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German Pages 387 Year 1974
KARL HEINZ GOSSEL
Ober die Bedeutung des Irrtums im Strafrecht Erster Band
Schriften zum Strafrecht Band 18
Über die Bedeutung des Irrtums im Strafrecht ERSTER BAND
Von
Dr. Karl Heinz Gössel
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1974 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berl1n 61 Printed in Germany
© 1974 Duncker
ISBN 3 428 03112 1
Für
Reinhart Maurach meinen verehrten Lehrer
Vorwort Die vorliegende Studie ist die erheblich überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universiät zu München im Frühjahr 1972 angenommen hat. Meine ursprüngliche Absicht, die gesamte strafrechtliche Irrtumslehre zu behandeln, konnte ich bis jetzt noch nicht verwirklichen. Ich mußte erkennen, daß der Entwurf einer strafrechtlichen Irrtumslehre im Grunde den Entwurf eines strafrechtlichen Systems bedeutet, dessen Aufbau nur in bedeutend längerer Zeit entwickelt werden und heranreifen kann, als zur Abfassung selbst einer Habilitationsschrift zur Verfügung stehen kann. So darf ich denn um Nachsicht bitten, wenn hier in einem ersten Bande nur die Ergebnisse der ersten Etappen auf dem langen Wege zu einer vollständigen Irrtumslehre vorgelegt werden. Aufzuzeigen, daß sich nahezu alle grundlegenden Probleme des Strafrechts in der Irrtumslehre gleichsam wie in einer Sammellinse gebündelt konzentrieren, schien mir ebenso wichtig wie die Untersuchung - einer neueren Forderung· entsprechend -, welche Einflüsse die Strafzwecklehre auf die Irrtumsproblematik ausübt: so hoffe ich denn, daß der wohlwollende Leser diesem ersten Bande des Gesamtwerks zugestehen wird, er stelle einen wesentlichen, in sich geschlossenen Teil der Irrtumslehre dar. Die Vorarbeiten zu den weiteren Teilen sind bereits abgeschlossen; die endgültige Bearbeitung und Publizierung soll möglichst bald nachfolgen. Meinem verehrten Lehrer Reinhart Maurach möchte ich auch an dieser Stelle meinen Dank für die sichere Leitung seines Schülers aussprechen. Danken möchte ich ferner Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann, der auch diese Schrift erfreulicherweise in die gleiche Reihe aufgenommen hat, in der schon meine Dissertation erschienen ist. Zu danken habe ich ferner der Deutschen Forschungsgemeinschaft, deren Druckkostenzuschuß die Drucklegung dieser Arbeit erleichtern half.
Karl Heinz Gössel
• Roxin, Kriminalpolitik, S. 35
Inhaltsverzeichnis Einleitung Einleitende Bemerkungen zum Ausgangspunkt und zum Gang der Darstellung...................... . ... . .............. . .....................
1
1. BUCH
Grundlegung: Die Lehre vom Grunde strafrechtlicher Sanktionen als Ausgangspunkt einer strafrechtUchen Irrtumslehre ............ . .......... .
7
Erster Teil
Die ontische Struktur des Irrtums .......... . .................. . ... . ...
7
1. Kapitel Ober den Begriff des Irrtums in der Rechtswissenschaft . ........ . ......
7
2. Kapitel Ober die Entstehung von Bewußtseinsinhalten. .. . . .. ...... .... . ........
10
1. über die drei Stufen des Entstehens von BewußtseinsinhaIten ... . ..
10
11. Bewußtseinsinhalte aufgrund sinnlichen Bemerkens ... . ........... a) Die sinnlichen Empfindungen .... . ................. . ........ .. . b) Die Eigentätigkeit des Menschen bei der Wahrnehmung . . .. ... .
11 11 12
111. Bewußtseinsinhalte aufgrund vorstellenden Vergegenwärtigens .... 16 a) Das vorstellende Vergegenwärtigen ...... . .. . ..... ... . . ...... . . 16 b) Die Bedeutung des vorstellenden Vergegenwärtigens im Strafrecht 17 IV. Bewußtse,insinhalte aufgrund denkenden Erfassens ......... . .... . . 18 a) Strafrechtliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 b) Denkformen ............................ . .......... . ......... . . 18 c) Begriff, Vorstellung und Sprache ........ .. ......... . .... . ...... 19 d) Urteil, Schluß und Folge ....................................... 20 V. Das Verhältnis der drei Stufen untereinander. . . . . . . .. . . .... ... .. ..
21
x
Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel
Die Bestimmung des fÜT das StTafTecht geltenden ITTtumsbegTiffs
22
I. Die formale Einteilung der Irrtumsarten ..........................
22
11. Materiale Irrtumsarten ........................................... a) Fehlerhafte sinnliche Empfindung .............................. b) Fehlerhafte eigene Wahrnehmungstätigkeit .................... c) Fehlerhafte Vorstellungen ..................................... d) Fehlerhaftes denkendes Erfassen ............................... e) Zusammenfassung .............................................
23 23 24 24 25 26
IH. Definition des Irrtums ............................................
27
IV. Ablehnung entgegenstehender Auffassungen ...................... a) Über das Erfordernis eines Wahrheitsbewußtseins .............. b) über fehlende Bewußtseinsinhalte .............................
27 27 28
4. Kapitel
31
Ergebnis ZweiteT Teil
Der Realgrund strafrechtlicher Sanktionen in seiner Bedeutung für die Irrtumslehre ..........................................................
32
1. Kapitel
übeT die Bedeutung unzutTeffendeT Bewußtseinsinhalte im StTafTecht
32
A. Der Irrtum als mögliche negative wie auch positive Sanktionsvoraussetzung ............................................................
32
B. Zutreffende und unzutreffende Bewußtseinsinhalte als Sanktionsvoraussetzung .........................................................
35
2. Kapitel DeT sanktionieTte Gegenstand in seineT Bedeutung füT die ITTtumslehTe..
38
A. Die Hilfe des Gesetzes für die Suche nach dem sanktionierten Gegenstand..............................................................
38
B. Die Bedeutung der Frage nach dem sanktionierten Gegenstand ......
40
C. Die möglichen Verknüpfungen zwischen sanktioniertem Gegenstand und Sanktion ...................................................... I. Die verwirrenden Bezeichnungen in der Literatur .............. H. Die Klärung durch die Anwendung des Satzes vom Grunde. . . . . . a) Die Notwendigkeit der Folge als spezifische Schwierigkeit bei der Anwendung des Satzes vom Grunde im Strafrecht .......
43 43 44 45
Inhaltsverzeichnis b) Die Bedeutung des Satzes vom Grunde in seinem je versChiedenen Anwendungsbereich für eine Grund-Folge-Abhängigkeit der Sanktion .............................................. . 1. Über das real begründen{)e Verhältnis ................... . 2. über die begründende Wirkung des Sollens .............. . 3. über das erkenntnismäßig begründende Verhältnis ....... . 4. über das final begründende Verhältnis ................. . 5. Über das rechtlich begründende Verhältnis ............... . c) Die Bedeutung der verschiedenen begründenden Verhältnisse
für die Suche nach dem sanktionierten Gegenstand ......... . 1. Der Rechtsgrund der Sanktionen ........................ . 2. Der Finalgrund der Sanktionen ......................... . 3. Der Verpftichtungsgrund der Sanktionen ................. . 4. Der Realgrund der Sanktionen
XI
46
49 50 50 52 53
54 54 55
58
59
3. Kapitel
Die möglichen Realgründe der Sanktionen .............................
60
A. Das die Sanktionen anordnende Urteil ..............................
60
I. Das strafrichterliche Urteil als möglicher Erkenntnisgrund der Sanktionen .................................................... 60 a) Der Nachweis des Erkenntnisgrundes ........ ;............... 60 b) Die entgegengesetzte Auffassung von Spendei. ... ..... ...... 61 II. Die soziale Realität des strafrichterlichen Urteils als untauglicher Realgrund der Sanktionen. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . 64 III. Die Verschiedenheit von Sanktion und strafrichterlichem Urteil..
66
B. Die Rechtsordnung .................................................
67
I. Die Rechtsordnung als Verpftichtungsgrund der Sanktion..... ...
67
II. Verpftichtungsgrund und Realgrund der Sanktion..... ...... ...
67
C. Die Tat als vom Recht gesetzter Realgrund der Sanktionen ..........
70
I. Die Anordnung des Gesetzes ................................... a) Das geltende Strafgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Das künftig geltende Strafgesetzbuch ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Überprüfung der These von der Realgrundeigenschaft der Tat in einem konkreten Beispielsfall ........................
70 70 72 73
II. Die Tat als Realgrund in der Rechtslehre.... ..... . .... . ... .. ..
74
III. Die Tat als Realgrund in ausgewählten ausländischen Rechtsordnungen ....................................................... a) Lateinamerikanische Beispiele .............................. b) Militärstrafgesetzbuch der U.S.A. ........................... c) UdSSR ......................................................
77 77 78
D. Täterzustände als Realgrund der Sanktionen ........................
83
82
XII
InhaltsverzeichniS I. Anhaltspunkte im Gesetz .... ;.. .... .. . . .. . ... .... .. .... .. . . . ..
84 a) . Die Gefahr der Begehung rechtswidriger Taten in der Zukunft 84 b) Die "Persönlichkeit" ........................................ 86
11. Die als Realgrund ,in Frage kommenden Persönlichkeitszustände a) Der am Beispiel des § 63 o. F. StGB vorzuführende Schluß aus dem Erkenntnisgrund des Urteils, das Tat- und Persönlichkeitszustände feststellen muß ............................... b) Der materielle Nachweis von Persönlichkeitszuständen als Realgrund der Sanktionen .................................. c) Zusammenfassung: Verbrechensgeneigtheit als Realgrund ....
87
E. Die Vorverurteilung ...............................................
95
I. Anhaltspunkte im Gesetz ......................................
95
11. Vorverurteilungen sind keine Realgründe ......................
97
87 90 94
F. Die Schuld ........................................................ 101 I. Die Schuld entweder als Eigenschaft der Tat oder als Unterart
der Vel1brechensgeneigtheit .................................... a) Als Realgrund taugliche Schuldinhalte ...................... b) Die Schuld als Eigenschaft der Tat .......................... 1. Schrifttum ............................ . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Gesetz .................................................. c) Die Schuld als Persönlichkeitszustand der Verbrechensgeneigtheit ........................................................
11. übet die Möglichkeit verschiedener Realgründe für die Sanktion einerseits und deren Maß und Art andererseits ................ a) der sog. Liszt'sche Dualismus ............................... b) Das Dualismusproblem im Schrifttum ...................... 1. Auffassungen, die mit v. Liszt übereinstimmen ........... 2. Auffassungen, die die Lehre von v. Liszt modifizieren bzw. weiterführen ............................................ 3. Ablehnende Stellungnahmen zum "Liszt'schen Dualismus" in der Literatur .......................................... c) Die Anwendung des Satzes vom Grunde auf das Dualismusproblem .................................................... 1. Die Unzulässigkeit der Annahme eines je verschiedenen Realgrundes für das "Ob" und das "Wie" der Sanktionen .. 2. Die Tat als objektive Bedingung der Sanktionen bzw. als Anzeichen der Gefährlichkeit des Täters .................. d) über die Möglichkeit eines real fundierenden Verhältnisses nur zwischen den Eigenschaften zweier Gegenstände ............ 1. Die Tat begründet das Maß der Sanktionen, eine Eigenschaft der Tat des Ob der Sanktionen ........................... 2. Die Tat als Realgrund des "Ob" der Sanktionen, eine Eigenschaft der Tat als Realgrund von Art und Dauer der Sanktionen ..................................................
103
103 104
104 106 107 108 109
112 112 115 119 123 123 129 132 132 133
Inhaltsverzeichnis
XIII
G. Die Strafzumessungsgründe ........................................ 134 I. Anhaltspunkte für die Realgrundeigenschaft der Strafzumes-
sungsgründe .................................................. 135
II. Die Strafzumessungsgründe als Maßstab für den Realgrund der Sanktionen .................................................... 136 a) Strafzumessungsgründe als Maßstab der Tat ................ 136 b) Strafzumessungsgründe als Maßstab der Verbrechensgeneigtheit ........................................................ 138 111. Als Strafzumessungsgründe nicht in Betracht kommende Gegenstände ......................................................... 138 H. Das Verhältnis derbeiden Realgründe zueinander .................. 139 I. Das mögliche Zusammentreffen der beiden Gegenstände bei der
realen Begründung der Strafen und Maßregeln ................. 140
11. Tat und Verbrechensgeneigtheit als gemeinsamer Realgrund .... a) über die Verbrechensgeneigtheit als alleiniger Realgrund .... 1. Eine allein an die Verbrechensgeneigtheit anschließende Sanktion existiert nicht .................................. 2. Das Verhältnis von Tat und Verbrechensgeneigtheit in ihrem Realgrundcharakter ................................ b) Die Tat als alleiniger Realgrund ................... ; ........
141 141 141 143 145
111. über die Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung bestimmter Sanktionen an einen der beiden bisher herausgestellten Realgründe 145 IV. Realgrund und Mehrspurigkeit ................................ 145 J. Ergebnis dieses Kapitels ........................................... 147
4. Kapitel Zusammenfassendes Ergebnis des 2. Teils .............................. 149 A. Nur die rechtlich angeordnete Kausalität macht einen Gegenstand zum
Realgrund einer Sanktion .......................................... 149
B. Tat und Persönlichkeit als alleinige Realgründe .................... 150 C. über die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen über die Beschaffenheit des Realgrundes ............................................... 151 I. Einleitende Bemerkungen ...................................... 151
11. Die für die Beschaffenheit des Realgrundes strafrechtlicher Sanktionen maßgebenden Kriterien ................................. 152 a) b) c) d) e)
Das gesetzliche Kriterium ............ ;..................... Kriminalpolitische Kl'iterien ................................ Das Kriterium der Natur der Sache ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Das Kriterium der Strafrechtssystematik .................... Die Interdependenz aller Kriterien ..........................
152 152 155 156 156
XIV
Inhaltsverzeichnis ZWEITES BUCH
Die Bedeutung der Kriminalpolitik für die Irrtumslehre .......... 159 Erster Teil
Die Bedeutung der Sanktionszwecke (der Finalgründe) strafrechtlicher 159 Sanktionen 1. Kapitel
159
Einleitung
2. Kapitel
über die Schwierigkeiten, die die sich mit dem Grunde der Sanktionen beschäftigenden Theorien einer Ermittlung der Strafzwecke entgegensetzen ................................................................ 161 A. über die Brauchbarkeit der Einteilung dieser Theorien ,in absolute,
relative und vereinigende Theorien zur Ermittlung des Finalgrundes der Sanktionen .................................................... 161 I. Die Einteilung nach dem Rechtsgrund der Sanktion ............ 162
11. Die Einteilung nach dem Wesen der Sanktion .................. 165 111. Die Einteilung nach dem Zweckgrund .......................... 166 B. über die Möglichkeit einer Einteilung der Straftheorien nach der je erfragten Antwort ................................................. 169 C. über die Möglichkeit, den Finalgrund zu ermitteln .................. 174 3. Kapitel Die auf einen Zweckgrund der Sanktionen verzichtenden Lehren ........ 178
A. Darstellung der in Frage kommenden Lehren ....................... 178 I. Die Lehre von Kant
178
11. Die Lehre von Stahl
181
111. Die Lehre von Hegel .......................................... 182 B. über die Möglichkeit einer zweckhaften Auffassung der Strafe bei Kant und Hegel ................................................... 183 I. über die Möglichkeit, im Rahmen dieser Lehren den Sanktionen
dennoch Zwecke zu geben ....... . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. 183
11. über die Möglichkeit, die Sanktionen ihren Zweck in sich selber tragen zu lassen .............................................. 184 111. über die Möglichkeit, die Sanktionen zweckfrei zu denken ...... 188
Inhaltsverzeichnis
c.
xv
Bewußtseinserfordernisse für den Realgrund einer zweckfrei gedachten Sanktion ....................................................... 191 I. Die Bedeutung der Kantischen Lehre vom Verbrechen 11. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als Merkmal des Realgrundes der Sanktion nach der Lehre von Kant ................ a) Das potentielle materielle und formelle Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als Merkmal des· Realgrundes .................... b) Definition des Bewußtseins der Rechtswidrdgkeit ............ 1. Das materielle Bewußtsein der Rechtswidrigkeit und seine Verschlingung mit dem formellen Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ............................................... 2. Die Bestimmung des formellen Bewußtseins der Rechtswidrigkeit ................................................ aa) Formelles und "abstraktes" Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ........................................... bb) Folgerungen ......................................... 3. Definition der Begriffe: Rechtswidrigkeitsbewußtsein, Bewußtsein der Gesetzwidrigkeit, Bewußtsein der Strafgesetzwidrigkeit ...............................................
191 193 193 194 194 195 195 198 199
c) Die von der Kantischen Straflehre verlangten Bewußtseinsinhalte ..................................................... 201 d) Verfassungsrechtliche überlegungen ......................... 201 111. Die Bedeutung des He,gelschen Verbrechensbegriffs
204
4. Kapitel Der Strafzweck der Vergeltung
208
A. über die Möglichkeit und die mögUchen Bedeutungen eines Vergeltungszweckes ...................................................... 208
B. Vergeltung als Ausgleich ...........•.......•....................... 209 I. Die wesentlichen Theorien ..................................... 209
11. Die sich daraus ergebenden Bewußtseinserfordernisse im Realgrund ......................................................... a) Folgerungen aus der Lehre von Berner ...................... b) Unmittelbare Folgerungen aus dem Strafzweck der ausgleichenden Vel'geltung ........................................ c) Mittelbare Folgerungen aus dem Strafzweck der ausgleichenden Gerechtigkeit ..........................................
211 211 211 213
C. Vergeltung als Wiederherstellung der Rechtsmacht und die sich daraus ergebenden Bewußtseinserfordernisse ............................... 216 I. Bindings Lehre von der Vergeltung als Bewährung der Rechts-
macht .......................................................... 216
Inhaltsverzeichnis
XVI
a) Die Lehre und ihre Konsequenzen für den Realgrund der Sanktionen ................................................. ,216 b) Das Bewußtsein des Verbotenseins bei Binding als Rechtswidrigkeitsbewußtsein ...................................... 219 11. Die Lehre von der Vergeltung als Verwirklichung des Rechts (Heinze) ....................................................... 224 111. Ver.geltung als Heilung bzw. Wiedergutmachung eines durch das Verbrechen entstandenen Schadens ............................ 224 a) Abgrenzung gegen ähnliche Lehren ...... . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. 224 b) Vergeltung, ,als Heilung eines durch das Verbrechen entstandenen Schadens (Welckers Theorie des idealen Schadensersatzes) 225 1. Die möglichen Schäden ................................... 2. Der Schaden der Ehrverletzung des Verbrechensopfers .... 3. Die übrigen Schäden ..................................... aa) Die Störung des rechtlichen Willens beim Opfer ...... bb) Der bei den übrigen Rechtsgenossen eingetretene Schaden
225 228 229 229 230
4. Er,gebnis ................................................. 231 c) Der Welckerschen Theorie verwandte Auffassungen, ......... 231 d) Die Theorie von Ahrens .................................... 232 e) Die Theorie von der Aufhebung des Verbrechens ............ 233 ~itz ............................................., ........ 2. Hälschner ............................................... 3. Hepp ...................................... ' .............. 4. Berolzheimer ............................................
1.
IV. Zusammenfassung
233 234 235 236 237
5. Kapitel Der MißbiHigungszweck der Sanktionen nebst den sich daraus ergebenden Bewußtseinserfordernissen im Realgrund der Tat .................. 239
6. Kapitel Die Verhütungszwecke (Präventionszwecke) der Sanktionen und die sich daraus ergebenden Bewußtseinserfordernisse im Realgrund der Tat .... 240 A. Zur Einteilung der Verhütungslehren .............................. 240
B. Der Zweck der Verhütung künftiger Straftaten durch Sanktionsandrohung gegenüber allen Rechtsgenossen ......................... 243 I. Die Theorie des psychologischen Zwanges ....... ,.............. 243
a) Die Lehre .................................................. 243 b) Das Verhältnis der Strafandrohung zur Strafe ............... 244 c) Materielle Verschiedenheit zwischen Strafdrohung und Strafe 245
Inhaltsverzeichnis
XVII
d) Die von der Theorie des psychischen Zwanges geforderten Bewußtseinsinhalte ........................................... 249 1. Die von Feuerbach verlangten Bewußtseinsinhalte ........ 249 aa) Das Bewußtsein der Strafgesetzwidrigkeit ............ 250 bb) Das Bewußtsein der Strafe .......................... 251 2. Die Bewußtseinsinhalte, die Feuerbachs Lehre möglicherweise verlangt .......................................... 254 aa) Das aktuelle Bewußtsein der Strafgesetzwidrigkeit .... 254 bb) Das Bewußtsein der Strafbarkeit .................... 254 11. Die möglichen Inhalte ............................ 254 22. Die Unabhängigkeit der. verschiedenen Bewußt-... seinsinhalte untereinander ....................... 256 33. Ergebnis .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 257 3. Das aktuelle Bewußtsein der Sanktioniertheit als ausreichender Bewußtseinsinhalt ............................... 257 4. Zusammenfassung ............................ ;.......... 260 II. Der Feuerbachschen Theorie verwandte Lehren ................ 260 III. Die Warnungstheorie von Bauer ............................... 261 C. Der Zweck der Vel'hütung künftiger Straftaten durch abschreckende Strafzufügung und die sich daraus ergebenden Bewußtseinserfordernisse im Realgrund ................................................ 262 I. Abschreckung durch Wahrnehmung des Strafübels ............. 262
a) Die Lehre ................................................... 262 b) Die sich daraus ergebenden Bewußtseinserfordernisse ...... 263 II. Abschreckung durch das Bewußtsein der notwendigen Verknüpfung zwischen sanktionierter Tat und Sanktion ................ 266 a) Die Lehre von der Strafe als VerwiI1ldichung der Strafdrohung 266 b) Die sich daraus ergebenden Bewußtseinserfordernisse ....... 269 D. Der Zweck der Verhütung künftiger Straftaten durch Einwirkung auf den Täter und die sich daraus ergebenden Bewußtseinserfordernisse im Realgrund ...................................................... 275 I. Die Notwehrtheorien .......................................... 275
II. Die (eigentlichen) Präventionstheol'ien ......................... a) Prävention durch Abschreckung ............................ 1. Parallelen zur abschreckenden Generalprävention ........ 2. Die Frage nach den Bewußtseinserfordernissen .......... aa) Spezialpräventive Abschreckung durch erleidendes Wahrnehmen der Sanktion .......................... bb) Spezialpräventive Abschreckung durch das Bewußtsein der notwendigen Verknüpfung zwischen Tat und Sanktion ................................................. 3. Zusammenfassung .......................................
279 279 280 280 280 283 283
XVIII
Inhaltsverzeichnis b) Prävention durch moralische Besserung ..................... 1. Die Lehre ............................................... 2. Bewußtseinserfordernisse ................................ c) Prävention durch juridische Besserung ...................... d) Prävention durch politische Besserung ...................... e) Die Besserungsstrafe bei v. Liszt ............................ f) Prävention durch Sicherung ................................
284 284 287 289 292 294 296
7. Kapitel Zusammenfassung (1. bis 6. Kapitel) ................................... 300
8. Kapitel Die LehTe von den Sanktionszwecken in deT GegenwaTt ... . . . . . . . . . . . .. 306 A. Die gegenwärtigen Lehren von den Zwecken der strafrechtlichen Sank-
tionen ............................................................. 306 I. Die klassischen Vereinigungstheorien und die sich daraus er-
,gebenden Bewußtseinsinhalte .................................. a) Vereinigungslehren, die das Strafbarkeitsbewußtsein im Realgrund der Sanktionen verlangen müßten .................... 1. Die Lehre von Mezger ................................... 2. Die Lehre von Hellmuth Mayer .......................... 3. Die Lehre von Maurach ................................. b) Vereinigungslehren, die das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit im Realgrund der Sanktionen verlangen müßten ............ 1. Die Lehre von Welzel ................................... 2. Die Lehre von Gallas .................................... 3. Die Lehre von der Strafe als einer Sühneleistung des Delinquenten .................................................
11. Die von den klassischen Vereiniogungstheorien abweichenden Lehren ......................................................... a) Lehren, die das Strafbarkeitsbewußtsein fordern müßten .... 1. Maihofers Besserungstheorie ............................. 2. Schmidhäusers differenzierende Straftheorie .............. 3. Roxins dialektische Vereinigungstheorie .................. b) Lehren, die das Bewußtsein der Rechtswidl'igkeit im Realgrund der Sanktionen fordern müßten ...................... 1. Lampes Lehre von der Wiederherstellung des Rechtsfriedens der Gemeinschaft ................................... 2. Nolls Lehre vom Rechtsgüterschutz durch normative Prävention .................................................. 3. Arthur Kaufmanns Lehre von der. als Sühne verstandenen Strafe zum Zwecke der Resozialisierung ..................
306 308 308 311 312 314 314 315 315 317 317 317 319 320 323 323 324 326
111. Die von Gesetz und Rechtsprechung möglicherweise vorausgesetzten Strafzwecke ............................................... 327
Inhaltsverzeichnis
XIX
B. Die an die Strafe anknüpfenden unselbständigen Maßnahmen. . . . . . .. 334 C. Die gegenwärtige Lehre vom Zweck der Maßregeln ................. 335 D. über das Verhältnis der von den Sanktionszwecken jeweils geforderten verschiedenen Bewußtseinsinhalten zueinander .................. 338 9. Kapitel
Zwischenbilanz
343
Literaturverzeicllnis
345
Sachregister .......................................................... 359
Ahkürzungsverzeichnis Im allgemeinen werden nur gebräuchliche und verständliche Abkürzungen verwendet; im besonderen: A AcP AE
ARSP AT BayNatEG
Bek. BGB BGBL BGH BT BVerfG GS GVBl. Jur. Diss. Lb. NA ROW Stub. ZAkDR MonSchrKrimpsych. MonSchrKrim.
