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German Pages [440] Year 2008
Alfred Adler Studienausgabe herausgegeben von Karl Heinz Witte
Band 2: Alfred Adler Über den nervösen Charakter (1912) herausgegeben von Karl Heinz Witte, Almuth Bruder-Bezzel und Rolf Kühn
Alfred Adler
Über den nervösen Charakter (1912) Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie
herausgegeben von Karl Heinz Witte, Almuth Bruder-Bezzel und Rolf Kühn unter Mitarbeit von Michael Hubenstorf
2., korrigierte Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Die Alfred Adler Studienausgabe wird im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie herausgegeben von Karl Heinz Witte unter Mitarbeit von Vera Kalusche.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-46053-5 © 2008, 1997, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet : www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG : Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. © Umschlagabbildung: DGIP-Archiv Gotha. Printed in Germany Satz : KCS GmbH, Buchholz / Hamburg Druck und Bindung : Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erläuterung zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil Textausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweiter Teil Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Werke Alfred Adlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexika, Sammelwerke und Monografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seitenkonkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort zur ersten Auflage
Dass Alfred Adler den Text seiner Frühschriften in den nachfolgenden Auflagen intensiv überarbeitet hat, ist häufig festgestellt worden. Um diesen Teil der Entwicklung der Theorie der Individualpsychologie dem Studium zugänglich zu machen, ermöglichte die Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie die Vorarbeiten zu einer historisch-kritischen Edition. Die Herausgeber legen hier eine kommentierte textkritische Ausgabe des grundlegenden Werkes »Über den nervösen Charakter« (1912) vor. Sie dokumentiert die Varianten der vier Editionen, die Alfred Adler selbst herausgab, und bietet einen Sachkommentar, der die philosophischen, literarischen und medizinischen Bezüge erläutert. Diese Ausgabe kann man wie einen Werkstattbericht aus Adlers Arbeit an seiner Theorieentwicklung lesen. Sie mag zugleich als Handwerkszeug für die Erforschung eines Zweiges der Geschichte der Psychotherapie dienen, der am Ursprung zahlreicher weiterer Verzweigungen der psychosomatisch, psychoanalytisch oder sozialpädagogisch orientierten Psychotherapiekonzepte steht. Die Herstellung des Variantenapparates und des Drucksatzes besorgte Karl Heinz Witte, München. Die psychologischen und psychiatrischen Kommentare schrieb Almuth Bruder-Bezzel, Berlin, die philosophischen und literarischen Rolf Kühn, Gundelfingen bei Freiburg i. Br., die medizinhistorischen Michael Hubenstorf, Berlin. Hinweise zu einzelnen Sachgebieten verdanken die Herausgeber Klaus-Jürgen Bruder, Berlin, Jürg Rüedi, Zürich, Ruediger Schiferer, Wien, und Jean Viguier, Maisons-Alfort. Brunhilde Schaardt, Berlin, und Klaus Schmalzried, Berlin, überließen uns ihre Vorarbeit zu einer synoptischen Textausgabe, die bei der Erstellung unseres Variantenapparates hilfreich war. Besonderer Dank und Anerkennung gebührt Frau Elke Dorr, Germering bei München, die mit bewundernswerter Ausdauer und Gründlichkeit die Eingabe des Grundtextes und der Varianten sowie die Erstellung der Indizes am Computer besorgte, sowie Frau Ilse Kühn, Freiburg, für die Reinschrift des Kommentarmanuskripts. Der Unterstützung vonseiten der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie sowie der finanziellen Förderung durch die Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie e. V. und nicht zuletzt den großzügigen Spenden zahlreicher Mitglieder ist es zu verdanken, dass das Projekt verwirklicht werden konnte. Dem Sohn Alfred Adlers, Kurt Adler, New York, danken die Herausgeber und der Verlag für die Freigabe der Druckrechte an dieser Ausgabe. Almuth Bruder-Bezzel, Berlin Rolf Kühn, Gundelfingen bei Freiburg i. Br. Karl Heinz Witte, München
Vorwort zur zweiten Auflage
Die Erstauflage der historisch-kritischen Ausgabe der Schrift »Über den nervösen Charakter« erschien 1997 und war bald vergriffen. Die Neuauflage desselben Werkes wird hiermit in die Studienausgabe als Band 2 integriert. Inhaltliche Änderungen sind nicht vorgenommen worden. Es wurden lediglich Druckfehler beseitigt und die Rechtschreibung sowie die Zeichensetzung wurden den aktuellen Regeln angepasst. Dieser Band weicht insofern vom übrigen Format der Studienausgabe ab, als die Sach- und Personenkommentare hier wesentlich umfangreicher gehalten sind. Damit bietet dieser Band eine Informationsquelle, die auch bei der Arbeit mit den anderen Bänden der Studienausgabe genützt werden kann. Für die Hilfe bei der Umsetzung des Textes auf die neue Rechtschreibung und die Erstellung des Registers sowie für die Hilfe beim Korrekturlesen danken die Herausgeber Frau Vera Kalusche, Bonn, und Frau Elfriede Witte, München. Karl Heinz Witte
Einleitung
