu veranlassen, Herrn Kaiser nicht aus dem Bett zu befördern, nur damit es ordentlich gemacht ist, sondern einfühlsam aufgrund der Impressionen und der Segmentierung ihres Wissens auf ihn einzugehen und ihn weitestgehend in Frieden zu lassen. Auch der Sachverhalt »Kaffee ist ein aufmunterndes Getränk« veranlasst Tobias zum Programm, »einen schönen Kaffee« zu kochen, um dem Problem »Ronja geht es nicht gut« zu begegnen. Neben diesen augenblicklichen Gegebenheiten spielt der zeitliche Verlauf eine wichtige Rolle. In der aktuellen Situation geschieht jetzt etwas, und man kann den Verlauf in prozessuale Abschnitte gliedern, um Veränderungen der Sachverhalte, Programme oder Probleme zu erfassen. So ist z. B. Herr Most von seinem Zimmergenossen an dem Morgen genervt (Sachverhalt und gleichzeitig ein Problem), weil er ihm den Schlaf geraubt hat (Problem) und bringt das zum Ausdruck (Programm und gleichzeitig ein weiteres Problem). Er geht in maxi­ male Distanz zu seinem Bettnachbarn, indem er mit den Pflegenden über ihn spricht; genau so, wie er nicht mit, sondern über Ronja mit Tobias spricht (»Was ist denn mit Ihrer Kollegin heute los?«) In dieser Konstellation erscheint der Beziehungstyp des tendenziellen Gegeneinanders mit zentrifugaler Berührungsrichtung. Gleichzeitig versucht er ein Miteinander mit Tobias, indem er sich ihm direkt zuwendet. Im Verlauf der Interaktionen kann man sehr gut erkennen, wie sich die Beziehungen und damit auch die Berührungsrichtungen in der aktuellen Situation verändern, weil Unterschiedliches zum Vorschein kommt. In dem Gespräch zwischen Ronja, Herrn Kaiser und Herrn Most ist Tobias als »stiller Beobachter« in der Gesamtkon­ stellation im Mit-Einander, Ronja und Herr Kaiser im Füreinander,

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Charlotte Uzarewicz

Ronja und Herr Most im Gegen-Einander verortet. Man kann sehr genau beobachten, welche verschiedenen Sachverhalte, Programme und Probleme aus der segmentierten Situation im zeitlichen Verlauf zum Vorschein kommen und die Beziehungsgefüge verändern: Vom »Dreamteam« zu »Was ist denn mit Ihrer Kollegin heute los? So kenne ich sie ja gar nicht.« Diesem Komplex liegt die zuständliche Situation zugrunde, die einen andauernden Zustand bezeichnet, hier im Beispiel die Erkrankungen von Herrn Most und Herrn Kaiser, sofern es sich um chronische Krankheiten handelt, ebenso der Beruf Pflegefachkraft, den Tobias und Ronja ausüben. Das alles wird gerahmt von der persönlichen und der gemeinsa­ men Situation. Die persönliche Situation wird aus dem persönlichen Charakter und der persönlichen leiblichen Disposition eines Men­ schen gebildet und entspricht der psychologischen Terminologie der Persönlichkeit eines Menschen. So kann also die persönliche auch eine zuständliche Situation sein, wenn man z. B. die Biografie von Tobias und Ronja erforscht, um herauszufinden, warum beide den Pflegeberuf gewählt haben. Die persönliche Situation spielt immer in eine aktuelle Situation hinein, z. B. wird sofort klar, als Ronja und Tobias sich auf dem Weg zur Arbeit treffen, dass die beiden »gut miteinander können«. Sie kennen sich lange genug, um genau so mit­ einander zu kommunizieren. Sie sind gefühlsmäßig auch füreinander da und immer auch in gemeinsame Situationen eingebunden – auch, wenn sie frei haben und zu Hause bei ihren jeweiligen Familien sind. Tobias, Ronja, Herr Most und Herr Kaiser stehen in einer gemeinsa­ men Situation im Patientenzimmer, in der Impressionen (über den Zustand von Herrn Kaiser), einzelne Segmente (das Wissen, wie die professionelle Kommunikation mit den beiden Patienten zu gestalten ist) aktuell zur Wirkung kommen. In der persönlichen Situation sind verschiedene Grade der Invol­ viertheit erkennbar: In einer implantierenden Situation ist das Indivi­ duum so eng mit und in dieser verwoben, dass es sich von dieser nicht los machen kann, ohne selbst Schaden zu nehmen. Das würde einer »Amputation« gleichkommen. Solche zuständlichen, gemeinsa­ men, implantierenden Situationen sind eingebettet in segmentierte Situationen. Das Bettenmachen kann man kaum verlernen. Selbst wenn man aus dem Beruf aussteigt und viel professionelles Wissen vergisst, steckt das Fundament dieser »sekundären Sozialisation« als implantierte Situation in einem. Ronja und Tobias ist vielleicht auch ein Gefühl für Mitmenschlichkeit implantiert, d. h. es ist Teil ihrer

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Auf die Situation kommt es an – Beziehung und Berührung in der Pflege

persönlichen Situation und eventuell auch ein Motiv dafür gewesen, den Beruf der Pflege zu wählen. Mit der Ausbildung sind sie auf dieser Grundlage in den Beruf mit all seinen Normen und Werten ein­ gewachsen, so dass sie in ihrer beruflichen Identität fast aufgehen, was unter Umständen zu einem Burnout führen kann. Eine includierende Situation hingegen weist eine lockerere Verbindung zur persönlichen Situation auf. D. h. man kann sich leichter und auch ohne Schaden zu nehmen wieder trennen. Wenn man lange auf einer Station gearbeitet hat, ein wirklich gutes Team gewesen ist, gemeinsam durch »dick und dünn« gegangen ist, man dann aber aus welchen Gründen auch immer, den Arbeitsplatz wechselt, gibt es wohl ein Abschiedsfest, auch Trauer, manchmal sogar Tränen, aber es ist keine existenzielle Angelegenheit in dem Sinne, dass das eigene Leben auf dem Spiel stehen würde. Es könnte auch sein, dass sich Ronja für den Pflegeberuf entschieden hat, weil sie großes Interesse an dem Gesundheitswissen hat und Aspekte der Mitmenschlichkeit eher sekundär sind.

6. Beziehung und Berührung in der Pflegearbeit Da Situationen also mehrfach ineinander verschachtelt sind und je nach Dominanz des Situationstyps Einzelheiten als Konstellationen zum Vorschein kommen, kann eine pflegerische Interaktion als gemein­ same, impressive, segmentierte, aktuelle und includierende Situation beschrieben werden, in die jeweils die zuständlichen und persönlichen Situationen hineinreichen. Bemerkenswert ist dabei die Gleichzeitig­ keit der unterschiedlichen Situationen, die sich überlagern, weil damit klar wird, welche Leistung in einer alltäglichen, routinierten Interak­ tion steckt. Je nach Vereinzelung von Sachverhalten, Programmen und Problemen entstehen entsprechende Beziehungen mit Bedeutungen, die wiederum verschiedene Berührungsqualitäten aufweisen. Die Gerichtetheit der Berührung entscheidet dabei über die verschiedenen Qualitäten des Ein-Ander. Beziehung ist also ein Explikationspro­ dukt, wobei der Modus der Beziehung je nach Dominanzverhältnis der Situationen schnell wechseln kann. Wir sind nicht nur Körperin­ dividuen, »[W]ir sind als leibliche Wesen wie eingewoben in eine Ordnung unserer Berührungsbeziehungen.«21 Patienten untereinan­ der sind sich in der Regel fremd, wenn sie im Krankenhaus per Zufall 21

Lindemann 2020: 58.

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Charlotte Uzarewicz

im gleichen Zimmer untergebracht sind. Diese Situation beherbergt eine gewisse Paradoxie, denn einerseits handelt es sich hier um einen öffentlichen Raum (das Krankenhauszimmer), zu dem fremde Menschen (das Personal, Besucher der jeweiligen »Mitpatienten«) ungehindert Zutritt haben. Andererseits finden sich hier sehr private, teilweise auch intime Aspekte, sofern die Patienten in der Nachtwä­ sche im Bett liegen, was sonst nur im heimischen Schlafzimmer alleine oder mit einer sehr vertrauten Person der Fall ist. Man kann sich zwar, je nach Liegedauer, kennenlernen und in seltenen Fällen auch Freundschaften entwickeln. Aber in der Regel fassen sich Patien­ ten nicht an; sie berühren sich nicht körperlich, wohl aber leiblich, wenn einem das Schicksal des Bettnachbarn berührt. Dann wird aus dem Nebeneinander ein Mit- oder Gegeneinander. Auch Pflegende untereinander sind sich zunächst fremd; sie werden irgendwann als Arbeitsgruppe oder Team zusammenfinden und gemeinsam an dem ihnen zugedachten Auftrag der Patienten­ versorgung arbeiten. Ob sie gegeneinander, miteinander oder gar füreinander arbeiten ist von vielen Faktoren abhängig.22 Der Faktor Zeit spielt hier eine wichtige Rolle. Fremde Patienten sind meist nur kurze Zeit zusammen in einem Zimmer. Ein Team bildet sich mittel- bis langfristig heraus mit unterschiedlichen und auch wech­ selnden Koalitionen. Und auch hier ist die gegenseitig körperliche Berührung eher selten (eine freundschaftliche Berührung an der Schulter, mal eine Umarmung im Trauerfall), die leibliche Berührung jedoch permanent. Ein Team ist quasi ein übergreifender Ad-hoc-Leib, eingebettet in eine leibliche Gesamtsituation. Man weiß, wie die andern »ticken«, wer was gut oder nicht gut kann, wie man sich idealerweise ergänzt oder aus dem Weg geht. Ein Nebeneinander im Team ist daher ein Widerspruch in sich. Hier finden sich die Spielarten des Mit-, Für- und Gegeneinander. Anders sieht es aus in der Konstellation Pflegende und zu Pfle­ gende. Hier gibt es ein einseitiges Berührungsgebot, eine körperli­ che Berührungspflicht. Andernfalls könnten Pflegende ihren Auftrag nicht erfüllen und ihrer Arbeit nicht nachkommen. Fremde Menschen körperlich zu berühren, auch an intimen Stellen, gehört dazu. Auf der anderen Seite gilt das auch für die zu Pflegenden: Sie müssen sich von Fremden berühren lassen – ob sie wollen oder nicht. Diese 22 Organisations- und Personalentwicklung sowie atmosphärische Führung ist hier nicht das Thema. Siehe hierzu exemplarisch Julmi & Rappe 2018.

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Auf die Situation kommt es an – Beziehung und Berührung in der Pflege

Einseitigkeit, wo das Mit,- Für- und Gegeneinander ständig abwech­ selt, weil sich aus der chaotischen Mannigfaltigkeit der Situation Unterschiedliches herausschält, bedeutet für beide Seiten (Pflegende und zu Pflegende) ein leibliches Berührungspotpourri, das irgendwie im Arbeitsalltag gemanaged werden muss, aber nie thematisiert wird. Dahinter verbergen sich letztlich so zentrale Themen wie Ekel, Scham oder Angst – Themen, die die meisten Menschen intensiv berühren. Für den pflegerischen Alltag mag die Unterscheidung von Situationen, Konstellationen, Beziehungen etc. nicht relevant sein. Im Falle von Konflikten oder Noncompliance in Teams oder therapeuti­ schen Settings wäre eine Analyse mit Hilfe dieser Situationstheorie interessant, weil man auf einer »mikroanalytischen« Ebene erkennen könnte, warum welche Beziehungen wie kippen.

Literaturverzeichnis Büker, Christa/Lademann, Julia: Beziehungsgestaltung in der Pflege, Stutt­ gart 2019. Elsbernd, Astrid: Pflegesituationen. Erlebnisorientierte Situationsforschung in der Pflege, Bern 2000. Gahlings, Ute: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrung, Freiburg/Mün­ chen 2016. Gugutzer, Robert: Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie, 46 (2017/3): 147–166. Julmi, Christian/Rappe, Guido: Atmosphärische Führung. Stimmungen wahr­ nehmen und gezielt beeinflussen, München 2018. Lindemann, Gesa: Die Ordnung der Berührung. Staat, Gewalt und Kritik in Zeiten der Coronakrise, Weilerswist 2020. Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003. Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg/i.Br. 2005. Schmitz, Hermann: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, Freiburg i.Br. 2016. Uzarewicz, Charlotte/Uzarewicz, Michael: Kollektive Identität und Tod. Zur Bedeutung ethnischer und nationaler Konstruktionen, Frankfurt am Main 1998. Uzarewicz, Michael: Der Leib und die Grenzen der Gesellschaft. Eine neophäno­ menologische Soziologie des Transhumanen, Stuttgart 2011.

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Berühren und berührt werden von Tieren

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Robert Pütz

Reiten als leibliche Kommunikation. Zum Potenzial der Neuen Phänomenologie für die Human-Animal-Studies

1. Einleitung In den vergangenen Jahren haben sich international wie im deutsch­ sprachigen Raum die sogenannten Human-Animal Studies als vitales Forschungsfeld etabliert, in dem fast alle Geistes- und Sozialwissen­ schaften vertreten sind.1 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Tieren war bis dahin eine Domäne der Naturwissenschaften, vor allem der Biologie und Zoologie; in anderen Disziplinen hatte sie einen Nischencharakter. Gründe für die sozialwissenschaftliche Hin­ wendung zu den Tieren sind erstens die gegenwärtigen Herausforde­ rungen des Anthropozän sowie die damit einhergehenden Prozesse, wie z. B. die planetare Urbanisierung, welche tierliches Leben und Artenvielfalt auf dem Planeten in dramatischer Weise bedrohen und beeinflussen. Damit gehen zweitens ethische und politische Fragen einher, die ein verantwortungsvolles Verhältnis gegenüber nicht-menschlichem Leben fordern: Nie wurden Fragen von Tier­ rechten so prominent auch in den Medien diskutiert2 und werden Forderungen wie »Recht auf Stadt« oder »Umweltgerechtigkeit«, die bislang ausschließlich anthropozentrisch konzeptualisiert wurden,

1 Das Feld der Human-Animal Studies ist zu heterogen, um es in wenigen Sätzen zusammenfassen zu können. Vergleiche hierfür vor allem Überblicksdarstellungen und Sammelbände z.B. Arbeitskreis Chimaira 2011; Marvin und McHugh 2014; Ferrari und Petrus 2015; Kompatscher et al. 2017; für die Geographie Philo und Wilbert 2000. 2 vgl. vor allem die breite Rezeption des aktuellen Buches der einflussreichen Philo­ sophin Martha Nussbaum, Justice for animals (Nussbaum 2023).

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Robert Pütz

auch auf Tiere bzw. nicht-menschliches Leben übertragen.3 Drittens schließlich lassen sich theoretische Entwicklungen in den Geistesund Sozialwissenschaften anführen, die explizit das auch in der Wissenschaft vorherrschende Denken in Natur-Kultur-Dualismen überwinden wollen. Anstatt beispielsweise eine anthropologische Differenz nachweisen zu wollen und Unterschiede von Mensch und »Tier« (als homogene Kategorie, die per se schon einem menschlichen Ordnungsschema entspringt4) als Erkenntnisziel zu formulieren, werden die Grenzen von Natur und Kultur als flüssig verstanden, Natur und Kultur als sich gegenseitig konstituierend und in natural­ cultural contact zones unterschiedliche Konfigurationen von Räumen zwischen den Arten hervorbringend.5 Geht es um theoretische Ansätze, denken die meisten wahr­ scheinlich an die Actor-Network-Theory (ANT), Assemblage-Kon­ zepte, die Science and Technology Studies (STS) oder andere Ansätze, die sich als mehr-als-menschlich beschreiben und konzeptionell wie methodisch nach Wegen suchen, den engen Fokus auf (menschliche) Gesellschaft zu überwinden.6 Anschlussfähigkeit zu Forschung über Mensch-Tier-Verhältnisse besteht hier insbesondere über Denken in Netzwerken und, damit verbunden, ein erweitertes und dezen­ triertes Verständnis von Agency. Diese wird vom Vorhandensein eines Bewusstseins gelöst und verstanden als auch nicht-intentionale Fähigkeit, Veränderungen (bei anderen Entitäten im Netzwerk) her­ vorzurufen7. Mit dieser Auffassung von Handlungsmacht werden auch Tiere (oder Dinge etc.) prinzipiell als Akteure konzeptualisiert, was für das Grundverständnis der Human-Animal Studies zentral ist. Neben solchen Ansätzen besteht in sozial- und geisteswissen­ schaftlichen Human-Animal Studies darüber hinaus schon früh eine Affinität zu phänomenologischen Ansätzen. Dies zeigen die Wieder­ entdeckung der phänomenologisch inspirierten Biologie von Uexkülls aus den 1920er Jahren, der das Verhältnis von Tieren zu ihrer Umwelt zutiefst individualistisch konzipiert, oder die breite Rezeption der

vgl. Haraway 2018; Shingne 2020; Hubbard und Brooks 2021, Kornherr und Pütz 2022. 4 Derrida 2010. 5 vgl. Whatmore 2002; Haraway 2008; Gesing et al. 2019. 6 Für die Humangeographie z. B. die Beiträge in Steiner et al. 2022. 7 vgl. v. a. Latour 2005. 3

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Reiten als leibliche Kommunikation

phänomenologischen Anthropologie Ingolds, um nur zwei Beispiele zu nennen8. Mein Beitrag setzt hier an und ist ein Plädoyer, insbesondere die Neue Phänomenologie von Herrmann Schmitz9 aufzugreifen und für die Human-Animal Studies in Wert zu setzen, wo sie bislang noch nicht in nennenswertem Umfang rezipiert wurde. Und zwar insbesondere sein Konzept leiblicher Kommunikation und seine Konzeptualisierung von Situation. Damit verbunden ist zunächst die grundsätzliche Auffassung, sich den Begegnungsräumen von Mensch und Tier stets aus einer leiborientierten Position zu nähern (und nicht z. B. auf der Ebene von Diskursen stehenzubleiben und sich so dem berechtigten Vorwurf eines „›writing out‹ of nature«10 auszusetzen). Denn Tiere kommunizieren – untereinander aber auch mit Menschen – ausschließlich leiblich: Leibliche Kommunikation ist die Grundform der Kommunikation zwischen den Arten11 und Grundform mehr-als-menschlichen Miteinanders in der Welt als geteiltem Lebensraum. Beitrag leibsensibler Human-Animal Studies wäre es damit, ausgehend von leiblicher Kommunikation grundsätz­ liche Fragen gegenwärtiger Gesellschaft-Natur-Verhältnisse in den Blick nehmen zu können, d. h. über die Analyse von situierten Mensch-Tier-Begegnungen auf der Mikroebene auch das Verhältnis von Gesellschaft und Tieren auf der Makroebene analysieren zu kön­ nen. Und Herrmann Schmitz hat in seiner Neuen Phänomenologie eine komplexe Systematik entwickelt, die dies ermöglicht. Kurz zusammengefasst sehe ich Anknüpfungspunkte von Schmitz für die Human-Animal Studies in drei Punkten. Erstens: Im Unterschied zu vielen anderen Phänomenologien setzt Hermann Schmitz nicht das menschliche Bewusstsein ins Zentrum seiner Theorie, sondern affektives Betroffensein. Anders als Bewusstsein zeichnet dies Menschen wie empfindungsfähige Tiere gleichermaßen aus, was seine Konzeption prinzipiell auf Begegnungen zwischen den Arten übertragbar macht. Zweitens: Das Verhältnis leiblich empfin­ dender Wesen zu ihrer Umwelt konzipiert Schmitz mit »leiblicher vgl. Uexkülls 2014 [1921]; vgl. Ingold (2000); vgl. jüngst z. B. den Sammelband zur Situiertheit von Mensch-Tier-Beziehungen Breyer und Widlok 2018; vgl. Beiträge von Kornherr 2023 und Gieser 2023 in diesem Band. 9 vgl. Schmitz 1980: 2009. 10 Wolch 2002: 730. 11 Anschließend an Gugutzer, der leibliche Kommunikation als »Grundform des (transhumanen) Sozialen« bezeichnet hat (2017: 151). 8

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Kommunikation«. Diese geht immer über den materiellen Körper hinaus und umfasst auch Dinge, Halbdinge und Atmosphären, die in Kommunikationssituationen relevant sind und diese mitkonsti­ tuieren. Hermann Schmitzʼ Theorie ist damit in ihrer Anlage als »transhuman« zu betrachten, darauf haben Uzarewicz und Gugutzer mehrfach hingewiesen12, was sie als theoretische Folie für die HumanAnimal Studies prädestiniert13. Drittens zeichnet seine Theorie ein umfassend ausgearbeitetes Verständnis von Situation aus, in die jegliche leibliche Kommunikation eingebunden ist. Situationen in seiner Konzeption verbinden stets Mikro- und Makroebene, weil in Situationen leiblicher Kommunikation stets übergeordnete Struk­ turen, z. B. in Form von »Programmen«, wirksam werden. Damit kann ein Dilemma überwunden werden, das vielen Arbeiten aus den Human-Animal Studies vorgeworfen wird, dass nämlich systemische und auch politische Aspekte häufig zu kurz kämen, da ihr Augenmerk mit Fragen zu Agency, Begegnungen und relationaler Ethik eher auf die Mikroebene ziele.14 Ich möchte im Folgenden damit erstens zeigen, dass die Neue Phänomenologie für Forschungen, die sich mit Mensch-Tier-Ver­ hältnissen auseinandersetzen, in Wert gesetzt werden kann und grundsätzlich anschlussfähig für postdualistische Ansätze ist, welche explizit(er) das Denken in Natur-Kultur-Dualismen zu überwinden suchen.15 Zweitens möchte ich ausgehend von Schmitzʼ Konzeption leiblicher Kommunikation die Stärken einer leiborientierten Perspek­ tive für die Human-Animal Studies aufzeigen, weil sie in einzigartiger Weise die Kommunikation zwischen den Arten in den Blick nehmen kann. Drittens soll der Beitrag ein Plädoyer dafür sein, leibliche Kom­ munikation nicht nur als Gegenstand von Forschung zu begreifen, sondern gleichermaßen als Modus wissenschaftlicher Erkenntnis.

vgl. Uzarewicz 2011; Gugutzer 2017. Pütz et al. 2022. 14 Für die animal geographies z. B. Srinivasan 2016. 15 Schmitz selber hat seine Theorie in einem Beitrag »Wie Tiere sind« auch schon explizit auf Tiere übertragen und z. B. deren Fähigkeit zu affektiver Betroffenheit und leiblicher Kommunikation herausgearbeitet (Schmitz 2003). Er scheint mit der starken Betonung der Unterschiede von Mensch und Tier aber eher eine anthropologi­ sche Differenz herauszuarbeiten suchen, denn durch Betonung speziesübergreifender leiblicher Kommunikation oder geteilter Situationen solche Mensch-Tier-Dualismen kritisch zu beleuchten. 12

13

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Reiten als leibliche Kommunikation

Mein Beitrag setzt an der Mikroperspektive an und fokussiert Situationen der Begegnung von Menschen und Pferden – und zwar in einer sehr spezifischen Form: dem Reiten16. Reiten scheint als empirisches Beispiel geeignet, weil es auf der Mikroebene als sehr intensive und komplexe Form leiblicher Kommunikation zwischen den Arten angesehen werden kann (vergleichbar dem Tanz als Beispiel für rein menschliche leibliche Kommunikation17), zugleich aber auf der Makroebene in große Zusammenhänge des Verhältnisses von Menschen zu Tieren eingebunden ist. Hierzu zählen beispielsweise das gesellschaftliche Verhältnis zu Tieren in der Konsumgesellschaft (z. B. Pferde und Pferderassen als Statussymbol), die Einbindung in Märkte für lebendige Waren (z. B. Pferdezucht und -handel) oder tiergestützte Dienstleistungen (z. B. Pferdeshows), aber auch die Präsenz mächtiger Diskurse (z. B. die symbolische Bedeutung des Pferdes, Traditionen von Hofreitschulen, Reitlehren). Der Fokus des Beitrags liegt aber auf leiblicher Kommunikation als Kernkonzept. Die empirischen Beispiele meines Beitrags entstammen aus zwei unterschiedlichen Quellen. Erstens verwende ich Material aus eigenen empirischen Arbeiten, die Pferd-Mensch-Begegnungen zum Ausgangspunkt für grundsätzlichere Fragen zu Mensch-Tier-Verhält­ nissen genommen haben: ●

Eine Studie mit Antje Schlottmann, bei der wir einen Konflikt um den Umgang mit einer Wildpferdeherde in einem namibischen Nationalpark zur Diskussion für die Frage nehmen, wie Natur von unterschiedlichen normativen Vorstellungen geprägt ist, wie sich dies in umkämpften Naturschutznormativen niederschlägt und wie dies wiederum auf der Mikroebene die leibliche Kom­ munikation von Wildpark-Mitarbeitern mit Wildpferden beein­ flusst.18

16 Mensch-Pferd-Beziehungen standen aufgrund der genannten Spezifik schon häu­ figer Gegenstand wissenschaftlicher Analysen. Maurstad et al. haben herausgearbei­ tet, wie Mensch und Pferd sich in einer langen Beziehung wechselseitig hervorbringen (Maurstad et al. 2013), Vinciene Despret hat am Beispiel von Mensch-Pferd-Kom­ munikation ihr Konzept von embodied empathy entwickelt (Despret 2004), Birke und Brandt analysieren unterschiedlicher Reitweisen genderspezifisch (Birke und Brandt 2009), um nur einige Arbeiten der in diesem Bereich wichtigsten Autorinnen zu nennen. 17 vgl. Gugutzer 2014: 99ff. 18 Pütz und Schlottmann 2021.

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Eine Studie zur Vermarktlichung amerikanischer Wildpferde (American Mustangs) in Deutschland, bei der empirisch vor allem die Ausbildung und die Versteigerung der Pferde im Fokus steht und ich der Fragen nachgehe, wie lebendige Waren »Wert« erhalten, welche Akteure und Verfahren daran beteiligt sind und welche Rolle »Wildnis« dabei spielt.19 Laufende Arbeiten zu Arbeitstieren, bei der die Frage im Vorder­ grund steht, inwieweit und wie Arbeitsbeziehungen auch in der Gegenwart (in der auch Mensch-Tier-Beziehungen gemeinhin eher durch Konsum, denn durch Arbeitsverhältnisse geprägt sind20) Geographien von Mensch-Tier-Verhältnissen prägen. Im Vordergrund stehen Momente gemeinsamer Arbeit mit Pferden und deren Ausbildung in einer Reiterstaffel der Polizei.





Zweitens führte ich narrative Interviews mit einer mir persönlich sehr gut bekannten Reiterin und Pferdehalterin, um Erzählungen über Begegnungen zu generieren, die mit affektivem Betroffensein, leibli­ cher Kommunikation, Bedeutung von Atmosphären und Situationen im Sinne von Schmitz betrachtet werden können. Diese tierzentrier­ ten Erzählungen21 unterschieden sich in mehrfacher Hinsicht von üblicher qualitativer Feldforschung: Interviewer und Interviewte kennen sich seit vielen Jahren, wodurch von Beginn an ein vertrauensvolles Verhältnis bestand und auch Dinge ausgesprochen werden konnten, die man frem­ den Personen so nicht sagen würde. Interviewer und Interviewte teilen eine große Leidenschaft für Pferde und reiten beide, so dass das Sprechen über Erlebnisse mit Pferden sowie das Teilen der Emotionen und affektiven Betroffenheiten darin nicht ungewöhnlich waren (wie sie es in Interviews gemeinhin wären). Dadurch konnten Aussagen erzeugt werden, die gegenüber Nicht-Reitern vermutlich nicht getroffen worden wären. Die Interviewte war auf eigenen Wunsch an der Weiterverarbei­ tung ihrer Texte beteiligt. Sie erhielt also ein Interviewtranskript zur Überarbeitung und konnte ihre Interviewpassagen eigen­ ständig verdichten. Insofern unterscheidet sich das Material auch textlich von dem, was üblicherweise in Interviews erzeugt wird.







19 20 21

Pütz 2020, 2021. Pütz und Poerting 2020. Schröder 2022: 326 ff.

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Reiten als leibliche Kommunikation

Außerdem versuche ich einen neophänomenologisch angeleiteten Blick in Reitlehren, d. h. systematische Darstellungen über die Ausbil­ dung von Pferden. Spätestens hier wurde deutlich: Das Projekt einer »Phänomenologie des Reitens« steht erst am Anfang und füllt eher ein dickes Buch als einen schlanken Aufsatz.

2. Reiten als leibliche Kommunikation Reiten ist ein Paradebeispiel dafür, Kernkonzepte der Neuen Phäno­ menologie auf Begegnungen zwischen den Arten zu übertragen und ihr transhumanes Potenzial für Arbeiten der Human-Animal Studies zu verdeutlichen. Denn Begegnungen zwischen den Arten sind stets durch leibliche Kommunikation geprägt – und bei kaum einer ande­ ren Begegnung kommt dies so zum Ausdruck wie beim Reiten, da menschlicher und tierlicher Leib hier in einzigartiger Weise eine Verbindung eingehen. Im Beitrag konzentriere ich mich auf die Praxis des Reitens, wenngleich zur Verdeutlichung auch nicht-reiterliche Begegnungen zwischen Mensch und Pferd behandelt werden, die ebenso durch intensive leibliche Kommunikation und durch affektive Betroffenheit gekennzeichnet sind. Und zwar sowohl auf Seiten des Menschen als auch auf Seiten des Pferdes, und sowohl hinsichtlich des Erlebens des leiblichen Gegenübers als auch des Ausdrucks zu ihm. Das Riechen des Pferdeatems (beziehungsweise des menschlichen Atems), das Erspüren von Fell, Mähne und Nüstern (beziehungs­ weise der menschlichen Hand), das Betrachten der jeweils anderen Bewegungen. Zugleich vermittelt sich der Leib als Ausdruck zum Gegenüber und wird durch diesen erlebt – das Berochenwerden im Pferdeatem, das Berührtwerden von Nüstern, das Betrachtetwerden im Ausdruck von Augen und Ohren. Neben leiblichem Erleben sind auch machtvolle Diskurse und eine sehr lange Beziehung Teil aktueller Situationen von MenschPferd-Begegnungen: Seit Jahrtausenden machte sich der Mensch Eigenschaften des Pferdes zu Diensten, um die Welt zu erobern: die Schnelligkeit in der Raumüberwindung, die Kraft in der Land­ wirtschaft und als »lebende Maschine«22 in den Städten des Indus­ triezeitalters, die Wendigkeit im Krieg und die Sensitivität in der tiergestützten Therapie. Darüber hinaus war das Pferd immer schon 22

McShane/Tarr 2007.

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auch Symbol der Sehnsucht des Menschen nach einer Verbindung zur Natur, die in literarischen und künstlerischen Darstellungen sowie mythischen Gestalten wie den Zentauren als symbiotischem Wesen aus Mensch und Pferd zum Ausdruck kommt. Und schließlich sind in Situationen menschlicher Begegnung mit dem Pferd vielfältige Dinge und Halbdinge sowie normative Elemente von Körperbildern bis zu Wettbewerbsregeln anwesend. Dazu später mehr.

2.1 »Feine Hilfen« Zentral für Schmitzʼ Entwurf einer Neuen Phänomenologie ist die Konzeption von »leiblicher Kommunikation«, durch die Menschen wie Tiere mit Welt verbunden sind. Er unterscheidet dabei einseitige und wechselseitige Einleibung. »Wenn der sonst immanent leibliche Dialog gleichsam herausgekehrt und an Partner – zwei oder mehr als zwei, darunter eventuell auch leblose, keines eigenen Spürens fähige Dinge oder Halbdinge, wie im Fall des Knäuels oder Balles, womit die Katze spielt – verteilt ist, bildet sich ad hoc so etwas wie ein übergreifender Leib, in dem die Rolle der Enge, die zugleich Quelle des den Leib durchziehenden und ordnenden Richtungsgefüges ist, jeweils von einem der Partner übernommen wird; das ist Einleibung. Wenn die dominierende Rolle, Träger der Enge des übergreifenden Leibes zu sein, konstant bei einem Partner bleibt, […] ist die Einleibung einseitig, sonst, wenn die Partner sie einander oszillierend zuspielen, wechselseitig.«23

Leibliche Kommunikation bezieht sich also auch auf nichtlebende Entitäten wie Dinge oder Atmosphären – in diesem Falle ist die Einleibung einseitig – und hinsichtlich ihrer Fähigkeit zu wechsel­ seitiger Einleibung unterscheiden sich Tiere prinzipiell nicht vom Menschen. Gugutzer bezeichnet leibliche Kommunikation daher als »Grundform des (transhumanen) Sozialen«24. Übertragen auf die Human-Animal Studies läßt sich an dieses erweiterte Verständnis des Sozialen anschließen und leibliche Kommunikation als Grundform der Kommunikation zwischen den Arten auffassen. Unter allen Formen wechselseitiger leiblicher Kommunikation zwischen Mensch und Tier sticht das Reiten hervor, weil es wie 23 24

Schmitz 1998b: 24. Gugutzer 2017: 151.

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Reiten als leibliche Kommunikation

keine andere für eine komplexe körperbezogene Kommunikation zwischen den Arten steht. Und weil sich Menschen seit Jahrtausenden damit auseinandersetzen. Die gesamte Reitliteratur seit Xenophon beschäftigt sich letztlich mit nichts anderem als der Praxis leiblicher Kommunikation von Mensch und Pferd und ist seit Jahrtausenden bestrebt, diese in ihren kleinsten Details zu verstehen, zu erlernen, zu lehren und – vor allem – bei Mensch, wie Pferd permanent zu »verfeinern«. Zur Konzeptualisierung von Reiten als leibliche Kommunika­ tion ist die Unterscheidung Schmitzʼ von antagonistischer und soli­ darischer (wechselseitiger) Einleibung hilfreich: Antagonistisch ist die Einleibung dann, wenn die Beziehung zwischen den Beteiligten asymmetrisch ist und einer von beiden »das Heft in der Hand hat«, d. h. das Richtungszentrum des übergreifenden Leibes ist, wobei die dominante Rolle bei antagonistischer Kommunikation auch stetig zwischen den Beteiligten wechseln kann (wie bei einem Gespräch).25 Solidarische Einleibung beschreibt dagegen eine symmetrische Bezie­ hung, bei der keiner der Partner eine dominierende Rolle einnimmt. Aus meinen ethnographischen Beobachtungen und Interviews sowie auf Grundlage der meisten Reitlehren kann ich – zunächst sehr verallgemeinert – feststellen, dass solidarische wechselseitig Einleibung das Ziel der Reitkunst26 ist, sich in der Praxis des Rei­ tens antagonistische und solidarische Einleibung aber permanent abwechseln, wobei antagonistische Einleibung über weite Strecken dominiert.27 Ray Hunt, einer der Vorbildfiguren des sogenannten Horsemanship28, beschreibt, wie er von Beginn der Pferdeausbildung Schmitz 1998b: 39ff. Ich beschäftige mich in diesem Beitrag ausschließlich mit Reitformen und Reit­ weisen, die sich im weitesten Sinne als »Reitkunst« fassen lassen, d. h. dass – wie bei einem Künstler, der eine Verfeinerung seiner künstlerischen Ausdrucksformen anstrebt – eine Verfeinerung der reiterlichen Hilfengebung das Hauptziel ist. Die Welt des Reitens kennt aber sehr unterschiedliche Reitweisen mit sehr unterschiedlichen »Programmen«, d. h. Zielsetzungen (z. B. Wettbewerbe gewinnen, Erlöse aus Pferde­ zucht erzielen, Zirkuspublikum erfreuen), welche den Umgang mit dem Pferd häufig dominieren und denen »feine Hilfengebung« nachgeordnet ist. 27 Dies ist zunächst wertfrei zu verstehen, antagonistische Einleibung kann aber beim Reiten auch gewaltförmig sein und ist es auch häufig (s. u.). 28 Horsemanship ist keine in sich geschlossene Reitdisziplin. Sie lässt sich am besten als eine Art »Haltung« begreifen, beruht darauf, als Mensch die körperlichen und mentalen Grundbedürfnisse des Pferdes zu respektieren, es also gesund zu erhalten und zu einem vertrauensvollen und vor allem für das Pferd angstfreien Miteinander 25

26

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versucht, dem Ideal eines Reitens zu folgen, in dem Pferd und Mensch zu einem übergreifenden Leib verschmelzen: »I try to visualize my body and the horseʼs body as one. Since my feet do not touch the ground I think of his feet and legs as being mine. […] When the horse moves and you move with him, your idea and his idea become one. He isnʼt dragging you and you arenʼt pushing him along. It is feel, timing, and balance.«29

Hier werden zwei Dinge deutlich: Zum einen kann mit Schmitz dieses leibliche Synchronisieren als wechselseitige Einleibung in ihrer solidarischen Form benannt werden30. Der reitende Mensch fühlt die Pferdebeine, als seien es die eigenen. Er synchronisiert seine Bewegungen mit denen des Pferdes, bewegt sich »mit ihm«, die gemeinsame Bewegung ist von beiden Seiten durch Abwesenheit von »groben Hilfen« wie Ziehen und Treiben gekennzeichnet. Während die auf Reitplätzen häufig beobachtbare Unterrichtspraxis ausschließ­ lich auf den Körper von Reiter wie Pferd zielt (z.B. »Rücken gerade«, »mehr linker Schenkel« für die Menschen, »mehr Biegung«, »Kopf höher« für die Pferde), werden im Zitat leibliche Aspekte betont, dass z. B. durch die Synchronisierung der Bewegungen nicht nur das rein Körperliche betrifft, sondern auch eine Art Synchronisierung der Wahrnehmung und Vorstellungen einsetzt. Mit feel, timing and balance benennt Hunt drei Grundlagen »feinen Reitens« im speziellen Vokabular des Horsemanship. Häufig anders benannt, sind sie aber mehr oder weniger eine Basis aller Reitlehren. Wenn Gefühl, Timing oder Balance nicht mehr gegeben sind (und zwar meist, aber nicht nur, in Folge einer reiterlichen »Hilfe«), muss entsprechend Schmitzʼ Konzeption solidarische leib­ liche Kommunikation in antagonistische leibliche Kommunikation zu gelangen. Der Begriff wird vor allem mit Namen wie Tom Dorrance oder Ray Hunt verbunden, die sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts von den meist sehr brutalen Formen des Einreitens von Jungpferden – die englische Bezeichnung »Break a horse« ist hier Programm – distanzierten und neue Wege des Einreitens entwickelten und auch lehrten. Ihre Schulen sind nur mündlich überliefert oder von Schülern notiert (z. B. Dorrance 1987; Dorrance/Desmond 2007; Hunt 1978). Zu eigenständigen Reit­ schulen ausgebaut wurden Sie dann am prominentesten von Pat Parelli (2003) und Buck Brannaman (Brannaman/Reynolds 2004). Im Prinzip stecken Grundprinzipien des »horsemanship« aber bereits in vielen klassischen Reitlehren oder werden jüngst in diese integriert. 29 Hunt 1978: 13. 30 Schmitz 2009: 14f.

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Reiten als leibliche Kommunikation

übergehen. Denn mit jeglichen Hilfen beeinflusst der Reiter aktiv die Bewegungen des Pferdes. Mit Schmitz lassen sich solche Hilfen also als »Bewegungssuggestion«31 bezeichnen, die er als wesentliches Medium von Einleibung ansieht. Solche Bewegungssuggestionen beinhalten nicht nur die körperlich spürbaren Bewegungen wie drü­ cken oder stoßen, sondern umfassen auch musikalische oder rhyth­ mische Phänomene wie Takt, Schwung oder das im Zitat benannte timing. Damit ist das zeitliche Zusammenfallen von Bewegung und Bewegungsimpuls gemeint, welches eine – mit Schmitz – »synchrone Abgestimmtheit der Partner ohne (merkliche) Reaktionszeit«32 erst ermöglicht. Feel, timing und balance spielen dabei häufig zusammen – und sie müssen im Sinne eines learning to be affected (s. u.) gelernt werden. So kann das unzulängliche Spüren der Bewegungen des Pferdes durch einen unerfahrenen Reiter (der vielleicht mehr darauf bedacht ist, nicht herunterzufallen, statt sich auf die Bewegungen des Pferdes einzulassen) dazu führen, dass er eine Hilfe für »Setze das rechte Vorderbein nach außen« in einem Moment gibt, in dem das Pferd dies physikalisch nicht umsetzen kann, weil es schlicht gerade dieses Vorderbein belastet. Wie ein Handballtorhüter, der auf dem »falschen Fuß« erwischt wird und dadurch in seiner Bewegung fast erstarrt, oder ein Tänzer, der seine Partnerin mit einem richtigen Impuls aber zur falschen Zeit zum Stolpern bringt, führt falsches timing (als Ergebnis unzureichenden feelings) unweigerlich zu einer Störung der Balance des Pferdes (balance). Im Endeffekt streben alle Reitlehren im idealtypischen, sehr sel­ ten erreichten Endresultat nach einer Form solidarischer Einleibung, die im Prinzip keiner weiteren Hilfen bedarf, sondern auf einem gemeinsamen Verständnis und einer gemeinsamen Ausführung einer Bewegungssequenz – nie handelt es sich um einen längeren Zeitraum – beruht. Eine Reitlehrerin greift hierfür auf die Figur des Zentauren aus der griechischen Mythologie zurück: »Wir nennen das zentaurische Momente, so die völlige Verschmelzung mit dem Pferd. Körperlich und mental. Das sind die Momente, nach denen wir streben mit unserer Reitkunst.«33

31 32 33

Schmitz 1980: 91f. Schmitz 1998b: 38. Trainerin 2020.

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Dass Hilfen in einem solchen Stadium nur noch die Aufgabe haben, eine Vorstellung zu vermitteln, brachte Nuno Olivera, eine der wohl führenden Reiterpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, als Ratschlag an seine Schüler treffend auf den Punkt: »Versuchen Sie, mit der Zartheit Ihrer Hilfen Neugier zu erwecken.«34 In der basalsten Form sind reiterliche Hilfen Impulse zum Losge­ hen oder Anhalten, zu Tempo- oder Gangartwechseln (Schritt, Trab, Galopp) oder zu Richtungsänderungen. Wenn die Reitkunst fortge­ schritten ist, sind es vermehrt Hilfen, mit denen Mikrobewegungen des Pferdes angeregt werden. Es soll z. B. die Hinterhand vermehrt »untersetzen« (nach vorne gebracht werden), um dort mehr »Last aufzunehmen« und sich dadurch »zu versammeln«, weil dies auf der einen Seite den ganzen Pferdekörper ansprechbar macht und noch feinere Kommunikation ermöglicht und auf der anderen Seite der Pferdegesundheit zuträglich ist, weil es das Reitergewicht besser tragen kann; bis hin zu therapeutischen Reitübungen, wenn durch gezieltes Dehnen muskuläre Verspannungen gelöst werden sollen – und zwar je nach Kontext im Menschen oder im Pferd. Für eine neophänomenologische Perspektivierung der Hilfenge­ bung ist Schmitzʼ Verständnis des »vitalen Antriebs«35 anschlussfä­ hig, bei dem die antagonistischen Tendenzen »der expandierenden Weitung und der sie hemmenden und die Leibesinseln zusammen­ haltenden Engung«36 ineinanderwirken. Übertragen auf die leibliche Kommunikation von Mensch und Pferd heißt dies, dass Mensch und Pferd durch einen gemeinsamen vitalen Antrieb miteinander in Engung/Weitung bzw. Spannung/Schwellung verbunden sind. Dieses Grundprinzip kann in den Zusammenhang mit Hilfengebung gebracht werden. Eine Hilfe besteht nämlich nach Auffassung der meisten Reitlehren stets aus zwei zeitlich aufeinander folgenden Elementen, die jeweils Engung und Weitung auslösen, und zwar im Prinzip als nicht-intendierte Folge intendierten Handelns. Engung steht dabei für die Spannung, die jede Hilfe erzeugt, wenn z. B. ein Schenkelimpuls oder eine Gewichtsverlagerung die Veränderung einer gemeinsamen Bewegung hervorrufen soll. Die Weitung steht für die Entspannung, die durch das Loslassen der Hilfe entsteht, womit der Reiter auf die Umsetzung der gewünschten Bewegungs­ 34 35 36

Oliveira 2016. Schmitz 1998a. ebd.: 17.

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Reiten als leibliche Kommunikation

suggestion durch das Pferd reagiert (bzw. reagieren sollte). Dieser zweifache Charakter einer Hilfe als Bedingung für »feines Reiten« findet sich bereits in einer der ältesten bekannten Reitlehren, dem »Buch von der Reitkunst« (Peri Hippikes), die der griechische Philo­ soph Xenophon vor mehr als 2.000 Jahren verfasst hat – und die bis heute referiert wird: »Wenn man das Pferd aber anhält und es dadurch den Nacken hebt, muss man sofort den Zügel lockerlassen. Im Übrigen muss man, wie wir nicht aufhören zu sagen, jedes Mal, wenn das Pferd etwas gut macht, ihm etwas Angenehmes erweisen. Wenn man dann merkt, dass das Pferd an der Erhebung des Nackens und der weichen Führung seine Freude hat, darf man dabei keine schweren Aufträge geben, als ob man es zwingen wollte, sich anzustrengen, sondern muss ihm schmeicheln.«37

Anders als z. B. beim Tanzen, bei dem sich die Tanzpartner auch verbal über bestimmte Abläufe und auch die Bedeutung körperlicher Signale verständigen können, können sich Signale zwischen Mensch und Tier nur nichtdiskursiv vermitteln, nämlich über Einleibung. Dies findet ohne merkliche zeitliche Differenzierung statt. Denn eine Hilfe ist – im Idealfall – immer zugleich vermittelnd, in dem sie eine bestimmte Bewegung anzeigt, welche die beiden Leiber gemeinsam ausführen sollen, sie ist gleichzeitig auch spürend, in dem sie die Qua­ lität gemeinsamer Ausführung erfühlt. Sie wirkt mit zeitlich kaum wahrnehmbarer Distanz also sowohl affizierend als auch affiziert werdend. Eine Hilfe im Sinne eines »fühlenden Sitzes«38 hat nicht nur die Aufgabe, ein Signal zu vermitteln, sondern gleichermaßen, Signale zu empfangen. In diesem doppelten Charakter einer Hilfe ist auch begründet, dass Reiten überhaupt eine Einleibung in solidarischer Form sein kann. Wäre sie ausschließlich den Willen des Reiters übertragend, könnte sie ausschließlich Einleibung in antagonistischer Form sein. Dieses Wechselspiel macht sich auch im oben erwähnten timing bemerkbar, dass eine Hilfe nur dann gegeben werden sollte, wenn das Pferd sie auch ausführen kann – und zwar leiblich gedacht! Der Gangartwechsel von Schritt in Galopp beinhaltet nämlich nicht nur, den Moment z. B. des Abfußens des angaloppierenden Beines 37 38

Brodersen 2018: 135. Branderup 2018: 27.

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rein körperlich zu erkennen, sondern auch zu fühlen, ob das Pferd insgesamt leiblich bereit ist, diesen Übergang auszuführen. Ob es beispielsweise eine innere »Haltung« zeigt, die für den Galopp not­ wendige Spannung und die »Idee« von Galopp. Letztlich ist also das Pferd maßgeblich daran beteiligt, dem Reiter zu vermitteln, dass der richtige Moment für eine neue Übung gekommen ist, wie es Gustav Steinbrecht schon 1884 in seinem »Gymnasium des Pfer­ des« beschrieb.39 Reiten als leibliche Kommunikation macht die beiden Beteiligten nicht nur wechselseitig affektiv betroffen, sondern es schult dieses auch. Das ist die Basis für immer feinere Ausdrucksformen. Bruno Latour fasst ein solches immer gemeinsam zu denkendes Schulen und Geschultwerden als Grundlage von Leiblichkeit überhaupt auf: »To have a body is to learn to be affected, meaning ›effectuated‹, moved, put into motion by other entities, humans or non-humans«40. Er bezieht sich dabei auf Vinciane Despret, die wiederum explizit PferdMensch-Begegnungen heranzieht, um Kommunikation zwischen den Arten zu beschreiben: »Both, human and horse, are cause and effect of each other’s movements. Both induce and are induced, affect and are affected. Both embody each other’s mind.«41 Aus solchen Praktiken leitet Despret ihr Konzept einer embodied empathy ab, die – wie Schmitzʼ leibliche Kommunikation – nicht auf menschliche Entitäten beschränkt und damit auch geeignet ist, das Denken in Mensch-Natur-Dualismen zu überwinden: »A concept which describes feeling/seeing/thinking bodies that undo and redo each other, reciprocally though not symmetrically, as partial perspectives that attune themselves to each other. Therefore, empathy is not experiencing with oneʼs own body what the other experiences, but rather creating the possibilities of an embodied communication.«42

39 40 41 42

Steinbrecht 2001 [1884]. Latour 2004: 205. Despret 2004: 115. Despret 2013: 51.

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2.2 Reiten als Begegnungswert Nun ist solidarische Einleibung mit Schmitz: »streng genommen nur möglich, wenn die Einleibung insgesamt min­ destens drei Teilnehmer hat, von denen sich zwei, die mit einander solidarisch verbunden sein können, zum dritten, der die dominante Rolle des fesselnden Zentrums übernimmt, in der Weise antagonisti­ scher Einleibung verhalten.«43

Diese Rolle des »Dritten« muss aber kein Bewussthaber sein, sondern kann »auch an irgend eine Sache, die nicht Subjekt und insofern kein echter Partner ist, gleichsam ausgeliehen werden, etwa an den Fußball im Fußballspiel«44. Was übernimmt beim Reiten diese Funktion des »Dritten«, auf den sich die solidarische Einleibung bezieht, und der im Sinne eines »gemeinsamen Bezugspunkts« gedacht werden kann? Schmitz selber nennt als Beispiel das »Musikstück«, das diese dritte Rolle beim gemeinsamen Singen spielt45. Übertragen auf Tanz wäre das die Choreographie, übertragen auf Reiten eine Sequenz daraus, eine Bewegungsform, die zur gemeinsamen Ausführung ansteht, z. B. eine Pirouette oder eine Piaffe, eine Hufschlagfigur oder ein Gangartwech­ sel. Aus Sicht der Beteiligten hat solidarische Einleibung aber nicht nur einen instrumentellen Charakter, um eine Anforderung wie die erfolgreiche Ausführung gemeinsamen Sägens umsetzen zu kön­ nen46. Mit Blick auf meine ethnographischen Untersuchungen lässt sich für solidarische Einleibung beim Reiten – und vermutlich auch anderswo – konstatieren: Solidarische Einleibung ist auch Selbst­ zweck. Seit Jahrtausenden suchen Menschen die Kommunikation mit Pferden und sind – konzeptionell auf den Ebenen von Reitlehren und alltäglich in der Reitpraxis – permanent damit beschäftigt, diese Kommunikation zu verfeinern. Menschen tun dies aus instrumentel­ len Erwägungen, wenn z. B. in der Kriegsreiterei ihr Leben davon abhängt, aber sie tun es auch immer wieder, weil sie die Kommunika­ tion mit Pferden für sich genommen als wertvoll betrachten, und zwar insbesondere das Spüren solidarischer Einleibung. 43 44 45 46

Schmitz 1998b: 41. ebd. ebd.: 42. ebd., mit Bezug auf Christian 1957.