Zeitschrift: Archiv des Kriminalrechts Zeitschrift: Archiv für die civilistische Praxis Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Tübingen 1969 Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Allgemeiner Teil Bayerisches Gesetz zum Schutze der wildwachsenden Pflanzen und der nicht jagdbaren wildlebenden Tiere (Naturschutz-Ergänzungsgesetz NatEG.) vom 29. Juni 1962 (GVBl. S. 95) Bekanntmachung Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Besonderer Teil Bundesverfassungsgericht Zeitschrift: Der Gerichtssaal Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Dissertation in einer juristischen Fakultät Lehrbuch Zeitschrift: Archiv des Kriminalrechts, Neue Folge Zeitschrift: Recht in Ost und West Studienbuch Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform
Zur Zitierweise ist anzumerken, daß die Zitate älterer Schriftsteller zumeist der heutigen Schreibweise vorsichtig angeglichen wurden.
Einleitung Einleitende Bemerkungen zum Ausgangspunkt und zum Gang der Darstellung Mit dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, eine strafrechtliche Irrtumslehre zu begründen. Die gesamte Studie ist auf 5 Bücher angelegt, von denen das erste und der erste Teil des zweiten in einem ersten Bande des Gesamtwerks hiermit vorgelegt werden. Als Ausgangspunkt der überlegungen zur strafrechtlichen Irrtumsproblematik drängen sich die strafrechtsdogmatischen Figuren des Tatbestandsirrtums und des Verbotsirrtums geradezu auf, wie schon durch die Vielzahl einschlägiger Arbeiten belegt wird. Trotz aller wertvoller Ergebnisse solcher Studien kann jedoch nicht geleugnet werden, daß der derzeitige Diskussionsstand der Irrtumslehre alles andere als befriedigen kann. Zunehmend wird versucht, die Irrtumsfragen aus rechtsdogmatischsystematischen Zusammenhängen zu lösen1 und "in ihrer eigenen Sachproblematik zu beantworten"2. So sehr dem im Ergebnis zuzustimmen ist, so wenig kann es angehen, den dogmatischen Aspekt zu vernachlässigen. Wer sich um die Abgrenzung von Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum bemüht, darf dabei die Vorsatzlehre 3 und die "Unterscheidung zwischen Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluß"4 eben nicht unberücksichtigt lassen: mit Recht weist Arthur Kaufmann darauf hin, daß die Irrtumsproblematik aufs engste mit den Grundelementen der Verbrechenslehre zusammenhängt und nicht isoliert gelöst werden kann5 • Schon deshalb kann auch dem Vorschlag Roxins nicht gefolgt werden, "die sog. Irrtumstheorien" sollten "allein von der Strafzwecklehre her begründet werden"6. 1 Schmidhäuser, Engisch-Festschrift, S.455; Roxin, Offene Tatbestände, S. 111; vgl. ferner MüHer-Dietz, Schuldgedanke, S.83 und Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 284. 2 Schmidhäuser, ebd. 3 NoH, ZStW Bd. 77, 5 ff. Schmidhäuser, Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, S. 278. ZStw Bd. 76, 543. 6 Kriminalpolitik, S. 35.
1 Gössel
Einleitung
2
Mit dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, die Irrtumslehre aus der Enge derzeitiger Einseitigkeit zu lösen. Die bisher überwiegende bloße rechtsdogmatische Behandlung kann ebensowenig befriedigen wie der rein kriminalpolitische Lösungsweg. Es gilt vielmehr, alle für die Irrtumslehre maßgebenden Faktoren (darunter Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik) aufzufinden und ihr Zusammenwirken in der Irrtumslehre darzustellen. I. Im ersten Buch wird der Versuch einer Grundlegung der strafrechtlichen Irrtumslehre unternommen: zunächst wird der Begriff "Irrtum" untersucht und alsdann dargelegt, worin die strafrechtliche Bedeutung des Irrtums zu erblicken ist. a) Von dem schon früher dargelegten erkenntnistheoretischen Standpunkt7 aus wird zunächst die Psychologie über die mögliche Existenz und die etwaige Struktur eines "Irrtum" zu nennenden Sachverhalts befragt. Dabei wird der Irrtum als unzutreffender Bewußtseinsinhalt bestimmt, wobei die möglichen Arten unzutreffender Bewußtseinsinhalte geordnet und klassifiziert angegeben werden. b) Im zweiten Teil wird dargelegt, daß die strafrechtliche Bedeutung von Bewußtseinsinhalten (sie mögen zutreffend sein oder nicht) darin besteht, positive oder negative Sanktionsvoraussetzung zu sein. Weil nicht alle Sanktionsvoraussetzungen und damit auch nicht alle als solche in Frage kommenden Bewußtseinsinhalte aus dem Gesetz als Voraussetzungen strafrechtlicher Sanktionen ersichtlich sind8 , wird zunächst nach der Existenz eines Gegenstandes gefragt, der strafrechtliche Sanktionen nach sich zieht: kann doch aus der Kenntnis eines etwa existierenden Grundes strafrechtlicher Sanktionen und dessen Struktur die Anwort darauf erwartet werden, inwiefern Bewußtseinsinhalte Sanktionsvoraussetzungen sein können. In Anlehnung an die Lehren Schopenhauerso und die neueren Darlegungen von Spendel 10 werden dabei im Strafrecht fünf Arten von "Grund" als bedeutsam anerkannt: Real- und Erkenntnisgrund, Verpflichtungs-, Final- und Rechtsgrund. Tatsächlich läßt sich sodann als sanktionsauslösender Gegenstand der Realgrund strafrechtlicher Sanktionen aus dem Gesetz ermitteln: Tat und Verbrechensgeneigtheit des Täters. Gibt das Gesetz auch Auskunft über den Realgrund der SankGössel, Wertungsprobleme, S. 15 fI. Die Unvollkommenheit der Gesetze wurde erst kürzlich als eine "apriorische, notwendige" bezeichnet. Vgl. Kaufmann - Hasserner, Grundprobleme, 7
8
S.71.
° Schopenhauer, über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. 10 Spendei, Grundfragen, in: Rittler-Festschrüt, S. 39 fI.
Ausgangspunkt und Gang der Darstellung
3
tionen, so doch nur sehr unvollkommen darüber, ob und (gegebenenfalls) welche Bewußtseinsinhalte in welchen Fällen zum Realgrund (als Sanktionsvoraussetzung) notwendig zu fordern sind. Deshalb sind die Gegenstände zu befragen, die den Realgrund selbst bestimmen: sind die den Realgrund bestimmenden Faktoren bekannt, so ist zu erwarten, daß diese Faktoren auch darüber Auskunft geben, ob im Realgrund Bewußtseinsinhalte zu fordern sind. Solche den Realgrund bestimmenden Faktoren werden im Gesetz, in der Kriminalpolitik, in der Natur der Sache und endlich in der Strafrechtsdogmatik erblickt. In den folgenden Büchern 2 - 5 wird zu untersuchen sein, inwieweit diese Kriterien zum Realgrund Bewußtseinsinhalte verlangen - im 5. Buch zusätzlich, wie sich die verschiedenen Faktoren in ihrem Zusammenspiel auf die Irrtumslehre auswirken.
11. Das zweite Buch untersucht die Frage, inwieweit die Kriminalpolitik für Bewußtseinsinhalte im Realgrund strafrechtlicher Sanktionen entscheidend sein kann. Dabei wird zunächst der Begriff der Kriminalpolitik näher zu bestimmen versucht und sodann dargelegt, daß die als Finalgrund der Sanktionen bestimmten Sanktionszwecke Bewußtseinsinhalte im Realgrund verlangen; danach soll aber auch auf die sonstigen, den Realgrund qualitativ bestimmenden kriminalpolitischen Aspektell eingegangen werden. Dem entspricht die Einteilung dieses Buches in zwei Teile: im ersten Teil werden die möglichen Finalgründe strafrechtlicher Sanktionen ermittelt und daraus die entsprechenden Bewußtseinserfordernisse für den Realgrund abgeleitet - der zweite Teil soll die entsprechende Untersuchung hinsichtlich der sonstigen kriminalpolitischen Aspekte enthalten. Hier wird nur der erste Teil vorgelegt. Die hier behandelten Fragen wurden deshalb für besonders erörterungswürdig gehalten, weil zwar oft auf die Bedeutung der Sanktionszwecke hinsichtlich etwaiger Bewußtseinserfordernisse hingewiesen worden ist, daraus aber keine Konsequenzen gezogen wurden - bei den anderen noch zu behandelnden Faktoren sind entsprechende Konsequenzen doch immerhin schon deutlicher zum Ausdruck gekommen, insbesondere auf dem Gebiet der Strafrechts dogmatik.
111. Im dritten Buch wird zu untersuchen sein, inwieweit von der "Natur der Sache" im Realgrund der Sanktionen bestimmte Bewußtseinsinhalte vorausgesetzt werden. Diese Frage ist deshalb erst jetzt zu behandeln, 11
1·
z. B. Berücksichtigung kriminalsoziologischer Lehren.
Einleitung
4
weil die Sache, deren Natur den gewünschten Aufschluß bringen soll, schon vorher kriminalpolitisch wie gesetzlich festgelegt ist. Der "Natur der Sache" wird damit aber nicht nur eine Auslegungsfunktion innerhalb des Gesetzes zugewiesen12, sondern zugleich auch eine materiell gegenstandsbestimmende Bedeutung gleichsam "vor" dem Gesetz. Der kriminalpolitisch wie gesetzlich als Realgrund erfaßte Sachverhalt soll auf seine von aller kriminalpolitischer wie gesetzlicher Wertung unabhängige Struktur untersucht werden, um daraus mögliche Bewußtseinserfordernisse für den Realgrund abzuleiten. Ferner werden nunmehr die bisher nur zur Darlegung des Untersuchungsgegenstandes benötigten Untersuchungen über die ontische Struktur des Irrtums heranzuziehen sein: hier ist insbesondere von Interesse, ob alle oder nur einzelne der aufgezeigten Irrtumsarten und -strukturen im Strafrecht von Bedeutung sein können. IV. Im vierten Buch ist zu untersuchen, inwieweit die Strafrechtsdogmatik das Problem der Bewußtseinsinhalte im Realgrund der Sanktionen beeinfiußt. Dazu wird zunächst der Begriff der Strafrechtsdogmatik im wesentlichen als die Lehrsätze des geltenden Strafrechts in ihrem systematischen Zusammenhang zu bestimmen sein. Sodann ist zu untersuchen, inwiefern diese Lehrsätze bzw. deren Systematik für die Frage nach Bewußtseinsinhalten als Sanktionsvoraussetzungen bedeutsam sind. In Auseinandersetzung mit Bestrebungen, die Irrtumsproblematik völlig unabhängig von dogmatischen Lehren zu behandeln 13, ist dabei zunächst nachzuweisen, daß und wie die Bedeutung von Bewußtseinsinhalten mit den Grundelementen der Verbrechenslehre zusammenhängt14 • Ferner sind die Untersuchungen über die ontische Struktur des Irrtums erneut heranzuziehen und mit den dogmatischen Lehrsätzen und deren Systematik zu vergleichen; dabei ist insbesondere zu untersuchen, ob möglicherweise Übereinstimmungen zwischen bestimmten Irrtumsarten und bestimmten dogmatischen Figuren (etwa Tatbestandsirrtum - fehlerhafte Vorstellung; Verbotsirrtum - fehlerhaftes denkendes Erfassen) zu bejahen sind.
V. Bisher noch nicht behandelte Faktoren weniger ausschlaggebender Bedeutung für die Sanktionsvoraussetzungen im Strafrecht, wie z. B. bestimmte Staatsrechtslehren und die möglichen Rechtsgründe der 12
13 14
Kaufmann - Hassemer, Grundprobleme, S. 71.
s. o. Anm. 1. s. o. Anm. 8.
Ausgangspunkt und Gang der Darstellung
5
Sanktionen, sollen im fünften Buch behandelt werden. Den wichtigsten Teil des fünften Buches aber wird die abschließende Untersuchung über das Verhältnis der über die Bedeutung von Bewußtseinsinhalten entscheidenden Faktoren und der sich daraus ergebenden Konsequenzen bilden. Dabei wird sich zeigen, daß alle Faktoren in einem gemeinsamen dialektischen Prozeß zur Verwirklichung der Gerechtigkeit stehen, die sich dabei als höchstes Ziel aller strafrechtlichen Bemühungen erweist l5 • Das gilt insbesondere auch für die Strafrechtsdogmatikl8 • Zwar kann Strafrechtsdogmatik allein nicht schon zum Ziel der Gerechtigkeit führen; dies gilt aber ebenso für alle anderen genannten Faktoren: kriminalpolitische Zweckmäßigkeit allein kann ebenso ins Unrecht führen wie dogmatische Einseitigkeit. Allein das Zusammenwirken in einem dialektischen Prozeß gegenseitiger Kontrolle und Entwicklung kann zum Ziel der Gerechtigkeit führen. Unter Beachtung dieser Grundsätze soll damit im fünften Buch der Kern einer Irrtumslehre zu entfalten versucht werden.
Gössel, Strafrechtsgewinnung. Dies gilt insbesondere gegenüber jenen, die unter dem Einfluß der "kritischen Theorie" meinen, eine dogmatische Jurisprudenz höre auf, nach der Gerechtigkeit zu fragen (so Paul, Kritische Rechtsdogmatik, S.53, 67), sie verhalte sich notwendig systemimmanent und ihr höchster Wert sei Rechtssicherheit (so Arthur Kaufmann, Rechtstheorie, Einl., S. 3). Die eingehende Auseinandersetzung mit diesen Auffassungen kann hier nicht vorweggenommenwerden. 15
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Erstes Buch Grundlegung
Die Lehre vom Grunde strafrechtlicher Sanktionen als Ausgangspunkt einer strafrechtlichen Irrtumslehre Erster Teil
Die ontische Struktur des Irrtums Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff "Irrtum" als ein irgendwie geartetes Falschwissen verstanden. Damit können wir uns jedoch nicht begnügen: es muß geprüft werden, ob der "Irrtum" eine selbständige ontische Gegebenheit darstellt, bejahendenfalls, ob deren Strukturen eine Bedeutung für das Verbrechenssystem besitzen und zur Lösung eines konkreten irrtumsbeeinflußten Falles herangezogen werden können. Diese Prüfung kann aber nur angestellt werden, wenn über den Begriff "Irrtum" Klarheit herrscht.
1. Kapitel
Ober den Begriff des Irrtums in der Rechtswissenschaft Unserer Ausgangsfrage nach der Bedeutung des Irrtums im Strafrecht entsprechend ist von der leicht nachweisbaren Feststellung auszugehen, daß das Strafrecht zur Verhängung strafrechtlicher Sanktionen bestimmte Bewußtseinsinhalte verlangt. Dies geht z. B. aus der häufigen Verwendung des Wortes "wissentlich" und gleichbedeutender Vokabeln im StGB hervor wie z. B. in § 131 (Staatsverleumdung), § 138 (Nichtanzeige drohender Verbrechen), § 145d (Vortäuschen einer Straftat), § 156 (wissentlich falsche Versicherung an Eides statt), § 164 (falsche) Anschuldigung), § 273 (Gebrauchmachen von falschen Urkunden) usw. Das gilt aber nicht nur für die genannten Straftaten oder solche, die ähnliches ein Wissen voraussetzendes Tun verlangen (wie z. B. § 148 Abschieben von Falschgeld nach erkannter Unechtheit): aus § 59 StGB ergibt sich zwingend, daß nur bei Kenntnis aller vorhandenen Tatumstände wegen vorsätzlicher Tat gestraft werden kann.
1. Buch, 1. T.: Grundlegung: Irrtumsbegriff
8
Herkömmlichem Verständnis gemäß soll nun der Anwendungsbereich des Begriffs "Irrtum" auch in dieser Untersuchung auf das Gebiet der bewußten seelischen Vorgänge beschränkt bleiben. Das bedeutet, daß der Begriff "Irrtum" sich irgendwie feindlich gegenüber dem "Wissen" verhält: mit der Frage nach dem Irrtum ist damit die Frage nach der menschlichen Erkenntnis gestellt. Ausgangspunkt dieser Erörter'.mg ist der Dualismus von Subjekt und Objekt. Der Mensch steht seiner Umwelt gegenüber, das Subjekt den Objekten. Das Subjekt bemerkt die Objekte, wird ihrer inne, erkennt sie; wird das Subjekt seiner selbst inne, so tritt es sich selbst als erkanntes Objekt gegenüber. Erkenntnis wird erst möglich, wenn Erkennender und Erkanntes als Getrenntes aufeinander bezogen werden1 • Ob das Subjekt Objekte auch unbewußt erkennen kann und demgemäß auch im Bereich des Unbewußten die Rede vom Irrtum sinnvoll ist, bleibe erneut dahingestellt: der Frage, ob sich das Strafrecht zur Verhängung seiner Sanktionen auch mit unbewußter Erkenntnis begnügt, kann und soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Jedenfalls kann das Subjekt Objekte bewußt erkennen. Beim bewußten Erkennen entstehen objekts bezogene Bewußtseinsinhalte. Stimmen Bewußtseinsinhalte und die zugehörigen Objekte überein, so sind die Bewußtseinsinhalte zutreffend, andernfalls fehlerhaft 2 • Fehlerhafte Bewußtseinsinhalte heißen Irrtümer. Bewußtseinsinhalte sind nun wegen prinzipieller Unerkennbarkeit der Objekte stets Irrtümer. Daß wir die Wirklichkeit totaliter bemerken, ist eine naive Vorstellung: schon wegen der besonderen Konstruktion unserer Sinnesorgane bemerken "wir von unserer Umwelt ja nur den Widerschein in einem beschränkten Bereich physikalischer Wirkungen"3. Ein in dieser Weise absolut verstandener Irrtumsbegriff ist für uns sinnlos und wird hier nicht weiter verfolgt4. Der Irrtum kann bei Bejahung prinzipieller Unerkennbarkeit relativ verstanden werden. Der Bewußtseinsinhalt ist hiernach irrig, wenn er mit seinem Objekt, wie es bisher erkannt ist, nicht übereinstimmt; Maßstab ist dabei die allgemein anerkannte Erkenntnis auch nur eines einzelnen Menschen5 • Wer heute aufgrund seiner spiritistischen Kenntnisse eine telepathische Verbindung zwischen Toten und Lebendigen bejaht, die nach dem derzeitigen Stande der Wissenschaft mit Sicherheit auszuschließen ist, der irrt nach dieser Begriffsbestimmung im Augenblick der Erkenntnis Lerch, Rechtsirrtum, S. 5. Lerch, S. 6. 3 Havemann, Dialektik, S. 46; ebenso Laun, Satz vom Grunde, S. 128 f. 4 Vgl. Lerch, Rechtsirrtum, S. 5 a. E. 5 Auch die erstmalige Erkenntnis die hier außer Betracht bleiben kann - gilt demnach bis zu ihrer allgemeinen Anerkennung als Irrtum. 1
2
1. Kap.: Struktur des
Irrtums
9
selbst dann, wenn sich seine Auffassung nach späterer geläuterter wissenschaftlicher Erkenntnis als richtig erweist oder wenn sie nur aufgrund des prinzipiell unerkennbaren Teils des Objekts: "telepathische Verbindung" als zutreffend angesehen werden könnte: erst jetzt wird nachträglich der frühere "Irrtum" als Wahrheit anerkannt. In dieser Weise relativ soll der Irrtum als ein mit seinem Gegenstand nicht übereinstimmender Bewußtseinsinhalt definiert und den weiteren Ausführungen zugrunde gelegt werden: kurz als fehlerhafter Bewußtseinsinhalt. Mit dieser Definition kommt man nun noch nicht sehr weit. Im Strafrecht ist von den verschiedensten Irrtumsarten die Rede: Rechts- und Tatirrtum; Tatsachen- u. Bewertungsirrtum; strafrechtlicher und außerstrafrechtlicher Irrtum; Tatbestands- und Verbotsirrtum; Irrtum zu Gunsten und zu Ungunsten des Täters. Die bisher ermittelte Definition erfaßt alle diese Arten, ohne aber irgend etwas über Sinn und Folgen dieser strafrechtlichen Einteilungsversuche auszusagen. Möglich wäre aber die Existenz verschiedener Arten fehlerhafter Bewußtseinsinhalte mit jeweils verschiedener Struktur: solchen ontisch verschiedenen Irrtumssachverhalten könnten dann möglicherweise auch verschiedene rechtliche Folgen zugeordnet werden. Also muß sich der Kriminalist zur weiteren Klärung des Begriffs "Irrtum" auf das Gebiet der Psychologie begeben: auf die Frage nach den möglichen Irrtümern kann "lediglich die psychologische Untersuchung die Antwort geben"e. Den Einwand, zur Untersuchung und Erkenntnis juristischer Gegenstände seien die Ergebnisse anderer Wissenschaften außer Betracht zu lassen7 , hat Verfasser bereits an anderer Stelle zurückgewiesen8 • Ergänzend sei hier bemerkt, daß auch und gerade die hier - wenn auch nicht in ausschließender Einseitigkeit - anzuwendende Methode problemorientierten Denkens verlangt, ontische Ordnungen zu berücksichtigen, weil ihnen grundsätzlich eine das Recht regulierende Funktion zuerkannt wird9 • Eine eingehende Untersuchung des einschlägigen psychologischen Schrifttums, so reizvoll es auch wäre, kann hier aus naheliegenden Gründen indes nicht vorgenommen werden: dazu wäre eine eigene Untersuchung erforderlich. Die einschlägigen Ergebnisse der Psychologie können hier nur in groben Zügen dargestellt werden, was jedoch für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ausreichend sein wird. 8 Binding, Irrtum, in: Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, Bd. I, S. 407. 7 Vgl. etwa Engisch, Weltbild, S. 15 f., 39. 8 Wertungsprobleme, S. 24 - 32. 8 Vgl. Roxin, Täterschaft, S. 714 und Gössel, Strafrechtsgewinnung.
2. Kapitel
Vher die Entstehung von Bewußtseinsinhalten I. ttber die drei Stufen des Entstehens von Bewußtseinsinhalten
Wie entstehen nun Bewußtseinsinhalte? Es soll davon ausgegangen werden, es stehe fest, A habe den B erschossen. Um A wegen Totschlags verurteilen zu können, muß u. a. festgestellt werden, daß A in dem Augenblick, als er den Abzugshahn seines Gewehrs durchzog, wußte, er habe ein Geschoß abgesandt, das dem Leben eines anderen Menschen ein Ende bereiten werde. Dazu muß A insbesondere erkannt haben, daß das Ziel seines tödlichen Schusses ein Mensch war - und nicht etwa eine Wildsau. Dieses Wissen setzt u. a. eine sinnliche Wahrnehmung voraus: eine erste mögliche Bedingung für die Entstehung von Bewußtseinsinhalten. War nun B ein auf besonders ungewöhnliche Weise tierähnlich mißgestaltetes Wesen, so ist leicht einzusehen, daß die bloße sinnliche Wahrnehmung nicht ausreicht, das Objekt der Tat als Menschen zu erkennen: diese sinnliche Wahrnehmung wird mit der im Gedächtnis bewahrten anschaulichen Vorstellung von Menschenwesen verglichen und erst aufgrund dieses Vergleichs wird sich A bewußt, auf einen Menschen zu schießen. Damit ist als zweite mögliche Bedingung für die Entstehung von Bewußtseinsinhalten neben der sinnlichen Wahrnehmung die an~ schauliche Vorstellung gefunden. Aber auch der Vergleich der sinnlichen Wahrnehmung mit der anschaulichen Vorstellung reicht möglicherweise nicht aus anzunehmen, A habe gewußt, auf einen Menschen zu schießen. Stellt man sich die Mißbildung so erheblich vor, daß die sinnliche Wahrnehmung von der Vorstellung völlig verschieden ist, so ermöglicht u. U. erst die rein begriffliche Rekapitulation der abstrakten Definitionsmerkmale des Begriffs "Mensch", den B als Menschen zu erkennen. Als eine dritte mögliche Bedingung zur Entstehung von Bewußtseinsinhalten ist damit die rein begriffliche und anschauliche Feststellung oder allgemein gedankliches Begreifen gefunden. Mit der reinen Beobachtung erhält man so ein Ergebnis, das zwar sehr ungenau ist, in seinen wesentlichen Grundzügen aber den Ergebnissen
2. Kap.: Entstehung von Bewußtseinsinhalten
11
der Psychologie entspricht. So vollzieht sich z. B. nach Lersch'o die Wahrnehmung der Objekte in dem dreifachen Stufenbau des sinnlichen Bemerkens, des vorstellenden Vergegenwärtigens und des denkenden Erfassens; in ähnlicher Weise scheidet auch Hamburger die drei Stadien der Wahrnehmungl1 , der Vorstellung'2 und des Denkens'3 • Diese verschiedenen Stufen sollen nun insbesondere in ihrer starken Verflochtenheit miteinander näher untersucht werden. 11. Bewußtseinsinhalte aufgrund sinnlichen Bemerkens
a) Die sinnlichen Empfindungen Die im Wege des sinnlichen Bemerkens empfangenen Eindrücke nennt Lersch Empfindungen, die entweder als isolierte, einzelne Empfindungen oder als eine aus mehreren Einzelempfindungen zusammengesetzte, gestaltete Empfindungseinheit empfunden werden14• Der Fall einer isoliert auftretenden Einzelempfindung ist nun so selten (etwa bei einer Injektion der Einstich der Nadelspitze), daß er für die weiteren Untersuchungen außer Betracht bleiben soll, zumal sich die wesentlichen Merkmale der Einzelempfindung bei der Empfindungseinheit ebenfalls feststellen lassen. Diese "ganzheitlichen Konfigurationen von Empfindungen" sind in den Wahrnehmungen zusammengefaßtl5 • Diesen Wahrnehmungen schreibt Lersch im Anschluß an Jaspers den Charakter der Leibhaftigkeit zu: die Existenz eines Gegenstandes, sein Dasein, ist uns in den Wahrnehmungen in ihrem Hier und Jetzt auf eine nicht weiter beschreibbare Weise unmittelbar gegeben'8 • Erlebt werden Wahrnehmungen mittels der Sinnesorgane17 • Während bei den niederen Sinnen in der Wahrnehmung noch keine Trennung von Subjekt und Objekt erfahren wird, wird diese Trennung in den Wahrnehmungen der höheren Sinne, dem Gehörs- und dem Gesichtssinn, deutlich'8• Dieser Unterschied ist für unsere Betrachtung aber ohne Bedeutung. Wenn auch im Strafrecht nur solche Wahrnehmungen von Bedeutung sind, in denen der Unterschied von Subjekt und Objekt meist sehr deutlich erlebt wird, so kann deshalb doch keine Rede davon sein, daß die Wahrnehmungen der niederen Sinnesorgane ohne Bedeutung seien. Es ist sehr wohl denkbar, daß die niederen Sinnesorgane zum 10 11
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Lersch, Aufbau, S. 453. Hamburger, Theorie, S. 29 fI. Hamburger, S.149 fI. Hamburger, S. 208 fI. Lersch, Aufbau S. 351; s. auch Hamburger, S. 29 f. Lersch, S. 351. Lersch, S. 398. Lersch, S. 351. Lersch, S. 363.