Das Buch »Über den nervösen Charakter« von 1912 ist das programmatische Hauptwerk Alfred Adlers. Unmittelbar nach seiner Trennung von Sigmund Freud 1911 erschienen, dokumentiert es sowohl den Abschluss einer Entwicklung als auch den Beginn einer neuen Ära, den Beginn der Individualpsychologie als eigener Schule. Es fasst somit Adlers bisherige Erkenntnisse zusammen, gibt ihnen breiteren Raum und setzt zugleich auch neue Akzente. Im deutschsprachigen Raum hat das Werk zu Adlers Lebzeiten vier Auflagen erfahren: 1912, 1919, 1922, 1928. Die Fischer-Taschenbuch-Ausgabe (NC 1974) basiert auf der vierten Auflage von 1928. 1917 ist es in Amerika erschienen. Adler hat jede dieser Auflagen verändert, was seine Absicht dokumentiert, das Buch, seinem jeweiligen theoretischen Stand entsprechend, auf dem Markt zu behalten. Genauso ist er mit seinen Aufsatzsammlungen (HuB und PuT) verfahren. Die hier nun vorliegende kommentierte textkritische Ausgabe stellt als fortlaufenden Text die Originalfassung von 1912 dar und wird von einem Variantenapparat aller Veränderungen in den vier Auflagen begleitet. Im zweiten Teil werden diese Texte durch Kommentare ergänzt. Es sind biografische oder sachliche Erläuterungen zu den vielen von Adler genannten oder zitierten Autoren und zu einzelnen Fachbegriffen. Diese entstammen verschiedenen Bereichen der Wissenschaft und Kultur. Durch dieses Verfahren ist es nun erstmalig für einen breiteren Leserkreis möglich, den Originaltext von 1912 zu lesen und gleichzeitig die verschiedenen Schichten der Entwicklung der Adler’schen Theorie zu verfolgen. Damit werden fundierte historische Analysen des Textes und der Theoriegeschichte möglich. Mit dem Originaltext wird uns der Stand der Theorie Adlers nach seiner Trennung von Freud zugänglich, wie er sie innerhalb des Kreises um Freud und zugleich gegen Freud entwickelt hatte. 1912 ist die Zeit, in der Adler an Freud noch gebunden – sein neuer, eigener Verein hieß noch »Verein für freie psychoanalytische Forschung« – und zugleich von ihm getrennt war. So sind im Originaltext die Einflüsse und Abgrenzungen von Freud am unmittelbarsten sichtbar und nachvollziehbar. Auf der Grundlage dieses Originaltextes wird sich unser Bild von Adler differenzieren. Zugleich kann man sagen, dass das Buch »Über den nervösen Charakter« insofern kein »Frühwerk« darstellt, als die Grundlagen der Adler’schen Theorie bereits entwickelt vorlagen, also die Theorie vom Minderwertigkeitsgefühl und dessen Kompensation und dem Individuum als zielgerichteter Einheit. Selbst der sozialpsychologische Ansatz, der die psychische Entwicklung in Auseinandersetzung mit und unter dem Einfluss des sozialen Umfeldes sieht, liegt zumindest in seinen Anfängen vor. Daraus wird freilich erst später, ab 1919, eine neue Grund-
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lage: die Theorie der Bedeutung des »Gemeinschaftsgefühls« für die normale und neurotische Entwicklung. Dies stellt sich als wesentliche Änderung nach dem Ersten Weltkrieg in der zweiten Auflage des »Nervösen Charakters« dar. Der Schritt Adlers von der ersten zur zweiten Auflage ist nun mit dem Originaltext und dem Variantenapparat nachzuvollziehen. Ebenso wichtig, wie den Originaltext zur Verfügung zu stellen, war es uns, die Veränderungen in allen Auflagen nachvollziehbar zu machen. So werden wir zwangsläufig auf die verschiedenen Schichten der Entwicklung und auf die Frage gestoßen, warum eine jeweilige Änderung erfolgt und was sie bedeutet. Die häufigsten und wichtigsten Änderungen ergeben sich aus der Einführung des »Gemeinschaftsgefühls« in der zweiten Auflage 1919, eine ganze Reihe weiterer Änderungen gibt es auch in der dritten und vierten Auflage. Es sind Veränderungen der Begrifflichkeit, des Stils, des Ausdrucks, Ergänzungen oder Weglassungen. Manche sind nicht sehr bedeutend, manche erweisen sich erst auf den zweiten Blick oder im Zusammenhang als wichtig. Die Analyse dieser Änderungen ist zukünftiger Forschung vorbehalten. Die Kommentare sollen helfen, den Text von seinen Quellen her verständlich zu machen und begriffliche Unklarheiten zu beseitigen. Wie in keinem anderen seiner Werke gibt uns Adler im »Nervösen Charakter« durch Zitate, durch Nennung von Autoren, durch Rückgriffe auf kulturelle Bezüge einen Einblick in sein wissenschaftliches und kulturelles Umfeld, in die epistemologischen Grundlagen seines Denkens. Unsere Kommentare enthalten sich der Interpretation und wollen der Forschung einen weiteren Weg ebnen, das Denken Adlers zu erschließen. Als das Buch »Über den nervösen Charakter« 1912 erschien, war Adler in Fachkreisen kein Unbekannter mehr. Seit 1902 in Freuds Mittwochsgesellschaft, war er 1907 mit seinem Buch »Studie über die Minderwertigkeit von Organen« hervorgetreten, in dem er seine Lehre von der Organminderwertigkeit und deren Kompensation als Grundlage einer Neurosenpsychologie vorlegte. Diesem Buch folgten eine Reihe von Aufsätzen zur psychoanalytisch inspirierten, zugleich den Weg der »Studie« fortsetzenden Theorie der Neurosenentwicklung und -dynamik. 1910/11 kann man Adlers Theorie als abgeschlossen betrachten. Seine Aufsätze waren jeweils Gegenstand der Diskussion in der Mittwochsgesellschaft und stießen dort auf zunehmenden Widerstand, beginnend mit der Auseinandersetzung über den Aggressionstrieb 1908. Dies führte schließlich dazu, dass Adler sich grundlegend erklären sollte. Er wurde aufgefordert, seine Theorie »im Zusammenhang« vorzustellen. Das geschah in vier Sitzungen und Diskussionen im Januar und Februar 1911 und endete mit seinem Austritt im Sommer 1911, dem nach einigen Monaten dann die Anhänger Adlers oder solche, die dieses Ausschlussverfahren nicht billigten, folgten (vgl. Bruder-Bezzel 1983, Handlbauer 1990). Die erste große Spaltung der Mittwochsgesellschaft war damit vollzogen. Der Adler’sche Kreis formierte sich zum »Verein für freie psychoanalytische Forschung«. Angesichts der Kürze der Zeit
