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German Pages 278 Year 2015
Dirk Baecker, Matthias Kettner, Dirk Rustemeyer (Hg.) Über Kultur
2008-09-16 12-27-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ab189463024848|(S.
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Dirk Baecker, Matthias Kettner, Dirk Rustemeyer (Hg.)
Über Kultur Theorie und Praxis der Kulturreflexion
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© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Sabrina Göbel, Shadi Rajabi, Na-Young Shin, Dirk Rustemeyer, Dirk Baecker Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-965-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
Vorwort DIRK BAECKER, MATTHIAS KETTNER, DIRK RUSTEMEYER
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I. Kulturbegriffe Kulturreflexion und die Grammatik kultureller Konflikte MATTHIAS KETTNER Der unverzichtbare Kulturbegriff KARL-SIEGBERT REHBERG Das Projekt »Kultur« – destruktionsanalytisch betrachtet HANS PETER THURN Philosophie als Kulturreflexion DIRK RUSTEMEYER
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II. Kulturtechniken und symbolische Praktiken Tiere zweiter Ordnung. Kulturtechniken der Identität und Identifikation THOMAS MACHO Selbstsein und Andersheit. Zum kulturellen Verhältnis von Symbol, Form und Sinn OSWALD SCHWEMMER
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III. Moderne Kultur und ihre Genealogie Zur Kontingenzkultur der Weltgesellschaft DIRK BAECKER Die Kultur der Neuzeit im Spiegel der historischen Forschung FRIEDRICH JAEGER Vermessene Moderne. Zur Bedeutung von Maß, Zahl und Begriff für die Entstehung der modernen Kultur SEBASTIAN MANHART
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IV. Felder moderner Kultur Arbeit im Feld des Musikalischen. Cage und Lachenmann als zwei Typen musikalischer Kulturreflexion CHRISTIAN GRÜNY
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Krankenbehandlung als Kultur. Zur Logik der Praxis in der Medizin WERNER VOGD
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Zu den Autoren
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Vorwort DIRK BAECKER, MATTHIAS KETTNER, DIRK RUSTEMEYER
Christian Grüny: Ein alter Grundsatz philosophischen und wissenschaftlichen Denkens stammt von Ockham und lautet »Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem« – kurz und für unsere Zwecke übersetzt: Man überlege sich gut, ob es nötig ist, einen neuen Begriff in die Diskussion einzuführen. Der Begriff der Kulturreflexion verspricht, das durch die verwandten Begriffe der Kulturtheorie, der Kulturphilosophie und der Kulturwissenschaft markierte Feld markant zu bereichern bzw. produktiv umzustrukturieren. Wo genau liegt der Mehrwert dieses Begriffs? Dirk Baecker: Der Begriff der Kulturreflexion hat meines Erachtens gerade darin seine Pointe, dass er die inflationäre Verwendung des Kulturbegriffs aufgreift und in einen einzigen Begriff fasst, dass Kultur immer etwas mit Reflexion zu tun hat, dass diese Reflexion immer mit interpretativen Spielräumen einhergeht und dass diese Spielräume immer unklar werden lassen, worum es eigentlich geht. Der Begriff der Kulturreflexion versucht, das dem Begriff der Kultur oft negativ nachgesagte Schillern von Begriff und Phänomen positiv zu fassen und als Aussage über eine in der modernen Gesellschaft und erst recht in der aktuellen Weltgesellschaft dringend erforderliche Ressource zu fassen. Kultur zu reflektieren, heißt brauchbare Unverständlichkeit zu gewinnen, brauchbar insofern, als wir uns nur so das immer zu schnelle Verstehen versagen können, das uns daran hindert, uns global und ökologisch klug zu bewegen. Dirk Rustemeyer: Das sehe ich ähnlich. »Kultur« ist ein Terminus, mit dem die moderne Gesellschaft sich gern selbst beschreibt, um sich mit anderen Zeiten, Gesellschaften und mit ihren eigenen anderen Zuständen 7
ÜBER KULTUR
zu vergleichen. Das Schillern des Begriffs verweist auf eine produktive Unschärfe, die sich zeigt, wenn man Kultur als Prozess beschreibt. Dieser Prozess kommt in Gang, wenn die Kommunikation sich in verschiedene Felder organisierter Sinnbildung ausdifferenziert und als heterarchische Struktur mit konkurrierenden Plausibilitäten akzeptieren muss. Die moderneskeptische Aufladung des Kulturbegriffs, wie sie besonders im deutschen Sprachraum ihre Tradition gefunden hat, ist ein Indiz für die Irritation der modernen Gesellschaft über ihre eigene Unruhe, Dynamik und Nichtidentität. Weder eine transzendente Instanz wie Gott noch ihre innerweltlichen Äquivalente wie Wahrheit oder Werte erweisen sich als geeignet, diese strukturelle Nichtidentität aufzufangen. Solche Prozesse zu beobachten und sie methodisch zu pflegen, heißt für mich Kulturreflexion. Darin finden sich philosophische, wissenschaftliche und künstlerische Beschreibungsformen zusammen. Kulturreflexion entfaltet sich dann als eine Praxis von Darstellungen, die in ihrer Form Reflexion vollziehen, ermöglichen und beobachtbar machen. DB: Herder hatte zu Beginn der Moderne noch ein »Gären« der Kultur beobachtet, wir haben es nur noch mit einer unruhigen Beweglichkeit zu tun. Insofern geht es uns doch schon erheblich besser. DR: Dass es uns damit besser geht, hat vielleicht damit zu tun, dass wir inzwischen die Chancen sehen können, die in dieser Unruhe, Nichtidentität und zirkulären Verkettung von Unterscheidungsordnungen liegen. Dennoch verdient das Konfliktpotential unsere Aufmerksamkeit, das in der permanenten Differenzerzeugung steckt. Ist es nicht so, dass dieser Umstand uns zu einem Begriff des Politischen führt, der von Theorien über das Management von Unterscheidungen profitiert? Riskant wären Strategien, die auf lineare Steuerung, kontrollierbare Kausalitäten, die Fixierung auf Konsense oder auf oberste Ziele setzen. Denn die Beobachtung von Beobachtungen zieht aus Differenzen Nutzen, indem die mehrfachen Codierungen von kommunikativen Unterscheidungen flexibel gehandhabt werden. Skeptisch sollten wir dann mit Identitäten umgehen. Die Konnotation von Pflege, die ja im Kulturbegriff mitläuft, ließe sich so auf den reflexiven, also formbeobachtenden Umgang mit multiplen Möglichkeiten beziehen. Wenn die Wirklichkeit eine Variante des Möglichen ist, müssen wir unsere Möglichkeiten kultivieren. Eine Theorie der Kulturreflexion wäre eine Praxis der Beobachtung, die zugleich eine Form der Kommunikation ist, mit der sie in das Beobachtete interveniert. Macht da noch die klassische Unterscheidung von Theorie und Praxis Sinn?
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D. BAECKER, M. KETTNER, D. RUSTEMEYER: VORWORT
DB: Sie macht nur dann noch Sinn, wenn man sich an ihre klassischen Konnotationen erinnert: »theoria« als das Schauen aus der Ferne oder aber: das Berichten über Ereignisse, bei denen die, die sich den Bericht nicht anhören, nicht dabei gewesen sind. Die ersten »Theoretiker« waren diejenigen, die an den Kulthandlungen auf Delphi teilgenommen haben, dann nach Hause fuhren und den Daheimgebliebenen erzählten, was das Orakel verkündet hat. Deswegen muss sich jeder Theoretiker bis heute einer gewissen orakelhaften Sprache befleißigen. Man glaubt ihm sonst nicht, dass er dabei gewesen ist! Und Praxis ist ja bekanntermaßen die Tätigkeit, die ihren Sinn in sich selber hat, Rauchen zum Beispiel oder Spazierengehen. Die Griechen unterschieden deswegen von der Praxis die Poiesis: Die Praxis genügt sich selber, die Poiesis bringt hingegen Werke hervor. Die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis im klassischen Sinne ist dann die Unterscheidung zwischen Berichten aus der Ferne und selbstgenügsamem Handeln. Uns interessiert heute weder das eine noch andere. Das eine, die Berichte, haben wir dank der Massenmedien im Übermaß, zum anderen, dem selbstgenügsamen Handeln, haben wir kaum noch die Zeit. Uns interessiert die Poiesis, das Hervorbringen von Werken, auch durch die Kulturreflexion. DR: Was für Werke sind das, die Kulturreflexion hervorbringt? Mir gefällt an Deinem Gedanken, dass Du den Zusammenhang von »orakelhaftem« Sprechen und Praxis aufzeigst. Für mich zeigt sich daran die Bedeutung der Darstellung bei der Beobachtung und Reflexion. Anders gesagt: Erst in der Darstellung, die immer eine »kohärente Deformation« (Merleau-Ponty) des Beschriebenen ist, tritt ein Sinnüberschuss oder ein Möglichkeitsreichtum zutage, den die Reflexion dann einerseits ihrem Gegenstand und andererseits sich selbst zurechnen kann und über dessen Dargestelltsein sie sich selbst als eine Praxis beobachtet. Dann aber wäre die Praxis der Kulturreflexion die Einheit der Differenz von selbstgenügsamer Theorie bzw. leicht orakelhafter Darstellung und selbstgenügsamer Praxis wie dem Rauchen oder der keinem vorgegebenen Ziel folgenden Kommunikation. Die Kombination von verständlicher Unverständlichkeit und verständlichem Rauchen sozusagen. Dafür gibt es in den Filmen von Aki Kaurismäki übrigens wundervolle Beispiele: Das Rauchen ist hier ein wichtiges Element der Darstellung, die wiederum eine Reflexion von Lebenspraxis in der Reflexion ihrer Formen und der Formen ihrer Beobachtung ist. DB: Ich denke, dass Thomas Machos Beitrag hier weiterführt. Die Werke der Kulturreflexion sind zum einen selbst die Kulturtechniken, von denen Macho spricht. Es scheint keine Kulturtechnik zu geben, die nicht 9
ÜBER KULTUR
ihrerseits reflexiv ist und die nicht mit einem Abstand zu sich selbst praktiziert wird, sei es das Sprechen, das Schreiben, das Rechnen oder das Fernsehen. Man kann über das Sprechen sprechen, über das Schreiben schreiben. Man kann das Rechnen berechnen und nicht zuletzt auch Fernsehen über das Fernsehen machen. Und all das passiert laufend, ohne dass es besonders auffällt oder ohne dass es dazu besonderer, etwa an Universitäten zu schulender Kompetenzen bedürfte. Die explizite Reflexion auf Kultur hat es nicht zuletzt deswegen so schwer: Sie muss das Reflektieren reflektieren, also den Abstand des Sprechens zum Sprechen, des Schreibens zum Schreiben, des Rechnens zum Rechnen selber in den Blick nehmen, ohne sich mit den Kulturtechniken zu verwechseln. Somit rücken Witze, Karikaturen, mathematische Modelle (wohl sehr wider ihren Willen) in den Blick des Kulturanalytikers. Und deswegen sind die entzifferbaren Unverständlichkeiten und leicht absurden Selbstverständlichkeiten, von denen Du sprichst, die Rahmungen, mit denen in diesem Feld gearbeitet wird. Ist der jüngst von zwei unserer Studierenden, Thomas Köhling und Patrick Hoffmeier, gedrehte Film über deine Schießübungen im Wald nach erfolgtem Philosophieseminar in Witten dafür nicht ein gutes Beispiel? Aber die Pointe scheint mir zu sein, dass die gelungene Kulturreflexion schon fast wieder eine Kulturtechnik ist, das heißt unser evolutionäres Potential im Umgang mit uns selbst erweitert: eine Versuchsanordnung der Selbstbeobachtung. Matthias Kettner: Der Begriff der Kulturreflexion wurde ja geprägt, um jenes Deutungs- und Handlungspotential zu charakterisieren, das entsteht, wenn man die begriffliche Reflexionsdisziplin Philosophie mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven kombiniert und systematisch mit Organisationspragmatik sowie mit »Kunst als Erfahrung«, wie John Dewey gesagt hätte, in Verbindung bringt. Dann wird auch klar, dass man Kulturreflexion nicht nur in begrifflich organisierten »Werken«, also Theorietexten im herkömmlichen Verständnis, betreiben und dokumentieren kann, sondern auch in Artikulationsmedien, die sich ganz anderer kultureller Formensprachen bedienen. Als Beispiel mag ein Ballett von Heike Hennig, »Zeitsprünge«, dienen, in dem in den Formensprachen von Musik und tänzerischer Bewegung über das Verhältnis von älteren und jüngeren Künstlern im Ballet nachgedacht wird. Kulturreflexion »geht« in allen Medien, die aufnahmefähig sind für gedanklich einholbare Formen der Selbstbezüglichkeit von kulturellem Sinn. Rein auf seine Aufnahmefähigkeit für den Reichtum von Formen der Selbstbezüglichkeit von Sinn hin betrachtet, hat das durch und durch verbalsprachlich organisierte Medium des argumentativen Denkens überhaupt kein Privileg oder gar Monopol. Es ist nur insofern ein privilegierter 10
D. BAECKER, M. KETTNER, D. RUSTEMEYER: VORWORT
»Ort«, als sich die gedankliche Nachvollziehbarkeit und die Meinungsverschiedenheiten, zu denen sie führt, nur in diesem Medium diskursiv austragen lassen. Als Diskurstheoretiker meine ich freilich auch, dass das Argumentationsmedium eine funktional unersetzbare Verkörperung der menschentypischen Vernunftfähigkeiten darstellt. Aber diese Behauptung über die kommunikative Natur unserer Vernunft ist glücklicherweise unabhängig von Annahmen über Operationen und Methoden der Kulturreflexion. Das »glücklicherweise« gilt natürlich auch für die Kulturreflexion. Deren Begriff, meine ich, steht und fällt nicht mit substanziellen Annahmen über Rationalität, sondern mit anderen substanziellen Annahmen, nämlich über kulturellen Sinn und über kulturelle Prozesse als gleichsam flüssigen Aggregatzustand der Bildung und Umbildung von kulturellem Sinn. DR: Wenn Kulturreflexion eine Praxis ist, studiert man sie, indem man sie betreibt, und man betreibt sie, indem man in ein Spiel von Differenzierungen und kalkulierten Dissonanzen hineinfindet. Dies wiederum gelingt, wenn sich das Repertoire an Kulturtechniken erweitert. Kulturreflexion behält darum etwas Provisorisches und Übendes. Ihr Gelingen ist von unwahrscheinlichen Kommunikationskontexten abhängig, wie sie zum Beispiel eine Universität bereitstellen kann. Ihre »Werke« können dann im Schreiben eines philosophischen Textes, aber auch im Drehen eines Films, vielleicht sogar im präzisen Rauchen bestehen. Natürlich auch, Matthias, im Argumentieren. Aber wer argumentiert, sollte als Praktiker der Kulturreflexion wissen, wieweit Gründe tragen, ob sich gute von schlechten Gründen unterscheiden lassen, wo man sie fordern und anbieten sollte, auf welchen anspruchsvollen Voraussetzungen sie beruhen – und wie man sie umgehen kann, weil es vielleicht besser wäre, einen Film zu drehen. MK: Gewiss, man kann vielfältige, auch engere und weitere kulturreflexive Verfahrensweisen unterscheiden. Wenn ich das Argumentieren anspreche, dann als Kürzel für diejenigen logischen, letztlich immer dialogischen Praktiken, in denen wir Geltungsansprüche erheben, begründen, verwerfen, verändern. Alle wissenschaftlichen Diskurse gehören dazu. Kulturreflexion kann man auch schon vorwissenschaftlich oder protowissenschaftlich betreiben, familienähnlich mit Programmen wie der Protosoziologie und Protophysik. In dem Fall bewegt man sich zwar interdisziplinär, aber, was die Ansprüche an Stimmigkeit, Überprüfbarkeit und Aufschlusskraft angeht, auf demselben Boden, auf dem sich auch die disziplinär ausgerichteten Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften bewegen. Dann sollte man Begründungen nicht umgehen kön11
ÜBER KULTUR
nen, ja nicht einmal umgehen wollen. Ob die Bindung an Begründungen eng oder locker ist, hängt vom jeweiligen Zweck ab. Apropos Gründe und Begründungen: Ich finde, ein exzellentes Forschungsproblem für Kulturreflexion sind unsere kulturgeschichtlich variablen Deutungsmuster von Rationalität und von dem, was jeweils wofür als ein guter Grund zählen soll. Als Philosoph halte ich es für eine ganz wichtige unter den vielen Forschungsfragen der Kulturreflexion, wie denn eine für kulturelle Relativität offene und gleichwohl nicht relativistische Theorie der »Welt der Gründe« konstruiert werden könnte, also eine kulturreflexive Theorie der uns rational erscheinenden Aktor-Welt-Verhältnisse. DB: Du plädierst also, Matthias, für eine Kultur der Gründe im Einklang mit einer Begründung von Kultur. Das ist interessant, dreht es sich doch im besten Sinne tautologisch, also »robust« (wie Gregory Bateson zu sagen pflegte) im Kreis. Was genau leisten in diesem Zusammenhang die Rationalitäten, von denen Du sprichst? Kann es sein, dass sie den Zirkel aufzubrechen haben, um dem normativen Kreisen der Gründe Verweise auf faktische Lagen zuzuarbeiten, in denen diese Gründe jeweils zur Geltung zu kommen hätten? Dann enthielte jede Rationalität das Risiko der Unterbrechung des Zirkels an einer möglicherweise nicht mehr zu kittenden Stelle (ein prinzipielles Risiko – bei allem Respekt vor dem Einfallsreichtum der Begründungsvirtuosen). Und mit der Unterbrechung des Zirkels enthielte jede Rationalität ihr irrationales Moment. Das finde ich interessant, weil es das Projekt der Aufklärung an seine prekären, um nicht zu sagen: riskanten historischen »Gründe« zurückbindet: Demokratisierung, Industrialisierung, Pädagogisierung, Ästhetisierung. Und dann hätten wir für unsere Kulturreflexion endlich auch ein Thema: Die Überprüfung der möglicherweise schlechten Verankerung guter Gründe in einer spezifischen, also historisch immer gewagten Kultur. Natürlich setzt das einen spezifischen Kulturbegriff voraus, zum Beispiel Elisabeth Colsons Begriff der Kultur als Sicherstellung der Redundanz der Akteure: Man weiß, worum es geht, wer man ist und woran man sich zu halten hat. Und genau das ist riskant und könnte von der Kulturreflexion beleuchtet werden. Oder sind wir dann schon wieder bei der Kulturkritik? Da wollten wir doch gar nicht hin! MK: Eigentlich plädiere ich nur dafür, unter Kulturreflexion zumindest auch den Titel für ein komplexes, interdisziplinär-wissenschaftliches Forschungsprogramm zu verstehen. Die besondere, interessante Fragerichtung nach der kulturellen Verankerung und Veränderung von je für gut gehaltenen Gründen ist in meiner Sicht derjenige Teil dieses Forschungsprogramms, dessen Relevanz auch Philosophen sofort einleuch12
D. BAECKER, M. KETTNER, D. RUSTEMEYER: VORWORT
ten sollte. Ohne Theoriearbeit an den Grundbegriffen der Kulturtheorie geht es nicht, und am Ende kommen wir um eine vernünftig ausweisbare Bestimmung ihres Bezugsbereichs oder wenn man so will, ihres Objekts, nicht herum, genauso wenig wie semiotische Untersuchungen besonderer Phänomene um eine grundsätzliche und allgemeine Bestimmung des Zeichens herumkommen. Grundlagenfragen tauchen immer dann am Horizont auf, wenn wir relevante Unterschiede zwischen kulturellen Formen begreifen wollen. Kulturreflexion würde ich als den Versuch begreifen, die Auskunft, Differenzen und Unterscheidungsmöglichkeiten stammten »aus der Kultur«, zu entpauschalisieren und so weit wie möglich zu treiben, wohl wissend, dass diese Auskunft nicht total sein kann. Es kommt alles darauf an, aufmerksam zu sein, wie und wann sie an Grenzen stößt. Eine dieser Grenzen ist die tiefe Unterscheidung von Natur und Kultur. Zur Kulturreflexion gehört auf der Ebene der Grundlagenforschung eben auch, dass man versucht zu beschreiben, ob und wieweit wir etwas Unterschiedliches tun je nachdem, ob wir kulturelle (z.B. einen Wahlkampf) oder nichtkulturelle Prozesse (z.B. einen Erdrutsch) beschreiben. Kurz gesagt, es gehört dazu auch die Nachfrage danach, wie wir in der selber schon kulturell ausgelegten Welt, genannt »die Kultur«, eine Welt unterscheiden, die kulturell als nicht kulturell ausgelegt wird, genannt »die Natur«, und wie diese Doppelperspektive innerhalb einer natürlichen Welt evolutionär hat entstehen können. Es dürfte klar geworden sein, dass es kein Schlusswort geben kann, wo es vor allem um die Vervielfältigung von Ansatzpunkten und Perspektiven geht. So sei denn abschließend an dieser Stelle Sabrina Göbel, Shadi Rajabi und Na-Young Shin gedankt, deren redaktionelle Unterstützung und Erstellung eines druckfertigen Textes wesentlich zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen haben.
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I. K ULTURBEGRIFFE
Kulturreflexion und die Grammatik kultureller Konflikte MATTHIAS KETTNER
Die folgende Bestimmung der Prozessform kultureller Prozesse hat den Status einer Metaanalyse einer großen Zahl von Kulturbegriffen, die seit 1940 in Kulturanthropologie, Kultursoziologie, Kulturphilosophie und Kulturpsychologie konstruiert worden sind.1 Eine kulturreflexive philosophische Metaanalyse, wie ich sie im Folgenden an dem reichen, bereits kulturanthropologisch und kultursoziologisch aufbereiteten Material kulturtheoretischer Modellierungen versuche, wird diejenigen Begriffsmomente hervorheben müssen, die für die meisten operativen Kulturbegriffe die jeweiligen Konstruktionsgrundlagen abgeben oder die tatsächlich in Anspruch genommenen Grundlagen begrifflich erklären können.2
I. Kulturreflexion im philosophischen Kontext Aus Erfahrungen mit der klassischen, auf Johann Gottfried Herder datierbaren Kulturphilosophie3 können wir inzwischen gelernt haben, dass 1
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Alfred L. Kroeber/Clyde Kluckhohn: Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions, New York 1967; für eine aufschlussreiche neuere, aber enger soziologische Metaanalyse siehe Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien, Weilerswist 2000. Matthias Kettner: »Kulturrelativismus oder Kulturrelativität?«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2000), S. 17-38. Johann Gottfried Herder kürzestes, aber kulturphilosophisch gedankenreichstes Werk mit dem Titel »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« ist 1774 erschienen. 17
I. KULTURBEGRIFFE
es für die meisten kulturtheoretischen Fragestellungen mehr Nachteile als Vorteile bringt, Kultur in eine Linie mit Identitätsbegriffen zu stellen. Theoretisch fruchtbarer – und das ist für Pragmatisten wie uns eine starke methodologische Empfehlung – ist es, Kultur in erster Näherung als ein Medium der Ermöglichung von synthetischen Leistungen unterschiedlichster Art zu behandeln, gleichsam als Inbegriff für die Ermöglichung der Position und Negation von Vermittlungen, Vermischungen, Kreuzungen, Überlagerungen, Hybridisierungen, Kombination und Rekombination von bedeutungsvollen, also interpretierbaren Formen jeglicher Art. Kulturphilosophisch interessant ist dabei nicht allein das Faktum dieser Ermöglichung (der Position und Negation von Vermittlungen, Vermischungen, Kreuzungen, Überlagerungen, Hybridisierungen, der Kombination und Rekombination), sondern die in alles Kulturelle als ein solches bereits eingeschriebene prinzipielle Möglichkeit der Artikulation.4 Insofern wäre Kultur für Interaktionsprozesse, was Bewusstsein für psychische Prozesse ist. Der leitende Gesichtspunkt der hier vorgeschlagenen Analogie, die ich für kulturreflexiv fruchtbar halte, ist natürlich funktionskomparativ, nicht ontologisch. Dass es Bewusstseinsprozesse und kulturelle Prozesse, wenn es sie überhaupt in einem aufweisbaren Sinne von Vorkommen »gibt«, nicht auf dieselbe Weise »gibt«, sollte jedem klar sein. Mit Blick auf Paradigmen der philosophischen Tradition erscheint als der springende Punkt der Analogie ohnehin nicht die Aussicht auf eine Komplementarität von Bewusstsein und Kultur, sondern die Aussicht auf eine womöglich interessante Zusammenführung von philosophischen und soziologischen Thematisierungen von »Intersubjektivität« und »Kooperation«: Geteilte Kultur erklärt soziologisch die Möglichkeit selbstverständlicher Kooperation. Intersubjektivität erklärt philosophisch die Möglichkeit der Selbstverständlichkeit, dass Eines für Mehrere als dasselbe gilt (z.B. dass eine erste Person einer bestimmten Äußerung einer zweiten Person einen bestimmten Sinn zuschreiben kann, den sie einer dritten Person meint weiterkommunizieren zu können).5 Wenn sich Kooperation und Intersubjektivität wechselseitig ermöglichen, dann gehören sie, anders als Subjektivität, gleichursprünglich zur menschentypischen Lebensform. 4 5
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Zum Begriff der Artikulation siehe den Beitrag von Oswald Schwemmer im vorliegenden Band. Matthias Kettner/Audun Öfsti: »›Intersubjektivität‹. Einige Analyseschritte«, in: Georg Meggle (Hg.), Analyomen 2. Proceedings of the 2nd Conference »Perspectives in Analytical Philosophy«, Vol. 3, Berlin 1997, S. 468-477.
M. KETTNER: KULTURREFLEXION UND DIE GRAMMATIK KULTURELLER KONFLIKTE
In der prinzipiellen Möglichkeit der Artikulation von kulturell verkörpertem Sinn liegt auch der sachliche Grund, warum es ein Forschungsprogramm der Kulturreflexion geben kann. Kulturreflexion ist der Versuch, durch philosophische ebenso wie durch andere Disziplinen, deren Relevanz sich am interdisziplinären Problembezug erweist, eine Bewegung der Reflexion von kulturell verkörpertem Sinn, die in diesem immer schon angelegt ist, systematischer zu betreiben als in den Ausgangsformen, in denen er sich unmittelbar verkörpert. Mit einer von Hegel geborgten spekulativen Kurzformel gesagt: Kulturreflexion macht aus an sich kulturell verkörpertem Sinn Sinn für uns. »Reflexion« ist nicht platterdings mit »Wissenschaft« identisch, teilt mit Wissenschaft aber einen methodischen, systematischen Zug, bei ausgebildetem Gefahrenbewusstsein vor Methodenzwang und Systemzwang. Kulturelle Prozesse, wie ich sie im Folgenden verstehe, sind anders als alle möglichen anderen Arten von Prozessen in sich bereits auf Reflexion angelegt, das heißt: Weil und soweit Steuerungen, Orientierungen und Antriebe kulturell sind, können sich Personen, deren Erleben und Verhalten von diesen Steuerungen, Orientierungen und Antrieben getragen wird, im Prinzip fragen, warum sie erleben, was sie erleben, warum sie sich verhalten, wie sie sich verhalten, und ob es auch anders und womöglich besser gehen könnte. Eine solche »reflexive«, selbstbezügliche, nämlich auf das eigene Erleben und Verhalten bezogene, es nicht einfach nur hinnehmende oder agierende Einstellung würde in nichtkulturellen Prozessen gar keinen Sinn machen. Ich würde das in diskurstheoretischer Semantik so ausdrücken: Kultur findet in einer Welt von Gründen statt. Wir treiben »Kulturreflexion« in Fortsetzung von Reflexion, die in kulturellen Prozessen selbst immer schon operiert, also gewissermaßen von innen und außen, nie nur von außen, wie für bloße »Beobachter« bzw. aus systemtheoretischer Sicht bloße »Beobachter erster Ordnung«, und auch nie nur von innen – wie die von einer kulturellen Praxis bloß vereinnahmten »Teilnehmer«. Diese Perspektive macht auch den praktischen Wert von Kulturreflexion deutlich. Wozu überhaupt Kulturreflexion? Die kulturelle Dimension einer Gesellschaft bestimmt, welchen Sinn, welche Bedeutung die Aktivitäten der Menschen tatsächlich gewinnen und für sie haben könnten. Für Personen, die zweckvoll zusammenwirken, gleich in welcher Form und in welchem Bereich des gesellschaftlichen Lebens, stellt geteilte Kultur die kostbarste, nicht substituierbare Ressource dar. Alles, was wir richtig, wichtig, wertvoll, wahr finden (oder im Gegenteil unrecht, falsch, irrelevant, wertlos, unwahr), können wir nur mittels geeigneter symbolischer Formen unserer Kultur so (oder umgekehrt) werten und unterscheiden. Die Erforschung kultureller Formen der Sinnbildung, 19
I. KULTURBEGRIFFE
die wissenschaftliche Untersuchung ihrer Geltungsbedingungen und der menschlichen Möglichkeiten, kulturelle Formen zu verändern und wechselnden Zwecken und Umständen intelligent anzupassen, ist ihrerseits eine kulturelle Aktivität, muss also mit Selbstbezüglichkeit rechnen. Diese strukturelle Gemeinsamkeit aller Wissenschaften und Interventionstechniken, die es mit Kulturellem zu tun haben (statt mit sinnfreier Natur), bezeichnet prägnant der – übrigens von Studierenden der Fakultät für das Studium fundamentale der Universität Witten/Herdecke im Jahr 2005 geprägte – Begriff der Kulturreflexion.
II. Fünf Charakteristika kultureller Prozesse Jeder Überblick über die Kultursemantik belegt, dass der Kulturbegriff in den letzten zwei Jahrhunderten seine Bedeutung diametral verändert hat. Einst galt: Viele Phänomene sind kulturelle Relativa, aber zudem gibt es auch kulturelle Universalien. Im Sinne dieser Auffassung konnte Kultur gedacht werden als ein Einigendes, Gemeinschaftliches aller Menschen, eine regulativ universalistische Idee der Humanität. Hingegen wird heute oft der Begriff vorweg schon als ein Differenzbegriff eingeführt. Kultur existiert demzufolge nur im Plural, als viele Kulturen, und der Aufweis, dass irgendetwas (x) »relativ zur Kultur« ist, (und welche interessanten Dinge wären nicht relativ zur Kultur?) impliziert dann per definitionem, dass x kein kulturelles Universale sein kann, weil es ja relativ zu dieser oder zu jener Kultur sein muss. Demnach gäbe es nur kulturelle Relativa, keine kulturellen Universalien. So stellt sich, sehr vereinfacht, die Theorielage dar. Die Aporien, in die sich radikale Differenztheoretiker des Kulturellen verstricken, sind zu bekannt, um sie hier zu rekapitulieren. Ich ziehe hieraus folgende Konsequenzen: Es bleibt sinnvoll und nötig, einen allgemeinen Kulturbegriff zu konstruieren. Diese Konstruktion kann, je nach Theoriehorizont, unterschiedlich ansetzen. Ein diskurstheoretischer Ansatz – und diesen werde ich verfolgen – wird die folgenden fünf Charakteristika von kulturellen Prozessen überhaupt (im Unterschied zu allen möglichen anderen Arten von Prozessen, z.B. Lebensprozessen, chemischen Prozessen, Bewusstseinsprozessen) hervorheben. Ob andere grundbegrifflich interessierte kulturtheoretische Ansätze dieselben oder womöglich ganz andere Charakteristika hervorheben, hängt von den anderen Ansätzen ab. Positioniert man sich diskurstheoretisch, wird man die fünf Essentials und die Frage, wie gut ein anderer Ansatz ihnen Rechnung zu tragen vermöchte, als eine Adäquatheitsbedingung für die Theorie des Kulturellen in Anschlag bringen und andere Theorieangebote (z.B. system- und formtheoretische) an 20
M. KETTNER: KULTURREFLEXION UND DIE GRAMMATIK KULTURELLER KONFLIKTE
dieser Adäquatheitsbedingung bewerten. Mutatis mutandis gilt das natürlich auch für die anderen Ansätze: Jeder kulturtheoretische Ansatz, der sich überhaupt der Frage stellt, wie Kulturelles von Andersartigem abgrenzbar sei und was das Kulturelle als solches konstituiere, wird eigene Adäquatheitsbedingungen in Anschlag bringen, an denen andere Ansätze gemessen werden. Diese Reflexion innerhalb der kulturwissenschaftlichen Grundtheorie lässt sich nur durch Austrag der Paradigmenkonkurrenz im Bezug auf konkrete Fallanalysen durchführen. Was sind nun in diskurstheoretischer Perspektive die »Essentials« kultureller Prozesse? Fünf Stichworte, die ich im Folgenden erläutere. (E1) Normalisierungsarbeit. Alles Kulturelle verbraucht, im Unterschied zur von selbst laufenden Natur, habituell Arbeit und Aufmerksamkeit. Für die allgemeine Bedeutung dieses Befunds spricht, dass selbst so elementare Kulturleistungen wie der Erwerb bzw. die Weitergabe der Muttersprache nicht ohne Arbeitsaufwand verlaufen. Alle kulturell bestimmten Phänomene haben etwas von einer Errungenschaft, haben etwas Leistungs- oder wenigstens Gestaltungsmäßiges: Etwas wird in Ordnung gebracht oder gehalten. Dieser Aspekt von Kulturellem sei begrifflich als »Normalisierungsarbeit« gefasst. Die Normalität von Kulturellem lässt sich gerade nicht so beschreiben wie der Replikationseffekt durch eine starre Vorlage, von der nicht abgewichen werden kann. Sie beinhaltet vielmehr einen wirklichen Spielraum, eine Bandbreite der Bildung von unbefremdlichen Varianten. Normalitätsspielräume sind verschiebbar, können enger oder breiter ausfallen je nachdem, worum es geht und wie viel davon abhängt für den Fortgang von Praktiken, die die Mitglieder einer Kommunikations- und Interaktionsgemeinschaft für wichtig halten und praktisch ernst nehmen. Das Neue entsteht im Kulturellen durch solche Verschiebungen von und in Normalitätsspielräumen, und ohne forcierte Paradoxie darf man sagen, dass das kulturell Neue nicht trotz, sondern gerade kraft der Normalisierungsarbeit entsteht. Die Kreativität im Kulturellen wird durch die Normalisierungsarbeit auch ermöglicht, nicht nur verhindert. Dieser Normalisierungsarbeit entspringen alle Selbstverständlichkeiten, die Kulturelles hat und auch behält, solange die unauffällige Gewissheit, es mit dem Eigenen zu tun zu haben, nicht erschüttert wird durch die Erfahrung, dass für andere Menschen im Vergleich etwas ganz anderes ebenso selbstverständlich ist. Um eine spezifisch kulturelle Unterscheidung zu machen – die berühmte »kulturelle Differenz« –, muss man einen Unterschied in Normalitätsspielräumen für Verhaltensweisen machen, nicht einfach nur einen Unterschied zwischen verschiedenen Verhaltensweisen. In Anspielung auf ein berühmtes Beispiel von Claude LéviStrauss: Nicht dass Engländer bei »cheese« vorwiegend an Cheddar den21
I. KULTURBEGRIFFE
ken und Franzosen bei »fromage« an Brie macht in kulinarischer Hinsicht eine »kulturelle Differenz« (wenn überhaupt), sondern dass Engländer es normal für Engländer finden, Cheddarkonsum in Ordnung und Brie für extravagant zu halten, et vice versa pour les Français. (E2) Gemeinschaftsbezug. Unter den zahlreichen Kulturbegriffen lassen sich je nach theoretischem Hintergrund unterschiedliche Typen angenommener Funktionalität unterscheiden. Ethologisch z.B. lässt sich Kultur als sozial vermitteltes Anpassungsverhalten definieren. Kulturelle Vermittlung wird normalerweise der Aneignung bestimmter Verhaltensweisen durch individuelles Lernen und/oder genetische Übertragung gegenübergestellt. Kulturelle Vermittlung impliziert Lernen von Anderen und, in seiner wirksamsten Ausprägung (die möglicherweise auf unsere Spezies beschränkt ist), Lernen durch Andere. Kurz: Kulturelles wird sozial gelernt. Vom Einzelnen aus gesehen, hebt dieses Erlernen mit dem Sozialisationsprozess an, normalerweise zwischen einem erwachsenen Kulturrepräsentanten und einem Nachkömmling in kultureller Null-Lage. Alle modernen Kulturbegriffe beziehen Kultur daher primär auf Zustände eines sozialen Lebens, Zustände im Zusammenleben von Gruppen. Kulturelles ist gemeinschaftlich Geteiltes, steht gleichsam grammatisch im Plural der ersten Person, ist auf das Selbstverständnis einer Gruppe bezogen. Sobald sich in einer Gruppe eine spezifisch kulturell regulierte Praxis festsetzt, besteht in dieser Gruppe, zumindest mit Bezug auf die fragliche Praxis, ein mehr oder weniger explizites Wir-Bewusstsein über die richtigen oder aber falschen Spielzüge in der betreffenden gemeinsamen Praxis. (E3) Geschichtlichkeit. Alles Kulturelle ist geschichtlich. Das liegt zum einen daran, dass jedes irgendwie hervorhebbare, abgrenzbare Kulturelement einen – im Prinzip jedenfalls kulturgeschichtlich verfolgbaren – Werdegang aus anderem dergleichen hat, das vorher schon bestand oder woanders schon bestand und übernommen, aufgedrungen, entlehnt, zusammengebastelt, modifiziert oder einfach noch einmal erfunden wird. Dass alles Kulturelle Geschichte hat, liegt zum andern daran, dass seine Vermittlung über soziales Lernen von Generation zu Generation durch Wesen erfolgt, deren personales und kollektives Identitätsbewusstsein (Selbstbewusstsein) geschichtlich ist. So hat Kulturelles nicht nur, wie jedes Vorkommnis, einen »kausalen Werdegang« (der als solcher ja auch an irgendeinem Endpunkt einfrieren könnte), sondern ist fortgesetzter historischer Wandel. Dieser Wandel kann sich durch seine Träger auch gewissermaßen ein Bild von sich selbst in Vergangenheit und Zukunft machen und dadurch auf seinen eigenen Werdegang einwirken – eine für die Geschichte und alle Geschichtswissenschaften folgenreiche Form der Reflexivität als Selbst22
M. KETTNER: KULTURREFLEXION UND DIE GRAMMATIK KULTURELLER KONFLIKTE
Affektion! Geschichtlicher Wandel ist offen, aber nicht völlig beliebig, denn an jedem Punkt ist er durch den Werdegang bis hin zu diesem Punkt mehr oder weniger eingeschränkt: Durch Herkunft (Abstammung) eingeschränkter Wandel. Durch Herkunft (Abstammung) eingeschränkter Wandel, dies kennzeichnet zwar auch die Darwinsche Evolution.6 Aber kulturelle Geschichtlichkeit unterscheidet sich von natürlicher Evolution u.a. darin, dass deren stets lokale Anpassungen durch Selektion unter Varianten auf eine indirekte Weise fortschreitet (nämlich wenn zufällig lokale Unterschiede auftreten), während der kulturelle Lernmechanismus es zulässt, dass Varianten überall aufgesucht, ausprobiert, in bevorzugten Richtungen gesteigert, als Wissen direkt an die nächste Generation weitergegeben und dadurch angesammelt werden können. Anders als natürlicher Wandel durch natürliche Evolution, kann kultureller Wandel genuinen Fortschritt aufweisen, im Sinne einer gerichtet wachsenden Komplexität. Dass solche Richtungen allerdings weit auseinander laufen können, ist die von Franz Boas über Claude Lévi-Strauss bis heute in der Kulturanthropologie immer stärker vertretene Auffassung. Kulturphilosophie, die auf der Höhe der einschlägigen empirischen Diskussion ist, muss sich von monoteleologischen Denkmustern, dem Erbe der klassischen Geschichtsphilosophie, verabschiedet haben. Dasselbe gilt für Theoretiker der Kulturreflexion. (E4) Integrationstendenz. Durch Normalisierungsarbeit, Gemeinschaftsbezug und Geschichtlichkeit in Praktiken angesammelte kulturelle Komplexität tritt gewöhnlich nicht punktuell, sondern in zusammenhängend organisierten Mustern in Erscheinung. Entsprechend dieser »Integrationstendenz« kultureller Praktiken sind stets viele und vielfältige Praktiken gleichzeitig im Spiel, und stets kombinieren und komponieren sich Praktiken, die mehr oder weniger gut zusammenpassen, zu Mustern, die mehr oder weniger stabil sind. Praktiken passen sich zum einen an die situativen Gegebenheiten an, in denen sie für die Menschen, die in und mit diesen Praktiken ihre vielfältigen und oft auch konfligierenden Zwecke verfolgen, ihren guten Sinn machen. Zum andern modifizieren sich Praktiken im konkreten Vollzug auch wechselseitig: Sie stimmen sich aufeinander ab, schließen in Verbänden aneinander an, verdichten sich womöglich sogar zu Sozialsystemen mit einer erkennbar funktionalen Spezialisierung. Resultate von solchen komplexen wechselseitigen Anpassungsleistungen und –prozessen sind natürlich nicht jederzeit »optimal«, es gibt eben auch komplexe Möglichkeiten des Misslingens, z.B.
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John Dupré: Darwin’s Legacy. What Evolution Means Today, Oxford 2003. 23
I. KULTURBEGRIFFE
wenn nicht länger situativ angepasste Praktiken gleichwohl sozial tradiert werden. Da die aus kulturellen Prozessen hervorgehenden Produkte (»symbolische Formen« nannte sie Ernst Cassirer) an sich keine non-arbiträren Grenzen ihrer Verbreitbarkeit und Vermischbarkeit aufweisen, können »Kulturen« überhaupt nicht wie Inseln betrachtet werden. Die Integrationstendenz in kulturellen Produkten, auch wo sie besonders stark hervortritt, tilgt nie völlig deren Hybridität: Sie bleiben immer und immer wieder vermischungsfreudig disponiert. (E5) Schwache Normativität. Das alltagspraktisch völlig vertraute, aber theoretisch hochinteressante Phänomen, dass inkulturierte Menschen normalerweise voneinander erwarten, irgendwelche Gründe für ihr Erleben und Verhalten angeben zu können, sei als »schwache Normativität« bezeichnet. Der kulturtheoretisch springende Punkt ist nicht die Tiefe, Rationalität oder Stimmigkeit der spontan verfügbaren Gründe, sondern dass kulturelle Praktiken uns überhaupt, indem wir uns in ihnen zu bewegen lernen, immer auch mit Handlungsgründen (d.h. mit Erklärungs-, Rechtfertigungs-, und Bewertungsgründen) versorgen. Unsere spontan verfügbaren Handlungsgründe können wir dann auch sprachlich artikulieren und dadurch die jeweilige subjektive Handlungsorientierung zu etwas Öffentlichem machen, das von uns selbst so wie von anderen Personen sinngemäß nachvollzogen, Vergleichen unterzogen, in Praktiken der Urteilsbildung eingefangen und in bewusstem Denken reflektiert und fortgebildet oder verworfen werden kann. Die »Normalitätsspielräume für Verhaltensweisen« (E1), die in kultureller Normalisierungsarbeit erzeugt werden, die in sozialen Gruppen gängigen Praktiken sind immer auch schon durch Gründe irgendwie ausgelegt, die für die Mitglieder erhellen und wenn nötig auch rechtfertigen können, warum man sich besser nicht anders verhält; warum das, was (unter »uns«) normal und in Ordnung ist, so und nicht anders sein soll. Kurz: In der kulturellen Ordnung ist die Normalität selber eine normative Größe.
III. Kulturell notwendige Konfliktformen Wenn die im zweiten Abschnitt erläuterte kulturreflexive Analyse, eine Empirie zweiter Ordnung, zu einem Verständnis kultureller Prozesse geführt hat, das triftig ist, lassen sich im Licht des Begriffs kultureller Prozesse viele Forschungsfragen stellen. Er ist heuristisch fruchtbar. Im Folgenden versuche ich eine bestimmte Forschungsfrage aus dem vorgeschlagenen Kulturbegriff zu entwickeln, die ich folgendermaßen beschreiben möchte: 24
M. KETTNER: KULTURREFLEXION UND DIE GRAMMATIK KULTURELLER KONFLIKTE
Kulturelle Prozesse, das war das bisherige Ergebnis, sind als solche charakterisiert durch (E1) Normalisierungsarbeit, (E2) Wir-Bezug, (E3) Geschichtlichkeit, (E4) Integrationstendenz und (E5) schwache Normativität. Wenn sich die Natur kultureller Prozesse so fassen lässt, dann wird die Frage sinnvoll, ob in diesen Prozesscharakteristika, im Einzelnen oder im Verhältnis zueinander, bestimmte Formen (d.h. Möglichkeiten) von Konflikten (d.h. von unter Umständen eskalierbaren Spannungen) angelegt sind. Soweit sich diese Frage beantworten lässt, entsteht der Umriss einer Theorie von Konfliktformen, die in der Natur kultureller Prozesse selbst angelegt sind. Ihre Möglichkeit ist dann »kulturell notwendig« (nota bene: kulturnotwendig, nicht: naturnotwendig). In der folgenden Tabelle interpretiere ich in alle wesentlichen Charakteristika kultureller Prozesse Spannungen hinein, die als konfliktive Spannungen in diversen Realitätskontexten bekannt sind und von diversen Wissenschaften auch einigermaßen verstanden werden. Normalisierungs-Arbeit
Wir-Bezug
Geschichtlichkeit
Integrationstendenz
Schwache Normativität
untersozialisiert versus übersozialisiert
Selbstüberhöhung versus Fremdabwertung
Geschichtslosigkeit versus Ursprungsmythologisierung
Kultureller Holismus versus Modularismus
Fundamentalismus versus Posttraditionalismus
Kulturcharakteristische Normalisierungsarbeit kann sozusagen in ein Zuviel und ein Zuwenig entgleisen: Unter- bzw. übersozialisierte Praktiken, Persönlichkeiten und Institutionen mit ihren bekannten Störungen und Dysfunktionalitäten sind die Folge. Der kulturcharakteristische WirBezug kann in eine alles Fremde erfahrungsresistent abwertende, alles Eigene erfahrungsresistent aufwertende Überhöhung kollektiver Identität kippen. Natürlich ist auch die umgekehrte Besetzung kulturell möglich, allerdings wohl nur reaktiv, nie primär: Selbstabwertung und Fremdüberhöhung.7 Kulturcharakteristische Geschichtlichkeit kann bis zur kollektiven Erinnerungslosigkeit hin gedrosselt, verdrängt, ausgeblendet werden – oder umgekehrt ins Extrem einer erfahrungsresistenten Mythologisierung von Ursprüngen (Heilige Bücher, unvordenkliche Herkünfte etc.) getrieben werden.
7
Zwei interessante Fälle sind Orientalismus und Okzidentalismus, vgl. Edward W. Said: Orientalism, London 1978; und Ian Buruma/Avishai Margalit: Occidentalism, New York 2004. 25
I. KULTURBEGRIFFE
Die kulturcharakteristische integrative Musterbildung kann Formen annehmen, in denen quasi jede besondere Praxis mit jeder anderen besonderen Praxis (irgendwie) zusammenhängt, so dass jede Restrukturierung, die auftritt, wie in Wellen durch das (randlose) Ganze hindurchgeht. Die Gesamtheit der auf Ökonomie bezogenen kulturellen Praktiken scheint zumindest überall dort in der Welt, wo mit Recht von erreichter ökonomischer Globalisierung gesprochen werden kann, sich einer solchen holistischen Verfassung zu nähern – mit den bekannten unangenehmen Nebenwirkungen. Umgekehrt können einmal erreichte kulturelle Muster bestimmter Praktiken »versteinern«, sich modular abkapseln und, falls sich die einbettenden Muster anderer kultureller Praktiken ändern, unter Umständen robust dysfunktional werden – »dysfunktional« in einem funktionskomparativen und über Verläufe in möglichen Welten reichenden Sinn. Die kulturcharakteristische schwache Normativität kann unter Umständen in einer Vielzahl von Überlagerungen, die sich wie viele kleine Wellen zu einer Riesenwelle synchronisieren, zu einer so starken Normativität auflaufen, dass möglicherweise nötige innovative kulturelle Variation nicht mehr erprobt, vielleicht nicht einmal mehr kommuniziert oder gedacht werden können, weil der Versuch bereits zu sozialer Exklusion führt oder sonst wie bekämpft wird (Orthodoxie, Ritualisierung, Tabuierung). Im anderen Extrem schwächt eine kulturell integrierte Gemeinschaft die schwache Normativität ihrer wieder erkennbaren Integrationsmuster soweit ab, dass jede denkbare (bzw. lebbare) Variation als zulässig erscheint – mit den von Kritikern kulturell liberaler Gesellschaften (wie der unsrigen) vermerkten Folgen zunehmender Desorientierung, Überforderung durch Individualisierungszwang, reaktiven Selbstbindungen aus Freiheitsangst usw.
IV. Weiterführende Fragen Die im vorigen Abschnitt plausibilisierten Konfliktformen waren einzelnen Charakteristika der Prozessform des Kulturellen zugeordnet. Man kann die Analyse sicher noch weitertreiben, indem man über Schnittstellen dieser Charakteristika und deren erwartbare Konfliktivität nachdenkt. Das Ergebnis wäre die Ausfüllung der Leerstellen in der Matrix, wie sie unten abgebildet ist. (Die Kreuze stehen für die bereits erläuterten kulturell notwendigen Konflikte, die zu veritablen »kulturellen Differenzen« auflaufen können.) Die Plausibilität des vorgeschlagenen kulturreflexiven Analyserahmens erhöht sich noch, wenn man in Betracht zieht, dass im Licht der 26
M. KETTNER: KULTURREFLEXION UND DIE GRAMMATIK KULTURELLER KONFLIKTE
bisher analysierten konfliktiven Spannungen auch je besondere Formen eines Kampfes (in der metaphorischen Weite, die der Begriff des Kampfes in solchen Zusammenhängen hat) erkennbar werden (siehe folgende Tabelle). Allerdings sind hier Erläuterungen fällig, die ich in diesem kursorischen Rahmen nicht geben kann. Was ein »Kampf um Normalität«, um »Anerkennung« und um »Herkunftswissen« sei, wird man sich noch vergleichsweise gut vorstellen können. Nicht auf den ersten Blick einleuchtend ist das Konzept eines Kampfes um institutionelle Differenzierung und um Diskursivität. E1 E1 E2 E3 E4 E5
E2
E3
E4
E5
x x x x x
Wie könnten wir auf der Linie dieser Überlegungen weiterkommen? Es wird zu überlegen sein, ob sich Konfliktformen, deren Möglichkeit kulturell notwendig ist, auf praktisch interessante Weise von anderen Konflikten unterscheidet, für die das nicht gilt, weil sie andere Gründe haben als solche, die bereits aus der Natur kultureller Prozesse entspringen. Die Möglichkeit von Konfliktformen, die Gründe haben, die bereits aus der Natur kultureller Prozesse entspringen, sollten wir unterscheiden von anderen Faktoren, die in realen Situationen gewöhnlich dafür sorgen, dass reale Konflikte entstehen. Man darf vermuten, dass sie unterschiedlichen Konflikt-Grammatiken folgen. Zum Beispiel entstehen oft in Situationen der Konkurrenz um knappe materielle Ressourcen reale Konflikte. Ein Verteilungskampf um knappe materielle Ressourcen ist als solcher kein Konflikt, dessen Möglichkeit kulturell notwendig ist, sondern kulturell kontingent. Dass und wie solche nicht kulturell notwendigen Konflikte dann aber bestimmte Gestalten annehmen (z.B. die Gestalt eines Kampfs um die Anerkennung einer bestimmten Wir-Identität, oder aber die Gestalt eines Kampfs um Diskursivität usw.), sollte sich mit Hilfe einer Theorie kulturell notwendiger Konfliktivität besser erklären lassen als ohne eine solche Theorie. That would be the proof of the pudding or, at least, a good part of it.
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Der unverzichtbare Kulturbegriff* KARL-SIEGBERT REHBERG
I. »Wozu Kultur?« fragte Dirk Baecker1, von Niklas Luhmanns kultivierter Unterlaufung des Begriffs ausgehend. Der Bielefelder Großmeister sah ein Verständnis gesellschaftlicher Sonderphänomene, wie der Kunst, durch den Kulturbegriff weniger befördert als vielmehr verhindert und hielt ihn deshalb für »einen der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind«.2 An diese Infragestellung des Kulturbegriffs anknüpfend, möchte ich dessen Unverzichtbarkeit auf der Basis des bekannten philosophischanthropologischen Arguments der Gegennatürlichkeit und Kulturbedürftigkeit der menschlichen Lebensführung begründen, wohl wissend, dass ich damit eine Argumentationsebene wähle, die in der Luhmannschen Systemtheorie (möglicherweise mit guten Gründen, jedenfalls methodisch plausibel begründet) ausdrücklich ausgeschlossen worden ist. Ebenso postulierte Baecker, dass das »Wesen« des Menschen zwar nicht unbedingt der Gegenstand, so aber doch der »Anlass der Kulturtheorie« *
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Der Aufsatz entstand aus meinem Beitrag zu einem von Dirk Baecker mit Matthias Kettner und Dirk Rustemeyer im Rahmen des studium fundamentale der Universität Witten/Herdecke veranstalteten Workshops; weshalb ich ›Luhmannianische‹ Kulturverständnisse zum Ausgangspunkt meiner Argumentation mache. Dank sage ich für die anregende Unterstützung bei den Arbeiten am vorliegenden Aufsatz Tim Deubel, Lena Respondek und Tino Heim. Vgl. Dirk Baecker: Wozu Kultur?, Berlin 2000. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1995, S. 398. 29
I. KULTURBEGRIFFE
sei, insofern deren Gegenstand »die Art und Weise [sei], wie er [der Mensch] nach sich fragt.«3 Insofern hat auch dieser Ansatzpunkt einen Anhaltspunkt an den »Menschenwissenschaften« (Norbert Elias), insofern Baecker nämlich Mensch und Kultur als sich wechselseitig erläuternde, somit auch verunsichernde »elliptische Angelpunkte« der Beschreibung einer Einheit und Differenz von Kommunikation und Bewusstsein auffasst. Demgegenüber setzte etwa Arnold Gehlen gleichwohl »elementarer« an: Sein anthropologisches Modell des Verhältnisses von Mensch und Kultur ist durch den Rückgriff auf Nietzsches Ausdruck vom »noch nicht festgestellten Tier« begründet.4 Der Aspekt der Differenz liegt dann im Mensch-Tier-Vergleich, bezieht die verschiedenen kulturellen Deutungsmöglichkeiten seiner kulturellen Existenzweise jedoch ein. Auch Max Scheler und Helmuth Plessner nahmen den Menschen ›zum Anlass‹ ihrer anthropologisch-kulturtheoretischen Untersuchungen, indem sie von dessen Bedrohtheit ausgingen, vom – wie Scheler modernitätsskeptisch formulierte – »Versinken des Menschen in die Tierheit«.5 Entgegen einer weithin vermuteten Krise kultureller Deutungs- und Erklärungsansätze, welche auf einem erneut beanspruchten Vorrang für die Erklärung menschlichen Handelns durch die Naturwissenschaften beruht, zeigt sich beim näherem Hinsehen, dass gerade diese konkurrierenden wissenschaftlichen Ansätze das kulturelle Paradigma stärken. Gehirnphysiologische Studien haben die »Plastizität« des Menschen und etwa kulturwissenschaftliche Deutungen des menschlichen Sprachvermögens seit Wilhelm von Humboldt durchgehend bestätigt.6 Auch zeigt sich etwa an den neuesten Debatten über die menschliche »Willensfrei-
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Dirk Baecker: »K = K (Ko, Be), oder die Frage der Kultur«, in: Studium fundamentale: Die Semesterzeitung im Sommersemester 2007, Witten/ Herdecke 2007, S. 15. Friedrich Nietzsche: »Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit (1882/83-1888)«, in: Nietzsches Werke, Bd. 13, Leipzig 1903, S. 276 [Aph. 667], zit. aus Arnold Gehlen: »Der Mensch: Seine Natur und seine Stellung in der Welt« [zuerst 1940], in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 3, herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt/Main 1993. Max Scheler: »Zur Idee des Menschen« [zuerst 1915], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3: Vom Umsturz der Werte, Bern 1972, S. 171-195, hier S. 175; vgl. auch Helmuth Plessner: »Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie« [zuerst 1937], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VIII: Conditio humana, herausgegeben von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Frankfurt/Main 1983, S. 33-51, hier: S. 35. Vgl. Ludwig Jäger: »Wieviel Sprache braucht der Geist? Mediale Konstitutionsbedingungen des Mentalen«, in: ders. und Erika Linz (Hg.), Medialität und Mentalität: Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition, München 2004, S. 15-42.
K.-S. REHBERG: DER UNVERZICHTBARE KULTURBEGRIFF
heit«,7 dass die naturwissenschaftlichen Resultate durch kultursoziologische Reflexionen durchaus bereichert werden können (vgl. dazu auch Abschn. IV). Geht man von Luhmanns ironischer Zurückweisung des Kulturbegriffes aus, so kann man wissenssoziologisch darin eine Abwehr jener Abendlandpropaganda vermuten, welche in Deutschland nach 1945 zum allgegenwärtigen Medium in den Dienst einer Wiederbelebung kultureller Kontinuität gestellt worden war. Die Suche nach einem neuen Geschichtssinn sollte zur Verarbeitung der selbstverschuldeten Katastrophe beitragen und erwies sich als Hintergrundfolie der westdeutschen Variante einer gesamtdeutschen Flucht aus der Geschichte.8 Luhmanns spöttische Vorsicht gegenüber solcher Kulturrhetorik9 hat eine Parallele in seinem Abrücken vom Institutionenbegriff, in dem er schließlich nur noch »etwas Höheres, Sinnreicheres, vielleicht auch Geheimnisvolleres«, also das Gegenteil jeder, auch der soziologischen, Aufklärung vermutete.10 Eng damit verbunden ist Luhmanns Bruch mit den kulturellen Selbstdeutungen der Vormoderne, sein Aufgeben geschlossener Sinnsysteme und jeder Vorstellung von einer Kultureinheit (die aber bereits von Weber infrage gestellt worden war, der seinerseits allen Einheitskonzepten der Kultur opponierte und dem es grundlegend um die jeweilige »Kulturbedeutung« sozialer Konstellationen ging). Luhmann steht auch hier Weber näher, als das gemeinhin unterstellt wird, denn Kultur ist für ihn eine Dimension der Beobachtung zweiter Ordnung, bietet 7
Vgl. die Zusammenfassung in Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit: Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt/Main 2004. 8 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: »Der doppelte Ausstieg aus der Geschichte. Thesen zu den ›Eigengeschichten‹ der beiden deutschen Nachkriegsstaaten«, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten: Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln 2002, S. 319-347. 9 Vgl. zu einer systemtheoretischen Deutung von Luhmanns »Unbehagen« Dirk Baecker: »Unbestimmte Kultur«, in: Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann (Hg.), Widerstände der Systemtheorie: Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999, S. 29-46. 10 Niklas Luhmann: »Universität als Milieu«, in: ders., Kleine Schriften, herausgegeben von André Kieserling, Bielefeld 1992, S. 92; vgl. dazu KarlSiegbert Rehberg: »Konservativismus in postmodernen Zeiten: Niklas Luhmann«, in: Günter Burkart/Gunter Runkel (Hg.), Funktionssysteme der Gesellschaft: Beiträge zur Systemtheorie von Niklas Luhmann, Wiesbaden 2005, S. 285-309, insbes. S. 302ff.; mit dem von Ralf Dahrendorf für die amerikanische Soziologie gewählten Aufklärungs-Begriff überschrieb Luhmann auch seine Aufsatzsammlungen: vgl. ders.: Soziologische Aufklärung, Opladen 1970ff. 31
I. KULTURBEGRIFFE
einen »kontingent-selektiven Horizont für je zeitgebundene Sinngebungen«11 und erweist sich – wie gerade Baecker verschiedentlich formuliert hat – nicht als sozialer Sonderbereich oder funktionales Teilsystem, sondern als Modalität des Gesellschaftssystems. Dass hier ein Problem liegt, hängt mit der »Erfindung« eines entgrenzten Kulturbegriffs in der »Sattelzeit«12 am Ende des 18. Jahrhunderts zusammen. Damals erschien er als Reflexionsform des »gebildeten Europas« gegenüber der Rohheit der Natur (und den zu überwindenden gesellschaftlichen Verhältnissen des Ancien Régime). Baecker hat nachgezeichnet, wie die antiken Pflege-Begriffe, sei es des Ackerbodens, sei es der Seele, in dieser Begriffstransformation ihr konkretes Objekt verloren hätten, so dass es seither so scheinen könnte, als habe sich die Kultur als eine eigenständige »Beobachtungsformel« innerhalb der Gesellschaft herausgebildet.13 Durch den Alltagsgebrauch des »engeren Kulturbegriffes«, etwa bezogen auf die »Hochkultur«, wird das tatsächlich auch suggeriert. Luhmann hat übrigens als Ersatzbegriff für »Kultur« den der »gepflegten Semantik« entwickelt. Damit knüpft er ebenfalls an die antike, aus der Agrikultur entwickelte Metaphorik an. Seine von da aus entfalteten wissenssoziologischen Studien eröffnen einen Distanzraum zu allen kausalen Kurzschlüssen zwischen Gesellschaftsstruktur und Sinnproduktion und eröffnen dem Autor zugleich ein weites Feld, seine eigene Kultiviertheit zu demonstrieren, indem er durch überraschende Quellenfunde die Selbstproduktion des Sinns und seiner Verzweigungsmöglichkeiten zu einem unerschöpflichen Thema macht. Jedenfalls lässt sich auf diese Weise der ontologische Ballast der Begriffsgeschichte abwerfen. Zur gesellschaftlichen Selbstbeobachtung gehört auch die Konstruktion von Vergangenheit. Derlei Memorialleistungen sind in ihrer Verwobenheit mit Tradition und Geschichte problemlos als »kulturell« auszugeben. Dirk Baecker sah darin mehr als Traditionsbewahrung, vielmehr die grundlegende Beobachtungsdifferenz der »Kultur« gegenüber »wissenschaftlicher Theoriebildung«. Kultur sei somit »Beobachtungsformel und Selbstbeschreibungsmodus« innerhalb des »Systems der Gesellschaft«.14 Luhmann spricht davon, dass »die Gesellschaft einen Begriff 11 Vgl. Detlef Krause: Luhmann-Lexikon: Eine Einführung in das Gesamtwerk, Stuttgart 1996, S. 126. 12 Vgl. zu der These, dass sich ca. 1750 »ein tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer topoi vollzogen« habe, Reinhart Koselleck: »Einleitung«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 13-27, hier S. 15. 13 Vgl. Dirk Baecker: Wozu Kultur?, a.a.O., S. 14 u.ö. 14 Mit Verweis auf die zeichentheoretische Bestimmung des »kulturellen Mechanismus« (in Yuri M. Lotman/Boris A. Uspensky: »On the Semiotic 32
K.-S. REHBERG: DER UNVERZICHTBARE KULTURBEGRIFF
der Kultur erfindet, um ihr Gedächtnis zu bezeichnen«.15 Aber es gilt dies doch wohl auch für Zukunftsszenarien – von der großen Utopie bis zu den kleinen normal sciences-Prognosen.
II. Der Grund, aus dem heraus der Kulturbegriff unverzichtbar sein dürfte, ist schnell benannt. Dabei ist jedem soziologischen Konzept zu opponieren, das »Kultur« substantialisiert und nicht als »Aspektstruktur« aller Sozialität versteht, weshalb einer unkritisch totalisierenden Begrifflichkeit »der Gesellschaft« oder »des Ökonomischen« ebenso entgegenzutreten ist, wie vergleichbaren Hypostasierungen »der Kultur« oder »des Kulturellen«.16 Gerade wenn Kultur als die der Natur abgerungene, umgearbeitete »Welt« des Menschen erscheint, sind alle Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, des Öffentlichen und Intimen, des Ästhetischen und des Technischen grundsätzlich als Kulturtatsachen zu verstehen, ist »das Soziale« durch und durch kulturell codiert. Für einen derartigen kultursoziologischen Ansatz ist grundlegend, dass dies für Handlungen, Gefühle, Denk- und Wissensformen ebenso zutrifft wie für alle komplexen und hochaggregierten Objektivationen des menschlichen Lebens. Hat in der frühen deutschen Kultursoziologie (selbst in dem anspruchsvollen Entwurf Wilhelm Diltheys) die zeitverhaftete Entgegensetzung von »Kultur« und »Zivilisation« noch eine verunklarende Rolle gespielt, so zeigen sich bereits in Max Webers handlungsbegrifflicher Soziologie und seinem Persönlichkeitsverständnis – ohne dass er dies so benannt hätte – Grundlagen einer synthetisierenden Kultursoziologie.17 Mechanism of Culture«, in: New Literary History 9 (1978), S. 211-232) ist »Kultur als Gedächtnis« dargelegt in Dirk Baecker: »Unbestimmte Kultur«, a.a.O., insbes. S. 43-46. 15 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt/ Main 1997, S. 587. 16 Vgl. zu den Debatten, aus denen heraus auch die Gründung der Sektion »Kultursoziologie« der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erfolgte: Wolfgang Lipp/Friedrich H. Tenbruck (Hg.): Kultursoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31 (1979), H. 3, S. 393638; sowie Karl-Siegbert Rehberg: »Kultur versus Gesellschaft? Anmerkungen zu einer Streitfrage in der deutschen Soziologie«, in: Friedhelm Neidhardt/M. Rainer Lepsius/Johannes Weiß (Hg.), Kultur und Gesellschaft: René König zum 80. Geburtstag. Sonderheft 27 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1986, S. 92-115. 17 Vgl. ebd., insbes. S. 92-96 und S. 99f.; sowie Karl-Siegbert Rehberg: »Person und Institution: Überlegungen zu paradigmatischen Strukturen im 33
I. KULTURBEGRIFFE
Meine These ist es, dass der – aus methodischen Erwägungen entwickelte – Handlungsbegriff Webers einen wirklich »anthropologischen« Status hat: Handeln wird als zentraler Modus des menschlichen Daseins und kategorial als weltschaffendes und -veränderndes Verhalten bestimmt. Es ist eine Anthropologie der Weltbewältigung oder, wie man eingedenk des seit John Milton und John Locke so bekannten protestantischen Stolzes auf die ›untertan‹ gemachte Erde auch sagen könnte: der Weltbeherrschung.18
III. Seit der Antike wurde der Mensch als ein nicht nur Werkzeuge, sondern zuallererst Symbole schaffendes Tier verstanden. Alle Modalitäten und Formen des menschlichen Lebens hängen von zeichenhaften Verweisungssystemen ab, denn die Mittelbarkeit und Künstlichkeit des menschlichen Weltbezuges ist grundlegend. Das ist in der philosophischen und theologischen Reflexion immer schon präsent gewesen und insofern auch ein Schlüsselthema der Philosophischen Anthropologie.19 Prägnant haben Helmuth Plessner und Arnold Gehlen gezeigt, dass der Mensch »von Natur aus ein Kulturwesen« ist,20 angewiesen darauf, dass seine Antriebsstrukturen, seine »erste Natur« kulturell geformt werden. Insofern lebt der Mensch in der künstlichen Sphäre einer »zweiten Natur«. Das bedeutet zugleich, dass die von den Menschen wahrgenommene und – selbst noch in den Erkenntnisakten – von ihnen geschaffene »Welt« stets symbolisch vermittelt ist. Als Kulturwesen ist der Mensch darauf angewiesen, alle Situationen, in denen er lebt, zu deuten und zugleich das Hier und Jetzt zu überschreiten. In jeder konkreten Raum- und Zeitstelle muss er auch andere Wirklichkeiten präsent halten. Werk Max Webers«, in: Gert Albert/Agathe Bienfait/Steffen Sigmund/ Claus Wendt (Hg.), Das Weber-Paradigma: Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2003, S. 371-394. 18 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: »Kulturwissenschaft und Handlungsbegrifflichkeit: Anthropologische Überlegungen zum Zusammenhang von Handlung und Ordnung in der Soziologie Max Webers«, in: Gerhard Wagner/Heinz Zipprian (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre: Interpretation und Kritik, Frankfurt/Main 1994, S. 602-661. 19 Vgl. Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie: Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2008. 20 Vgl. Arnold Gehlen: Mensch, a.a.O., S. 88 u.ö.; sowie Helmuth Plessner: »Die Stufen des Organischen und der Mensch« [zuerst 1928], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, herausgegeben von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Frankfurt/Main 1981, insbes. »Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit« (S. 383-396). 34
K.-S. REHBERG: DER UNVERZICHTBARE KULTURBEGRIFF
Insofern ist Kultur gleichbedeutend mit Formen der Situationstranszendierung um der Situationsbewältigung willen. Von da aus lässt sich auch das Spezifische der menschlichen Intersubjektivität verstehen.21 »Geist« zu haben, bedeutet die Verfügung nicht nur über Gesten und naturgeleitete Ausdrucksbewegungen, sondern eben auch über »signifikante Symbole«.22 Deren Bedeutung wird gewusst und in die eigenen Absichten eingebaut, vor allem aber kann sie von anderen geteilt werden. Daraus ergeben sich dann die Grundstrukturen menschlichen Handelns sowie die von Alfred Schütz und den phänomenologischen Soziologen behandelten lebensweltlichen und weiter ausdifferenzierten Wissensvorräte, aus denen heraus eine wirklich durch und durch soziale Welt (auch noch als Existenzhintergrund des je Einzelnen) entsteht. Für die Struktur der symbolischen Verfügung über die Welt und über das eigene Selbst hat Gehlen ein Wort Johann Gottfried Herders aufgegriffen: Sprachmäßigkeit.23 Das soll zum Ausdruck bringen, dass der Mensch – die Formierung seiner Antriebsstruktur eingeschlossen – die Weltdinge, aber auch eigene Vorstellungen und Wünsche gegeneinander verschieben und kombinieren kann, und zwar in der Weise, wie das auf der Ebene der Wörter und Begriffe durch das menschliche Sprachvermögen geschieht. Das heißt jedoch nicht, dass der Mensch wesentlich ein »sprechendes« Wesen sei. Nicht nur, dass er auch zu schweigen vermag – vielmehr sind seine Wahrnehmungen (schon im Mutterleib) an Körperberührungen geknüpft, konstituieren Tasterfahrungen, Hunger und Gesättigtheit, Wärme und Kälte, Empfindungswechsel und schließlich die Fülle der Seheindrücke und Geräusche sein sachbezogenes und interpersonales Kommunikations- und Erfahrungsfeld. All diese vor- oder metasprachlichen Welt- und Selbstkontakte werden im Gehirn unlösbar mit sprachlichen Zeichen verschweißt – selbst wenn viele davon in Wörtern am wenigsten ausdrückbar sind. Für die Bestimmung von »Kultur« jedenfalls ist die Einsicht festzuhalten, dass schon die elementaren Lebensprozesse des Menschen mit seiner Symbolisierungsfähigkeit verknüpft sind und dass seine kulturellen Leistungen von da aus zu verstehen sind. Sprachzeichen und Bilder schaffen Welten und halten sie verfügbar. Deshalb könnte in Umkeh21 Vgl. zur Akzentuierung dieses Aspekts Hans Joas: Praktische Intersubjektivität: Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead, Frankfurt/Main 1980; sowie ders. (Hg.): Das Problem der Intersubjektivität: Neuere Beiträge zum Werk George Herbert Meads, Frankfurt/Main 1985. 22 George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, herausgegeben von Charles W. Morris [engl. zuerst 1934], Frankfurt/Main 1973; vgl. zu »signifikanten Symbolen« insbes. Teil II, Kap. 9 und 10 (S. 100ff.). 23 Arnold Gehlen: Der Mensch, a.a.O., insbes. S. 65, S. 404 u.ö. 35
I. KULTURBEGRIFFE
rung der berühmten Marxschen Formulierung24 eben auch gelten: Gerade um die Welt zu verändern, kommt es darauf an, sie zu interpretieren! Diese anthropologische Basisfunktion symbolischer Verweisungen wird auch in Ernst Cassirers neu-kantianischem Versuch einer »Philosophie der symbolischen Formen«25 deutlich herausgearbeitet. Er wollte eine über die Erkenntnistheorie weit hinausgehende, umfassende Kulturtheorie entwickeln,26 in der es ihm darum ging, die »Totalität der geistigen Formen der Weltauffassung«27 zugleich historisch und systematisch begreifbar zu machen. Gezeigt werden sollte, wie das »Geistige« der sinnlichen »Zeichen« und »Bilder« bedarf, um Wirklichkeit zu gewinnen. Dabei kam es ihm – wie zuvor schon Wilhelm v. Humboldt – darauf an, die aktive und schöpferische Bedeutung der Kreation symbolischer Welten zu betonen. Sprache und Symbole repräsentieren eine Welt nicht nur, sondern schaffen sie. Problematisch an Cassirers Symboltheorie ist allenfalls, dass er alle von ihm dargestellten Symbolsysteme – unabhängig von deren unterschiedlicher historischen Bedingtheit – als kulturelle Varianten von Weltentwürfen in einer Dimension angeordnet hat. Das mag für Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft oder auch für das Recht28 plausibel sein, nicht hingegen für die Sprache, die so basal ist, dass alle kulturell ausdifferenzierten symbolischen Formsysteme von ihrer grundsätzlichen Strukturierungsleistung abhängen (wie letztlich wohl auch Cassirer sah29) – so war es eine fehlleitende Intui-
24 Vgl. Karl Marx: »Thesen über Feuerbach« [11. These], in: ders. und Friedrich Engels, Werke [MEW], Bd. 3, Berlin 1969, S. 5ff. 25 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen [zuerst 19231929], 3 Bde, Darmstadt 1973-1975. 26 Vgl. dazu z.B. Jürgen Habermas: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt/Main 1997; sowie zu Cassirer und dem Warburg-Kreis auch ders.: »Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten: Ein Rückblick auf Cassirer und Gehlen«, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung, Köln 2001, S. 53-67, hier S. 61; vgl. mit Bezug auf die Institutionentheorie die im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogrammes »Theorie politischer Institutionen« entstandene Studie von Rainer Wassner: Institution und Symbol: Ernst Cassirers Philosophie und ihre Bedeutung für eine Theorie sozialer und politischer Institutionen, Münster 1999. 27 Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs [zuerst 1922], 6. Aufl., Darmstadt 1956, S. 7. 28 Recht als symbolisches Deutungssystem zu beschreiben, hat Cassirer vor allem in der Zeit seines durch die Nazis erzwungenen schwedischen Exils unternommen; vgl. dazu Rainer Wassner: Institution und Symbol, a.a.O., S. 43ff. 29 Vgl. Ernst Cassirer: Geist und Leben, herausgegeben von Ernst Wolfgang Orth, Leipzig 1993, S. 314. 36
K.-S. REHBERG: DER UNVERZICHTBARE KULTURBEGRIFF
tion, dass er Sprache und Mythos als »gleichursprünglich« angenommen hatte.30 Cassirer stellte die symbolischen Formen zwar nicht explizit in eine Evolutionsreihe, jedoch schien er eine innere Entwicklungslogik zu unterstellen. Der Mythos war die dominante Form der Weltdeutung am Anfang der Menschheitsgeschichte, die Wissenschaft ist demgegenüber das mit der Moderne verbundene führende Deutungssystem. Darin kann man – bezogen auf »Kultur« – auch einen Wandel des Symbolisierungsmodus sehen, nämlich vom älteren Prinzip der Präsenz zu dem nach-ontologischen der Repräsentanz.31 In den ursprünglichsten, den magischen und durch Mythen gestützten Handlungen ist der unmittelbare Vollzug entscheidend und die auf ihn gegründete Wirksamkeit.32 Magie ist eine »Technik« archaischer Weltbewältigung. Magische Rituale spielen deshalb auch in verschiedenen Kulturtheorien eine wichtige Rolle, denn für die rituellen Tänze in frühen Kulturen – wie auch noch für viele hochkulturelle Rituale – gilt, was Cassirer von der griechischen Tragödie sagte: »Es ist kein bloßes Schaustück und Schauspiel, das der Tänzer, der in einem mythischen Drama mitwirkt, aufführt; sondern der Tänzer ist der Gott, wird zum Gott.«33
IV. Die anthropologische Argumentation ist also die nicht überraschende Prämisse, von der aus eine kulturwissenschaftliche Perspektivierung der Soziologie als alternativlos erscheint, ohne dass damit irgendeine Hierarchisierung von Theorien oder Methoden empfohlen wäre. Seit den 1970er Jahren vollzog sich weltweit ein cultural turn, dessen Erfolgsgeschichte Andreas Reckwitz umfassend dokumentiert hat34, wenn auch die Philosophische Anthropologie dabei ausblendend, obwohl es an die-
30 Vgl. Rainer Wassner: Institution und Symbol, a.a.O., S. 28f. 31 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: »Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien: Eine Einführung in systematischer Absicht«, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität, a.a.O., S. 3-49. 32 Es ist dies die Begründung der Kraft von Ritualen in Emile Durkheim: Die elementaren Formen der Religion [frz. zuerst 1912], Frankfurt/Main 1981; sowie Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur [zuerst 1956], 5. Aufl., herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt/Main 2004, insbes. S. 166ff. 33 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II, a.a.O., S. 52. 34 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien: Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000. 37
I. KULTURBEGRIFFE
ser – etwa durch die Wiedererschließung des Werkes von Plessner – inzwischen auch international ein zunehmendes Interesse gibt. Eng verbunden sind die meisten theoretischen Perspektiven35 mit dem eingangs erwähnten kulturwissenschaftlichen Krisenbewusstsein, welches neuerdings sowohl in wissenschaftlichen als auch in hochschulpolitischen Disziplinkämpfen und dem damit verbundenen Rechtfertigungszwang für die Geisteswissenschaften einen neuen Anlass gefunden haben mag. Entgegen einer daraus sich ableitenden, vorschnellen Selbstaufgabe kulturwissenschaftlicher Perspektiven, soll, wie gesagt, exemplarisch gezeigt werden, dass diese gerade in der heutigen Situation auf verschiedenste Weise bestätigt und gestärkt werden.
1. Am deutlichsten wird das in der Konfrontation mit den Biowissenschaften, mit Neurophysiologie und Kognitionswissenschaft. Mag sich das Wissen um genetische Dispositionen auch sprunghaft erweitern und die Hirnforschung (nicht anders als die Primatenforschung) große experimentelle Fortschritte machen, so zeigt sich doch durchgängig die Begrenztheit jedes naturalistischen Determinismus, wenn es um die konkreten »Inhalte« menschlicher Perzeption und Willensimpulse geht. Etwa haben die Experimente von Benjamin Libet gezeigt, dass einer so genannten »freien Willenshandlung« spezifische elektrische Veränderungen des Gehirns um ca. 550 Millisekunden vorausgehen. Er wollte den Entscheidungsraum bewusster Willensakte, denen er jedenfalls eine »Veto-Möglichkeit« zugesteht, prüfen. So würden Handlungen nicht so sehr durch den »bewussten freien Willen« ausgelöst, sondern vielmehr kontrolliert.36 Der Mensch erscheint also auch aus naturwissenschaftlicher Sicht als »Nein-Sagen-Könner«37 (Max Scheler). Aus dem Argument Libets hat Gerhard Roth abgeleitet: »Nicht mein bewusster Willensakt, sondern mein Gehirn hat entschieden!«38 Das könnte nur erstaunen, wenn unterstellt wird, dass Entscheidungsgründe und -affekte jenseits der physischen Struktur in einer »seelischen« Sonderform existier35 Vgl. zur Varianz neurer Kulturtheorien: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006. 36 Benjamin Libet: »Haben wir einen freien Willen?«, in: Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung, a.a.O., S. 268-289, insbes. S. 268, S. 277ff., S. 282f. 37 Max Scheler: »Die Stellung des Menschen im Kosmos« [zuerst 1927/28], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9: Späte Schriften, herausgegeben von Manfred S. Frings, Bern 1976, S. 11-71, hier S. 44. 38 Gerhard Roth: »Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise?«, in: Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung, a.a.O., S. 66-85, hier S. 73 und S. 76ff. 38
K.-S. REHBERG: DER UNVERZICHTBARE KULTURBEGRIFF
ten, während es doch gehirnlich verarbeitete, persönlich-kulturelle Erfahrungen und Wissensbestände sind, welche die handlungsbedingenden und -kontrollierenden Impulse hervorbringen.39 Gerade die in jüngster Zeit auch massenmedial verbreiteten Resultate der frühkindlichen Hirnforschung und die zum Gemeinplatz gewordenen Vorstellungen von der nicht festgelegten Fülle und Komplexität der Informationsverschaltungen im Aufbau der kindlichen Kognition erscheinen geradezu wie Paraphrasen der anthropologisch-kulturwissenschaftlichen Annahmen über den Leistungsaufbau auf der Basis menschlicher Kommunikation und Handlungsvollzüge.40 Auch bestätigt sich die Sonderstellungsthese darin, dass beim Menschen die Anzahl der Gehirnzellen nicht festgelegt, sondern vielmehr in ontogenetischen Entwicklungsprozessen entwickelt und strukturiert wird. Nichts anderes hat man in kulturtheoretischen Traditionen seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts gedacht – es findet dies nun lediglich seine naturwissenschaftliche Bestätigung.
2. Zu einem ähnlichen Resultat kommt man bei der Betrachtung innersoziologischer Theoriekontroversen. Daraus ist kein Plädoyer für eine mono-paradigmatische Struktur des Faches abzuleiten.41 Im Felde der heute sehr prominenten Rational-Choice-Ansätze lässt sich seit Jahren die Tendenz zu einer sekundären Kulturalisierung der Modelle und Erklärungsansätze beobachten. Immer deutlicher wird, dass rationales Kalkül, dass Vermeidungsinteressen und Wunschpräferenzen, dass die Minimierung von Transaktionskosten etc. ohne die kulturelle Einbindung und deren situative Vermittlung ins Leere laufen (worauf etwa
39 Vergessen wird bei diesen Debatten zumeist, dass Libet aus seinen Experimenten die Schlussfolgerung gezogen hat, »dass die Existenz eines freien Willens zumindest eine genauso gute, wenn nicht bessere wissenschaftliche Option ist als ihre Leugnung durch die deterministische Theorie«, ders.: »Haben wir einen freien Willen«, a.a.O., S. 287. 40 Vgl. Gerald Hüther: »Gehirnforschung und Soziologie: Die Strukturierung des menschlichen Gehirns durch soziale Erfahrungen«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt/Main, New York 2008, S. 1315-1328. 41 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: »Erfahrungswissenschaft und Medium der Reflexion: Thesen zur soziologischen Kompetenz«, in: Christiane Funken (Hg.), Soziologischer Eigensinn: Zur »Disziplinierung« der Sozialwissenschaften, Opladen 2000, S. 29-48. 39
I. KULTURBEGRIFFE
Hartmut Esser mit seiner Theorie der »Situationslogik« reagiert hat). 42 Allerdings werden dabei die zunehmend wichtiger genommenen kulturellen Rahmenbedingungen häufig als »diffus«, sozusagen als Störgrößen eingeführt (womit sich leicht auch die Vorstellung verbinden lässt, Spezialisten der Kulturperspektive seien ihrerseits diffus). Ich erinnere mich noch gut daran, wie Esser mit Verweis auf seine Lektüre von Florian Znaniezckies und William I. Thomas’ Studie über die polnischen Bauern in den USA43 sein Heureka-Erlebnis mitteilte, dass diese ja katholisch gewesen seien, wovon ihre Handlungsentwürfe wohl kaum unberührt geblieben sein dürften. So mag die rationale Handlungstheorie zwar als subtiler Modellierungsansatz möglicher Kalküle erfolgreich sein, bleibt jedoch angewiesen auf kulturelles Sinnmaterial, um überhaupt etwas »erklären« zu können.44
3. Wenn man Studien in der Linie Pierre Bourdieus oder die – gewiss eingeschränkteren – Überlegungen Luc Boltanskis und Ève Chiapellos zum »neuen Geist des Kapitalismus« liest, wird die Kulturabhängigkeit des Wirtschaftens und eine damit zusammenhängende Kulturalisierungsbedürftigkeit des Managements durchweg sichtbar, wie auch die für einige Jahre blühende »Unternehmenskultur« belegt hat. Das könnte sich auch in einer partiellen Selbstkorrektur der mathematisierten Modellökonomie erweisen, etwa durch den (sogar eine Nobelpreis-Verleihung nicht verhindernden)45 Neo-Institutionalismus. Ausgangspunkt war eine Wiederentdeckung der Kritik der herrschenden
42 Vgl. Hartmut Esser: »Die Definition der Situation«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48 (1996), S. 1-34; ders.: »Die Rationalität der Werte: Die Typen des Handelns und das Modell der soziologischen Erklärung«, in: Gert Albert u.a. (Hg.), Das Weber-Paradigma, a.a.O., S. 153-187; sowie Rainer Greshoff und Uwe Schimank (Hg.): Integrative Sozialtheorie? Esser – Luhmann – Weber, Wiesbaden 2006. 43 Florian Znaniecki/William I. Thomas: The Polish Peasant in Europe and America: Monograph of an Immigrant Group, New York 1927. 44 Das wird durch Robert Axelrods Analyse der Kooperation feindlicher Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges gut belegt, der ausdrücklich auf seine Auswertung von Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen von britischen Frontsoldaten verwies, welche der Soziologe Tony Ashworth 1980 vorgelegt hatte und deren kulturelles Material seine Kalkülmodellierungen erst möglich gemacht hat. Vgl. Robert Axelrod: Die Evolution der Kooperation, München 1987. 45 1993 wurde Douglass C. North in Anerkennung seiner Arbeiten über institutionellen ökonomischen Wandel mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. 40
K.-S. REHBERG: DER UNVERZICHTBARE KULTURBEGRIFF
Volkswirtschaftslehre durch Thorstein Veblen, der insbesondere die Prämissen des homo oeconomicus-Modells und die hedonistische Kalkulation von Aufwand und Ertrag, von Glückssuche und Leidensvermeidung kritisierte und in seiner Studie über die leisure class geradezu karikierte.46 Menschliches Handeln und die ihm zugrunde liegenden Wünsche sollten stattdessen aus den Institutionen heraus verstanden werden, wobei die sozialen Einrichtungen des technischen und wissenschaftlichen Zeitalters schließlich dazu beigetragen haben mögen, dass rationale Schemata von Ursache und Wirkung auch für die Motivationsstruktur immer bestimmender wurden. Es ist dies auch die Essenz von Max Webers Rationalisierungsthese. Das bedeutet – wie insbesondere die kritische Verschärfung des ökonomischen Institutionalismus durch Clarence E. Ayres klargemacht hat47 –, dass man auf eine Anthropologie der unsozialisierten »Natur« des Menschen verzichten müsse, weil dieser eben notwendig vergesellschaftet, das heißt von Anfang an durch Institutionen geprägt sei. Das kann man bei den Philosophen schon lange nachlesen, systematisiert dann bei den erwähnten Autoren der Philosophischen Anthropologie. Mag sein, dass sich inzwischen die ökonomischen und soziologischen Ansätze in vielem einander annähern, so dass es keineswegs nur eine »ökonomische Herausforderung der Soziologie« geben dürfte, sondern auch die umgekehrte Attraktivität soziologischer Komplexitätssteigerung für die Modellökonomie.48
V. Andreas Reckwitz hat in seiner innertheoretischen Rekonstruktion kulturtheoretischer Ansätze immer auch die wissenssoziologische Überlegung »äußerer« Einflussgrößen mitlaufen lassen und den Erfolg des kulturellen Blicks ganz wesentlich auf Tendenzen der (Post-)Modernisierung vieler Gesellschaften bezogen. Subjektivierung und Selbstorganisation in der bürgerlichen Gesellschaft waren Voraussetzungen einer
46 Vgl. Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute: Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen [engl. zuerst 1899], Köln o.J. [1950]. 47 Vgl. Norbert Reuter: Der Institutionalismus: Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie, Marburg 1994. 48 Vgl. Andrea Maurer/Michael Schmid (Hg.): Neuer Institutionalismus: Zur soziologischen Erklärung von Organisation, Moral und Vertrauen, Frankfurt/Main, New York 2002, darin besonders die Beiträge von Jens Beckert (»Von Fröschen, Unternehmensstrategien und anderen Totems«, S. 133147) und Thomas Edeling (»Organisationen als Institutionen«, S. 219235). 41
I. KULTURBEGRIFFE
»organisierten Moderne«,49 die sich in Richtung einer »Hochmoderne« weiterentwickelte und für welche die Erfahrung mit Kontingenzen und Differenzen von Sinnsystemen prägend wurde. Und tatsächlich scheint das Mögliche heute so attraktiv zu sein wie einstmals im Positivismus oder Marxismus das Gesetzmäßige. So werden Möglichkeitsräume imaginiert, die vielleicht nicht einmal Robert Musils Protagonist Ullrich für möglich gehalten hätte. Einleuchtend ist die seit dem Historismus entwickelte Kritik an Ein-Faktor-Theorien der Gesellschaftsentwicklung,50 weniger hingegen die neueste Tendenz, alle Bestimmungsfaktoren der Entwicklung in bloße Kontingenzbeziehungen aufzulösen. Das stimmt zwar in dem trivialen Sinne, dass alles jeweils auch anders hätte kommen können, nicht aber für die »Pfadabhängigkeiten« bestimmter Entwicklungslinien. Eine Kritik an einem Einheitsmodell, wie etwa Alexandre Kojève und ihm folgend Francis Fukuyama es bis ins Karikaturhafte überpointiert hatten, wenn sie die gesamte Menschheit als potentielle US-Amerikaner ansahen,51 ist schlüssig. Aber die Strukturähnlichkeiten und -übernahmen in Modernisierungsprozessen sind doch gleichermaßen unübersehbar. Kontingenzeuphorie mag die dekonstruktivistischen Aspekte kulturwissenschaftlicher Perspektiven begünstigen. Jedoch kommt gegenüber den Virtualisierungsaspekten zunehmend wieder die »Materialität« in den Blick, gibt es die Anerkennung des »Vetos der Fakten«. Manche datieren das auf die gewaltsame Geburtsstunde durch den (inzwischen zum Topos verkommenen) Nine-Eleven. Es scheint wieder bewusst zu werden, dass sich – entgegen postmodernen Suggestionen (zuweilen auch Niklas Luhmanns) – in den fluiden Welten von Lebensstilen und Systemkopplungen durchaus reale Machtprozesse sowie Geltungs- und Einflusshierarchien aufweisen lassen. Bourdieu hatte das lange zuvor in 49 Vgl. Peter Wagner: Soziologie der Moderne: Freiheit und Disziplin, Frankfurt/Main, New York 1995. 50 Das wurde für die Moderne bereits relativiert durch Shmuel N. Eisenstadt: Multiple Modernities, New Brunswick/N.J. 2002. 51 Kojève sah in den Vereinigten Staaten das »Endstadium des marxistischen ›Kommunismus‹ erreicht«, »da praktisch alle Mitglieder einer ›klassenlosen Gesellschaft‹ dort schon jetzt erwerben können, was ihnen gefällt, ohne deshalb mehr arbeiten zu müssen, als sie Lust haben«. Auch wirkten »Amerikaner nur deshalb wie reichgewordene Russen und Chinesen [...], weil die Russen und Chinesen einfach noch arme Amerikaner« sind; so Alexandre Kojève: Introduction à la lecture de Hegel [zuerst 1947], Paris 1988; deutsche Übersetzung von Traugott König: »Die Abenteuer der Dialektik in Frankreich«, in: Manfred Frank/Friedrich A. Kittler/Samuel Weber (Hg.), Fugen. Deutsch-französisches Jahrbuch für Text-Analytik, Olten/Freiburg 1980, S. 282-289, hier: S. 287ff.; ähnlich argumentiert Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München 1992. 42
K.-S. REHBERG: DER UNVERZICHTBARE KULTURBEGRIFF
den Mittelpunkt seiner Gesellschaftsanalyse gestellt, dabei zwar von »Klassen« sprechend, deren kulturelle Geschmacksausprägungen jedoch implizit mit der ständischen Geschichte Frankreichs verbunden waren.52 Luhmann hatte mit Bezug auf England ganz ähnlich vermutet, dass »Kultur« dort in Absetzung von der industriellen Moderne als ein »Schichtattribut« gelte, welches »nicht mehr auf Geburt verweist, sich aber auch nicht allein dem mit industrieller Produktion erworbenen Reichtum überlässt«.53 Derartige Distinktionsprozesse gelten aber nicht nur innergesellschaftlich. Seit langem ist »die Weltgesellschaft« hierarchisiert und »Kultur« wird nachdrücklich mit den daraus entstehenden Konflikten in engsten Zusammenhang gebracht. Daraus erklärt sich der Erfolg von Samuel Huntingtons Annahme über die neuartigen Kulturund Konfliktkonstellationen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.54 In ähnlicher Weise erscheint die Flut von Neuentdeckungen des Religiösen, wird geradezu eine »Wiederkehr der Götter«55 in Aussicht gestellt. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass die Säkularisierungsgewissheiten in öffentlichen Kulturdiskursen, sodann auch die (partiell durchaus zutreffende) Individualisierungssoziologie bestimmte Wirklichkeitsausschnitte derart aus dem Blick verloren hatten, dass man sich nun darüber verwundert zeigt, allen diesen weltbildprägenden Kulturtatsachen wieder zu begegnen. Umgekehrt heißt das übrigens nicht, dass alle Säkularisierungsthesen verfehlt wären; aber sie haben eben selbst eine mythologische Dimension angenommen.56
* Für die Debatte um die Bedeutung des Kulturbegriffs mag vor diesem Hintergrund die zusammenfassende Beobachtung genügen, dass jenseits aller Kultur-Konjunkturen, aller Entgrenzungen der damit verbundenen Vorstellungsgehalte wie einer Kritik daran, eine kulturwissenschaftliche Perspektive unverzichtbar, weil anthropologisch alternativlos ist.