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Donna Haraway hat den Begriff des encounter value geprägt – als Wert, der in Begegnungen zwischen Arten entsteht47. Encounter value entsteht also nicht wie beim Gebrauchswert durch Einverleibung oder Nutzung eines Gegenstandes, sondern der Wert liegt in der Begeg­ nung zwischen den Arten als Selbstzweck. Das »zwischen den Arten« ist dabei zentral, d. h. es ist nicht das Glücksgefühl solidarischer Einleibung z. B. beim Tanzen gemeint, sondern die Welt durch und mit dem Leib eines andersartigen Lebewesens zu spüren – und sich selber darin zu spüren! So kann durch sich wiederholende und verfeinernde leibliche Kommunikation zwischen zwei Partnern auch plausibilisiert werden, was Maurstad mit mutual becoming oder Haraway mit becoming-with beschreiben48, ein gemeinsames Werden in einer co-konstitutiven Beziehung. Mit den Worten einer interviewten Trainerin: »Als wären wir unterwegs wie ein Körper, aber mit zwei Köpfen, die in einem intimen Dialog miteinander stehen. Immer intimer, immer tiefer, immer besser. Aber das kann ich mit ihr [dem gerade in der Ausbildung befindlichen Pferd] noch nicht, wir sind ja nur erstmal nur Freundinnen, so.«49

Wie auch encounter value basierend auf Begegnungen leiblicher Kom­ munikation im Laufe der Zeit stetig zunimmt, beschreibt eine andere Trainerin eindrücklich anhand einer Jungpferdeausbildung: »Ich beschäftige mich ja sehr, sehr viel mit ihr. Jeden Tag. Und bin auch abends bei ihr, rede mit ihr. Einfach auch so neben ihr stehen und sie streicheln, den Arm um sie legen. Damit sie sich daran gewöhnt. Und weil das auch einfach unheimlich schön ist, Zeit mit ihr zu verbringen […] Weil ich lebe ja davon. Also: Ich lebe ja innerlich davon, dass die Pferde gerne mit mir zusammen sind.«50

Nach meinen Untersuchungen und Erfahrungen gehe ich davon aus, dass auch Pferde eine gegenseitige solidarische Einbindung anstre­ ben. Für jeden offensichtlich wird dies, wenn in Folge einer Bewe­ gungssuggestion wie einem beängstigenden Geräusch eine ganze Pferdeherde in synchronisierter Weise davongaloppiert. Aber auch beim alltäglichen Grasen scheinen Pferde ein Streben nach wechsel­ 47 48 49 50

Haraway 2008. Haraway 2008; Maurstad et al. 2013. Trainerin, 2017. Trainerin 2017.

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seitiger solidarischer Einleibung zu empfinden, wenn z. B. zwei Pferde sich dabei bis ins Detail aneinander ausrichten, wenn sie sich körper­ lich in ihrer Kopf- und Beinstellung und in ihren einzelnen Bewegun­ gen gegenseitig spiegeln, dabei aber auch einen ähnlichen »Ausdruck« zeigen und ihre privaten, d. h. von ihnen erlebten Atmosphären zu verschmelzen scheinen. Eine Reiterin aus meinen Untersuchungen geht davon aus, was sicher die meisten Interviewpartner bestätigen würden, dass ihre Pferde – nicht immer, aber immer wieder – etwas wie Begegnungswert aus solidarischer wechselseitiger Einleibung beim Reiten ziehen: »Ob mein Pferd sich wohl fühlt, wenn wir etwas zusammen machen? Und danach sucht? Ich weiß es natürlich nicht. Aber ich glaube schon – oder hoffe es. Es gibt Momente, da ist es so, wie ich das in der Herde beobachte: Klirrende Kälte, Anspannung bei allen, sie spüren die Energie in der Luft. Alle warten nur darauf, dass von irgendwo ein Impuls kommt. Ein hoppelnder Hase, eine Papiertüte fliegt, ein Ast knackt. Nichts Besonderes – aber alle stürmen los. Manchmal habe ich das so in der Art auch beim Reiten. Wir haben uns beide eingestimmt, wir sind beide vorbereitet und völlig beim andern. Da wartet meine Stute dann wie auf eine fliegende Plastiktüte. Aber auf ein Signal von mir. Und wenn ich dann ein Zeichen gebe, dann haben wir beide die schönste Piaffe51 zusammen. Das kann auch unbewusst sein, es ist einfach für uns beide soweit.«52

2.3 Reiten mit Dingen und in Atmosphären Welche Bedeutung kommt nun den nicht lebendigen Beteiligten in Momenten leiblicher Kommunikation zwischen Mensch und Tier zu, die Schmitz – im obigen Zitat am Beispiel des Wollknäuels als Spielpartner einer Katze – ja explizit erwähnt (vgl. Fußnote 22) und Gugutzer eindrücklich am Beispiel der leiblichen Kommunikation von Sportlern mit »Sportsachen« herausgearbeitet hat?53 Mit Blick Piaffe ist eine trabartige Bewegung auf der Stelle und gilt als kunstförmige Veredelung der Gangart Trab. Die korrekt ausgeführte Piaffe wird von allen Reitlehren seit Jahrhunderten als Bewegung geschildert, die ein Höchstmaß an Durchlässigkeit und Versammlung ebenso voraussetzt (und diese schult) wie das »Verschmelzen zweier Lebewesen« (Branderup 2018: 77). 52 Reiterin 2022. 53 Gugutzer 2015. 51

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auf leibliche Kommunikation beim Reiten kann zunächst konstatiert werden, dass die Einleibungen von Dingen hier sowohl wie erwartet einseitig als aber auch in einer gewissen Seite wechselseitig erfolgen kann, obwohl Dinge an sich nichts einleiben können. Dieser Doppel­ charakter kommt insbesondere Zügeln oder im Maul des Pferdes liegenden Gebissen (Trense oder Kandare) zu, die nämlich für die leibliche Kommunikation von Pferd und Reiter konstitutiv sind. Eine Trainerin bringt dies im Interview sehr plastisch zum Ausdruck: »Es ist viel intimer mit Gebiss. Also, wenn man sich das als Telefon vorstellt: Dann spürt man, wie die Maulwinkel sind: Ob sie nein sagen oder ob sie bereit sind für ein Gespräch. Das sagt ja so viel aus über die emotionale Situation des Pferdes. Und vielleicht auch über das, was das Pferd vorhat. Und ich bin ja dann im Pferd mit dem Gebiss. Und das ist so eine intime Zone, der Mund eines anderen. Es klingt wirklich ein bisschen komisch, nicht wahr?«54

Dinge wie ein Gebiss (aber auch Sättel, Sporen, Zügel, Reitkleidung etc.) sind zentraler Teil der wechselseitigen Einleibung von Pferd und Reiter, sie sind Bestandteil des in der Kommunikation entstehenden »übergreifenden Leibs«55, eben gebildet aus Pferd, Reiter und vermit­ telnden Dingen, die untereinander in leiblichem Dialog stehen. In solchen Konstellationen nehmen Reiter Dinge – wie das Beispiel zeigt – nicht als lebloses Gegenüber einer einseitigen Einleibung wahr, sondern als Ermöglicher bestimmter Formen wechselseitiger Einleibung, auch im solidarischen Modus. Gleichzeitig bleibt die einseitige Einleibung von Dingen relevant, sei es vom Pferd, sei es vom Mensch: als unpassender Sattel, der ein Mitschwingen des Men­ schen mit dem Pferderücken verhindert, oder als unpassendes Gebiss, dass dem Pferd unabhängig vom Gebrauch durch den Menschen Schmerzen bereitet. Eine ähnlich große Bedeutung wie von Dingen für leibliche Kom­ munikation kommt Atmosphären zu, die in der Situation des Reitens stets mitkommuniziert werden.56 Atmosphären sind mit Schmitz stets an Situationen gebunden. So sind Reiten, aber auch Füttern, Streicheln oder gemeinsam die Landschaft betrachten Beispiele für »gemeinsame Situationen zwischen den Arten« (hierzu mehr im Trainerin 2017. Schmitz 1998b: 24. 56 zum Atmosphärenkonzept der Neuen Phänomenologie vgl. vor allem Schmitz‘ Aufsätze in Schmitz 2014. 54 55

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Reiten als leibliche Kommunikation

nächsten Kapitel). Dass eine Situation gemeinsam ist, heißt aber nicht zwingend, dass diese von den Beteiligten auch gleich erlebt wird. Gemeinsame Situationen sind häufig mit »persönlichen Situa­ tionen« verschachtelt, in den sich die Teilnehmenden – ob Mensch oder Tier – befinden. Dies macht sich auch darin bemerkbar, dass in Situationen anwesende Atmosphären subjektiv unterschiedlich gespürt werden. Das wiederum prägt die leibliche Kommunikation zwischen den Beteiligten. Als leibliche Wesen teilen Menschen und Tiere zunächst grund­ sätzlich die Eigenschaft, Atmosphären in Form affektiver Betroffen­ heit erleben zu können57. Das Erlebnis einer Reiterin mit ihrem Wallach macht dies am Beispiel der Pferde deutlich. »Neulich hatte ich das Gefühl, ich habe meinen Wallach beim Meditie­ ren angetroffen. Er stand vollkommen ruhig da. Von weitem dachte ich, er schläft. Aber bei ihm, sah ich, dass er hellwach war. Er blickte ins Tal, die Nüstern weit geöffnet, die Augen ruhig, nicht suchend, mehr so das Tal als Ganzes aufnehmend. Der Körper aufgerichtet. Die Ohren aufmerksam. Als wären alle Sinne damit beschäftigt, die Landschaft aufzunehmen. Und dazu dann diese unglaubliche Ruhe im Pferd. Mein Eindruck war, er war ganz bei sich und verbunden mit dem Ort. Einen Moment der Ewigkeit verspürte ich. Die anderen haben gegrast.«58

Das Zitat zeigt, dass nicht nur Menschen, sondern auch Tiere etwas wie »optisch-klimatische Atmosphäre«59 zu spüren scheinen, die mit verschiedenen Tages- und Jahreszeiten und Landschaften verbunden sind. Ihre Wahrnehmung ist jedoch eine zutiefst subjektive: Während das eine Pferd von der Landschaft ergriffen wird, sind die anderen mit Grasen beschäftigt. Mit Schmitz konkurrieren eben mehrere Atmosphären in derselben Situation. Und auch für Tiere gilt, dass »ob und welche Atmosphäre jemanden ergreift, hängt dann von seinem jeweiligen leiblichen Befinden als dem Boden seiner spezifischen Resonanz für Atmosphären ab, und dieses Befinden wiederum von seiner persönlichen Situation, deren augenblicklicher Zustand ebenso vom Leiblichen her mitbestimmt wird, wie auf dieses zurückwirkt.«60

57 58 59 60

vgl. hierzu auch Lorimeer et al. 2019 Reiterin 2021. Schmitz 1993: 41. ebd.

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Dass auch Pferde eine persönliche Situation haben, eine Biographie, die darüber mitbestimmt, wie bestimmte Momente atmosphärisch erlebt werden, zeigt das Beispiel einer wild lebenden Mustang-Stute, die zum Zwecke ihrer Vermarktung eingefangen und nach Deutsch­ land gebracht wurde. Diese sah kurz nach ihrer Ankunft erstmals Menschen reitend und Pferde geritten. Das Sitzen eines Menschen in einer Raubtierposition über einem Pferd/Herdenmitglied wirkte auf sie lebensbedrohlich und löste Fluchtimpulse aus: »Dann habe ich die Mausi gestreichelt. Das hat die sich ganz genau angeschaut. Und dann, als die Maxi geritten ist. Also ein Mensch auf einem Pferd: Da ist die fast kollabiert, als die das gesehen hat. Da war die völlig außer sich, völlig!«61

Reiten ist als eine gemeinsame Situation zwischen den Arten, in der private Atmosphären aufeinandertreffen und leiblich mitkommuni­ ziert werden (können). Es ist naheliegend, dass dies die Möglichkeiten zu solidarischer leiblicher Kommunikation beim Reiten erheblich beeinflusst, wenn z. B. das atmosphärische Erleben des Gegenübers nicht wahrgenommen und daraus resultierende Bewegungen nicht verstanden werden können. Wie aber ist es grundsätzlich um die Fähigkeit der wechselseiti­ gen Betroffenheit von Atmosphären in Begegnungen zwischen den Arten bestellt? Wie Erwachsene die »strahlende Freude des Kindes bei einer Weihnachtsbescherung« nicht unmittelbar in eigene Ergriffen­ heit übernehmen können, weil ihnen dafür die naive Empfänglichkeit fehlt62, kann ein Mensch niemals die Atmosphären eines Tieres so spüren, wie die eigene. Und umgekehrt! Frei nach von Uexküll63 besteht die Welt der Pferde aus Pferdedingen (und die Welt der Men­ schen aus Menschendingen), und räumliche Erfahrungen sind daher letztlich nicht teilbar. Trotzdem aber ist ein wechselseitiges Affizieren möglich: So ist die Reiterin im obigen Beispiel (Fußnote 58) von dem landschaftlichen »meditativen« Erleben ihres Pferdes affektiv betroffen, wird für ihr eigenes Erleben der Landschaft sensibilisiert, so dass – zumindest für die Reiterin empirisch nachweisbar – mit Schmitz »zwei Atmosphären harmonisch zusammen«64 wirken. 61 62 63 64

Trainerin 2017. Schmitz 1993: 48. von Uexküll 2014 [1921]. Schmitz 1993: 48.

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Reiten als leibliche Kommunikation

Ein solches Vermögen von Empathie und dem leiblichen Fühlen von Atmosphären anderer kann auch Pferden zugesprochen werden: »Es gab eine Situation. Ich war draußen. Und plötzlich musste ich an meine verstorbene Oma denken, mit der war ich ganz, ganz eng verbunden. Ich saß auf einem Holzblock und war tieftraurig. Plötzlich steht meine Stute neben mir. So über mir. Mit ihrem Hals wie ein schützender Arm. Sie hat nichts gemacht, einfach nur gezeigt »Ich spüre Dich«. Oder »Ich bin bei Dir«. Zumindest habe ich das so wahrgenommen. Das war eine unglaublich ergreifende Situation. Das macht sie sonst nie, die ist sonst eher für sich.«65

Für Begegnungen zwischen den Arten sind entlang dreier an die Schmitzʼsche Terminologie angelehnte Dimensionen – privat/geteilt, kontrastierend/harmonisch, Maß der Betroffenheit – unterschied­ liche Atmosphärenkonstellationen denkbar, die am Beispiel von Mensch-Pferd-Begegnungen nachvollzogen werden können (Tab. 1). Nicht zuletzt aus analytischen Gründen, nämlich der Schwierigkeit bis Unmöglichkeit, um die genaue Ausprägung atmosphärischen Empfindens von andersartigen Lebewesen zu wissen, gehe ich dabei vom Aufeinandertreffen privater Atmosphären als Regelfall und »gemeinsamen Atmosphären« als sehr seltener Ausnahme aus. In Begegnungen zwischen den Arten ist also primär die Frage des Zusammenwirkens privater Atmosphären relevant. Hierbei lassen sich mit Bezug auf Schmitz zwei Ebenen differenzieren: Erstens, sind die privaten Atmosphären kontrastierend oder harmonisch auf­ einander bezogen, zweitens, in welchem Maße ist Mensch/Tier von der privaten Atmosphäre des Gegenübers betroffen: Werden sie gar nicht wahrgenommen, werden sie gefühlt (d. h. die Atmosphäre des anderen wird wahrgenommen, aber sie »macht nichts mit einem«) oder ist man vom Fühlen der Atmosphäre affektiv betroffen? Die jeweils vorstellbaren Konstellationen gehen mit unterschiedlichen Formen leiblicher Kommunikation einher (Tab. 1).

65

Reiterin 2021.

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Robert Pütz Private Atmosphären Maß wechselseitiger Betroffenheit

Konstrastierend, nicht aufeinan­ der bezogen

Harmonisch, auf­ einander bezogen

Gemeinsame Atmosphäre Teil solidarischer Einleibung

nicht wahrgenommen

Ein vom Sonnenauf­ X gang ergriffener Rei­ ter bemerkt nicht, dass sich angesichts einer nahenden Wild­ schweinrotte Panik im Pferd breitmacht. Das Pferd geht durch, der Reiter stürzt.

X

gefühlt

Ein entspanntes Pferd spürt die Abwesen­ heit und Hektik des Menschen ange­ sichts eines anste­ hendes Geschäftster­ mins. Es wendet sich ab und geht.

Eine Halterin spürt X die Freude, die der Anblick einer grü­ nen Wiese im Früh­ jahr bei ihrem Wal­ lach auslöst. Er grast, sie genießt die Ruhe.

affektiv betroffen

Ein Pferd hat Angst auf einem Hindernis­ parcour und möchte sich diesem nicht aussetzen, eine Rei­ terin fürchtet um den Verlust einer Medaille und möchte das Absolvieren des Parcours mit Gewalt durchsetzen. Ein Kampf beginnt.

Eine Stute erlebt das Gefühl von Trauer bei ihrer Besitze­ rin und beugt sich über sie, um zu ver­ mitteln »ich spüre Dich«, »ich bin bei Dir«

Eine Stute und ihre Reiterin teilen die leibliche »Haltung« für eine Piaffe, die dann »geschieht«.

Tab.: Atmosphärenkonstellationen in Begegnungen zwischen den Arten als »gemeinsamer Situation« (Beispiel Mensch-Pferd) Wann lässt sich in Situationen der Begegnung zwischen den Arten von »gemeinsamen Atmosphären« sprechen? Solche beob­ achten oder unmittelbar beschreiben zu wollen, wäre nicht nur erkenntnistheoretisch unhaltbar (s. o.), sondern auch anerkennungs­ theoretisch problematisch, weil das Erleben anderer Lebensformen unzulässig mit dem Erleben des Menschen gleichgesetzt würde. Der Vorschlag wäre, dann von gemeinsamen Atmosphären zu sprechen, wenn das Gemeinsame die Voraussetzung für wechselseitige solidari­ sche Einleibung ist. Etwas wie eine »gemeinsame Atmosphäre« von

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Reiten als leibliche Kommunikation

Mensch und Pferd wäre also nur von ihrem Ergebnis her zu konstatie­ ren, an sich aber unbestimmbar. Exemplarisch dafür steht für mich das obige Zitat der Reiterin, die die Situation einer Piaffe beschreibt (vgl. Fußnote 53): als Situation solidarischer Einleibung mit einer gemein­ samen Atmosphäre als deren konstitutiven Bestandteil. Sie und ihre Stute haben sich in eine gemeinsame leibliche »Haltung« gebracht, die Voraussetzung für eine Piaffe ist.66 Dann »ist [es] einfach für uns beide soweit« und die Piaffe geschieht ihnen. Pferd und Reiterin bringen die gemeinsame Atmosphäre in wechselseitiger Einleibung hervor, aber »wenn es soweit« ist, widerfährt es ihnen gleichermaßen. Damit lässt sich vom Beispiel Reiten auf bestimmte Situatio­ nen von Begegnungen zwischen den Arten übertragen, was Schmitz für gemeinsames Singen beschrieb: Dass sich eine atmosphärische »Stimmungsglocke«67 bilden kann, die sich gleichsam über Mensch und Pferd (und ggf. über anwesende Beobachter) legt, die beide pro­ duziert haben und die beiden widerfährt.68 Die gemeinsame Atmo­ sphäre ist das zutiefst beglückende Empfinden einer Überschreitung der Grenzen des eigenen Leibes und des Aufgehens in einem über­ greifenden Leib, wobei die synchronisierte Bewegung den synästheti­ schen Charakter69 darstellt, der zwischen leiblicher Kommunikation und atmosphärischem Erleben vermittelt. Dies kann auch die optisch-klimatische Atmosphäre der umge­ benden Landschaft miteinschließen. »Es gibt da so eine Stelle bei uns. Ein Bachlauf links, rechts eine Wiese, auf der häufig Rehe stehen. Es geht nur geradeaus, ein Grasweg. Vorne

66 vgl. hierzu auch die erwähnten Zitate aus der Reitliteratur von Hunt (Fußnote 29) und Steinbrecht (Fußnote 39). 67 Schmitz 1998a. 68 Musik ist als Brückenqualität beim Singen, die zwischen dem leiblich Gespürten und Wahrgenommenen vermittelt (ebd.: 35), übrigens auch in der Mensch-PferdKommunikation sehr wirksam. Nuno Oliveira, der vielen als größter Reitmeister des 20. Jahrhunderts gilt, ritt beispielsweise stets zu Opernmusik. Eine Zeitgenossin: »Diejenigen, die ihn kannten, behalten – wie ich – sicherlich diese Bilder einer perfekten Harmonie zwischen Pferd und Reiter in Erinnerung, die sich in den verschiedensten reiterlichen Umgebungen inmitten des Klanges einer Opernmelodie entwickelt haben. Geleitet von den Gedanken seines Reiters, scheint das Pferd alles von allein zu tun. Es ist leidenschaftlich, die Geste ist fließend gemacht« (Oliveira 2016: 8). 69 Schmitz 1998b: 56.

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Robert Pütz

die Weite. Wenn dann das Wetter passt und wir beide gut drauf sind. Dann können wir da zusammen fliegen.«70

2.4 Grobe Hilfen Wie ein bildender Künstler im Laufe seines künstlerischen Schaffens seine künstlerischen Ausdrucksformen immer weiter verfeinern wird, wird sich auch die leibliche Kommunikation zwischen Pferd und Reiter als Reitkunst im Lauf der gemeinsamen Ausbildung bestenfalls immer weiter verfeinern, d. h. aufmerksamer füreinander werden, subtilere Nuancen beim anderen fühlend. Grundsätzlich aber kann man Gugutzers Resümee für leibliche Kommunikation mit Dingen im Sport trefflich auch auf das alltägliche Reiten übertragen, »dass die antagonistischen Phasen überwiegen und die solidarischen Phasen zumeist das erhoffte Ziel sind«71. Dies gilt vor allem in Situationen, in denen andere »Programme« dominieren und das Ziel des Reitens bestimmen als die leibliche Kommunikation als Selbstzweck. Dann verlieren auch zwischen Reiter und Pferd vermittelnde Dinge wie das oben beschriebene Gebiss ihre Wirkung als »Telefon« und werden eher ein über Schmerz wirkendes Kontrollinstrument. Dies beschreibt die Berittführerin einer Reitstaffel der Polizei am Beispiel eines »Not­ haltes«: »Als Beispiel: Wir reiten Einsätze auf Kandare. Das heißt, wir haben vier Zügel in der Hand. Dann hat man zwei Funkgeräte, also als Beritt­ führer, einen Funk zur Führung hoch, und ein Funk für meine Kräfte. Und einen Schlagstock in der Hand. Und zum Beispiel, Stuttgart 21, da war zum Teil ganz wenig Platz und da müssen wir sicherstellen, dass wir natürlich mit ganz feinen Hilfen ganz viel machen, aber halt auch mal wirklich einen Zwangsstopp. Wenn das Pferd am Durchdrehen ist. Da ist man natürlich mit einer Trense je nach Pferd auch schnell fertig [man kann nicht mehr eingreifen, weil die Trense nicht so schmerzhaft eingesetzt werden kann, wie eine Kandare].«72

Das nachfolgende Beispiel verdeutlich darüber hinaus, dass bei der Analyse leiblicher Kommunikation insbesondere zwischen den Arten aufgrund der bestehenden Machtverhältnisse immer auch ungleich 70 71 72

Reiterin 2021. Gugutzer 2015: 114. Berittführerin 2019.

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verteilte Kommunikationsmöglichkeiten beachtet werden müssen. Dadurch verläuft antagonistische leibliche Kommunikation häufig gewaltvoll und kann sogar zu Verstümmelungen oder zum Tod füh­ ren, sei es rein körperlich durch einen verletzend harten Einsatz von Hilfen, sei es bezüglich der gesamten Konstitution des Pferdes, wenn Einleibung nur antagonistisch verläuft, das Pferd sich nicht einbringen kann und sich selber dadurch verliert: »Mich hat eine Polizistin angesprochen. Sie hätte da so ein ehemaliges Dienstpferd. Der war nicht mehr einsatzfähig, und ob ich vielleicht eine Idee hätte, was man machen kann. Ich habe dann gefragt, ob ich mal fühlen dürfte. Und ich bin dann draufgeklettert. Und kaum auf dem Pferd, ich könnte jetzt noch heulen, kam so eine Welle von Verzweiflung auf mich zu. Also, er sah vorher schon so aus wie ein trauriges Pferd. Aber das: Das war eine Wucht von Verzweiflung. Und dann habe ich mit dem Pferd gestanden, nur versucht, ihm mitzuteilen, dass ich nur seine Freundin sein möchte. Und irgendwann, vielleicht nach 20 Minuten, wirkte es so, als würde er mir so ein bisschen glauben. Und dann sind wir losgegangen. Und ich hatte dann das Gefühl, dass ich ihn am Ende unserer Unterhaltung, wenn man es auf Menschen bezieht, schon ins Kino hätte einladen dürfen. Also, das war hochemotional. Sowas Intimes kriege ich nur auf dem Pferd, ich jetzt. […] Er hat sich nicht getraut, sich mitzuteilen. Er wusste ja gar nicht, dass er was zu sagen hat. Also, er hat sich so gefühlt wie der, der eben funktionieren muss. Sonst wird es für ihn schlimm. Das war seine Erfahrung. Das haben andere bestimmt. Was weiß ich, ob die das wollten oder nicht, das kann ich ja nicht beurteilen. Am Ende jedenfalls war dieses Pferd hinüber.«73

Das Zitat zeigt aber mit dem Einfühlungsvermögen der Reiterin für das geschundene Pferd ebenso, wie wechselseitige leibliche Kom­ munikation auch zutiefst auf der Fähigkeit zu Empathie beruht. Konzeptionell lässt sich hier an Desprets Verständnis von Empathie anschließen, die darin eine Voraussetzung für leibliche Kommuni­ kation sieht: Empathie ist nicht das bloße Fühlen, was der andere fühlt, »it is rather making the body available for the response of another being«.74

73 74

Ausbilderin 2017. Despret 2013: 70.

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3. Reiten als Situation Gugutzer fordert für die von ihm vorgeschlagene Neophänomenolo­ gische Soziologie einen »methodologischen Situationismus«75, den ich auch für die Human-Animal Studies als sehr gewinnbringend erachte – hier mit einem expliziten Fokus auf »gemeinsame Situa­ tionen zwischen den Arten«76. Eine Situation im Sinne der Neuen Phänomenologie ist dabei: »charakterisiert durch Ganzheit (d. h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendif­ fusion dieser Bedeutsamkeit in der Weise, daß die in ihr enthaltenen Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) nicht sämt­ lich – im präpersonalen Erleben überhaupt nicht – einzeln sind.«77

Übertragen auf unser Beispiel wäre eine typische Situation z.B. ein Reitkurs. Dieser ist ganzheitlich, weil er unter anderem zeitlich (Anfang bis Ende) und räumlich (Reithalle) in sich zusammengehal­ ten ist und durch spezifische Sachverhalte von anderen Reitsituatio­ nen abgehoben ist: Es ist eine dritte Person (Trainer) anwesend, die Hinweise zu Pferd oder Reiter oder dem Zusammenspiel beider gibt und damit in einer steuernden Art und Weise in deren leibliche Kommunikation eingebunden ist, und es sind weitere Personen anwe­ send (andere Kursteilnehmer und Publikum), welche die Unterrichts­ situation beobachten. Binnendiffus ist die Situation, weil Reitkurse zwar durch spezifische Sachverhalte ausgezeichnet sind, nie aber genau gesagt werden kann, was einen singulären Reitkurs genau auszeichnen wird. Für die leibliche Kommunikation, die in diesem Beitrag im Fokus steht, sind insbesondere die in der Situation anwe­ senden Programme und Probleme interessant, die auch als besonders bedeutsam angesehen werden können, wenn es um die Übertragung der Neuen Phänomenologie auf andere Beziehungen zwischen den Arten als in meinem Beispiel geht. »Programme« können – auch gleichzeitig – in vielfältigen For­ men und Varianten vorliegen. Sie sind in der Situation vorhandene Bezugspunkte des Handelns, wie zum Beispiel Wünsche, Konven­ Gugutzer 2017: 160 ff. vgl. hierzu auch den Beitrag von Elisa Kornherr in diesem Band zur Fütterung als Situation. 77 Schmitz 2005: 22. 75

76

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tionen oder Normen. So kann beim Reiter der Wunsch vorliegen, eine Übung zu erlernen, die ihm bislang zu schwer erschien, der Lehrer mag den Wunsch verspüren, das Publikum vom Erfolg seiner Arbeitsweise zu überzeugen, um seinen Kundenkreis zu erweitern, das Pferd mag vom Wunsch getrieben sein, wieder bei seinen Her­ denmitgliedern zu stehen, die draußen auf der Koppel warten und ihm zuwiehern. Normen können implizit oder codifiziert vorliegen. Als implizite Norm schwebt eine bestimmte Reitlehre über allen, an der sich Reiter, Lehrer und Publikum orientieren. Der Reiter möchte vielleicht bestimmte reiterliche Lektionen daraus erlernen, um einen entsprechenden Nachweis erwerben zu können, der über den Stand seiner reiterlichen Ausbildung Aufschluss gibt – oder er möchte das Spektrum an Lektionen seines Pferdes, seinen »Aus­ bildungsstand« verbessern, weil dadurch der Wert des Pferdes für einen geplanten Verkauf steigt. Der Lehrer erläutert und korrigiert Körperbilder und -haltungen, die entsprechend der Lehrmeinung für Pferd und Reiter als idealtypisch erachtet werden. Das Publikum beobachtet beide kritisch hinsichtlich Reitlehren konformer Vermitt­ lung und Umsetzung. Zudem sind übergreifende Regelsysteme wie tierschutzadäquate Ausbildung, versicherungsrechtliche Fragen o. ä. anwesend, und schließlich herrschen auch in der Reithalle bestimmte codifizierte Verhaltensregeln für alle (»Stallordnung«). Auch Probleme können in unterschiedlichster Form vorliegen und die Situation beeinflussen. Ein defektes Hallentor, das unvermit­ telt im Wind knarrt und beim Pferd von Mal zu Mal Erschrecken aus­ löst, ein stechender Kopfschmerz des Reitlehrers, der seine gesamte Aufmerksamkeit einnimmt, eine unbemerkt gebliebene Verletzung des Pferdes in der Sattellage, die es immer dann schmerzt, wenn der Reiter eine bestimmte Hilfe ausführt, das (daraus resultierende) Nicht-Funktionieren-Wollen gerade dieser Hilfe, was Reiter und Lehrer verzweifeln lässt und im Publikum zur zunehmenden Belusti­ gung führt. Die Beispiele deuten es schon an: In Situationen anwesende Programme und Probleme werden in leiblicher Kommunikation stets von den Beteiligten mitkommuniziert und prägen die Art und Weise der wechselseitigen Einleibung. Sie sind solidarischer Kommunika­ tion nicht förderlich, da z. B. Programme in Form von Normen in Begegnungen zwischen den Arten nicht geteilt werden können, weil diese dem Pferd nicht zugänglich sind, die Kommunikation aber nichtsdestotrotz prägen. Störungen der leiblichen Kommunikation

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können situiert, einmalig und ohne nachhaltigen Eindruck bleiben, sie können aber auch sehr grundsätzlicher Natur sein. Dies mag abschließend ein Beispiel zeigen. So unterliegen Pferde und Pferd-Mensch-Verhältnisse, -Bezie­ hungen und -Begegnungen in einem großen Teil der Programmatik einer wettbewerbsorientierten Reiterei. Diese wird in erheblichem Maße von ökonomischen Verwertungsinteressen sowohl der betei­ ligten Akteure als auch dahinterstehenden Interessen wie die der Zuchtindustrie geprägt. Pferde sind hier nicht als Kommunikations­ partner des Menschen von Bedeutung, sondern als lively commodity78, als lebendige Ware. Leibliche Kommunikation ist hier entsprechend kein Selbstzweck, sondern mit dem Bestreben verbunden, den Wert des Pferdes zu steigern (sei es in Euro, sei es in Erfolgsbilanzen). Auf der Mikroebene prägt diese Programmatik in entscheidendem Maße leibliche Kommunikation, weil z. B. Ziel einer konkreten Begegnung nicht die Verfeinerung von Hilfengebung ist, sondern der Sieg in einem Wettbewerb, um dadurch den Marktwert seines Pferdes zu steigern und anschließend zu verwirklichen.79 »Feine Hilfen« sind auch in Situationen wie Wettbewerben will­ kommen, aber wenn die vorherrschende Programmatik um Geld oder Siege geht, verändert dies auch die Prioritäten in der Kommunikation. Dies bewiesen die Fünfkämpferin Annika Schleu und Bundestrainerin Kim Raisner bei den Olympischen Spielen 2021 einem Millionenpu­ blikum, als sie – den Verlust der anvisierten Goldmedaille vor Augen – ein widerständiges Pferd mit Schlägen motivieren wollten (hierzu auch Gugutzer80). In noch viel gewalttätigerer Form kann solche Pra­ xis allwöchentlich auf den Abreiteplätzen vor allem niedrigrangiger Wettbewerbe beobachtet werden.

Collard/Dempsey 2013. Dies geschieht im Übrigen nicht nur über einen Verkauf des Pferdes, sondern hauptsächlich über eine Steigerung der Decktaxe und eine gestiegene Nachfrage nach Gefriersamen dieses Hengstes bzw. über eine Nachzucht der Stute. Diese muss gegenwärtig dafür gar nicht mehr aus den Wettbewerben genommen werden: Die Reproduktionsmedizin arbeitet vornehmlich mit künstlicher Befruchtung, wobei die hochdekorierten biologischen Mutterstuten das Austragen nicht mehr selber überneh­ men, sondern dies ökonomisch weniger wertvolle Leihmutterstuten übernehmen. (Seit neuestem wird auch Klonen vermehrt als Technologie angewendet, um aus erfolgsversprechenden Paarungen gleich mehrere genetisch identische Kopien herzu­ stellen.) 80 Gugutzer 2021. 78

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Hinzu kommt, dass sich die Programmatik von Situationen wie Wettbewerben kontinuierlich verändert, weil sich z. B. die Richtlinien der punktrichterlichen Bewertung von Dressurübungen entsprechend der dominierenden (ökonomischen) Verwertungslogik ändern. Dies fördert nicht nur z. B. eine systematische Bevorzugung bestimmter Pferderassen (und Benachteiligung anderer, was erklärt, dass z. B. die früher für ihre Künste in der Hohen Schule berühmten Lipizzaner heute alleine aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Größe und spezifischen Gangarten kein renommiertes Turnier mehr gewinnen können), sondern verändert den Orientierungsrahmen für Zucht, Reitweisen, Ausbildung in einer weit über den Spitzensport hinausge­ henden Breite. Körperorientierte Reiterei (d. h. an Körper- und Bewe­ gungsidealen orientiert, die sich in Regeln und Bewertungssystemen niedergeschlagen haben) verbreitet sich so im Breitensport und dem Jugendsport. Mensch-Pferd-Begegnungen sind in vielen Reitkursen – und damit schließt sich der Kreis – damit nicht verstehbar ohne die Kenntnis der »Programmatik«, die durch (letztlich häufig wirtschaft­ liche) Interessen machtvoller Akteure und Institutionen im Reitsektor gebildet wird. Wie konkret situierte und leiblich kommunizierte Begegnungen zwischen den Arten durch ökonomische Programmatik geformt wird, zeigen auch viele andere Beispiele z. B. aus der Freizeitindustrie (Pfer­ deshows) oder aus der Arbeit mit Pferden als working animals. Sie sind zutiefst tierethisch relevant und für die betroffenen Pferde häufig eine Frage von Leben und Tod. Denn solche Programmatiken produzieren nicht nur Bilder idealer Pferdekörper, sondern auch killable life. Sie schaffen Regeln tötbaren Lebens, wenn z.B. Pferde, die auf der Renn­ bahn nicht schnell genug laufen, oder Pferde, deren Körpermaße nicht den Zuchtidealen entsprechen, ihre letzte wirtschaftliche Verwertung über den Schlachthof und als Tierfutter erfahren.

4. Fazit Die Human-Animal Studies haben, darauf hat Roland Borgards poin­ tiert hingewiesen 81, kritische Positionen zu den »drei A-Konzepten« entwickelt, die Mensch-Tier-Beziehungen jahrhundertelang geprägt haben – auch wissenschaftlich: Die Anthropologische Differenz, die 81

Borgards 2020.

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durch in Dichotomien wie »Natur-Kultur« verhaftete Ansätze per­ manent erneuert wird (und den Umgang mit Tieren auch praktisch bestimmt und moralisch legitimiert), den Anthropozentrismus, der den Menschen gegenüber anderen Lebensformen im Mittelpunkt der Welt sieht, und den Anthropomorphismus, der menschliches Erleben auf tierliches Erleben überträgt. Es gilt – mit Borgards – theoretische Positionen und methodische Instrumente zu entwickeln, diesen Kritikpunkten zu begegnen und mit den drei A-Konzepten produktiv umzugehen. Hierzu kann die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz ein produktiver Weg sein. Dies gilt insbesondere für Schmitzʼ Kon­ zeptualisierung von leiblicher Kommunikation, und zwar in zweifa­ cher Weise. Einerseits empirisch: Als Analysekonzept weist sie einen Weg in die vielfältig konturierten naturalcultural contact zones, die sich in Mensch-Tier-Begegnungen aufspannen, und zeigt, wie sich in leiblicher Kommunikation vermeintlich klare Grenzen zwischen den Arten als flüssig erweisen und wie sich durch leibliche Kommu­ nikation Mensch und Pferd, Mensch und Hund etc. wechselseitig konstituieren. Andererseits aber auch epistemologisch: Leibliche Kommunikation ist nicht nur Analysekonzept oder Untersuchungs­ gegenstand, sondern auch Modus der Wissensproduktion. Denn auch Wissenschaftler*innen kommunizieren leiblich mit ihren Untersu­ chungsobjekten. Leibliche Kommunikation als Quelle von Wissen zu akzeptieren, kann dann dazu beitragen, die Welt anders zu betrach­ ten sowie theoretisch wie methodisch achtsamer für nicht-mensch­ liche Lebensformen zu sein: Dadurch, dass das Konzept leiblicher Kommunikation empirisch zugänglich macht, wie Menschen mit anderen Lebensformen kommunizieren und darin Aufmerksamkeit für andere Lebensformen entwickeln, macht sie auch auf andere Auf­ merksamkeitsformen aufmerksam82. Es kann damit für die HumanAnimal Studies ein Baustein sein, die Anthropologische Differenz nicht essenzialisierend zu bestätigen zu versuchen, als vielmehr ihre Bedeutung in der alltäglichen Praxis in geteilten Lebenswelten in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie Menschen solche Grenzen in Begegnungen mit Tieren ziehen – aber auch überwinden –, um so ihre Entstehungsbedingungen hinterfragen zu können. Als in der 82 Angelehnt an eine Formulierung von Vinciane Despret, die dies eindrücklich in einem würdigenden Rückblick den Arbeiten von Donna Haraway zuschreibt (Despret 2022: 13).

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Grundanlage postdualistisch angelegt ist leibliche Kommunikation so auch geeignet, den anthropozentrischen Blick zu überwinden – oder zumindest dafür zu sensibilisieren, da – auch das zeigte das Beispiel – ein epistemologischer Anthropozentrismus unüberwindbar ist, aber kritisch reflektiert werden kann. Für eine weitere Vertiefung der Frage, wie leibliche Kommunikation zum Verständnis von Prozessen der (wissenschaftlichen) Wissensproduktion konzeptualisiert und in Wert gesetzt werden kann, wäre ein vertieftes Zusammendenken von wissenssoziologischen und wissenschaftsphilosophischen Ansätzen, z. B. im Sinne Desprets, mit Ansätzen der Neuen Phänomenologie, z. B. im Sinne der Überlegungen Gugutzers in diese Richtung83, viel­ versprechend. Das Konzept leiblicher Kommunikation erscheint anschlussfähig an andere (Sozial-)Theorien. Zur Befruchtung empirischer Analysen erfordert sie die Einbeziehung von Methoden, die – einer Forderung von Verena Schröder84 folgend – Leiblichkeit als verbindendes Ele­ ment zentral setzen und dadurch auch versuchen, nicht-menschliche Lebensformen stärker »zu Wort kommen zu lassen« (z. B. ethno­ graphische Verfahren wie multispecies go alongs85, multisensorische Begehungen86, vgl. auch Überblick bei Colombino/Bruckner87). Die Verbindung mit dem Situationskonzept der Neuen Phänomenologie erlaubt es darüber hinaus, auf der Mikroebene an konkreten Begeg­ nungen von Mensch und Tier ansetzen, die immer durch leibliche Kommunikation gekennzeichnet sind, darüber hinaus aber grundle­ gende Zusammenhänge zu erschließen, wie Gesellschaft ihr Verhält­ nis zu Tieren organisiert.

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Elisa Kornherr

Fütterungen von Nilgänsen – MenschTier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

1. Einleitung Nähe und Distanziertheit sind gegensätzlich erlebte Empfindungen und stehen oft in einem Wechselverhältnis zueinander. Sie treten nicht nur in Begegnungen zwischen Menschen auf, sondern auch in Begegnungen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Entitäten wie Tieren. Im Kontext dieses Sammelbandes zur Phänomenologie der Nähe betrachte ich, wie Nähe und Distanziertheit in Begegnungen zwischen Menschen und Tieren zusammenwirken. Dabei nehme ich eine »mehr-als-menschliche« Perspektive ein. »Mehr-als-mensch­ lich« bedeutet, dass ich Mensch-Tier-Begegnungen über einen rein anthropozentrischen Blickwinkel hinaus mit einem Fokus auf die heterogenen und dynamischen Verbindungen verschiedener Akteure und Entitäten »jenseits des Menschen«1 betrachte.2 Aushandlungs­ prozesse von Menschen zwischen Nähe und Distanziertheit stehen zwar im Fokus, deren Verwobenheit mit nicht-menschlichen Entitä­ ten3 soll jedoch hervorgehoben werden. Als Fallbeispiel nehme ich Fütterungsbegegnungen zwischen Menschen und Nilgänsen in Frankfurt am Main in den Blick. In Frankfurt besteht eine diskursive und normative Distanziertheit zur Nilgans. Im Mediendiskurs wird sie als fremde, invasive und gesund­ heitsgefährdende Tierart hervorgebracht.4 Im Zuge eines »Gänsema­ nagements« sollen die Nilgänse von Flächen weggelenkt werden, die 1 2 3 4

Fleischmann 2020: 262. vgl. Lorimer 2014: 42, Steiner/Rainer/Schröder 2022: 9–14, Whatmore 2002: 3. Steiner/Rainer/Schröder 2022: 9. Kornherr/Pütz 2022: 4–5.

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Elisa Kornherr

Menschen in ihrer Freizeit nutzen.5 Ein Ziel des Gänsemanagements ist es, Fütterungen möglichst zu unterbinden.6 Trotz des Fütterungs­ verbots, das für die Grünflächen der Stadt gilt,7 füttern Menschen die Nilgänse. Fütterungen sind für mich in diesem Kontext besonders interessante Begegnungen zwischen Menschen und Tieren, da sie sich in der Regel durch räumliche Nähe zwischen den Beteiligten auszeichnen. Fütterungen können unbewusst oder bewusst, spontan oder geplant sein, sie können in indirekter oder in direkter Interaktion stattfinden. Ich betrachte in meinem Beitrag Fütterungen, bei denen Menschen in bewusst geplanten Begegnungen mit Nilgänsen aufein­ andertreffen und beide direkten Kontakt miteinander haben. In diesen Fütterungen kommen sich Menschen und Nilgänse nahe und begeg­ nen sich als leibliche Wesen. Wie zeigt sich in den Fütterungen von Nilgänsen ein Wechselverhältnis zwischen Nähe und Distanziertheit? Was kann anhand des Beispiels über Nähe und Distanziertheit in Mensch-Tier-Begegnungen gelernt werden? Für die Analyse der Fütterungen von Nilgänsen wende ich mich der Neuen Phänomenologie von Schmitz8 zu. Diese halte ich aus drei Gründen für einen fruchtbaren Zugang. Erstens kann mit dem neophänomenologischen Verständnis von »Situation«9 die Verbin­ dung verschiedener Maßstabsebenen in den Blick genommen werden. Wie Gugutzer10 schon für die Neophänomenologische Soziologie zeigte, umfassen Situationen Mikro-, Meso- und Makro-Ebene und lenken den Blick auf deren Verwobenheit. Für das Fallbeispiel der Nilgänse ist dies nützlich, da mithilfe des Situationsbegriffs über­ geordnete Diskurse und Gesetze mit individuellen Fütterungsbegeg­ nungen in Verbindung gesetzt werden können. Zweitens sind in einem neophänomenologischen Verständnis auch nicht-menschliche Entitäten konstituierend für Situationen.11 Situationen sind »mehrals-menschlich«, da sie neben Menschen auch verschiedene andere Elemente wie Normen, Gesetze, Dinge, Atmosphären, Gefühle, leib­

Rösler/Stiefel 2018: 5. ebd.: 33. 7 Satzung über die Benutzung der Grünanlagen der Stadt Frankfurt am Main § 3, Abs. 4, Nr. 4. 8 Schmitz 1980, 2009. 9 Schmitz 2005. 10 Gugutzer 2017: 157. 11 Uzarewicz 2011: 256. 5

6

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

liche Kommunikation und Tiere integrieren.12 Somit kann ich bei der Analyse des Fallbeispiels hervorheben, wie nicht-menschliche Situationselemente wie das Fütterungsverbot, das Futter und die Nil­ gänse selbst Fütterungsbegegnungen entscheidend prägen. Drittens baut die Neue Phänomenologie nicht rein auf der Vorstellung eines Bewusstseins auf, das klassischerweise nur Menschen zugeschrieben wird, sondern auf affektivem Betroffensein, das Menschen und Tiere erleben.13 Schmitz konzeptualisiert sowohl Menschen als auch Tiere als Lebewesen, »die sämtlich affektiv betroffen sein können«14. In leiblicher Kommunikation können sie miteinander (und mit Gegen­ ständen) verbunden sein.15 Menschen und Tiere als Leibwesen zu verstehen, lenkt den Blick auf Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen beiden.16 So ist Schmitz der Auffassung, dass »in der Sensibilität für Einleibung kaum ein nennenswerter Unterschied zwischen Menschen und Tieren bestehen dürfte«17. Diese Perspektive gibt mir die Möglichkeit, das Erleben von Nähe und Distanziertheit zwischen Menschen und Nilgänsen über den Zugang der leiblichen Kommunikation zu verstehen. Im folgenden Kapitel gehe ich zunächst auf die normative und diskursive Distanziertheit zur Nilgans ein. Danach nehme ich die Frage in den Blick, was aus dem Forschungsstand zu Fütterungen von Tieren für das Fallbeispiel gelernt werden kann. Es folgt eine Beschreibung meines methodischen Vorgehens der ethnographischen Beobachtungen und narrativen Interviews, mit denen ich die Fütte­ rungsbegegnungen empirisch erforschte. Bei der Analyse des Daten­ materials zeigt sich, inwiefern die neophänomenologischen Konzepte von Situation, Atmosphäre und leiblicher Kommunikation einen fruchtbaren Zugang zur Untersuchung von Mensch-Tier-Begegnun­ gen bieten. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung der Erkenntnisse zum Wechselverhältnis zwischen Nähe und Distan­ ziertheit in Fütterungsbegegnungen zwischen Menschen und Tieren.

12 13 14 15 16 17

ebd.: 256, Pütz/Schlottmann/Kornherr 2022: 202–203. ebd.: 202. Schmitz 2003: 96. ebd.: 97. Brenner 2015: 289–291. Schmitz 1998b: 31.