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zwischen dem Bruch mit Freud und dem Erscheinen dieses umfangreichen Buchs ist davon auszugehen, dass er dieses schon länger vorbereitet hatte und somit die Trennung auch von ihm geplant war. Wenn es so ist, dass die Theorie Adlers um 1910/11 erstmals abgeschlossen war und das neue Buch nichts grundlegend Neues brachte, warum wurde dann sein Erscheinen für Adler nötig? Adler brauchte ein Buch, 1. um seine von Freud abweichende Position für sich zu reflektieren und seine Trennung für die Öffentlichkeit zu dokumentieren, 2. um mit dem Werk eine Charakterlehre zu begründen und den Aufbau einer Schule zu beginnen, und 3. war es schließlich für ihn die Gelegenheit, sich habilitieren zu können. Alle drei Gründe geben dem »Nervösen Charakter« eine programmatische Bedeutung (wie sie in den jeweiligen Vorworten und in der Einleitung sehr deutlich wird), und sie erklären zugleich, warum er sich so viel Raum nimmt für die Darstellung seiner Gedanken sowie seiner Fallbeispiele und warum er diese mit so vielen metatheoretischen Überlegungen und Verweisen begründet. 1. Der Prozess der Trennung von Freud nach neunjähriger Zusammenarbeit muss von Adler als einschneidend, ja auch als kränkend erlebt worden sein – auch wenn er ihn selbst mit herbeigeführt hat. Es war ein neuer Abschnitt in seinem Leben, der Anlass gab, sich seines Standorts zu vergewissern. So ist ein Buch entstanden, das alle seine bisherigen Gedanken und Erfahrungen sammelt, das sich implizit oder explizit mit Freud auseinandersetzt, das theoretische Grundpositionen reflektiert. 2. Die Trennung von Freud bedeutete aber nicht den Abschluss in der Sache, er wollte daran in veränderter Richtung (Charakterlehre, pädagogische Nutzung) mit Kollegen weiterarbeiten, eine Schule gründen. Dafür bedurfte es eines neuen, programmatischen Werks, das sich an ein breiteres Publikum richtet. Das konnte er weder mit seiner »Studie« noch mit seinen Aufsätzen. Denn die »Studie« war an ein engeres medizinisches Fachpublikum gerichtet, und vor allem spiegelte sie keinesfalls seinen derzeitigen Stand wider – für seine psychologische Theorie war sie bereits überholt, auch wenn er sie nie wirklich fallengelassen hat. Die Aufsätze wiederum waren verstreut, und sie konnten auch sein neues, von Freud abweichendes Interesse an einer Charakterlehre nicht abdecken. Erst als die »Schule« eingerichtet war und sich nun ganz von Freud losgesagt hatte, dokumentiert in der Umbenennung in »Verein für Individualpsychologie« (1913), schien es ihm sinnvoll, seine bisherigen Aufsätze, umrahmt von (pädagogischen) Beiträgen seiner Anhänger, erneut öffentlich zugänglich zu machen (HuB 1914), nun allerdings bereits verändert, seiner neuen Entwicklung angepasst. Dies erweckte den Eindruck einer Kontinuität der Entwicklung Adlers seit 1904. 3. Im Juli 1912 reichte er das Buch zusammen mit seinen anderen Veröffentlichungen bei der Medizinischen Fakultät ein, um die Venia legendi zu erhalten. Das Festhalten an der Organminderwertigkeitslehre und die umfassenden Verweise auf medizinische Kenntnisse sind wohl dieser Absicht geschuldet. Es sollte ein
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»wissenschaftliches« Werk sein. Der Versuch ist fehlgeschlagen. 1915 befand der Gutachter, der prominente Psychiater Wagner von Jauregg, dass Adler der Methode Freuds treu geblieben sei, und diese sei Spekulation und Intuition. Adlers Werke seien zwar geistreich, »aber es ist für einen Naturforscher gefährlich, wenn er nur geistreich ist« (vgl. Ellenberger 1973, 786f.). Diese Ablehnung – und die Ineinssetzung mit Freud – hat Adler zutiefst verbittert. Noch 1922 (nicht aber 1919) äußert er sich im Vorwort des »Nervösen Charakters« (s. u. S. 39) entsprechend. 1914 war nun der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Er dauerte unerwartet lange, verlief mörderisch. Die Vereins- und Publikationstätigkeit der Individualpsychologie war empfindlich gestört: Die 1914 neu gegründete Zeitschrift kam zum Erliegen. Adler veröffentlichte nur wenige Arbeiten (u. a. zur Homosexualität [PdH 1917], zur Kriegsneurose [NGFK 1918, PüK 1918], politische Schriften [AS 1918, BuS 1918, 1919]). Mit dem Ende des Krieges, der einerseits Not und Elend hinterließ, andererseits einen auch für Adler hoffnungsvollen Neubeginn in der Republik versprach – von Wien aus gesehen einer »sozialistischen« Republik –, musste nun auch die Adler’sche Schule sich neu organisieren. Das allein schon machte eine Neuauflage des grundlegenden Werks sinnvoll. Zugleich aber hatte Adler, unter dem Eindruck dieser Zeitereignisse, das »Gemeinschaftsgefühl« »entdeckt«. Das nun sollte die neue Basis seiner Theorie und Praxis in dieser Republik werden. Die Adler’sche Theorie lief nun in eine neue Richtung, bekam ein (neues) Ziel – und verlor dabei alte Anhänger, bekam jedoch umso mehr neue hinzu: »Die philosophische Gesamtanschauung« sei für ihn und für »einen großen Kreis von Bekennern Weltanschauung und Menschenkenntnis geworden«. Der »ernste Leser« werde jetzt mit einer »Lebensaufgabe« belastet: »Voranzugehen bei dem Abbau des Strebens nach persönlicher Macht