52 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [frz. zuerst 1979], Frankfurt/Main 1982. 53 Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt/Main 1999, S. 40f. 54 Vgl. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1997. 55 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter: Religion in der modernen Kultur, München 2004. 56 Darauf hat konsequent Hans Blumenberg hingewiesen; vgl. z.B. ders., Säkularisierung und Selbstbehauptung [erw. und überarb. Neuausg. von »Die Legitimität der Neuzeit«], Frankfurt/Main 1974. 43
Das Projekt »Kultur« – destruktionsanalytisch betrachtet HANS PETER THURN
I. Theoretische Annäherungen Der europäischen Kulturidee wohnt – wie wir seit längerem wissen – eine scheinbar unausrottbare melioristische Vision inne: die Hoffnung der Menschen nämlich auf ein ideell und materiell verbessertes Leben, sofern sie nur hinreichend von ihrer Kulturbefähigung Gebrauch machen würden. Diese Vorstellung erhielt sich seit der Antike Jahrhunderte lang durch die feinsten Verästelungen der Begriffsentwicklung, der Philosophie und Wissenschaft hindurch. Ob im Sprachgebrauch »Kultur« oder »Zivilisation« dominierten, ob die Betonung auf die Pflege des Geistes und der Seele wie bei Cicero gelegt wurde, ob auf verfeinerte Lebenspraxis wie bei Francis Bacon oder auf die Entwicklung einer mitmenschlich verträglichen Sozialkultur wie bei Samuel Pufendorf und vielen anderen Denkern der europäischen Aufklärung: Überall und immerwährend schwang in solchen argumentativen Ausdifferenzierungen die Erwartung mit, dass es den Menschen kraft einer individuell und gemeinsam betriebenen Selbst- sowie Fremdkultivierung gelingen könne, jene Lebenssicherung auf wiewohl künstliche Weise (wieder) zu erringen, die sie vermöge ihrer Intelligenzbegabung beim unwiderruflichen Austritt aus den tierischen Naturbindungen vermeintlich verloren hatten. Mit dem Anwachsen der technischen, materiellen und ideellen Möglichkeiten der Daseinssicherung verfestigten sich weite Teile der kulturellen Semantik dahingehend, dass die positiven Perspektiven solchen Tuns dominierten und dass die negativen Begleiterscheinungen sowie Folgen 45
I. KULTURBEGRIFFE
in Kauf genommen wurden, oft auch verschwiegen, nur selten eigens thematisiert wurden. Das Wort »Kultur« arrivierte (wie auch dasjenige der »Zivilisation«) mitsamt seinem Ideenhaushalt zu einem pseudoreligiösen Heilsbegriff, in dessen beigesellter Praxis der ersehnte oder tatsächlich erreichte »Fortschritt« die jeweils eingesetzten Mittel, die verfolgten Zwecke sowie die anvisierten Ziele zu legitimieren hatte.1 Dieser melioristischen Ausrichtung entsprechend ist die europäische Kultursemantik auf weiten Strecken ihrer Geschichte von einer Metaphorik der Eroberung durchsetzt, in der Gutes und Schlechtes zugunsten des Ersteren proportioniert werden. In ihren Vorstellungsbildern dominieren Metaphern der Konstruktion, des Auf- und Ausbaus, des Vorwärtskommens, herrschen Gleichnisse der menschenmöglichen Produktivität auf dem Feld und im Haus, im Gewerbe und im Handel vor. Personell bevölkern zunächst vor allem Gärtner und Bauern, Hirten und Viehzüchter, mit dem Wandel von der Landkultur zur Stadtzivilisation ergänzend Baumeister und Ingenieure, seit dem Anbruch des merkantilen Zeitalters zusätzlich Händler und Kaufleute die Bühne der Kulturbedeutung.2 Ihre Leistungen, so wird suggeriert, bescheren den Menschen Ernährungs-, Behausungs- und Wegesicherheit, können, ja sollen mithin als Prototypen aller anderen, auch feingliedrigeren Kulturtätigkeiten erachtet werden. Dementsprechend prägen solche, aus der Naturverwandlung gewonnenen, Aktionsbilder auch die sozialweltlichen Zivilisationsphantasien, indem der tüchtige Gärtner dem umsichtigen Erzieher zum Vorbild gereicht oder etwa ein kluger Staatsmann sich seinem Volke wie ein erfahrener Hirte den Schäflein zuwendet. Sie alle zielen auf das Wohl der Menschen, wollen nur das Beste und können dies ehestens erreichen, indem sie das Aufbauende, das Schöpferische, das Gute maximieren und zugleich das Abbauende, das Abträgliche, das Schlechte minimieren.
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Zur Geschichte der Begriffe und Konzeptionen vgl. Hans Peter Thurn: Soziologie der Kultur, Stuttgart 1976; melioristische Visionen und Hoffnungen leiten im 20. Jahrhundert selbst noch die Argumentation von Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde, zweite, um eine Einleitung vermehrte Auflage, Bern, München 1969. Zur Geschichte dieser Metaphorik vgl. Hans Peter Thurn: »Gärtner und Hirten – Krieger und Totengräber. Metaphern im Konflikt«, in: ders., Kultur im Widerspruch. Analysen und Perspektiven, Opladen 2001, S. 109130; sowie ders.: »Gärtner und Hirten – Krieger und Totengräber. Kulturmetaphern zwischen Aufbau und Zerstörung«, in: Bettina Paust/Johannes Bilstein/Peter M. Lynen/Hans Peter Thurn (Hg.), Aufbauen – Zerstören. Phänomene und Prozesse der Kunst. Moyländer Diskurse zu Kunst und Wissenschaft, Bd. 1, Oberhausen 2007, S. 19-30.
H. P. THURN: DAS PROJEKT »KULTUR«
Das Nachdenken über die der Kultur auch innewohnenden zerstörerischen Kräfte trug sich hingegen zunächst vor allem in Formen argumentativer Abwehr zu. Von der griechischen und römischen Antike an findet sich eine Überfülle an Belegen für die wachsende Skepsis gegenüber menschlicher Kulturfähigkeit, für Krisenwarnungen und jenen »Kulturpessimismus«, den wir geneigt sind, vorzugsweise an neuzeitlicheren Denkern wie etwa Jacob Burckhardt zu entdecken.3 Diese befürchteten, uns historisch näher stehend, unter dem Ansturm von Industrialisierung, naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten sowie sozialen und politischen Konflikten, den »Verfall der Kultur« durch allzu rapide Aushöhlung ihrer geschichtlich gewachsenen Traditionen. Die defensive Beschwörung kulturellen Niedergangs verstummte fortan nicht mehr, die historische Palette der »Verfallstheorien« reichte, mit freilich unterschiedlicher Akzentuierung bei den einzelnen Analytikern, von den antiken Pessimisten über Turgot und Montesquieu, über Gibbon und Burckhardt bis hin zu Oswald Spengler, Hendrik de Man, Theodor W. Adorno und E. M. Cioran.4 Neben dieser Tradition diagnostischer Verfallsabwehr entstand jedoch eine Denkrichtung, die sich der Zerstörungsidee offensiv bemächtigte. Deren Urheber mochten sich nicht damit begnügen, der Selbstauflösung ganzer Zivilisationen weiterhin tatenlos zuzusehen. Sie wünsch3
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Zur Tradition dieser Skepsis vgl. Michael Landmann: Problematik. Nichtwissen und Wissensverlangen im philosophischen Bewusstsein, Göttingen 1949; Jacob Burckhardts Pessimismus und Verfallstheorie sprechen sich insbesondere in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« (verfasst in den Jahren 1868-1873) aus; vgl. darin vor allem den Abschnitt über »Die Kultur« sowie die »Zusätze über Ursprung und Beschaffenheit der heutigen Krisis«; Weltgeschichtliche Betrachtungen von Jacob Burckhardt, herausgegeben von Rudolf Marx, Stuttgart 1978, insbes. die S. 57ff. und S. 192ff. Deutlich gibt sich Burckhardts Krisendiagnostik auch in seinen Briefen zu erkennen, etwa wenn er an Friedrich von Preen schreibt, es komme ihm »bisweilen vor als seien für die speciell germanische Welt noch solche Crisen im Anzug, dass die berühmtesten viri doctissimi darob mit all ihren Büchern obscur werden könnten.« Zum geschichtsphilosophischen Kontext vgl. Karl Löwith: Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte, Luzern 1936 und Stuttgart 1966. Vgl. Anne Robert Jacques Turgot: Recherches sur les causes des progrès et de la décadence des sciences et des arts, verfasst Paris 1749 und hernach teilweise in andere Texte eingearbeitet; Charles-Louis de Secondat et de Montesquieu: Considérations sur les causes de la Grandeur des Romains et de leur décadence, Amsterdam 1734; Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 6 Vols, London 1776-1788; Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Wien, München 1918/1922; Hendrik de Man: Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit, Bern 1951; Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1966. 47
I. KULTURBEGRIFFE
ten vielmehr den so genannten »Verfall« geistig und praktisch zu beschleunigen, um einer wie auch immer »anderen« Kultur zu rascherer »Geburt« zu verhelfen. Eine Theorie dieser Zielrichtung wollte nicht mehr nur Hebammendienste leisten, sondern war gleichermaßen als »Beerdigungskunst« auszulegen. Der Anarchist Michail Bakunin etwa, der im Namen ersehnter Freiheit die »Lust der Zerstörung« als »zugleich eine schaffende Lust« pries, rief im selben Atemzug dazu auf, man möge doch das ablebende Alte, will sagen: das quasi schon »Tote begraben«.5 Unter Verwendung dieser Argumentationsfigur entstand, aus den verschiedensten Motiven heraus, eine Folge mehr oder weniger dezidierter und expliziter Zerstörungskonzepte, deren Augenmerk sich in hohem Maße auf kulturelle Gegebenheiten richtete. Ob Marx und Engels6, Lenin7, Hitler8 oder ihre zahlreichen Vor-, Mit- und Nachläufer: Sie alle planten die Zerstörung kultureller Wirklichkeiten, führten sie durch oder nahmen sie doch billigend in Kauf. Sie wussten, dass, wer eine Sozialwelt verändern bzw. lenken will, auf deren Kultur zielen muss, weil ge5
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Michail Bakunin: »Die Reaktion in Deutschland (1842)«, in: Philosophie der Tat. Auswahl aus seinem Werk, Köln 1968, S. 61-96, hier zitiert S. 95 und S. 96 (Schlusssatz). Karl Marx und Friedrich Engels legen ihre Zerstörungstheorie zusammenfassend dar in: »Manifest der Kommunistischen Partei (1848)«, in: Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 459-493. Im Hinblick auf die Kultur vgl. S. 472: »Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne dass der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.« Lenin spricht beispielsweise in einem Referat auf dem Siebenten Parteitag der KPR(B) am 8. März 1918 von der »gewaltigen Zerstörung der Kultur«, welche Krieg und Revolution bewirkt hätten und stets verursachten. Zugleich versucht er, diese Destruktivität herunterzuspielen mit dem Hinweis auf die kulturelle Innovationsfähigkeit des Proletariats, die Geburtskraft der nachrevolutionären Epoche: »Denn wie viel Kulturwerte auch zerstört sein mögen – die Kultur aus dem geschichtlichen Leben zu streichen ist unmöglich, es wird schwer sein, sie wieder aufzubauen, aber niemals führt eine Zerstörung so weit, dass die Kultur völlig verschwindet. Dieser oder jener Teil, diese oder jene materiellen Überreste der Kultur sind nicht zu beseitigen, die Schwierigkeiten werden lediglich darin bestehen, sie zu erneuern [...]« Vgl. Wladimir I. Lenin: Über Kultur und Kunst. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden, Berlin 1960, S. 266f. In Reaktion auf seine persönlichen (gescheiterten) künstlerischen Ambitionen hat Adolf Hitler seine kulturellen Zerstörungsabsichten mit Vorliebe bei Anlässen der Bildenden Kunst geäußert. So etwa in seiner Rede zur Eröffnung des Hauses der Deutschen Kunst am 17. Juli 1937: »Wir werden von jetzt ab einen unerbittlichen Säuberungskrieg führen gegen die letzten Elemente unserer Kulturzersetzung«. Vgl. Joseph Wulf: Die Bildenden Künste im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 361.
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sellschaftliche Realität sich aus semantisch akzentuierten Gestaltungsprozessen heraus bestimmt und sich in diesen konturiert. Infolgedessen entwarfen sie (auch) Strategien kultureller Destruktivität, die zu einer möglichst effektiven Fundamentalveränderung von Welt beitragen sollten. Hellsichtig machte schon Friedrich Nietzsche dem 20. Jahrhundert Vorhersagen, die es auf schrecklichste Weise erfüllte und deren prognostisches Licht bis in die Gegenwart leuchtet. Mit der Todeserklärung Gottes verliert der Mensch zugleich den Glauben an seine Fähigkeit, das Leben friedlich und harmonisch gestalten zu können. Um den Weg der Welt in die Katastrophe zu schildern, verwendet Nietzsche an entscheidender Stelle die Chiffre des Totengräbers. Bezeichnenderweise ist es ein (angeblicher) Narr, ist es der »tolle Mensch«, der in der »Fröhlichen Wissenschaft« seine Mitbürger beschwörend fragt: »Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen!«9 Dieser – zeitgleich von Max Weber diagnostizierten – »Entzauberung« der Welt zum Trotz sahen viele Denker lange an der Aufgabe vorbei, neben den konstruktiven Prozessen die Zerstörung menschlichmitmenschlicher Wirklichkeiten sowie die ihr zugrunde liegenden Konzeptionen zu durchleuchten. Erst die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts widmete sich systematisch der Tatsache, dass die Menschen ständig und überall nicht nur die Erbauer, sondern auch die Vernichter kultureller Domänen sind. Ihre Kulturtätigkeit vollzieht sich in einem breiten Spektrum von Handlungsmöglichkeiten, in dem neben gestalterischen (Krea-
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Friedrich Nietzsche: »Die Fröhliche Wissenschaft.« Drittes Buch, Nr. 125: »Der tolle Mensch«, in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Fünfte Abteilung, zweiter Band: Idyllen aus Messina. Die Fröhliche Wissenschaft. Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 bis Sommer 1882, Berlin, New York 1973, hier zit. S. 159; zur Bedeutung dieser Stelle vgl. auch George Steiner: In Blaubarts Burg. Anmerkungen zur Neudefinition der Kultur, Frankfurt/Main 1972, S. 48ff. 49
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tivität), bewahrenden (Traditionspflege) und erneuernden (Innovation) auch zerstörerische Impulse vielfältig mitwirken (Destruktion). Indes: Ob und wie weit dem sowohl durch das psychische Innenleben als auch durch die äußeren Lebensbedingungen beeinflussten Zerstörungshandeln des Menschen ein besonderer Destruktionstrieb zugrunde liegt, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Zwar nahm Sigmund Freud das Vorhandensein und allgegenwärtige Mitwirken einer solchen Energie an, beschwor auch für den Fall, dass diese die Übermacht im menschlichen Triebleben erränge, ihre unheilvollen, ja verheerenden Auswirkungen auf die Kultur und Zivilisation. Angesichts potentieller Zerstörungen und mangelnder Wertmaßstäbe, befürchtete Freud schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, steigere sich die Ohnmacht der Betroffenen zu einer neuen Stufe jenes »Unbehagens in der Kultur«, das er als ein verbreitetes Merkmal in der Einstellung gegenüber der industriellen Zivilisation diagnostizierte.10 So wie die kulturelle Wirklichkeit sich produktiv, in ihren materiellen und geistigen Hervorbringungen, ambivalent verfasse, indem sie vielfältig Aufbau und Zerstörung paare, so werde sie auch reaktiv behandelt, von den ihrer sich Bedienenden, sie Nutzenden. Deren Ambivalenz äußere sich als ein Schwanken zwischen Skepsis und Zuversicht, zwischen Vertrauen in die aufbauermöglichenden Kräfte einerseits und Misstrauen gegenüber den Zerstörungspotentialen andererseits, die alle wie im Gesamtleben so auch in jedem Einzelnen wirken und miteinander streiten. Alexander Mitscherlich folgte Freud in dieser Sicht, indem er die triebtheoretische Diskussion der Psychologie um den Begriff der »destrudo« bereicherte. Diese wollte er innerhalb der Libido-DestrudoPolarität als »energetisches Radikal« verstanden wissen.11 Doch erst Erich Fromm legte 1974 eine umfassende »Anatomie der menschlichen Destruktivität« vor, die das zerstörerische Handeln bis in seine extremsten Exzesse hinein als eine Steigerungsform menschlicher Aggressivität beschrieb und zugleich seine zahlreichen Erscheinungsformen herauspräparierte (offensive, sadistische, ekstatische Destruktivität u.a.m.). Die äußeren Anlässe, die neben seiner naturalen Restveranlagung sowie psychischen Dispositionen den Menschen zu den verschiedenen Arten zerstörerischen Handelns treiben, sucht Fromm vornehmlich in den jeweiligen kulturellen und zivilisatorischen Lebensbedingungen auf. Diese gel10 Vgl. Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur (1930)«, in: Studienausgabe Bd. 9, Frankfurt/Main 1974, S. 191-270. 11 Alexander Mitscherlich: »Aggression und Anpassung«, in ders., Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität. Vier Versuche, Frankfurt/Main 1969, S. 37-95, insbes. S. 81ff. (»Energetisches Radikal: Destrudo«). 50
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te es daher ebenso wie ihre politischen, ökonomischen, ästhetischen und weiteren Begleitumstände so zu gestalten, dass die Menschen innerhalb erträglicher Lebensverhältnisse in die Lage versetzt würden, ihre »bösartige« Destruktivität unter Kontrolle zu bekommen und zu behalten sowie das unvermeidliche Maß an Aggressivität in nunmehr »gutartigen« Bahnen auszuleben.12 In ähnlicher Weise hat aus anthropologischer Sicht Rudolf Bilz die menschliche Befähigung zu Konstruktion und Destruktion als letztlich unteilbar herausgestellt und an diese Erkenntnis die Forderung geknüpft, der Mensch bedürfe grundsätzlich der doppelten Kulturkompetenz, seine Lebenswelt zu gestalten und sie vor seinen eigenen Zerstörungsimpulsen zu beschützen. Selten sei der Mensch entweder nur Aufbauender oder nur Vernichter, vielmehr meistens beides zugleich; seine Normalhaltung werde durch eine situationsspezifische Mischung von konstruktiven und destruktiven Impulsen bestimmt. So ernährt er sich, baut sich also physisch auf oder erhält sich doch wenigstens, indem er nicht nur Speisen und Getränke nach vorheriger Zubereitung verzehrt, mithin der Vernichtung zuführt, sondern indem er zugleich sich selbst verbraucht, z.B. seine Zähne abnutzt, die Kraftreserven seines persönlichen Gesamtlebens mindert, also an seiner latenten Selbstzerstörung arbeitet. Dementsprechend enthält ein und dieselbe Verrichtung selbst dann, wenn sich an ihrem physiologischen Ablauf nichts ändert, eine semantische und operationale Flexibilität, die sie den verschiedensten kulturellen oder sozialen Zwecken dienstbar macht. Beispielsweise kann das Entblößen der Zahnreihen unter Menschen eine lachende Kontaktermunterung oder eine abweisende Drohgebärde bedeuten. In (wie Bilz formulierte) »identischer Exekutive«, d.h. in körpersprachlich gleichartiger Ausführung, verhält sich der Mensch im einen Fall sozialkulturell aufbauend, gemeinschaftsbildend, im anderen Fall hingegen entbindend, abstandschaffend.13 Zum Widerspruchsmuster kultureller Vorgänge sowie Zustände gehört mithin, dass sie von Abbau und Zerstörung so wenig frei sind wie von Aufbau und Schöpfung, dass sie Konstruktivität und Destruktivität, Produktivität und Minderung auf verschiedenartigste Weise kombinieren, dass in ihnen Gewinn und Verlust oft Hand in Hand gehen, auch 12 Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1974 und Reinbek bei Hamburg 1977. 13 Zur Kategorie der »identischen Exekutive« vgl. Rudolf Bilz: Pars pro toto. Ein Beitrag zur Pathologie menschlicher Affekte und Organfunktionen, Leipzig 1940; sowie ders.: Lebensgesetze der Liebe. Eine anthropologische Studie über Gefühlselemente, Bewegungen und Metaphern menschlicher Liebe. 4. Beiheft zum Zentralblatt für Psychotherapie, Leipzig 1943. 51
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unerwartet ineinander umschlagen können, nicht immer säuberlich voneinander trennbar sind. Die soziokulturelle Wirklichkeit ist ein paradoxes Prozessgebilde mit teils unauflöslichen, teils vermeidbaren Antinomien. Ihr Widerspruchscharakter erhält seine Grundfigur aus dem Inund Nebeneinander von Ordnung und Chaos, von Statik und Wandel. Sie gewährt Sicherheiten und wirkt zugleich verunsichernd; sie bietet Orientierung und beschert Verwirrung; sie ermöglicht soziale Bindung und nötigt zu Trennungen; sie räumt Freiheiten ein und mutet Unfreiheiten zu. Als physisch und psychisch zur Unruhe verurteiltes Wesen findet der Mensch in ihr auch geistig und seelisch stets eine nur sehr vorläufige Zufriedenheit, ein recht vergängliches Momentglück. Aus Ablösung von der Natur durch den Menschen entstanden, hat also die Kultur die Spaltung in jeglicher Hinsicht zu ihrem konstitutiven Prinzip erhoben. Gleich der teils konsensuellen, teils dissoziativen Gesellschaft beschert die kulturelle Wirklichkeit den Menschen vielerlei diskrepante und deformative Erlebnisse. Sie verwandelt gewissermaßen die nicht aufhebbare Naturdifferenz in kulturelle Dichotomien und soziale Schismen, bringt dementsprechend mit den Lebenserleichterungen neue Bürden und Fährnisse hervor. Wie »normal«, so ist sie stets auch »verrückt«, ebenso schizoid wie schizogen, Gegensätze in sich vereinend, sie oft genug krisenhaft eskalierend, sie jedenfalls den Menschen zur Duldung auferlegend. Diese Zwiespältigkeit entlädt sich auf der destruktiven und kontraproduktiven Seite nicht nur in akuten Akten des Abbaus, der Beseitigung, der Verhinderung, von Täuschung, Verstellung, Lug, Trug, Raub, Mord, Krieg usw. Sondern sie hat in diesem Strang des Geschehens auch eine eigene, oft nur unterschwellige, jedenfalls nicht immer und notwendigerweise eruptive Latenz. Unterhalb der tatsächlich sich ereignenden Minderungen und Zerstörungen enthalten Kultur und Zivilisation ein gerütteltes Maß an Zerstörungsträchtigkeit, die in Wünschen und Phantasien, in Ideen und Ideologien, in Geräten und Instrumenten lebt und sich fortzeugt. Begrifflich ist dementsprechend von der in Handlungen und Ereignissen zutage tretenden Destruktivität die Destrugenität zu unterscheiden, jene allgegenwärtige und jederzeitige Zerstörungsträchtigkeit von Menschen, Kulturen und Sozialwelten, von der niemand ausgeschlossen bleibt noch sich freimachen kann. Wenn auch nicht alle Menschen in gleicher Weise destruktiv sind, nicht alle in demselben Umfang zu Zerstörungstätern werden, so wirkt doch in jedem die Zerstörungsveranlagung, eine destrugene Disposition. Auf der Ebene der Destrugenität leben Menschen in einer Art von »Zerstörungsdemokratie«: von jedem kann Nachteiliges ausgehen, jeden kann Übles betreffen. Ob, wie, wann und seitens wessen indes die Ebene der Destruktivität 52
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erreicht und aktiviert wird, hängt jeweils von vielerlei persönlichen Anlagen und äußeren Umständen ab.
II. Dekulturation Im kulturellen Umgang mit Dingen, Geräten und Ideen, mit Menschen, Tieren und Pflanzen ereignen sich jedoch vor oder jenseits von destruktiven Exzessen vielerlei »mildere«, gemäßigtere Formen des Abbaus, der Minderung, der Beseitigung. Stets stehen auch solche Vorgänge in vielfältiger, oft verdeckter Beziehung zur Konstruktion und Produktion von Kultur, zu den aufbauenden Leistungen, welche Menschen bei der Erschaffung und Erhaltung oder auch bei der Umwandlung und Erneuerung ästhetischer, intellektueller, instrumenteller Bestände erbringen. Diese Einsicht hat die bisher gebräuchlichen analytischen Konzepte der Enkulturation, der Akkulturation und der Transkulturation argumentativ erweitert. Sie alle verstanden und verstehen Kultur als Prozess, der sich in und mit spezifischen Figurationen zuträgt, als kaum je stagnierende Bewegung von Individuen, Gruppen, Sozialmilieus und Institutionen, die sämtlich Kultur leben, indem sie diese materiell und ideell hervorbringen, sich aneignen und verteilen, ihren Bedürfnissen und Wünschen entsprechend modifizieren und weiterentwickeln oder auch abwehren. Doch wird man der Gesamtgestalt dieser und verwandter Vorgänge erst inne, sobald man auch die gegenläufigen Geschehnisse in die Betrachtung einbezieht. Denn im (wie auch immer konterkarierenden) Zusammenspiel mit dem Aufbau, der Erhaltung und der Erneuerung von Beständen aller Art trägt sich in der Regel auch der teilweise oder gänzliche Abbau von Errungenschaften zu. Die Palette derartiger gefährdender Vollzugsformen reicht von der Leugnung und mentalen Abwehr über rhetorische Ausblendung, tätliche Löschung, gezielte Tilgung und andere mehr bis hin zum Versuch einer endgültigen Vernichtung von Artefakten und deren Inhabern. Fast jeder Kulturwandel, wie klein oder groß er dimensioniert sein mag und ob er von einzelnen oder von Kollektiven absolviert werde, nimmt zumindest partiell auch eine solche defektive Ereignisgestalt an. All solche Begebenheiten stellen Varianten jener Dekulturation dar, die ebenso real wie kategorial mit Enkulturation, Akkulturation, Transkulturation und dergleichen Prozessen mehr einhergeht.14
14 Zur kultursoziologischen Analyse von Destruktivität, Destrugenität und Dekulturation vgl. Hans Peter Thurn: Kulturbegründer und Weltzerstörer. Der Mensch im Zwiespalt seiner Möglichkeiten, Stuttgart 1990. 53
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Dekulturation bezeichnet mithin den Umstand, dass Menschen einzeln oder gemeinsam sowohl ihre eigene als auch fremde Kultur nicht nur konstruktiv und produktiv mit Wohlwollen behandeln, sondern dergleichen Wirklichkeit ebenfalls ablehnend bis destruktiv gegenübertreten, um sie aus inneren und/oder äußeren Veranlassungen heraus mehr oder weniger rigide zu beeinträchtigen. Im Rahmen derartiger Vorgänge können Menschen Subjekte sowie Objekte oder auch beides zugleich sein. Sie können an dekulturativen Prozessen aktiv als selbst Handelnde teilnehmen bzw. sie passiv erdulden. Der Abbau von Kultur kann ihnen Lustgewinn oder Leidenserfahrung (oder gar als gewissermaßen kombinatorische Algolagnie beides zugleich) bescheren. Er kann unausweichlich und als Durchgangsstadium vorübergehend sein wie das transkulturative Abstreifen kindlicher und jugendlicher Lebensformen beim Übertritt in die Erwachsenenwelt. Oder er kann objektiv unnötig und subjektiv sinnlos sein wie die Zerstörungsorgien kolonialistischer Eroberer etwa in Afrika und Lateinamerika, deren Schäden weder reparabel waren noch durch nachfolgende Kulturerfahrungen europäischen Zuschnitts geheilt werden konnten. Für Akteure und Opfer ist in hohem Maße entscheidend, ob sie den Kulturverlust partiell oder total erleiden bzw. initiieren sowie ob, in welchem Umfang und mit welchen Konsequenzen mit der Dekulturation ein Ausgleich durch den Zuwachs neuer Errungenschaften einhergeht. Jene Prozesse, die zumal von der Ethnologie als akkulturative und transkulturative Ereignisfolgen größerer oder kleinerer Dimension vielfach untersucht wurden, liefen kaum je ohne dekulturierende Verletzungen ab. Die dabei virulenten Gefühlseinstellungen, Denkhaltungen und Handlungsmodi wie auch die zugrundeliegenden Absichten, die vorausgehenden, begleitenden und nachfolgenden Begründungen, schließlich die technische Instrumentierung bieten Aufschlüsse nicht nur über einzelne Verlaufsformen, sondern ebenfalls über differierende Typen sowie über das Gesamtpanorama zwischengesellschaftlicher Dekulturation. Darüber hinaus gewährt ein analoges Erforschen innergesellschaftlicher Veränderungen die Möglichkeit einer vergleichenden Klärung, inwieweit bei dekulturativen Prozeduren Situations-, Kontext- und Beteiligten-unabhängige Konstanten mitwirken bzw. welches die spezifischen abhängigen Variablen sind. Nicht minder variationsreich als die Anlässe und Motive sind die Vollzugsformen der Dekulturation. Zu ihnen gehört das enkulturative Umlernen (etwa beim Eintritt in das Berufsleben oder beim Umzug in eine fremde Region) ebenso wie der Wechsel von einer Gruppen-Kultur in eine andere (beispielsweise der rituelle Abschied des Bräutigams von seinen Freunden und seine Aufnahme in die Familie der Braut). Neue, 54
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problematische Arten des Verlernens zeitigt die Internetkultur, indem sie etwa das Buch durch den PC, den Brief durch die E-Mail, die handschriftliche Mitteilung durch die »Datei« ersetzt (Neo-Analphabetismus, Schwund manueller graphischer Fertigkeiten, Pisa-Studie). Auch die Absenkung intellektueller Erkenntnisse oder ästhetischer Errungenschaften in die Keller der Tradition (Sedimentierung, z.B. von Kunstwerken ins Museumslager) kann auf Produzenten und Publikum zumindest zeitweise dekulturierend wirken; sie konfrontiert spätere Epochen und Generationen mit der Frage der Selektivität bei der Wiederaneignung vorübergehend »vergessener«, weil außer Sicht geratener Bestände (das Problem der »Renaissancen«). In ähnlicher Weise wirkt sich gelegentlich die Kanonisierung von Ideen, politischen Überzeugungen oder Glaubensinhalten aus, die leicht in eine semantische Entwirklichung und gleichzeitige Legitimationskrise der unter ihren Postulaten stehenden Praxis mündet (die »christliche« Parteipolitik und ihr Umgang mit Geldzuwendungen zwielichtiger »Spender«; der unmarxistische Staatskommunismus von Kadereliten samt ihrer »Nomenklatura«). Nicht wenige Gesellschaften und Institutionen bedienen sich (oft unter pseudolegitimatorischer Berufung auf Gemeinwohl und Kulturerhaltung) offensiver Strategien einer selektiven Dekulturation. Dazu zählen die ideelle Insulierung (sektorale Entfaltungshemmung durch Bücher- und Lese-Verbote, Indizierung seitens Kirche und Staat), die Subordination intellektueller oder ästhetischer Kreativität bis hin zu Schreib-, Mal-, Veröffentlichungs-, Ausstellungs- und Aufführungsverboten (Zensur), die physische Kasernierung durch institutionelles Abschneiden von der normalen Kulturteilnahme (Gefängnisse, Lager, psychiatrische Anstalten), die Exilierung von Kulturwerken (ausländische Bilderverkäufe des NS- sowie des Sowjet-Regimes) und von kulturschöpferischen einzelnen oder Gruppen (Vertreibung missliebiger Künstler, kritischer Intellektueller durch autoritäre Machthaber). Historisch viel geübt wurden kulturelle Enteignung, Raub und Plünderung (Konfiskation) mit dem doppelten Ziel, die Bestohlenen zu erniedrigen und die Bereicherten zu erhöhen, d.h. auf kulturelle Weise soziale Abstände samt einem Prestigegefälle zu schaffen oder zu vergrößern. Die einschneidendste Verarmungswirkung geht indes von der radikalsten Strategie der offensiven, gelegentlich gar exzessiven Dekulturation aus: der ideellen, materiellen und instrumentellen Destruktion (Vernichtung kultureller, zumal identitätsstiftender Zeugnisse, Tötung von Menschen). All diese »weichen« oder »harten« Vollzugsformen konfrontieren die Täter, Opfer und weiteren Betroffenen mehr oder minder nachhaltig mit dem Problem der Reversibilität bzw. Irreversibilität zugefügter Schäden, mit der Frage auch nach der schöpferischen Elastizität, aufgrund 55
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deren Individuen und Kollektive, Institutionen, Gesellschaften oder Staaten selbstinitiierte bzw. fremdbewirkte Depravationen auffangen und womöglich (wieder) zum Besseren wenden können. Zwischen den Polen einer extremen, gar exzessiven Destruktion einerseits und einer behutsamen, möglichst schadensarmen Dekulturation andererseits ereignet sich eine kaum überschaubare Vielzahl defektiver Varianten. Was früheren Denkern als »Verfall« oder »Niedergang« erschien, ist inzwischen, sofern nicht außermenschliche Ursachen (wie etwa Erdbeben, Unwetter, Flutwellen oder andere Naturkatastrophen) vorliegen, als ein Ausleben human-defektiver Handlungsenergien erkannt und wird auf diese hin untersucht. So gut wie alle ruinösen Operationen vollziehen sich in sei es innersozietären, sei es zwischengesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Veranlassungen sowie mit teils bewussten, teils unbewussten Absichten. Dabei können Kulturleistungen entweder gezielt, als selbst gemeinte, oder quasi beiläufig, stellvertretend für die von ihnen repräsentierten Individuen, Gruppen, Gesellschaften oder Staaten, angegriffen werden. Als kultur-finale Tilgungsakte der einen oder der anderen Art sind beispielsweise Bilderstürme, Bücherverbrennungen, Musikverbote, überhaupt sogenannte »Kulturrevolutionen«, schließlich xenophobische Provokationen und Exilierungen anzusehen. Auch Reformen, Systemveränderungen, ja selbst ReformRevisionen können einen solchen Charakter annehmen, können, gewollt oder unabsichtlich, demolierende Wirkungen zeitigen bzw. zerstörerisch ausufern. So trägt beispielsweise der Vereinheitlichungs- und Ökonomisierungswahn fachlich unkundiger Politiker seit einigen Jahren dazu bei, Spezifika der verschiedenen akademischen Disziplinen einzuebnen und die historisch gewachsene Vielfalt von Bildungsangeboten sowie Ausbildungswegen an deutschen Schulen und Hochschulen zu unterminieren (»Bologna«-Prozess, Zwang zur »Drittmittel«-Einwerbung, Privatisierungen etc.). Dass gleichzeitig Lehrer und Universitätsdozenten qua »Besoldungsreform« auch finanziell schlechter gestellt werden als zuvor, verringert die Attraktivität und das Prestige ihres Berufsstandes, offenbart zudem die geringe öffentliche Wertschätzung der Lernkultur in Deutschland. Doch enthüllen sich Kulturleistungen bei näherer Betrachtung nicht nur als Ziel, sondern ebenso als ein mögliches Mittel des Ruins. Technische Errungenschaften beinahe jeder Provenienz, Apparate und Maschinen, Ideen und Ideologien, Symbole, Theorien, auch sog. »Wissenschaften« können einer kultur-instrumentellen Minderung dienen, indem mittels ihrer Kulturbestände materieller Schaden zugefügt oder wenigstens deren Geltung und Akzeptanz beeinträchtigt wird. Überall dort, wo im Kleinen wie im Großen »neue« Kultur »alte« verdrängt, gerät sie, neben 56
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ihren aufbauenden Effekten, in die Rolle wenigstens teilweisen Abbaus der einen oder der anderen Art. Prozesse der Bereicherung und der Verarmung stehen dabei in einem keineswegs immer leicht überschaubaren, gar eindeutigen Bedingungszusammenhang. Jedweder Kulturwandel konfrontiert insofern die Betroffenen auch mit der Frage nach ihren Zerstörungstoleranzen bzw. nach ihren Techniken der Dekulturationsabwehr. Inwieweit bestimmte Operationen auf bloße Dekonstruktion zielen (wie etwa die künstlerischen Avantgarden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts) oder auf endgültige Destruktion (wie beispielsweise die nationalsozialistischen und stalinistischen Pogrome), welche Staffelungen es diesbezüglich gibt und welche konkreten Resultate: dies ist von Fall zu Fall empirisch zu klären. Eine umfassende Sicht auf kulturelle Prozesse und Strukturen erfordert eine Stufentheorie nicht nur der Entstehung und des Aufbaus von Kulturwelten sondern auch der kulturellen Dekomposition.
III. Hochkultur im Auf- und Abbau Allen Errungenschaften zum Trotz gerieten in der Moderne vor allem die anspruchsvolle Literatur, Musik und Bildkunst unter Dekulturationsdruck. Politische und ökonomische Demokratisierungsschübe, diktatorische und militärische Exzesse machten vor der »gepflegten Semantik« tonangebender Schichten früherer Epochen keineswegs Halt.15 Trug einst im Wesentlichen das Bürgertum die Hochkultur, waren es neugierige Bürger und hernach die Gebildeten vieler Stände, die literarische, bildnerische und musikalische Werke hervorbrachten, so unterminierte der Umbau der modernen Gesellschaft die Leitfunktion solch angestammter Trägergruppen und Vermittlungsinstanzen. Dieser gleichermaßen kulturelle und soziale Wandel ist unübersehbar. Die wichtigsten Initiatoren und Motoren der kulturellen Entwicklung waren im 18. Jahrhundert zunächst die nach Kenntnissen und Sinnesschulung trachtenden adligen sowie mehr und mehr bürgerlichen Kreise. In einem Doppelprozess sozio-ästhetischer Emanzipation und Evolution formierte sich jenes dynamische und expansive Gebilde, das wir heute Bildungs- und Wissensgesellschaft nennen. Zu den aktivsten Kollektiven dieser intellektuellen ebenso wie praktischen Aufklärung gehörten die städtischen Clubs und die philanthropischen Sozietäten zur Beförderung der Wis15 Zum Begriff der »gepflegten Semantik« vgl. Niklas Luhmann: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/Main 1980, S. 9-71. 57
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senschaften, der Künste, der Literatur, der Musik. Wie andernorts blühten in Deutschland die Lesevereine, theatralischen und musikalischen Gesellschaften, die vielerlei Zirkel, in denen man zusammenkam, um miteinander zu zeichnen, zu spielen, zu reden.16 Solche Kreise pflegten nicht nur den direkten Austausch, die unmittelbare Unterhaltung, sondern auch den Kontakt per Briefwechsel – kaum zufällig gilt das 18. Jahrhundert als Höhepunkt europäischer Briefkultur. Doch hat die moderne Technik diese Formen des Austauschs durch neue, schnellere Kommunikationsweisen ersetzt; an die Stelle epistolarischer traten telefonische, telegraphische, schließlich elektronische und digitale Kontakte.17 Parallel zur kulturellen Bildung vollzog sich vom 18. Jahrhundert an ein mehr auf das Praktische gerichteter Prozess der Zivilisierung. Auch er wurde mittels vielfältiger Diskussionen und Debatten vorangetrieben, doch zielte er weniger auf theoretische, wissenschaftliche, geistige, künstlerische Schulung als vielmehr auf die Verhaltenskultur des täglichen Lebens. Ein Autor wie Adolph von Knigge – gewissermaßen ein Soziologe avant la lettre – nahm sich in seinem zum Bestseller arrivierten Werk »Über den Umgang mit Menschen« dieser Probleme an; Friedrich Schleiermacher erörterte sie in seinem »Versuch über das gesellige Betragen«; Wolfgang Amadeus Mozart thematisierte sie in Opern und Singspielen.18 »Geselligkeit« lautete das Zauberwort der Epoche; im deutschsprachigen Raum bezeichnete es die soziale Verflechtung, die zum tragenden Netz und Handlungsmuster der kulturellen Kreativität des 18. Jahrhunderts wurde. Dieser Prozess trat im 19. Jahrhundert in eine weitere Phase. Es schlug die Stunde der Vereine, die sich der nun schon etablierten Kultur annahmen, um sie weiter zu fördern und zu festigen. Landauf, landab wurden Kunstvereine gegründet, Musikvereine, Gesangsvereine. Adlige 16 Einen Überblick bietet Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982. 17 Zur geschichtlichen Entwicklung und ihren epistolarischen Varianten vgl. Reinhard M. G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991 (Sammlung Metzler, Bd. 260). 18 Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, 1. und 2. Auflage Hannover 1788, 3. und erweiterte Auflage Hannover 1790; sowie Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«, in: Schleiermachers Werke, Bd. II (Philosophische Bibliothek Bd. 137), Leipzig 1913, S. 1-31; zuerst anonym veröffentlicht 1799 im Januar- und Februarheft des »Berliner Archiv der Zeit und des Geschmacks«; Alfred Schütz deutete »Mozarts dramatische Kunst« bzw. dessen Singspiele und Opern als »eine Darstellung der Grundstruktur des sozialen Lebens«, vgl. ders.: »Mozart und die Philosophen« (zuerst 1956), in: Gesammelte Aufsätze Bd. II, Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 151-173, hier zit. S. 169. 58
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und bürgerliche Salons pflegten virtuos den Dialog, belebten Musik und Literatur, unterstützten Philosophie und Wissenschaften. Nicht nur in Frankreich, in Paris bewährten sie sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als Zirkel, in denen die geistigen und ästhetischen Weichen für die zukünftige »Zivilisation« gestellt wurden.19 Sondern auch in den Metropolen Österreichs und Deutschlands, in Wien, in München, in Berlin und andernorts profilierten sich »Salonières« zusammen mit ihren Gästen. Henriette Herz, Johanna Schopenhauer, Rahel Varnhagen, Fanny von Arnstein und andere repräsentierten ein »weibliches« Milieu, das Geschlechter, Religionen, Parteien, Klassen teils privat, teils öffentlich zusammenführte und zum Diskurs über Anlass, Sinn und Zweck von »Kultur« und »Zivilisation« animierte.20 Gleichzeitig formierten sich vielerorts jene Intellektuellengruppen, die manchmal mehrere Stadien von der »Schule« über die »Partei« bis zur »Sekte« oder »Bohème« durchliefen, während derer sie, fast jede Frage ihrer Epoche erörternd, sowohl kulturthematisch als auch sozial-plastisch die herannahende »Moderne« ankündigten.21 Sosehr sich manche dieser Figurationen infolge von Meinungszwist oder durch den Tod ihrer Akteure auflösten und keine Nachfolger fanden, so unverkennbar erlangten andere im 20. Jahrhundert zusätzliche Festigung, ja Institutionalisierung. Formelle Kontaktmuster liefen den informellen Milieus den Rang ab. Zahlreiche Zusammenschlüsse bekamen nun rechtlichen Charakter, wurden »eingetragene Vereine« – wie etwa die Kunst- und Gesangsvereine, die literarischen Organisationen, die Theater-, Opern- und Orchestergesellschaften. Zugleich entstanden »avantgardistische« Gruppierungen in Kunst, Literatur und Musik, die
19 Vgl. Clemens Albrecht: Zivilisation und Gesellschaft. Bürgerliche Kultur in Frankreich, München 1995. 20 Zur Geschichte der Salons und ihrer »weiblichen Kultur« ist immer noch informativ Valerian Tornius: Salons. Bilder gesellschaftlicher Kultur aus fünf Jahrhunderten, 2 Bde, Leipzig 1913; vgl. auch Verena von der Heyden-Rynsch: Europäische Salons. Höhepunkte einer versunkenen weiblichen Kultur, München 1992; Roberto Simanowski/Horst Turk/Thomas Schmidt (Hg.): Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons, Göttingen 1999; Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons. Mit kulturhistorischen Spaziergängen, Berlin, New York 2000; zur Entwicklung in Frankreich vgl. insbes. Jacqueline Hellegouarc’h: L’Esprit de société. Cercles et »salons« parisiens au XVIIIe siècle, Paris 2000; sowie Anne Martin-Fugier: Les salons de la IIIe République. Art, littérature, politique, Paris 2003. 21 Vgl. Wolfgang Eßbach: Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München 1988. Argumentativ weit über das ausgebreitete historische Material hinausreichend, bietet diese Untersuchung das analytische Muster für dergleichen kultursoziologische Fallstudien schlechthin. 59
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gegen chauvinistische Tendenzen und Etikettierungen fochten, um der europäischen Kultur ein offenes Gepräge zu geben. Sie orientierten sich nicht an Staatsgebilden, erstrebten keine nur deutsche, nur englische, nur französische Kunst, sondern zielten auf Internationalität. Ihre Konzepte drängten über die jeweiligen politischen Grenzen hinaus und wurden dementsprechend umgesetzt. Zu diesem Zweck mussten auch sie sich freilich dekulturativer Strategien bedienen. Ihre Proklamationen waren oft von militärischer Diktion durchsetzt; viel ist da die Rede von »Gegnern«, »Feinden«, »Kampf«, ja »Krieg« und »Sieg«.22 Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Trägerschichten von ehedem und die ihnen nachfolgenden Initiativgruppen kaum noch erkennbar, nur noch selten vorhanden. Die heute kulturell maßgeblichen und sozial formativen Akteure ziehen es vor, anonym zu bleiben, auf gesellschaftliche Konturierung zu verzichten. Inmitten der sogenannten »populären Kultur«, der »Kultur für alle«, einer Art »Jedermannskultur« wird es schwieriger und riskanter, sich individuell und gemeinschaftlich zu profilieren. Unwiderruflich scheinen die Blütezeiten von Salons und Cercles, der für die Aufbruchsphase der »Moderne« charakteristischen Allianzen in Literatur, Kunst, Musik, Presse dahin. Der Merkantilisierung der Kultur entsprechend treten Förderer und Mäzene ehestens per Firmenlogo in Erscheinung. Wer seine Person, seinen Namen zu sehr in den Vordergrund stellt, muss mit öffentlicher Kritik, ja mit Abwehr aus mancherlei Nischen der sich egalitär gebärdenden Gesellschaft rechnen; leicht gerät er in den Strudel dekulturierender Strömungen, die ihm den (zu) ostentativen Genuss, das Vergnügen am Zeigen und Geben vermiesen. Von »Eliten« zu sprechen, indem man Künstler, Musiker, Schriftsteller, Wissenschaftler und deren Parteigänger als solche qualifiziert oder gar ihr Publikum ermuntert, sie anzuerkennen und es ihnen womöglich nachzutun: dergleichen mutet viele Mitbürger unzeitgemäß, manchen gar peinlich an, wie es schon Hugo von Hofmannsthal empfand, sobald er vom »Dichter« reden hörte.23 Heutige Bildungspolitiker argumentieren lieber mit »Exzellenz«-Kategorien, obwohl doch dieses Wort fast noch mehr Reminiszenzen an das Kastenwesen früherer Klas-
22 Vgl. Hans Peter Thurn: »Die Sozialität der Solitären. Gruppen und Netzwerke in der Bildenden Kunst«; sowie ders.: »Im Kampf für das Neue. Zur Entstehung des modernen Kunsthandels zwischen Kaiserreich und Diktatur«, in ders., Bildmacht und Sozialanspruch. Studien zur Kunstsoziologie, Opladen 1997, S. 81-122 und S. 167-178. 23 Hugo von Hofmannsthal: »Der Dichter und diese Zeit. Ein Vortrag (1906)«, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II, Frankfurt/Main 1951, S. 264- 298, hier zit. S. 269. 60
H. P. THURN: DAS PROJEKT »KULTUR«
sengesellschaften weckt als die Vorstellung einer modernen, sei es ästhetisch, sei es szientifisch kreativen Leistungselite. Parallel zu all diesen Veränderungen, zum eskalierenden Verdrängungswettbewerb zwischen Traditionen, Konventionen und Innovationen, zur Geltungskonkurrenz zwischen Jugend-, Erwachsenen- und Alterskulturen, vollzog sich im 20. Jahrhundert eine technische Revolution, die nach und nach das gesamte Dasein umkrempelte. Die technischen Medien – also Film, Rundfunk, Fernsehen und ihresgleichen – verfochten eine neue, instrumentelle Kulturidee, die kommunikativ nicht mehr an das Buch gebunden ist, sich nicht mehr an Leser richtet.24 Die Buchkultur sieht sich fortan einer Ästhetik konfrontiert, die akustisch und visuell operiert. Im 20. Jahrhundert avancieren per Foto, Schallplatte und Compact-Disk, vom Radio bis zum Videorecorder und Computer die technischen Ton- und Bildträger in zentrale Funktionen der Weltwahrnehmung und des zwischenmenschlichen Verkehrs. Sie erweitern, ja dominieren rasch auch die Kultur-Vermittlung. Zunächst okkupieren stehende Bilder – nicht nur in der Werbung – das Blickfeld, das bis ins 19. Jahrhundert von solchen Einflüssen frei blieb. Ihnen folgen die bewegten Bilder, die per Film, Fernsehen, Videoclips und dergleichen inzwischen mannigfach unser Leben begleiten. Vor allem aber beraubten diese – oft militärischen Zwecken entsprungenen – technischen Erfindungen die vormals dominanten Trägergruppen ihrer Schlüsselstellungen in der Produktion und Distribution ästhetischer Güter. Teilweise Jahrhunderte lang besetzte Monopole wurden eingeschränkt oder gingen ihren Inhabern ganz verloren. So sahen und sehen sich beispielsweise Maler und Zeichner, die seit alters über die Vormacht am Bild verfügten, mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wachsender Konkurrenz ausgesetzt. Fotografen und Filmer, Designer und Video-Ästheten lancieren nun andere, eigene imagines durch die Kanäle der Massenmedien in die Köpfe von Konsumenten. Beim Eintritt ins (von Vilém Flusser so benannte) »telematische« Zeitalter bleiben im Wettlauf um Ressourcen und Publikumsgunst den Verlierern oft bloß kleine Reservate übrig.25 Diese neuartige Technokultur vollzieht sich in breiterer Zugänglichkeit als alle ihre Vorgängerinnen. Sie ist nicht mehr schicht- oder grup-
24 Zu den Folgen des Geltungsverlusts von Literatur und Buchkultur vgl. George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München, Wien 1990. 25 Vilém Flusser: Die Informationsgesellschaft – Phantom oder Realität? Vortrag auf dem Kongress CULTEC – Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, veranstaltet vom Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, am 23. November 1991 in Essen; als CD veröffentlicht vom Verlag supposé, Köln 1996 (ISBN 3-00-000839-X). 61
I. KULTURBEGRIFFE
pengebunden wie die ehemalige Hochkultur. Sie scheint weniger an klassische Voraussetzungen geknüpft, verlangt etwa nicht das Leseniveau früherer Rezeptionsepochen. Man kann an ihr teilnehmen ohne »Bildung« im herkömmlichen Sinn. Zudem besticht die Technokultur durch Weiträumigkeit, große Reichweiten, beinahe globale Ausdehnung. Die Medien operieren inzwischen – beispielsweise im Internet – weltumspannend und Welten verbindend. Ihre Instrumente zielen auf noch weitere Entgrenzung als je zuvor. Sie transportieren Informationen von überall her und überall hin. Gerade dadurch aber erweisen sich die Apparate als das, was sie ihrer Funktion nach sind: bloße Transportmittel, lediglich Transportbänder kultureller Errungenschaften, deren Inhalte und ästhetische Formen andernorts geschaffen werden müssen. Insofern ist die Technokultur in erheblichem Umfang allenfalls Transportkultur. Mit alldem löst die Technokultur die Menschen von deren primären Erfahrungsräumen ab. Sie bindet sie nicht an die unmittelbar geschaute, gehörte, empfundene Welt, an die konkrete Lebenswirklichkeit primordialer Verrichtungen. Sondern sie entführt in sekundäre, tertiäre, entlegene, virtuelle Sphären. Wir schalten den Fernsehapparat an und können eine Sendung aus Mexiko oder China, aus einer Raumstation, vom Mond oder ferneren Planeten empfangen. Damit geraten wir in eine technotopische Gleichzeitigkeit, wird unser Denken, Fühlen und Handeln entzeitlicht. Im Internet operiert man – trotz aller temporaler, z.B. biographischer Unterschiede der Teilnehmer – in einer techno-synthetischen »Jetztzeit«, deren Eigenart der französische Theoretiker Paul Virilio mehrfach beschrieben hat.26 Die blitzartige Informationsübermittlung lässt im Netzwerk eine künstliche, technomorphe PseudoGegenwart als neueste Variante »sozialer Zeit« entstehen. Jeder Akteur profitiert von dieser kybernetischen Schnelligkeit. Eine E-Mail erreicht den Adressaten rascher als der alte, konventionelle Brief, fast sofort, beinahe im Moment, mit einer nur ganz geringfügigen Verzögerung. Diese Entzeitlichung der Kulturprozesse ermöglicht eine weitaus effizientere Kommunikation, als sie im sozialen Leben jemals zuvor erlangbar war. Auch das Medienzeitalter produziert also auf kulturellem Weg, mit Kultur-Instrumenten neuer Art spezifische Sozialformationen, die viel-
26 Aus der Vielzahl der diesbezüglichen Studien von Paul Virilio seien hier nur angeführt: Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986; Revolutionen der Geschwindigkeit, Berlin 1993; Der negative Horizont. Bewegung/Geschwindigkeit/Beschleunigung, München, Wien 1989; Das öffentliche Bild, Bern 1987; Sehen ohne zu sehen, Bern 1991. Nachdrücklich verweist Virilio immer wieder auch auf die Beteiligung der Kriegsindustrie und destruktiver politischer Organisationen an der Entwicklung der Technokultur und unserer alltäglichen Apparate. 62
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leicht die aktuelle Variante jener »ungeselligen Geselligkeit« darstellen, von der schon Immanuel Kant sprach.27 Der Preis dieser Entwicklung ist das Verlernen alter Mitteilungsformen (wie etwa des Briefeschreibens) und die Kurzlebigkeit neuer Errungenschaften. In der industriellen und kybernetischen Transportkultur wird eine knappere Zeitlichkeit mit kürzeren Verfallszeiten praktiziert, als sie einst den Printmedien, der Schriftkultur insgesamt eignete. Daraus resultiert, dass nun Traditionen und Konventionen in anderer Weise als früher gebildet werden müssen. Ein literarisches Druckerzeugnis, ein gemaltes Bild, eine Partitur dienten auch zur Traditionsvermittlung, zur Sicherung und Weitergabe von Erfahrungen, Einsichten und Anschauungen von Generation zu Generation über längere Zeiträume hinweg. Das Internet leistet dies nicht. Seine gigantischen, sekundenschnell en masse auftauchenden und ebenso plötzlich wieder verschwindenden Angebote setzen den Konsumenten unter einen Selektionsdruck, in dem er leicht die Orientierung (und viel Zeit) verlieren kann. Wer sich zwischen den millionenfachen Offerten und Varianten dieser verfallsgeschwinden »Massenkultur« neuer Sorte zurechtfinden will, braucht einen geeigneten Kompass. Er muss nicht nur aussuchen können, sondern auch das Wählen lernen. Denn jeder Nutzer, ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, ob Experte oder Laie, steht alsbald vor dem Dilemma, in der brodelnden Quantität die gewünschte Qualität und eine zuträgliche Dosis aufspüren zu müssen.
IV. Probleme heutiger Praxis Wie aber können Menschen heutzutage mit den ausufernden Phänomenen und Prozessen von Dekulturation, Destrugenität, Destruktivität zurechtkommen? Wir wissen ja: Unter dem Einfluss der inzwischen eher technotopischen als biotopischen Zivilisation wandeln sich die Chancen und Modalitäten kultureller Teilhabe nachdrücklich. Mochte man früher der Humboldt’schen Formel gemäß »Kultur durch Bildung« erlangen, durch die Beschäftigung mit einem »feudalen« oder »bürgerlichen«,
27 Immanuel Kant: »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784)«, hier zit. nach ders.: Werkausgabe in zwölf Bänden, Bd. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1977, S. 37; vgl. dazu auch Helmuth Plessner: »Ungesellige Geselligkeit. Anmerkungen zu einem Kantischen Begriff«, in: ders., Die Frage nach der Conditio Humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie, Frankfurt/Main 1976, S. 100-110. 63
I. KULTURBEGRIFFE
jedenfalls einigermaßen klar erkennbaren und vermittelbaren Kanon, so genügen heutzutage derlei Bemühungen nicht mehr. Sobald Kulturen sich samt ihren Populationen als freizügig flottierende Gebilde nur vager semantischer Festlegung gebärden, reicht zur Mitwirkung der gelegentliche Griff in den geerbten Bücherschrank nicht länger aus. Neben ihrer beruflichen Qualifikation und Fortbildung müssen die Zeitgenossen sich um medialen Sachverstand und um instrumentelle Verantwortlichkeit bemühen. Darüber hinaus arrivieren auch ästhetische und kinetische Fertigkeiten zu Problemen der Lebensführung und bedürfen ausgewogener Gestaltung zum Wohl von Geist, Leib und Seele. Das gilt zumal dort, wo Minderungen anfallen und zur Debatte stehen. Der Umgang mit destrugenen Dispositionen wie mit destruktiven Akten, mit inneren sowie äußeren Zerstörungsanreizen wird den Menschen ja dadurch erschwert, dass sie nur selten über ein eindeutiges Unterscheidungsschema dahingehend verfügen, was förderlich bzw. abträglich ist, wo etwa in einem Lebensvorgang der Aufbau endet, wo der Abbau beginnt. Oft befindet sich der Zeitgenosse in einer Grenzungewissheit, die ihm lebenspraktische Gratwanderungen ohne begleitende Deutungssicherheiten abverlangt. Wie sich in ein und demselben Vorgang Konstruktivität und Destruktivität ungeschieden ereignen können, wie der Mensch zu ihrer Ineinanderbetätigung, zur »identischen Exekutive« veranlagt ist, so beschert analog die Umgebungskultur häufig (und nicht selten absichtlich) widersprüchliche Informationen, die Aufbau und Abbau keineswegs immer klar zu trennen erlauben. Aufgrund dieser mehrfachen Schizothymie erlebt der Mensch seine Kultur als eine (wie Gregory Bateson formulierte) »Beziehungsfalle«, als ein semantisches und operationales Widerspruchsgebilde, zu dem er seinerseits allenfalls eine Widerspruchsbindung aufbauen und aufrechterhalten kann.28 Wie die Kultur zu Einzelnen und Kollektiven gleichzeitig »Ja« und »Nein« sagt, ihnen Chancen und Versagungen bescherend, so antworten diese ihrerseits zweiwertig, bejahend und verneinend, ebenso aufbauend wie mindernd. Sie stehen zur Kultur in einem sich heutzutage technisch beschleunigenden, multiplen »Ambivalenzkonflikt«, aus dem heraus sie ihr mit Zuneigung und Abwehr gleichermaßen begegnen und angesichts dessen sie in der widerspruchseskalierten industriellen Lebenswelt allzu häufig in die Scheinbeschwichtigung mediengestützter Pseudologien zu entfliehen trachten, welche ihnen jedoch den aufklärenden Zugang zur
28 Vgl. die Thesen zu Schizophrenie und »Double bind« von Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt/Main 1981, insbes. S. 270301 und S. 353-361. 64
H. P. THURN: DAS PROJEKT »KULTUR«
Realität und ihrer antinomischen Logik oft genug eher verstellen als eröffnen.29 In sozialer Hinsicht verlangt die Pluralisierung der Lebenswelten und ihrer Ansprüche heutigen Bürgern eine stetige Vervielfältigung von translativen Kenntnissen und Handhabungen ab. Wer in der ethnisch, sprachlich und stilistisch bunten, wanderungsintensiven Gegenwart rhetorisch und praktisch zurechtkommen will, braucht eine kommunikative Kompetenz, für die das kontinuierliche Erlernen fremder Sprachen und Sitten ebenso selbstverständlich ist wie der richtige Gebrauch der heimischen in Tat, Wort und Schrift. Anders wird er seine nahen und fernen Nachbarn, gar ausländische Mitbürger sowie deren kulturelle Eigenarten und zivilisatorische Gewohnheiten kaum angemessen verstehen und behandeln können. Zugleich verlagert sich diese kommunikative Kompetenz mehr und mehr in technische Dimensionen. Soziale Kontakte vollziehen sich zunehmend mit Hilfe komplizierter, industriell hergestellter, zu wartender und kontrollierbarer Geräte; wer sie anknüpfen will, muss zum Handy greifen, eine SMS versenden, ein Fax verschicken, sich womöglich zum Chat ins Internet einklinken. Bei all dieser instrumentellen Geschäftigkeit darf er die gewünschten Inhalte nicht aus dem Blick verlieren, sonst kehrt er von einer Reise durch die virtuellen Welten leicht mit leeren Händen und hohlem Kopf zurück. Die komplexer und komplizierter gewordene, dreifach erforderliche: thematische, kommunikative und medien-instrumentelle Kompetenz sieht sich zudem jener Widerspruchsgestalt konfrontiert, die zum Entziffern von authentischen Leistungen und von Pseudomorphosen nötigt, doch deren Unterscheidung zugleich erschwert. Dementsprechend kommen auf die heutige Kulturtätigkeit produktiv, distributiv und rezeptiv zusätzliche Anforderungen zu. Die Akteure müssen Urteilsverfahren entwickeln und nutzen, die es ihnen erlauben, »echte« oder »falsche« Schöpfungen, Originale und Imitate rechtzeitig einzuschätzen und zu handhaben; mittels deren sie die weitgehend kommerzialisierte Verteilung von Sach- oder Sinnangeboten durchschauen können; und die sie in die Lage versetzen, aus der schier überbordenden Fülle herumvagabundierender Bestände möglichst effektiv die erforderliche Information, das jeweils angemessene Gut auszuwählen. Diese Befähigung ist für intellektuelle Diskurse und Entscheidungen ebenso nötig wie für die ästhetische Geschmacksbildung im Alltag und für bildnerische, musikalische, literarische Betätigungen oder Auseinandersetzungen. Wer sie – und mit 29 Vgl. Peter J. van der Schaar: Dynamik der Pseudologie, München 1974; und Hans Peter Thurn: »Kultur als Scheinverwandlung«, in: Kulturbegründer und Weltzerstörer. Der Mensch im Zwiespalt seiner Möglichkeiten, Stuttgart 1990, S. 170-175. 65
I. KULTURBEGRIFFE
ihr seine »Bildung« – vernachlässigt, läuft Gefahr, in insuffizienten Halbkompetenzen stecken zu bleiben und sich vor jenen intellektuellen sowie ästhetischen Sozialschranken müde zu laufen, welche die sachverständigeren, urteilsfähigeren Connaisseure heute wie gestern gern zwischen ihresgleichen und den verachteten »Banausen« errichte(te)n. Jegliche kulturelle Kompetenz ist jener Grundspannung ausgesetzt, die sämtliche menschlichen Daseinsvollzüge im Großen wie im Kleinen durchwaltet, die sich natural aufzwingt, doch zivilisatorisch überformt und sozial-figurativ ausgelebt wird: der Dialektik von Konstruktion und Destruktion, von Produktivität und Kontraproduktivität. Dementsprechend muss sie nicht nur dazu befähigen, die Erscheinungsweisen und Verlaufsarten dieses Prozesses als ganzen wie in seinen Teilvollzügen zu durchschauen. Sondern sie sollte darüber hinaus Individuen und Kollektive in die Lage versetzen, die zunehmende Destrugenität, zumal die technoide Zerstörungsträchtigkeit der industriellen Zivilisation samt deren Schein- sowie Fehlentwicklungen zu erkennen und womöglich zu meistern. Indem sie Aufbau und Abbau einbezöge und auszutarieren hülfe, gewänne die kulturelle Kompetenz zudem eine dekonstruierende Perspektive. In dieser könnten Aspekte der Theorie und Analyse mit solchen der Praxis zusammenfließen. Eine darum bemühte Kompetenz hätte in eine (schon von Émile Durkheim so benannte) »théorie pratique« zu münden, in eine »praktische Theorie«, die sich von ausgleichender Vernunft leiten ließe. Sie wäre in der Lage, wegweisende Beiträge nicht nur zur Erkenntnis sondern auch zur Gestaltung menschlichen Lebens, mithin zu einer durch affektive, kognitive und operative Kompromisse dienlichen Verfugung von Natur, Kultur und Sozialwelt zu leisten.30 Damit eine solche kalkulierende Kombination der antagonistischen Strebungen individuell und kollektiv gelingt, ist zuförderst Wissen erforderlich, umfassender Wissenserwerb über alle mit dieser Problematik zusammenhängenden Fakten und Wirkmöglichkeiten. Für die Humanund Kulturwissenschaften resultiert aus dieser Einsicht die Notwendigkeit, sich mehr als bisher der empirischen Zerstörungsforschung zu widmen und dabei auch der Frage nachzugehen, wie die Zeitgenossen mit inneren und äußeren Defektimpulsen, mit Dekulturationsanlässen 30 Émile Durkheim: »Wesen und Methode der Pädagogik«, in: ders., Erziehung und Soziologie (1922), Düsseldorf 1972, S. 50-71; zur Bedeutung »praktischer Theorie« im Alltagsleben vgl. Hans Peter Thurn: Der Mensch im Alltag. Grundrisse einer Anthropologie des Alltagslebens, Stuttgart 1980, S. 45ff.; sowie ders.: »Das sozio-kulturelle Grundmuster«, in: ders., Kultur im Widerspruch. Analysen und Perspektiven, Opladen 2001, S. 189-203, insbes. S. 198f. 66
H. P. THURN: DAS PROJEKT »KULTUR«
zurechtkommen, welche spezifischen Kompetenzen der Dekomposition, gar der Destruktion sie benutzen, vermissen, sich wünschen, anstreben. Zur Stufentheorie des Ruinösen träte derart eine Lehre der minderungsrelevanten Kompetenzgrade und Aktionsmodi samt den in diesen mitwirkenden Gefühlseinstellungen sowie Denkhaltungen hinzu. Erst solche kombinatorischen Analysen lassen realitätsfundierte und praxisnahe Rückschlüsse auf den heutigen Umgang mit der Grundspannung aller Kultur und Zivilisation zu. Jene Rituale, die einst zur operativen Kalkulation und mentalen Stabilisierung defektiver Vorgänge beitrugen, gewähren heutzutage nur noch wenig Halt. Wer sich ihnen ehedem fügte, der wusste (meistens), was er nolens volens zu gewärtigen hatte, was ihm und anderen erlaubt war, zur Duldung auferlegt, als Tat zugemutet wurde. Sofern es sich nicht um orgiastische Kulte mit exzessiven Entgleisungen handelte, legten Riten und Zeremonien aus gewohnheitsmäßiger Fixierung, teils in mündlicher, teils in schriftlicher Überlieferung mit gewissen Toleranzen außer den gütlichen Worten und Werken auch die Intensitäten und Radien dekulturativer Aktion und Passion fest. Schadenszufügungen waren ihnen gemäß zu dosieren, Schmerzgrenzen zu beachten, Benevolenz und Malignität zu proportionieren (was freilich Ungleichgewichte und Ausuferungen keineswegs gänzlich ausschloss). Immerhin konnten auf solchen Wegen, z.B. in Trennungsriten (etwa bei einer Scheidung), Degradierungszeremonien (für den »Sitzenbleiber« in der Schule) und Zerstörungskulten (beim potlatchartigen Gabentausch), die Beeinträchtigungen von (modern ausgedrückt) Desozialisation und Dekulturation wenn nicht körperlich erträglicher so doch seelisch akzeptabler (weil sinnhaft überhöht und sozial abgesegnet) werden. Anders die Gegenwart. Infolge weit reichender Entritualisierung überlässt sie den einzelnen Menschen in hohem Maß seinem dekulturativen Individualschicksal. Ohne die Stütze von Riten und Zeremonien muss er selbst schauen, wie er in der Zerstörungsdemokratie mit tausenderlei Defizienzen von nah und fern zurechtkommt. Soll er den Schwund freundlicher Begrüßungen und höflicher Anreden, der sich in Deutschland auf Ämtern und im Geschäftsleben ausgebreitet hat, unwidersprochen hinnehmen? Ist es ratsam, gleich so vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern einen Wunsch ohne beigefügtes »bitte« vorzutragen oder bei seiner Erfüllung auf ein »danke« zu verzichten? Wie weit soll man an der Verwilderung der Sitten und Umgangsformen, an der Vulgarisierung der Sprache teilnehmen? Angesichts des öffentlichen Schwalls an Demolierung und Demoralisierung bleibt den Zeitgenossen oft nur die mentale Flucht in eine Pseudo-Kompetenz der Verdrängung, des Hinnehmens, des Wegschauens. So dass sich (durchaus unabhängig von 67
I. KULTURBEGRIFFE
der konkreten Betroffenheit) zur faktischen Dekulturation (der Lügen, Diebstähle, Überfälle usw.) eine weitere, argumentative hinzuaddiert: die des Kompetenz-Defizits. Da mag sich mancher vorkommen wie Thomas Bernhards Privatgelehrter Atzbacher, dem der Musikphilosoph Reger bedeutet: »Was denken wir und was reden wir nicht alles und glauben, wir sind kompetent und sind es doch nicht, das ist die Komödie, und wenn wir fragen, wie soll es weitergehen? ist es die Tragödie…«31 Wissenschaftlich wird man solchen Pessimismus weder bejahen noch teilen wollen. Wie auch immer sie schwer zu erringen und zu bewahren sein mag, in den sozial offenen Verhältnissen der demokratischen Kultur und Zivilisation benötigen die Menschen mindestens eine doppelte Basis-Kompetenz: diejenige der Befähigung zur Gestaltung bzw. gestaltenden Teilnahme und diejenige der sinnhaften sowie synagonalen Kontrolle ruinöser Latenzen, Impulse, Akte. Das gilt im Großen wie im Kleinen. In den unscheinbaren Wechselfällen des privaten und beruflichen Lebens, aber auch um mit den krisenhaft verlaufenden Phasen des Daseins dekonstruktiv ausgleichend und mäßigend zurechtzukommen, brauchen Menschen ein Bündel an Kompetenzen, das nicht einseitig durch Produktions- und Aufbaumaximen bestimmt wird, sondern das ebenfalls Dekulturations-, Destruktions- und diesen wiederum konträre Abwehrgesichtspunkte berücksichtigt. Erst wenn durch ein Zusammenspiel all dieser Faktoren eine kompetente Wertbalance gelingt, können auch die schöpferischen und zerstörerischen Anlagen im Menschen sowie die analogen Umgebungsreize dekonstruktiv austariert werden. Die Widerspruchsgestalt der Humankultur verlöre dann einiges von ihrer künstlich gesteigerten Bedrohung und gewönne zumindest momentan an Lebenstauglichkeit.
31 Thomas Bernhard: Alte Meister. Komödie, Frankfurt/Main 1985 u. 1988, S. 308 und S. 179: »[...] auch wenn ich gleichzeitig sage, dass es eine solche öffentliche Kompetenz nicht gibt, Kompetenz gibt es ja nicht einmal, hat es nie gegeben, wird es nie geben; [...].« 68
Philosophie als Kulturreflexion DIRK RUSTEMEYER
I. Welche Rolle spielt die Philosophie heute für die Selbstbeobachtung der Gesellschaft? Erkenntnisansprüchen der Wissenschaften entspricht sie kaum, Orientierungsbedürfnisse in einer unübersichtlichen Welt befriedigt sie selten, oberste Werte oder letzte Denk- und Begründungsregeln sucht sie vergeblich. Die Praxis der Philosophie scheint unsicher und in ihren Resultaten eher verunsichernd zu sein. Im Folgenden plädiere ich dafür, diese Unsicherheit als Vorzug zu betrachten. Der Umgang mit Unsicherheit, wie die Philosophie ihn pflegt, tritt als Leistung hervor, wenn die Praxis der Reflexion ins Auge gefasst wird, der sich das Projekt der Philosophie verdankt. Philosophie entsteht als eine Praxis des Umgangs mit Ungewissheit, die auf Fragwürdigkeiten durch das Stellen von Fragen reagiert. Wie sich an der sokratischen Gesprächsführung beobachten lässt, ist die Frage oft wichtiger als die Antwort. Eine Suche nach letzter Gewissheit oder Wahrheit, für die das Projekt der Philosophie auch stehen mag, kann diesen Umstand nicht verdecken. Sie hebt ihn vielmehr als Problem hervor und konstituiert sich nicht zuletzt als Entfaltung der Unmöglichkeit seiner Lösung. Die Reflexionspraxis der Philosophie greift strittige Fragen, virulente Probleme und unscharfe Begriffe auf, um sie in ihren Unterscheidungsmöglichkeiten zu beobachten. Damit eröffnet sie Vergleiche und macht Kontingenzen sichtbar. Hierzu benutzt sie Begriffe. Das unterscheidet sie von den meisten Wissenschaften und Künsten. Philosophie beobachtet, indem sie Möglichkeiten der Unterscheidung und Bestimmung befragt, die Welt. Welt kann nur indirekt über die Beobachtung der Formen ihrer Bestimmung auf ihre Möglichkeitsbe69
I. KULTURBEGRIFFE
dingungen hin beobachtet und Vergleichen ausgesetzt werden. Denn Welt ist nur in der Form von Sinn zugänglich. Das Verhältnis von Sein und Sinn bildet einen Topos philosophischer Reflexion, mit dem sie ihre Geschichte rekonstruieren und ein Verhältnis zu ihrer eigenen Praxis aufbauen kann. Die Frage nach dem Sein als Bestimmtheit führt auf die Frage nach dem Sinn als dem Wie des Bestimmens, und das Wie des Bestimmens reflektiert die Struktur des Bestimmten als eines auch anders Bestimmbaren.1 Bestimmen heißt unterscheiden, und die Praxis des Unterscheidens begrifflich geführter Optionen ist als Operation Bedingung der Möglichkeit ihrer selbst. Sie führt auf keinen ersten Grund, keine letzte Wahrheit und keinen höchsten Wert. Weil die Beobachtung von Bestimmtheit die Beobachtung und Pflege von Unterscheidungen voraussetzt, behandelt philosophische Reflexion die Wirklichkeit der Welt als eine Möglichkeit, die sie selbst mit umfasst. Sie zielt auf nichtkontingente Beschreibungen, indem sie Kontingenzen hervorhebt. Eine solche Auffassung von philosophischer Praxis behandelt die Welt als Sinn und die bestimmten Möglichkeiten des möglichen Wirklichen als Kultur. Dieser Vorschlag benutzt einen operativen Begriff von Sinn und Kultur, und er bedarf einer Bestimmung des Begriffs der Reflexion. Dessen Bestimmung erfolgt hier durch seine Verknüpfung mit dem Begriff des Zeichens. Auf diesem Wege wird ein Modell des Repräsentationswissens in ein semiotisches Modell operativer Unterscheidungsbildung umgeformt und das Verhältnis der Philosophie zu den Künsten und den Wissenschaften bestimmt. Reflexion erweist sich als eine darstellungsbedürftige und darstellungsabhängige Praxis des Unterscheidens, die von der Form der Zeichen mitbestimmt wird, deren sie sich bedient. Die dynamische Einheit möglicher Bedeutungsbildung in Feldern semiotischer Verkettungen lässt sich dann kulturtheoretisch fassen. Das Verhältnis von Unterscheidungs- und Zeichenformen wiederum weist eine diagrammatische Struktur auf, die sich dem begrifflichen Medium der Philosophie nur indirekt, nämlich als Praxis der Verschiebung von Sinnformen, erschließt. Platons Gewebe dialogischer Texte ist hierfür eines der ersten beeindruckenden Beispiele. Darum entfaltet Philosophie sich als eine Übung in Kulturreflexion mit begrifflichen Mitteln, aber nicht ausschließlich im Modus der Begriffsreflexion. Drei Thesen strukturieren diese Argumentation. Die erste These besagt, dass die Probleme einer Theorie der Form aus dem Kontext einer Theorie des Seins in den Kontext einer Theorie des Sinns transformiert
1 70
Vgl. Dirk Rustemeyer: Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral, Hamburg 2001.
D. RUSTEMEYER: PHILOSOPHIE ALS KULTURREFLEXION
und dort zeichentheoretisch ausgearbeitet werden können. Die zweite These lautet, dass eine solche Semiotik eine Theorie der Kultur benötigt, die der Frage nach Genealogie und Typik semiotischer Formen im Vergleich zu Künsten und Wissenschaften als evolutionär erfolgreichen Feldern nachgeht. Künste, Philosophie und Wissenschaften entfalten auf je ihre Weise die Reflexivität semiotischer Ordnungen und machen sie methodisch in eigenen Forschungsprogrammen nutzbar. Die dritte These behauptet, dass eine Diagrammatik der Kultur zu einer Auffassung der Philosophie als einer Praxis führt, die Darstellungsformen in ihrer Differenz und Supplementarität aufeinander bezieht, sich für ihre Verschiebungen interessiert und als situierte Beobachtung der Kultur in diese Kultur eingreift.
II. Für die Transformationsbewegung einer Seins- zu einer Sinnphilosophie steht exemplarisch das Werk Ernst Cassirers. Seine Theorie symbolischer Formen entwickelt in historischer und systematischer Perspektive eine Genealogie von Zeichen- und Sinnformen, die Hegels Vernunftmetaphysik zu einer Kulturphilosophie umformt. Unabhängig davon, wie man die Einheitsambitionen dieser Kulturphilosophie trotz ihres Respekts vor der eigenlogischen Qualität symbolischer Formen wie Mythos, Sprache, Religion, Wissenschaft oder Kunst beurteilt, profitiert eine Semiotik der Kultur von Cassirers Einsicht, dass es symbolische Formen – Zeichen – sind, die Bedeutung konstituieren, Intelligibles mit Sinnlichem verknüpfen und hypostasierten Begriffsalternativen als bewegliches Geflecht von Bestimmungsleistungen voraus liegen. Kultur, zeigt Cassirer, ist die weltentwerfende und welterschließende Leistung des Menschen als eines Symbole verwendenden Tiers. Sie bringt sinnhafte Differenzierungsprozesse in Gang, lässt voraussetzungsvolle, auf ihre Art einseitige und damit unwahrscheinliche Ordnungen wie Wissenschaft oder Kunst entstehen und vermag in den Formen des Denkens die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung auf allgemeine Strukturen hin zu übersteigen und zu reflektieren.2 Symbole sind die Form des Geistes, weil sie zugleich die Form der Welt sind. Dies sind sie deshalb, weil sie in Wahrnehmungs- und Ausdrucksleistungen zugleich welterzeugend
2
Ernst Cassirer entwickelt 1944 rückblickend seine Philosophie noch einmal aus anthropologischer Perspektive: Vgl. ders.: Versuch über den Menschen, Frankfurt/Main 1990. 71
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und reflexionsermöglichend fungieren.3 In ihnen findet das unruhige Bewusstsein einen Halt, mit dem es sich auf sich selbst und auf anderes bezieht. Seine symbolisch fundierte Reflexivität verschafft dem Bewusstseins eine eigene Zeitlichkeit durch Dauer, sie reproduziert sich über die operative Wiederholung symbolischer Funktionen, sie fundiert Zuschreibungen auf anderes und sich selbst, und sie schafft die Möglichkeit des Vergleichs – und damit die Einheit der Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit.4 Symbolfunktionen erzeugen Bestimmungsnetze, die als immanente Verweisungszusammenhänge eine Ablösung vom sinnlichen Eindruck und eine Bezugnahme auf Selbiges und Anderes fundieren. Aber Cassirer ist darin Hegelianer geblieben, dass er die Einheit des Geistes in der Vielheit seiner Formen aufsucht. Die Differenz einer Kultursemiotik zu seiner Symbolphilosophie zeigt sich an zwei Punkten. Der erste Einwand betrifft die Idee der Einheit. Aus der Analyse der Symbolfunktion leitet Cassirer eine Differenzierungslogik ganzer Symbolwelten ab, die trotz ihrer eigenen Begrenztheit im Prinzip unendliche Formbildungen generieren. Im Durchlaufen dieser Funktionentotalität begegnet der philosophisch reflektierende Geist sich selbst in seiner Ganzheit als einem »komplexen System«.5 Cassirer sieht sich zu dieser schwachen metaphysischen Ambition ermutigt, weil er den Übergang zwischen der symbolischen Grundfunktion und den großen historischsystematischen Symbolformen eher unvermittelt herstellt. Darum bleibt auch deren genealogisches und systematisches Verhältnis, etwa hinsichtlich ihrer Simultaneität oder historischen Abfolge, undeutlich. Vor allem wird nicht recht plausibel, wie die symbolische Funktion zwar am Bewusstsein ansetzt, dann aber gesellschaftliche Bedeutungskomplexe wie Wissenschaft, Religion oder Kunst erzeugt, wenn nicht das Ineinandergreifen von Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozessen präziser gefasst wird. Hier wäre vor allem an die evolutionäre Verfestigung von Unterscheidungsordnungen sowie an die katalysatorische Funktion der Organisationsbildung in der Gesellschaftsgeschichte zu denken. Der zweite Einwand setzt am Verständnis der Symbolfunktion selbst an. Cassirer hat der Abhängigkeit der Sinnbildung von unterschiedlichen Zeichenordnungen nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, weil sein Paradigma die Sprache ist. Da es aber sowohl für die Wahrnehmung als auch für die Kommunikation einen Unterschied macht, welche der verschiedenen Zeichenordnungen wie Sprache, Bild, Zahl oder Geste je3 4 5 72
Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, Darmstadt 199410, S. 16ff. Vgl. ebd., S. 33ff. Vgl. ebd., S. 29 und S. 48.