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Elisa Kornherr

2. Normative und diskursive Distanziertheit zur Nilgans Gesellschaftlich formierte Diskurse und normative Ordnungssche­ mata systematisieren Tiere in verschiedenen Kategorien, wie zum Beispiel Heimtiere, Nutztiere oder Wildtiere. Damit korrespondiert auch eine räumliche Zuordnung.18 Heimtiere werden in dieser Logik der Stadt zugeordnet, Nutztiere dem ländlichen Raum und Wildtiere einer abstrakten »Wildnis«. Dabei wird auch die räumliche Nähe bewertet, die je nach Tierart als angemessen gilt.19 Nahe bei Menschen dürfen sich Heimtiere wie Hunde oder Katzen aufhalten, die stark in das menschliche Leben integriert werden. Nicht zuletzt, weil Heim­ tiere im Streicheln oder Kuscheln zugängliche Partner in leiblicher Kommunikation sind, entwickeln Menschen meist eine emotionale, von Nähe geprägte Beziehung zu ihnen.20 Anders stellt sich die Lage bei Wildtieren dar. Sie werden grund­ sätzlicher außerhalb der menschlichen Gesellschaft verortet. Beson­ ders deutlich wird das in Städten, die als primär menschlicher Lebens­ raum konzipiert wurden und werden.21 Der Grad der Abgrenzung unterscheidet sich aber nach Unterkategorisierungen von Wildtieren. Auf der einen Seite sind einige Wildtiere willkommene Mitbewohner in der Stadt, weil sie für Menschen nützlich sind. Schwäne auf dem Teich, Singvögel im Garten oder Schmetterlinge auf dem Blühstreifen können zum Beispiel positiv erlebte Begegnungen bescheren. Auch geschützte Tierarten, die als Teil einer intakten »Natur« gesehen werden, sind wünschenswerte Komponenten von Städten und werden in ihrem Bestand geschützt und gefördert.22 Auf der anderen Seite gibt es Tiere, die deutlicher als das Außen der (Stadt-)Gesellschaft verstanden werden. Mit ihrem Vorkommen in Städten gehen oft Konflikte einher. Solchen »Problemtieren« wird häufig weder ökolo­ gischer, ökonomischer noch intrinsischer Wert zugeschrieben,23 was sie zu Störfaktoren in der Stadt macht. Konflikte entstehen oft dann, wenn diese Tiere menschenerdachte Grenzen überschreiten.24 Denn 18 19 20 21 22 23 24

Buller 2014: 234, Philo/Wilbert 2000: 10–11. ebd.: 10–11. Hasse 2019: 93–94. Steele/Wiesel/Maller 2019: 414, Owens/Wolch 2017: 544. Kornherr/Pütz 2021: 123, Pütz/Schlottmann/Kornherr 2022: 208–209. Nagy/Johnson II 2013: 2–4. Jerolmack 2008: 72.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

Tiere können sich ihre Lebensräume ungeachtet menschlicher Ord­ nungsschemata aneignen.25 So wohnen Ratten zum Beispiel in der Kanalisation, graben Wildschweine Gärten um, bewohnen Marder Dachböden, fliegen Motten in Vorratsschränke oder durchbohren Stechmücken die menschliche Haut. In die Reihe der »Problemtiere« in der Stadt lassen sich auch die Nilgänse in Frankfurt einordnen. Eine Analyse des Mediendiskurses über die Nilgans in der lokalen und überregionalen Presse zeigte, wie die Nilgans als »abject animal« konstituiert wird.26 In Anlehnung an Kristeva27 können »abject animals« als Tiere verstanden werden, die für das bedrohliche Außen der menschlichen Gesellschaft stehen. Relevant sind im Fall der Nilgans hierbei zwei Diskursformationen. Erstens wird die Nilgans im Mediendiskurs als »fremd, invasiv und aggressiv« hervorgebracht.28 Mit Verweisen auf ihre Herkunft29 wird die Nilgans häufig als aggressive Einwanderin aus Afrika beschrieben, die eine Bedrohung darstelle. Sie verdränge positiv konnotierte Tiere wie Stockenten aus den Parkanlagen, sei durch ihr aggressives Verhal­ ten aber auch eine Gefahr für Menschen. Ein zentrales Narrativ für die Hervorbringung als invasiv ist, dass die Nilgans eine »Invasion«30 auf Räume durchführe, die in der städtischen Planungslogik für die menschliche Freizeitnutzung bestimmt sind. Die Nilgans wird also

Philo/Wilbert 2000: 13. vgl. Kornherr/Pütz 2022: 4–5. 27 Kristeva 1982. 28 Kornherr/Pütz 2022: 4–5. 29 Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet der Nilgänse liegt im sub-saharischen Afrika. Von dort wurden die Gänse im 17. Jahrhundert nach England und im 20. Jahrhundert in die Niederlande importiert, um dort als Ziervögel in Volieren und Park­ anlagen zu leben (Huysentruyt et al. 2020: 206–207, Schramm 2002: 121). Einige Nilgänse entkamen der menschlichen Haltungsform und begründeten wildlebende Populationen in verschiedenen europäischen Ländern. Über den Rhein kamen die Nilgänse so in den 1980er Jahren auch nach Deutschland (ebd.: 208, Gyimesi/Lensink 2012: 138). Im Rhein-Main-Gebiet entwickelte sich die heute bestehende Population von Nilgänsen in den 1990er Jahren (Rösler/Stiefel 2018: 4). 30 Rechtlich gilt die Nilgans als invasiv, da die EU-Kommission sie 2017 auf die Unionsliste der invasiven gebietsfremden Arten setze (Europäische Kommission 2017: 37–39). Hier ist primär eine ökologische Perspektive relevant, weil die Nilgans im Verdacht steht, dem heimischen, europäischen Ökosystem zu schaden und andere Wasservögel zu verdrängen. Im Mediendiskurs wird die Invasion der Gänse auch in Bezug zur Aneignung von Freizeiträumen der menschlichen Stadtgesellschaft gesetzt (Kornherr/Pütz 2022: 4). 25

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als Konkurrentin der Menschen um städtische Grün- und Wasserflä­ chen beschrieben.31 Die zweite diskursive Konstituierung der Nilgans als »abject animal« beruht auf ihrer Charakterisierung als »eklig, verschmut­ zend und gesundheitsgefährdend«. Bedeutsam sind hier sprachliche Beschreibungen, die die Nilgänse mit ihrem Kot gleichsetzen.32 Mit Kristeva33 kann Kot als Symbol für das Außen der Gesellschaft verstanden werden. Kotproduzierende, potenziell gesundheitsgefähr­ dende Nilgänse werden im Mediendiskurs als gefährliche Außensei­ ter der Stadtgesellschaft beschrieben. Es wird ein Bild gezeichnet, in dem sich Nilgänse durch Kotproduktion Grünflächen aneignen, die Menschen dann wegen der überall vorhandenen Exkremente nicht mehr für Freizeitzwecke nutzen können.34 In Frankfurt entstand eine andauernde politische und mediale Debatte um den richtigen Umgang mit den Nilgänsen. Im Zuge dessen wurden in Zusammenarbeit von Behörden auf Stadt- und Landesebene Maßnahmen eines Gänsemanagements entwickelt und durchgesetzt.35 Die Nilgänse besiedeln in Frankfurt das Mainufer, städtische Parkanlagen mit Teichen und lassen sich auch in Freibädern nieder. Bestandteil des Gänsemanagements ist es, mit Hinweisschil­ dern über die problematischen Aspekte von Fütterungen zu informie­ ren.36 Fütterungen gelten durch das Fütterungsverbot für Wildtiere als Ordnungswidrigkeit.37 Zusammengefasst werden Nilgänse in Frankfurt durch tradierte Vorstellungen von Mensch-Tier-Verhältnissen, öffentliche Diskurse, normative Vorstellungen und gesetzliche Regelungen wie das Fütte­ rungsverbot als Tiere konstituiert, zu denen Menschen ein distanzier­ tes Verhältnis haben.

ebd.: 4–5. ebd.: 5. 33 Kristeva 1982: 71. 34 Kornherr/Pütz 2022: 5. 35 Rösler/Stiefel 2018: 5. 36 ebd.: 33. 37 Satzung über die Benutzung der Grünanlagen der Stadt Frankfurt am Main § 10 Abs. 1, Nr. 1. 31

32

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3. Fütterungsbegegnungen zwischen Menschen und Tieren Fütterungen in direkten Begegnungen zwischen Menschen und Tieren sind interessante Interaktionsformen, weil sich beide während des Nahrungsaustausches besonders nah kommen. Durch die Nähe zu Tieren in Fütterungssituationen können Menschen sie auf andere Art und Weise kennenlernen und ein durch neue Bedeutsamkeiten geprägtes Verständnis entwickeln als ohne das verbindende Moment des Nahrungsaustauschs.38 Im Prozess des Fütterns findet also ein spezifisches Kennenlernen statt. Deutlich wird dies zum Beispiel zwischen Menschen und Heim­ tieren. Holmberg39 beschreibt, wie die Fütterung ihrer Hunde ein wichtiger, strukturierender Bestandteil ihrer Beziehung ist. Sie essen zur selben Zeit am Morgen und Abend und damit zeitlich aneinander ausgerichtet. Über das gemeinsame Essen erneuern sie regelmäßig ihre Verbindung im Prozess der Domestizierung. Es findet dabei eine körperliche Überwindung von Grenzen statt, indem das Tier das vom Menschen dargebotene Futter vom Außen in das Innere des Körpers aufnimmt. Auch auf emotionaler Ebene kann in diesem Austausch Intimität entstehen. Indem Holmberg40 und ihre Hunde sich aneinander ausrichten, lernt die Autorin die Essgewohnheiten der Tiere kennen, zum Beispiel welches Futter sie bevorzugen. In einer Studie über Hauskatzen von Alger und Alger41 haben die Besitzer*innen ebenfalls den Eindruck, die Präferenzen ihrer Katzen für bestimmtes Futter zu kennen. Indem die Katzen warten, bevor sie unbeliebtes Futter essen, teilen sie ihren Besitzer*innen mit, dass sie anderes Futter lieber mögen. Auch bei Tieren, die weniger zugänglich sind als Heimtiere, können Menschen einen Eindruck davon bekommen, welches Futter bevorzugt wird. Bear42 beschreibt dies für Insektenfarmer*innen, die Mehlwürmern und Grillen Früchte verfüttern, die diese favorisieren. Fütterungen können Teil von Sorgebeziehungen sein, in denen Menschen Tieren helfen wollen und eine emotionale Verbindung zu 38 39 40 41 42

Kirksey et al. 2018: 614. Holmberg 2019: 28–29. ebd.: 29. Alger/Alger 1997: 74. Bear 2021: 1022–1023.

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Elisa Kornherr

ihnen als Individuen aufbauen.43 Das Aufbauen dauerhafter sozialer Beziehungen zu Tieren und einer Art Freundschaft zwischen Tier und Mensch kann eine Motivation dafür sein, regelmäßig zu füttern, wie Kirksey et al.44 am Beispiel von Fütterungen von Kakadus in Sydney verdeutlichten. Sie heben dabei die Handlungsmacht der Tiere im städtischen Raum hervor: »Cockatoos are actively generating rela­ tionally constituted spaces, drawing humans into urban ecosystems that are ›more-than-human‹ places, abundant and lively multispecies communities.«45 Städte werden in solch einer Perspektive als geteilte Lebensräume von Menschen und Tieren konzeptualisiert. Sie sind demnach durch verschiedene menschliche und mehr-als-menschliche Entitäten und Praktiken geprägt,46 die nebeneinander existieren und sich gegenseitig beeinflussen.47 Tiere gelten nicht nur als passive Objekte, sondern als Subjekte mit Handlungsmacht, die sich Räume (ungeachtet menschlicher Vorgaben) aneignen können.48 Sie sind bedeutsame Lebewesen, die von städtischen Entwicklungen beein­ flusst werden und selbst Einfluss darauf ausüben.49 Fütterungen von Wildtieren können in einem Spannungsver­ hältnis stattfinden zwischen dem emotionalen Wunsch von füttern­ den Personen nach Nähe und sozialen Beziehungen mit den Tieren und normativen Geboten, die Fütterungen einschränken. Kirksey et al.50 weisen darauf hin, dass Menschen, die Kakadus füttern, sich darüber bewusst sind, dass sie durch die Fütterungen in größere soziale und politische Kontexte eingebunden sind. Die Fütterung der Vögel schafft ein Spannungsverhältnis zwischen der Freude, die in den Fütterungsbegegnungen erlebt wird, und der normativen Vorgabe, dass Vögel eigentlich nicht gefüttert werden sollten. Füt­ ternde Personen wollen trotz der Fütterung die Wildheit der Vögel erhalten und sehen eine sukzessive Annäherung an Menschen im Sinne einer Zähmung als problematisch.51 Bei der Fütterung von Wildpferden in einem namibischen Nationalpark werden ähnliche 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Doubleday 2017: 32, Krieg 2020: 186–187. Kirksey et al. 2018: 608. ebd.: 602. Hinchliffe et al. 2005: 643. Steele/Wiesel/Maller 2019: 411. Clancy 2021: 1. Hovorka 2008: 95. Kirksey et al. 2018: 606–607. ebd.: 608.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

individuelle Aushandlungsprozesse deutlich.52 Die Pferde werden als geschützter Bestandteil des Parks gefüttert. Gleichzeitig beeinflusst aber die normative Vorgabe die fütternden Personen, dass die Pferde Wildtiere und Teil einer Natur sind, in die nicht eingegriffen werden sollte. Diese Aushandlungsprozesse finden auf leiblicher Ebene in Fütterungsbegegnungen mit den Pferden Ausdruck.53 Spannungsverhältnisse zwischen positiv erlebter Nähe und gesellschaftlichen Normen der Distanziertheit gestalten sich auf eine spezifische Weise, wenn »Problemtiere« gefüttert werden. Dies ist für die Nilgänse in Frankfurt relevant und kann in Bezug zu Jerolmack54 gesetzt werden, der betrachtet, wie Tauben in der Stadt problemati­ siert werden. Auch die Tauben werden diskursiv als verschmutzende und unhygienische Tiere konstituiert, deren Auftreten in der Stadt eine Gesundheitsgefahr darstellt. In der städtischen Öffentlichkeit werden Fütterungen als etwas Negatives wahrgenommen, das die Gefahr verstärkt, die von den Tauben ausgeht. Fütterungen sind häu­ fig verboten und werden kriminalisiert. Dennoch füttern Menschen die Tauben, da die Tiere zutraulich sind und fütternde Personen ihre Gesellschaft mögen.55 Die Beispiele verdeutlichen, wie in Fütterungsbegegnungen indi­ viduell erlebte Nähe und diskursive und normative Distanziertheit zu Wildtieren kopräsent sind. Ein Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanziertheit kann bei fütternden Personen zu moralischen Aushandlungsprozessen führen. Sowohl Menschen als auch Tiere wirken auf Fütterungsbegeg­ nungen ein. Begegnungen zwischen Menschen und Tieren besitzen laut Wilson56 ein transformatives Potential. Affekte, die in den Begeg­ nungen entstehen, können herkömmliche Denkmuster über Tiere herausfordern.57 In solchen Begegnungen kann Tieren eine affektiv wirksame Handlungsmacht zugeschrieben werden. Affektive Hand­ lungsmacht von Tieren verstehe ich hier nicht intentional, sondern als »wirkmächtige Impulse«, die relational in Netzwerken Wirkung entfalten und »individuelle und gesellschaftliche Prozesse auslösen, 52 53 54 55 56 57

Pütz/Schlottmann 2020: 101. ebd.: 101. Jerolmack 2008. ebd.: 86. Wilson 2019: 29. ebd.: 28–29.

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Elisa Kornherr

manchmal Akteure sogar zum Handeln treiben oder zwingen.«58 Atchison59 schreibt zum Beispiel Karpfen in Australien affektiv wirk­ same Handlungsmacht zu. Diese werden im öffentlichen Diskurs als invasive Art und Plage hervorgebracht. Durch Affekte in Begegnun­ gen entsteht ein differenzierteres und positiveres Bild der Tiere.60 Fütterungen können also als mehr-als-menschliche Begegnungen verstanden werden, in denen auch Tiere Handlungsmacht besitzen.

4. Fütterungsbegegnungen erforschen Mensch-Tier-Begegnungen mit einem Fokus auf deren affektives Erleben zu erforschen ist eine empirische Herausforderung.61 Denn zum einen kann eine sprachliche Repräsentation affektives Betroffen­ sein und Leiblichkeit nicht ganzheitlich abbilden.62 Zusätzlich sind Erfahrungen von Tieren in ihrer eigenen Lebenswelt für Menschen nur begrenzt nachvollziehbar und empirisch darstellbar.63 Ein anthro­ pozentrischer Blickwinkel kann also nicht vollständig umgangen werden. Dennoch bestehen Forderungen, die Lebenswelten der Tiere nicht zu vernachlässigen.64 Mit einem Fokus auf individuelle MenschTier-Begegnungen können Forschende nach Buller65 versuchen, sich dem anzunähern, was für Tiere in ihren Verbindungen zu Menschen bedeutsam ist. Methodischen Zugang bieten zum einen ethnographische Beob­ achtungen. Schröder66 zeigt Möglichkeiten für die Erforschung von Mensch-Tier-Begegnungen mithilfe einer mehr-als-menschlichen Ethnographie auf. Dabei werden Affekte in der Interaktion zwischen Menschen und Tieren in der Beschreibung der Beobachtung fokus­ siert.67 Denn die »Dimension der Leiblichkeit« kann anstelle einer sprachlichen Verständigung »als verbindendes Element und nonver­ 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Gieser 2023: 66. Atchison 2019: 744. ebd.: 744. vgl. Steiner/Rainer/Schröder 2022: 22. Schröder 2022: 319–320. Steiner/Rainer/Schröder 2022: 23. Hodgetts/Lorimer 2015: 285. Buller 2015: 376. Schröder 2022. ebd.: 328.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

bale Kommunikationsbasis zwischen Mensch und Tier«68 herange­ zogen werden. Bestandteil der Beobachtungen sind auch autoeth­ nographische Beschreibungen. Diese bieten Zugang zum Erleben von wechselseitigem Affizieren zwischen Forschenden und Tieren.69 Eigene Empfindungen, die in Verbindung mit anderen entstehen, können in einer »multispecies autoethnography«70 in die Wissens­ generierung einbezogen werden. Zudem bieten Beobachtungen die Möglichkeit, die Lebenswelt der Tiere besser kennenzulernen. Im Sinne eines kritischen Anthropomorphismus71 kann die*der For­ schende versuchen, sich in das Tier hineinzuversetzen und dadurch dessen Handlungen nachzuvollziehen. Um das Erleben der Fütterungsbegegnungen von Menschen und die dabei vorhandene Verbindung zu den Tieren einfangen zu können, arbeitete ich mit ethnographischen Beobachtungen. Für ein übergeordnetes Projekt zu Mensch-Nilgans-Verhältnissen in Frank­ furt führte ich insgesamt 27 ethnographische Beobachtungen durch, wobei ich bei einigen beobachten konnte, wie Menschen Nilgänse fütterten. Zudem fütterte ich die Nilgänse auch selbst. Mein Ziel war es, einen eigenen leiblichen Eindruck von Fütterungsbegegnungen zu erhalten. Ich wollte erleben, wie Nilgänse auf Fütterungen reagieren und auch die Perspektive der fütternden Personen besser nachvollzie­ hen können. Ich führte die Beobachtungen in den Lebensräumen der Nilgänse in Frankfurt durch, also am Mainufer, in verschiedenen Parkanlagen und in Schwimmbädern. Um einen umfassenden Ein­ druck ihrer Lebensweise zu erlangen, fanden die Beobachtungen zu verschiedenen Jahres- und Tageszeiten in einem Zeitraum von rund zwei Jahren statt. Eine weitere Möglichkeit, das Erleben von Mensch-Tier-Begeg­ nungen zu erforschen, bieten narrative Interviews. Um verschie­ dene Blickwinkel auf das Mensch-Nilgans-Verhältnis in Frankfurt einzufangen, führte ich für das Projekt 14 Interviews in Frankfurt und der näheren Umgebung. Interviewpartner*innen waren Ornitho­ log*innen, Politiker*innen, Mitarbeitende der Stadtverwaltung, ein Jäger und Personen, die sich für Nilgänse engagieren und sie im Zuge dessen auch füttern. In Anlehnung an biographisch-narrative 68 69 70 71

ebd.: 317. ebd.: 328–329. Gillespie 2021: 3. Morton/Burghardt/Smith 1990, zit. in Lorimer/Hodgetts/Barua 2019: 33.

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Elisa Kornherr

Interviews nach Fischer-Rosenthal & Rosenthal72 lag der Fokus auf den persönlichen Geschichten, die die Interviewten mit den Nilgänsen haben. Als methodische Ergänzung wurden die Interviews in Erwei­ terung von Kusenbachs73 »go-alongs« als »multispecies go-alongs«74 durchgeführt. Narratives Interview und ethnographische Beobach­ tung finden dabei gleichzeitig statt. Das bedeutet, dass ich während der Gespräche mit den interviewten Personen Orte besuchte, an denen die Nilgänse leben und auch gefüttert werden. Wir gingen zum Bei­ spiel im Park spazieren oder fütterten Nilgänse am Mainufer. Die Nil­ gänse waren während der Interviews also anwesend und beeinflussten dadurch die Interviewsituation. Die Interviewten interagierten mit den Tieren, was mir ermöglichte, ihre sprachliche Repräsentation mit der Beobachtung von leiblicher Kommunikation zwischen Menschen, Tieren, Futter und dabei stattfindenden Prozessen des wechselseitigen Affizierens zu verbinden. Für die Analyse der Fütterungen ziehe ich neben den ethnogra­ phischen Beobachtungen Interviews mit zwei Personen heran, die eine enge Bindung zu Nilgänsen haben. Luise und Anastasia75 füttern Nilgänse seit längerer Zeit und verstehen sich beide als Personen, die den Tieren helfen wollen. Ich wählte sie als Beispielakteure aus, da sie ihr Handeln und leibliches Spüren längerfristig reflektieren konnten. In ihrer sprachlichen Repräsentation wird sowohl die Aus­ einandersetzung mit normativen und rechtlichen Einflussfaktoren auf die Fütterungen, wie auch affektiv-leibliches Betroffensein in Begegnungen mit den Gänsen deutlich.

5. Fütterungen von Nilgänsen aus neophänomenologischer Perspektive Im Folgenden analysiere ich das Wechselverhältnis zwischen Nähe und Distanziertheit im menschlichen Erleben der Fütterungsbegeg­ nungen und dessen Verwobenheit mit mehr-als-menschlichen Enti­ täten, insbesondere den Nilgänsen als wirkmächtigen Akteuren. Dafür nutze ich die neophänomenologischen Konzepte von Situation, 72 73 74 75

Fischer-Rosenthal & Rosenthal 1997. Kusenbach 2003. Kornherr/Pütz 2022: 3–4. Die Namen der interviewten Personen sind anonymisiert.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

Atmosphäre und leiblicher Kommunikation und zeige, wie diese einen fruchtbaren Zugang zur Erforschung von Mensch-Tier-Begeg­ nungen bieten.

5.1 Situationen Um Fütterungen aus neophänomenologischer Perspektive zu betrach­ ten, bietet es sich zunächst an, mit dem Situationsbegriff von Schmitz76 zu arbeiten. Situationen sind dabei sehr weit gefasst und können zum Beispiel sowohl eine Persönlichkeit (als persönliche Situation eines Menschen), eine Muttersprache oder ein Gespräch umfassen. Im Hinblick auf Situationen, in die Menschen und Tiere gemeinsam eingebunden sind, können mit dem neophänomenologi­ schen Situationsbegriff sowohl aktuelle Mensch-Tier-Begegnungen, längerfristige Beziehungen und übergeordnete Verhältnisse beschrie­ ben werden. Dieses umfassende Situationsverständnis ist somit hilf­ reich, da es ermöglicht, verschiedene zeitliche und räumliche Ebenen in die Analyse miteinzubeziehen.77 So rücken sowohl institutionelle Regeln und gesellschaftliche Normen wie auch mikrosoziale Begeg­ nungen in den Fokus. Situationen umfassen Makro-, Meso- und Mikroebene und deren Verbundenheit.78 Bei der Betrachtung von Mensch-Tier-Beziehungen wird so deutlich, wie Tiere in bestimmte Situationen aufgrund der Zuschreibung einer Artzugehörigkeit ein­ gebunden sind und gleichzeitig spezifische Situationen als Individuen erleben. Im menschlichen Klassifikationsschema der »Art« ist die Nilgans in Frankfurt in verschiedene Situationen eingebunden. Rele­ vant sind zum Beispiel die Einordnung als invasive gebietsfremde Art durch die EU-Gesetzgebung, das Gänsemanagement der Stadt­ verwaltung oder die Entwicklung der Nilganspopulation in Frankfurt. Diese Situationen können als zuständlich (langfristig andauernd) und als segmentiert bezeichnet werden, da sie »immer nur in Ausschnitten zum Vorschein«79 kommen. Sie bestehen fortwährend und verbinden sich mit aktuellen Situationen von individuellen Tieren. 76 77 78 79

Schmitz 2005. Pütz/Schlottmann/Kornherr 2022: 201–202. Uzarewicz 2011: 255. Schmitz 2005: 54.

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Elisa Kornherr

Allen Situationen gemeinsam ist, dass sie im Inneren diffus sind, das heißt, dass »von dem Mannigfaltigen, das darin steckt, unter Umständen gar nichts, jedenfalls nicht alles, einzeln hervortritt«80. Einzelne Elemente sind in der Mannigfaltigkeit von Situationen also so miteinander verwoben, dass eine Situation nie vollkommen aufgeschlüsselt und zergliedert werden kann. Auch wenn Menschen Situationen nie in ihrer Ganzheit darstellen können, können sie in Konstellationen einzelne Bestandteile einer Situation hervorheben und miteinander kombinieren. Durch Konstellationen ist es ihnen möglich, das Chaos einer Situation zu beherrschen und einzelne Situationselemente in Verbindung zueinander zu stellen.81 So sind auch die folgenden Ausführungen über die Fütterungen von Nilgän­ sen Konstellationen aus Situationen. Sie sind aus analytischen Grün­ den notwendig, um die Situationen zugänglich zu machen, sollen aber dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Situationen darüber hinaus aus weit mehr bestehen als dem hier Dargestellten. Eine Situation hat in sich einen eigenen Sinnzusammenhang, also eine spezifische Bedeutsamkeit, und unterscheidet sich dadurch von anderen Situationen.82 Nach Schmitz83 besteht die Bedeutsam­ keit von Situationen aus Sachverhalten, Programmen und Problemen. Sachverhalte sind Tatsachen, also das, was ist. Der objektive Sach­ verhalt84 aller hier aufgeführten Fütterungssituationen bezieht sich darauf, dass Menschen Nilgänse füttern. Jede spezifische Situation hat weitere Sachverhalte, die sich zum Beispiel dadurch ergeben, wer füttert, welche Nilgänse gefüttert werden, welches Futter als Nahrung gewählt wird und wo die Fütterung stattfindet. Diese und viele weitere Tatsachen sind bestimmend für die damit verbundenen Programme und Probleme. Programme sind zum Beispiel »Werte, Normen, Regeln, Zwecke, Konventionen, Hoffnungen oder Wünsche, durch die das eigene Handeln geleitet wird.«85 Wie solche Programme in Fütterungsbegeg­ nungen vorhanden sind und mit Problemen zusammenwirken, wird in einem Interview mit Luise ersichtlich. Sie fütterte eine männliche 80 81 82 83 84 85

ebd. 1998a: 31. ebd. 2005: 28. Gugutzer 2020: 376. Schmitz 2005: 22. ebd.: 19. Gugutzer 2020: 376.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

Nilgans in einer Parkanlage über einen längeren Zeitraum täglich, als das Tier durch eine Verletzung am Bein geschwächt war: »Und ich habe mein Leben irgendwie so umgestellt, oder, oder so geplant, dass ich ja täglich zu besonderen Zeiten, in denen ich das Gefühl hatte, es ist entspannter oder es passt ganz gut, ja, ihn füttern gehen darf. Wohlwissend, dass ich ja was Verbotenes tue, also die Parkschilder sind ja nicht zu übersehen. Und ja, Kommentare von Passanten wollte ich umgehen. Und sonst bin ich generell der Meinung, dass man-, oder war der Meinung, dass man Wildtiere nicht füttern darf und nicht in dieses System eingreifen soll, als Mensch.«

In diesem Beispiel zeigen sich drei Programme, die jeweils spezifische Probleme hervorrufen. Erstens prägt die Regelung des Fütterungsver­ bots die Situation. Das Verbot ist rechtlich in Verordnungen festge­ legt und materialisiert sich räumlich in Form von Schildern in der Parkanlage, die Luise darauf aufmerksam machen, dass Tiere (und Gänse im Speziellen) nicht gefüttert werden dürfen, wie Abbildung 1 beispielhaft verdeutlicht.

Abbildung 1: Diese Schild in einer Frankfurter Grünanlage ermahnt Besucher*innen, dass das Füttern von Gänsen verboten ist. Das Schild macht das Programm des Fütterungsverbots damit im Park sichtbar und weist die Fütterung als Problem aus. (Eigene Aufnahme)

Das Programm des Fütterungsverbots existiert somit nicht nur auf einer unabhängigen rechtlichen Ebene, sondern beeinflusst Luises

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Elisa Kornherr

leibliches Erleben der Fütterungen. Das Fütterungsverbot als institu­ tionelles Programm zeigt sich so in ihrer persönlichen Situation86, indem es eine affektive Wirkung entfaltet. Luise verinnerlicht das Fütterungsverbot als Programm, und da sie gegen diese Regelung verstößt, wird das Füttern zum Problem in der Situation. Zweitens ist in der Situation relevant, dass nicht nur Luise, son­ dern auch andere Personen im Park als Verhaltensnorm übernehmen, dass Gänse nicht gefüttert werden sollten. Dieses Programm erhält durch die soziale Kontrolle der Parkbesucher*innen eine spürbare Wirkung. Bedeutsam ist hier nicht nur die soziale Norm, sondern ihre Wirksamkeit in Gefühlen.87 Um das Problem zu umgehen, von anderen Personen auf die Fütterung angesprochen zu werden, füttert Luise die Nilgans nur zu bestimmten Zeiten am Tag. Sie verhält sich vorsichtig, damit andere nicht merken, dass sie gegen die Norm des Nicht-Fütterns verstößt. Drittens ist Teil der persönlichen Situation von Luise auch das verinnerlichte normative Gebot, dass Menschen nicht in das »Sys­ tem« der Natur eingreifen sollten. Dies kann bei fütternden Personen, wie in Kapitel 3 beschrieben, zu einer ambivalenten Bewertung der Fütterung führen: »Und dann hat er es aber vorgezogen, immer aus meiner Hand zu fressen. Und dann war ich aber noch mehr im Dilemma, weil das war ja noch näher.« Diese Überzeugung, dass die Nähe zur Nilgans als Wildtier negative Konsequenzen hat, prägt als Programm ihr Handeln. Darin zeigt sich die Konvention der gesellschaftlichen Distanziertheit zu Wildtieren. Und dennoch besteht bei Luise ein Wunsch, die Nilgans zu versorgen, infolgedessen es zu persönlichen Aushandlungsprozessen kommt: »Also hier trafen dann zwei ganz große Themen meinerseits aufeinan­ der, nämlich Liebe zu Tieren und Fürsorge Schwächeren gegenüber […]. Aber auch sehr regelkonform handeln zu wollen. Und da war ich sehr im Widerspruch. Ich-, es war aber dann doch für mich wichtiger, diesem Tier zu helfen. […] Also das war dann so das höhere Ziel. Aber eine Zeit lang habe ich mich wirklich wie ein Verbrecher gefühlt. Aber das ging ja noch ziemlich weit, fand ich, dass ich mich dann im Park versteckt habe oder solche Uhrzeiten ausgesucht habe, wo möglichst wenig los ist im Park.«

86 87

vgl. ebd. 2017: 159. vgl. Schmitz 2009: 91–92.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

Der Konflikt zwischen dem Wunsch, die Nilgans zu versorgen, und dem Gebot, Abstand zum Tier zu halten und es nicht zu füttern, verunsichert sie bei der Frage, wie sie auf eine moralisch richtige Art und Weise handeln kann. Programme und Probleme tauchen dabei von zwei Seiten auf. Zum einen gibt es das Programm des »Nicht-Eingreifens in die Natur«, aufgrund dessen die Fütterung der Nilgans ein Problem in der Situation ist. Zum anderen ist ein Programm ihrer persönlichen Situation, für Tiere zu sorgen und ihnen zu helfen, wobei dann der Wunsch, regelkonform zu handeln, dem entgegensteht und zum Problem wird. Die diskursive Kategorisierung der Nilgans als »fremd, invasiv und aggressiv« und »eklig, verschmutzend und gesundheitsgefähr­ dend«88 ist in Situationen der Fütterung ebenfalls relevant. Die Per­ sonen, die ich in diesen beispielhaften Situationen beleuchte, sind sich darüber bewusst, dass das Bild der Nilgans im Mediendiskurs negativ konnotiert ist und die gesellschaftliche Norm vorgibt, dass es besonders verwerflich sei, diese Tierart zu füttern. Anastasia, eine Tierschützerin, die regelmäßig verletzte Nilgänse pflegt, drückt das so aus: »Als würde man sagen, das ist ein Verbrecher Nummer Eins.« Die normative und diskursive Distanziertheit zur Nilgans ist den fütternden Personen zwar bewusst, setzt sich aber genauso wie das Fütterungsverbot nicht gegen den Wunsch nach Nähe durch. Entscheidender als das negative öffentliche Bild der Nilgans sind positiv erlebte, leibliche Aspekte der Begegnung. In der Fütterungs­ begegnung ergeben sich individuelle Vorstellungen von den Tieren, die dann nicht mehr als aggressiv und gesundheitsgefährdend erschei­ nen, sondern als soziale und zugängliche Tiere, die sich für eine Fütterung sogar besser anbieten würden als andere Tiere. Eine Tier­ schützerin, die Anastasia und ich zufällig bei einem multispecies go-along treffen und die sich in das Interview integriert, da Anastasia und sie häufig gemeinsam Gänse füttern, beschreibt das so: »Also die Nilgänse finde ich, sind-, also die sind zutraulicher als die Graugänse. Und die fressen auch gerne aus der Hand teilweise, was eine Graugans eigentlich nie machen würde.« Auch Luise bestätigt dieses Bild: »Ich finde Nilgänse wahnsinnig kommunikativ und das mag ich sehr, schätze ich sehr an ihnen.« Der Zugang über den Situationsbegriff mit integrierten Pro­ grammen und Problemen hebt hervor, wie in leiblichen Fütterungsbe­ 88

Kornherr/Pütz 2022: 4–5.

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gegnungen mit Nilgänsen bei den Menschen Aushandlungsprozesse zwischen Nähe und Distanziertheit stattfinden. Die normative, dis­ kursive und rechtlich verordnete Distanziertheit zur Nilgans schränkt das positive Erleben der Nähe in den Fütterungsbegegnungen ein. Der Wunsch nach Nähe ist aber ein wirkmächtiger Bestandteil der Situa­ tionen. Aufgrund dessen füttern die Beispielakteure die Nilgänse, der normativen Distanziertheit zum Trotz. Die Begegnungen mit den Nilgänsen können »wirkmächtige Impulse«89 im leiblichen Erleben der Menschen auslösen und das negative diskursive Bild der Nilgans herausfordern.

5.2 Atmosphären Situationen integrieren Atmosphären, die häufig bestimmend auf Situationen einwirken.90 Mithilfe des neophänomenologischen Atmosphärenbegriffs kann ich in den Blick nehmen, wie die Perso­ nen im Fallbeispiel mit Fütterungen versuchen, Atmosphären der Nähe zu schaffen. »Eine Atmosphäre ist eine totale oder partielle, in jedem Fall aber umfassende, Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird«91 [Hervorhebung im Original]. Hierbei geht es um Empfindungen, die den flächenlosen Raum des Leibes besetzen, welcher nicht dreidimensional mess- oder fassbar ist.92 Wenn Menschen und Nilgänse sich bei einer Fütterung begeg­ nen, prägen Halbdinge93 das atmosphärische Raumerleben der Situa­ tion. Solche Halbdinge können zum Beispiel die Dämmerung sein, die sich mit Verschwinden des Tageslichts über eine Parkanlage legt, oder ein kalter Wind, der während der Fütterung weht. Durch diese Halbdinge sind die Atmosphären, in denen die hier betrachteten Füt­ terungen erfolgen, nicht nur von Menschen und Nilgänsen abhängig. Weil die Fütterungen in den Lebensräumen der Nilgänse stattfinden, wie in Parkanlagen oder am Mainufer, ereignen sie sich stets in 89 90 91 92 93

Gieser 2023: 66. Schmitz 1993: 38. ebd. 2012: 22. ebd. 1998a: 12–13, ebd. 2009: 99. vgl. ebd.: 84–85.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

»Atmosphären der Natur«94, die unabhängig von der Fütterung beste­ hen. Es gibt aber auch Atmosphären, die Menschen versuchen bewusst herzustellen. So sollen in Räumen durch gezielt eingesetzte Kompositionen von Architektur oder Licht bestimmte Atmosphären entstehen, die Menschen affektiv betroffen machen.95 Ziel ist es dabei, dass Menschen aufgrund des affektiven Betroffenseins von solchen hergestellten Atmosphären leiblich ergriffen sind und sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, also zum Beispiel auf einem Markt dazu angeregt werden, etwas zu kaufen,96 oder sich im Zimmer eines Pflegeheimes wohlfühlen.97 Da Atmosphären leibliche Widerfahrnisse sind, ist die Wirkung, die sie entfalten, allerdings nur partiell beeinflussbar.98 In den hier betrachteten Fütterungen versuchen Menschen Atmosphären der Nähe zu schaffen, die sowohl sie als auch die Nilgänse affektiv betreffen und Empfindungen von Sicherheit, Ver­ trautheit und Geborgenheit bei beiden Interaktionspartnern entste­ hen lassen. Anastasia bezeichnet den leiblichen Raum, der bei einer Fütterung entstehen sollte, in einem Interview als »Wohnzimmer«: »Und ich denke, das ist wie bei Menschen. Dass man sie-, also wenn man geht in das Wohnzimmer und man trifft sich, dann isst man. Das verbindet, genau.« Das Futter fungiert dabei als verbindendes Ele­ ment in der leiblichen Kommunikation zwischen Mensch und Gans. Ziel ist es, dass eine gemeinsame Atmosphäre der Nähe entsteht, in die fütternde Person, Futter und Nilgans in einer überindividuellen »quasi-leiblichen Einheit«99 eingebunden sind. Luise versuchte dafür eine Atmosphäre zu schaffen, die sowohl ihr als auch der verletzen Nilgans Sicherheit und Ruhe während der Fütterung bot, abseits der Gruppe von anderen Gänsen im Park: »Wir haben es dann so für uns gefunden, dass wir dann wirklich hinter diesen Hügel dann marschieren und dann er dort hinter den Bäumen sein Super-Kraft-Spezial-Lieblingsfutter bekommt. Er mochte Mais, und das-, er war der Einzige, der so Dosenmais mochte, tatsächlich.« 94 95 96 97 98 99

Hasse 2017: 49. ebd. 2015: 232–233. ebd. 2018. Fraunhofer 2017. Gugutzer 2020: 386. Schmitz 1989: 55.

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Die Atmosphäre hinter dem Hügel ist in dem Sinne hergestellt, dass Luise extra zum Zwecke einer ruhigen und intimen Fütterung einen Raum wählt, der durch Hügel und Bäume in einer abgeschiedenen Ecke des Parks liegt. In dieser Atmosphäre kann eine intime Verbin­ dung entstehen, die nicht die ganze Gruppe von Nilgänsen, sondern prioritär sie und die verletzte Nilgans als leibliche Wesen einschließt. Diese Intimität zeigt sich auch in dem Dosenmais als speziellem Futter, das die Nilgans bekommt. Aus Luises Perspektive wurde die Atmosphäre nicht nur von ihr gewählt, indem sie die Nilgans mit dem Futter hinter den Hügel lockte, sondern sie hätten die Atmosphäre hinter den Bäumen in einem Prozess für sich »gefunden«. In ihrer län­ ger andauernden Beziehung wird die Atmosphäre zum verbindenden Element, in dem die Anwesenheit des anderen erwartet wird: »Und sonst war das immer so, dass er einfach aufgetaucht war, also, wenn er nicht am vereinbarten, üblichen Ort war, zur üblichen Zeit, weil das hatte er, glaube ich dann, oder hatten wir beide auch raus, dass es ungefähr dieselbe Zeit ist und derselbe Ort. Dass er-, dass ich wusste, morgens finde ich ihn nicht dort, an diesem Ort, aber abends, wenn ich füttern gehe, ist er immer dort, in der Nähe.«

Aus Luises Perspektive schlossen sie und die Nilgans eine Vereinba­ rung, dass die Fütterung in dieser Atmosphäre an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit stattfindet. Durch die wiederholt erlebte leibliche Nähe entstand so Verbundenheit und Vertrautheit: »Irgendwie hat es sich dann so entwickelt über diese Tage, er wurde immer zutraulicher, weil er-. Ja, weil er Vertrauen gefasst hat.« Wie das Beispiel zeigt, wirken nicht nur Menschen auf die Atmosphären ein, in denen die Fütterungen stattfinden, sondern auch die Nilgänse selbst sind ein beeinflussender Faktor. Gerade im Kontext von Fütterungen wird ihre Wirkungsmacht auf Atmosphären deutlich, da diese im Wesentlichen davon abhängen, wie die Tiere auf die Fütterung reagieren. Nehmen sie das Futter zum Beispiel nicht an oder zeigen sogar Reaktionen wie lautes Rufen oder kräftiges Flügelschlagen, wird wahrscheinlich kein Gefühl von Verbundenheit entstehen. Hier zeigt sich, dass die Herstellung von Atmosphären immer Limitationen unterworfen ist.100 Welche Atmosphäre tatsäch­ lich entsteht und inwiefern sie Menschen und Nilgänse leiblich ergreift, kann nicht vollends geplant werden. Als leibliche Wesen beeinflussen die Gänse die Atmosphäre und können zum Beispiel 100

Gugutzer 2020: 386.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

der Absicht die Grenzen aufzeigen, eine ruhige Atmosphäre der Nähe herzustellen. Dies wird an einer ethnographischen Beobachtung deut­ lich, bei der ich Gänse am Mainufer füttere. Ich verteile dazu eine Körnermischung lose auf dem Boden, die die Nilgänse in Ruhe fressen sollen, während ich sie dabei beobachte. Allerdings entsteht dabei ein Kampf um das Futter: »Ich bemerke, dass ich mit der Fütterung eine aggressive Stimmung unter den Vögeln schaffe. Waren sie davor recht entspannt und mit sich selbst beschäftigt, kommt es jetzt zu Hierarchiestreitigkeiten. Die Gänse kommunizieren mit Drohgebärden untereinander, indem sie laut rufen und mit den Flügeln schlagen, ihren Hals nach unten durchbiegen, schnell aufeinander zulaufen oder ihren Schnabel öffnen, die Zunge herausstrecken und laut zischen. Eine Kanadagans geht sogar so weit, eine Nilgans mit ihrem Schnabel in die Seite zu zwicken. Während die Kanadagans schnell mit ihrem Schnabel vorstößt und die Nilgans beißt, strampelt diese kurz hilflos mit ihren Beinen und ver­ sucht hektisch, schnell wegzulaufen. Als die Kanadagans sie loslässt, watschelt die Nilgans zügig aus der Reichweite der Kanadagans.«

Statt einer Atmosphäre, in der ich mich der Nilgans in der Fütterung nahe fühlen kann, entsteht eine Atmosphäre, in der ich nur eine distanzierte Beobachterin bin. Die Atmosphäre scheint eine starke affektive Wirkung auf die Gänse zu haben und beeinflusst sie in ihrem Verhalten.101 Die Fütterung ergreift die Nilgans auf andere Weise als mich. Eine individuelle Verbindung zwischen mir und der Nilgans ist schon deshalb nicht möglich, da am Mainufer weitere Tierarten wie Kanadagänse anwesend sind. Diese sollten eigentlich nicht in die Füt­ terung eingebunden werden, eignen sich das Futter aber unabhängig von diesem Wunsch trotzdem an. Die leibliche Kommunikation ist für die Nilgans mit den anderen Tieren viel bestimmender als eine mögliche leibliche Kommunikation, die mit mir und dem Futter als Vermittler zwischen uns stattfindet.

101 Wie Lorimer/Hodgetts/Barua (2019: 29–33) und Lobo/Alam/Bandyopadhyay (2022: 5–7) zeigen, können auch von Tieren erlebte Atmosphären konzeptuali­ siert werden.

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5.3 Leibliche Kommunikation Das Konzept der leiblichen Kommunikation ermöglicht, das leibliche Erleben von Nähe und Distanziertheit noch genauer in den Blick zu nehmen. Atmosphären vermitteln Eindrücke als »Medien leiblicher Kommunikation«102. Werden Menschen und Nilgänsen von einem Gefühl der Nähe affiziert, ist dies ein leiblicher Prozess. In leiblicher Kommunikation werden Menschen und Tiere von anderen leiblichen Wesen, Dingen oder Halbdingen affiziert und reagieren darauf.103 Tiere verständigen sich untereinander in leiblicher Kommunikation, zum Beispiel zwei Hirsche beim Kampf, die sich immer wieder aneinander ausrichten.104 Und auch mit Menschen verständigen sich Tiere in Prozessen leiblicher Kommunikation, zum Beispiel Pferd und Reiter*in, was auch Dinge wie einen Sattel oder Halbdinge wie Gerüche integriert.105 Im Fallbeispiel entstehen Fütterungen als gemeinsame Situationen erst durch das wechselseitige Affizieren von Menschen und Nilgänsen, das durch das Futter als mehr-als-mensch­ lichen Bestandteil der Situation vermittelt wird. Schmitz106 unterscheidet verschiedene Arten von leiblicher Kommunikation. Es gibt demnach einseitige leibliche Kommunika­ tion, wenn Menschen zum Beispiel auf Gegenstände reagieren und einem herannahenden Hindernis ausweichen. Wenn zwei Lebewe­ sen in einem gegenseitigen Affizieren miteinander verbunden sind, spricht Schmitz von wechselseitiger leiblicher Kommunikation. Diese ist solidarisch, wenn sich die Leibwesen ohne gegenseitige Zuwen­ dung aneinander ausrichten. Beispiel dafür sind gemeinsames Singen oder die Flucht einer Gruppe (von Menschen oder Tieren). Ist die wechselseitige leibliche Kommunikation von einem Wechsel der Dominanzrolle geprägt, ist sie in neophänomenologischer Begriff­ lichkeit antagonistisch. Diese wechselseitige antagonistische leibliche Kommunikation prägt im Wesentlichen die Fütterungen zwischen Menschen und Nilgänsen. Entscheidend ist hier ein Dialog zwischen den leiblichen Regungen der Engung und Weitung.107 Dieser Dialog und die entstehende gemeinsame Verbindung werden bei einer Beob­ 102 103 104 105 106 107

Hasse 2015: 237. Gugutzer 2020: 378, Pütz/Schlottmann/Kornherr 2022: 202. Schmitz 1998b: 38. Pütz 2019: 260–262, vgl. auch Beitrag von Robert Pütz in diesem Band. Schmitz 2009: 40–41. ebd.: 38–39.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

achtung deutlich, bei der ich eine Nilgans am Mainufer mit einer Körnermischung aus der Hand füttere (s. Abbildung 2):

Abbildung 2: Die Fütterung einer Nilgans am Mainufer kann als wechselseitige antagonistische leibliche Kommunikation verstanden werden. Die Nilgans und ich sind dabei in einen Dialog von Engung und Weitung eingebunden. Das Futter in meiner Hand fungiert als Vermittler zwischen uns. (Eigene Aufnahme)

»Die Nilgans bemerkt das Futter in meiner Hand, kommt in wenigen Schritten auf mich zugewatschelt und bleibt ganz knapp vor mir stehen. Sie taxiert mich und meine Hand mit ihren gelben Augen und entschei­ det sich dann rasch dafür, das Futter aus meiner Hand anzunehmen. Sie beugt ihren Kopf herunter und isst schnell das ganze Futter aus meiner Hand auf, indem sie immer wieder mit öffnenden und schließenden Bewegungen die Kerne in ihrem Schnabel verschwinden lässt. Als sie mich das erste Mal mit ihrem Schnabel berührt, erschrecke ich, merke aber schnell, dass sie mich nicht zwickt oder beißt, sondern dass sie behutsam nur so fest mit ihrem Schnabel Druck auf meine Hand ausübt, damit sie das Futter gut greifen kann. Der Schnabel fühlt sich hart und ungewohnt an, eher wie ein Objekt als wie ein anderes Lebewesen. Ich habe trotzdem keine Angst mehr vor ihr, bin nun entspannter und freue mich, ihr so nah sein zu können.«

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Ich empfinde zunächst eine leibliche Regung der Engung, da die Nilgans auf mich zuläuft und mich durchdringend anblickt. Der Blickwechsel zwischen leiblichen Wesen ist durch antagonistische leibliche Kommunikation und einen Wechsel der Dominanzrolle geprägt.108 Die Engung intensiviert sich im Schreck, den ich verspüre, als die Nilgans meine Hand mit ihrem Schnabel berührt. Gerade in Momenten des Schrecks spüren leibliche Wesen eine maximale Regung der Engung.109 Im weiteren Verlauf der Fütterung empfinde ich Weitung, da ich mich freue und die leibliche Nähe entspannter empfinden kann. Engung und Weitung korrespondieren hier mit wechselhaften Empfindungen von Nähe und Distanziertheit. Indem die Nilgans auf mich zukommt, schafft sie eine ortsräumliche110 und leibliche Nähe. Diese wird durch das Annehmen des Futters und dessen Einverleibung verstärkt. Eine leibliche Distanziertheit zwischen uns wird im Erschrecken deutlich und durch die Fremdheit beim Berühren zwischen Schnabel und Hand. Dennoch überwiegt die Freude über die Nähe und eine neue Vertrautheit, die nicht mehr von Angst geprägt ist. Das Futter ist dabei ein Vermittler zwischen mir und der Nilgans, durch das die direkte Berührung zwischen Schnabel und Hand über­ haupt erst zustande kommt. Die Nilgans richtet sich in leiblicher Kommunikation an dem Futter und damit auch an mir und meiner Hand aus. Die Körnermischung in meiner Hand verfügt über leiblich spürbare Autorität für die Nilgans, die sie dazu bringt, mir so nahe zu kommen.111 Da sich die »leibliche Richtung«112 der Nilgans an dem Futter orientiert, reduziert sie den Abstand zwischen uns. Im Prozess des Essens und dem wiederholten Aufnehmen des Futters mit dem Schnabel von meiner Hand findet leibliche Kommunikation zwischen Nilgans, Futter und mir statt. Mithilfe des Futters entsteht so in der leiblichen Kommunikation zwischen uns ein gemeinsamer Quasi-Leib113, der von Nähe geprägt ist. Dieses Aufbauen von Nähe durch Futter zeigt sich auch in einer leiblichen Angleichung zwischen fütternder Person und Nilgans. Bei 108 109 110 111 112 113

ebd. 1998a: 43–44. ebd.: 18. vgl. ebd. 2009: 61, 73. vgl. Gugutzer 2015: 110–111. Schmitz 2009: 37. vgl. ebd. 2003: 97.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

einer Beobachtung, in der Anastasia eine Nilgans füttert, versucht sie ihren Körper und damit auch ihr leibliches Empfinden an der Nilgans auszurichten, indem sie den Schnabel der Gans mit ihrer Hand imitiert (s. Abbildung 3): »Sie reißt von dem eingeweichten Toast kleine Stückchen ab und quetscht das Wasser heraus, damit der Toast noch feucht ist, aber nicht mehr tropft. Sie erklärt mir, dass sie die Toaststücke so portioniert, dass es sowohl für sie als auch für die Gans gut passen würde. Mit ihren Fingern formt sie eine schnabelähnliche Form und nimmt den Toast damit auf. Es scheint tatsächlich eine passende Größe für den Schnabel der Gans zu sein, da diese entspannt und ohne sich zu verschlucken die Stücke in kleinen öffnenden und schließenden Bewegungen mit dem Schnabel aufnimmt.«

Abbildung 3: Anastasia versucht, ihr leibliches Empfinden an die Nilgans anzugleichen, indem sie mit ihrer Hand den Schnabel der Gans imitiert. Mit dieser Angleichung will sie die richtige Menge von eingeweichtem Toastbrot für den Schnabel portionieren, damit sie die Nilgans problemlos füttern kann. Die Nilgans brütet in einem Balkonkasten im sechsten Stock eines Wohnhauses. Während der Brutzeit kommt Anastasia regelmäßig vorbei und füttert die Gans. (Eigene Aufnahme)

Beim Betrachten von Dominanzrollen in leiblicher Kommunikation stellen sich auch Fragen nach Machtpositionen bei Fütterungsbegeg­ nungen zwischen Menschen und Tieren. Im Prozess der Fütterung findet ein wechselseitiges Affizieren statt, auf das sowohl Menschen als auch Nilgänse Macht ausüben. Ohne die Entscheidung von Men­

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schen, Nilgänse zu füttern, würde auch keine Fütterung stattfinden. Was, wann, wo und wie gefüttert wird, obliegt auf den ersten Blick allein den fütternden Personen. Ihre Machtposition wird auch dadurch deutlich, dass sie mit dem Futter eine ortsräumliche Verlagerung der Nilgänse erreichen können. Die Fütterung kann als ein Instrument verstanden werden, mit dem Menschen bewusst leibliche Nähe zu Nilgänsen schaffen. Doch nicht nur Menschen besitzen in Situationen der Fütterung Handlungsmacht. Auch den Nilgänsen kann eine affektiv wirksame Handlungsmacht zugeschrieben werden. Denn auch, wenn die Fütte­ rung entscheidend von Menschen abhängig ist, würde sie nicht statt­ finden, ohne dass Nilgänse Menschen affizieren. Nilgänse erschei­ nen den fütternden Personen als zugängliche Partner für leibliche Kommunikation, mit denen ein kommunikativer Austauschprozess stattfinden kann. Im wechselseitigen Affizieren und Affiziert-Werden können sich Mensch und Tier nach Despret114 aneinander ausrich­ ten und eine vom Gegenüber geprägte Identität entwickeln. In der Nähe der Fütterungssituationen können Mensch und Tier auf das Gegenüber reagieren, ihr Verhalten aneinander anpassen und sich als Leibwesen kennenlernen.