12
1. Buch, 1. T.: Grundlegung: Irrtumsbegriff
Zwecke der Begehung strafbarer Handlungen bewußt eingesetzt werden: so z. B. der die Geldscheine ertastende Taschendieb. Wird auch regelmäßig die Verschiedenheit Subjekt - Objekt in den Wahrnehmungen der niederen Sinnesorgane nicht erlebt, so ist dies doch nicht stets (so bei der Wahrnehmung eines in den Körper eindringenden Fremdkörpers wie z. B. einer Stichwaffe) und insbesondere dann nicht der Fall, wenn solche Wahrnehmungen bewußt zur näheren Erkundung der räumlichen Umgebung provoziert werden. b) Die Eigentätigkeit des Menschen bei der Wahrnehmung
Die sinnlichen Empfindungen allein machen nun noch nicht unsere Wahrnehmung aus: allein die auf das menschliche Auge treffenden Lichtwellen von 650 mll lassen uns noch keine Apfelsine wahrnehmen. Sinnesempfindungen werden nur in gesetzmäßigen Zusammenhängen wahrgenommen19 . Bevor es zur Wahrnehmung kommt, wird der Rohstoff der Empfindungen vom "wahrnehmenden Subjekt" gestalthaft organisiert20 - eine Gesetzmäßigkeit, auf die bemerkenswerterweise bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts Schopenhauer im § 21 des 4. Kapitels seiner Arbeit über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde ausdrücklich hinwies: die "Anschauung" ist eine "intellektuale" und nicht bloß sensuaJ21. Wie die bereits o. a. Beispiele von der Wahrnehmung eines Menschen oder eines Geldscheins zeigen, sind zu dieser gestalthaften Organisation vor allem zwei Faktoren wichtig: einmal das Vermögen, sinnliche Wahrnehmungen zu bewahren und zum anderen das Vermögen, Wahrnehmungen voneinander unterscheiden bzw. mit anderen zusammenfassen zu können22 : das tierhaft gestaltete Menschenwesen kann nur als Mensch erkannt werden, wenn bereits Vorstellungen von Mensch und Tier vorhanden sind und die neue sinnliche Wahrnehmung mit eben diesen Vorstellungen verglichen wird. Entsprechendes gilt für das Beispiel des Geldscheine ertastenden Taschendiebs: in der Auswertung der verschiedenen Tastempfindungen durch den Dieb zeigt sich hier besonders deutlich die Fähigkeit des Zusammenfassens. In vielen Versuchen hat die Gestaltpsychologie darüber hinaus eine Reihe weiterer gestalthafter Organisationsformen, die kürzer Strukturen genannt werden, nachgewiesen. So werden z. B. acht senkrechte parallellaufende und gleich lange Striche nur dann als acht einzelne Striche wahrgenommen, wenn sie gleichweit voneinander entfernt sind. Zeichnet man dagegen jeweils zwei Striche näher aneinander, so 19 Hehlmann, S. 521, Stichwort: Wahrnehmung. 20 Correll, Einführung, S. 275. 21 Schopenhauer, Satz vom Grunde, S. 67. 22 Kruse, Erkenntnis, S. 112.
2. Kap.: Entstehung von Bewußtseinsinhalten
13
nehmen wir die einzelnen Striche als vier Strichpaare wahr 23 • Diese und andere Strukturen lassen uns die Gegenstände stets als Bedeutsamkeitsganze wahrnehmen, wie insbesondere das sog. Prinzip der Kontinuität erkennen läßt: in Wirklichkeit nicht geschlossene Gestalten werden dennoch als geschlossene Gestalten wahrgenommen, wie an dem abgebildeten an zwei Stellen unterbrochenen Dreieck deutlich wird:
Die Existenz der Strukturen in der Wahrnehmung tritt bei der sog. optischen Täuschung besonders deutlich hervor: zwei gleichgroße Kreise werden deutlich als verschieden groß wahrgenommen, wenn der eine von einem größeren umgeben wird, in den anderen aber ein kleinerer Kreis hineingezeichnet wird24 •
Auf eine nähere Untersuchung der einzelnen Gestaltprinzipien kann hier verzichtet werden; für unsere Zwecke genügt es, das Gestaltprinzip dargetan zu haben25 • Die auf der untersten Stufe des sinnlichen Bemerkens empfangenen Eindrücke sollen in dieser Eigentätigkeit deshalb nur als Wahrnehmungsart, nicht aber als - bloß sensorische - Empfindungen bezeichnet werden. Abgesehen davon, daß es äußerst schwierig ist, zwischen Empfindung und Wahrnehmung sinnvoll zu unterscheiden, so bedeutet doch Wahrnehmung eine gegenüber der Empfindung umfassendere und aktiv gestaltetende Funktion des Körpers, in die die 23 Lersch, Aufbau, S.373; Strukturierung nach dem Prinzip der Nähe: Correll, Einführung, S. 275. 24 Vgl. dazu Lersch, S. 374 f.; Correll, S. 276 ff. 25 Vgl. auch Kruse, S. 115.
14
i. Buch, 1. '1'.: Grundlegung: Irrtumsbegriff
sensorische Empfindung allerdings zentral einzubeziehen istI!. Lersch nennt daneben noch den weiteren selbständigen Faktor des von ihm so genannten Konstanzphänomens27 , das vor allem deswegen bemerkenswert erscheint, weil es ebenfalls bereits von Schopenhauer aufgefunden wurde28 : ein Mensch, der sich von uns entfernt, wird z. B. in der Entfernung von 1,50 mund 4,50 m in der gleichen Größe wahrgenommen, obgleich das Abbild dieses Menschen auf unserer Netzhaut aus der Entfernung von 4,50 m um ein Drittel kleiner ist als aus der geringeren Entfernung. Für unsere Zwecke aber enthält dieses Konstanzphänomen nichts wesentlich neues: es unterstützt nur das bereits bekannte Ergebnis, daß unsere Wahrnehmungen bereits strukturiert sind. Die Strukturiertheit der Wahrnehmung ist nun ein Spezifikum der seelischen Vorgänge und nicht etwa von den begleitenden nervenphysiologischen und elektrischen Vorgängen abhängig, wie dies etwa früher behauptet worden istu . Natürlich können und sollen hier nicht fachpsychologische Streitfragen entschieden werden; dieser Streit ist indes für spätere spezifisch strafrechtliche Probleme von Bedeutung. Wären nämlich die die Wahrnehmung konstituierenden Strukturen bloße physiologische oder gar physische Erscheinungen, so hätte der Mensch kaum einen nennenswerten Einfluß auf die Bildung und die Wirksamkeit der gestaltenden Prinzipien - eine Folge, die für die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht ohne Bedeutung sein kann. Der erwähnte Streit der Psychologen ist indes - für die Strafjuristen glücklicherweise - weitgehend überwunden. Es ist längst nachgewiesen, daß die konkrete Wahrnehmung sehr stark von der jeweiligen Einstellung abhängt, in der sich der wahrnehmende Mensch befindet30 • Ob in
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27 28 29
Graumann, Handwörterbuch, S. 1032. Aufbau, S. 394 fi. Satz vom Grunde, 4. Kapitel, S. 21, S. 82 f. Vgl. dazu Lersch, S. 377.
2. Kap.: Entstehung von Bewußtseinsinhalten
15
der oben abgebildeten Figur eine weiße Becherjigur auf schwarzem Grund oder ein schwarzes Doppelprofil auf weißem Hintergrund gesehen wird, hängt allein von der Einstellung des Wahrnehmenden ab, der auch durch willkürliche Änderung seiner Aufmerksamkeit die eine oder die andere Wahrnehmung bei sich hervorrufen kann. Auch die Erwartung des Wahrnehmenden beeinfiußt die Wahrnehmung selbst: In einem zweideutigen Vexierbild (das die Abbilder einer jungen Dame und einer alten Frau in sich vereinigt) wird jeweils das Bild wahrgenommen, das dem Wahrnehmenden vorher gezeigt wurde. Wurde ihm zunächst das - eindeutige - Abbild der alten Frau gezeigt, so erwartete er dieses Bild auch in dem zweiten ihm vorgelegten Vexierbild; er nahm nur die alte Frau wahr (bzw. umgekehrt); er sieht also, was er erwartete31 • Schon damit wird hinreichend deutlich, daß die Wahrnehmung eine seelische Eigentätigkeit des Subjektes mindestens mitenthält und keineswegs einen bloßen "fotografischen Prozeß"3! darstellt, auch dies eine Entdeckung, die wir bereits Schopenhauer verdanken, der in einer durch das ihm damals allgemein entgegengebrachte Unverständnis bedingten besonders temperamentvollen Weise an einer Fülle erstaunlich genauer Beobachtungen darlegte, daß die empirische Anschauung "in der Hauptsache das Werk des Verstandes" ist33. Diese Eigentätigkeit ist die sog. willkürliche AufmerksamkeW', auf die später noch näher eingegangen werden muß. Vorerst soll damit die Betrachtung der ersten Stufe der Wahrnehmung, das sinnliche Bemerken, abgeschlossen werden. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß zur Wahrnehmung auf dieser Stufe bereits eine selbständige Tätigkeit des wahrnehmenden Subjektes erforderlich ist, die den Empfindungen der Sinnesorgane die zur Wahrnehmung erforderliche Struktur verleiht3S : mit Recht stellt Kruse fest, daß wir ohne diese Eigentätigkeit des Bewußtseins nicht sinnlich empfinden, nicht wahrnehmen können36• Graumann37 spricht hier von "Wahrnehmungsdetermination ". 30 Vgl. z. B. Rohracher, Einführung, S. 303 f. 31 Correll, Einführung, S. 281 ff., 287 f. 32 Havemann, Dialektik, S. 44. 33 Satz vom Grunde, 4. Kapitel, § 21, S. 64, 67. 34 Correll, Einführung, S. 272; Lampe, Rechtsanthropologie, S.308; Lersch, Aufbau, S. 371. 35 Correll, S.272; Lampe, Rechtsanthropologie, S.309, spricht hier von einer "steuerbaren menschlichen Leistung"; vgl. auch Kühlwein, KritUt, S. 82; Tumlirz, Psychologie, S. 146 f. 36 Kruse, Erkenntnis, S. 114; diese Tätigkeit will Kruse - wie oben gezeigt, zu eng - mit Unterscheiden, Vergleichen und (S.147) dem Kausalprinzip bereits umfassend beschreiben; er sieht sie zudem - wie noch gezeigt werden wird, in übereinstimmung mit dem Text - auf allen Stufen der Wahrnehmung wirksam. 37 S.1037.
1. Buch, 1. T.:
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Grundlegung: Irrtumsbegriff
Zur Klarstellung sei hinzugefügt, daß damit keineswegs behauptet werden soll, das Wahrgenommene werde erst durch menschliche Tätigkeit strukturiert. Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die Objekte der Wahrnehmung denkunabhängig sind und daß ihnen eine vom wahrnehmenden Subjekt völlig unabhängige Struktur zukommt. Diese Frage, der wir an anderer Stelle nachgegangen sinds8, braucht hier jedoch nicht weiter erörtert zu werden. Entscheidend ist, daß die selbständige Struktur der Objekte der Wahrnehmung der eigenen, die Wahrnehmung ermöglichenden und die Sinnes empfindungen strukturierenden Tätigkeit des wahrnehmenden Objektes nicht entgegensteht. III. Bewußtseinsinhalte aufgrund vorstellenden Vergegenwärtigens a) Das vorstellende Vergegenwärtigen
Wenden wir uns nunmehr der zweiten Wahrnehmungsstufe, dem vorstellenden Vergegenwärtigen, zu. Als Vorstellungen bezeichnet Lersch Abbilder von Wahrnehmungen, die das sinnliche Erfahren symbolhaft darstellens9 • Ihnen fehlt die Leibhaftigkeit der Wahrnehmungen, sie werden nicht hier und jetzt als wirklich existierend empfunden, sondern als blasse Abbilder40 eines bereits sinnlich Wahrgenommenen41 oder einer antizipierten sinnlichen Wahrnehmung, etwa beim Lesen der Beschreibung noch nie gesehener Gegenstände42 •
Hamburger erblickt den Unterschied zwischen Vorstellung und Wahrnehmung darin, daß die Vorstellung stets als "Ganzgegebenheit" eines "zentralen Bewußtseinsinhalts" erscheine, während die Wahrnehmung höchstens Zusammenfassung einzeln unterscheidbarer Vorgänge sei43 • Lassen sich theoretisch so Wahrnehmungen von den Vorstellungen klar abgrenzen, so sind sie doch im wirklichen psychischen Geschehen untrennbar miteinander verknüpft. Die für die Wahrnehmung als konstitutiv herausgestellte Tätigkeit der willkürlichen Aufmerksamkeit bedient sich häufig der Vorstellungen. So wird die Erwartung des Wahrnehmenden sehr oft allein durch eine Vorstellung bestimmt - diese Vorstellung gewinnt damit Einfluß auf die Wahrnehmung selbst44 • Ganz allgemein kann gesagt werden, daß die Wahrnehmung in der Aufmerksamkeit eine vergleichende Tätigkeit ausübt: die Empfindungen werden mit bereits bekannten anderen Erscheinungen verglichen und als S8 S9 40 41 42 43
44
Wertungsprobleme, S. 15 ff. Aufbau, S. 437; Hehlmann, S. 519 f., Stichwort: Vorstellung. Rohracher, Einführung, S. 249. Erinnerungsgeschehen, vgl. Lersch, Aufbau, S. 403. Vorstellungsphantasie, vgl. Lersch, S. 420. Theorie, S. 155. Rohracher, Einführung, S. 338 ff.; Correll, Einführung, S. 288.
2. Kap.: Entstehung von Bewußtseinsinhalten
17
verschieden oder gleich erkannt. Diese anderen "Erscheinungen" können andere Empfindungen, Wahrnehmungen oder Urteile sein45, sind aber häufig Vorstellungen. Havemann spricht hier von "in unserem Zentrum gespeicherten abstrakten Gestalten", die vorliegen müssen, damit ein Gegenstand wahrgenommen werden kannu . Wiederum muß hier erwähnt werden, daß bereits Schopenhauer auch auf diesen Sachverhalt hingewiesen hat: er berichtet von einem spät operierten Blindgeborenen, der, als er "zum erstenmal sein Zimmer mit den verschiedenen Gegenständen darin erblickte", diese keineswegs sondern und unterscheiden konnte, sondern "nur einen Totaleindruck" hatte, "wie von einem, aus einem einzigen Stück bestehenden Ganzen: er hielt es für eine glatte, verschieden gefärbte Oberfläche". Erst der Tastsinn, dem "die Dinge schon bekannt" waren, mußte die einzelnen Gegenstände "dem Gesicht erst bekannt machen, gleichsam sie präsentieren und einführen"47. Die Vorstellung kann damit als eine zu einem Abbild verkürzte Wahrnehmung bezeichnet werden, die neue Wahrnehmungen regelmäßig beeinfiußt. Das vorstellende Vergegenwärtigen kann damW 8 nicht als eine gegenüber dem sinnlichen Bemerken höhere Wahrnehmungsstufe angesehen werden, sondern nur als die besondere Wahrnehmungsart, bei der Wahrnehmungen durch Vorstellungen beeinflußt werden. Vorstellendes Vergegenwärtigen und sinnliches Bemerken sind so eng miteinander verbunden". b) Die Bedeutung des vorsteHenden Vergegenwärtigens im Strafrecht
Die Bedeutung des sinnlichen Bemerkens für das Strafrecht wurde bereits oben mit dem Beispiel des einen Geldschein ertastenden Taschendiebs aufgezeigt. Dieses sinnliche Bemerken muß nicht notwendig in der Art des vorstellenden Vergegenwärtigens vor sich gehen. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, daß sich der Taschendieb einen Geldschein bestimmten Wertes bei seinen tastenden Bemühungen vorstellt - genau so gut ist es aber auch möglich, daß er allein auf die für Geldscheine typischen haptischen Empfindungen abstellt, ohne eine abstrakte Gestalt eines Geldscheines vorstellend zu vergegenwärtigen. Dieses Beispiel zeigt aber zugleich, daß vorstellendes Vergegenwärtigen für das Strafrecht ebenfalls von Belang sein kann: ganz deutlich wird dies im Fall des Jägers, der einen mit Buschwerk getarnten Treiber 45 Kruse, Erkenntnis, S. 114. 48
S.45.
47 Schopenhauer, Satz vom Grunde, 4. Kapitel, S. 21, S. 88 f" mit weiteren Beispielen. 48 Entgegen Lersch, Aufbau, S. 454. 4~ Lersch, S. 454, 400 f. 2 Gössel
1. Buch, 1. T.: Grundlegung:
18
Irrtumsbegriff
deshalb verletzt, weil sich bei dieser Erscheinung bei dem Jäger die Vorstellung einer den Busch bewegenden Wildsau einstellte und er deshalb nicht wahrnahm, auf einen Menschen zu schießen. IV. Bewußtseinsinhalte aufgrund denkenden Erfassens a) Strafrechtliche Bedeutung
Das Strafrecht interessiert sich aber nicht nur für die bisher dargelegten Wahrnehmungen. So hält Binding im Strafrecht die richtige Erkenntnis des Täters von der deliktischen Natur seiner Handlung für entscheidend, eine Erkenntnis, die für Binding "nie durch sinnliche Wahrnehmung gewonnen werden", sondern "immer" nur "richtige Schlußfolgerungen" aus bestimmten richtigen Erkenntnissen sein kann50 • Diese Äußerung Bindings darf nun keineswegs isoliert, sondern muß stets in dem Zusammenhang seiner Deliktslehre gesehen werden. Sie läßt jedoch bereits erkennen, daß im Strafrecht auch solche seelischen Prozesse von Bedeutung sein können, die über die bloße Wahrnehmung hinausgehen. über die Frage, ob ein Glücksspiel ohne behördliche Erlaubnis öffentlich abgehalten wird (§ 284 StGB), können die bisher dargelegten Wahrnehmungsprozesse keine Auskunft geben, ebensowenig darüber, ob bewirkt wurde, daß Verhandlungen, die für Rechtsverhältnisse von Erheblichkeit sind, in öffentlichen Urkunden wahrheitswidrig als geschehen beurkundet wurden (§ 271 StGB). Die zur Erkenntnis dieser Gegenstände führenden Prozesse sind die des denkenden Erfassens (Lersch).
b) Denkformen Das Denken wird als Umstrukturierung des Wahrnehmungsfeldes bezeichnet51 • Wahrnehmungen (einschließlich der Vorstellungen) werden vom Denken als Material benutzt, die wahrgenommene Wirklichkeit wird als "ein überschaubares und der Ordnung zugängliches Feld von Gegenständen" vor das Bewußtsein gebracht51 • Dabei ist das ausschließlich auf uns selbst bezogene sog. "autistische" Denken (z. B. Wunschdenken, Tagträumen) von dem stets auf die Realität bezogenen realistischen Denken zu unterscheiden53 • Für das Strafrecht können beide Formen von Bedeutung werden. Wird beim Dieb ein regelmäßig auf die Realität bezogenes realistisches Denken anzutreffen sein, so kann bei Sexualverbrechen die häufig verlangte sog. 50
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Normen III, S. 113. Correll, Einführung, S. 278; Lersch, Aufbau, S. 446. Lersch, S. 432. Correll, Einführung, S. 100 f.
2. Kap.: Entstehung von Bewußtseinsinhalten
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"wollüstige Absicht"54 als gewisse sexuelle Phantasie autistischer Natur sein. Allerdings wird in der Regel das realistische Denken für das Strafrecht von größerer Bedeutung sein. Hier sind verschiedene Vollzugsformen zu unterscheiden. Nach Correll sind deduktives (von zusammenfassendem Wissen ausgehend werden Einzelheiten gefunden), induktives (von realen Einzelgegebenheiten ausgehend wird ein zusammenfassendes Ergebnis gefunden) und wertendes Denkverfahren zu unterscheiden55. Die bei den ersten Denkformen können - für unsere Zwecke ausreichend - relativ einfach als die Modi des logischenSchließens bezeichnet werden; das wertende Denken betrifft die grundlegenden Vorgänge der Begriffsbildung und des Urteilens - die ihrerseits wiederum, wie noch gezeigt werden wird, mit deduktivem und induktivem Ableiten bzw. Schließen eng verbunden sind. c) Begriff, Vorstellung und Sprache
Nach Lersch bilden die Begriffe die Grundlage des denkenden Erfassens56 • Sie sind kurz als Zeichen für identische Erscheinungen zu definieren57 . Darin scheint ein Widerspruch zu liegen: wenn von mehreren Erscheinungen die Rede ist, müssen sie doch zumindest zeitlich oder örtlich verschieden, also gerade nicht identisch sein. Havemann bezeichnet die überwindung dieses Gegensatzes als den Salto mortale, mit dem sich das Denken in die Ebene der Bewußtheit erhebt58. Alle einzelnen Erscheinungen weisen bestimmte Merkmale auf, die bei bestimmten Gruppen von Erscheinungen identisch sind: so sind zwar alle Menschen und auch alle Flüsse untereinander und jeder Mensch und jeder Fluß in jedem Entwicklungszustand in bezug auf andere Entwicklungszustände von sich selbst verschieden, in bestimmter Abstraktheit aber identisch: niemand steigt zweimal in den gleichen Fluß, und doch bleiben Mensch und Fluß identisch. Die einer Gruppe von Erscheinungen jeweils wesentlich zukommenden Merkmale werden im Begriff als Zeichen dieser Erscheinung abstrahiert. Damit ist geklärt, daß Begriffe von Vorstellungen notwendig verschieden sind, da Vorstellungen Abbilder bestimmter Einzelerscheinungen sind. Gleichwohl können Vorstellungen bei der Begriffsbildung eine Rolle spielen59 . Lersch nimmt sogar ein Fundierungsverhältnis an: bevor ein 64
55 56 57 58 59
Vgl. Maurach, BT, S. 428. Correll, S. 101 f. Aufbau, S. 437. Vgl. Rohracher, Einführung, S. 324. Dialektik, S. 49. Correll, Einführung, S. 92.
1. Buch, 1. T.: Grundlegung:
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Irrtumsbegriff
abstraktes Zeichen gebildet werden könne, müßten mindestens zwei Erscheinungen miteinander verglichen werden, und dazu seien Einzelvorstellungen erforderlich60. Obwohl diese Ansicht nur wenig überzeugt, braucht ihr für unsere Zwecke nicht näher nachgegangen zu werden: entscheidend ist, daß jedenfalls Vorstellungen bei der Begriffsbildung eine Rolle spielen können. Nicht unerwähnt bleiben soll der besondere Einfluß der Sprache auf das Denken, insbesondere auf die Begriffsbildung. Whorf hat insbesondere am Beispiel der Indianersprachen im Verhältnis zu den europäischen Sprachen nachgewiesen, daß verschiedene linguistische Systeme (z. B. die drei kausale Prozesse unterscheidende Sprache der Coeur d'Alene-Indianer 81 ) notwendig zu völlig verschiedenen Weltbildern und damit zu völlig verschiedenen Begriffen kommen62 ; wenn dennoch türkische oder japanische Wissenschaftler die gleichen Termini wie die Angehörigen des indogermanischen Sprachkreises verwenden, so bedeutet dies nur, daß sie das gesamte System "in toto übernommen haben"63. Diesem Einfluß braucht jedoch nicht näher nachgegangen zu werden. Festzuhalten ist lediglich, daß Sprache einen Einfluß auf das begriffliche Denken hat; da in einer Rechtsgemeinschaft gemeinhin die gleiche Sprache gesprochen wird, kann dieser Einfluß nur dann ~ine Rolle spielen, wenn ein Angehöriger eines anderen Sprachkreises mit der deutschen Rechtsordnung in Konflikt gerät. Begriffe setzen aber keineswegs notwendig Sprache voraus: bei kleinen Kindern, die noch keine Sprache entwickelt haben, läßt sich bereits "ein primitives Verständnis der Bedeutung einer Art Kausalität" feststellen64 • d) Urteil, Schluß und Folge
Wurde oben der Begriff als Zeichen für identische Erscheinungen definiert, so werden im Denken Beziehungen zwischen diesen Erscheinungen hergestellt: es wird geurteilt65 • Lersch kennt zwei Arten von Urteilen. Einmal das Urteil als Bezeichnung einer Beziehung zwischen Gegenständen, kurz eines Sachverhaltes, zum anderen Schlüsse und Folgerungen, die Beziehungen zwischen Sachverhalten bezeichnen. Damit erhellt die besondere Bedeutung der 60 Aufbau, S. 439 f. 61 Whorf, Sprache, S. 69. 6!