D. RUSTEMEYER: PHILOSOPHIE ALS KULTURREFLEXION
weils Verwendung findet, bleibt die Materialität der semiotischen Funktion bei ihm unterbelichtet.6 Darum wäre das Konzept der Prägnanz so zu erweitern, dass die evolutionäre Struktur zeichengestützter Sinnbildungen im Doppelfokus von Wahrnehmung und Kommunikation in den Blick gerät. Prägnanz zeigt sich eher als Feld- denn als bloßes Bewusstseinsphänomen. Diese Verschiebung hat weit reichende Folgen, weil auch die Differenzierung großer Symbolformen wie Religion, Wissenschaft, Kunst oder Mythos sowie die damit verbundene historische Typologie mimetischer, analogischer und abstrakter Sinnbildungen weniger vorausgesetzt werden kann als vielmehr aus dem feldspezifischen Zusammenspiel von Zeichenordnungen heraus entwickelt werden muss. Von diesen beiden Korrekturvorschlägen unberührt bleibt Cassirers Einsicht in die interne Differenzierung der Kultur und seine Aufgabenzuweisung an die Philosophie, die Möglichkeit konkreter Sinnbildungen im Ausgang von der symbolischen Struktur des Bewusstseins in die empirischen Formbildungen gesellschaftlicher Unterscheidungswelten hinein zu verfolgen. Allerdings hat es Konsequenzen für das Verständnis philosophischer Reflexion, wenn diese nicht als Nachvollzug der Leistungen des Geistes, sondern als eingreifende Unterscheidungsbildung im Hinblick auf die Gegebenheiten einer konkreten Kultur verstanden wird. Dann nämlich erscheint Philosophie als eine Praxis, die Unterschiede aufgreift, sie perspektivisch mit Hilfe begrifflicher Distinktionen entfaltet, Vergleichbarkeiten um den Preis von Differenzbildungen ermöglicht und sich damit abfindet, zu keinem letzten Ergebnis zu gelangen. Reflexion wäre eine situierte, an Zeiten, Orte und Anwesende gebundene Praxis, die dazu zwingt, sich auf Unterscheidungen einzulassen und jede Bestimmung auf ihre Kontingenz im Blick auf andere Möglichkeiten zu betrachten, ohne sie in einer Logik der Negation oder unter dem Primat einer finalen Wahrheitsidee still zu stellen und zu entschärfen. Solche Reflexion vervielfältigt Differenzen und akzeptiert einen kultivierten, in der Form begrifflicher Diskurse domestizierten Dissens als interessanten Normalfall. Der Weg, den Cassirer durch seine philosophiehistorischen und kulturgenealogischen Studien gebahnt hat, markiert die Umwandlung einer Seinstheorie zu einer Sinntheorie und verleiht der Frage der Sinnbildung eine kulturtheoretische Perspektive. Sein Symbolverständnis ist von semiotischen und systemtheoretischen Überlegungen zur Funktion der Bestimmung durch Unterscheidung weitergeführt worden. In diesem Zuge
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Darauf weist auch Oswald Schwemmer in seiner systematischen CassirerInterpretation hin: Vgl. ders.: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, S. 49. 73
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entstand ein kulturphilosophisches Forschungsfeld, das semiotische, phänomenologische, symbol- und kommunikationstheoretische Fragestellungen verknüpft. Philosophische Reflexionsformen treffen hier auf eine produktive Resonanz in system-, kognitions- und informationstheoretischen, aber auch in ästhetischen und phänomenologischen Fragestellungen.7 An die Stelle eines klassischen Modells des strukturhomologen Zusammenhangs von Denken, Sprache und Sein tritt eine Begriffsfiguration, die mit den offenen Konzepten von Wahrnehmung, Kommunikation und Sinn arbeitet. Wahrnehmung ist ein offener Prozess der Kopplung von Sinnlichem und Intelligiblem. Als dynamischer, in Erfahrungsfeldern situierter und semiotisch imprägnierter Prozess sprengt Wahrnehmung die Immanenz eines sich auf sich beziehenden Denkens. Denken erscheint vielmehr als ein Grenzfall der Wahrnehmung selbst. Formen des Denkens kristallisieren ein Wahrnehmungsbewusstsein mit Hilfe symbolischer Ordnungen zu Unterscheidungen aus, die das Wahrnehmungsbewusstsein überformen und damit reflektierbar machen, es aber nie ersetzen oder entwerten können. Sprache etwa bringt Unterscheidungsmöglichkeiten ins Spiel, die Wahrnehmungsprozesse gliedern, bezeichnen, in logische Relationen setzen und für Kommunikation bereitstellen, ohne dass die sprachlichen Unterscheidungen Ordnungen des Wahrnehmens oder des Seins selbst wären. Geht man hingegen vom Denken und seinen symbolischen Ordnungen aus, um die Möglichkeit von Bestimmtheit und Sein zu verstehen, führt dies leicht zur Vorstellung einer logischen Struktur des Seins selbst und zu einer digitalen Form des Bestimmens.8 Kommunikation wiederum geht weit über mentale Repräsentationen und sprachliche Vermittlung hinaus und befreit vom Vorgriff auf Wahrheit und Konsens. Sie erzeugt Anschlussmöglichkeiten für sinnhafte Bestimmungen, die auf Bewusstseinskongruenz nicht angewiesen sind. Sinn schließlich behandelt Sein als eine Unterscheidungsmöglichkeit neben anderen, also als eine Form von Sinn, die nur in Relation zu anderen Unterscheidungen bedeutsam wird, ohne ihm eine ontologische Priorität einzuräumen. Der Gewinn dieser Transformationsbewegung besteht darin, auf die Figur der Repräsentation verzichten zu können. Sie war es, die in der klassischen Konstellation die Einheit der Ordnung, die Strukturhomologie der Momente und die Nichtkontingenz der Unterscheidungen erzwang. Die Frage der Form lässt sich seitdem operativ als Unterschei7 8
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Vgl. etwa Christina Weiss: Form und In-formation. Zur Logik selbstreferentieller Strukturgenese, Würzburg 2006. Am Ursprung der abendländischen Rationalitäts- und Seinsvorstellung steht eben dieser Ausgang vom Denken in seiner sprachlich-urteilsförmigen Struktur. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, Buch IV, Hamburg 19893.
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dungsprozess behandeln. Werden Formen als Zeichen betrachtet, treten die feldrelative Kopplung von Zeichen zu – kulturellen – Wahrscheinlichkeitsordnungen sowie die Materialität der Form hervor. Eine Theorie operativer Zeichen-Formen führt zu einer Differenztheorie der Bestimmung, sie akzeptiert Kontingenz, rechnet nicht mehr mit einer eindeutigen Zuordnung von Sein und Eigenschaften, sprengt die zweiwertige Logik und öffnet den Spielraum für multiple Zeichenordnungen. Unterschiedensein zeigt sich nun als kontingente Operation des Unterscheidens. Für oberste oder unterste Werte in einer Ordnungspyramide gibt es nun keine Verwendung mehr: Gott und Sein werden als theorietechnische Begriffe insoweit entbehrlich, als sie Unbezeichenbares bezeichnen, aber dieses Unbezeichenbare nun nicht mehr als hinreichend aussagekräftig gilt, um Aufschlüsse über die Welt, also über empirische Unterscheidungsordnungen, zu erlangen. Innerhalb der Welt muss ein Beobachter nicht Gott beobachten, um etwas über sich selbst zu erfahren, sondern empirische Beobachtungsvoraussetzungen beobachten, um Abstand zu sich selbst, also Ordnungsgewinne, zu erzielen. Das unbezeichenbare Absolute oder das undarstellbare Einzelne pluralisieren sich zu einer kulturellen Vielfalt operativ unbezeichenbarer Beschreibungsmöglichkeiten, die nur durch zeitliche, soziale oder symbolische Verschiebungen beschrieben werden können. Ordnung erweist sich als paradoxer Grund ihrer selbst. Als paradoxer Grund ist sie nicht ordnungsbegründend im Sinne eines Ursprungsdenkens, sondern sie ist als Spur kontingenter Unterscheidungen nur indirekt bezeichenbar: Sie ist darstellungsabhängig. Nicht nur erweisen Formen sich als dynamisch statt statisch, sie sind auch symbolisch konstituiert und beobachterrelativ. Bestimmtheiten erfolgen in semiotischen Feldern, die wiederum Übergangszonen mehr oder weniger wahrscheinlicher Verknüpfungen bezeichnen. Besonders Phänomenologie und Kommunikationstheorie mit all ihren Spielarten, Letztere vor allem in Gestalt der Systemtheorie, haben das Problem der Sinnbildung ausgearbeitet. Wahrnehmung und Kommunikation dienen ihnen dabei als Ausgangspunkt, wobei sie den jeweils komplementären Aspekt ausblenden: Während die Phänomenologie sich auf Wahrnehmungsleistungen zulasten der Erklärbarkeit eigenlogischer Kommunikationen konzentriert, behandelt die Systemtheorie Bewusstseinsprozesse als Umwelt sozialer Systeme.9 Diese komplemen-
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Vgl. paradigmatisch Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966; Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt/Main 1997. 75
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täre Verkürzung lässt sich durch die zeichentheoretische Einführung des Sinnbegriffs korrigieren. Dann erscheinen Wahrnehmung und Kommunikation als komplementäre Pole eines semiotischen Kontinuums, dessen oszillierende Dynamik aus der Differenzstruktur der Zeichen und damit des Sinns resultiert. Zeichen sind Unterscheidungen, die der Wahrnehmung auffallen müssen, im reflexionsfähigen Bewusstsein für eigene Unterscheidungsordnungen genutzt werden, aber in Kommunikationsprozessen Anschlussregeln entfalten, die sich der Kontrolle eines Bewusstseins oder der Struktur des Seienden entziehen. Für diesen semiotischen Prozess einer evolutionären Unterscheidungsbildung, die an elementaren leiblichen Wahrnehmungsvoraussetzungen ansetzt und sich über Erwartungen und Gewohnheiten in Handlungen, Überzeugungen und kommunikative Praktiken übersetzt, die schließlich organisierte Formen annehmen und ganz neue Stabilitäten von Zeit-, Erwartungs-, Symbol- und Akzeptanzordnungen aufbauen, ist die Semiotik von Charles Sander Peirce wegweisend. Sein Modell der Semiose behandelt das Zeichen als eine Funktion oder Übergangsanweisung, die zum Aufbau unwahrscheinlicher Ordnungen führt und die Genese des Selbstkonzeptes von Bewusstsein ebenso zu beschreiben erlaubt wie die Regeln kommunikativer Praxis.10 Zwischen Wahrnehmung, Denken, Gewohnheit, Wirklichkeit und Kommunikation verschwimmen die Unterschiede, wenn Sinn als wahrnehmungsfundierte, in praktischen Routinen und Erwartungen eingelassene, reflexiv symbolisierte, praktisch bewährte und symbolisch transformierbare Unterscheidungsleistung begriffen wird, die nicht monologisch erfolgt, sondern in sozialen Kontexten eine kommunikative Stabilisierung erlangt. Eine Theorie der Reflexion und der kulturellen Sinnbildung kann aus diesem Konzept Nutzen ziehen. Peirces Vorschlag, die sinngenerative Semiose als zirkuläre Verknüpfung von Wahrnehmung, Handeln und Denken anzulegen, bei der ikonische, indexikalische und symbolische Zeichenaspekte sich von einer Erstheit über eine Zweitheit zu einer Drittheit miteinander verketten, ist geeignet, die Symbolfunktion Cassirers zu präzisieren, wenn man sie ihrerseits in ihren operativen Dimensionen aufschlüsselt. Die Funktion des Zeichens kann nur dann sinnhafte Unterscheidungen erzeugen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Die Operation muss wiederholbar sein, um eine elementare Rekursivität entstehen zu lassen, die überhaupt Anschlüsse und Dauer ermöglicht. Durch die Wiederholbarkeit begründet sich ihre Zeitlichkeit. Wiederholbarkeiten ermöglichen Erwartbarkeiten und Zurechenbarkeiten, die Handlungen, Gewohnheiten und wechselseitige Erwartungsbildungen fundieren. Er10 Vgl. Charles S. Peirce: Semiotische Schriften, 3 Bde, Frankfurt/Main 2000. 76
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wartbarkeit begründet die soziale Dimension von Sinn, indem sie aus der doppelten Kontingenz von Ego und Alter durch Konditionierungen Formgewinne erzielt. Wiederholbarkeit und Erwartbarkeit können entstehen, wenn replizierbare Zeichen Verwendung finden, an denen die Wahrnehmung ansetzen kann bzw. mit denen intelligible Operationen hantieren können. Dies beschreibt die symbolische Struktur der Zeichenfunktion und erklärt die Ausdifferenzierung von Zeichenformen und Verkettungsregeln. Nicht zuletzt spielen Wiederholbarkeit, Erwartbarkeit und Replizierbarkeit unter der Bedingung zusammen, dass Möglichkeiten der Unterscheidung verfügbar sind und neu aufgebaut werden, Vergleichbarkeiten entstehen, das heißt Differenzen ins Spiel kommen und sich wahrscheinliche von unwahrscheinlichen Kombinationen unterscheiden lassen. Diese Dimensionen der Zeichenfunktion setzen einander wechselseitig voraus. Kultur erscheint als diejenige Dimension, die als jeweiliger Bereich möglicher Referenz die konkreten Relationen beschreibt, die semiotisch erzeugt werden können. In zeitlicher Hinsicht reguliert sie das Verhältnis von Erinnern, Erwarten und Vergessen, in sozialer Hinsicht steuert sie Akzeptanzen, Verlässlichkeiten und Konflikte, in symbolischer Hinsicht privilegiert sie Zeichenformen, Ausdrucksmöglichkeiten und Verständlichkeiten, und in kultureller Hinsicht ist sie die paradoxe Bedingung ihrer selbst: Sie ist die Einheit des Unterschiedenen als eines operativ Unterscheidbaren, das sich als kontingente Ordnung in jeder Operation versteckt, aber als Feld möglicher Negationen zugleich ins Spiel bringt. Sie markiert das Unbefragte, das Fragwürdige, das Wahre und Falsche, Reale und Imaginäre, das Darstellbare und das als nicht Darstellbares doch Darstellbare.11 Vollzieht man diese Revision der Cassirer’schen Theorie mit, tritt ihre Unterscheidung großer Symbolformationen systematisch etwas in den Hintergrund. Religiöse, wissenschaftliche, künstlerische oder sonstige Unterscheidungen lassen immer die Kultur als Ganze in Betracht kommen und nicht als Ganzes von Teilen. Es ist durchaus unklar, auch umstritten, was als religiös, wissenschaftlich, künstlerisch oder mythisch gelten darf. Kultur lässt sich darum als eine Dimension von Sinn auffassen, die solche Unterschiede ermöglicht, relativiert, bereithält, negierbar macht, auf Begriffe, Bilder, Gesten oder Handlungen zuspitzt oder philosophische Unterscheidungskünste freisetzt. Welche semiotischen Effekte ein Ereignis erzeugt, lässt sich weder eindeutig voraussagen noch einem bestimmten Symbolsystem oder Feld zuordnen. Eine Einheit dieser Formen lässt sich nur schwer behaupten, denn semiotische Funktio-
11 Vgl. Dirk Rustemeyer: Oszilllationen. Kultursemiotische Perspektiven, Würzburg 2006. 77
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nen verändern mit jeder Operation das Feld, in dem sie stattfinden: Sie sind die Einheit von Erinnern und Vergessen, Erwartung und Enttäuschung, Markierung und Negation, Akzeptablem und Nichtakzeptablem.
III. Zum einen ermöglicht die Vorstellung von philosophischer Reflexion als einer semiotischen Praxis kultureller Unterscheidungsbildung also eine Verhältnisbestimmung zu ihrer eigenen Tradition. Zum anderen schärft und pflegt sie die Differenzen zu den Wissenschaften und den Künsten. Differenzen zu pflegen heißt, die eigene Identität immer wieder durch die Ausarbeitung der Unterschiede zu anderen Unterscheidungsmöglichkeiten auf die Probe zu stellen, zu bewähren und zugleich die Unterscheidungsformen selbst als semiotische Praktiken zu reflektieren. Letzteres gelingt, wenn man die Kultur als eine diagrammatische Ordnung von Sinnbildungsmöglichkeiten auffasst. Besondere Gegenstände braucht die Philosophie für sich dabei nicht zu beanspruchen. Stattdessen kann sie ihre Weise begrifflicher Unterscheidungsbildung gegen alternative kulturelle Differenzierungsordnungen geltend machen. Als semiotisches Universum des Bezeichenbaren, das mit jeder Operation der Bestimmung eine evolutionäre Veränderung erfährt, nie als Totalität erfassbar ist, zufallssensiblen Ordnungsleistungen entspringt und einer evolutionären Tiefengrammatik entbehrt, ist Kultur ein Transzendentales ohne Apriori: ein sich umwebendes Netz von Gewohnheiten, Bedeutungen, Gemeinsamkeiten und Differenzen. Sie ist darin etwas operativ Unbefragtes.12 Jede Bestimmung bietet Gelegenheit für Bestätigung und Negierung. Deshalb sind Kulturen weder ganz kohärent noch harmonisch oder deduktiv aus obersten Werten abzuleiten. Als Differenzierungsgeschehen sind sie immer auch ein Nährboden für Dissens, Abweichung, Konflikt und Eskalationen von Unterscheidungsketten. Einerseits liegen sie Versuchen, das Vertraute auf Werte abzuziehen, voraus, andererseits fungieren sie als Katalysatoren von Differenzen. Solche »schismogenetischen« Aufladungen können an allen Aspekten menschlicher Praxis ansetzen.13 Andererseits ist Kultur als Netz von Gewohnheiten auch die Voraussetzung, die Praktiken gelingen lässt, Koordination erleichtert und sich in Streitfällen als belastbar erweist. Im Nachhinein kann dann versucht werden, die Voraussetzungen von Über12 Vgl. dazu Howard S. Becker: »Culture: A Sociological View«, in: The Yale Review 71 (1982), S. 513-527. 13 Vgl. zum Konzept der Schismogenese: Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Frankfurt/Main 1985, S. 99ff. 78
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einkunft oder Streit in die Form von Gründen zu bringen und zu symbolisieren, indem beispielsweise auf Werte gezeigt wird. Das Netz der Bedeutungen ist zunächst eher durch Praktiken und Kommunikationsformen gewebt als durch sprachliche Klassifikationen. Die Ordnung der Dinge und der Wahrnehmung ist der Ordnung der Begriffe oder der Grammatik der Sprache nicht homolog. Weniges in der Kultur ist eindeutig, aber vieles entzieht sich der Strenge einer zweiwertigen Logik. Sinnformen erweisen sich im Gebrauch als erfinderisch, sie umgehen Alternativen, flüchten in Paradoxa, wechseln die Register oder mutieren von sprachlichen zu nichtsprachlichen Ausdrucksformen. Um mit Rorty und Deleuze zu sprechen: Kulturen haben kein Zentrum, und sie ähneln eher einem Rhizom als einer aristotelischen Ordnung des Wissbaren.14 Weil sie nur durch wiederholte operative Unterscheidungen existieren, liegt ihr Bestand in der Veränderung. Denn jede Wiederholung der Form verändert notwendig die Form, sie verschiebt die Zeithorizonte, sozialen Erwartbarkeiten, symbolischen Kopplungen und Anschlusswahrscheinlichkeiten.15 Mit den daraus entstehenden Vergleichsmöglichkeiten führt Kultur ein Kontingenzbewusstsein in die Kommunikation ein, das traditionelle Legitimationsmuster und Hierarchien untergräbt. Jede Bestimmung, sei sie epistemisch, politisch, ästhetisch, religiös oder ökonomisch, verweist auf andere Möglichkeiten des Bestimmens.16 Sie ist, was sie ist, indem sie zugleich ist, was sie nicht ist. Zu Institutionen verdichtete Regeln der Gewohnheitsbildung, der sozialen Erwartungsstabilisierung, der prägnanten Zeichenverwendung und der zeitstabilen Verweisungsmuster sorgen dafür, dass gleichwohl ein Profil des Legitimen und Illegitimen, der erfolgswahrscheinlichen Unterscheidungsbildung und der kommunikativ anschlussfähigen Sinnzumutung entsteht. Insofern sind Kulturen, nicht trotz, sondern wegen ihrer Sichtbarmachung von Kontingenz, Ordnungen der Unterscheidung von Legitimität und Illegitimität, die mehr oder weniger Selbstverständliches mehr oder weniger dauerhaft den Vergleichen entziehen. Vor allem darin gründet ihre realitätsstiftende Kraft: Sie generieren Ordnungen von Sinn, die Vergleichszumutungen und anderen Bestimmungen Widerständigkeit bieten.17 Was Derrida am Beispiel der philosophischen Sprache als Spur beschrieben hat, lässt sich kultursemiotisch zu der Einsicht generalisieren, 14 Vgl. Richard Rorty: Eine Kultur ohne Zentrum, Stuttgart 1993, S. 48ff.; Gilles Deleuze/Félix Guattari: Rhizom, Berlin 1976. 15 Vgl. Dirk Baecker: Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt/ Main 2005. 16 Vgl. dazu Dirk Baecker: Wozu Kultur?, Berlin 20012, S. 50f. 17 Vgl. dazu John W. Meyer: Weltkultur, Frankfurt/Main 2000. 79
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dass Sinnbestimmungen als feldrelative Ereignisse Gelegenheiten für multiple Verschiebungen in simultanen Kontingenzdimensionen sind.18 Es heißt zugleich, dass sich Bestimmungen erst retrospektiv als Spur ihrer Streuung beobachten, fixieren und als Form verwenden lassen. Paradox formuliert: Gegenwärtig beobachtbar ist Welt als Vergangenheit. Das gilt nicht zuletzt für das wahrnehmende Bewusstsein als Ort der Präsenz und Evidenz: Seine konstitutive Reflexivität gelingt nur um den Preis einer temporalen Verspätung und symbolischen Verschiebung.19 Diese Dezentrierung wohnt der Reflexivität selbst inne. Etwas als etwas zu beobachten beinhaltet eine Bezeichnung, die das Bezeichnete vom Bezeichnenden sowohl trennt als auch mit ihm verbindet. Als Operation benötigt diese Unterscheidung Zeit. Aber die temporale Differenz überlagert sich mit einer symbolischen, indem die Operation an einer Zeichenform auftritt und nur über diese Zeichenform als zeitliche Operation Dauer gewinnen kann – für Erinnerungen wie für Kommunikationen. Nicht zuletzt erfolgt die Unterscheidungsoperation in einem strukturierten Feld des Unterscheidbaren, das jeder Unterscheidung voraus liegt und das als Feld erst retrospektiv durch die Profilierung beobachtet werden kann, die eine semiotische Operation im Feld als Effekt erzeugt.20 Reflexivität erweist sich darin nicht als selbstrepräsentierende Relation, sondern als dezentrierende Operation, und als zeichengestützte Dezentrierungsbewegung ist sie eine Operation der Darstellung. Darstellungen eröffnen durch Semiotisierung Möglichkeiten des Bestimmens, indem sie etwas als etwas erscheinen lassen. Im Vollzug erzeugen sie, was sie als Formen sichtbar machen und für Anschlussbestimmungen freigeben. Darstellungsformen wiederum korrelieren mit Zeichenformen. Sprache ist eine kulturell immens wichtige, jedoch nicht die einzige Zeichenform. Ihr zur Seite stehen, in zumindest grober Typologie, die Überschneidungen nicht ausschließt, Bilder, algebraische Zeichen, Zahlen, Noten bzw. Klänge oder Gesten. Sinnbildungen entfalten sich in der Kopplung solcher Zeichenformen, die sich untereinander nicht homolog 18 Derrida konzentriert seine Analysen auf die Symbolstruktur des Zeichens und lässt etwa die soziale Dimension von Erwartbarkeiten oder die kulturelle Dimension operativer Vergleiche weitgehend unberücksichtigt. Vgl. ders.: Grammatologie, Frankfurt/Main 1983; ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1985. 19 Vgl. vor allem Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, Berlin 1966; ders.: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986. 20 Insofern lässt sich Plessners Einsicht in die Dezentriertheit der Reflexion aus ihrem anthropologischen Kontext in einen semiotischen übertragen und generalisieren. Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Frankfurt/Main 1981. 80
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übersetzen lassen, sondern im Gegenteil Bedeutungseffekte durch die dissonanten Resonanzen unterschiedlicher Zeichenformen erzeugen. Zwischen Wahrnehmung und Wort, zwischen Wort und Bild oder Bild und Zahl existiert keine einfache Übersetzung, ihr Zusammenspiel evoziert Sinnebenen, die sich weder mit Worten noch mit Zahlen oder Bildern allein zur Darstellung bringen lassen, und auch die sprechende Stimme verleiht dem geschriebenen Wortzeichen eine neue Dimension.21 Jedes Zeichen markiert darin einen Entzug, eine mangelnde Fülle, die zu weiteren Sinnbildungen auffordert: Das Wort evoziert die Vorstellung, das Bild verlangt nach sprachlichem Ausdruck, und doch entspricht kein Wort der Vorstellung hinlänglich, und kein Bild ist in Worten angemessen darstellbar. Eine sprachlich artikulierte Erinnerung an einen musikalischen Höreindruck oder eine visuelle Wahrnehmung kann nur zur Erinnerung, Kommunikation oder mentalen Vergleichen beitragen, weil sie keine Ähnlichkeit mit dem Gehörten oder Gesehenen aufweist. Ein musikalischer Dreiklang oder ein roter Fleck in einem Bild von Klee sind von anderer, aber nicht weniger evidenter Natur als die Schlüssigkeit einer mathematischen Gleichung. Ihre Dynamik bezieht die Sinnbildung aus den Resonanzen, die als Nichtkongruenz, Abwesenheit, Überschuss oder Überraschung auffallen. Sinn zeigt sich weniger in der Erfüllung der Bedeutungsrelation als in der Produktion und in der Produktivität eines Mangels. Solche dissonanten Resonanzen lassen sich als kulturelle Möglichkeiten pflegen, indem ihre Formbildung konditioniert und reflektiert wird. Ohne sie wären Ironie und Double-bind-Kommunikationen, wären politische Eskalationen, romantische Liebe, »schöne« Literatur oder Wissenschaft nicht möglich. Weil eine Zeichenform keine einfache Repräsentation einer anderen ist, vermag ein Zeichen überhaupt nur Übergänge zwischen selbsterzeugten Unterscheidungen zu bahnen. Differenz ist es, die bemerkt wird, Reflexion stimuliert und Kommunikation provoziert. Sinn entspringt aus der Inkongruenz. Zeichenformen, zu denen unter anderem Begriffe gehören, fungieren hierbei als semiotische Katalysatoren, die nichtlineare Relationen des Ein- und Ausschlusses, der Abduktion und der Resonanz aufbauen. Wiederholte Benutzungen generieren Kopplungen, die sich als intuitiv verwendbare Knoten in Bedeutungsnetze der Wahrnehmung und Kommunikation einflechten. Auf diese Weise werden sie nicht konkreter, sondern abstrakter. Dichte Kopplungen in semiotischen Feldern, wie sie als wiederholt benutzte Knoten in Kommunikationsnetzen auftreten,
21 In aller Schärfe hat dies bereits Nietzsche gesehen: Vgl. ders.: »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«, in: Studienausgabe Bd. 1, München 1988, S. 873-890. 81
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stabilisieren Gewohnheitsbildungen und Kommunikationswahrscheinlichkeiten um den Preis symbolischer Prägnanz. Sinn, so lässt sich daraus ableiten, existiert in Wahrnehmung und Kommunikation nur in Form semiotischer Differenzen. Versuche, Welt als Sinn mit einer Zeichenform gleichzusetzen, verfehlen die basale Funktion semiotischer Sinnbildung. Zeichen sind sowohl sinnlich, denn sie sind wahrnehmbar, als auch intelligibel, denn sie ermöglichen Übergänge, die nur als Differenzen bestehen, mithin selbst substanzlos sind. Logische Relationen, wie sie in Grammatik und Mathematik formuliert werden, stellen einen Grenzfall symbolisch überformter Sinnbildung dar. Sie können nicht als Paradigma von Sinnbildung überhaupt oder als Modell korrekter Semiosen behandelt werden. Interessant an ihnen sind ihre Genealogie und die Voraussetzungen ihrer Erzeugung. Zeichenordnungen greifen differenzierend in ein Wahrnehmungsfeld ein, um es zu gliedern, Beziehungen zwischen Elementen hervorzuheben und neue Operationen zwischen diesen Elementen zu ermöglichen. Wie aus einer Farb-Form-Masse allmählich erkennbare Figurationen entstehen, die vielleicht an Dinge erinnern, so kristallisiert sich der musikalische Ton aus dem Universum des Hörbaren heraus, so legt die Zahl eine abstrakte Ordnung über das vielfältig Gegebene, und so ermöglicht das Wort eine Referenz auf Konkretes durch seine elementare Abstraktheit. Es müssen aber nicht nur Zeichenformen wie Sprachen und Zahlen zur Verfügung stehen, sondern auch kommunikative Voraussetzungen ihres Gebrauchs wie die Spezialisierung auf symbolische Manipulationen, Organisationen, feldspezifische Kommunikationen, konditionierte Erwartungen und Bedürfnisse oder soziale Prämien.22 Solche Kopplungen sind gesellschaftlich voraussetzungsvoll, weil sie die Ausdifferenzierung der Dimensionen von Sinnbildung steigern, indem sie verschiedene Zeithorizonte etablieren, Symbolordnungen systematisieren und pflegen, soziale Erwartungen rollenförmig spezialisieren und kulturelle Akzeptanzen einerseits pluralisieren und andererseits aufeinander beziehen. Zugleich koppeln sie diese ausdifferenzierten Dimensionen in Feldern, die Ordnungen relativer Wahrscheinlichkeiten ausprägen. Wissenschaften oder Künste liefern mit den Institutionen der Universität und des Labors, des Museums und der Galerie, mit den Rollen des Forschers und des Studenten, des Galeristen und des Sammlers sowie mit entsprechenden Gelegenheiten der öffentlichen Kommunikation von Bewertungscodes, Re22 Insofern knüpft eine feldtheoretische Semiotik an Husserls phänomenologisches Programm der Genealogie der Wissenschaften an, geht jedoch nicht primär von Bewusstseinsleistungen aus. Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 19762. 82
D. RUSTEMEYER: PHILOSOPHIE ALS KULTURREFLEXION
levanzen und Innovationen in Zeitschriften oder dem Internet hierfür prägnante Beispiele. Gesellschaftsgeschichtlich lässt sich darin eine wichtige katalysatorische Bedingung der modernen Kultur sehen, weil dies eine Stimulierung und Stabilisierung von Differenz ermöglicht. Die symbolischen Ordnungen von Begriff, Formel und Kunstwerk lassen sich deshalb sozialgeschichtlich entlang der Ausdifferenzierung von Feldern beschreiben, die sehr voraussetzungsvolle Sinnformen hervorgebracht haben. Felder beziehen kontingente Dimensionen der Sinnbildung vor allem durch Organisierungsprozesse aufeinander und erzeugen auf diese Weise Cluster wahrscheinlicher Unwahrscheinlichkeiten in der Kultur. Die Felder der Wissenschaften, der Künste und der Philosophie generieren eigene Organisationen, Theorien, Forschungsprogramme und Praktiken: Die Wissenschaften mit ihrem Bezug auf Mathematik, die Philosophie mit ihrer Pflege des Begriffs, und die Künste mit ihrer Erzeugung von Artefakten tragen auf je ihre Weise dazu bei, symbolische Ordnungen zu pflegen und in ihren kulturgenerativen Darstellungsmöglichkeiten zu entwickeln. In der modernen Gesellschaft ist das Konkurrenzverhältnis zwischen diesen symbolrelativen Reflexionspfaden weitgehend pazifiziert, aber im geschichtlichen Rückblick hat in Europa zuerst die Theologie, später auch die Philosophie die Emanzipation der Wissenschaften und der Künste zu eigenlogischen Feldern als Beeinträchtigung ihres epistemischen Monopols erlebt, und die Künste sahen sich getrieben, ihrerseits einen Anspruch auf Forschungsrelevanz zu reklamieren. Allerdings hat die Konkurrenz um kulturelle und epistemische Legitimität auch das Innovationspotential dieser Felder angetrieben. Formeln, Begriffe und Artefakte werden in den Feldern der Wissenschaften, der Philosophie und der Künste zu reflexiv kultivierten Symbolordnungen, die das Darstellungsrepertoire der modernen Kultur ausdifferenzieren und Weltperspektiven entfalten, die ihrerseits Vergleichsgesichtspunkte eröffnen.23 Sie begünstigen die Akzeptanz der Erfahrung, dass es erfolgreicher ist, andere Beobachtungsformen und andere Beobachter zu beobachten als die Wirklichkeit, wie sie vermeintlich ist, um etwas über die Welt zu erfahren und für eigene Formvorschläge soziale Akzeptanz zu finden. Andersheit wird zur Gewohnheit, und die moderne Kultur bezieht ihre Stabilität aus ihrer Normalisierung 23 Auch Deleuze und Guattari untersuchen das Zusammenspiel von Künsten, Philosophie und Wissenschaften, ordnen ihnen jedoch mehr Unterscheidungsmerkmale wie die Spezialisierung auf Empfindungen, Funktion und Begriffe, Komposition, Referenz oder Immanenz zu. Der Unterschied liegt in der Fokussierung auf die Zeichenform in ihrer Darstellungsfunktion. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt/Main 2000, insbes. S. 191ff. 83
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von Differenz. Tempogewinne im Blick auf Veränderungen, Innovationen oder die Möglichkeiten, Gewohntes zu vergessen, verdanken sich nicht zuletzt dieser Ausdifferenzierung. Alle drei Symbolordnungen bewegen sich, wie schon Cassirer beobachtet hat, im Zuge ihrer feldspezifischen Ausdifferenzierung von mimetischen Darstellungen fort. Von ihren ikonischen Momenten her, wie sie exemplarisch in Bildern begegnen, sind die Symbolordnungen der Künste sowenig hinreichend zu verstehen wie diejenigen des Begriffs und der Formel. Selbst ikonische Bildqualitäten erscheinen im Bild als ikonische und treten dadurch in eine Relation zu symbolisch-allgemeinen und zu begrifflichen Darstellungen. Indem sie diese Relation selbst zur Darstellung bringt, entsteht in der Bildlichkeit eine Zeichenform, die über ihre Wahrnehmung zur Reflexivität der Wahrnehmung im Denken und zur Reflexivität der Zeichenform in der Art des Bildes führt. Weil sie keine Ähnlichkeit mit dem Dargestellten aufweisen, erlauben diese Symbolordnungen Transformationsoperationen, die kommunikativen Halt gewinnen und neue symbolische Behandlungen der Wirklichkeit induzieren. In die Augen springt diese Leistung im Falle der modernen Mathematik, die sich seit dem 17. Jahrhundert zu einer Technik formaler Zeichenmanipulation entwickelt, ohne mit mentalen oder realen Gegenständen zu operieren.24 Keine dieser Symbolordnungen entspricht dem Modell eines Repräsentationswissens. Vielmehr arbeiten sie wie Möglichkeitsgeneratoren, die Wirklichkeit virtualisieren und eben dadurch interessante Beobachtungen freisetzen. Rationalisierung, wie sie die abendländische Kultur kennt, verdankt sich wesentlich der Möglichkeit semiotischer Transformationen, in deren Vollzug Neubeschreibungen der Welt entstehen, die auf kulturelle Akzeptanz treffen, ohne dass ihre Folgen immer schon überschaubar wären. Halt finden sie zunächst in sich selbst, weil sie in Feldern stabilisiert werden, die ihre eigenen Zeithorizonte, Erwartungsmuster, Symbolketten und Möglichkeitsräume erzeugen. Kulturelle Entwicklungsdynamiken profitieren von der amimetischen Qualität solcher Zeichenordnungen. In ihnen liegt auch ein technischer Zug der westlichen Kultur begründet, insofern Technik nicht als mechanisches Artefakt, sondern als symbolisch codiertes Schema der Simplifizierung verstanden wird.25 Experimentelle Sinn24 Vgl. Sybille Krämer: Symbolische Maschinen, Darmstadt 1988; dies.: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalisierung im 17. Jahrhundert, Berlin, New York 1991; Hans Holländer: Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000. 25 Vgl. Ernst Cassirer: »Form und Technik«, in: ders., Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927-1933, Hamburg 1985, S. 39-91. 84
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bildungen werden dadurch ebenso begünstigt wie Versuche, daraus allgemeine Strukturen und Gesetze abzuleiten und symbolisch zu fixieren. Darin gleichen solche Kulturen Laboren der Sinnbildung. Wissenschaften, Künste und Philosophie entwerfen drei Perspektiven, in denen die Kultur als semiotischer Möglichkeitsraum sich selbst in ihrem Beschreibungsvokabular reflektiert. Keine dieser Zeichenordnungen ist imstande, die anderen hinreichend mit zu beschreiben oder sie zu begründen. Sinn erscheint in Gestalt von mathematischen Formeln, Begriffen und Kunstartefakten jeweils anders, aber diese Andersartigkeit wird beobachtbar, sie zieht Aufmerksamkeit auf sich und fordert Reflexionen in den jeweils anderen Feldern und Symbolsprachen heraus. In allen drei Feldern oszilliert die Sinnbildung zwischen experimentellen Forminnovationen und allgemeinen, auf die Formulierung von Regeln oder Gesetzen abzielenden Beschreibungen. Aber zwischen Wissenschaften, Philosophie und Künsten besteht insofern ein Kontinuum von einem eher generalisierendem zu einem eher experimentellen Pol, als Wissenschaften mit standardisierten Verfahren operieren und durch die Form ihrer Symbolisierung eine größere Technikaffinität besitzen, Künste hingegen selbst exemplarische Objekte erzeugen, deren Herstellung nur im Grenzfall standardisiert erfolgt. Ihre Symbolordnungen entstehen aus der Formierung sinnlicher Wahrnehmung und materialer Qualitäten heraus. Einer relativ starken Codierung von Zeichenoperationen in den Wissenschaften entspricht eine relativ schwache Codierung in den Künsten. Philosophie teilt mit den Wissenschaften einen Anspruch auf die Allgemeinheit begrifflich geführter Aussagen, die als allgemeine Begriffsformen Besonderes aufschließen, ohne es in seiner Besonderheit auszuschöpfen, und sie bleibt wie die Künste auf die Konkretion von Phänomenen angewiesen, von denen ihre Reflexionen und Beschreibungen sich abstoßen, ohne im Besonderen das Allgemeine eines Gesetzes zu suchen. Seit Philosophie ihren Anspruch abgelegt hat, Wissenschaften und Künste zu begründen oder zu beaufsichtigen, hat sie sich neue Spielräume erobert, um ihr eigenes symbolisches Inventar in ein produktives Spannungsverhältnis zu anderen symbolischen Formen zu setzen. Begriffe, Formeln und Artefakte verhalten sich im Ganzen der Kultur zueinander wie Elemente eines Diagramms. Diagramme kombinieren Zeichenordnungen und symbolisieren den Prozess des Denkens. Peirce hat das Diagramm als »Ikon intelligibler Relationen« charakterisiert.26 Diagramme bringen Plausibilitätsrelationen zur Darstellung, die in den semiotischen Operationen entstehen, ohne weiter begründbar zu sein. 26 Charles S. Peirce: Semiotische Schriften, Bd. 3, a.a.O., S. 132f. 85
I. KULTURBEGRIFFE
Diagrammatische Schlüsse sind wesentlich deiktisch und wahrnehmungsbezogen. In ihnen kommt eine Evidenz zum Zuge, von der auch logische Schlussregeln oder die Prägnanz einer gestischen Darstellung Gebrauch machen. Nimmt man die Form des Diagramms als Modell, verhalten Kulturen sich wie Plausibilitätsmaschinen, die operativ als Kompossibilitäts- und Übergangsordnungen arbeiten. Information resultiert aus den mitunter dissonanten Beziehungen der Elemente. Zwischen Wahrnehmungs- und Ausdrucksleistungen lässt sich nicht trennscharf unterscheiden. Komplexe Informationen gewinnen durch diagrammatische Zeichenordnungen wahrnehmbare Gestaltmuster. Die rapide Verbreitung bildgebender Verfahren, die Verdichtung von Daten in statistischen Bildern oder das Sichtbarmachen von Bedeutung durch künstlerische Mittel der Intervention in Wahrnehmungs- und Kommunikationsroutinen profitieren von dieser Form der semiotischen Kopplung. Darstellungen erzeugen Phänomenalität. Künste und Wissenschaften können deshalb neue Affinitäten entdecken, denn ihre Beschreibungen resultieren weniger aus einem Abgleich von Hypothesen mit einer Wirklichkeit als aus der semiotischen Transformation von Darstellungsmöglichkeiten, die beispielsweise einen Erdklumpen in ein Diagramm der Zusammensetzung einer Bodenprobe oder in ein Kunstwerk verwandelt und damit multiple kommunikative Anschlüsse – von der Wissenschaft bis zur Politik – freigibt.27 Solche Kopplungen zeigen auch, dass die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Symbolformen nicht überschätzt werden darf, weil sie ihre kulturelle Produktivität vor allem im Zusammenspiel entfalten und allenthalben in Mischformen auftreten.28 Kulturen fungieren wie Diagramme als simultane Formen zeichenabhängiger Ordnungsbildung. Die Regeln ihres Zusammenspiels entziehen sich einer tiefenstrukturellen, quasigrammatischen Inventarisierung, weil sie in feldspezifischen Kombinationen eigene Unwahrscheinlichkeits- und Bezeichnungshorizonte aufbauen.
27 Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt/Main 2000; Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001; Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina WahrigSchmidt (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997. 28 Vgl. Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003. 86
D. RUSTEMEYER: PHILOSOPHIE ALS KULTURREFLEXION
IV. Reflexionen auf kulturelle Sinnbildungen entfalten sich darum besonders auf exemplarischem Wege. Wenn Kulturen wesentlich diagrammatische semiotische Gebilde sind, besitzen dabei weder die Philosophie noch die Wissenschaften oder die Künste ein Monopol. Vielmehr kommen Verweisungszusammenhänge in den Blick, die eine einzige Darstellungsform übersteigen. Ein Beispiel aus der Kunst mag dies exemplarisch illustrieren, weil es sich eignet, das philosophische Reflexionspotential kultureller Bedeutungskomplexe im Vokabular der Malerei zu beobachten und Gewinn aus der prägnanten Differenz begrifflicher und bildlicher Darstellungsformen zu ziehen. Damit wird eine Frage aufgegriffen, die seit Platon die philosophische Reflexion beschäftigt: Wie verhalten sich Begriffe zu Nichtbegrifflichem, in welchem Verhältnis stehen Bilder zu Definitionen und zu Begriffen, woran entfaltet sich der Vollzug des Denkens, und welche Darstellungsformen verlangt die philosophische Reflexion, die doch begrifflich auf ihre nichtbegrifflichen Voraussetzungen reagiert? Das spezifische, sinngenerative Potential von Begriffen kommt in der Differenz zu nichtbegrifflichen, aber darum nicht notwendig unpräzisen Bestimmungen zum Vorschein. Solche Relationen führen nicht nur zu einer Kernfrage der Philosophie, sondern zugleich zu einem zentralen Phänomen kultureller Sinnbildung: dem Zusammenhang von Reflexivität und Darstellung. Unter anderem wird an solchen Phänomenen ein enger Forschungsbegriff, wie er manchmal in der Theorie der Wissenschaften geltend gemacht wird, erweitert. Auf ihre Weise erzeugen auch Künste und Philosophie experimentelle Sinnbildungen mit der Möglichkeit verallgemeinerbarer Einsichten. Das folgende Beispiel ist der zeitgenössischen Kunst entnommen. Uwe Wittwer beschäftigt sich systematisch mit der Frage nach dem Bild und dem Sehen im kulturellen Kontext. Ihn interessieren typologische Strukturen der Bildlichkeit, die er als Muster durch unterschiedliche Darstellungstechniken – von der Ölmalerei über das Aquarell bis zum digital bearbeiteten Inkjet-Druck – erforscht. Musterbücher, wie Wittwer sie erarbeitet, zitieren eine Tradition der Malerei, in der Bildund Stilvorlagen dokumentiert, Genres definiert und typische Motive für kontextuelle Ausarbeitungen verfügbar gemacht werden.29 Was in diesen Serien entsteht, gleicht einer Archäologie des kulturellen Sehens
29 Vgl. z.B. Movimento. Malerei als Erinnerung nach vorn. Uwe Wittwer Musterbuch II, Basel, Zürich 2002; darin den Text von Konrad Tobler. 87
I. KULTURBEGRIFFE
und Darstellens. In der Wiederholung der Tradition werden Innovationen und der exemplarische Charakter eines Bildes sichtbar. Vasen, Stillleben, Interieurs, Städte oder Seestücke beschreiben Motivgruppen, die je nach Darstellungsart und Kontext neue Bedeutungen gewinnen und die Frage der Bedeutung selbst aufwerfen. Wittwers Bilder zitieren und reformulieren klassische Bildvorlagen, etwa des 16. Jahrhunderts, um sie in der Variation der malerischen Zeichensprache zu analysieren und ihnen einen geradezu begrifflichen Gehalt zu verleihen. Im Bild werden durch die Wahrnehmung Denkmuster sichtbar, die in ihrer Allgemeinheit und Konkretion der Funktion von Begriffen nahe kommen. Dazu dienen Techniken der Abstraktion und der Unschärfe, die im Sehen ein Denken herausfordern. Das sichtbare Bild evoziert einen typischen Bedeutungsgehalt, der begrifflichen Ausdruck verlangt, ohne ihn einzulösen. Motive wie Blumen, Tapeten, Leuchter, Porträts, Schiffe oder Häuser sind ihrer kontextuellen Bezüge beraubt und werden dadurch zu Stereotypen. Dem Betrachter verlangen sie die Reflexion auf das eigene Sehen ab, das zugleich die Information über die Tradition des Sujets oder die klassische Bildvorlage fordert. In seiner Wahrnehmbarkeit verweist das Bild auf ein Bedeutungsfeld mit seinen vielfältigen zeitlichen, sozialen, symbolischen und kulturellen Profilen. Thematisch wird auf diese Weise die Sprache der Malerei selbst. Sehen und Denken setzen einander voraus. Was das Bild zeigt, ist trotz seiner Konkretion allgemein: Dem Blick eröffnet sich eher Typisches als Individuelles. So wie das Bild den Begriff aufruft, sucht auch der Begriff eine Anschauung, die zunächst eher als kulturelles Schema fungiert. Darin zeigt sich die Darstellungsfunktion des Bildes im Unterschied zum natürlichen Sehen. Das Bild gibt sich als Zeichen zu erkennen. Im Bild auftauchende Gegenstände gewinnen als dargestellte etwas über ihre Individualität Hinausweisendes. Darin sind sie dem Begriff komplementär, der seinerseits als semiotisches Abstraktum nicht auf die Präsenz des Gegenwärtigen, sondern auf das Abwesende, Vergangene oder zu Erwartende zielt. Begriffe sind Attraktoren für unscharfe Anschauungen, während Bilder, jedenfalls diejenigen Wittwers, Attraktoren für unscharfe Begriffe sein können. Bilder und Begriffe gleichen sich darin, als gewohnheitsbasierte Regeln Bedeutungs- und Vorstellungskomplexe zu bündeln.30 Ein Inkjet-Druck wie »Stadt Nacht« (145 mal 110 cm, 2000) mag dies veranschaulichen (siehe Abbildung 1). Inkjets bringen digital bearbeitete Bilder in einem Mehrfarbdruck in hochdifferenzierten Grau-
30 Vgl. Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt/Main 2007. 88
D. RUSTEMEYER: PHILOSOPHIE ALS KULTURREFLEXION
Schwarz-Tönen auf Aquarellpapier. Sie kombinieren die Drucktechnik mit der Aquarellmalerei, indem sie extrem feine Nuancen zu erzeugen vermögen, ohne jedoch Pinselspuren, Trocknungsränder oder Pigmentkonzentrationen aufzuweisen. Ihre Sichtbarkeit besitzt eine ungewöhnliche Sanftheit, Glätte und Transparenz, die das Motiv in eine Unschärfe taucht, die keiner natürlichen Wahrnehmung möglich ist. »Stadt Nacht« zeigt ein Straßenmotiv aus einer beliebig anmutenden Großstadt. Die Dunkelheit des Himmels verweist auf eine Nachtstunde, während der Straßenraum durch eine Vielzahl von Lichtquellen in Helligkeit getaucht ist. Dem Betrachter kommt die Straße unmittelbar vertraut vor, obwohl das Bild keinen Hinweis auf die Lokalität enthält. Weder Straßennamen noch Reklametafeln, Menschen oder Fahrzeugtypen geben Anhaltspunkte für den Ort dieser Aufnahme. Alle nichtbildlichen Zeichenelemente sind aus dem Druck eliminiert. Trotz der hellen Beleuchtung wirkt die Szene menschenleer. Der Betrachter kann sie sofort mit seiner eigenen Imagination füllen. Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft könnten die Straße bevölkern. Ihre Leere scheint darauf zu warten, dass etwas geschieht, und die Tatsache, dass dieses Bild existiert, gibt dieser Leere eine besondere Bedeutung, indem die Erwartung eines Ereignisses nahe gelegt wird. Die Unschärfe des Inkjets führt nicht einfach zu einer Undeutlichkeit des Sichtbaren, sondern zu einer Typisierung des Gesehenen. Das Bild scheint wie eingedunkelt durch eine Erinnerung, bei der die Details verblasst sind. Was übrig bleibt, ist ein Topos von nächtlicher Straße in einer Stadt.
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I. KULTURBEGRIFFE
Abbildung 1
Quelle: Uwe Wittwer, »Stadt Nacht«, 2000, Ink Jet, 145 x 110 cm
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D. RUSTEMEYER: PHILOSOPHIE ALS KULTURREFLEXION
Solche Gestaltbilder oder Versatzstücke durchfluten die Wahrnehmung und Erinnerung ebenso wie sie in massenmedialen Bildern auftauchen. Auf ihre typische Weise fungieren sie wie sprachliche Begriffe, deren Reflexion ebenfalls das Unzureichende einer Definition und stattdessen das Verweisungsnetz mehr oder weniger deutlicher Anschauungen und Beispiele vor Augen führt. Die Begriffe Stadt/Nacht und das Bild von Uwe Wittwer sind gleichwohl keine wechselseitige Illustration. Sie machen als Darstellungsfunktionen in Abhängigkeit von unterschiedlichen Zeichenformen darauf reflexiv aufmerksam, dass semiotische Prozesse zwischen Zeichenordnungen oszillieren. Die hohe Typisierung, die Wittwer in dem Bild erreicht, beruht auf einer Präzision der Unschärfe, die alles Individuelle der Straßenszene ausblendet und dadurch einerseits das Sehen des Allgemeinen im Konkreten veranlasst, andererseits dieses Sehen fast schmerzhaft provoziert, den Schleier zu durchdringen und im Typischen das Individuelle, den konkreten Ort statt des Topos Ort, zu identifizieren. Aber Identifikation, Referenz oder Repräsentation leistet das Bild sowenig wie der Begriff. Eine Reflexion auf die massenmediale Verbreitung solcher Bildtypen und Seh-Muster, wie Wittwer sie analysiert, zeigt, wie relativ der Informationswert der Worte und Bilder in ihrer typisierten Struktur ist. Bilder wie »Stadt Nacht« gleichen wissenschaftlichen Analysen darin, dass sie kulturelle Seh- und Darstellungsgewohnheiten ebenso wie Erinnerungsmuster zu exemplarischer Darstellung bringen und ihrerseits ein Register kultureller Bildformen erarbeiten. Sie unterscheiden sich von wissenschaftlichen Analysen, indem sie diese Reflexionsarbeit im Medium des Bildes selbst erbringen und damit konkret und exemplarisch bleiben. Mit philosophischer Reflexion teilen sie die Evokation des Begrifflichen im Bildlichen und des Bildlichen im Begrifflichen, wobei philosophische Reflexionen in der Arbeit Wittwers wiederum einen Anlass finden, im Medium des Begriffs über Begriffe und Bildbegriffe zu reflektieren. Daraus gewinnen sie Möglichkeiten, Aufschluss über die semiotische Strukturierung kultureller Formen zu erlangen. Philosophie ersetzt weder die Leistung der Kunst noch der wissenschaftlichen Analyse massenmedialer Sehgewohnheiten, sondern sie schärft die Unterscheidungsmöglichkeiten im Blick auf Darstellungsmittel, die jeweils andere Reflexionshorizonte aufreißen und sich zueinander nicht kongruent verhalten. Ihre Nichtkongruenz ist jedoch kein Mangel, sondern sie stimuliert Sinnbildungsmöglichkeiten, weil sie Vergleiche herausfordert. Diese spezifische Art des Vergleichs von Sinnbildungs-, Darstellungs- und Reflexionsformen steuert die Philosophie im Blick auf Wissenschaften und Künste bei. Sie erzeugt dabei diagrammatische Reflexionen, die ihre Überzeugungskraft durch die dissonanten Verhältnisse von Bestimmungsmöglichkeiten gewinnen, die al91
I. KULTURBEGRIFFE
lererst Vergleiche stimulieren. Darin knüpft sie an die Tradition philosophischer Gleichnisse und Bildreflexionen an, wie sie bei Platon ihren Ursprung haben.
V. Philosophie hat als Reflexionspraxis seit jeher ihr Augenmerk auf die Natur ihrer begrifflichen Mittel gerichtet und sich mit dem Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem beschäftigt. Vor dem Hintergrund der semiotischen Revision eines klassischen Wissens- und Repräsentationsmodells jedoch wird diese Aufmerksamkeit zu einem Programm der Kulturreflexion erweitert. Begriffe, ohne die philosophische Reflexion nicht möglich wäre, entfalten ihre semiotischen Qualitäten gerade in der reflektierten Differenz zu anderen Zeichenordnungen. Mit der Erfahrung, dass Kulturen unruhige Gewebe dynamischer Bedeutungsbildung ohne erste Ursache oder finale Perspektive sind, verschiebt sich auch die Leistung des Begriffs. Er ist ein Element kultureller Sinnbildungen, der weniger benennt, was ist, als vielmehr in das interveniert und das umformt, wozu er Bedeutungsrelationen herstellt. Begriffliche Arbeit transformiert, was sie bezeichnet, durch die Bezeichnung, die bereits dadurch eingreift, dass sie Referenzen durch Begriffe markiert. Refugium der Wahrheit ist sie nicht. Deshalb rücken die Ausgangsunterscheidungen jeder Bestimmung in den Vordergrund. Sie sind es, die sinnhafte Beziehungen als plausible Kopplungen für Wahrnehmung und Kommunikation vorschlagen. Semiotische Unterscheidungs- und Verknüpfungsoperationen generieren Sinn, indem sie die Operation der Unterscheidung im Vollzug verdecken: Die Bedingung der Möglichkeit bleibt sich selbst unverfügbar, weil sie nur retrospektiv als konkrete Operation in ihren darstellungsabhängigen Effekten, aber nie als abstrakte formale Struktur zur Erscheinung kommt. Mit Wahrheitssuche hat diese Beobachtungspraxis weniger zu tun als mit der Aufmerksamkeit für Referenznetze und Perspektiven, für Vergleichsmöglichkeiten und für Kontingenzen. Jede Beschreibung macht etwas sichtbar, und sie macht sich selbst beobachtbar und negierbar. In Zeichenordnungen und ihrer spezifischen Materialität liegen Möglichkeiten der Rhythmisierung und Verdichtung, der Abstraktion und Wiederholung, der Verschiebung, des Zerbrechens, der Kombination, der Kontrastierung und der Dissonanz, die deswegen sinnhaft sind, weil sie nicht primär denotativ operieren. Sie vermögen Wahrnehmung und Kommunikation zu irritieren und zu stimulieren, indem sie etablierte Muster durchkreuzen, variieren und kontrapunktieren. Kulturen erscheinen darum auch als Kopplung von 92
D. RUSTEMEYER: PHILOSOPHIE ALS KULTURREFLEXION
Formvokabularen, die Wahrnehmungen und Kommunikationen semiotisch verschränken, weil sie ihre eigenlogischen Operationen trennen und aufeinander beziehen. Reflexion gewinnt dadurch eine Bedeutung, die weit über Bewusstseinsintrospektionen oder diskursive Aufklärungen über das Geschäft der Begründung oder kommunikativen Verständigung hinausreicht.31 Erst durch die Funktion der Darstellung entsteht die doppelte Reflexivität von Bewusstsein und Kommunikation. Wenn Reflexivität wesentlich zeichenvermittelt ist, gelangt sie nie zur Transparenz eines Wissens, das sich in seinen Unterschieden und Unterscheidungen selbst erfasst und repräsentiert. Denn die Relation verdankt sich einer Unterscheidung, die, je nach der Zeichenform, anderes in Beziehungen setzt, spezielle Referenz- und Resonanzfelder aufbaut, Plausibilitäten nahe legt oder Inkompatibles ausschließt. Die Form der Reflexivität erweist sich als abhängig von der Zeichenform, der sie entspringt. Solange philosophische Reflexion sich an der Form syllogistischer Urteilsbildung orientiert, pflegt sie andere Wahrheitsprogramme, Evidenz- und Begründungsstandards, als wenn sie Begriffe als eine Form von abstrakten Zeichen neben anderen behandelt oder andere Kriterien für philosophisch relevante Beobachtungen und Vergleiche entwickelt. An der Alternative, die Montaignes virtuose essayistische Beobachtungskunst einerseits und Descartes strenge Begründungsgänge andererseits für das Selbstverständnis philosophischer Reflexion zu Beginn der Neuzeit formuliert haben, lässt sich dies gut beobachten.32 Schon das Verständnis von der Natur der Frage, mit der philosophische Reflexion beginnt, unterscheidet sich erheblich, wenn die Fragen des Philosophen oder Wissenschaftstheoretikers auf möglichst eindeutige, wahre Antworten zielen und in Begründungen keine situativen Angebote, sondern wirkliche Gründe sehen, oder wenn er damit rechnet, unterhaltsam störend in bestehende Ordnungsmuster einzugreifen und dort eine interessante Art der Unordnung anzurichten, mit der sich kommunikativ weiterarbeiten lässt. Plausible Kompossibilitäten, wie sie in einem Gedicht zwischen Wörtern und ihren Assoziationsfeldern entstehen, sind auf ihre Weise ebenso überzeugend wie eine begriffliche Unterscheidung und verdienen darin die Aufmerksamkeit philosophischer Beobachtungen der Genealogie von Sinn, ohne dass diese deshalb selbst lyrische Formen annimmt. Ein Streichquartett ent31 Vgl. hier vor allem Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde, Frankfurt/Main 1981; Robert B. Brandom: Expressive Vernunft, Frankfurt/Main 2000. 32 Vgl. Michel de Montaigne: Essais, Frankfurt/Main 1998; René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, Hamburg 1972. 93
I. KULTURBEGRIFFE
faltet einen komplexen Sinn durch präzise Transformationen des musikalischen Tons in einem historischen Feld möglicher kultureller Formbildungen und ist darin auf seine Weise eine Hör-Forschung, wie die begriffliche Arbeit philosophischer Ästhetik sich von der Differenz von Ton und Begriff dazu anregen lassen kann, über das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem, Argument und Sonate nachzudenken. Ein Bild Uwe Wittwers erzeugt im Sichtbaren eine Reflexivität der Bilddarstellung, die etwas über die Bildlichkeit kultureller Wahrnehmungs- und Kommunikationsmuster wie über die produktive Differenz von Malerei und philosophischer Begriffsführung aussagt. Dadurch angeregte Reflexionen sind weder wahr noch falsch, sondern eher produktiv oder unproduktiv. Sie beobachten ihre Effekte nicht im Blick auf eine gemeinsame Welt, sondern hinsichtlich der Resonanzen im eigenen Feld und in anderen Feldern. Kulturreflexion dieser Art bleibt eine unendliche Aufgabe, die stets von endlichen, situativen, zeitlichen, lokalen und sozialen Gegebenheiten ihren Anfang nimmt. Ihr wohnt ein Forschungsbezug, aber kein Wahrheitsbezug im Sinne exakter Wissenschaft inne. Sie greift in semiotische Ordnungen ein, interessiert sich für Dissonanzen, verschiebt die Register der Zeichen und beobachtet die Konstellationen ihres Auftretens in Feldern mit historisch gewachsenen Zeitrhythmen, sozialen Erwartungen, dominanten Symbolordnungen und kulturellen Plausibilitätsmustern. Wie die Künste, lässt die kultursemiotische Reflexion sich auf die Phänomenalität des erscheinenden Sinns ein, befragt ihn auf seine Voraussetzungen hin, transformiert die intelligiblen Relationen, in denen das wahrnehmungsförmig Erscheinende erst reflektierbar wird, und führt es in kommunikative Prozesse der Verkettung begrifflicher mit nichtbegrifflichen Zeichenformen. Die Tragweite solcher Praktiken des reflektierenden Eingriffs ist a priori nicht absehbar, denn das Geschäft der Philosophie ist selbst auf die Beobachtung der kontingenten Effekte angewiesen, die ihre Formvorschläge auslösen. Platons Dialoge liefern hierfür ein klassisches Beispiel. Es sind schriftliche Darstellungen fiktiver mündlicher Kommunikationen, in denen über Bedenkenswertes und Denkbares gesprochen und das Gesprochene mit seinem nichtsprachlich Gemeinten verglichen wird, wobei Zeit und Ort, Anwesende und Abwesende, Beispiele und Themen als Voraussetzungen des kommunikativen Gelingens sorgfältig beobachtet werden müssen – und wo die Form der Darstellung, wenn es um die Frage der Reflexion, also der Darstellung selbst geht, diagrammatische Mittel zur Anwendung bringt: Im Zentrum der platonischen Darstellungskunst stehen die Rede, das Gleichnis, die Zeichnung, der Mythos und das Netz der Dialoge selbst, das Hin-undWider-Reden der Dialektik. Aus heutiger Sicht ließe sich der Rekurs auf 94
D. RUSTEMEYER: PHILOSOPHIE ALS KULTURREFLEXION
Begriffe noch stärker durch die Beobachtung begrifflicher und nichtbegrifflicher Zeichenformen präzisieren und diese Vorgehensweise zu einer Praxis des Umgangs mit Ungewissheit zuspitzen, in der es um die Induzierung und Reflexion experimenteller Sinnbildungen in Form begrifflicher Darstellung geht. Philosophische Praxis als Kulturreflexion wäre ein Geschäft des Umwebens von Bestimmungen und der Organisation von Vergleichen. Da es so präzise wie unabschließbar ist und nur als Kommunikation gelingen kann, gleicht es einer künstlerischen Probe, einer Übung, in der Exemplarisches sichtbar wird und darin wissenschaftliche Ansprüche entfalten kann, obwohl es weder Kunst noch Wissenschaft, sondern eine Praxis begrifflichen Unterscheidens im Lichte ihrer semiotischen Alternativen bleibt.
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II. K ULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE
P RAKTIKEN
Tiere zweiter Ordnung. Kulturtechniken der Identität und Identifikation THOMAS MACHO
I. Symboltiere Seit Aristoteles wird betont, dass Menschen Tiere sind, die sprechen, Zeichen erfinden, ordnen und manipulieren können. Im Unterschied zu den meisten anderen Tieren verwenden sie Alphabete, Zahlenreihen, Notationssysteme oder Codes: Sie praktizieren Kulturtechniken. Dieser Begriff meint nicht die Vielfalt aller Techniken, die in einer Kultur gebraucht werden, sondern allein jene Techniken, mit deren Hilfe symbolische Arbeiten ausgeführt werden können. Jede Kultur basiert auf zahlreichen Techniken, die ihrem Überleben dienen, etwa den Techniken der Feuernutzung, der Jagd, der Herstellung von Kleidern und Geräten, der Ernährung und Küche, des Ackerbaus, der Ökonomie oder der sozialen Organisation; manche Techniken werden auch von Primaten beherrscht, weshalb Frans de Waal zu Recht von deren Kulturen spricht.1 Doch entstehen menschliche Kulturen nicht allein aus diesen vielfältigen Techniken, sondern erst aus ihrer symbolischen Verdichtung. Die symbolische Arbeit verleiht allen anderen Tätigkeiten ihren spezifischen Sinn, sie ordnet gleichsam die Welt und ermöglicht es den Kulturen, Begriffe von sich selbst zu entwickeln. Symbolische Arbeiten bedürfen spezifischer Kulturtechniken: etwa Sprechen, Übersetzen und Verstehen, Bilden und Darstellen, Rechnen und Messen, Schreiben und Lesen, Singen und Musizieren. 1
Vgl. Frans de Waal: Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der Tiere, übersetzt von Udo Rennert, München, Wien 2001. 99
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
Kulturtechniken unterscheiden sich von allen anderen Techniken durch ihren potentiellen Selbstbezug, durch eine Pragmatik der Rekursion. Von Anfang an kann man vom Sprechen sprechen, das Kommunizieren kommunizieren. Man kann Bilder malen, in denen Bilder – oder Maler – erscheinen; noch im Film werden häufig Filme gezeigt. Man kann nur rechnen oder messen, indem man auf Rechnen und Messen Bezug nimmt. Und natürlich kann man vom Schreiben schreiben, vom Singen singen und vom Lesen lesen. Dagegen ist es unmöglich, das Feuermachen im Feuermachen, das Pflügen im Pflügen, das Kochen im Kochen, das Jagen im Jagen zu thematisieren. Wir können uns zwar über Kochrezepte oder Jagdmethoden unterhalten, ein Feuer malerisch oder theatralisch darstellen, ein neues Bauwerk entwerfen; aber genau dann bedienen wir uns ja der Techniken symbolischer Arbeit – und machen gerade kein Feuer, jagen, kochen oder bauen nicht. Kulturtechniken sind – nach einem Ausdruck der Systemtheorie – second order techniques. Als Techniken zweiter Ordnung fungierten die Kulturtechniken von Anfang an als Techniken der Selbstthematisierung, der Identitätsbildung und der Identifikation. Bis heute werden die meisten Kulturtechniken – gleichgültig, ob Bilder, Schriften und Zahlen – zur Selbstbeschreibung, Selbstbezeugung und Authentifikation verwendet: Porträts und Passbilder, Körperzeichen (wie die Fingerabdrücke), Siegel, Stempel, Wappen oder Logos, Unterschriften und Signaturen, Zahlencodes (von der Personal- oder Sozialversicherungsnummer bis zum PIN-Code am Geldautomaten). Immer schon werden die Kulturtechniken als »Selbsttechniken« (im Sinne Michel Foucaults2) praktiziert. Sie konstituieren Subjekte, die einer Vielzahl von Rekursionen und Medien – nicht bloß einem singulären »Spiegelstadium« (wie bei Lacan3) – entspringen.
II. Körperzeichen Die Geschichte dieser »Selbsttechniken« beginnt im prähistorischen Dunkel. Auf den Wänden paläolithischer Kulthöhlen in Frankreich und Spanien hat man – neben den großartigen und realistischen Darstellun2
3
Vgl. Michel Foucault: »Technologien des Selbst«, in: Luther H. Martin/ Rux Martin/William E. Pader (Hg.), Technologien des Selbst, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt/Main 1993, S. 24-62. Vgl. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint«, übersetzt von Peter Stehlin, in: Schriften I, ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas, Frankfurt/Main 1975, S. 61-70.
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T. MACHO: TIERE ZWEITER ORDNUNG
gen zahlloser Tiere – gelegentlich auch Handabdrücke entdeckt. Diese Handabdrücke, wie sie etwa in den Höhlen von Pech-Merle, Gargas, El Castillo, Tibiran, Bayol, La Baume-Latrone, Rocamadour, Bernifal, Font-de-Gaume, Le Portel4 oder auch in der erst 1994 entdeckten Grotte Chauvet (im Tal der Ardèche)5 gefunden wurden, sind entweder Positive, bei denen eine gefärbte Hand auf den Felsen gedrückt wurde, oder Negative: Dabei wurde die gespreizte Hand auf die Wand gelegt, die Farbe um die Finger herum getupft oder mit einem Blasröhrchen verteilt. Manchmal tauchen diese Handabdrücke vereinzelt auf, manchmal in Gruppen; so hat man beispielsweise in Gargas hundertfünfzig rote und schwarze Hände klassifiziert, in El Castillo fünfzig, in Tibiran und Pech-Merle zwölf. Ursprünglich glaubte der Prähistoriker Henri Breuil, es seien beinahe ausschließlich linke Hände abgedrückt worden; später erkannten die Forscher, dass mitunter auch rechte Hände (und zwar mit dem Handrücken) aufgelegt wurden. Die meisten Hände sind so klein, dass man annahm, in der Mehrzahl seien die Hände von Frauen und Kindern abgebildet worden (was zumindest insofern glaubhaft erschien, als in den Höhlen von Niaux, Aldène oder Pech-Merle zahlreiche Kinderfußabdrücke im Lehmboden erhalten blieben). Rätselhaft wirkten vor allem die Handabdrücke in der Höhle von Gargas: Eine beträchtliche Anzahl von Händen schien verstümmelte oder verrenkte Finger aufzuweisen, was zunächst auf archaische Praktiken ritueller Amputation zurückgeführt wurde; erst später wurde – wie so oft in der prähistorischen Forschung – diese dramatische Beobachtung korrigiert: Bei genauerer Untersuchung stellte sich nämlich heraus, dass die Finger der mit dem Rücken aufgelegten Hände lediglich nach innen gekrümmt, mitunter sogar nachträglich retuschiert und verkürzt worden waren. Die Bedeutung der Handabdrücke, der performativen Praktiken ihrer Erzeugung, ist unklar. Standen sie in Zusammenhang mit jenen abstrakten Symbolen, Strichen oder Spiralen, die André Leroi-Gourhan als Geschlechterzeichen klassifizieren wollte? Wurden sie angefertigt im Zuge von magischen Ritualen zur »Wiedergeburt« von Tieren oder Menschen, wie Max Raphael oder Hans Peter Duerr mutmaßten?6 Oder waren die
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Vgl. André Leroi-Gourhan: Prähistorische Kunst. Die Ursprünge der Kunst in Europa, übersetzt von Wilfried Seipel, Freiburg, Basel, Wien 19825, S. 12 und 182f. Vgl. Jean-Marie Chauvet/Éliette Brunel Deschamps/Christian Hillaire: Grotte Chauvet bei Vallon-Pont-d’Arc. Altsteinzeitliche Höhlenkunst im Tal der Ardèche, übersetzt von Kathrin Wüst und herausgegeben von Gerhard Bosinski, Sigmaringen 1995, S. 30f. und S. 112. Vgl. Max Raphael: Wiedergeburtsmagie in der Altsteinzeit. Zur Geschichte der Religion und religiöser Symbole, Frankfurt/Main: 1979; vgl. 101
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
Handabdrücke doch erste Urheberzeichen, wie Martin Schaub anzunehmen scheint, wenn er konstatiert: »Die Künstler der vorgeschichtlichen Grotten haben sich selber aus ihren Bildnereien fast gänzlich ausgespart. Aber ihre Hand ist überall: als Gruß, als Erinnerung, als Signatur? […] Schrieben die Künstler in den Grotten oder signierten sie? Welche Bewandtnis hat es mit den ›verstümmelten‹ Händen, die man allenthalben trifft? Jägerschrift, ›Priesterschrift‹? Erinnerung an den Besuch, Botschaft an die Verstorbenen und die Kommenden, Gedenkzeichen, Spuren von Ritualen, magische Kraftzeichen, Grabzeichen? Vieles ist vorgebracht worden, und nichts läßt sich entziffern als die stolze Geste, die ›ich‹ und ›hier‹ sagt. Ich, meine Hand, und hier das Zeugnis.«7 Schon in der Antike war es üblich, Verträge mit einem Fingerabdruck zu unterfertigen; doch erst ab dem späten 19. Jahrhundert wurden die »Fingerprints« als Medien kriminalistischer Spurensuche, als Elemente moderner polizeilicher Identifikationstechniken popularisiert.8 Sie fungierten nun nicht mehr als aktive Körperzeichen, sondern als passive Körperzeichen, wie sie ebenfalls seit mehreren Jahrtausenden – zunächst zur Brandmarkung von Viehherden, aber auch zur Kennzeichnung von Sklaven oder Häftlingen – verwendet wurden.
III. Siegel, Stempel und Wappen Die Geschichte der Körperzeichen kann in technischer Hinsicht als Kapitel einer Geschichte des »Abdrucks«, der jedem Ausdruck vorausgesetzt bleibt, kommentiert werden. Denn entweder werden Teile des Körpers (Hände, Finger) – oder Dinge auf einen Zeichenträger (Gips, Ton, Wachs) »abgedrückt«. Die Technik des »Abdrucks« differenziert nicht zwischen Körpern und Artefakten, zwischen Praktiken der Verkörperung und der Verwendung von Objekten, die den Körper erweitern. Jeder Abdruck bedarf zwar »eines Trägers oder materiellen Substrats, einer Geste, die ihn hervorbringt (in der Regel eine Geste des Drucks, zumindest der Berührung), und eines mechanischen Resultats, nämlich einer – vertieften oder reliefartig hervorstehenden – Markierung.«9 Aber
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Hans Peter Duerr: Sedna oder Die Liebe zum Leben, Frankfurt/Main 1984. Martin Schaub: »Hand und Kopf«, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur 8 (1996) zum Thema: Am Anfang war die Kunst. Die ersten Schritte des Menschen, Zürich 1996, S. 84f. Vgl. Francis Galton: Fingerprints [1892], New York 1965. Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, übersetzt von Christoph Hollender, Köln 1999, S. 14.
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dieses Dispositiv ist an keine spezifischen Objekte gebunden. Im Fall der Authentifikation soll das Dispositiv des Abdrucks vielmehr eine Markierung generieren, die auf einen Urheber verweist – ein Zeichen, das nicht mit einer ungewollt erzeugten Spur verwechselt, sondern geradezu als eine bestimmte, individuelle Signatur entziffert und gelesen werden kann. Während wir sonst darauf achten, keine »verräterischen« Spuren zu hinterlassen, sollen diese Abdrücke von vornherein anzeigen, wer sie gesetzt hat. Vielleicht war es diese strategische Intention, die das Körperzeichen diskreditiert hat. Der Spur eines Körpers, einer Hand, eines Fingers oder eines Fußes, lässt sich nämlich nicht leicht ansehen, ob sie zufällig oder geplant entstanden ist: Wer weiß, ob nicht schon darum die paläolithischen Handabdrücke nachträglich retuschiert werden mussten. Die Geschichte der Bilder und Schriften kann folgerichtig als Geschichte der Instrumente erzählt werden, die für Abdrücke benötigt wurden: Keile, Stifte, Pinsel, Gänsefedern. Zeichen der Authentifizierung wurden bereits ab dem vierten vorchristlichen Jahrtausend mit Hilfe von Siegeln und Stempeln auf Tontafeln oder Gefäße geprägt. Zunächst waren es geschnitzte Knochen oder Steine, deren Abdrücke im Ton spezifische Muster, Verzierungen oder Markierungen hinterließen, später erst Metalle oder Edelsteine. Die Siegel konnten ganz individuelle, unverwechselbare Spuren erzeugen; sofern sie als Zeichen für eine Person fungierten, wurden sie oft wie Schmuckstücke am Körper getragen: stabile und verlässliche Elemente eines Körpers, dessen organische Teile nur flüchtige und vieldeutige Spuren produzieren konnten. So wurden im alten Orient die Rollsiegel – kleine Zylinderwalzen mit Bildern oder keilschriftlichen Zeichen – gern als Armreife getragen; in der griechischrömischen Antike verbreiteten sich Siegelringe mit dem Abbild des Besitzers. (Wir selbst tragen übrigens unsere bevorzugten Schreibgeräte gern körpernah in Brust- und Handtaschen mit uns herum.) Die geistlichen und weltlichen Machthaber des Mittelalters entwickelten ihrerseits differenzierte Zeichensysteme zur Anzeige von Status und Zugehörigkeit. Königshäuser, Adelsfamilien, Ritter, aber auch Päpste, Kardinäle, Bischöfe und später die Zünfte verwendeten Farben und Zeichen, die – nach Maßgabe der Kunst der Herolde, der Heraldik – zum Wappen komponiert werden mussten. Die Farbordnung der Heraldik kannte sieben Primärfarben: die »Lackfarben« Rot, Blau, Grün und Schwarz, die »Metalle« Gold und Silber, sowie Purpur (Violett), das sowohl als Lackfarbe wie als Metall eingesetzt werden konnte. Wappen wurden nach der Regel aufgebaut, Farben und Metalle abzuwechseln; sie dienten nicht nur der Repräsentation, sondern sicherten auch die Erkennbarkeit von Freunden und Feinden in der Schlacht. 103
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
IV. Sprechende Objekte Siegel, Rollsiegel und Stempel waren (und sind) Objekte, die andere Objekte zum Sprechen bringen. Bis heute besteht ihre wichtigste Funktion darin, Texte, Bilder oder Gegenstände mit einem Ich, einer Person, einem Sprechakt zu verschränken. Mit Hilfe eines Siegels oder Stempels wird ein Sprechakt auf einen Gegenstand übertragen; das jeweilige Artefakt sagt dann – neben den eigentlichen Themen, die es als Bild, Text oder Gegenstand artikuliert – wer es beispielsweise produziert und genehmigt hat, oder wem es gehört. Im Grunde verhalten sich Siegel wie Sprechakte zu einem geschriebenen Text oder gemalten Bild; Siegel und Stempel repräsentieren – als Gegenstände oder Schmuckstücke – gleichsam die extern materialisierte Stimme der Autorität oder des Autors. Darum wurde das Amt des »Siegelbewahrers« in den alten Hochkulturen nur den ranghöchsten Beamten anvertraut; denn der »Siegelbewahrer« verfügte in gewisser Hinsicht über die Stimme, den »zweiten Körper« des Königs. Aus dem »Lordsiegelbewahrer« entwickelte sich in England der »Lordkanzler«, Vorsitzender des Oberhauses und Justizminister; auch in Frankreich und Italien wurde der Titel für den Justizminister beibehalten. Bis 1806 fungierte im Deutschen Reich der Mainzer Kurfürst als »Erzkanzler« und »sigilli custos«. Noch heute werden Stempel mit dem sogenannten »Amtssiegel« in der Bürokratie sorgfältig aufbewahrt. Die Geschichte der Siegel (später der Petschaften in der griechischen Antike) kann auch mit der Entwicklung jener beschrifteten Objekte – Vasen oder Statuen – assoziiert werden, die seit einiger Zeit das Interesse der Altertumswissenschaftler fesseln. »Sprechende Objekte«, »oggetti parlanti«, so hat sie der italienische Epigraphik-Experte Mario Burzachechi genannt,10 um dem merkwürdigen Umstand gerecht zu werden, dass die Inschriften auf diesen Objekten häufig in erster Person abgefasst sind und sich – aufgrund fehlender Abstände zwischen den Worten – erst beim lauten Lesen erschließen. Lesen ereignet sich in diesem Arrangement – wie Jesper Svenbro analysiert hat – als eine Art von »Überwältigung« des Lesenden durch die »sprechende« Statue oder das »sprechende« Artefakt. »Das Objekt der Inschrift wird in der ersten Person bezeichnet, der Schreibende dagegen in der dritten Person (tatsächlich hat man erst ab 550 v.Chr. Objekte, die ausdrücklich in der dritten Person bezeichnet werden, gleichsam um die wirkliche, vom ›ich‹ gekennzeich-
10 Vgl. Mario Burzachechi: »Oggetti parlanti nelle epigrafi greche«, in: Epigraphica. Periodico Internazionale di Epigrafia, Jahrgang XXIV, Faenza 1962, S. 3–54. 104
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nete Gewalt zu kaschieren). Eine Amphore aus dem 6. Jahrhundert kann als Beispiel angeführt werden: ›Kleimachos hat mich gemacht und ich gehöre ihm (ekeínou eimí)‹. Zum Zeitpunkt des Lesens wird Kleimachos nicht mehr da sein, er wird abwesend sein, was das Demonstrativum ekeínos präzise zum Ausdruck bringt (ekei-nos ist das Demonstrativpronomen der dritten Person, das darauf hinweist, dass die Person nicht ›hier‹, sondern ›dort‹, ja ›jenseits‹ (ekei) ist). Dagegen wird die Amphore dasein: Niemand kann mehr Anspruch auf das ›ich‹ der Inschrift erheben. Kleimachos kann das nicht. Er schreibt auf seine eigene Amphore, weil er seine zukünftige Abwesenheit voraussieht (im umgekehrten Fall wäre es nicht der Mühe wert, zu schreiben).«11
V. Porträts und Totenmasken Zu den wichtigsten Kulturtechniken der Selbstthematisierung zählen Porträts und Selbstbildnisse. Umstritten ist, wann Menschen damit begonnen haben, ihre eigenen Gesichter abzubilden. Noch in den paläolithischen Kulthöhlen findet sich kaum eine Menschendarstellung, geschweige denn ein Porträt. Während mehrerer Jahrtausende wurden beinahe ausschließlich Tiere gemalt, und fast keine Menschen; wurden dennoch Menschen in die Wände geritzt, so wurden sie kaum jemals mit einem Gesicht versehen. Den Künstlern der Altsteinzeit standen zwar »eine Fülle von Materialien und ein Arsenal machtvoller Bilder aus dem täglichen Leben zur Verfügung, mit denen sie Höhlen in heilige Stätten verwandelten«; aber sie porträtierten keine Angehörigen ihrer eigenen Gattung. »Das Repertoire an Bildern fand seinen Höhepunkt in den prachtvollen, reich bemalten Höhlenwänden bei Lascaux im Südwesten Frankreichs. Man hat Lascaux die Sixtinische Kapelle der Frühzeit genannt. An diesem heiligen Ort wurde spirituelles Denken nach außen getragen und das Drama eines vorstellungsreichen Lebens bildlich wiedergegeben. Und doch gibt es unter den Hunderten von Bildern in dieser Höhle keine einzige Darstellung eines menschlichen Gesichts.«12 In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat die britische Archäologin Kathleen Kenyon bei ihren Ausgrabungen der neolithischen Stadt Jericho 11 Jesper Svenbro: »Archaisches und klassisches Griechenland: Die Erfindung des stillen Lesens«, übersetzt von Bernd Schwibs, in: Guglielmo Cavallo/Roger Chartier (Hg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt/Main, New York, Paris 1999, S. 74f. 12 Terry Landau: Von Angesicht zu Angesicht. Was Gesichter verraten und was sie verbergen, übersetzt von Brigitte Dittami, Heidelberg, Berlin, Oxford 1993, S. 200f. 105
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
eine Reihe von kunstvoll bearbeiteten Menschenschädeln entdeckt. Diesen Schädeln war durch nachträgliche Applikation von Kalk- und Gipsschichten gleichsam ein neues Antlitz verliehen worden, das die Spuren der Verwesung von Haut und Fleisch tilgte. »Jedes Gesicht ist anders«, schreibt Terry Landau, »und sehr individuell, und jedes wurde zu einem bestimmten Zweck hergestellt: Das Leben eines Verstorbenen sollte über den Tod hinaus bewahrt werden, indem man das vergängliche Fleisch durch etwas Unvergängliches ersetzte.«13 Das Fleisch verwest, die Knochen dauern, Haut lässt sich konservieren, die Eingeweide hingegen nicht. Diesen Unterschieden korrespondieren die Eigenschaften verschiedener Stoffe: Stein, Metall, Holz, Ton, Gips oder Wachs; und von diesen Qualitäten hängt ab, wie und in welcher Weise die Materialität der Leiche in die Gestalt eines Bildes oder einer Statue verwandelt werden kann. So betont Georges Didi-Huberman, dass die berühmten Goldmasken der mykenischen Königsgräber aus dem 16. Jahrhundert v.Chr., die offenbar »unmittelbar auf dem Gesicht gearbeitet« wurden, einerseits die »Dreidimensionalität des Kopfes wiedergeben« und eine »Ähnlichkeit durch Berührung erzeugen«, andererseits jedoch die »Elemente der Modellierung und der Treibarbeit« in einen »soliden Schematismus« überführen, der die »Vorherrschaft eines ornamentalen Denkens der menschlichen Gestalt bezeugt«. Dabei sei zu berücksichtigen, dass diese »dialektische Behandlung – körperliche Berührung und Schmuck« – undenkbar wäre, »wenn das Trägermaterial, das Goldblech, nicht so außergewöhnlich formbar und der Prozeß des Abdrucks nicht inhärent umkehrbar wäre. Goldblech läßt sich von beiden Seiten bearbeiten.«14 Hans Belting hat das fundamentale Paradox des Toten – seine »anwesende Abwesenheit«15 – mit der Frage nach den ältesten Impulsen der bildenden Künste verknüpft: »Das Bild findet seinen wahren Sinn darin, etwas abzubilden, was abwesend ist und also allein im Bild da sein kann. Es bringt zur Erscheinung, was nicht im Bild ist, sondern im Bild nur erscheinen kann. Das Bild eines Toten ist also unter diesen Umständen keine Anomalie, sondern geradezu der Ursinn dessen, was ein Bild ohnehin ist. Der Tote ist immer schon ein Abwesender, der Tod eine unerträgliche Abwesenheit, die man schnell mit einem Bild füllen wollte, um sie zu ertragen.« Aber dieses zweite Bild antwortet bloß dem ersten Bild, wie Belting (im Anschluss an Maurice Blanchot) kommentiert: »Der Tod tritt selber immer schon im Bild auf, weil auch der Leichnam bereits zu einem Bild geworden ist, das dem Körper des Lebenden nur 13 Ebd., S. 204f. 14 Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, a.a.O., S. 34f. 15 Vgl. Paul Ludwig Landsberg: Die Erfahrung des Todes, Frankfurt/Main 1973, S. 14. 106
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noch ähnelt. […] Er ist nicht mehr Körper, sondern nur noch das Bild eines solchen. Niemand kann sich ähnlich sehen. Er tut es entweder nur im Bild oder nur als Leichnam.« Sterben heiße demnach: in sein eigenes »Abbild« transformiert zu werden. Denn der »Schrecken des Todes liegt darin, daß sich vor aller Augen und mit einem Schlage in ein stummes Bild verwandelt, was gerade noch ein sprechender, atmender Körper gewesen ist. […] Die Menschen waren hilflos der Erfahrung ausgeliefert, daß sich das Leben, wenn es stirbt, in sein eigenes Bild verwandelt. Sie verloren den Toten, der am Leben der Gemeinschaft teilgenommen hatte, an ein bloßes Bild.« Erst diese Erfahrung der kontingenten »Bildwerdung« von Lebewesen habe die Menschen, so argumentiert Belting, dazu bewegt, ihrerseits Bilder oder Statuen herzustellen: »Es war dies jetzt ein künstliches Bild, das man gegen das andere Bild, den Leichnam, aufbot. Im Bildermachen wurde man aktiv, um der Todeserfahrung und ihren Schrecken nicht länger passiv ausgeliefert zu bleiben.«16 Später setzte sich die Praxis durch, den Toten eine Gesichtsmaske abzunehmen. Im Lateinischen bedeutet »larva« sowohl die Schauspielermaske als auch den Totengeist. Diese Doppelbedeutung ist nicht zufällig; sie referiert auf den bekannten Brauch, die Toten als Maskenträger wieder auftreten zu lassen. Die Römer pflegten Wachsabgüsse und Masken ihrer prominenten Verstorbenen herzustellen, die in effigie aufbewahrt und bei diversen Umzügen mitgeführt werden mussten. Nach dem Zeugnis des Historikers Polybios (aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert17) wurden diese Wachsabgüsse schon bei den Begräbniszeremonien verwendet, später in die betreffende Ahnengalerie überführt, sowie bei passender Gelegenheit – prächtig geschmückt – öffentlich gezeigt. Bei Begräbnissen und feierlichen Opferzeremonien wurden die mächtigen Vorfahren entweder durch bekleidete Puppen repräsentiert oder durch Schauspieler, die mit den jeweiligen Totenmasken auftraten. Am Begräbnis des Kaisers Augustus konnten auf diese Weise – neben dem Imperator selbst – auch Romulus und Pompeius teilnehmen.18
16 Hans Belting: »Aus dem Schatten des Todes. Bild und Körper in den Anfängen«, in: Constantin von Barloewen (Hg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, München 1996, S. 94f. 17 Polybios: Historia VI, 53. Zitiert nach Adolf Reinle: Das stellvertretende Bildnis. Plastiken und Gemälde von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Zürich, München 1984, S. 190f. 18 Vgl. Julius von Schlosser: Tote Blicke [1910-11]. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch, herausgegeben von Thomas Medicus, Berlin 1993, S. 21f. 107
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
VI. Spiegelbilder und Schatten Nicht nur im Tod verwandeln sich die Lebewesen gleichsam in ihre Bilder, sondern auch bei jeder Spiegelung, in jedem Schattenwurf. Freilich gilt, was Umberto Eco betonte, dass Spiegelung und Schattenwurf keine dauerhaften Zeichen erzeugen;19 vielleicht wurde ihnen darum bereits in der Antike mit einem gewissen Misstrauen begegnet. Damals wurden die meisten Spiegel nicht als Flachspiegel, sondern als Konvex- oder Konkavspiegel konstruiert, geeignet für optische Experimente. Dem Spiegelbild wurde weder im wissenschaftlichen Experiment noch im Alltag ein relevanter Status eingeräumt: was vielleicht auch auf die verwendeten Spiegelmaterialien zurückgeführt werden darf. Die Spiegel des Archimedes waren vermutlich – wie zahlreiche andere Spiegel seit dem vierten vorchristlichen Jahrtausend – aus Bronze gefertigt; im Laufe der Zeit wurde freilich beinahe jedes Metall, das geschürft und poliert werden konnte, zur Erzeugung von Spiegeln verwendet. Rund ein Jahrhundert nach Platons Geburt wurde in Griechenland eine eigene Spiegelmacherschule eröffnet; dort lernten die Handwerker die Kunst, eine Metallscheibe mit Sand so zu glätten und zu polieren, dass sie dabei nicht zerkratzt wurde. Bei Römern und Etruskern waren Silberspiegel besonders beliebt; im ersten vorchristlichen Jahrhundert setzten sich aber auch Goldspiegel durch, die von der Dienerschaft in reichen Haushalten als Teil der Entlohnung bevorzugt wurden. Metallspiegel waren in der Regel nicht sehr groß; sie wurden hauptsächlich als Handspiegel (mit einem Griff) oder Klappspiegel (mit einem Standfuß) produziert. Auch die Tiefenschärfe und Farbentreue der Metallspiegel kann wohl kaum den Ansprüchen genügt haben, die heutzutage selbstverständlich an einen Spiegel erhoben werden. Erst im 14. Jahrhundert gelang in Venedig – dem Zentrum der europäischen Glasbläserkunst – die Herstellung der ersten Glasspiegel. Die Gründe für diesen späten Zeitpunkt – immerhin wurden Gläser, Gefäße oder Fenster bereits seit vielen Jahrhunderten erzeugt – sind evident: Glas kann (im Unterschied zum Metall) nicht geglättet und poliert werden. Glasscheiben mussten darum perfekt gegossen werden, und zwar als Hohlzylinder, die anschließend auseinandergedrückt wurden. Die ersten Glasspiegel erreichten noch kaum eine halbwegs unverzerrte Wiedergabe des Spiegelbilds. Dennoch trat der Glasspiegel fast augenblicklich einen beispiellosen Triumphzug an. Im Venedig des 14. Jahrhunderts trugen die reichen Bürger »demonstrativ Glasspiegel an goldenen Ketten um den Hals wie einen
19 Vgl. Umberto Eco: »Sugli specchi«, in ders., Sugli specchi e altri saggi. Il segno, la rappresentazione, l’illusione, l’immagine, Milano 1995, S. 9-37. 108
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brillantbesetzten Anhänger. Es kam nicht darauf an, wie gut diese Spiegel ihren eigentlichen Zweck erfüllten – Hauptsache, man konnte anderen seinen Reichtum vorführen. Männer trugen Degen, in deren Griffe kleine Spiegel aus Glas eingelassen waren; hohe Würdenträger sammelten Glasspiegel in Rahmen aus Elfenbein, Silber und Gold, die nicht zuletzt wegen ihrer mangelhaften Qualität eher Renommier- und Ausstellungsstücke als Gebrauchsgegenstände waren.«20 Der Durchbruch zur modernen Spiegelproduktion wurde erst im 17. Jahrhundert geschafft: Im Jahr 1687 sicherte sich der französische Glasmacher Bernard Perrot das Patent auf ein Verfahren zur gleichmäßigen Walzung von Glasplatten; seither war es möglich, nicht nur optische Spiegel oder kosmetische Hand- und Klappspiegel, sondern lebensgroße Wand- und Standspiegel herzustellen. Mit Hilfe dieser Technik konnten Räume buchstäblich »repräsentativ« gestaltet werden: wie der berühmte Spiegelsaal im Schloss Versailles, der im Jahr 1686 errichtet wurde. Mit Hilfe der modernen Spiegeltechnologie konnte der Zauber des Spiegels (der vom archimedischen Brennspiegel bis zum Lorrain-Glas, von der mittelalterlichen magia naturalis bis zum katoptrischen Illusionstheater des Barock die gelehrten Köpfe fasziniert hatte21) neu definiert werden: Während die alten Spiegel eine Magie der Verwandlung, der Verzerrung, der Lichtbrechung und -übertragung, der Verbrennung, der Verkleinerung und Vergrößerung bewirkten, ermöglichten die neuen Spiegel (seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts) eine Magie der Verdopplung, der täuschenden Ähnlichkeit, der Reproduktion und der Repräsentation. Während die Täuschung beim alten Spiegel darin bestehen mochte, ein Objekt in verzerrter Gestalt und an der falschen Stelle erscheinen zu lassen, ergab sich der Täuschungseffekt beim neuen Spiegel daraus, dass er die Objekte in ihrer natürlichen Gestalt und an der richtigen Stelle, aber in einem symmetrisch reziproken, lediglich seitenverkehrten Raum auftreten ließ. Einfacher gesagt: Das »Spiegelkabinett«, das als Labyrinth, in dem sich die Besucher verirren können, noch auf manchen Rummelplätzen steht, wurde vom Spiegelsaal übertroffen, der die serielle Vervielfältigung des Königs – wie auf dem Titelblatt des Leviathan von Thomas Hobbes, publiziert im Jahre 1651 – demonstriert. Der Verwandlungszauber unterlag dem Wiederholungszauber, und zugleich wich die Magie des Handwerks den wundersamen Maschinen der Warenindustrie; die Ungeheuer der Metamor20 Charles Panati: Universalgeschichte der ganz gewöhnlichen Dinge, übersetzt von Udo Rennert, Frankfurt/Main 1994, S. 245. 21 Vgl. Jurgis Baltrušaitis: Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien, übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Gießen 1996², S. 207–245. 109
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
phosen Ovids (von den Werwölfen bis zu den Sirenen) wurden folgerichtig von den Doppelgängern der Romantik abgelöst. Anders verlief die Geschichte der Schatten. Während das Spiegelbild im Grunde erst durch die Technik der Fotografie zur echten, dauerhaften Repräsentation gemacht werden konnte, gelang es schon in der Antike, den Schattenwurf zu fixieren. Davon erzählt ein bekannter Ursprungsmythos der Malerei in der Naturalis historia des Plinius: »Die Frage nach dem Ursprung der Malerei ist ungeklärt. […] Die Ägypter behaupten, sie sei bei ihnen 6000 Jahre, ehe sie nach Griechenland kam, erfunden worden – offensichtlich eine eitle Feststellung; die Griechen aber lassen sie teils zu Sikyon, teils bei den Korinthern ihren Anfang nehmen, alle jedoch sagen, man habe den Schatten eines Menschen mit Linien nachgezogen [omnes umbra hominis lineis circumducta]; deshalb sei die erste Malerei so beschaffen gewesen, die nächste habe nur je eine Farbe verwendet und sei später die einfarbige genannt worden, nachdem eine kunstvollere Malerei erfunden war; in dieser Weise besteht sie auch heute noch. […] Über die Malerei ist nun genug und übergenug gesagt worden. Es mag zweckmäßig sein, dem Bisherigen auch einiges über die Plastik beizufügen. Mit einem Erzeugnis des gleichen Erdmaterials erfand in Korinth der Töpfer Butades aus Sikyon als erster ähnliche Bilder aus Ton zu formen, und zwar mit Hilfe seiner Tochter, die aus Liebe zu einem jungen Mann, der in die Fremde ging, bei Lampenlicht an der Wand den Schatten seines Gesichts mit Linien umzog; den Umriß füllte der Vater mit daraufgedrücktem Ton und machte ein Abbild, das er mit dem übrigen Tonzeug im Feuer brannte und ausstellte.«22 Vielleicht ist es nicht überflüssig, zu erwähnen, dass der junge Mann in den Krieg zog und dort den Tod fand; sein Schatten – der nach griechischer Vorstellung ins Totenreich wandert – war aber noch zu Lebzeiten gebannt und als Bild fixiert worden. Die Technik der Schattenmalerei (Skiagraphie) war in Griechenland sehr beliebt; sie kann auch in engen Zusammenhang gebracht werden mit den Kulturtechniken der Geometrie und Astronomie, bei denen der Schatten eines Schattenstabs (Gnomon) nachgezeichnet und für die Vermessung – sowohl von zeitlichen wie auch von räumlichen Ordnungen – verwendet wurde. »Der Zeiger der Sonnenuhr, des Gnomons, wirft Schatten auf den Boden oder auf die Projektionsfläche, je nach der Position der Sterne und der Sonne im Jahresverlauf. Seit Anaximander, heißt es, vermochten die griechischen Physiker diesen Projektionen einige Himmelsereignisse abzulesen. Das Licht, das von oben über die
22 Zitiert nach Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, übersetzt von Heinz Jatho, München 1999, S. 11. 110
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Spitze der Nadel fällt, schreibt auf die Erde oder die Seite eine Zeichnung, welche die realen Formen und Orte des Universums nachbildet oder wiedergibt. Da in jenen Zeiten niemand wirklich eine Uhr brauchte und die Stunden stark variierten, da Sommer- und Wintertage unbeschadet ihrer Länge und Kürze unveränderlich in zwölf Abschnitte eingeteilt wurden, diente die Sonnenuhr kaum dazu, die Uhrzeit anzugeben, so daß man keinesfalls sagen kann, die modernen Uhren hätten ihre Nachfolge angetreten. Vielmehr war der Gnomon ein wissenschaftliches Forschungsinstrument; er lieferte ein Modell der Welt, gab die Länge der Schatten um die Mittagszeit an den längsten und kürzesten Tagen an und machte es damit zum Beispiel möglich, die Tagundnachtgleiche, die Sonnenwenden und den Breitengrad eines Ortes zu bestimmen. Er war also mehr Observatorium als Uhr. Wir wissen strenggenommen nicht, warum diese Achse Gnomon genannt wurde; doch es fällt auf, daß dieses Wort dasjenige bezeichnet, das versteht, entscheidet, richtet, interpretiert oder unterscheidet: das Lineal, das Erkenntnis möglich macht. Die Konstruktion der ›Sonnenuhr‹ setzt das natürliche Spiel von Schatten und Licht in Szene, indem sie es mit dem Lineal, ihrem Erkenntnisapparat, auffängt. […] Die Astronomen verstanden es, unter diesem Gesichtspunkt ein Lineal zu entwickeln, das ebenso präzise ist wie die Schriftspur des Stilus. Das Schwarz der Tinte auf der weißen Seite reflektiert den alten Schatten, den die Sonne über den Zeiger des Gnomons wirft. Diese Spitze schreibt von ganz allein auf den Marmor oder den Sand, gleichsam als ob die Welt sich selbst erkennen würde.«23 Kulturtechniken als Selbsttechniken: Noch die physiognomischen Tafeln Lavaters operierten mit Schattenrissen, um individuelle (und doch typologisierbare) Eigenschaften von Gesichtern darzustellen.