6. Fazit Anliegen dieses Beitrages war es, aus einer mehr-als-menschlich geprägten Perspektive zu ergründen, wie sich in Fütterungen von Nilgänsen ein Wechselverhältnis zwischen Nähe und Distanziertheit zeigt. Normen, Gesetze und Diskurse tragen in Frankfurt dazu bei, dass eine Distanziertheit zur Nilgans besteht. Vor diesem Hinter­ grund sind Fütterungen von Nilgänsen besonders spannende Begeg­ nungen, da sie von Nähe geprägt sind. Leibliche Nähe kann im direkten Kontakt während des Nahrungsaustausches zwischen Men­ schen und Tieren entstehen. Bei Fütterungen von Nilgänsen sind gesellschaftlich geprägte Distanziertheit und individuell erlebte Nähe also kopräsent.

114

Despret 2004: 115, 130.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

Für die Analyse der Fütterungsbegegnungen erweist sich die Neue Phänomenologie115 als fruchtbarer Zugang. Wie die hier bei­ spielhaft beleuchteten Situationen zeigen, schlägt sich die gesell­ schaftliche Distanziertheit in den persönlichen Situationen der Men­ schen nieder. Verinnerlichte Programme, die Distanziertheit zur Nilgans vorgeben, stehen allerdings anderen Programmen entgegen, wie den Wünschen, Tieren zu helfen oder Nähe im sozialen Austausch zu erleben. In Verbindung mit diesen Programmen entstehen spezifi­ sche Probleme und individuelle Aushandlungsprozesse. In den hier betrachteten Beispielen setzt sich der Wunsch nach Nähe und damit die Entscheidung zur Fütterung durch. Die fütternden Personen versuchen, Atmosphären der Nähe herzustellen. Wenn dies erfolgreich ist, können Begegnungsräume entstehen, in denen ein gegenseitiges Aufeinander-Einstellen mög­ lich ist und Menschen Vertrautheit mit den Nilgänsen erleben. Nil­ gänse sind jedoch eigenständige Leibwesen mit einer spezifischen Atmosphärenwahrnehmung und können in einer für Menschen uner­ warteten Weise auf Atmosphären einwirken. Atmosphären von Füt­ terungen können dadurch auch von einer leiblichen Distanziertheit zwischen Menschen und Gänsen geprägt sein. Bei der Betrachtung von leiblicher Kommunikation zeigt sich, dass Distanziertheit zu Nilgänsen nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch im Erleben mikrosozialer Begegnungen auftritt. Denn im Berühren und Berührtwerden wird die Andersartigkeit des Gegenübers deutlich. Gleichzeitig entstehen im leiblich erlebten Fütterungsprozess Nähe und Verbundenheit zwischen Mensch und Nilgans. Was kann nun anhand des Beispiels über Nähe und Distanziert­ heit in Mensch-Tier-Begegnungen gelernt werden? Die dichotome Einteilung der Welt in Kultur – Natur, Gesellschaft – Wildnis und Mensch – (Wild-)Tier wird aus mehr-als-menschlicher Forschungs­ perspektive hinterfragt.116 Mit solchen normativen Dichotomien geht auch eine Distanzierung zu (Wild-)Tieren als dem »Anderen« der menschlichen Gesellschaft einher. Das Beispiel der Fütterungen ver­ deutlicht, wie in Begegnungen zwischen Menschen und Tieren die Grenzen zwischen diesen Kategorien verschwimmen können. Zudem wird in Begegnungen die Verwobenheit verschiedener räumlicher und zeitlicher Analyseebenen deutlich. Langfristige gesellschaftliche 115 116

Schmitz 1980, 2009. z. B. Whatmore 2002: 3, Steiner/Rainer/Schröder 2022: 16.

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Elisa Kornherr

Mensch-Tier-Verhältnisse und andauernde individuelle Beziehungen prägen das leibliche Erleben in konkreten Begegnungen. Nähe und Distanziertheit werden dabei stetig neu ausgehandelt. In solche Aushandlungsprozesse sind neben Menschen auch vielfältige mehrals-menschliche Elemente eingebunden, wie Normen, Atmosphären, Dinge und entscheidender Weise auch Tiere selbst. Tieren kann eine affektiv wirksame Handlungsmacht zuge­ schrieben werden,117 die in der Verwobenheit von Begegnungen, Beziehungen und Verhältnissen Wirkung entfalten kann. Begegnun­ gen wohnt dabei ein transformatives Potential inne.118 Im wechselsei­ tigen Affizieren und Affiziertwerden zwischen Menschen und Tieren können herkömmliche Denkmuster herausgefordert werden und eine Wahrnehmung des Gegenübers entstehen, die von Bedeutsamkeiten der leiblichen Begegnung geprägt ist.

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Mensch-Tier-Begegnungen zwischen Nähe und Distanziertheit

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Thorsten Gieser

Wolfsbegegnungen – Eine Annäherung des Fremden

1. Einleitung: Eine phänomenologisch-ethnografische Annäherung an das wölfische Fremde »Geh weg!« Wolf kommt Frau unheimlich nah – Video des Spektakels geht viral1 Begegnung mit Wölfen in der Heide – Reiter in Südniedersachsen haben keine Angst2 Förster und Ärztin begegnen mehreren Wölfen: »Mir war schon mul­ mig«3 Jagdverband warnt vor mehr Wolfsbegegnungen in Großstädten4 Verhalten bei einer Wolfsbegegnung: Das sollten Sie jetzt tun5 Wölfe kehren seit über 20 Jahren nach Deutschland zurück – je nach Region, nach 100 bis 200 Jahren Abwesenheit. Was mit einem ersten Rudel auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz im Osten Sachsens im Jahr 2000 begann, entwickelte sich seitdem zu 161 Rudeln, 43 Paaren und 21 territoriale Einzeltieren (im letzten Monitoringjahr https://www.merkur.de/deutschland/wolf-deutschland-video-zahlen-aktuell-le bensraum-begegnung-verhaltensregeln-youtube-90468838.html, zuletzt abgerufen am 16.03.2023. 2 https://www.hna.de/lokales/goettingen/goettingen-ort28741/gruselige-wolfsb egegnung-in-der-suedheide-fuerchten-reiter-in-suedniedersachsen-den-wolf-9019 0587.html, zuletzt abgerufen am 16.03.2023. 3 https://osthessen-news.de/n11720579/foerster-und-aerztin-begegnen-mehrere n-woelfen-mir-war-schon-mulmig.html, zuletzt abgerufen am 16.03.2023. 4 https://www.spiegel.de/panorama/jagdverband-warnt-vor-mehr-wolfsbege gnungen-in-grossstaedten-a-188cb489-b232-43ca-8166-ef003fcc56f7, zuletzt abgerufen am 16.03.2023. 5 https://praxistipps.focus.de/verhalten-bei-einer-wolfsbegegnung-das-sollten-si e-jetzt-tun_139116, zuletzt abgerufen am 16.03.2023. 1

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Thorsten Gieser

2021/22). Wie man der kleinen Auswahl an Medienberichten oben entnehmen kann, kommt es daher auch immer wieder zu Begegnun­ gen mit Wölfen – selten bis gänzlich unwahrscheinlich zwar für den Einzelnen, doch in ihrer gesamten Medienpräsenz auf ganz Deutsch­ land bezogen doch fast wöchentlich. Dabei wird immer wieder klar, dass es eine große Unsicherheit und ein Mangel an Wissen gibt, wie man sich bei einer Wolfsbegegnung verhalten soll, und dies führt oft zu mulmigen, beunruhigenden bis hin zu ängstlichen Gefüh­ len. Die Koexistenz mit Wölfen, also »das Nebeneinanderbestehen verschiedener Arten im gleichen Lebensraum unter Ausschluss von Konkurrenz«6, wird somit zur Herausforderung. Für viele Wolfskri­ tiker ist in Deutschland, einer ›dichtbesiedelten Kulturlandschaft‹, kein Platz für Wölfe. Sie kämen uns Menschen dann zwangsweise zu nah, gefährlich nah – und das beste Beispiel dafür seien eben Wolfsbegegnungen. Das Problem mit den Wolfsbegegnungen in der öffentlichen Debatte ist dabei die sehr vereinfachende Darstellung einerseits sowie der resultierenden abstrakten Handlungsempfehlung andererseits. Beides wird immer wieder durch jede einzelne Begeg­ nung herausgefordert und in Frage gestellt. Grund genug, Wolfsbegegnungen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich verstehe sie dabei als Interaktionen von Annäherung und Distanzierung im Spannungsfeld zwischenleiblicher Dynamiken. Sie finden statt in einer ›contact zone‹ zwischen Mensch und Tier, räumlich gesehen oft in Randbereichen menschlicher Bebauung. Hier kommt es zu einem Aufeinandertreffen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten; ein ›common ground‹ einerseits, je spezifische Eigenheiten andererseits. Begegnung wörtlich genommen verweist auf ein Treffen auf einen (potentiellen) Gegner und konstituiert daher immer eine inhärent ambivalente Erfahrung: ungewiss, mit unklarem Ablauf und Ausgang, von Spontaneität geprägt und doch auch teils vorstrukturiert durch kulturelles Wissen, materielle Arte­ fakte und Landschaften. Somit werden in der Begegnung sowohl alte Ordnungen (wieder)aufgeführt als auch in Frage gestellt und sind so grundsätzlich Möglichkeitsraum für Veränderung.7 Die Rückkehr der Wölfe in unsere Nähe ist auch eine Rückkehr des Fremden, »[…] das Fremde […] etwas, das uns heimsucht, indem es uns beunruhigt, verlockt, erschreckt, indem es unsere Erwartungen 6 7

Ullrich 2022: 8. vgl. Böhm/Ullrich 2019.

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Wolfsbegegnungen – Eine Annäherung des Fremden

übersteigt und sich unserem Zugriff entzieht […].«8 Diese Rückkehr als Heimsuchung des Fremden verstanden, verweist auf eine geografi­ sche Annäherung aus der Ferne, doch noch viel mehr auf eine gefühlte Erfahrung der Annäherung des Fremden und darum soll es in diesem Aufsatz gehen. Dabei stellen speziell Wölfe eine dreifache Erfahrung der Annäherung an das Fremde bzw. an das Fremdartige dar, die es zu ergründen gilt. Erstens ist es eine Erfahrung der Annäherung an den Wolf als Tier. Das Tier ist uns landläufig (doch umstritten) fremdartig primär in seiner Andersartigkeit, der anthropologischen Differenz, die uns scheidet vom Rest der Tierwelt. Darin definieren wir das Tier stets in Relation zum Menschen, und zwar als nicht ebenbürtiges Mängelwesen, sei es in Hinblick auf Geist, Denken, Intelligenz, Sprache, Werkzeuggebrauch oder auch Gefühl. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten jedes einzelne Unterscheidungsmerkmal ausein­ andergenommen und eben nicht als grundsätzliches, sondern eher als qualitatives Unterscheidungsmerkmal übrig geblieben ist, so scheint doch stets ein Restgraben erhalten zu bleiben, der verhindert, dass Tiere uns je völlig vertraut werden können. Dieser unüberwindbare Rest Fremdheit wird allerdings immer auch komplementiert durch die vielen Gemeinsamkeiten, vor deren Hintergrund sich erst das Fremdartige herausschälen kann. Es ist die geteilte körperlich-leibli­ che oder »lebewesentliche«9 Realität dieser zwei Tierarten, die trotz aller Differenz auch die Möglichkeit zur Kommunikation und zum Verstehen über Speziesgrenzen hinweg gibt. Diese Möglichkeit zum Verstehen der tierischen Fremdheit scheint dabei auch abhängig von einer groben Einteilung der Tierwelt in Haustiere (zugehörig dem Eigenen/Haus) oder Nutztiere (zugehörig dem Eigenen/Haushalt) als vertraute Fremde, und Wildtiere als fremdartige Fremde (zugehö­ rig der Fremde als Ort/Wildnis). Die Erfahrung der Annäherung an den Wolf muss also noch weiter qualifiziert werden. Als wildes Tier ist der Wolf sozusagen Tier in Reinform – von dem die domestizierten Haus- und Nutztiere ledig­ lich Derivate sind (so auch der Hund). Denn: »Wildheit, so viel steht wohl fest, gehört zu den grundlegenden kulturellen Zuweisungen von Animalität. Das Wilde wird allgemein verstanden als das Unge­ zügelte, Fremde und Sprachlose«.10 Begegnen Menschen einem Wolf 8 9 10

Waldenfels 2006: 7–8. Ohrem 2015: 78. Ullrich 2022: 7.

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Thorsten Gieser

primär als wildes Tier so ist es entsprechend sein wild-ungezügeltes Verhalten (d. h. außer Kontrolle), das hervortritt und es unterscheidet von anderen Tieren, die der menschlichen Kontrolle unterliegen. Doch ›außer Kontrolle‹ muss nicht notwendigerweise negativ verstanden werden. Es gilt: »Wildheit ist niemals lediglich eine negativeFigur der Aus- und Abgrenzung des Anderen und des Unzivilisierten, sondern kann ganz im Gegenteil auch als positive, vitale Qualität von ungezähmten Tieren gelten. ›Wild‹ kann zu einem Aktionsmodell mit subversiver Kraft werden«.11

Unter den wilden Tieren nehmen die Raubtiere/Beutegreifer/Prä­ datoren wie Wölfe eine besondere Rolle ein, denn es handelt sich dabei um eine Kategorie von Tieren, deren Leben sich um das Töten dreht. Und im Falle von Wölfen und anderen Großkarnivoren schließt das Menschen im Prinzip mit ein. Auch wenn es in Europa in den letzten Jahrzehnten keinen von wildlebenden Wölfen verursachten Todesfall gegeben hat, ist die Möglichkeit prinzipiell gegeben.12 Die Ambivalenz der Erfahrung, die die Wildheit eines Tieres auslösen kann, ist hier somit nochmals potenziert, denn das Tier, das hier ›außer Kontrolle‹ ist, ist groß und gefährlich genug, einen Menschen zu töten. Dennoch bleibt eine Neugier oder gar Faszination für diese spezielle Kategorie von wildem Tier erhalten. Der Zoologe Hans Kruuk (2002) erkennt darin sogar eine natürliche Verhaltensantwort eines jeden Beutetieres (inklusive des Menschen) auf die Präsenz eines Prädators. Eine Mischung aus Vorsicht/Furcht einerseits und neugierigem Beobachten sei grundlegend für die Koexistenz mit Beutegreifern. Und somit treffen sich die Erfahrungen von Raubtieren als vom Fremden generell in der Ambivalenz zwischen Staunen und Angst (horror alieni).13 In Bezug auf Wölfe spielen zudem auch die von Waldenfels unterschiedenen Steigerungsgraden des Fremdseins eine Rolle. Einer­ seits gäbe es eine alltägliche Fremdheit (in einer sonst vertrauten Umgebung), andererseits eine strukturelle Fremdheit, die außerhalb der normalen Ordnung steht und daher schwer in Worte zu fassen,

11 12 13

ebd.: 10. Linnell et al. 2002, 2020. Waldenfels 2020: 44.

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Wolfsbegegnungen – Eine Annäherung des Fremden

zu kategorisieren ist.14 Die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland deute ich als einen Prozess, in dem anfänglich noch strukturell fremde Wölfe sich allmählich in alltäglich fremde Tiere wandeln. Diese These ist erst einmal kontraintuitiv, da Wölfe eigentlich einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis mitteleuropäischer Gesellschaften haben. Sie haben immer noch eine historische Präsenz als Bestandteil einer Erzählkultur (Märchen), in Personennamen, Ortsnamen, Straßenna­ men, Wappen, archäologischen Stätten. Doch diese wölfischen Spuren scheinen zu marginal und unbedeutend im Bewusstsein der Men­ schen, die letzten historischen Erinnerungen zu verblasst, die geogra­ fische Distanz zu den Wolfspopulationen in Spanien, Italien, dem Baltikum oder Südosteuropas zu groß. Die Wölfe scheinen als absolut Fremdes zurückzukehren, für die es weder einen geografischen noch einen kulturellen Ort in den Ordnungen dieser Gesellschaft gibt. Koexistenz bedingt daher die Verwandlung des strukturell Fremden und dessen Integration in alltägliche Lebenswelten. Im Folgenden soll es phänomenologisch gesehen zunächst ein­ mal darum gehen, Wolfsbegegnungen zu beschreiben bzw. von mei­ nen Forschungsteilnehmern und -teilnehmerinnen beschreiben zu lassen. In einem zweiten Schritt sollen dann die Erfahrungen der Annäherung des Fremden in ihrer Komplexität näher beleuchtet werden, ohne dabei ihre inhärente Ambivalenz aufzulösen. Jede dieser Wolfsbegegnungen ist ethnografisch gesehen kulturell situiert. Im ersten Beispiel geht es um eine touristische Sichtung im Rahmen eines Ausflugs mit einem kundigen Naturführer. Im zweiten Beispiel begegnet ein Jäger einem Wolf bei einer großen Drückjagd auf einem Truppenübungsplatz und obwohl der Wolf in Sachsen dem Jagdrecht unterliegt, ist er auch ganzjährig geschützt und darf nicht geschossen werden. Im dritten Beispiel sehen wir eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren geht und dabei einem Wolf begegnet. Im vierten Beispiel berichtet eine Biologin, wie sie die Nähe von Wölfen empfindet, die sie im Rahmen ihrer Arbeit fängt und untersucht. Und schließlich erzählt eine Mitarbeiterin eines Wolfsparks von ihren Erfahrungen mit Gehegewölfen. In ihrer spezifischen Kombination geben diese fünf Beispiele einen Einblick in die Zusammensetzung von Möglichkeits­ bedingungen für verschiedenste Wolfsbegegnungen, wie man sie in Deutschland machen kann. Ergänzt werden sie durch die kulturellen 14

ebd.: 35–36.

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Thorsten Gieser

Vorstellungen vom Fremden, von Natur, Wildnis, dem Tier, Kultur, die in den Beispielen explizit oder implizit immer mitgedacht werden.

2. Die Verlockungen des wölfischen Fremden Beginnen wir mit dem Kontraintuitiven. Im ersten Beispiel handelt es sich um die Annäherung eines Wolfes aus großer Entfernung, eine Sichtung, die aber noch keine Begegnung im eigentlichen Sinne darstellt, da die wechselseitige Responsivität des Verhaltens fehlt. Der Wolf wird vom Menschen gesehen (und nicht umgekehrt) und trotz der großen räumlichen Distanz wird diese Sichtung als gefühlte Nähe erlebt. Diese Art der Begegnung ist die häufigste in Deutschland und in der Regel eher unauffällig. Jemand sieht für einige Sekunden einen Wolf in großer Entfernung vorbeiziehen. Es gibt jedoch eine Gruppe von Menschen, die auch eine solche Begegnung nicht ›kalt‹ lässt: die ›Wolfsfreunde‹. Auch für sie sind Wölfe eigentlich fremd – zumindest die ›echten‹ Wölfe in freier Wildbahn und die wenigsten haben jemals einen Wolf gesehen. Dennoch ist die Faszination für dieses Tier so groß, dass manche sogar Reisen in Wolfsgebiete im Inund Ausland unternehmen, um einen Wolf zu sehen. Für sie ist die wölfische Fremde vor allem Ausdruck des Wilden, positiv verstanden als das Ursprüngliche, Echte, Natürliche – im Vergleich zum eigenen Leben, das gegensätzlich konnotiert ist. Dementsprechend erscheint die Annäherung des Fremden in Gestalt des Wolfes nicht als ›unheim­ lich‹, sondern als willkommene Unruhe. Die Ambivalenz des Fremden wird zugunsten seiner ›Verlockungen‹ nahezu aufgelöst. Im folgenden Interviewausschnitt berichtet Nicole, die sich auch ehrenamtlich für Wölfe engagiert, von einer Reise in die Lausitz im Osten Sachsens, wo sie mit Hilfe eines ortsansässigen Naturführers, der zu den erfahrensten in Sachen Wolf zählt, endlich einen Wolf sehen wollte und es im zweiten Anlauf auch tatsächlich geschafft hat. Was sie zu berichten hatte, deckt sich mit den Aussagen vieler ande­ rer Wolfsfreunde, die ich im Rahmen meines Forschungsprojektes befragt habe. Wie war es für sie, einem Wolf zu begegnen? »Da muss ich auch ganz klar sagen, dieses Erlebnis ist für mich so emotionsgeladen, dass ich dir da jetzt nicht in Ruhe davon erzählen könnte. Aber es war einfach unfassbar […], absolut unfassbar für mich. Auch da wirklich zu stehen und durch ein Fernglas zu gucken […], und das war auch ’ne relativ lange Sichtung. Ich hab mir immer

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gewünscht, wenn ich mal einen Wolf sehe, dann möge das bitte nicht ein Husch-und-Weg! Und neben mir sagt einer, das war übrigens ein Wolf. Das war ein Albtraum. Eigentlich gesehen, aber nicht wirklich wahrgenommen. Bitte nicht so, will ich nicht haben, hätte ich ganz fürchterlich gefunden. Aber dieser Wunsch ist von irgendwas erhört worden. Wir haben insgesamt so fünf oder sechs Minuten […], an der nahesten Stelle waren das so vier-, fünfhundert Meter. Das ist schon nah.« »Das war wirklich sehr fiebrig, das war totales Sehnen und Habenwol­ len und Erlebenwollen, mit unglaublichem Drang dahinter […]. Ich muss ganz klar sagen, es hat in meinem ganzen Leben noch nichts gegeben, was mich emotional so tief in meinem tiefsten Innern berührt hat wie diese Wolfssichtung, mit Abstand nicht […], da wird ein Teil unserer Seele berührt, der extrem urtümlich ist, und das setzt glaube ich dann so eine besondere Emotion frei […]. Da wird einfach ein Teil angesprochen von unserem Inneren, der in unserer modernen Welt stark verkümmert ist, und finde einfach, dass der so Woa! macht, wenn der so angesprochen wird, weil der das so gar nicht kennt, dass er angesprochen wird, […] das ist was, was tief in uns verwurzelt ist und unser eigentliches Menschsein, nicht dieses Funktionale, das wir in der modernen Welt haben, wir waren früher ja auch Jäger und Sammler und Teil des Waldes und der Wildnis und der Natur, in der wir leben, und ich denke, dieses Emotionale ist dieser Moment, wo wir für einen Bruchteil unseres Lebens oder eines Moments wieder in eine Einheit kommen mit einer Sache, wo wir früher Eins mit waren, heute aber in der modernen Welt nicht mehr sind.«15

Hier zeigt sich, wie eine Erfahrung der Annäherung des wölfischen Fremden »die Grenzen zwischen Eigenem und Fremden in Bewegung [bringt], und dies umso mehr, je näher uns das Fremde rückt«.16 Dieses Angesprochenwerden, von dem Nicole hier spricht, ist dabei nicht nur ein passives (oder pathisches) Berührtwerden, sondern führt zu einem aktiven Aufmerken und Antworten. Mit Hartmut Rosa (2016) könnte man hier sogar von einer Resonanzerfahrung im Sinne einer Anverwandlung sprechen, denn Nicole spürt bei ihrer Sichtung eine Beziehung zu diesem Wolf und lässt sich berühren. Der Wolf setzt etwas in ihr frei und versetzt sie in die Lage, einen Teil ihrer Selbst zu spüren, den sie normalerweise nicht spürt. So ist zu verstehen, warum für Wolfsfreunde eine Wolfsbegegnung so 15 16

Interview vom 08.07.2020 Waldenfels 2020: 44.

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Thorsten Gieser

verlockend ist: »verlockend ist sie, da das Fremde Möglichkeiten wachruft, die durch die Ordnungen des eigenen Lebens mehr oder weniger ausgeschlossen sind.«17 In der Nähe der Fremdheit des Wolfs wird diese ›Ordnung des eigenen Lebens‹ wohl erst sichtbar und reflektierbar. Was diese Erfahrung ermöglicht ist, dass der Wolf hier nicht als ein strukturell fremdes Wesen erscheint, das grundlegend anders ist als alles, was Nicole kennt. Vielmehr erscheint der Wolf fremd und vertraut zugleich und macht damit deutlich, dass das Fremde nie ganz ›woanders‹ ist – so wie der Wolf nicht zwangsläufig ›dort‹ in einer menschenfernen ›Wildnis‹ leben muss. Das Beispiel zeigt: »Ist Eigenes mit Fremden verflochten, so besagt dies zugleich, daß das Fremde in uns selbst beginnt und nicht außer uns, oder anders gesagt: es besagt, daß wir selbst niemals völlig bei uns sind«.18 Konkret heißt das nun: Der Wolf bringt Gewissheiten durch­ einander und stellt etablierte Ordnungen in Frage. Nicht der Wolf, sondern die alltägliche Ordnung ihres Lebens in einer modernen Gesellschaft erscheint Nicole nun fremd. Sie fragt, was fremd, was eigen ist und stellt fest: Sie fühlt sich in der Moderne entfremdet, ein Teil von ihr ist verkümmert und erkennt diesen Zustand als veränderbar. Denn die Begegnung mit dem Wolf zeigt ihr, dass sie sich auch anders fühlen kann, ja dass dieses andere Gefühl ihr Eigentliches ist (und nicht nur für sie persönlich, sondern für das Menschsein überhaupt). Der Wolf entfaltet seine pathische Wirkung in dieser Begegnung durch seine Andersartigkeit, durch den Kontrast, den seine ›Wildheit‹ bietet. Interessanterweise zeugt die Response von Nicole vor allem von einer empfundenen Gemeinsamkeit und Verwandtschaft: Beide Wesen sind Jäger, leben in und mit der Natur. Sie wendet sich dem vermeintlich Fremden zu und möchte es sich zu eigen machen, selbst wieder ›natürlicher‹ leben, wie der Wolf. Dazu gehört auch, das Tierische im Menschen zu spüren, das Wilde zu schätzen – vielleicht sogar selbst das Raubtierhafte. Sie hat sogar schon darüber nachgedacht, den Jagdschein zu machen.

17 18

ebd. Waldenfels 2006: 118.

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Wolfsbegegnungen – Eine Annäherung des Fremden

3. Empörung in Angesicht des wölfischen Fremden Wurde im ersten Beispiel die Ambivalenz des Fremden fast zugunsten seiner Verlockungen aufgelöst, so geht es im zweiten Beispiel um den umgekehrten Fall, »wenn das Fremde vom Pathos her gedacht wird als Beunruhigung, als Störung, als Getroffensein von etwas, das sich niemals dingfest und sinnfest machen lässt«.19 Auch hier taucht der Wolf vor allem in der Figur des Wilden auf, doch ist damit keine positiv verstandene Ursprünglichkeit gemeint, sondern sein ›ungezügeltes‹ Wesen steht im Zentrum der Fremdheitserfahrung. Seine Unkontrollierbarkeit macht die Grenzen der Kontrollierbar­ keit sichtbar und so werden nun in der Begegnung mit dem Wolf bestehende Möglichkeiten, etablierte Ordnungen und vorhandenes Wissen erschüttert und in Frage gestellt.20 Zum einen fordert der Wolf das heraus, was wir über das Verhalten von Wildtieren und ihre Handlungsfähigkeit zu wissen glauben. Zum anderen reflektieren diese Herausforderungen unser eigenes Menschsein (unser Platz in einer größeren Ordnung) und unser (hierarchisches) Verhältnis zu Tieren. So bleibt manchem angesichts des wölfischen Fremden nur die Empörung. So auch bei vielen Jägern in Deutschland. Eigentlich sollte man meinen, dass Jäger – ähnlich wie im ersten Beispiel – zunächst eine Ähnlichkeit mit Wölfen empfinden. Beide sind Prädatoren, jagen die gleichen Tiere (Wildschweine, Rehe, Hirsche) im gleichen Revier zu den gleichen Zeiten (Dämmerung und Nacht). Und tatsächlich gibt es eine gewisse Konkurrenz zwischen ihnen, welches auf der Gemeinsamkeit des Nachstellens und des Beutemachens beruht. Eine Wesensverwandtschaft sehen Jäger darin aber nicht. Wölfe sind etwas ganz anderes; eben nicht Menschen, sondern Tiere, Wild und insbesondere ›Raubwild‹, das heißt eine Bedrohung für ›ihr‹ Wild, das sie zu schützen suchen und für das sie eine Verantwortung emp­ finden. Raubwild wie Wölfe sind daher immer eine Herausforderung – sowohl im Sinne eines Problems, das es zu bewältigen gilt als auch einer Konkurrenz, die es zu bestehen gilt, um die vom Men­ schen geschaffene Ordnung der Natur im Revier aufrechtzuerhalten. Es waren die Jäger, die in den letzten Jahrhunderten die Wölfe in Deutschland ausgerottet haben, die für sie und andere Großraubtiere 19 20

Waldenfels 2006: 54. ebd.: 55.

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wie Bär und Luchs keinen Platz sahen und sie so zu etwas strukturell Fremden machten, das nun zurückkehrt. Im ersten Beispiel ging es um die gefühlte Nähe bei großer geografischer Distanz. Hier nun geht es sowohl um eine geografische als auch um gefühlte Nähe, ja sogar ein ›zu nah‹. Im folgenden Interviewausschnitt berichtet ein Jäger von einer Wolfsbegegnung während einer großen Gesellschaftsjagd auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz im Osten Sachsens. »Ich hab dem Herrn X [vom Bundesforst] ein Foto gezeigt von einem Wolf von der letzten Drückjagd im November 2018. Den hab ich aus zwei Meter Entfernung fotografiert. Der kam schnurstracks auf mich zu. Der hat mich auf 50 Meter gesehen. Das war eindeutig, wir haben uns in die Augen geguckt. Der kam bis auf zwei Meter an mich ran […] auf dem Drückjagdbock […] und hat da vor dem Drückjagdbock markiert und dann hat er sich umgedreht, hat mir den Rücken zugedreht, der hat mich keines Blickes mehr gewürdigt, und ich konnte den noch zehn Minuten sehen, wie der sich davon gemacht hat, in aller Seelenruhe. Das sind die einzigen Tiere im Wald, die sich so verhalten, tut mir leid […].«21

Ein wildes Tier nimmt Blickkontakt auf, nicht nur ein bloßes Ansehen, sondern einen Blickaustausch, ein gegenseitiges Wahrnehmen. Wie Käte Meyer-Drawe schreibt: »Am Blick des anderen kann ich sehen, was und wie er sieht. Vor allem aber spiegelt sein Blick meinen Anblick wider, den ich ihm biete.«22 Ein Sehen und Gesehenwerden, aber als was wird man gesehen? Ein wildes Tier sollte den Menschen als ein ihm überlegenes Wesen wahrnehmen und entsprechende Scheu zeigen. Umso mehr, wenn dieser Mensch ein Jäger ist. Jäger berichten zumindest, dass Tiere sehr wohl in der Lage sind, verschiedene Menschentypen in ihrem Lebensraum zu unterscheiden und den für sie gefährlichen Jäger unter allen menschlichen Waldbesuchern (inklusive deren Autos) zu erkennen. Es stellt sich also die Frage, welchen Anblick der Jäger dem Wolf bietet. Sieht sich der Wolf schließlich selbst als Jäger und den Menschen als seine potentielle Beute? Plötzlich wird sich der Mensch, der vom Wolf angeschaut wird, seiner eigenen Verletzlichkeit bewusst. Wie Foucault über die Sichtbarkeit des Körpers sagte: »In gewissem Sinne ist er vollkommen sichtbar. Ich weiß, was es heißt, von jemand anderem angeschaut und 21 22

Interview vom 16.12.2023. Meyer-Drawe 2016: 38–39.

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von Kopf bis Fuß gemustert zu werden«.23 Ähnliches berichtete mir ein anderer Jäger von einem Urlaubserlebnis in Namibia: »Und als ich das erste Mal in Afrika gewesen bin und ich die Präsenz von Großprädatoren spürte, dachte ich mir, oh, das Gefühl kanntest du bisher noch nicht. Und das habe ich jetzt hier vor der Haustüre […].«24

Im Angesicht des Wolfsblickes kann man also eine Erfahrung machen, die man zumindest in Deutschland lange nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Blick eröffnet die Möglichkeit, als Mensch zur Beute zu werden und führt damit zu einer Erfahrung, die man mit Meyer-Drawe als »eigentümliche Entfremdung von uns selbst«25 bezeichnen könnte. Diese Möglichkeit wird in dieser Begegnung noch intensiviert, als der Wolf auf den Jäger zukommt und die Blickrichtung der Bewegungsrichtung folgt. Der Blickwechsel wird hier fast zum Zweikampf, oder in den Worten von Hermann Schmitz: »So wird die Begegnung von Blicken unwillkürlich zum Ringen um Dominanz. Es ist nicht leicht, den fremden Blick Augʼ in Auge auszuhalten; wer diesem Angriff nicht gewachsen ist, senkt den seinen oder wird gefes­ selt«.26 Der Wolf gibt sich unbekümmert, zeigt Initiative und geht auf den Jäger zu, scheinbar unbeeindruckt von dessen Macht. Für den Jäger ein ›respektloses‹ Verhalten (ein Vorwurf, den Jäger oft an Wölfe richten), zumal der Wolf dann auch noch markiert, ihm den Rücken zuwendet und damit den Blickkontakt abbricht und sich ›in aller See­ lenruhe‹ wieder entfernt. Die Unverfrorenheit des Wolfes steigert sich hier stufenweise: er nimmt Blickkontakt auf, hält den Blickwechsel aus und lässt sich schließlich anschauen, ohne zurückzublicken. Der Wolf fürchtet nicht einmal die Waffe des Jägers (als ob er wüsste, dass er gesetzlich geschützt ist und nicht gejagt werden darf). In den Augen des Jägers wird seine eigene Stellung als Top-Prädator im Ökosystem in Frage gestellt, missachtet von diesem Fremden, der sich nicht einfügen will in die vom Menschen geschaffene Ordnung einer ›Kulturlandschaft‹, in der für das wirklich Wilde (der Wolf erscheint dem Jäger seltsamerweise ›wilder‹ als alles andere Wild) kein Platz ist. Empörend ist, dass sich der Jäger in dieser Situation fügen muss, trotz Waffe in der Hand handlungsunfähig ist. Ihm sind die Hände 23 24 25 26

Foucault 2005: 29. Interview vom 05.07.2021. Meier-Drawe 2016: 47. Schmitz 2011: 31.

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gebunden, äußere Fesseln des Naturschutzes regeln den Umgang bzw. die Ohnmacht gegenüber dem Fremden. Was in dieser Erzählung deutlich wird und die Empörung des Jägers steigert: Die Unbekümmertheit des Wolfes, seine fehlende Scheu, seine Unbeeindrucktheit vom Jäger mit der Waffe wird nicht als ›natürlich‹ oder ›tierisch‹ (an)erkannt. Der Jäger vermutet dahinter Kalkül, ein denkendes Individuum, das fähig ist, eigene Entscheidun­ gen jenseits tierischer Instinkte zu treffen und damit unberechenbar und potentiell gefährlich wird. Mit anderen Worten: Das Fremde scheint eine ungezügelte, wilde Agency zu besitzen, die sich dem menschlichen Zugriff entzieht und damit eine Sonderstellung ein­ nimmt: »Man muss schon unterscheiden: Es gibt Raubtiere und Schweine oder anderes Wild, das keine Raubtiere sind. Und ein Raubtier ist eben unberechenbar, hat einen freien Willen und ist intelligent«.27 Diese besondere Eigenständigkeit, die Wölfe in der Begegnung mit Menschen immer wieder zeigen, ist für Wolfsfreunde bewundernswert und Quelle tiefer emotionaler Resonanz. Für Jäger und andere Menschen kann sie aber auch beunruhigend bis beängsti­ gend sein, wie das folgende Beispiel zeigt.

4. Ohnmacht in der Begegnung des wölfischen Fremden Dem Jäger waren die Hände gebunden und selbst mit der Büchse bewaffnet schien er ›ohnmächtig‹ in Gegenwart des ›respektlosen‹ Wolfs, womit ihm nur die Empörung über das vor Selbstbewusstsein strotzenden Tieres bleibt. Im folgenden Beispiel potenziert sich das Ohnmachtsgefühl noch einmal, zusammen mit der wahrgenomme­ nen Gefährlichkeit der Begegnung mit einem Wolf, der jetzt vor allem als wildes (d. h. ›ungezügeltes‹) Raubtier in Erscheinung tritt. Eine Spaziergängerin mit Hund begegnet einem Wolf bei Celle, Niedersachsen und filmt diese Begegnung teilweise mit ihrem Smart­ phone.28 Die »gruseligen Aufnahmen«29 machen anschließend in den (sozialen) Medien die Runde und lösen hitzige Debatten über Interview, vom 12.10.2019. https://www.youtube.com/watch?v=705klTQec0U (zuletzt abgerufen am 20.3.2023). 29 https://www.stern.de/panorama/wissen/niedersachsen--wolf-kommt-fr au-und-hund-ungewoehnlich-nah--video--30489566.html (zuletzt abgerufen am 20.3.2023). 27

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die Gefährlichkeit von Wölfen aus. Hier bietet sich ein Einblick in das Extrem des horror alieni, den Wölfe in besonderen Situationen auslösen können, wenn sie sich in einer Art nähern, die nicht nur beunruhigend, sondern angsteinflößend oder gar panikauslösend wirkt. Eine Frau steht schwer atmend mit ihrem Hund Maya auf einem Weg zwischen zwei Feldern, dahinter Wald. Auf dem gefrorenen Ackerboden, etwa 10–20 Meter entfernt, steht ein Wolf, ihr zuge­ wandt. GEH WEG! [...] GEH WEG! Der Wolf beginnt sich langsam zu bewegen [...] GEH WEG! GEH! Der Wolf spurtet kurz parallel zum Feldweg weiter nach vorne. Der Wolf wendet sich wieder der Frau und dem Hund zu. MAYA! Ist gut. Ist gut. Der Hund bellt den Wolf an, der Wolf bleibt stehen, dreht sich zu ihm um, schaut beide an, dreht sich nach hinten. GEH WEG! GEH! Die Frau nimmt ihren Hund an die Leine. GEH WEG! Frau und Hund gehen weiter, sie atmet schwer, der Wolf geht parallel auch ein paar Schritte weiter. VERPISS DICH! GEH WEG! GEH! GEH WEG! GEH! GEH WEG! Der Hund bellt den Wolf an und zerrt vorwärts springend an der Leine. GEH! GEH WEG! Der Wolf scheint zunächst nicht zu reagieren, springt dann aber ab und läuft parallel zum Weg nach hinten. Der Hund verbellt den Wolf, der jedoch stehen bleibt und sich den beiden wieder zuwendet. GEH WEG! GEH! Der Wolf bewegt sich zögernd zunächst einige Meter weg und wendet sich dann wieder den beiden zu. GEH! GEH ENDLICH WEG VERDAMMTE SCHEIßE! Frau und Hund gehen den Weg weiter, der Wolf bewegt sich langsam parallel zu ihnen. GEH WEG! MANN! Der Wolf sprintet ein paar Meter vorwärts und bleibt in gleicher Entfernung wieder stehen und schaut zu den beiden hinüber. Der Hund bellt. MAYA, SEI STILL! VERDAMMT NOCH MAL! Die Frau und ihr Hund gehen schneller weiter, sie atmet schwer, der Wolf folgt ihnen langsam in gleichem Abstand.

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GEH WEG! HILFE! Der Wolf sprintet von den beiden weg, weiter über das Feld und trabt dann wieder parallel zum Weg in gleichem Abstand hinter den beiden her [...] HILFE! Und überholt nun die beiden. Die Frau und ihr Hund gehen schnell weiter, sie atmet schwer. HILFE! [...] GEH WEG! Der Wolf trabt nun auf den Weg zu, überquert ihn in einem Abstand von etwa 10 Metern und wechselt auf das andere Feld rechts des Weges. MAYA, WEG, HÖR AUF! MAYA, WEG! Der Wolf bleibt etwa 20 Meter von ihr entfernt auf dem Feld stehen und beobachtet sie wieder. Frau und Hund gehen schnell weiter, sie atmet schwer. GEH WEG! MAYA! SCHLUSS! GEH WEG! MAYA! IST JETZT SCHLUSS VERDAMMTE SCHEIßE. HÖR JETZT AUF! [...] HÖR AUF! War die Situation gefährlich? Hat sich der Wolf aggressiv verhalten oder gar Angriffs- oder Jagdverhalten gezeigt? Hat sich die Frau richtig verhalten? Die Meinungen im Netz gehen erwartungsgemäß auseinander. Die Begegnung ist interpretierbar, und meine folgende Interpretation versucht nicht, diese Fragen zu beantworten, sondern den Rahmen der Fragestellung phänomenologisch zu verschieben: Wie lässt sich diese Begegnung als Prozess zwischenleiblicher Kom­ munikation zwischen Wolf, Mensch und Hund verstehen? Welche affektive Dynamik des wechselseitigen Berührens und Berührtwer­ dens ist hier im Spiel? In der Erfahrung der Annäherung des wölfi­ schen Fremden geht es vor allem um das Zusammenspiel leiblicher Responsivität bzw. der Erfahrung eingeschränkter Responsivität. Doch dazu gleich mehr. Zunächst aber zum Ablauf: Die oben beschriebene Begegnung verläuft grundsätzlich in zwei Phasen. Sie beginnt mit der Begegnung im eigentlichen Sinne: Frau und Hund stehen einem Wolf gegenüber und mustern sich gegenseitig. Kurz darauf geht die Begegnung in die zweite Phase über. Es ist der Versuch der Frau, sich aus der Begegnung zu lösen und der Gegenversuch des Wolfes, die Begegnung aufrecht­ zuerhalten. Die Frau und der Hund setzen sich in Bewegung, der Wolf setzt sich in Bewegung; sie gehen schneller, aber nicht schneller als der Wolf; sie wendet sich leicht vom Wolf ab und konzentriert sich schließlich auf die Kontrolle des Hundes, um schneller gehen zu

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können und den Wolf hinter sich zu lassen, aber der Wolf überholt sie mit Leichtigkeit. »Ich bin mir fremd, indem ich von Fremden heimgesucht werde, auf Fremdes eingehe und darauf antworte«.30 Was sich im Ablauf zeigt, ist genau dieses ständige aufeinander Eingehen und Antworten, die gegenseitige Responsivität kleinster Gesten, Haltungen, Bewe­ gungen und Lautäußerungen (Bellen, Schreien), die auf den jeweils anderen einwirken, ihn ergreifen und Impulse setzen. Es ist eine Begegnung im Spannungsfeld von Annäherung und Distanzierung. Man erkennt im Ablauf, wie das Verhalten der drei Akteure inein­ ander greift und sich im Wechselspiel entwickelt. Was die Frau in Panik versetzt, so meine These, ist die eingeschränkte Responsivität des Wolfes ihr gegenüber, die bei der Frau zu einem Gefühl einge­ schränkter Selbstwirksamkeit führt. Ihre Handlungen führen nicht zu einem eindeutigen Antwortverhalten des Wolfes im Sinne eines Stimulus-Response-Automatismus, sondern fast nur zu halbherzigen (ein kurzes Sprinten und Stoppen), zögerlich-verzögerten, ›unvoll­ endeten‹ Antworten (Bewegungen, die begonnen und dann doch nicht zu Ende geführt werden). Auch sie selbst ist von einer eingeschränkten Responsivität betroffen, denn: »Wer über Fremdes staunt und vor ihm erschrickt, ist seiner selbst nicht mächtig«.31 Die Frau ist vom Fremden so pathisch ergriffen, dass sie ihre Handlungsmacht teilweise verliert; sie gerät geradezu in Panik. Auch ihre Antworten sind halbherzig, zögerlich und unfertig. In ihren schrillen Schreien, ihren schnellen Bewegun­ gen, ihren verzweifelten Versuchen, den an der Leine zerrenden Hund unter Kontrolle zu bringen, schwingt ihre angstvolle Ergriffenheit mit. Aber ihre eingeschränkte Reaktionsfähigkeit ist nicht nur das Ergeb­ nis ihrer Erregung. Das unberechenbare, schwer zu kontrollierende Verhalten des Hundes an der Leine trägt ebenso dazu bei wie ihr Versuch, die Begegnung mit ihrem Smartphone zu filmen. Sie hat also weder sich, ihren Hund noch den Wolf vollständig unter Kontrolle und befindet sich in einer Situation, die keinen schnellen Rückzug oder Deckung bietet, mitten auf einem Feldweg, umgeben von offe­ nem Feld, in voller Sichtweite. Dennoch versucht sie ihr Bestes, der Begegnung auszuweichen, leint ihren Hund zur besseren Kontrolle schnell an, bewegt sich zügig weiter, versucht den Wolf durch Rufen 30 31

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auf Distanz zu halten. In der wechselseitigen responsiven Interaktion kommt es immer wieder zu einem Fluktuieren der Dominanz: Mal zuckt der Wolf bei einem Schrei zusammen, mal gerät die Frau in Panik und ruft um Hilfe, als der Wolf sich ihr wieder nähert. Wie im letzten Beispiel zeigt der Wolf auch hier ein hohes Maß an Agency, er erscheint in seinem Verhalten unberechenbar und unkontrollierbar. Im Vergleich zur eingeschränkten Responsivität der Frau fällt auf, wie uneingeschränkt er agiert: Er ist jederzeit sehr mobil, wendig, schnell. Mal trabt er locker, springt ab, sprintet kurz, bleibt wieder stehen, zieht in einem großen Bogen an der Frau vorbei. Zu keinem Zeitpunkt erkennt man in seinem Verhalten, in seiner Körpersprache einen Angriff, einen Scheinangriff oder Anzeichen von Aggression. Es ist die eingeschränkte Responsivität der Frau, die auf die mobile Agency des Wolfes trifft, die zu ihrem Ohnmachtsgefühl führt.