und bei der Erziehung zur Gemeinschaft«, schreibt er nun im Vorwort 1919 (s. u. S. 37). So war es selbstverständlich nötig, sein Buch in diesem Sinn umzuarbeiten. Das ergab die meisten und entscheidenden Änderungen, wie wir sie nun in dieser kommentierten textkritischen Ausgabe nachvollziehen können. In gleicher Weise folgte bald darauf eine Veröffentlichung von älteren, überarbeiteten Aufsätzen (PuT 1920), dann eine wieder veränderte Neuauflage seiner früheren Aufsätze (HuB 1922). Nur kurze Zeit darauf, 1922, war eine dritte Auflage des »Nervösen Charakters« nötig oder erwünscht. Dies signalisiert den Erfolg des Buches und den Erfolg der Adler’schen Schule, die bereits eine »Bewegung« war. Wien hatte sich inzwischen zum »Roten Wien« entwickelt, mit seinem umfangreichen, von der Mehrheit der Bevölkerung begeistert getragenen Reformprogramm. Adler und seine Schule waren, vor allem im pädagogischen Bereich, maßgeblich daran beteiligt. Ein Anlass für die veränderte Neuauflage wird auch der 1. Internationale Kongress der Individualpsychologie in München 1922 und damit die bereits begonnene Ausbreitung der Individualpsychologie in Deutschland gewesen sein. Außer den Adler’schen Büchern hatte es zu dieser Zeit noch kaum Publikationen von Adler-Anhängern
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gegeben. Auch die Zeitschrift gab es noch nicht wieder. Für Adler schienen wieder Veränderungen des Textes nötig; es hatten sich nun wesentliche Akzente verändert. Im Vorwort zur dritten Auflage werden mehrmals die »Irrtümer«, »Verfehlungen« des Neurotikers hervorgehoben, das Ausscheren aus der »absoluten Logik des menschlichen Zusammenlebens«, wodurch der individuellen Verantwortung mehr Gewicht beigelegt zu sein scheint als der »schwierigen Position der Kindheit« (s. u. S. 38). Zwischen der dritten und vierten Auflage 1928 vergehen nun sechs Jahre. Die individualpsychologische Bewegung stand in dieser Zeit auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung und Verbreitung. Es erschien regelmäßig und umfangreich die »Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie« (ab 1923); es waren nun Werke auch anderer Individualpsychologen erschienen. Adler selbst hatte als neues Buch die Mitschriften von Vorträgen veröffentlicht (Menschenkenntnis [M 1927]) – was dann sein erfolgreichstes Buch wurde. Er selbst war nur noch wenig in Wien, stattdessen auf Reisen in Europa, ab 1926 vor allem in Amerika. Diese Umstände erklären vielleicht den relativ langen zeitlichen Abstand bis zu dieser vierten und letzten Auflage. Änderungen gibt es nun nicht mehr sehr viele, nur »Keime neuer psychologischer Entwicklungen« (Vorwort zur vierten Auflage, s. u. S. 39). Unter anderen persönlichen und vor allem politischen Umständen hätte es in den dreißiger Jahren gewiss wiederum eine Neuauflage gegeben mit durchaus bedeutsamen Veränderungen, die diese Etappe seiner Theorieentwicklung markiert hätten, wie wir sie im Buch »Sinn des Lebens« von 1933 sehen. Die skizzierte Abfolge der jeweiligen Auflagen, die für Adler jeweils als notwendig erscheinenden Änderungen, die programmatisch verfassten Vorworte wie auch der Titel selbst zeigen an, dass Adler selbst den »Nervösen Charakter« über die Jahre hinweg als programmatisches, die individualpsychologische Schule verbindendes Werk angesehen hat. Programmatisch formuliert er seinen Ausgangspunkt nach der Trennung von Freud im »Vorwort des Herausgebers« der »Schriften des Vereins für psychoanalytische Forschung«, das der ersten Auflage (1912) beigegeben ist (s. u. S. 27–29): Auf der Basis seiner Minderwertigkeitslehre will er eine »vergleichende Psychologie« schaffen, d. h. eine Psychologie, in der bei allen psychischen Erscheinungen »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« betrachtet werden und in der das »Individuum« durch eine »fiktive Persönlichkeitsidee« zu einer »zielgerichteten Einheit« wird. Alle Begriffe, die so wesentlich für die Individualpsychologie werden, sind hier auf einer Seite versammelt: Lebensplan, Fiktion, Individuum. Dieses Programm ist gegenüber seinen Gedanken bis 1910/11 nicht eigentlich neu – weder die Einheit noch das Ziel; selbst der Fiktionsbegriff war bereits 1910/11, wenn auch nur gelegentlich (z. B. PHiLN 1910), aufgetaucht – aber sie bekommen nun tragende Bedeutung. Neu ist, dass die »zielgerichtete Einheit« mit dem Begriff »Individuum« im Sinne von Virchow (s. u. S. 35) belegt wird und dass dieser Begriff der Adler’-
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schen Schule ihren Namen (»Individual«-) gibt. Neu ist am Fiktionsbegriff – den er bereits von Nietzsche kannte und der in Begriffen wie »Meinung«, »Annahme«, »Arrangement« angelegt war –, dass dieser nun über den Philosophen Vaihinger zum Zentralbegriff avanciert. Aus dem »Lebensplan« oder der »leitenden Idee« wird später die »Leitlinie« oder der »Lebensstil«. Der Gedanke der »vergleichenden Psychologie« tritt später in den Hintergrund, was auch einer »Charakterlehre« entspricht, in der die »Vergangenheit« gegenüber der »Gegenwart und Zukunft« in den Hintergrund tritt. Schließlich verweist sein Begriff »Positionspsychologie« (s. u. S. 372, A. 12) auf seinen sozialpsychologischen Ansatz und setzt sich gegen die akademisch vorherrschende »Dispositionspsychologie« ab. Adler will mit dem »Nervösen Charakter« eine Charakterlehre (»als Teil der Neurosenpsychologie«) schaffen: »Charakter« als