VII. Signaturen und Unterschriften Siegel und Stempel erzeugten schon vor der Epigraphik »sprechende Objekte«; und sie wirkten als Vorläufer nicht nur der Signaturen, sondern auch der Warenzeichen. So kursierte bereits ein halbes Jahrhundert vor Christi Geburt die römische Keramik als »terra sigillata« durch die zivilisierte Welt: Siegelabdrücke informierten über den Besitzer der Fabrik und den Arbeiter, der das jeweilige Produkt hergestellt hatte. Die Werkstücke wurden also gleichsam signiert: Ein Name fungierte als
23 Michel Serres: »Gnomon: ›Die Anfänge der Geometrie in Griechenland‹«, in: Michel Serres (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt/Main 1994, S. 116-118. 111
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
Zeugnis des Herstellers, später auch des Besitzers. Zur selben Zeit wurde freilich noch kaum unterschrieben. In der römischen Antike – mit ihrem differenzierten Vertragsrecht – genügten häufig Daumenabdrücke; im Mittelalter wurden eigenhändig drei Kreuze gezeichnet. Dabei hatte schon ein römisches Gesetz im Jahr 439 angeordnet, dass Testamente unterschrieben werden konnten, wenn ihr Inhalt vor Zeugen geheimgehalten werden sollte; auch Verträge zwischen Kaufleuten wurden mitunter namentlich unterschrieben. Im königlichen Schriftverkehr dominierten – auch im Mittelalter – die Siegel über die selteneren Unterschriften oder drei Kreuze, was gewiss auch die berühmten »Fälschungen« zahlreicher Merowinger-Urkunden oder der »konstantinischen Schenkung« erleichterte. Das moderne System der persönlichen und eigenhändigen Unterschrift setzte nicht nur eine umfassende Alphabetisierung (zumindest der Eliten) voraus, sondern auch ein Rechtssystem mit Persönlichkeits- und Bürgerrechten, vor allem aber ein geschärftes Bewusstsein für die Bedeutung von Eigennamen als Medien der Individualität und Distinktion. Der eigene Status und Rang wurde im Mittelalter häufiger durch Kleidung, Schmuck, Wappen oder andere Attribute ausgedrückt als durch den Personennamen. Für eine Geschichte der Unterschriften ist darum eine sozialhistorische Untersuchung der Entwicklungen des europäischen Namenssystems – etwa der Praktiken von Benennungen nach Fürsten, Lehnsherren oder Heiligen – weniger relevant als die Frage nach den Techniken der Erfassung und Systematisierung von Personennamen. »So eindrucksvoll uns persönliche Individualität aus manchen mittelalterlichen Quellen entgegentreten mag, die schriftliche Identifikation einer Einzelperson war ja nicht nur Triumph des Individuums, sondern erst einmal Resultat ihrer Registrierung.«24 Die Listenführung von Personennamen begann im 13. Jahrhundert; den kirchlichen Beichtregistern folgten bald die Register von verurteilten oder flüchtigen Straftätern, Häretikern oder Verbannten – und schließlich im 15. Jahrhundert die Steuerregister. Tatsächlich ist das Wort »signature« erst ab 1536 nachweisbar; im 17. Jahrhundert wurde das Prinzip der Unterschrift im englischen Rechtssystem verankert. Diese allmähliche Popularisierung der Unterschrift in der frühen Neuzeit verdankte sich auch der Erfindung des Buchdrucks, der – nach Jahrhunderten perfektionierter Kalligraphie – jenen fortschreitenden Prozess der Individualisierung des Schreibens begünstigte, der heute noch Kinder (und reifere Zeitgenossen) dazu inspiriert, gelegentlich die eigene Unterschrift zu üben.
24 Valentin Groebner: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter, München 2004, S. 51. 112
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VIII. Autographen Mit dem Aufstieg der Unterschrift zum Distinktionskriterium eigener Persönlichkeit und Identität wurde anstelle der Siegel und Stempel wieder ein Körperzeichen etabliert: Unterschriften müssen ja (in Differenz zu Siegel und Stempel) eigenhändig und handschriftlich geleistet werden. Sie verleihen der Schrift – nicht nur in den Künstlersignaturen, die seit dem 15. Jahrhundert exponentiell zunahmen – eine ikonische Qualität: ein »Schriftbild«, das nicht nur Rechtsverbindlichkeiten stiftet, sondern auch als die Spur eines Individuums, als Zeichen eines Charakters, gelesen werden kann. 1622 publizierte der italienische Arzt und Professor der Medizin, Camillo Baldi, an der Universität Bologna einen ersten Traktat über die Deutung von Handschriften, und zwar unter dem Titel Come da una lettera missiva si conoscano la natura e qualità dello scrittore.25 Diese ersten Anfänge der Graphologie wurden freilich erst später weiterentwickelt; zunächst mündete die Charakterkunde – eine Art Protopsychologie – in die Physiognomik, das Studium der Gesichter. Zwar kommentierte Johann Caspar Lavater im dritten Band seiner Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (von 1777) fünf Tafeln mit Handschriftenproben; doch blieb er skeptisch hinsichtlich der Deutungsmöglichkeiten von Handschriften. Erst einmal mussten die europäischen Bevölkerungen umfassend alphabetisiert werden, bevor die Handschrift mit der Innerlichkeit des Subjekts assoziiert werden konnte. In seiner Phänomenologie des Geistes verglich Hegel die Handschrift mit der Stimme: »Die einfachen Züge der Hand also, ebenso Klang und Umfang der Stimme als die individuelle Bestimmtheit der Sprache, – auch dieselbe wieder, wie sie durch die Hand eine festere Existenz als durch die Stimme bekommt, die Schrift, und zwar in ihrer Besonderheit als Handschrift – alles dies ist Ausdruck des Innern«.26 Die vielgestaltigen Formen des Abdrucks (und Ausdrucks) dieses »Innern« mussten allerdings erst registriert und dechiffriert werden. Ein Jahr vor Veröffentlichung der Phänomenologie des Geistes hatte der Pariser Arzt und Professor der Medizin, Moreau de la Sarthe, eine Übersetzung der Physiognomischen Fragmente Lavaters publiziert; seine Weiterentwicklung der Ideen Lavaters beeinflusste vor allem eine Reihe 25 Vgl. Camillo Baldi: Come da una lettera missiva si conoscano la natura e qualità dello scrittore, herausgegeben von Laura Antonucci, Pordenone 1992. 26 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. TheorieWerkausgabe Bd. III, herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/Main 1970, S. 238. 113
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
französischer Kleriker, die sich danach mit Handschriftendeutung beschäftigten. Exakt hundert Jahre nach Lavaters erstem Band der Fragmente erschien schließlich 1875 das Systeme de Graphologie, verfasst von dem Abbé Jean-Hippolyte Michon; 1878 ließ der Abbé diesem Werk, das erstmals den Begriff der Graphologie benutzte, eine Methode de Graphologie folgen. Michons System basierte auf einer semiotischen Relationierung graphologischer Zeichen – der »signes fixes« handschriftlicher Eigenarten – mit charakterlichen Dispositionen. Die Schriften aus der Schule Michons – beispielsweise der Traité pratique de Graphologie des Uhrmachersohns Jules Crépieux-Jamin (1885) – wurden rasch in die deutsche Sprache übersetzt; 1896 kam es zur Gründung der »Deutschen Graphologischen Gesellschaft« durch Ludwig Klages, Laura von Albertini und Hans Heinrich Busse. Zwischen 1900 und 1908 gab diese Gesellschaft die »Graphologischen Monatshefte« heraus; 1917 publizierte Klages die Abhandlung Handschrift und Charakter. Kaum ein Werk des deutschen Philosophen und Psychologen ist seither so populär geblieben: Bis heute ist der gemeinverständliche Abriß der graphologischen Technik – inzwischen in der 29. Auflage (1989), mit zahlreichen Beispielen und Handschriftenproben – lieferbar.
IX. Digitale Signaturen und Zahlencodes Die technischen Revolutionen des Computer-Zeitalters haben zu einer relevanten Entmachtung der Bilder und Handschriften geführt. Heute übt kaum jemand mehr seine persönliche Handschrift – womit sich endgültig realisiert hat, was Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes (von 1900) zur Schreibmaschine bemerkte: Das »Schreiben, ein äußerlich-sachliches Tun, das doch in jedem Fall eine charakteristischindividuelle Form trägt«, werde von den Schreibmaschinen »zugunsten mechanischer Gleichförmigkeit« konterkariert. »Damit ist aber nach der anderen Seite hin das Doppelte erreicht: einmal wirkt nun das Geschriebene seinem reinen Inhalte nach, ohne aus seiner Anschaulichkeit Unterstützung oder Störung zu ziehen, und dann entfällt der Verrat des Persönlichsten, den die Handschrift so oft begeht, und zwar vermöge der äußerlichsten und gleichgültigsten Mitteilungen nicht weniger als bei den intimsten.«27 Die Durchsetzung und strategische Rationalisierung des elektronischen Schriftverkehrs hat das Handschriftliche inzwischen
27 Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Gesamtausgabe Bd. VI, herausgegeben von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/ Main: 1989, S. 652f. 114
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radikaler verdrängt, als Simmel ahnen konnte; eben darum wurden die kostbaren Spuren des »Persönlichsten« auch zu Antiquitäten und Raritäten aufgewertet, die von Sammlern – bei Auktionen von Autographen – ersteigert, und von Fans oft hysterisch begehrt werden. Nur die Fotos und Autogramme der Stars können durch keine Computerdateien oder E-Mails aufgewogen werden. Porträtfotos und Unterschriften sind also zu seltenen Dokumenten geworden, zu Fetischen der Prominenz; auch im Alltag wird übrigens immer weniger unterschrieben. Die Körperzeichen der Eigenhändigkeit werden seit einigen Jahren durch einen neuen Typ von Siegeln und Stempeln ersetzt: durch digitale Signaturen. Mit PIN-Codes und Transaktionsnummern werden Geldgeschäfte getätigt und autorisiert; mit Hilfe von Zahlencodes kann beinahe alles bestellt, gekauft und wieder verkauft werden. In Zahlenreihen werden Bankverbindungen, Versicherungen, Zugehörigkeiten (Personalnummern), Telefonanschlüsse und Identitäten ausgedrückt; Zahlencodes haben die Namen längst in den Hintergrund gedrängt. Die digitalen Signaturen entwickelten sich aus der (militärischen) Kryptologie; eingeführt wurden sie zu Beginn der Achtzigerjahre. Seit wenigen Jahren sind sie den Unterschriften rechtlich nahezu gleichgestellt: Entsprechende Gesetze wurden zuerst in den USA – mit dem »Utah Digital Signature Act« von 1995 –, danach auch in der Bundesrepublik Deutschland (mit dem »Gesetz zur digitalen Signatur« von 1997) erlassen. Zunehmend fungieren die digitalen Signaturen als Unterschriften in globalisierten Wissensgesellschaften; die Anforderungen an »privacy and authentication« erfüllen sie nicht mehr durch den Rekurs auf Hände oder Gesichter, sondern durch die Beanspruchung von Gedächtnissen und Merktechniken. Wer seinen PIN-Code vergisst, verliert den Anschluss – denn er darf den Code nur wissen, doch niemals aufgeschrieben haben (worauf die Banken oder Telekommunikationskonzerne regelmäßig hinweisen). Überspitzt gesagt: Wer heute als Individuum auftreten will, muss sich Zahlenkombinationen merken können.
X. Identität und Identifikation Der epistemologische Ansatz, der hier an einigen Beispielen demonstriert werden sollte, geht davon aus, dass Kulturtechniken – wie Sprechen, Übersetzen, Schreiben, Lesen, Abbilden, Rechnen oder Messen – sich selbst thematisieren können: im Sprechen vom Sprechen, im Schreiben vom Schreiben, in möglichen Bildern von Bildern, in diversen mathematischen oder messtechnischen Rekursionen. Nur indem sie rekursiv sind, können Kulturtechniken auch gewechselt werden; sie kön115
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
nen aufeinander referieren. Ein Schreibender kann abgebildet, ein Bild oder eine Rechenoperation kann beschrieben werden. Und natürlich kann ich vom Schreiben, Rechnen oder Messen sprechen – und das Sprechen (etwa mit Hilfe einer Wasseruhr) messen, abbilden (als Sprechblase) oder einfach aufzeichnen. Als rekursive Techniken symbolischer Arbeit können die Kulturtechniken als »Selbsttechniken« (im Sinne Foucaults) – genauer gesagt: als »Identitätstechniken« – beschrieben und praktiziert werden. Sie erzeugen in gewisser Hinsicht erst die Subjekte, die sich später als Voraussetzungen oder Schauplätze ihrer Operationen begreifen. Die Struktur der Sätze, in denen eine Identität im Selbstverhältnis, gleichsam das aporetische »Selbstbewusstsein« der idealistischen Philosophie, artikuliert wird, lautet jedoch nicht »Ich = Ich«, sondern – wie beispielsweise Ernst Tugendhat in seinen sprachanalytischen Vorlesungen zu Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung gezeigt hat – »Ich weiß, daß ich p«.28 Vor dreißig Jahren ging Tugendhat (mit Wittgenstein) von einem »linguistic turn« aus; inzwischen wurde aber dieser Paradigmenwechsel durch eine Reihe weiterer »turns« – vom »pictorial turn« bis zum »sonic turn« – nicht nur ersetzt oder ergänzt, sondern vielmehr kulturtechnisch verallgemeinert. Die möglichen Rekursionen der Kulturtechniken bringen Fragen nach der Identität und der Identifikation erst hervor; sie generieren Selbstverhältnisse, die sich von Tautologien insofern unterscheiden, als sie zwingend Medien brauchen: Leinwände und Spiegel, Papierseiten und Bücher, Messinstrumente und Rechenmaschinen, Ton- und Bildaufzeichnungsapparate, Computer. Keine Kulturtechnik kann ohne Medien praktiziert werden; dennoch lassen sich die Kulturtechniken nicht einfach auf Medientechniken reduzieren. Auch wenn ungeklärt bleibt, welche Kulturtechnik als älteste betrachtet werden müsste, darf doch gelten, dass Kulturtechniken immer schon älter sind als ihre Medien, und dass sie allemal älter sind als die Begriffe, die aus ihnen gebildet werden. Geschrieben wurde lange vor jedem Begriff der Schrift oder des Alphabets; Bilder und Statuen inspirierten erst nach Jahrtausenden einen Begriff des Bildes; bis heute kann gesungen und musiziert werden ohne Tonbegriffe oder Notensysteme. Auch das Zählen ist älter als die Zahl. Zwar haben die meisten bekannten Kulturen gezählt oder bestimmte Rechenoperationen durchgeführt; aber sie haben daraus nicht zwangsläufig einen Begriff der Zahl abgeleitet. Bereits in der Altsteinzeit wurden Zählungen protokolliert, was verschiedene Funde von gekerbten Knochen bezeugen; allerdings wissen wir bis heute nicht, welche Ereignisse oder
28 Vgl. Ernst Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt/Main 1979. 116
T. MACHO: TIERE ZWEITER ORDNUNG
Objekte eigentlich gezählt wurden: Jagderfolge, Mondaufgänge, Menstruationszyklen.29 Gezählt werden konnte durchaus ohne Zahlworte oder Zahlzeichen, etwa mit Hilfe von Knochenkerben, Fingern oder Rechensteinen, die den abgezählten Gegenstand repräsentieren sollten: Herdentiere, Soldaten oder Wegstrecken (wie beim griechischen Hodometer). Die Kulturtechnik des Zählens erzwingt nicht unbedingt abstrakte Zahlsysteme. In einigen Sprachen werden beispielsweise verschiedene Zahlwörter verwendet für verschiedene Klassen von Objekten. Franz Boas hat 1881 eine Tabelle der Zahlwörter veröffentlicht, die von kanadischen Indianerstämmen benutzt werden; er dokumentierte die Systeme von Zahlwörtern für flache, runde und lange Objekte, für Menschen, Kanus und Maße. Aus seinem Katalog geht freilich hervor, dass die Hypothese von einer Evolution mathematischer Abstraktionsleistungen mit Vorsicht betrachtet werden muss; immerhin kennen die kanadischen Indianer auch reine Zahl- und Maßwörter. Die Geschichte der Keilschrift bezeugt sogar, dass die reinen Zahlzeichen älter sein können als die Zahlzeichen mit Bindung an konkrete Objektklassen. Daraus folgt, dass die Verwendung reiner Zahlzeichen unabhängig ist von der Definition theoretischer Zahlbegriffe; Codes brauchen offenkundig keine systematischen Begründungen, um präzise funktionieren zu können.
29 Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt/Main 1980, S. 238f.; Alexander Marshack: The Roots of Civilization. The Cognitive Beginnings of Man’s First Art, Symbol and Notation, London 1972; John D. Barrow: Ein Himmel voller Zahlen. Auf den Spuren mathematischer Wahrheit, übersetzt von Anita Ehlers, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 6063; Lloyd de Mause: Grundlagen der Psychohistorie, übersetzt von Aurel Ende/Eva Lohner-Horn und Peter Orban, Frankfurt/Main 1989, S. 268270. 117
Selbstsein und Andersheit. Zum kulturellen Verhältnis von S ym b o l , F o r m u n d S i n n OSWALD SCHWEMMER
Wenn wir von Kultur reden, reden wir von einem komplexen Verhältnis zwischen Symbol, Form und Sinn, in dem Selbstsein und Andersheit die dynamischen Zentren der Entwicklung dieses Verhältnisses darstellen. Will man diese Dynamik in eine Beschreibung bringen, müssen wir mit dem anfangen, was unserer Kultur und all ihren Verschiedenheiten jedenfalls zugrunde liegt: dem Symbol bzw. den Symbolen. Symbole begegnen uns überall, und wir können uns ihnen nicht entziehen. Symbole durchwirken nicht nur die Welt, in der wir leben, Symbole prägen sich auch unserem geistigen Leben zuinnerst ein. Ohne Symbole ist die geistige Existenz der Menschen nicht denkbar. Denn ohne Symbole gibt es kein geistiges Leben.1
I. Symbol und Bewusstseinsstrom Was sind Symbole? Symbole sind dinglich fixierte Äußerungsformen. Als solche sind sie Kulturdinge. Sie sind Produkte der menschlichen Äußerungsgeschichte mit einer eigenen dinglichen und damit öffentlichen bzw. interindividuellen Existenzform. Wenn wir den Geist des 1
Im größeren Zusammenhang werden die hier erörterten Fragen dargestellt in Oswald Schwemmer: Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München 2005; und ders.: Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin 1997. 119
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
Menschen durch die Erzeugung und Nutzung von Symbolen definieren, dann schreiben wir ihm damit eine kulturelle Existenz zu, binden wir ihn an die dingliche Form der Symbole und gründen ihn in der Öffentlichkeit einer sich ständig dokumentierenden und jederzeit archivierbaren Äußerungsgeschichte. Was wäre in einer Welt ohne Symbole? Hätten wir noch keine Welt dinglicher Symbole, könnten und würden unsere Vorstellungen in unserem Bewusstsein einfach auftauchen und verschwinden. Sie würden keinen anderen Ausweis ihrer Realität liefern als den durch die Eindrücklichkeit, mit der sie sich uns einprägen. Und sie besäßen ihre Identität nur dadurch, dass sie die unseren sind und daher mit unseren anderen Vorstellungen verknüpft werden. Sie blieben so durchaus privat: die mehr oder weniger flüchtigen Elemente eines Bewusstseinsstromes. In diesem Bewusstseinsstrom bewegen uns unsere Vorstellungen mehr, als dass wir sie bewegen würden. Die Rede von einer Flut und deren Strömungen ist bewusst gewählt. Sie soll den Charakter des Wechsels, des ständigen Wandels, aber auch des Sogs, von dem man mitgerissen wird, und des Stromes, in dem man aufgeht, präsent machen. Die Quelle dieses Stromes ist das Bewusstsein selbst. Bewusstsein, d.i. zunächst nichts anderes als das Auftauchen von Imaginationen und Emotionen. Alles und jedes kann Anlass für dieses Auftauchen werden, sowohl äußere Ereignisse wie innere Erregungen. Phantasie und Wirklichkeit sind noch nicht geschieden. Auch uns mögen solche Situationen zumindest andeutungsweise noch zugänglich sein, insbesondere dann, wenn wir mit uns alleine gelassen sind und in unseren Träumen oder den langen Nächten schlafloser und halbwacher Phantasiearbeit die Eigendynamik eskalierender Gefühlstönungen erfahren.
II. Ausdruck und Form Stellen wir uns also vor, wir blieben alleine mit unserem Bewusstseinsstrom, dem Auf und Ab unserer Vorstellungen und Stimmungen, unserer Gefühle und Strebungen. Wir wären diesem Strom unrettbar ausgeliefert: überflutet von der Gewalt all der Ereigniswellen, die uns teils tragen, teils aber auch überrollen und die Orientierung nehmen. Die bloße Tatsache, diese fließende Welt in einem Ausdruck festzuhalten, und sei es nur für einen Augenblick, muss gleichsam als Entladung der unbeherrschten Spannungen wie eine ungeheure Befreiung gewirkt haben. Der Ausdruck, das ist der Anfang einer neuen Welt, in der die Menschen sich in ihren Äußerungen befreien und in der sie diese Äußerun120
O. SCHWEMMER: SELBSTSEIN UND ANDERSHEIT
gen in den Dingen, die sie schaffen, befestigen. Die Befestigung des Ausdrucks in Dingen, d.h. in sinnlich erfassbaren Konstellationen wie in einem gemeinsamen Tanz, in Bildern, Figuren und Markierungen und damit auch in den gestischen, mimischen und lautlichen Anfängen des Sprechens, das schafft die ersten Symbole, die diese neue Welt ausmachen. Eine wie starke und neue Erfahrung in dieser neuen Welt sozusagen entzündet wurde, bezeugen die Werke, die uns aus diesen frühen Zeiten noch erhalten sind. Die Ausdrucksintensität der frühen Höhlenmalereien und frühzeitlichen Figuren sprechen uns über die Jahrtausende und über alle kulturellen Grenzen hinaus mit einer dramatischen Unmittelbarkeit an, die viele zeitgenössische Ausdrucksansprüche aus unserer eigenen Kultur in die triviale Beiläufigkeit überanstrengter Selbstdarstellungen versinken lässt. Die Gewalt der Bilder als eine Gewalt der Imaginationen und die damit verbundene Gewalt der Emotionen wird gebannt durch die Kraft der Bildwerke und der Symbole überhaupt: der beschwörenden Worte und aller anderen Ausdruckshandlungen, aller Taten der Form. Die Welt der Symbole bedeutet so eine grundlegende Veränderung der menschlichen Existenz: der Äußerungs- und Erfassungsmöglichkeiten in der Weltbegegnung, des Handelns und der Orientierung in der Welt überhaupt und damit auch der inneren Gefühle, Stimmungen und Strebungen. So, wie wir als Lebewesen mit unseren physischen Umwelten in einem Wechselverhältnis stehen, so tun wir dies auch mit unseren symbolischen Umwelten. Diese machen den Menschen zu einem symbolischen Wesen, zu einem – wie es Ernst Cassirer formulierte – animal symbolicum,2 ein Symbole erzeugendes und gebrauchendes, ein in seinen Symbolwelten sich bewegendes Lebewesen, das erst und nur in der Welt der Symbole seine besondere, d.i. menschliche Identität gewinnt.
III. Form und Artikulation In der Ursprungstat des Ausdrucks am Anfang unserer Kultur werden die Wirbel der Imaginationen und wird der Aufruhr der Emotionen in eine Form umgewandelt. Formen besitzen eine eigene Existenz, die sie das Ereignis ihrer Entstehung überdauern lässt. Denn wo ein Ereignis zu einer Form geworden ist, ist es etwas, ist ein Etwas geworden, das man benennen und auf das man sich von nun an beziehen kann. So wird aus
2
Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 51. 121
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
den weitgehend anonymen Menschenaufläufen, den Parolen und Reden, dem Marsch auf die Bastille und anderen Ereignissen am 4. Juli 1789 in Paris die »Französische Revolution«: ein welthistorisches Ereignis, das durch die Historiker in die Form der Revolution gebracht und für die kollektive Erinnerung festgehalten wird. Aber schon in unserer alltäglichen Wahrnehmung können wir diese Umwandlung von Ereignissen – nämlich des Wahrnehmens – in Formen – nämlich in Wahrnehmungsbilder bzw. allgemeiner gesprochen: in Konfigurationen – feststellen. Diese Formbildung können wir als eine Prägnanzerzeugung beschreiben. Wo sich in unserem Wahrnehmen keine Prägnanz einstellt, nehmen wir auch nichts wahr. Wir sehen, hören, schmecken, riechen, ertasten unsere Umwelt nur über die Verstärkung von Differenzen zu Kontrasten und die gleichzeitige Konfigurierung der Kontraste zu Formen und Qualitäten. Diese kontrastierenden Konfigurationen verleihen unserem Wahrnehmen seine Orientierung. Wir verlieren uns nicht in der unüberschaubaren Mannigfaltigkeit von Einzelreizen, sondern fassen sie zu Formen und Qualitäten, zu Formelementen und Qualitätsmerkmalen zusammen. Die Formbildung in unserem Ausdruck ist dessen Artikulation. Und in einem weiteren Sinne können wir entsprechend auch von der Artikulation in unserem Wahrnehmen sprechen. Entscheidend für die Betrachtung der symbolischen Welten ist, dass mit einer jeglichen Artikulation, sei es im Ausdruck, sei es in der Wahrnehmung, im Prinzip ein Bezug zu allen übrigen Artikulationsformen hergestellt ist. Unsere Wahrnehmung artikuliert sich, indem wir eine Form sehen, ein Liniengefüge oder ein Farbengeflecht, eine Wölbung oder eine Kante. Aber wir sehen nicht nur diese Form. Wir sehen sie als Verweisungsmomente auf ihr Auftreten auch in anderen Konstellationen. Die Form in einer Rockfalte und in der Kante eines Felsens, in einem Nasenrücken – den das Englische übrigens als »bridge of the nose« sieht – und im Sturzflug einer Seeschwalbe: die Form in der Vielfalt ihres Auftretens schafft ein Netz von Verweisungen, sozusagen Verwandtschaftsbeziehungen der Formen, die unsere Sehwelt zusammenhalten. Über diese Verweisungsverhältnisse – und dies ist hier das entscheidende Moment – bildet sich für uns Sinn aus: sichtbarer, wahrnehmbarer Sinn. Denn Sinn ist in seiner Grundform Verweisung, Zusammenhang, Ordnung. Sinn wird durch Form in die Welt gebracht, weil Form Verweisung, Zusammenhang und Ordnung ermöglicht. Sinn entsteht in der Formwahrnehmung. Und das Entsprechende gilt für die Artikulation unserer Ausdrucksimpulse. Eine Artikulation ist eine Formbildung. Mit ihr werden unsere Äußerungen zu sinnlich erfassbaren und in diesem Sinne dinglichen 122
O. SCHWEMMER: SELBSTSEIN UND ANDERSHEIT
Ausdrucksformen, die – wo und wann immer sie geäußert werden – ein Netz von Verweisungen im Universum der überhaupt geäußerten Ausdrucksformen herstellen. Symbole, ich wiederhole es, sind dinglich fixierte Äußerungsformen. Wir können nun hinzufügen: Symbole bilden Verweisungsgefüge, die als Sinngebilde auftreten. Sinn ist immer symbolischer Sinn: Sinn, der durch die prägnante Formbildung, durch Artikulation oder auch, wie Ernst Cassirer für die Wahrnehmung sagt, die »immanente Gliederung« der Wahrnehmung oder eben auch des Ausdrucks entsteht, durch »symbolische Prägnanz«. Unter symbolischer Prägnanz soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.3 Und Cassirer fügt hinzu, dass es die Wahrnehmung selbst ist, »die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt, die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört.«4
IV. Sinn und symbolische Kultur Durch Artikulation wird unsere Wahrnehmungs- und Ausdruckswelt eine öffentliche und gemeinsame Welt. Die Symbole, die wir verwenden, sind Dinge, die in der Öffentlichkeit hergestellt und wahrgenommen werden. Es sind damit Dinge, die nicht mehr nur unsere augenblickliche Vorstellungswelt widerspiegeln, sondern die unabhängig davon ihre Existenz gewinnen und erhalten können. Andere können sie eben so gut herstellen wie wir. Andere vernehmen sie eben so gut wie wir. Sie sind Elemente eines öffentlichen Lebens, das anderen Rhythmen folgt als unser Bewusstseinsstrom. Vor allem aber sind sie im Miteinanderhandeln und -reden der Menschen gegründet. Und zugleich damit tragen und prägen sie dieses Miteinanderhandeln und -reden. Sie sind die Brücken, auf denen die Menschen einander begegnen können5 3
4 5
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe Bd. 13, Hamburg 2002, S. 231. Ebd. Vgl. dazu Cassirers Hinweis gegenüber dem Solipsismus Heideggers auf der Davoser Disputation von 1929, dass in der »Welt des objektiven Geistes«, also der Welt der symbolischen Formen, eine »Brücke von Individuum zu Individuum geschlagen ist. [...] Und ich meine, es gibt keinen anderen Weg von Dasein zu Dasein als durch diese Welt der Formen.« (Martin Heidegger: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910123
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
und schaffen so die personalen Verhältnisse zwischen den Menschen, die Beziehung zum Anderen. Diese »Brücken« ergeben sich dadurch, dass Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen sedimentiert, zum tradierten Bestand einer Gesellschaft geworden sind. Wir nennen das Ensemble der in der Geschichte gesellschaftlich sedimentierten Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen – und der darin als exemplarische Realisierungen dieser Formen tradierten Perspektiven und Werke – eine Kultur, näherhin eine symbolische Kultur. Dass wir uns in unseren Wahrnehmungs- und Ausdrucksleistungen, dass wir uns in unserer ganzen tätigen Existenz zu dem bereits in eine Wahrnehmungs- und Ausdrucksform Gebrachten und dem in ihr Erhaltenen verhalten, heißt dann, dass unser ganzes geistiges Leben bis in sein Innerstes hinein von unserer symbolischen Kultur geprägt ist. Erst im Medium unserer symbolischen Kulturumgebung kommen wir zu unserem persönlichen Selbstsein. Unser Selbstsein, so können wir dann auch sagen, ist das Produkt einer historischen Entwicklung, die über unsere Biographie hinausreicht in die Entwicklung unserer kulturellen Traditionen. Damit zeigt sich eine grundlegende Dialektik zwischen Selbstsein und Andersheit. Denn auf der einen Seite entwickelt sich in der individuellen Artikulation das je Eigene des Sagens oder Tuns. Auf der anderen Seite gewinnt ein jeder dieses sein Eigenes nur in dem Formenreich des schon Gesagten und Getanen. Damit steht das Selbstsein im Eigenen des selbst Gesagten und Getanen in einer unaufhebbaren Differenz zu dem Eigenen des von Anderen Gesagten und Getanen und gewinnt in diesem Differenz-Stand seine Identität. Auch wenn dieses bereits Gesagte und Getane – also das Formenreich, das uns überkommen ist und in dem wir uns artikulieren – von uns in eine eigene Form gebracht worden ist, bewahrt es doch seinen Eigenstand. Wir gewinnen unser Selbstsein in der bleibenden Differenz des von Anderen Gegebenen, das wir uns durch unsere eigene Arbeit an der Form zu eigen machen. In unserem Selbstsein, in dem Eigenen unseres Sagens und Tuns verhalten wir uns selbst formend zu der Andersheit der Form. Und nur, wenn wir diese eigene Formung in unsere Artikulation einbringen, gelingt es uns, überhaupt etwas zu sagen und uns damit auch selbst zum Ausdruck zu bringen. Kultur, so können wir sagen, bietet uns die Möglichkeit zu einem artikulierten Welt- und Selbstverhältnis, indem sie uns zu einem individuellen Selbstsein verhilft und damit, wie Ernst Cassirer sagt, die Grundla-
1976, Bd. 3, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/Main 1991, S. 292f.) 124
O. SCHWEMMER: SELBSTSEIN UND ANDERSHEIT
ge für die »Selbstbefreiung« des Menschen bietet: Im Ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben. Sprache, Kunst, Religion und Wissenschaft bilden unterschiedliche Phasen in diesem Prozess. In ihnen allen entdeckt und erweist der Mensch eine neue Kraft – die Kraft, sich eine eigene, eine ›ideale‹ Welt zu errichten.6 Aus diesem Zusammenhang ergeben sich viele Fragen zu dem Verhältnis von persönlicher Artikulation und symbolischer Kultur. Hier seien nur drei dieser Fragen gestellt: Welche Form des Selbstseins ist uns in einer Prägung durch die symbolische Kultur möglich? Wie verschränken sich dabei die Grenzen der Tradition mit den Möglichkeiten zur Innovation? Und wie können wir das Verhältnis von – individuellem und kulturellem – Selbstsein und Andersheit verstehen? Alle drei Fragen lassen sich in der einen zusammenfassen: Wie steht es um die Macht der Symbole?
V. Selbstsein und symbolische Kultur Eine erste Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Selbstsein und symbolischer Kultur haben wir schon in unseren Überlegungen zu Ausdruck und Form vorbereitet. Kann man doch unsere symbolische Kultur insgesamt als den groß angelegten und immer wieder neu aufgenommenen Versuch ansehen, Ausdrucksformen zu entwickeln, die den imaginativen Wirbel und den emotionalen Aufruhr unseres Bewusstseins zur Form zusammenbinden. Denn mit der Symbolisierung, so können wir wiederholen, gewinnt das menschliche Bewusstsein seine immer wieder identifizierbare Form. Der Mensch gewinnt mit ihr seine geistige Identität. Aus seinen persönlichen Vorstellungen können nun Gedanken werden, über die man sich austauschen, auf die man zurückkommen, die man verwerfen und annehmen kann. In seiner »cultural community«, seiner kulturellen Gemeinschaft, kann er sein Selbstsein gewinnen und es immer wieder bestätigen lassen, kann er sich auf Andere in deren Selbstsein beziehen und damit an der Festigkeit des kulturellen Gewebes arbeiten, in dem ein Selbstwerden und -sein möglich ist. Eine zweite Antwort ergibt sich aus den Überlegungen zur symbolischen Kultur als solcher. Bietet doch die symbolische Kultur zunächst überhaupt das Medium zur individuellen Artikulation. Wenn Artikulation immer ein Verhalten zu bereits Artikuliertem ist, dann bedarf mein Selbstwerden und -sein, das ja artikulierendes und artikuliertes Sein ist, 6
Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 345. 125
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
dieses Mediums. In diesem Sinne ist symbolische Kultur kein von außen auferlegter Zwang, sondern ein »Angebot«, in dessen durchaus individueller und höchst unterschiedlicher Annahme wir überhaupt erst zu einer Form unserer Äußerungen, zu einer Artikulation unseres Ausdrucks und damit auch zu einem persönlichen Selbstsein kommen. Diese Verschränkung von persönlicher Artikulation und kulturellen Ausdrucksformen hat noch eine weitere Dimension, die wir die Dimension des Werkes oder des Werkcharakters unserer Äußerungen nennen können. Mit einem Blick auf den schönen Kleist-Text »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«7 können wir uns vergegenwärtigen, wie im Prozess des Redens das, was wir sagen, sich entwickelt. Im Reden entsteht, wenn wir nicht Ablesen oder Aufsagen, das, was wir sagen. Dabei ist es nicht immer so, dass das, was wir sagen, auch das ist, was wir am Ende als das erkennen, was wir haben sagen wollen. Nehmen wir aber einmal an, es wäre so, dass wir das, was wir sagen, wie im Falle Mirabeaus in der Kleistschen Schilderung, zugleich das ist, was wir im Reden als das erkennen, was wir sagen wollten, und also auch als das, was wir denken. Selbst in diesem Fall ist es aber auch so, dass das, was wir sagen, schon im Augenblick seiner Äußerung ein Eigenleben zu führen beginnt. Es wird zum Teil einer Sprache, in der auch andere und im Übrigen auch wir selbst in anderen Situationen ebenfalls etwas sagen oder schreiben. Es geht dabei vielfältige Verbindungen mit diesem Übrigen in dieser Sprache Gesagten und Geschriebenen ein, Verbindungen, die wir in unserem Reden weder überschaut haben noch überschauen konnten. Das Gesagte löst sich von der Person, die es gesagt hat, und auch von der Situation, in der sie es gesagt hat. Und dies geschieht gleichzeitig mit und in dem Reden, in dem wir unsere Gedanken allmählich verfertigen. Denn die Sprache, in der wir uns ausdrücken, wie jede der symbolischen Welten, in denen wir uns bewegen, ist ja in ihren Ausdrucksformen schon da, wenn wir beginnen, uns in ihr zu artikulieren. Was wir überhaupt artikulieren, ist eingebettet in das, was schon artikuliert worden ist. Unsere ganze geistige Existenz ist eingebettet in der symbolischen Kultur, in denen die geistige Existenz anderer ihre Spuren hinterlassen hat. Wir leben daher in einer stetigen Differenz von einem sich erst bildenden Ausdruckswillen und der von ihm im Medium der symbolischen Kultur gebildeten Ausdrucksform. Diese Differenz ist nicht zu schlie-
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Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München 1977, S. 320f.
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O. SCHWEMMER: SELBSTSEIN UND ANDERSHEIT
ßen, auch nicht in der gelungenen Artikulation, wie sie uns Kleist vorführt. Gerade die Beschreibung einer allmählichen Verfertigung des Gedachten – und damit eben auch des Gesagten – beim Reden zeigt, dass der gelungene Ausdruck ein Zusammentreffen von Verschiedenem ist. Der Redner selbst wird in einem gewissen Sinne vom Gelingen seines Ausdrucks überrascht. Als eigenes Ereignis fassen wir dieses Gelingen nur, weil wir es nicht schon so, wie es denn geworden ist, vorausgesehen haben und voraussehen konnten. Das sprachliche Feld, in dem wir uns bewegt haben, hat uns mit den in ihm abgelagerten Verknüpfungen in eine Verweisungsdynamik hineingezogen, die das benutzte Wort mit weiteren Sinnverbindungen anreichert und Zusammenhänge sichtbar werden lässt, die sich auch aus eigenem Recht im Denken und Reden ausbreiten. Gerade dieses Eigenrecht der Sinnverbindungen, diese – wie Ernst Cassirer sie benennt – »›Andersheit‹ der Form«8 und damit die bleibende und jeweils von neuem sich ausweisende Differenz der Form zum individuellen Ausdruckswillen macht den gelungenen Ausdruck zu einem Ereignis, das sich der planenden Verfügung – wenn auch nicht der Vorbereitung – entzieht. Und weil es diese Differenz gibt, diesen Überschuss an Sinn über unsere Vorhersicht hinaus, ist der gelungene Ausdruck selbst dort, wo er – wenn auch nur im Nachhinein – in einer von uns als vollkommen zutreffend, in einer Identität von intendierter und artikulierter Äußerung erfahren wird, ein für uns Neues – etwas, auf das wir zwar gerichtet waren, mit dem wir aber nicht gerechnet haben.
VI. Tradition und Innovation Mit diesem Gedanken sind wir bereits zur Antwort auf das Verhältnis von Tradition und Innovation geführt. Tatsächlich finden wir in der symbolischen Kultur diese Tendenz zum Neuen. Wir finden aber auch noch eine gegenstrebige Tendenz, nämlich die zur Verfestigung des bereits Geformten oder auch Errungenen. Es ist dies die Tendenz zur Formelprägung. Sie mag zunächst erörtert werden. Eine jede Symbolisierung bedeutet eine Fixierung. Im Symbol verfestigen sich nicht nur die flüchtigen Momente unseres Bewusstseinslebens, sondern auch unsere Gedanken, die über ihre Formulierung – also über ihre sprachliche Symbolisierung – eine eigene und sogar von uns
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3. Teil, a.a.O., S. 45. 127
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
unabhängige Existenz gewinnen. Jede Symbolisierung ist eine Formulierung – wobei ich hier auch bildliche, gestische und andere nichtsprachliche Formulierungen mit einschließen möchte. Und jede Formulierung tendiert dazu, die in ihr erreichte Fixierung über die Situation hinaus festzuhalten und dadurch zur Formel zu werden: im Sinne einer verselbständigten Ausdrucksform, die man wie einen Gegenstand benutzen, nahezu beliebig einsetzen und über die man immerzu verfügen kann. Damit etwas eine Formel wird, muss es nicht gleich die stehende Redewendung oder Ausdrucksform einer ganzen Gesellschaft sein. Die Wiederholung im anderen Kontext, die charakteristisch für die Formel ist, wohnt als Tendenz jeder Formulierung inne: kann sie sich dadurch doch selbst zum gelungenen Ausdruck erklären. Wir stützen uns auf Formeln, wir suchen sie, wir prägen sie, wir orientieren uns an ihnen und durch sie. In einer saloppen Formulierung könnte man sagen: das geistige Leben besteht – gerade in seiner Kreativität – in einem Prozess ständiger Formelprägung. Diese Formelprägungen zeigen sich in unserem geistigen Leben in verschiedenen Gestalten, manchmal auch sozusagen versteckt oder getarnt als Kritik an Formeln: so etwa im Gestus der durchaus formelhaften Auflösung aller Formeln, besonders der Tradition, der Überholung auch des Modernen durch das Postmoderne, des Kulturellen durch das Multikulturelle, des Disziplinären durch das Interdisziplinäre. Diese Überholungsformen stecken ein Diskursfeld der negativen Formelnutzung ab, die sich ihrer eigenen Formelhaftigkeit oft nicht bewusst ist und die ohne den Bezug auf ihre Ursprungsformeln ihren Sinn verlieren kann. Ohne Sinn für das Formelhafte präsentiert sich unser Handeln vielfach auch dort, wo es nicht um die Fixierung einer bis in ihre Einzelheiten hinein gleichbleibenden Theorie, Argumentation oder Formulierung geht. Eine Formel kann auch ein Verfahren sein, eine Geste, ein Stil, überhaupt eine Art des Umgangs, die sich auf Verschiedenes bezieht. Mit der Betonung des Formelcharakters unserer Symbolisierungen soll die Tendenz zur Selbstbestätigung und Selbstbehauptung hervorgehoben werden, die unser geistiges Leben insgesamt durchzieht. Diese Tendenz ist zugleich die Tendenz zur Sicherung der einmal gewonnenen Orientierungen, zum Abschluss der Arbeit an den Formeln, in denen wir unser Selbst- und Weltverständnis artikulieren. Zugleich gibt es aber auch eine Gegentendenz. Und auch sie ist dem Prozess der Symbolisierung immanent. Es ist dies die Tendenz zum Neuen. Das Neue, mit dem wir nicht gerechnet haben, verdankt sich der inneren Differenz zwischen dem Eigenen, das wir zum Ausdruck bringen 128
O. SCHWEMMER: SELBSTSEIN UND ANDERSHEIT
wollen, und der »Andersheit der Form«, die schon besteht und ihr eigenes Sein besitzt. Dadurch wird im Grunde jede Formbildung, wenn sie denn nicht nur Wiederholung sein will oder ist, eine Neuformung. Für Ernst Cassirer ist dieses Verhältnis von Formbildung und Neuformung bzw., wie er selbst sagt: von forma formans und forma formata, das Grundverhältnis allen geistigen Lebens und damit aller Kulturentwicklung: »Nur in [...] dynamischen Gleichnissen, nicht in irgendwelchen statischen Bildern läßt sich die Form als werdende Form [...] beschreiben. Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen dem Begriff der ›natura naturata‹ und der ›natura naturans‹ geprägt hat, so muß die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ›forma formans‹ und der ›forma formata‹ unterscheiden. Das Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus. Die ›forma formans‹, die zur ›forma formata‹ wird, die um ihrer eigenen Selbstbehauptung willen zu ihr werden muß, die aber nichtsdestoweniger in ihr niemals gänzlich aufgeht, sondern die Kraft behält, sich aus ihr zurückzugewinnen, sich zur ›forma formans‹ wiederzugebären – dies ist es, was das Werden des Geistes und das Werden der Kultur bezeichnet.«9 Die Formbildung als solche entfaltet eine Dynamik von Formprägung und Neuformung, die nicht als eine gegenseitige Störung, sondern als eine gegenseitige Steigerung des Persönlichen – des »Individuellen« – und des Öffentlichen, des Geistigen und Kulturellen – des »Universellen« – in unserem Leben wirkt. Ernst Cassirer bringt dieses Verhältnis in die folgende Formulierung: »Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist daher stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen, weil es nur in ihr seine Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann.«10 Indem Cassirer auf das Universelle in der Tat der Individuen hinweist, schließt er die kulturelle und die persönliche Seite des geistigen Lebens in der Einheit des menschlichen Handelns, in der Arbeit an der Form zusammen. Diese Arbeit an der Form ergibt sich dabei als ein generisches Charakteristikum des menschlichen Handelns. Denn im Grunde kann man die gesamte geistige Tätigkeit als Arbeit an der Form be9
Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Text, Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hamburg 1995, S. 17f. 10 Ernst Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, in: ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe Bd. 22, Hamburg 2006, S. 156. 129
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
schreiben. In jedem einzelnen Ereignis dieser Arbeit an der Form werden die symbolischen Welten, die unsere Kultur ausmachen, zugleich erneuert und erhalten, erweitert und ineinander verschränkt. Diese symbolischen Welten, die der Mensch sich schafft und in denen er sich artikuliert und seine Form gewinnt, sind in ihrer Mannigfaltigkeit unübersehbar und lassen sich durch nichts einschränken als dadurch, dass sie eben überhaupt einen Prozess der Symbolisierung zu durchlaufen haben. Den Ausdrucksformen des Menschen, so sie denn überhaupt die Schwelle der Artikulation überwinden, sind keine Grenzen gesetzt. Sie können sich in immer wieder neuen Konfigurationen oder auch nur neuen Bezügen ausbilden. Beide Tendenzen, die bewahrende und die erneuernde, charakterisieren die Struktur eines jeden Symbolisierungsprozesses und bestimmen damit auch seine Dynamik. Es scheint dabei eine anthropologische Tatsache zu sein, dass wir nur ein gewisses Maß an Erneuerung, aber auch an Beharrung aushalten können. Aber zugleich ist es eine ebenso anthropologische Tatsache, dass wir das Neue suchen (wie es scheint, manchmal fast um jeden Preis) und doch das Alte erhalten, das Neue in das Alte eingliedern wollen. Das Bedürfnis zur Begrenzung von Erneuerungen beantworten wir mit der Schaffung von Formeln, mit dem Aufbau einer symbolischen Kultur. Das Bedürfnis zur Begrenzung des Beharrens beantworten wir mit Systemen zur Prämierung von Neuem; dieses aber im Allgemeinen innerhalb der jeweiligen symbolischen Kultur. Weder zwischen den beiden Bedürfnissen noch zwischen den Wegen zu ihrer Bewältigung oder Befriedigung herrscht Symmetrie. Das erste Bedürfnis ist das zur Orientierung überhaupt, zur Schaffung einer Ordnung, in der sich Lebens- und Handlungsformen ergeben, das ist das Bedürfnis nach (kultureller und später dann auch persönlicher) Identität. Mit den verschiedenen Weisen, eine solche Identität zu erzeugen und zu erhalten – also mit der Entwicklung von Kultur überhaupt –, wird dann eine dialektische Bewegung der Formelprägung und Formelauf- und -ablösung in Gang gesetzt, die die verschiedenen symbolischen Kulturen in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Maß charakterisiert.
VII. Selbstsein und Andersheit Wie viel Selbstsein erreichen wir in unserer symbolischen Kultur und wie viel Andersheit gegenüber dem Gemeinsamen dieser Kultur ist dabei möglich? Diese Frage rückt eine grundlegende Dialektik zwischen Selbstsein und Andersheit in den Blick. Diese Dialektik zwischen 130
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Selbstsein und Andersheit zeigt sich in ihrem Bezug auf die Andersheit der Form zunächst nur in ihrem generischen, ihrem sozusagen anonymen Charakter. Wo und in welcher Form überhaupt eine Kultur sich hat entwickeln können, steht der Mensch der Andersheit der Form gegenüber, einer neutralen Andersheit, die als das Andere und nicht auch schon als der Andere oder die Anderen dem jeweiligen Individuum, einem individuellem Selbst, entgegentritt. Die Andersheit der Anderen ist eine neue Form der Andersheit, die über die generelle Andersheit der Form hinausreicht. Durch die Arbeit an der Form im Umgang mit den Anderen, mit der Andersheit der Anderen, entsteht ein neues Sinnverhältnis, das sich im wechselseitigen Bezug zwischen dem Eigenen des Selbstseins und der Andersheit der Anderen realisiert. In der Form der Anderen tritt mir etwas anderes als die bloße Andersheit der Form entgegen. Nicht mehr bloß das Andere schafft eine Differenz in meiner Artikulation, sondern die Anderen treten mir nun entgegen. Sie sprechen mich an, sind in ihrer körperlichen Realität präsent, sind Individuen wie ich selbst eines bin. Dieses Sinnverhältnis verbleibt nicht in der Anonymität von Strukturen, sondern konkretisiert sich in den Situationen des Umgangs miteinander, in dem sich Personen begegnen und miteinander auseinandersetzen. Der wechselseitige Bezug von Selbst und Anderen charakterisiert den Menschen in einer besonderen Weise als ein »Zwischensein«,11 als Mensch zwischen Menschen, der nur im Bezug auf diese anderen Menschen sein Selbstsein verwirklicht. Die Wirkungen dieser Bezugnahmen reichen tief in unser geistiges Leben hinein. So sehen wir uns meist mehr mit den Augen der Anderen als mit unseren eigenen, sehen – in der objektivierenden Einstellung des Beobachtens – die Anderen in vielen Hinsichten besser als uns selbst. Wer wir sind, das zu erkennen, bedarf immer auch des Spiegels der Anderen. Wir selbst werden so in unserem Selbstsein getragen oder auch fallen gelassen von den Spiegelungen, die unser Sagen und Tun, unser Gegenwärtigsein oder auch Nichtdabeisein in den Anderen hervorruft. Unser Selbstsein ist so nie nur unsere Sache. Den Blick des Anderen uns gegenüber und der Anderen um uns herum – was übrigens einen großen Unterschied ausmacht – geht ein in unser Selbstsein. Das, was wir als unser Selbstsein ausmachen oder auch nur auszumachen vermeinen, ist so etwas 11 Die Rede vom Menschen als einem Zwischensein ist aus der konfuzianischen und buddhistischen Tradition übernommen. So wird etwa im Japanischen das Wort ningen für Mensch durch zwei Schriftzeichen wiedergegeben, eines für Mensch und eines für Zwischen. Vgl. dazu Jens Heise: Präsentative Symbole. Elemente einer Philosophie der Kulturen – Europa und Japan, Sankt Augustin 2003, S. 191-195. 131
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
wie ein durchgehaltener Grundakkord im Konzert vieler Stimmen, die auf uns eindringen. Unser Selbstsein ist auf der einen Seite durchwirkt von den Bildern von uns, die die Anderen in ihrem Verhalten uns gegenüber zeigen, und ist auf der anderen Seite unsere Haltung gegenüber den Anderen, gleichsam unsere Fragen an sie und Antworten auf sie und ihr Verhalten. Unser Selbstsein entwickelt sich in den Spiegelungen, die wir von den Anderen erfahren. Wir bilden uns zu unserem Selbst in unseren Reaktionen auf diese Spiegelungen, die auf diese als die Andersheit der Anderen in das Eigene unseres Selbstseins eingehen. Dieses Andere, die Andersheit der Anderen, ist gegenüber dem Eigenen des Selbst ein Neues. Es ist dies ein ständig auf uns eindringendes Neues, aber keines, das uns zwingt, selbst auf es in einer neuen Weise zu reagieren. Es ist ein Neues im Sinne einer Herausforderung und eines Angebots. Wir können durchaus versuchen, den wechselvollen Auftritten der Anderen und darin des immer wieder Anderen und Neuen durch ein Beharren auf dem Selben zu begegnen und damit in der Verfestigung unserer Selbigkeit zu verbleiben und darin unser Selbstsein zu leben.12 Eine solche Form des Beharrens auf Selbigkeit käme allerdings einer Totenstarre im geistigen Leben gleich und würde unserem Bedürfnis, etwas und damit zugleich auch uns selbst zum Ausdruck zu bringen, nicht entsprechen. Das sich Einlassen auf das Neue, das uns in unseren vielfachen Bezügen auf die Anderen und deren Andersheit entgegentritt, lässt uns auch das immer wieder Neue in uns selbst, in unserem Selbstsein erfahren. Und dieses Selbstsein, das sich auf das Neue einlässt, kann sich durchaus in einer gleichwohl sich durchhaltenden Selbigkeit, nämlich in einer im Wechsel sich bewährenden Selbigkeit der Weiterentwicklungen, in einer Selbigkeit der eigenen Lebensgeschichte ausbilden. Das Neue ergibt sich hier als eine Tendenz, die sich aus dem Willen zum Selbst, zu einem Eigenen des Selbstlebens, zu einer eigenen Geschichte unseres Lebens in dessen sozialer und kultureller Verfassung – also in seinem Bezug auf die Andersheit der Anderen und die Andersheit der Form – entwickelt.
12 Vgl. zu dieser »Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit« Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 173-206. 132
O. SCHWEMMER: SELBSTSEIN UND ANDERSHEIT
VIII. Die Andersheit der anderen Kulturen im Selbstsein der eigenen Kultur Noch eine dritte Form von Andersheit mag angeführt werden. Es ist dies die Andersheit der anderen Kulturen. Auch hier mag die Dialektik von Selbstsein und Andersheit die Folie der Darstellung liefern. Die Dialektik von Selbstsein und Andersheit im Verhältnis verschiedener Kulturen zueinander ergibt sich aus einer schärferen und jedenfalls anderen Polarität als sie zwischen den Individuen in einer Kultur besteht. Bieten doch Kulturen als Inbegriff der in der Geschichte eines Volkes verfestigten Ausdrucksformen den Rahmen, innerhalb dessen die Individuen sich artikulieren und damit ihr Selbstsein gewinnen und ihre Andersheit sich entwickelt. Dabei ist zu sehen, dass der kulturelle Rahmen für das individuelle Selbstsein durchaus nicht »einfältig« ist. Denn in die meisten Kulturen haben viele und zum Teil gegensätzliche Einflüsse hineingewirkt, und aus ihnen sind viele und zum Teil gegensätzliche Impulse hervorgegangen. Kulturen weisen daher gewöhnlich ein komplexes und innerlich vielfältiges »Selbstsein« auf, das verschiedene und möglicherweise auch gegensätzliche Orientierungen ermöglicht. Gleichwohl ist es so, dass wir nur dann überhaupt von einem kulturellen Zusammenhang, also einer Kultur reden können, wenn diese Vielfalt eine Vielfalt wechselseitig verständlicher, wenn auch damit nicht schon wechselseitig geschätzter oder auch nur gebilligter Ausdrucks- und damit Lebens- und Handlungsformen ist. Trotz aller Spannungen, die damit entstehen und auch zu heftigen Auseinandersetzungen nicht nur zwischen Individuen, sondern zwischen verschiedenen, nämlich kulturell verschieden positionierten und geprägten Gruppen führen, verbleiben diese Differenzen in einem umgreifenden kulturellen Verstehenszusammenhang, der Andere zwar zu Gegnern machen kann, aber eben zu Gegnern, die man versteht oder zu durchschauen glaubt. Gegenüber diesem intrakulturellen Verhältnis fehlt dem interkulturellen Verhältnis von Selbstsein und Andersheit, so scheint es zumindest vielfach, ein übergreifender Verstehenszusammenhang. Denn wenn wir nicht mehr über die Andersheit der Anderen im eigenen kulturellen Umfeld reden, sondern über die Andersheit anderer Kulturen, wird uns der Orientierungsrahmen genommen, der uns die Anderen auch in ihrer Andersheit und selbst als Gegner noch verstehen lässt. Aus den Anderen werden Fremde, die in vielen Fällen nicht einmal Gegner, Gegenspieler auf gegensätzlichen Positionen in einem gemeinsamen Spannungsfeld, werden können. Wo die elementare Gemeinsamkeit fehlt, die durch eine gemeinsame Kultur geschaffen und erhalten wird, erscheint uns jemand 133
II. KULTURTECHNIKEN UND SYMBOLISCHE PRAKTIKEN
fremd, dem wir oft – zumindest zunächst – mit einer gewissen Verständnislosigkeit und vielfach auch mit Interesselosigkeit begegnen. Tatsächlich müssen solche Begegnungen nicht die Fremdheit des ersten Augenblicks verfestigen und das Verstehen auch des Fremden ein für alle Mal vereiteln. Wenn die Unterstellung von Sinn und eine offene Neugier sich zu einem Verstehenwollen miteinander verbinden und dazu eine durch Wissen gestützte Phantasie und genaue Beobachtung den Blick für Sinnzusammenhänge auch in der anderen Kultur schärfen, dann kann sich auch ein Verstehen des Fremden entwickeln. Auch dieses Fremde der anderen Kultur ist ja ein Ergebnis menschlichen Handelns, ein historisch entstandener Sachverhalt, in dessen Entwicklungslinien die Menschen die geworden sind, die sie nun sind. Und da dies für jede Kultur gilt und damit auch jeder Mensch in einer kulturellen Existenzform sich entwickelt, sind andere Kulturen als menschliche Sinnverhältnisse im Prinzip auch für andere Menschen aus anderen Kulturen in ihrem Sinn zugänglich. Natürlich gibt es hier unterschiedliche Grade der Zugänglichkeit. Aber keine Kultur ist zwangsläufig für Andere aus einer anderen Kultur verschlossen. Dies folgt schon aus dem Charakter der Kulturen als historische Gebilde. Die Geschichte zeigt uns, dass ein Verstehen des Fremden nicht selbstverständlich gelingt oder auch nur zu erreichen versucht wird. Aber dies erklärt sich nicht nur aus rein kulturellen Differenzen. Als historische Gebilde sind Kulturen aus sich selbst heraus keine statischen, ein für allemal festgelegten und kanonisierten Gebilde. Die Kanonisierung einer Kultur, die Festschreibung auf sozusagen wörtliche Befolgung, wird gewöhnlich durch nicht rein kulturelle Eingriffe herbeigeführt wie durch die Sanktionierung von Abweichung durch Machtmittel. Die Legitimation durch eine kulturelle Tradition wird in solchen Fällen instrumentalisiert, um die eigenen politischen oder ökonomischen Interessen durch eine kulturelle Umkleidung zu überhöhen und als Bewahrung der gegebenen Ordnung umzudefinieren. Der Rückgriff auf kulturelle Traditionen ist für solche Instrumentalisierungen darum besonders wirksam, weil er einen Rückgriff auf einen gemeinsamen Besitz an Einstellungen und Überzeugungen darstellt. Die innere Macht der Symbole wird im Dienst der äußeren Macht nicht nur genutzt, um die eigenen Interessen der Mächtigen durchzusetzen, sondern sie wird auch um ihre innere Dynamik zur Selbstbefestigung und -erneuerung gebracht. Die Geschichte lehrt uns allerdings, dass diese Dynamik sich nicht endgültig unterdrücken lässt und sie am – wenn auch noch so langwierig und mühselig erreichten – Ende wieder zur kulturellen Wirkmacht auf dem Wege zur »Selbstbefreiung des Menschen« wird. 134
O. SCHWEMMER: SELBSTSEIN UND ANDERSHEIT
Dieses historische Wissen mag denn auch Ernst Cassirer zu seinem Vertrauen auf die Kraft der Vernunft13 – und d.h. in einem offenen Vernunftverständnis ja auch: auf die Macht der Symbole – ermutigt haben.
13 Vgl. dazu Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, S. 161-172. 135
III. M ODERNE K ULTUR UND IHRE G ENEALOGIE
Zur Kontingenzkultur der Weltgesellschaft DIRK BAECKER
I. Der Kulturbegriff, mit dem wir es gegenwärtig zu tun haben, ist ein Produkt der modernen Gesellschaft. In dem, was wir heute unter Kultur verstehen, klingt der antike Begriff der Sorge und Pflege des Unverfügbaren zwar noch mit,1 doch dieser Nachklang wird überdeckt von der Art und Weise, wie der Kulturbegriff in der modernen Gesellschaft zur Beschreibung des Umstands verwendet wird, dass Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Regionen der Welt unterschiedlich leben, ohne deswegen aufzuhören, Menschen zu sein. Die Einführung des Buchdrucks, mit der die moderne Gesellschaft entsteht, bedeutet, dass man jederzeit und an jedem Ort davon ausgehen muss, es mit Leuten zu tun zu haben, die gelesen haben (oder von Leuten, die gelesen haben, gehört haben), dass man andernorts anders lebt und die eigene Lebensweise sich deswegen nicht von selbst versteht. Der moderne Kulturbegriff ist ein Vergleichsbegriff,2 der das Unterschiedliche der Lebensweisen der Menschen übergreift und damit im selben Zuge sowohl vergleicht als auch als unvergleichbar beschreibt.