5. Im Bewusstsein des wölfischen Fremden In den letzten beiden Beispielen geht es nicht mehr um Blickkontakt oder Ansprache aus der Distanz, sondern um das Erleben körperlicher und leiblicher Nähe zu den Wölfen, ja sogar um einen ganzheitlichen multisensorischen Kontakt. Im Gegensatz zu den vorherigen Beispie­ len bedeutet dies, dass es bei dieser Nähe keinen ›Sicherheitsabstand‹ mehr gibt. Das potenziell Bedrohliche des Wolfskörpers – seine Größe, seine Muskelkraft, seine Krallen, seine Zähne – befindet sich in unmittelbarer Nähe zum eigenen potenziell verletzlichen Körper. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen. Im ersten Beispiel geht es um eine Wolfsbiologin, die im Rahmen ihrer Arbeit sowohl mit toten Wölfen als auch mit lebenden, narkotisierten Wölfen, die im Rahmen des offiziellen Monitorings in Sachsen mit GPS-fähigen Senderhals­ bändern versehen werden, körperlichen Kontakt hatte. Dabei wird ein Wolf zunächst in einer sogenannten Softcatch-Falle (Beinfang) gefangen, mit einem Netz fixiert, betäubt und anschließend mit einem Senderhalsband versehen, vermessen und Blutproben entnommen. Während des gesamten Prozesses achten die Biologinnen auf den ›richtigen Abstand‹ zum Wolf, solange dieser noch nicht betäubt ist. Menschliche Nähe und Berührungen werden auf ein Minimum redu­ ziert, da dies als Stress für das Wildtier gilt. Ist der Wolf z. B. mit dem Netz fixiert (dazu muss man sich ihm nähern) und betäubt, ziehen sich

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die Biologinnen schnell zurück, bis die Betäubung vollständig wirkt. Sie regulieren damit sozusagen die wölfische Erfahrung des Fremden ›Mensch‹ und die Beunruhigung bis hin zur Angst, die Wölfe in seiner Gegenwart empfinden könnten. Körperlicher Kontakt zwischen Mensch und Wolf findet nur statt, wenn der Wolf bewusstlos ist. Im Gegensatz zur Frau mit Hund ist es hier also der Wolf, der ›hilflos‹ ist – körperlich, aber vor allem auch leiblich. Im Folgenden werde ich zeigen, wie sich das Erwachen aus der Ohnmacht im Zusammenhang mit der körperlichen und leiblichen Erstarrung in der Erfahrung der Nähe zum wölfischen Fremden bei der Biologin niederschlägt.32 [Biologin]: Wir haben Wölfe besendert. Das war die [Wolfsfähe], die wir letztes Jahr im März gefangen haben. Die war fertig, hatte den Sender um und die kommen ja dann immer in so ne Aufwachbox, damit sie richtig wach werden bevor sie loslaufen. Und da waren Ilka und Franz noch die am Aufstellen und ich habe sozusagen den Wolf beaufsichtigt. Nicht dass die sonst was tun, aber das halt jemand dabeisteht. Wir wussten, die war schon relativ wach. Relativ wach heißt hier nicht, dass die jetzt aufstehen und irgendwas tun können, aber sie war nicht mehr völlig abwesend. Die ersten Reaktionen mit Kopfheben und so weiter […]. [Interviewer]: Was heißt ›und so weiter‹? [Biologin]: Kopf heben, Ohren bewegen, blinzeln theoretisch. Die haben zwar was vor den Augen, aber wir kontrollieren ja auch immer die Reaktionen. Das sind ja auch die ersten Zeichen, auf die man achtet, ob man nachdosieren muss oder nicht. Die Atmung auch. Die fangen wieder an, deutlich aktiver zu werden. Und die lag ganz friedlich, hatte ihre Augenbinde da und ich stand, ja, auf Kopfhöhe und habe gewartet. Man hat aber gemerkt, so wie sie den Kopf angefangen hat zu bewegen und die Ohren aufzustellen, es ist alles nach wie vor unkoordiniert, aber die wusste sehr, sehr genau, dass ich da stehe. Das war so wirklich, wo man so denkt, mmmh, ok. [Interviewer]: Woher wusstest du das? [Biologin]: Sie hatte so den Kopf in meine Richtung bewegt und es war irgendwie, ja, sehr deutlich, dass sie ein bisschen rumge­ sucht hatte, hätte ich jetzt fast gesagt, aber unkoordinierter, und dann die Nase fängt an deutlicher zu arbeiten, die schnüffeln 32

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dann halt auch, die sehen ja nichts, und das war schon irgendwie spannend, wenn man merkt, ja, sie nehmen dich bewusst wahr und fokussieren dich […] [Interviewer]: Was heißt ›spannend‹? [Biologin]: Das war nicht, dass ich mich richtig gefürchtet hätte oder so. Ich weiß a) dass sie mir noch gar nichts tun kann und auch selbst wenn sie wacher werden, mir nichts tun würde, son­ dern Reißaus nimmt. Aber diese Präsenz, die sie da mitbringen, verändert sich. Vorher liegen sie eben betäubt dort, können nicht wirklich was tun, sollen ja auch nicht, […] ja, diese Präsenz, die sie da haben […] die konnte mich nicht anschauen, sie konnte nicht aufstehen, aber da hat sich was verändert. Dieses Bewusstsein, dass man wahrgenommen wird, hat sich verändert […] Dass man von diesem durchaus großen Tier wahrgenommen wird und nicht nur ein Baum in der Landschaft ist. Der Prozess des körperlich-leiblichen Erwachens aus der Erstarrung, aus der Ohnmacht des wölfischen Bewusstseins, den die Biologin hier beschreibt, ist gleichbedeutend mit dem Erwachen der Agency des Wolfes. Seine bemerkenswerte Handlungsfähigkeit prägte bereits die vorangegangenen Begegnungen und war grundlegend für seine Wir­ kungsmacht auf uns Menschen. Das vorliegende Beispiel ergänzt die vorangegangenen, indem es Einblicke gewährt, wie diese Wirkmacht in seiner leiblichen Präsenz und Lebendigkeit begründet ist. Schon die bloße leibliche Präsenz dieses ›durchaus großen (Raub-)Tieres‹ ist bemerkenswert. Aber erst sein leibliches Erwachen – die tiefere Atmung, das Blinzeln, das Aufstellen der Ohren, das Aufrichten des Kopfes, das Schnüffeln, die zunehmende Koordination – stellt jene Präsenz her, die bei Wolfsbegegnungen so beunruhigend wirken kann. Die Präsenz und damit die funktionale Handlungsfähigkeit des Wolfes entfaltet sich schrittweise mit jedem Körperteil, mit jedem Sin­ nesorgan. Ein letzter Schritt in der Beunruhigung durch die erwachende Agency des Wolfes ist schließlich, wenn diese allgemeine Lebendig­ keit seines Körpers an Intentionalität gewinnt. Dieser lebendige Raubtierleib schnüffelt nicht mehr wahllos umher, lässt nicht mehr die Ohren in alle Richtungen schweifen, hebt nicht mehr den Kopf in irgendeine Richtung, sondern nimmt gezielt wahr – den Menschen, der direkt neben seinem Kopf steht: »sie nehmen dich bewusst wahr und fokussieren dich«. Zuerst noch unkoordiniert, aber je mehr

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diese Ausrichtung auf den Menschen in der Koordination des Leibes gelenkt wird, desto stärker wird das Gefühl, im Bewusstsein dieses Tieres zu stehen: »wo man so denkt, mmmh, ok«; »nicht, dass ich mich richtig gefürchtet hätte, aber […]«.33 Schließlich bedeutet eine zunehmende Intentionalität des Wolfes dann auch, sich nicht nur zu fragen, worauf das wölfische Bewusstsein gerichtet ist, sondern als was man diesem Bewusstsein erscheint – eben »nicht nur ein Baum in der Landschaft«, sondern ein anderes Lebewesen. Wahrscheinlich ein fremdes Wesen, das auf den Wolf beunruhigender wirkt als umgekehrt. Aber sicher kann man sich da nicht sein. Letztlich muss man Vertrauen haben, wenn man mit Wölfen auf Tuchfühlung geht, wie das letzte Beispiel zeigt.

6. Vertraut-sein mit und Vertrauen-haben zum wölfischen Fremden Im zweiten Beispiel der Erfahrung von körperlicher und leiblicher Nähe zu Wölfen, ohne ›Sicherheitsabstand‹, begegnen sich nun zwei gleichermaßen ›wache‹ Lebewesen im vollen Bewusstsein der Präsenz des jeweils anderen. Julia ist eine Mitarbeiterin des Wolf Centers in Dörverden, Niedersachsen, und hat im Rahmen ihrer Arbeit auch Kontakt zu den Wölfen im Gehege. Cosmo und Luna zum Beispiel sind zwei Wölfe, die sie als Welpen mit der Hand aufgezogen hat. Das bedeutete, Tag und Nacht mit den Welpen zu verbringen, sie zu füttern, sie auf sich schlafen zu lassen, mit ihnen zu kuscheln und sie aufwachsen zu sehen. Einige Jahre später sind aus den Welpen erwachsene, große Wölfe geworden und der Umgang mit ihnen hat sich entsprechend verändert. »Bei den nicht von Hand aufgezogenen, wenn wir da ins Gehege gehen, da habe ich auch gleichzeitig Respekt aber auch Faszination und irgendwie auch so ein bisschen ›Dankbarkeit‹. Schön, danke, ich darf jetzt in dein Zuhause gehen und schaue genau, was du machst. Ja, finds toll, dass ich reinkommen darf, weiß aber auch, weil ich auch schon Begegnungen hatte, wo der Wolf gesagt hat, ne ne, so nicht, dass ich dachte, ok, du bist immer noch ein Raubtier und dann immer noch sehr viel Respekt vor ihm habe. Und gleichzeitig immer doch diese 33

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Faszination, so beeindruckend, wie das Tier so ist, wie es uns doch auch so ähnlich ist in vielem.« »Wir gehen jetzt eigentlich auch immer nur zu zweit rein, weil Hand­ aufzucht ja nicht heißt, dass es nicht doch gefährlich werden kann. Wir hatten auch schon Situationen, wo Cosmo uns gesagt hat, ich – warum auch immer – probiere jetzt mal meine Kräfte aus. Oder auch die Luna, seine Schwester, wir hatten schon Wölfe, die haben uns an der Jacke gezogen, sind an uns hochgesprungen, wollten zwischen die Beine und da merkt man dann schon, wir unterbrechen die Situation dann direkt, gehen raus. Und da wir sie auch einschätzen können, versuchen wir auch immer ein Schritt voraus zu sein, aber das geht manchmal so schnell und dass man das auch nicht einschätzen kann. Warum macht er das jetzt? Was war da jetzt der Auslöser? Gleichzeitig wusste man, er wird erwachsen. An manchen Tagen, das ist dann so phasenweise wie in der Pubertät gewesen, war das schon so, dass man sagte, ja heute hab ich mehr ein Auge auf ihn, weil ich weiß, er kann ein bisschen rüpelhafter sein […] und an anderen Tagen wusste man – natürlich guckt man auch da – aber ich glaube heute ist er entspannter. Das ist wie bei uns auch Tagesstimmung, mal so mal so.« »Das mussten wir üben. Das mussten wir ausprobieren […] Und auch dann wussten wir nie, was passiert. Es ist immer individuell gewesen, von den Leuten abhängig, von uns abhängig, vom Wetter, und jeder Wolfsbesuch war wirklich einzigartig.«

Problematisch wurde es allerdings als Cosmo ein neues Verhalten zeigte. Er begann wiederholt in Jacken zu beißen und daran zu ziehen: »Das sah zwar vielleicht manchmal, wenn man das von außen gesehen hätte, da dachte man, ach ja, der probiert nur mal ein bisschen, aber das kann ganz schnell anders werden […]. Am Anfang gabʼs auch so eine Phase, wo wir uns erstmal kennenlernen mussten oder er hatte einfach mal einen Tag, wo er dachte, ich ärgere euch mal ein bisschen oder probiere aus, was ich kann. Wo er dann nur ein bisschen an die Jacke gegangen ist, dann hat man ihn weggescheucht, dann kam er wieder und noch mal wieder und immer ein bisschen intensiver und das hat er auch schon bei uns gemacht, ohne dass man wusste, warum. Am nächsten Tag war wieder alles gut. Es war eben auch unberechenbar teils und da wusste man, ok, man muss noch etwas mehr aufpassen. Nicht dass man sich zu sehr daran gewöhnt […]. Es kann jederzeit was passieren.« »Es kann ja immer was passieren, aber ich muss ja nicht ganz ange­ spannt sein, wenn der Wolf ganz entspannt ist, dann kann ich ja auch lockerer sein. Natürlich nicht alles fallen lassen und mich daneben

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legen. Das nicht, aber da ist dann doch dieses Vertrauen, das man hat, bis zum gewissen Grad, dass man sagen kann, das kann ich auch machen.«34

Wie man sieht, ist auch im vertrauten Umgang mit Wölfen das tieri­ sche, wilde und raubtierische Fremde allgegenwärtig. Der vertraute Umgang mit Wölfen wird nie zur Selbstverständlichkeit, nie zur unaufmerksamen Routine, sondern bleibt geprägt von der sich ständig verändernden Agency des Wolfes und damit von der Notwendigkeit ständiger Aufmerksamkeit und Responsivität des eigenen Verhaltens. Mehr noch als in den anderen Beispielen wird im vertrauten Umgang deutlich, dass die Vorstellung eines allgemeingültigen Wolfsverhal­ tens (qua Spezies also) ebenso wenig hilfreich ist wie abstrakte Ver­ haltensregeln für uns Menschen. »Es ist immer individuell gewesen, von den Leuten abhängig, von uns abhängig, vom Wetter und jeder Wolfsbesuch war wirklich einzigartig«. Vertraut sein mit Wölfen bedeutet also, Wölfen als besondere, einzigartige Fremde begegnen zu können und nicht als generische Fremde. Dies ist aber nur möglich, wenn man eine Grundspannung im Umgang hält, ein Gespanntsein (-auf-etwas-hin) als Erwartungshaltung – ähnlich wie die Biologin im letzten Beispiel, die gespannt auf die sichtlich zunehmende Anspan­ nung des Wolfes neben ihr reagierte. Man könnte also sagen, dass sich das Wechselspiel der Responsivität im Kontinuum zwischen Anspannung und Entspannung (oder zwischen Engung und Weitung in der Terminologie von Hermann Schmitz) abspielt. Vertraut-sein bedeutet dann, auf die Nähe der Wölfe entspannter reagieren zu können als Menschen, die einem Wolf zum ersten Mal begegnen – so kann auch die eingeschränkte Responsivität der Frau auf dem Feldweg als eine Art körperliche Ver-Spannung interpretiert werden. Es bedeutet auch, die eigene Spannung der des Wolfes anzugleichen, quasi in einem geteilten vitalen Antrieb – also »nicht ganz angespannt sein, wenn der Wolf ganz entspannt ist«. Aber »alles fallen lassen und mich daneben legen«, also die eigene Responsivitätsfähigkeit aufzugeben, ist nie eine Option. Es bleibt im Umgang mit Wölfen sozusagen in der eigenen Verantwortung (responsibility), die Response-ability jederzeit aufrecht zu erhalten. Diese gewährleistet ein kontinuierliches Lernen und Antworten auf das sich ständig verändernde individuelle Wolfsverhalten in immer neuen Begegnungssituationen. Vertrauen zu haben bedeutet schließ­ 34

Interview vom 23.10.2022.

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lich nicht, Wölfe nicht für gefährlich zu halten oder ihnen ihren Raub­ tiercharakter abzusprechen. Im Gegenteil, in der Begegnung mit Wöl­ fen ohne Sicherheitsabstand wird ihre körperliche Überlegenheit gegenüber der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers unmittelbar spürbar. Dennoch ist das Vertrauen-haben in den Wolf eher eine Frage des Leibes als des Körpers. Der potentiellen Gefährlichkeit des wöl­ fischen Körpers können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wolf Centers nur mit Hilfe eines durch regelmäßige Begegnungen geschulten und weiterentwickelten leiblichen Gespürs für responsive Dynamiken begegnen.

7. Fazit Dieser Aufsatz ist ein Versuch, der gefühlten Nähe zu den Wölfen in einem neuen Miteinander dort ihren Schrecken zu nehmen, wo sie zunächst nur ein horror alieni ist. Mein Ansatz bestand darin, Wölfe aus dem Bereich des strukturell Fremden in den Bereich des alltäglich Fremden zu ziehen. Das heißt auch, sich den Wölfen gedanklich zu nähern. Es ging mir nicht darum, das Fremde im Wolf gänzlich aufzulösen, sondern es fremd zu lassen, wo es nötig ist, es vertraut zu machen, wo es möglich ist. Gerade Begegnungen mit Wölfen werden in der öffentlichen Diskussion oft stereotyp behandelt, klare und eindeutige Analysen gefordert und einfache Handlungsanweisungen an die Bevölkerung gegeben. Man kann sagen, dass von verschiede­ nen Seiten (v. a. Wolfsmanagement, Wissenschaft, Medien) versucht wird, sich das Fremde anzueignen und es damit beherrschbar bzw. kontrollierbar zu machen. Dabei wird die Komplexität und Ambiva­ lenz von Fremdheitserfahrungen vernachlässigt. Deshalb ging es hier zunächst darum, das Fremde phänomenologisch zu beschreiben und zu deuten. Denn es zeigt sich: Die öffentliche Auseinandersetzung mit Wolfsbegegnungen ist geprägt von einer Position des allzu Vertrau­ ten, die das Fremde nur in der Ferne verortet und damit einerseits das Fremde noch weiter verfremdet und andererseits das Fremde als Bedrohung des Vertrauten, d. h. als potenzielle Entfremdung begreift (vgl. die Wolfsbegegnung des Jägers). Die Erfahrung des Fremden ist aber, wie wir wissen, Bestandteil jeder Lebenswelt, ja sogar unserer selbst, und steht ihr nicht abgeschlossen gegenüber. Das heißt, das

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Wolfsbegegnungen – Eine Annäherung des Fremden

Eigene und das Fremde sind ineinander verwoben, und »Ist Eigenes und Fremdes verflochten, so besagt dies zugleich, daß das Fremde in uns selbst beginnt und nicht außer uns, oder anders gesagt: es besagt, daß wir selbst niemals völlig bei uns sind«.35 In diesem Sinne war das erste Beispiel einer Wolfsbegegnung von Nicole wegweisend. Das Zusammenleben mit Wölfen als ein Nebeneinander zu verstehen, sollte uns also nicht der Illusion hingeben, dieses ›Neben‹ sei weit weg und zwischen ihnen und uns läge eine große Kluft. Das ›Neben‹ ist in unserer Nähe, es ist eine ›Kontaktzone‹, und Koexistenz bedeutet daher immer eine Annäherung an das Fremde oder das Fremde an uns im Nebeneinander oder manchmal auch im Miteinander einer zufälligen Begegnung. Zu einer gelingenden Koexistenz gehört auch, das Leben als relational zu verstehen, d. h. als ein Miteinander-Leben im Bewusstsein des Anderen (siehe das Beispiel der Biologin). Ohne dieses Bewusstsein wird es uns schwer­ fallen, ein Gespür für die ›angemessene‹ Nähe und Distanz im Nebenei­ nander/Miteinander zu entwickeln sowie die Resilienz, die Nähe bzw. Annäherung der Wölfe auszuhalten, wenn die Distanzierung von ihnen oder von uns einmal nicht funktioniert. Je vertrauter wir in Zukunft in diesem Sinne mit dem Zusammenleben mit Wölfen werden, desto leichter wird es uns meiner Meinung nach fallen, ein wachsames Vertrauen in unsere response-abilities zu entwickeln. Die Verlockung, die Empörung, die Ohnmacht, das Staunen und der Schrecken werden wohl Teil des Nebeneinanders bleiben – für die wenigen, die in ihrem Leben einem Wolf wirklich begegnen oder sich von dessen Erlebnisberichten berühren lassen. Die Frage wird sein, ob wir gelernt haben, damit umzugehen.

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Berühren und berührt werden – Erlebnisberichte und therapeutische Ansätze in der Liebenthaler Pferdeherde

1. Einleitung In der Auseinandersetzung mit dem Thema Berühren und Berührt­ werden in der Liebenthaler Pferdeherde ist mir erneut klar geworden, wie einzigartig dieses Projekt ist. Neben der Atmosphäre der Weite und der Landschaft sind es die ca. 90 Pferde, die einen anders ergrei­ fen, als wenn man sich nur einem Reitpferd gegenüber erfahren kann. In ihrer leiblichen Kommunikation noch viel ursprünglicher, fordern sie den Menschen ganz anders auf, sich in seiner Leiblichkeit neu zu spüren. Sie schaffen, was Gespräche in der Stadt nicht so einfach ermöglichen. Das zu verdeutlichen ist das Anliegen meines Textes. Am Anfang stelle ich kurz die Geschichte der Liebenthaler Pfer­ deherde vor. Alles begann mit dem Traum eines einzelnen Menschen, und dass die Herde nach 60 Jahren immer noch existiert, ist dem Enthusiasmus und der Arbeit vieler Menschen zu verdanken, die diesen Traum fortgeführt haben. Danach gehe ich auf die Besonderheit der Herde ein, dass die Pferde weitestgehend in ihrer natürlichen Sozialstruktur leben kön­ nen und was darunter zu verstehen ist. Anschließend beschreibe ich, was das Pferd für die Begegnung mit dem Menschen so bedeutsam macht. Der darauffolgende Erlebnisbericht eines Teilnehmers zeigt sehr anschaulich, wie die Begegnungen in der Herde ihn berührt haben und stimmt ein auf einen Besuch in der Liebenthaler Pfer­ deherde. Im Kapitel Aufgaben veranschauliche ich, wie wir durch gezielte Aufgabenstellungen die Erfahrungen, die in der Herde mög­ lich sind, auch für die Teilnehmer:innen zugänglich machen können, die in ihrer leiblichen Kommunikation gestört sind. Nähe und Distanz spielen in der Kommunikation der Pferde eine wichtige Rolle. Zum

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Verdeutlichen wieviel Nähe es braucht, um in der Liebenthaler Pferde­ herde berührt zu werden, beschreibe ich anhand eines Besuches in der Pferdeherde die verschiedenen Wahrnehmungen, die erlebt werden, wenn man vor dem Zaun steht und die Pferde beobachtet, was einen ergreift, wenn man durch das Tor auf die Koppel tritt und was an Berührungen möglich ist, wenn man mitten unter ihnen steht. Am Ende sage ich dank für die vielen Jahre der Kooperation.

2. Die Liebenthaler Pferdeherde 2.1 Die Geschichte »Die Liebenthaler Pferde stellen eine Rückzüchtung dar. Sie sind aber eine völlig eigene Pferderasse und darüber hinaus wohl die einzige Pferdeherde Deutschlands, welche in ihrer natürlichen Sozialstruktur leben kann. Die Herde geht auf ein Projekt von Jürgen Zutz zurück (*1936/+1996), der als Verhaltensforscher 1960 im Bayrischen Wald mit der Rückzüchtung des Fjordpferdes zum Waldtarpan begann. Es entwickelte sich durch die harte natürliche Selektion eine stattliche Pferdeherde. 1990 siedelte der Züchter mit seiner Familie nach Frie­ sack im heutigen Landkreis Havelland, Bundesland Brandenburg um. Sein Traum: seine Wildpferde sollen wie vor Jahrhunderten wieder in der Schorfheide unter natürlichen Voraussetzungen leben. Dafür investierte er seit Jahrzehnten sein Vermögen in die Herde. Doch 1996 starb Jürgen Zutz unerwartet. Seine Frau und die drei Kinder waren aufgrund der finanziellen Belastung mit der Situation überfordert. Deswegen sollten die Pferde zur Schlachtbank geführt werden, für einen Preis von 500 DM pro Stück. Ein Hilferuf erreichte auch das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Landes Brandenburg. Den Verantwortlichen war eines klar: die Herde braucht eine sichere Zukunft, also musste eine Alternative her.«1

Und die fand sich. Die damalige Gemeinde Liebenthal, jetzt zum Amt Liebenwalde zugehörig wurde die Besitzerin der Herde und Familie Broja kümmerte sich um die Tiere. Zur Erhaltung, Pflege und Nut­ zung der Herde wurde 2000 der Verein Liebenthaler Pferdeherde e.V. gegründet und die prenzlkomm gGmbh war ein Gründungsmitglied. Seit 2019 ist der Verein in eine Stiftung übergegangen. 1

Lehmann 2010: 6.

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2.2 Das Besondere in der Herde Das Besondere an der Liebenthaler Pferdeherde ist, dass sie weitestge­ hend in ihrer natürlichen Sozialstruktur leben kann. Die Pferde bilden Familienverbände mit Rangordnungen und Funktionsaufteilungen. Zu einer Familie gehören weibliche Tiere und ihre Jungen, die von einem Hengst begleitet werden. »Die jungen Hengste werden bei ihrer Geschlechtsreife, meist im zweiten Lebensjahr, vom Hengst aus der Herde vertrieben und bilden Junggesellenverbände. Dieser Junggesellenverbände können sich auch alte Hengste, die ihre Herde an jüngere abtreten müssen, anschließen. Wenn die Familie wesentlich mehr als 10 bis 12 erwachsene Stuten erreicht, wird sie sich entweder teilen und einen neuen Hengst finden oder fremde Hengste erobern sich einzelne, meist jüngere Stuten, um nach und nach eine neue Familie zu bilden. Familienbildung hängt damit von den weiblichen Tieren ab, um die sich ihr Nachwuchs scharrt. Mütter und Töchter können sich fast lebenslang begleiten und gegenseitig erkennen. Das schafft nötige Sicherheit. Der Hengst schützt die Herde nach außen, vertreibt fremde Hengste und sichert vor Fressfeinden. Typischerweise zieht er neben oder hinter der Herde, bei der Flucht ist er der letzte. Wo es lang geht, zeigt meist eine der älteren Stuten, sie hat die größte Erfahrung und den höchsten Rangplatz in der Herde. In dieser so geordneten Familie wachsen die Jungtiere auf, lernen zuerst von der Mutter, dann im Spiel von den vorjährigen Geschwistern und anderen Jungtieren, aber auch von den Stuten und vom Hengst.«2

Die Atmosphäre der vorgefundenen Ordnung, dass jedes Pferd seinen Platz kennt und das Erleben, wie sie klar und eindeutig miteinander kommunizieren, scheint den Menschen zu ergreifen, wenn dieser sich eine Weile unter ihnen aufhält. Eine Teilnehmerin beschreibt, was mit ihr in der Herde passiert ist, so: »Ich brauche keinerlei Angst zu haben, haltlos zu taumeln und so kann ich meine Lebenssituation auf verschiedene Gegenden verteilen, anschließend umgestalten.«3 Eine andere Teilnehmerin berichtet: »Man könnte fast meinen, jemand hätte danach einen mentalen Reset-Knopf gedrückt und auf der Fahrt zurück nach Berlin, fühlte ich mich zufrieden, geordnet und

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ebd.: 11. ebd.: 19.

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geborgen.«4 Beim Besuch in der Liebenthaler Pferdeherde kann jeder, Mensch und Pferd, selbst bestimmen, wie weit er sich nähern und Kontakt aufnehmen will. Auch ist jeder Besuch immer wieder anders: das Wetter, die Pferde, die Dynamik in der Herde, ich als Besucher:in. Diese ungewöhnliche Situation, diese Unverfügbarkeit, dieses nicht bestimmen können, was passieren wird, macht diese Erfahrung besonders. Hartmut Rosa erläutert dieses am Beispiel vom ersten Schneefall. »Erinnern sie sich noch an den ersten Schneefall in einem Spätherbst oder Winter Ihrer Kindheit? Es war wie der Einbruch einer anderen Realität. Etwas Scheues, Seltenes, das uns besuchen kommt, dass sich herabsenkt und die Welt um uns herum verwandelt, ohne unser Zutun, als unerwartetes Geschenk. […] Wir können ihn nicht habhaft werden, ihn uns nicht aneignen. Und natürlich fehlt es nicht an Versuchen, Schnee verfügbar zu machen. [...] In unserem Verhältnis zum Schnee spiegelt sich das Drama des modernen Weltverhältnisses [...], Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfah­ rung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.«5

Die Besuche in der Herde, was da mit einem passiert, wie das Wetter sich anfühlt, wie die Pferde sind, ob sie zu einem kommen werden, das ist auch nach 100 Besuchen nicht wirklich vorhersehbar. Wir sind einfach da und die Pferde auch. Wir begegnen uns und spüren, was da an Kontakt gewollt und gewünscht ist von beiden Seiten, was einem guttut, was ängstigt, was berührt, was einem betrifft. Bisherige Normen und Werte, Verhaltens- und Denkweisen greifen hier nicht. Hermann Schmitz schreibt, dass im Zwiespalt zwischen Enge, personaler Regression und Weite, personaler Emanzipation sich der Mensch eine Fassung gibt, gleichsam wie ein Kleid, mit dem der Betroffene ein Instrumentarium hat, sich Herausforderungen zu stellen.6 In diesem Sinne ist das Kleid, dass unsere Teilnehmer:innen tragen zu klein oder zu groß oder zu abgetragen und passt nicht mehr zu ihrer Situation. Aber sie tragen es schon so lange oder haben kein anderes zur Verfügung. Ein Besuch in der Liebenthaler Pferdeherde kann helfen, ein wenig an zu starren ungünstigen Fassungen zu rüt­ Anon.A. 2018: 1. Rosa 2020: 7. 6 Schmitz 2014: 3. Die vorliegenden Zitate, hier unter anonyme Autoren gekenn­ zeichnet, wurden auf unsere Bitte hin von Teilnehmer:innen geschrieben, die mit mir und meiner Kollegin die Liebenthaler Pferdeherde besucht haben. 4 5

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teln und über ein starkes affektives Betroffensein ein anderes Erleben und Erfahren zu ermöglichen: »Die voll lebendige Person schöpft aus einer Fülle von Möglichkeiten mit unwillkürlichem Einsatz ihre Fas­ sung und behält bei dieser Schöpfung eine Wendigkeit, mit der sie sich den Umständen nicht verschließt.«7

2.3 Das Besondere am Pferd Pferde sind starke Symbolträger für uns Menschen. Befragt, was das Pferd für sie bedeutet, hört man immer wieder Aussagen wie Freiheit, Kraft, Entschlossenheit, Eleganz und Stolz. In der Herde kann man diese besonders intensiv erfahren, wenn zum Beispiel zwei sich aufbäumende Hengste mit ihren kräftigen Hälsen und wehen­ den Mähnen miteinander kämpfen, wenn ein Hengst erhobenen Hauptes und mit beeindruckendem Muskelspiel sich mit kehligen Lauten einer Stute nähert oder wenn ein Hengst, den Kopf tief gesenkt mit großer Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit seine Familie zusammentreibt. Hermann Schmitz nennt als Beispiel für den Stolz den Bamberger Reiter, »der im vitalen Stolz des Reitens und des Einverständnisses von Mensch und Tier entspannt sitzt und ohne Anmaßung, aber mit gelassener Selbstsicherheit blickt und die Zügel hält.«8 Auch wenn in meinen Beispielen der Mensch nicht auf dem Pferd sitzt, können die beschriebenen Bewegungssuggestionen eine Brücke zum eigenen leiblichen Spüren schlagen und so dem Betrach­ ter ermöglichen, diese am eigenen Leib nachzuzeichnen. Die stolzen Anmutungen, die eine Aufrichtung des eigenen Körpers hervorrufen können, erzeugen bei anderen aber auch Angst wie eine Teilnehmerin beschreibt: »Ihre Bewegung, die Schnelligkeit, ihre Größe und die Unberechenbarkeit machen mir Angst und ich spüre einen starken Impuls wegzulaufen.«9 Neben diesen kraftvollen Bewegungen gibt es aber auch die sanften Berührungen der Pferde. Diese sind erst in einer direkten Begegnung mit dem einzelnen Pferd erfahrbar und der Mensch muss sich vorher von der Eindrücklichkeit der leiblichen Präsenz der Pferde lösen können. Die Welt der Pferde tritt uns schillernd gegenüber, in der Gesamtheit nicht eindeutig 7 8 9

Schmitz 2014: Fassung. Schmitz 2008: 100. Anon.A. 2020a: 2.

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fassbar, aber auch nicht doppeldeutig, sondern eher vielschichtig zum Beispiel in der Vereinigung der (scheinbaren) Gegensätze von kraftvoll und feinsinnig. Das zeigt, dass viele Aspekte einer Sache nebeneinander stehen können und es nicht immer gleich darum geht, etwas Eindeutiges bestimmen zu können. Die jeweilige Situation entscheidet, was vom Pferd eingefordert wird. Auch unsere Men­ schenwelt kennt dieses Nebeneinanderstehen von Aspekten, diese Vielschichtigkeit der Situationen. Darin elegant und wendig gleiten zu können, verspricht Sicherheit für unsere Teilnehmer:innen. Oft fühlen sie sich in einzelnen Situationen überfordert, haken schon fest bei dem Versuch die Situation zu erfassen und noch schwerer fällt es ihnen, sich dann irgendwie zu verhalten. Pferde sind wie wir Menschen soziale Wesen. Sie sind neugierig und zugewandt. Viele Teilnehmer:innen beschreiben diesen Moment, wenn ein Pferd einfach so auf sie zukommt, langsam Vertrauen entsteht und vielleicht auch eine Berührung, als einen für sie sehr berührenden Moment. Dieser Moment des Berührtwerdens, »das in Resonanztreten mit ihnen, sie durch eigenes Vermögen – Selbstwirksamkeit – zu einer Antwort zu bringen und auf diese Antwort wiederum einzugehen, ist der Grundmodus lebendigen menschlichen Daseins.«10 Für Hartmut Rosa ist diese Angewiesenheit auf Resonanz, unser Vermögen mit der Welt taktil, fühlend und dann denkend in Austausch zu treten, eine Voraussetzung für unsere Leiblichkeit.11 »Resonanzerfahrungen ver­ wandeln uns, und eben darin liegt die Erfahrung von Lebendigkeit.«12 Und Pferde kommunizieren leiblich. Im Zusammensein mit ihnen wird der Mensch durch verschiedene Formen der Einleibung in seiner eigenen Leiblichkeit berührt. Egal ob durch antagonistische Einleibung als bloßer Betrachter in der Faszination am Fohlenspiel sich erfreuend oder in einer gemeinsamen Interaktion auf der Koppel sich in wechselseitigen Bewegungsimpulsen zu erleben. Normale Wahrnehmung ist in erster Linie Einleibung.13

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Rosa 2020: 38. ebd.: 38. ebd.: 41. Schmitz 2008: 56.

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3. Ein Besuch in der Liebenthaler Pferdeherde 3.1 Erlebnisbericht »Die Pferde sind zum Glück ein ganzes Stück Autofahrt von Berlin entfernt. Es tut schon gut, einfach nur aus der Stadt rauszukommen. Der Blick kann – befreit von Mauern und Mauern und Mauern in der Stadt – mal in die Weite schweifen, ziellos über Felder und Wälder gleiten […] Wenn wir dann aussteigen: frische Luft, viele, viele Vögel und Insekten. Und richtige Erde unter den Füßen. Dann konkret bei und mit den Pferden […] da gibt es so viel Inspiration, Berührung und […] einfach sein. Das ist wohl das für mich Wichtigste, was mich immer wieder zu den Pferden zieht: Diese selbstverständliche Natürlichkeit und Zweifelsfreiheit, mit der die Pferde leben. Kein (Vor-) Urteil, keine Wertung, voll und ganz im jeweiligen Moment. Kein Nachtragen, kein Schuldgefühl, kein ›Ich bin besser als du‹ oder ›Wenn du dies oder jenes tust oder nicht tust, bist du schlecht/böse/nichts wert‹. […] Und die Pferde sind für mich auch ein Sinnbild für die Vereinigung der (scheinbaren) Gegensätze, kraftvoll und feinsinnig/empfindsam. Wie geradezu zärtlich diese großen, starken, schweren Tiere mit ihren Nüstern und Lippen sein können, das hat mich schon zu Tränen gerührt. Wenn ich neben so einem faszinierenden Wesen stehe, ganz still und (nicht nur mit den Ohren) lauschend, im Grunde so ähnlich wie auch das Pferd […] in der Regel warte ich ab, oft kommt es dann einen Schritt näher […] und noch einen […] saugt meinen Geruch zu seinen Riechzellen […] nähert sich meinem Gesicht […] berührt mich, so zart und achtsam […] Dann berühre ich auch, genauso zart und achtsam. Absichtslos, ganz in diesem Moment. Und auch die Pferde sind sehr, sehr unterschiedlich. Neben diesen achtsamen, feinen gibt es auch Rüpel, die drängeln, auch mal auf meinen Füßen stehen, wenn ich nicht schnell genug bin, eher rempeln als zärtlich berühren. Da zieht es mich nicht unbedingt hin, aber dass sie so sind, ist auch für mich völlig in Ordnung. […] Wie viele in unserer heutigen Kultur bin auch ich mit einem für mich nicht hilfreichen Männer(vor)bild aufgewachsen. So hat das Erleben, wie die Hengste miteinander und auch mit den anderen Tieren in der Herde umgehen, ihrer klaren und kraftvollen Präsenz, für mich etwas durchaus Heilsames. Manche Erfahrungen geschahen einfach, indem ich meinen eigenen Impulsen gefolgt bin, andere wurden provoziert durch gestellte ›Aufgaben‹. Auch diese finde ich immer wieder sehr inspirierend und Horizont erweiternd, da es oft Anregungen sind, auf die ich selber nicht komme – das sind mitunter durchaus Herausforderungen […] und sehr willkommen. Ein Erlebnis,

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das mich sehr berührt hat: Einmal hat ein junges Pferd seinen Kopf in meine ihm hingehaltenen Hände gelegt und wurde nach und nach immer dösiger, die Augen schlossen sich, der Kopf wurde immer schwerer und schwerer und schwerer, das Pferd entspannte immer mehr und hat tatsächlich geschlafen und – nach den sich hinter den geschlossenen Lidern schnell bewegenden Augen zu urteilen – dabei geträumt. Wir sind uns vermutlich das erste Mal begegnet und es hat mir so tief vertraut, […] Ein weiterer wohltuender Effekt des mit den Pferden Seins ist, dass die Stimmung auf der Rückfahrt oft deutlich entspannter ist. Ich weiß nicht sicher, wie es für andere ist, für mich selbst merke ich jedoch (und habe den Eindruck, dass es auf andere eine ähnliche Wirkung hat): Ich bin hinterher meist offener, sicherer in mir (›geerdet‹ ist schon ein ganz treffendes Wort) und – damit – kommu­ nikativer. Auf der Hinfahrt herrscht meist Schweigen, jeder ist für sich. Auf der Rückfahrt (zumindest zu Beginn) gibt es oft einen regen Aus­ tausch; teils über die Erlebnisse mit den Pferden, aber auch über Dinge, die draußen zu beobachten sind (Damwild, Pferde, Hunde, Wald, …). Das Sein mit den Pferden verändert das Sozialverhalten der Menschen […] ein bisschen, als ob es abfärbt. Ich bin den Pferden – wie auch den Menschen, die dieses Projekt möglich machen – sehr dankbar. Ohne beide hätte ich viele kostbare Erfahrungen, die mich nährten, ›erdeten‹, in meinem Sein bestärkten, nicht machen können. Danke!«14

In diesem Erlebnisbericht findet sich vieles wieder, was in den 20 Jahren unserer Besuche in der Herde erlebt und berichtet wurde. Irgendwie ist man hinterher anders als vorher. Die Schwierigkeit beim Beschreiben ist die Explikation des Gespürten und damit ist man schon wieder weit weg von der Gesamtheit des Betroffenseins.

3.2 Aufgaben Wie im Erlebnisbericht beschrieben, finden viele Arten der Berührung und des Berührtwerdens dadurch statt, dass der Mensch von dem, was er in der Herde vorfindet, ergriffen wird und auf die Kontaktangebote der Pferde eingehen kann. Aber nicht allen Teilnehmer:innen ist das möglich. Viele sind aufgrund ihrer Erfahrungen in ihrer leiblichen Kommunikation gestört.

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»Ob die Welt sich wie hinter eine Mauer oder einen Schleier, die das Betroffensein lähmen, zurückzieht oder umgekehrt auf den halt- und fassungslos ihr ausgelieferten Menschen einstürmt: In beiden Fällen ist dieser unfähig geworden, ein Verhältnis zu ihr zu finden, dass ihm Auseinandersetzung in leiblicher Kommunikation gestatten könnte.«15

Einige sind so mit ihren eigenen Konzepten beschäftigt und in ihren Gedankenschleifen unterwegs oder sie sind starr vor Angst, dass der vitale Antrieb in der Enge festhakt und keine andere leibliche Kommunikation möglich ist. Eine Teilnehmerin beschreibt: »Ich habe keine Ahnung, was passieren wird. Ich hätte gern jemanden, der mich an die Hand nimmt und mit mir zusammen geht. Allein fühle ich mich schutzlos und ich finde kein Versteck auf der weitläufigen Heide und habe keine Waffe bei mir, um mich zur Not zu verteidigen.«16 Daher ist es die Aufgabe von mir und meiner Kollegin sichere Rahmen zu schaffen, die ein affektives Betroffensein ermöglichen. Wir schaffen immer wieder kleine Herausforderungen, die bewältigt werden kön­ nen, ohne zu viel Angst zu erzeugen. Neben einem sanft dosierten Maß an Enge, gerade genug, um sie bewusst zu haben und einen Moment des Ich-Gefühls zu wecken, ist es genauso wichtig, dass sich die Teilnehmer:innen nicht nur in der Weite verlieren. Dafür nutzen wir unser jahrelang gewachsenes Wissen über die Struktur und Dynamik in der Herde und darüber, wie die Pferde kommunizieren. Wir können uns darauf verlassen, dass immer etwas in der Herde anzutreffen ist, was berührt. Wir lenken nur die Aufmerksamkeit dorthin, wenn es nicht von selbst passiert. Dafür nutzen wir ganz ein­ fache Kommunikationsmuster der Pferde: Zum Beispiel, je weiter wir weg sind, desto weniger interessieren sie sich für uns. Je geradliniger und zielstrebiger wir auf sie zugehen, desto mehr Druck üben wir auf sie aus und die Möglichkeit besteht, dass wir ihr Fluchtverhalten auslösen. Mischen wir uns vorsichtig unter die Pferde, dann ist zu erkennen, dass nach anfänglicher Veränderung ihrer Gruppenstruktur eine Neuordnung einsetzt, in die wir integriert werden. Manchmal scheinen wir auch Auslöser für Bewegungsdynamiken zu sein, dann bedarf es nur eines kleinen Impulses und vor allem die Jungtiere laufen los. Es ist ihnen dabei anzusehen, dass sie ausgelassen Galop­ pieren und das Spiel genießen. Wäre es der Fluchtinstinkt würde die ganze Herde sich formieren und sich weit entfernen, um aus sicherem 15 16

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Abstand zu beobachten, was wir als Nächstes tun werden. Aber am Spiel beteiligen sich nur einige Pferde, galoppieren dann eher um uns herum. Eine Aufgabe, die wir gern stellen, heißt der Schatten. Da fordern wir die Teilnehmer:innen auf sich ein Pferd auszusuchen, zu dem sie sich irgendwie hingezogen fühlen und das ihnen ein gutes Gefühl gibt. Sie sollen dann eine Weile neben diesem Pferd laufen, ohne es anzufassen, nur bei ihm sein und wahrnehmen, sich für eine Weile wie ein Pferd verhalten. Bei einem späteren Besuch, wenn sie sich schon sicherer in der Herde fühlen, sollen sie sich dann ein Pferd aussuchen, vor dem sie mehr Respekt haben und zu dem sie sich nicht gleich hingezogen fühlen. Die Aufmerksamkeit geht dadurch von ihnen weg hin zum Pferd. Durch die Veränderung des Fokus treten die eigenen Bedenken in den Hintergrund und ermöglichen eine andere Annäherung an dieses Wesen. In dem Erfahrungsbericht hatte sich der Teilnehmer einen Hengst ausgesucht, der durch seinen ausgeprägten Hengsthals imponierte. Nachgefragt, was er erfahren hat bei seiner Übung, bemerkte er, es sei auch nur ein Pferd. Wie er in seinen Pferdeimpressionen beschreibt, beschäftigte ihn das Thema, mit welchem Bild von Männlichkeit er aufgewachsen ist. In der Herde machte er dazu für sich neue Erfahrungen, spürte leiblich wie unterschiedlich die einzelnen Hengste im Bezug zu den anderen Pferden (Stuten, Junghengste) in ihrer Familie agieren und sich auch im Umgang mit den anderen Hengsten unterschiedlich verhalten. Er stellte fest, dass nicht immer der größte und vom Körperbau kräftigste Hengst, auch der aggressivste oder dominanteste ist. Es passiert oft, dass die Welt der Pferde von den Teilnehmer:innen symbolisch auf die Menschenwelt übertragen wird. Wir wissen, dass wir von Erklärungen, die eher aus der Welt der Biologie stammen, über die Pferde und ihr Verhalten untereinander, keine normativen Zuschrei­ bungen auf das Verhalten von Menschen machen können und den Teilnehmer:innen ist das auch meistens klar. Das bedenkend, kann es hilfreich sein, die Pferde als Metapher für menschliches Verhalten zu nutzen, aber auch systemisch im Sinne einer Aufstellung. Die Pferde und deren Familien fungieren dann für den Menschen als Stellvertreter, um neue Plätze in seiner Familie und die eigene Rolle darin spielerisch auszuprobieren und leiblich spürbar zu machen. Eine Aufgabe dazu ist: Suche dir eine Pferdefamilie aus und stelle dich dazu, finde deinen Platz, an dem es dir gut geht. Ist das eher am Rand oder mittendrin? Wenn wir dann alle einzeln verstreut

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zwischen den Pferdefamilien stehen und ein friedliches, glückliches Lächeln auf den Gesichtern zu sehen ist, dann kann man in den Gebärden und dem Ausdruck der Menschen deutlich sehen, dass sie von etwas berührt wurden. Manchmal hört man währenddessen sogar ein Lachen, ausgelöst von einem zutraulichen Jungtier, dass in seiner Neugierde an den Sachen rupft oder lustige Grimassen zieht. Es ist auch zu beobachten, dass bei den späteren Besuchen von den Teilnehmer:innen immer wieder Ausschau gehalten und gefragt wird, »wo ist denn meine Familie?«. Viele unserer Teilnehmer:innen leiden an einem Gefühl der Ausgegrenztheit und der Nichtzugehörigkeit. In der Herde können sie für einem Moment Zugehörigkeit spüren und Sätze wie: »Ich darf bei ihnen stehen. Sie sind bereit mir zu vertrauen. Sie kommen einfach so zu mir.«, hören wir oft. Die Zugewandtheit der Pferde bewirkt bei den Teilnehmer:innen eine Bereitschaft sich zu öffnen und stärkt ihre Gewissheit, dass man ihnen vertrauen kann, dadurch beginnen auch sie zu vertrauen. Andere kleine Aufgaben sind: Gehe heute mit einer bestimmten Absicht in die Pferdeherde hinein oder das Gegenteil, du willst nichts von ihnen, du lässt dich einfach treiben und folgst deinen Impulsen. Wie fühlt sich das an? Welche Reaktionen nimmst du wahr? An einem veränderten Gang, an der Festigkeit der Schritte ist dann deutlich zu erkennen, wie es den Teilnehmer:innen gelingt, die Übung umsetzen. Bei den eher zögerlichen, die gefangen sind von Bildern und Geschichten, gibt es Ängste, die sich so anhören: »Mein Horrorszenario ist von großen, muskulösen und unbekannten Tieren niedergetrampelt zu werde.«17 Hier hat es sich bewährt, dass wir mit den Teilnehmer:innen in einem sicheren Abstand gemeinsam die Pferde beobachten. Wir sehen uns an, wie sie auf die anderen Menschen reagieren und lenken die Aufmerksamkeit auf die Gebärden der Menschen und der Pferde: »Da vorn, die zwei spielenden Fohlen, wenn Sie das beobachten, fühlt sich das bedrohlich an? Und dort, die zwei kämpfenden Hengste, was empfinden Sie dabei? Beobachten Sie ganz genau, wie verhalten sich die anderen Pferde? Grasen sie ruhig weiter? Was können Sie tun, wenn ein Pferd Ihnen zu nah kommt?«. In der Regel reden wir wenig, wenn wir in die Herde gehen, damit der Fokus auf das leibliche Spüren gerichtet bleibt. Aber den Ängstlichen, die viele Fragen stellen, um über Wissen eine Kontrolle über die Situation zu bekommen, gibt das Reden Sicherheit. In der Verhaltenstherapie ist die Konfrontation mit 17

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der Angst, sich ihr zu stellen und durch sie hindurchzugehen, eine sehr wirksame Methode. Bei den Pferden kann man das sehr gut erleben. Einmal gingen wir mit einer jungen Frau, die dem Leben mit vielen Ängsten begegnete, in die Herde. Auch den Pferden begegnete sie mit Angst. Sie redete ununterbrochen, klammerte sich quasi an uns, vermied den Blickkontakt mit den Pferden und bewegte sich sehr steif und vorsichtig. Zusammen beobachteten wir aus sicherer Entfernung, wie die anderen Teilnehmer:innen sich den Pferden näherten und Kontakt aufnahmen. Sie konnte sehen, dass auch die Pferde zunächst zögerlich reagierten und es ein vorsichtiges Annähern von beiden Seiten war. Nach einer Weile bewegten wir uns dann gemeinsam in die Richtung einer Familie und blieben in einem Abstand von zwei Metern stehen und warteten. Als sich das erste junge Pferd näherte, war die junge Frau ganz aufgeregt, hatte erst den Impuls wegzulaufen, fühlte sich dann aber mit uns sicher genug, um zu bleiben. Als sie dann sanft mit den Nüstern berührt wurde, versteifte sie sich. Ganz langsam, nach und nach, wendete sie sich dem Pferd zu, schaute es an und berührte es dann auch. Als sie das tat, strahlte sie über das ganze Gesicht und sagte mehrmals, dass sie nicht gedacht hätte, dass sie sich das trauen würde. Anfänglich dicht bei uns, war es dann möglich, dass wir uns weiter wegbewegen konnten und sie sich allein auch weiterhin sicher mit dem Pferd fühlte. Am Ende des Besuchs in der Herde war sie sehr glücklich und schlief auf der Rückfahrt ein. Eine Aufgabe, die den meisten schwerfällt, ist die Pferde weg­ zuschicken, wenn diese zu aufdringlich werden oder wenn sie zu sehr eingekreist worden sind. Es ist aber sehr wichtig, das zu tun, denn es kann gefährlich werden, wenn die Pferde miteinander inter­ agieren und die Menschen dazwischenstehen. Viele unserer Teilneh­ mer:innen sind so froh über den Kontakt, dass sie befürchten, die Pferde würden nicht mehr wiederkommen, wenn sie eine Grenze setzen. Diese Übung nutzen wir auch als Metapher für Begegnungen mit anderen in der Menschenwelt. Wir suchen gemeinsam nach Situationen, in denen es wichtig ist, eigene Grenzen wahrzunehmen, diese zu setzen und Respekt zu fordern. Dafür ist dann wichtig, Festigkeit in die eigene Haltung zu bringen und präsent zu sein, um die entsprechende Absicht den Pferden zu verdeutlichen: feste Körperhaltung, groß machen, ein Schritt auf sie zu gehen und wenn das alles nichts hilft, ist es schon mal nötig durch eine ruckartige Geste, das Fluchtverhalten der Tiere auszulösen. Da die Pferde das auch untereinander tun und im Sinne des Menschen nicht nachtragend

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reagieren, bei entsprechender Haltungsänderung auch wieder gern den Kontakt aufnehmen, gelingt die Übung besser und besser. Die Teilnehmer:innen erleben dabei, dass es sich gut anfühlt, die eigene körperliche Präsenz in verschiedenen Situationen zu fühlen, Klarheit zu erfahren und sich zu behaupten. Das stärkt die Selbstwirksamkeit. Die in der Pferdeherde gemachten Erfahrungen fließen dann in die therapeutische Arbeit in der Stadt ein. Als Ressourcen oder als Zustandsveränderungen können sie bei der Erarbeitung eines neuen Selbstbildes, der Veränderung bestehender Glaubenssätze und bei der Bildung einer neuen Fassung hilfreich sein.