Schablone, Schema, Richtlinie, Kunstgriff verstanden, als das Ergebnis der zielgerichteten Einheit. Dies zeigt nicht nur eine Abgrenzung von Freuds Neurosenpsychologie, sondern bedeutet auch eine Hinwendung zur »Menschenkenntnis« der normalen Persönlichkeit – und damit eine Hinwendung sowohl auf das Interesse eines breiteren Publikums als auch auf die zeitgenössisch verbreitete, lebensphilosophisch orientierte akademische Psychologie (»Charakterkunde«), ohne deren Typologie mitzumachen. »Nervös« und »neurotisch« werden bei Adler begrifflich nicht scharf voneinander getrennt, doch hat der Populärausdruck »nervös« eher als »neurotisch« den Bezug zur Psychologie des Normalen. »Nervös« meint hier auch »neurotische Disposition«, die sich nur unter erschwerten Umständen zur Neurose auswächst. Dabei gibt es für Adler fließende Übergänge: »Es finden sich bei den Nervösen keine vollkommen neuen Charakterzüge, kein einziger Zug, der nicht auch beim Normalen nachzuweisen wäre. Aber der neurotische Charakter ist auffallend und weiterreichend« (s. u. S. 52). Es ist selbstverständlich weiterer Forschung vorbehalten – und diese Ausgabe will dazu anregen – zu untersuchen, welchen Standort Adler hatte, welche Veränderungen er im Lauf der Auflagen durchlaufen hat, was er beibehielt und was er veränderte. Eine erste Übersicht kann schon so viel sagen, dass in der zweiten und dritten Auflage quantitativ und qualitativ die wichtigsten Veränderungen vorkommen. Danach erfolgen Akzentverschiebungen, die oft zunächst nicht leicht fassbar, aber im Zusammenhang bedeutend genug erscheinen, um den Charakter der Individualpsychologie verändert zu haben. So nimmt z. B. die Betonung der kompensatorischen Verarbeitung zu, seine Theorie wird immer mehr zur Charakterlehre, sodass die Grundlage, nämlich das Minderwertigkeitsgefühl und die traumatisierende soziale Realität, zunehmend vernachlässigt werden. Mit der Einführung des Gemeinschaftsgefühls gewinnt der Stellenwert des sozialen Ganzen gegenüber dem Individuum an Gewicht, damit aber auch die positive Hervorhebung ihrer Normen und Wertungen, sodass demgegenüber die negativen Bewertungen des Neurotikers zunehmen (vgl. Witte 1994).
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Adler hat als Quellen seines Denkens ein breites Spektrum humanistischen Hintergrundes in literarischer und künstlerischer Hinsicht, an philosophischer Anthropologie und Erkenntniskritik sowie an psychiatrischen und medizinischen Kenntnissen eingebaut. Dabei geht er mit seinen Quellen zum Teil recht freizügig um. Eher selten zitiert er wörtlich, häufig nennt er einfach einen Namen, selbst da, wo dessen Einfluss recht bedeutsam ist. Besonders philosophische Quellen benutzt er in Teilstücken so, wie es ihm bloß zur Veranschaulichung dient, ohne auf die eigentliche philosophische Problematik einzugehen (s. Kühn 1996). Durch die hier vorgelegte Textanordnung und durch die Kommentare werden viele neue Bezüge deutlich oder bisher bekannte differenziert. So sind für Adlers philosophische und erkenntnistheoretische Implikationen vor allem Nietzsche, Vaihinger, Avenarius und Jerusalem von besonderer Bedeutung. Das NietzscheVerständnis bleibt an das Lebens- und Machtgefühl als Bewältigung des Schein-/ Realitätsproblems gebunden, und zwar anhand der Diskussion von Fiktion und Apperzeption als Deutungsschemata. Für den Scheinbegriff sind komplexe Rezeptionsstränge Nietzsche/Kant/Vaihinger erkennbar. Bisher nicht beachtet waren die Einflüsse von Avenarius und Jerusalem, die für Adlers Subjektbegriff (Subjekt von der Umwelt her gedacht oder Subjekt als schöpferische Kraft) und für sein Verständnis von Apperzeption über Kant hinaus von Bedeutung sind. Für Adlers Auseinandersetzung mit Freud ist die »französische Schule der Psychiatrie«, vor allem Pierre Janet, von Bedeutung; denn hier wird eine phänomenologisch orientierte Verbindung zwischen psychologischer Forschung und philosophischer Sichtweise angegangen. Für den somatisch-medizinischen Bereich nennt Adler eine ganze Fülle von Autorennamen und Krankheitserscheinungen, die seine These von der Bedeutung der Organminderwertigkeit unterstützen sollen. Im psychiatrischen Bereich bezieht sich Adler im Wesentlichen auf bekannte Autoren, wie u. a. auf Bleuler, kritisch auf Kretschmer und Kraepelin, und auffallend häufig auf Sexualpathologen. Von Psychologen im engeren Sinn ragt William Stern als Referenz hervor. Adlers großzügige Zitierweise passt gut zu seinem lockeren, zuweilen sogar zyklisch-aphoristischen Schreibstil und seiner sprunghaften Gedankenführung. Einen wirklichen Aufbau hat das Buch nicht. Es ist nicht in die Grundlegung bestimmter theoretischer Prinzipien oder Annahmen gegliedert, um dann zu theoretischen oder praktischen Anwendungen voranzuschreiten. So ist auch der »Praktische Teil« seines Hauptwerkes durchsetzt von theoretischen Erläuterungen. Die theoretischen Prinzipien und die Beispiele werden nicht getrennt, sondern ineinander verwoben. Es kommt daher auch zu eingestreuten Exkursen und zu vielen Wiederholungen. Aus diesen Gründen ist die Lektüre des »Nervösen Charakters« langatmig, manchmal sogar ärgerlich. Das ist keineswegs einem unklaren Schreibstil Adlers geschuldet, es entspricht seinem Denkansatz (Witte 1994, S. 26). Der Charakter eines Menschen ist für ihn eine Einheit, aber zugleich ein vielverzweigtes