S. 12 fi., 44.
Whorf, S. 13. 64 Correll, Einführung, S. 93,102. 85 Wie schon bisher, so interessiert auch hier voraussetzungsgemäß allein das psychische Zustandekommen der an dieser Stelle behandelten Bewußtseinsinhalte aufgrund denkenden Erfassens, so daß andere Bedeutungen von "Urteil" usw. (etwa die ideelle und signitive Bedeutung, die ontische Bezugssphäre bei Emge, Rechtsphilosophie, Ein!., S. 16 ff., 18, 22, 24) hier außer Betracht bleiben. 63
2. Kap.: Entstehung von Bewußtseinsinhalten
21
Begriffsbildung für das denkende Erfassen. Wird im Urteil eine Beziehung zwischen Gegenständen ausgesagt, so wird sie damit festgestellt. Damit ist das Urteil nichts anderes, als die Feststellung eines Sachverhalts, wie der Begriff die Feststellung einer Sache ist - Schluß und Folgerung sind gegenüber dem einfachen Urteil lediglich eine inhaltlich erweiterte Feststellung4l6 • Die Grundform des Denkens ist demnach die Begriffsbildung - Urteil und Schließen sind inhaltlich erweiterte Formen der Begriffsbildung. Die Auffassung von Tumlirz 67 , das Urteil stehe "im Mittelpunkt des Denkens", steht dem nur scheinbar entgegen: da jedes Urteil zugleich begriffsbildender Natur ist, bezeichnet Tumlirz 68 auch die Vorgänge der Begriffsbildung als "Urteilen". Deshalb kann Denken durchaus auch, wenngleich ungenauer, als Urteilen bezeichnet werden69 • V. Das Verhältnis der drei Stufen untereinander
In den Formen des sinnlichen Bemerkens, des vorstellenden Vergegenwärtigens und des denkenden Erfassens sieht Lersch eine von unten nach oben führende Stufenfolge des "Weltinnewerdens" bei dem die jeweils niedrigere die höhere Stufe fundiert 70 • Da jedoch auch Lersch Vorstellungen konstitutiven Einfluß auf das sinnliche Bemerken einräumt71 , erscheint ein solches Fundierungsverhältnis mindestens fragwürdig. Für unsere Zwecke kann diese Frage jedoch dahingestellt bleiben. Entscheidend ist, daß alle genannten Erkenntnisformen miteinander verflochten sind72 • Das gilt nicht nur, wie bereits dargelegt, hinsichtlich der Bedeutung der Vorstellungen für das sinnliche Bemerken und das denkende Erfassen. Eine derartige Verflechtung besteht auch zwischen denkendem Erfassen und sinnlichem Bemerken. Oben wurde bereits dargelegt, daß die Wahrnehmung in der Aufmerksamkeit eine vergleichende Tätigkeit zwischen den gerade wahrgenommenen und den schon bekannten Erscheinungen ausübt: diese bekannten Erscheinungen können ebenso wie Vorstellungen auch Begriffe wie Urteile sein73 • Fließen so in das sinnliche Bemerken Vorstellungen wie Begriffe ein, so gehen umgekehrt in Begriffe und Urteile Wahrnehmungen ein, die ihrerseits wieder von Begriffen beeinflußt sein können - aufgrund der Erwartungen des Wahrnehmenden häufig genug von den Begriffen, die aufgrund der Wahrnehmungen dann gebildet werden: eine häufige Irrtumsquelle. 66 67 68 69 70 71
72 73
Lersch, Aufbau, S. 442 f. Psychologie, S. 161. S.162. So Ernst Wolf, AcP Bd. 170, S. 211. Aufbau, S. 433 ff. S.454. Vgl. Rohracher, Einführung, S. 299 f. Lersch, S. 455; Kruse, Erkenntnis, S. 114,
3. Kapitel
Die Bestimmung des für das Strafrecht geltenden Irrtumshegrifls Die Erörterung des Entstehens von Bewußtseinsinhaltell soll damit abgeschlossen werden. In einer gewissen groben, für unsere Zwecke aber zureichenden Art wissen wir nun, wie Bewußtseinsinhalte entstehen, wie bewußte Erkenntnis möglich wird. Damit ist zugleich eine wichtige Vorfrage entschieden: wissen wir, wie bewußte Erkenntnis überhaupt möglich ist, so können wir auch entscheiden, in welchen Fällen diese Erkenntnis fehlerhaft oder sogar abwesend ist. Hier könnte nun eingewandt werden, die Bedeutung unbewußter Vorgänge für Wahrnehmung und denkendes Erfassen74 sei verkannt worden. Dieser Aspekt wurde jedoch - wie oben (A) bereits angekündigt bewußt vernachlässigt. Voraussetzungsgemäß soll der Anwendungsbereich des Begriffs "Irrtum" auf die bewußten seelischen Vorgänge beschränkt bleiben. Für die Untersuchung des Irrtums in diesem Bereich genügt die Kenntnis der Faktoren und Vorgänge, die die bewußte Erkenntnis begründen: ob sie selbst bewußter oder unbewußter Natur sind (z. B. die die Wahrnehmung mitbegründenden Gestaltprinzipien), ist für die Entstehung der bewußten Erkenntnis selbst unerheblich, kann allerdings möglicherweise als Ursache eines fehlerhaften Bewußtseinsinhalts für das Maß der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Bedeutung sein. I. Die formale Einteilung der Irrtumsarten
Bereits oben wurde der Irrtum als-relative-Nichtübereinstimmung von bewußtem Erkennen und Objekt definiert. Die Art der Nichtübereinstimmung kann nun sehr verschieden sein. Der häufigste Fall wird der sein, daß ein Objekt nicht als das erkannt wird, was es ist: daß es mit einem anderen Objekt verwechselt wird (Baumstumpf statt Mensch), daß sein Zustand (eines der an einem Unfall beteiligten Kraftfahrzeuge wird als fahrend erkannt, während es in Wahrheit am Straßenrand abgestellt war) oder sonst seine Eigenschaften (der kleine und schmächtige Täter wird als "Kleiderschrank" wahrgenommen) nicht so wahrgenom74
Vgl. z. B. Correll, Einführung, S. 119.
3. Kap.: Strafrechtlicher Irrtumsbegriff
23
men werden, wie sie der Wirklichkeit entsprechen. Bewußtseinsinhalt und Realität stimmen aber auch in den beiden Extremfällen nicht überein, in denen etwas real nicht Vorhandenes wahrgenommen wird (so bei Sinnestäuschungen und Halluzinationen - hier wird allerdings zumeist der Fall der Objektsverwechselung vorliegen) oder aber etwas real Vorhandenes nicht wahrgenommen wird. Demnach können die Irrtumsfälle unter einem ersten Gesichtspunkt bereits formal eingeteilt werden75 : 1. Das Wahrgenommene ermangelt ganz oder teilweise einer realen Grundlage außerhalb des Subjektes und 2. reales Geschehen wird ganz oder teilweise nicht bemerkt.
Diesem Ergebnis steht nun allerdings die auch bei anderen Schriftstellern anzutreffende Behauptung von Arthur Kaufmann entgegen, bloßes Nichtwissen oder Nichtkennen sei kein Irrtum, weil für den Begriff des Irrtums eine aktuelle Vorstellung wesentlich seF8. Wie die bisherige Darlegung schon erkennen läßt, ist nun eine aktuelle Vorstellung für den Begriff des Irrtums keineswegs wesentlich - zu dieser Behauptung soll aber erst endgültig Stellung genommen werden, nachdem auch die materiale Struktur des Irrtums näher beleuchtet wurde. 11. Materiale Irrtumsarten
Wird der Irrtum als fehlerhafter Bewußtseinsinhalt definiert, so muß zur Klärung der Frage nach dem Wesen des Irrtums untersucht werden, wie denn überhaupt bei der Bildung von Bewußtseinsinhalten Fehler auftreten können und welcher Art sie sind. a) Fehlerhafte sinnliche Empfindung
Auf der Stufe des sinnlichen Bemerkens treten uns als erste Fehlerquellen bereits die Sinnesorgane selbst entgegen. Es ist ohne weiteres einsichtig, daß unheilbar zerstörte oder gar nicht erst ausgebildete Sinnesorgane bestimmte Wahrnehmungen gar nicht entstehen lassen: der Taube kann die bloße mündliche Aufforderung, sich zu entfernen (§ 116 StGB a. F.) gar nicht wahrnehmen. Häufiger sind jedoch Funktionsstörungen der Organe, die eine der Wirklichkeit nicht entsprechende Wahrnehmung zustande kommen lassen. Wie Lersch hervorhebt, wird das, was als Form bezeichnet wird, stets durch "Farben konturiert und herausgehoben"77; der Farbenuntüchtige wird daher bestimmte Formen gar nicht wahrnehmen und deswegen das erhaltene Falschgeld mög75 Vgl. Maurach, AT, S. 271 f. 76 Unrechtsbewußtsein, S. 77. 77 Lersch, Aufbau, S. 374,
1. Buch, 1. T.:
24
Grundlegung: Irrtumsbegriff
licherweise nicht als solches erkennen, der farbenuntüchtige Jäger den roten Hut des Treibers mit dem grün belaubten Busch verwechseln und also den Treiber anstelle des Wildes treffen.
b) Fehlerhafte eigene Wahrnehmungstätigkeit Als nächste Fehlerquelle kommen die für die Wahrnehmung konstitutiven Gestaltprinzipien in Betracht. Hier sind zunächst die Prinzipien zu erwähnen, die nach den bisherigen Erfahrungen der Psychologie offenbar bei der Wahrnehmung eines jeden Menschen eine Rolle spielen: hier ist an die oben beschriebenen optischen Täuschungen zu erinnern, die jeden Menschen das Objekt anders sehen lassen, als es in Wahrheit beschaffen ist. Das kann z. B. dann strafrechtlich bedeutsam werden, wenn ein Jäger unbedenklich auf den gut getarnten Treiber schießt, weil er ihn aufgrund des o. e. Konstanzprinzips für einen Teil des Busches hält, hinter dem der Jäger das Wild vermutet. In der Regel wird diese Art der fehlerhaften Wahrnehmung mit der vorhergehend erwähnten Art eines gemeinsam haben: regelmäßig wird eine derartige fehlerhafte Wahrnehmung nicht vorgeworfen werden können. Wer keine oder nur eingeschränkt funktionsfähige Sinnesorgane besitzt, konnte die fehlende oder fehlerhafte Wahrnehmung ebensowenig vermeiden, wie auch alle übrigen Menschen wegen der Wirksamkeit bestimmter Gestaltprinzipien mit der Realität nicht übereinstimmenden Wahrnehmungen häufig gar nicht entgehen können. Wie das Beispiel aber zeigt, ist es indes nicht stets ausgeschlossen, solchen Täuschungen zu entgehen. Das zeigt sich insbesondere auch bei anderen das sinnliche Bemerken beeinflussenden Prinzipien. Wird die Wahrnehmung von einer bestimmten Erwartung (aufgrund der Einstellung78 , z. B. der Erwartung und des Wunsches, die Wildsau endlich vor die Flinte zu bekommen, erscheint der gut getarnte Treiber dem Jäger als das gesuchte Wild) oder von einem bestimmten Zustand, etwa dem gesteigerter Müdigkeit, negativ beeinflußt, so ist jedenfalls die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß der Wahrnehmende die daraus resultierende fehlerhafte Wahrnehmung vermeiden konnte (Entsprechendes gilt bei Rot-Grün-Blindheit): ob deswegen allerdings auch strafrechtliche Verantwortlichkeit zu bejahen ist, ist freilich eine andere Frage, der an dieser Stelle nicht nachzugehen ist: hier sollen lediglich die möglichen Fehlerarten herausgestellt werden. c) Fehlerhafte Vorstellungen
Die mögliche Fehlerhaftigkeit von Vorstellungen leuchtet leicht ein. Nur allzu häufig werden im Bewußtsein recht ungetreue Abbilder der Realität gebildet: sehr oft kann man bei erneuter Betrachtung über78
Rohracher, Einführung, S. 338 ff.
3. Kap.: Strafrechtlicher Irrtumsbegriff
25
rascht feststellen, daß Vorstellungen über bestimmte Bauwerke oder Gemälde nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen; ähnliches gilt für die akustischen Vorstellungen bestimmter Melodien. Strafrechtlich kann diese Erscheinung z. B. dann von Belang werden, wenn der Täter etwa eine seltene und geschützte Alpenblume pflückt, die nach seiner Vorstellung eine stark verbreitete Wiesenblume ist, also mit seiner Vorstellung der in Wirklichkeit gepflückten Alpenblume nicht übereinstimmt (Art. 5, 23 BayNatEG v. 29. Juni 1962 - GVBl. S. 95). Dieses Beispiel zeigt sogleich, daß auch bei fehlenden Vorstellungen die Wahrnehmung jedenfalls dann fehlerhaft sein wird, wenn sie zur Erkenntnis dieses Gegenstandes notwenig sind: das typische pfeifende Geräusch der im Luftkrieg verwendeten schweren Bomben wird von demjenigen in seiner Bedeutung nicht erkannt werden, der von diesem Geräusch keine Vorstellung hat (und sich, etwa wegen der herrschenden Dunkelheit, die Bedeutung auch nicht durch sichtbare Vorgänge erschließen kann). Lersch weist im Bereich des vorstellenden Ver gegenwärtigens auf die recht häufigen Erinnerungsstörungen und Erinnerungstäuschungen hin. Er berichtet über jede neue Idee ablehnende Gelehrte, die diese neuen Ideen unbewußt verarbeiten und sie denen als eigene Gedanken anbieten, die sie zuerst ausgesprochen haben79 • Zu dem Kreis der Erinnerungsstörungen sind ferner die physiologisch bedingten oder auch psychogenen Erinnerungsausfälle (Amnesien) zu rechnen80 • Als Beispiel der Erinnerungstäuschung weist Lersch in einer für den Juristen besonders überzeugenden Weise auf Zeugenaussagen hin: insbesondere dann, wenn die wirkliche Rolle des Zeugen nicht mit der übereinstimmte, die er seinem Selbstgefühl nach hätte spielen sollen, wird die ursprüngliche abbildhafte Vorstellung des betreffenden Vorganges in einer dem wirklichen Vorgang nicht entsprechenden Weise gebildet oder nachträglich verändert81 - eine Erscheinung, die Rohracher mit der Wirkung der "Einstellung" des Wahrnehmenden überzeugend erklärt82• Auch hier gilt wieder, daß die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß die fehlerhafte oder fehlende Vorstellung und damit die fehlerhafte Wahrnehmung vom Wahrnehmenden zu verantworten ist (anders natürlich bei den erwähnten Amnesien). d) Fehlerhaftes denkendes Erfassen
Die Fehlerquellen im Bereich des denkenden Erfassens sind so allgemein bekannt, daß sie nur kurz zu erwähnen sind: Begriffe begreifen 79
80 81 82
Lersch, Aufbau, S. 416. Lersch, S. 417. S.419. Einführung, S. 338 ff.
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1. Buch, 1. T.: Grundlegung: Irrtumsbegriff
ihren Gegenstand ganz oder teilweise falsch, Urteile werden ganz oder teilweise fehlerhaft gefällt - Schlüsse und Folgerungen sind ganz oder teilweise verfehlt. In § 303 StGB kann der Begriff "beschädigen" fälschlich allein als Substanzverletzung begriffen, eine falsche Aussage vor Gericht entgegen der Wirklichkeit als wahr beurteilt und aus mehreren Sicherungsübereignungen des gleichen Gegenstandes ein falscher Schluß hinsichtlich der Eigentumslage gezogen werden. Wie schon in den vorigen Fällen, so besteht auch hier die Möglichkeit, daß die fehlerhafte Erkenntnis vermeidbar und vorwerfbar war - aber auch umgekehrt muß hier auf die Möglichkeit der Unvermeidbarkeit (dem Urteilenden sind die notwendigen Fakten nicht mitgeteilt worden) der fehlerhaften Erkenntnis hingewiesen werden. e) Zusammenfassung
Nach der formalen ist nunmehr auch eine materiale Einteilung der Irrtumsfälle möglich. Die Nichtübereinstimmung von Bewußtseinsinhalt und realem Objekt kann beruhen: 1. auf nicht (fehlenden) oder
Sinnensorganen ;
nur eingeschränkt funktionsfähigen
2. auf den die Wahrnehmung mitkonstituierenden Gestaltprinzipien; 3. auf den die Wahrnehmung konstituierenden Zuständen (Einstellungen), in denen sich das Subjekt befindet: auf der als "willkürliche Aufmerksamkeit" bezeichneten Tätigkeit des Subjekts; 4. auf fehlenden oder fehlerhaften Vorstellungen; 5. auf fehlenden oder fehlerhaften Begriffen, Urteilen, Schlußfolgerungen. Bereits oben wurde aufgezeigt, daß nicht nur fehlerhafte Begriffe, Urteile und Schlüsse (Nr.5), sondern alle aufgezeigten Fehler strafrechtlich durchaus von Belang sein können:. daß er auf einen Menschen (Tatumstand des § 212 StGB) schießt, kann dem Jäger z. B. aus einem unter Nrn. 1- 3 aufgeführten Gründen unbekannt gewesen sein; daß eine Alpenblume verbotswidrig gepflückt wurde, kann dem Täter aufgrund fehlerhafter Vorstellungen unbekannt geblieben sein. Damit erweist sich die schon 1904 von August Köhlers' vorgenommene Einteilung der Irrtumsfälle als berechtigt, der die Irrtumsobjekte in historische Außenweltereignisse (= Fehler bei sinnlicher Wahrnehmung) und in Begriffe schied; leider ist er dieser Einteilung als "wohl undurchführbar" nicht weiter nachgegangen84 • 83
M
Köhler, Rechtsirrtum, S. 16. Köhler, ebd.; ähnlich auch Kahn, Rechtsirrtum, S. 26 f.
3. Kap.: Strafrechtlicher Irrtumsbegriff
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Damit zeigt sich bereits, daß die o. a. Auffassung von Arthur Kaufmann, dem Irrtum sei eine aktuelle Vorstellung wesentlich8S , zu eng ist. Wie soeben gezeigt wurde, ist der Irrtum im gesamten Bereich der bewußten Erkenntnis für das Strafrecht von Bedeutung. Indes kann deswegen Arthur Kaufmann und den übrigen Autoren, die ebenfalls dieser Meinung sind88 , nicht mehr als ein bloß ungenauer Sprachgebrauch vorgeworfen werden. Es wäre völlig verfehlt, den genannten Autoren unterstellen zu wollen, sie berücksichtigten nur irrige Vorstellungen im Strafrecht zugunsten des Täters, nicht aber auch Begriffe, Urteile und Schlußfolgerungen87 - das ist so offenkundig, daß es näheren Nachweises nicht bedarf. In Wahrheit benützen diese Autoren den Begriff" Vorstellung" als Zeichen für jede bewußte Erkenntnis. III. Definition des Irrtums
Oben - A - wurde der Irrtum aufgrund des Dualismus SubjektObjekt unabhängig von strafrechtlichen Erfordernissen als fehlerhafter, d. h. mit seinem Objekt nicht übereinstimmender Bewußtseinsinhalt definiert. Die psychologische Untersuchung ergab dann, daß alle psychisch aufweisbaren Fälle des zunächst vorstrafrechtlichen Irrtumsbegriffs auch für das Strafrecht von Belang sind. Daher ist es gerechtfertigt - hier dürfen wir uns sogar auf Karl Binding berufen _88, den psychologischen Irrtumsbegriff auch für das Strafrecht zu übernehmen und ihn kurz als fehlerhaften Bewußtseinsinhalt zu bestimmen. Somit können weitere als die soeben herausgestellten Merkmale des Irrtums nicht am:!rkannt werden. IV. Ablehnung entgegenstehender Auffassungen
a) Ober das Erfordernis eines Wahrheitsbewußtseins Insbesondere erfordert der strafrechtliche Irrtum kein besonderes Wahrheitsbewußtsein. Lerch meint allerdings, ein fehlerhaftes Urteil allein könne deswegen noch kein Irrtum sein, weil es in voller Kenntnis Unrechtsbewußtsein, S. 77. z. B. Frank, Anm. VII zu § 59 StGB; Dreher, Anm. II C zu § 59 StGB: "Der Mensch erlebt die Welt nur in seiner Vorstellung"; Wesseis, AT, S.69; Max-Ernst Mayer, AT, S.315: Kern des Irrtums ist stets eine Differenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S.302. 87 Vgl. Arthur Kaufmann, Unrechtsbewußtsein, S. 79. 88 Binding, Normen III, S. 112: "So wenig nun die Rechtswissenschaft Psychologie als solche zu pflegen hat, so sicher ist doch, daß die klare Erkenntnis der Seelenvorgänge, auf welche hin die Menschen in rechtlich bedeutsamer Weise handelnd werden, zur Klärung der Handlungserscheinungen selbst wesentlich beiträgt." 85
88
1. Buch,!.
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T.: Grundlegung: Irrtumsbegriff
seiner Unrichtigkeit gefällt werden könne: zum positiven Urteil müsse deshalb ein psychisches Wahrheitsbewußtsein hinzutreten89 • Diese Auffassung kann jedoch nicht geteilt werden: entscheidend ist allein, ob der bewußt Erkennende den Gegenstand - relativ - zutreffend erkannt hat oder nicht. Ob diese Erkenntnis von dem Meta-Urteil der Richtigkeit oder Unrichtigkeit begleitet war, ist unerheblich. Im übrigen liegt bei einem "in voller Erkenntnis seiner Unrichtigkeit" gefällten Urteil 90 deswegen kein Irrtum vor, weil das klar bewußt als falsch erkannte Urteil die mit der Realität übereinstimmende bewußte Erkenntnis voraussetzt. Wie Whorf nachgewiesen hat, ist eine Regel nur aufgrund ihrer Ausnahme erkennbar: ein physikalisch unvorgebildeter Mensch hat vom Schwerkraftgesetz keinerlei Bewußtsein81 • Wie nun die Regel nur an ihrer Ausnahme erkannt werden kann, so auch ein fehlerhaftes Urteil nur am Gegenteil der Wahrheit. Soweit das Urteil bewußt als falsch erkannt wird, soweit wird auch erkannt, warum es als falsch anzusehen ist: das aber bedingt wiederum die bewußte Erkenntnis des Richtigen. b) Ober fehlende Bewußtseinsinhalte
Mit Hilfe des psychologischen Irrtumsbegriffs kann ferner die im strafrechtlichen Schrifttum umstrittene Frage geklärt werden, ob auch fehlende Bewußtseinsinhalte Irrtum im strafrechtlichen Sinne heißen können. Bereits oben wurde nachgewiesen, daß auch fehlende Erkenntnis eine Nichtübereinstimmung zwischen bewußter Erkenntnis und Erkenntnisobjekt ist, ferner, daß auch die fehlende bewußte Erkenntnis im Strafrecht von Belang ist. Wer für den Irrtum eine aktuelle Vorstellung wesentlich hält, kommt nun aufgrund der darin liegenden unscharfen sprachlichen Bezeichnung auch bei der materialen Erfassung des Irrtums in Schwierigkeiten. Nimmt man das Wort "Vorstellung" im exakten psychologischen Sinn, so ist die Aussage von Arthur Kaufmann, "wer sich keine Vorstellung macht, irrt nicht"92, unzutreffend: oben wurde gezeigt, daß Vorstellungen Teil des Wahrnehmungsprozesses sein können und daß ihr Fehlen deshalb allerdings fehlerhafte Wahrnehmungen zur Folge haben kann. Anders ist es natürlich, wenn anstelle des Wortes "Vorstellung" die Bezeichnung "bewußte Erkenntnis" gesetzt wird, die wohl den von Arthur Kaufmann gemeinten Gegenstand bezeichnet. Dann ist es 89 90 91
92
Lerch, Rechtsirrtum, S. 7. Lerch, S. 7. Whorf, Sprache, S. 8 f. Unrechtsbewußtsein, S. 77.