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Vgl. hierzu Wilhelm Perpeet: »Kulturphilosophie«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 42-99; vgl. ders.: »Zur Wortbedeutung von ›Kultur‹«, in: Helmut Brackert/Fritz Wefelmeyer (Hg.), Naturplan und Verfallskritik: Zu Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt/Main 1984, S. 21-28. So Niklas Luhmann: »Kultur als historischer Begriff«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt/Main 1995, S. 31-54. 139
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
Seither oszilliert der Kulturbegriff zwischen dem Singular der Kultur und dem Plural der Kulturen. In der Geschichte der Menschheit (historisch) und in den verschiedenen Regionen der Welt (geographisch) findet man empirisch verschiedene Kulturen vor, die begrifflich als Varianten desselben gelten. Offen ist dann die Frage, ob es für den Begriff der Kultur eine empirische Referenz gibt, die unabhängig von der Vielzahl der Kulturen zu fassen wäre. Lässt der Vergleich zwischen den Kulturen eine eigene Kultur des Vergleichs entstehen, in der nichts anderes festgestellt und festgehalten wird als die Kontingenz jeder einzelnen Kultur? Und was würde dafür sprechen, dieser Kultur des Vergleichs denselben Status zu geben wie den verglichenen Kulturen? Die Kultur der Moderne wäre dann eine Kultur des Kulturkontakts, in der jede einzelne Kultur in Differenz zu einer anderen Kultur bestimmt wäre und unabhängig von dieser Differenz keine Identität gewinnen könnte.3 Die empirische Referenz für den Singular der Kultur ist dann allerdings keine Kultur der Kulturen, sondern eine Gesellschaft der Kulturen. Es ist die Gesellschaft, die dank des massenhaft verbreiteten Bücherwissens ein Differenzbewusstsein pflegt, mit der jede einzelne Kultur, so identisch sie mit sich sein mag, im Wissen um ihren Unterschied zu anderen Kulturen infiziert wird. Daraus resultiert die Beobachtung der Kultur als Einwand gegen sich selbst, motiviert aus der Reflexion auf ihre eigene Kontingenz.4 Die Soziologie hat sich nicht zuletzt auch deswegen mit dem Kulturbegriff schwer getan, weil sie nicht recht wusste, wie die Differenz zwischen den verschiedenen Kulturen, gefasst durch einen Begriff dessen, was jeweils als Kultur zu verstehen ist, in einer Gesellschaft, die durch den Plural der heterogenen Kulturen ebenso gekennzeichnet ist wie durch den Singular des Vergleichsbegriffs einer kontingenten Kultur, zu verorten ist. Man konzentrierte sich entweder auf das Identische einer Kultur, um dann im Einklang mit der Anthropologie und Ethnologie die Entstehung und Verbreitung kultureller Normen (Symbole, Werte, Weltanschauungen) im Raum und in der Zeit, das heißt zwischen den Gruppen und Generationen, zu beobachten, oder man konzentrierte sich auf die Reproduktionsprobleme einer Gesellschaft, bei deren Lösung kulturelle Normen der Unterscheidung des falschen von richtigem Verhalten zwar keine determinierende, aber doch abrufbare (ausprobierbare) Rolle spielen.5 3
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So bekanntlich die Vermutung von Gregory Bateson: »Culture Contact and Schismogenesis«, in: ders., Steps to an Ecology of Mind, Reprint Chicago 2000, S. 61-72. Das ist das Thema verschiedener Ansätze in Dirk Baecker: Wozu Kultur?, 2., erw. Aufl., Berlin 2001. Vgl. für beide Möglichkeiten Talcott Parsons/A. L. Kroeber: »The Concepts of Culture and of Social System«, in: American Sociological Review
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D. BAECKER: ZUR KONTINGENZ DER WELTGESELLSCHAFT
Das Phänomen ist hier wie dort, dass durch die Generalisierung wiederholbarer Erfahrungen in der Gesellschaft kulturelle Normen entstehen, die von dieser Gesellschaft, obwohl sie sie selbst geschaffen hat, nicht mehr nach Belieben geändert werden können.6 Man muss die Erosion der kulturellen Werte innerhalb der sozialen Praxis, die sie doch orientieren sollen, abwarten, um sich von ihnen auch wieder verabschieden zu können.7 Die Gesellschaft muss durch den Einbau von Varietät die Redundanz reduzieren, die ihr Selbstverständnis auszeichnet, um die Kultur auch wieder abzubauen, die sie mühsam genug aufgebaut hat.8 Interessanterweise bleibt es dann aber dabei, dass man eine Kultur vor allem daran erkennt, dass sie Orientierungen gleichsam schneller bereitstellt, als man jeweils den Bedarf an ihnen erkennt: Noch bevor man recht weiß, dass man es mit einer unbestimmten Situation zu tun hat, greift über die Beobachtung zweiter Ordnung ein Mechanismus der Koordination, der um so besser funktioniert, je unbemerkter er bleibt.9 Diese Einsicht sollte jedoch nicht dazu führen, einen Automatismus anzunehmen und für diesen einen auf welcher Ebene auch immer zu verankernden genetischen Code anzunehmen. Kultur koordiniert erst in einem zweiten Schritt. Der erste Schritt, wie unbemerkt auch immer er getan wird, besteht in der Anerkennung, und zwar in der wechselseitigen Anerkennung, von Ungewissheit. Erst diese Anerkennung von Ungewissheit motiviert zur Beobachtung zweiter Ordnung und zu einer wechselseitigen Koordination und Kooperation, die im Zuge der Auflösung der Ungewissheit dann auch rasch mit der Etablierung von Asymmetrien zwischen den Beteiligten und mit dem Einverständnis mit
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23 (1958), S. 582-583; Talcott Parsons: »Culture and Social System Revisited«, in: Louis Schneider/Charles M. Bonjean (Hg.), The Idea of Culture in the Social Sciences, Cambridge 1973, S. 33-46. So Georg Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, in: ders., Philosophische Kultur: Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, Berlin 1983, S. 183-207. Vgl. für eine dazu passende Studie Clifford Geertz: »Ritual und sozialer Wandel: ein javanisches Beispiel«, in: ders., Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, aus dem Englischen von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, Frankfurt/Main 1987, S. 96-132. So Hans Peter Thurn: »Abbau von Kultur: Dekulturation«, in: Friedhelm Neidhardt/M. Rainer Lepsius/Johannes Weiß (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27, Opladen 1986, S. 379-396; vgl. ders.: Kulturbegründer und Weltzerstörer: Der Mensch im Zwiespalt seiner Möglichkeiten, Stuttgart 1990. So Howard S. Becker: »Culture: A Sociological View«, in: Yale Review 71 (1982), S. 513-527. 141
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
diesen Asymmetrien einhergehen kann.10 Nicht zuletzt entsteht aus der interessierten Wiedereinführung von Ungewissheit in eins mit dem rettenden Verweis auf die bisherigen Lösungsformen jene »mikrophysische« Form und Resistenz von Macht, über die sich Beobachter, die von der Ungewissheit nichts wissen, dann immer wieder wundern.11
II. Wenn man im Rahmen einer eher konstruktivistischen und ontogenetischen als objektivistischen und ontologischen Epistemologie nach der Operation fragt, in der und mit der so etwas wie eine Kultur entsteht,12 das heißt, wenn man annimmt, dass Kultur nicht etwa als solche schon da ist und nur noch zitiert werden muss, sondern je aktuell bestätigt, wenn nicht gemacht werden und sich in der Situation, in der sie zitiert wird, immer erst noch bewähren muss, kann man als diese Operation für den Fall der modernen Kultur den Vergleich festhalten. Kultur entsteht daraus, dass die Lebensweisen der Menschen untereinander verglichen und daraus Standards (Normen, Werte, Gründe) abgeleitet werden, mit deren Hilfe man in einer jeweils konkreten Situation weiterzukommen versucht. Für den Vergleich der Lebensweisen hielt man sich zunächst an historische und regionale Unterschiede, doch lässt sich die Vorgehensweise je nach Bedarf verallgemeinern, um etwa auch Vergleiche zwischen Religionen, Bildungsgrad und Kunstverständnis, Professionen, Generationen, Geschlechtern und Milieus vorzunehmen. Im allgemeinsten, das heißt philosophischen Sinne zielt der Kulturbegriff dann spätestens mit Ludwig Wittgenstein auf jede Lebensform, an die sich Ansprüche knüpfen lassen, die etwas mit der Interpretation möglicher Situatio-
10 Vgl. zur Emergenz von Uniformität aus Ungewissheit auch Armen A. Alchian: »Uncertainty, Evolution, and Economic Theory«, in: Journal of Political Economy 58 (1950), S. 211-221; und mit einer Fallstudie JeanClaude Kaufmann: Schmutzige Wäsche: Zur ehelichen Konstruktion von Alltag, Konstanz 1994. 11 Vgl. dazu Michel Crozier/Erhard Friedberg: L’acteur et le système: Les contraintes de l’action collective, Paris 1977, insbes. S. 78 ff. 12 Vgl. zu einer konstruktivistischen Epistemologie Humberto Maturana/ Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, aus dem Spanischen von Kurt Ludewig, Bern 1987; Humberto Maturana: Was ist Erkennen?, aus dem Englischen von Hans Günter Holl, München 1994; Francisco Varela: Ethisches Können, aus dem Englischen von Robin Cackett, Frankfurt/Main 1994; Heinz von Foerster: KybernEthik, Berlin 1993; Niklas Luhmann: Erkenntnis als Konstruktion, Bern 1988. 142
D. BAECKER: ZUR KONTINGENZ DER WELTGESELLSCHAFT
nen und mit der Identität von Personen, die in diese Situationen verwickelt sind, zu tun haben.13 Mit Hilfe einer einfachen Spencer-Brown-Gleichung können wir diese Operation der Kultur wie folgt festhalten:14
Kulturmodern = Lebensform Vergleich
Das soll heißen: Es wird eine Lebensform im Kontext ihres Vergleichs mit anderen Lebensformen bezeichnet, unterschieden und in genau diesem Rahmen als mit sich identisch gesetzt. Wir haben es mit der Form einer Unterscheidung zu tun, insofern die Lebensform vom Vergleich sowohl unterschieden als auch mit ihm in einen Zusammenhang gesetzt wird. Der Vergleich ist der Kontext, in dem die Lebensform als solche erst bestimmbar wird. Und umgekehrt definiert die Lebensform, woraufhin verglichen werden kann und woraufhin nicht. Ausgeschlossen ist in jedem Fall (als Außenseite der Form), dass man nicht vergleicht. Ausgeschlossen ist damit, die Lebensform als solche zu setzen und für unvergleichbar, für fraglos mit sich identisch, für selbstverständlich und für notwendig zu halten. In die Form der Unterscheidung ist dieser Ausschluss allerdings (als Außenseite der Form) mit eingeschlossen, so dass fundamentalistische Interpretationen der Kultur sich darauf versteifen können, genau das zu tun, was ausgeschlossen ist, und genau daraus und mitten in der Moderne ihren Einwand gegen die Moderne zu gewinnen. Wir können dies vom antiken Kulturbegriff unterscheiden, dem es eher darum ging, das Prekäre und daher das zu Umsorgende und zu Pflegende der menschlichen Lebensform zu unterstreichen:
Kulturantik = Lebensform Pflege
Man ist gewohnt, den antiken Kulturbegriff daran zu erkennen, dass er grundsätzlich nur mit einem Genitiv auftaucht: agri cultura, cultura 13 Vgl. dazu Stanley Cavell: »Declining Decline: Wittgenstein as a Philosopher of Culture«, in: ders., This New Yet Unapproachable America: Lectures after Emerson after Wittgenstein, Albuquerque, NM 1989, S. 29-75; und vgl. Ludwig Wittgenstein: »Philosophische Untersuchungen«, in: ders., Schriften I, 4. Aufl., Frankfurt/Main 1980, S. 279-544. 14 Vgl. George Spencer-Brown: Laws of Form: Gesetze der Form, aus dem Englischen von Thomas Wolf, Lübeck 1997. 143
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
animi, cultura dolorum sind Beispiele, die Wilhelm Perpeet nennt,15 und die auf die pflegende Bestellung des Ackers, mit Cicero auf die Philosophie (als Pflege eines Geistes derart, dass die Chance auf einen philosophischen Gedanken eher steigt als sinkt) oder mit den Kirchenvätern auf den Glauben verweisen (als pflegender Umgang mit den eigenen Schmerzen derart, dass der Glauben an den Trost und die Erlösung seine eigene Evidenz gewinnt). Erst in der Moderne, erst mit der Wortverschiebung von »Kultur« zu »Zivilisation«, vermutlich beim Naturrechtslehrer Samuel von Pufendorf, fällt der Genitiv und wird die Kultur damit zu einem Phänomen eigenen Rechts. Jetzt geht es nicht mehr allein um eine Praxis des Kultivierens, sondern um die Beobachtung, dass diese Praxis ihre Resultate bereits hervorgebracht hat, bevor man beginnt, auf sie zu achten und mit ihr zu rechnen. Und Letzteres tut man typischerweise genau dann, wenn an der Differenz anderer Lebensformen die Eigenheiten der eigenen Lebensform auffallen. Aufgefallen ist dies Reisenden immer schon. Doch erst der Buchdruck zwingt dazu, dies nicht mehr nur unter den »Sitten und Bräuchen fremder Völker« abzubuchen, sondern als Variante der eigenen Lebensform ernst zu nehmen. Schreibend und lesend simuliert man die Fortsetzung der eigenen Kommunikation im Modus der fremden Kommunikation und entdeckt, dass dies tatsächlich möglich ist. Aus den Barbaren von einst werden die Wilden und Naiven von heute, die uns voraus haben, von der »Dekadenz« des modernen Lebens noch nicht um die »Kraft« ihres Lebens gebracht worden zu sein. Das auffälligste Korrelat der Verschiebung vom antiken zum modernen Kulturbegriff ist in eins mit der Pluralisierung der Kulturen die Universalisierung beziehungsweise Singularisierung entweder des Menschen, der mit sich identisch ist, gleichgültig in welcher Kultur er lebt, oder der Gesellschaft, die in der Moderne als Weltgesellschaft gedacht wird, das heißt historische und regionale Unterschiede übergreift.16 Hatte man in der Antike die eigenen Leute (»Menschen«) von »Barbaren« unterschieden, die keinerlei Anspruch auf eine eigene Kultur erheben konnten, so gilt in der Moderne, dass man sowohl unabhängig von jeder einzelnen Kultur, aber in genau diesem Maße auch abhängig von irgendeiner Kultur »Mensch« sein konnte. Daraus gewinnt die Kulturkritik seit Jean-Jacques Rousseau und bis heute die interessantesten Mög15 Vgl. Nachweise in Anm. 1. 16 Vgl. zur modernen Entdeckung des Menschen wie der Gesellschaft Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt/Main 1974; und ders.: »Il faut défendre la société«: Cours au Collège de France, 1976, Paris 1997. 144
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lichkeiten, nach dem Schicksal des Menschen in einer spezifischen Kultur zu fragen und Glück und Unglück des Menschen davon abhängig zu sehen, wie »echt« und »natürlich« beziehungsweise »dekadent« und »künstlich« eine Kultur sich darstellt.17 Und hatte man in der Antike keinen Grund gesehen, Gemeinschaft und Gesellschaft zu unterscheiden, sondern statt dessen nach den verschiedenen politischen Fassungen eines Gemeinwesens gefragt,18 so beginnt man in der Moderne zwischen Politik und Gesellschaft zu unterscheiden, auch wenn man noch lange daran festhalten sollte, in der Politik so etwas wie das gemeinschaftliche Gipfelprodukt der Gesellschaft zu sehen.19 Darauf kommen wir zurück. Auffällig ist, dass mit der Verschiebung des Kulturbegriffs von Pflege zu Vergleich eine Verschiebung des Gegenbegriffs einhergeht, die zwar schnell bemerkt wird, aber doch immer wieder für Verwirrung sorgt. In der Antike ist das, was nicht Kultur ist, das, was nicht gepflegt werden kann und muss, sondern für sich selber sorgt, die Natur, physis, sowohl als Kosmos wie als Chaos. In der Moderne hingegen ist das, was nicht Kultur ist, das, was nicht verglichen werden kann, sondern unvergleichlich für sich selber steht, die Welt. Diese Welt, auch darauf kommen wir zurück, ist nicht identisch mit der Natur von einst, die ganz im Gegenteil mit Hilfe der Naturwissenschaften ebenso dem Vergleich (der »Analyse«) unterworfen wird wie der Bereich des Kulturellen, sondern ist jener Horizont der Gesellschaft, der bei allen Vergleichsmöglichkeiten mitläuft, ohne sich selbst zu ändern, aber auch ohne je bestimmt werden zu können. Als Welt, so Martin Heidegger, gilt in der Moderne das, woraus jedem endlichen Einzelnen jene Ergänzung widerfährt, die es in einem nie zu fassenden und seinerseits endlichen Ganzen hält.20 Der Technikbegriff ist unter anderem eine komplizierte Brücke zwi17 Vgl. in diesem Sinne vor allem Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, eingel., übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand, Hamburg 1983; und Matthew Arnold: Culture and Anarchy, with Friendship’s Garland and Some Literary Essays, herausgegeben von R.H. Super und Ann Arbor, Mich. 1965. 18 Natürlich vor allem in Platon: »Politeia«, in: ders., Sämtliche Werke, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, neu herausgegeben von Ursula Wolf, Bd. 2, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2000, S. 195-537; und Aristoteles: Politik, übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, mit einer Einleitung von Günther Bien, Hamburg 1981. 19 So vor allem Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen«, in: ders., Werke in 20 Bänden, Theorie-Werkausgabe Bd. VII, herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/Main 1970. 20 So in Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt/Main 1983, §2 u.ö. 145
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
schen den beiden Gegenbegriffen der Natur und der Welt, insofern er in der Antike beschreibt, was man herstellen kann, weil man über die dafür erforderlichen Mittel und Ursachen im Gegensatz zu Kultur und Natur verfügt (»Kunst«), und in der Moderne beschreibt, dass auch das Herstellbare in vielfältigen Beziehungen zur Umwelt steht und nur dann funktioniert, wenn diese Umwelt mitspielt, zumindest aber: nicht stört.21 Uns interessieren hier jedoch weder die Geschichte des Kulturbegriffs noch die Verschiebungen seiner Gegenbegriffe.22 Wir bleiben beim modernen Kulturbegriff und bei seinen soziologisch rekonstruierbaren Motiven. Die moderne Kultur ist die mit anderen vergleichbare und in diesem Vergleich als mit sich identisch zu würdigende Lebensform bestimmter Menschen in bestimmten Situationen. Sobald eine Lebensform mit anderen verglichen wird, wird Kultur bezeichnet und entsteht Kultur als das, was bezeichnet wird, und als das, woraus die Bezeichnung vorgenommen wird. Dies ist der Aspekt, der uns soziologisch am meisten interessiert: In welchem Verhältnis steht die Operation des Vergleichs zum Verglichenen? Ist der Vergleich weniger kultiviert als das Verglichene? Stellt man sich außerhalb der Reichweite der Kultur, wenn man einen Vergleich vornimmt? Man kennt ähnliche Fälle aus einer Praxis des Unterscheidens, innerhalb derer sich diejenigen, die eine Bezeichnung und Unterscheidung vornehmen, unbeobachtbar machen, indem sie sich selber nicht mitbezeichnen und mitunterscheiden. Linda R. Waugh hat dies für die Praxis der Bezeichnung von Frauen durch Männer nachgewiesen, in der der Mann als »Mensch« (man, homme) im unmarked space verschwindet, weil und während er die Frau als das zu Bezeichnende und zu Würdigende hervorhebt.23 Gewonnen hat hier wie so oft, wem es gelingt, nicht markiert zu werden. Im Fall der Kultur hat man ähnliche Versuche unternommen, die sich jedoch als Inszenierungen von »Hochkultur« immer nur eine Zeitlang und in eng umschriebenen, durch ihre eigene »Distinktion« ebenso geschützten wie bedrohten Milieus halten konnten und nur dann eine 21 Vgl. dazu nach wie vor lesenswert Hans Blumenberg: »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben: Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 7-54. 22 Vgl. jedoch Jörg Fisch: »Zivilisation, Kultur«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679-774; Dirk Baecker: »Kultur«, in: Karlheinz Barck/ Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe: Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3, Stuttgart 2001, S. 510-556. 23 Vgl. Linda R. Waugh: »Marked and Unmarked: A Choice between Unequals in Semiotic Structure«, in: Semiotica 38 (1982), S. 299-318. 146
D. BAECKER: ZUR KONTINGENZ DER WELTGESELLSCHAFT
längerfristige Chance hatten, wenn sie sich, wie in den antiken Hochkulturen, mit Formen der Feudalherrschaft, das heißt mit Formen der vererbbaren Zugehörigkeit zu sozial ungleichen Schichten, verbinden ließen. Der moderne Normalfall ist die Wechselseitigkeit der Kulturbeobachtung: Sagst du etwas über meine Kultur, sage ich etwas über deine. Die Situation der Kulturbeobachtung ist eine symmetrische Situation der Beobachtung zweiter Ordnung, in der jeder Kontingenzzuweisung sofort mit einer Retourkutsche begegnet werden kann und in der niemand nicht in jedem Moment als Beobachter beobachtet werden kann. Die Beobachtung eines Beobachters zielt auf dessen Unterscheidung und damit in jedem Moment auf die Möglichkeit, Dasselbe oder Anderes auch mit einer anderen Unterscheidung beobachten zu können, inklusive der Möglichkeit, das gerade noch Unterschiedene als unabhängig von Unterscheidung nicht Unterscheidbares zu beschreiben.24 Wer gerade noch zwischen Arbeit und Leben unterschied, um Termine für Letzteres zu finden, muss sich gleich anschließend mit einem Blick auf seinen Terminkalender vorhalten lassen, dass er das eine vom anderen gar nicht unterscheiden kann. Für die Moderne gilt demnach, dass sie jede Beobachtung einer Kultur entweder derselben Kultur (Kontakt der Kultur mit sich selbst) oder einer anderen Kultur (Kontakt mit einer anderen Kultur) zurechnet und auf diese Art und Weise die Beobachtung sowohl relativiert als auch identifiziert. Keine Kulturbeobachtung kommt ohne einen Index auf die in dieser Beobachtung vorausgesetzte eigene Kultur aus. Das muss auch der Kulturkritiker zu seinem Leidwesen immer wieder neu erfahren, dem es nicht gelingt, zu kritisieren, ohne sich selbst gleich mit zu kritisieren.25 Der Punkt der Einbettung jeder Kultur, von der wir wissen, in eine Struktur der Beobachtung zweiter Ordnung, ist jedoch vor allem deswegen so interessant, weil er eine Praxis der kulturellen Unterscheidung und kulturellen Beobachtung kondensieren lässt, die als den Bezugs24 Vgl. hierzu Elena Esposito: »Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche: Situationen offener Epistemologie, Frankfurt/Main 1991, S. 35-57. 25 So Theodor W. Adorno: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: ders., Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1955, S. 7-31; von hier aus wäre auch der Begriff der »Kulturindustrie« noch einmal neu zu lesen, wenn deren »kantischem Schematismus« nicht zuletzt auch der Kulturkritiker selber unterliegt. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main 1969, S. 128 ff., hier zit. S. 132. 147
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
punkt, von dem aus jeder Vergleich nur möglich ist, schließlich die Weltgesellschaft selber in Anspruch nimmt. Wenn jede kulturelle Beobachtung relativierbar und identifizierbar ist, dann haben diese Relativierung und Identifizierung ihren Ort nicht nur in der jeweiligen Kultur, die eine andere (oder sich selbst) beobachtet, sondern auch in der Differenz zwischen den Kulturen, die ein kulturell unbestimmter, aber gesellschaftlich bestimmter Ort ist. Man kann sich darüber streiten, ob die Weltgesellschaft aus der modernen Beobachtung der Kulturen oder die moderne Kultur aus der Weltgesellschaft entsteht. Entscheidend ist letztlich, dass die Operation der Beobachtung von Kultur sowohl einen Adressaten, die bezeichnete Kultur, als auch einen Träger, die Gesellschaft, hat. Gäbe es keine Anlässe für Situationen, in denen die Differenz der Kulturen sowohl festgestellt als auch relativiert wird, gäbe es weder das eine noch das andere, weder die moderne Kultur noch die Weltgesellschaft. Aus dem Rückblick der modernen gilt sogar für die antike Kultur, dass sie »nimmer dieselbe« ist, weil auch sie nur aus der Relation zum Anderen zu bestimmen war und alle Identität nur aus dieser Relation bezieht.26 Dass man zwischen den Kulturen wechseln kann, wenn auch nie so leicht wechseln kann, wie man vorher dachte,27 wird schon deswegen zum Inbegriff der modernen Kultur, weil in jeder Kultur der Bezug auf eine andere ja schon mit angelegt ist. Die »alternation« beziehungsweise das »displacement« werden zum Merkmal schlechthin sowohl des semiotischen Kulturbegriffs als auch der Verweigerung jeder Definition von Kultur in den cultural studies.28 Kultur wird zum shifter oder auch switch, die jeder Identifizierung mehr oder minder aufdringlich ihren Kontingenzverweis hinterher tragen. Niklas Luhmann gehört zu den Soziologen, die ein Gespür dafür haben, was dieser Kontingenzverweis etwa für Praktiken der Religion oder der Kunst bedeutet, die bislang gerade im Selbstverständlichen ihre Virtuosität entfalteten und
26 So Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit: Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts, herausgegeben von Hans Dietrich Irmscher, Stuttgart 1990, hier zit. S. 89; Kultur sei »différence avec soi«, sagt dann auch Jacques Derrida: L’autre cap, Paris 1991, S. 16. 27 Hier setzen dann »interkulturelle Kompetenzen« an, vgl. nur Milton J. Bennett (Hg.): Basic Concepts of Intercultural Communication: Selected Readings, Yarmouth, Me. 1998. 28 Vgl. Yuri M. Lotman/B. A. Uspensky: »On the Semiotic Mechanism of Culture«, in: New Literary History 9 (1978), S. 211-232; Stuart Hall: »Cultural Studies and its Theoretical Legacies«, in: Lawrence Grossberg/ Cary Nelson/Paula A. Treichler (Hg.), Cultural Studies, London 1992, S. 277-294. 148
D. BAECKER: ZUR KONTINGENZ DER WELTGESELLSCHAFT
nun jeder Möglichkeit beraubt sind, ins Unbestimmte (ins Göttliche oder Erhabene) zu verweisen, ohne sich sogleich wieder auf die eigene Unterscheidung hin vergleichen lassen zu müssen.29 Nur vor diesem Hintergrund ist die eminente Rolle zu verstehen, die »Nationen«, »Traditionen« und »Kulturen« als Bezugspunkte der Identifizierung und vermeintlich bestandsfesten Überhöhung von Wertsetzungen in einer Moderne spielen, die diese Bezugspunkte längst in die dynamische Auseinandersetzung der Weltgesellschaft um ihre eigene Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zurückübersetzt hat.30 Wenn Max Weber sagt, dass Kultur nur als »Wertung« denkbar ist,31 dann ist damit eben nicht das Ende allen Streits, sondern dessen Anfang bezeichnet: »What is culture? I take it to be an ongoing argument about rightness of choice. Following Pierre Bourdieu I take high culture to be an argument about taste, and I take low culture to be an argument about morals.«32 Aber selbst die Unterscheidung zwischen taste und morals hat nur ihren relativen Stellenwert. Sie unterfüttert einen weiteren Streit, in dem schließlich alle Kulturen zum Ferment der Selbstbeobachtung einer Weltgesellschaft werden, in der diese sich nur um den Preis zu fassen bekommt, dass sie sich laufend verfehlt. Deswegen hat Luhmann vorgeschlagen, die moderne Kultur als das Gedächtnis der Weltgesellschaft zu verstehen.33 Nicht ohne einen Anlass in der jeweiligen Gegenwart wird 29 Vgl. die entsprechenden Bemerkungen in Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1995, S. 398 (hier die berühmt gewordene Formulierung vom Begriff der Kultur als »eine[m] der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind«); und ders.: »Religion als Kultur«, in: Otto Kallscheuer (Hg.), Das Europa der Religionen, Frankfurt/Main 1996, S. 291-315 und 337-340. »›Es ist eigen‹, sagt auch Goethe mit deutlichem Epochenbewusstsein, ›ich habe doch so mancherlei gemacht und doch ist keins von meinen Gedichten, das im lutherischen Gesangsbuch stehen könnte.‹« So in Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, herausgegeben von Otto Schönberger, Stuttgart 1994, S. 206. 30 Vgl. nur Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1984; Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 2. Aufl., London 1991; Terry Eagleton: The Idea of Culture, Oxford 2000. 31 So Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, herausgegeben von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, S. 146-214, hier S. 175. 32 So Mary Douglas: »A Typology of Cultures«, in: Max Haller/Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny/Wolfgang Zapf (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, Zürich 1988, Frankfurt 1989, S. 85-97, hier S. 89. 33 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt/Main 1997, S. 586 ff. 149
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
unter dem Gesichtspunkt der Kultur erinnert und vergessen, was man einmal hierzulande oder andernorts für richtig oder falsch hielt, und wird neu gefasst und festgehalten, wofür man sich auch in der Zukunft eine entsprechende Aufmerksamkeit wünscht. Zum Gedächtnis eignet sich die Kultur deswegen, weil ihrem Vergleich einerseits nichts entgeht, aber auch nicht alles auffällt, und weil der Vergleich andererseits noch nichts bedeutet und in genau dieser Form seine Wirkung entfaltet. Das Gedächtnis eines Systems begleitet dessen Operationen, ohne diese Operationen dirigieren zu können. Es stellt sich quer zum Ablauf der Zeit, die währenddessen jedoch weiter abläuft.34 Es gibt Beobachtern Rätsel auf oder auch Erinnerungsmarken an die Hand, ohne dass sich daraus schließen lässt, welche Handlungen gleich anschließend vorgenommen werden. Die Irrelevanz gerade der intimen Kulturverbundenheit für die Selektion von Handlungen ist ein oft zitierter Topos einer Kulturtheorie, die um die Nachbarschaft kultivierter Kontemplation und barbarischer Handlung nicht erst aus der Beobachtung des Familienlebens der SSSchergen weiß.35 Das erübrigt die Funktionalität des Gedächtnisses und damit der Kultur jedoch nicht, sondern beschreibt sie nur. Wir halten deswegen als eine weitere Spezifikation unserer Operation Kultur im Rahmen einer Spencer-Brown-Gleichung fest, dass der Vergleich der Kulturen seinerseits nicht beliebig ist, sondern im Kontext einer Gedächtnisfunktion der Gesellschaft stattfindet:
Kulturmodern = Lebensform Vergleich Gedächtnis
Im folgenden Abschnitt nehmen wir diese zusätzliche Spezifikation wieder auf, um genauer nach der Funktion der Kultur in der Weltgesellschaft fragen zu können.
34 Vgl. zu diesem Akzent Aleida Assmann: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997. Dass ein Gedächtnis nicht nur über die Möglichkeit der Erinnerung, sondern auch des Vergessens verfügt; unterstreichen Niklas Luhmann: »Zeit und Gedächtnis«, in: Soziale Systeme: Zeitschrift für soziologische Theorie 2 (1996), S. 307-330; und Elena Esposito: Soziales Vergessen: Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt/Main 2002. 35 Vgl. allgemein Heiner Mühlmann: Die Natur der Kulturen: Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien 1996. 150
D. BAECKER: ZUR KONTINGENZ DER WELTGESELLSCHAFT
III. Nach der Funktion der Kultur in der Weltgesellschaft können wir nur fragen, wenn wir konsequent auf der Ebene einer soziologischen Theorie der Kultur und hier insbesondere einer Gesellschaftstheorie der Kultur argumentieren. Im Einzugsbereich der Kulturwissenschaften ist dies nach wie vor ungewöhnlich. Man zieht es vor, den Kulturbegriff für die Beobachtung manifester Phänomene zu reservieren, die auf latente Probleme verweisen, so wie das kulturelle Ritual eines Begräbnisses im Allgemeinen und der Skelettierung im Besonderen nicht nur Zeichen der Trauer und der Erinnerung an die Stelle des verlorenen Lebens treten lässt, sondern diesen Zeichen darüber hinaus Priorität gegenüber dem, was sie bezeichnen, einräumt.36 Dieser Denkfigur einer Differenz manifester Phänomene und latenter Probleme können wir uns anschließen, doch stellt sich sofort im Anschluss die Frage, worauf das Manifeste und das Latente jeweils zugerechnet werden. Möglicherweise liegen die Vorteile der kulturwissenschaftlichen Position darin, dass sie diese Zurechnungsfrage offen halten kann und die latenten Funktionen der Kultur sowohl in den psychischen Haushalten der Individuen als auch in Symbolen vermuten kann, die letztlich auf nichts anderes verweisen als darauf, dass es nichts gibt, worauf zu verweisen wäre.37 Die Soziologie würde jedoch auch hier dazu neigen, diesem Verständnis einer latenten Funktion der Kultur seinerseits eine latente Funktion zuzuweisen, nämlich diejenige, von der Gesellschaft abzulenken, deren Reproduktionsproblem nicht anders gelöst werden kann als in der Differenz von Diskontinuität, Abbruch und Abschied einerseits und Kontinuität, Wiederholung und Fortsetzung andererseits und die deswegen in jedem einzelnen Ereignis der Reproduktion das eine tun und das andere abblenden muss.38
36 Mit diesem Beispiel: Thomas Macho: »Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich«, in: Jan Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie: Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten, Frankfurt/Main 2000, S. 89-120, insbes. S. 120. 37 Vgl. zur Traumarbeit als Arbeit am Verdrängten: Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt/Main 1991, S. 284 ff.; und vgl. zu symbolischen Formen Christine Magerski: »Die Wirkungsmacht des Symbolischen: Von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zu Bourdieus Soziologie der symbolischen Formen«, in: Zeitschrift für Soziologie 34 (2005), S. 112-127. 38 Vgl. zum Begriff der Latenz Robert K. Merton: »Manifest and Latent Functions«, in: ders., Social Theory and Social Structure, revised and enlarged edition, New York, London: 1968, S. 73-138; Niklas Luhmann: »Wie lassen sich latente Strukturen beobachten?«, in: Paul Watzla151
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
Für diese soziologische Position steht die »wissenschaftliche Theorie der Kultur«, die Bronislaw Malinowski entwickelt hat.39 Malinowski arbeitet nicht mit dem Begriff der Latenz, aber es fällt angesichts seiner Option für einen Kulturbegriff, der Phänomene des Organischen, Psychischen und Sozialen zugleich übergreift und vom Sozialen her denkt, nicht schwer, die Kultur als ein »Mittel zum Zweck«40 zu verstehen, dem sowohl die Mittel als auch der Zweck in jedem einzelnen Moment eher rätselhaft als evident sind. Die Kultur der Menschen, so Malinowski, ist ein Ergebnis der Art und Weise, wie es den Menschen gelungen ist, mit ihren eigenen organischen und psychischen Bedingungen im Zusammenhang eines Sozialen zurande zu kommen, das auf diese Bedingungen ebenso sehr Rücksicht nehmen wie ihnen eine Form geben muss, die sich als Gesellschaft bewährt. Im Symbol bekommt der Trieb seinen kulturellen Wert, wenn unter diesem kulturellen Wert eine Form der Moderation und des Managements verstanden wird, die diesen Trieb unter der Bedingung seiner (aufgeschobenen) Erfüllung zugleich domestiziert und als solchen pflegt.41 Die Kultur ist so das manifeste Gedächtnis einer Gesellschaft, die die latenten Inhalte ihrer eigenen Reproduktion im Medium des Organischen und Psychischen in den Kontext regional und historisch verschiedenartiger Lösungen dieses Reproduktionsproblems derart setzt, dass die Notwendigkeit der Reproduktion mit Kontingenz und damit mit Reflexionschancen auf alternative Optionen angereichert wird. Nichts versteht sich weniger von selbst als ein solch verwickelter Gedanke.42 Aber nur hieraus lässt sich ein zureichendes Verständnis von Kultur im Sinne einer Funktion gewinnen, die nichts Geringeres formuliert als die Interdependenz der unabhängigen Variablen Gesellschaft, Körper und Be-
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wick/Peter Krieg (Hg.), Das Auge des Betrachters: Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster, München 1991, S. 61-74. Vgl. Bronislaw Malinowski: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze, aus dem Englischen von Fritz Levi, Frankfurt/Main 2005. Ebd, S. 103. So Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders., Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt/Main 1994, S. 29-108; und mit einer einschlägigen Studie Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, 3 Bde, aus dem Französischen von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/Main 1977 und 1986. Vgl. jedoch für Anhaltspunkte für diesen Gedanken neben der Anthropologie und Soziologie Malinowskis in der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins noch einmal: Stanley Cavell: Declining Decline: Wittgenstein as a Philosopher of Culture, a.a.O.
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D. BAECKER: ZUR KONTINGENZ DER WELTGESELLSCHAFT
wusstsein, zur Einheit gebracht im schon deswegen »plastischen«, aber auch fragilen Menschen.43 Um die Latenz festzuhalten und für die Analyse kultureller Zusammenhänge so fruchtbar zu machen, wie es Clifford Geertz in vermeintlichem Abstand zur funktionalen Theorie Malinowskis eindrucksvoll vorgeführt hat,44 bietet es sich an, die Kulturtheorie nicht nur soziologisch und nicht nur funktional, sondern überdies auch evolutionär zu formulieren.45 Denn dies schildern Malinowski wie Geertz und Plessner wie Leroi-Gourhan: einen evolutionären Zusammenhang der selektiven Auseinandersetzung mit Variationen menschlichen und sozialen Verhaltens, in dem die Restabilisierung nur solange gelingt, wie Variation und Selektion zirkulär und nicht linear gefasst werden. Das heißt, wir haben es mit kulturellen »Institutionen« (Malinowski) zu tun, die sich als Eigenwerte menschlichen Verhaltens im Modus der rekursiven Reproduktion dieses Verhaltens bewähren,46 ohne je eine Entscheidung darüber zu treffen, ob es das Organische ist, das das Soziale bedingt, oder umgekehrt. An die Stelle einer solchen unmöglichen Entscheidung tritt das rätselnde Bewusstsein selber, das sich in jedem Moment lieber auf eine wahrnehmbare Welt verlässt als den Bedingungen der eigenen Wahrnehmung nachzuforschen. Die Synthese des Netzwerks aus Institutionen unterschiedlicher Art verdankt sich, wie dies die Philosophie und die Mathematik unisono formulieren, jenen Vorurteilen, die in der Lage sind, sich über sich selber zugunsten neuer Vorurteile aufzuklären.47 Denn nur das Vorurteil beziehungsweise jene »temporale Form«, die um ihre eigenen Aus-
43 Vgl. in diesem Sinne auch Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung in die philosophische Anthropologie, 2., um Vorwort, Nachtrag und Register erw. Aufl., Berlin 1965; sowie André Leroi-Gourhan: L’Homme et la Matière, Paris 1943; sowie ders.: Le Geste et la Parole, Paris 1964-65. 44 Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, aus dem Englischen von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, Frankfurt/Main 1987. 45 Im Sinne einer neodarwinistischen Evolutionstheorie, wie formuliert von Donald T. Campbell: »Variation and Selective Retention in Socio-Cultural Evolution«, in: General Systems 14 (1969), S. 69-85. 46 Im Sinne von Heinz von Foerster: »Gegenstände: greifbare Symbole für (Eigen-)Verhalten«, in: ders., Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, herausgegeben von Siegfried J. Schmidt, Frankfurt/Main 1993, S. 103-115. 47 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 270 ff.; und Louis H. Kauffman: »Network Synthesis and Varela’s Calculus«, in: International Journal of General Systems 4 (1978), S. 179-187. 153
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
schlüsse weiß, kann den funktional wie evolutionär unbestimmten Zusammenhang von Körper, Bewusstsein und Gesellschaft mit jenen Bestimmungen anreichern, mit denen man jeweils einen Schritt weiter kommt in der Reproduktion Desselben. Wir ergänzen unsere Spencer-Brown-Gleichung daher um eine weitere Variable:
Kulturmodern = Lebensform Vergleich Gedächtnis Evolution
All das macht die Kulturtheorie nicht wirklich einfacher. Aber es erhellt vielleicht, worum es auch dann geht, wenn so Vieles im Dunklen bleibt. Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn haben bereits vorgeschlagen, manifeste wie latente Phänomene der Kultur nicht in simple Oppositionen zu pressen, sondern mindestens ternäre, wenn nicht quaternäre Operationen der Inanspruchnahme und Distanzierung von Kausalität anzunehmen.48 Und auch die Anthropologie legt mehr Wert auf die Beobachtung und Formulierung von Übergangsproblemen zwischen dem Verschiedenartigen als auf die Ordnung des schon lange nicht mehr Eindeutigen.49 Man kann sich die Kultur als einen Rechner vorstellen, der laufend nichts anderes errechnet als evolutionäre Reproduktionschancen des Sozialen, Körperlichen und Psychischen im Kontext des Sozialen, Körperlichen und Psychischen,50 und daraus eine ökologische Funktionalität gewinnt, die in keinem Moment unabhängig von den Lebensbedingungen auf einer Erde zu denken ist, mit denen diese Kultur so großzügig umgeht.
IV. Wir geben unserer Skizze zum Abschluss eine konkrete Wendung. Georg Krücken hat mit Hilfe einer Zusammenstellung mehrerer Aufsätze von John W. Meyer den Vorschlag gemacht, von einer »Weltkultur« 48 Vgl. Alfred L. Kroeber/Clyde Kluckhohn: Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, Reprint, New York 1963, S. 331. 49 So vor allem Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I, aus dem Französischen von Hans Naumann, Frankfurt/Main 1978, hier insbes. S. 148 ff.; Edmund Leach: Kultur und Kommunikation: Zur Logik symbolischer Zusammenhänge, aus dem Englischen von Eberhard Bubser, Frankfurt/Main 1979. 50 Ähnlich, allerdings unter Bezug auf Sinndimensionen des Sozialen, bereits Dirk Baecker: »Kultur«, a.a.O., S. 511f. 154
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immer dann zu sprechen, wenn man beobachten kann, wie »westliche Prinzipien« der Gestaltung von Politik und Wirtschaft, Arbeit und Familie, Religion und Erziehung in den verschiedenen Regionen der Weltgesellschaft kopiert werden, ohne dass diesen zwangsläufig eine diesen Prinzipien auch folgende Praxis entsprechen müsste.51 Wie ernst dieser Vorschlag gemeint ist, weiß man nicht so recht, denn sowohl John W. Meyer in seinen Aufsätzen als auch Georg Krücken in seinem Nachwort sprechen wohlweislich lieber von einer »world polity« als von einer »Weltkultur«, wenn es darum geht, das Verhältnis zwischen regionalen Praktiken einerseits und als »rational« dargestellten Prinzipien andererseits zu beschreiben. Das Phänomen, um das es hier geht, hat zwar interessanterweise auch Spielraum für die Möglichkeit, dass diese Prinzipien an der Peripherie ernster genommen werden als im Zentrum,52 aber das ändert nichts daran, ja unterstreicht, dass der für die Kultur der Weltgesellschaft interessante Befund weniger im Erfolg der »westlichen Prinzipien« als vielmehr in der losen Kopplung zwischen diesen Prinzipien und der ihnen nicht entsprechenden Praxis besteht. Von einer »world polity« ist die Rede, um die Frage stellen zu können, welche Form die Politik in einer Weltgesellschaft hat, die zwar eine Weltpolitik, aber keinen Weltstaat kennt. Die Politik der Weltgesellschaft findet in der Form eines segmentär differenzierten politischen Systems statt, das in jedem seiner Segmente einen Staat und je nach Verfassung mehrere auf diesen Staat bezogene politische Parteien, parlamentarische Organe, Verwaltungsbehörden und militärische Einrichtungen kennt, die sich jeweils an territorialen Grenzen orientieren, an denen die Einflussmöglichkeiten des einen Staates aufhören und die eines anderen anfangen.53 Eine die territorialen Grenzen sowohl übergreifende als auch unterlaufende Freund/Feind-Unterscheidung regelt, in welchem Umfang die Politik der Gesellschaft auf diese Staaten zur Ordnung und »Hegung« möglicher und unmöglicher Beziehungen zurückgreift.54 51 Vgl. John W. Meyer: Weltkultur: Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, herausgegeben von Georg Krücken, aus dem Amerikanischen von Barbara Kuchler, Frankfurt/Main 2005; und das Nachwort von Georg Krücken: Der »world-polity«-Ansatz in der Globalisierungsdiskussion, in: ebd., S. 299-318. 52 Vgl. ebd., S. 147; zur Differenz von »talk« und »action« vgl. Nils Brunsson: The Organization of Hypocrisy: Talk, Decision and Actions in Organizations, Chichester 1989. 53 Vgl. Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, herausgegeben von André Kieserling, Frankfurt/Main 2000. 54 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen: Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 7. Aufl., Berlin 2002. 155
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
Meyers These ist es nun, dass die westliche und christliche Weltkultur in der Beziehung an die Stelle eines Weltstaates tritt, dass sie Standards vorgibt, wie eine als rational darstellbare Politik und Wirtschaft, Erziehung und Religion, Kunst und Wissenschaft in den einzelnen territorial gefassten Regionen der Weltgesellschaft auszusehen hat, wenn diese Regionen Anspruch darauf erheben, an der Kommunikation der Weltgesellschaft teilzunehmen, beziehungsweise, hegemonial formuliert, wenn es der Weltgesellschaft und einzelnen als deren Agent auftretenden Staaten gelingt, die Bedingungen zu diktieren, unter denen diese Teilnahme an der Kommunikation der Weltgesellschaft möglich ist. Regionale Gemeinschaften formieren sich als »Nationen«, um nach außen und nach innen sowohl den Anspruch auf die Teilnahme an der Kommunikation der Weltgesellschaft als auch die jeweilige Besonderheit der Region, die dieser Teilnahme ihr Profil gibt, kommunizieren zu können. Den »westlichen« und »christlichen« Charakter dieser Weltkultur erkennt man daran, dass sie im Wesentlichen auf Identitätskonzepten von Individuen, Organisationen und Nationen beruht, die jeweils als Akteure gefasst werden und die als diese Akteure durch einen Agentenstatus gerahmt werden, der es erlaubt, jede ihrer Handlungen auf einen »Zweck« zu beziehen, der entweder verfolgt oder verfehlt wird und der entweder hinreichend bekannt oder erst noch durchzusetzen ist.55 Meyer erkennt hierin die Nachwirkungen einer im Wesentlichen griechischen und dann vor allem römischen Konzeption von Teleologie und Souveränität, die eher in Jerusalem entwickelte Auffassung einer »systemischen Autorität« in den Hintergrund drängt und damit Gefahr läuft, die instrumentell gesetzten und verfolgten Zwecke bereits für die ganze Wirklichkeit zu halten.56 Es mag sein, dass Meyer mit diesen Ideen die Beschreibung der Weltkultur an aristotelische Bedingungen knüpft, die für die Schriftkultur der Antike ihre Gültigkeit hatten, jedoch spätestens in der Buchdruckkultur der Moderne überholt werden und in der Computerkultur der Gegenwart möglicherweise nur noch eine sentimentale, wenn auch deswegen nicht weniger wirkungsvolle Erinnerung sind.57 Das ändert jedoch nichts daran, dass die Rationalitätsfigur dieser Konzeption von Teleologie eine Rolle in der Selbstbeschreibung von Anschlussfiguren der Kommunikation in der Weltgesellschaft spielt, die durch eine ebenso systemische wie strategische Einbettung dieser Rationalitätsfigur eher 55 Vgl. John W. Meyer: Weltkultur, a.a.O., S. 47 ff. 56 Vgl. ebd., S. 133 ff. und insbes. S. 160 f. 57 Siehe zum Vergleich der Schrift-, Buchdruck- und Computerkultur der Gesellschaft Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt/Main 2007. 156
D. BAECKER: ZUR KONTINGENZ DER WELTGESELLSCHAFT
unterstrichen als konterkariert wird,58 und dass dieser Umstand das Phänomen erklärt, von dem Meyer ausgeht. Von einer »Weltkultur« spricht Meyer, um die erstaunliche Uniformität zu erklären, mit der weltweit Politik und Wirtschaft, Erziehung und Wissenschaft, Kunst und Religion einem Drehbuch zu folgen scheinen, das von politischen Verfassungen über formalisierte Unternehmensorganisationen und allgemeinen Schulzwang bis zur Emanzipation der Frau, das ästhetische Interesse an Neuheit und Bemühungen um Gesundheit und Umweltschutz überall dieselben Zwecke setzt und verfolgt, auch wenn lose Kopplungen zwischen höheren Prinzipien und tatsächlichen Praktiken dafür sorgen, dass die regional abweichenden Verhältnisse trotzdem zu ihrem Recht kommen.59 Diese Weltkultur ist die politische Ordnung einer Gesellschaft, in der sich Gemeinschaften unterschiedlicher Art formieren, um die Bedingungen ihrer Teilnahme an der Weltgesellschaft auszuhandeln und durchzusetzen. Und wenn die Politik der einzelnen Nationen diesen Teilnahmebedingungen hinterherhinkt, bilden sich weltgesellschaftlich beziehungsweise, wie man dann gerne sagt, »zivilgesellschaftlich« verankerte Akteure außerparlamentarischer Art, die von den Regierungen der einzelnen Nationen eine bessere Durchsetzung der Prinzipien verlangen und zugleich ihrerseits von den losen Kopplungen profitieren, mit denen diese Prinzipien im Alltag der Regionen ihre Durchsetzungskraft verlieren. Wir übernehmen die in diesem Konzept der Weltkultur steckende Phänomenologie der Weltgesellschaft, schlagen jedoch vor, den Kulturbegriff aus diesem Konzept wieder herauszulösen und statt dessen, wie es Meyer ja auch meistens tut, von einer »world polity«, einer nicht staatlich verankerten, aber sich an Staaten orientierenden Weltpolitik zu reden, für die neben Behörden und Parlamenten, Armeen und Parteien auch nichtregierungsamtliche Organisationen, Protestbewegungen und terroristische Gruppen als Akteure in Frage kommen. Nicht zuletzt rücken auch Formen der Kulturpolitik, die sich auf nationale Aufgaben der Entwicklung und Durchsetzung einer »Kulturindustrie« beziehen,60 in den Einzugsbereich einer Weltpolitik, der es eben auch insofern um die Herausbildung nationaler Identitäten geht, als diese Identität im Zusammenhang der Weltgesellschaft auch künstlerisch wiedererkannt werden und durch ein ästhetisches Bewusstsein jener Teile der Bevölkerung, die 58 Siehe zum Vergleich griechischer und chinesischer Weisheitslehren François Jullien: Über die Wirksamkeit, aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1999. 59 Vgl. vor allem John W. Meyer: Weltkultur, a.a.O., S. 85 ff. 60 Vgl. zum Exempel Mark Siemons: »Markt und Mao«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Mai 2006, S. 37. 157
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
als Angestellte, Touristen und Ehepartner weltgesellschaftlichen Anschluss suchen, gedeckt sein muss. Das erspart es uns jedoch nicht, den Kulturbegriff für die Weltgesellschaft auf einer Ebene zu formulieren, die eine bestimmten Kulturmustern, nämlich »westlichen« und »christlichen« Kulturmustern folgende Weltpolitik, in den Kontext einer Weltgesellschaft setzt, die zugleich und nach wie vor über andere Kulturmuster verfügt. Andernfalls riskiert man einen Rückfall in eine antike Kulturkonzeption, die dann wieder nach »Menschen« und »Barbaren« unterscheidet und der Rücksichtslosigkeit dieser Unterscheidung allenfalls ethnologisch und folkloristisch gegensteuert. Diese Korrektur zugunsten eines Auseinanderziehens von Weltpolitik und Weltkultur ist nicht zuletzt jedoch auch deswegen erforderlich, um gesellschaftlicher Entwicklungen nicht nur an der Peripherie, sondern auch im Zentrum der Weltgesellschaft Rechnung tragen zu können. Auch hier müssen wir mit dem Auftreten von »Akteuren« rechnen können, die sich den Drehbüchern nicht fügen, die auf sie warten und sie zu »Agenten« einer bereits vorentschiedenen »Weltkultur« zu machen versuchen.61 So sehr diese normative, an Talcott Parsons erinnernde Auffassung von Kultur ihren Gebrauchswert für die empirische Sozialforschung in vielen Fällen hat, so wenig ist der Kulturbegriff seinerseits an diese vorentschiedene Normativität zu binden, sondern sowohl für die Kritik und Reflexion als auch für die Evolution normativer Konzepte freizuhalten. Wir halten deswegen an einem Begriff der Kontingenzkultur auch und gerade für die Weltgesellschaft fest und schlagen vor, als Bezugspunkt für die Formierung von Weltkultur nicht das Problem der politischen Ordnung der Weltgesellschaft anzunehmen, sondern darüber hinausgreifend und diese politische Ordnung einbeziehend den Welthorizont als solchen in den Blick zu nehmen.62 Die »Welt« der Weltgesellschaft ist jener Horizont des Vergleichs lokaler mit globalen Möglichkeiten, die die Selektion jeder Kommunikation und Handlung vor Ort mit einem Alternativenwissen ausstattet, das politisch ebenso wie wirtschaftlich, rechtlich ebenso wie religiös, wissenschaftlich ebenso wie erzieherisch, künstlerisch ebenso wie medizinisch in jedem einzelnen Fall immer erst abgearbeitet werden muss, bevor die Selektion sich auf ihren »Geltungsanspruch« berufen und in diesem Rahmen für »begrün61 Vgl. für eine im Verhältnis zu Meyers Begriffen etwas offenere Netzwerktheorie des Akteurs Bruno Latour: »On Actor-Network Theory: A Few Clarifications«, in: Soziale Welt 47 (1996), S. 369-381. 62 So der Vorschlag von Niklas Luhmann: »Die Weltgesellschaft«, in: ders., Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, 2. Aufl., Opladen 1982, S. 51-71. 158
D. BAECKER: ZUR KONTINGENZ DER WELTGESELLSCHAFT
det« halten darf.63 Unter dem Gesichtspunkt der »Kultur« werden dann gerade nicht jene Werte und Normen festgehalten, auf denen man auch im Enttäuschungsfalle zu bestehen geneigt ist und ermutigt wird, sondern wird beschrieben und verstanden, dass kognitive, also lernfähige, und normative, also enttäuschungsfeste Erwartungen in einem weltgesellschaftlichen Zusammenhang die beiden Seiten derselben Medaille sind. Als Kultur wird nicht die Identität der Werte und Normen im Kontext einzelner Regionen und Nationen, sondern ihre Differenz im Kontext der Reproduktion der Weltgesellschaft notiert, eine Differenz, die sich schon deswegen in jedem einzelnen Fall dem raschen Verständnis entzieht, weil sie historisch und damit nicht-trivial begründet ist.64 Wir erweitern deswegen unsere Spencer-Brown-Gleichung ein weiteres und letztes Mal, indem wir die Weltgesellschaft in diese Gleichung mit aufnehmen:
Kulturmodern = Lebensform Vergleich Gedächtnis Evolution Weltgesellschaft
Man sieht die Lebensform »ächzen« unter ihrer inzwischen fünffachen Determination durch die Kontexte des Vergleichs (immer auch: des Unvergleichbaren), des Gedächtnisses (Erinnerung und Vergessen), der Evolution (und ihrer zirkulären Bestimmung von Variation, Selektion und Retention) sowie der Weltgesellschaft (als Horizont eines Wiedereintritts der Unterscheidung zwischen kognitiven und normativen Erwartungen in die Form der Gesellschaft), ganz zu schweigen von der mitlaufenden Reflexion auf die unbestimmte Außenseite der Form, aber nur so und angesichts einer mit sechs Variablen (inklusive unbestimmter Außenseite) immer noch relativ simplen Form beginnt man beobachten zu können, was in jeder einzelnen Situation als Kultur gelten kann und als Kultur Bestand hat. Wir formulieren diesen Begriff einer modernen Kontingenzkultur als Begriff zur Beschreibung des Eigenwerts der Reproduktion dieser Kultur in der Weltgesellschaft,65 das heißt wir arbeiten wie Meyer mit einem 63 Vgl. zur Begrifflichkeit der Geltungsansprüche Jürgen Habermas: Die Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt/Main 1981, S. 410 ff. 64 So, mit Berufung auf Nietzsche, Roland Robertson: Globalization: Social Theory and Global Culture, London 1992, S. 33. 65 Zum Begriff des Eigenwerts vgl. Heinz von Foerster: »Epistemologie der Kommunikation«, in: ders., Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, 159
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
Verständnis von loser Kopplung, das das Kondensieren der Weltkultur zu diesem Eigenwert in ein Verhältnis zum gleichzeitig festzustellenden Chaos, das heißt zur Unvorhersehbarkeit, Nichtlinearität und Nichttrivialität des Gesamtsystems der Weltgesellschaft setzt. Aber anders als Meyer plädieren wir dafür, dieses Chaos nicht etwa auszublenden und sich gleichsam von selbst erledigen zu lassen, sondern in der Form selbst mit in den Blick zu nehmen und für eine Quelle von Innovation zu halten.66 Daraus resultiert dann nicht zuletzt auch ein Verständnis von Kulturreflexion im Unterschied zur Kulturkritik. Glaubte die Kulturkritik, getragen von einem angesichts der Unmöglichkeit dieses Unterfangens mehr oder minder unglücklichen und allenfalls destruktiv übermütigen Bewusstsein,67 dass es zu jeder Kultur ein Außen gibt, von der aus sie insgesamt in den Blick genommen, als Einheit beschrieben und dann auch kritisiert (im Sinne von: abgelehnt) werden kann, so geht die Kulturreflexion davon aus, dass jede Beschreibung der Kultur innerhalb der Kultur stattfindet und somit auf den, der die Beschreibung anfertigt, ebenso zutrifft wie auf den, von dem die Beschreibung handelt. Das rückt die Kulturreflexion vor allem dann, wenn Kultur nicht mehr antik als Pflege und Sorge, sondern modern als Vergleich und Kontingenzzumutung verstanden wird, in die Verantwortung, mit diesem Vergleich und dieser Kontingenzzumutung so dosiert umzugehen, wie es der jeweiligen sozialen Situation angemessen erscheint. Diese Angemessenheit bemisst sich nicht nur an den Ansprüchen eines kulturellen Vergleichs, sondern auch an den Ansprüchen der gesellschaftlichen Reproduktion, die weniger leicht zu bestimmen sind, sondern meist im Latenzbereich der Gesellschaft liegen. Den Test auf das erforderliche Maß an Dosierung und damit auf die mögliche Reichweite der Kulturreflexion kann man jederzeit selber machen, indem man sich fragt, was man mit einer Beobachtungsformel wie dem Ausruf »Wie interessant!« jeweils gewinnt und jeweils verliert.68 Mit dieser Formel kann man stören und ehren. Wo sie ehrt, hat man es mit einem bereits kulturell gefassten Selbstverständnis zu tun, wo sie stört, mit der Lösung eines Problems der gesellschaftlichen Reprodukherausgegeben von Siegfried J. Schmidt, Frankfurt/Main 1993, S. 269281. 66 So auch Kunihiko Kaneko: »Chaos as a Source of Complexity and Diversity in Evolution«, in: Artificial Life 1 (1994), S. 163-177; und vgl. Edgar Morin: »Complexity«, in: International Social Science Journal 26 (1974), S. 555-582. 67 Im Sinne von Walter Benjamin: »Der destruktive Charakter«, in: ders., Illuminationen: Ausgewählte Schriften, Frankfurt/Main 1961, S. 310-312. 68 Vgl. hierzu Dirk Baecker: Wozu Kultur?, a.a.O., S. 46 ff. 160
D. BAECKER: ZUR KONTINGENZ DER WELTGESELLSCHAFT
tion. Die Kulturreflexion steht deswegen mit einem Bein in der munteren Neugier der Kulturwissenschaften an allem und jedem und mit dem anderen Bein im philosophischen Bewusstsein um die Klugheit des Schweigens, beziehungsweise, traditionell formuliert: des Takts.69 Zählt man das eine zum anderen und hält beides dennoch auseinander, bekommt man es mit einer soziologischen Theorie der Gesellschaft zu tun, die mit gutem Grund in der Wissenschaft entwickelt und so formuliert wird, dass sie nicht umstandslos und überall zum Einsatz kommen kann. Denn sie rechnet mit einer Weltgesellschaft, die die Kontingenzzumutungen der Weltkultur ebenso sehr auf Abstand halten wie pflegen muss. Die Weltkultur der Weltgesellschaft lässt sich vielleicht am besten als eine Ressource der Unverständlichkeit verstehen.70 Sie muss zur Verfügung stehen, um allzu rasches Verstehen dort zu blockieren, wo kommunikative Anschlüsse andernfalls nicht zu gewinnen sind. Sie muss aber auch in Grenzen gehalten, gleichsam durch die Zumutung der Annahme von Selbstverständlichkeiten gerahmt werden, um auch dort eine Kommunikation zu ermöglichen, wo diese die dafür hinreichenden Suggestionen an Verständlichkeit jeweils erst ausprobieren muss.
69 Vgl. zum philosophischen Respekt vor der Differenz von Kontingenz und Beliebigkeit Dirk Rustemeyer: Sinnformen: Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral, Hamburg 2001. 70 Durchaus im romantischen Sinne, vgl. Friedrich Schlegel: »Über die Unverständlichkeit«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, herausgegeben von Ernst Behler u.a., Bd. 2, herausgegeben von Hans Eichner, Paderborn 1967, S. 363-372. 161
Die Kultur der Neuzeit im Spiegel der historischen Forschung FRIEDRICH JAEGER
Seit mehr als zwei Jahrzehnten hat eine rasche Abfolge von cultural turns die heuristischen Perspektiven, methodischen Zugriffe und theoretischen Grundlagen der kulturhistorischen Forschung nachhaltig verändert. Welche Konsequenzen besitzen diese Entwicklungen für die historische Erschließung der europäischen Kulturgeschichte der Neuzeit von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Aufkommen der Moderne seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Welche Kulturbegriffe bieten sich an und welche Theorieangebote stehen bereit? Und vor allem: Welche geschichtlichen Phänomene und Entwicklungen geraten in den Blick und erweisen sich in der Neuzeitforschung der letzten Jahre von großer Bedeutung? – Dies sind die Fragen, die im Zentrum des folgenden Beitrags stehen. Er beabsichtigt nicht, die Kulturgeschichte der Neuzeit narrativ darzulegen; vielmehr sollen in konzeptioneller Absicht sowie in Anknüpfung an gegenwärtige Debatten um die Kulturgeschichte1 leitende Gesichtspunkte und inhaltliche Schwerpunkte der aktuellen Neuzeitforschung skizziert werden.
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Als aktuelle Beiträge zu konzeptionellen Fragen der Kulturgeschichte vgl. etwa Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt/Main 2005 (engl. Orig. 2004); Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien – Praxis – Schlüsselwörter, Frankfurt/Main 2004; Friedrich Jaeger: »Was ist eine historische Kulturwissenschaft?«, in: Iris Därmann/Christoph Jamme (Hg.), Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, München 2007; Silvia S. Tschopp/Wolfgang E.J. Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007. 163
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
Mit Blick auf die Gegenwart ist seit den 1980er Jahren in den Geisteswissenschaften eine internationale Konjunktur des Kulturbegriffs zu konstatieren.2 In einer raschen Abfolge von cultural turns3 rücken immer wieder neue Forschungskonzepte und methodische Zugriffe ins Blickfeld. Diese neueren Ansätze erweisen sich mit Blick auf die konzeptionelle Erschließung der neuzeitlichen Kultur und der kulturhistorischen Forschung unter vier Gesichtspunkten als heuristisch fruchtbar, entlang derer im Folgenden Grundstrukturen der neuzeitlichen Kultur europäischer Gesellschaften herausgearbeitet werden sollen: 1. Zunächst fällt neues Licht auf Kultur als Inbegriff der mentalen Vorgänge, in denen Menschen ihre Welt und Erfahrungen deuten und interpretieren.4 Nach einer bekannten Formulierung Max Webers ist Kultur der Vorgang, »bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen«.5 Den Menschen sind die Phänomene ihrer Welt also nicht einfach ›gegeben‹, sondern ›aufgegeben‹. Sie ›sind‹ nicht nur, sondern ›bedeuten‹ etwas und müssen daher ›als etwas‹ bestimmt werden. Diese Deutung von Realität erfolgt in Medien der Sinnbildung, die Ernst Cassirer am Beispiel von Sprache, Mythos, Kunst und Wissenschaft als symbolische Formen der kulturellen Welterschließung voneinander abgegrenzt hat.6 In der Neuzeit bildeten sich diese Formen innerhalb der religiösen, ästhetischen und kognitiven Kultur zu autonomen und funktional ausdifferenzierten Instanzen der kulturellen Deutung aus, die im Zentrum des ersten Abschnitts stehen sollen. 2. Während Religion, Kunst und Wissenschaft ein bestimmtes Maß an Handlungsentlastung und an Freisetzung von materiellen Zwängen benötigen, um die sie auszeichnenden Deutungsleistungen erbringen zu können, ist Kultur in anderen Hinsichten gerade durch einen engen 2
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Abrisse dieser Debatten finden sich bei Hartmut Böhme u.a. (Hg.): Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg 2000; Friedrich Jaeger u.a. (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, 3 Bde, Stuttgart 2004. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. Dieser Gesichtspunkt steht im Zentrum der von Reckwitz daher auch sogenannten »interpretativen Kulturtheorien« in Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000, S. 363-541; siehe in diesem Sinne auch bereits Clifford Geertz: The Interpretation of Culture. Selected Essays, zuletzt New York 2006. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 19856, S. 180. Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften«, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1959 (Orig. 1921/1922), S. 169–200.
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F. JAEGER: DIE KULTUR DER NEUZEIT
Praxisbezug ausgezeichnet.7 Sie dient der Orientierung des Handelns in allen Sphären der menschlichen Lebensführung und verleiht ihm eine spezifische Form von Sinngebundenheit und Kreativität.8 Jede Form gesellschaftlicher Praxis erweist sich aus handlungstheoretischer Sicht als kulturell vermittelt: Dies gilt für die Aneignung von Natur in Form von Arbeit und Wirtschaft ebenso wie für die Sphäre der Politik und der politischen Kultur.9 Aber auch die Ausbildung von Lebensstilen und die Normierung von Konsum, die Formierung von Identität und Geschlechterrollen sowie schließlich die Bewältigung des Alltags und die vielfältigen Praktiken, die der historischen Anthropologie zugerechnet werden,10 erweisen sich als durch und durch kulturell geprägt. Diese Aspekte der ökonomischen, politischen und alltagsweltlichen Kultur der Neuzeit bilden das Thema des zweiten Untersuchungsschritts. 3. Ein weiterer Aspekt der neuzeitlichen Kulturgeschichte verbindet sich mit dem Begriff der Kommunikation11 und des kulturellen Austauschs oder Transfers.12 Kultur ist an Elemente sprachlicher Verständigung gebunden, um normative Verbindlichkeit, kognitive Verständlichkeit oder intersubjektive Geltung erlangen zu können, wobei Kommunikation vielfältige Formen und Funktionen annehmen kann und im Rahmen der neuzeitlichen Kommunikationsrevolution auch tiefgreifende Veränderungen erfahren hat.13 Die Entwicklung einer ausdifferenzierten Medienlandschaft gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die Herausbildung neuer Formen von Öffentlichkeit und symbolisch-vermittel-
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Karl H. Hörning: Kultur als Praxis, in: Friedrich Jaeger u.a. (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, a.a.O., S. 93–105. Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/Main 1996. Wolfgang Reinhard: »Was ist europäische politische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropologie«, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 593–616; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005. Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben, Köln 2000; Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004. Wolfgang Behringer u.a. (Hg.): Communication in Historiography, London 2006; Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (Hg.): Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, München 2005; Achim Landwehr/Stefanie Stockhorst: Einführung in die europäische Kulturgeschichte, Paderborn u.a. 2004, S. 123-145. Peter Burke: Kultureller Austausch, Frankfurt/Main 2000; Wolfgang Schmale (Hg.): Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert, Innsbruck u.a. 2003. Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003. 165
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
ter Kommunikation.14 Aber auch die Entstehung eines Systems der globalen Interaktion als Folge der frühneuzeitlichen Entdeckungsreisen und Expansionen lässt sich als eine Form des kulturellen Transfers verstehen. In ihr zeichnet sich eine erste Etappe der Globalisierung ab, die neue Formen von Kulturkontakten, aber auch neue Erfahrungen kultureller Fremdheit mit sich brachte. Um derartige Ausprägungen und Elemente neuzeitlicher Kommunikation kreist das dritte Kapitel. 4. Auch die institutionelle, gegenständliche oder auch die räumliche Seite der Kultur, also ihre Manifestation in den Formen des ›objektiven Geistes‹, erfährt in den gegenwärtigen Debatten um Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte eine verstärkte Aufmerksamkeit. Die Rolle von Institutionen bei der Entstehung rechtlicher, sozialer und politischer Ordnungen, bei der Normierung menschlichen Verhaltens im Kontext von Familie, Bildung und Kirche sind hierbei ebenso von Bedeutung wie die verschiedenen Aspekte der materiellen Kultur.15 Auch die aktuelle Konjunktur des Raums als kulturwissenschaftlicher Kategorie im Kontext des sog. ›spatial turns‹16 verweist schließlich darauf, dass Kultur an Orte gebunden ist und sich in kontextspezifischen Umwelten realisiert, in Städten und ihren kulturellen Räumen etwa auf grundlegend andere Weise als an Höfen oder im Rahmen der ländlichen Gesellschaft. Auch die Natur als besonderer Raum erweist sich dabei als kulturell kodiert und durch jeweils zeitspezifische Wahrnehmungs-Muster und Mentalitäten geprägt. Um diese verschiedenen Aspekte der Kultur wird es im vierten und abschließenden Teil dieses Beitrags gehen.
I. Die religiöse, ästhetische und kognitive Dimension der Kultur 1. Traditionell repräsentieren Religionen Deutungskulturen mit einem geradezu unüberbietbaren Anspruch auf Sinnbildung und auf die Fähigkeit zur Bewältigung von Kontingenz und Negativität. Dafür stehen die geschichtlichen Theodizeen des Leidens, des Sterbens und der unglei14 Barbara Stollberg-Rilinger: »Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489–527. 15 Hans Peter Hahn: Materielle Kultur, Berlin 2005; Gudrun M. König: »Auf dem Rücken der Dinge. Materielle Kultur und Kulturwissenschaft«, in: Kaspar Maase/Bernd Jürgen Warneken (Hg.), Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft, Köln 2003, S. 95–118. 16 Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, a.a.O., S. 284-328. 166
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chen Verteilung der Glücksgüter.17 Unter drei Gesichtspunkten stellt die christliche Religion in der Neuzeit ein zentrales Kulturelement der europäischen Gesellschaften dar:18 Zum einen gehört es zur Spezifik religiöser Weltbilder, dass sie den Gläubigen ausdrucksstarke und emotional ergreifende Bilder des ›Ganzen‹ oder des Kosmos zur Verfügung stellen und ihre Lebensführung in dieser Totalität einer zeitüberdauernden und transzendenten Sinn- und Schöpfungsordnung verankern. Die in den neuzeitlichen Gottesbildern und Theologien formulierten Vorstellungen von Himmel, Hölle und Jenseits, von Unsterblichkeit, Sünde und Erlösung sind diesen religiösen Weltbildern ebenso zuzurechnen wie die grundlegenden Vorstellungen vom Menschen sowie des Verhältnisses von Leib und Seele oder die spezifisch religiösen Zeit- und Endzeitvorstellungen im Sinne der Apokalyptik, des Chiliasmus oder der Eschatologie. Jenseits dieser theologisch definierten Weltbilder repräsentieren die neuzeitlichen Frömmigkeitskulturen weitere konstitutive Sinnelemente der religiösen Kultur.19 In Kirchen, Freikirchen und Mystik als den drei Hauptformationen neuzeitlicher Religiosität fanden sie ihren jeweils spezifischen Ausdruck.20 Frömmigkeit als kulturelle Praxis erweist sich auf der einen Seite als eine im Rahmen von Kirchen oder religiösen Bewegungen institutionalisierte Praxis des Glaubens, die sich in den jeweils gebotenen Formen von Gottesdienst, Predigt, Sakrament, Gebet, der kirchlichen Musik oder des Gemeindelebens konkret manifestiert. Diese institutionellen Gestaltungselemente des Glaubens verdichteten sich im Zuge der Konfessionalisierung im 16. und 17. Jahrhundert und der religionskulturellen Ausdifferenzierung von Luthertum, reformierten Bekenntnissen und Katholizismus zu eigenständigen konfessionellen Milieus. Eine sich davon deutlich abhebende Variante von Frömmigkeit existierte in den verschiedenen Formen religiöser Innerlichkeit, wie sie in der neuzeitlichen Mystik oder im Kontext des Spiritualismus realisiert wurden. Vielfach in Spannung dazu standen die Spielarten einer gelebten Volksfrömmigkeit, in denen auch außerchristliche Traditionsbestände 17 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde, Tübingen 19889. 18 Zur Einordnung der Religion in die Geschichte der Neuzeit und Moderne siehe generell: Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 15001800, Göttingen 2000; Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004. 19 Lucian Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005. 20 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Aalen 1961 (Orig. 1912). 167
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
der europäischen Religionsgeschichte ihren Ort finden konnten, wie Aberglaube, Magie oder Zauberei. Eine weitere Spannung gegenüber den Traditionen institutionalisierter oder verinnerlichter Frömmigkeit baute sich schließlich im Auseinandertreten und wechselseitigen Autonomisierungsprozess einer religiösen und weltlichen Kultur auf, nicht zuletzt ermöglicht durch die Prinzipien der Religionsfreiheit. In ihnen waren diejenigen Dynamiken begründet, die die Neuzeit auch zu einer Epoche der Säkularisierung und Entkirchlichung, des Atheismus und der Religionskritik machten. Jedoch blieb das Sinn- und Orientierungspotential der religiösen Kultur trotz derartiger Tendenzen zu einer Entzauberung der Welt im Laufe der Neuzeit noch weithin ungebrochen, was in der andauernden Kraft der religiösen Weltbilder und der unbedingten Inanspruchnahme der Gläubigen durch habitusprägende Frömmigkeitskulturen begründet lag. Die Religion blieb ein ethisches Regulativ der Lebensführung sowohl mit Blick auf die motivierenden Antriebe des praktischen Handelns – etwa im Sinne der innerweltlichen Askese – als auch im Hinblick auf ihre Rolle in Schule und Erziehung und bei der Normierung des Alltagshandelns im Sinne eines guten und gelingenden Lebens. Die herausragende Bedeutung von Religion und Kirche als kulturellen Mächten der Lebensreglementierung ist jedoch zugleich ein wesentlicher Erklärungsfaktor für den Fanatismus und das enorme Ausmaß an Gewaltsamkeit, mit denen einerseits die konfessionellen Konflikte in der Frühen Neuzeit ausgetragen worden sind und mit denen andererseits die Bekämpfung Andersgläubiger, häretischer Strömungen und religiöser Minderheiten im Zeichen von Inquisition, Hexenprozessen, Judenverfolgung oder der christlichen Mission außerhalb Europas erfolgte.21 Die Prinzipien von Toleranz und der Trennung von Staat und Kirche, die sich als Grundelemente innergesellschaftlicher Pazifizierung seit dem Westfälischen Frieden in Europa durchsetzten, resultierten insofern erst aus der katastrophalen Erfahrung konfessioneller Bürger- und Religionskriege22 und waren erkauft mit einer Unzahl von Opfern religiöser Gewalt und konfessioneller Intoleranz. 2. In der Kunstmetaphysik der Romantik, in der Kunstreligion des Deutschen Idealismus oder auch in den Strömungen des Ästhetizismus während des 19. Jahrhunderts wird deutlich, dass sich die neuzeitliche Kunst in Konkurrenz zur Religion als eine quasi sakrale Instanz der Kul-
21 Kaspar von Greyertz/Kim Siebenhühner (Hg.): Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500-1800), Göttingen 2006. 22 Norman Housley: Religious Warfare in Europe 1400-1536, Oxford 2002. 168
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tur mit der Fähigkeit zur Transzendierung der Welt definieren konnte.23 Dies verweist auf den starken Sinnbildungsanspruch der ästhetischen Kultur, wobei sich der kulturelle Ort der Künste in der Geschichte Neuzeit unter verschiedenen Gesichtspunkten erschließen lässt: Eine erste Zugangsmöglichkeit bietet die Theorie- oder Diskursgeschichte: Alle Künste durchliefen in der Neuzeit einen tief greifenden Wandel ihres kulturellen Selbstverständnisses und reflektierten diesen Wandel unter Ablösung von der Tradition der Rhetorik sowie im Rahmen einer sich zunehmend spezialisierenden Kommunikation. Die sich entfaltende Kunst-, Musik-, Architektur- und Literaturtheorie gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die Geschichte der Ästhetik als einer sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausformenden philosophischen Disziplin, die sich dem Schönen in der Kunst oder auch der sinnlichen Wahrnehmung im Ganzen widmete. Das in den ästhetischen Theorien seit Kant und Schiller ausformulierte Konzept der Autonomieästhetik ermöglichte schließlich die Zurückweisung traditioneller Funktionalisierungen der Kunst (etwa zum Zwecke kirchlicher oder höfischer Repräsentation) und die Begründung eines autonomen kulturellen Status der Kunst als einer zweckfreien, dem »interesselosen Wohlgefallen« im Sinne Kants dienenden, allem bloß Nützlichen enthobenen Sphäre. Weitere Aspekte der ästhetischen Kultur der Neuzeit bringen sozialgeschichtlich angelegte Forschungsansätze in den Blick. Sie verweisen auf die Ausdifferenzierung eines autonomen ästhetischen Feldes, innerhalb dessen sich in der Abfolge einzelner Kunstepochen die Produktion, Zirkulation und Rezeption von Kunst zunehmend unter eigengesetzlichen Bedingungen vollzog. Im Rahmen einer sich professionalisierenden Literatur-, Musik- und Kunstkritik wurden dem Publikum Möglichkeiten geschaffen, sich über die Begründung von Geschmacksurteilen und der Reflexion ästhetischer Normen innerhalb eines komplexer werdenden Kunstmarktes kritisch zu orientieren. Alle diese Entwicklungen hin zur Herausbildung eines eigenständigen Feldes ästhetischer Institutionen korrespondierten eng mit der Herausbildung einer räsonierenden Öffentlichkeit, die ästhetische Kultur in zahlreichen Formen konsumierte – vom Museum über den Kunsthandel und die Kunstausstellung bis zu den sich massenhaft durchsetzenden Druckmedien. Ein ebenfalls wichtiger Gesichtspunkt der ästhetischen Kultur wird schließlich greifbar, wenn man die an Elemente des Körperlichen gebundene Performanz der Künste als einen eigenständigen Aspekt der
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ästhetischen Erfahrung berücksichtigt,24 der im Akt der Inszenierung25 oder Aufführungspraxis zum Ausdruck kommt. Diese Elemente ästhetischer Performanz sind an der Schnittstelle zwischen der Produktion und Rezeption von Kultur angesiedelt, wie sie etwa für die Praxis des Theaters oder Konzertwesens kennzeichnend ist. Auch die enorme rituelle Bedeutung, die die Künste – etwa in der Form des Tanzes oder der Oper – innerhalb der neuzeitlichen Festkultur besaßen, verdeutlichen die performative Rolle der ästhetischen Kultur im Rahmen höfisch-ständischer oder auch bürgerlich geprägter Formen von Geselligkeit. 3. Drittens erweisen sich die neuzeitlichen Gesellschaften Europas auch durch Elemente einer kognitiven Kultur geprägt, die sie als Wissensgesellschaften auszeichnen:26 Zu diesen Elementen gehören erstens eine bestimmte Form gelehrter Praxis, die in der Neuzeit eine enorme gesellschaftliche Ausstrahlungskraft entfaltete; zweitens eine Kontinuität von Bildung jenseits der geschichtlichen Vielfalt konkurrierender Bildungskonzepte, -bewegungen und -institutionen; und drittens schließlich die Ausdifferenzierung eines autonomen Wissenschaftssystems im Zeichen der wissenschaftlichen Revolution. Bereits in der Frühen Neuzeit hatten sich die an den Universitäten und Akademien wirkenden Gelehrten als soziale Träger überlieferten Wissens und seit dem 17. Jahrhundert auch zunehmend als Produzenten dauerhaften Erkenntnisfortschritts etabliert. Mit dem Humanismus ging die Privilegierung der Gelehrsamkeit zu einem Leitwert der Kultur einher, der im intellektuellen Austausch der Gelehrten ebenso seinen Ausdruck fand wie in der Herausbildung einer Gelehrtenrepublik, die sich im Zuge der Aufklärung zum Ideal einer wahrhaft menschlichen Vergesellschaftung nach Maßgabe der Vernunft entwickelte.27 Sie repräsentierte eine rationale, auf dem Austausch von Argumenten basierende Form der Verständigung, die später im Kontext des Liberalismus zum Leitbild politischer Öffentlichkeit und einer Zivilgesellschaft freier Assoziationen erhoben wurde und auf diesem Wege eine eminente Wirkung für die Formierung einer bürgerlichen Gesellschaft und Kultur entfalten konnte.
24 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004. 25 Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt/Main 2001. 26 Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001 (engl. Orig. 2000). 27 Helmut Zedelmaier/Martin Mulsow (Hg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001. 170
F. JAEGER: DIE KULTUR DER NEUZEIT
Auch Bildung als Element der kognitiven Kultur konnte in der Geschichte der Neuzeit vielfältige Formen und Funktionen besitzen. Die Bandbreite reicht dabei von einem utilitarischen, auf gesellschaftlichpraktischen Nutzen ausgerichteten Bildungskonzept im Sinne der Aufklärung bis zu einer im Kontext des Deutschen Idealismus emphatisch aufgeladenen Idee von Bildung als Inbegriff einer universalgeschichtlichen Freiheitsentwicklung des Menschen. Dieser Weite des Begriffs entspricht eine Fülle von Erscheinungsformen: Neuzeitliche Bildung erstreckte sich ebenso auf die in Kindheit und Jugend ansetzenden Anstrengungen im Bereich von Erziehung, Familie, Schule und Gymnasium als auch auf die das Erwachsenenalter betreffenden Elemente universitärer Ausbildung und beruflicher Professionalisierung. Sie umgreift sowohl die kirchlich-konfessionellen Institutionen als auch Aspekte staatlicher Bildungspolitik; sie vereinigt ferner die Dimension eines engen Fach- und Sachwissens mit einem weiten Begriff von Persönlichkeitsbildung als kultureller Voraussetzung von Individuen, sich innerhalb der Normensysteme ihres gesellschaftlichen Umfeldes kompetent zu bewegen. Auch in sozialstruktureller Hinsicht erstreckt sie sich auf ein breites Spektrum von Konzeptionen, die von der frühneuzeitlichen adligen Standesbildung bis zu den professionsspezifisch rationalisierten Leitwerten des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert reicht. Schließlich wurde die kognitive Kultur der Neuzeit durch den Aufstieg autonomer Wissenschaften geprägt, für die jeweils eigenständige Methoden und Forschungsverfahren sowie Medien der inneren Kommunikation oder der akademischen Selbstorganisation konstitutiv wurden. Ein wichtiger Aspekt dieses Prozesses war die Trennung zwischen den auf kulturellen Sinn spezialisierten Geisteswissenschaften und den an technischem Wissen orientierten Naturwissenschaften. Nachdem sie bis weit ins 18. Jahrhundert noch unter dem Dach der Artes Liberales institutionell vereinigt gewesen waren, entwickelten sie sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Wissensfeldern zunehmend auseinander.
II. Kulturelle Faktoren in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft 1. Die Frage nach den kulturellen Grundlagen von Arbeit und Wirtschaft, die sich innerhalb der gegenwärtigen wirtschaftshistorischen For-
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schung verstärkt stellt,28 betrifft sowohl die Geschichte der neuzeitlichen Arbeitsmentalitäten als auch ihre gesellschaftliche Normierung im Kontext religiöser, ständischer oder bürgerlich-liberaler Arbeitsdiskurse und Wirtschaftsethiken: Die religiösen Muster sind im Rahmen von Max Webers bekannter These zur protestantischen Ethik (1904/05) beschrieben, in deren Bahnen sich die wirtschafts- und religionsgeschichtliche Forschung z.T. noch bis heute bewegt.29 Seine These besagt, dass der Genese des frühneuzeitlichen Kapitalismus eine religiöse Aufwertung von Arbeit und Beruf im Kontext des asketischen Protestantismus zu Grunde liege. Diese habe sich im Sinne einer methodischen Reglementierung der Lebensführung ausgewirkt und konnte eine moralisch motivierende Kraft von enormer Wirkung entfalten. Berufliche Arbeit erfuhr damit an der Schwelle der Neuzeit einen religiösen Legitimationsschub, der insbesondere im Calvinismus eine Initialzündung der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung darstellte. Jenseits ihrer religiösen Reglementierung unterlagen Arbeit und Wirtschaft im Rahmen der Ständegesellschaft oder des entstehenden Staates aber auch säkularen Normierungsregimes. Dabei handelt es sich einerseits um Mechanismen der Erzwingung von Arbeitsbereitschaft oder der Durchsetzung von Zeitordnungen, die in der neueren Forschung unter dem Gesichtspunkt der Sozialdisziplinierung diskutiert werden.30 Darüber hinaus waren Arbeit und Wirtschaft innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaften den Kriterien ständisch definierter Ehre31 unterworfen und – wie etwa das Handwerk – in zünftisch-genossenschaftliche oder korporative Ordnungen eingebunden, bevor sich mit dem Aufkommen bürgerlicher Gesellschaften und eines marktökonomisch orientierten Liberalismus im Laufe des 18. Jahrhunderts neue kulturelle Grundlagen ökonomischen Handels durchsetzten. Der aufbrechende Konflikt zwischen ständischen Traditionen und bürgerlichen Handlungsnormen manifestierte sich in zwei Dauerthemen des neuzeitlichen Diskurses um die Legitimität von Arbeit: nämlich einerseits im Konflikt zwischen Gemeinwohl und Eigennutz als konkur28 Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt/Main 2004. 29 Friedrich Wilhelm Graf: »Beeinflussen religiöse Weltbilder den ökonomischen Habitus?«, in: Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsel, a.a.O., S. 241–264. 30 Heinz Schilling (Hg.): Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Frankfurt/ Main 1999. 31 Sibylle Backmann u.a. (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998. 172
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rierenden Normierungen ökonomischer Interessen32 und andererseits in der Frage des gerechten Preises, der eine ethische Maxime wirtschaftlichen Handelns repräsentierte, bevor er im 18. Jahrhundert im Zuge der zunehmenden Preisbildung über Märkte an Bedeutung verlor. In der wirtschaftshistorischen Forschung sind diese Entwicklungen bislang vornehmlich als eine Transformation der moralisch eingebetteten Ökonomik Alteuropas in eine tendenziell amoralische, allein den monetären Eigengesetzlichkeiten des Marktes gehorchende Geldwirtschaft der Moderne interpretiert worden.33 Solche Deutungen sind jedoch zu relativieren, denn die Traditionen einer ethisch-religiösen Fundierung der ökonomischen Theorie blieben entgegen aller Tendenzen einer Entmoralisierung langfristig virulent. Dies lässt sich sogar anhand der ökonomischen Theorie Adam Smiths, einer Ikone liberaler Wirtschaftstheorie, zeigen, dessen zentrales Werk »Theory of Moral Sentiments« sich weiterhin in einem naturtheologisch geprägten Rahmen bewegt.34 Daher wird neuerdings auch wieder verstärkt darauf abgehoben, dass sich in den Ökonomisierungsschüben der Neuzeit und Moderne keineswegs ein Verlust, sondern eher eine Transformation der kulturellen Ressourcen von Arbeit und Wirtschaft abzeichnet. Diese Transformation lässt sich sowohl anhand der sich seit dem 18. Jahrhundert entfaltenden »Kultur des Marktes«35 als auch am Beispiel der kulturellen Neukodierung von Geschlechterrollen aufzeigen, die mit der verstärkten Trennung männlich und weiblich definierter Sphären als Folge zunehmender gesellschaftlicher Arbeitsteilung verbunden war. Auch mit der Professionalisierung im Sinne der Ausdifferenzierung besonders qualifizierter Berufszweige, die sich u.a. über eine spezifische Ethik legitimierten, die Kriterien der Distinktion gegenüber anderen Berufsgruppen definierte, verbanden sich neue Formen einer kulturellen Regulierung von Arbeit.
32 Winfried Schulze: »Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit«, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 591–626. 33 Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/Main 20046 (engl. Orig. 1944). 34 Walter O. Ötsch: »Gottes-Bilder und ökonomische Theorie: Naturtheologie und Moralität bei Adam Smith«, in: Martin Held u.a. (Hg.), Ökonomie und Religion, Marburg 2007, S. 161–179. 35 Thomas Haskell (Hg.): The Culture of the Market. Historical Essays, Cambridge/Mass. 1996. 173
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2. Die Virulenz der Kultur zeigt sich auch im Bereich der Politik. In den neueren Arbeiten zur politischen Kultur36 bzw. zur Kulturgeschichte des Politischen37 hat sich in den vergangenen Jahren ein Forschungskonzept etabliert, das sich methodisch deutlich von den Konventionen der politischen Ideengeschichte abhebt. Es ist erstens bestrebt, die Mikroebene des politischen Handelns konkreter Akteure mit der Makroebene institutioneller Entwicklungen langer Dauer zu verbinden. Zweitens operiert es mit einem weiten Kulturbegriff im Sinne einer »historischen Anthropologie der Politik«,38 der jenseits der Oberfläche von Ereignissen, Ideen und Orientierungen den Blick auf diskursive Praktiken und symbolische Felder des Politischen lenkt.39 Drittens versucht es, Deutungen und Bedingungen politischer Entwicklungen wechselseitig aufeinander zu beziehen und damit die Ebenen von Struktur und Semantik zu verbinden.40 Ausgehend von diesen methodischen Grundlagen haben sich in der Geschichte der neuzeitlichen politischen Kultur v.a. zwei Themenfelder als ertragreich erwiesen: zum einen die Frage nach dem Wandel der Legitimitätskriterien politischer Herrschaft sowie zum anderen die Frage nach den kommunikativen und symbolischen Praktiken, in denen sich politische Ordnungen herstellen und verändern. Max Webers bekannte Definition von Herrschaft als die »Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«41 knüpft die Legitimität politischer Herrschaft an ihre Anerkennung seitens der Beherrschten. Unter zahlreichen Gesichtspunkten wandelten sich diese kulturellen Legitimitätsgrundlagen im Laufe der Neuzeit. Das in der Frühen Neuzeit auf der Basis von grundherrschaftlichen und feudalen Bindungen noch tief gestaffelte System personaler Herrschaftsverhältnisse und Abhängigkeiten löste sich im Prozess der 36 Wolfgang Reinhard: Was ist europäische politische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropologie, a.a.O.; Karl Rohe: »Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung«, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321–346. 37 Barbara Stollberg-Rilinger: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, a.a.O.; Thomas Mergel: »Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606. 38 Wolfgang Reinhard: Was ist europäische politische Kultur?, a.a.O., S. 595. 39 Barbara Stollberg-Rilinger: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, a.a.O., S. 10. 40 Vgl. ebd., S. 21; Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005. 41 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Köln 1964, S. 38. 174
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neuzeitlichen Staatsbildung allmählich auf. In diesem Prozess gelang es der entstehenden Staatsgewalt, das Recht der legitimen Ausübung von Gewalt sowohl nach innen im Sinne des staatlichen Gewaltmonopols als auch nach außen als Recht zur Kriegsführung zu monopolisieren.42 Weitere Aspekte dieses Kulturwandels politischer Legitimität sind die lange Tradition der Herrschaftsbegrenzung durch die Freiheitsrechte und die Menschenwürde von Individuen, ferner die Institutionalisierung politischer Mitsprache im Kontext ständischer oder bürgerlicher Gesellschaften und schließlich auch die Bändigung und Kontrolle von Herrschaft im Rahmen der europäischen Rechtskultur und der mit ihr korrespondierenden Prinzipien der Gewaltenteilung. Alle diese Elemente und Konzepte politischer Legitimität wurden in der neuzeitlichen Staatsformenlehre intensiv reflektiert. Darüber hinaus zielt der Begriff der politischen Kultur auf vielfältige Prozesse der politischen Kommunikation.43 Zum einen ist sowohl mit Blick auf die neuzeitliche Staatsbildung als auch auf der Ebene lokaler Herrschaftsausübung gezeigt worden, dass Herrschaft bereits vor der Etablierung einer bürgerlichen Gesellschaft und liberalen Öffentlichkeit Gegenstand eines kontinuierlichen Abstimmungs- und Aushandlungsprozesses zwischen Herrscher und Untertanen war, in dem die Machtchancen zwar nicht symmetrisch verteilt, aber durchaus Grundelemente von Reziprozität und Diskursivität verankert waren.44 Zum anderen ist in der politischen Kulturgeschichte der letzten Jahre die Bedeutung der symbolischen Kommunikation herausgearbeitet worden, wie sie in der symbolischen Repräsentation von Herrschaft und ihrer performativen Vermittlung,45 z.B. in der Inszenierung des Herrschaftszeremoniells zum Ausdruck kommt. Kultur wird hier als ein Medium der Erzeugung von Symbolen greifbar, die die politischen Ordnungen der Frühen Neuzeit kulturell konstituierten und mit handlungsleitendem Sinn versahen.46
42 Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt, München 1999. 43 Luise Schorn-Schütte (Hg.): Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, München 2004. 44 Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, a.a.O., S. 13; Markus Meumann/Ralf Pröve (Hg.): Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses, Münster 2004. 45 Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hg.): Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln u.a. 2003. 46 Barbara Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, a.a.O. 175
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3. Wendet man den Kulturbegriff schließlich auf die gesellschaftlichen Lebensformen des Alltags sowie auf die sozialen Zugehörigkeiten und verhaltenssteuernden Mentalitäten von Individuen und Gruppen an, treten Forschungsperspektiven und heuristische Gesichtspunkte in den Blick, die in den letzten Jahren v.a. im Rahmen der historischen Anthropologie aufgegriffen worden sind.47 Als kulturelle Modi der sozialen Verhaltenssteuerung lassen sich zunächst die tief in der menschlichen Subjektivität verankerten Mentalitäten begreifen, die individuelles und kollektives Handeln bestimmen. Sie beziehen ihre habitusformierende Kraft z.T. gerade daraus, dass sie als kulturelle Grundlagen routinisierter Einstellungsmuster im Alltag gewöhnlich unthematisiert und im Zustand des Vorbewussten bleiben. Sie bilden gewissermaßen eine longue durée des menschlichen Verhaltens mit einer weithin wandlungsresistenten kulturellen Tiefenstruktur, die jedoch in geschichtlichen Ausnahmesituationen und Phasen beschleunigter Transformation aktualisiert werden kann und dann historischen Anpassungen oder politischen Veränderungen offensteht. Zum Umkreis solcher Mentalitäten gehören etwa die Welt der Gefühle und der Empfindsamkeit, das Verhältnis des Menschen zu Raum und Zeit sowie die alltäglichen Muster der Zeiterfahrung. Aber auch das Verhältnis zum Geschlecht im Sinne eines konstitutiven Elements der sozialen Differenzierung oder zum Körper und zu seinen elementaren Ausdrucksformen und Funktionen, die sich in Scham, Keuschheit, Sexualität oder Hygiene äußern, lassen sich dieser sozialen Welt der Mentalitäten zuordnen. Hinzu kommen die generativen Konzepte der Lebensalter wie Kindheit, Jugend oder Alter oder die Passageriten des Lebenslaufs, wie sie in Heiratsmustern, im Verhältnis zu Geburt und Tod oder im Verhältnis der Generationen zueinander zum Ausdruck kommen. Schließlich gehören auch die kulturellen Konzepte von Nahrung und Ernährung oder von Krankheit und Gesundheit zum Umfeld der mentalen Muster kollektiver Verhaltenssteuerung. Eine andere Dimension der kulturellen Prägung von Lebensformen kommt in den neuzeitlichen Lebensstilen zum Ausdruck, die gegenüber dem weitgehend vorreflexiven Charakter der Mentalitäten Merkmale des Artifiziellen enthalten und kulturelle Elemente von Individualisierung, Ästhetisierung oder auch der manierierten Verfeinerung bis hin zur Dekadenz aufweisen.48 Lebensstile realisierten sich in der Neuzeit in einer 47 Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben, a.a.O.; Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, a.a.O. 48 Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner: »Lebensführung und Lebensstile – Individualisierung, Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung im Pro176
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Vielfalt gesellschaftlicher Kontexte: Sie prägten die Gestaltung des Alltags in Freizeit und Muße, Sport und Spiel; sie fanden ihren Ausdruck in Wohnkulturen und Kulturen des Reisens ebenso wie in der kulturellen Regulierung von Luxus, Mode und Konsum,49 wie sie seit der Frühen Neuzeit etwa in Aufwandsgesetzen und Kleiderordnungen praktiziert wurde. Lebensstile manifestierten sich des Weiteren im Rahmen kultureller Konzepte der Sinnlichkeit und der erotisch gesteigerten Liebe oder formten sich zu geschlechterspezifischen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit aus. Schließlich schlugen sich in ihnen die Tugend- und Anstandsideale einer sittlichen Lebensführung nieder, wie sie etwa in den neuzeitlichen Stilisierungen der Dame oder des Gentleman oder auch in den Konventionen des Grüßens und der gepflegten Konversation präsent sind. Stets gingen Lebensstile auch mit Vorstellungen einer standesgemäßen Lebensführung einher, sei es im Sinne des Adelslebens oder der höfischen Gesellschaft, sei es im Sinne einer kulturell gesteigerten Bürgerlichkeit mit ihren spezifischen Formen der Geselligkeit und familiärer Privatheit oder aber der neuzeitlichen Volkskultur mit ihren Rügebräuchen und Unterhaltungsmedien. Die kulturelle Identität von Individuen und sozialen Gruppen formiert sich schließlich in der Spannung von Zugehörigkeit und Differenz, d.h. in Form der Identifikation mit dem »Eigenen« sowie in Form der Ab- und Ausgrenzung vom »Anderen« als Inbegriff kultureller Fremdheit. Diese Unterscheidung konnte in der Geschichte der Neuzeit mehr oder weniger rigide ausfallen; das Spektrum reicht von einem durch das Andere eher faszinierten Exotismus, etwa im Sinne der Bilder des Edlen Wilden, über die Dichotomien von Geschlechterrollen bis hin zur Ausbildung von Feindbildern, wie sie im Kontext der Judenfeindschaft, der Türkenkriege, der Stilisierungen des Barbaren oder der Hexe bis zu den Feindstereotypisierungen des Nationalismus existieren. Auch die vielfältigen Formen zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen, konfessioneller Bürgerkriege bzw. sozialer Konflikte, die der Neuzeit ihr spezifisches Gepräge gaben, waren in dieser kulturellen Abgrenzungsdynamik kollektiver Identitäten angelegt. Entsprechend vielfältig waren auf der anderen Seite auch die sozialen Ordnungen, in denen sich kulturelle Faktoren der gesellschaftlichen Differenzierung und Vergemeinschaftung manifestierten, die im Begriff der Gesellschaft zum Ausdruck kommen. zess der Modernisierung«, in: Friedrich Jaeger u.a. (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, a.a.O., S. 341–355. 49 Michael North: Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Darmstadt 2003. 177
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III. Kommunikation, Medien und globale Interaktion 1. Auch die Begriffe der Kommunikation50 und des Kulturtransfers markieren wichtige Themenschwerpunkte der gegenwärtigen Neuzeitforschung: In der Neuzeit erfolgten entscheidende Übergänge von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit als Leitmedium der Alltagskommunikation.51 Frühneuzeitliche Gesellschaften blieben trotz der durch Buchdruck und Post wachsenden Möglichkeiten schriftlicher Kommunikation noch lange Zeit durch persönliche Kommunikation in face-to-face-Situationen geprägt. Für diese gab es in Dörfern und Städten seit jeher eine differenzierte lokale Infrastruktur: Marktplätze und Brunnen, Salons und Kaffeehäuser, Gasthäuser und Spinnstuben, Vereine und Nachbarschaften waren Orte der direkten Begegnung. Schriftliche Kommunikation zwischen räumlich Abwesenden war in der Frühen Neuzeit auf der Grundlage des Botenwesens allenfalls vereinzelt und punktuell möglich, bevor sich im 18. Jahrhundert, ausgehend von England und Frankreich, eine ausgeprägte Brief- und Lesekultur infolge des beschleunigten Nachrichtentransports und einer zunehmenden Alphabetisierung entfalten konnte. In den letzten Jahren ist in der historischen Neuzeitforschung unter kommunikationsgeschichtlichen Gesichtspunkten auch die enorme Bedeutung symbolisch vermittelter, in Zeremoniell und Ritual verkörperter Kommunikation innerhalb der neuzeitlichen Gesellschaften angesprochen worden.52 Der Begriff des Symbols zielt dabei auf eine besonders ausgeprägte Zeichenhaftigkeit kommunikativer Akte, die verbaler, gegenständlicher oder bildlicher Natur sein kann und spezifische Elemente des Körperlichen, Sinnlichen oder Performativen aufweist. Derartige symbolische Formen der Kommunikation lassen sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der sozialen Ordnung nachweisen, wie etwa in den hochritualisierten frühneuzeitlichen Konflikten um die Verletzung und Wiederherstellung von Ehre,53
50 Wolfgang Behringer u.a. (Hg.): Communication in Historiography, a.a.O.; Barbara Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, a.a.O. 51 Horst Wenzel: Mediengeschichte vor und nach Gutenberg, Darmstadt 2007. 52 Rudolf Schlögl u.a. (Hg.): Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften, Konstanz 2004. 53 Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 1995; 178
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zu denen sich u.a. das Duell zählen lässt. Auch Mimik und Gestik, Gebärden der Drohung, des Grüßens oder des Fluchens gehorchen ebenso weitgehend den kulturellen Mechanismen symbolischer Kommunikation. Schließlich verweist auch die in der neuzeitlichen Festkultur vielfach ritualisierte Außerkraftsetzung kultureller Normen und Hierarchien – etwa im Rahmen des Karnevals oder des Wechsels von Geschlechterrollen im Sinne der Verkehrten Welt – auf die Bedeutung symbolischer Kommunikation für die Integration neuzeitlicher Gesellschaften, hier in Form einer zeitweiligen Aufhebung und Umkehrung der sozialen Ordnung als Regulativ und Ventil aufgestauter Konfliktpotentiale. Kommunikation vollzog sich in der europäischen Geschichte schließlich auch auf vielfältigen Ebenen als ein Prozess des kulturellen Austauschs und Transfers: Hier ist etwa die Diffusion von Wissen im Zeichen der humanistischen Gelehrtenkorrespondenz oder der Verbreitung technischer Innovationen durch Gesellenwanderung oder Technologietransfer von Bedeutung; aber auch die Zirkulation kultureller Erfahrungen im Rahmen der sozialen Mobilität oder der neuzeitlichen Migrationsbewegungen bzw. der Stadt-Land-Wanderungen. In derartigen Phänomenen wird ein Kulturaustausch von Menschen und gesellschaftlichen Gruppen greifbar, der die europäische Geschichte seit der Frühen Neuzeit elementar geprägt hat und einen eigenständigen Modus der kulturellen Kommunikation repräsentiert. 2. Wesentliche Strukturveränderungen, die mit dem Begriff der neuzeitlichen Kommunikationsrevolution thematisiert werden, verbanden sich ferner mit der zunehmenden Medialisierung von Kommunikation54 sowie mit der Genese einer räsonierenden Öffentlichkeit im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft.55 Dass Medien als Speicher von Kommunikation im Laufe der Neuzeit zu prägenden Institutionen der Gesellschaft und des Alltagslebens werden konnten, lag im Zusammentreffen mehrerer Umstände begründet: Auf technischer Seite wurden mit der Entstehung der Druckmedien seit dem 15. Jahrhundert erstmals die Voraussetzungen einer massenhaften Erzeugung schriftlicher Texte geschaffen. Hinzu kam parallel der Ausbau einer kommunikativen Infrastruktur, die mit der Etablierung eines
Barbara Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, a.a.O., S. 518f. 54 Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (Hg.): Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, a.a.O.; Horst Wenzel: Mediengeschichte vor und nach Gutenberg, a.a.O.; Asa Briggs/Peter Burke: A Social History of the Media: From Gutenberg to the Internet, Cambridge u.a. 2005. 55 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt/Main 2006. 179
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verzweigten Postwesens seit dem 16. Jahrhundert, mit dem Ausbau von Transport und Verkehr sowie der Einführung der Telekommunikation seit dem späten 18. Jahrhundert eine massenhafte und sich zunehmend beschleunigende Verbreitung von Nachrichten und Informationen ermöglichte, was das kulturelle Prestige der Aktualität von Wissen erheblich steigerte. Ferner wurden auf politischer Seite im Kampf um Presse- und Meinungsfreiheit seit dem frühen 18. Jahrhundert die Voraussetzungen für einen Abbau von Zensurbestimmungen geschaffen, worin eine Fundamentalbedingung politischer Freiheit zu sehen ist und der Aufstieg der Presse zu einer wichtigen Kontrollinstanz politischer Herrschaft mit begründet war. Während auf der Produzentenseite medialer Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert die zunehmende Ausdifferenzierung von Berufsfeldern und die damit verbundene Professionalisierung der Berichterstattung – etwa im Rahmen des entstehenden Journalismus – zum Bedeutungsgewinn der Medien beitrugen, begünstigten auf der Nachfrageseite erstens die Verdichtung von Herrschafts- und Marktbeziehungen sowie die Prozesse der Nationalstaatsbildung die Entstehung spezialisierter Informationsmedien als Mittlern politisch und ökonomisch relevanten Wissens. Zweitens verbreiterte sich auf Grund zunehmender Alphabetisierung das Lesepublikum, was den Buchmarkt seit dem 17. Jahrhundert signifikant expandieren ließ. Drittens ging auch mit der Ausdifferenzierung der neuzeitlichen Wissenschaften eine erhöhte Nachfrage nach gelehrten Medien einher, ohne die eine Dynamisierung der neuzeitlichen Wissensproduktion nicht denkbar gewesen wäre. Auf diesen Grundlagen etablierte sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine verzweigte Medienlandschaft von Zeitungen und Zeitschriften, die sich den jeweiligen Adressatengruppen entsprechend immer weiter ausdifferenzierte – von den Fachzeitschriften und moralischen Wochenschriften bis zu den Frauenzeitschriften und politischen Zeitschriften.56 Diese Formen der Medienkommunikation ermöglichten erstmals einen überlokalen Austausch von Informationen, Nachrichten, Wissen und politischen Ansichten und wurden zum zunehmend wichtigen Faktor der öffentlichen Meinung. Medien standen in einer vielfältigen Beziehung zur Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich als neues Modell der kulturellen Vergesellschaftung im Kontext der Aufklärung und des politischen Liberalismus während des 18. Jahrhunderts ausbil-
56 Martin Welke/Jürgen Wilke (Hg.): 400 Jahre Zeitungen. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext, Bremen 2008. 180
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dete. Gleichwohl geht Öffentlichkeit nicht in medialer Kommunikation auf, sondern blieb als Inbegriff einer politischen, literarischen, geselligen und wissenschaftlichen Debattenkultur konstitutiv an Elemente der direkten Kommunikation zwischen Individuen gebunden. In diesem Zusammenhang entstand im Kontext von Lesegesellschaften und Salons, Vereinen und Klubs, Freimaurer-Logen und Geheimgesellschaften seit dem 18. Jahrhundert ein verzweigtes Netzwerk der zivilgesellschaftlichen Kommunikation, das langfristige politische Wirkungen zu entfalten vermochte. 3. Auch die bereits angesprochenen Phänomene des Kulturaustauschs weisen auf die interaktive Dimension der Kultur hin. Diese zeigt sich sowohl im Innern Europas, am Verhältnis zwischen den europäischen Staaten, Kulturen und Gesellschaften, als auch an den Transferbeziehungen Europas zur nicht-europäischen Welt. In der Neuzeit stellte sich mit der Entdeckung Amerikas sowie mit den Entdeckungsreisen nach Afrika, Asien und Australien erstmals eine Globalität der Welt her, die zu neuen Formen der Weltwahrnehmung führte. Im globalen Kulturkontakt mit den Völkern der Neuen Welt, den Großreichen Asiens und den Gesellschaften Afrikas traten neue Erfahrungen kultureller Fremdheit und Alterität auf, die auf eine grundsätzlich neue Weise interpretiert und verarbeitet werden mussten und in der Folge auch zur Entstehung neuer Deutungskulturen wie etwa der Ethnographie führten. Dies macht verständlich, warum die aktuellen historischen Forschungskonzepte zum Kulturtransfer bzw. zur kulturellen Verflechtung in den letzten Jahren v.a. im Bereich der transnationalen Geschichte sowie der postkolonialen Strömungen der Geschichtswissenschaft entstanden sind.57 Auch auf der Theorieebene geht man gegenwärtig im Rahmen einer interkulturellen Hermeneutik der Frage nach, inwieweit Transfers von einem kulturellen System in ein anderes mit spezifischen Übersetzungsleistungen einhergehen.58 Übersetzung meint dabei nicht etwa ein philologisches Verfahren im engeren Sinne, sondern ein allgemeines Muster des wechselseitigen Kulturverstehens und der kulturellen Interaktion. Im Rahmen derartiger Übersetzungsprozesse verändert sich 57 Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.): Geschichtswissenschaft jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main 2002; Jürgen Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 20032. 58 Joachim Renn: Übersetzungsverhältnisse. Perspektiven einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie, Weilerswist 2006; ders. u.a. (Hg.): Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, Frankfurt/Main 2002; Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, a.a.O., S. 238-283. 181
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maßgeblich der kulturelle Bedeutungsgehalt des Transferierten durch Prozesse der Umdeutung, indem er von den Akteuren den spezifischen Kontexten, Traditionen, Normensystemen und Orientierungserfordernissen ihrer jeweiligen Lebenswelten angepasst wird. Ausgehend von diesen kulturtheoretischen Überlegungen lassen sich mit Blick auf die Neuzeit traditionelle Deutungen einer eindimensionalen Europäisierung der Welt im Sinne des Eurozentrismus durch Forschungsperspektiven relativieren, die – ohne Symmetrie zu unterstellen – die Wechselseitigkeit und Multilinearität der globalen Interaktion ins Licht rücken. V.a. die Phänomene des neuzeitlichen Kolonialismus sowie die Prozesse der religiösen Interaktion zwischen Europa und der nicht-europäischen Welt bieten dafür vielfältige Beispiele. Denn diese beiden Phänomenbestände lassen sich nicht angemessen im Sinne eines überwältigenden Ausgriffs europäischer Herrschaft und Kultur auf die übrige Welt interpretieren, sondern geben Anlass, sowohl die Kreativität der Übersetzungen von einer Kultur in die andere als auch die Wechselseitigkeit der Interaktion zu betonen, in der sich alle am Übersetzungsgeschehen beteiligten Akteure veränderten. Anhand des Kolonialismus lässt sich in diesem Zusammenhang zeigen, dass weder die kolonialen Entwicklungen in Nordamerika noch der rasche Zusammenbruch der indianischen Kulturen infolge der Konquista das Paradigma europäischer Kolonialpolitik abgeben können. Vielmehr stellte sich in den Kolonien zumeist ein komplexes Zusammenspiel zwischen indigenen Lebenswelten und europäischen Einflüssen her, wobei das Maß an kolonialer Durchdringung ständigen Veränderungen und Umdeutungen unterworfen war. Zudem lassen sich vielfältige Rückwirkungen der Kolonien auf die europäische Geschichte beobachten. So sind etwa die Veränderungen des europäischen Staatensystems zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert unter Ausblendung der kolonialen Kontexte und der mit ihnen verbundenen Machtverschiebungen nicht hinreichend zu verstehen. Auch in der Geschichte der Christianisierung erweist sich der kulturelle Transfer zwischen Europa und der nicht-europäischen Welt als ein interaktives Geschehen, das nicht als ein weltweiter Export der europäisch-christlichen Kultur zu begreifen ist, sondern vielmehr als eine Fülle wechselseitiger Beeinflussungen, die auch Fragen nach den Auswirkungen dieses Geschehens auf die Zentren des europäischen Christentums selbst aufwirft. Insgesamt gesehen herrschte trotz aller europäischen Überlegenheitsansprüche, Sendungsprophetien, Zivilisierungsmissionen59
59 Jürgen Osterhammel: »›The Great Work of Uplifting Mankind‹. Zivilisierungsmission und Moderne«, in: Boris Barth/Jürgen Osterhammel (Hg.), 182
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und der Freisetzung eines enormen Potenzials an Gewalt unter Gesichtspunkten des Kulturtransfers nicht allein die Logik der Mission oder eines einseitigen Zivilisationsexports. Die Neuzeit verfügte vielmehr über Elemente der globalen Kommunikation, des kulturellen Transfers und der interkulturellen Übersetzung, wie spannungsvoll und asymmetrisch diese auch immer gewesen sein mögen.