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Netz von Leitlinien und Fiktionen, von Haupt- und Nebenlinien, von Arrangements und Schachzügen, von Vor und Zurück. So werden einzelne Verhaltensweisen und Charakterzüge in immer neuen Zusammenhängen, mit neuen Aspekten gesehen, die immer wieder überraschend sind. Offenbar um diese Stärke und Schwäche seiner Schreibweise wissend, schreibt Adler daher: »Die menschliche Seele kann nur ein Querkopf ganz in ein wissenschaftliches Lehrgebäude einfangen wollen. Vollends Individualpsychologie ist eine künstlerische Leistung« (s. u. S. 369, A. 32). Almuth Bruder-Bezzel
Erläuterung zur Edition
Die erste Auflage wird als Leittext gewählt, damit ein zusammenhängend lesbarer Text der Originalausgabe Adlers von 1912 entsteht. Grundsätzlich wird der Text der ersten Auflage wiedergegeben. Schreibweisen und Interpunktion werden der modernen Rechtschreibung angepasst. Bei offensichtlichen Irrtümern werden Korrekturen stillschweigend vorgenommen. Rein grammatikalische oder stilistische Varianten werden nur vermerkt, wenn sich eine Sinnverschiebung ergibt (also z. B. nicht die Änderung von »etc.« zu »usw.«). Von Adler in der ersten Auflage gesperr t hervorgehobene Textstellen werden kursiv gesetzt. Später eingefügte Hervorhebungen sind im Apparat vermerkt. Die Seitenzahlen der ersten Auflage werden in eckigen Klammern [123] in den Text eingefügt. Durch eine Konkordanz im Anhang können die entsprechenden Seiten der weiteren Auflagen und der Taschenbuchausgabe des Fischer Verlags gefunden werden. Im Variantenapparat werden die Auflagen mit ihren Jahreszahlen bezeichnet, erste Auflage von 1912, zweite Auflage von 1919, dritte Auflage von 1922, vierte Auflage von 1928. Ergänzungen im Text der nachfolgenden Ausgaben werden durch Fußnotenzeichen an den Stellen sichtbar gemacht, an denen Adler seinen ursprünglichen Text erweitert hat. Die in den Fußnoten zitierte Textstelle (z. B. 2 Erg.: Konfliktneurose 1928) tritt demnach jeweils exakt an den Platz der Fußnotenziffer. Die angegebene Jahreszahl bezeichnet die erste Änderung. Diese bleibt, wenn nicht anders vermerkt, in den folgenden Auflagen erhalten. – Änderungen des Originaltextes (Änd.:) in späteren Auflagen werden im Variantenapparat nach dem Lemmazeichen ( ] ) angegeben. Falls eine Textänderung in späterer Auflage nochmals geändert wird, tritt in der Regel kein neues Lemmazeichen ein, sondern der neue Text wird womöglich in die Varianten eingefügt. – Auslassungen in den späteren Auflagen werden im Variantenapparat durch »Ausl.« gekennzeichnet. – Anmerkungen, die Adler selbst in den Text der ersten Auflage eingefügt hat, werden mit einem Stern (*) bezeichnet und am unteren Seitenrand wiedergegeben. Anmerkungen der späteren Auflagen werden in den Text der Varianten mit einem Hinweis (Anm.:) aufgenommen. Stellen, die im Kommentar, im zweiten Teil dieses Bandes, erläutert werden, sind durch ein hochgestelltes K ( K ) gekennzeichnet. Karl Heinz Witte
Erster Teil
Textausgabe
An die Leser1
Die Anregung zur Gründung des »Vereins für freie psychoanalytische Forschung« ging im Juni 1911 von einigen Mitgliedern der unter der Leitung Professor Sigmund2 Freuds stehenden »Wiener psychoanalytischen Vereinigung« aus, die zu bemerken glaubten, dass man die Mitglieder des alten Vereins auf den ganzen Umfang der Lehrsätze und Theorien Freuds wissenschaftlich festlegen wolle. Ein solcher Vorgang schien ihnen nicht nur mit den allgemeinen Grundbedingungen wissenschaftlichen Forschens schwer vereinbar, sondern bei einer so jungen Wissenschaft, wie es die Psychoanalyse ist, von besonderer Gefahr zu sein. Es hieß nach ihrer Meinung auch den Wert des bisher Erreichten infrage stellen, wenn man sich voreilig auf gewisse Formeln verpflichten und die Möglichkeit aufgeben wollte, neue Lösungsversuche zu unternehmen. So ließ ihre Überzeugung von der entscheidenden Bedeutung psychoanalytischer Arbeitsweise und Problemstellung es ihnen als eine wissenschaftliche Pflicht erscheinen, einer nach allen Seiten hin unabhängigen psychoanalytischen Forschung eine Stätte zu sichern. Im Oktober 1911 hat dann die »Wiener psychoanalytische Vereinigung« die gleichzeitige Zugehörigkeit zu beiden Vereinen [ii] für unzulässig erklärt, und es haben daraufhin eine Anzahl von Mitgliedern den alten Verein verlassen. Es besteht also jetzt zwischen dem »Verein für freie psychoanalytische Forschung« und den in der »Internationalen psychoanalytischen Vereinigung« zusammengeschlossenen Organisationen keinerlei Beziehung. Wir glauben verpflichtet zu sein, das hier ausdrücklich festzustellen, weil wir es für ein Unrecht halten würden, wenn die wissenschaftliche Kritik Männern, von denen wir in unserer Auffassung über die grundlegenden Voraussetzungen freier wissenschaftlicher Arbeit abweichen, die Verantwortung für unsere Arbeiten aufbürden wollte. Ebenso möchten wir unsrerseits beanspruchen, nur aufgrund unserer eigenen Arbeiten beurteilt zu werden. Der Vorstand des »Vereins für freie psychoanalytische Forschung«.
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In den Kopfzeilen dieser Seite eine Verlagsankündigung: Verlag von Ernst Reinhardt in München. / Schriften des Vereins für freie / Psychoanalytische Forschung / Herausgegeben von Dr. Alfred Adler / Heft 1 / Psychoanalyse und Ethik / Eine vorläufige Untersuchung / von Dr. Karl Furtmüller. / 48 Seiten. Preis Mk 1,– Adler schreibt durchgehend Siegmund. Überall stillschweigend korrigiert.