3. Kap.: Strafrechtlicher Irrtumsbegriff
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jedenfalls auf den ersten Blick einleuchtend zu sagen, wer gar nicht zu bewußter Erkenntnis gelangt ist, der ist auch nicht zu einer fehlerhaften Erkenntnis gelangt. Eine solche Argumentation wäre indes zu eng. Sie beruht auf der rein formalen Betrachtung, die den Irrtum auf etwas im Bewußtsein Vorhandenes beschränkt. Dieser Beschränkung leistet allerdings die Verwendung des Wortes "Vorstellung" Vorschub, das eben seine wirkliche Bedeutung nicht verleugnen kann und so den Irrtum formal an existierende Bewußtseinsinhalte bindet. Der gleichen formalen Beschränkung des Irrtumsbegriffs verfällt Lerch, wenn er den Irrtum als konkreten Urteilsakt ansieht und nun natürlich in der Unwissenheit keine Gemeinsamkeiten, "weder in der logischen noch in der psychologischen Sphäre", mit dem Irrtum entdecken kann93 • Zu einem ähnlichen Ergebnis wie Arthur Kaufmann kommen naturgemäß alle Schriftsteller, die den Irrtum als Vorstellung ansehenD'. Interessant ist die Stellungnahme von HeZlmuth Mayer hierzu: er erkennt die Ungenauigkeit der zu dem eingeschränkten Irrtumsbegriff führenden Bezeichnungen, lastet sie aber der Bezeichnung "Irrtum" und nicht, wie es nach dem vorstehend Erkannten richtig gewesen wäre, der Bezeichnung "Vorstellung" an95 • Es finden sich jedoch im Schrifttum eine Reihe von Autoren, die sich von dem falsch gewählten Ausdruck "Vorstellung" nicht formal einschränken lassen und demgemäß dennoch zu einer materiellen Bestimmung kommen: so stellt Roeder allein darauf ab, ob der Bewußtseinsinhalt "der objektiven Sachlage nicht entspricht"DO, wie es ebenso auch Maurach87 und Dreher98 tun. Nach unserer Auffassung ist es nicht gerechtfertigt, den Irrtum an formal existierende Bewußtseinsinhalte zu binden. Oben wurde bereits dargelegt, daß der Irrtum psychologisch als Nichtübereinstimmung von Realität und Bewußtsein zu verstehen ist. Dieser weit gefaßte - materiale - Irrtumsbegriff erfaßt sowohl fehlerhafte wie fehlende bewußte Erkenntnis. Der von Lerch behauptete Gegensatz 99 existiert nicht: denn Lerch, S. 10. Köhler, AT, S. 290; Frank, Anm. VII zu § 59 StGB; Baumann AT, S.394; Schönke - Schröder, Randnr.122 zu § 59 StGB; Hardwig, GA 1956, 369; Olshausen, Anm. B 7 zu § 59 StGB; Mezger, Lb., S.305; ferner alle sonstigen Schriftsteller, die sich in dem jetzt im wesentlichen überwundenen Streit zur inhaltlichen Bestimmung des Vorsatzes zur Vorstellungstheorie bekennen: so sehr dieser Streit durch die hier angestellten Untersuchungen berührt ist, so wenig vermag er zur Klärung der hier aufgeworfenen Probleme beizutragen. 95 Hellmuth Mayer, AT 1967, S. 119. 96 Roeder, Schuld und Irrtum, S. 71. 97 Maurach, AT, S. 270. 98 Anm. II C zu § 59 StGB. 99 Fehlende Gemeinsamkeit, vgl. S. 10. 93
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falsche bewußte Erkenntnis ist zugleich ein partielles Nichtwissen des ObjektslOo • Der wesentliche Unterschied zwischen völlig fehlender und nur fehlerhafter Erkenntnis kann allein darin erblickt werden, daß partiell - die fehlerhafte Erkenntnis an die Stelle der auch hier partiell - fehlenden zutreffenden Erkenntnis tritt, während bei der als fehlend bezeichneten Erkenntnis kein solches "Ersatzerkenntnis" auftritt. Ob aber nun an Stelle der partiell oder ganz fehlenden bewußten Erkenntnis eine andere fehlerhafte tritt, ist gleichgültig, entscheidend ist allein das Fehlen der richtigen lol . Da nun alle genannten Autoren fehlende wie fehlerhafte bewußte Erkenntnisse rechtlich gleich behandeln wollenlo2, besteht kein sachliches Bedürfnis, den strafrechtlichen Irrtumsbegriff enger als den psychologischen zu fassen. Sonst besteht nämlich die Gefahr, daß doch einmal eine sachlich nicht gerechtfertigte unterschiedliche Behandlung dieser beiden Irrtumsarten vorgeschlagen wird. So trat schon Allfeld der Lehre entgegen, nur der "irrigen Anwendung oder Nichtanwendung des Gesetzes auf den einzelnen Fall", nicht aber der völligen Unkenntnis des Gesetzes strafbefreiende Wirkung zukommen zu lassenl03 . Auch neuerdings wurde eine derartige Unterscheidung wieder vorgeschlagen: nach § 21 E 1962 sollte nur das aktuelle - fehlerhafte - Bewußtsein, kein Unrecht zu tun, die Schuld mindern oder ausschließenlOot , nicht aber das fehlende Bewußtsein, Unrecht zu tun. Glücklicherweise ist diese wohl sehr mißratene Vorschrift in § 17 n. F. StGB nicht übernommen worden. Eine derart "irrige" Irrtumsbehandlung wird von vornherein vermieden, wird materiell auf das Verhältnis "des Bewußtseins zum Objekt"IO$ abgestellt und der Irrtum von vornherein als Falsch- oder Nichtwissen definiert l08 .
100 Vgl. Binding, Schuld, S. 64. 101 Kohlrausch, Irrtum, S. 7. 102 Vgl. auch Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 302. lOS Allfeld, Rechtsirrtum, S. 17. 104 Amtl. Begründung zu § 21, S. 135; ebenso Dreher, Niederschriften 2. Bd., S.27. 105 Max Ernst Mayer, AT, S.315. 106 Max Ernst Mayer, AT, S.314; Mezger, LK 8. Aufl., Anm.III 23 zu § 59 StGB.
4. Kapitel
Ergebnis Zusammenfassend ist demnach festzustellen: a) Irrtum ist eine ihr Objekt unzutreffend (oder gar nicht) erfassende bewußte Erkenntnis, kurz ein unzutreffender Bewußtseinsinhalt. b) Der Irrtum kann formal wie folgt eingeteilt werden: 1. die bewußte Erkenntnis bleibt hinter dem Objekt zurück: es wird
- relativ - "weniger" erkannt, als objektiv vorhanden ist;
2. die bewußte Erkenntnis geht über ihr Objekt hinaus: es wird mehr erkannt, als objektiv vorhanden ist; c) der Irrtum läßt sich material seinem Wesen nach einteilen in 1. Störungen oder Ausfälle der Sinnesorgane;
2. seelische Einflüsse des Subjekts auf den Wahrnehmungsbildungsprozeß; 3. falsche Vorstellungen und falsches Denken.
Zweiter Teil
Der Realgrund strafrechtlicher Sanktionen in seiner Bedeutung für die Irrtumslehre 1. Kapitel
Uber die Bedeutung unzutreffender Bewußtseinsinhalte im Strafrecht A. Der Irrtum als mögliche negative wie auch positive Sanktionsvoraussetzung Werden auch die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen über die ontische Struktur des Irrtums erst im dritten und vierten Buch dieser Abhandlung voll ausgewertet werden (s. o. Einleitung III, IV), so muß doch schon an dieser Stelle ein - für sich allein freilich einfacher zu gewinnendes - Ergebnis der bisherigen überlegungen als Grundlage der weiteren Erörterungen herangezogen werden: die Definition des Irrtums als unzutreffender Bewußtseinsinhalt. Jetzt nämlich kann die Ausgangsfrage nach der Bedeutung des Irrtums im Strafrecht einschränkend präzisiert werden auf die Frage: welche Bedeutung haben unzutreffende Bewußtseinsinhalte im Strafrecht? Die Antwort scheint leicht, sieht man die Irrtumslehre mit der Mehrheit des strafrechtlichen Schrifttums als Spiegelbild der Vorsatz- oder der Schuldlehre an: unzutreffende Bewußtseinsinhalte vermögen Vorsatz oder Schuld auszuschließen1 • Folgt man konsequent dieser "Spiegelbildtheorie" , so müssen umgekehrt unzutreffende Bewußtseinsinhalte auch Vorsatz und Schuld begründen können. Können sie Vorsatz und Schuld dann ausschließen, wenn sie sich formal als ein Minus darstellen, also hinter dem real vorhandenen Objekt zurückbleiben, so muß der formalen Umkehr ins 1 Allfeld, Lb., S.166; Beling, Verbrechen, S.324 und Grundzüge, S.46; Kohlrausch, Irrtum, S.2, 7; v. Liszt, Lb., S. 169; v. Liszt - Schmidt, Lb., S.264; M. E. Mayer, AT, S.316; Adolf Merkel, Lb., S.82; Merkel- Liepmann, Lb., S.105; Paul Merkei, AT, S.120; Mezger, Lb., S.306; v. Weber, Grundriß, S.74; Frank, StGB Anm. VII zu § 59; v. Olshausen, StGB Anm. B 12 zu § 59; Baumann, AT, S. 394; Jescheck, AT, S. 205; Mezger, Stub., S.163; Mezger - Blei, AT, S. 186; Schönke - Schröder, StGB Randnr. 122 zu § 59.
1. Kap.:
Irrtum und Strafrecht
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Plus, bei der ein Bewußtseinsinhalt ein (teilweise) nicht vorhandenes Objekt zum Gegenstand hat, vorsatz- bzw. schuldbegründende Kraft zuerkannt werden. Dieser Schluß ist nicht nur möglich, sondern auch zwingend: entscheidet ein bestimmter Bewußtseinsinhalt über das Vorliegen von Vorsatz oder Schuld, so begründet dieser Inhalt die genannten Verbrechensmerkmale ohne Rücksicht darauf, ob diese Bewußtseinsinhalte mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder nicht - fehlen diese Inhalte, so entfallen auch diese Verbrechensmerkmale. Zutreffende wie unzutreffende Bewußtseinsinhalte haben also insofern die gleichen Folgen!. So wird auch allgemein Strafbarkeit wegen Versuchs bejaht, wenn etwa ein Merkmal eines der im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches aufgeführten Straftatbestände unrichtig als real existent (der von einer Maschinengewehrsalve zerfetzte Baumstumpf wurde vom Schützen für einen Menschen gehalten) angenommen3 wird - allerdings wagt4 kaum jemand auszusprechen, daß Irrtum umgekehrt auch Vorsatz begründen kann, wie dies etwa Schönke - Schröder5 - vom hier ermittelten Standpunkt aus zu Recht - tun. Nach der Spiegelbildtheorie können damit unzutreffende Bewußtseinsinhalte sowohl als vorsatz- bzw. schuldbegründende Merkmale angesehen werden wie auch als vorsatz- bzw. schuldausschließende Faktoren. Gerade die Spiegelbildtheorie zwingt aber dazu, die Wirkung des Irrtums gerade nicht auf bestimmte Verbrechensmerkmale zu beschränken, sondern weiter zu fragen, welche Folgen es denn nun hat, daß Vorsatz bzw. Schuld wegen unzutreffender Bewußtseinsinhalte ausgeschlossen sind. Der Einwand, die Bedeutung des Irrtums beschränke sich nun eben auf den Einfluß auf die genannten Verbrechensmerkmale, würde sich zu einer Voraussetzung der Spiegelbildtheorie in Widerspruch setzen: eben der Spiegelbildlichkeit. Ist die Irrtumslehre das Spiegelbild der Dolus- bzw. Schuldlehre, so enthält die Irrtumslehre auch alle Elemente der Vorsatz- oder Schuldlehre: sonst wäre sie eben kein Spiegelbild - eine überlegung, die bereits Binding dazu veranlaßte, die Lehre vom Irrtum "ganz selbständig" neben die Lehre von der Schuld zu stellen8 • Ob diese Ablehnung berechtigt ist, mag dahinstehen. Hier genügt es, aus diesen überlegungen die weniger weit gehende Folgerung zu ziehen, daß es jedenfalls auch vom Boden der Spiegelbildtheorie aus gerechtfertigt ist, die Frage zu stellen, welche Wirkungen der auf einem unzu! Verkannt von Spendel, ZStW Bd. 69, 441 und, Spendel folgend, Stöger, Untaugl. Täter, S.31 sowie Baumann, NJW 62, 18; gegen Spendel schon Sax, JZ 64, 245. 3 z. B. v. Liszt, Lb., S.169; Maurach, AT, S. 494; Jescheck, AT, S. 353; Baumann, AT, S. 415. • Wohl unter dem Eindruck der Argumentation von Spendel, s. z. B. Baumann, AT, S. 415. 5 Randnr. 125 zu § 59. B Normen IH, S. 141.
3 Gössel
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1. Buch, 2. T.: Grundlegung: Die Gründe strafrechtlicher Sanktionen
treffenden Bewußtseinsinhalt beruhende Vorsatz- oder Schuldausschluß hat. über die Antwort besteht Einigkeit: mit dem Vorsatz bzw. der Schuld läßt der Irrtum eine der Voraussetzungen entfallen, ohne die die jeweils vom Gesetz vorgesehene Sanktion entweder ganz oder teilweise nicht verhängt werden darf7 • Damit darf die Spiegelbildtheorie ohne nähere Prüfung ihrer "Richtigkeit" verlassen werden: auch sIe führt zu dem unabhängig von ihr anzuerkennenden Ergebnis, daß unzutreffende Bewußtseinsinhalte die Verhängung von Sanktionen ganz oder zum Teil ausschließen. Sie wirkte jedoch gleichsam als Katalysator. Die überlegungen, die im Geltungsbereich der Spiegelbildtheorie zur Anerkennung einer vorsatzbzw. schuldbegründenden Wirkung von unzutreffenden Bewußtseinsinhalten führten, zwingen ebenfalls zur Anerkennung einer (teilweisen) sanktionsbegründenden Wirkung: vermögen unzutreffende Bewußtseinsinhalte die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen (teilweise) auszuschließen, so werden eben diese Bewußtseinsinhalte damit als sanktionsbegründende Voraussetzungen anerkannt. Diese Antwort zwingt dazu, die Betrachtung unzutreffender Bewußtseinsinhalte aus der Enge einzelner Verbrechensmerkmale zu lösen. Damit muß ganz allgemein die Bedeutung unzutreffender Bewußtseinsinhalte als negative oder auch positive Sanktionsvoraussetzung untersucht werden, und zwar völlig unabhängig von Vorsatz oder Schuldlehre. Damit ist zugleich der weitere methodische Weg vorgezeichnet: werden unzutreffende Bewußtseinsinhalte allein auf ihre Eigenschaft befragt, strafrechtliche Sanktionen begründen oder ausschließen zu können, so wird damit zunächst auf rein dogmatische überlegungen über die systematische Stellung und Bedeutung dieser Bewußtseinsinhalte im Verbrechensaufbau verzichtet. Eine solche Verfahrensweise erscheint unabweisbar: bevor nicht geklärt ist, ob, inwieweit und aus welchen Gründen unzutreffende Bewuß1".seinsinhalte negative oder auch positive Sanktionsvoraussetzungen darstellen, können überlegungen zur systematischen Behandlung schwerlich einsetzen: erst eine hinreichend bestimmte Sanktionsvoraussetzung kann systematisch behandelt werden. Trotz der nahezu unübersehbaren Literatur zu den Irrtumsproblemen finden sich im Schrifttum der Gegenwart lediglich Ansätze, die Bedeutung unzutreffender Bewußtseinsinhalte im Zusammenhang mit den strafrechtlichen Sanktionsvoraussetzungen schlechthin zu sehen, so z. B., allerdings in anderem Zusammenhang, bei Spendel, der darauf hinweist, 7 So ausdrücklich Schönke - Schröder, Randnr.122 zu § 59; Köhler, AT, S. 290; Maurach, AT, S. 273; Jescheck, AT, S. 207; Schmidhäuser, AT, 10/38.
1. Kap.! Irrt'Um. und Strafrecht
35
daß der ein Tatbestandsmerkmal bildende Gegenstand zugleich einen Strafzumessungsgrund bilden kann8• Eine derartige Betrachtung!)weise findet sich besonders klar bei MauTach. Wegen der komplexen Natur des Verbrechens leugnet er die Möglichkeit eines einheitlichen Strafrechtsirrtums mit gleichen AuswirkungenU und dalllttauchdie Möglichkeit einer einheitlichen IrrtumslehreiD. Je nach dem BezugS~ punkt sind für MauTach die Auswirkungen der unzutreffenden Bewußtseinsinhalte verschieden: sie können einzelne oder mehrere, Verbrechensmerkmale ausschließen und deshalb zu Stratlosigkeito,der Strafmilderung führen - oder aber für das Strafrecht gänzlich belanglos bleiben11 • In diesem Einfluß auf die Sanktionsverhängung sieht auch Schmidhä'U§er die Bedeutung unzutreffender Bewußtseinsinhalte, wenn er zur Lösung von Irrtumsproblemen stets von der Frage ausgehen will: "wann ist höhere Strafe angezeigt"?12, ohne allerdings dieaUIischließliche Schu.ldabhängigkeit der Irrtumslehre aufzugeben. Gleiches gilt für die - meist älteren - Schriftsteller, die den Irrtum im GeSamtkomplex: der Zurechnung der' strafbaren Handlung sehen, wie· z.B. Max-Ernst Mayer13 , Köstlin 14 und Feuerbach15 :
B. Zutreffende und unzutreffende BewuOtseinsinhalte als Sanktionsvoraussetzung Die eingangs gestellte Frage nach der .Bedeutung, . unzutreffender Bewußtseinsinhalte im Strafrecht kann somit weiter präzisiert. werden: in welchen Fällen bilden unzutreffende Bewußtseinsinhalte (positive oder negative) Sanktionsvoraussetzungen? Soweit ersichtlich, ist allein Binding dieser Frage nachgegangen. Für Binding sind unzutreffende Bewußtseinsinhalte für das Strafrecht nur dann. von Bedeutung, wenn sich der Irrtum auf rechtllch. bedeutsameTatsachen bezieht1&, weil das rechtlich bedeutsame Wissen sich auch nur darauf beziehen müsse17• Hier ist zunächst einem Mißverständnis vorzubeugen. Die Bindingsche Ausdrucksweise legt die Interpretation nahe,es komme auf die 8 Strafmaß, S,37 allerdings kann Spendel nicht zugestinuntwerden, wie später - s. Anm. 79 - noch ausführlich darzulegen ist. U Die die oben Anm.1 angegebenen Schriftsteller stets Vötsatz- bzvi. Schuldausschluß - annehmen. 10 Maurach,AT, S. 272 f. 11 Maurach, AT,S. 272, 2761I. und 471f. 12 AT 10/38. 13 AT, S. 316. 14 Revision, S; 178. 15 L)). § 85; Revision II, S. 43 f. 1& Schuld, S. 65. 17 Normen III, S. 115.
3·
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1. Buch,
2. T.: Grundlegung: Die Gründe strafrechtlicher Sanktionen
Bedeutung einer Tatsache (im weiten Bindingschen Sprachgebrauch18) für das Recht schlechthin an. Das meint Binding jedoch nicht. Ob es überhaupt Tatsachen gibt, die für das Recht oder das Strafrecht bedeutungslos sind, mag dahinstehen. Entscheidend ist vielmehr, daß es nicht auf eine irgendwie geartete strafrechtliche Bedeutsamkeit der betreffenden Tatsache schlechthin ankommen kann. Hat z. B. der Dieb die Beute deswegen weggenommen, um die Beute einer Frau zu schenken, die er irrig nicht für seine Verlobte hält, so ist die bestehende Angehörigeneigenschaft (§ 11 Abs.l lit. a. n. F. StGB) hier insbesondere im Hinblick auf § 52 StPO rechtlich durchaus bedeutsam, jedoch für die Frage, ob ein Diebstahl begangen wurde, rechtlich unerheblich. Entscheidend kann nur sein - und so wird man Binding auch zu verstehen haben -, ob ein zutreffender Bewußtseinsinhalt von der Tatsache vorliegt, von deren Kenntnis bestimmte rechtliche Folgen abhängen. Damit wird deutlich, daß mit der Frage nach unzutreffenden Bewußtseinsinhalten in ihrer Bedeutung als Sanktionsvoraussetzung nach dieser Bedeutung von Bewußtseinsinhalten schlechthin gefragt ist, ohne Rücksicht darauf, ob sie zutreffend sind oder nicht. In allen Fällen, in denen das Strafrecht die Verhängung von Sanktionen nicht von Bewußtseinsinhalten abhängig macht, kann es weder auf bestimmte Eigenschaften dieser Inhalte ankommen noch auf deren gänzliches Fehlen. Allerdings drängt sich nunmehr die Frage auf, warum denn im ersten Teil dieses Buches der Irrtumsbegriff überhaupt entwickelt wurde, wenn doch zur Beantwortung der Frage nach der strafrechtlichen Bedeutung des Irrtums nunmehr auf das oben für den Irrtum als wesentlich bezeichnete Merkmal der Nichtübereinstimmung von Bewußtseinsinhalt und Realität verzichtet wird. Damit ist indes nur ein Scheinproblem aufgeworfen. Wie die obigen überlegungen ergaben - und schon insoweit waren sie notwendig - gehört der spezielle Gegenstand "Irrtum" der Gegenstandsart "Bewußtseinsinhalt" an. Wenn nun zur Klärung der strafrechtlichen Bedeutung eines speziellen Gegenstandes (Irrtum) zunächst auf die strafrechtliche Bedeutung der Art, der dieser Gegenstand angehört, einzugehen ist, so ist darin nichts Ungewöhnliches zu erblicken. Da allerdings in den ersten beiden Büchern dieser Abhandlung nur die Bedeutung von Bewußtseinsinhalten generell behandelt wird, sei hier zur Klarstellung der Hinweis erlaubt, daß erst danach - vom dritten Buch an - auf die strafrechtliche Bedeutung des speziellen Bewußtseinsinhalts "Irrtum" eingegangen werden wird (und eingegangen werden kann). Damit ist der vorerst weitere Weg der Untersuchung vorgezeichnet: es sind diejenigen rechtlichen Regeln aufzusuchen und darzustellen, 18
Vgl. Nonnen 111, S. 114 f.
1. Kap.:
Irrtum und Strafrecht
37
die die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen von bestimmten Bewußtseinsinhalten des Delinquenten abhängig machen, also bestimmte Bewußtseinsinhalte als positive Sanktionsvoraussetzung ansehen. Zu diesem Zweck sind zunächst die Tatbestände des Besonderen Teils des StGB zu untersuchen: ein nicht unerheblicher Teil dieser Tatbestände macht die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen expressis verbis von bestimmten Bewußt5einsinhalten abhängig.