IV. Formen der kulturellen Objektivierung: Institutionen, materielle Kultur und die kulturelle Bedeutung des Raums 1. Alle bisher behandelten Aspekte der neuzeitlichen Kultur waren gleichermaßen durch Institutionen geprägt, deren Wandel sich in Recht und Politik ebenso auswirkte wie in den Strukturen von Wirtschaft, Beruf und Familie, Bildungswesen und Kirchen, Kunst und Alltag, Medien und Öffentlichkeit. Institutionen lassen sich als Faktoren der kollektiven Verhaltenssteuerung, der materiellen Reproduktion, der politischen Organisation und der gesellschaftlichen Integration begreifen, deren kulturelle Leistung darin besteht, die Regelkonformität, Berechenbarkeit und Erwartbarkeit sozialen Handelns sicherzustellen.60 Stärker noch als kollektive Mentalitäten sind sie im Sinne einer »kulturell geformten Sozialstruktur«61 individuellen Handlungsintentionen nicht unmittelbar verfügbar, sondern liegen ihnen immer schon bestimmend voraus. Institutionen existieren daher sowohl in internalisierter wie externalisierter Form, d.h. sie können einerseits den Charakter kultureller Normensysteme und symbolischer Ordnungen annehmen,62 die in Prozessen familiärer, schulischer oder beruflicher Sozialisation internalisiert werden; sie können andererseits aber auch nach einer Definition Max Webers in Form materiell versachlichter »Dauergebilde« des sozialen oder politischen Lebens auftreten und die menschliche Lebensführung unter Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 363–425. 60 Martin R. Lepsius: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990. 61 Karl Siegbert Rehberg: »Eine Grundlagentheorie der Institutionen: Arnold Gehlen. Mit systematischen Schlussfolgerungen für eine kritische Institutionentheorie«, in: Gerhard Göhler u.a. (Hg.), Die Rationalität politischer Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden 1990, S. 115144, zit. S. 136; ders.: Ansätze zu einer perspektivischen Soziologie der Institutionen, Aachen 1973. 62 Gert Melville (Hg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln u.a. 2001. 183
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Anwendung äußerlichen Zwangs strukturell determinieren – etwa im Sinne der neuzeitlichen Polizeiordnungen oder anderer Elemente der Sozialdisziplinierung. Ausgehend von diesen kultursoziologischen Grundbestimmungen erweisen sich Prozesse der Institutionenbildung und des institutionellen Wandels in der neuzeitlichen Geschichte unter drei Gesichtspunkten als besonders folgenreich: Ein erster wesentlicher Aspekt der neuzeitlichen Institutionenbildung, nämlich die Tendenz zur Versachlichung sozialer Beziehungen, kommt nicht allein in der Genese des Kapitalismus, sondern auch in der neuzeitlichen Staatsbildung zum Ausdruck. Dazu gehört vorrangig jener Typus politischer Rationalisierung, den Max Weber mit dem Begriff der »legalen Herrschaft« beschrieben und als »spezifisch modern« definiert hat.63 Basierend auf den Prinzipien der Gewaltenteilung, auf einem öffentlichen Verwaltungs-, Gesetzgebungs- und Justiz-Apparat sowie geprägt durch die Ersetzung persönlicher Bindungen durch sachliche Amtsgewalt, setzte sich diese Organisations- und Herrschaftsform im Zuge der neuzeitlichen Geschichte langfristig durch. Ein weiteres Grundelement des neuzeitlichen institutionellen Wandels war die Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme, die sich innerhalb der oben bereits angesprochenen religiösen, ästhetischen und kognitiven Kultur vollzog, darüber hinaus aber auch ein grundsätzliches Merkmal aller Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens seit der Frühen Neuzeit darstellte. Sie war durch den Aufbau von Institutionen flankiert, in denen sich die kulturelle Eigengesetzlichkeit dieser verschiedenen Sphären historisch niederschlug. Ein drittes Merkmal institutionellen Wandels liegt schließlich in der neuzeitlichen Institutionenkritik begründet, die in struktureller Spannung zu den ordnungs- und systemstabilisierenden Funktionen von Institutionen stand. Die sozialen Konflikte, politischen Bewegungen und Revolutionen der Neuzeit, aber auch kulturelle Bewegungen wie die Aufklärung waren von einer ausgeprägten Kritik der jeweils herrschenden Institutionen begleitet, die sich zu drei prägenden Typen ausdifferenzieren lässt: Eine ästhetische Tradition dieses neuzeitlichen Antiinstitutionalismus repräsentiert etwa die Kulturkritik der Romantik: Sie artikuliert das Leiden des Menschen an einer Situation der Entzweiung, in der die Grundlagen selbstbestimmter Subjektivität, sinnlich-persönlicher Bindungen und kultureller Traditionen den Zwängen rationaler Ordnungen
63 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, a.a.O., S. 267f. 184
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und unpersönlicher Lebensmächte unterworfen werden und darin verloren gehen.64 Darüber hinaus war die Neuzeit aber auch durch eine lange Tradition politischer Institutionenkritik gekennzeichnet, die in Revolten ebenso formuliert wurde wie in den anlässlich von Ständeversammlungen vorgebrachten Gravamina oder in den Suppliken der Untertanen. Auch die Französische Revolution und andere Großereignisse des bürgerlichen Revolutionszeitalters waren durch die politische Kritik an den Herrschaftsinstitutionen der Monarchie, des Adels oder der geistlichen Herrschaft geprägt. Ein dritter, eher an den sozialen Folgen institutioneller Herrschaftszwänge ansetzender Typus wird schließlich in der Fundamentalkritik der neuzeitlichen Institutionen als »versteinerten Verhältnissen« greifbar, wie sie Karl Marx in seinen Frühschriften formulierte, insbesondere in der Einleitung zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie oder den Pariser Manuskripten aus den Jahren 1843/44. Diese Kritik basierte auf einer entfremdungstheoretisch operierenden Analyse des Privateigentums und der Arbeitsteilung als Basisinstitution des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Verhältnisse im Vollzug revolutionärer Praxis ›zum Tanzen zu zwingen‹ (MEW 1, 381) repräsentierte geradezu einen welthistorischen Akt der Freiheit, denn im Tanz der Institutionen vollzog sich für Marx nichts Geringeres als der kulturelle Wiedergewinn eines sich selbst im Zustand der Entfremdung abhanden gekommenen Menschen als Gattungswesen. 2. Eine weitere Ebene der kulturellen Objektivierung kommt im Begriff der materiellen Kultur zum Ausdruck. Es kennzeichnet den Menschen als animal symbolicum, dass auch sein Verhältnis zu den Gegenständen, die ihn umgeben, kulturell definiert ist. Das Repertoire dieser materiellen Kultur ist umfassend und reicht gewissermaßen von der Königskrone über die Kirchenausstattung bis zur Brille. Unter typologisierenden Gesichtspunkten bietet sich angesichts dieser unendlichen Vielfalt mit Blick auf die neuzeitliche Geschichte die grundsätzliche Unterscheidung einer alltagsweltlichen, einer ästhetischen und einer wissenschaftsspezifischen Kultur der Dinge an: Die alltagsweltliche Ebene der materiellen Kultur erstreckt sich vor allem auf die Gerätschaften, die im Zuge des technischen Wandels die neuzeitliche Lebensführung prägten – von der Haushaltstechnik bis zu den massiven Auswirkungen der Industrialisierung auf die materielle Infrastruktur des Alltags. Darüber hinaus sind aber auch die gegenständlichen Elemente der sozialen Distinktion, der symbolischen Repräsenta64 Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007. 185
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
tion oder auch der kulturellen Abgrenzung betroffen. Am Beispiel der Lebensstile ist bereits auf die statusvermittelnden Elemente des Luxuskonsums, der Kleidung und Mode sowie der ostentativen Zurschaustellung von Reichtum und Geschmack hingewiesen worden.65 In diesem Zusammenhang war auch die Entwicklung der neuzeitlichen Wohnkultur, mit der sich die Differenzierung von Lebensräumen und Wohnbereichen verband, von einem vielfältigen Bedeutungswandel der Dinge begleitet. Dies zeichnet sich etwa an der zunehmenden Ausdifferenzierung der Innenarchitektur im Rahmen der neuzeitlichen Architektur ab, aber auch an der steigenden Bedeutung des Interieurs als Mittel der sozialen Distinktion und der symbolischen Strukturierung öffentlicher Gebäude sowie der Sphären der Privatheit. In der Geschichte des Sammelns und Zeigens von Gegenständen kommt darüber hinaus ein ästhetischer Aspekt der materiellen Kultur und zugleich eine auratische Qualität der Dinge zum Ausdruck. Ihre frühneuzeitliche Gestalt gewann dieses Element im Zeitalter der Renaissance und des Barock im Rahmen der Kuriositätenkabinette, Kunst- und Wunderkammern von Fürsten und Adligen, die mit ihnen sowohl repräsentative Zwecke verfolgten als auch dem Reiz des Fremden und Außergewöhnlichen nachgaben. Ausgehend von diesen Anfängen neuzeitlichen Sammelns bildete sich zunächst in Italien, seit dem 18. Jahrhundert auch nördlich der Alpen, allmählich ein Museumswesen heraus, das zunehmend in öffentliche Regie überging. Sein Aufstieg zu einem wichtigen Medium des neuzeitlichen Kunstkonsums gründete auf der sozialen Verbreiterung eines kunstinteressierten Publikums und war durch eine sich professionalisierende, dezidiert ästhetischen Kriterien gehorchende Ordnung und Darstellung des Gesammelten gekennzeichnet.66 Die Bandbreite der Artefakte reichte dabei von den in Kunstsammlungen und Galerien präsentierten Originalen der großen Meister bis zu den Alltagsutensilien eines Heimatmuseums. Auch die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaftskultur schließlich ist ohne die materielle Gegenständlichkeit ihrer Forschungsgegenstände nicht denkbar. Es ist evident, dass sich jede Form der naturwissenschaftlichen Erkenntnis in der genauen Beobachtung materieller Dinge und Zusammenhänge vollzieht. Die Klassifizierungsarbeit der Botanik etwa, die Anlage botanischer Gärten und das systematische Sammeln – etwa im Rahmen von Herbarien oder anderen gelehrten 65 Michael North: Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, a.a.O. 66 Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1994; Gottfried Korff: Museumsdinge. Deponieren – exponieren, Köln u.a. 20072. 186
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Sammlungen – lassen sich in diesem Sinne als Phänomene der materiellen Kultur verstehen. Von der Warte der Geisteswissenschaften aus hat v.a. Johann Gustav Droysen darauf beharrt, dass deren Erkenntnisarbeit in der spezifischen Gegenwärtigkeit des Vergangenen und in der materiellen »Präsenz«67 der Dinge begründet sei: »Sie liegen uns so gegenwärtig vor, dass wir sie erfassen können, und nur weil sie so noch in der Gegenwart stehen, können wir sie erfassen und [...] als Material historischer Forschung benutzen«.68 Der Erkenntnisanspruch der Geisteswissenschaften basiert insofern auf der Dingwelt der materiellen Kultur und realisiert sich im Rahmen der methodischen Forschung, die es erst ermöglicht, die in den Quellen materialisierte Überlieferung zu erschließen. Exemplarisch verkörpert sich diese hermeneutische Kompetenz in der neuzeitlichen Archäologie, der Altertumskunde und ihren hilfswissenschaftlichen Disziplinen, oder auch in der frühneuzeitlichen Gelehrtenfigur des Antiquars, dessen vornehmste Aufgabe in der kulturellen Rettung und professionellen Bewahrung der Dinge bestand. 3. Der ausgeprägte »sense of place«69 sowie die damit verbundene Konjunktur des Raums innerhalb der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion70 verweist schließlich auf ein weiteres Element der kulturellen Objektivierung: Sie repräsentiert die zunehmende historische Sensibilität für die Auswirkungen und Einflüsse, die räumliche Kontexte und ortsgebundene Milieus auf geschichtliche Entwicklungen haben.71 Unter methodischen Gesichtspunkten stellt sich dabei die Herausforderung, einer schwierig aufzulösenden Doppelnatur räumlicher Faktoren des geschichtlichen Wandels gerecht zu werden. Diese besteht darin, dass Räume gleichermaßen objektive Bedingungen von Lebensumständen und subjektive Resultate kultureller Deutung sind. Die methodische Wahrung der Balance zwischen der subjektiven und der objektiven Qualität des Raums wäre jedoch die Voraussetzung dafür, einerseits den naturalistischen Kurzschluss zu vermeiden, ihn zu einer unverrückbaren Determinante menschlicher Lebensformen zu ontologisieren, andererseits aber auch der kulturalistischen Gefahr zu entgehen, ihn zu entmate67 Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt/Main 2004. 68 Johann Gustav Droysen: Historik. Textausgabe von Peter Leyh, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977 (Orig. von 1857), S. 9. 69 David Blackbourn: A Sense of Place. New Directions in German History, London 1999. 70 Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, a.a.O., S. 284-328. 71 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. 187
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
rialisieren und in Konstruktion und Diskurs aufgehen zu lassen. Vor diesem Hintergrund eröffnet eine Historisierung des Raums und menschlicher Umwelten mit Blick auf die Geschichte der Neuzeit vielfältige Forschungsperspektiven und Themenfelder: Insgesamt zeigen sich neuzeitliche Gesellschaften durch eine Fülle räumlich gebundener Umwelten geprägt, in denen sich jeweils eigenständige lokale Kulturmilieus oder regionale Kulturlandschaften ausbildeten. Die einschlägigen Beispiele dafür reichen von der höfischen Gesellschaft mit ihren ausgefeilten symbolischen Ordnungen der Repräsentation, über die neuzeitlichen Städte und Metropolen mit ihren jeweiligen Ausprägungen von Urbanität, bis zur Ausbildung spezieller Gewerberegionen oder Montanreviere im Zuge industrieller Entwicklungen. In allen diesen sozialen Feldern etablierten sich spezialisierte Formen kultureller Kommunikation und Vergesellschaftung, die nur unter Berücksichtigung ihrer räumlichen bzw. ortsspezifischen Rahmenbedingungen historisch angemessen zu verstehen sind. Darüber hinaus wurden räumliche Milieus in der Neuzeit auch zu Kristallisationskernen kultureller, politischer oder sozialer Identität, um die sich auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene starke emotionale Bindungen und Zugehörigkeiten formieren konnten, vom Heimatbewusstsein über den Regionalismus bis hin zu Ethnizität und Nationalismus. Auch in der hochgradig politisierten Semantik von Volk oder Vaterland wird der Raum als ein dominanter Faktor der sozialen Gruppenbildung deutlich erkennbar. Einen weiteren Typus der symbolischen Besetzung von Orten bilden schließlich die zentralen Erinnerungsorte (franz. lieux de mémoire) der neuzeitlichen Nationalkultur wie z.B. die Bastille, die sich als Symbol des Republikanismus im französischen Kollektivgedächtnis verankern konnte. Weitere Facetten der spezifisch kulturellen Deutung und Bedeutung des Raums repräsentieren die verschiedenen Modi seiner Ästhetisierung in den neuzeitlichen Künsten. Die ästhetische Gestaltung von Räumen war v.a. für die Architektur konstitutiv, etwa bei der Anlage von Gärten und Parks oder bei der Planung repräsentativer Gebäude oder öffentlicher Räume – ähnlich wie in der neuzeitlichen Stadtplanung. Aber auch im Kontext der neuzeitlichen Literatur und bildenden Kunst etablierten sich spezielle Gattungen, die sich der ästhetischen Darstellung von Räumen widmeten, so etwa das Landschaftsbild oder auch die Idylle als literarische Darstellung eines Arkadiens, eines idealen, lieblichen Orts im Sinne des locus amoenus. Auch die ästhetische Kategorie der Erhabenheit, die sich seit dem späten 17. Jahrhundert herausbildete, zielte mit der Artikulation überwältigender Naturphänomene oder des Naturschönen auf einen spezifisch räumlichen Aspekt der kulturellen Erfahrung. 188
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Der Begriff des Erhabenen verweist bereits darauf, dass auch die Natur als eine besondere Form des Raums sowie die menschliche Naturbeziehung im Laufe der Neuzeit Gegenstand intensivster kultureller Deutungsanstrengungen waren.72 Diese schlugen sich nicht allein in der Entwicklung wissenschaftlicher Disziplinen wie der Naturgeschichte, der Geographie oder Geologie nieder, sondern auch im Wandel der kulturellen Wahrnehmung einzelner Naturphänomene wie z.B. der Wildnis oder des Gebirges, die ihren Schrecken verloren und geradezu zu einem kulturellen Faszinosum wurden, dem man sich in der Neuzeit etwa in Gestalt des Alpinismus hingeben konnte. Auch die Strategien der kulturellen Verarbeitung von Naturkatastrophen wie Erdbeben, Dürren und Überschwemmungen, von Umweltproblemen wie der Luftverschmutzung oder des Lärms oder schließlich der Entwicklung des Klimas73 und seiner tiefgreifenden Auswirkungen auf die neuzeitlichen Gesellschaften waren kontinuierlichen Anpassungen und Transformationen ausgesetzt. Wie tiefgreifend dabei die Auswirkungen natürlicher Prozesse auf die neuzeitliche Kultur im Einzelnen sein konnten, zeigen schlaglichtartig die Reaktionen auf das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, das nicht nur eine bis dahin einzigartige öffentlich-mediale Reaktion hervorrief, sondern auch in breiten Intellektuellenkreisen die Theodizee-Debatte mit neuem Zündstoff versorgte. Auch der signifikante Zusammenhang, der sich zwischen der klimatischen Extremphase der Kleinen Eiszeit zwischen 1550 und 1750 und der Intensivierung der Hexenprozesse in Europa herstellen lässt, verweist schließlich deutlich auf die engen Beziehungen zwischen Natur und kultureller Erfahrung.
V. Ausblick Die hier grob umrissenen Elemente und Strukturen der neuzeitlichen Kultur markieren übergreifende Gesichtspunkte der historischen Interpretation. Als solche bieten sie noch keine Geschichte der neuzeitlichen Kultur, sondern repräsentieren eher ein Gerüst für ihre Interpretation. Die Aufgaben einer darauf aufbauenden Kulturgeschichte der Neuzeit würden erstens darin bestehen, die Kulturentwicklungen der Epoche von der Frühen Neuzeit bis zum Beginn der Moderne in ihren geschichtlichen Verläufen und Kontexten darzulegen. Eine zweite Aufgabe bestün72 John F. Richards: The Unending Frontier. An Environmental History of the Early Modern World, Berkeley u.a. 2003. 73 Wolfgang Behringer: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007; ders. u.a. (Hg.): Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit«, Göttingen 2005. 189
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de im historischen Vergleich und in der Binnendifferenzierung der Kulturentwicklungen Europas. In diesem Punkt steht die derzeitige NeuzeitForschung noch weitgehend am Anfang, auch wenn inzwischen erste Ergebnisse vorliegen, etwa im Rahmen des »Handbuchs der Geschichte Europas« (ab 2000). Drittens wäre die geschichtliche Eigenart und Spezifik der europäischen Kultur im historischen Abgleich mit anderen, nicht-europäischen Entwicklungswegen schärfer zu profilieren, um mithilfe interkulturell ausgerichteter und kulturvergleichend ansetzender Forschungsperspektiven die Grenzen eines traditionellen Eurozentrismus zu überwinden und den Blick auf die geschichtliche Vielfalt unterschiedlicher Entwicklungspfade zu öffnen. Mit diesen drei Aufgaben sind wesentliche Herausforderungen eines historischen Begriffs der Neuzeit umrissen.
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Vermessene Moderne. Zur Bedeutung von Maß, Zahl und Begriff für die Entstehung der modernen Kultur SEBASTIAN MANHART
Die Kultur Europas beschreibt sich selbst als eine systematische Hervorbringung des Neuen, als eine Unterscheidungspraxis, die andauernd vergleicht, um Wiederholungen als Wiederholungen und Abweichungen als Abweichungen erkennen und darstellen zu können. Diese zumindest von der neueren Kulturreflexion1 gepflegte Vorstellung findet ihre ersten Anhaltspunkte in den Hervorbringungen des Handwerks, der Philosophie und der Künste seit dem Spätmittelalter. Die Markierung der Besonderheit der modernen Kultur verdankt sich also konsequenterweise selbst der Praxis des in diesem Fall historischen Vergleichs. Jede Bestimmung dessen, was Kultur ist, muss sich unter den Bedingungen der Moderne mit anderen Angeboten und Möglichkeiten der Bestimmung vergleichen lassen. Und alles, was verglichen wird, wird darin als Element von Kultur, als kulturell bedingt kenntlich gemacht. Für jede Form der historischen Annäherung gilt dasselbe. Theoretisch hat dies zur Vorabberücksichtigung von Vergleichsperspektiven und zur fortschreiten-
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Vgl. z.B. nur die Beiträge von Rustemeyer und Baecker in diesem Band; bekanntermaßen sieht Luhmann den Kulturbegriff in seinem Theoriepotential durchaus skeptisch vgl. vor allem Niklas Luhmann: Kultur als historischer Begriff, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, Frankfurt/Main 1995, S. 31-54; positiver sieht dies Dirk Baecker vgl. ders.: Wozu Kultur?, Berlin 2001; zur Fülle nicht selten davon abweichender Begriffsbestimmungen und Herangehensweisen vgl. nur für die historischen Kulturwissenschaften den Beitrag von Jaeger in diesem Band. 191
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
den Komplizierung des dabei eingesetzten begrifflichen Arsenals geführt. Geschlossene Kulturmodelle werden zu sich überlagernden, bloß kontingenten Praktiken der Lebensführung herabgestuft, die im Wiederholungsfalle habitualisierte Gewohnheitsbildungen befördern, aber keinen substantiellen Ausschließlichkeitsanspruch mehr begründen können. Eine solche Bestimmung von Kultur bleibt freilich selber als kontingente Theoretisierung erkennbar, deren Annahmewahrscheinlichkeit vom Vergleich mit anderen möglichen Zugangsweisen und deren Fähigkeit zur Integration spezifischer, den Abnehmer interessierenden Fakten abhängt. Vor diesem Hintergrund scheint eine historische Rekonstruktion nahezuliegen, die das Entstehen eines solchen Verständnisses von Kultur plausibel macht. Denn hält man das permanente, in einer Vielzahl von sozialen Zusammenhängen sogar systematisch betriebene Kontingentsetzen des Gegebenen für ein typisches Element der Kultur der Gegenwart, dann impliziert dies eben auch, dass es in der Vergangenheit anders war. Um die an sich wenig originelle These einer allmählichen Zersetzung des geschlossenen mittelalterlichen Kosmos hin zur Überlagerung kontingenter Vergleichsperspektiven beschreiben zu können, gibt es selbst wieder zahllose Möglichkeiten. Man könnte auf die Umwälzungen durch die Entdeckungen ferner Völker mit anderen Kulturen verweisen, auf die Aufspaltung der einen christlichen Religion, auf die europaweite Verbreitung der Vokabel »neu« in den Werken zahlreicher Gelehrter, verbunden mit dem gescheiterten Versuch, die mit der Orientierung am Neuen entstehenden Dynamisierungseffekte durch den nicht nur unter Humanisten so verbreiteten Gedanken einer Wiedergeburt der Antike einzudämmen. Der einsetzende Wandel der gesellschaftlichen Praxis lässt sich durch das bewusste Anknüpfen an die Vergangenheit nur noch orientieren, aber nicht mehr kontrollieren.2 Man könnte beim Buchdruck einsetzen, durch den nicht nur jeder Gedanke fixiert, sondern auch gesellschaftsweit verbreitet werden kann. Neues lässt sich dann praktisch nicht mehr aus der Welt schaffen und wird als Neuheit oft erst im Vergleich mit anderem Gedrucktem überhaupt erkennbar. Es entsteht eine von Zeit, Raum und Person enthobene Praxis des Vergleichs, welche die Tradition wie auch die neuen Ideen einer permanenten Kritik aussetzt. Die Existenz eines massentauglichen Verbreitungsmediums ist jedenfalls ganz sicher eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Wiederholungen als Abweichungen und Abweichungen als Wiederholungen 2
Vgl. nur Francis Bacon: Neues Organon der Wissenschaften, herausgegeben von Anton Theobald Brück, Darmstadt 1962 [Nachdruck der Ausgabe von 1830]; Johannes Keppler: Neue Astronomie, herausgegeben von Max Caspar, München 1990.
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einer Form beschrieben werden und die daran anschließende Reflexion im Hinblick auf das Kontingentsetzen aller Bestimmungen gesellschaftsweit systematisch genutzt werden kann.3 Im Folgenden wird es darum gehen, sich einige Aspekte des Verhältnisses der mittelalterlichen zur modernen Kultur entlang einer Untersuchung symbolischer Formen, Zeichen und Zeichensysteme vor Augen zu führen. Auf diese Weise kann eine grundlegende Differenz zwischen der mittelalterlichen und der modernen Praxis sichtbar werden, welche den dominanten Typ der verwendeten Zeichen betrifft.
I. Im Spätmittelalter beginnt, es ist nicht ganz klar warum, das Unendliche seinen Ort in der Transzendenz zu verlassen und wandert in die bisher als endlich aufgefasste Sphäre des Menschen ein.4 Anfangs ist es nur ein Begriff, dessen zweifelhafter Charakter es ratsam erscheinen ließ, ihn mit dem Göttlichen zu assoziieren. Aber nicht Gott selbst kommt mit dem Begriff des Unendlichen in die Welt, wie noch Luther und Calvin 3
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Dies ist die Basis für die Etablierung und Durchsetzung so feiner Vergleichskategorien wie aemulatio (Nacheifern) und der bloßen imitatio (Nachahmen) in der Renaissance, die es u.a. erlauben Alters- von Zeitgenossen zu trennen (vgl. hierzu Paolo Rossi: Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, München 1997, S. 72ff.). Nicht zufällig werden diese und ähnliche Unterscheidungen im Umgang mit den antiken Texten gewonnen und nicht zufällig halten sie dem Druck des ‚Neuen‘ als Orientierungspunkte nicht lange stand und werden durch andere wie z.B. Bildung vs. Erziehung etc. ersetzt. Den Zusammenhang von Durchsetzung des Positionssystem, der dafür notwendigen Verwendung der Null und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten einer mathematischen Behandlung des Unendlichen verdeutlicht Charles Seife: Zwilling der Unendlichkeit. Eine Biographie der Zahl Null, Berlin 2000; weiterhin Robert Kaplan/Ellen Kaplan: Die Geschichte der Null, München 2003; zum Umgang mit dem Unendlichen auch John D. Barrow: Einmal Unendlichkeit und zurück. Was wir über das Zeitlose und das Endlose wissen, Frankfurt/Main 2006; zur Praxis des mittelalterlichen Zahlengebrauchs, der weitgehend ohne Bezug auf das Unendliche auskommt vgl. besonders Arno Borst: Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, Heidelberg 1986; ders.: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, Berlin 1990; ders.: Der Streit um den karolingischen Kalender, Hannover 2004; ders.: Schriften zur Komputistik im Frankenreich von 721 bis 818, 3 Bde, Hannover 2006; sehr ausführlich behandelt die Lehre und die Probleme der Mathematik im Frühen Mittelalter Brigitte Englisch: Die Artes Liberale im Frühen Mittelalter (5.-9. JH). Das Quadrivium und der Komputus als Indikatoren für die Kontinuität und Erneuerung der exakten Wissenschaften zwischen Antike und Mittelalter, Stuttgart 1994. 193
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
in Umgehung der katholischen Hierarchie für den geistigen Christenmenschen hoffen und was Spinoza die Konsequenz ziehen lässt, gleich eine Welt zu konstruieren, die mit Gott selber identisch ist.5 Nicht der Herr ist es, der selber kommt und für Ordnung sorgt, sondern nur eines seiner Attribute. Die Folgen aber für die Begriffswelt des Mittelalters sind verheerend. Der Umgang mit dem Unendlichen zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Was anfangs scheinbar nur die überkommenen Begriffe der christlich-aristotelischen Metaphysik betrifft, weitet sich schnell auf die Ansicht und Stabilität gesellschaftlicher Verhältnisse und das Selbstverständnis der Subjekte aus. Der Fall der schützenden Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz setzt die angemessen unscharfen und scheinbar harmonisch aufeinander bezogenen Begriffe des weitgehend geschlossenen Weltbilds des Mittelalters der kalten Zugluft unendlich vieler anderer Möglichkeiten aus. Und es ist nicht nur ein leichter Schnupfen, der jetzt alle bisher so beständigen Ordnungsmuster befällt. Freilich wird jetzt Neues, Anderes denkbar und möglich. Es ist eine Befreiung. Aber es wird damit auch zu einem permanenten Kraftakt, in der begrifflichen Reflektionsbewegung zu einem Ende zu kommen. Nichts mag mehr auf Dauer zu überzeugen. Nicht nur die Katholische Kirche, mit ihrem hochsensiblen Wahrnehmungsapparat für gefährliche semantische Pfade, reagiert hierauf mit einer Verhärtung ihrer dogmatischen Position. Auch der frühneuzeitliche Staat versucht nicht nur militärisch, sondern auch begrifflich die Oberhand über die Köpfe zu gewinnen, man denke nur an die im frühneuzeitlichen Kontext doch recht seltsamen Bemühungen um die Installierung eines öffentlichen Schulwesens, schließlich ist die kleine staatliche Verwaltung damit restlos überfordert. Und selbst die zunehmende Absicherung der Vorstellung einer dem Staate unverfügbaren inneren Gewissensfreiheit ist in der damit angezielten scharfen Abgrenzung von subjektivem Innen und objektivem Außen auch eine Art Eindämmungsstrategie. Nicht zuletzt kann die Entwicklung der modernen Wissenschaft auch als der nicht selten verzweifelte Versuch bezeichnet werden, die Welt wieder auf den Begriff zu bringen, um endlich zu einem Ende kommen zu können. Das gilt für die begrifflich orientierte Philosophie ebenso wie für die sich erst allmählich herausbildenden Naturwissenschaften, die sich von diesen abzulösen beginnen, indem sie versuchen, alles auf einen Begriff, den der Zahl zu bringen, dessen vielfältige Konkretionen sich über Formeln verknüpfen lassen. Neues ist jedenfalls nur dann erträglich, wenn es
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Vgl. Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, übersetzt von Otto Baensch, Hamburg o. J.
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wahr ist, und wenn Gott hier keine Sicherheit mehr verspricht, dann kann, so die Meinung der Gelehrten, nur die Evidenz der sinnlichen Wahrnehmung weiterhelfen. Diese erscheint aber als bloß individuelle zusehends trügerisch und bedarf selber einer Beglaubigung, der die Methodisierung des Verfahrens ihrer Hervorbringung entspricht – der Weg in die Kalkülisierung wissenschaftlicher Praxis.6 Es kann hier im Übrigen offen bleiben, ob sich in diesem Sinne zuerst die Begriffe oder die sozialen Verhältnisse ändern. Im Kontext einer Theorie, in der Erwartungsstrukturen, die einzigen Strukturen der Gesellschaft sind, ist dies keine weiterführende Unterscheidung. Die spätmittelalterliche Welt des Nikolaus von Kues ist noch statisch. Der Mensch ist Teil einer stabilen Ordnung. Er erhält seine Bestimmung über den Platz, den er in dieser Ordnung einnimmt. Die Ordnung versteht man, indem man ihren Grund einsieht. Ihr Grund ist Gott. Aus ihm folgt mit Gewissheit, wie die Welt beschaffen ist. Sie ist harmonisch nach Maß und Zahl. Allerdings hat seine Welt schon erste Risse. Sie ist unendlich, was den Kardinal nicht nur zu der Einsicht treibt, dass die Erde unmöglich im Mittelpunkt der Welt stehen könne, sondern auch dem Menschen seinen Einzelplatz im Kosmos raubt. Es gibt jetzt unzählige Welten, unendlich oft schöpft Gott den Menschen. Als die katholische Kirche einzusehen beginnt, was das für Folgen hat, muss Giordano Bruno hierfür auf den Scheiterhaufen.7 Aber während Nikolaus von Kues die aus dem Unendlichen entspringenden Paradoxien und die Konzentration auf den Menschen als Maß aller Dinge noch zur Erkenntnis Gottes als einem im Jenseits der Welt des Menschen Seienden nutzt,8 sieht schließlich Humboldt am Ende der Frühen Neuzeit in der
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Vgl. zur Herleitung des Begriffs aus der Mathematik der Frühen Neuzeit und speziell der Logik und Mathematik bei Leibniz grundlegend Sibylle Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin 1991; vgl. auch dies.: Symbolische Maschinen, Darmstadt 1988. Selbstverständlich ist die Angelegenheit komplizierter; zu Brunos ausgiebigen Spekulationen hinsichtlich des Unendlichen vgl. aber Giordano Bruno: Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, Hamburg 1977, insbes. S. 97ff. So sei der »Mensch« »einem messenden Wesensgrund alles Geschaffene[n]« gleich, dessen »Vernunft« »Ähnlichkeiten von Ähnlichkeiten der göttlichen Vernunft« »erschafft«, so dass Selbsterkenntnis vor allem Erkenntnis der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist, aus der sich z.B. die Möglichkeit einer Analogie zwischen der göttlichen Dreieinigkeit und der menschlichen Natur ergibt (vgl. Nicolaus v. Kues: De beryllo/Über den Beryll, in: ders., Philosophisch-Theologische Werke Bd. 3, Hamburg 2002, S. 1-91, zit. S. 7f.; zur Dreieinigkeit ebd., S. 41ff.; zur Erkenntnis der Trinität vgl. auch ders.: De docta ignorantia/Die belehrte Unwissen195
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Selbsterkenntnis des Menschen die letzte verbliebene Möglichkeit, noch einmal Gewissheit über eine Welt zu erlangen, die nun auch sozial in sich unendlich vielfältig ist und daher zwischenzeitlich auch endgültig aus den Fugen zu geraten scheint. Um die sich verändernde Welt, und das heißt nicht nur Staat und Geschichte, sondern begriffliche Vorstellungen überhaupt, verstehen zu können, kommt jetzt der Mensch auf eine Weise in den Blick, die ihn zum letzten Grund und Anker einer ansonsten ungewissen Erkenntnis macht. Schon bei Descartes ist dieser Ausweg ein Akt der, wenn auch methodisch genutzten, Verzweiflung. Wo der Mensch, so Humboldt, wie in früheren Zeiten Teil eines feststehenden geordneten Ganzen ist, könne man alles im Hinblick auf die Struktur und Stabilität dieser äußeren Ordnung beurteilen. »Wenn aber alles ausser uns wankt, so ist allein noch in unserm Innern eine sichere Zuflucht offen, und seitdem in einem der bedeutendsten und cultivirtesten Theile der Erde eine wirkliche Umkehrung aller Verhältnisse Statt gefunden hat, ist es immer zweifelhaft, wieviel sich in den übrigen davon erhalten wird? zumal, da jene Umkehrung in einem philosophischen Zeitalter als das einzig-Rechtmäsige, als etwas absolut – und moralisch Nothwendiges vorgestellt wird.«9 Die Revolution in Frankreich macht endgültig deutlich, dass aus der doppelten Kontingenz von Ego und Alter im Naturzustand die doppelte Kontingenz von Regierung und Regierten in der Gesellschaft geworden ist. Alles ist auch anders möglich, sowohl das Volk als auch die Regierung. Weiß man dies, kommt alles auf das Wissen an - und das ändert alles, weil sich nun auch das Wissen durch seine systematische Er-
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heit I, in: ders., Philosophisch-Theologische Werke Bd. 3, Darmstadt 2002, z.B. S. 37ff.; zur Rolle der Mathematik als symbolisches Mittel zur Einsicht des unendlichen Einen, obwohl »alles Mathematische [...] endlich« sei, vgl. ebd., S. 41ff., zit. S. 45; zu den Paradoxien des Unendlichen als Mittel zur Erkenntnis Gottes vgl. z.B. ders.: De docta ignorantia/Die belehrte Unwissenheit II, in: ebd., S. 5ff.). Wilhelm v. Humboldt: Über den Geist der Menschheit [1797], in: ders., Werke in fünf Bänden, herausgegeben von Andreas Flitner/Klaus Giel, Bd. I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1960, S. 506-518, zit. S. 506; praktisch erhofft sich Humboldt eine Lösung durch die Selbststeuerung des Menschen im Bildungsprozess, wobei Bildung die innere Unendlichkeit des Menschen mit der äußeren Unendlichkeit der Welt in einem selbstreferentiellen Prozess vermittelt, der nicht nur bei Humboldt in Analogie zum Prozess des Lebens beschrieben wird vgl. zu den Kontexten eines solchen Verständnisses von Bildung Sebastian Manhart: Im Begriffsgeflecht. Zur Entstehung der Bildungssemantik um 1800 zwischen Selbstorganisation, Leben, Mensch und Markt, in: Christiane Thompson/Gabriele Weiß (Hg.), Bildende Widerstände – widerständige Bildung. Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie, Bielefeld 2008, S. 171-193.
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schließung ständig ändert. Mit der Revolution wird aus der Frage nach politischen Veränderungen die Frage nach der Veränderung der Politik, die auf eine sich ändernde Gesellschaft mit politischen Maßnahmen zur Veränderung der Gesellschaft reagiert. Und dann ist kein Halten mehr. Wenn es aber die festen gegebenen Punkte, von denen aus man denken kann, nicht mehr gibt, wenn Gott die Welt nicht als bestimmte einfach aus sich herausgestellt hat, wenn die Hierarchie keine naturgegebene Vorgabe mehr ist mit der man leben muss, dann ist das einzige, dessen man sich sicher sein kann, dass man dies wissen und alles andere sich ändern kann. Was können wir wissen? Was können wir tun? Was ist der Mensch? Diese drei Kantischen Fragen lauten nun eigentlich: Wie ist Wissen möglich, wenn sich das Gewusste ändern kann? Wie kann etwas getan werden, wenn alles getan werden kann? Und wie wird man ein bestimmter Mensch, wenn man auch anders möglich ist? Eine der Möglichkeiten einer Bearbeitung des Problems der doppelten Kontingenz ist das bewusste Anschließen an das Gegebene, das genau dadurch allerdings nichts einfach Gegebenes mehr ist. So forciert die geschichtliche Anschauung ein bewusstes Anschließen an die Vergangenheit und bringt auf diese Weise z.B. die historische Rechtsauffassung hervor, befördert die Dynamisierung der Ökonomie und eine pädagogische Praxis der Menschenbildung, die den Menschen zwar an der Natur ausrichtet und daraufhin erzieht, aber genau damit erklärt, dass die Natur hier nichts vorgibt. Was angeboten wird, sind Techniken der Stabilisierung des Beweglichen, von der Erziehung bis zu Zielfindungspraktiken, die nur als aufeinander bezogene und sich wechselseitig sichernde einen hinreichenden Zusammenhang versprechen, eine Kohäsion des Prekär-Sozialen zur inhärent dynamischen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Techniken verstehen sich nicht von selbst, bedürfen der Begründung und rechtfertigen sich nur im Hinblick auf Ziele, die sich wiederum nicht von selbst verstehen, da nun Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Ordnung etc. diese oder jene Form annehmen können. Es entstehen Orientierungsprobleme, Probleme der Stabilisierung von Erwartungen vor dem Hintergrund ihres Gegenteils, und der Zwang, diese Stabilisierung jetzt selbst leisten zu müssen, da man nicht wissen kann, was kommt. Zur reflexiven Behandlung der Zeit gehört auch, dass man von Vergangenheit auf Zukunft umstellt. Zukunft wird jetzt eine Ressource wie das Nichtwissen und Nichtkönnen auch. Wenn sich alles wandelt, dann scheint es dadurch erträglicher zu werden, dass es besser wird oder doch zumindest werden kann. So wird Erziehung als Leitbegriff im Sinne von bloß konservierender Imitation und Disziplinierung durch Bildung ersetzt. Die Forderung nach einer Abweichung von der Norm, wird im Anschluss an Humboldt dadurch geheilt, dass der in einem guten 197
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Sinne delinquente Mensch Teil der Idee der Menschheit bleibt. Die individuelle Abweichung wird originell, indem sie der zur Realisierung drängenden unendlich vielfältigen Form der Menschheit eine neue, bisher unbekannte Konkretion hinzufügt.10 Die Demokratisierung des Geniegedankens - eine bis heute währende Zumutung für jeden Einzelnen. Praktisch setzt aber auch Humboldt auf die Schule und damit die öffentliche Erziehung der Massen, und für einige wenige bleibt dann der organisierte Salon der Universität. Angesichts der überall registrierten beständigen Anzeichen des Wandels ist es aber ohnehin der Prozess selbst, die Geschichte und nicht der Mensch,11 der in der Folgezeit schnell die scheinbar verwaiste Position Gottes12 als letzten Grund aller Ordnung wie als Instanz der Gewissheit einer besseren Zukunft einnimmt. Der Rückgriff auf das Vergangene, das Gegebene als Geschichte ist unvermeidlich. Wer weit in die Zukunft schauen will, muss weit in die Vergangenheit sehen können. Aber weder das eine noch das andere bringt die Sicherheit des Sinns zurück.
II. Spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, wird auch die zunehmende Flut bedeutungstragender Zeichen als ein existentielles individuelles wie soziales Problem empfunden. Indikatoren hierfür sind z.B. der Aufstieg bildorientierter Medien, die scheinbar selbstevidente Kurzfassungen von Ereignissen und Zusammenhängen liefern, die anwachsende Diskussion über pädagogische Praktiken der Wissensvermittlung sowie die deutliche Zunahme des Rezensionswesens in Literatur und Wissen-
10 Vgl. hierzu Sebastian Manhart: Absichtlich unabsichtlich. Zum Verhältnis von Politik, Bildung und Pädagogik um 1800, in: Dirk Rustemeyer (Hg.), Erziehung in der Moderne. Festschrift für Franzjörg Baumgart, Würzburg 2003, S. 95-142. 11 Vgl. hierzu Sebastian Manhart: Der metaphorische Mensch. Zur Analogiebildung von Mensch, Staat und Geschichte in der Aufklärung und im Vormärz, in: Friedrich Jäger/Jürgen Straub (Hg.), Was ist der Mensch, was Geschichte? Annäherungen an eine kulturwissenschaftliche Anthropologie, Bielefeld 2005, S. 241-278. 12 »Allah braucht nicht mehr zu schaffen, wir erschaffen seine Welt«, heißt es z.B. bei Droysen (Johann Gustav Droysen: Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857), herausgegeben von Peter Leyh, Stuttgart 1977, S. 24); vgl. zum Historismus als Geschichtsreligion Wolfgang Hardtwig: »Geschichtsreligion - Wissenschaft als Arbeit - Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht«, in: HZ 25 (1991), S. 1-32. 198
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schaft.13 Die Eigendynamik der Medien und Zeichen entgleitet dem Menschen, zumindest kann er ihren Produktionen ersichtlich nicht mehr folgen. In der Fülle der Vergleichsmöglichkeiten findet er keinen Halt mehr, keine Perspektive lässt sich nicht durch eine andere ersetzen, keine Begriffsbewegung kommt mehr zum Stillstand. Die menschliche Wahrnehmung gleitet über die Vergleichsgesichtspunkte hinweg, ohne Ruhe finden zu können. Wir haben uns angewöhnt, den Aufstieg des modernen Denkens als einen Vorgang der Entdeckungen und Befreiungen zu beschreiben, ganz in Analogie zu den Entdeckungsreisen und sozialen Revolutionen in dieser Zeit. Aber genau so wie die Matrosen beim Aufbruch zu neuen Ufern auf die Schiffe, die Staatsbürger in die Staaten gezwungen werden mussten, ist der Aufstieg der Wissenschaften auch als permanenter Versuch zu verstehen, angesichts unendlicher Weiten des Nichtwissens das Abgleiten jeglicher begrifflicher Ordnung ins Chaos zu verhindern. Allein evidenzbasierte Wahrheiten scheinen noch Sicherheit versprechen zu können. So innovativ Wissenschaftler auch erscheinen mögen, motivational sind sie nicht selten sehr konservativ und in einem spezifischen Sinne mittelalterlicher, als sie es manchmal glauben mögen: Nichts ist so konservativ wie die Wahrheit. Natürlich liegt hier der Verweis auf die Historiker nahe, doch wer, wie die Physiker, nach der Weltformel sucht, sucht ein Äquivalent für Gott. Es ist allerdings kein Zufall, dass es jetzt eine Formel und kein Begriff mehr ist. Da sich die Reflektionsbewegung begrifflich nicht mehr stillstellen lässt, kommt es zu einer Art reziproker Homöopathie, bei der man eine Lösung der Probleme dadurch erwartet, dass man ein Mehr von dem braucht, was deren Ursache ist. Der Flut von Zeichen begegnet man mit mehr Zeichen, den Folgen der Wissenschaft mit mehr Wissenschaft, den Folgen des Kapitalismus durch mehr Einsatz von Kapital und dem Verschwinden eines fraglos gegebenen Sinns, indem man die Frage nach ihm systematisch stellt. So schreibt der politische Vordenker der Liberalen im Vormärz Friedrich Christoph Dahlmann angesichts der Vervielfältigung der Wissenschaften, der Wissensbestände und der diese überall verfügbar machenden Kommunikationsmedien, dass es »wahr« sei, »daß diese vielen Canäle des Wissens, von aller Welt Enden hergeleitet, unser Grundstück so durchfurchen, daß der festere Schritt und das gediegene Wesen leicht auf diesem zerstückelten Boden Schaden nimmt. Die Kluft zwischen Wissen und Können, Kraft des Verstandes und Kraft des
13 Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001, S. 87ff. 199
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
Charakters« sei daher »ungeheuer groß geworden«.14 Das Mehr an sicherem Wissen sorgt ganz offensichtlich für ein Mehr an Nichtwissen, Ungewissheit und Unsicherheit. Als Konsequenz für die Wissenschaft heißt es dann aber auch bei Dahlmann: »Es ist nicht anders, man muß die Wohltaten der Wissenschaft mit ihren Gefahren übernehmen, sie ist der Speer, der zu verwunden aber auch zu heilen weiß.«15 Dass hier der Rekurs auf einen antiken Mythos dafür herhalten muss, um die Zweifel am Sinn dieser Vorgehensweise zu vertreiben, ist bezeichnend. Die moderne Kultur beruht auf dem Reflexivwerden des Vergleichens, der bewussten oder unbewussten, der wilden oder organisierten Stilisierung und Produktion von Alternativen. Die Welt ist nicht mehr einfach gegeben und wenn, dann muss dies als Natur, z.B. die Natur der Naturwissenschaft, extra ausgewiesen, d.h. bezeichnet werden. Natur und Kultur sind Effekte des Gebrauchs von Zeichen. Eine solche Natur kann dann in sinnlichen Eindrücken, Bildern und durch scheinbar selbstevidente Zeichen sprechen. Doch auch eine sich so scheinbar selbst offenbarende Natur ist auf die Alternative der Kultur angewiesen, alles andere macht keinen Sinn. Ohne Alternative ist jetzt nur das Wählen selbst. Gerade weil man jetzt die Wahl hat, hat man keine Wahl mehr, man muss wählen. Jene Form der modernen Weltauffassung aber, die das Gegebene systematisch nicht mehr als fraglos, d.h. alternativlos gegeben unterstellt, ist nichts anderes als die Form der Rationalisierung. Das lateinische Wort für logos, das man auch mit ‚Verhältnis’ übersetzen kann, heißt Ratio. Ein Verhältnis aber setzt den Vergleich voraus und in Gang, und die Rationalisierung findet im Verlauf der Frühen Neuzeit jene Zeichen, die alles mit allem vergleichbar machen: Zahlen.16
14 Friedrich Christoph Dahlmann: Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt [1835], Frankfurt 1997, S. 205. 15 Ebd., S. 226; unter den Historikern des 19. Jahrhunderts im Übrigen ein geflügeltes Wort vgl. z.B. auch Johann Gustav Droysen: Rede bei Antritt der Jenenser Professur zum Wintersemester 1851/52 (1851), in: ders., Historik, Bd. 2.2: Texte im Umkreis der Historik, herausgegeben von Horst Walter Blanke, Stuttgart 2007, S. 334-351; zit. S. 337. 16 Zur Entwicklung der für diese Innovation maßgebenden arabisch-indischen Zahlzeichen vgl. Georges Ifrah: Universalgeschichte der Zahlen, Frankfurt/Main 1991², S. 476ff.; zu deren innovativer Verwendung bei Fibonacci vgl. Paolo Busotti: Fibonacci und sein Liber Quadratorum, in: Mamoun Fansa/Karen Ermete (Hg.), Kaiser Friedrich II. (1194-1250). Welt und Kultur des Mittelmeerraums. Begleitband der Sonderausstellung im Landesmuseum für Natur und Mensch, Oldenburg, Mainz 2008, S. 235-249; zur Verschriftlichung des Rechnens und zur Formalisierung der Zahlzeichen als Basis der Kalkülisierung der Rechenweise vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft, a.a.O., S. 97ff.; einen knappen Überblick zur unübersichtlichen Geschichte der Durchsetzung einer einheitlichen 200
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In ihnen findet sie die Sicherheit der Ordnung, um deretwillen man die Rationalisierung scheinbar braucht. Eine Sieben ist eine Sieben, und das ändert sich auch nicht, wenn man sie mit einer Acht vergleicht. Für alle anderen Begriffsbestimmungen gilt das nicht. Von hier aus wird vielleicht leichter verständlich, wie es zur Durchsetzung eines so merkwürdig konstituierten Kommunikationsmediums wie der Zahlen kommen konnte. Ein typisches Beispiel für die Dynamisierungs- und Kontingenzeffekte der Rationalisierung sei abschließend noch einmal erwähnt: der Aufstieg der Geschichtswissenschaft als Teildisziplin der wissenschaftlichen Kulturreflexion. In dem Bemühen, den Wandel der Gesellschaft durch Verlängerung der die Gegenwart bestimmenden Ereignisketten in die Vergangenheit hinein buchstäblich auf den Begriff zu bringen und dabei den fragwürdig gewordenen Sinn der Gegenwart über die symbolische Form erzählter Zeit zu stabilisieren, deckt sie als organisierte Praxis der Forschung vielmehr eine schier endlose Fülle von Alternativen auf. Unter dem Ansturm der rationalisierenden Interpreten wird die feststehende Vergangenheit zur Quelle einer wachsenden Anzahl von Geschichten, deren Verlängerung in die Zukunft auf der Basis methodischer Solidität und formaler Plausibilität, die Fülle der Alternativen erst erzeugt, die sie als Antwort auf Orientierungskrisen der Gegenwart eigentlich zu verringern verspricht.17 Die Einsicht in die Endlosigkeit der Rationalisierung, die für den Menschen zugleich eine spezifische Halt-, weil Sinnlosigkeit der modernen Kultur und ihrer Wissenschaft impliziert, hat bekanntlich Max Weber in seinen Konsequenzen für das Subjekt als stählernes Gehäuse beschrieben, wobei es angemessener erscheint, statt an Stahl an ein Korsett aus Zeichen zu denken, zwischen dem sich allerdings buchstäblich nichts mehr befindet.
III. Interessiert man sich vor dem Hintergrund dieser komplexen Ausgangslage für die der modernen Kultur zur Verfügung stehenden Stabilisierungs- und Steuerungsmechanismen im Zusammenspiel von Wahrnehsymbolischen Schreibung der Rechenzeichen bringt Olaf Fritsche: Die Macht der Formeln – und was man mit Formeln macht, Hamburg 2006. 17 Zu den Hintergründen des Aufstiegs der Geschichts- aus den Staatswissenschaften vgl. Sebastian Manhart: In den Feldern des Wissens. Die Entstehung von Fach und disziplinärer Semantik in den Geschichts- und Staatswissenschaften (1780-1860), Würzburg 2008 (Dissertationsschrift in Vorbereitung). 201
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
mung und Kommunikation,18 so ist man aus der Perspektive einer semiotischen Kulturtheorie schnell auf die Untersuchung verschiedener Zeichensysteme verwiesen, deren Transformation dann als Denken, Wahrnehmen und Kommunizieren erscheint.19 Neben der Erfindung des Buchdrucks als medialem Urereignis der Moderne fällt hier vor allem der Aufstieg des mathematischen Denkens, der Zahlenkommunikation und der gesellschaftsweiten Verbreitung kalkulatorischer Praktiken als hervorstechender Zug der Zeit seit dem Spätmittelalter ins Auge. Die Forschungen hierzu befinden sich aber sowohl theoretisch als auch historisch gerade erst am Anfang.20 Im Rahmen einer semiotischen Fassung des Kulturbegriffs werden Denken und Kommunikation als Wahrnehmungs- und Produktionsprozesse von Zeichen im Medium des Sinns 18 Zu einer für das Eigenleben von Zeichen sensiblen Kommunikationstheorie vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt/Main 1997; Dirk Baecker: Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt/Main 2005; Helmut Willke: Symbolische Systeme. Grundriss einer soziologischen Theorie, Weilerswist 2005; für einen Überblick vgl. auch Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation: Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2001. 19 Zu einer entsprechenden Fassung des Kulturbegriffs und zu einer semiotischen Theorie des Sinns vgl. Dirk Rustemeyer: Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral, Hamburg 2001; ders.: Oszillationen. Kultursemiotische Perspektiven, Würzburg 2006; ders.: »Zeit und Zeichen«, in: Jörn Rüsen (Hg.), Zeit deuten. Perspektiven – Epochen – Paradigmen, Bielefeld 2003, S. 54-81; sowie ders.: »Geschichtssemiotik«, in: Franz-Josef Jelich/Stefan Goch (Hg.), Geschichte als Last und Chance, Essen 2003, S. 27-44; zur Semiotik vgl. auch Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987; ders.: Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen, München 2006. 20 Vgl. zur Theoriedebatte die Beiträge in Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hg.): Zahlenwerk. Kalkulation, Organisation und Gesellschaft, Wiesbaden 2007; Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003; eine aus diesem Umkreis kommende Zusammenstellung interdisziplinärer Beiträge mit zum Teil historischem Vorgehen findet sich in Pablo Schneider/Moritz Wedell (Hg.): Grenzfälle. Transformationen von Bild, Schrift und Zahl, Weimar 2004; historische Studien zum Untersuchungszeitraum versammelt der Band von Lars Behrisch (Hg.): Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2006; ebenso Walter Pohl/Paul Herold (Hg.): Vom Nutzen des Schreibens. Soziales Gedächtnis, Herrschaft und Besitz im Mittelalter, Wien 2002; hier besonders instruktiv die Studie von Franz-Josef Arlinghaus: »Die Bedeutung des Mediums »Schrift« für die Unterschiedliche Entwicklung deutscher und italienischer Rechnungsbücher«, in: ebd., S. 237-268; zur Geschichte der Statistik vgl. grundlegend Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin 2005; zur Geschichte ihrer Lehre an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert vgl. Sebastian Manhart: In den Feldern des Wissens, a.a.O. 202
S. MANHART: VERMESSENE MODERNE
konzeptualisiert. Zeichen sind Elemente von Zeichensystemen, deren Logiken aktuell den Möglichkeitsraum und die Anschlusswahrscheinlichkeit bestimmter Bezeichnungs- und d.h. Unterscheidungspraktiken sei es im Denken oder in der Kommunikation bestimmen. Bild, Begriff und Zahl ersetzen als Elemente unterschiedlicher, aber immer wieder diagrammatisch miteinander kurzgeschlossener Zeichensysteme dann die klassischen Referenzen auf Geist, Sprache und Sein. Entlang des differenzierten Gebrauchs dieser Zeichen bilden sich in der Kultur der Moderne die eigendynamischen semantischen Feldzusammenhänge von Kunst, Philosophie und Wissenschaft aus.21 Es erscheint vor dem Hintergrund einer solchen Theorie zugleich als sehr wahrscheinlich, dass die Etablierung und massenhafte Verbreitung eines neuen Zeichensystems zu einem grundlegenden Wandel des Charakters der Beziehung von Individuum und Gesellschaft führt. Personen werden damit nicht nur neue Ausdrucksregister zur Verfügung gestellt, sondern soziale Organisationen erhalten auch neue Möglichkeiten, die Annahmewahrscheinlichkeit bestimmter Kommunikationen zu erhöhen und auf diese Weise neue Formen der Vergemeinschaftung zu etablieren. Wie schon angedeutet, spielt nun die individuelle Erfahrung der Unsicherheit und fragilen Sinnbasis der eigenen Existenz in der modernen Kultur bei der kommunikativen Durchsetzung des Zahlencodes eine nicht unwesentliche Rolle. Wenn Jean Paul in einem Brief an einen Freund das dauerhafte Ausbleiben zweifelsfreier Evidenz im Räsonnement des Individuums über sich selbst und seine Welt beklagt, dann formuliert er eine solche Erfahrung, die, wenn auch nicht unbedingt in dieser Schärfe, für den modernen Menschen doch durchaus typisch ist: So gebe es, meint Jean Paul »›für iedes Subjekt keine andere Wahrheit als die gefühlte. Die Säze, bei denen ich das Gefühl ihrer Wahrheit habe, sind meine wahren und es giebt kein andres Kriterium. Da aber dieses nämliche Gefühl auch die Irrthümer, die es wiederruft, einmal unterschrieb – da es seine Aussprüche ändert nach Stunde und Alter und Zuständen und Seelen und Ländern und Welttheilen: woher kan ich denn gewis wissen, daß dieses chamäl[eontische] Gefühl morgen oder in 3 Jahren das nicht zurüknehme, was es heute beschwört? Und blieb’ es auch beständig: könt’ es nicht bei einem Irwahn beständig bleiben? Wer steht mir für die Wahrheit dieses Gefühls als das Gefühl selbst? Denn was [man] Gründe nent, ist nur eine verstekte Appellazion an dieses Gefühl: weil einen Grund vorbringen heist zeigen, das der zu begründende Saz ein Theil, eine Folge pp. eines schon begründeten ist, und der lezte dieser begründeten Säze mus sich allemal, wenn wir [nicht] ewig vom 21 Vgl. hierzu den Beitrag von Rustemeyer in diesem Band. 203
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
Grund des Grundes zum Grund des Grundes pp. gewiesen werden sollen, auf blos gefühlte Wahrheit stüzen, weil sonst die ganze Schluskette an nichts hienge.‹ Daraus folgt aber auch die Ungewisheit, ob ich existiere: Denn dieses Existenzpostulat ist aufs blosse Gefühl gebaut – ich wil hoffen, daß ich existiere: ich wüste auch nicht, was Sie an mir lobten, wenn ich gar nichts hätte, nicht einmal Dasein.«22 Zahlen und Formeln bieten nun offenbar die Möglichkeit, das Problem ausbleibender Evidenz kommunikativ zu bearbeiten, d.h. zumindest teilweise zu kompensieren. Paradoxerweise erlaubt dies genau jenes Zeichensystem, aus dem jegliche externe Referenz getilgt ist. Sybille Krämer hat gezeigt,23 dass Leibniz bei der Begründung seines Zahl-, genauer: Zeichenbegriffs, der erste ist, der konsequent für das gänzlich semantikfreie Kalkül im Sinne einer lediglich nach internen Regeln ablaufenden Transformation von Zeichen plädiert. Die Konzeption seines Kalküls verzichtet auch noch auf die Referenz seiner Zeichen auf bestimmte Größen, die mit konkreten Zahlen und Zahlzeichen einhergehen. Die für Leibniz dabei entscheidende Pointe ist, dass ein solcher Kalkül es erlaubt, Wahrheitsbeweise als Richtigkeitsbeweise zu führen, und zwar durch Transformation der Zeichen ausschließlich nach den Regeln des Zeichensystems selbst. Leibniz spricht in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise von der besonderen Anschaulichkeit dieser Beweise24 und formuliert die Hoffnung, dass das Denken der Menschen durch »fortlaufende Beweise eines einsehbaren Kalküls (calculi evidendi)«25 gestützt werden könne. Zwar gilt diese Klarheit idealiter nur für rein formale Beweisformen (»Argumenta in forma«), jedoch gesteht er dieses Beweisprinzip grundsätzlich auch den Rechenarten zu, »wie man sie in den Rechenschulen lehret«, also auch den Grundrechenarten im Umgang mit konkreten Zahlen. Auch hier würden allein »krafft ihrer Form« Beweise geführt, die, wie jene der Algebra, »nehmlich nackend und doch vollkommen« seien, also auf nichts anderes als auf sich selbst verweisen.26 Der Beweis erfolgt dann mit nicht mehr zu überbietender Evidenz.
22 Jean Paul: »Brief an Wernlein v. 09.08 1790«, in: ders., Das helle Bewußtsein des Ich. Ausgewählte Briefe, herausgegeben von Volker Ulrich Müller, Darmstadt 1982, S. 38. 23 Vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft, insbes. S. 328ff., a.a.O. 24 Vgl. ebd., S. 342. 25 Gottfried Wilhelm Leibniz: Fragmente zur Logik, herausgegeben von Franz Schmidt, Berlin 1966, S. 113; vgl. hierzu auch Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft, a.a.O., S. 342. 26 Gottfried Wilhelm Leibniz: »Brief an G. Wagner«, in: ders., Die Philosophischen Schriften, herausgegeben von C.I. Gerhardt, Bd. VII, Nachdruck 204
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Diese Einschätzung teilt auch Herbart, wenn er die Mathematik aufgrund ihrer unmittelbaren Klarheit als Mittel für die Pädagogik rühmt.27 Und nicht nur das, ist doch der Umgang mit Zahlen für Herbart auch noch ein unabdingbares Korrektiv für die sich ansonsten verselbständigenden und in Widersprüche verwickelnden Begriffsproduktionen der modernen Philosophie. So lasse sich »keine andre Art von Kenntnissen, als die, welche Form durch Zahl bestimmen, [...] so willig zur Evidenz erheben«. Zahlen und mit ihr die mathematischen Begriffe, seien »die begreiflichsten« da sie »der Natur des menschlichen Denkens am nächsten Verwandt« seien. Ohnehin finde sich »alles was zur Auffassung der Gestalten durch Begriffe, von den größten Köpfen aller Zeiten geleistet worden ist [...] gesammelt in einer großen Wissenschaft, in der Mathematik.«28 Zwar sei »die eigentliche Vollenderin der Erziehung [...] die Philosophie; aber die Gefahren der Philosophie abzuwenden, ist das Amt der Mathematik.«29 Denn es liege »in der Natur der Philosophie, allgemeine Begriffe zu isolieren und sie für eine Zeitlang aus der Sphäre ihrer reellen Anwendbarkeit herauszusetzen«, den Begriff also von »zufälligen Nebenbestimmungen zu trennen [...], welche in der Masse des Gegebenen, [...] mit ihm zusammenhingen. So entblößt gewinnt er Deutlichkeit und Bestimmtheit; aber es verschwinden zugleich die Gränzen, in welchen, und die Bedingungen, unter welchen er Realität hatte.« Diese den unendlichen Verweisungs- und Vergleichsmöglichkeiten geschuldete »Gränzenlosigkeit« abstrakter Begriffe werde nun aber häufig mit der Existenz von »Unendlichkeit, oder auch Allheit und Vollkommenheit« in der Wirklichkeit gleichgesetzt, und es werden dabei »Widersprüche« entdeckt, die nur in einem solchen vom »nothwendigen Zusammenhange« losgelösten Begriff liegen können, nicht aber in der »Realität«, die keine Widersprüche enthalten könne, wolle man nicht »das Ende alles Denkens« konstatieren. Die Mathematik sei nun frei von diesen Widersprüchen, denn die in jedem »Differential« enthaltenen – gemeint ist wohl das Streben gegen unendlich und die Verwendung der 0 als Teiler – treten nur auf, wenn man »vergißt, daß das Differential seinem Integral nothwendig angehört.«30 Dass nun gerade die nur noch auf sich selbst verweisenden, rein konkreten mathematischen Zeichen
27
28 29 30
Hildesheim 1962, S. 519; vgl. hierzu auch Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft, a.a.O., S. 349. Vgl. Johann Friedrich Herbart: »Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung, 1802 und 1804«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, Nachdruck Aalen 1964, S. 151-274. Vgl. ebd., S. 163. Vgl. ebd., S. 168. Vgl. ebd., S. 168. 205
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die realitätsarmen Begriffe der Philosophie wieder in Kontakt mit der Wirklichkeit bringen sollen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Sie bestätigt aber, worauf die kommunikative Kraft der Zahl beruht: auf ihrer Selbstevidenz, die als Evidenz der Natur (der Sache), als Datum, als Gegebenes aufgefasst wird, obwohl sie doch ein reines Faktum im Sinne des Gemachten ist. Die herausgehobene Bedeutung des Zählens, der Zahlen für die moderne Kultur wird hier deutlich. Mit ihrer Hilfe wird alles vergleichbar, indem die diskrete Bestimmtheit der Zahlen mit der Unendlichkeit ihrer Anzahl ein Kontinuum des Vergleichbaren etabliert. Die Zahl erlaubt die Führung des Begriffs, seine Evidentmachung und diese Evidenz gebietet auch dem sonst infiniten Prozess des Vergleichens Einhalt. Die Zahl erlaubt die Beherrschung des Unendlichen, denn sie macht es berechenbar: Die Mathematik lehre nämlich, so Herbart, das »Wunder« sehen, lernen und »begreifen«, wie »alle Größenbegriffe in einander hängen, und auseinander hervorgehen« und »wie selbst der unendlich kleine Krümmungswinkel, der aller Zahl, allem Maaß sich entzieht, dennoch der vergleichenden Rechnung und Bestimmung nicht entgehen kann.« Hinzu kommt für Herbart noch der Vorteil der reinen Selbstreferentialität des Kalküls, denn dessen Besonderheit sei, dass jedem »allgemeinen Größenbegriffe [...] der Begriff der Materie gerade so zufällig ist, wie der des Geistes«, dass also, wer die Ideen mit den »Symbolen« der Mathematik auf die Wirklichkeit und deren strenge Gesetzmäßigkeiten bezieht, wer die Kontingenz des Begriffs und der Wirklichkeit durch Zahlen zähmt, dies tun kann, ohne Idealist oder Materialist zu sein.31
IV. Die Anzahl der Beispiele für die Behauptung einer engen Verknüpfung von Evidenz und Zahl ließen sich leicht vermehren. Dagegen muss allerdings noch einmal auf die Hürden hingewiesen werden, die ganz offensichtlich der gesellschaftsweiten Durchsetzung einer Kommunikation mit Zahlzeichen entgegenstehen. Die Durchsetzung zahlenbasierter Kommunikation ist aufwendig, da voraussetzungsvoll, denn die Verwendung von Zahlen ist alles andere als selbstverständlich, dem menschlichen Denken entsprechend, der Natur der Sache angemessen, oder was man sonst noch an wenig hilfreichen Ad-hoc-Erklärungen zu geben bereit ist.32 Es ist alles 31 Vgl. ebd., S. 170. 32 Das gilt auch dann, wenn es einen Zusammenhang von Sprachvermögen und Zahlengebrauch gibt vgl. Heike Wiese: »Sprachvermögen und Zahlbegriff. Zur Rolle der Sprache für die Entwicklung numerischer Kogni206
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andere als unmittelbar einleuchtend, aus Sicht des Alltagsverstandes ohnehin schon ausreichend komplizierte physikalische, wirtschaftliche oder begriffliche Probleme noch einmal mathematisch, d.h. durch Formeln zu beschreiben. Natürlich weiß man, dass die modernen Wissenschaften mathematisch vorgehen, aber das schreckt die meisten Menschen eher ab. Man kann dies als Ignoranz oder Dummheit brandmarken, oder aber vermuten, dass mit der weit verbreiteten Abneigung gegen die Mathematik mehr als ein individuelles Problem markiert wird. Von Symbolen, die auf nichts als auf andere Symbole verweisen, und von deren Transformation nach Regeln, die ausschließlich für diese Symbole gelten, Einsichten, gar noch evidente Einsichten über die Welt erwarten zu wollen, ist eben alles andere als naheliegend. Dementsprechend haben offenbar nicht gar so viele während ihrer Schulzeit das Gefühl, ein Problem oder einen Sachverhalt durch dessen mathematische Reformulierung besser zu verstehen und dies übrigens oft auch dann nicht, wenn sie der Mathematik im Unterricht durchaus gut folgen können. Die Klagen über die mangelnde Anschaulichkeit, und besonders das weitverbreitete Gefühl der Sinnlosigkeit beim Erlernen mathematischer Formeln und Gleichungen, sprechen eher dafür, dass im schulischen Umgang mit mathematischen Symbolen individuell nachvollzogen wird, was die Bedingung der Möglichkeit mathematischer Präzision und Klarheit ist, nämlich dass die Symbole der Mathematik nur auf mathematische Symbole verweisen und dass ihnen auch nur dort ein präziser Sinn zukommt. Gerade die verbreiteten Schwierigkeiten mit anwendungsbezogenen und vermeintlich anschaulichen Sachaufgaben zeigen, dass bei der Zusammenführung von Zahl, Formel, Bild und Begriff die Konfusion der Zeichensysteme und ihrer Regularien erst einmal sehr viel wahrscheinlicher ist als das Eintreten von Klarheit. Dass gerade solche diagrammatischen Konstellationen dann auch besondere Einsichten möglich machen, soll damit nicht bestritten werden, aber es bleiben spezielle und daher voraussetzungsvolle Einsichten, über deren Zustandekommen im menschlichen Lern- und Erkenntnisprozess bisher eher noch wenig bekannt ist. Soviel kann man aber festhalten, dass nämlich die in den mathematischen Formulierungen erreichte Präzision und Klarheit gerade kein Garant für unmittelbare Anschaulichkeit ist, zumindest nicht im Hinblick auf Zusammenhänge, die gewohnheitsmäßig in einem anderen, weniger streng regulierten Zeichensystem codiert werden (Sprache, Bilder etc.). tion«, in: Pablo Schneider/Moritz Wedell (Hg.), Grenzfälle. Transformationen von Bild, Schrift und Zahl, Weimar 2004; zu den neuronalen Grundlagen des »Zahlensinns« vgl. Stanislas Dehaene: Der Zahlensinn oder warum wir Rechnen können, Basel 1999. 207
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
Nur ein jahrelanger Habitualisierungsprozess erlaubt es, die als sinnhaft empfundene Diffusität und Unübersichtlichkeit begrifflich und bildlich vorliegender Welterfahrung in die klare, aber auch sterile Selbstreferentialität einiger Zahlen zu transformieren und sich dann damit zufriedenzugeben. Andererseits kann dieses Bedürfnis nach klaren Verhältnissen zumindest als Topos der Kommunikation in der Moderne wohl kaum bestritten werden. Die oben angeführten Bespiele belegen diese Tradition. Um daran glauben zu können, dass Formeln und Zahlen etwas über die Welt aussagen, muss ein gehöriger, nicht nur pädagogischer Aufwand betrieben werden. Für die meisten bleibt es im Ergebnis beim Erwerb der Fähigkeit zum bloßen Umgang mit konkreten Zahlzeichen, bis hin zu mehr oder weniger anspruchsvollen Formen des Rechnens und Zählens, während die Fähigkeit zum Umgang mit allgemeinen Größen, also abstrakten Zahlbegriffen eher selten vonnöten ist. Tatsächlich kommt man denn auch im Alltagsleben zwar beständig mit Zahlen in Kontakt, Formeln aber findet man überaus selten und wenn, dann haben sie nicht selten einen ikonografischen Charakter.33 Die lange Mühsal der schulischen Auseinandersetzung mit mathematischen Problemen dient neben der Vorbereitung auf wissenschaftliche Berufe also nicht zuletzt der Durchsetzung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Zahl. Denn ohne die Referenz auf Zahlen und die damit verbundenen Praktiken des Vergleichs kommt man heute nur noch in wenigen Bereichen der Gesellschaft aus. Die Kultur der Moderne wird nicht nur vom Vergleichen, sondern auch von dem dafür prädestinierten Zeichensystem, den Zahlen geprägt. Es gibt kaum einen Bereich in dem nicht gezählt, gerechnet und gemessen wird. Die Kommunikation wird nicht nur durch Worte und Bilder, sondern vor allem auch durch Zahlen bestimmt und diese wiederum referieren auf Zähloperationen und Messungen. Denn hinter Zahlen werden in der Moderne zumeist Messungen und daran anschließende Berechnungen vermutet. Die besondere Wertschätzung von Zahlen beruht denn auch in nicht geringem Maße auf den spezifischen Techniken ihrer Herstellung, die zumeist entweder amtlich normiert oder mit den Weihen der Wissenschaft versehen sind. Mit dem Verständnis dieser mathematischen Zusammenhänge oder auch messtechnischer Verfahren hat die Überzeugungskraft von Zahlen und die Durchsetzungsfähigkeit kalkulatorischer Praktiken aber eher wenig zu tun. Denn messtechnische oder mathematische Verfahren werden bei der Kommunikation von Zahlen in aller Regel gar nicht thematisiert. Was Lichtenberg in einer Bemerkung zum individuellen Bildungsverlauf
33 Man denke nur an E=mc², dessen sachlicher Bezug den meisten, die z.B. entsprechende T-Shirts tragen, unklar sein dürfte. 208
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formuliert, könnte auch in vielen Fällen den Gebrauch von Zahlen in der Kommunikation erklären: »Erst ist eine Zeit, da man alles glaubt ohne Gründe, dann glaubt man eine kurze Zeit mit Unterschied, dann glaubt man gar nichts und dann glaubt man wieder alles, und zwar gibt man Gründe an, warum man alles glaube.«34 Genau für den letzten Fall scheint nun die Zahl besonders dienlich zu sein. Denn trotz aller systematisch erzeugten Kontingenz in der modernen Kultur, kann es die Gesellschaft vor allem in den Bereichen einer organisierten Praxis kaum bei dieser Kontingenz belassen. Und schon Leibniz hatte ja darauf verwiesen, dass die aus den Grundrechenarten entspringenden Beweismöglichkeiten, ebenso evident sein können, wie deren von allen Größenbegriffen gereinigten formalen Verwandten. In diesem Sinne scheint in der Moderne der zunehmende Gebrauch konkreter Zahlen auf genau diese Evidenz abzustellen. Es scheint daher plausibel und auch theorietechnisch interessant zu sein, Zahlen als eigenständiges symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium im Sinne der Systemtheorie zu bezeichnen. Zahlen substituieren dabei in der öffentlichen Kommunikation den Code wahr/unwahr, indem sie als dessen Zweitfassung auftreten.35 34 Georg Christoph Lichtenberg: Gesammelte Werke, Bd. 1, herausgegeben von Wilhelm Grenzmann, Frankfurt/Main 1949, S. 312. 35 Grundsätzlich ist es kein Problem, die im Rahmen der Systemtheorie benötigten Vorgaben für die Existenz eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Zahl formal zu erfüllen, so z.B. die Selbstplatzierung des binären Codes Zahl/Nichtzahl in der Kommunikation, die sich dann selbst als evidente Kommunikation versteht; der symbiotische Mechanismus, der mit der schon angesprochenen Evidenz identifizierbar scheint; der Charakter als Präferenzcode, der sich nicht zuletzt darin zeigt, dass es Zahlen nahe legen, dass man nur durch Zahlen an sie anschließen kann; die Ebene der Programme, die mit den Regeln der Mathematik und evtl. mit Messanweisungen gegeben ist; die Technisierung des crossing durch die wissenschaftlichen Regeln zur Produktion von Zahlen (z.B. die Operationalisierung von Begriffen um zahlenförmige Messergebnisse zu ermöglichen), die sich aber auch in typischen Formen der diagrammatischen Verschränkung mit Begriffen und Bildern, z.B. eben in Diagrammen zeigt; dies verweist zugleich auf die Möglichkeiten einer Nullmethodik des Einschlusses des Ausgeschlossenen etc. Eine angemessene systemtheoretische Begründung erfordert aber soviel Raum, da im Hinblick auf den Ertrag einer solchen Annahme nicht zuletzt die Rolle dieses Kommunikationsmediums in Differenz zu anderen Medien, insbesondere zu Wahrheit sorgfältig zu diskutieren wäre, dass an dieser Stelle darauf verzichtet werden muss. Zur Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien vgl. allgemein Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, a.a.O., S. 316ff.; ders.: »Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien«, in: ders., Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1980², S. 170-192; zuletzt am Beispiel des Mediums Intel209
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Die Interpunktion bzw. der Abschluss von Kommunikationsketten, die Steuerung des Kommunikationsflusses in Organisationen, wie auch die überall registrierbare Etablierung und Expansion systematisch durchgeführter Vergleiche bedient sich denn auch der Zahl als scheinbar legitimer Reduktion von Komplexität. Da Zahlen sowohl einen kardinalen als auch ordinalen Symbolwert haben, ist es mit ihnen möglich zahlenförmige Ausdrücke, z.B. Messergebnisse, in eine Rangfolge zu bringen und hierüber Vergleiche in Wettbewerbsform zu strukturieren. Es bleibt dann nicht bei der Operationalisierung bzw. Evaluation im Sinne der zahlenförmigen Bestimmung von Prozessergebnissen, sondern diese Zahlen werden mit den Ergebnissen anderer Prozesse, Individuen und Organisationen vergleichbar, da diese ebenfalls in Form von Zahlen auftreten. Das Ergebnis sind die zahllosen Ranglisten, in denen Klassen von Zahlobjekten entlang von Ordinalzahlen sortiert werden, seien es nun Rankings im Sport, zwischen Staaten, Bildungssystemen, Universitäten, Wissenschaftlern oder Schülern. Die Eindeutigkeit von Zahlen, ihre Präzision generiert aber zugleich Kaskaden von Anschlusskommunikationen, in denen Zahlen wieder begrifflich und bildhaft kontextualisiert werden. Die moderne Gesellschaft hat im Umgang mit Zahlen zahlreiche kommunikative Schematisierungen entwickelt, und beständig kommen neue hinzu. So verschmelzen in den unterschiedlichsten diagrammatischen Formen die Logiken von Begriff, Bild und Zahl. Die Geschlossenheit und Stabilität dieser eigentümlichen semiotischen Transformationszusammenhänge in der Wahrnehmung generiert neuartige semantische Objekte, deren Überzeugungskraft (Evidenz) man sich nur schwer entziehen kann. So wird die Arbeitslosenquote nach ihrer Berechnung in der kommunikativen Weiterverwendung zu einem semantischen Objekt. Die Zahl entsteht unter den Bedingungen einer sich selbst steuernden Verwaltungspraxis, durch wiederholte Messungen spezifischer Elemente, deren messtechnische wie taxonomische Grundlagen der überwiegenden Mehrzahl der Adressaten nicht nur unbekannt, sondern auch unklar bleibt. Zu einem Objekt wird diese Zahl durch deren regelmäßige Aktualisierung in der massenmedialen Kommunikation. Dort wird sie in ihren Relationen zu anderen ähnlichen Zahlobjekten typisiert und im Zusammenhang mit bestimmten Darstellungsformen symbolisch stabilisiert. So werden derzeit in immer kürzeren Abständen Wirtschaftsprognosen veröffentlicht und diese sowohl von wissenschaftlichen Institutionen (Wirtschaftsinstitute) als auch von staatlicher Seite (Prognose des Wirtschaftsministers) sowie durch die Privatwirtschaft
ligenz Dirk Baecker: »Erziehung im Medium der Intelligenz«, in: ders., Wozu Gesellschaft?, Berlin 2007, S. 267-314. 210
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(Banken) und überstaatliche Organisationen (IWF, OECD) in den Massenmedien verbreitet. Die diesen Prognosen zugrundeliegenden Messund Berechnungsverfahren werden in den Massenmedien nicht thematisiert. In aller Regel wird sogar nur eine Zahl kolportiert. Diese eine Zahl wird interpretiert, erläutert und für ein breiteres Publikum in Graphiken und schematisierten Bildern zur Darstellung gebracht. Dabei kommt es zum Vergleich mit anderen Prognosen, den Zahlen anderer Institute, jenen des letzten Jahres, denen anderer Staaten, was wiederum Verlaufsschematisierungen erfordert und das Aufstellen von Ranglisten erlaubt. Zugleich werden regelmäßig Querverbindungen zu anderen statistischen Objekten hergestellt wie z.B. der Inflationsrate, der Arbeitslosenquote, der Steuerschätzung und dem Zinsniveau, ohne dass die damit angedeuteten Zusammenhänge offengelegt werden müssten. Diese Vorgänge sind medienübergreifend bis hin zu den graphischen Darstellungsformen ritualisiert und schematisiert. Der Erfolg dieser Kommunikationsform setzt voraus, dass die adressierten Individuen Zahlen als Datum, d.h. als gegeben hinnehmen, sie also als Aussage über oder noch besser als die Realität anerkennen, eine Voraussetzung, die nichts weniger als selbstverständlich ist. Zahlen sind Teil eines komplexen Selbststeuerungsmechanismus der modernen Gesellschaft, bei dem der Aufbau und die Transformation von habitualisierten Wahrnehmungs- und Erwartungsstrukturen durch zahlenbasierte Selbstbeschreibungen eine zentrale Rolle spielt. Die massenhafte Verwendung von Zahlen als spezifisches Merkmal der Moderne zu betrachten, liegt auch deshalb nahe, weil frühere Gesellschaften weitgehend ohne Zahlen auskommen. Noch vor 400 Jahren spielten Zahlen außerhalb einiger kaufmännischer und technischer Bereiche in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle und wenn, dann beruhten sie nur sehr selten auf allgemeinen, typisierten Messverfahren.36 Dabei fehlte es nicht am Willen, umfängliche soziale Taxonomien zu entwerfen und gesellschaftsweit auch durchzusetzen. Zwar sind auch schon vormoderne Gesellschaften von der Zahl fasziniert, auch wird die Eigenlogik der Zahlen genutzt, aber dies geschieht vor allem im Hinblick auf ›interessante Zahlen‹ mit tendenziell magischer Qualität.37 An 36 Zum Beharrungsvermögen der in vormodernen Gesellschaften überall verbreiteten und zumeist nur lokal standardisierten anthropometrischen Maße vgl. am Beispiel Frankreichs zur Zeit des Ancien Regimes und während der Revolution Ken Alder: Das Maß der Welt. Auf der Suche nach dem Urmeter, München 2005, S. 169ff.; zu den bis heute andauernden Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des metrischen Systems vgl. ebd., S. 421ff. 37 In weiten Teilen typisch hierfür ist auch noch die numerologische Schrift von Giordano Bruno: Über die Monas, die Zahl und die Figur, als Elemente einer sehr geheimen Physik, Mathematik und Metaphysik, herausge211
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
Zahlen wird, im Gegensatz zur Moderne, ihr Mitteilungscharakter betont. Zahlen gilt es zu verstehen, sie sind Nachrichten Gottes und nicht selbstevidente Daten. Zahlen im modernen Sinne, als zeichenhafte Verdichtungspunkte von zum Teil hochkomplexen Rechenoperationen und Messprozessen sind als Kommunikationsmittel noch ohne Bedeutung. Der Aufstieg der Zahl, die ihr seit dem Spätmittelalter zunehmend entgegengebrachte Wertschätzung, hängt neben der schon geschilderten Möglichkeit der Kalkulierung von Sachverhalten, mit der Durchsetzung verschiedener Praktiken des Messens zusammen. Messverfahren müssen auch die organisatorischen Praktiken und überkommenen sozialen Einteilungen immer stärker entsprechen.38 Der moderne Staat wächst vor allem auch an dieser produktiven Verbindung von administrativer Einteilung und daran anschließender Messung und Zählung, deren turnusmäßige Wiederholung die Taxonomien wiederum legitimiert und stabilisiert. Die moderne Verwaltung ist jedenfalls ohne Statistiken, ohne große bzw. viele Zahlen undenkbar. Ohne Maßnehmen kein ›Maßnahmestaat‹. Im Alltag der nur noch symbolisch vermittelten Realität der Moderne lösen Zahlen das Problem ausbleibender Evidenz. Die zunehmende Verwendung von Zahlen korrespondiert mit dem Aufstieg rein symbolisch vermittelter sozialer Objekte wie dem Staat, der Wirtschaft, dem Wert der Arbeit, der Qualität einer Universität, der Karriere von Personen. Die durch Zahlen erhöhte Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikationen basiert vor allem auf der Einebnung der Unterscheidung von Information und Mitteilung, und dies unterscheidet den modernen Umgang mit Zahlen von dem der Vergangenheit. Zahlen stehen in der Gegenwart für Zahlobjekte oder sie werden zumindest als Daten verstanden, als gegebener Ausdruck der Realität, der im Hinblick auf seinen Mitteilungscharakter nicht weiter interpretiert werden kann bzw. muss, es sei denn durch den Vergleich mit anderen Zahlen. Auf diese Weise entlastet Zahlenkommunikation zugleich von unerwünschten Reflektions- und Begründungsschleifen. Wie Bilder stoppen Zahlen den Kommunikationsfluss, insofern sie das Schema eines der gesprochenen Sprache inhärenten Ja-nein-Anschlusses außer Kraft setzen und entweder die schlichte Annahme der Zahl oder das Einlassen auf die Eigenlogik der geben von Elisabeth von Samsonow, Hamburg 1991; die wiederum in einer langen Tradition anderer ähnlicher Schriften steht (man denke nur an die komplexe Zahlenmystik der indischen Weltalterlehren, die Zahlenlehre der Pythagoreer oder der Kabbala). 38 Vgl. hierzu am Beispiel der Französischen Revolution Ken Alder: Das Maß der Welt, a.a.O.; und für die Zeit des aufgeklärten Absolutismus Lars Behrisch (Hg.): Vermessen, Zählen, Berechnen, a.a.O. 212
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Zahlzeichen etablieren.39 Neben dieser grundsätzlichen Dimension von Zahlen als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium bedeutet die verbreitete Akzeptanz von Zahlen auch die Möglichkeit der Etablierung vielfältiger Mess- und Vergleichsregimes, denen man sich im Allgemeinen überhaupt nicht und in speziellen Fällen zumeist nur unter erheblichen Schwierigkeiten entziehen kann.40 Messverfahren statten Zahlen mit der Dignität der Wissenschaft aus. Da Zahlen das Ergebnis von Messprozeduren und spezifischer Rechenverfahren sind, deren komplexer Charakter den Einsatz wissenschaftlich-technischer Expertise nötig macht, werden nicht nur Zahlen, sondern auch ihr Entstehungszusammenhang mit Rationalität und Objektivität in Verbindung gebracht. Was anderes als vergleichsweise illegitime Partikularinteressen kann jemand gegen die Erhebung objektiver Daten vorbringen? Mit Regelmäßigkeit öffentlich verbreitete Zahlen sind also zumeist Abbreviaturen umfänglicher Messverfahren und statistischer Prozeduren. Für den öffentlichen Diskurs ist, wie gesagt, kennzeichnend, dass die hinter den Zahlen stehenden Messprozeduren in aller Regel nicht thematisiert werden. Man kann nun vermuten, dass die massenmediale Inszenierung zwar die Autorität von Zahlen nutzt und damit die Kommunikation ihrer spezifischen Anschlusslogik unterwirft, aber genau deswegen deren Entstehung nicht thematisiert, da in Expertengesprächen die Zweifel an der Autorität bestimmter Zahlen die Regel sind. Im Unterschied zur Vormoderne wird aber immer davon ausgegangen, dass gemessen worden ist.