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Die »Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung« verfolgen den Zweck, empirisch gewonnene Resultate der Neurosenpsychologie, soweit sie ihre Eignung erwiesen haben, zur weitern Behandlung philosophischer, psychologischer und pädagogischer Fragen in Anwendung zu bringen. Uns leitet dabei der Gedanke, bei der Frage nach dem »Sinn« eines psychischen Geschehens sowohl Ursachen als Richtung und Zweck desselben, Elemente und Zusammenhänge wie im Fluss sehen zu können. Damit sagen wir, dass wir bei unseren psychologischen Analysen einer Zielvorstellung Raum geben, die uns bei der Untersuchung eines Problems oder einer Persönlichkeit leitet. Individuum aber und Phänomen sind für unsere Betrachtung, wo immer wir diese anstellen, ein Bild einer Entwicklungsreihe, ein Mikrokosmos, ein Symbol der Totalität. Insoferne wir in der Genese einer Erscheinung nach Vergleichspunkten suchen, ist unsere Forschungsrichtung eine vergleichende, die sich auf das Individuum [iii] erstreckt. Da wir das Verständnis für die Persönlichkeit aus seiner Vergangenheit und Zukunft holen wollen, rechnen wir mit den Entwicklungsfaktoren. In der Dynamik der menschlichen Psyche sehen wir alle Richtung gegeben durch ein unbewusst gesetztes, unablässig wirkendes Ziel. Von ihm stammt die Formung des Individuums, die Richtung seines Denkens und Wollens und die Abtönung seiner Persönlichkeit. Die unerschöpfliche Kraft des menschlichen Forderns und Begehrens quillt aus der Heiligkeit der leitenden Idee. Deren Spuren zu verstehen, mag sie sich als Weltanschauung, als Kunst, als Wissenschaft oder als Religion zum Ausdruck bringen, ist die Forderung, die wir an unsre Arbeit stellen. So ist auch ein weiterer Charakter unserer Anschauungen enthüllt, als der einer planmäßigen Betrachtung des psychischen Geschehens, wie es sich unter der Leitung einer unbewusst wirkenden Idee vollzieht. Im selben Sinne sind die körperlichen Eigenschaften des Menschen ein Symbol, das dessen Herkunft, seine Gegenwart und sein Schicksal verrät. Form und Leistung der körperlichen Organe sind die Merkmale seiner Wertigkeit und geben ein Bild von der Stellung seines Trägers in der Welt. In der Seele des Kindes spiegelt sich die relative Minderwertigkeit seiner körperlichen Organe und erzeugt im tiefsten Grunde ein Gefühl von der Unsicherheit des Lebens. Mit dieser dürftigen Selbsteinschätzung baut das Kind unter schattenhaften Erkenntnissen seinen Lebensplan. Den hält es umso fester, je stärker sein Minderwertigkeitsgefühl nach Kompensationen drängt. Der Lebensplan, das ist die äußerste, richtende Grenze für sein Wollen, und ihn sucht es in der Unrast, in dem Chaos der Taten fordernden Wirklichkeit zu vollenden. Die Lehre von der Minderwertigkeit der Organe, von den psychischen Kompensationen und
Vorwort des Herausgebers
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Sicherungstendenzen knüpft an uralte Völkerweisheit an und leitet geniale Utopien älterer AutorenK in die Bahn der Wissenschaft. So fügt sich die Lehre von den menschlichen Ausdrucksformen den anderen Forderungen unserer Wissenschaft an. Wir verfolgen sie im Leben und Spiel des Kindes und des Erwachsenen, in seinen Affekten, in seinen Leistungen und in [iv] den krankhaften seelischen Phänomenen. Ebenso zielt unsre Arbeit auf ein Verständnis der Leitlinien von Moral und Ethik, auf vermehrte Einsichten in die Volksseele, in das Seelenleben des Künstlers, des normalen und des krankhaft veränderten Menschen. Der Verein, in dessen Namen ich die »Schriften« herausgebe, soll weiterhin die Pflegestätte unserer Wissenschaft sein. Die zur Veröffentlichung bestimmten Studien sind dort in gemeinsamer Arbeit herangereift. Sie werden zeigen, dass wir die Geltung auch anderer Gesichtspunkte in der Psychologie und anderer Richtungen nicht bestreiten. Wir nehmen uns aber das Recht, uns des Dogmas zu entschlagen und unsren eigenen Weg zu verfolgen. Zur Mitarbeit sind alle geladen, die sich der Bedeutung unsrer Forschungsrichtung bewusst sind. Von unsren Lesern erwarten wir, dass ihnen das Vorurteil nicht im Wege sei, das neue Arbeiten und Befunde so oft begleitet. Wien, am 25. März 1912
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Dr. Alfred Adler
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In Vorbereitung sind folgende
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Vorwort des Herausgebers
Hefte:K
Alfred Adler: Masturbation und Neurose. Felix Asnaourow: Sadismus und Masochismus in der Erziehung. Robert Freschl: Das Griselda-Problem. Hermann Frischauf: Zur Psychologie des jüngeren Bruders. Gustav Grüner: Die Mutterleibsfantasie. (Mit einer teilweisen Psychoanalyse von Shakespeares »Hamlet«.) Otto Kaus: Der Fall Gogol. Paul Loewy: Das Unlustprinzip in der Neurosenpsychologie. Paul Schrecker: Bergsons Philosophie der Persönlichkeit und das Persönlichkeitsideal. Leopold Erwin Wexberg: Erotik und Übertragung. [v]
Über den nervösen Charakter
Über den nervösen Charakter Grundzüge einer vergleichenden IndividualPsychologie und Psychotherapie
von Dr. Alfred Adler Wien
Wiesbaden Verlag von J. F. Bergmann 1912
Vorwort [1912, 1]