2. Kapitel
Der sanktionierte Gegenstand in seiner Bedeutung für die Irrtumslehre A. Die Hilfe des Gesetzes für die Suche nach dem sanktionierten Gegenstand § 273 StGB verlangt das wissentliche Gebrauchmachen falscher Beurkundungen, § 131 (Staatsverleumdung) das öffentliche Behaupten erdichteter oder entstellter Tatsachen in dem Bewußtsein, daß diese Tatsache erdichtet oder entstellt sind, § 138 StGB (Nichtanzeige drohender Verbrechen) das glaubhafte Erfahren von Vorhaben oder Ausführung bestimmter Verbrechen, § 145d StGB die Vortäuschung einer Straftat wider besseres Wissen, § 148 StGB (Abschieben falschen Geldes) das Inverkehrbringen falschen Geldes nach erkannter Unechtheit, § 156 StGB (falsche Versicherung an Eides Statt) die wissentlich falsche Abgabe einer Versicherung an Eides Statt, § 164 (falsche Anschuldigung) die wider besseres Wissen vorgenommene Verdächtigung eines anderen, eine strafbare Handlung begangen zu haben, § 171 (Doppelehe) das Eingehen einer Ehe in dem Bewußtsein, bereits verheiratet zu sein, § 187 (Verleumdung) das Behaupten einer unwahren Tatsache wider besseres Wissen, § 257 (Begünstigung) das wissentliche Beistandleisten, § 259 (Sachhehlerei) das Ansichbringen von Sachen, bei denen der Täter um die strafbare Herkunft "weiß" oder diese "den Umständen nach annehmen muß", § 275 Nr.1 das wissentliche Gebrauchmachen von bestimmten Wertzeichen, § 276 das wissentliche Wiederverwenden bestimmter Wertzeichen, § 278 die wider besseres Wissen erfolgende Ausstellung unrichtiger Gesundheitszeugnisse, § 328 (Absperrung gegen Viehseuchen) die wissentliche Verletzung von Absperrungsmaßregeln, § 344 (Verfolgung Unschuldiger) die Verfolgung eines anderen in Kenntnis der Unschuld des Betreffenden und umgekehrt § 346 (Begünstigung im Amt) das wissentliche Entziehen eines anderen der im Gesetz vorgesehenen Strafe oder Maßregel, §§ 352, 353 StGB (übermäßige Gebühren- und Abgabenerhöhung) die Erhebung von Gebühren und Abgaben mit dem Bewußtsein, daß sie der Zahlende nicht schuldet, § 353 b StGB (Verletzung der Amtsverschwiegenheit) das Offenbaren eines dem Täter bekannt gewordenen Geheimnisses, §§ 354, 355 StGB (Verletzung des Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnisses) das wissentliche Ge-
2. Kap.: Strafgrund und Irrtum
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statten der Eröffnung von der Post anvertrauten Sendungen oder Nachrichten durch unbefugte Dritte, endlich § 357 StGB (Konnivenz) das wissentHche Geschehenlassen einer Straftat durch einen Untergebenen. Nicht ganz so deutlich, aber noch klar genug, fordert das Gesetz auch in anderen Fällen bestimmte Bewußtseinsinhalte, so z. B. bei den Absichtsdelikten (z. B. §§ 220a, 225, 263, 265, 265a StGB). Auch indirekt können durch die gesetzliche Verbrechensbeschreibung beim Täter bestimmte Bewußtseinsinhalte verlangt werden: so ist der Menschenraub (§ 234 StGB) mit List oder Drohung nur möglich, wenn dem Täter bewußt ist, daß er sich eines Menschen bemächtigt. Ebenso dürften die sog. Verleitungs- oder Verführungstatbestände (z. B. §§ 160, 182 StGB) das Wissen des Täters darum voraussetzen, wozu verleitet oder verführt werden soll. Indes ist dies nicht eindeutig: es ist denkbar, daß der A den B unbewußt zu einem Falscheid verleitet. Hier reicht der reine philologische Wortsinn nicht mehr aus festzustellen, ob bestimmte Bewußtseinsinhalte verlangt werden oder nicht. Gleiches gilt für eine Vielzahl weiterer Tatbestände. Ob etwa die Böswilligkeit im Sinne des § 90 a StGB Unrechtskenntnis voraussetzt, wie dies Schröder 19 verlangt oder ob umgekehrt die Böswilligkeit durch Vorstellungen des Täters über das Vorliegen von RechtfertigungsvoraussetzungenZO ausgeschlossen wird, erscheint mindestens zweifelhaft. Es dürfte sehr wohl möglich sein, Böswilligkeit bei bestimmten Gefühlslagen21 ohne Rücksicht auf die dabei auftretenden Bewußtseinsinhalte beim Täter anzunehmen. Ähnliche Zweifel dürften die Merkmale "gewissenlos" (§§ 170c, 170d StGB), "Mordlust" und "Habgier" (§ 211 StGB), einer "Gefahr aussetzen" (§ 241a StGB), "seines Vorteils wegen" (§ 258 StGB) bereiten. Ob strafrechtliche Sanktionen auch in den letztgenannten Fällen Bewußtseinsinhalte voraussetzen, braucht hier nicht weiter untersucht zu werden. Vorerst soll die Feststellung genügen, daß jedenfalls das positive Strafgesetz in allen aufgewiesenen Fällen, möglicherweise auch in den zuletzt - bewußt unentschieden gelassenen - genannten, bestimmte Bewußtseinsinhalte beim Täter verlangt, um strafrechtliche Sanktionen verhängen zu können. Damit ist für diese Fälle zugleich die hier eigentlich interessierende Frage nach der Bedeutung unzutreffender Bewußtseinsinhalte beantwortet: soweit die zur Voraussetzung gemachten Bewußtseinsinhalte nicht vorliegen, können strafrechtliche Sanktionen nicht verhängt werden; dabei ist es gleichgültig, ob derartige Inhalte ganz fehlen oder aber in anderer Form als der verlangten bzw. 19 Randnr.9 zu § 90a das dort zitierte Urteil des BayObLG in NJW 53, 874 kann allerdings zur Stütze dieser Ansicht nicht herangezogen werden. 20 Roxin, ZStW Bd. 74, 544. ~1 z.)3. Neid, Haß - v~l. BayObLG NJW 53, 874,
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1. Buch, 2. T.:
Grundlegung: Die Grunde strafrechtlicher Sanktionen
mit anderem Inhalt vorliegen: auch im letztgenannten Fall fehlen eben die zur Sanktionsverhängung erforderlichen Inhalte. Damit wird ein erstes Zwischenergebnis gewonnen: strafrechtliche Sanktionen können nicht verhängt werden, wenn das positive Strafgesetz bestimmte Bewußtseinsinhalte zur Verhängung eben dieser Sanktionen verlangt und diese Bewußtseinsinhalte nicht so vorliegen, wie das Gesetz es verlangt. Damit sind wir aber unserem Ziel noch nicht sehr viel näher gekommen. Wir mußten bereits oben erkennen, daß uns das Gesetz nicht stets eindeutige Antworten gibt - es steht zu vermuten, daß ferner Bewußtseinsinhalte als Sanktionsvoraussetzungen nötig sind, die im Wortlaut des Gesetzes nicht aufgeführt sind.
B. Die Bedeutung der Frage nach dem sanktionierten Gegenstand Zunächst ist zu den Schwierigkeiten hinsichtlich etwaiger Bewußtseinserfordernisse bei der zuletzt genannten Gruppe positiver Strafgesetze zurückzukehren. Der Grund dieser Schwierigkeiten ist zunächst darin zu sehen, daß die vom Gesetzgeber verwendeten Wörter wie z. B. "böswillig" und "Mordlust" weder im allgemeinen Sprachgebrauch, noch in dem besonderen des Strafrechts eindeutig!Z festgelegt sind. Die bloße Auslegung des Wortsinnes kann also nicht weiterführen - wohl aber die überlegung, daß diese Wörter Voraussetzungen zur Verhängung einer oder mehrerer strafrechtlicher Sanktionen bezeichnen. Gibt nun das Gesetz keine klare Antwort auf die Frage, ob bzw. welche Bewußtseinsinhalte es als Voraussetzungen der in ihm angeordneten strafrechtlichen Sanktionen verlangt, so muß eine Stufe zurückgegangen werden: es ist zu fragen, was denn eigentlich von diesem Gesetz sanktioniert ist, wie dasjenige beschaffen ist, an dessen Vorliegen dieses Gesetz die Sanktionen knüpft. Die Antwort liegt nahe: dieses "Etwas" ist genau dasjenige, das im ersten Teil des Strafgesetzes als Sanktionsvoraussetzung beschrieben ist. Damit scheint ein reiner Zirkel vorzuliegen: zur Lösung der sich aus dem Gesetz ergebenden Zweifelsfragen scheint man auf eben dieses Gesetz zurückverwiesen zu sein. Allein: das Strafgesetz umschreibt die Sanktionsvoraussetzungen eben nicht erschöpfend, in den hier herangezogenen besonderen Fällen nicht deutlich. Eine Aufzählung der recht häufigen Fälle unvollständiger Beschreibung von Sanktionsvoraussetzungen darf hier wohl entfallen, da dies allgemein anerkannt ist - es sei nur auf zwei Beispielsfälle verwiesen: beim Betrug enthält die Beschreibung der Sanktionsvoraus22 Auf das verfassungsrechtliche Gebot des Art. 103 Abs. 2 GG kann hier nicht eingegangen werden.
2. Kap.: Strafgrund und Irrtum
41
setzungen in § 263 StGB die notwendige Voraussetzung der Vermögensverfügung ebensowenig wie bei der Unterschlagung § 246 StGB in der Beschreibung der Sanktionsvoraussetzungen erkennen läßt, daß die hier vorgesehenen Sanktionen eine Zueignung ohne Bruch fremden Gewahrsams verlangen23 • Entscheidend in diesem Zusammenhang ist ferner, daß eine der wichtigsten Sanktionsvoraussetzungen, der Vorsatz, nur in relativ wenigen Strafgesetzen!4 ausdrücklich verlangt wird, nicht aber einmal bei so wichtigen Delikten wie denen des Mordes (§ 211 StGB) und des Diebstahls (§ 242 StGB)!5. Da der Vorsatz eindeutig Bewußtseinsinhalte verlangt, ist zugleich - jedenfalls für das noch geltende Recht - dargelegt, daß die meisten Strafgesetze die hier interessierenden bewußtseinsbezogenen Sanktionsvoraussetzungen gerade nicht enthalten. Es erhellt somit, daß das, was von den einzelnen Strafgesetzen sanktioniert ist, nicht vollständig aus der gesetzlichen Beschreibung in den einzelnen Tatbeständen des Besonderen Teils des StGB ersichtlich ist. Was ist denn nun sanktioniert? Da die strafrechtlichen Sanktionen im Strafgesetzbuch aufgeführt sind, darf erwartet werden, daß das, was sanktioniert ist, ebenfalls dort aufgeführt ist. Im StGB nun findet sich eine Reihe verschiedener Vorschriften, die alle die Sanktionen der Freiheitsstrafe oder der Geldstrafe von "etwas" abhängig machen: nach § 211 StGB soll "der Mörder" mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden, nach § 167 a StGB soll mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden, "wer eine Bestattungsfeier absichtlich oder wissentlich stört". Wir werden hier mit der längst von anderen aufgezeigten Struktur unserer Strafgesetze konfrontiert, die den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen (lebenslange oder zeitige Freiheitsstrafe) vom Vorliegen bestimmter Sachverhalte abhängig macht28 • Damit scheint unser gesuchtes "Etwas" eben dieser im ersten Teil der Strafgesetze beschriebene Sachverhalt zu sein. Diese Lösung führt jedoch nicht weiter: erneut finden wir uns auf den ersten Teil der Strafgesetze verwiesen, der ja, wie soeben nachgewiesen wurde, unser gesuchtes " Etwas " nur unvollkommen beschreibt. Bei unserer Suche helfen uns nun aber die sog. Maßregeln der Sicherung und Besserung des noch geltenden StGB weiter. Im Gegensatz zu den Strafen ist diese Sanktionsart nicht unmittelbar in einem Rechtssatz an bestimmte im Besonderen Teil des StGB aufgeführte Sachverhalte 23 h. L., vgl. Maurach, BT, S. 239 !f., allerdings zweifelhaft im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG, vgl. Lackner - Maassen, Anm. 4 zu § 246. 24 z. B. §§ 212, 223, 303 StGB. 25 In dem ab 1. Januar 1975 (vermutlich) geltenden StGB ergibt sich allerdings aus § 15, daß der Vorsatz eine allgemeine Sanktionsvoraussetzung ist. 26 Vgl. z. B. Engisch, Einführung, S. 20, 40 f.; Jescheck, AT, S. 29.
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1. Buch, 2. T.: Grundlegung: Die Grunde strafrechtlicher Sanktionen
als Rechtsfolge angeschlossen. § 211 StGB ordnet z. B. nicht an, daß "der Mörder" - etwa unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen - in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht oder gegen ihn Sicherungsverwahrung verhängt wird. Nach § 42 b StGB setzt die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt voraus, daß jemand "eine mit Strafe bedrohte Handlung" in einem hier nicht weiter· interessierenden Zustande begangen hat; ebenso setzt die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 42 e StGB voraus, daß "jemand wegen einer vorsätzlichen Straftat" zu einer bestimmten Mindestfreiheitsstrafe verurteilt worden ist. Als mögliche Anknüpfungspunkte strafrechtlicher Sanktionen kommen damit die "Straftat" bzw. die "mit Strafe bedrohte Handlung" ins Blickfeld. Fragt man nun aber, was denn eine Straftat oder eine mit Strafe bedrohte Handlung sei, so sieht man sich erneut auf die Sachverhalte des Besonderen Teils des StGB verwiesen27 und damit scheinbar schon wieder in den Zirkel zurückgeworfen, dem wir doch gerade auf diese Weise zu entkommen suchten. Der Ausweg ist indes gefunden. § 42 b StGB knüpft die Unterbringung in einer Heil- oder Pflege anstalt nämlich nicht an ganz bestimmte im Besonderen Teil des StGB beschriebene Sachverhalte, sondern an irgendwelche dieser Sachverhalte!8; entsprechendes gilt für § 42 e StGB. Für § 42 b StGB ist es völlig gleichgültig, ob jemand ein "Mörder" i. S. des § 211 StGB ist, "einen anderen körperlich mißhandelt" (§ 223 StGB), eine fremde bewegliche Sache in Zueignungsabsicht weggenommen (§ 242 StGB) oder eine Bestattungsfeier gestört (§ 167 a StGB) hat; entscheidend ist, ob irgendeiner der im Besonderen Teil des StGB beschriebenen Sachverhalte vorliegt, an die die Rechtsfolge der Strafe geknüpft ist. § 42 b StGB zeigt somit die Möglichkeit auf, daß allen Sachverhalten des Besonderen Teils des StGB ein "Etwas" gemeinsam ist, das möglicherweise mit dem Begriff "Straftat" bezeichnet werden kann: alle einzelnen Sachverhalte wären dann nichts anderes als spezielle Ausprägungen dieses "Etwas". Damit ließe sich zugleich die als unvollständig erkannte Beschreibung der mit der Rechtsfolge der Strafe verknüpften Sachverhalte erklären: die Sachverhalte sind z. B. dort unvollständig beschrieben, wo die Merkmale des gemeinsamen "Etwas" nicht erwähnt sind - womit natürlich die Möglichkeit einer aus anderen Gründen unvollständigen Beschreibung, wie etwa Ungenauigkeit des Gesetzgebers, nicht ausgeschlossen wird. Setzen wir nun einmal die Existenz dieses "Etwas" als Hypothese, so sind die Sachverhalte des Besonderen Teils des StGB lediglich spezielle Ausprägungen dieses "Etwas" - damit ist die Rechtsfolge der Strafe an dieses "Etwas" geknüpft .. Ähnliches gilt für die Sanktionsart der MaßVom Nebenstrafrecht usw. darf hier abgesehen werden. !8 Die künftig wegfallenden übertretungen bleiben außer Betracht.
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2. Kap.: Strafgrund und Irrtum
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regeln - allerdings werden diese Rechtsfolgen anders als die Strafen im Regelfall schlechthin an unser gesuchtes "Etwas" geknüpft, ohne daß auf die speziellen Ausprägungen in den einzelnen Tatbeständen des Strafgesetzbuches (anders z. B. die an Rauschtaten anknüpfende Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt) Rücksicht genommen wird.
c.
Die möglichen Verknüpfungen zwischen sanktioniertem Gegenstand und Sanktion
I. Die verwirrenden Bezeidmungen in der Literatur
Was ist nun dieses "Etwas", an das die Sanktionen angeknüpft werden? In der Literatur finden sich zur Bezeichnung dieses "Etwas" die verschiedensten Ausdrucksweisen. Während W elzel von einem je verschiedenen Rechtsgrund von Strafe und Maßregel2D spricht, erkennt Bruns die Straftat als "Voraussetzung wie Rechtsgrund und Rechtfertigung" der Strafe wie auch als Voraussetzung der Maßregeln an30 ~ wieder anders spricht z. B. Birkmeyer31 von einem Gegenstand der Strafe und Överbeck von einem Strafgrund 3!, endlich Melzer von einer Existenzgrundlage strafrechtlichen Einschreitensaa • Als "Antworten" auf das Verbrechen bezeichnet Mergen die strafrechtlichen Sanktionen34 Aschaffenburg hingegen spricht von der Strafvoraussetzung des Verbrechens35, ebenso wie v. Liszt". Baumann begnügt sich mit einem bloßen Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Reaktion37, während differenzierter z. B. Maurach zwischen einem "Entstehungsgrund" und einem ,,Bemessungsgrund" der Strafe unterscheidet 38 , Engisch von den "den abstrakten Tatbestand" erfüllenden konkreten Tatsachen als dem "Erkenntnisgrund für das Urteil über die Aktualität der Rechtsfolge"3D spricht und Spendel vier Fragestellungen nach dem Real-, dem Zweck-, dem Erkenntnis- und dem Rechtsgrund der Strafe'O kennt. Die hier willkürlich vorgenommene Auswahl zumeist unbegründet (mit Ausnahme insbesondere von Spendel) gebliebener Bezeichnungen Lb., S. 16. Bruns, Verbrechen, S.14 f. 31 Studien, S. 15; ähnlich Wolf, Wesen des Täters, S. 31. 32 Erscheinungsformen, S. 3. 33 Neue Sozialverteidigung, S. 63. 34 Antwort, S. 50. 35 Verbrechen, S. 1. 3e Forderungen, V 11, S. 102. 37 AT, S. 26. 38 AT, S. 76. 3D Einführung, S.41; ähnlich spricht Larenz (Methodenlehre, S.188) von "dem als tatbestandsmäßig erkannten realen Sachverhalt". 40 Rittler-Festschr., S. 40. 29 30
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1. Buch, 2.
T.; Grundlegung; Die Gründe strafrechtlicher Sanktionen
für das gesuchte "Etwas" verwirrt jedoch mehr, als eine Klärung des aufgeworfenen Problems herbeizuführen. Gerade darin aber zeigt sich, wie notwendig es ist, unserem "Etwas" als dem Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Sanktionen nun endlich auf die Spur zu kommen. 11. Die Klärung durch die Anwendung des Satzes vom Grunde
Strafrechtliche Sanktionen sind nicht voraussetzungslos. Sie werden von Gerichten in gesetzlich bestimmten Fällen angeordnet - setzen also mindestens einen solchen "Fall" und eine anordnende Stelle voraus. Damit besteht also eine bestimmte Abhängigkeit der Sanktion von irgendwelchen Gegenständen, die von diesen Sanktionen notwendig verschieden sein müssen: enthielten die Sanktionen alle Bedingungen ihrer Existenz bereits in sich, so würden die Sanktionen sich selbst bedingen und deshalb schlechthin voraussetzungslos, also absolut sein. Dieser absolute Charakter aber kommt unseren Sanktionen nicht zu, wie leicht einzusehen ist: die lebenslange Freiheitsstrafe verlangt den Gesetzgeber, ein diese Strafe verhängendes Gericht und einen Menschen, der von diesem Gericht als schuldiger Mörder (bzw. als schuldiger Täter der sonst mit dieser Strafe bedrohten Handlungen) angesehen wird. Entsprechendes gilt für alle übrigen Sanktionen. Schon die oben zitierten Schrifttumsstellen zeigen durch die häufige Verwendung des Wortes "Grund" in mannigfacher Wortverbindung, daß die Abhängigkeit zwischen Sanktionen und äußeren Bedingungen möglicherweise der entspricht, die der Satz vom Grunde bezeichnet, daß es also einen Grund gibt, der die Sanktionen zur Folge hat - daß dieser Grund unser gesuchtes "Etwas" ist. Wir wollen demnach nach einem die Sanktionen hervorbringenden Grunde fragen, dabei der Einsicht von Schopenhauer folgend, daß "der allgemeine Sinn des Satzes vom Grunde überhaupt" darauf zurückläuft, "daß immer und überall jegliches nur vermöge eines Anderen ist"41. Wenn auch mindestens einige Theologen der absoluten Geltung dieses Satzes widersprechen werden, so wurde die Abhängigkeit jedenfalls der strafrechtlichen Sanktionen von "einem anderen" soeben dargelegt. Soweit ersichtlich, verdanken wir Spende lU die bisher einzige umfassende strafrechtliche Untersuchung zu diesem Punkt: er bietet Antworten auf vier Fragen nach dem Realgrund, dem Zweckgrund, dem Erkenntnisgrund und dem Rechtsgrund der Strafe. 41 42
Satz vom Grunde, 8. Kap., § 52, S. 175. Rittler-Festschr., S. 39 ff.
2. Kap.: Strafgrund und Irrtum
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a) Die Notwendigkeit der Folge als spezifische Schwierigkeit bei der Anwendung des Satzes vom Grunde im Strafrecht
Bevor wir jedoch die Frage nach dem Grunde der Sanktionen so differenziert stellen können, muß erst noch einer Schwierigkeit begegnet werden. Erscheint die Sanktion als Folge eines Grundes, so hat man sich dem Problem der Notwendigkeit dieser Folge zu stellen.
Schopenhauer stellt ausdrücklich fest, daß "der Satz vom zureichenden Grunde, in allen seinen Gestalten", "das alleinige Prinzip und der alleinige Träger aller und jeder Notwendigkeit" ist43 • Natürlich soll hier das Wort "zureichend" bei Schopenhauer in die bisherige Erörterung nicht einfach in einer die Problematik unbedacht verschiebenden Weise eingeschmuggelt werden. Zu fragen ist deshalb, was unter einem "zureichenden Grund" zu verstehen ist. Nach Schopenhauer ist der Grund zureichend, der die Folge (hier die Sanktion) unausbleiblich macht: "denn Notwendigkeit hat keinen anderen wahren und deutlichen Sinn, als den der Unausbleiblichkeit der Folge, wenn der Grund gesetzt ist"u. Ganz ähnlich definiert Nicolai Hartmann: notwendig "ist das, was nicht anders ausfallen kann, als es ausfällt"u. Folgt man Schopenhauer und Nicolai Hartmann wörtlich, so könnte es kaum eine notwendige Folge geben. Wohl niemand wird Bedenken tragen, die Vereinigung von Samen und Eizelle, also die Befruchtung, als Ursache der Entstehung eines Menschen anzusehen - und doch ist diese Folge keineswegs notwendig, nämlich dann nicht, wenn es aus irgendwelchen Gründen nicht zur Nidation kommt (von extremen Auffassungen, die bereits im Augenblick der Befruchtung ein menschliches Wesen als entstanden annehmen, darf hier abgesehen werden). Generell kann gesagt werden, daß keine Folge eintritt, wenn der normale Ursachenverlauf zwischen Grund und Folge aus irgendwelchen Gründen gestört ist: jedes kann also auch anders sein. Dies gilt natürlich unabhängig davon, ob, wie im Beispielsfall, eine Ursachenkette mit vielen Zwischengliedern gegeben ist oder ob Ursache und Wirkung unmittelbar aufeinander folgen. Bringt der Gegenstand x anerkanntermaßen regelmäßig den Gegenstand y unmittelbar hervor, so sind doch extreme Fallgestaltungen denkbar, in denen wegen der Wirkung anderer Gegenstände auf den regelmäßigen Verlauf x ~ y der Gegenstand x eben nicht y hervorbringt. Schreiten wir also vom Grund zur Folge fort, so kann die Notwendigkeit der Folge nur behauptet werden, wenn in die Bestimmung der Notwendigkeit zugleich die Abwesenheit störender Faktoren aufgenommen wird. Damit aber kann die Notwendigkeit eines konkreten Ge43 44 45
8. Kap., § 49 S. 170. 8. Kap., § 49, S. 170. Möglichkeit und Wirklichkeit, S. 37.
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1. Buch, 2. T.:
Grundlegung: Die Gründe strafrechtlicher Sanktionen
genstandes oder Ereignisses y niemals gleichsam "im voraus" blöß .von dem regelmäßig als Ursache wirkenden, positiv gegebenen Gegenstand x her bestimmt werden, sondern nur und zugleich von dem negativ vorliegenden Merkmal der Abwesenheit aller Störfaktoren. Eine nur positiv bestimmbare Notwendigkeit gibt es also gar nicht - mit einem bloßen Gegenstand oder Ereignis allein können also gar keine notwendigen Folgen verknüpft sein. Damit leugnen wir also die Existenz einer realen Notwendigkeit im Sinne von Nicolai Hartmann, derzufolge ein Gegenstand "nicht anders ausfallen kann", als er ausfällt48 • Notwendig ist lediglich der Gegenstand, "dessen Bedingungen alle" - einschließlich der Abwesenheit störender Faktoren - "bis zur letzten erfüllt sind": damit giltuns als real notwendig nur das, was Nicolai Hartmann im scharfen Gegensatz dazu als bloß real möglich bezeichnet47 • Bei der hier interessierenden Frage nach einem notwendigen Grund für den Gegenstand "strafrechtliche Sanktion" wird also nach demjenigen positiv vorliegenden Gegenstand gefragt, der' bei Abwesenheit von störenden Faktoren strafrechtliche Sanktionen zur ~olge hat.
b) Die Bedeutung des Satzes vom Grunde in seinem je verschiedenen Anwendungsbereich für eine Grund - Folge Abhängigkeit der Sanktion Hier sei eine Vorbemerkung erlaubt. Es ist das Schicksal wohl jeder um "Gründlichkeit" oder "Grundlegung" bemühten Arbeit, mindestens sehr häufig auf Grundprobleme der Philosophie zu stoßen. In diesen Fällen kann eine eingehende Auseinandersetzung mit den dazu vorgebrachten Meinungen nicht geboten werden: sonst müßten erst Tausende von Seiten der Untersuchung der philosophischen Probleß.latik gewidmet werden, bevor das eigentlich zu behandelnde juristische Problem weiter verfolgt werden könnte: mehrere Lebensalter würden also nicht ausreichen, auch nur eine einzige "grundlegende" juristische Abhandlung zu schreiben. Deshalb sei erlaubt, im vorliegenden Falle auf die Entwicklung und Behandlung des Satzes vom Grunde in der Philosophie, insbesondere in der der Scholastik, zu verzichten und nur insoweit auf diese Probleme einzugehen, als es zur Förderung des Zwecks der hier betriebenen Untersuchung unabweisbar ist. Beim weiteren Fortgang der Überlegungen stößt man nun auf eiIie weitere Schwierigkeit. Wie schon die oben zitierten Ausführungen von Spendel48 deutlich machten, kann zwischen verschiedenen Arten von 48
47 48
Möglichkeit und Wirklichkeit, S. 37.
S.46.
s. o. Anm. 42.