39 Von diesem Befund aus vermutet auch Bettina Heintz, dass Zahlen ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium sein könnten, vgl. dies.: »Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenssoziologische Perspektiven«, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hg.), Zahlenwerk, a.a.O., S. 6586; zur Theorie der symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien vgl. Anm. 35. 40 Für den formalen Zusammenhang von Zahl, Zahlzuweisung und Messung, ohne allerdings das Konstitutionalisierungsverhältnis von Messung und Gemessenem weiter zu problematisieren vgl. Heike Wiese: Sprachvermögen und Zahlbegriff, a.a.O.; zu einem dieser Funktion entsprechenden Begriff der Zahl, der vor allem zwei Eigenschaften miteinander verbindet: eindeutige Unterschiedenheit, d.h. Bestimmtheit sowie unendliche Progression vgl. schon Richard Dedekind: Was sind und was sollen die Zahlen?, Braunschweig 1887; weiterhin Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau 1884; daran anknüpfend und zur Mengenlehre erweiternd Bertrand Russel: Einführung in die mathematische Philosophie, herausgegeben von Johannes Lenhard, Hamburg 2002, zum Zahlbegriff insbes. S. 16ff., zur Unendlichkeit insbes. S. 90ff. 213
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
V. Im Spätmittelalter beginnt ein tiefgreifender Wandel im Hinblick auf die dominante Verwendung bestimmter Zeichensysteme für die Reflexion und Generierung gesellschaftlicher Strukturen. Die Formulierung und Kommunikation von Einheits-, und später von vergleichsstabilen Identitätsvorstellungen wird von gesellschaftsweit akzeptierten Universalbegriffen zumindest teilweise auf die Praxis der Selbstbeschreibung mithilfe eines elementarisierten Zeichensystems umgestellt. Der Unterschied zwischen Mittelalter und Moderne auf der Ebene der kulturprägenden Semantik beruht daher nicht so sehr auf einem Mehr oder Weniger an Geschlossenheit oder Offenheit, sondern was sich ändert, ist das spezifische Management dieser Unterscheidung im Hinblick auf den Umgang mit Kontingenz. Vor dem 20. Jahrhundert dominieren hier die Versuche, dies mithilfe sich überlagernder Begriffe und der ihnen inhärenten, kontingenzbindenden Bedeutungsunschärfe zu versuchen.41 Dies war lange Zeit äußerst erfolgreich, man denke nur an Begriffe wie Kaisertum/Monarchie, die Christenheit, die Doppelstrukturen von sacrum und imperium, von Staat und Nation bis hin zur auch heute noch gern verwendeten Kombination aus individueller Mensch und Menschheit. Die Bedeutungsmacht solcher begrifflichen Vorgaben für ein reflektiertes Selbstverständnis kann für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit kaum überschätzt werden. So war noch im 30jährigen Krieg weithin unstrittig, dass es ein Kaisertum geben sollte, fraglich war nur, wem es eigentlich zustand. Gleiches gilt für die Differenz von Protestanten und Katholiken, die um die Ausgestaltung der Universalie Christenheit rangen, diese dabei aber gerade nicht in Frage stellten.42 Vermittelnde Instanz ist der frühneuzeitliche Staat, dessen Existenz sich über sein Verhältnis zu einem Reichsbegriff rechtfertigt, bevor er im Zusammenhang mit Nationsvorstellungen selber dazu in der Lage ist, abstrakte, aber substantiell gedachte und mit universellem Anspruch auftretende Einheitsbegriffe, wie westliche oder europäische Kultur, bis hin zur konkreten Auslöschung anderer Kulturen handhabbar zu konkretisieren.
41 Zur unscharfen Logik der Begriffe vgl. Hans Blumenberg: »Theorie der Unbegrifflichkeit«, herausgegeben von Anselm Haverkamp, Frankfurt/ Main 2007; sowie als Basis einer semiotischen Fassung einer Theorie der Kultur vgl. Dirk Rustemeyer: Oszillationen, a.a.O. 42 Vgl. zu einer instruktiven Darstellung dieser Entwicklungen im 17. Jahrhundert vgl. Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt/ Main 1992, insbes. S. 30ff.; weiterhin als Überblick zur Entwicklung des Staatsbegriffs Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt, München 20002. 214
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Identitätsbestimmungen und Selbstvergewisserungen im Medium des Begriffs haben natürlich auch heute ihre Bedeutung nicht verloren. Aber unter dem Druck einer immer stärker werdenden Rationalisierungsbewegung hin zur tendenziell unendlichen Kontingentsetzung des Gegebenen, setzt sich spätestens im Verlauf des 19. Jahrhunderts für den Alltagsgebrauch immer mehr eine Kommunikation mit spezifischen Zeichen durch. Deren materiale und semantische Elementarisierung erlaubt eine flexible Rekonstruktion jedweder Vorstellung von Einzelheit und Gesamtheit im gleichen Zeichensystem. Dies ist möglich, weil jedes dieser Zeichen jetzt vollständig entsemantisiert ist, also auf nichts anderes als auf sich selbst und andere Zeichen desselben Typs verweist. Das Ergebnis ist der Kalkül, sind kalkulative Praktiken der beschreibenden Steuerung des Sozialen.43 Das Entscheidende an dieser Umstellung der Zeichenbasis für die moderne Kultur ist, dass mathematische Formeln und vor allem Zahlen aufgrund ihrer semantischen Selbstreferentialität scheinbar keine bestimmten Unterscheidungen und Strukturen präferieren. Sie eignen sich daher zur Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, gerade wenn man die Einheit der Gesellschaft nicht mehr auf einen konsensfähigen Begriff bringen kann. Es ist genau diese semantische Neutralität, die nicht selten als wissenschaftlich legitimierte ›Objektivität‹ und Wahrheit einer sich als empirisch verstehenden evidenzbasierten Forschung daherkommt, der Zahlenkommunikation ihre gesellschaftsweite Durchsetzungsfähigkeit verdankt.44 Hieran schließen die Überlegungen an, Zahlen als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zu beschreiben, dass in Verbindung mit messtechnischen Verfahren eine überaus dichte, plausible und kontingenzstabile Beschreibung der Gesellschaft und gesellschaftlicher Teilbereiche zur Verfügung stellt, deren kommunikativer Selbstevidenz man sich nur schwer entziehen kann. Damit im Zusammenhang steht auch der Aufstieg von Organisationen als dominierendem Strukturierungstyp der modernen
43 Vgl. allgemein Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft, a.a.O.; zu konkreten kalkulativen Praktiken vgl. Uwe Vormbusch: »Die Kalkulation der Gesellschaft«, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hg.), Zahlenwerk, a.a.O., S. 43-64; zur Breite der vor allem wirtschaftssoziologisch orientierten Forschungen vgl. die weiteren Beiträge in diesem Band; allgemeiner im Hinblick auf Schriftlichkeit Gernot Grube/Werner Kogge/Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand, Maschine, München 2005; Eric A. Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, Weinheim 1980. 44 Besonders deutlich wird dies, wenn sie sich dabei Formen der Diagrammatik bedient (vgl. zum Begriff und zu einer semiotischen Theorie der Diagrammatik vgl. Dirk Rustemeyer: Diagramme, Weilerswist 2009 (in Vorbereitung)). 215
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
Gesellschaft. Die streng regulierte und zielorientierte organisationsinterne Kommunikation geht dabei ein Bündnis mit messtechnischen Verfahren ein. Die Präzision und Reduktion zahlenförmiger Messergebnisse erlaubt die Selbststeuerung immer komplexerer Zusammenhänge, während die interne wie externe Orientierung an diesen Messzahlen die Evolutionen von Organisationen pfadabhängig stabilisiert. Es sind daher gerade Organisationen, die sich detailliert im Medium von Zahlen beschreiben, die interne Vorgänge über Zahlen beobachten und Veränderungsprozesse entlang von Kennzahlen steuern, die ihre Existenz durch Zahlen rechtfertigen und ihre Grenze zwischen innen und außen zahlenmäßig kontrollieren.45 Die mit Zahlen verbundene Präzision führt allerdings nicht dazu, dass der Charakter der modernen Kultur auf der Ebene des Begriffs nicht umstritten wäre. Ganz im Gegenteil nehmen die entsprechenden Bestimmungsversuche beständig zu.46 Entscheidend aber ist, dass die Gesellschaft auf die Herstellung einer irgendwie gearteten Einheitsformel jetzt verzichten kann. Die moderne Gesellschaft stabilisiert sich über die Evolution ihrer Teilsysteme und der begriffliche Dissens stützt dies, indem er die messtechnische Beeinflussung und zahlenbasierte Bestimmung der basalen Erwartungsstrukturen der Gesellschaft immer weiter vorantreibt. Denn die im Medium des Begriffs nicht endgültig zu klärenden Debatten induzieren die zusätzliche Begründung von Begriffsentscheidungen durch die Heranziehung empirischen Materials. Dieses tritt nun aber regelmäßig zahlenförmig auf und wird in dieser Form auch erwartet. Dem entspricht eine Praxis der Darstellung in Form
45 Als frühes Beispiel für den Versuchs einer vollständigen Selbstbeschreibung und Steuerung der Organisation eines Unternehmens durch Registrierung/Messung, tabellarische Zusammenstellung und Reduktion von Relationen zwischen Personen und Objekten auf Zusammenhänge zwischen Zahlen vgl. Charles Babbage: Die Ökonomie der Maschine, Berlin 1999 (Nachdruck der Ausgabe von 1833), insbes. S. 52ff.; schon aus Sicht einer sich etablierenden Betriebswirtschaftslehre dann Erich Gutenberg: Die Unternehmung als Gegenstand betriebswirtschaftlicher Theorie, Berlin 1929, insbes. 11ff.; man denke für die Gegenwart ansonsten nur an die detaillierten Bilanzierungsvorschriften, an der Börse gehandelte Gewinnerwartungen, über Zahlen präzisierte interne wie externe Produkt-, Stellenund Entwicklungspläne etc. 46 Man denke nur an die nicht abreißenden Versuche einer diagnostischen Begriffsbestimmung der Gesellschaft von der Risiko- über die Erlebnishin zu Wissensgesellschaft und zurück, oder zur Mode der Generationenbegriffe. Vgl. zur in diesem Sinne instruktiven Debatte um die kulturell vereinheitlichende oder differenzierende Wirkung der Globalisierung nur Tyler Cowen: Weltmarkt der Kulturen. Gewinn und Verlust durch Globalisierung, Hamburg 2002. 216
S. MANHART: VERMESSENE MODERNE
diagrammatischer Verschränkungen von Bild, Zahl und Begriff, die kommunikativ sehr viel mehr Bindungswirkung erzeugt, als es der Begriff allein noch könnte. Zugleich schließt sich ein erneutes Wettrüsten im Bereich der Messverfahren der empirischen Forschung an, was wiederum den Einfluss genau dieser Verfahren auf die Form sozialer Zusammenhänge verstärkt. Denn die Gewinnung von Zahlen ist abhängig von organisatorisch und habituell enorm aufwendigen und voraussetzungsvollen Mess- und Überprüfungsregimes. Daraus folgt eine strukturprägende Kraft der Zahlenkommunikation, die, neben der schlichten Tatsache, dass nur gemessen und damit gesehen wird, was gemessen, d.h. zahlenförmig weiterverarbeitet werden kann, in modernen Gesellschaften kaum mehr überschätzt werden kann. Die scheinbar paradoxe Konstellation, einer über die kulturelle Praxis des Vergleichs laufenden zunehmenden begrifflichen Dissensproduktion bei gleichzeitiger Verfestigung pfadabhängiger Strukturen durch die Installierung immer neuer Messverfahren, wird vor allem dann in ihrer Bedeutung einsichtig, wenn man sich klarmacht, dass dieser Zusammenhang nicht nur für die Debatten auf der Ebene der Kulturreflexion gilt, sondern ein Massenphänomen der Alltagskommunikation ist. Noch jede Diskussion in einer Talkshow endet mit der Forderung, jetzt doch endlich einmal die Fakten auf den Tisch zu legen. Fakten meint aber nicht greifbare Objekte, Texte oder Bilder, sondern zumeist Zahlen. Die wachsende Fülle von Statistiken, Rankings, Charts und lebensführungsrelevanten Leitzahlen, sei es der BMI oder die Abiturnote, belegt, wie überaus produktiv diese Verbindung von Zeichenform und Messverfahren ist.47 Fast jede wirklich virulent werdende öffentliche Debatte verstärkt diesen Zusammenhang und die daraus resultierende Dynamik, indem eine Endloskommunikation begrifflicher Unschärfen im Rückgriff auf das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Zahlen zu einem vorläufigen Abschluss gebracht wird, wobei zur Erstellung der Zahlen ein Messregime installiert oder zumindest bestätigt werden muss. Um dann den Vergleich mit zukünftigen Messungen zu ermöglichen, reguliert dieses Messregime über Jahre hinweg spezifische Auswahlbereiche und Formen einer als messrelevant ausgezeichneten sozialen Praxis. Nur wer gar nicht weiter denkt, kann noch glauben, dass die Messung das Gemessene nicht beeinflusst. Messungen und ihre Ergebnisse 47 Den Trend, alles und jedes in Zahlen fassen und daraus dann mehr oder weniger obskure Schlussfolgerungen ableiten zu wollen, registrierte und kommentierte schon Georg Christoph Lichtenberg mit dem ihm eigenen Sarkasmus, vgl. ders.: »Von dem Nutzen den die Mathematik einem Bel Esprit bringen kann«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II, herausgegeben von Wilhelm Grenzmann, Frankfurt/Main 1949, S. 195-201. 217
III. MODERNE KULTUR UND IHRE GENEALOGIE
werden nicht nur erwartet und in das eigene Verhalten mit einkalkuliert, sondern die Durchsetzung und Aufrechterhaltung neuer Messregimes formt auch ganz konkret die Strukturen der modernen Gesellschaft. Dass dieser Prozess irgendwo zu einem Abschluss kommen könnte, ist nicht ersichtlich, schließlich sind nicht nur die Zahlen, sondern auch die Möglichkeiten des Zählens und Messens unendlich. Die Kultur der Moderne vollzieht ihre strukturelle Einheit daher vor dem Hintergrund einer Unabgeschlossenheit und Offenheit zelebrierenden Begriffsdebatte, die einer Praxis des Vergleichs und der Kultivierung von Abweichungen folgt. Um die unendliche Vielfalt möglicher Vergleichsperspektiven strukturieren und die nicht weniger unendlichen Kommunikationsmöglichkeiten für Anschlüsse punktieren zu können, benutzt sie zunehmend Zahlen und diese integrierende Diagrammatiken, die scheinbar evident bloß das Wirkliche registrieren. Die Kopplung der Zahlenproduktion an weithin unbeachtete Messregimes bestimmt dabei entscheidend den aktuell möglichen Strukturwandel. Auf diesen immer dichter werdenden Zusammenhang aus öffentlicher Debatte, messungsbasierter Zahlenkommunikation und deren Strukturvoraussetzungen im Sinne von habitualisierten messorientierten Lebensführungspraktiken, könnten auch die zahlreichen Bestimmungen der zweiten Moderne als Wissensgesellschaft bezogen werden. Vor dem hier angedeuteten Hintergrund kann man dann aber präziser von Wissenschaftsgesellschaft sprechen.48 Die sich über die Messung und formale Transformation von Zahlen ausdrückende Wissenschaft durchdringt mithilfe eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums alle Bereiche der Gesellschaft, da die Annahmewahrscheinlichkeit einer populärtypisierten Fassung wissenschaftlicher Kommunikation durch die Beimischung einiger Zahlen deutlich erhöht wird. Mit der Diagnose Wissenschaftsgesellschaft lässt man es in typisch kulturwissenschaftlicher Manier dann doch noch einmal auf einen Begriff ankommen. Ob dies allerdings für den weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Kommunikation irgendeinen relevanten Unterschied macht, darf gerade vor dem Hintergrund der hier beschriebenen Funktion einer Kommunikation in Begriffen bezweifelt werden. In Zahlen: die Wahrscheinlichkeit geht gegen Null.
48 Vgl. zum Begriff der Wissenschaftsgesellschaft Peter Weingart: Stunde der Wahrheit, Weilerswist 2001, S. 325ff. 218
IV. F ELDER MODERNER K ULTUR
Arbeit im Feld des Musikalischen. Ca ge und Lac he nma nn als zwei T ype n musikalischer Kulturreflexion CHRISTIAN GRÜNY »Der Komponist drückt seine ästhetische Erfahrung durch Verhältnisse von Tönen zu Nichtton aus.«1
I. Einleitung Kulturreflexion ist Selbstreflexion. Das Sprechen und Nachdenken über Kultur ist selbst eine kulturelle Praxis, es erwächst aus bestimmten Traditionen und Diskursfeldern, bezieht sich auf das Feld, in dem es selbst stattfindet, und wird schließlich selbst als kultureller Faktor wirksam.2 Der Begriff der Reflexion versucht, dies präzise zu benennen. In seiner Kopplung mit dem Kulturbegriff wird deutlich, dass es diese Reflexion nicht zu jener Selbsttransparenz bringen kann, die der klassische Reflexionsbegriff postuliert. Sie ist verstrickt in ihren Gegenstand und kann diesen nur durch eine Umfiguration der ihr gegebenen Begriffe und Ka1 2
Theo van Doesburg: Die Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst, Mainz 1966, S. 15. Selbst die radikale Kulturkritik Adornos bekennt dies immer wieder ein, ohne sich dadurch freilich abmildern zu lassen: Auf die Feststellung des »Misslingens von Kultur« folgt stets die Rückwendung dieser Aussage auf sich selbst. Vgl. Theodor W. Adorno: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft 1, Gesammelte Schriften 10.1, Frankfurt/Main 1997, S. 11-30, hier S. 30; ders.: Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1975, S. 359. 221
IV. FELDER MODERNE KULTUR
tegorien distanzierend vor sich bringen, und auch dies immer nur partiell und ausschnitthaft. Sie kann sich, nimmt man dies ernst, nie zur Theorie schließen.3 Nun ist die Philosophie die reflektierende Disziplin par excellence. Sie hat die Spannung zwischen Distanz und Differenz auf der einen und Identität mit dem Gegenstand auf der anderen Seite und damit das Verfehlen in der Selbstreflexion und ihre Opazität seit langem benannt.4 Erkennt die Philosophie sich selbst als kulturelle Erscheinung und gibt auf der anderen Seite die Vorstellung eines eigenen Gegenstandsbereichs auf, so erkennt sie die selbstreflexive Dimension aller ihrer Anstrengungen. Sie muss auf der anderen Seite aber ebenso erkennen, dass sie diese Dimension mit anderen kulturellen Praktiken teilt – nicht nur mit den Wissenschaften, deren Ergebnisse sie nur um den Preis des Dilettantismus ignorieren kann, sondern auch mit den Künsten. Die europäische Kunstmusik, um die es hier gehen soll, hat sich immer wieder mit ihrer eigenen Tradition auseinandergesetzt, sie hat ihre kompositorischen Probleme aus den Formen der Vergangenheit und der Abgrenzung von diesen bezogen, und noch die radikale Abkehr von der Tradition ist in dieser Hinsicht ihre deutlichste Bekräftigung, indem sie sich selbst als strenge Konsequenz inszeniert.5 Sie war und ist immer auch Musik über Musik und damit ihre eigene Reflexion. Zur Kulturreflexion wird sie in dem Moment, in dem sie sich selbst als Kultur zum Thema macht, es also nicht bei einem wie auch immer aufmerksamen, kritischen und transformierenden Umgang mit der Tradition belässt, sondern diese und sich selbst in ihrem kulturellen Zusammenhang mit in den Blick nimmt. Dieser Schritt bedeutete gegenüber dem traditionsbewussten Bruch mit der Tradition eine weitere Öffnung, einen veränderten Blick und eine erweiterte Praxis, die im 20. Jahrhundert exemplarisch von Marcel Duchamp für die bildende Kunst und von John Cage für die Musik verkörpert wird und die sich bei Zeitgenossen wie Kandinsky und Schönberg gerade nicht findet.
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4 5
Man kann diese Konsequenz an der kulturtheoretisch gewendeten Semiotik Ecos ablesen: Der diese Verstrickung reflektierende, aber doch Vollständigkeit anstrebende Ansatz der ›Semiotik‹ wandelt sich zu den zwar in sich strengen, aber nur lose verbundenen Reflexionen von »Kant und das Schnabeltier«, vgl. Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987; sowie ders.: Kant und das Schnabeltier, München 1990. Vgl. etwa prägnant Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986. Vgl. dazu die Selbstbeschreibung, -situierung und -stilisierung in Anton Webern: Der Weg zur Neuen Musik, Wien 1960.
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CHR. GRÜNY: ARBEIT IM FELD DES MUSIKALISCHEN
Auch Helmut Lachenmann gehört in diese Reihe, auch wenn sein eigener Beitrag zur musikalischen Kulturreflexion sich in vielerlei Hinsicht von demjenigen Cages unterscheidet. Während Cage für eine radikale Öffnung und eine bisweilen polemische Abgrenzung zur europäischen Musiktradition steht, ist Lachenmann fest in dieser verankert und betreibt seine Befragung ihrer Grundlagen von innen heraus. Cages Weigerung, die Türen der Musik nach außen zu schließen, und Lachenmanns musique concrète instrumentale können exemplarisch als zwei unterschiedliche Formen des musikalischen Bezugs auf die Musik als Kultur, als zwei Typen der Kulturreflexion begriffen werden, die sich gerade in ihrer Unterschiedlichkeit gegeneinander profilieren. Um dies leisten zu können, soll ein theoretisch anspruchsvoller, aber nicht vorweg an eine bestimmte Theorie gebundener Begriff mobilisiert werden: derjenige des Feldes. Von einem Feld des Musikalischen zu sprechen, impliziert untilgbare und nicht immer scharfe Übergänge zwischen Musikalischem und Nicht-Musikalischem und erlaubt es, innermusikalische Verhältnisse und Logiken auf der einen und gesellschaftliche, kulturelle und situative Faktoren in Produktion und Rezeption nicht als Gegensätze oder zumindest gegensätzlichen Betrachtungsweisen zugehörig zu denken, kurz »der Alternative von interner Interpretation und externer Erklärung zu entgehen«,6 wie es bei Bourdieu heißt. Der Versuch, sich vorschnellen und unproduktiven Grenzziehungen in methodischer und sachlicher Hinsicht zu enthalten, muss meines Erachtens allerdings nicht zwingend mit dem Anspruch einer »Wissenschaft von den Kulturprodukten«7 und einer Festlegung auf Machtverhältnisse und -kämpfe verbunden sein, und insofern hält dieser Text einige Distanz zu Bourdieu. Er geht aus von einem Modell »fungierende[r], habitualisierte[r] und in gesellschaftlicher Kommunikation implementierte[r] Verweisungsfelder«,8 die sich weder mit einem rein logischen Kalkül noch bloß mit phänomenologischen Mitteln fassen lassen, sondern als auf unterschiedlich feste Weise gekoppelte und Grenzen und Übergänge 6 7
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Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/Main 2001, S. 289. Ebd., S. 283. Damit soll nicht gesagt sein, dass der »Kampf zwischen den Herrschenden und den Anwärtern auf die Herrschaft« (Pierre Bourdieu: »Über einige Eigenschaften von Feldern«, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt/Main 1993, S. 107-114, hier S. 107) keine Rolle spielt oder grundsätzlich zu vernachlässigen ist; nur möchte ich bestreiten, dass der Fokus nicht auch auf andere Punkte gelegt werden kann, ohne dass sich systematische Verzerrungen ergeben. Dirk Rustemeyer: »Übergänge«, in: ders. (Hg.), Formfelder. Genealogien von Ordnung, Würzburg 2006, S. 177-209, hier S. 197; vgl. ders.: Oszillationen, Würzburg 2007, insbes. S. 35ff. 223
IV. FELDER MODERNE KULTUR
organisierende Anordnung von Sinnformen, die die Grenzen von Wahrnehmung und Kommunikation und von Wahrnehmung und Denken selbst je unterschiedlich organisiert. Der Text setzt mit Cage in dem Moment an, in dem die Schließung des Musikalischen zu »der Musik«, zu einem autonomen Wirklichkeitsbereich mit immanenten Gesetzmäßigkeiten, zurückgenommen und die Frage nach dem Verhältnis von Inner- und Außermusikalischem von der musikalischen Praxis selbst aufgeworfen wird – in dem das Feld als Feld selbst in Erscheinung tritt. Die schwierige und umkämpfte Frage nach dem Weltbezug der Musik, die in der Regel von der emphatischen Autonomie ihres Gegenstandes ausgeht, stellt sich auf andere Weise, wenn sie selbst sich als in einer Welt situierte und auf sie bezogene setzt und zeigt; die ausdrückliche Abwehr jeder Form von Bedeutung oder Metaphorizität bei Cage darf von daher nicht als Kappung des Weltbezuges missverstanden, sondern muss aus der Umfiguration des Feldes verstanden werden, die er vorgenommen hat.9 Der Feldbegriff impliziert darüber hinaus, dass eine Fokussierung auf die Musik selbst diese nicht vom Diskurs ablösen kann, der über sie geführt wird. Die zahlreichen Texte, die Cage und Lachenmann über ihre eigene Arbeit und das dahinterstehende Verständnis musikalischer Praxis und ihres Ortes in der Welt verfasst haben, geben Aufschluss über ihr Tun und bilden einen Kontext, vor dessen Hintergrund dieses verstanden werden sollte und verstanden worden ist – ohne dass damit gesagt wäre, dass man den Selbstbeschreibungen in jedem Fall trauen oder mit ihnen übereinstimmen müsste.10 Die Beispiele von Cage und Lachenmann zeigen Formen künstlerischer Auseinandersetzung mit der kulturellen Welt, die deren theoretischer Reflexion ebenbürtig sind, indem sie Formen, Erwartungen, Normen, Grenzen und Übergänge auf eindringliche Weise erfahrbar machen. Beide werden damit einer rationaleren und nüchterneren Lesart unterworfen, als es vielfach der Fall ist – nicht als »Nachdenken über die grundsätzliche Krisis des modernen Menschen«, seinen »Transzendenz9
Diese Umfiguration entspricht dem, was Luhmann als »Neubeschreibung« bezeichnet, durch die »das, was vorher galt, als Selektion eines bestimmten Beobachters kenntlich wird« (Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien 1996, S. 57). Er selbst gibt das Beispiel einer Neubeschreibung der tonalen Musik durch die atonale. 10 Zum Verhältnis von Musik und Sprache und der Angewiesenheit der Kunstwahrnehmung auf den diskursiven Kontext vgl. Albrecht Wellmer: »Sprache – (Neue) Musik – Kommunikation«, in: Gianmario Borio (Hg.), L’orizonte filosofico del comporre nel ventesimo secolo, Venedig 2000, S. 249-281, hier S. 261. 224
CHR. GRÜNY: ARBEIT IM FELD DES MUSIKALISCHEN
verlust«11 auf der einen und radikale politische Kritik auf der anderen Seite, sondern eben als Kulturreflexion. Ob diese Nüchternheit sich auszahlt, muss die Untersuchung selbst erweisen.
II. Öffnung: John Cage »Mögen Sie diesen Lärm?« »Ich liebe ihn!«12
Carl Dahlhaus hat Cages Werk ohne jede diffamierende Absicht als »Anti-Kunst« charakterisiert, von der aus ein Blick von außen auf die Musik als Kunstform zu werfen sei.13 Vielleicht könnte man diese Einschätzung im Licht des Eingangszitats folgendermaßen zuspitzen: Wenn man wissen will, was Musik ist, muss man sich dem Lärm zuwenden. Es ist diese Hinwendung zum Lärm, die an dieser Stelle im Mittelpunkt stehen und mit einigen wenigen Beispielen verdeutlicht werden soll, ohne dass dabei der Anspruch erhoben würde, Cages vielschichtigem Werk im Ganzen gerecht zu werden. Das Ethos der Offenheit bzw. der Öffnung kann als prinzipielle Haltung Cages ausgemacht werden, die sich in seiner Musik und in seinen Texten und Interviews von den 30er Jahren bis in die Zeit kurz vor seinem Tod ausdrückt und für die exemplarisch das stille Stück stehen kann, das er noch 1982 als sein Bedeutendstes bezeichnet hat.14 Insgesamt lassen sich im Hinblick auf die Offenheit nach außen bei Cage zwei Phasen ausmachen, die als Einbeziehung und Öffnung im engeren und radikaleren Sinne beschrieben werden können. Der programmatische Text The Future of Music: Credo von 1938 zeigt noch den von seinem Lehrer Schönberg beeinflussten Komponisten, für den die Einbeziehung im Zentrum steht. Es ist die Rede davon, dass dem Komponisten der Zukunft »the entire field of sound«15 zur Verfügung stehen werde. Um sich dieses Feld zu erschließen, werde die Komposi11 Thomas M. Maier: Ausdruck der Zeit. Ein Weg zu John Cages stillem Stück 4’33”, Saarbrücken 2001, S. 12. Damit soll keine Aussage über die Qualität dieses sorgfältigen Buches gemacht werden. 12 John Cage im Gespräch zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit, herausgegeben von Richard Kostelanetz, Köln 1989, S. 35f. 13 Vgl. Carl Dahlhaus: »Ästhetik und Musikästhetik«, in: ders./Helga de la Motte Haber (Hg.), Systematische Musikwissenschaft. Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 10, Wiesbaden 1982, S. 81-108, hier S. 89. 14 Vgl. John Cage im Gespräch, a.a.O., S. 63. 15 John Cage: »The Future of Music: Credo«, in: ders., Silence. Lectures and Writings, Middletown 1973, S. 3-6, hier S. 4. 225
IV. FELDER MODERNE KULTUR
tion für Schlaginstrumente, die bereits im traditionellen Orchester die nicht »tonalen« Elemente verkörpern, eine große Rolle spielen; als Kompositionsmethode denkt Cage an Weiterentwicklungen der Zwölftontechnik. Was hier anvisiert wird, ist eine Erweiterung des musikalischen Materials, die alles nur erdenklich Hörbare einzubeziehen ermöglicht, und eine damit korrespondierende, aber nicht genauer spezifizierte Entwicklung in kompositorischer Hinsicht. Für die westliche Musiktradition bedeutet sie eine wesentliche Veränderung, die aber ebenso als Konsequenz beschrieben werden könnte. Tatsächlich vergleicht Cage das Verhältnis dieser noch visionären Musik zur Tradition mit demjenigen von Fuge und Sonate und situiert sich damit noch fest in der europäischen Tradition. Dennoch impliziert eine solche Erweiterung ein verändertes Verhältnis des Komponisten zu seinem Material. Er kann nicht mehr von einem disponiblen Vorrat an Tönen und Klangfarben ausgehen, der sich in einer kodifizierten Notation festhalten und gestalten lässt, sondern ist weit stärker auf sein eigenes Hören und damit auf eine Dimension seiner Beziehung zur Welt zurückgeworfen, die nicht von vornherein im Innenbereich der Musik verortet werden kann. Er muss eine Sensibilität entwickeln, die es ihm erlaubt, beliebige Umweltgeräusche als potenzielle Musik bzw. im Hinblick auf ihre potenzielle Eignung als musikalisches Material zu hören (und die Techniken besitzen, diese auch verfügbar zu machen). Diese Haltung lässt sich mit dem zusammenbringen, was Pierre Schaeffer später als »akousmatisch« bezeichnet hat.16 Schaeffer bezieht sich auf die Schule des Pythagoras, der in einem bestimmten Stadium der Einweihung hinter einem Vorhang verborgen zu seinen Schülern gesprochen haben soll. Das akousmatische Hören, das von diesen verlangt war, war ein Hören ohne Sehen, ein Hören rein auf das Gehörte. Schaeffer treibt die Reduktion insofern noch einen Schritt weiter, als er noch die sprachliche Dimension tilgt und als akousmatisch ein schlechthin nicht-identifizierendes Hören bestimmt. Dessen Gegenstand nennt er »objet sonore«, Klangobjekt, womit ausdrücklich nicht der klingende Gegenstand gemeint ist, der vollständig außen vor bleibt, sondern das Gehörte als solches. Diese Weise des Hörens erreicht im Hörbaren eine Transformation, die dem Schritt vom Geräusch zum Klang entspricht. Das Klangobjekt wird in seiner konkreten Klanglichkeit, seiner Farbe, seinem Verlauf genommen und tritt damit zuallererst in seinem Erscheinen und als Erscheinen ins Bewusstsein. Elmar Lampson spricht hier 16 Vgl. Pierre Schaeffer: Traité des objets musicaux, Paris 1966, S. 91-99. 226
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von der »Wahrnehmung von Sinn im Sinnlichen«,17 einem Sinn, der über die elementare Organisiertheit jeder Wahrnehmung hinausgeht. Nun sind wir in dieser Beschreibung einer neuen Weise des Hörens noch nicht in den eigentlich musikalischen Bereich eingetreten, und Schaeffer und Lampson zielen so wenig wie der frühe Cage auf die Musikalisierung der gesamten uns umgebenden Welt durch gezielte Anweisungen, wie zu hören sei; vielmehr geht es um eine Art aisthetische Vorschule der Ästhetik. Zu dieser gehört nicht nur das akousmatische Hören auf begegnende Klänge, sondern ebenso sehr das Experimentieren mit den klanglichen Eigenschaften begegnender Gegenstände. Schließlich aber wird es darum gehen, die Klangobjekte zu objektivieren und damit verfügbar für einen konstruktiven Prozess zu machen, der für sich genommen keine Offenheit mehr impliziert. Die Aufbereitung des Klanglichen zum musikalischen Material und die mit ihm vollzogene Konstruktion tragen beide dazu bei, es zu isolieren und sozusagen zu entweltlichen. Das nun im Rahmen der Aufführung eines Stückes (oder, bei Schaeffer, von einem Tonband) gehörte Schaben, Rasseln oder Pochen mag an Umweltgeräusche erinnern, soll aber nicht als Umweltgeräusch gehört werden, sondern eben als Musik. Indem es erstens in einem bestimmten Rahmen stattfindet und zweitens in ein bestimmtes Verhältnis zu anderen Geräuschen gesetzt wird, kommt es bestenfalls (oder schlimmstenfalls, wie der späte Cage sagen würde – oder niemals, wie Lachenmann erkannt hat) zu einer vollständigen Neutralisierung des Geräuschs als Geräusch und zu seiner Wiedergeburt als Form und als Bestandteil von Formen – einer Transformation von Substanz in Beziehung über den Zwischenschritt der Reduktion auf bloße Materie.18 Ein interessantes Beispiel sind hier Cages Stücke für präpariertes Klavier, in denen sich die klanglichen Erweiterungen und der klassische Tonvorrat nebeneinander finden.19 Der Pianist hat keine anderen Mittel 17 Elmar Lampson: »Bildlichkeit im musikalischen Prozeß«, in: Dirk Rustemeyer (Hg.), Bildlichkeit. Aspekte einer Theorie der Darstellung, Würzburg 2003, S. 51-72, hier S. 68. 18 Diese eher traditionelle Art des Umgangs mit Geräuschen findet sich bereits beim Ahnherren der Geräuschmusik, Luigi Russolo: Die Geräusche müssen, so Russolo, »zunächst abstrakte Materie werden, damit man mit ihnen Kunstwerke gestalten kann« (Luigi Russolo: Die Kunst der Geräusche, Mainz 2000, S. 78). Eben dies hat Cage später an Schaeffer kritisiert: »Sehen Sie, was mir von Anfang an Schaeffers Werk Unbehagen bereitete, war sein Interesse an Beziehungen – insbesondere die Beziehungen zwischen Klängen« (John Cage: Für die Vögel. Gespräche mit Daniel Charles, Berlin 1984, S. 84). 19 Vgl. dazu Tim Ovens: »The sound collector – The prepared piano of John Cage«, in: Frankfurter Zeitschrift für Musikwissenschaft 6 (2003), S. 5364. 227
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zur Verfügung als die 88 Tasten seines Instruments, aber dieses selbst hält ein anderes Repertoire an Klängen bereit, die durch die in der Partitur gegebenen Anweisungen zur Präparierung mehr oder weniger genau determiniert werden. Der Hörer wird schließlich mit einer klanglichen Struktur konfrontiert, in der als Abfolge von Klängen und als Zusammenklang identifizierbare Erscheinungen immer wieder das Register zwischen perkussiv, geräuschhaft und tonlich wechseln. Er wird durch einen Parcours von heterogenen Klängen geleitet, zwischen denen eine Spannung besteht, die nun aber nicht als Spannung zwischen Musikalischem und Außermusikalischem, sondern als eine zwischen unterschiedlichen Ebenen und Registern des Musikalischen erscheint, die nicht zueinander in Beziehung gesetzt, sondern lediglich aneinandermontiert werden. Auch wenn der Blick dadurch nicht geradezu nach außen gelenkt wird, zieht sich durch diese im Ergebnis erstaunlich wohlklingende Musik ein Gestus der Verweigerung und des Brechens in der Kontinuität, der von einer allzu glatten Rezeption abhält. Im Vorblick auf Lachenmann könnte bereits hier gesagt werden, dass das Ideal des reinen Akousmatischen, das immer noch dem des reinen Tons folgt, immer wieder subvertiert wird: Die Klänge sollen als sie selbst gehört werden und verweisen doch immer wieder auf die Materialität des hervorbringenden Instruments, die der reine Ton zum Verschwinden zu bringen versucht. Es bleibt aber ein Gesamteindruck von Geschlossenheit, eine musikalische Welt, in die Splitter der Wirklichkeit eingestreut sind. Was hier durch das traditionelle Instrumentarium und die Konventionalität eines Teils der Klänge gewährleistet ist, nämlich die fraglose Identifizierbarkeit des zu Hörenden als Musik und nicht als zufällige Abfolge von Geräuschen, wird in dem Moment zum Problem, in dem sie wegfällt und die Hörer mit einem Stück reiner konkreter Musik konfrontiert sind. Hier tritt der Rahmen ein: Egal was im Kontext des Konzertsaales auf der Bühne für Geräusche produziert werden, dem Publikum wird es naheliegen, sie als Musik wahrzunehmen. Auch die wütende Ablehnung des Dargebotenen – bis hin zu den tumultartigen Szenen bei den Aufführungen von Russolos »Intonarumori«20 – ist nichts als die Zurückweisung von dessen durchaus wahrgenommenem Anspruch, so gehört zu werden. Damit lässt die konkrete Musik bei aller Erweiterung der Grenzen des Musikalischen eines unbefragt: Die Grenze von Innen und Außen bleibt voll in Funktion, auch wenn das Publikum sich noch so sehr weigern mag, die in den Konzertsaal transplantierten Weltpartikel ästhetisch 20 Vgl. Luigi Russolo: Die Kunst der Geräusche, a.a.O., S. 18ff. 228
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zu behandeln. Auch dass es jetzt selbst dem wohlwollenden Hörer schwerer fallen mag, das als Musik Gemeinte von zufälligen Hintergrund- und Begleitgeräuschen zu unterscheiden, ändert daran nichts. Kurz gesagt: Auch eine Aufführung von musique concrète lässt sich durch Lärm, also durch ungeformte, unkontrolliert hereinströmende Geräusche stören. Genau an diesem Punkt setzt Cage schließlich an und radikalisiert die Erweiterung zur Öffnung. Eine programmatische Formulierung findet sich hier in einem Interview von 1972: »Wenn die Musik Umweltgeräusche zulassen kann, ohne davon beeinträchtigt zu werden, so handelt es sich um moderne Musik«.21 Es mag überraschen, von John Cage, dem Advokaten der Freiheit in der Musik, eine derart apodiktische Aussage zu hören. Das Urteil ist jedenfalls klar: Nach diesem radikalen Kriterium fällt der weitaus größte Teil dessen, was heute als neue Musik aufgeführt wird, nicht unter die Kategorie des Modernen. Diese Öffnung führt in Reinkultur das stille Stück vor, das zumindest akustisch aus nichts anderem besteht als aus Umweltgeräuschen, sie ist aber nicht beschränkt auf dieses Stück. In einem kurze Zeit später verfassten Text formuliert Cage das ihr zugrundeliegende Prinzip: Alles, was in einer Komposition als Stille auftaucht, vollzieht eine Bewegung von »opening the doors of the music to the sounds that happen to be in the environment.«22 Die Nichtintentionalität, die Cage in seinen Kompositionen durch unterschiedliche Mittel herbeizuführen versucht hat – Indeterminiertheit auf kompositorischer und interpretatorischer Ebene, Überlagerung und Öffnung –, wird hier auf die Spitze getrieben, indem Komponist und auch Interpret das Heft vollkommen aus der Hand geben und der Rahmen allein übrig bleibt. Man mag argwöhnen, dass es sich bei 4’33” eher um eine intellektuelle als um eine künstlerische Übung handelt, die in ihrem Irritationspotenzial auch deutliche didaktische Züge hat und die man – für die ersten Aufführungen, in denen das Publikum nicht wusste, was es erwartete – folgendermaßen zusammenfassen (und damit in ihrem Gehalt letztlich abschließend erfassen) könnte: Das Publikum, das Eintritt für eine Konzertveranstaltung bezahlt hat und nun in gewohnter Weise in einem ent-
21 John Cage im Gespräch, a.a.O., S. 162. 22 John Cage: »Experimental Music«, in: ders., Silence. Lectures and Writings, Middletown 1973, S. 7-12, hier S. 8; laut Kikkawa Eishi ist diese Haltung der japanischen musikalischen Sensibilität traditionell zueigen: »A particularly interesting feature of the musical sense of the Japanese is the fact that no strict distinction is made between the sounds of nature and the sounds of music« (Kikkawa Eishi: »The musical sense of the Japanese«, in: Contemporary Music Review 1 (1987), S. 85-94, hier S. 86). 229
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sprechenden Saal sitzt, auf dessen Bühne ein Flügel steht, wird maßlos irritiert durch die offensichtliche Weigerung des ebenfalls dem Anlass entsprechend gekleideten Pianisten, das zu tun, was von ihm erwartet wird, nämlich Musik zu produzieren. Diese Irritation wirft das Publikum auf sich selbst, die eigenen Erwartungen und die Situation der Musikrezeption in unserer Gesellschaft zurück, über die ihm offenbar aufgegeben ist zu reflektieren. Es wird sich der Künstlichkeit der Situation und der eigenen Passivität, ja virtuellen Tilgung bewusst und erfährt die Rolle, die der Rahmen für diese Art der Aufführung spielt. Dieser weist Rollen und Positionen zu: Vorn im Hellen der Virtuose, der Pianist, der aktiv Klänge produziert, im abgedunkelten Zuschauerraum das Publikum, das stumm verharrt und ganz auf Rezeption eingestellt ist, es erklingt Musik, die sich ausschließlich dem Einwirken der Finger des Pianisten auf die Tasten verdankt. Versehentliche Lautäußerungen und teilweise Sichtbarkeit des Publikums sind als kaum vermeidliche Verunreinigungen auszublenden. Sicherlich macht es einen Unterschied, ob man lediglich intellektuell begreift, was hier geschieht, oder es am eigenen Leibe erfährt. Aber wäre das alles, so ließe sich das Stück auf eine, sicherlich bedeutende, Geste reduzieren, die Anlass zu Reflexion, Diskussion, Kommentar und Interpretation bietet – eine Geste, die eine ziemlich genaue und damit epigonale Übersetzung von Duchamps Fountain in den Bereich der Musik wäre. Sieht man hier genauer hin, so wird Cages Bemerkung verständlich, er und Duchamp verträten entgegengesetzte Meinungen: Die Platzierung eines Urinoirs oder einer Schneeschaufel im Museum hat nur bedingt jene »Verklärung des Gewöhnlichen« zum Ziel, um die es Cage geht.23 Gemeinsam ist beiden die beschriebene Reflexion. Während aber das Urinoir als scheinbar Simples, in Wahrheit aber hochkomplexes Zeichen in der Tat primär, wenn nicht ausschließlich auf der Re23 Meines Erachtens beschreibt Dantos Rede von der »Verklärung des Gewöhnlichen« Cages Transformation einer wahrgenommenen Situation in Kunst besser als Duchamps umstürzlerische Aktion, auch wenn Danto selbst Duchamp als Referenz benutzt und auf Cage mit keinem Wort eingeht. Seine Vernachlässigung der Erscheinung des Kunstwerkes und seiner Wahrnehmung ist so frappant, dass es bisweilen scheinen mag, als ginge es eher um die Diskursivierung des Gewöhnlichen als um dessen Verklärung, vgl. Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/Main 1984; kritisch dazu Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt/Main 2003, S. 192ff.; die Tatsache, dass Foto und Texte einer explizit als diskursive Begleitung der Aktion herausgegebenen Zeitschrift heute die Hauptquelle für die ursprüngliche Fountain sind, lässt in der Tat Duchamp als geeigneten Kronzeugen erscheinen, vgl. William A. Camfield, Marcel Duchamp: Fountain, Houston 1989, S. 37ff. 230
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flexionsebene funktioniert, koppelt 4’33” den Reflexionsprozess mit der tatsächlichen Wahrnehmung dessen, was während jener Zeit im Konzertsaal geschieht, und dessen Transformation in ein zumindest potenziell ästhetisch Erfahrbares. Cage hierzu: »Der Unterschied zwischen Marcel und mir ist der, dass er immer die Bedeutung der Netzhaut des Auges für die Kunst verneint hat, während ich auf die sinnliche Komponente des Klanges und die Aktivität des Hörens großen Wert lege«.24 Die Reflexion, die hier in Anspruch genommen wird, vollzieht sich in der Wahrnehmung und anlässlich ihrer. Dies führt dazu, dass es immer noch einen Unterschied macht, ob man einer Aufführung von 4’33” beiwohnt oder das Stück lediglich über einen Bericht als Geste zur Kenntnis nimmt. Das stille Stück bleibt weder als reine Geste stehen, noch lässt es sich schlicht als ästhetische Erscheinung wahrnehmen, sondern es zwingt auch ein heutiges Publikum noch dazu, sich auf der Schwelle zwischen dem identifizierenden Hören (Husten als Husten), der emotionalen Reaktion darauf (Husten als Störung) und dem akousmatischen Hören (Husten als Klangobjekt) aufzuhalten, ohne es zu einer Vereindeutigung zu bringen. So wird erfahrbar, dass Musik eine Frage des Hörens, das Hören eine Frage der Haltung und die Haltung eine Frage des Rahmens ist, und dass sich diese Variablen nicht vollständig kontrollieren lassen. Das Feld des Musikalischen schließt sich hier nicht zur Musik, sondern bleibt offen für Übergänge bzw. wird als vor allem aus Übergängen bestehendes erfahren: auf der Ebene des Hörens zwischen Musik und Nicht-Musik, auf der Erfahrungsebene zwischen Hören und Bewertung, auf der kulturellen Ebene zwischen Hören, Reflexion und Diskurs. Besonders irritierend und dadurch besonders eindringlich kann es sein, dass das Reden über die Musik nicht mehr kategorial von ihr selbst getrennt werden kann, da die Gespräche unter Umständen während der Aufführung beginnen wer-
24 John Cage im Gespräch, a.a.O., S. 133; es ist sicher übertrieben zu behaupten, die potenziell ästhetische Wahrnehmung des konkreten Gegenstands spiele für Duchamp überhaupt keine Rolle; dennoch hat Danto wohl recht, wenn er bemerkt: »Ich glaube, was Duchamp zum Wahnsinn oder zum Mord getrieben hätte, wäre der Anblick von Ästheten gewesen, die geistesabwesend über der glänzenden Oberfläche des Objektes brüten, das er in den Ausstellungsraum geschafft hat […]« (Athur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, a.a.O., S. 147). Dantos kategoriale Trennung zwischen dem Kunstwerk und dem anschaubaren realen Ding, in dem es sich verkörpert, ist zumindest Cage gegenüber unangemessen – ebenso wie gegenüber Rauschenbergs White Paintings, in deren Kontext dieser das stille Stück selbst stellt, vgl. John Cage im Gespräch, a.a.O., S. 137. 231
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den und sich so selbst der Frage ausgesetzt sehen, ob sie Teil der Performance sind. Dass die Türen des Konzertsaals währenddessen geschlossen sind, bedeutet keine Schließung nach außen, denn nicht Mauern, sondern Sinngrenzen konstituieren den Innenraum der Musik. Rein räumlich ist die Welt drinnen so gut wie draußen, und der Ausschluss des Publikums ist natürlich nicht auf dessen Abwesenheit, nicht einmal auf sein Schweigen angewiesen, sondern beruht auf dem systematischen Ausschluss seiner Äußerungen. Ein redendes, dazwischenrufendes Publikum mag stören, kommentieren, sogar den Abbruch der Aufführung erzwingen, aber es wird dadurch nicht Teil der Aufführung. Das Publikum von 4’33” hingegen findet sich auf der Schwelle von drinnen und draußen und ist so darauf verwiesen, etwas zu tun und sich selbst dabei zu beobachten. Eine weitere im Normalfall systematisch ausgeschlossene Dimension, die sich diesmal aber vor allem auf die Aufführenden selbst bezieht, ist die Theatralität ihres Handelns. Cage bemerkt dazu: »Was könnte wohl mehr mit Theater zu tun haben als das stille Stück – jemand betritt die Bühne und tut überhaupt nichts«.25 Was hier hervortritt, ist nicht nur der theatralische Charakter der Ausnahmesituation, sondern die Theatralität der Aufführung klassischer Musik überhaupt. Die spezifischen Inszenierungsstrategien der Konzertsituation verschwinden für den gewöhnlichen Besucher in der Normalität; um sie wahrzunehmen, bedürfte es des verfremdenden Blicks des Ethnologen oder, alltäglicher, desjenigen eines Zuhörers mit anderer kultureller Sozialisation. Dass die Musiker das, was sie tun, auf eine spezifische Weise tun, die nicht durch die reine Notwendigkeit des Instrumentenspiels abgedeckt ist, wird in der Regel eben nicht ausgestellt, also nicht als Inszenierung ausgewiesen. Im Falle des stillen Stücks wird diese Inszenierung in Reinkultur vorgeführt und tritt dadurch unübersehbar hervor.26 Es wird kaum möglich sein, ein heutiges Publikum zu finden, das nicht genau weiß, worauf es sich einlässt, und die ursprüngliche Irritation ist nur noch rekonstruierbar. Diese veränderte Rezeptionssituation, ein Wechsel von Überraschung und Irritation zu klarer Erwartung, lässt
25 John Cage im Gespräch, a.a.O., S. 95. 26 Wie diese Theatralität in offenen Klamauk umschlägt, kann man an Cages Auftritt 1960 in der amerikanischen Fernsehshow »What’s my secret?« studieren, in denen der schelmisch lächelnde Komponist sein Stück Water walk mit seinen grotesken Manipulationen von Alltagsgegenständen einem Publikum zur Aufführung bringt, das unvermeidlich mit lautem Lachen reagiert, vgl. http://www.youtube.com/watch?v=SSulycqZH-U vom 14. Juli 2008. 232
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das Stück selbst nicht unbeeinflusst. Wie sehr dieses transformiert wurde, lässt sich an der Version für volles Orchester sehen, die 2004 im Londoner Barbican Center aufgeführt und live im Fernsehen übertragen wurde. Das Publikum ist extrem aufmerksam und ruhig, und die wenigen Huster und Nieser erscheinen als explosionsartige Durchbrechungen der Stille, in der vor allem die Klimaanlage des Konzertsaales zu hören ist. Den Stimmen der Kommentatoren, die nachher von der ungeheuren Spannung berichten, die während der Aufführung herrschte, ist ihre Erregung noch deutlich anzumerken. Die Veränderung betrifft hier gar nicht so sehr das Verschwimmen der Grenze von innen und außen, sondern die Struktur der Erwartung und deren Normativität. In der Tradition der abendländischen Kunstmusik lässt sich die klare und zumeist unbefragte Herrschaft der Forderung nach einer richtigen, dem Stück angemessenen Rezeption feststellen, die auch dort noch in Kraft ist, wo die Vorstellung abgelehnt wird, es ginge um ein Verstehen der Musik (oder gar der Intentionen des Komponisten). Das Stück gestaltet Zeit und, so die Unterstellung, gerade durch diese spezifische Gestaltung vermag es uns etwas zu sagen oder zumindest eine sehr spezifische Form der Erfahrung induzieren, die man erreichen oder verfehlen kann.27 Die Konfrontation mit dieser Norm und deren Frustration, denen sich ein ahnungsloses Publikum ausgesetzt sieht, weicht hier einer starken neuen Rezeptionsnorm: Das Publikum weiß, dass es um Stille geht, um die gezielte Abweichung von der Normalität und um eine bestimmte Erfahrung. Jeder und jede Einzelne hat sich dem mit voller Absicht ausgesetzt und ist jetzt bemüht, den Vorgaben gerecht zu werden. Wer in dieser Situation tatsächlich zu reden begänne, würde sich noch radikaler desavouieren als derjenige, der sich nicht enthalten könnte, eine bestimmte Stelle in einem normalen Symphoniekonzert unmittelbar zu kommentieren. Man kann nur hoffen, dass in den explodierenden Assoziationen, die das Stück bei den meisten begleiten dürften, auch eine Reflexion auf diesen Sachverhalt anzutreffen war. Eine noch einmal veränderte Situation, die man wohl als weitgehend immun gegen die beschriebene Normalisierung vermuten kann, ergibt sich dort, wo es eine komponierte Musik gibt, die nun tatsächlich von außen kommende Geräusche der Umwelt sozusagen durchscheinen lässt. Wenn es ein erkennbar komponiertes und damit strukturiertes Stück sehr 27 Für die neue Musik findet sich eine denkbar apodiktische Formulierung solcher Normen unter der nominell herrschenden Bedingung der Freiheit etwa bei Zender, vgl. Hans Zender: »Was kann Musik heute sein?«, in: ders., Die Sinne denken. Texte zur Musik 1975-2003, Wiesbaden u.a. 2004, S. 145-156, insbes. S. 153. 233
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wohl gibt, dieses aber von Außengeräuschen punktiert oder gar übertönt wird, wird der Hörer drastisch und unmittelbar mit jener Rezeptionsnorm konfrontiert, die hier in unlösbare Schwierigkeiten gerät. Exemplarisch dafür mag eine von Cage geschilderte Situation stehen, in der Christian Wolff bei geöffnetem Fenster eines seiner Stück auf dem Klavier vorspielte, wobei die Außengeräusche teilweise deutlich lauter waren als die Musik selbst. Cage berichtet von dieser kleinen privaten Aufführung, um eine Haltung und eine Praxis zu verdeutlichen, die seiner eigenen entspricht; daher sei hier darauf Bezug genommen. Nachdem das Stück beendet war, bat einer der Zuhörer verständlicherweise, es doch noch einmal bei geschlossenem Fenster zu spielen. Wolffs Erwiderung ist so charakteristisch für die Strategie des Komponisten wie die Bitte des Hörers für die Frustration des Publikums: Das könne er gern tun, nötig für die Musik sei es aber nicht.28 Der Zuhörer kann angesichts der offensichtlich intentionalen Klavierklänge nicht akzeptieren, dass er ihnen nicht folgen, ihre Vorgaben durch seine Wahrnehmung nicht adäquat erfüllen kann. Wolff aber setzt genau auf das unkontrollierbare Ergebnis der Durchdringung von Determiniertem und Indeterminiertem (ohne die Hörer aber dazu zu zwingen!) und schafft damit eine Situation, die noch komplizierter ist als diejenige, in der lediglich der Straßenlärm zum ästhetischen Objekt erklärt würde. Für das gänzlich Indeterminierte, nicht einmal als ästhetisch Gedachte Rezeptionsnormen anzunehmen, ist wenig plausibel, und die Schwierigkeit für die Hörer läge hier lediglich darin, die entsprechende akousmatische Haltung einzunehmen. Die endgültige Unmöglichkeit, die Unterscheidung von Innen und Außen in der Wahrnehmung aufrechtzuerhalten, führt demgegenüber bei den Hörern, die über das bloße Erlebnis der Frustration hinausgelangen, in eine ausdrückliche Reflexion dessen, was es für gewöhnlich heißt, Musik zu hören. Der Akt des Komponisten, der dies möglich macht, besteht lediglich in der Toleranz gegenüber dem Äußeren und dem Verzicht, etwas draußen zu halten – man kann es nicht selbst in die Musik hineinkomponieren. Die Überzeugung, »dass zwischen kompositorischem Vorgang und Hörakt, zwischen der objektiven Struktur der Musik, wie sie vom Komponisten fertiggestellt wird, und der vom Hörer apperzipierten musikalischen Gestalt eine prästabilierte Harmonie herrschen müsse«,29 muss damit verabschiedet werden, und wenn Tibor Kneifs Idee 28 Vgl. John Cage: »Unbestimmtheit«, zit. in Rainer Riehn: »Noten zu Cage«, in: ders./Heinz-Klaus Metzger (Hg.), Musik-Konzepte Sonderband John Cage I, München 1990², S. 97-106, hier S. 99. 29 Tibor Kneif: »Ideen zu einer dualistischen Musikästhetik«, in: The International Review of Music Aesthetics and Sociology 1 (1970), S. 15-34, 234
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einer »dualistischen Musikästhetik« je angemessen war, dann für John Cage und seine New Yorker Freunde. Eine solche Musik gibt auch den didaktischen Gestus auf, der noch für 4’33” vermutet werden konnte, ohne die Unsicherheit des Aufenthaltes auf der Schwelle und die damit einhergehende Aufforderung zur Reflexion zu tilgen.30 Sie will nichts beweisen, sondern lediglich Gelegenheit zu einer hochkomplexen, von subjektivem Ausdruck befreiten Erfahrung geben. Eine Art Gretchenfrage in Bezug auf diese Art der Öffnung stellt Cage im Ersten der Radio Happenings seinem Freund und Kollegen Morton Feldman. Nachdem er die Situation konstruiert hat, in der in einem Konzertsaal ein Stück Feldmans gespielt wird, vor dessen Tür ein Radio läuft, fragt er diesen, ob er die Tür schließen oder offenlassen würde. Auf Feldmans nach leichtem Zögern gegebene Antwort, die Tür könne offenbleiben, aber ohne das Radio, reagiert Cage mit lautem Lachen.31 Wenn Feldman exemplarisch für einen Komponisten stehen kann, der Umweltgeräusche, aber keine unkontrolliert hereinströmende andere Musik zu akzeptieren bereit ist, und Cage für denjenigen, der schlechthin jeden akustischen Einfluss willkommen heißt, so verkörpert Lachenmann einen dritten Typus, der, nachdem er sich draußen genau umgesehen und -gehört hat, die Tür wieder fest schließt.
III. Schließung: Helmut Lachenmann Es mag befremden, ausgerechnet Helmut Lachenmann als Musiker der Schließung zu apostrophieren: Von einem Forschen an der Schwelle von Musik und Nicht-Musik kann bei ihm ebenso wie bei Cage gesprochen werden, und das Bild des zeitgenössischen Komponisten, der unverdrossen mit reinen Tönen in sich geschlossene Werke schafft, trifft auf ihn beim besten Willen nicht zu (anders als auf viele seiner Kollegen). Mit Bedacht ist daher nicht von Geschlossenheit, sondern von Schließung die
hier S. 17f. Allerdings enthält sich auch Kneif nicht der Formulierung von Rezeptionsnormen: Er fordert vom Hörer, »die Phänomene, die ihm vorgegeben werden, unverfälscht zu empfangen« (Ebd., S. 33) – als sei dieser ein Aufnahmegerät. 30 Auch wenn es bisweilen den Anschein hat, dass Cage letztendlich auf ein reflexionsloses Akzeptieren aller Klänge zielt, das seinem zen-buddhistischen Credo entspricht. Es darf aber bezweifelt werden, ob es sich dabei um ein realistisches Ziel handelt; im Übrigen würden die Stücke dadurch eher verlieren als gewinnen. 31 Vgl. Morton Feldman/John Cage: Radio Happenings. Conversations – Gespräche, Köln 1993, S. 15. 235
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Rede: von einer Bewegung, die die Offenheit voraussetzt, sich aber gegen sie entscheidet. In seiner Exploration der Beschaffenheit der Materialität des Klingenden schließt Lachenmann weder an Schaeffer noch an Cage an, auch wenn zu beiden Verwandtschaften bestehen. Daher soll seine Musik in ihrer Differenz zu diesen Ansätzen als zweite Möglichkeit einer Sichtung und Reflexion des Feldes des Musikalischen begriffen werden, die unter kontrollierteren Bedingungen ans Werk geht. Dass er so dem traditionellen Musikbegriff weit näher ist als Cage, kann durchaus als Verlust an Freiheit verstanden werden, eröffnet auf der anderen Seite aber auch differenziertere Reflexionsmöglichkeiten. Wenn Lachenmann 1966 schreibt, die »unmittelbar empirischakustische Klang-Erfahrung«32 bilde den Schlüssel zeitgenössischer musikalischer Erfahrung, so beschreibt er auch das Zentrum seiner eigenen damaligen Arbeit und befindet sich scheinbar in unmittelbarer Nähe zu Cages Evokation des »entire field of sound«. Nach der Beschränkung auf Tonalität ist auch diejenige auf Töne als ausschließliches Material der Musik gefallen, und es öffnet sich ein unabsehbarer Raum von Klängen, die in die Musik einbezogen werden können. Die entscheidende Differenz liegt nun darin, auf welche Klänge tatsächlich zurückgegriffen und wie mit ihnen umgegangen wird. Schaeffer hatte den Begriff des Akousmatischen geprägt und damit eine Haltung beschrieben, die jenes Feld der Klänge allererst als solches eröffnet. Wenn es nicht gelingt, vom pragmatischen Zusammenhang des Gehörten zu abstrahieren, kann es überhaupt nicht als solches zum Gegenstand eines differenzierten Hörens werden. Hinter dem Vorhang des Pythagoras bleibt nicht nur das Visuelle, sondern die gesamte Welt; hindurch dringt lediglich eine quasi neutralisierte klangliche Ebene, die in der durch Handlungs- und Bedeutungszusammenhänge geprägten Welt als solche gar nicht vorkommt. Mit ihr kann nun umgegangen werden, und die Klänge bilden ein Material, das zerschnitten, verfremdet und neu zusammengesetzt werden kann. Schaeffers Bild des Vorhangs macht dabei deutlich, dass es mit der Unmittelbarkeit dieser Erfahrung nicht allzu weit her ist, sondern dass sie systematisch hergestellt werden muss. Was tut nun Lachenmann? Der Bezug auf die Arbeit Schaeffers wird offensichtlich im Begriff, mit dem er seine Musik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre beschreibt: musique concrète instrumentale.
32 Helmut Lachenmann: »Klangtypen der Neuen Musik«, in: ders., Musik als existenzielle Erfahrung. Schriften 1966-1995, Wiesbaden 2004², S. 1-20, hier S. 1. 236
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Dass der Unterschied des Mediums durch den bloßen Zusatz »instrumentale« deutlich gemacht wird, verdeckt die grundlegende Verschiebung, die sich hier andeutet. Lachenmann arbeitet mit dem traditionellen Instrumentarium, nicht mit dem Tonband, und interessiert sich dabei für die »unmittelbare Körperlichkeit des Klingenden«.33 Zusätzlich zur Körperlichkeit des Klanges – Schaeffers »objet sonore« – weist die Formulierung auf die Körperlichkeit dessen hin, was klingt. Damit ist die akousmatische Haltung im engen Sinne durchbrochen, die diese Form der Körperlichkeit explizit ausgeschlossen hatte. Was soll nun mit jener »unmittelbaren Körperlichkeit« angefangen werden? Und: Ist es mit der Unmittelbarkeit hier ähnlich bestellt wie mit der des akustischen Klangerlebnisses? Der Rückgriff auf die klassischen Instrumente erscheint zuerst einmal wie eine Einschränkung gegenüber der radikalen Erweiterung des Spektrums, das mit Schaeffer und Cage in die Musik gekommen war: Auch der unkonventionelle Einsatz der Orchesterinstrumente wird ein begrenztes Spektrum an Klängen hervorbringen, eine bloße kleine Teilmenge all dessen, was es auf der Welt zu hören gibt: keine Mixer, keine Gummienten, kein Autolärm. Die entscheidende Frage ist hier in der Tat die Zielsetzung, die damit verfolgt wird. Indem er seine Aufmerksamkeit auf die Körperlichkeit des Klingenden richtet, wendet Lachenmann sich dem zu, was innerhalb der klassischen Tradition systematisch ausgeblendet wurde, einer Art Außen des Innen. Die Arbeit der Schließung des Feldes des Musikalischen zur »Musik« vollzieht sich nicht bloß über den Ausschluss der von außen eindringenden Klänge und Geräusche und der unwillkürlichen und absichtlichen Äußerungen des Publikums, sondern auch über eine Tilgung des Geräuschhaften innerhalb der von den Musikern produzierten Klänge. Der Instrumentalunterricht kann als aufwendiger Disziplinierungsprozess beschrieben werden, mit dem die Erzeugung reiner Töne eingeübt und die Verunreinigungen des Geräusches beseitigt werden sollen. Mit dem untilgbaren Residuum des Geräuschhaften, der Klangfarbe des jeweiligen Instruments, kann dann kompositorisch umgegangen werden. Jedes wirkliche, zufällig entstehende Geräusch ist eine Störung der Musik und das Resultat der Inkompetenz des Musikers. Wenn nun ein professionelles Ensemble genau jene Klänge gezielt hervorbringen und einsetzen soll, so wäre es irreführend, von einer Rückkehr zur Unmittelbarkeit des Umgangs mit dem Instrument zu sprechen. Das ungebundene Experimentieren mit dem Material (der Instrumente) mag für den Komponisten am Anfang stehen, um sich über-
33 Helmut Lachenmann: »Vier Grundbestimmungen des Musikhörens«, in: ders., Musik als existenzielle Erfahrung, a.a.O., S. 54-62, hier S. 56. 237
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haupt ein Material (der gestaltbaren Klänge) zu erarbeiten; für den geschulten Musiker ist der Umgang mit seinem Instrument als Holzkiste oder gebogenes Blechrohr denkbar weit von Unmittelbarkeit entfernt, denn er ist darauf trainiert, das pfeifende, trötende, zischende, knarrende Material zur perfekten Form des Tones zu bringen und so zu läutern.34 So müssen die Musiker denn auch mit äußerster Disziplin ans Werk gehen, um die von Lachenmann geforderten Geräusche hervorzubringen, was auch den Zuhörern, die wie bei Cage wesentlich auch Zuschauer sind, nicht entgehen kann. Dies und der Rahmen des klassischen Konzerts machen ihnen deutlich, dass hier ernst gemacht wird. Die Klänge, die die Streicher etwa in Gran Torso, Lachenmanns erstem Streichquartett, produzieren, werden daher eben nicht als unmittelbare, spielerische Hervorbringungen erscheinen, sondern eher als absichtsvolle Verfremdungen »richtiger« klassischer Töne. Es liegt nahe, hier auf Viktor Schklowski zurückzugreifen, der die Verfremdung als zentrales künstlerisches Verfahren ausgemacht hatte. In unserem Fall geht es um eine Verfremdung zweiten Grades: Wenn die Kunst eine Verfremdung des Alltäglichen betreibt, die Poesie eine »gebremste, verbogene Rede«35 darstellt, so wendet Lachenmann dies Verfahren zurück auf die Kunst, und seine Klänge sind gebremste, verbogene Töne. Nun war für Schklowski die Verfremdung ein Verfahren zur Wiedergewinnung eines frischen Blicks, der Versuch einer neuerlichen Annäherung an die durch kulturelle Formen und Selbstverständlichkeiten fast vollständig verdeckten Gegenstände der Erfahrung, eine auf kompliziertem Wege hergestellte zweite Unmittelbarkeit, und man könnte vermuten, dass Lachenmann Ähnliches vorschwebt. Aber auch das trifft es nicht: Zum Musiker hinzugetreten ist nicht das experimentierende Kind, sondern der Wissenschaftler, dem es um eine systematische Erforschung von Eigenschaften und Reaktionen des Materials geht, und, wenn man so will, der Philosoph, der Reflexionen über die Bedingungen des Musikalischen anstellt. Verkörpert werden diese aber nicht vom Musiker, sondern vom Komponisten; was jener zu spielen hat, hat dieser erforscht und akribisch festgelegt.
34 Selbst Varèses Density 21.5, das die Beschaffenheit des Materials im Titel trägt, bleibt eine Konstruktion von Tönen und lotet innerhalb ihrer die Klangeigenschaften der Platinflöte aus, vgl. dazu Thomas Strässle: »Materialklang: Klangmaterial. Überlegungen zu einer musikwissenschaftlichen Materialforschung am Beispiel von Edgard Varèses Density 21.5«, in: Musik & Ästhetik 8, 32 (2004), S. 82-90). 35 Viktor Schklowski: »Kunst als Verfahren«, in: Fritz Mierau (Hg.), Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule, Leipzig 1987, S. 11-32, hier S. 31. 238
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Was aber nimmt nun der Zuhörer wahr? Er sieht erwartungsgemäß gekleidete Personen mit dem üblichen Instrumentarium, die mit diesem aber Unerwartetes anstellen. Der Rahmen des klassischen Konzerts wird die Wahrnehmung auch hier so lenken, dass man sich bemüht, die Geräusche als Musik zu hören: eine Komposition mit klanglich ungewohntem Material, die es sich sogar erlauben kann, auf klassische Formen zurückzugreifen. An diesem Punkt nun wird Lachenmannns Einschränkung produktiv, da Ohr und Auge des Publikums sich mit Vorgängen konfrontiert sehen, die inner- oder unterhalb der traditionellen Musik geschehen und von dieser in der Regel verdrängt werden. Lachenmanns Kompositionen aus jener Zeit können doppelt gelesen werden: einmal als Wiederkehr und Reflexion eines Verdrängten und zum anderen als Konstruktionen eigenen Rechts. Sie wollen Musik sein, aber auch eine Reflexion der Bedingungen des Musikmachens: Menschen verrichten hochkonzentrierte Arbeit an komplizierten materiellen Gegenständen, wobei sie von anderen Menschen beobachtet werden. Man bekommt vorgeführt, dass »die Musik« kein Zimmer ist, dessen Türen geschlossen bleiben, sondern eine Sinnstruktur innerhalb des Feldes des Musikalischen, deren Grenzen innen so gut wie außen liegen. Zur ursprünglichen musique concrète unterhalten Lachenmanns Stücke ein kompliziertes Verhältnis: Eine akousmatische Haltung wird die Voraussetzung dafür bilden, sich den prä- und submusikalischen Geräuschen der Instrumente überhaupt in gestalterischer Absicht nähern zu können. Gleichzeitig wäre es aus Lachenmanns Perspektive reine Ideologie, die Produktionsbedingungen der Musik vollständig auszublenden, und die Haltung des Musikhörers, der die Augen schließt, um dem sich in und zwischen den Tönen abspielenden Geschehen reiner folgen zu können, wäre unangebracht. Man soll nicht nur hören, sondern auch sehen, was für eine Arbeit verrichtet wird. Wenn bei Cage Einbeziehung von Öffnung unterschieden worden war, so müsste die Praxis des frühen Lachenmann unter Ersteres subsumiert werden, allerdings mit entscheidenden Modifikationen. Bereits Cages Verfremdungsverfahren für das Klavier waren keine reine Erweiterungen des Klangmaterials, sondern lenkten die Aufmerksamkeit immer zurück auf das Instrument, das da einer verändernden Prozedur unterzogen worden war. Selbst der gewaltige Flügel, das abgesehen von der Orgel größte Instrument der klassischen Tradition, erscheint unter dem Ideal des reinen Tons wie ein widerstandsloses und verschwindendes Medium. Der Griff in die Saiten, die Anbringung musikferner Objekte und der fremdartige Klang, der auf diesen Eingriff zurückverweist, verwandeln dieses Medium in einen materiellen Gegenstand zurück,
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dem man an unterschiedlichsten Stellen auf unterschiedlichste Weise zu Leibe rücken kann. Erst recht können Lachenmanns Kratz-, Schab- und Klopftechniken nicht als bloße Suche nach interessanten Klängen verstanden werden. Sie erweitern das musikalische Vokabular, entdecken, in Ecos Worten, »auf der Ebene des Ausdruckskontinuums neue Segmentierungsmöglichkeiten, die die vorherigen, zu Ausdrucksformen führenden Segmentierungen dieses Kontinuums nie relevant gemacht hatten«.36 Dabei explorieren sie aber nicht nur die Materialität der verwendeten Instrumente, sondern den gesamten »ästhetischen Apparat«, wie Lachenmann es nennt, also den Komplex von institutionellen Arrangements, Praktiken und Erwartungen von Produzenten und Rezipienten, Reproduktionsmedien und um die Musik gelagerten Diskursen, der mit der Schließung des Feldes zu der Musik auf unterschiedliche Weise zusammenhängt.37 Der frühe Lachenmann hätte sich vermutlich dagegen gewehrt, wenn man seine Praxis als Kulturreflexion bezeichnet hätte, da er Probleme mit der Suggestion neutraler Distanz gehabt hätte: Der Gestus des Demontierens von Vorurteilen, des Aufbrechens von eingeschliffenen Gewohnheiten und des Sichtbarmachens des dahinterstehenden Apparats zeigt, dass er sie als Ideologiekritik verstanden wissen wollte. Die Ideologie, gegen die sich diese Stücke wenden, ist »die Musik« selbst, und sie sind Übungen darin, deren Situiertheit in ihrem Feld aufzudecken. Lachenmanns Stärke ist es, dass er Reflexion und Kritik tatsächlich als Kunst aufführt und dabei nicht didaktisch wird, sondern ästhetische Gebilde eigenen Rechts produziert. Er führt Produktivkräfte und Produktionsbedingungen des Musikalischen nicht nur vor, sondern musikalisiert sie.38 Das allerdings, was bei Cage als Öffnung bezeichnet wurde, findet sich bei Lachenmann nicht. Zuerst einmal gibt der Komponist an keiner Stelle das Heft auf die gleiche Weise aus der Hand: Weder finden sich zufallsgenerierte noch indeterminierte Kompositionen. Ein Blick in die Partitur etwa von Gran Torso zeigt, dass es sich um hochstrukturierte 36 Umberto Eco: Semiotik, a.a.O., S. 325. 37 Vgl. Helmut Lachenmann: »Zum Problem des musikalisch Schönen heute«, in: ders., Musik als existenzielle Erfahrung, a.a.O., S. 104-110, hier S. 107f. 38 Als Gegenbeispiel mag der – im Übrigen von Bourdieu hoch geschätzte – Hans Haacke mit seinem Manet-Projekt 74 dienen: Haackes Darstellung der verschiedenen Besitzer eines Gemäldes von Manet, den langjährigen Vorstandschef der Deutschen Bank, Hermann Josef Abs, eingeschlossen, ergibt ein sehr wirkungsvolles und entlarvendes Bild des künstlerischen Feldes und seiner Verzahnung mit dem Feld der Macht, ist aber kaum noch als Kunst wahrzunehmen. 240
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und -determinierte Musik handelt. Die nicht auf Anhieb verständliche Notation ist ausschließlich den zu realisierenden Klangvorstellungen geschuldet und muss sich, so der Anspruch, eindeutig in Klänge übersetzen lassen. Freilich ging es auch Cage nicht um beliebige Improvisation, sondern um einen selbst zwar offenen, aber hochdisziplinierten Prozess, der auch »falsch« ablaufen und damit scheitern kann,39 aber seine Vorstellung von Nicht-Intentionalität findet bei Lachenmann keine Entsprechung. Wie groß die Distanz hier ist, zeigt Lachenmann, wenn er emphatisch von der »schöpferische[n] Mobilisierung von Geist als letztem Komplexitätsgrad von Natur«40 spricht. Der philosophische Anspruch, der aus solchen Worten spricht, ist kein geringerer als derjenige von Cages Pathos des Zulassens, geht aber in eine vollkommen andere Richtung. Entsprechend wäre es auch undenkbar, bei der Aufführung von Stücken Lachenmanns die Tür offen zu lassen, womöglich mit einem draußen spielenden Radio. Die Musik ist so intentional, so organisiert und durchsichtig, dass sie sich ebenso sehr von zu lauten Außengeräuschen stören ließe wie ein beliebiges Stück von Beethoven, ja noch mehr, da sie sich nicht auf ein klar definiertes Innen verlassen kann, sondern an dessen Definition selbst arbeitet. Während Cages Musik eine der Ausschaltung von Intentionalität und der Herstellung komplexer Situationen ist, die Reflexionen auslösen, sind Lachenmanns Kompositionen selbst reflexiv. Wenn er eine Musik anvisiert, in der »es keinen Dualismus gibt zwischen ›Klang‹ und ›Form‹«,41 so geht es nicht um ein sich Überlassen an den Klang in seiner Gestalt, sondern um eine Auffassung und Verarbeitung jeglichen Materials als Struktur. Sein Ideal ist die Monade, die fensterlos das gesamte Feld spiegelt. Aber auch dieses Ideal wird gebrochen bzw. als nicht realisierbar erkannt: Es gibt in Lachenmanns Musik trotz allem so etwas wie Fenster nach draußen und sie verbinden sich mit dem, was er als »Aura«42 be-
39 Vgl. exemplarisch Dieter Schnebel: »›Wie ich das schaffe?‹ Die Verwirklichung von Cages Werk«, in: ders./Heinz-Klaus Metzger(Hg.), MusikKonzepte Sonderband John Cage I, München 19902, S. 51-55. 40 Helmut Lachenmann: Vier Grundbestimmungen des Musikhörens, a.a.O., S. 58. 41 Helmut Lachenmann: Klangtypen, a.a.O., S. 20. 42 Vgl. Helmut Lachenmann, Vier Grundbestimmungen des Musikhörens, a.a.O., S. 60ff. Lachenmann bildet seinen Aurabegriff ohne Bezug auf Benjamin; das, was er im Auge hat, lässt sich nur schwer mit Benjamins Bestimmungen von Aura als »Einzigkeit«, als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« (Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt/Main 1974, S. 471-508, hier S. 480, 479) zusam241
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zeichnet. Der Begriff wird im Kontext einer Kritik des Serialismus mit seinem auf die Spitze getriebenen Strukturdenken eingeführt und soll die Vorstellung vollständiger Verfügbarkeit eines widerstandslosen Materials unterminieren: Aura nennt Lachenmann das Moment am Material, das eine spezifische Geschichte von Assoziationen und Interpretationen in sich trägt, die durch Einsatz in einer in sich durchstrukturierten Komposition zwar verfremdet, aber niemals getilgt oder neutralisiert werden kann. Dabei geht es vor allem um den spezifischen Klang bestimmter Instrumente – sein eigenes Beispiel sind die Kuhglocken –, aber auch um traditionsgesättigte musikalische Wendungen. In dieser hörbaren Geschichte laufen Musikalisches und Außermusikalisches ineinander: Die verschiedenen Klänge sind sowohl durch ihren Einsatz in historischen Werken als auch durch mit ihrer ursprünglichen Herkunft verbundene Assoziationen geprägt. Der Komponist, der sich dessen bewusst ist, wird mit diesen Assoziationen arbeiten, sie umfunktionieren, ohne sie aber vollständig kontrollieren zu können. Die Konstruktionen des Auratischen, die er produziert, haben immer ein Moment, das sich der Festlegbarkeit entzieht, und sind auf den je konkreten Assoziationsraum angewiesen, den die einzelnen Zuhörer mitbringen. Die Unkontrollierbarkeit, die in der Aura der Klänge verankert ist, gewichtet Lachenmann derart hoch, dass er sagen kann: »Cage, im Gegensatz zu mir, weiß doch genau, was er tut«.43 Diese Wendung überrascht insofern, als ihn von Cage (und Stockhausen, mit dem Lachenmann sich in diesem Kontext vor allem auseinandersetzt) nicht die Anwesenheit bzw. das Fehlen der Aura unterscheidet, sondern das bewusste Arbeiten mit diesem Phänomen. Die Aura ist der blinde Fleck des strukturell denkenden Komponisten, sie ist – gegen Leibniz – das nicht zu schließende Fenster der Monade, aber sie ist ein anderer Typ Öffnung als die Stille bei Cage. Lachenmann nimmt dieses Fenster wahr, weiß um die nicht ganz vorauszuberechnende Qualität des Lichtes, das durch es fällt, und disponiert damit – anders als derjenige, dem diese wechselnde Beleuchtung bloß unterläuft, da er sich im geschlossenen Raum menbringen, auch wenn es an anderer Stelle durchaus eine gewisse Nähe gibt, etwa wenn es bei Benjamin heißt: »Wenn man die Vorstellungen, die, in der mémoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben, dessen Aura nennt, so entspricht die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt« (ders.: Charles Baudelaire: »Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«, in: ebd., S. 509- 690, hier S. 644). 43 Helmut Lachenmann: »Fragen – Antworten. Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger«, in: ders., Musik als existenzielle Erfahrung, a.a.O., S. 191-204, hier S. 196. 242
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wähnt und die Fenster für Wandbehänge hält. Diese Bewusstheit, dieser reflektierte Umgang mit dem Auratischen bedeutet einen Zugewinn an Kontrolle, nicht ihr Nachlassen, indem sie noch mit dem Unvorhersehbaren rechnet. Im Wissen um die Unmöglichkeit der vollständigen Abgeschlossenheit schließt sie die Türen und verplant die Fenster.