3.3 Ankommen – vor dem Zaun In der Auseinandersetzung mit dem Thema Berühren und Berührt­ werden in der Liebenthaler Pferdeherde und die Frage wie viel Nähe braucht es, um berührt zu werden, zeigt sich, dass es einen Unter­ schied macht, ob man draußen vor dem Zaun als bloßer Beobachter steht oder man hineingeht durch das Tor und sich mitten unter ihnen befindet. Schon während der einstündigen Fahrt in unserem Kleinbus von Berlin nach Liebenwalde sind wir in einer gemeinsamen Situation verbunden. Die anfänglichen Gespräche werden mit jedem Kilometer, mit dem wir die Enge und Fülle der Stadt, die Geschwindigkeit der Autobahn hinter uns lassen, weniger. Einige dösen mit geschlossenen Augen, andere lassen den Blick über die sich veränderten Landschaf­ ten wandern, bis dann das Tempo langsamer wird, die Häuser immer mehr Himmel zeigen und dann über die holprigen Wege verlassen wir den Wald und unser Blick begegnet der freien Landschaft der Pferde­ koppeln. Viele Teilnehmer:innen beschreiben, dass sie von dieser sich veränderten Atmosphäre sofort ergriffen werden, wenn sie aus der Enge des Busses in die sie empfangende Weite hinaustreten und dann aus der Gemeinschaft des Busses wieder jeder für sich ist. Das Licht, die Farben, das Zwitschern der Vögel, das Rauschen des Windes. Die Weite, die sich nicht wie das Meer ins Endlose ergießt, sondern von Bäumen, Büschen und Zäunen begrenzt ist, wird als sehr wohltuend empfunden. Die Weite im umfriedeten Raum schafft Frieden und Ruhe, die sich auch auf uns Menschen überträgt, je länger wir dort verweilen. Wir geben uns Zeit, hier anzukommen, bevor wir zu den Pferden auf die Koppel gehen. In einer lockeren Gruppe verteilt vor

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dem Zaun stehend, beobachten wir gemeinsam die Pferde, tauchen ein in die vorgefundene Atmosphäre des Wetters und der Stille. Dieses Schauen aller in eine Richtung, das gemeinsame Hinwenden des Blickes zu der von uns aufmerksam gemachten Situationen schafft über die solidarische Einleibung eine Einstimmung auf die Begegnung mit den Pferden. Die vorgefundene Situation ist jedes Mal anders. Manchmal steht die Herde ganz nah am Zaun und manchmal ganz am Ende der Koppel. Dann scheint die Herde gleichsam Teil der Landschaft zu sein, wie eine Baumgruppe am Ende der Wiese oder ein See, dessen Ufer man in der Ferne erahnt. Verstärkt wird dieser Eindruck auch dadurch, dass keine Stallungen oder andere vom Menschen errichtete Gebäude den Blick in die Weite behindern. Je näher die Herde am Zaun ist, desto größer ist ihre leibliche Präsenz und desto mehr gehen sie uns schon etwas an. Blicke kreuzen sich, einzelne Pferde in ihrer unterschiedlichen Größe sind erkennbar, man hört ihre Geräusche beim Fressen und der Fellpflege, wenn sie sich gegenseitig am Fell rupfen. Aber noch ist der Zaun zwischen uns und gibt Sicherheit, so beschreiben es einige Teilnehmer:innen. Sie fühlen sich entspannt, aber auch schon etwas neugierig, manche freuen sich. Anderen ist es nicht möglich gleich in die Herde zu gehen. Zu übermächtig werden die Bewegungen, die Schnelligkeit, die Größe und die Kraft, wenn zwei aufbäumende Hengste kämpfen und die Unberechenbarkeit der Pferde wahrgenommen. Diese Bewegungssuggestionen werden auch ohne, dass ein direkter Kontakt stattgefunden hat, am eigenen Leib gespürt. Für sie ist die Möglichkeit, erst einmal von draußen die Herde zu beobachten und Informationen zu sammeln, die bessere. Hier bietet der Zaun Schutz und Kontrolle. Sind die Menschen vor dem Zaun schon von den Pferden in den Bann gezogen, scheinen wir den Pferden hinter dem Zaun noch nichts anzugehen. Nichts deutet darauf hin, dass sie sich für uns interessieren, keine Unterbrechung in ihren Abläufen ist sichtbar, keine Zuwendung hin zu uns. Hier scheint der Zaun auch eine Abgrenzung für sie zu sein.

3.4 Hineingehen – hinter dem Zaun Beim Hineingehen in die Herde sagen wir oft, wir betreten jetzt das Wohnzimmer der Pferde und meinen damit, dass wir Gäste sind und uns so verhalten, dass wir jederzeit wiederkommen können. Der

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Vergleich passt in der Hinsicht, dass wir mit der Öffnung des Tores in die fremde Welt der Pferde eintreten, in ihr Wohnzimmer. Und wenn wir es zum ersten Mal durchschreiten, wissen wir nicht, ob wir willkommen geheißen werden und was passiert, welche Regeln in dieser Welt gelten, ob es gefährlich wird. Das Tor trennt hier für den Menschen das abgründige Drinnen vom sicheren Draußen. So ist es auch ein Unterschied, ob ich im Zoo ein Raubtier beobachte, zwischen mir und ihm ein Gitter oder ob ich in einem Nationalpark zwar immer noch sicher im Geländewagen sitzend, einem Löwen begegne. Das Aufschließen des Schlosses, das Öffnen des Tores, das sich gemeinsame Versammeln dahinter und das kurze Verweilen ist für uns Menschen wichtig, um diese Schwelle vom Draußen in diese andere Welt zu meistern. Man merkt es den Teilnehmer:innen an, wie sie diesen Übergang unterschiedlich wahrnehmen. Einige, von sich aus vorsichtig, müssen wir durch unser Verhalten ermutigen, andere Forsche bremsen. Da sind auch noch die Pferde, für die wir, je nachdem wie wir uns verhalten, eher das abgründige Draußen verkörpern. Für beide Seiten ist es besser, wenn die Herde beim Betreten der Koppel in einiger Entfernung zu uns steht. Ein langsames Annähern, eine gegenseitige Gewöhnung ist dann möglich. Auch wenn noch kein direkter Kontakt stattfindet, ist man von der Anwesenheit der Pferde anders ergriffen als vor dem Zaun. Eine Begegnung ist jetzt jederzeit möglich und damit verbunden auch die Anforderung, sich demgegenüber irgendwie verhalten zu müssen, was da auf einen zukommt. Ebenso wird die Handlung des Torschließens, obwohl man die Koppel jederzeit verlassen kann, für einige Teilnehmer:innen wie das Eingesperrtsein in einem Raum empfunden, auch wenn der Raum hier mehrere Hektar groß ist. »Es ist ein seltsames Gefühl sich mit den Pferden einzusperren. Mein Gefühl ändert sich mit dem Schließen des Gatters hinter mir. Ich fühle mich ab diesem Moment konfrontiert und den Pferden gegen­ übergestellt. Wir streifen durch das hohe Gras und reden. Ich merke, dass ich viel nachfrage, um mich abzusichern. […] Es macht mich nervös, dass ich die Verhaltensregeln oder den Benimm-Code nicht kenne, die hier gelten. Ich registriere, dass ich absolut kein natürliches Vertrauen darin habe, dass mich die Pferde nicht angreifen werden. Ich ziehe Parallelen zu Menschen, von denen ich manchmal unterbewusst und ohne stichhaltige Beweise erwarte, dass sie mir etwas Böses wollen, mich nicht mögen oder ausschließen wollen. […] Ich hätte gern jemanden, der mich an die Hand nimmt und mit mir zusammen geht.

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Allein fühle ich mich schutzlos und ich finde kein Versteck auf der weitläufigen Heide und habe keine Waffe bei mir, um mich zur Not zu verteidigen. Flight, Fight oder Freeze?«18

Die Teilnehmerin begibt sich aus ihrer Komfortzone hinein in den wilden, freien Raum der Pferde, hinein in eine mögliche Gefahren­ quelle, für die sie keine passende Fassung parat hat. Da hilft es, dicht zusammen zu gehen. Die junge Frau spürt die Sicherheit unseres Auftretens. Wir sind in solidarischer Einleibung verbunden. Nähe, die sonst als unangenehm empfunden werden kann, bietet hier Schutz. Auch eine neue Erfahrung für sie. »Die Situation in der Herde empfinde ich inzwischen als ernst, aber ›im Griff‹ – sprichwörtlich, da ich ja bei einer kompetenten Person untergehakt bin. Nur dieser Griff bringt mich dazu, ruhig stehen zu bleiben. Mein Impuls ist eher möglichst schnell zum (vermeintlich) rettenden Rand zu gelangen. Aber ich denke, dass es gefährlicher wäre allein zu gehen, darum bleibe ich.«19

Es gibt Parallelen des leiblich Gespürten von der jungen Frau zu den Pferden. Die Pferde als Fluchttiere sind nie allein und würden bei Gefahr weglaufen und von einem sicheren Abstand die Lage betrachten und die vorsichtigen, scheuen Pferde nähern sich uns auch nur in der Gruppe. Eine komplett andere Situation ist es, wenn die Pferde beim Hineingehen ganz dicht am Eingangstor stehen. Dann gibt es wenig Raum sich anzunähern, sich aneinander zu gewöhnen. Man fühlt sich gleichsam überwältigt und überrumpelt. Vielen Teilnehmer:innen ist das sehr unangenehm, beängstigend und zu dicht, diese großen Körper um sich herum. Schreckensbilder tauchen auf, gehörte und in Filmen gesehene Szenarien. Die vorher erlebte Weite verengt sich durch die Angst, lässt einige erstarren oder setzt Fluchtimpulse frei. Aber auch an den Pfer­ den erkennt man, wie unser plötzliches Eintreten in ihre Gruppen­ struktur eine Bewegungsdynamik hervorruft. Da kann es gefährlich werden, wenn wir dazwischenstehen. Dann ist es besser seitlich an Ihnen vorbeizugehen oder ein anderes Tor zu benutzen. Steht die Herde weiter weg, wenn wir die Koppel betreten, nehmen sie zuerst wenig Notiz von uns. Sie grasen weiter. Manchmal 18 19

Anon. A. 2020: 1. ebd.: 4.

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schaut ein Pferd in unsere Richtung. Das ist dann das Pferd, das in den einzelnen Familien die Funktion hat, Gefahr rechtzeitig wahrzu­ nehmen. Wird dieses Pferd unruhig, dann überträgt sich das auf die anderen Pferde. Jetzt kommt es darauf an, wie wir uns ihnen nähern. Gehen wir als Gruppe, eine Kette bildend und direkt auf sie zu, dann bewirkt das, dass die Herde sich von uns wegbewegt. Würden wir jetzt auch noch rennen, dann würden auch sie ihr Tempo erhöhen. Diese Art der Annäherung wäre nur sinnvoll, wenn wir die Herde für eine bestimmte Absicht zu einem Punkt hintreiben wollen. Da wir diese Absicht nicht haben, sondern mit ihnen in einen direkten Kontakt kommen wollen, müssen wir uns anders verhalten. Wir nähern uns einzeln und verteilt über die ganze Fläche an, um sie durch unser Eindringen in ihre Situation so wenig wie möglich zu stören. Neben den ängstlichen, vorsichtigen Teilnehmer:innen gibt es auch die forschen und die, die unbedingt die Pferde anfassen wollen. Diese gehen dann mit festem Schritt direkt auf ein Pferd zu und wundern sich dann, warum das Pferd wegläuft. Sie haben gar nicht gespürt, wieviel Druck in ihrer Bewegung vorhanden war und bekommen eine direkte Rückmeldung von den Pferden, indem diese sich wegbewegen. Wie bei den Menschen gibt es auch bei den Pferden einzelne Tiere, die sensibler auf die angebotenen Bewegungssuggestionen reagieren als andere. Hier können die Teilnehmer:innen über das Spüren in der wechselseitigen Einleibung mit dem Pferd üben, wie sie sich verhalten müssen, um mit dem Pferd in Kontakt zu treten. Hermann Schmitz schreibt, »[...] dazu gibt die wechselseitige Einleibung Gelegenheit. An der Korrektur des eigenen Impulses und Befindens durch die Rück­ meldung vom Partner in dem geschilderten kybernetischen Prozess wird jeder dessen inne, daß er es mit einem anderen zu tun hat, nach dem er sich richten muss.«20 Wir helfen den Teilnehmer:innen dabei, in dem wir ihnen Beispiele der Annäherung zeigen: langsam laufen, sich Zeit lassen, immer mal wieder anhalten, sich seitlich annähern, Kopf senken im Sinne, ich fresse auch wie ihr, und dabei immer die Reaktionen des Pferdes wahrnehmend und das eigene Verhalten anpassend. Einige Teilnehmer:innen sind schon überwältigt davon, sich überhaupt so nah herangetraut zu haben, bleiben lieber am Rand der Herde stehen, beobachten die anderen und die Pferde. Kommt ein Pferd auf sie zu, gehen sie weiter weg und der so gewonnene Abstand und auch die Rückmeldung vom Pferd, das ihre Absicht spürt und sich 20

Schmitz 2008: 198.

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wieder seiner Familie zuwendet, lässt sie erfahren, wie sie durch ihr Verhalten Sicherheit für sich herstellen können. Andere Teilnehmer:innen lassen sich von der Bewegung der langsam dahinziehenden Herde ergreifen, wollen gar nicht anfassen, finden in der Herde, die mal verteilter und mal dichter zusammen­ steht, ihren Platz und bewegen sich in einem langsamen und stetigen Rhythmus mit ihnen über die Koppel. In der Regel setzt eine halbe Stunde nach unserem Besuch eine Beruhigung in der Bewegungsdy­ namik der Herde und bei den Menschen ein. Die Herde hat sich neu sortiert und ein Gefühl, dass wir jetzt dazugehören, breitet sich aus. Vergleichbar mit dem Gefühl, wenn Besuch in die Wohnung eingela­ den wird und man sich beim Eintreten erst einmal fremd miteinander in dieser neuen Situation fühlt, um sich dann über ein gemeinsames Essen oder gemeinsame Themen langsam aufeinander einschwingt.

3.5 Mittendrin Wir sind angekommen in der Herde. Jeder hat seinen Platz gefun­ den. Begegnungen und Berührungen finden statt. Hermann Schmitz schreibt über die taktile Berührung, dass diese über die Chance der Feineinstellung viel tiefer und feiner in den Haushalt der leibli­ chen Dynamik des berührten Leibes eindringen kann als die heftige und über den gemeinsamen Antrieb Geborgenheit vermittelt.21 Die Hinwendung zum Pferd ist bei den Teilnehmer:innen ganz unter­ schiedlich, wie auch bei den Pferden. Einige Teilnehmer:innen sind medikamentös eingestellt und schon dadurch in ihrer Wahrnehmung eingeschränkt, gedämpft. Andere sind aufgrund traumatischer Erfah­ rungen äußerst sensibel für Atmosphären und nehmen diese ganz anders wahr, einige sind so in ihrem Tunnelblick gefangen, in ihrer Enge, dass sie Gefahrensituationen nicht mehr erspüren und einschät­ zen können. Wie schaffen es die Pferde diese trotzdem affektiv zu berühren? Für manche ist es der Geruch, der sie beim Aussteigen aus dem Bus als erstes ihre Nasen in die Luft halten und den frischen Wind oder die Feuchtigkeit in den Wiesen wahrnehmen lässt. Die Weiden riechen im Sommer anders als im Winter und auch die Pferde. Riecht man an ihren Nüstern kann man im Sommer einen leicht säuerlichen Geruch wahrnehmen, der an frisch gemähtes Gras erinnert. Ist im 21

Schmitz 2011: 33.

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Sommer der Geruch von Pferdeurin und Kot kaum wahrnehmbar, so tritt er im Winter, wenn die Wiesen abgefressen sind, deutlicher hervor. Eine Klientin erinnerte dieser Geruch an Heimat. Andere berichten, wie die dunklen Augen der Pferde, mit diesen langen Wimpern und den interessanten Zeichnungen um das Auge herum, sie hineinziehen. Und versucht man etwas zu erkennen, festzuhalten, dann ist da nichts als Tiefe und man verliert sich ins Unbestimmte, kann sich nirgendwo festhalten, aber alle werden sagen, dass diese Augen warm und einladend sind. Ganz anders dagegen werden die Augen des Huhnes oder des Fisches beschrieben. Pferde als Fluchttiere lieben die Weite. Hier können sie alles überblicken und rechtzeitig auf Bewegungen reagieren. Aufgrund der Stellung ihrer Augen seitlich am Kopf haben sie einen hervorra­ genden Weitwinkelblick, können aber aufgrund ihres binokularen Gesichtsfeldes schlechter räumlich sehen als wir Menschen. Dinge oder Menschen, die sie auf der einen Seite sehen, müssen sie auf der anderen Seite erst erneut prüfen, um sicher zu stellen, ob es das gleiche ist. Unsere Wahrnehmung ist eine ganz andere und das schafft Irritation, aber das Wissen darüber, fordert uns gleichzeitig auf, gewohnte Vorannahmen zu verlassen und uns auf neue Sichtwei­ sen einzulassen. Neben dem Geruch und dem Blick ist es auch das Hören, dass für einige Teilnehmer:innen die Brücke zu ihrem leiblichen Spüren schlagen kann. Das Ausschnauben der Pferde oder das Geräusch, wie sie auf der Koppel ziehend, das Gras zupfen oder im Winter um einen Heuballen stehend, die Halme herausziehen und dann genüsslich kauen, wird als beruhigend und friedlich beschrieben. Dagegen werden das laute anschwellende Galoppieren der ganzen Herde oder die krachenden, heftig ausschnaubenden Geräusche, die bei einen Hengstkampf zu hören sind, eher als bedrohlich und zu kraftvoll wahrgenommen. Hier scheint, dass ähnlich wie bei der zarten Berührung, der vitale Antrieb durch die sich friedlich anmutenden Geräusche nicht so hohe Wellen schlägt und die Teilnehmer:innen sich dadurch nicht so überrollt und sicherer fühlen. Die erste Berührung der Pferde erfolgt gewöhnlich über die Nüs­ tern. Auch hier gibt es die ganz Vorsichtigen, die ihren Hals reckend sich mit ihren Nüstern über die Kleidung tasten. Streckt man dann die Hand hin, so wie wir Menschen Berührungen oft einleiten, kann es sein, dass man die Vorsichtigen verschreckt. Man begreift sofort, dass ist ihnen fremd. Sie weichen kurz ruckartig zurück. Lässt man

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dann die Hände wieder sinken, nehmen sie ihre Erkundung erneut auf. Die Berührung wird auf den ganzen Menschen ausgeweitet. Der Kopf geht runter zu den Füßen, wandert dann weiter an den Beinen hoch hin zum Rumpf. Schnüre, Schnallen, Bänder, alles was sich von der glatten Oberfläche abhebt, wird besonders erkundet. Egal wie dick die Kleidung ist, man spürt die Sanftheit hindurch. Ist der Mensch mutig und hat Vertrauen ins eigene Spüren und ist nicht besetzt mit Bildern von beißenden und ausschlagenden Pferden, was bei vielen erst nach mehreren Begegnungen in der Herde passiert, dann können diese neuen Erfahrungen die alten Bilder im Kopf langsam verdrängen und verblassen lassen. Dann kann man sich auf das Berühren der Nüstern auf dem eigenen Gesicht einlassen. Ganz ohne Hände, pferdisch. Wie die Nüstern sanft, weich und warm sich langsam über das Gesicht tasten. Es erinnert an eine Liebkosung. Viel zarter als es je eine Hand kann. Die dann doch nicht so weich über die Haut gleitet, da und dort hängen bleibt, zu feucht oder zu kalt ist, Risse hat. Die warme Luft aus den Nüstern bewegt die kleinen Härchen im Gesicht und beugt man sich jetzt sanft zum Pferd hin und bläst vorsichtig Luft aus der eigenen Nase in die Nüstern entsteht eine gegenseitige Berührung. Wie stark ich meine Luft aus der Nase ausblase, ganz stark und ruckartig, was die Pferde bei hoher Erregung machen oder das sanfte lange Ausschnauben, wenn sie entspannt sind, je nachdem verändere ich die Hinwendung zu mir. Zu starkes ruckartiges Ausschnauben veranlasst das Pferd zu weichen. Bleibt es sanft und vorsichtig geht das Erkunden weiter, bis das Pferd genug Kontakt aufgenommen hat. Dann muss man aufpassen, dann setzt bald der Spieltrieb ein und es wird ruppiger, was das Pferd durch stärkeres Ziehen, Zupfen, bedrängende Bewe­ gungen anzeigt. Hier sollte man auf die Signale achten und nicht im Schmusemodus verharren, sonst könnte es für uns schmerzhaft wer­ den. Untereinander würden sie jetzt anfangen zu knuffen, knabbern, rangeln, schubsen. Diese erste Berührung mit dem Pferd ist vielen unser Teilnehmer:innen schon zu intensiv, zu dicht. Für sie, die in ihrer Kindheit und auch später wenig Hinwendung oder Berührungen erfahren haben, fällt es schwer, diese große Intimität zuzulassen. Ist dann aber der Prozess des Sich-Hinwendens möglich, beschreiben viele diese sanfte, vorsichtige Annäherung als einen großen Glücks­ moment, der sie durchströmt und sie erleben, dass Frieden und Ruhe einkehren und sie sich angenommen fühlen. Das ist dann auch auf den Gesichtern ablesbar, teils durch ein Lächeln, welches sich manchmal

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über das gesamte Gesicht ausbreitet und auch über eine veränderte Körperhaltung, die dann lockerer und dem Pferd zugewandt ist. Jetzt ist es möglich, ganz vorsichtig ohne ruckhafte Bewegungen das Pferd auch anzufassen. Neben den vorsichtigen Pferden gibt es auch diejenigen, die die Berührung gleichsam einfordern. Sie kommen auf einen zu und positionieren sich so, dass man gar nicht anders kann als sie anzufas­ sen. Für einige unserer Teilnehmer:innen ist das zuerst eine Hürde. Man kann beobachten, wie unbeholfen das erste Anfassen abläuft. Wie fremd es anmutet. Es erinnert eher an ein Abklopfen, vielleicht aus Filmen erinnert, ein kurzes, eckig anmutendes Tatschen, was mit anfassen oder streicheln noch nichts zu tun hat. Mit der Zeit verweilt dann die Hand von selbst länger auf dem Fell, der Druck wird fester und die Berührung gezielter, gewinnt an Sicherheit und Eindeutigkeit. Im Winter, wenn das Fell ganz dick und trocken ist, gleitet die Hand hindurch, das Fell wird auseinander gedrückt und schließt sich dahinter wieder. Oben ist es weich und man spürt die Wärme darunter und die Festigkeit. Man spürt die Talkschicht, glatt und schmierig auf dem Körper. Ist das Fell hingegen nass, sieht das Pferd ganz anders aus. Der kuschelige Eindruck ist nicht vorhanden. Es gibt Stellen, die am Körper festkleben. Es bilden sich Tropfen und Wasserrinnsale wie Tränen laufen am Körper entlang. Man fühlt sich nicht eingeladen anzufassen. Tut man es doch, dann ist es kalt und stumpf an der Hand, kein Dahingleiten und Verweilen, sondern eher kurze Berührungen. Danach sind die Hände dreckig, kalt und nass. Im Sommer dagegen ist die Berührung der Hand auf dem Fell ein anderes Erspüren. Eine einzige glatte Fläche, warm oder auch heiß, aber irgendwie auch rauer, trotz der Glattheit. Die Hand fährt darüber, versinkt aber nicht, nimmt jetzt eher kleine Dellen, Erhebungen, Konturen wahr, die im Winter verborgener bleiben. Wunden werden sichtbarer. Man sieht die Spuren der Kämpfe, die im Frühling und Sommer heftiger ausgetragen werden. Es ist zu beobachten, dass das Bedürfnis nach Anfassen bei den Besuchern stärker ist, wenn das Fell dick, weich und warm ist. Daneben scheint nicht das alleinige Anfassen bedeutsam zu sein, sondern auch die Bewegung. Teilnehmer:innen berichten, dass die Bewegung des Streichelns, wenn sie eine Zeit lang andauert, eine beruhigende Wirkung auf sie ausübt. Das ist bei Menschen und Pferden auch an ihren Gebärden zu erkennen. Das Pferd lässt seinen Kopf und die Unterlippe hängen, verharrt in einer Stellung. Die

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Augen halb geschlossen oder ganz zu. Es döst, atmet gleichmäßig. Der Mensch dicht daneben, wird in seinen Streichelbewegungen immer gleichmäßiger, die Bewegungen werden langsamer, der Atem ruhiger. Beide in der gleichen Situation, im gleichen Zustand verharrend. Berührungen in der Herde finden nicht nur durch das Anfassen mit der Hand und den Nüstern statt. Die Pferde fordern auch unter Einsatz ihres ganzen Körpers Berührungen ein. Da gibt es ein Zupfen und Ziehen erst vorsichtig mit den Lippen und manchmal auch nachdrücklicher mit den Zähnen, manchmal ein Stampfen mit den Hufen oder ein Schubsen mit dem Kopf oder dem Rumpf. Diese Art der Berührung wird dann schon nicht mehr als so angenehm empfunden, eher zu aufdringlich. Man kann es nicht einschätzen, wie geht es weiter, wird es heftiger oder bleibt es dabei? Wie kann ich dem begegnen? Diese Situation fordert den Menschen auf, seine Grenzen zu zeigen. Entweder durch das Einnehmen einer räumlichen Distanz oder durch eine ruckartige Bewegung, die den Fluchttierinstinkt des Pferdes aktiviert. Vielen Teilnehmer:innen fällt es schwer, dieses bedrängende unangenehme Berührtwerden abzuwehren. Dafür gibt es vielerlei Ursachen. Manche spüren ein schlechtes Gewissen, wenn sie dem Pferd, hier als Stellvertreter für die Menschenwelt, nicht das geben, was es will, weil ihnen in der Kindheit der eigene Wille oder Standpunkt ausgetrieben wurde. In diesem Fall ist das Üben mit den Pferden sehr erfolgreich, da ihnen nichts anderes übrig bleibt und die Situation sehr klar zu erkennen ist. Andere wollen nicht, dass die Pferde weggehen, haben Angst, dass diese nicht wiederkommen, wenn sie weggeschickt werden. Sie haben eine sehr hohe Grenze und ertragen lange die groben, teilweise für sie auch beängstigenden Berührungen, bevor sie sich dann doch trauen, das Pferd wegzuschi­ cken. Die Teilnehmer:innen, die schon länger die Herde besuchen, wissen aus den Beobachtungen heraus, dass die Pferde untereinander nicht nur sanft und vorsichtig sind, sondern in der Fellpflege, im Spieltrieb oder im Kampf sehr grob in ihren Berührungen werden können. Für den Menschen ist das zu gefährlich. Der Huf eines Pferdes auf dem Menschenfuß ist schwer und schmerzhaft. Ein Pferdekopf aus Versehen den eigenen gestreift, lässt spüren, wie hart dieser ist und ahnt die Kraft dahinter.

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3.6 Hinausgehen Nach ca. zwei Stunden ist unser Besuch beendet. Einige Teilneh­ mer:innen haben schon eher die Koppel verlassen, andere sind noch so versunken und gleichsam Teil der Herde geworden, dass wir sie auffordern müssen, sich zu verabschieden. Nur zögerlich können sie sich lösen. Manche werden von den Pferden noch ein Stück begleitet bis der Abstand zu ihrer Familie zu groß wird und als ob eine unsicht­ bare Linie überschritten worden ist, machen sie plötzlich ruckartig kehrt und galoppieren zurück. Langsam versammeln wir uns alle wieder am Zaun, blicken zurück auf die Pferde, die sich wieder ihrem eigenen Rhythmus widmen und fressend über die Koppel ziehen. Wir gehen jetzt anders durch das Tor. Eine ruhige, ausgeglichene und gesättigte Stimmung ist zu spüren. Bei einem Tee essen wir unsere Brote, manche teilen ihr Mitgebrachtes mit den anderen, Erlebtes wird ausgetauscht und wir fahren wieder zurück durch den Wald, über die Dörfer, die Autobahn nach Berlin.

4. Schlussgedanken Am 20. Dezember 1996 nach dem unerwarteten Tod von Jürgen Zutz fand die Herde ihr neues Zuhause in Liebenthal. Über einen Zei­ tungsartikel wurde Dr. Robby Jacob, ärztlicher Direktor der prenzl­ komm gGmbH, auf die Herde aufmerksam und nahm Kontakt zur Familie Broja auf, die sich damals der Herde angenommen hatte. Es war viel zu tun und wir packten mit an. Im Februar 2000 wurde dann der Verein der Liebenthaler Pferdeherde gegründet und die prenzl­ komm gGmbh war ein Gründungsmitglied. Wir lernten die Pferde kennen, studierten ihr Verhalten und starteten mit ersten therapeu­ tischen Besuchen in der Herde und erfuhren, dass vor allem die Herde als Gesamtheit eine besondere Atmosphäre hervorrief. Sich gegen­ über einem Reitpferd zu verhalten, dass sich durch Domestizierung in seinem Verhalten angepasst hat und durch die übliche Stallhaltung und Zusammenstellung der Herden nicht mehr in seinem ursprüng­ lichen Familienverband lebt, ist etwas ganz anderes als auf eine Koppel mit ca. 90 Pferden um einen herum. In dieser Übermacht, in der Welt der Pferde, greifen alle bisherigen Konzepte, Normen und Werte der menschlichen Welt nicht mehr. Hier geben sie die Atmosphäre vor, nicht die Menschen. Wir danken den Menschen und Pferden, die uns

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20 Jahre die Möglichkeit gegeben haben, diese berührenden Momente in der Herde erleben zu können. Die Liebenthaler Pferde­ herde hat viele Menschen in ihrem leiblichen Spüren berührt, hat durch die Atmosphäre, die sie umgibt, durch ihre Zugewandtheit und über ihren Aufforderungscharakter durch leibnahe Brückenqualitäten in die leibliche Dynamik des Menschen einzugreifen, eine Öffnung für Veränderungsprozesse angestoßen. Die Stiftung, die den Verein 2019 abgelöst hat, ist dabei, die Ziele zum Erhalt der Herde neu auszurichten. Die Zucht steht mehr im Vordergrund, ausgelöst auch durch die große Nachfrage an den Liebenthaler Pferden, die sich aufgrund ihres ausgeglichenen Charak­ ters und ihrer Robustheit in der Haltung großer Beliebtheit erfreuen. Gleichzeitig soll der Einfluss des Menschen auf das Verhalten der Pferde wieder reduziert werden. Für uns bedeutet es ein Ende unserer Besuche in der Herde. Aber kein Ende mit den Liebenthaler Pferden. Wir unterstützen die Stiftung weiterhin mit aktiver Mitarbeit und haben in diesem Sommer ein kleines neues Projekt in der Verkaufs­ herde begonnen. In der Verkaufsherde finden sich die Pferde in einer Gruppe zusammen, die jährlich herausgenommen werden, damit der Bestand der Herde die Zahl von 96 Tieren aufgrund der Vorgaben für ein EU finanziertes Projekt nicht überschreitet. Auch wenn die Situation eine vollkommen andere ist, bieten sich auch hier viele Möglichkeiten für die leibliche Kommunikation in der Begegnung von Mensch und Pferd. Was bleibt ist, dass die Pferde sich auch hier in ihrer Ursprünglichkeit von den Reitpferden unterscheiden und die Teilnehmer:innen in ihrem leiblichen Spüren herausgefordert werden. Was bleibt, ist auch die Weite der Landschaft und Stille. Die Liebenthaler Pferde sind wertvolle Wegbegleiter für die Entwick­ lungsmöglichkeiten des Menschen.

Literaturverzeichnis Anonyme Autorin: Erlebnisbericht, 2018. Anonyme Autorin: Erlebnisbericht, 2020a. Anonymer Autor: Erlebnisbericht, 2020b. Deutsches Ärzteblatt: Psychotherapie: Pferde haben Spiegelfunktionen, 2014. Lehmann, Jörg/Sylke Stehle (Hg.): Die Liebenthaler Pferdeherde, Karwe 2010. Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit (Unruhe Bewahren), Wien/Salzburg 2020. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. III, Teil 5: Die Wahrnehmung, Bonn 2005.

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Berühren und berührt werden

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Berühren und berührt werden von Artefakten

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Michael Uzarewicz

Berühren und Spüren – Versuch über die leibliche Kommunikation zwischen Menschen und technischen Objekten

1. Einleitung: Mensch und Technik Der Diskurs über die Technik führt zurück auf die Frage, was es heißt, Mensch zu sein. Die Technik ist der Ursprung, sie ergänzt das Tier zum Menschen. Als Einzelner kommt er nicht vor, er ist immer in Gegenwart anderer Entitäten, nicht nur anderer Menschen. Seit wir vom ›Menschen‹ reden, begleiten ihn auch von ihm selbst erfundene und in die Welt gesetzte Entitäten, die wir ›Werkzeuge‹ oder ›Spiel­ zeuge‹ nennen. Alles kann zum Werkzeug oder Spielzeug werden, wenn wir es als solches benutzen oder verstehen. Technik, verstanden als spielerische, erfindende und herstellende Tätigkeit und als Produkt dieser Tätigkeit, ist keine Einbahnstraße, sondern rekursiv. Denn die Technik treibt sich nicht nur selbst an: Eine Erfindung jagt die nächste. Sie treibt auch uns an. In der Technik, mit der Technik (er)finden wir uns gewissermaßen selbst, da uns Technik nicht immer als abstraktes Gegenüber erscheint, sondern (vor allem) konkret in ihrem Gebrauch durch uns. Die phänomenologische Antwort auf die Frage, wie uns Technik begegnet oder erscheint, kann also gewöhnlich nur lauten: in ihrer jeweiligen Praxis als etwas.1 Aber auch in Situationen, in denen wir nicht selbst technische Objekte gebrauchen, erkennen und nehmen wir in ihren Werken doch wahr, dass sie nicht durch Zufall entstanden, sondern intelligent gemacht sind; und zumeist wissen wir auch, wofür. Wir erkennen ein Fahrrad auch, ohne dass es jemand fährt oder gar, dass wir selbst Fahrradfahren gelernt hätten. Ebenso 1 Mit ›Praxis‹ ist gemeint: sowohl die Art und Weise, wie mit ihr umgegangen wird, als auch, wie sie sich als technisches Objekt oder Ensemble selbst darstellt und auf uns wirkt. Damit ist also mehr gemeint als nur der Gebrauch durch ein Subjekt.

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erkennen wir eine Maschine als Maschine, ohne dass wir immer wüssten, wozu sie dient, wie sie funktioniert oder dass wir sehen, dass sie von jemanden bedient wird. Aber das ist noch nicht alles. Technik begegnet uns auch als ein Problem (Störung, Verselbständigung), als Produkt, (un)auffällig, monumental, als Dienliches, Verwertbares, als Ansprechendes usw., weil wir sie so in den Blick nehmen. In dieser Perspektive ihres ›Als-etwas‹ begegnet uns die Technik allerdings nicht nur kognitiv; diesen Sachverhalt hat Heidegger geklärt. Die Technik begegnet uns auch leiblich, sie rückt uns auf den Leib. Heidegger hat zwar nach der Technik gefragt, aber ohne den Leib einzubeziehen, Schmitz hingegen hat den Leib expliziert, ohne die Technik zu thematisieren.2 Die technischen Objekte und Ensembles wirken in ihrer Art, uns zu begegnen, auf uns zurück: Wir berühren sie und sie berühren uns. Was uns begegnet, berührt uns. Aber wie, auf welche Weise berührt uns Technik? Auf welche Weise berühren wir Technik? Mit diesen Fragen hängen zwei weitere zusammen: Was ist ›Technik‹? Was heißt ›berühren‹? Im Folgenden benutze ich die Verben ›berühren‹, ›betref­ fen‹, ›beeindrucken‹ (›imponieren‚), ›kontaktieren‹, ›besuchen‹, ›spü­ ren‹, ›bewegen‹‚ u. a. m. synonym.3 Sie haben zwar unterschiedliche Konnotationen, gehören aber alle in ein Bedeutungsfeld, und sie sind alle Formen der leiblichen Kommunikation. Außerdem möchte ich 2 Im Unterschied zu Heidegger hat Schmitz, und mit ihm die große Mehrheit der Neophänomenologen, zumindest explizit, erstaunlich wenig zur Technik gesagt. Ich selbst habe mich aus Sicht einer noch im Werden befindlichen neophänomenologi­ schen Soziologie an der Technik versucht (vgl. Uzarewicz 2011: 293–332). 3 Natürlich gibt es noch vielerlei andere Konnotationen von »Berühren« und »Berüh­ rung«, etwa noch das Erwähnen eines Menschen oder das Anfassen eines Themas, das Zusammentreffen von feindlichen Gruppen (Feindberührung, Feindfühlung), das Bereisen von Ländern oder Städten (»Wir haben Paris links liegen gelassen und nicht berührt.«). Hinzu kommt das ganze Wortfeld des Rührens, das sich wiederum auffä­ chert in leibliche Aspekte (berührt-sein, rührend, rührselig usw.) und in körperlichtechnische (umrühren, anrühren). Ich nehme das Wort ›berühren‹ nicht so streng wie Heidegger, der Berührung nur als »Begegnung« zwischen sich auch so verstehenden weltlich Daseienden gelten lässt, nicht aber für weltloses Seiendes, wie etwa Steinen (Heidegger 1993: 55f.). Ich akzeptiere, dass sich Steine nicht begegnen; ich meine aber, dass sie ›sich‹ (körperlich) berühren können. Zur Kommunikation zwischen weltlichem Dasein und weltlosem Seienden sagt Heidegger (hier) nichts, obwohl er den Begriff der Begegnung so verwendet, dass sich Dasein und anderes Seiendes begegnen, etwa wenn er z. B. vom Zimmer als das »Nächstbegegnende« spricht (ebd.: 68), so wie offensichtlich alles Zeug begegnet (ebd.: 69). Grundsätzlich reserviere ich den Begriff des Berührens für eher zarte Kontakte, nicht für harte Kollisionen.

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mit dieser Vielfalt an Begriffen auf den Umstand zumindest schon mal hinweisen, dass das Berühren keineswegs nur das Privileg eines besonderen, etwa nur des haptisch-taktilen,4 Sinnes wäre. Schmitz wehrt das als »separatistischen Sensualismus« ab.5 Der Technik als solcher begegnet man nie, immer nur bestimm­ ten Erscheinungsweisen. So kann man fragen: Ist die Technik über­ haupt ein Phänomen, so wie z. B. die Kraft, die Angst oder der Hunger Phänomene sind? Ein Phänomen ist das, was sich von sich her als etwas zeigt. In diesem Zeigen als etwas mutet das Phänomen jemanden an, indem es ihm auf besondere Weise erscheint. Diese besondere Weise ist keine Sache oder Ding, sondern ein Sachverhalt.6 Ein Sachverhalt zeigt, wie und als was sich eine Sache verhält. Was das Phänomen als Sachverhalt ist, zeigt sich dadurch, wie es sich verhält, wenn es sein gelassen wird, wie es jemanden anmutet, und auch bei manchen, wie es gebraucht wird. Phänomenal ist das technische Verhalten der Objekte, d. h., wie sie jemanden anmuten, auffordern, angehen, berühren. Man kann mit Heidegger auch sagen: auf welche Weise sie (an)wesen.7 Unmittelbar damit zusammenhängend sind die »statio­ näre[n] optische[n] Gestalten«, aber auch die bewegten, etwa wenn es sich um Maschinen handelt, von Wichtigkeit, die sich durch ihre »Abhebung als Figur von einem Hintergrund«8 bemerkbar machen. Die bewegten Gestalten müssen sich keineswegs auf feststoffliche Objekte beschränken, auch Melodien – Schmitz spricht von »zeitlich verlaufenden«9 – sind Gestalten, die nicht nur, wie z. B. immobile Zäune, Bäume, Türme usw., Bewegungen suggerieren, sondern (in) Bewegung sind. Unabdingbar gehören die Gestalten zum Verhalten, die sich einmal bewegt und ein andermal unbewegt zeigen und anmuten. Technik zeigt sich somit auch in spezifischen Gestalten10 Haptische Berührung bezeichnet die aktive Wahrnehmung, taktile Berührung die passive. 5 Schmitz 1989: 8ff. 6 Schmitz 1990: 54ff.; ders.: 2003: 1f.; ders.: 2009: 13. 7 Heidegger wird oft unterstellt, er würde nach dem ›Wesen‹ als einer Essenz, einer Substanz fragen, tatsächlich versteht er ›wesen‹ aber (zumeist) als Verb. 8 Schmitz 1998b: 275. 9 ebd.: 275. 10 Die sich in gewisser Weise auch verhalten, indem sie (in Richtungen) verlaufen und dadurch Bewegungen suggerieren: »Die Bewegungssuggestionen, namentlich die Gestaltverläufe, haben eine Schlüsselstellung in der Wahrnehmung, weil sie vom 4

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(als Auto, Flugzeug, Messer, Computer usw.) und in besonderem Verhalten (mechanisch, algorithmisch, regelhaft starr auch in ihrer Dynamik),11 die zumeist (noch) unmittelbar bemerkt werden. Die Intention dieses Versuchs ist es, das Verhältnis von Leib und Technik mit Hilfe vor allem der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz und der phänomenologischen Philosophie Martin Heideggers zu klären.12 Dabei leitet mich der Eindruck, dass es zwischen beiden, bei allen sonstigen Unterschieden, in diesen Phäno­ menbezirken durchaus Gemeinsamkeiten gibt. Heidegger hat ergie­ bige Vorarbeit geleistet für eine Neue Phänomenologie der Technik, die ihren Ausgang nimmt von den subjektiven Tatsachen des affekti­ ven Betroffenseins und sinnlichen Begegnungen, die hier am Beispiel des eigenleiblichen Spürens von ›Berührungen‹ thematisiert werden. Das Ziel ist es, darauf aufmerksam zu machen, welche Gewinne und Verluste anstehen, wenn wir uns als Menschen von technischen Ensembles sukzessive die Berührung mit technischen Objekten und den rohen Stoffen in der Welt aus der Hand nehmen lassen.

2. Soziotechnische Ensembles: Die Mitwelt13 der Menschen Wir haben es als Menschen nicht nur mit anderen Menschen und wei­ teren kompakten Dingen, wie Tieren, Pflanzen, Steinen und fragilen

leiblichen Befinden zum Wahrgenommenen (und umgekehrt) eine Brücke schlagen.« (Schmitz 1989: 43). 11 Dagegen würde ich allerdings davon absehen, das Technische vor allem – im Unterschied zu Sport, Spiel oder Kunst – im Nutzen, in der Absicht oder in ihrer Zweckgebundenheit zu begreifen, denn die sind nicht nur kulturrelativ, sondern auch dem Phänomen oft gar nicht zu entnehmen. Schließlich werden auch im Sport und im Spiel Regeln und Techniken angewendet, und auch die Kunst bedarf technischer Prak­ tiken. 12 Gleichwohl beziehe ich auch andere Theoretikerinnen und Theoretiker mit ein, wo es mir sinnvoll erscheint. 13 ›Mitwelt‹ ist ein Begriff, der sowohl von Helmuth Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 1975 [1928], Alfred Schütz (Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Frankfurt a. Main 1991 [1932] und Martin Heidegger (Sein und Zeit, Tübingen 1993 [1927] benutzt wurde; der Sache nach, wenn auch nicht dem Wort, auch von Max Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos 1966 [1929].

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Halbdingen,14 sondern auch mit technischen Objekten, im Sinne von Heidegger: mit Zeug,15 zu tun, die uns berühren. Worin aber besteht die soziotechnische Kommunikation mit den technischen Objekten?16 Wir erlernen sie, indem wir mit den Objekten durch Körper- und Leibbemeisterung koagieren und sie berühren. Berührung ist für Menschen (und auch für viele andere Tiere) immer auch leiblich, nicht nur körperlich. Mit allen Entitäten heißt es, sich zu arrangieren. Solche Arrangements finden im Ensemble statt.17 Ensembles setzen voraus, dass die in ihnen involvierten Entitäten Kontakt haben. Mittels ver­ schiedener Formen des Kontaktes nehmen wir Einfluss, üben wir in einem Kräftefeld Macht aufeinander aus. Jeder Kontakt, etwa eine haptisch-taktile oder eine affektive Berührung hinterlässt Spuren, lässt etwas in den anderen Entitäten zurück. Insofern ist immer etwas von uns in den Anderen, und von den Anderen in uns. Das gilt explizit auch für technische Objekte, die wir berühren und von denen wir berührt werden. Wir Menschen haben in antagonistischer Koopera­ tion mit anderen Entitäten (Tieren, Werkzeugen, Werkstoffen usw.) diese Objekte geschaffen, sodass etwas in und an ihnen menschlich ist, und in Rückwirkung auf uns, ist etwas in und an uns dinghaft. Die anderen Entitäten – einschließlich der technischen Objekte – sind also ebenfalls an unserer Erschaffung als mit ihnen kooperierende Menschen beteiligt. Der Mensch »ek-sistiert und darum niemals nur sich selbst begegnen kann«.18

14 Dazu zählen z. B. der Regen, der Nebel, das Wasser, der Schnee oder der elektrische Schlag. Vgl. Schmitz 1989: 116–139. 15 Heidegger 1993: 68. 16 Von ›soziotechnisch‹ spreche ich, wenn mindestens eine leiblich strukturierte Entität involviert ist, von ›technisch‹, wenn nur nicht-leibliche beteiligt sind, wie z. b. bei der Kommunikation zwischen zwei Geräten. 17 Sieht man von reinen Liebes-, Freundschafts- oder Hassbeziehungen ab, so sind menschliche Beziehungen sehr oft bedingt, d. h., dass ihre Beziehungen ihren Veran­ kerungspunkt in Dingen und technischen Objekten haben, um die sie sich verdichten und mit denen sie Ensembles, »Orte der Versammlung« (Luckner 2008: 114f.), bilden. 18 Heidegger 2000: 28.

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Die Technik – die technischen Ensembles,19 die Technologie (die Hochzeit von Wissenschaft und Technik),20 noch nicht so sehr die individuellen technischen Objekte – schneidet die direkte Berührung zwischen uns und der (natürlichen) Mitwelt weitreichend ab, sodass wir ihr kaum noch unvermittelt begegnen.21 Nicht nur das »unbe­ waffnete Auge verliert [im 17. Jahrhundert] seinen privilegierten Zugang zur Welt«22 an technische Apparaturen. Mittels der Techniken konstruieren wir die Umwelt und holen sie in die Mitwelt: »Nur weil wir aus dem, was die Natur uns gibt, die objektive Gegenständlichkeit einer eigenen Welt errichtet, weil wir in den Umkreis der Natur eine nur uns eigene Umgebung gebaut haben, die uns vor der Natur schützt, sind wir imstande, nun auch die Natur als einen ›Gegenstand‹ objektiv zu betrachten und zu handhaben.«23 Und in diesem Sinne sind wir immer schon Techniker, die die (leblosen) Dinge vernichten, um sie als artifizielle Sachen,24 z. B. als technische Objekte, wieder auferstehen zu lassen und verfügbar zu machen. Die Technik, die 19 Den Begriff des technischen ›Ensembles‹ übernehme ich von Gilbert Simondon, ebenso wie den des technischen ›Elements‹ und der technischen ›Individuen‹ (Simon­ don 2012). Die technischen Elemente und Individuen entsprechen den sozialen auf der Mikroebene. Hier können wir die technischen Objekte berühren und mit ihnen leiblich kommunizieren. Als technische Objekte verstehe ich, anders als Simondon, aber mit Hayles (2021: 199), auch Werkzeuge, denn ich sehe keinen guten Grund, Werkzeugen ihren technischen Charakter abzusprechen, zum Beispiel des ›Griffs‹; siehe dazu das Kapitel über »Haptisch-taktiles Berühren und leibliche Anmutungen«. 20 ›Technologisch‹ meint darüber hinaus, im Unterschied zu bloß ›technisch‹, ein umfassendes Ensemble, ein System technischer Objekte, die miteinander verbun­ den sind. 21 Zur ›Berührung‹, die nach Hasse dadurch charakterisiert sei, dass sich kein Medium zwischen den sich Begegnenden schiebe, vgl. denselben, mit Bezug auf Romano Guardini, in diesem Band. Warum diese vermittelte Berührung aber keine »echte« sein soll (Hasse 2005: 75), erschließt sich mir nicht. Denn dass uns die Technik die Welt nicht mehr mit den eigenen Sinnen erfahren und nicht mehr leiblich spüren lässt, scheint mir nicht zutreffend zu sein, wie wir noch sehen werden. Vgl. dazu das Kapitel über »Haptisch-taktiles Berühren und leibliche Anmutungen«. 22 Schmitz/Stiegler 2020: 293. 23 Arendt 1981: 125 24 Ich differenziere zwischen natürlichen (›wilden‹) Dingen und artifiziellen (›domes­ tizierten‹) Sachen. Zu jenen zählen z. B. (unbegradigte) Flüsse, Steine oder (wild-wachsende) Pflanzen, zu diesen technische Objekte, Kunstwerke, Bauwerke, Schmuckstücke, Spielzeuge. Beide, Sachen und Dinge, sind eine »Synthesis von Stoff und Form« (Heidegger 1977: 11). Aber nur die Sachen sind (von Menschen) geformte Dinge. Natürlich haben auch Steine eine Form, aber sie sind ohne die Menschen entstanden. Heidegger nennt sie »Eigenwüchsige« (ebd.: 13) und »bloße Dinge« (ebd.: 14).