2. Kap.: Strafgrund und Irrtum
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Gründen unterschieden werden - also muß zuvor geklärt werden, nach welcher Art von Grund bzw. nach welchen Arten von Gründen gefahndet wird. Wichtige Anhaltspunkte zur Klärung dieser Vorfrage bieten die Untersuchungen von Schopenhauer49 und Laun50 , in denen die jeweiligen Arten von Gründen jeweils bestimmten Bereichen zugeordnet werden. Allerdings sei schon hier bemerkt, daß in der Abhandlung von Laun die außerhalb des erkennenden Subjekts gegebenen Gründe für die Erkenntnisvorgänge innerhalb des Subjekts untersucht werden, während es uns um das Grund-Folge Verhältnis zweier außerhalb des erkennenden Subjekts gegebener (transzendentaler) Gegenstände geht; deshalb werden die Überlegungen von Laun für unsere Zwecke nur unter Berücksichtigung dieses Umstands herangezogen werden können. Im wesentlichen wird hier jedenfalls grundsätzlich der Methode von Schopenhauer gefolgt werden, der vier Objektklassen mit jeweils anderer Gestaltung des Satzes vom zureichenden Grunde unterschied - allerdings ohne seine Einteilung und Systematik im einzelnen zu übernehmen. Es ist wohl einzusehen, daß ein real existierender und sinnlich faßbarer Gegenstand wie z. B. ein Kraftwagen eine andere Art hervorbringender Ursachen hat als z. B. ein im Inneren des Menschen verlaufender Wahrnehmungs- oder Erkenntnisprozeß. Es liegt deshalb nahe, Wesen und Natur der strafrechtlichen Sanktionen näher zu untersuchen, um so über die dann mögliche Zuordnung der Sanktionen zu einer oder zu mehreren Objektklassen die für unsere Zwecke "richtige" Gestaltung des Satzes vom Grunde zu ermitteln - aber diese Aufgabe würde eine eingehende Spezialuntersuchung voraussetzen und kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Hier reicht es aus, auf zwei Wesenszüge der strafrechtlichen Sanktionen hinZuweisen: auf ihren Charakter sowohl als Urteil als auch als wirklich-reale Erscheinungsform des sozialen Lebens. Der zuletzt genannte Charakter der Sanktionen bedarf keines ausführlichen Nachweises: der konkrete Freiheitsentzug bei Strafen und einigen Maßregeln ist schon sinnlich durch die entsprechenden Anstalten und die dort getroffenen sachlichen und personellen Sicherungseinrichtungen wahrnehmbar, ebenso die Zahlung bei der Geldstrafe. Zusätzlich bilden diese Sanktionen wirklich:..reale soziale Tatsachen: wem die Freiheit entzogen wird, der scheidet aus dem bisherigen sozialen Bereich aus, wodurch dieser Bereich verändert wird, ebenso bildet die Zahlung einer Geldsumme eine soziale Tatsache. Soweit die übrigen Sanktionen nicht schon sinnlich wahrnehmbar sind, bilden sie mindestens soziale Tatsachen: der mit Berufsverbot Belegte wird in seiner bisherigen sozia48 Schopenhauer, über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde,189l. 50 Laun, Der Satz vom Grunde, 1956.
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1. Buch, 2. T.:
Grundlegung: Die Gründe strafrechtlicher Sanktionen
len Stellung ebenso beeinträchtigt wie derjenige, der der Amtsfähigkeit verlorenging. Daß die Auferlegung des Fahrverbots und die Anordnung der Führungsaufsicht die bisherigen sozialen Verhaltensweisen entscheidend verändern, ist offensichtlich. Diese soziale Realität kommt natürlich nur den auch wirklich vollzogenen Sanktionen zu - erst im Vollzug erlangen die Sanktionen wirkliche soziale Realität. Es kann und soll natürlich nicht geleugnet werden, daß auch die bloße Anordnung der Sanktionen im (rechtskräftigen) strafrichterlichen Urteil ein selbständiges soziales Faktum bildet: allein dadurch schon wird die soziale Geltung des Betreffenden - jedenfalls im Regelfall - beeinflußt51 • Darüber hinaus ist die bloße Anordnung im Urteil durchaus geeignet, erhebliche soziale Wirkungen anderer Art zu äußern: wer sich dem Vollzug entziehen will, muß u. U. seine gesamte soziale Existenz total verändern - etwa in ferne Länder fliehen, aus denen er nicht ausgeliefert wird usw. oder sonst "untertauchen". Ähnliches gilt für den, der einem Fahrverbot zuwider Kraftfahrzeuge führt oder sich angeordneter Führungsaufsicht entzieht: die deswegen möglichen Sanktionen vermindern nämlich die soziale Stellung der Betreffenden entscheidend. Dies sind soziale Folgen, die sich aus dem Urteilsspruch des Richters ergeben - nicht aber aus der konkret noch gar nicht existierenden Sanktion5!. Die vom Gesetz für den Mörder vorgesehene Rechtsfolge ist lebenslange Freiheitsstrafe - nicht deren bloße Anordnung. Erst im Vollzug wird die Sanktion existent. Auf diesen Unterschied zwischen der sozialen Realität von Sanktionen und der von Richtersprüchen sei hier lediglich hingewiesen: darauf wird später noch näher einzugehen sein. Jede strafrechtliche Sanktion enthält daneben stets ein Urteil53 : daß nämlich diese soeben in ihrer sozialen Erscheinung betrachtete Sanktion die Rechtsfolge unseres noch gesuchten "Etwas" darstellt. Ob dieses Urteil ein solches über den Täter ist, ob es bei der Strafe ein mißbilligendes Werurteil ist 5\ mag dahinstehen: hier kommt es lediglich darauf an, daß jede strafrechtliche Sanktion ein Urteil enthält. Konnten so zwei voneinander verschiedene Wesenszüge jeder strafrechtlichen Sanktion unterschieden werden, so könnten diese möglicherweise auf zwei verschiedenen Arten von Gründen beruhen - deshalb Heinze, Handbuch, S. 326. Verkannt von Heinze ebd. 53 Für Beling, Vergeltungsidee, S.5, gewinnt die wirkliche Realität der Strafe erst durch dieses Urteil Strafcharakter; ebenso Gallas, Kriminalpolitik, S.5. 54 SO Z. B. Gallas, Gründe und Grenzen, Beiträge, S. 11 und Noll, Strafe ohne Metaphysik, S. 53 - dagegen aber Ellscheid - Hassemer, Strafe ohne Vorwurf, S. 36; vgl. ferner Exner, Sicherungsmittel, S. 108. 51
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2. Kap.: Strafgrund und Irrtum
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sollen im folgenden die für die strafrechtlichen Sanktionen in Frage kommenden Grund-Folge-Verhältnisse näher beleuchtet werden. 1. über das real begründende Verhältnis
Zunächst sei die Sanktion in ihrem soeben aufgezeigten Charakter als eine das soziale Verhalten oder den sozialen Status des Sanktionierten verändernde soziale Tatsache betrachtet. Diese vorher nicht vorhandene Tatsache muß nach dem Satz vom Grunde einen "Grund", eine Ursache gehabt haben: "Jegliches ,ist' nur vermöge eines anderen"55. Im hier angesprochenen Bereich der empirischen, wirklichen Realität wird dieser Grund von Schopenhauer der zureichende Grund des Werdens genannt, das "principium rationis sufficientis fiendi"56. Damit ist bereits eine Form der Abhängigkeit der Sanktionen vom noch zu ermittelnden "Etwas" gegeben: als neue soziale Tatsache ist die Sanktion eine Veränderung des bisherigen Standes des sozialen Lebens und somit notwendig von einer erzeugenden Ursache abhängig. Diese erzeugende Ursache verändert die empirische, wirkliche Realität57 eben durch die Erzeugung der sozialen Tatsache und soll deshalb auch mit Spendel als Realgrund der Sanktionen bezeichnet werden58 . Materiell stimmt das hier mit Realgrund Bezeichnete mit der causa fiendi bei Schopenhauer, mit dem stofflichen Sachgrund bei Laun5V überein und auch mit der causa efficiens im klassischen Sinne60 , nicht aber mit dem Grund des - bereits seienden - Seins, der causa essendi, wie Spendele1 meint8!. Etwas völlig anderes ist auch der von EHscheid und Hassemer63 im Gegensatz zu einem "ideologischen" bezeichnete "reale Grund" strafrechtlicher Haftung, der, von einem rührenden marxistischen Kinderglauben beeinfiußt, selbst ideologischer Natur ist und auch nicht in der Bedeutung einer Erklärung des sozialen Phänomens "Sanktion" verwendet wird. Nicht hierher gehört auch die von Kühlwein verwendete Bezeichnung des "staatlichen Realgrundes" der Strafe, der 55 Schopenhauer, Satz vom Grunde, 8. Kap., § 52, S. 175. 58 4. Kap., § 20, S. 47, ferner §§ 17, 18, S. 4lf. 57 Diese Begriffe werden hier im wesentlichen im Sinne der Terminologie von Nicolai Hartmann im Sinne einer Unterscheidung der Seinssphäre der Realität von den in dieser enthaltenen Seinsweisen der Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit verwendet. Vgl. dazu Gössel, Wertungsprobleme, S. 23; wegen Abweichungen s. o. a. und unten 2. Buch 1. Teil, 6. Kap. B Ic. 58 Rittler-Festschr., S. 40. 59 Der Satz vom Grunde, S. 201. 80 Specht, in: Hist. Wörterbuch, S. 974. 61 Strafmaß, S. 78; gegen eine solche Auffassung schon Laun, S. 108 f., 110 f. 62 Vgl. dazu auch Specht wie Anm. 60. GS Strafe ohne Vorwurf, S. 34 f. 4 Gössel
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1. Buch, 2. T.: Grundlegung: Die Gründe strafrechtlicher Sanktionen
einem Idealgrund gegenübergestellt wird64 : hier wird in Wahrheit eine Einteilung der u. näher erörterten Rechtsgründe der Strafe vorgenommen. 2. Über die begründende Wirkung des Sollens Abweichend von Schopenhauer nimmt Laun die selbständige Existenz eines Verpflichtungsgrundes an, der eben nicht das stoffliche Sein, sondern das Sollen eines anderen "begründet"65. Laun nimmt allerdings ein derartiges Grund-Folge-Verhältnis nur zwischen der außerhalb des Subjekts existierenden lex moralis und dem innersubjektiven Sollenserlebnis68 an. Zwischen zwei transzendentalen (i. S. Launs), stofflichen Gegenständen - was hier allein von Interesse wäre - könnte Laun wohl ein solches Verhältnis gar nicht annehmen, weil ein stofflicher Gegenstand auf einem stofflichen Sachgrund beruht87, dem ein Verpflichtungsgrund auch nicht zusätzlich zugeordnet werden kann: ist doch "das Sollen ..., bezogen auf etwas, was stofflich ... notwendig ist, sinn10s"88. Das Sollenserlebnis bezieht Laun auf das von dem "ich-muß" Erlebnis radikal getrennte "ich-will" Erlebnis, weshalb er von den hier möglicherweise in Betracht zu ziehenden Rechtsbefehlen ausdrücklich erklärt, sie hätten mit dem von ihm behandelten "Problem des Sollens gar nichts gemein"68. Selbst wenn man Laun damit für den von ihm behandelten Bereich der transzendentalen Gründe innersubjektiver Erkenntnisse zustimmen sollte, so ist damit doch noch keineswegs entschieden, ob nicht im Verhältnis der transzendentalen Gegenstände untereinander zusätzlich zu einem stofflichen Sachgrund auch ein Verpflichtungsgrund existiert. An dieser Stelle soll dieser Frage jedoch noch nicht nachgegangen werden70 : vorerst genügt es, die mögliche Existenz eines Verpflichtungsgrundes für strafrechtliche Sanktionen aufgezeigt zu haben. 3. Über das erkenntnismäßig begründende Verhältnis
Wenden wir uns nunmehr dem oben71 weiter aufgezeigten Urteilscharakter strafrechtlicher Sanktionen zu. Wurde vorher nach der Art der Abhängigkeit der sozialen Tatsache "Sanktion" gefragt, so kann in gleicher Weise nach der Abhängigkeit des Urteils "Sanktion" gefragt werden: nach dem "Grunde" dieses Urteils. 64 Kritik, S. 98 f. 65 Der Satz vom Grunde, S. 287 ff., 300. 66 S. 301, 305, 308. 67
S. 201 ff.
70 71
s. dazu u. 3. Kap. B 11. Vor 2.
68 S.300. 68 S.304.
2. Kap.: Strafgrund und Irrtum
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Bereits im ersten Teil72 wurde das Urteil als ein bewußter Erkenntnis..: akt erkannt. Auch dieses stellt eine Veränderung der bisherigen Erkennfnis dar - und ist damit ebenfalls dem Satz vom Grunde unterworfen'3. Erkenntnisakte sind keine sinnlich erfahrbaren Gegenstände; folglich können sie nicht auf einen Realgrund gegründet sein, sondern nur auf einen Grund, der seiner Art nach als Erkenntnisgrundlage dienen kann: hier tritt der Satz vom Grunde nach Schopenhauer in der Form des Satzes vom Grunde des Erkennensauf, des principium rationis suffi:': cientis cognoscendi74 . In diesem Sinne bestimmt Heidegger das Verhältnis von Grund und Folge: das oben75 dargelegte Verhältnis zwischen Realgrund und realer Folge sieht er im Gegensatz dazu als ein Kausalitätsverhältnis an. In Heideggers Beispiel bildet die von ihm so genannte Ursache des Regens für uns den Realgrund des Naßseins des Daches, der, von Heidegger "Grund" genannte Obers atz eines Schlusses ist für uns Erkenntnisgrund. Der Erkenntnisgrund wirkt sich allein im Bereich "abstrakter Begriffe"76 aus und bedeutet, daß die im Urteil enthaltene "Konklusion unweigerlich" aus den anerkannten Prämissen "zuzugeben ist"77 - er wird deswegen auch als logischer Grund78 bezeichnet - Schopenhauer70 spricht wesentlich genauer von der logischen Notwendigkeit des Erkenntnisgrundes im Gegensatz zur physischen Notwendigkeit beim Realgrund. Es darf hier auf den ausführlichen Beweis dafür verzichtet werden, daß der logische Grund eines Erkenntnisurteils nicht ihphysisCb.en Tatsachen gesucht werden darf: hier mag der Hinweis genügen, daß in diesen Fällen eben definitionsgemäß kein logischer, sondern ein Reai~ grund vorläge: bloße Tatsachen vermögen niemals' mit logischer' Notwendigkeit eine bestimmte Erkenntnis zu erzeugen. Allerdings können die Prämissen des Erkenntnisgrundes, von denen Schopenhauer spricht, unmittelbar auf empirischen Tatsachen aufruhen80, so daß der Erkenntnisgrund auch als begriffliche Abstraktion Desjenigen, auftreten kann, das der sozialen Tatsache der strafrechtlichen Sanktion als konkreter Realgrund dient. Damit wurde neben den bereits aufgewiesenen Abhängigkeiten die weitere Abhängigkeit der Sanktion als Urteil von einem logischen Er:.. kenntnisgrund aufgezeigt. Diese Beziehung dürfte der entsprechen, die 72 73 74 75 78 77 78 79
80
•*
s. o. 1. Teil, 2. Kap. IV d. Schopenhauer, Satz vom Grunde, 8. Kap. § 52, S. 175, 3. Kap. § 15, S. 38. Schopenhauer, Satz vom Grunde, 5. Kap. § 29, S. 121. Unter 1. Schopenhauer, S. 121. Schopenhauer, 8. Kap. § 49, S. 171. Specht, in: Hist. Wörterbuch, S. 974. s. Anm. 77. 5. Kap. § 33, S. 124.
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1. Buch, 2. T.: Grundlegung: Die Grunde strafrechtlicher Sanktionen
gemeinhin als logische causa cognoscendi angesprochen wird: jeder Satz, speziell jede Prämisse, "durch den ein anderer erkannt wird"81. Wenn Engisch demgegenüber "für das Urteil über die Aktualität der Rechtsfolge" als Erkenntnisgrund unmittelbar die Tatsache ansieht, "die den abstrakten Tatbestand des Rechtssatzes erfüllen"82, so mag dieser Gegensatz zu dem hier Ausgeführten auf sich beruhen. Hier soll und kann nicht über alle Arten des Grundes und deren korrekte Bezeichnung gerechtet werden - hier geht es nur darum, Abhängigkeiten aufzuweisen, dem Wesen nach zu kennzeichnen und sie verständlich zu bezeichnen. Die von Engisch benutzte Bedeutung von "Erkenntnisgrund" läßt sich jedenfalls nicht gegen die hier aufgezeigte Abhängigkeitsweise anführen. Dieser Auffassung steht zwar möglicherweise die Auffassung von Spendet entgegen, der in enger Anlehnung an seine bahnbrechende Einteilung der Strafmaßgründe in solche finaler, realer und logischer Natur83 die Frage nach dem Erkenntnisgrund der Strafe mit dem Problem der Strafbemessung gleichsetzt. Indessen wird später84 gezeigt werden, daß einer solchen Auffassung nicht gefolgt werden kann - an dieser Stelle kann darauf mangels der dazu erforderlichen Vorüberlegungen noch nicht eingegangen werden. 4. über das final begründende Verhältnis Der sog. Zweckgrund ist für Spendet derjenige, "der als vorgesetztes Ziel für eine Folge bestimmend ist"85. Es ist unnötig zu betonen, daß die Frage nach einem Zweckgrund strafrechtlicher Sanktionen alle Strafjuristen und auch die meisten Philosophen beschäftigt hat und noch beschäftigt: es ist die Frage, ob strafrechtliche Sanktionen einem vorgesetzten Ziel, einem Zweck dienen und wenn ja, welchem oder welchen. Damit ist die Abhängigkeit der Sanktion von der Ursache gemeint, die in der philosophischen Literatur als "causa finalis" bezeichnet wird, "das, um dessentwillen etwas gemacht wird"88, "der Zweck ist also das Ziel, welches der Handelnde für sich erstrebt, das Ziel, betrachtet von dem subjektiven Standpunkt des Handelnden aus"87. Schopenhauer bezeichnet diese Abhängigkeit als die "Kausalität von innen gesehen"88, als das Gesetz der Motivation (principium rationis sufficientis agendi), 81 S12echt wie Anm. 78. 8! Engisch, Einführung, S. 41. 83 Strafmaß, S. 191 tI., ferner NJW 56, 776 und ZStW Bd.83, 204 folgend Bruns, Strafzumessung, S. 40 und Zipf, Strafmaßrev., S. 22 f. 84 S. u. 3. Kap. Alb. 85 Rittler-Festschr., S. 46. 88 Specht wie Anm. 78. 87 Berolzheimer, Entgeltung, S. 397. 88 7. Kap. § 44, S. 163.
ihm
2. Kap.: Strafgrund und Irrtum
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die nur im Bereich der empirischen Körperwelt auch als innere Ursache der empirisch wahrnehmbaren Veränderung auftrittBO • Schon hier sei darauf hingewiesen, daß Realgrund und Finalgrund sorgfältig voneinander zu unterscheiden sind. Wie später noch näher darzulegen sein wird, hat die Verwechslung dieser beiden Kategorien von Gründen zu einem erheblichen Teil dazu beigetragen, die scharfe Frontstellung zwischen Vergeltungsstrafe und Zweckstrafe zu schaffen, die aber, worauf schon Adolf Merkel mit Recht hingewiesen hat, nur für diejenigen besteht, "welchen der kausale Zusammenhang zwischen Verbrechen und Strafen verborgen geblieben ist"90. Noch früher weist Welcker eindringlich auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung hin: wie Schopenhauer begrenzt auch er die Kategorie des realen Grund-Folge Verhältnisses auf den Bereich des realen Gegenstandes: in der "physischen Weltordnung" ist "das Factum B lediglich darum da, weil sein Grund A vorhanden war" - ohne daß für die Folge B "etwa ein besonderer Zweck gedacht werden müßte"tl. Erst das Vernunftgesetz fragt "nach einem Zwecke, nach einer Beziehung des HandeIns auf die höchste Bestimmung des Handelnden"'!: alles, was nicht "dem höchsten Zwecke dient, ist unvernünftig"l3. Diese dritte Abhängigkeit der Sanktionen von einem Zweckgrunde wird sich noch als besonders bedeutsam für die Ausgangsfrage nach dem gesuchten "Etwas", an das Sanktionen als Rechtsfolge geknüpft sind, herausstellen: in der jetzt klaren Abgrenzung des Zweckgrundes zum Real-, aber auch zum Erkenntnisgrund wird auch im Schrifttum der meist unklar gebliebene Zusammenhang zwischen Straftheorien und dem gesuchten Gegenstand erhellt werden können. 5. über das rechtlich begründende Verhältnis Es bleibt noch, die Abhängigkeit der Sanktion von einem spezifisch rechtlichen Grunde zu untersuchen: damit ist der Grund gemeint, der den Staat zur Ausübung und Verhängung von strafrechtlichen Sanktionen berechtigt". Spendet weist mit Recht darauf hin, daß Rechtsgrund und Finalgrund nicht miteinander zu verwechseln sindos: der Rechtsgrund gibt zugleich den Grund dafür ab, daß der Staat mit seinen Sanktionen die etwa angestrebten Zwecke verfolgen darf. Dieser Unter89
S. 162 f.
00 Lb., S. 188; ebenso Merkel- Liepmann Lb., S. 212 . • 1 Gründe, S. 189. 92 Gründe, S. 190. 03 Gründe, S. 127. 84 SpendeI, Strafmaß, S. 79 und Rittler-Festschr., S. 53. 9S Rittler-Festschr., S. 53.
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1. Buch, 2. T.: Grundlegung: Die Gründe strafrechtlicher Sanktionen
schied findet sich schon bei Feuerbach, der - allerdings nicht unbestritten - die dem Zweck der Abschreckung dienende Strafandrohung durch die Verteidigung ger€chtfertigt siehtes. Damit soll die übersicht über die möglichen Grund-Folge-Abhängigkeiten strafrechtlicher Sanktionen abgeschlossen werden. Mögen auch andere "Gründ€"97 strafrechtlicher Sanktionen denkbar sein, so reichen doch die bisher aufgezeigten Arten von "Grund" für die mit dieser Arbeit verfolgten Zwecke aus. c) Die Bedeutung der verschiedenen begründenden Verhältnisse
für die Suche nach dem sanktionierten Gegenstand
Sind somit die für uns wesentlichen Abhängigkeiten der strafrechtlichen Sanktionen bekannt, so ist nun zu fragen, welche dieser Abhängigkeiten b€i der Suche nach dem "Etwas", an das die Strafgesetze die Rechtsfolge der Sanktion€n knüpfen, weiterhelfen. 1. Der Rechtsgrund der Sanktionen Die Frage nach dem Rechtsgrund der Sanktionen wird uns dabei kaum behilflich sein. Während es hier um das "Etwas" geht, an das die Sanktionen anknüpfen, will der Rechtsgrund das Recht des Staates zur Verhängung dieser Sanktionen dartun. Das gesuchte "Etwas" kann aber di€sen Rechtsgrund nicht bilden: wird etwa das verbrecherische Handeln als dieses "Etwas" gefunden, bliebe immer noch offen, warum denn der Staat verbrech€risches Handeln mit Sanktionen bel~gen darf - eine Frage, die insbesondere in den Fällen der sozial meist voll integrierten NS-Gewaltverbrecher von höchster Aktualität ist, aber auch bei allen anderen Tätern, die sozial angepaßt sind und von denen in Zukunft keine Straftaten zu erwarten sind. Die Frage nach dem Recht des Staates zu einem bestimmten Tun kann nicht dadurch beantwortet werden, daß die Voraussetzungen, unter denen der Staat von diesem Recht Gebrauch macht, angegeben werden: diese Voraussetzungen sagen nur, wann, wie und wo das Recht ausgeübt werden kann, hinterfragen aber das Recht selbst nicht. Die Frage nach dem Rechtsgrund zielt damit auf etwas völlig anderes als die Frage nach dem "Etwas", an das der Gesetzgeber strafrechtliche Sanktionen geknüpft hat. Deshalb kann die Rechtsgrundproblematik im folgenden grundsätzlich außer Betracht bleiben. Allerdings ist hierbei zu bedenken, daß die Struktur unseres "Etwas" vom Recht des Staates zur Verhängung von Sanktionen möglicherw€ise Anti-Hobbes, S. 221. 97 Vgl. etwa die übersicht bei Specht (Anm.78) über die zahlreichen Ausformungen des Begriffs "causa" in der philosophischen Literatur. 9S
2. Kap.: Strafgrund und Irrtum
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beeinflußt wird: Sieht man den Rechtsgrund der Sanktionen etwa im Bruch des das Gemeinwesen begründenden Gesellschaftsvertrages, in einer Verletzung der diesem Vertrage entfließenden Rechtet8 , so wird das gesuchte "Etwas" in einer gesetzwidrigen Handlung zu sehen sein faßt man dagegen den Staat mit Hegel als "das an und für sich Vernünftige" auf, in dem die "höchste Pflicht" der Einzelnen ist, "Mitglieder des Staats zu sein"98, so liegt es nahe, als Rechtsgrund die Vernachlässigung dieser Pflicht und also die mangelnde pflichttreue Gesinnung als sanktioniert anzusehen100 - wenn auch nicht notwendig; bekanntlich bestimmt Hegel den Rechtsgrund anders: auch er verlangt eine konkrete Pflichtverletzung als den dem allgemeinen Willen entgegengerichteten besonderen Willen des Verbrechers101 als Voraussetzung der Sanktion. Damit zeigt sich, daß unsere Frage und die nach dem Rechtsgrund der Sanktionen zwar verschieden sind, daß aber der Rechtsgrund unser "Etwas" in der Tat beeinflussen kann. Insoweit wird die Frage nach dem Rechtsgrund in den folgenden überlegungen berücksichtigt werden. 2. Der Finalgrund der Sanktionen Einen ähnlichen Einfluß auf das gesuchte "Etwas" könnte der Finalgrund der Sanktionen haben. So sieht Gallas in den mit der Strafe verfolgten Zielen das Staates den Anknüpfungspunkt, der es ermöglicht, "den eigentlichen Merkmalen verbrecherischen Verhaltens auf die Spur zu kommen" 102. Diese Äußerung von Gallas muß indes vorerst zurückgestellt werden, weil Gallas das hier erst gesuchte "Etwas" in dem verbrecherischen Verhalten bereits erkannt hat und nun die erst daran anschließende Frage nach den Merkmalen dieses Verhaltens stellt. Hier muß jedoch zunächst geklärt werden, ob das Ziel, um dessentwillen Sanktionen verhängt werden, dasjenige beeinflussen, an das das Strafgesetzbuch die Rechtsfolge der Sanktionen knüpft. Beide Problemkreise sind nicht etwa identisch, etwa weil die die wesentlichen Merkmale eines Gegenstandes bestimmenden Kriterien notwendig auch den Gegenstand selbst beeinflussen (was freilich zuzugeben ist). Wenn aber der gesuchte Gegenstand etwa vom Finalgrund strafrechtlicher Sanktionen deshalb unabhängig ist, weil alle denkbaren Zweckgründe zum gleichen Gegenstand führen, so ist es jedenfalls auch denkbar, daß dieser Gegenstand je nach dem Finalgrund der Sanktionen 88 89 100 101 102
Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 5. Kap., S. 66. Hegel, Rechtsphilosophie, § 258, S. 208. Vgl. dazu Baumann, Lb., S. 89. Hegel, Rechtsphilosophie, § 99, S. 94 und § 100, S. 95 f. Gallas, Gründe und Grenzen, Beiträge, S. 5 f.