IV. Reflexion und Verstehen »Viele denken, Kunst hätte mit Verstehen zu tun, aber das ist nicht der Fall. Sie hat vielmehr mit Erfahrung zu tun.«44
Auf den vorangegangenen Seiten habe ich versucht, mich einem bestimmten Aspekt einiger Kompositionen von John Cage und Helmut Lachenmann zu nähern, der mir erstens charakteristisch für ihr Schaffen insgesamt erscheint und der zweitens als exemplarische Form der mit musikalischen Mitteln durchgeführten Reflexion des Feldes begriffen werden kann, in dem sich Komponisten, Musiker und Rezipienten bewegen. Aber, so könnte man doch fragen, könnte nicht, statt sich um einen so eigentümlichen Begriff wie den der Kulturreflexion zu bemühen, schlicht davon gesprochen werden, dass ich versucht habe, die Kompositionen zu verstehen? Erika Fischer-Lichte stellt in ihrer Ästhetik des Performativen, für die Cage als Urvater fungiert, die Frage, ob sich Aufführungen verstehen lassen.45 Sie ist nicht so rhetorisch gemeint, wie sie vielleicht erscheinen mag, denn die Sache ist durchaus nicht klar. Fischer-Lichte arbeitet daran, eine semiotische Herangehensweise an Performativität zu verteidigen und sie gleichzeitig von einer emphatisch verstandenen Hermeneutik abzugrenzen. Kurz gesagt: Es geht für sie um Bedeutung, aber nicht unbedingt um Verstehen.46 Sie geht davon aus, dass das Aufgeführte zunächst »in seinem phänomenalen Sein« wahrgenommen wird, schließlich aber gerade durch diese Reduktion auf das bedeutungsfreie Erscheinen zu einem Signifikat wird, »mit dem sich die unterschiedlichsten Assoziationen – Vorstellungen, Erinnerungen, Empfindungen, Gefühle,
44 John Cage im Gespräch, a.a.O., S. 102. 45 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004, S. 270. 46 Mit dieser Formel ließe sich auch in die Diskussion um Musik und Verstehen intervenieren, die innerhalb der Musikwissenschaft geführt wird, vgl. exemplarisch den immer noch aktuellen, von Peter Faltin und HansPeter Reinecke herausgegebenen Band: Musik und Verstehen, Köln 1973. 243
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Gedanken – als seine Signifikate verbinden.«47 Bedeutsam ist hier, dass die Frage nach der Generierung von Bedeutungen nicht auf die intellektuelle Ebene beschränkt wird, sondern leibliche und emotionale Reaktionen miteinbezogen werden, die sich auch semiotisch lesen lassen, ohne damit auf das Äquivalent einer Dechiffrierung von sprachlichen Äußerungen reduziert werden zu müssen. Diese Assoziationen und Reaktionen werden als nicht determiniert, aber auch nicht beliebig gedacht, sondern haben responsiven Charakter, widerfahren den Betroffenen eher, als dass diese sie produzieren. Im unkontrollierbaren und facettenreichen Respons der Rezipienten spielen kulturelle und situative Kontexte ebenso eine Rolle wie der persönliche Hintergrund.48 Damit ist nicht gesagt, dass die für eine Performance Verantwortlichen und die Performer selbst – in unserem Fall also Komponisten und Musiker – keine eigenen Intentionen verfolgen, nichts erreichen oder veranschaulichen wollen, und sei es nur die Irritation von Erwartungsmustern. Nur können sie die Reaktionen der Rezipienten und, über die »feedback-Schleife«, vermittels derer dieser Reaktionen auf die Aufführenden zurückwirken usw., den Verlauf der Aufführung insgesamt nicht vollständig kontrollieren. Es ist offensichtlich, dass Cage hier als Pate im Hintergrund steht, und zwar bereits der Cage von 4’33”, und erst recht der der Performances, in denen den Zuhörern mit multimedialer Überforderung die Vorstellung mit aller Gewalt ausgetrieben wurde, es gebe etwas zu verstehen oder gar richtig zu verstehen. Im Falle von 4’33” kann man allerdings davon sprechen, dass gerade die Fülle der an keinen konkreten Gegenstand gebundenen Assoziationen zu jener Reflexion führt, von der die Rede war: Die unabweisbare Erfahrung ist die der Unsicherheit in Bezug auf die Grenzen zwischen Innen und Außen der Musik und zwischen der eigenen Verwiesenheit
47 Ebd., S. 247. Sie wendet sich hier gegen die neue Präsenzmetaphysik, wie sie etwa durch Gumbrecht und vor allem Mersch, weniger durch Bohrer vertreten wird. Mit diesen teilt sie allerdings die äußerst unscharfe Verwendung des Begriffs der Materialität, der hier mit jenem phänomenalen Sein gleichgesetzt wird. Vgl. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2002; Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/Main 2004; Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit, Frankfurt/ Main 1981; ders.: Das absolute Präsens. Zur Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt/Main 1994. Die suggestive Kopplung von Präsenz und Materialität, die sich in jenen Texten findet, bedürfte einer eigenen Untersuchung. 48 Es läge nahe, an dieser Stelle an Waldenfels’ Theorie der Responsivität anzuknüpfen (was Fischer-Lichte nicht tut), bei dem diese Motive systematisch ausgearbeitet sind, vgl. Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt/Main 1998. 244
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auf die Passivität der reinen Rezeption und einer aktiven Beteiligung,49 und diese Unsicherheit führt in eine Reflexion über jene Grenzen. Es wäre verkürzend, hier das zenbuddhistische Ethos der auf Reflexionen und Assoziationen verzichtenden reinen Hinnahme in den Mittelpunkt zu stellen, auch wenn Cages eigene Äußerungen dies vielfach nahelegen. Es gibt hier nichts zu verstehen, was wie eine kodifizierte Äußerung zu decodieren wäre, und das Stück verweist auf nichts, sondern es ist etwas und tut etwas. Dieser Prozess ist es, der als selbstreflexiv beschrieben werden kann und eine Reflexion des Betrachters geradezu verlangt. Auch Lachenmanns Stücke mit ihrer strengeren Struktur und ihrem weitgehenden Verzicht auf Indeterminiertheit lassen sich mit dem Modell der Performativität begreifen. Sein Begriff der Aura ist, auch wenn er selbst als Moment der Konstruktion auftaucht, jenseits der Konstruktion angesiedelt und verweist auf das tatsächliche Erklingen eines spezifischen Geräuschs, das einen je nach Hörer unterschiedlichen Assoziationsraum öffnet. Dass es nur bedingt ergiebig ist, hier ausschließlich die Partitur zu lesen, liegt nicht nur an der erst einmal unbekannten und damit nur bedingt lesbaren Notation, sondern auch am Ausfall jener Dimension in der Lektüre. Zur Theatralität, die Cage ausdrücklich einsetzt, unterhalten Lachenmanns Stücke ein komplizierteres Verhältnis. Gerade indem sie darauf verwiesen sind, mit aller Konzentration an der Hervorbringung der verlangten Geräuschkombinationen zu arbeiten, geben die Musiker ein Bild ab, dessen Ernsthaftigkeit durch seinen bizarren Charakter konterkariert wird. Hier wird das Eigengewicht der Aufführung gegenüber der Komposition bzw. der Konzeption, auf dem Fischer-Lichte so eindringlich beharrt, auf besondere Weise deutlich. Vielleicht lässt sich an diesem Punkt besonders gut die Bedeutungshaftigkeit veranschaulichen, die nicht auf einer Mitteilung beruht und auch nicht an ein Verstehen im hermeneutischen Sinne appelliert: Durch die Verfremdung ihres Tuns erscheint die für gewöhnlich zwischen Leichtigkeit und Pathos changierende Praxis des Instrumentenspiels als Arbeit – keine Ausdrucksgesten, sondern Nüchternheit. Diese konzentrierte Nüchternheit wirkt wie eine Entzauberung, die derjenigen des Tones durch das Geräusch entspricht. Damit wird die Aufführung aber nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, 49 Man könnte diese Erfahrung als Liminalität bezeichnen, wie FischerLichte es tut, nur ist dieser aus der ethnologischen Ritualforschung stammende Begriff meines Erachtens zu eng an eine persönliche Transformation gekoppelt und überlastet damit den Zusammenhang, um den es hier geht. Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, a.a.O., S. 305ff. 245
IV. FELDER MODERNE KULTUR
sondern es wird sozusagen ihr Innenleben offengelegt. Die Vivisektion klassischer Musikpraxis will aber nichts anderes sein als eben dies: Musikpraxis. In ihrem Zeigen versucht sie, den Überschuss der Inszenierung auf ein Minimum zu reduzieren und entwickelt dadurch ein eigenes, negatives Pathos. All dies zeigt deutlich, dass Lambert Wiesing eine falsche Alternative aufmacht, wenn er für Kunst allgemein davon spricht, Ziel sei »nicht der Verweis, sondern die Präsenz.«50 In der Tat, die behandelten Stücke von Cage und Lachenmann sind etwas, und das ist es, was sie entscheidend ausmacht – Cages Bedeutungs- und Interpretationsfeindlichkeit ist bekannt. Was sie über die Struktur unserer Musiktradition und den mit ihr verbundenen Betrieb erfahrbar machen, sagen sie nicht, sondern machen es sichtbar. Sie zeigen aber auch, dass es keinen Sinn hat, an dieser Stelle Phänomenologie und Semiotik gegeneinander auszuspielen. Das bloße, arbiträre und funktional bestimmte Zeichen und das beziehungsund verweislos sich selbst ausstellende Phänomen sind bezogen auf die Kunst (wenn nicht überhaupt) komplementäre Verzeichnungen. Zeichen sind keine ontologischen, sondern funktionale Entitäten – einverstanden, aber im Kontext von Kultur und Gesellschaft wird »jeder Gebrauch zum Zeichen dieses Gebrauchs«,51 wie Barthes erkannt hat. Die Funktionalität liegt darin, dass der Verweisungszusammenhang offen und kontextsensibel ist und sich nie genau sagen lässt, was an Bezügen von den Rezipienten aufgenommen wird. Der Verweis ist damit loser als es die auf exakte Verhältnisse zielenden Begriffe klassischer Sprachphilosophie und Semiotik abbilden können. Auf der anderen Seite ist es in den meisten Fällen zu vage, von einem bloßen Assoziationsraum auszugehen, in dem je nach Person und Situation dieses und jenes stattfinden kann, wie es auch Ecos Rede von »Text-Wolken […], bei denen jede vorhersagbare Regel fehlt«,52 nahelegt. Auch Goodmans Modell der Exemplifikation53 ist hier noch zu eng: Die Lachenmannschen Geräusche exemplifizieren das, was man mit einem Streichinstrument jenseits der klassischen Klänge machen kann, 50 Lambert Wiesing: »Phänomenologie und die Frage ›Wann ist Kunst?‹«, in: Günther Pöltner (Hg.), Phänomenologie der Kunst, Frankfurt/Main 2000, S. 131-151, hier S. 151. 51 Roland Barthes: Elemente der Semiologie, Frankfurt/Main 1979, S. 36; von hier ergeben sich offensichtliche Verbindungen zu Heideggers Analyse des Zeugs: »In der Struktur ›Um-zu‹ liegt eine Verweisung von etwas auf etwas« (Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 199317, S. 68). 52 Umberto Eco: Semiotik, a.a.O., S. 325. Eco bezieht sich hier auf abstrakte Malerei, aleatorische Musik und die Cageschen Happenings. 53 Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer allgemeinen Symboltheorie, Frankfurt/Main 1995. 246
CHR. GRÜNY: ARBEIT IM FELD DES MUSIKALISCHEN
verweisen damit aber auch auf die impliziten und expliziten Normen, die sie durchbrechen, und auf all die bereits genannten Instanzen, die die Einhaltung dieser Normen überwachen. Am besten lässt sich dies mit einer kulturtheoretisch transformierten Semiotik beschreiben, wie sie Rustemeyer vorlegt. Wenn er schreibt, dass komplexe kulturelle Bedeutungen in ihrer Aktualisierung »Kaskaden semiotischer Differenzierungen [aktivieren], in denen Semantiken, Gewohnheiten, Bild-, Wort- und Klanggedächtnisse, emotionale Besetzungen, Grammatiken des Sehens und Muster typischer Handlungsformen aufgerufen werden«, so ist dies als Neuformulierung des Kantischen Gemeinsinns als »sozial habitualisierte semiotische Kompetenz«54 zu verstehen, die bei aller Indeterminiertheit und situativen und individuellen Varianz doch für eine elementare Kohärenz der ins Spiel gebrachten Verweise sorgt. Als Anlass für Erfahrungen sind die Stücke von Cage und Lachenmann hochspezifisch; vielleicht beschreibt Lachenmanns eigener Begriff der Aura das Verhältnis von aus Struktur freigesetzter Reflexion und unkontrollierbarer Assoziation am besten. Der konstruktive Umgang mit Aura-Phänomenen ist kein Meinen, das es zu verstehen gilt, sondern es ist Reflexion, weil es sich auf sich selbst als kulturelle Situationen bezieht und damit jede noch so idiosynkratisch erscheinende Assoziation auf diesen kulturellen Raum zurückverweist. Auch wo man die Stücke nicht im Sinne des Decodierens eines Meinens begreifen kann, kann man aus ihnen etwas über diesen Raum lernen oder, meinetwegen, verstehen. Die Frage, ob Cages stilles Stück – und, weniger kontrovers, Lachenmanns musique concrète instrumentale – Musik sei, hat keinen rechten Sinn, es sei denn, es ist einem eher um die Eindeutigkeit von Definitionen zu tun als um die Produktivität künstlerischer Interventionen.55 Das Feld des Musikalischen ist nicht beschränkt auf das jeweils Erklingende, die Partitur (so es denn etwas Derartiges gibt) oder den Zusammenhang beider. Es unterhält innere Übergänge zu anderen Feldern wie dem des Theatralischen, was immer wieder zu Ambiguitäten führt. Wenn aber mit der Klassifikation als Musik eine Beruhigung über den Status des Untersuchten, eine Klarheit der Zuordnungen und Ab54 Dirk Rustemeyer: Oszillationen. Kultursemiotische Perspektiven, Würzburg 2006, S. 197. 55 Stephen Davis stellt diese Frage in Bezug auf 4’33” und verneint sie nach einer Reihe mehr oder weniger plausibler klassifikatorischer Anstrengungen. So steril ich Frage und Argumentation finde, so richtig erscheint mir sein Schluss, es handele sich um eine »contribution to our understanding of music and the philosophy of the arts« mit politischer Dimension (Stephen Davis: »John Cage’s 4’33”: Is it music?«, in: ders., Themes in the Philosophy of Music, Oxford 2003, S. 11-29, hier S. 29). 247
IV. FELDER MODERNE KULTUR
grenzungen verbunden ist, mag es tatsächlich am produktivsten sein, die behandelten Stücke nicht als Musik zu bezeichnen, sondern die Praxis, die sie vorführen, als Arbeit im Feld des Musikalischen zu begreifen.
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Krankenbehandlung als Kultur. Zur Logik der Praxis in der Medizin WERNER VOGD
I. Den folgenden Betrachtungen liegt eine kultursoziologische Auffassung zu Grunde, entsprechend der – banal gesprochen – Kultur nichts anderes meint, als dass man die Dinge eben so tut, weil man sie so tut. Die Logik des Geschehens entwickelt sich nun aus der Logik der Praxis, dem »praktischen Sinn«, wie Pierre Bourdieu1 sagen würde. Noch unterhalb des Spiels des ›Gebens und Nehmens von Gründen‹, richtet sich hier der Blick in ethnografischer Manier auf jene Praktiken, welche die bekannten Welten konstituieren. Kultur erscheint dann als ein spezifisches Arrangement eben dieser Praktiken. Eine entsprechend verstandene Kulturreflexion kann den Blick auf das Design dieser Prozesse lenken, also auf die Art und Weise, wie Praxen zueinander in Beziehung gesetzt werden, welche Anordnungen und Balancen entfaltet und wie jene Sphären, die üblicherweise als Vernunft, Rationalität, objektive Wissenschaft angesehen werden, in diese Arrangements eingewoben sind. Auf einer fundamentalen Ebene lassen sich nun mit Richard Rorty die vertrauten Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Natur und Kultur, sowie Kunst und Wissenschaft selbst als eine kontingente gesellschaft-
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Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main 1997. 249
IV. FELDER MODERNE KULTUR
lich-historische Praxis begreifen, die zugleich ihren eigenen ideologischen Schleier auf die kulturelle Natur dieser Praktiken legt.2 Schauen wir aus dieser Perspektive zunächst auf die moderne Medizin als eine Kultur, die von den oben benannten Unterscheidungen in einer besonderen Weise profitiert, zugleich aber durch die hiermit aufgeworfene Subjekt-Objekt-Dichotomie den Blick auf die kommunikativen und ästhetischen Aspekte ihrer Praxis verstellt. Im zweiten Abschnitt sind mit Bruno Latour und Niklas Luhmann zwei Theorieperspektiven vorzustellen, mittels derer sich die alte Descartes’sche Dichotomie in intelligenter Weise unterlaufen lässt. Auf diesem Wege gelangen wir zu zwei, sich komplementär ergänzenden Sichtweisen auf die Medizin, die jenseits von Affirmation und Kritik den Blick auf die kulturellen Eigenleistungen der modernen Medizin lenken. Auf diese Weise theoretisch sensibilisiert wenden wir uns im dritten Schritt der Analyse kurzer Fallbeispiele zu, die aufzeigen, dass die Logik der Praxis längst die üblichen Dichotomien unterläuft. Wir beginnen mit einer Szene aus einer onkologischen Klinik, in denen der Begriff der Heilung zu verschwimmen scheint und wenden uns dann einem Behandlungsarrangement zu, das weder durch von außen bestimmbare Rationalitäten noch durch geteilte Sinnhorizonte getragen wird. In der abschließenden Reflexion werden Fragen der modernen Heilkunst und der sich hierin ausdrückenden Ästhetik aus einer originär praxeologischen Perspektive erneut zu betrachten sein.
II. Zwischen Subjekt und Objekt – theoretische Perspektiven Moderne Medizin: harte Fakten und weiche Subjekte Die moderne Medizin ist eng gekoppelt an eine Wissenschaftsgeschichte, die mit Descartes gelernt hat, zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden. Mit der »Geburt der Klinik« (Foucault)3 konnte sie den Patien2
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»Wir sind die Erben einer dreihundertjährigen Rhetorik, die uns sagt, wie wichtig es sei, eine scharfe Trennung zwischen Wissenschaft und Religion, Wissenschaft und Politik, Wissenschaft und Kunst, Wissenschaft und Philosophie, usf. wahrzunehmen«, verneinen aber mit Blick auf den heutigen Reflexionsstand, »in Bezug auf diese Unterscheidungen«, dass es »›objektive‹ oder ›rationale‹ Maßstäbe gibt, sie zu akzeptieren«, Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/Main 1987 [1979], S. 359f. Siehe Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1988, S. 359.
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W. VOGD: KRANKENBEHANDLUNG ALS KULTUR
ten zum Gegenstand, zum Objekt werden lassen, um sich hiermit von einer höfischen Medizin zu lösen, in der noch das individuelle Krankenexamen durch den in der Regel auch persönlich bekannten Arzt im Vordergrund stand. Krankenbehandlung vollzog sich nun üblicherweise unter Akteuren, die einander ohne Interaktionsgeschichte begegneten und die hiermit verbundene Anonymität erlaubte die pietätlose ›Öffnung des Körpers‹. Die Pathologie wurde zur Leitdisziplin der Medizin und der Patient erschien nur noch als Träger einer bestimmten Krankheit, deren Symptombild entsprechend einer naturwissenschaftlich ergründbaren Kausalkette zu erklären war. Die wissenschaftliche Erfolgsgeschichte der modernen Medizin begann. Den Leib auf diese Weise verdinglicht, wurde es für den Bürger des frühen 20ten Jahrhunderts – wie dann Talcott Parsons in seiner Rekonstruktion der Krankenrolle herausarbeitete – zur moralischen Pflicht, sich im Krankheitsfalle entsprechend dem wissenschaftlichen state of the art behandeln zu lassen und die entsprechenden Zumutungen passiv hinzunehmen.4 Erst nach den Schrecken des Nationalsozialismus wurde dem Subjekt innerhalb der Arena der Krankenbehandlung ein besserer Platz zugestanden. Die informierte Zustimmung des Patienten zur Behandlung und zum medizinischen Experiment wurde nun zum juristischen Standard.5 Der Patient war nun formalrechtlich entscheidungsfähig, wenngleich mit Blick auf die asymmetrische Rollengestaltung in der Praxis de facto weiterhin vom Arzt abhängig. Dennoch: auch in einer vermeintlich objektiven Medizin war jetzt vermehrt wieder das Subjekt einzuführen. Zum einen erschien der ›Patientenwille‹ nun vermehrt als Problem und man muss nun auch ›Kommunikation‹ einsetzen, um diesen zur compliance, zu kooperativem Verhalten zu bewegen. Zum anderen erschienen nun Fürsprecher, die angesichts einer nun als inhuman kritisierten Medizin proklamierten, dass Patientenpartizipation an sich schon einen wünschenswerten Wert darstelle. Ursprünglich durch die Bürgerrechtsbewegungen der 1960erJahre formuliert, dann durch die liberale Politik einer individualisierten Gesellschaft aufgegriffen und später unter ökonomischen Gesichtspunkten als ›Kundenfreundlichkeit‹ reformuliert, wurden seit den 1970ern stärker kooperative Modelle eingefordert. »Formate wie etwa das ›shared descision making‹ (SDM) oder ›evidence-based patient choice‹, können als medizinale Äquivalente eines allgemeinen Partizipations-
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Talcott Parsons: The Social System, London 1951. Vgl. Jochen Vollmann/Rolf Winau: »History of informed medical consent«, in: Lancet 347 (1996), S. 410. 251
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trends in den westlichen Industrienationen gesehen werden, die den Patienten nun mehr Kompetenz und Wahlfreiheit zuschreiben«.6 Die Grenze zwischen den normativ aufgeladenen Aspekten einer Medizin – die dann humaner werden soll – und der Faktizität harter medizinischer Tatsachen blieb jedoch bestehen. In der Medizinerausbildung wird klar zwischen den weichen, psychosozialen Fächern und den naturwissenschaftlich begründeten klinischen Wissensgebieten unterschieden. Im Krankenhaus als der zentralen Organisation medizinischer Arbeit findet sich eine deutliche Arbeitsteilung, entsprechend der die Pflegekräfte eher für die subjektiven Aspekte »comfort work«, »sentimental work« und »articulation work« zuständig gesehen werden, während die Ärzte überwiegend die klinischen und technischen Aspekte der »illness trajectories« zu bearbeiten haben.7 Auch die überwiegende Zahl der sozialwissenschaftlichen Betrachtungen der Krankenversorgung reifizieren die Spaltung zwischen den weichen und den harten Aspekten der Medizin. Es wird dann, wie auch Atkinson feststellt, alles mögliche erforscht – Geschlechterverhältnisse, Machtspiele, Formen der sozialen Diskriminierung –, nur nicht das, worum es eigentlich geht, nämlich Praxen der organisierten Krankenbehandlung.8 Schauen wir nun mit Bruno Latour und Niklas Luhmann nach alternativen Beschreibungsmöglichkeiten, welche die technischen Aspekte der Medizin als Kulturpraxis etwas weicher erscheinen lassen, um dann die kritisierungswürdigen inhumanen Aspekte dieser Medizin selbst als verhärtete Kulturform begreifen zu können.
Latours Techniksoziologie: Vermischungen Wir kommen nun mit Bruno Latour zu einer Beschreibungsebene, entsprechend der sich Krankenbehandlung nicht mehr aus der Perspektive einer äußeren Rationalität bzw. der Intentionalität handelnder Subjekte erschließt. Stattdessen erscheint sie im Sinne der radikal empirischen Perspektive der science studies als Praxis netzwerkförmiger Interaktionen. Wir finden nun (physische) Räume, Techniken, Apparaturen, Pro6
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Cornelius Schubert/Werner Vogd: »Die Organisationsform der Krankenbehandlung. Von der privatärztlichen Konsultation zur vernetzten Behandlungstrajektorie«, erscheint in: Volker E. Amelung/Jörg Sydow/Arnold Windeler (Hg.), Vernetzung im Gesundheitswesen – Wettbewerb und Kooperation, Stuttgart. Siehe Anselm L. Strauss/Shizuko Fagerhaug/Barbara Suczek/Carolyn Wiener: Social Organisation of Medical Work, New Brunswick-London 1997. Vgl. Paul Atkinson: Medical Talk and Medical Work. The Liturgy of the Clinic, London, Thousand Oaks, New Delhi 1995, S. 21ff.
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zeduren, Akten, organisatorische Pfade und unterschiedliche Akteure vor, die ein Netzwerk bestimmter Konstellationen bilden. Auf diese Weise lassen sich nun strukturierte Prozesse erkennen, die ihre Form weniger durch das Wollen (›subjektive Werte‹) oder die Kognitionen (›objektive Tatsachen‹) einzelner Akteure gewinnen, denn sich als Sukzession hybrider, aneinander gekoppelter Praxen entfalten. Diese gestalten dann vor allem dadurch Realität, dass der jeweils folgende Schritt den nächsten Anschluss bahnt. Auch für die moderne Medizin gilt dann vor allem: Man macht es eben so, weil man es eben so macht. Man findet Akten vor, die auf Bestimmtes verweisen und anderes nahelegen.9 Man trifft auf Körper, die sich durch institutionalisierte Prozeduren zum Sprechen bringen lassen. Man kooperiert mit diagnostischen Maschinen, die Bilder und Texte vom Körper erzeugen und auf diesem Wege einzelnen Organen, Blutbildern, Herz- und Hirnfunktionen und Genen eine Stimme verleihen.10 Man bewegt sich in architektonischen und organisatorischen Gebilden, die bestimmte Schritte erleichtern und andere erschweren. Man arbeitet in einem Team, das über subtile Relevanzordnungen im Hinblick darüber verfügt, wer wem bei welchen Fragen und in welcher Form vertrauen kann.11 Infusionspumpen, die piepend Tonsignale geben, Instrumente, die eine bestimmte Form der Benutzung nahe legen,12 Krankenschwestern, die auf sanfte Weise Ärzte und Patienten instruieren, all dies zusammen bildet ein Netzwerk aus ›menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten‹ (Latour),13 das in Bezug auf die Frage der Handlungsträgerschaft die Grenzen zwischen Ursache und Wirkung verschwimmen lässt. Technische Artefakte und behandelnde sowie behandelte Akteure gehen in diesen Praktiken eine Gemengelage ein, die sich nur noch mit Blick auf die Sequenzialität von Praxen sinnvoll beschreiben lässt. Mit Latour werden Beschreibungen 9
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Vgl. Marc Berg: »Praktiken des Lesens und Schreibens: die konstitutive Rolle der Patientenakte in der medizinischen Arbeit«, in: Irmhild Saake/Werner Vogd (Hg.), Moderne Mythen der Medizin – Studien zur organisierten Krankenbehandlung, Wiesbaden 2007, S. 63-86. Vgl. Paul Atkinson: Medical Talk and Medical Work. The Liturgy of the Clinic, a.a.O. Vgl. Aaron V. Cicourel: »Cognitive and Organizational aspects of Medical Diagnostic Reasoning«, in: Discourse Processes 10 (1987), S. 347-367; Aaron V. Cicourel: »The Integration of Distributed Knowledge in Collaborative Medical Diagnosis«, in: Jolene Galegher/Robert E. Kraut/Carmen Egido (Hg.), Intellectual Teamwork. Social and Technological Foundations of Cooperative Work, Hillsdale/N.J. 1990, S. 221-241. Vgl. hierzu Schuberts Untersuchungen zur Kooperation im Operationssaal. Cornelius Schubert: Die Praxis der Apparatemedizin. Ärzte und Technik im Operationssaal, Frankfurt/Main 2006. Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt/Main 2000. 253
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möglich, welche die in den Sozialwissenschaften übliche Unterscheidung zwischen ›Kultur‹ und ›Natur‹ sowie ›sozialer Welt‹ und ›Objektwelt‹ unterlaufen. Technische Artefakte erscheinen nun nicht mehr (nur) als Mittel, sondern auch als ›Mittler‹, um soziale und kulturelle Programme auf Dauer zu stellen und zu ›verhärten‹.14 Die Frage, wer hier eigentlich handelt, ist aus prinzipiellen Gründen empirisch nicht (mehr) zu beantworten, denn mit »der Zeit werden die Beziehungen zwischen Objektivität und Subjektivität gerade nicht immer weiter geklärt, sondern werden Menschen und nichtmenschliche Wesen immer stärker und in immer größerem Maßstab miteinander vernetzt«.15
Systemtheorie: Medizin als Kommunikation zwischen Körper und Bewusstsein Unterlaufen wir nun mit der Luhmann’schen Systemtheorie die gängige Subjekt-Objekt-Dichotomie der Medizin von einer anderen Seite und begreifen Medizin als eine Sonderform der Kommunikation, die ihr Bezugsproblem insbesondere (auch) in der Beziehung von Bewusstsein und Körper findet. Ersteres stellt sich als »stream of consciousness« (James 1890)16 einer in sich geschlossenen Erfahrungswelt dar. Demgegenüber zeigt sich der systemische Charakter des Körpers in den biochemischen und biophysikalischen Stoffwechselkreisläufen.17 Zentral für das Erleben von Krankheit ist das Verhältnis von Bewusstsein und Körper. Zunächst ist festzustellen, dass im täglichen Erleben Körper und Bewusstsein zugleich als miteinander verbunden wie auch voneinander verschieden erfahren wird. Trotz aller ›vernünftigen‹ Argumente für einen Monismus von Geist und Körper, ist die Alltagsepistemologie in der Regel dualistisch. Bewusstseinsinhalte sind vielfach ausgesprochen körperfremd. Ihre semiotischen Prozesse können sich in Form von Symbolen, Sprache und Phantasien weit von der aktuellen Realität des Körpers ent14 Die gesellschaftliche Ordnung erscheint aus dieser Perspektive als ein überpersonales Netzwerk aus nicht-menschlichen und menschlichen Aktanten, denn »die meisten der Merkmale, die wir der sozialen Ordnung zurechnen – Dauerhaftigkeit, Macht, Hierarchie und soziale Rollenverteilung –, ließen sich nicht einmal definieren, ohne auf sozialisierte nichtmenschliche Wesen zurück zugreifen«, Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, a.a.O., S. 242. 15 Ebd., S. 244. 16 William James: The Principles of Psychology, New York, London 1890. 17 Der Begriff der Autopoiesis bezeichnete ursprünglich, in Maturanas Sinne, ausschließlich selbstreferenzielle physiologische Kreisläufe innerhalb der biologischen Organisation eines Organismus und wurde erst von Luhmann als abstraktes Organisationsprinzip auf Kommunikationssysteme ausgeweitet. 254
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fernen. Nur in der Unmittelbarkeit starker Empfindungen (Schmerzen) bricht die Opposition von Zeichen und Bezeichnetem, symbolischer Repräsentation und dem was repräsentiert zusammen. Diese Erfahrung ist im eigentlichen Sinne auch nicht mehr kommunizierbar, denn sie liegt, mit den Worten Wittgensteins, außerhalb des ›Spiels der Sprache‹.18 Dennoch ist auch die Erfahrung des Schmerzes ihrer Natur nach dialogisch. In der Körperempfindung wird sich das Subjekt seiner Verbindung zum Körper gewahr, denn »nur durch die Beobachtung des eigenen Körpers weiß das Bewußtsein, daß es mit etwas außer sich gleichzeitig existiert. Es mag an ferne Orte, an Zukünfte oder Vergangenheiten oder auch ›zeitlose‹ Idealformen denken, etwa an Zahlen – immer aber geschieht das Denken mit einem Mindestmaß an Aufmerksamkeit für den eigenen Körper und dadurch mit einer zeitlich unterscheidbaren Aktualität«.19 Die Beobachtung einer starken Schmerzerfahrung manifestiert sich hier als Paradoxon der Einheit in der Differenz. Das Verhältnis von ›Leib sein‹ und einen ›Körper haben‹ wird nun überdeutlich. Die Primärerfahrung des Schmerzes lässt als reine ›Existenzerfahrung‹ die Differenz von Körper und Bewusstsein zusammenbrechen. Gleichzeitig konstituiert sie jedoch Anschlussmöglichkeiten. Die Beobachtung lässt den Schmerz im nächsten Bewusstseinsakt zum Gegenstand werden und eröffnet hiermit für den Sinnprozess weitere Anschlussperspektiven. Die Differenz von Körper und Bewusstsein wird im Schmerz zugleich durchbrochen wie auch als Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz erneut reifiziert. Man könnte die nun hier beschriebene Dichotomie ontologisch begreifen wollen und Luhmann hiermit in die Nähe des Descartes’schen Leib-Seele-Dualismus stellen, eine solche Sichtweise beruht jedoch auf einem Missverständnis gegenüber dem Theoriedesign der Systemtheorie. Systeme sind weder ein Ding noch eine andere Einheit, die auf irgendeine Essenz zurückzuführen sind.20 Systeme sind rein operativ definiert, als ein bestimmter Typus von Operationen, die eine bestimmte Typik erzeugen, die diesen Typ von Operationen erneut anlaufen lassen. Das Bewusstsein erscheint in diesem Sinne nicht 18 In den Philosophischen Untersuchungen heißt es in Präposition 300: »Die Vorstellung des Schmerzes ist kein Bild, und diese Vorstellung ist im Sprachspiel auch nicht durch etwas ersetzbar, was wir ein Bild nennen würden«, Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Leipzig 1990. 19 Niklas Luhmann: »Der medizinische Code«, in: Niklas Luhmann (Hg.), Soziologische Aufklärung. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 183-195, hier S. 189. 20 Fuchs spricht in diesem Sinne von Systemen als ›Un-jekten‹. Peter Fuchs: Die Metapher des Systems. Studien zu der allgemein leitenden Frage, wie sich der Tänzer vom Tanz unterscheiden lasse, Weilerswist 2001. 255
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etwa deshalb als System, weil ein inneres Seelenwesen denkt, sondern weil in einem Prozess Gedanken erzeugt werden, die, im Sinne einer inneren Geschwätzigkeit, Anlässe zu weiteren Gedanken Anlass bieten. Als Praxis eines fortschreitenden Sinnprozedere entstehen im Bewusstsein Inhalte, die (Körper-)Wahrnehmungen als Anlass für ihre weiteren Aktivitäten nehmen, doch mit Blick auf ihre spezifische Typik bleibt der Bezug zur ihrer körperlichen Basis unbestimmt. Ob etwa das Cholesterin in der Butter, Hormonersatzpräparate in der Menopause, Stress am Arbeitsplatz etc. gesundheitsschädlich sind oder nicht, ist nicht aus sich heraus evident, sondern erscheint erst innerhalb semantischer, ihrerseits kontingenter Sinnhorizonte bedeutsam.21 Aus diesem operativen ›Dualismus‹ und der hieraus resultierenden Alltagsepistemologie ergibt sich eine prekäre Beziehung zwischen Körper und Bewusstsein. Eine Verbindung zwischen diesen beiden fundamental verschiedenen Ebenen kann nur durch die Konstruktion einer ›Beziehung‹ erzeugt werden, wobei das Wesen einer Beziehung gerade darin besteht, eine Verbindung zu etwas zu finden, zu dem kategorial kein Zugriff besteht.22 Auf der Ebene der Sozialsysteme, d.h. der Koppelung unterschiedlicher psychischer Systeme, stellt sich die Frage dieser Beziehung als Problem der doppelten Kontingenz: Da man nicht wissen kann, was in dem anderen wirklich vorgeht, muss man kommunizieren. Die Kommunikation hat sich in sich selbst diese Intransparenz in Rechnung zu stellen und muss sich deshalb analytisch als Differenz von Information, Mitteilung und Verstehen auffassen lassen. Kommunikationstheoretisch bleibt hier kein anderer Ausweg, als dem jeweils anderen eine Absicht zu unterstellen, ohne dabei jedoch wirklich in das Eigenleben des jeweils anderen Systems blicken zu können. Das Verstehen muss hier sozusagen aus sich heraus eine Entscheidung darüber treffen, was Information ist und wie diese gemeint sein könnte. Alltagspraktisch lösen sich die hieraus ergebenden Beziehungsprobleme durch die wechselseitige Stabilisierung von Erwartungen und den sich hieraus ergebenden systemeigenen Anschlussmöglichkeiten. Kommunikation erscheint hier 21 Der soziologische Beobachter kann hier in verschiedenen Diskursen unterschiedliche, sich oftmals widersprechende, Kausalattributionen entdecken. Selbst massiv lebensfeindliche Arbeitsbedingungen können, wie Hien aufzeigt, im Milieu der betroffenen Arbeiterschaft eine kontraintuitive Umdeutung erfahren (z.B. im Sinne: ›das macht mich nur stärker‹). Wolfgang Hien: Chemische Industrie und der Krebs. Zur Soziologie des wissenschaftlichen und sozialen Umgangs mit arbeitsbedingten Krebserkrankungen in Deutschland, Bremerhaven 1994. 22 In Luhmanns Systemtheorie wird dieses Phänomen, anlehnend an Maturana, als ›strukturelle Koppelung‹ bezeichnet. 256
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also als jene Sozialpraxis einer Kommunikation, die kommuniziert, weil sie es mit Ungewissheiten zu tun hat, die sie nicht auflösen, aber bewältigen lassen kann, indem die Kommunikation weiterkommuniziert, um von Ereignis zu Ereignis in neuen Sinn einrasten zu können. Doch die Beziehung zwischen Körper und Bewusstsein lässt sich im Luhmannschen Sinne nicht einfach als Kommunikation auffassen, da der Körper keinen Sinn versteht und entsprechend seinem Widerpart – dem Bewusstsein – auch keinen Sinn unterstellen kann. Das Bewusstsein kann zwar Körpersignale wahrnehmen, bzw. kann Gedanken denken, die – auf welchem Wege auch immer – Körpervorgänge beeinflussen können. Diese Prozesse dürfen jedoch analytisch nicht als Kommunikation gelesen werden, etwa in dem Sinne, dass nun der Körper dem Bewusstsein etwas mitteilen wolle. Der Körper operiert nicht im Medium Sinn, d.h. auf der Ebene der Selektivität von Anschlussmöglichkeiten. Er denkt und versteht nicht. Immer wenn ein Beobachter einem Körper – vielleicht im Hinblick auf dessen beobachtbare Eigenaktivitäten – diesbezügliche Fähigkeiten zuschreibt, so handelt es sich um eine Konstruktion im Reich der Sprache. Der Sinn des Körpers und seiner Signale besteht immer nur für einen Beobachter. Dieser fundamentale kategoriale Unterschied – nennen wir es: zwischen Körper und Geist – darf hier jedoch wiederum nicht im Sinne eines metaphysischen Dualismus verstanden werden, sondern charakterisiert nur den Sachverhalt, dass das Bewusstsein sich als emergentes Phänomen nicht selbst der physischen Prozesse bewusst sein kann, die es ermöglichen. Aus den benannten Gründen lassen sich Körperwahrnehmungen nicht in trivialer Weise in Sinn bzw. umgekehrt Bewusstsein in Körpervorgänge übersetzen. Da das Verhältnis zwischen beiden uneindeutig ist, besteht gewissermaßen Bedarf nach einer Moderation durch Kommunikation. Dies ist möglich, da Bewusstsein ebenso wie Kommunikation im Medium des sprachlich vermittelten Sinns operiert. Das Bewusstsein weiß, dass sein Körper von anderen beobachtet wird und es weiß, um an Parsons Konzeption der Krankenrolle anzuschließen, dass erwartet wird, dass man sich um seine Gesundheit zu kümmern habe. Da das Bewusstsein die inneren Prozesse des Leibes, auf dem es reitet, weder kontrollieren noch beobachten kann, stellt die Zuschreibung diesbezüglicher Verantwortung zunächst eine Überforderung dar, die das Bewusstsein zwar nicht durch ›Eigenwissen‹, doch durch Rückgriff auf weitere gesellschaftliche Kommunikationsangebote bewältigen kann. Die Beziehung von Bewusstsein und Leib ist damit hochgradig sozial konditioniert. Kommen wir nun zurück zur Krankenbehandlung. Medizin und Heilung erscheinen aus dieser Perspektive vor allem als Beziehungsarbeit, nämlich die Arbeit an der Frage, wie die kategorial verschiedenen Sphä257
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ren von Bewusstsein, Körper und Kommunikation in einer Praxis zusammenfinden können. Mit Luhmann gesprochen wäre Medizin nun »in einem genauen Sinn als funktionales Surrogat für Schmerzen zu begreifen. Ihr Problem wäre dann, das Durchbrechen der funktionalen Indifferenz von Körper und Bewußtsein im Falle von Störungen nicht nur den Schmerzen zu überlassen. Es ginge um eine Verbreiterung der Grundlagen für die Interpenetration im Verhältnis von Körper und Bewußtsein. Und [die Medizin] hätte dafür mehr, als man bisher annimmt, Kommunikation einzusetzen«.23
III. Medizinische Praxen Kommen wir nun zum dritten Teil unserer Studie, dem Blick auf konkrete Praxen der Medizin. Mit Latour ergibt sich hier die Möglichkeit, Gesellschaft als Netzwerk von menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten zu denken, in denen die Subjekt-Objekt-Dichotomie in einer historisch bedingten, aber nicht beliebigen Gemengelage aus Dingen, Körpern und Konzepten aufgehoben wird. Die Aufmerksamkeit wird nun auf die Verbindung solcher ›Kollektive‹ gelenkt. Das Soziale erscheint hiermit gleichzeitig, technisch, symbolisch wie auch physiologisch vermittelt. Mit Luhmann wird das Augenmerk auf die Frage gelenkt, wie Medizin als medizinische Kommunikation das Verhältnis zwischen Körper und Bewusstsein konfiguriert. Medizinische Praxis erscheint nun auch als ›symbolische Heilung‹.24 Watzlawicks meta-
23 Niklas Luhmann: Medizin und Gesellschaftstheorie. Medizin Mensch Gesellschaft 8 (1983), S. 168-175, hier S. 174. 24 Der Begriff »symbolic healing« wurde von Sandner geprägt und später dann von Dow zu einer Theorie symbolischer Heilung ausgearbeitet: »The experiences of healers and healed are generalized with culturespecific specific symbols in cultural myth. A suffering patient comes to a healer who persuades the patient that the problem can be defined in terms of the myth. The healer manipulates the transactional symbols to help the patient transact his or her own emotions. […] Every system of symbolic healing is based on a model of experiential reality that can be called its mythic world. I use the word ›mythic‹ to imply that there are cultural experimental truths contained in this model. […] All systems of symbolic healing refer to a culturally established mythic world. The systems differ in where they place it. Some may place it in a supernatural realm. Other may see it as part of everyday reality or as scientific knowledge. The cultural mythic world contains knowledge that is experientially, but not necessarily empirically, true. The healer and the patient create a particulized segment of the cultural mythic world for use in a particular case of symbolic healing«. 258
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kommunikativen Axiom folgend, dass man ›nicht nicht kommunizieren kann‹,25 gilt dies auch für schulmedizinische Interventionen, denn auf dieser Ebene ist allein die sinnliche Evidenz der medizinischen Praxen und der hiermit aufgeführten Konzepte entscheidend.26 Vormoderne und moderne Medizinpraxen begegnen sich hier in der ethnomedizinischen Einsicht, dass »Heilen die Ausgrenzung von Chaos darstellt« und hiermit »der ungeregelte krankheitsbedingte ›Natur‹zustand in einen ›Kultur‹zustand überführt und damit handhabbar gemacht« wird.27 Auf diese Weise kann auch die moderne Medizin (wieder) zum Gegenstand von Kulturreflexion werden. Die Aufmerksamkeit kann nun auf das Gesamtarrangement gelenkt werden, in dem Bewusstsein, dass Körper und Kommunikation in konkreten Praxen zusammenfinden. An dieser Stelle ist zu betonen, dass hiermit keineswegs beabsichtigt ist, ein physikalisch-physiologisches durch ein soziologisches oder ethnologisches Medizinverständnis zu ersetzten. Vielmehr ist der Kulturbegriff hier so tief zu legen, dass er auch von solchen Soziologismen befreit wird. Stattdessen ist nun gleichzeitig das Physische, das Psychische und die Gesellschaft als Index der Kultur mitzudenken.28 Indem der Blick auf Praxen gelenkt wird, die unterschiedliche Indizes mitführen, wird
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J. Dow: »Universal Aspects of Symbolic Healing: A Theoretical Synthesis«, in: American Anthropologist 88 (1986), S. 56-69. Vgl. Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern, Stuttgart, Toronto 1990. Mit Sandner gilt dann: »Symbol is anything which may function as the vehicle for a conception. Such a thing may be a word, a mathematical notation, an act, a gesture, a ritual, a dream, a work of art, or anything else that can carry a concept. The concept may be a rational-linguistic one, an imaginal-intuitiv one, or a feeling-evaluative one. It makes no difference as long as the symbol carries it effectively. The concept is the symbol’s meaning«, Donald F. Sandner: Navajo Symbols of Healing, New York 1979, S. 12. Dorothea Sich/Hans-Jochen Diesfeld/Angelika Deigner/Monika H. Habermann: Medizin und Kultur. Eine Propädeutik für Studierende der Medizin und der Ethnologie mit 4 Seminaren in kulturvergleichender medizinischer Anthropologie, Frankfurt/Main 1993. Hierzu in einem ähnlichen Sinne Dirk Baecker: »Vielleicht muss man noch einen weiteren Abstraktionsschritt ins Auge fassen und den hier entwickelten Begriff einer Natur der Gesellschaft aus seinem soziologischen Kontext herauslösen und der Kulturtheorie überantworten. Unter der Kulturtheorie soll dabei eine Theorie verstanden werden, die im Anschluss an klassische Theoriepositionen von Johann Gottfried Herder bis Sigmund Freud mit mindestens drei Systemreferenzen parallel zu arbeiten vermag, mit der Referenz auf die Gesellschaft, mit der Referenz auf das Bewusstsein und mit der Referenz auf den Organismus«, Dirk Baecker: Die Natur der Gesellschaft, Friedrichshafen 2007, Manuskript. 259
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der Blick auf Medizin als Kultur des Körperlesens und der Körperveränderung möglich, ohne darüber hinausgehende Rationalitäts-, Effizienzoder Objektivitätsansprüche unterstellen zu müssen. Auf diese Weise kommt nun auch die Frage des Designs wieder mit ins Spiel29 – Medizin könnte nun auch wieder als Kunst erscheinen, indem nämlich das Arrangement ihrer Praxen und die sich hierin ausdrückende Ästhetik der Krankenbehandlung als Gestaltungsaufgabe wahrgenommen wird.
Weiche Praxis der Heilung Schauen wir uns zunächst folgende Szene an, die für Krankenhausverhältnisse keineswegs unüblich, aber dennoch recht bemerkenswert ist, um einige grundlegende Aspekte der organisierten Krankenbehandlung zu diskutieren: 30
9:40 Chefarztvisite (im Patientenzimmer) Prof. Wieners: Sie können wir jetzt als geheilt entlassen ... es geht ja heute nach Hause. Patient: Jetzt muss ich Ihrem Team ausdrücklich noch mal das Lob aussprechen ... Sie haben sich hervorragend um mich gekümmert ... auch um die Kleinigkeiten, die kleinen Probleme, die ich so hatte [...]. Prof. Wieners (wendet sich zum nächsten Patienten, dreht sich aber nochmals zu Herrn Schulz zurück): Auch wenn ich jetzt sage ›geheilt‹, kann es dann doch sein, dass die Krankheit noch mal wiederkommt. Patient: Ja, das weiß ich ja, wusste ich auch schon, als ich mit der Therapie angefangen habe.
Zunächst fällt hier die hohe Professionalität auf, mit der dieser erfahrene Chefarzt souverän sein Arrangement der Hoffnung entfaltet, um zugleich ein wenig Aufklärung mitschwingen zu lassen. Die beiden Sentenzen: »Wir können Sie jetzt als geheilt entlassen« und »auch wenn ich jetzt sage ›geheilt‹, kann es sein, dass die Krankheit noch mal wiederkommt«, scheinen aus der Perspektive des Common sense widersprüchlich, wenn nicht gar paradox. Aus der Logik der medizinischen Praxis stellt sich die Lage jedoch anders dar. Medizin hat es mit hochkomplexen nicht-trivialen Systemen 29 Vgl. zu einem systemtheoretischen Verständnis von Design: Dirk Baecker: Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt/Main 2005, S. 264ff. 30 Beobachtet auf einer onkologischen Station eines Universitätsklinikums. Vgl. Werner Vogd: Ärztliche Entscheidungsprozesse des Krankenhauses im Spannungsfeld von System- und Zweckrationalität: Eine qualitativ rekonstruktive Studie, Berlin 2004, S. 145f. 260
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zu tun, deren Antworten auf medizinische Interventionen nicht kontrollierbar sind. Und genau in diesem Sinne kann Medizin kommunikativ wie auch handlungspraktisch nur dann Erfolg haben, wenn der Kausalnexus zwischen Krankenbehandlung und Heilung entkoppelt wird, also offen gelassen wird, ob eine Krankenbehandlung ›geheilt‹ oder ›nicht geheilt‹ bedeutet. Um es anders zu formulieren: Krankenbehandlung kann nur dann auf Dauer gestellt werden, wenn sie sich durch ihre Misserfolge nicht entmutigen lässt. Nur die Krankheit ist für die weiteren kommunikativen Anschlüsse instruktiv. Die Gesundheit dient demgegenüber nur als Reflexionswert, der das ideelle Ziel der Heilung ins Kalkül hineinbezieht, ohne es jedoch erreichen zu müssen.31 Die Umsetzung dieser Semantik geschieht durch Organisation. Nur mittels Organisation kann die latent vorhandene Paradoxie, ob die sich reproduzierende Unterscheidung zwischen krank und gesund heilsam ist, invisibilisiert werden. Dies geschieht hier, indem der Prozess der Behandlung hier in eine zeitliche Struktur eingefädelt werden kann, in der jeweils nur der nächstfolgende Schritt instruktiv für das weitere Vorgehen wird. Eine diagnostische Prozedur erscheint zunächst unverdächtig, doch orchestriert sie zugleich die nächste Maßnahme, beispielsweise einen chirurgischen Eingriff. Die Chirurgen können ihren Erfolg dann in der Evidenz der gelungenen Operation begreifen und brauchen sich in diesem kleinteiligen Prozesssegment keineswegs mit den Problemen einer adjunktiven Chemotherapie oder dem Leidensweg der anschließenden Rehabilitation herumschlagen. Die hier anklingende Zeitstruktur fungiert zugleich als ein ›Arrangement der Hoffnung‹.32 Man mag zwar sehr wohl darum wissen, was der Patient zu erwarten habe – dass beispielsweise die sozialepidemologischen Befunde dafür sprechen, dass die Einjahresüberlebenswahrscheinlichkeit bei dieser Krankheit unter einem Prozent liege –, doch dieses Wissen interferiert üblicherweise nicht mit einem Therapieregime, das seine Plausibilität aus der inneren Rationalität seiner praktischen Logik und nicht aus externer Evidenz gewinnt. Innerhalb der Medizin finden wir hier eine Verknüpfung konkreter Praxen, die jeweils den nächsten Schritt nahelegen und so ein Arrangement der Krankenbehandlung entfalten, dass behandeln lässt und so die Krankheit und den Erkrankten in Gesellschaft, d.h. in technischsoziale Netzwerke (Latour) und als ansprechbare Adressen in kommunikativen Praxen (Luhmann) integriert. Genau in diesem Sinne stellt Hei31 Vgl. Niklas Luhmann: Der medizinische Code, a.a.O. 32 Vgl. Anja Hermann: Das Arrangement der Hoffnung. Kommunikation und Interaktion in einer onkologischen Spezialklinik während der chirurgischen Behandlung von Knochen- und Weichgewebesarkomen, Frankfurt/ Main 2005. 261
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len hier – unter Einklammerung (nicht aber Negation) der physischen Heilung – Kultur dar. Der »ungeregelte krankheitsbedingte ›Natur‹zustand« wird »in einen ›Kultur‹zustand überführt und damit handhabbar gemacht«33 und in diesem Sinne können sich Patient und Behandelnde nun auch ohne Heilsgewissheit auf die Praxis der Heilung einlassen.
Diagnostische Technik verbindet Schauen wir uns zwei Szenen aus einem anderen Behandlungsprozess etwas ausführlicher an. Ein Patient, 65 Jahre alt, leidet unter einem multiplen Myelom, einer leukämischen Krankheit. Nach der Erstdiagnose vor gut einem Jahr wurden mehrere Therapien durchgeführt, darunter Bestrahlung und verschiedene Polychemotherapien. Darüber hinaus wurden Knochenmarkstammzellen für die weitergehende Therapieoption einer HochdosisChemotherapie in Verbindung mit einer so genannten ›autologen Transplantation‹ gesammelt. Durch dieses aggressive Verfahren werden alle blutbildenden Zellen und damit das Immunsystem zunächst zerstört. Um dieses dann wieder aufzubauen, sollen dem Patienten nach erfolgreicher Therapie die zuvor gesammelten Zellen wieder zurückgegeben werden. Doch schon zu Beginn der Behandlung treten erhebliche Komplikationen auf, denn der Patient bleibt schon vor der Hochdosistherapie wider Erwarten über einen langen Zeitraum aplastisch, d.h. ohne eigene Blutzellen. Aufgrund der hiermit fehlenden Immunabwehr leidet der Patient unter einer Reihe unterschiedlicher Infektionen, die jedoch bis jetzt noch durch verschiedenartige Kombinationen von Antibiotika und Antimykotika in Griff zu bekommen waren. Dennoch erscheint die lang andauernde Blutarmut bedrohlich. Die Ärzte überlegen deshalb, ob man den Therapieversuch nicht lieber abbrechen sollte, um stattdessen dem Patienten die bisher gesammelten Stammzellen zurückzugeben. Auf diese Weise könne zumindest sein Immunsystem wieder ein wenig zu arbeiten beginnen:34 Szene 1: In einer Visite erklärt die Ärztin im Praktikum dem Patienten das weitere Prozedere: Die Zellen könnten jetzt nicht mehr weiter gesammelt werden und damit könne nun auch die Hochdosis-Chemotherapie nicht mehr durchgeführt werden. Allerdings gäbe es noch eine weitere Therapie, nämlich 33 Dorothea Sich u.a.: Medizin und Kultur, a.a.O. 34 Siehe eine ausführliche Falldarstellung in Werner Vogd: Ärztliche Entscheidungsprozesse des Krankenhauses im Spannungsfeld von Systemund Zweckrationalität, a.a.O., S. 326ff. 262
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ein Medikament, welches die Gefäßbildung in dem tumorösen Gewebe behindern würde: Mittwoch, 14.11., 10:20 Visite im Patientenzimmer (Der Patient wirkt sehr verschlafen und schwach.) Ärztin im Praktikum: ... wie geht es Ihnen ... muss Sie jetzt leider wecken ... mit der Bauchspritze ... weitersammeln können wir bei Ihnen jetzt nicht ... haben dann mit Professor Dr. Krause gesprochen ... machen wir jetzt so, dass wir auch zwei Tage Antibiotika geben, bis das Fieber dann runter ist, und geben dann die Zellen ... müssen dann bis Freitag warten, sonst verpuffen die Zellen in der Infektion ... ist jetzt schade, dass wir die Hochdosis-Chemo mit Ihnen nicht machen können ... ist das Vertrackte, dass wir die Zellen nicht sammeln können ... ist jetzt bei einem Blastozym oft sehr schwer, die Zellen zu sammeln ... gibt dann noch eine andere Therapie ... das Thalidomid ... können Sie dann auch als Tabletten ... hemmt dann die Ausbildung der Gefäße im Blastozym ... Szene 2 (knapp 2 Wochen später): Während der Visite erzählt die Ärztin im Praktikum dem Patienten freudig, dass die Zellen nun jetzt endlich wieder kommen würden. Dem Patienten ist jedoch nicht nach Feiern zumute. In einem kurzen Gespräch über den geplanten Umzug in eine kleinere Wohnung macht Herr Mertelsmann deutlich, dass seine Frau und er längst schon für die Zeit nach seinem Tod planen. Dr. Merkel tastet die Lymphome, jene vom Tumor bewirkten Ausstülpungen ab und bemerkt, dass bald wieder mit dem Thalidomid angefangen werden solle. Der Patient bemerkt daraufhin, dass seine Frau sich riesig freue, dass er bald mal wieder nach Hause komme. Die Ärztin im Praktikum erwähnt zum Abschluss, dass der Patient sich auch noch bei der Strahlentherapie vorstellen solle, da die Thalidomid-Therapie wohl noch etwas länger brauche, bis sie anschlagen würde: Dienstag, 27.11., Visite (im Patientenzimmer) Ärztin im Praktikum (zum Patienten): Wie geht es Ihnen? Patient: Gut (wirkt freudig und sitzt auf dem Bett). Ärztin im Praktikum: Haben Sie es schon gehört? 0,5! Patient: Ja, 0,5. Ärztin im Praktikum: Ist dann keine statistische Abweichung, die Zellen kommen jetzt. Patient: ... dann können wir ja diese Woche Möbel kaufen gehen. Ärztin im Praktikum: Ein bisschen werden Sie noch bleiben müssen ... Patient: Ich weiß ... aber wir ziehen jetzt um ... von Lichtenrade nach Lichterfelde ... die Wohnung ist dann 500 Mark billiger ... wenn dann mal meine Frau alleine ist, kann sie das ja gar nicht mehr finanzieren (Patient erzählt über das Umbauen der Wohnung und Details darüber, wie das Bad eingerichtet werden soll ...) aber der Umzug ist dann erst im März ... Ärztin im Praktikum: Aber mit den Zellen, dann werden Sie ja bald wieder nach Hause können ... eigentlich sollten wir ja jetzt ein Fest feiern. Patient: Nach Feiern ist mir nicht zumute ... 263
IV. FELDER MODERNE KULTUR
(Die Ärztin im Praktikum schaut auf den Kopf, tastet die Lymphome.) Dr. Merkel: Müssen wir jetzt bald mit dem Thalidomid ... Patient: Da wird sich meine Frau riesig freuen, dass ich bald mal wieder nach Hause komme ... Ärztin im Praktikum: Müssen wir wegen dem Kopf noch mal bei der Strahlentherapie vorstellen ... dass mit dem Thalidomid braucht dann auch länger ...
Schauen wir kurz auf die erste Szene. Von außen könnte man jetzt kritisieren, dass die Sachlage des Therapieversagens, einschließlich der Gefahr lebensbedrohlicher Komplikationen hier in einer zu verharmlosenden Art dargestellt ist und die in der Fallproblematik mitschwingende Todessemantik, die sich aus dem Übergang von einem kurativen zu einem palliativen Behandlungskonzept ergibt, nicht explizit angesprochen wird. Mit dem beruhigenden Hinweis auf eine weitere Therapie bewegt sich die Kommunikation weiterhin im Code des kurativen medizinischen Rahmens. Der »Bewusstheitskontext« (Glaser und Strauss) bleibt geschlossen, denn das Thema Sterben wird hier nicht verhandelt.35 Blicken wir nun aus einer Latour’schen Perspektive auf die Aktanten, die in diesem Geschehen beteiligt sind. Unter anderem spielen mit: Blastozyme (myeloische Tumore), die den Körper durchsetzen; unterschiedliche Chemikalien, welche den Tumor in Schach halten; unterschiedliche Infektionskrankheiten und Labore, die diese identifizieren; Immunzellen, die Infektionskrankheiten abwehren und deren Stammzellen, die mit speziellen Maschinen gesammelt nun in Kühltruhen außerhalb des Körpers auf ihren Einsatz warten; Antibiotika, welche die Funktion der Immunabwehr übernehmen; Blutprodukte, die das substituieren, was der Körper nicht mehr selbst produzieren kann; zusammengesetzte Therapeutika, welche darauf warten, in den finalen Kampf gegen den Tumor zu ziehen; Messinstrumente, welche über die Größe der Zellverbände Auskunft geben; Computerprogramme, die über Statusveränderungen informieren; Pflegekräfte, welche an Stelle des geschwächten Körpers handeln; ein Patientenbewusstsein, demgegenüber Rechenschaft abzulegen ist, und das seinerseits auf gewisse Art und Weise gepflegt sein will; Ärzte, die unterschiedliche Datenströme zu einem Plan verbinden; Akten, welche als Gedächtnis dafür sorgen, dass nur bestimmte Dinge erinnert und anderes dem Vergessen überantwortet wird; ein Krankhaus, dessen technischen und organisatorischen Möglichkeiten bestimmte Behandlungspfade nahelegen.
35 Barney G. Glaser/Anselm L. Strauss: Interaktion mit Sterbenden. Beobachtungen für Ärzte, Schwestern, Seelsorger und Angehörige, Göttingen 1974. 264
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Innerhalb der Logik der Praxis verbinden sich all diese ›Mitspieler‹ zu einem Netzwerk sich wechselseitig bedingender Aktionen. Hier geht es nicht ums Sterben, sondern um sukzessive voranschreitende Gegenwarten, aus denen sich jeweils neue Konstellationen ergeben, welche die beteiligten Aktanten zu den nächsten Spielzügen ermächtigen. Die Hochdosischemotherapie zieht sich zurück, nachdem sich die körpereigenen Stammzellen weigern gesammelt zu werden. Hierdurch haben alternative Chemikalien, etwa die experimentelle Thalidomid Therapie, eine Chance auf die Bühne zu kommen und aktiv mitzuspielen, um so die anderen Akteure zu neuen Reaktionen herauszufordern. Die Latour’schen actor network theory lenkt den Blick auf die Verkettung von Praxen, deren Verbindung durch nichts anders als eben diese Praxen geschieht. Streng genommen, geht es aus dieser Perspektive also weder ums Sterben noch um Heilung, sondern um eine hochgradig elaborierte Kulturform einer Krankenbehandlung, die gelernt hat, auf solch komplexe Weisen mit Körpern, Psychen, Angehörigen, Chemikalien etc. umzugehen. Schauen wir kurz auf die zweite Szene. Im Patientengespräch scheinen Patienten- und Arztperspektive deutlich zu divergieren. Der Patient möchte sich nicht vom Optimismus der jungen Ärztin anstecken lassen. Möbel zu kaufen und umziehen zu wollen, heißt für ihn nicht mehr ein Leben vor sich zu haben, sondern seiner Frau geregelte Verhältnisse für die Zeit nach seinem Ableben zu hinterlassen. Wider die durch die technischen Prozesse ausgeklammerte Frage nach dem Sterben öffnet sich der ›Bewusstheitskontext‹ hier für einen Moment. Die Gewissheit, dass das Leben nicht mehr lange währt, wird kurz zum Thema. Entsprechend scheint dem Patienten nun auch nicht zum Feiern zumute. Das, was bleibt, ist der Wunsch der Ehefrau ihren Mann noch einmal zu Hause haben zu können. Im Sinne der Habermas’schen Agonie zwischen ›System und Lebenswelt‹ könnte man diese Szene als (weiteres) Beispiel der Inkommensurabilität von harter technischer Medizin und den weichen Bedürfnissen des Patienten nach heimischer Geborgenheit lesen: als Unfähigkeit der Ärzte unter den gegebenen Verhältnissen ein sinnvolles Gespräch zu führen. Mit Latour lässt sich die Szene jedoch anders verstehen: Nicht eine gemeinsame Sprache und geteilte Orientierungen binden, sondern die Erfahrung, gemeinsam in einem sich raumzeitlich entfaltenden Prozess der Krankenbehandlung verwickelt zu sein. Nicht das Feiern verbindet – hierzu finden sich zu wenig Gemeinsamkeiten zwischen der jungen Ärztin und dem älteren Herrn –, sondern die von den Messinstrumenten zum Sprechen gebrachten Zellen. Die Artikulation
265
IV. FELDER MODERNE KULTUR
des Wertes ›0,5‹ hat dabei nicht nur symbolischen Charakter,36 sondern verweist auf einen Körper, um in spezifischer Weise mit und über den Körper hinaus an anderes anschließen zu können. Als »Quasi Objekt« (Serres)37 eröffnet dieser Messwert verschiedenen Aktanten unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten. Mit Hilfe der Ärzte kann das Thalidomid erneut in den Körper eindringen, um zu versuchen das Blastozym zu attackieren. Für das Ärztinnenbewusstsein mag dies als Grund erscheinen, den medizinischen Erfolg zu feiern und gar wieder die Heilung ins Auge zu fassen, für das Patientenbewusstsein demgegenüber ein Anlass, in einem letzten Kraftakt, den Planungen für die Zeit nach dem Tod Ausdruck zu geben. Die Arrangements, die hier gefunden werden, tragen weder auf Basis gemeinsamer Inhalte, noch in Hinblick auf eine intersubjektiv geteilte Situationsdefinition. Die Gestalt ergibt sich vielmehr allein aus der Verkettung von Perspektiven, die das Netzwerk der Krankenbehandlungen erneut attraktiv werden lassen. Die ›Ausgrenzung des Chaos‹ – die Verbindung zu einer Kultur der Krankenbehandlung – geschieht nicht über einen gemeinsamen Sinnhorizont, sondern als geteilte Praxis, die nun als verbindendes Moment unterschiedliche Akteure zu einer Form zusammenfinden lässt, eben zu jener Latour’schen Gemeinschaft aus menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten, welche die flüchtigen sozialen Prozesse erst stabil werden lässt. Mit Luhmann lässt sich darüber hinaus die Position des Bewusstseins in diesem Arrangement etwas deutlicher beleuchten. Mit Blick auf seine eigene operative Schließung (nicht jedoch hinsichtlich seiner konstitutionellen Basis) ist das Bewusstsein sowohl außerhalb des physischen Körpers wie auch außerhalb der sich selbst plausibilisierenden Kommunikation sozialer Systeme zu verorten. Unter der Voraussetzung der oben benannten Perspektivendivergenz stellt sich nun die Frage, was das Bewusstsein davon hat, in einem Arrangement mitzuspielen, dass bei genauem Hinsehen weitaus weniger Heilung versprechen kann, als es der Selbstbeschreibung der Medizin als ›modern‹ entspricht, und zudem mit den üblichen Nebenfolgen diagnostischer und therapeutischer Eingriffe zusätzliches Leid erwarten lässt. Die Antwort ergibt sich aus der Intransparenz des Bewusstseins gegenüber seinem eigenen Körper, also in jener in den eigenen Operationsbedingungen angelegten Unsi36 Diese und andere Messwerte geben mit Latour gesprochen »eine variationsreichere Form von Präsenz« ab, als die traditionelle Naturkausalität – aber eine effizientere als die symbolische«. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-NetzwerkTheorie, Frankfurt/Main 2007, S. 27. 37 Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt/Main 1987. 266
W. VOGD: KRANKENBEHANDLUNG ALS KULTUR
cherheit gegenüber dem, was ›innen‹ wirklich vorgeht. Die hiermit verbundene Verunsicherung lässt es – wie seit eh und je – versuchen, über den Umweg der Krankenbehandlung mit dem Körper zu reden. Die Messwerte und der aus ihnen abduzierte Sinn simulieren dem Körper eine Sprache. Auf diese Weise kann nun auch dort kommuniziert werden, wo an sich keine Kommunikation mehr möglich ist. Durch die Vermittlungsarbeit von Arzt und Technik scheinen Bewusstsein und Körper nun miteinander zu sprechen – man weiß wieder, was Sache ist.
III. Reflexion Führen wir abschließend die einzelnen Argumentationsstränge nochmals zusammen. Wir begannen mit der modernen Medizin, jenem erfolgreichen Kind der Aufklärung, das mit der Trennung von Subjekt und Objekt ihren wissenschaftlichen Fortschritt möglich gemacht hatte. Als Konsequenz dieser ansonsten recht nützlichen Ideologie sind wir einigen Antinomien der modernen Medizin begegnet, insbesondere der scheinbar unüberbrückbaren Spannung zwischen einer objektivierenden technokratischen Medizin auf der einen und dem selbst bestimmten Subjekt auf der anderen Seite. Mit Latours Konzeption technisch-menschlicher Netzwerke und Luhmanns Systemtheorie sind zwei Theorieperspektiven vorgestellt worden, welche die Subjekt-Objekt-Dichotomie auf ihre jeweils eigene Weise unterlaufen. Zum einen verschwimmt die Grenze zwischen Technik und Sozialem. Zum anderen fungiert auch die moderne Medizin in ihren harten technischen Aspekten als Kommunikation. Mit der auf diese Weise angereicherten These von ›Medizin als Kultur‹ haben wir den Blick auf ausgewählte medizinische Praxen gelenkt. Hierdurch wurde deutlich, dass Heilung etwas anderes bedeuten muss, als das Verschwinden von Krankheit. Anschließend konnte aufgezeigt werden, dass ein Behandlungsprozess nicht durch geteilte Perspektiven oder Sinnhorizonte getragen werden braucht. Es wurde sichtbar, dass medizinische Artefakte, wie z.B. Laborwerte, nicht nur technisch erzeugte Verweise auf Körperprozesse darstellen, sondern als QuasiObjekte dazu dienen, heterogene soziale Prozesse zu koordinieren und zu einem Ensemble zu (ver-)binden. Der übliche Gegensatz zwischen harter Medizin und den weichen psychosozialen Faktoren verbleicht hiermit, denn der Verweis auf die Apparatemedizin führt in diesem Sinne keineswegs zur Diagnose einer kommunikationsfernen und inhumanen Medizin. Vielmehr nehmen die hier zum Einsatz kommenden Techniken allein schon durch ihre sinnlich wahrnehmbare Präsenz selbst an Kommunikation und der Vermittlung 267
IV. FELDER MODERNE KULTUR
sozialer und psychischer Prozesse teil. Entsprechend beherbergt die moderne Medizin zugleich ihr eigenes, hochwirksames Placebo. Der alte Vorwurf an die Ärzte, dass diese doch mehr zu kommunizieren hätten, greift hier zu kurz, denn Medizin kommuniziert bereits – und zwar effizient wie unmittelbar durch ihre technischen Operationen, Interventionen und Prozeduren. Die Subjekt-Objekt-Dichotomie unterlaufend hält sich medizinische Kommunikation dabei als Praxis verschiedene Zurechnungsmöglichkeiten offen. Ihre Prozesse, Werte und Konzepte erscheinen nun als Bezugspunkte, die als semantische Operatoren je nach Kontextur38 unterschiedlich ausgefüllt, in unterschiedliche Sinnhorizonte eingewoben werden können. Heilung darf nun zugleich Sieg über und Wiederkehr der Krankheit bedeuten. Messergebnisse lassen zugleich Therapien anschließen, Beziehungschancen wahrnehmen wie auch personale Identitäten restabilisieren. All dies kann geschehen, ohne dass diese heterogenen Prozesse in einen einheitlichen Sinn einrasten müssten. Das Verbindende zeigt sich hier vielmehr in der Form einer Krankenbehandlung, die sich als Praxis performativ zur Aufführung bringt, um als sinnlich wahrnehmbare Präsenz einer sich selbst fortschreitenden Praxis zugleich drei Unbestimmtheiten zu zentrieren: die prognostisch ungewisse Zukunft kranker Körper, die prekären Bewusstseinslagen der beteiligten Akteure und nicht zuletzt die ihrer Natur nach instabilen sozialen Prozesse. Der ethnografische Blick lenkt den Fokus auf die Verwicklungen dieser Praxen und fungiert in diesem Sinne als eine Kulturreflexion, die etwas sichtbar macht, das sich den traditionellen begrifflichen Dichotomien entzieht. Er lenkt den Blick auf eine vorreflexive Ebene, die sich als Logik der Praxis nicht nur im Funktionieren des Bestehenden zeigt, sondern auch in der Ästhetik ihres Arrangements. Eine in diesem Sinne verstandene soziologische Kulturreflexion gewinnt ihren Standort nicht mehr aus einer transzendental begründet normativen Position, sondern aus einer besonderen Nähe zur Praxis. 38 Das Konzept der Polykontexturalität unterscheidet sich von dem der Polykontextualität. Wir haben es hier also nicht mit einem beliebig verschiebund kontextualisierbaren Text zu tun, sondern mit Ereignissen, die auf unterschiedliche, jeweils als Kontextur zu bezeichnende Domänen treffen, deren Struktur jeweils durch eine zweiwertige Logik hinreichend erklärt werden kann. Der Verweis der Kontextabhängigkeit allen Geschehens mündet hier nicht in ein interpretatives Paradigma, das gesellschaftliche Strukturen (allein) auf die inneren Kontexte mit interaktiven Aushandlungsprozessen zurückführt. Gotthard Günther: Idee und Grundriß einer nicht-aristotelischen Logik: die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen, Hamburg 1991. 268
W. VOGD: KRANKENBEHANDLUNG ALS KULTUR
Apparatemedizin, menschliche Kommunikation, Rationalität, Mythen etc. erscheinen nun nicht mehr per se als gut oder schlecht, sondern sind mit Blick auf die Einbettung in ein Netzwerk von Praxen zu bewerten. Eine in diesem theoretischen Kontext arbeitende Ethnografie könnte sich als Wahrnehmungsschule begreifen, die das Design einer Gesellschaft sichtbar werden lässt – wohl wissend, dass dieses Design selbst bestimmte Wahrnehmungen und Deutungen ermutigt und andere auszublenden nahe legt. Der Begriff ›Kultur‹ weist darauf hin, dass das Bestehende zwar als kontingent doch auch als wertvoll zu sehen ist, weil es in sich trägt und vergemeinschaftet. Der Kulturbegriff regt darüber hinaus den Vergleich mit anderen funktional äquivalenten Kulturformen an und führt die Reflexion von ›Medizin als Kultur‹ zu einer Reihe von durchaus nützlichen Einsichten. Sie führt zu der Einschätzung, dass es keine Alternative zur Medizin aber Alternativen in der Medizin gibt. Ob sich beispielsweise die Krankenbehandlung terminal erkrankter Patienten als kurative Hochleistungsmedizin, als palliativmedizinische Behandlung oder als ärztlich und pflegerisch begleiteter Hospizaufenthalt inszeniert, macht dann weniger aus medizinischen denn aus ästhetischen Gründen einen Unterschied. Sich ihrer eigenen Kultur bewusst, könnte Medizin nun vermehrt den Blick auf ihr Design lenken, wobei der Begriff Design hier mit Dirk Baecker als Beziehung zwischen Funktion und Form zu verstehen ist.39 Im Wissen, dass Heilung auch in der Gestaltung, im Arrangement ›sozialer Skulpturen‹ (Beuys) besteht,40 könnte Medizin sich erneut als eine Heilkunst entdecken, die wieder in der Lage ist, die Ästhetik ihrer Lösungen mit zu beobachten. Medizin und Heilung erscheinen aus dieser Perspektive vor allem als Beziehungsarbeit, nämlich als Arbeit an der Frage, wie die kategorial verschiedenen Sphären von Bewusstsein, Körper, Technik und Kommunikation in einer Praxis arrangiert und zusammenfinden können. Zudem lässt sich Medizin nun auch noch in einem anderen Sinne als Kultur verstehen. Mit Rorty lässt sich die Aufmerksamkeit auf die besondere geschichtliche Konstellation lenken, welche diese Radikalisierung der Subjekt-Objekt-Dichotomie notwendig werden ließ. Die moderne Medizin erscheint zwar als erfolgreiches Kind einer Bewegung der Aufklärung, die der dominanten christlichen Tradition selbstbewusst entgegentrat. Doch während es damals darum ging, Wahrheitsansprüche
39 Dirk Baecker: Form und Formen der Kommunikation, a.a.O., S. 264ff. 40 Vgl. Joseph Beuys/Clara Bodenmann-Ritter: Jeder Mensch ist ein Künstler: Gespräche auf der documenta 5/1972, Berlin 1997. 269
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gegenüber Glauben und Kultur durchzusetzen, und dies selbst nur auf Basis eines die eigenen Wahrheitsansprüche überziehenden Glaubens an Objektivität möglich war, brauchen die heutigen Institutionen der Krankenbehandlung diese Ideologie nicht mehr, denn ihre Form der Krankenversorgung ist längst selbst zur dominanten Kultur geworden.41 Eine im hier vorgestellten Sinne ethnografisch vorgehende Kultursoziologie schleicht sich gleichsam von unten in die zu untersuchenden gesellschaftlichen Praxen ein und erzeugt hierdurch eine andere Weise der Sichtbarkeit. Diese Form des Sehens geht dem gesellschaftlichen Common Sense – einschließlich dem hiermit verbundenem Rationalitätsmodell und der sich hieran anschließenden Kulturkritik – nicht auf den Leim, begreift diese aber sehr wohl (auch) als gesellschaftliche Praxis. Ihre Aufgabe würde dann gewissermaßen in der ›Therapie des Common Sense‹ bestehen, nämlich indem sie den Blick auf jene Praktiken lenkt, welche die bekannten Welten konstituieren.42 Das Einholen der Wirklichkeit, könnte dann im besten Sinne soziologischer Tradition, auch als eine Ideologiekritik verstanden werden, nämlich in dem Sinne, dass das Sein und das Bewusstsein, die Theorien über die Praxis und die Logik der Praxis miteinander in Beziehung zu setzen sind. Doch anders als im marxistischen Selbstverständnis kann eine praxeologisch verstehende Sozialwissenschaft das wahre Bewusstsein nicht mehr deduktiv von oben herab durch eine Hermeneutik des Besserwissens erschließen. Die Aufklärung bedarf hier vielmehr einer informierten Praxis, verbunden mit einer sorgfältigen Rekonstruktion.
41 Siehe Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, a.a.O., S. 362f. 42 Vgl. Werner Vogd: »Die Verhältnisse sind klüger als das Bewusstsein – oder: Das prognostische Einholen von Wirklichkeit im Spannungsfeld von Praxis und den Theorien über die Praxis«, in: Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Gegenwärtige Zukünfte. Interpretative Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Diagnose und Prognose, Franfurt/Main 2005, S. 95-108. 270
ZU
DEN
AUTOREN
Baecker, Dirk, Dr. rer. soc., Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University, Friedrichshafen. Publizierte u.a. Wozu Kultur? (Berlin 2001), Studien zur nächsten Gesellschaft (Frankfurt/Main 2007). Grüny, Christian, Dr. phil., Jun.-Professor für Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. Publizierte u.a. Zerstörte Erfahrung. Eine Phänomenologie des Schmerzes (2004). Jaeger, Friedrich, Dr. phil., apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Witten/Herdecke. Publizierte u.a. Bürgerliche Modernisierungskrise und historische Sinnbildung. Kulturgeschichte bei Droysen, Burckhardt und Max Weber (1994), Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts (2001), Réinterprétations de la religion et théories de la société moderne. Religion et libéralisme en Europe et aux États-Unis: Étude comparée (2006). Kettner, Matthias, Dr. phil., Professor für Praktische Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. Publizierte u.a. Angewandte Ethik als Politikum (2000), Filosofia transcendentalpragmatica – Transzendentalpragmatische Philosophie (2008), Biomedizin und Menschenwürde (2004).
271
ÜBER KULTUR
Manhart, Sebastian, Dr. phil., Jun.-Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Trier. Publizierte u.a. In den Feldern des Wissens. Die Entstehung von Fach und disziplinärer Semantik in den Geschichtsund Sozialwissenschaften (Würzburg 2008, in Vorbereitung). Macho, Thomas, Dr. phil., Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Publizierte u.a. Todesmetaphern: Zur Logik der Grenzerfahrung (Frankfurt/Main 1987), Das zeremonielle Tier: Rituale – Feste – Zeiten zwischen den Zeiten (Wien 2004), Tiere – Menschen – Maschinen: Zur Kritik der Anthropologie (Frankfurt/Main, in Vorbereitung). Rehberg, Karl-Siegbert, Professor für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der Technischen Universität Dresden, 2002-2007 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS); seit 2000 ständiger Gastprofessor an der Università degli Studi di Trento; weitere Gastprofessuren in Leiden, Rom, Paris, Neapel, Lausanne und Basel. Herausgeber der Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe; 1991-1994 Sprecher der Sektion »Kultursoziologie« der DGS, Wissenschaftlicher Leiter der Dresden School of Culture in der Dresden International University; Vorsitzender des Fachbeirates des Kunstarchivs Beeskow; siehe u.a. Joachim Fischer/Hans Joas (Hg.): Kunst, Macht und Institution: Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne: Festschrift für KarlSiegbert Rehberg (Frankfurt/Main 2003); zahlreiche Publikationen und umfangreiche Herausgebertätigkeit. Rustemeyer, Dirk, Dr. phil., Professur für Philosophie an der Universität Witten/Herdecke und Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Trier. Publizierte u.a. Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekte, Zeit und Moral (2001), Oszillationen. Kultursemiotische Perspektiven (2005), Diagramme. Dissonante Resonanzen: Kunstsemiotik als Kulturtheorie (Weilerswist 2009, in Vorbereitung). Schwemmer, Oswald, Dr. phil., Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin. Publizierte u.a. Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne (1997), Die kulturelle Existenz des Menschen (1997), Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung (2005).
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ZU DEN AUTOREN
Thurn, Hans Peter, Dr. phil., Professor für Soziologie an der Kunstakademie Düsseldorf. Publizierte u.a. Soziologie der Kultur (Stuttgart 1976), Kulturbegründer und Weltzerstörter: Der Mensch im Zwiespalt seiner Möglichkeiten (Stuttgart 1990), Kultur im Widerspruch: Analysen und Perspektiven (Opladen 2001) Vogd, Werner, PD Dr. hum. biol., vertritt den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke. Publizierte u.a. Ärztliche Entscheidungsprozesse des Krankenhauses im Spannungsfeld von System- und Zweckrationalität (2004), Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung – Versuch einer Brücke (2005).
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Sozialtheorie Beate Fietze Historische Generationen Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität November 2008, ca. 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-942-8
Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl (Hg.) Vieldeutige Natur Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene November 2008, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-944-2
Andrea D. Bührmann, Werner Schneider Vom Diskurs zum Dispositiv Eine Einführung in die Dispositivanalyse Oktober 2008, 174 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN: 978-3-89942-818-6
Arlena Jung Identität und Differenz Sinnprobleme der differenzlogischen Systemtheorie Oktober 2008, 226 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-8376-1002-4
Gregor Bongaerts Verdrängungen des Ökonomischen Bourdieus Theorie der Moderne September 2008, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-934-3
Andreas Reckwitz Unscharfe Grenzen Perspektiven der Kultursoziologie August 2008, 358 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-917-6
Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch, Annekathrin Müller, Tobias Roscher (Hg.) Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten August 2008, 238 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-8376-1000-0
Torsten Junge Gouvernementalität der Wissensgesellschaft Politik und Subjektivität unter dem Regime des Wissens Juli 2008, 406 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN: 978-3-89942-957-2
Dirk Baecker, Matthias Kettner, Dirk Rustemeyer (Hg.) Über Kultur Theorie und Praxis der Kulturreflexion Oktober 2008, 276 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-965-7
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Manfred Füllsack (Hg.) Verwerfungen moderner Arbeit Zum Formwandel des Produktiven
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Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen 2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5
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Heft 1 Das X der Organisation Mit Beiträgen von Dirk Baecker, Nils M. G. Brunsson, Birger P. Priddat, Johannes Rüegg-Stürm, Fritz B. Simon u. a. Featured Artist Annett Zinsmeister Erschienen August 2007
Heft 2 Konsultanten Mit Beiträgen von Peter Sloterdijk, James G. March, Thomas G. Cummings, Kathrin Röggla, Alfred Kieser, Rudolf Wimmer, Roswita Königswieser, u. a. Featured Artist Ingeborg Lüscher Erschienen März 2008
Heft 3 Organizational Capabilities Mit Beiträgen von Georg Schreyögg, Stefan Kühl, Peter Claussen, Dirk Baecker, Amar Bhidé, Kathleen Sutcliffe, Birger Priddat, Stefan Braun, Fritz B. Simon, Bernhard Krusche, u. a. Featured Artist Marcus Bredt Erschienen September 2008
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