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nurmehr indirekte Berührung mit der Mitwelt, ist der Preis dafür, dass wir in der Welt als Menschen sein können. Technik, Mensch und Welt sind gleichursprünglich. Aber wir bemerken sie gar nicht, weil uns die Technik nur berührt, wenn wir sie explizit in den Aufmerksamkeits­ horizont heben oder wenn sie sich aufdringlich bemerkbar macht. Die dienlichste Technik ist jedoch die, die so in die Lebenswelt absinkt, dass sie selbst und ihr medialer Charakter nicht auffallen. Ich bevorzuge den Terminus Mitwelt gegenüber dem der Umwelt, weil wir uns nicht diskret von einer Welt, verstanden als ›Umwelt‹, isolieren können; die Welt durchdringt uns, wir durchdrin­ gen die Welt: Wir sind in ihr, nicht außerhalb,25 nicht extramundan, sondern intra muros, weil wir zugleich auch nicht bloß in uns selbst solipsistisch abgekapselt sind, sondern uns entäußern.26 In einer Umwelt (be)findet man sich nicht, nur in einer (phänomenalen) Mit­ welt kann man sich (be)finden und darauf besinnen.27 Anders gesagt, »das Dasein […] ist seiner primären Seinsart nach immer schon ›draußen‹ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt. Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren Sphäre, sondern auch in diesem ›Draußen-sein‹ beim Gegenstand ist das Dasein im recht verstandenen Sinne ›drinnen‹, d. h. es selbst ist es als In-der-Welt-sein, das erkennt«.28

Es bleibt auch im Wahrnehmen und Berühren bei den anderen leben­ den und leblosen Entitäten in der Welt, 29 aber nicht in privilegierter 25 Die »Seinsverfassung« des Daseins ist »das In-der-Welt-sein«, (Heidegger 1993: 53) und als solches ein »Existenzial«. (Ebd. 54). Das (implizite) Denken und Handeln in Kategorien der Umwelt, hat sicher nicht wenig zu den heutigen Umweltproblemen beigetragen, weil sich so z. B. Abfälle leichteren Herzens entsorgen lassen (Aus den Augen, aus dem Sinn!), als wenn man sich vergegenwärtigt, dass man in einer Mitwelt lebt. Mit der eigenen Wohnung geht man pfleglicher um und entsorgt in ihr gewöhn­ lich keinen Dreck, weil man dann ja mit ihm leben müsste. In diesem Sinne wird dann der umweltlichen Natur begegnet: »Der Wald ist Forst, der Berg Steinbruch, der Fluß Wasserkraft, der Wind ist Wind ›in den Segeln‹.« (Ebd., S. 70) Alles nur noch zuhan­ denes Zeug, mit dem man umgeht, um zu …. Dieser Logik entgehen auch die Kritiker nicht, die sich auf ›Nachhaltigkeit‹ verpflichten. 26 vgl. Schmitz 1989: 74. 27 vgl. Heidegger 1993: 135 28 ebd.: 62. 29 Dem widerspricht nicht, dass die meisten Entitäten an sich weltarm oder weltlos sind, und »weltlich« »eine Seinsart des Daseins ist« (Heidegger 1993: 65); trotzdem sind sie in der Welt, ohne eine zu ›haben‹. Denn für uns ist alles weltlich – Heidegger

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Position. Die niemals fixe »Stellung des Menschen im Kosmos« (Max Scheler) ist immer irgendwo (exzentrisch) zwischen allen anderen Entitäten, aber nicht im Zentrum, da alles in Bewegung ist. Die Welt ist nicht um uns herum, sie ist nichts, was sich ursprünglich konstella­ tiv um uns herum aufbaut oder anordnet.30 Alles ist mittendrin. Zur digitalen und diskreten Konstellation wird die Welt erst durch (sozio-) technische Ensembles, die dadurch aber die analogen und indiskreten Situationen zersetzen und Netzwerke konstruieren. Die Kommunikation in der Welt ist osmotisch. Das Grenzre­ gime zwischen Artefakten und menschlichen Körpern ist in phäno­ menologischer (nicht in physiologisch-physikalischer) Hinsicht eine fließende liminale, indiskrete Struktur und keine (unüberwindliche) Linie oder (ontologisch) undurchdringliche, diskrete Wand,31 d. h., es findet ein permanenter wechselseitiger Transfer statt. Wenn jemand locker oder fest mit einem Stock in der Erde wühlt oder bohrt, oder mit einem Messer in ein Stück Fleisch oder in einen Apfel schneidet, so spürt er sich in bzw. an der Leibesinsel ›Hand‹, den Stock, die Erde (oder das Fleisch) an der Spitze des Stockes oder – im Falle des Messers – auch an der Schneide. Er spürt sich, indem er Andere/s mit den Händen (oder anderen Körperteilen) berührt.32 Die Grenzen sind nicht überall fest und starr, nicht eindeutig, sondern mehrdeutig und flexibel. Das liegt daran, dass die Grenzen von labilen Leibern über die von stabilen Körpern hinausreichen (wie z. B. der Blick, das Gehör, der Geruch, der Atem), aber auch in sie hineinreichen. Der Blick z. B. ist

spricht von der »Weltmäßigkeit des Zuhandenen« (ebd. 80) –, weil ein jegliches teil hat an der Bedeutsamkeit des Zusammenhangs der Welt. Es begegnet, es berührt uns, es zeigt sich als Bedeutungsvolles. 30 Heidegger 1993: 63ff. zum »In-der-Welt-sein«. Leider benutzt Heidegger selbst den Umwelt-Begriff (ebd., S. 57ff., sodann vor allem S. 66ff.), obwohl er an anderer Stelle davon spricht: »Die Welt des Daseins ist Mitwelt.« (Ebd., S. 118) 31 vgl. Barad 2020: 44ff. 32 Die Berührung wird umso intensiver, je größer die Flächen sind, die sich berühren. Eine punktuelle Berührung wird erst intensiv, wenn sie nicht mehr nur Berührung ist, sondern mit größerem Druck ausgeübt wird. Der Kontakt mit der eindimensionalen Fläche übertragt sich dann in mehrdimensionales räumliches Spüren. Wie man an diesem Beispiel bemerken kann, ist Leibliches nicht nur das, was man von sich spürt, ohne Zuhilfenahme der Sinne. Leiblich sind auch die sinnlichen Berührungen. Ohne sinnliche Berührungen würde man tatsächlich nur eigenleibliche Regungen, wie die Angst oder den Hunger, spüren, aber nichts, was seine Quelle woanders hat. Würde man vollständig von den Sinnen isoliert, könnte man nicht einmal Gefühle und Atmosphären wahrnehmen.

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zwar unumkehrbar in die Weite gerichtet, aber das Erblickte ›blickt‹ gewissermaßen zurück und berührt uns; noch deutlicher ist das beim Gehör, beim Geruch, beim Atem. Leiblich kommunikativ tauschen wir mit anderen Entitäten Blicke, Gerüche, Töne, Luft, Ein- und Aus­ drücke miteinander aus, aber keine Körper-Organe (wie etwa techni­ sche Ensembles einzelne technische Elemente austauschen).33 Der Leib ist nicht nur körperlich, und nicht nur das, was man an sich selbst von sich selbst spürt, sondern auch das, was man an sich selbst von Anderen/m, in dem oder das jemand leiblich versinken kann, spürt. Zur Mitwelt gehört also alles, was wir wahrnehmen können, und d. h., alles, was leiblich kommuniziert wird. Leiblich kommunizieren wir auch mit natürlichen Dingen und technischen Objekten. Wir berüh­ ren sie sinnlich und sie berühren uns sinnlich und affektiv. Das ist keine bloße Kopplung, kein bloßer Kontakt, das ist eine wechselseitige Durchdringung als Bildung von Ad-hoc-Leibern. Die Welt besteht aus beidem: aus labilen (ephemeren) und stabilen (festen) Entitäten. Aber nur dort, wo Leiber vorkommen, dort kann es soziale Beziehungen geben, wo nicht, gibt es nur rein technische Kommunikation als Datenaustausch. Technische Kommunikation konstituiert aber als solche noch keine Welt, das kann nur leibliche Kommunikation, die gleichzeitig in die Mitwelt involviert ist. Die Welt kommt mit der leiblichen Kommunikation. Eine Welt konstituieren, das kann, nach Blumenberg, schon eine Klapperschlange,34 aber kein technisches Objekt. Berühren ist im Modus des Spürens immer räumlich und kein bloßer punktueller Kontakt an den Oberflächen; und nur in diesem Modus kann die Kommunikation in die Tiefe gehen. Im Modus des Nur-Technischen bleibt Berührung immer oberflächlich, weil sie nicht gespürt, nicht verstanden, nur registriert (›eingetragen‹, ›verbucht‹), also lediglich zur Kenntnis genommen wird. Hermann Schmitz formuliert, Philosophie sei das Sichbesinnen auf ein Sichfinden in einer Umgebung.35 »Es ist prinzipiell unmöglich, das Sichfinden gegen das Finden der äußeren Umgebung scharf abzu­ grenzen. Wer sich findet, findet notwendig mehr als sich. […] Jeder Mensch findet sich in einer Umgebung.«36 Diese Umgebung ist heute technologisch. Das Sichbesinnen weicht dabei unter der Dominanz 33 34 35 36

vgl. Hayles, 2021: 216. vgl. Blumenberg 2006: 837; Uzarewicz 2011: 52. Schmitz 1998a: 15. Schmitz 1990: 14.

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der modernen Technik zunehmend der Berechnung. Es ist jedoch ein Missverständnis zu glauben, dass die errechnete Feststellung ortsräumlicher Positionen mit einem Sichbesinnen auf ein Sichfinden in der Welt identisch wäre.37 Besinnen und Finden kann man sich nur unter Beteiligung der Sinne auf die Sache und Dinge in Reichweite. Bringt man die Sachen und Dinge auf Distanz, so berühren sie uns nicht. Erst wo eine (von mir) auf Distanz gebrachte Umwelt ist – in der systemtheoretischen Sprache: wo eine Differenz von System und Umwelt existiert –, da ist ein Medium, eine Vermittlung notwendig. Eine Umwelt ist gegenüber der Mitwelt38 eine sekundäre Welt, weil sie ein Konstrukt ist, auch wenn wir das so nicht mehr wahrnehmen, weil die Technik als Meta-Ensemble unser umfassendes (leiblich, körperlich, kognitives) Exo-Skelett geworden ist. Die technischen Ensembles sind also die Separateure von unserer natürlichen Mitwelt und die Medien39 zu einer von ihnen selbst transformierten Welt, zum Technotop. Zur nun soziotechnischen Welt braucht es soziotechnische Zugänge.40 Die Technik übernimmt unsere Berührungen (nicht aber unser Berührtwerden) und macht sich selbst zu unserer Quasi-Mit­ welt. Wir berühren immer häufiger nur noch technische Objekte, wie die ›zivilisierten‹ Menschen das seit langem vom Essen mit (verschiedenen) Bestecken und der Benutzung von Waffen gegen Feinde kennen. Menschen bringen Objekte zur Welt, indem sie mit (natürli­ chen) Dingen kommunizieren. Mit Dingen kommunizieren, was

Heidegger 1959: 15. Über die man natürlich über die verschiedenen Sprachen und Kulturen vermittelt verschiedene Ansichten haben kann. Zunehmend schaltet die moderne Technik alle gleich zu einer technischen Weltansicht. Das trägt sicher zur allgemeinen Verständi­ gung bei, aber auf Kosten abweichender Sichten, weil alle nur noch das Gleiche sehen, denken, meinen. Das wird die Kreativität und Innovativität letztlich auch der Technik selbst eliminieren. 39 Weil sie Medien sind, sind sie jedoch keine Isolatoren. 40 So besehen greift Heideggers Rekurs auf »ein Zeugganzes« (1993: 68) zu kurz. Zeugganzes kann man verstehen als technische Ensembles. Aber technische Ensem­ bles kommen nicht, ebenso – wie Heidegger ganz richtig sagt – wie Zeug, nie ohne Zeugganzes, ohne diejenigen Entitäten vor, die mit ihnen in übergeordnete soziotechnische Ensembles verbunden sind. Das Zeug bleibt nie unter sich, weil es dann kein Zeug mehr wäre, weil es dann nicht mehr wäre »wesenhaft ›etwas, um zu …‹“ (ebd.). Zeug bzw. technisches Objekt ist immer Zeug oder technisches Objekt für jemand, sonst ist es nur bedeutungsloses Ding, das uns nicht berührt. Es ist nur vorhanden. 37

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mehr ist als nur ein Austausch von Informationen, können nur leiblich strukturierte Lebewesen. Kommunikation ist zunächst einmal ›wahrnehmen‹, indem die leibliche Dynamik den Leib »mit etwas verbindet«.41 Dinge nehmen nicht (etwas für) ›wahr‹. Anders gesagt: Die Dinge brauchen vor allem Menschen, um zu Objekten zu werden, die mit Hilfe von Menschen als Vermittlern kommunizieren können. Das heißt also, dass auch die Menschen Medien sind für die Dinge und Objekte, und die Dinge für die Menschen und die technischen Objekte. Die Welt als Kräftefeld wechselseitiger Beeinflussungen ist eine mediale Welt, in der alle Entitäten füreinander Medien sind. Zwischen Natur und Technik gibt es für Menschen keinen Unter­ schied. Das natürliche Verhältnis des Menschen zur Welt ist immer schon ein technisches, weil sie natürliche Dinge technisch benutzen. Wer den ersten Stein geworfen hat, der hat sich schon in ein techni­ sches Verhältnis zur Welt gesetzt. Mit dem ›reinen‹ Naturprodukt Stein können Menschen nichts ›anfangen‹. Es ist der körperliche Leib, der uns in die Welt gehören lässt. Ohne ihn wären wir weltlos wie die Steine. Auch wenn »[d]as Werkzeug […] schon früh die Hand des Menschen [verläßt] und […] zur Maschine [wird]«,42 zum soziotechnischen System wird die jetzt so genannte Umwelt erst spät.

3. Affektives Berührtsein – Die kalte Botschaft technischer Objekte Der Mensch kann berührt oder »getroffen werden, ohne daß seine Physis betroffen ist oder berührt wird«, so Blumenberg.43 Wir kön­ nen affektiv berührt werden, ohne haptisch-taktilen Körperkontakt, aber wir können nicht haptisch-taktil berührt werden, ohne dass es uns zugleich affektiv berührt. Alle Sinne sind leiblich fundiert, sie sind keine Sensoren, keine Registrierautomaten. Sie bereiten dem Leib Kanäle der Kommunikation. In diesem Sinne können wir über mehrere Wege berührt werden, aber auch Andere/s berühren. Kurz gesagt: Das (haptisch-taktile) Berühren berührt uns (affektiv), sonst müssten wir gar nicht darüber reden. Denn, was uns nicht berührt, geht uns nicht(s) an. Jeder Sinneskontakt, etwa der Augenkontakt, affiziert. 41 42 43

Schmitz 2011: 29. Leroi-Gourhan 1988: 270. Blumenberg 2006: 634.

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Affektiv betroffen sein können wir sogar ohne jeden Sinneskontakt, etwa durch unseren Hunger oder Durst. Wird unser eigener Körper berührt, so auch unser Leib. Wir Menschen können technische Objekte berühren und von ihnen berührt werden, aber sie können ›sich‹ von uns nur haptischtaktil oder akustisch betreffen44 lassen, da sie für Affekte nicht zugänglich sind. Sie empfangen nur Signale, die diskret festgelegt und damit auch nicht interpretationsbedürftig sind. Als Kommunika­ tionspartner kommt es nur darauf an, ob sie irgendwie ›da‹ sind, indem sie uns – im Sinne von Anmuten – ansprechen, und dass sie unsere schlichten Berührungen ›lesen‹ (nicht: verstehen, dazu müssten sie Information und Mitteilung differenzieren) können. Es reichen sachliche Informationen; bedeutungsvolle Mitteilungen – z. B. das, was ›zwischen den Zeilen‹ steht – sind nicht nötig. Techni­ sche Objekte verstehen keinen Spaß und keine Trauer, keinen Sinn und keine Bedeutungen. Sie sind affektiv unberührbar. Sie verarbeiten Daten, aber keine Gefühle, Erinnerungen, Erwartungen oder Regun­ gen – es sei denn, diese werden vorher codiert, also in technische Zeichen transkribiert. Betroffen sind sie davon trotzdem nicht. Wobei wir Menschen unsererseits von den technischen Objekten und ihrer Unberührbarkeit betroffen sein können. Das ist die kalte Botschaft technischer Objekte. Diese affektive Kälte der Sachen hat für uns einen (zumeist) negativen affektiven Wert. Manche mögen die kühle Sachlichkeit, aber Säugetiere sind prinzipiell auf Wärme geeicht.

4. Haptisch-taktiles Berühren und leibliche Anmutungen Man kann sagen, dass der Körper, der in die Sinne fallende (moto­ rische) Körper ebenso wie der perzeptive, das primäre technische Ensemble (Körperteile, Muskeln, Sehnen usw.) des Leibes ist. Der (dingliche) Körper und die durch ihn und andere Entitäten ermöglich­ ten technischen Objekte hinterlassen (materielle) Spuren des (halb­ dinglichen) Leibes, die er selbst allein nicht evozieren könnte. Der Körper selbst ist gewissermaßen die materialisierte Spur des Leibes in der Welt. Körper machen Eindruck auf Leiber, Leiber drücken sich mittels Körper aus. Körper sind als Ausdrucksinstrumente des 44

Genau gesagt, kann man bei Objekten nur von ›treffen‹ sprechen.

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Leibes Artefakte; aber sie sind nicht nur Artefakte, weil sie nämlich wachsen, schrumpfen oder auch verwesen. Karafyllis hat hierfür den Begriff ›Biofakte‹ geprägt. Biofakte sind Hybride, die auf den Sachverhalt verweisen, dass sie sowohl gewachsen als auch hergestellt sind. Der homo faber stellt keine „›zweite Natur‹ [her], sondern eine ›zweite Technik‹, die nur als Natur erscheint und in der die Mittel mitwachsen«.45 Seine Hände (und nicht nur die!) sind durch das Greifen, Schlagen, Drücken selbst schon technische Objekte. Die Hände sind nun sicher keine bloßen Artefakte, die hergestellt wurden, die Hände sind in diesem Sinne aber auch keine reinen Biofakte, die gezüchtet wurden. Die Hände wachsen selbst, jedoch auch von selbst und mit anderen Entitäten, die zum kollektiven, ontologischen Habitat des Menschen gehören. Die Hände sind Hersteller und Züchter ihrer selbst: Sie haben ihr Werden und Wachsen, mit Zutun anderer Entitäten, selbst ›in die Hand‹ genommen. Sie haben sich ihre Möglichkeiten und ihr Können in einem langen praktischen Prozess selbst beigebracht. Das ist die Intelligenz der Hände, die es gelernt haben, auf subtile und sensible Weise zu berühren, aber auch brachial und brutal zu agieren. Ebenso haben sie gelernt, zu manchen Entitäten den Kontakt zu beschränken oder ganz zu vermeiden, weil er gefährlich oder ruinös wäre. Das gilt für alle Stoffe (und Energien), mit denen wir zu ›hantieren‹ gelernt haben, die wir aber nicht direkt berühren – bei Strafe schwerer Verletzungen oder Tod, wie z. B. schon früh beim Umgang mit dem Feuer, spät mit glühendem Eisen oder ätzenden Säuren. Der Imperativ dazu lautet: Nimm eine Gabel, nimm eine Zange, nimm ein Schwert! Die technischen Objekte und ihre Ensembles disponieren uns und schneiden uns von Weltteilen ab, die wir immer häufiger nur noch durch Filter wahrnehmen, aber nicht mehr in die Finger nehmen. Gleichzeitig erschließen sie uns neue, bisher unverfügbare Weltteile und machen sie uns verfügbar. Freilich ist das immer noch die alte

45 Karafyllis 2021: 247f. Diese Objekte sind eine »hybride Technonatur« (ebd.: 248); beispielsweise eben die Hand, die unwillkürlich für spezielle und in speziellen Gebrauchsweisen als (archaische) Bio- oder Anthropotechnik mitwächst. Moderne Biotechnologien unterscheiden sich davon nur dadurch, dass sie willkürlich sind. Das soll heißen, dass diese hybride Technonatur »selbst, aber nicht von selbst wächst« (ebd.: 248). Es handelt sich nicht mehr nur um »Artefakte«, sondern um »Biofakte« (ebd.).

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Welt, es gibt keine andere, aber in neuem Design.46 Darin ist die Technik nicht autonom, anders als etwa die Kunst, weil sie (fast) immer zweckgebunden ist. Auch wenn zur Exekution der Zwecke viele Formen möglich sind, etwa Zeug, das zum Fahren oder Fliegen, zum Essen oder Trinken dient. Viele technische Objekte verlangen, mehr noch als die natürlichen Dinge (Steine, Holzstöcke usw.), deren Surrogate oder Imitate sie oftmals sind, nach Berührung, weil sie dazu gemacht wurden. Sie animieren uns, sie zu berühren, mit ihnen umzu­ gehen, wie Heidegger sagt.47 Eine Berührung ist eine Anmutung, das davon Berührtsein ist eine Antwort darauf. Technische Objekte laden uns ein, nicht zuletzt durch besonders ›schöne‹ und ›schmiegsame‹ Formen, sie in die Hand zu nehmen, zu betasten, auf ihnen zu sitzen, zu liegen oder zu stehen. Ja, sie fordern solches Verhalten geradezu, sodass wir uns solchen Nötigungen kaum entziehen können. So mutet uns nicht selten etwa der Griff eines Messers so stark an und fasziniert uns, dass wir ihn ergreifen oder anfassen müssen, und unsere Ant­ wort besteht darin, ihn zu ergreifen. Es bedarf schon sehr expliziter Verbote oder asketischer Übung, um sich den Anmutungen eines ›ansprechenden‹ Messers auf dem Tisch vor uns zu entziehen und die haptisch-taktile Berührung zu verweigern. Solche Anmutungen steigern sich in solchen Situationen geradezu zu Anforderungen. Frei­ lich muss man sich trotz derartiger exigenter Nötigungen einlassen wollen. Hinzu kommt, dass wir durch Berühren zumeist besser etwas begreifen, als wenn wir es nur sehen oder hören. Die Berührung, vor allem mit den Händen, ist ein Erkenntnisinstrument erster Güte. Wenn ein Handwerkszeug im Spiel ist, ist besondere Feinfühligkeit gefragt, weil nicht nur dieses angemessen gehandhabt werden will, sondern mit ihm auch das zu bearbeitende Werkstück. Die an den Hohlgriff der Hand angepassten Handgriffe (auch Handläufe usw.) spielen eine wichtige Rolle, weil die (dominante) Hand mittels dieses Griffes das Werkzeug führt, während die andere Hand, sofern sie von Nöten ist, das Werkstück hält oder das Führen des Werkzeugs unterstützt. Manchmal, bei einigen Werkstoffen, wie etwa Holz, führt dieses Werkstück über das Werkzeug auch die Hände des Handwerkers, z. B. entlang der Maserung oder an seinen Kanten. Immer aber spüren wir, wenn wir mit einem Werkzeug ein Werkstück (oder einen anderen Gegenstand) berühren eine doppelte Berührung: 46 47

Im Design(en) werden die Gestaltverläufe durch Formgebung vorprogrammiert. Heidegger 1993: 69.

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zum einen in der ganzen Hand oder zwischen den Fingern, sodann am Ende des Werkzeugs, das das Objekt berührt. Meisterhafte Hand­ fertigkeit besteht in der gelungenen (ortsräumlichen) Koordination von Werkstück, Werkzeug und den Bewegungen der Hände (bzw. Finger). Solche Koordination gelingt durch ihrerseits koordiniertes Zusammenwirken des Leibes mit dem (richtungsräumlichen) motori­ schen Körperschema.48 Relevant ist hier die »sensorisch gebundene« Eigenbewegung, im Unterschied zur »freien«, die »sich sozusagen um ihrer selbst willen entfalten« kann (Gesten und Gebärden, Laufen und Schwim­ men usw.), dadurch dass sie »mit einem sinnlich wahrgenommenen Gegenstand so beschäftigt ist, daß sie von der Neigung, sich auf diese Wahrnehmung beständig abzustimmen, auf eine im Vollzug merkliche Weise geleitet wird«.49 Zu den sensorisch gebundenen Eigenbewegungen gehören (Be-)Handlungen, in denen das »motorische[.] Körperschema[.] in ein diesem zunächst fremdes Objekt hinein[wächst] beim Behandeln mit einem Werkzeug. Schon längst ist bekannt, daß geschickt gehandhabtes Werkzeug sich phä­ nomenal nicht zwischen den eigenen Körper und das Objekt seiner Anwendung einschiebt, sondern vom motorischen Körperschema so sehr angeeignet wird, daß es sich wie ein neues Glied dem eigenen Kör­ per einfügt, bis zu dem Grade, daß sogar eine sinnliche Empfindlichkeit auf es übergeht.«50

Das (technische) Objekt, das Werkzeug oder eine (nicht jede) Maschine und der körperliche Leib bilden einen gemeinsamen Adhoc-Leib, der sich wieder in alle drei als einzelne aufteilt, wenn die Berührung beendet ist. Das Werkzeug ist also keine bloße ortsräum­ 48 vgl. Schmitz 1998b: 239–273. Selbstverständlich ist das bei Weitem nicht alles, was koordiniert werden muss. Ich nenne nur die einzelnen Finger und Daumen beider Hände, das Handgelenk und den Unterarm, den Blick, die Sitz- oder Standfestigkeit des ganzen Körpers, die Unterlagen, die Halte- und Spannvorrichtungen, die Bewe­ gungen mehrerer Menschen usw. Die Elemente soziotechnischer Ensembles lassen sich gar nicht alle aufzählen. 49 Schmitz 1998b: 260. 50 ebd.: 296, mit einschlägigen Beispielen. Das hier Gesagte gilt zunächst nur für Handwerkszeuge, bei Maschinen wird das Verhältnis wesentlich komplizierter. Zugespitzt könnte man sagen: Das gilt nur für Maschinen, die noch von Hand gesteuert werden und/oder in die man sitzend, liegend, stehend situiert ist; für Maschinen, die nur noch per Knopfdruck angeschaltet werden, und ›unmenschliche‹ Kräfte entwickeln, gilt das nicht.

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liche Verlängerung, sondern ein richtungsräumliches unmittelbares und wechselseitiges mit dem körperlichen Leib ineinander Eingeglie­ dertes oder Angeeignetes, und in diesem Sinne eine Erweiterung des motorischen Körperschemas durch ein neues Körperglied und eine neue Leibesinsel. Die Objekte – sowohl das Werkzeug als auch das Werkstück – werden so zu »quasi-eigene[n] Glieder[n]«51 im richtungsräumlich organisierten motorischen Körperschema. »Der Blick ist eine leibliche Richtung so gut wie der motorische Impuls, der eine Hand beim Greifen oder komplizierteren Tätigkeiten steuert.«52 Ein Griff und seine griffartigen Surrogate sind so gesehen leib­ lich implantierte und nicht nur körperlich angegliederte Werkzeuge. Der Spielraum für Griffigkeit, und dementsprechend für Griffe, ist sehr groß. Vielerlei Dinge haben einen Griff oder einen griffartigen Charakter, wie Stuhllehnen, Tischkanten, Geländer, Schlaufen, Halte­ ringe, Henkel, Klinken, Lenker, letztlich alles, was griffig ist.53 Etwas ganz Analoges gilt auch für Tritte, etwa Leitern, Treppen, Stufen, Gehwege, Pedalen usw. Tritte und Griffe bieten Halt, um sie für Menschen einer praktischeren Kommunikation geeignet zu machen. Sie dienen der Hand (oder dem Fuß), die als körperlicher Leib ergono­ mische Anforderungen an die Mitwelt stellt. Entscheidend ist hier die (An-)Passung an die Form der Hand und die Form des technischen Objekts. Das ist eine wechselseitige Formgebung. Eine wichtige Rolle spielt also die möglichst angenehme Handhabbarkeit, eben die Grif­ figkeit. Griffig ist letztlich alles, was gut in der Hand liegt. Die Formen, Gestalten (und ihre Verläufe), Bewegungen, Strukturen beeinflussen unseren gekonnten (häufig invasiven) Umgang mit den Objekten, wie auch unser (informatives) Denken und unser (eher persuasives) affek­ tives Betroffensein. ›Umgehen‹ heißt immer auch, die technischen Objekte haptisch-taktil (Tasten und Schmecken), d. h. sinnlich, zu berühren. Riechen, Hören, Sehen sind kein solcher Umgang. »Sinnlich heißen [der Phänomenologie des leiblichen Befindens; M.U.] gemäß Wahrnehmungen, an denen Leibesinseln spürbar beteiligt sind. Schmitz 1998b: 299. ebd. 53 Schmitz beschreibt den »willkürliche[n] Handschluss« (1998b: 272) am Beispiel der freien Eigenbewegung, aber leider nicht an einer gebundenen Eigenbewegung an einem Objekt, z. B. einem Griff. Aber das Beispiel lässt sich auch auf die gebundene Eigenbewegung übertragen. Zur Unterscheidung von »willkürlich« und »unwillkür­ lich«, sowie von »willkürlich« und »willentlich« siehe ebd.: 270ff. 51

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In diesem Sinne sind Sehen und Hören im Allgemeinen keine sinnli­ chen Wahrnehmungen, wohl aber das Tasten und das Schmecken, das sich – abgesehen vom nasalen Schmecken – mit spürbarer Beteiligung der Zungengegend abspielt.«54

Wenn wir mit den Dingen umgehen, um aus ihnen Sachen zu machen, müssen wir sie berühren und uns auf sie einlassen. ›Einlassen‹ heißt, von ihnen lernen. Wir müssen auf ihre Eigenschaften, ihre Verhal­ tensweisen, ihr Wesen eingehen; und auf Grund dessen müssen wir mit ihnen auf die richtige, d. h. angemessene Weise hantieren und sie leiblich integrieren. Theoretisches Wissen ist dabei hilfreich, aber letztlich ist der praktische Umgang entscheidend. Somit geht es um ein »Wissen, das durch Berührung und Bewegung in der Hand ange­ sammelt wird«.55 Solches Wissen wird implizit, es wächst in den Leib ein: Man weiß mit zunehmendem Können, wie es geht. Fast alle Dinge und Sachen, mit denen wir umgehen, nehmen wir in die Hand. Es ist selbstverständlich, dass – neben allen anderen Körperteilen – aber nicht nur die Hand als Körperteil im Spiel ist, sondern auch der Leib mit seinen verschiedenen Inseln, die in verschiedenen Situationen jeweils besonders exponiert sind. Wenn man mit der Hand der Form oder der Gestalt eines Dings oder einer Sache nachspürt, wenn man sie nachzeichnet oder auch nur von Hand beschreibt, dann prägen sie sich dem Leibgedächtnis besser ein, weil sie damit in den eigenen Leib aufgenommen werden und wir mit unserem eigenen Leib in die Dinge eingehen. Dieses Ereignis nennt Schmitz ›Einleibung‹. Das geschieht nicht ›im Kopf‹. Einleibung ist keine Einbildung. Nicht immer ist dazu die haptisch-taktile Berührung der Körper notwendig. Auch über die Sprache oder den Blick leiben wir uns in Andere und Anderes ein. Dann berühren wir mit Worten oder Blicken. Keineswegs ist der Handwerker immer ganz bei sich, sondern bei dem Werkzeug und dem Werkstück, denen er sich zuwendet und bei ihnen ist, also außer sich.56 In diesen Momenten ist der Handwerker mental leer, sodass ihm nichts explizit bewusst ist. Sein gekonntes Tun ist in den Händen und den Augen und geht in diesen auf. Der Handwerker berührt noch sehr intensiv und häufig, trotz (oder gerade wegen) der Verwendung von Werkzeugen, die Materialien; der Schmitz 1989: 19. Sennett 2009: 21. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass wir mehr tun als sagen können (vgl. ebd.: 131). 56 vgl. ebd.: 233f.

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Techniker hingegen hat keinen Kontakt mehr zu den Materialien und zumeist auch nur noch wenig zu (Hand-)Werkzeugen, er kontrolliert und steuert fast nur noch Maschinen, die die Handarbeit überflüssig gemacht haben. Mit den Maschinen beginnt die Frustration und Aversion, und gewissermaßen auch die Entfremdung, der Menschen von der Technik.57 Der Primat des Haptisch-Taktilen wird zunehmend ersetzt durch den Primat des Visuellen: Die Kanäle der Einleibung verändern sich. Wir ›berühren‹ die Dinge nurmehr mit den Augen.58 Das ist gewissermaßen die zweite Freisetzung der Hand in der Evolu­ tion der Menschen. Die Evolution des Menschen und seiner Hand scheint aber zu Ende, da es keinen Fortschritt mehr gibt »in der Kraft, der Schnelligkeit und der Präzision der Gesten«.59 Die damit zusammenhängenden Berührungen lehrten uns den befriedigenden Umgang mit den Dingen und den technischen Objekten. Gibt es diese Berührungen nicht mehr, verlernen wir ihn, und wir können dann auch keine Befriedigung daraus ziehen, denn wir sind nur noch Anhängsel, aber nicht mehr Mit-Akteure der Handlung; aus sozio-technischen Ensembles werden immer mehr nur technische. Das Gefühl, selbst etwas gemacht zu haben, geht verloren. Nur die Maschinen, die wir selbst mittels Lenkräder oder Schaltknüppel noch steuern, haben uns etwas von dieser Handlungsmacht bewahrt: Das gilt für Landwirtschaftsmaschinen ebenso wie für Baumaschinen oder Automobile und Motorräder, in denen oder auf denen noch mensch­ liche Subjekte als Steuerleute (Kybernetes) fungieren, das gilt nicht mehr für vollautomatische Transferstraßen oder autonome Maschi­ nen. Im Führerstand moderner Schnellzüge oder in selbstfahrenden Automobilen gibt es keine ›Führer‹ mehr, sie sind als Mitfahrende mehr Alibi als nützlich und nötig.

5. Maschinelle Selbstbewegung und haptisch-taktile Kontakte an den Oberflächen Wir werden von den technischen Ensembles, also den Maschinen(sys­ temen) ja auch deshalb noch affektiv berührt, weil sie sich (wie von) selbst bewegen. Sie haben etwas mit den Lebewesen gemeinsam 57 58 59

Simondon 2012: 107 Gleichwohl bleibt Berührung immer Einleibung. Simondon 2012: 107

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und werden den Menschen immer ähnlicher. Alles, was sich bewegt, bewegt uns besonders. Hier bedarf es keiner Suggestionen oder Phantasien, die Bewegungen leiblich imaginieren, wo physikalisch keine sind. Die Berge erheben sich durchaus, aber nicht von selbst, sondern ›nur‹ wie von selbst.60 Das Automobil hingegen bewegt sich von selbst, das sagt ja schon der Begriff. Die autonome Bewegung ist das entscheidende Moment, weil es so etwas wie Lebendigkeit ausdrückt oder simuliert. Man könnte nun, eine Sentenz von Gotthard Günther paraphrasierend, sagen: Wenn eine Maschine Lebendigkeit simulieren kann, dann ist sie lebendig, weil sie das Wissen hat, wie man Leben simuliert und die Kompetenz, es zu praktizieren.61 So weit will ich (noch) nicht gehen. Den meisten Menschen (einschließlich mir selbst) ist der Unterschied zwischen mechanischen Maschinen und organischen Lebewesen nicht nur bewusst, sie spüren das auch. Woran liegt das? Die Maschinen können Dinge, die wir nicht können. Sie sind uns auf speziellen Gebieten weit überlegen. Damit haftet ihnen auch etwas Numinoses an, das uns berührt.62 Vielleicht (noch) nicht mit ›unbedingtem Ernst‹ (Schmitz), aber doch oft so, dass sie in die Nähe von Spiritualität rücken. Ihnen wird mit Scheu und Respekt, aber auch mit Schaudern und Angst begegnet. Sie werden nicht selten zu verehrungswürdigen Faszinosa. Maschinen sind kraftvoll, ermüden unvergleichlich viel später als Lebewesen, sie sind oft schön, oft aber auch hässlich, sie sind schnell, wo sie schnell sein sollen, und sie nehmen uns mit auf ihre Reisen – und sei es nur der Mäher auf dem Rasen. Dabei erfreuen sie, wenn auch nicht immer, alle Sinne. Viele Menschen lieben nicht nur die Kraft und die Schnelligkeit von Autos, Flugzeugen und Motorrädern, die man ihnen in ihrer Schnittigkeit und Eleganz auch ansieht, oder die Robustheit von Panzern, Bulldozern und Traktoren, sondern mögen auch den Sound der Motoren, den Geruch von Benzin oder Diesel und den Glanz und die Glätte von Chrom und Lack. Die Farbe

Die Zeitspannen, in denen sich Berge von selbst geologisch vertikal erheben oder horizontal bewegen, ist für Lebewesen nicht wahrnehmbar. 61 Tatsächlich sprechen viele Menschen von ihren Maschinen, als würden sie leben (oder sterben), etwa wenn sie sagen, der Motor wäre abgestorben oder die Maschine wäre tot bzw. sie hätte den Geist aufgegeben. Es ist also nicht nur so, dass man Menschen (oder andere Tiere) für Maschinen halten kann, man kann auch Maschinen für Menschen (oder andere Tiere) halten. 62 vgl. Otto 1921: 8ff. 60

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desselben zeigt sich jedoch eher »dahinter«.63 Das Geschmeidige, Glatte, Glänzende und Glitzernde, streng Symmetrische, gleichzei­ tig aber Robuste, Kraftvolle und Schnelle vereint Vieles, was die Menschen nicht oder nur in weniger entwickelter Form ihr Eigen nennen. Auch wenn die Fremdheit, die die Maschinen eher in die Nähe der Insekten rückt, vielleicht niemals vollends schwindet, so entfremden (nostrifizieren) wir uns die Maschinen (oder sie uns) ein Stück weit, indem wir uns an sie gewöhnen, mit ihnen wohnen. Indem der Umgang mit ihnen zur Gewohnheit wird, ist die Berührung mit ihnen nichts Besonderes mehr. ›Nichts Besonderes‹ heißt: keine (unangenehmen) Überraschungen. Heidegger konnte bezüglich des einfachen ›Zeugs‹ noch davon sprechen, dass »[d]as Zuhandene des alltäglichen Umgangs […] den Charakter der Nähe« hat.64 Bei den Maschinen kann davon keine Rede mehr sein, weil sie eben nicht mehr nur zur Hand sind, sondern zur Hand gehen und uns so manches aus der Hand nehmen.65 Zur Hand gehen sie uns auch auf Distanz, wie etwa alle fern- oder selbstgesteu­ erten Geräte (Drohnen, Satelliten, Vollautomaten, Roboter). Es ist sogar, wie gesagt, ein wesentliches Merkmal moderner Maschinen, Distanzen zu überbrücken, gefährliches Zuhandenes auf Distanz zu halten, es zu entfernen.66 Und sie können selbst gefährlich werden, nämlich, indem sie nicht nur wie einfaches Zeug in der Gegend herumliegen oder -stehen können, sondern weil sie uns zur Hand gehen können und Lästiges aus der Hand nehmen, indem sie sich (wie) von selbst bewegen. So sind vielleicht wir es, die ihnen im Weg stehen. Das macht ihnen aber nichts aus, denn der Widerstand, den wir ihnen entgegenbringen können, ist aufgrund ihrer überwältigenden Kraft für sie keiner. Solche Begegnungen können von äußerster Brutalität sein, und vor ihnen muss man zurecht besorgt sein. Wer das nicht glauben will, der hat noch keinen harten Kontakt mit einer Maschine gehabt. 63 Schmitz 1989: 11, mit Bezug auf David Katz. Damit wehrt Schmitz die Meinung ab, der Flächeneindruck entstünde aufgrund der Farbe und nicht der Glätte. 64 Heidegger 1993 102; vgl. Luckner 2007: 50. 65 Es ist absehbar, dass sie uns bald, etwa in der Kranken- und Altenpflege, bei der Hand nehmen. 66 Im Ent-fernen kommen beide Aspekte zum Tragen: der der Entfernung im Sinne von weit entfernt sein oder etwas entfernen, d. h. aus der Nähe bringen, aber auch im wörtlichen Sinne von in die Nähe bringen, von Annäherung, von Distanzen aufgeben, kurz: vom (Ver-)Schwinden-lassen der Ferne.

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Wenn wir mit Maschinen in direkten Hautkontakt kommen, das gilt vor allem für solche, die wir mittels unseren Händen steuern, dann bemerken wir oft, sofern sie nicht mit einem weichen Material überzo­ gen sind, eine gewisse Härte, Glätte und auch Kälte, wenn es sich nicht um temperierte Gerätschaften handelt, die es auch gibt. Auf jeden Fall haben wir es, ganz so wie bei Organismen, immer mit Oberflächen zu tun. Auch wenn wir tief ins Innere von Maschinen eindringen, stoßen wir immer nur auf neue Oberflächen, die sich – zumindest noch – von der bepelzten, behaarten oder unbehaarten Haut unterscheiden. Nach Schmitz sind die Flächen dem räumlichen Leib fremd. Auch von den Sinnen dringen »[n]ur das Sehen und das Tasten […] zu Flächen vor, und auch jene nur, wo ihnen Glattes begegnet«.67

6. Wenn die Technik als Problem berührt: »Noli me tangere.«68 »Du musst in jedem Moment wissen, wohin Du Dich retten kannst!«69

Elias Canettis berühmte Abhandlung über »Masse und Macht«70 beginnt unmittelbar mit der Berührungsfurcht, d. h. der Furcht vor körperlicher Berührung durch Fremdes und Unbekanntes. »Alle Abstände, die die Menschen um sich geschaffen haben, sind von dieser Berührungsfurcht diktiert«, schreibt er.71 Und dieser Distanzierung dient die Technik. Die Technik als Problem tritt erst in Erscheinung, wie erwähnt, wenn sie autonom wird, wenn sie den Anschein erweckt, sie sei lebendig. Das hätten schon die Wasser- oder Windmühlen sein können, die sich rotierend bewegen, wie das Don Quixote erlebt hat. Für ihn waren das lebende Gegner. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein sollten das aber nur vereinzelte Probleme bleiben. Erst mit den Manufakturen und dann – verschärft – mit der Industrialisierung wurde die Technik zu einer großen Irritation. Schmitz 1989: 10. Im Johannes-Evangelium von Jesus an Maria Magdalena gerichtete Satz: Berühre mich nicht! (Joh. 20, 17) 69 Ein Rezensent auf Amazon zum Buch von Bernt Spiegel »Die obere Hälfte des Motorrads«, zuletzt abgerufen am 18.12.2022. 70 Canetti 1980: 9f. 71 ebd.: 9 67

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Heute bezieht sich das Unbehagen eher auf die Kommunika­ tionsmedien.72 Nach Hayles sind durchaus spektakuläre Verände­ rungen durch die Nutzung moderner Kommunikationsmedien73 zu beobachten, die zu einer Abnahme der »Tiefenaufmerksamkeit«74 und einer Zunahme der oberflächlichen »Hyperaufmerksamkeit«75 geführt haben. Produkte altern schneller, werden nicht mehr bis zur Reife getestet,76 bevor sie auf den Markt kommen, wie etwa Computerprogramme oder Impfstoffe. Dadurch schleppen wir einen ganzen »Hintergrund ungelöster Probleme«77 mit uns herum. Nach Simondon markiert das einen »niedrigen Technizitätsgrad«,78 der sich vor allem in der dürftigen Reflexion über Technik, als auch in mangelnder vernünftiger Praxis mit und durch Technik niederschlägt. Der Grad der Technizität, und demgemäß auch der der Kultur, ist, nach Hans Blumenberg,79 Umständlichkeit, nicht den kürzesten und schnellsten Weg nehmen, es sich nicht zu bequem machen. Versteht man unter ›Kultivierung‹ Verfeinerung und Sensibilisierung, so darf man der Technik solche sicher zugestehen. Ihre Formen werden immer feiner und sensibler, aber eben auch immer direkter. Kultiviert wird damit in gewisser Weise die Technik, aber gerade nicht der die Technik Nutzende (oder der von der Technik Benutzte); er dekultiviert, da ihm die Technik die feinen und feinmotorischen, die sensiblen und empfindlichen Tätigkeiten abnimmt. Der Nutzer regrediert aufs Grobe und kultiviert Sensibilität nur noch in Anbe­ tracht von Touchscreens. Diese Sensibilität beschränkt sich auf das treffsichere Tippen auf kleinen Tastaturen und Wischen auf glatten Oberflächen. Die Regression aufs Grobe besteht im Verlust von Feinmotorik und haptisch-taktilem Differenzierungsvermögen, nicht darin, dass nun vom Regredierenden verlangt würde, grobe Arbeit zu verrichten. Der Mensch regrediert zum Grobmotoriker, weil er Sie hierzu Latka: Je näher das Handy, desto dümmer der Mensch? in diesem Band. Hayles 2021: 212 74 »[D]urch die Konzentration auf einen einzigen Informationsfluss gekennzeichnet […]; charakteristisch für sie ist der Wunsch nach längerfristiger und anhaltender Versenkung in ein bestimmtes Objekt« (ebd.: 212ff.). 75 Gekennzeichnet durch »multiple Informationsflüsse, Flexibilität beim raschen Wechsel zwischen Informationsströmen, Empfänglichkeit für Umweltstimuli, eine niedrige Schwelle zur Langeweile« (ebd.: 212ff.). 76 ebd.: 220 77 ebd. 78 ebd. 79 Blumenberg 2007: 140. 72

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der Feinmotorik nicht mehr bedarf und das technische Handeln regre­ diert zum bloßen Initiieren von Prozessen, die dann weitestgehend autonom ablaufen. Tendenz zunehmend. Die Ambivalenz der Tech­ nik(en) macht sich also einerseits in der (immer noch vorhandenen) Möglichkeit bemerkbar, unsere kognitiv-leiblichen Möglichkeiten zu erweitern, andererseits darin, kognitiv-leibliche Kompetenzen von uns abzuziehen und damit einzuschränken. Unterm Strich hat die moderne Technik, nicht jegliche, dazu geführt, dass die Handlungsspielräume jedes Einzelnen wieder klei­ ner werden, da er immer mehr auf Schienen fährt, ausgetretenen Fährten folgt und denkt, was alle denken. Die maschinelle moderne Technik bedarf kaum noch der Anthropotechniken. Wiederholbares, reproduzierbares, einfaches Wissen und Können reicht völlig aus; das ist moderner Analphabetismus, dass die Menschen zwar noch halb­ wegs lesen und schreiben, besonders aber rechnen können, aber sie wissen nicht mehr wozu. Die Technik setzt sie in eine »lückenlose[.] Kette von Determinationen«,80 sodass sie nur noch so handeln, han­ deln können, handeln wollen, wie das von ihnen allgemein erwartet wird. Zwar werden wir von technischen Ansprüchen und Fertigkeiten freigesetzt – wir müssen keine »technischen Individuen«81 mehr sein –, sodass wir nicht mehr Hand anlegen müssen (und auch nicht mehr können), aber auch wenn neue hinzukommen, verlieren wir Fähigkei­ ten, die uns zu denen gemacht haben, die wir sind. Wir degenerieren: »Mit seinen Händen nicht denken können, bedeutet einen Teil seines normalen und phylogenetisch menschlichen Denkens zu verlieren.«82 Im händischen Umgang mit den Dingen (z. B. mit dem Schreiben mit der Hand, dem Schnitzen, Hämmern, Schneiden, Spinnen, Weben usw.) haben wir in Korrespondenz mit der Entwicklung der Sprache unsere Feinmotorik und unsere Intelligenz (Verstehen) ausgebildet. Die Berührung mit den Werkzeugen, aber auch direkt mit den Stoffen (z. B. beim Töpfern) war hier unsere Lehrmeisterin. Eine Chance, diese Fähigkeiten zu behalten, bestände nur, wenn wir bereit sind, die frei gewordenen Fertigkeiten um ihrer selbst zu betreiben, statt sie zu verlieren. In der Kunst, in der Meditation, im Spiel, im Sport – z. T. auch im Hobby – wird das technische Denken, zumindest der Möglichkeit nach, vom Utilitarismus, die praxis von der poiesis befreit. 80 81 82

Jünger 2010: 351 Simondon 2012: 74 Leroi-Gourhan 1988: 320.

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Julia Sellig

Berührungen zwischen Mensch und Technologie – Ein alltägliches Oszillieren zwischen ›Leichtigkeit‹ und ›Kernschmelze‹

Wenn ein Miteinander durch ein Berühren und Berührt werden zu einer »Leichtigkeit«1, in einem anderen Moment aber zu einer erspür­ ten »Kernschmelze«2 führen kann, deutet dies auf ein äußerst span­ nendes aber auch ambivalentes Miteinander hin. Diese Aussagen stammen aus den Aufzeichnungen eines Tagebuchverfahrens. Sie sind aber nicht, wie dies vielleicht einer ersten Vermutung entsprechen könnte, eine Reflexion zu einer geführten Partnerschaft, sondern sie sind Reflektionen von Diabetiker*innen zu ihrem Alltag mit Insulinpumpe und Blutzuckersensor. Dieses technologische System, das neben, am und im Körper für 24 Stunden am Tag getragen wird, formt, prägt oder erweckt gar durch Berührungen ein Befinden von Nutzer*innen. Dabei vollziehen sich diese Berührungen nicht nur rein physisch, sondern sie stimmen zugleich auch ein leibliches Befin­ den von Nutzer*innen: Demzufolge können Berührungen auch als subjektive affektive Betroffenheiten, gemessen an einer Involvierung »mit Anderen, sich selbst und der Umwelt,“3 verstanden werden.4 So stellt sich die Frage, welche Formen des leiblichen Befindens – eben mitgeformt, geprägt oder erweckt von affektiven Betroffenheiten Im Beitrag werden anonymisierte Aussagen von Diabetiker*innen aus einem qualitativen Forschungsprojekt von Sellig herangezogen: Sie stammen zum einen aus einem durchgeführten Diary-Verfahren 2022 nach Kunz (2018) und zum anderen aus einer qualitativen Einzelfallerhebung 2020. Zur Nachvollziehbarkeit werden alle hieraus stammenden Zitate mit der Bezeichnung ›Forschungsprojekt Sellig Jahr, anonymisierter Name der Diabetiker*in, Zeilennummer im Transkript‹ gekennzeichnet. Die hiesige Aussage stammt so vom Forschungsprojekt Sellig 2020, Antonia: 564. 2 Forschungsprojekt Sellig 2022, Stephan: 610. 3 Fritz-Hoffmann 2017: 217. 4 vgl. ebd. 1

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– ein Miteinander von Nutzer*innen und einem technologischen System annehmen kann? Am Beispiel von Diabetiker*innen, die zur Blutzuckerregulation eine Insulinpumpe und einen Blutzuckersensor tragen, wird dieser Forschungsfrage nachgegangen. Beispiele eines leiblichen Befindens – gestimmt durch affektive Betroffenheiten – finden sich im Alltag von Diabetiker*innen zuhauf. Gerade diese Omnipräsenz scheint zu verdecken, dass es diese Qua­ litäten von Berührungen sind, die als Baustein für ein Miteinander in Nähe und/oder Distanz zwischen Nutzer*innen und ihrem technolo­ gischen System fungieren: Eine graphische Anzeige mit unterschied­ lich stark welligen Linien als Darstellung des Blutzuckerverlaufs5 auf dem Display der Insulinpumpe führt zu einer leiblich empfundenen Enge oder Weite und Alarme lösen einen einengenden Stress aus. Das technologische System ist aber zugleich »easy as fuck!«6 und eröffnet damit eine weitende Qualität hin zu einem Wohlbefinden von Nutzer*innen: ›Leichtigkeit‹, Zufriedenheit oder Stolz stellen sich ein, da der BZ in vielen Fällen stabil geregelt werden kann und das, »ohne 24/7 dran [d]enken zu müssen«7. Gleichzeitig empfinden Nut­ zer*innen aber auch eine Verärgerung, ein Gestresst-Sein oder eben eine ›Kernschmelze‹ im Umgang mit dem technologischen System. ›Leichtigkeit‹ und ›Kernschmelze‹ transportieren diese gleichzeitige Ambivalenz bis hin zu einer Ambiguität dieses Miteinanders, das aus einer prozessualen Perspektive in ein ›Zusammenkommen‹ und ›Zusammenseins‹ aufgegliedert werden kann, mit: So spannt sich beispielsweise ein Bedeutungshorizont assoziativ zum Begriff der ›Kernschmelze‹ von einer Fusion bis hin zu einem Zustandswechsel und wird mit Sorge, ja gar Angst, aber auch mit einer Machtdemons­ tration verbunden. Im Beitrag wird der Ablauf des prozessualen sich entwickelnden ›Zusammenseins‹ als auch das Zeitintervall8 dieses ›Zusammenseins‹ unter dem Aspekt von affektiven Betroffenheiten leibphänomenologisch entfaltet. Dabei kann folgendes Ergebnis herausgearbeitet werden: Im ›Zusammensein‹ wird ›Leichtigkeit‹ im leiblichen Befinden von Nut­ zer*innen wahrgenommen. Damit geht eine Zunahme von leiblichen Freiheiten des Subjekts einher: Der Leib ist weiterhin vom ›Zusam­ mensein‹ mit dem System gezeichnet, benötigt aber für dieses soli­ 5 6 7 8

Das Wort ›Blutzucker‹ wird im Folgenden mit ›BZ‹ abgekürzt. Forschungsprojekt Sellig 2022, Stephan: 234. Forschungsprojekt Sellig 2022, Ina: 488. vgl. Sellig 2023b.