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Grundlegung: Die Gründe strafrechtlicher Sanktionen
verschieden ausgeprägt ist, daß also der Finalgrund zwar ohne Belang für den Oberbegriff ist, nicht aber für die bei den Unterbegriffen hinzutretenden differenzierenden Merkmale. Ein direkter Einfluß der Strafzwecklehre auf den Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Sanktionen wird nun aber behauptet von Birkmeyerl03 , der die Entscheidung für eine bestimmte Straftheorie, verstanden als Strafzwecktheorie, als die erste und grundlegende Entscheidung eines Strafgesetzgebers ansieht, durch die alle weiteren Entscheidungen bereits vorausbestimmt sind. In gleicher Weise mißt Hellmuth Mayer dem Streit der Straftheorien unmittelbare Bedeutung für die Grundstrukturen des Strafrechts bep04, während Nagler genau umgekehrt die Strafe als rechtliche Reaktion bestimmtl05, die sich selbstverständlich "nach dem Gegenstand der Gegenwirkung im ganzen wie im einzelnen richten muß«10s. In gleicher Weise räumt auch Mergen der Verbrechenstheorie den Vorrang ein: "absolute Straftheorie setzt zwingend absolute Verbrechenstheorie voraus"107. Eine Wechselwirkung endlich scheint Stratenwerth anzunehmen, der einerseits ausführt, "welches die Voraussetzungen der Strafbarkeit menschlichen Verhaltens" seien, könne "nicht entschieden werden, solange die Natur der Strafe selbst fragwürdig" bleibe, andererseits aber einräumt, umgekehrt gelte auch, "daß die Voraussetzungen einer Rechtsfolge über deren Charakter mitentscheiden ut08 . Ähnlich argumentiert auch Kühlwein: einerseits soll die Frage nach dem Was des Strafens der nach dem Warum des Strafens "auf dem Fuße" folgen, also wohl nachfolgen, andererseits aber soll die Frage nach dem Was des Strafens "schließlich mitbestimmend" sein für das Ergebnis der Frage nach dem WarumlOI . Wir stoßen hier auf den wohl typischen Fall einer dreifachen Theorienbildung zu einer bestimmten Frage, bei der die die beiden extreme Standpunkte einnehmenden Theorien durch eine dritte verbindende ergänzt werden. Die Fruchtbarkeit dieses Schemas ist aber mindestens zur Lösung der hier aufgeworfenen Frage in Zweifel zu ziehen. Die Bedeutung des Finalgrundes für die Lösung unserer hier verfolgten Frage soll weiterhin vom bisherigen Ansatz des Satzes vom Grunde aus verfolgt werden. Erblickt man den Zweck der strafrechtlichen Sanktionen in der zukünftigen Vermeidung von Rechtsgüterverletzungen, so liegt es nahe, eine begangene Rechtsgüterverletzung als unser gesuchtes "Etwas" anzusehen - jedoch nicht notwendig: werden Charakter 103 104 105 lOS 107 108 10U
Birkmeyer, Schuld, S. 1 fI. AT 67, S. 27. Strafe, S. 93. Strafe, S. 95. Mergen, Verbrechen, S. 63. AT, S. 14. Kühlwein, Kritik, S. 21 f.
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und Gesinnung des Täters als unser "Etwas" angesehen, so können die Sanktionen dem Zweck der Vermeidung von Rechtsgüterverletzungen genauso dienen. Sieht man den Zweck der Sanktionen darin, den Täter zu einem sozial angepaßten Wesen zu erziehen, so wird unser gesuchtes "Etwas" die gesamte sozial bedeutsame Personalität des Täters sein. Damit zeigt sich auch hier, daß unsere hier verfolgte Frage und die nach dem Finalgrund der Sanktionen durchaus verschieden sind, wenn auch der Finalgrund nicht völlig ohne jede Beziehung zu unserem "Etwas" ist. Dabei ist ferner zu beachten, daß der oben vom Finalgrund streng geschiedene Rechtsgrund der Sanktionen möglicherweise aber auch den Finalgrund beeinflußt: wird die Vernachlässigung der bürgerlichen Pflichten als Rechtsgrund angesehen, so läßt sich damit der Finalgrund: "Erziehung der Bürger zu pflichtbewußten Wesen" wesentlich besser vereinbaren als der weniger weit gehende Zweck, bloß zukünftige Rechtsgüterverletzungen zu vermeiden110 . Dabei kann nur der Rechtsgrund den Finalgrund beeinflussen, nicht aber umgekehrt der Finalgrund den Rechtsgrund: bereits oben wurde ausgeführt, daß unter Rechtsgrund auch der Grund verstanden werden soll, der den Staat zur Verfolgung der mit den Sanktionen angestrebten Zwecke berechtigt. Würde der Finalgrund als den Rechtsgrund mitbeeinflussend gedacht, dann würde der Zweck absolut gesehen, der seine Berechtigung schon in sich trägt - eine Auffassung also, die in einem Rechtsstaat unvertretbar erscheint: der Staat darf nur die Zwecke verfolgen, die er auch zu erstreben berechtigt ist. Mit Recht stellt deshalb Hellmuth Mayer sowohl für die Strafe als auch für die Maßregeln der Sicherung und Besserung fest, daß der Rechtsgrund der Anwendung beider erst geklärt sein muß, "wenn man überhaupt den Staat als Rechtsstaat begreift'H11. Rechtsgrund und Finalgrund sind daher so zu verstehen, daß jede strafrechtliche Sanktion und jeder damit verfolgte Zweck eines besonderen Rechtes des Staates bedürfen. Wie schon oben für den Rechtsgrund festgestellt wurde, so kann uns auch der Finalgrund trotz des aufgezeigten Einflusses bei der Suche nach dem Gegenstand, an den die Strafgesetze die Rechtsfolgen der Sanktionen knüpfen, nicht weiterhelfen. Auch hier ist festzustellen, daß unser gesuchter Gegenstand nicht den Finalgrund der Sanktionen enthalten kann - schon deswegen nicht, weil das vorgesetzte Ziel - als Zweck 110 Darauf ist in der Literatur bereits vielfach hingewiesen worden, vgl. z. B. Mangakis ZStW Bd.75, S. 536 f. (m. weiteren Nachweisen): "Der Zweck der kriminellen Strafe ergibt sich aus dem weltanschaulich zu gewinnenden Staatszweck, der in dem Rechtszweck seinen Niederschlag findet und somit mit ihm identisch ist." 111 AT 67, S. 29.
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dann ja schon in unserem gesuchten Gegenstand enthalten wäre und folglich gar nicht mehr erreicht zu werden brauchte: trüge etwa die verbrecherische Handlung als unser gesuchter Gegenstand den möglichen Sanktionszweck der Generalprävention bereits in sich, so brauchte die Sanktion gar nicht mehr verhängt zu werden: je scheußlicher der Mord, desto größer die Abschreckung - desto weniger die Notwendigkeit, den Mörder mit Sanktionen zu belegen. 3. Der Verpflichtungsgrund der Sanktionen Die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen ist stets von der jeweiligen Anordnung in den einzelnen Strafrechtssätzen abhängig. Dies kommt sprachlich regelmäßig dadurch zum Ausdruck, daß gesetzlich verordnet wird, wer in bestimmter Weise handele, werde mit Freiheitsstrafe bestraft bzw. sei mit Strafe zu belegen. Strafrechtliche Sanktionen "sollen" also unter bestimmten Voraussetzungen eintreten, können also möglicherweise auf einem dieses Sollen anordnenden Verpflichtungsgrund beruhen, wie dies etwa Larenz annimmt: die Brücke "zwischen dem als tatbestandsgemäß erkannten realen Sachverhalt und der konkreten Rechtsfolge" wird gebildet durch "die Geltungsanordnung, die im Rechtssatz ausgesprochen ist"112. Diese überlegungen zeigen schon, daß unser gesuchtes "Etwas" nicht ein etwaiger Verpflichtungsgrund sein kann. Gesucht wird derjenige Gegenstand, der allen gesetzlich beschriebenen Sachverhalten gemeinsam ist, mit dem die "gesollte" Rechtsfolge der Sanktion als Folge verknüpft ist. Ein solcher Gegenstand aber muß notwendig real-wirklicher NatUr sein, weil ja auch die Sanktion selbst raum-zeitliches Dasein hat, also real-wirklicher Natur ist. Mit Larenz1l3 ist davon auszugehen, daß zwischen einem der Ebene "des rechtlichen Geltens" angehörenden Gegenstand und einem real-wirklichen Gegenstand keine real-ursächliche Beziehung bestehen kann. Allerdings: damit ist nicht etwa schlechthin die Existenz eines real-wirklichen Gegenstandes als "Ursache" der Rechtsfolge "Sanktion" ausgeschlossen. Die gegenteilige Auffassung von Larenz beruht auf der Prämisse, die Rechtsfolge, also auch eine strafrechtliche Sanktion, gehöre allein der Welt "des rechtlichen Geltens"tU an - aufgrund des obenus geführten Nachweises des raum-zeitlichen Daseins, der realen Wirklichkeit der Rechtsfolge "Sanktion" muß diese Prämisse aber als unrichtig zurückgewiesen werden. 112
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Methodenlehre, S. 188. s. Anm. 112. s. Anm. 112. 2. Kap. C II b.
2. Kap.: Strafgrund und Irrtum
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4. Der Realgrund der Sanktionen Die soeben zum Verpflichtungsgrund angestellten überlegungen machen schon deutlich, daß unser gesuchter Gegenstand nurmehr der Realgrund der Sanktionen sein kann. Sind die strafrechtlichen Sanktionen einmal als Gegenstände der sozialen, wirklich-realen Erscheinungswelt erkannt, so können sie ursächlich nur mit einem ebenso realwirklichen Gegenstand als Folge verknüpft sein. Das aber ist derjenige wirkliche Gegenstand, derjenige notwendige Grund118 , der bei Abwesenheit von störenden Faktoren die Sanktionen in ihrer realen Erscheinungsform zur Folge hat - die Ursache, die die als Sanktion bezeichnete Veränderung der sozialen Erscheinungswelt bewirkt. Unser gesuchter Gegenstand ist also nichts anderes als der Realgrund der Sanktionen.
116 S. 0.1.
3. Kapitel
Die möglichen Realgründe der Sanktionen A. Das die Sanktionen anordnende Urteil I. Das strafrichterliche Urteil als möglicher Erkenntnisgrund der Sanktionen
a) Der Nachweis des Erkenntnisgrundes
Auf der Suche nach dem Realgrund strafrechtlicher Sanktionen stößt man zunächst auf das Urteil des Strafrichters: erst das rechtskräftige Strafurteil ermöglicht Vollstreckung und Vollzug der Sanktionen. Ein Blick in das StGB zeigt jedoch, daß das Gesetz die Sanktionen nirgendwo an ein strafrichterliches Urteil, sondern stets an bestimmte Sachverhalte anknüpft: mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren und mit Geldstrafe z. B. wird nach § 285 StGB derjenige bestraft, der aus dem Glücksspiel ein Gewerbe macht. Das Gesetz, hier § 285 StGB, knüpft die Strafe also gerade nicht an ein strafrichterliches Urteil, sondern an ein "Machen", also Tun des Täters. Nun kann jedoch nicht geleugnet werden, daß die oben erwähnte empirische, wirkliche Erscheinungsform der Sanktionen als Veränderung der sozialen Erscheinungswelt regelmäßig erst mit Vollstreckung und Vollzug des Urteils eintritt. Man könnte deshalb argumentieren, bei der Suche nach dem gesetzlichen realen Sanktionsgrund dürften die einschlägigen Bestimmungen etwa der Strafprozeßordnung und des zu erwartenden Strafvollzugsgesetzes nicht außer Betracht gelassen werden: in die Sachverhaltsbeschreibungen seien also m. a. W. die prozessualen Bestimmungen mit hineinzulesen, wenn der vom Gesetz "eingesetzte" Realgrund der Sanktionen gesucht werde. Hier ist indes dar an zu erinnern, daß jede Sanktion auch das Urteil enthält, daß sie die Rechtsfolge dessen ist, was nunmehr schon als Realgrund der Sanktionen bezeichnet werden kann, daß also, um bei dem konkret gewählten Beispiel zu bleiben, der zweijährige Freiheitsentzug und die Zahlung von 10000,- DM an die Staatskasse die Rechtsfolge dafür sind, daß der also Sanktionierte "aus dem Glücksspiel ein Gewerbe macht(e)" (§ 285 StGB). Die in diesem Urteil enthaltene Erkennt-
3. Kap.! A.: Urteil als möglicher Realgrund
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nis ist eine Veränderung des bisherigen Erkenntnissstandes und somit - wie oben117 bereits dargelegt wurde - ebenfalls dem Satz vom Grunde unterworfen. Fragen wir nach den Grundlagen dieser Erkenntnis, nach dem logischen Grund dieses Urteils, finden wir ein anderes Urteil - nämlich dasjenige, in dem festgestellt wird, daß der Realgrund der Rechtsfolge gegeben sei, oder, im konkreten Beispiel, daß jemand aus dem Glücksspiel ein Gewerbe mit der Rechtsfolge einer zweijährigen Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe in Höhe von 10000,- DM gemacht habe. Das Urteil, diese Freiheitsstrafe und diese Geldstrafe seien die Rechtsfolge ihres Realgrundes, setzt das Urteil über die Existenz des Realgrundes notwendig voraus - ohne das Urteil über die Existenz des Realgrundes ist das Urteil über die Existenz der Rechtsfolge des Realgrundes nicht denkbar. Das Urteil über die Existenz des Realgrundes ist der Erkenntnisgrund der Sanktion im oben118 dargelegten Sinne. Damit wird auch die Bedeutung des strafrichterlichen Urteils klar: darin wird z. B. in unserem Beispielsfall festgestellt, daß der Verurteilte aus dem Glücksspiel ein Gewerbe gemacht hat und deshalb zu der genannten Strafe verurteilt wird - oder, allgemein gesprochen, daß der Realgrund der Sanktion gegeben ist. Das strafrichterliche Urteil ist deshalb der Erkenntnisgrund, die ratio cognoscendi der strafrichterlichen Sanktionen - den konkreten Erkenntnisgrund der im Beispiel erwähnten zweijährigen Freiheitsstrafe und der Geldstrafe in Höhe von 10000,- DM bildet das konkrete Strafurteil gegen den konkreten Täter. Damit ist allerdings noch nicht entschieden, ob nicht das strafrichterliche Urteil in seiner sozialen, wirklichen Realität119 als Realgrund strafrechtlicher Sanktionen dient - diese Frage kann indes erst unten b - behandelt werden, nachdem zunächst auf Spendels von der hier vertretenen abweichende Ansicht über den Erkenntnisgrund der Sanktionen eingegangen wurde. b) Die entgegengesetzte Auffassung von Spendel
Ganz anders bestimmt aber Spendel den logischen oder den Erkenntnisgrund jedenfalls der Strafsanktion. Nach seiner Auffassung stehen wir bei der Frage nach dem Erkenntnisgrund der Strafe "vor dem Problem der Strafbegründung im engeren Sinne, d. h. der... Strafo. 2. Kap. C 11 b 3. 2. Kap. C II b 3; so auch Laun, der zutreffend darauf hinweist, daß jedem Sachgrund ein zugehöriger Erkenntnisgrund entspricht (Der Satz vom Grunde, S. 120 f.). 118 S. o. 2. Kap. C 11 b (vor 1). 117
S.
U8 S. O.
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T.: Grundlegung: Die Grunde strafrechtlicher Sanktionen
bemessung des Gesetzgebers in abstracto und der des Richters in concreto"uo. Es ist offensichtlich, daß diese Auffassung vom Boden der bisher hier erarbeiteten :Ergebnisse nicht vertreten werden kann: Spendet trennt hier nämlich die Strafe von einer ihrer wesentlichen Eigenschaften, dem Maß, und ordnet dieser Eigenschaft eine selbständige Kategorie von Gründen zu, wie er in seiner Lehre vom Strafmaß auch deutlich erklärt: hier unterscheidet er zwischen Tatumständen, die den "Realgrund für die Bestrafung des betreffenden Delikts überhaupt darstellen" und solchen "Tat-Umstände(n)", die "als relevante Strafzume5sungstatsachen die realen Gründe für das Strafmaß im besonderen Falle be:deuten"Ul.
Inwieweit er damit der von ihm an anderer Stellelll! bekämpften Ansicht, zwischen dem Ob und dem Wie der Strafe müsse unterschieden werden, nun doch folgt und ob eine solche Scheidung für zulässig gehalten werden kann, wird später im systematischen Zusammenhang behandelt werden123• Hier sei vorerst lediglich eine extrasystematische Kritik geboten, die hinsichtlich des nämlichen Gegenstandes mehrere kategorial verschiedene Arten von Gründen anerkennt, dabei weitgehend auf der erwähnten Arbeit von Schopenhauer aufbaut und insbesondere im Anschluß an Schopenhauer den Satz vom Grunde in der Kategorie des Realgrundes nur im Bereich der empirisch nachweisbaren wirklichen Qualität der Gegenstände als wirksam anerkennt. Damit ist hier als Realgrund einer Sanktion stets der konkrete, empirisch als wirklich existent aufweisbare Gegenstand gemeint, der eine ebenso konkrete, empirisch als wirklich existent aufweisbare Sanktion real begründet: zwischen einem Realgrund einer Bestrafung "überhaupt" und einem solchen "für das Strafmaß im besonderen Falle" kann gar nicht unterschieden werden. Ohne nun Spendet gleich einen Widerspruch vorwerfen zu wollen, muß doch konstatiert werden, daß er diese Unterscheidung tatsächlich nicht durchhält: erklärt er doch selbst, wie oben bereits erwähntl24 , die Frage nach dem Erkenntnisgrund der Strafe mit der nach der Strafbemessung in abstracto wie in concreto für inhaltlich gleich. Der - extrasystematischen - Kritik muß ferner die inhaltliche Bestimmung des Erkenntnisgrundes bei Spendet verfallen. 120 121 122
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Rittler-Festschr., S. 49. Strafmaß, S. 228, 202. Rittler-Festschr., S. 50. s. u. F II. Rittler-Festschr., S. 49.
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Nach Spendet liegt der logische Strafzumessungsgrund "in der folgerichtigen, widerspruchsfreien und vernünftigen Verbindung" des Realund des Finalgrundes 125 • Dagegen muß bereits eingewandt werden, daß in der widerspruchsfreien und vernünftigen Verbindung aller Kategorien des Real-, Verpflichtungs-, Erkenntnis-, Final- und Rechtsgrundes gerade das Wesen des Satzes vom Grunde liegt, nicht aber in der Verbindung von nur zwei der insgesamt fünf Kategorien dieses Satzes eine selbständige Kategorie erblickt werden kann - natürlich nur vom Boden des hier dargelegten Systems aus, von dem aus die Spendetsche Auffassung als unzulässige und zudem verwirrende Darstellung des Grund-Folgeverhältniss es bei den strafrechtlichen Sanktionen erscheint. Indes lassen die Spendetschen Ausführungen nicht klar erkennen, ob dieser Vorwurf berechtigt ist. Er wäre es nämlich dann nicht, wenn die von ihm vorgenommene Bestimmung des Erkenntnisgrundes die hier für zutreffend erachtete kategoriale Entscheidung gar nicht berühren würde, weil er - wenn auch unausgesprochen - etwa im Erkenntnisgrund ebenfalls ein Urteil lediglich bestimmten Inhalts erblickt, das dem in der Sanktion enthaltenen Urteil als Grundlage dient. Nach Spendet liegt der Erkenntnisgrund einer mehrjährigen Freiheitsstrafe darin, daß bei der Schwere der Tat das Vergeltungsprinzip ein empfindliches, schweres Strafübel gebietet und ein kürzerer, mehrmonatiger Freiheitsentzug keinen angemessenen Tatausgleich darstellen würde126 • Soweit hiermit die richterlichen Urteile: "diese Tat wiegt schwer" und "bei dieser schweren Tat wird das Vergeltungsprinzip wirksam" und "diese schwere Tat muß dem Täter mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren vergolten werden" gemeint sind, kann dem durchaus zugestimmt werden: konnte doch oben das richterliche Strafurteil als Erkenntnisgrund der ein Urteil enthaltenden Sanktion bestimmt werden. Auch insoweit kann Spendet noch gefolgt werden, als er den Realgrund, also hier die Umstände, die nach Spendet die Schwere der Tat ausmachen, mit dem Finalgrund im Erkenntnisgrund miteinander verbinden und daher eine bloße Beziehung zwischen Real- und Finalgrund als Erkenntnisgrund bestimmen will: immer noch wird ein Urteil als Erkenntnisgrund angegeben, das jedenfalls auch das Bestehen eines Realgrundes der Strafe feststellt - daß daneben auch ein Finalgrund urteilsmäßig festgestellt wird, interessiert hier nicht weiter. Sollte Spendet jedoch - was seine Ausführungen jedenfalls nicht ausschließen - den Erkenntnisgrund direkt im Finalgrund und in den Tatsachen erblicken, die dem Urteil über die Tatschwere zugrundeliegen, so könnte Spendet nicht mehr gefolgt werden, weil dann die 125
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Strafmaß, S. 198, ebenso NJW 56, 776 und Rittler-Festschr., S. 50. Strafmaß, S. 193.
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1. Buch, 2. T.: Grundlegung: Die Grunde strafrechtlicher Sanktionen
Geltungsbereiche der verschiedenen Kategorien des Satzes vom Grunde miteinander verwechselt worden wären. Somit vermögen die Ausführungen von Spendel das oben unter a entwickelte Ergebnis nicht zu stürzen. 11. Die soziale Realität des strafrichterlirhen Urteils als untauglicher Realgrund der Sanktionen
Scheidet so die Urteilskomponente des strafrichterlichen Urteils als Realgrund der Sanktionen aus, so könnte immerhin noch das Urteil in seiner sozialen, wirklichen Realität als Realgrund der Sanktionen in Frage kommen. Dazu müßte jedoch das Gesetz die Sanktion gerade an diese Realität des Urteils anschließen, was, wie oben unter I a ausgeführt wurde, nur angenommen werden könnte, wenn das Strafurteil in die Sachverhaltsschilderungen des Besonderen Teils des StGB hineininterpretiert würde und folglich nicht der Mörder, sondern der vom Gericht als Mörder Verurteilte mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht wäre. Das scheint nun Goldschmidt in der Tat angenommen zu haben: knüpft sich doch für ihn "prozessual betrachtet" die "Androhung der Strafverurteilung und Strafvollstreckung nicht an einen außerprozessualen Tatbestand, sondern an ein Prozeßergebnis"127. Ob Goldschmidt zutreffend Strafverurteilung und Strafvollstreckung als "angedroht" betrachtet, mag dahinstehen. Entscheidend ist jedoch, daß diese Auffassung mit den hier soeben ermittelten Ergebnissen durchaus vereinbar ist. Strafverurteilung und Strafvollstreckung, grob vereinfachend unter den Sanktionsbegriff subsumiert, knüpfen ja nur "prozessual betrachtet" an ein Prozeßergebnis an - nicht aber im Sinne eines real begründenden Verhältnisses. Wenn man mit der soeben im Text dargelegten Auffassung das Urteil als Erkenntnisgrund der Sanktion betrachtet, so kann der Formulierung von Goldschmidt nur zugestimmt werden - die ausdrückliche Einschränkung des "prozessual betrachtet" schließt aus anzunehmen, Goldschmidt habe damit den Realgrund im hier ermittelten Sinne gemeint. Würde man dennoch behaupten, nicht der Mörder, sondern der als Mörder Verurteilte sei mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht, so würde auf diesem Wege des Strafurteil zur echten Strafbarkeitsvoraussetzung und damit zu materiellem Strafrecht. Diese Auffassung ist jedoch abzulehnen. Das Strafverfahren dient allein der Erkenntnis der 127
Prozeß, S. 342.
3. Kap., A.: Urteil als möglicher Realgrund
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Strafbarkeitsvoraussetzungen128 ; diese Erkenntnis findet in dem das Verfahren abschließenden Urteil ihren Niederschlag. So wird für Eberhard Schmidt die Strafe durch die Tat verwirkt (Realgrund) durch das Urteil lediglich das Verwirktsein der Strafe festgestellt klarer ist der Charakter des Strafurteils als Erkenntnisgrund im hier verstandenen Sinne wohl nie ausgedrückt worden12u . In gleicher Weise setzt die Strafe für Niese eine Straftat voraus, "an die sie als materielle Rechtsfolge anknüpft'