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darische Fortbestehen des,Zusammenseins‘ keine gezielte (leibliche) Aufmerksamkeit. So wird der Leib wieder anders ansprechbarer, da eine innerleibliche Aushandlung, d. h. ein Sich-selbst-Spüren, ent­ fällt: Dieser gesteigerten Leiblichkeit soll im Folgenden nachgegangen werden. Hierfür wird zunächst der Berührungsbegriff skizziert und im bestehenden wissenschaftlichen Diskurs verortet (Kapitel 1.1). Damit wird zugleich verdeutlicht, weshalb die Leibphänomenologie als theoretische Fundierung dieser empirischen Arbeit herangezogen wird: Die in dieser theoretischen Perspektivierung zentrale »Topogra­ phie des Leibes«9 ermöglicht zum einen, Subjekt-Subjekt- als auch Subjekt-Technologie(n)-Verbindungen auszuarbeiten und damit zum anderen, affektive Betroffenheiten als Baustein dieser Verbindungen beleuchten zu können (Kapitel 1.2). So können hierauf aufbauend die Schritte einer qualitativen sozialwissenschaftlichen Erhebung skizziert werden (Kapitel 2). Es folgen Erläuterungen zum technolo­ gischen System, das von Diabetiker*innen genutzt wird (Kapitel 2.1). An diesem Fallbeispiel werden die Kriterien der Operationalisierung veranschaulicht (Kapitel 2.2). Sodann wird im folgenden Analyseka­ pitel ein ›Zusammenkommen‹ zwischen Diabetiker*innen und ihrem technologischen System beschrieben (Kapitel 3.1). Schließlich wird ein leibliches Befinden im ›Zusammensein‹ herausgearbeitet, welches zwischen ›Kernschmelze‹ (Kapitel 3.2) und ›Leichtigkeit‹ (Kapitel 3.3) oszilliert. Der Beitrag endet mit der Darlegung des entwickelten Begriffs der leiblichen Freiheiten, welche aus einem ›Zusammensein‹ von technologischem System und dem leiblichen Befinden ›Leichtig­ keit‹ resultieren können (Kapitel 4).

1. Berührung zwischen Mensch und Technologie Zunächst wird ein Einblick in den bestehenden Diskurs zur ›Berüh­ rung‹ skizziert (Kapitel 1.1). Dabei kann ein Forschungsdesiderat her­ ausgearbeitet werden: mit einer leibphänomenologischen Perspekti­ vierung gelingt es, »Berührung […] als affektive Betroffenheit«10 gemessen an einer »eigene[n] Involvierung«11 und damit auch leibli­ 9 10 11

Schmitz 1982: 283. Fritz-Hoffmann 2017: 217. ebd.

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ches Befinden mit technologischen Systemen, dicht zu bestimmen. Zentral ist hierbei, die Bezüglichkeiten zwischen Nutzer*innen und den Technologien herauszuarbeiten (Kapitel 1.2). Dies ermöglicht die Schmitzʼsche Leibphänomenologie und es kann mittels einer quali­ tativen sozialwissenschaftlichen Methodologie ein leibliches Befin­ den im Verhältnis zwischen Mensch und Technologie(n) am Fallbei­ spiel exemplarisch näher beleuchtet werden (vgl. Kapitel 2.2).

1.1 Mehr als Körperkontakt – Berührung im Diskurs Der Begriff Berührung erhält im interdisziplinären wissenschaftli­ chen Diskurs Aufmerksamkeit. Berührung wird dabei meist als Tastereignis verstanden.12 Auch in der Corona-Pandemie wird und wurde sich mit ›Berührung‹ auseinandersetzt, da durch ›physical distancing‹ bzw. ›social distancing‹ etwas mit Berührung und damit auch mit Nähe, Distanz und Interaktion passiert.13 Dabei werden auch Technologie(n) mindestens zu Vermittler*innen und damit ›Brücken‹ zu einer anderen Berührung, Nähe, Distanz und/oder Interaktion. Burow entwickelt hierfür am Beispiel von Videokonfe­ renzen den Begriff des »Leiberspace«14 und führt damit empirisch aus, dass Berührungen eben mehr als Hautkontakt sind. Diesen Aspekt arbeitet Fritz-Hoffmann im Artikel »Grundzüge eines erweiterten Berührungsbegriffs« (2017) eingängig heraus. Unter Heranziehung Plessners15 und Lindemanns 16 legt Fritz-Hoffmann dar, dass Berüh­ rungen mehr als ein Tasterlebnis sind. »Blickkontakte […] [oder] Wortwechsel«17 können beispielsweise auch Berührungen darstellen. Demnach zeichnet eine Berührung aus, dass »eine reflexive subjek­ tive Beteiligung«18 vorliegen muss: »Ein Ego befindet sich in einer Kontaktform mit anderen und ist zugleich reflexiv darauf bezogen und insofern von dieser Kontakterfahrung berührt«19. Hieraus folgert Fritz-Hoffmann, dass Berührung im Subjekt immer einen graduellen 12 13 14 15 16 17 18 19

vgl. ebd.: 203. Steiner und Veel 2021; Thadden 2018; Harth 2020. Burow 2022: 54. Plessner 2016. Lindemann 2014. Fritz-Hoffmann 2017: 214. ebd.: 215. ebd.

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subjektiven Part einer affektiven Betroffenheit auslöst bzw. hinter­ lässt.20 Er greift damit die Leibphänomenologie von Schmitz21 auf. Für Fritz-Hoffmann sind Berührungen final »als unumgängliche Bedingungen des Handelns«22 zu verstehen. Berührung – und in diesem Sinne v. a. affektive Betroffenheit – stellt eine Form von Kommunikation dar. Dieser begrifflichen Schärfung wird im weiteren Verlauf des Beitrags gefolgt. Die Ausarbeitungen zum Begriff der Berührung justieren damit die »Grenzen der Kommunikation«23 neu: »[B]ewusstes kommuni­ katives Handeln und inkorporiertes kommunikatives Tun«24 bleiben stets mit dem Kommunikationsbegriff verbunden. Der Körper – aber v. a. der Leib als Resonanzboden für affektive Betroffenheiten – erhält dabei aber mehr als eine Objektposition, in die sich lediglich Praktiken einschreiben könnten und erst aufbauend hierauf die eigentliche Kommunikationsleistung beginnen könnte. Dies findet sich beispiels­ weise in den Arbeiten – fundiert durch Merleau-Pontys Konzept der »intercorporéité«25 – von Meyer und Streeck26 als auch von Meyer et al.27. Ein Körper besitzt demnach die Fähigkeit seine Grenzen situativ neu zu setzen und kann sich »in andere Körper aus[zu]dehnen und in deren Lebendigkeit hinein[zu]fühlen«28. Dabei ist diese Form von Nähe eben Resultat des Leibes, der nicht in Verbindung mit dem Bewusstsein steht.29 Mit diesem Verständnis der ›Interkorporalität‹ im Moment einer Berührung gelingt es, einen Subjekt-Objekt-Dualismus zu problema­ tisieren, da das Miteinander von einem Selbst und dessen Gegenüber neu verortet wird: Nicht die Grenze zwischen Alter und Ego wird herausgearbeitet, sondern das Einende im »Körperschema«30 nach Merleau-Ponty.31 Dieses Körperschema als »Zur-Welt-sein«32 des 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

vgl. ebd.: 217. Schmitz 2014. Fritz-Hoffmann 2017: 217. Reichertz 2020. ebd.: 11. Merleau-Ponty 1960: 167. Meyer/Streeck 2020. Meyer et al. 2017. Meyer/Streeck 2020: 37. vgl. Fuchs 2000: 63. Merleau-Ponty 1965: 123. vgl. Meyer/Streeck 2020: 39. Merleau-Ponty 1965: 126.

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Leibes ist jedoch »motorisch definiert«33. Zudem wenden Meyer und Streeck die Wechselseitigkeit von Berührungsaktivitäten lediglich auf Mensch-Mensch-Berührungen an.34 Da aber die angeführte Forschungsfrage Formen eines leibli­ chen Befindens im ›Zusammenkommen‹ bzw. ›Zusammensein‹ von Technologie(n) und Nutzer*innen betrachtet, stellen sich Fragen zur Bezüglichkeit von Berührungen bzw. von affektiven Betroffenheiten speziell für dieses Miteinander. Lindemann arbeitet so in ihrer Wei­ terentwicklung der Plessnerʼschen Positionalitätslehre heraus, dass sich eine personale Vergesellschaftung von Technologie(n) vollziehen kann, wenn sich Zuschreibungen mittels »Erwartungs-Erwartungen [erst] im Verhältnis von Alter und Ego«35 abspielen. Es sind [also] nicht organische Besonderheiten, die als Indizien eines personalen Seinsverhältnisses gewertet werden können, sondern es sind einzig Indizien aus der Praxis des Vollzugs personalen Einan­ derseins selbst, die als Hinweise herangezogen werden können, ob Wesen personal sind oder nicht.36

Ob eine Technologie einer personalen Vergesellschaftung zuteilwird, sei hier nicht weiterverfolgt; von Interesse sind die entstehenden Formen eines leiblichen Befindens auf Seiten der Nutzer*innen von technologischen Systemen. Entscheidend hierfür ist dabei aber der Aspekt der Wechselseitigkeit, der eben durch den Vollzug in der Praxis erst geweckt wird. Wechselseitigkeit aber auch andere Aspekte der Bezüglichkeit in diesem Vollzug gilt es im Folgenden näher zu beleuchten. So kann aufbauend auf die knappe Diskursnachzeichnung ver­ deutlicht werden, dass es zur Beantwortung der Forschungsfrage entscheidend ist, zum einen den von Fritz-Hoffmann bezeichneten subjektiven Part einer affektiven Betroffenheit einer Berührung durch eine theoretische Fundierung herauszuarbeiten37, die wiederum zum anderen zugleich diesen zuletzt skizzierten Aspekt der Bezüglichkeit für das technologisch-menschliche Miteinander detailliert aufgreift.

33 34 35 36 37

Kristensen 2012: 28. vgl. Meyer/Streek 2020: 39. Lindemann 2006: 57. ebd.: 55. vgl. Fritz-Hoffmann 2017: 217.

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Dies kann mittels der Schmitzʼschen Leibphänomenologie38 umge­ setzt werden, die im folgenden Abschnitt einführend skizziert wird.

1.2 Affektive Betroffenheit – Berührung leibphänomenologisch wenden Die Leibphänomenologie bzw. Neue Phänomenologie von Schmitz bietet nicht nur ein passendes theoretisches Vokabular für die gestellte Forschungsfrage, sondern ermöglicht ebenso eine sozialtheoretische Fundierung dank einer »Topographie des Leibes«39: Schmitz integriert den Leib in seiner Bedeutung umfassend in ein System von Zeit und Raum. Eine inter- und intradisziplinäre Verschränkung mit der Leibphänomenologie eröffnet so nicht nur für den in den Sozial- und Geisteswissenschaften relevanten Begriff der Interaktion eine erwei­ ternde Perspektivierung: Leibphänomenologisch gewendet bezeich­ net Interaktion eine »Einleibung«40. Diese findet sowohl zwischen Mensch-Mensch als auch zwischen Mensch-Technologie(n) statt. Dem Begriff der ›Einleibung‹ wird sich nun angenähert, da dieser in direkter Verbindung mit affektiven Betroffenheiten steht und somit Aufschluss zum Phänomen der (leiblichen) Nähe und Distanz im Verhältnis mit Technologie(n) gibt. Wichtig ist hierfür zunächst, dass die »zwei Extreme«41 »reine Enge« und »reine Weite«42 als Gegensatzpaar den Leib strukturieren und hierauf jedes leibliche Befinden aufbaut. Sie sind es auch, die den Sinn, ein leibliches Spüren, organisieren. Der Leib selbst ist also nach Schmitz »zunächst das, was ein Mensch in der Gegend seines Körpers von sich spürt, ohne sich auf Zeugnisse der sogenannten fünf Sinne […] stützen«43 zu müssen. Ähnlich wie der Gegensatz von Enge und Weite, durchzieht ebenso eine »protopathische« und »epikritische Tendenz«44 einen Leib und provoziert dieses leibliche Spüren. D. h. etwas Diffuses, 38 39 40 41 42 43 44

Schmitz 2014. Schmitz 1982: 283. Schmitz 2015: 63. Schmitz 1982: 98. ebd.: 75. Schmitz 1993: 36. Schmitz 1982: 143.

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Stumpfes (protopathisch) findet seinen Gegensatz im Spitzen, schrill Anmutenden (epikritisch). So tun sich zwischen diesen beiden Gegen­ satzpaaren auch Verbindungen auf: Ein Schreck hat eine spitze epi­ kritische Tendenz und löst zugleich eine Spannung/Engung aus.45 Hierauf reagiert der Leib, indem eine Schwellung/Weitung folgt.46 Am Beispiel wird ersichtlich, dass eine Balance zwischen Enge und Weite angestrebt wird. Diese Aushandlungen zwischen Enge und Weite werden von Schmitz als »vitaler[n] Antrieb«47 bezeichnet. Dabei wird ein Leib aber vorreflexiv gestimmt. Diese Gestimmtheit vollzieht sich, wenn etwas ›Plötzliches‹ passiert.48 Ein Subjekt wird also »davon getroffen, berührt, gepackt«49 und verfällt ohne Reflexion in eine leibliche Gestimmtheit.50 Diese von Schmitz bezeichnete Gestimmtheit beinhaltet damit ebenso den methodologisch begrün­ deten Begriff zur Berührung, eine affektive Betroffenheit, von FritzHoffmann: Eine Gestimmtheit transportiert »die Art und Weise, wie jemand die eigene Involvierung in Blickkontakte, Körperkontakte, Wortwechsel erfährt,“51 mit. Dies wird insgesamt durch den Begriff des leiblichen Befindens gebündelt. Für die Sozial- und Geisteswissenschaften ist nun aber der folgende Schritt von besonderer Relevanz: Der vitale Antrieb gliedert nämlich nicht nur den Leib des Menschen; »Einleibung […] [wird vielmehr auch] Ausweitung des innerleiblichen Dialogs von Engung und Weitung«52 auf »Leiber mit Leibern und – vermittelt durch Brü­ ckenqualitäten, nämlich Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere – mit leiblosen Gestalten«53. In diesem Verständnis kann alles, was einen Ausdruck hat, vom Subjekt eingeleibt werden.54 Damit wird das Subjekt leiblich ›berührt‹. Egal mit was oder mit wem sich eingeleibt wird, Schmitz spricht hierbei von der »Hauptform leiblicher Kommunikation«55. 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

vgl. ebd.: 150. vgl. Schmitz 1998: 26. Schmitz 2015: 63. Schmitz 2020: 37. Schmitz 2019b: 13. vgl. ebd. Fritz-Hoffmann 2017: 217. Schmitz 2020: 117. Schmitz 2015: 109. vgl. Schmitz 2019b: 68. Schmitz 2015: 143.

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Im Folgenden wird nun nacheinander auf die einzelnen Begriffe Einleibung, Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere vertiefter eingegangen, um mit ihnen in der Analyse zu operieren. Schmitz untergliedert den Einleibungsbegriff in drei Typen und legt so verschiedene Formen von Interaktionen dar: ›antagonistisch einseitige‹, ›antagonistisch wechselseitige‹ und ›solidarische Einlei­ bung‹.56 Zuerst wird auf die zwei Typen der antagonistischen Ein­ leibung eingegangen. Diese haben gemein, dass eine ›Zuwendung‹ vorliegt. D. h. leibliche Kommunikation, begründet im vitalen Antrieb aus Enge und Weite, überspannt ein ›Zusammensein‹ beispielsweise von Subjekt und Subjekt. Für Schmitz stellt eine antagonistische Einleibung eine »asymmetrische Beziehung [...] [dar, in der] einer die Rolle der Enge [und damit des Richtungszentrums] des übergrei­ fenden Leibes auf sich nimmt und damit sozusagen das Heft in der Hand hat«57. Eine Zuwendung liegt so einseitig vor. Wechselseitig wird diese Einleibung eben dann, wenn dieses Richtungszentrum stets zwischen diesen beiden Subjekten hin und her wechselt; eine Zuwendung geht in diesem Fall abwechselnd von beiden Seiten aus. Schmitz spricht in diesem Sinne von einem »Fluktuieren der Dominanz im gemeinsamen Antrieb«58 oder einem »oszillierend[en] [Z]uspielen«59 und demonstriert dies am Beispiel des Blickes oder des Ausweichens auf dem Gehsteig.60 Bei einer einseitigen Einleibung bleibt dieses Richtungszentrum jedoch stets bei einem Subjekt haften. Dies geschieht nach Schmitz in Momenten der Faszination; Enge trägt dann das betrachtete Subjekt.61 Eine solidarische Einleibung zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sie ohne eine solche Zuwendung vonstattengeht.62 Vielmehr ist sie eine »symmetrische Beziehung«63 und wird gerne in Momenten gemeinsamer Aktionen ausgelöst: beim Singen, Lachen aber auch in Massenpaniken.64 Wie bereits angemerkt, vollziehen sich Einleibungen auch zwi­ schen Subjekt und (technologischen) Ding(en). Dies wird möglich, 56 57 58 59 60 61 62 63 64

vgl. ebd.: 63f. Schmitz 1980: 39f.; vgl. Schmitz 2015: 63f. Schmitz 2015: 233. Schmitz 1980: 24. vgl. Schmitz 2015: 233. vgl. ebd.: 233. vgl. ebd.: 63. Schmitz 1980: 41. vgl. Schmitz 2015: 232.

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da (technologische) Dinge sogenannte Brückenqualitäten in Form von Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren in sich mittragen65. Mit dem Leib wird wahrgenommen. Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere sind dabei ›Vermittler‹ zwischen Leib und dem Wahrgenommenen66: Erstere sind Nachzeichnungen einer Bewegung im meist statischen Objekt.67 Als Beispiele sind Linien aber auch dreidimensionale Formen anzuführen, die auf den Leib wirken; er wird gestimmt.68 Damit zeigt sich der Leib berührt und es kann von affektiven Betroffenheiten gesprochen werden. Gerun­ dete Linien oder auch eckige Formen laden nach Schmitz ein, an den am Objekt festgehaltenen Bewegungen ›teilzunehmen‹. Damit wird der Leib des Teilnehmenden selbst beispielsweise von einer leiblichen Sättigung in Form einer Balance zwischen Enge und Weite, die in den Bewegungssuggestionen eines Kunstwerks festgehalten sind, ›gestimmt‹. Im Falle von geraden Linien verhält sich dies aber anders: Der vitale Antrieb des Subjektes wird nicht gestimmt, ein leibliches Befinden und so affektive Betroffenheiten bleiben aus.69 Dieser Aspekt wird in der Analyse zentral aufgenommen und am Beispiel eines Insulinpumpendisplays verdeutlicht. Unter den zweiten Vermittler von Einleibungen, die synästheti­ schen Charaktere, fallen verschiedene Eigenschaften, die oftmals von den bisherigen fünf Sinnen – Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten – nicht entsprechend eingeordnet werden können. Schmitz führt so beispielsweise hierfür »das Scharfe, Grelle, Sanfte, Spitze, Helle, Harte, Weiche, Warme, Kalte, Schwere, Massige, Zarte, Dichte, Glatte, Raue der Farben, [die] Klänge [und] [die] Gerüche«70 an. Auch diese Eigenschaften stimmen u. a. einen Leib und stimmen ihn: grelles 65 Es gelingt auch mit Schmitz zu argumentieren, dass nicht nur einseitige Ein­ leibungen, sondern auch wechselseitige und solidarische Einleibungen zwischen Nutzer*innen und (technologischen) Dingen stattfinden können. Das Konzept der »Dividualisierung« von Lindemann (2018: 48) ermöglicht es, (technologische) Dinge in einen Subjektstatus zu versetzen (vgl. Kapitel 1.1) und damit eine weitere Argumen­ tation für wechselseitige und solidarische Einleibungen zu eröffnen. Auf diese Argu­ mentationslinie wird hier nicht näher eingegangen aber auf einen dies aufgreifenden und leibphänomenologisch argumentierenden Beitrag von Burow (2023) verwiesen. 66 vgl. Schmitz 2020: 95. 67 vgl. ebd.: 94f.; 98f. 68 vgl. Schmitz 1998: 49ff.; 94ff. 69 vgl. ebd.: 52. 70 Schmitz 2015: 218.

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Licht, das Spitze einer Nadel oder die harte Hülle einer Insulinpumpe, wie im Fallbeispiel erläutert werden wird (siehe Kapitel 2.1), erwecken im Leib epikritische Tendenzen. Aber auch protopathische Tendenzen stimmen den Leib: Farben und Linienverläufe auf einem Display können beruhigend wirken. Diese Berührungsformen werden in der Analyse gezielt betrachtet. Abschließend soll nach dieser Skizzierung der Leibphänome­ nologie in steter Einbindung des im Folgenden herangezogenen Berührungsbegriffs – affektive Betroffenheit – nochmals deren Ver­ flochtenheit unterstrichen werden: Berührung ist mehr als ein reines Tasterlebnis; im Begriff liegt nach Fritz-Hoffmann eine affektive Betroffenheit gemessen an der »Art und Weise, wie jemand die eigene Involvierung in Blickkontakte, Körperkontakte, Wortwechsel u. a. erfährt«71. Dieser Begriff kann wiederum rückgebunden werden an das von der Leibphänomenologie ausgearbeitete leibliche Befinden: Über den von ›Enge‹ und ›Weite‹ gezeichneten Leib, wird es einem Subjekt ermöglicht, gestimmt zu werden. Es prägt sich also ein leibliches Befinden aus, das von affektiven Betroffenheiten gezeichnet ist. Leibliches Befinden, wie in der Analyse argumentiert werden wird, kann so durch diese Form von Berührtsein durch Technologie(n) zu leiblichen Freiheiten führen: Der Leib ist nicht mehr damit ›beschäf­ tigt‹, eine Balance einzurichten. Er verlässt seine innerleibliche Aus­ einandersetzung und ist geöffnet. Einleibungen und damit affektive Betroffenheiten mit und von anderen Subjekten und Dingen können stattfinden. Eine leibliche Sättigung in Form einer Balance ermöglicht also leibliche – und damit pathische72 – Freiheiten: Das Subjekt ist durch seine wiedergewonnene pathische Empfänglichkeit alltagsfähig und die innerleibliche Balance basiert auf dem ›Zusammensein‹ mit Technologie(n).

Fritz-Hoffmann 2017: 217. Ein den »vitalen und intuitiven Impulsen folgende[s] Individuum im Unterschied zum rational und planvoll handelnden »Akteur«“ wird von Hasse (2010: 70) als ein pathisches Subjekt bezeichnet. 71

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2. Von der Leibphänomenologie zur empirischen Sozialforschung – am Fallbeispiel leibliches Befinden beobachten Damit sich nun dem Ergebnis aus der Analyse, den sogenannten leiblichen Freiheiten durch Technologienutzung, angenähert werden kann, folgt der Schritt der Operationalisierung und damit die Hin­ wendung zum empirischen Teil des Beitrags: Hierfür wird zunächst das gewählte Fallbeispiel erläutert (Kapitel 2.1). Aufbauend wird es möglich, Theorie und Fall aufeinander zu beziehen und gebildete begriffliche Schlüsselkategorien und Dimensionen zu präsentieren. Das gewählte methodische Vorgehen wird offengelegt (Kapitel 2.2).

2.1 Alltag von Diabetiker*innen mit Technologie(n) Viele technologische Systeme zeichnen sich durch eine selbstregulie­ rende Komponente73 aus: sie werden mit dem Auftrag, ein ›Gleichge­ wicht‹ in einem Wertebereich (Soll-Bereich) herzustellen, herangezo­ gen. Da es sich nicht um ein selbstlernendes System handelt, müssen Rückkopplungsmechanismen durchgeführt werden, wobei dem Sys­ tem Kontrollwerte (Ist-Werte) zum Abgleich geliefert werden. Ein Soll-Ist-Abstand wird so auf das Minimalste reduziert. Ähnlich ist dies für das technologische System bestehend aus Insulinpumpe und BZ-Sensor für Typ 1 Diabetiker*innen74, die beide neben, am und im Körper getragen werden müssen. Aktuelle Insulin­ Das Wort ›selbstregulierend‹ führt hier zu Unstimmigkeiten, da das System nicht sich reguliert; vielmehr arbeitet es insulinregulierend. Das System kann nicht als ›Verlängerung des Körpers‹ gelten, da es andere Funktionen (Sichtbarmachung des BZs) aufzeigt, wie die, die bei einem gesunden Menschen vorliegen. 74 Diabetes Typ 1 ist eine chronische Autoimmunerkrankung, deren Ursache bisher nicht bestimmt ist. In Deutschland sind rund 373000 Menschen an Diabetes Typ 1 erkrankt, darunter 32000 Kinder und Jugendliche. Die Zahlen der Neuerkrankungen im Kinder- oder Jugendalter steigen stetig; derzeit erkranken pro Jahr rund 3100 Kinder oder Jugendliche (vgl. Daniel 2021). Ohne eine individuell angepasste Insulin­ therapie führt die Krankheit zum Tod; wichtig ist zudem eine selbstständige Kontrolle des BZs, da dieser in einem Ziel- d. h. Soll-Bereich liegen sollte, um Folgeschäden zu vermeiden. Das Hormon Insulin kann unterschiedlich injiziert werden; beispielsweise mit einem selbstregulierenden System. 73

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pumpenmodelle75 verfügen neben einer Option zur kontinuierlichen Insulinzufuhr auch über die Funktion den aktuellen BZ-Wert vom BZSensor zu empfangen und diesen Wert sodann in Korrelation mit der zu injizierenden Insulinmenge zu setzen. Diese »[a]utomatische Insulin Dosierung«76 trägt selbstregulierende Elemente, aber nicht alle Schritte einer Insulindosierung werden von dem System selbst initiiert: Beispielsweise müssen Kohlenhydrat- bzw. Broteinheiten oder Fette aus dem Essen von Diabetiker*innen selbst bestimmt, mit Faktoren verrechnet und schließlich in der Insulinpumpe eingegeben werden. Für den Rückkopplungsmechanismus bleiben außerdem blu­ tige Messungen via BZ-Messgerät weiterhin notwendig. Ansonsten wird das Zeitintervall der automatischen Insulindosierung beendet. Aber nicht nur diese v. a. kognitive Arbeit ist erwähnenswert: Ein Tragen eines technologischen Systems rund um die Uhr und nah am und im Leib-Körper führt zu wechselseitigen körperlichen Berührungen mit Materialitäten: verschiedene Plastiksorten, Teflonoder Metallnadeln und Klebstoffe. Dass dieses Berührtwerden leibli­ che Berührungen, d. h. affektive Betroffenheiten provoziert, wird im Folgenden methodisch aufgeschlüsselt.

2.2 ›Leibliches‹ methodisch fixieren Die Schritte, wie diese höchst subjektiven Daten aus Mensch-Tech­ nologie-Miteinander aufgebrochen, sodann leibliches Befinden und affektive Betroffenheiten herausgearbeitet und mit der theoretischen Perspektive verknüpft werden können, werden nun dargelegt. Die bereits mehrfach genannten Begriffe ›Leichtigkeit‹ und ›Kernschmelze‹ sind ›In-vivo-Codes‹ und stammen aus einem For­ schungs-Diary-Verfahren77 nach Kunz78, welches mit 9 Diabeti­ ker*innen im Jahr 2022 durchgeführt wurde. Dabei stehen beide Begriffe für zwei Schlüsselkategorien des leiblichen Befindens und damit auch für leibliche affektive Betroffenheit(en) von Diabeti­ ker*innen im ›Zusammensein‹ mit Technologie(n). Zugleich eröffnen 75 VitalAire GmbH 2022; Medtonic GmbH 2020; Medtronic GmbH 2021, 2022: 67; DiaExpert GmbH 2020. 76 Diabetes News Media AG 2021. 77 vgl. Kunz 2018: 43. 78 Kunz 2018; 2015.

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diese Schlüsselkategorien Dimensionen, von denen Ausprägungen eines leiblichen Befindens abgeleitet werden und die so zurück zu den Daten führen können79: So gilt ›Leichtigkeit‹ als eine Ausprägung der Dimension und Schlüsselkategorie von leiblicher Zufriedenheit, die von der Leibphä­ nomenologie als solidarische Einleibung benannt werden kann. Dabei handelt es sich bei ›Leichtigkeit‹ um eine leibliche Nähe. ›Kern­ schmelze‹ wiederum ist eine Ausprägung der Dimension und Schlüs­ selkategorie von leiblicher Abhängigkeit, die leibphänomenologisch als wechselseitige Einleibung bezeichnet werden kann. Während eines leiblichen Befindens der Dimension ›Kernschmelze‹ liegt zwar ebenso eine körperliche Nähe vor, jedoch keine leibliche, vielmehr aber eine leibliche Distanz. Beide Dimensionen demonstrieren die gegensätz­ lichsten Facetten eines leiblichen Befindens in einem ›Zusammen­ sein‹ von Diabetiker*in mit dem genutzten technologischen System. Vor einem hier so begriffenen ›Zusammenseins‹ bedarf es aber ebenso eines ›Zusammenkommens‹ von Diabetiker*in mit dem System; die­ ser Schritt wird leibphänomenologisch mit der einseitigen Einleibung eingefangen. Insgesamt sind sowohl ein ›Zusammenkommen‹ als auch ein ›Zusammensein‹ Metaschlüsselkategorien der Operationa­ lisierung: Beide sind Übersetzungen der Einleibungsvorgänge, die aus der Neuen Phänomenologie stammen. Die oben knapp skizzierte Verschränkung zwischen Theorie und Daten wird im Analysekapitel genauer verdeutlicht. Methodisch wurden die Forschungs-Diaries mit der MeTag Applikation80 durchgeführt. Damit haben Teilnehmer*innen die Möglichkeit, das Erlebte, Flüchtige oder Reflektierte neben schriftli­ chen Einträgen auch mittels mündlicher Einträge festzuhalten. Damit gelingt es, u. a. Routinen leichter und v. a. vor Ort festzuhalten. Die Problematik des Vergessens wird aktiv umgangen. Zudem kön­ nen höchst sensible oder privat-intime Angelegenheiten festgehalten werden, da das ›Tagebuch‹ als Gegenüber keine Peinlichkeit, keine Sprechverbote kennt und nicht reagiert. Schließlich initiieren die 79 Hierzu wurde mit der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) unter Heranzie­ hung des Auswertungsprogramms MAXQDA für eine Operationalisierung gearbeitet (Kuckartz/Rädiker 2019). 80 Im DFG-Projekt »Die nachhaltige Bereitstellung von Software für die Forschung zu cross-medialen Praktiken und digitalen Spuren« (geleitet von Prof. Dr. Andreas Hepp) wurde die MeTag-Applikation entwickelt.

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Teilnehmer*innen selbst die Einträge in ihr Tagebuch und damit gilt diese Erhebungsmethode als eine partizipative Methode. Dabei bleibt die Forscherin anwesend und nichtanwesend zugleich: Sie ist es, die das Tagebuch in seinem Aufbau und in seinen Optionen entwickelt hat. So hat die Forscherin eine abwesende Anwesenheit inne. Dies führt zu einem methodischen Kniff: Das leibliche Befinden der Teil­ nehmer*innen wird im Schreiben oder in mündlichen Äußerungen vom Subjektiven teilweise abgelöst; es bildet sich etwas Interleib­ liches aus. In anderen Worten bedeutet dies, dass ein ForschungsDiary trotz einer (räumlichen) Distanz zwischen der Forscherin und eine*m*r Teilnehmer*in eine interleibliche Nähe ausbilden kann. Damit kann in einem gewissen Grad die Feststellung, dass Beob­ achtungen von affektiven Betroffenheiten von Seiten eines Dritten die charakteristische »Nuance«81 nicht einfangen bzw. gar begreifen könne, aufgebrochen werden: sogenannte Sachverhalte von affektiven Betroffenheiten bleiben subjektiv verankert, aber »ihr Profil, wodurch sie sich irgendwie charakteristisch abheben«82 wird für die Forscherin zugleich nachvollziehbarer.83 Hieraus ergibt sich u. a. insgesamt die Präferenz für diese Erhebungsmethode.84

3. Ausprägungen von affektiver Betroffenheit: ›Leichtigkeit‹ und ›Kernschmelze‹ Nach der Einführung der theoretischen Perspektivierung, der Beschreibung des Fallbeispiels als auch des explizierten Forschungs­ designs, kann nun ausgearbeitet werden, was den Prozess von einem hier so bezeichneten ›Zusammenkommen‹ (3.1) von Diabeti­ ker*innen mit technologischen Systemen hin zu einem ›Zusammen­ sein‹ auszeichnet und wie der Leib dabei ›gestimmt‹ wird. In einem leibphänomenologischen Verständnis ist ein solches leibliches Befin­ Schmitz 2019a: 57. ebd.: 61. 83 vgl. ebd.: 51ff. 84 Das Forschungs-Diary ist selbstverständlich als alleinige Erhebungsmethode zum ›Festhalten‹ von subjektivem leiblichem Befinden nicht ausreichend. Für das Format dieses Beitrags bietet dieses Verfahren jedoch den passenden Rahmen, um in das Thema methodisch einzuführen. Es bietet sich für eine vertiefende Analyse an gefolgt auf Forschungs-Diaries, narrative Interviews mit einem »Leib-Mapping« (Sellig 2023a) zu verbinden. 81

82

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den von physischen Berührungen aber v. a. von affektiven Betroffen­ heiten geprägt: Eine ›Kernschmelze‹ (3.2) und eine ›Leichtigkeit‹ (3.3) als leibliches Befinden transportieren diese affektiven Betroffenheiten mit und werden beleuchtet. Final kann entfaltet werden, dass mit Ein­ tritt einer leiblich gespürten ›Leichtigkeit‹ der Leib dank einer inner­ leiblichen Balance im ›Zusammensein‹ zwischen Diabetiker*in und System selbst wieder anders ›berührbar wird‹. Erfahrene leibliche solidarische Verbundenheit im Mensch-Technologie(n)-Zusammen­ sein führt also zu leiblichen Freiheiten.

3.1 ›Zusammenkommen‹ von Technologie(n) und Nutzer*innen Damit von einem ›Zusammensein‹ von Diabetiker*in mit einem tech­ nologischen System gesprochen werden kann, bedarf es eines Sichaufeinander-Einspielens; dieser Schritt wird als ›Zusammenkommen‹ bezeichnet. Hierfür benötigt es die Initiative der Diabetiker*innen: Sie sind es, die diesen Einleibungsprozess beginnen und sich damit auch »Sorge um sich«85 von der Technologie für ein Zeitintervall borgen.86 Ein solches ›Zusammenkommen‹ schildert Benedikt in seinem Diary: »Aber dann plötzlich Alarm: Sensor abgelaufen [A]. Nur gut, dass ich zu Hause war und gleich einen Sensorwechsel machen konnte. […] Nach den 2 h Warmlaufen (Blindflug) war der BZ auf 280 [B]! […] Also heute wieder Nerv^3 [C].«87 [A] »Aber dann plötzlich Alarm« – Irritation durch Berührung Ob der BZ-Sensor nach Plan oder aufgrund eines Fehlers abgelaufen ist, sei hier einerlei – entscheidend ist, dass diese Wechselphasen von einem alten BZ-Sensor zu einem neuen BZ-Sensor zu ›Identitäts­ stress‹88 führen, da das ›Zusammenkommen‹ mit dem System in Form von Einleibungen und damit auch jegliche Berührungen – eben plötzlich – verlassen werden müssen89, wodurch sich die gemein­ same leibliche Existenz zwangsweise verändert. Aber nicht nur dies: genauso plötzlich sollte ein neuer BZ-Sensor gesetzt werden. Das 85 86 87 88 89

Henkel et al. 2016: 21. vgl. Sellig 2023b. Forschungsprojekt Sellig 2022, Benedikt: 1152. vgl. Sellig 2022: 28ff. vgl. ebd.

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›Plötzlich‹ fordert also ein ›Zusammenkommen‹: leiblich gestimmt – also je nach Involvierungsgrad auch von einer affektiven Betroffen­ heit gezeichnet – wird sich nun dem System gewidmet. Affektive Betroffenheiten, ausgelöst von Berührungen, sind ein wesentlicher Bestanteil für die Initiation dieses ›Zusammenkommens‹. Erreicht wird diese Zuwendung zum einen durch den Alarm, der epikritisch einen Schreck oder ein Gestresst-Sein hinterlassen kann. So äußert sich Christine: »Das Piepsen von der Pumpe […] hat mich heute beim Arbeiten gestresst«90. Zum anderen wird die Zuwendung durch Bewegungssuggestionen der Insulinpumpe verursacht: Die Kurve des BZ-Verlaufs auf dem Display ist durch ein Nichtfunktionieren des BZ-Sensors unterbrochen; die möglicherweise gewonnene leibliche Sättigung aus einem welligen BZ-Verlauf geht so schlagartig verloren. Dementsprechend ist mit einer leiblichen Engung zu rechnen. [B] »BZ auf 280!« – Ende des Alltags Damit beginnt die Phase einer besonderen leiblichen Aufmerksam­ keit: die insulinregulierende Funktion des Systems ist in den ersten Stunden je nach Produkt noch nicht aktiv, danach muss die Genau­ igkeit geprüft werden und/oder von Seiten der Diabetiker*innen ein Vertrauensvorschuss geliefert werden. Diesen Vorgang eines Sich-Einspielens bezeichnet Benedikt als »Warmlaufen« und »Blind­ flug«. So wird verständlich, dass auch diese Phase des ›Zusammen­ kommens‹ etwas Plötzliches mit affektiven Betroffenheitsqualitäten besitzt – sei es ein Alarm, ein inkorrekter BZ-Wert oder Schmerzen an der neuen Einstichstelle des BZ-Sensors, die zu Engung/Spannung führen können; der Leib der Diabetiker*innen zieht sich damit zusam­ men und fordert Aufmerksamkeit; an Alltag ist nicht zu denken. In diesem Warmlaufen kann es, wie bei Benedikt, zu Entgleisungen des BZs kommen: Der BZ mit einem Wert von »280« ist stark erhöht. [C] »Nerv^3« – Schwankungen zwischen Enge und Weite Dieser BZ-Verlauf wirkt sich wiederum leiblich aus: Auf dem Display der Insulinpumpe werden nach einiger Zeit sowohl BZ-Werte als auch der zeitliche BZ-Verlauf wieder angezeigt. Damit lösen die in diesen Ziffern und Linien von Verläufen liegenden Brückenqualitäten eine affektive Betroffenheit in Benedikt aus: »Heute wieder Nerv^3«. Dieses herangezogene Zitat zeigt, dass ein immer wiederkehrendes 90

Forschungsprojekt Sellig 2022, Christine: 1047.

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›Zusammenkommen‹ in der Lebensrealität die Nutzer*innen durch­ aus leiblich berühren. Ersichtlich wird darüber hinaus, dass Engung und Weitung als Kategorien des leiblichen Spürens im Fall eines ›Zusammenkom­ mens‹ äußerst nahe beieinander liegen. Dies veranschaulicht vereinfacht die Abbildung 1 durch die durchgezogene Linie im linken Bereich: Etwas Plötzliches ergreift den Leib, eine Engung/Spannung stellt sich ein. Hierauf wird leiblich reagiert, indem eine Weitung/Schwellung beginnt. Diese Pendelbe­ wegungen (zwischen Enge und Weite) sind in diesem anfänglichen ›Zusammenkommen‹ von einer größeren Schwankung geprägt. 

        



           



   

 

Abbildung 1: Mensch-Technologie-Miteinander an den leiblichen Dimensionen Enge und Weite

Entscheidend ist aber, dass dieses Einspielen des ›Zusammenkom­ mens‹ Teile einer einseitigen antagonistischen Einleibung beinhaltet und es erst schrittweise zu einer wechselseitigen antagonistischen oder solidarischen Einleibung kommt. Eine einseitige Einleibung liegt vor, da es die Diabetiker*innen selbst sind, die diesen gesamten Prozess starten: Sie setzten sich einen neuen BZ-Sensor, sie wählen die entscheidenden Tastenkombinationen auf der Insulinpumpe, die als Steuereinheit des Systems fungiert und schließlich richten sie sich samt ihrem Alltag nach den Meldungen des Systems, damit dann das selbstregulierende System für ein gewisses Zeitintervall ablaufen kann.91 Nur dieses Zeitintervall gilt als ›Zusammensein‹, in dem sich wechselseitige oder solidarische Einleibung abspielen:

91

Sellig 2023b.

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Eine wechselseitige antagonistische Einleibung, die in einer leiblich gespürten ›Kernschmelze‹ enden kann und konträr hierzu eine solidarische Einleibung, die leibliche ›Leichtigkeit‹ vermittelt. Diese Dimensionen der Einleibung sind also in ihrem leiblichen Resultat äußerst different, liegen aber in der Lebenspraxis von Dia­ betiker*innen zeitlich sehr nahe beieinander und können sich im Verlaufe des Tages mehrfach abwechseln. Viele der Diaries zeigen diese Ambivalenz oder gar Ambiguität, was sich folglich in den herangezogenen Zitaten von Diabetiker*innen widerspiegelt.

3.2 ›Zusammensein I‹ – »oder kurz vor der Kernschmelze« Ein ›Zusammensein‹ mit einem technologischen System ist von unterschiedlichem leiblichen Befinden gezeichnet. Zunächst werden Nutzer*innen leiblich von Aushandlungen mit dem technologischen System gestimmt. Eine konflikthafte Aushandlung u. a. durch Alarme und Anzeigen auf dem Display soll hier als Beispiel und anhand der Ausprägung ›Kernschmelze‹ als leibliches Befinden dargelegt werden. Dabei beinhaltet diese Formen einer leiblichen Kommunikation eine Einleibung, die auf Wechselseitigkeit beruht. Im Falle dieser konflikt­ haften Aushandlung ist die Wechselseitigkeit jedoch in Bedrängnis. Eine leiblich erspürte ›Kernschmelze‹ kann eintreten, wenn Aus­ handlungen im ›Zusammensein‹ zwischen technologischem System und Diabetiker*innen nicht reibungslos verlaufen. Dies verdeutlicht der folgende Tagebuch-Eintrag von Benedikt: BZ nach dem Essen bei 87 und leicht fallend. will nachher noch Fußboden streichen. Habe ihm [technologisches System] körperliche Bewegung eingegeben und 1 BE [Broteinheit] zum Essen. Da will er [technologisches System] noch 0,6 IE [Insulineinheiten] dazu geben. Habe ich abgelehnt. Jetzt hört er nicht auf zu nerven mit der Insu­ lingabe. Jetzt schon das dritte Mal. ICH BIN DER OBERMEISTER DES INSULINS, NICHT DBLG1 [technologisches System]!!! Wann begreift er das endlich!!!92

Mit Hilfe Benedikts’ Schilderungen kann der Verlauf hin zu einer kon­ flikthaften Aushandlung nachskizziert werden. Hierbei wird zunächst eine ablaufende wechselseitige Einleibung zwischen Benedikt und dem System durch ein Hin und Her des Engepols fassbar: Benedikt 92

Forschungsprojekt Sellig 2022, Benedikt: 1477.

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teilt dem System sein Tagesvorhaben mit: »Habe ihm [technologi­ sches System] körperliche Bewegung eingegeben und 1 BE [Brotein­ heit] zum Essen«. Hierauf reagiert das System, da es eine Insulin­ abgabe fordert: »Da will er [technologisches System] noch 0,6 IE [Insulineinheiten] dazu geben«. Darauf erwidert Benedikt und lehnt dies ab: »Habe ich abgelehnt«. Nun beginnt eine konflikthafte Entwicklung: Alarme und/oder Meldungen der Insulinpumpe setzten ein (»Jetzt hört er [Insulin­ pumpe] nicht auf zu nerven mit der Insulingabe«) und reißen damit Benedikt aus seinem vorgeplanten Tagesablauf heraus. Sowohl das System als auch Benedikt bleiben auf ihrem ›Standpunkt‹ stehen; damit droht das ›Zusammensein‹ auseinanderzubrechen: Benedikt betont seine ›Stellung‹ im ›Zusammensein‹ im Vergleich zum tech­ nologischen System und macht damit kenntlich, dass er mit dieser eigenen Involvierung – erkenntlich für Benedikt durch seine eigene affektive Betroffenheit(en) – durch das System nicht einverstanden ist.93 Dennoch oder genau deshalb ist er von einer affektiven Betrof­ fenheit gezeichnet: »ICH BIN DER OBERMEISTER DES INSULINS, NICHT DBLG1 [technologisches System]!!!«. Seine Position und sein leibliches Befinden werden nicht nur durch seine Wortwahl verdeut­ licht, sondern ebenso dadurch, dass er für diesen Tagebucheintrag durchgehend die Großschreibung wählt und zum Ende des Satzes drei Ausrufezeichen setzt. Die Schriftwahl trägt einen epikritischen als auch synästhetischen Charakter: Kantig und riesig wirkt die Schrift und vermittelt daher leiblich eine engende Tendenz. Diese Bewegung hin zur Enge wird verstärkt, da es für Benedikt bis zu diesem Punkt zum ›Hin‹ der Enge noch kein ›Her‹ zur Weite zu geben scheint, denn leicht nachfragend stellt er enttäuscht fest: »Wann begreift er [technologisches System] das endlich!!!«. In anderen Worten: Eine Balance zwischen Engung und Weitung tritt nicht ein und der Diabetiker nähert sich der Enge an. Eine ›Kernschmelze‹ kann so auch als eine Annäherung an einen Extrempole, hier der Enge, gelten (vgl. Abb.1, gestrichelte Linie). Was damit deutlich wird: Das hier vorgestellte ›Zusammensein‹ zwischen Benedikt und seinem benutzten System befindet sich in einer wechselseitigen Einleibung, die aber höchst ›unerwünscht‹ verläuft. Beide Seiten beanspruchen für sich einen Engepol; beide haben damit andere Erwartungen an das eingeleibte Gegenüber: Das 93

vgl. Fritz-Hoffmann 2017: 217.

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System möchte von Benedikt die Akzeptanz der vorgeschlagenen Insulinabgabe um 0,6 Einheiten, Benedikt möchte hingegen vom System, dass es seinen Vorschlag auf die Insulingabe zu verzichten akzeptiert und die (Alarm-)Meldungen beendet. Damit ist selbstverständlich keine Balance erreicht und ein leib­ liches Wohlfühlen stellt sich eher nicht ein; das ›Zusammensein‹ ist in dieser Situation sehr gefährdet und es wird sich einer leiblichen Distanz angenähert – trotz einer körperlichen intensiven Nähe. Diese Ambivalenz scheint grundsätzlich das ›Zusammensein‹ auszuzeich­ nen: »In solchen Momenten ist das System für mich ein zusätzlicher Stressfaktor aber gleichzeitig natürlich eine Unterstützung [,] weil ich weiß [,] woher mein schlechtes Wohlsein herkommt«94. Unterstüt­ zung und ›leibliche Abhängigkeiten‹ schließen sich also nicht aus, sondern treten mitunter zusammen auf. Festzuhalten gilt also final, dass Benedikt leiblich von dem System in Anspruch genommen wird – eben auch durch leibliche Betroffenheiten – und diese Kommunikation seine Aufmerksamkeit beansprucht. Gefolgert werden kann, dass sich in Momenten einer ›Kernschmelze‹ Nutzer*innen primär in einer Auseinandersetzung zum ›Zusammensein‹ mit dem System befinden, der Leib von Dia­ betiker*innen ist affektiv betroffen. In anderen Worten: die vorre­ flexive Fähigkeit eines Gestimmtseins ist durch das Management der Diabeteserkrankung besetzt. Ein leibliches Erfahren der Umwelt findet daher nur in einem begrenzten Spielraum statt. Dass dies auch different zur ›Kernschmelze‹ verlaufen kann, wird im Folgenden hergeleitet. Dabei wird sich dem Begriff der leiblichen Freiheiten ange­ nähert.

3.3 ›Zusammensein II‹ – von affektiver Betroffenheit zu leiblichen Freiheiten im Alltag Ein ›Zusammensein‹ zwischen technologischem System und Diabe­ tiker*innen kann neben einer leiblich empfundenen ›Kernschmelze‹ ebenso zu einer leiblich wahrgenommenen ›Leichtigkeit‹ führen. Affektive Betroffenheiten und die damit entstandene leibliche Nähe mit Technologien äußern sich diesem leiblichen Befinden anders. Gefasst wird diese Ausprägung unter der Schlüsselkategorie und 94

Forschungsprojekt Sellig 2022, Ina: 691.

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Dimension der ›leiblichen Zufriedenheit‹. Wie dieses leibliche Befin­ den zu leiblichen Freiheiten führen kann, wird nun beleuchtet. Das technologische System und Nutzer*in haben sich so einge­ pendelt und sind zum Eins als vitaler Antrieb geworden, dass sich Enge und Weite – also die gemeinsame leibliche Kommunikation im vitalen Antrieb – beinahe eine Balance halten. ›Leichtigkeit‹ stellt damit den Gegensatz zur ›Kernschmelze‹ dar, da sie maximal weit von den Extrempolen von Enge und Weite im leiblichen Raum verortet werden kann (siehe Abb. 1, gepunktete Linie). Bezogen auf den BZ-Wert zeigt sich dies in nur leicht welligem Kurvenverlauf und damit geringen Schwankungen um den Sollwert. Diese entstandene Konstanz beschreibt die Diabetikerin Jutta: »Meine Blutzuckerwerte sind seit gestern 21 Uhr bis jetzt 8.30 Uhr im Normbereich und auch ziemlich konstant. Die Historie auf dem DBLG1 [technologisches System] ist fast eine gerade Linie geworden. Hoffentlich geht es so weiter«95. Ste­ phan formuliert in der Bedeutung ähnlich: »der dexcom Sensor (G6) [technologischen Systems] = easy as fuck! einmal gesetzt und kali­ briert sehr geringe Abweichung (