Nachdem ich in der »Studie über Minderwertigkeit von Organen« (1907) den Versuch gemacht hatte, den Aufbau und die Tektonik der Organe im Zusammenhang mit ihrer genetischen Grundlage, mit ihrer Leistungsfähigkeit und ihrem Schicksal zu betrachten, ging ich – gleichermaßen gestützt auf vorliegende Befunde wie auf meine eigenen Erfahrungen – daran, dieselbe Methode der Betrachtung in der Pathopsychologie durchzuführen. In der vorliegenden Arbeit sind die hauptsächlichsten Ergebnisse meiner vergleichenden, individualpsychologischen Studien über die Neurosen niedergelegt. Wie in der Organminderwertigkeitslehre ist in der vergleichenden Individualpsychologie die empirische Grundlage dazu benützt, ein fiktives Maß der Norm aufzustellen, um Grade der Abweichung daran messen und vergleichen zu können. In beiden Wissensgebieten rechnet die vergleichende Forschung mit der Herkunft des Phänomens, misst daran die Gegenwart und sucht die Linie1 der Zukunft aus ihnen abzuleiten. Diese Betrachtungsweise führt uns dahin, den Zwang der Entwicklung und die pathologische Ausgestaltung als das Ergebnis eines Kampfes anzusehen, der im Gebiet des Organischen um die Gleichgewichtserhaltung, um Leistungsfähigkeit und Domestikation entbrennt; die gleiche Kampfbereitschaft in der Psyche steht unter der Leitung einer fiktiven Persönlichkeitsidee, deren Wirksamkeit bis zum Aufbau des nervösen Charakters und der nervösen Symptome reicht. Wird so im Organischen »das Individuum eine einheitliche Gemeinschaft, in der alle Teile zu einem gleichartigen Zweck zusammenwirken« (Virchow)K –, bauen sich die mannigfachen Fähigkeiten und Regungen des Organismus zu einer planvoll gerichteten, einheitlichen Persönlichkeit aus, dann können wir jede einzelne Lebenserscheinung derart erfassen, als ob in ihr Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft samt einer übergeordneten, leitenden Idee in Spuren vorhanden wären. Auf diesem Wege hat sich dem Autor dieses Buches ergeben, dass jeder kleinste Zug des Seelenlebens von einer planvollen Dynamik durchflossen ist. Die vergleichende Individualpsychologie erblickt in jedem psychischen Geschehen den Abdruck, sozusagen ein Symbol des einheitlich gerichteten Lebensplanes, der in der Psychologie der Neurosen und Psychosen nur deutlicher zutage tritt. Die Ergebnisse einer derartigen Untersuchung am neurotischen Charakter sollen Zeugnis ablegen für Wert und Anwendbarkeit unserer Methode der 1
Linie ] hervorgehoben 1922
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Vorwort zur zweiten Auflage
vergleichenden Individualpsychologie bezüglich der Probleme des Seelenlebens. Wien, im Februar des Jahres 1912 Der Autor2
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Die philosophische Gesamtanschauung von der menschlichen Seele, mit der ich den nervösen Charakter durchleuchtete, ist für mich und einen großen Kreis von Bekennern Weltanschauung und Menschenkenntnis geworden, der gegenüber jede andere Betrachtung des seelischen Geschehens unrichtig oder lückenhaft erscheint. Zwischen den beiden Auflagen dieses Buches liegt der Weltkrieg mit seinen Fortsetzungen, liegt die furchtbarste Massenneurose, zu der sich unsere neurotisch-kranke Kultur, zerfressen von ihrem Machtstreben und ihrer Prestigepolitik, entschlossen hat. Der entsetzliche Gang der Zeitereignisse bestätigt schaurig die schlichten Gedankengänge dieses Buches. Und er entschleiert sich als das dämonische Werk der allgemein entfesselten Herrschsucht, die das unsterbliche Gemeinschaftsgefühl der Menschheit drosselt oder listig missbraucht. Unsere Individualpsychologie ist weit über den toten Punkt beschreibender Seelenkunde hinaus. In unserem Sinne einen Menschen schauen und erkennen heißt: ihn den Verirrungen seines wunden, aufgepeitschten, aber ohnmächtigen Gottähnlichkeitsstrebens entreißen und der unerschütterlichen Logik des menschlichen Zusammenlebens geneigt machen, dem Gemeinschaftsgefühl3. Der Ausbau meiner Lehre hat einige Klarstellungen der Lehre und Ergänzungen im vorliegenden Bande nötig gemacht. Aus dem gleichen Grunde soll in kurzer Zeit ein zweiter Band4 erscheinen, der außer wichtigen Vorarbeiten einige notwendige Ergänzungen und neue Arbeiten enthalten wird. Ein Rückblick auf die Entwicklung meiner Individualpsychologie ergibt den ununterbrochenen Ausbau einer Seelenforschung auf drei ineinandergreifen2 3 4
Änd.: Dr. Alfred Adler 1919 Gemeinschaftsgefühl ] hervorgehoben 1922 Anm.: Unterdessen erschienen: »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«. Dieser Verlag 1920 1922. Dieser Verlag 1920 ] Änd.: 3. Aufl. 1927, J. F. Bergmann, München, und »Menschenkenntnis« 1926 [richtig: 1927], S. Hirzel, Leipzig 1928
Vorwort zur dritten Auflage
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den Ebenen: Dem kindlichen Minderwertigkeitsgefühl entsprießt ein gereiztes Streben nach Macht, das an den Forderungen der Gemeinschaft und an den Mahnungen des physiologisch und sozial begründeten Gemeinschaftsgefühls seine Schranken findet und in die Irre geht5. Dem oft sinnlosen Geschwätz von Freibeutern und Geschichtenschreibern ist vielleicht durch diesen leicht fasslichen Hinweis eine hilfreiche Hand geboten. Der ernste Leser wird, hoffe ich, mit mir bis zu dem Aussichtspunkt gelangen, der uns ermöglicht, jede Menschenseele im einheitlichen Fortschreiten nach einem Ziel der Überlegenheit zu erblicken, sodass Bewegungen, Charakterzüge und Symptome unweigerlich über sich hinausweisen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden ihn dann freilich mit einer Lebensaufgabe belasten: voranzugehen bei dem Abbau des Strebens nach6 Macht und bei der Erziehung zur Gemeinschaft. Wien, im Mai 1919
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Dr. Alfred Adler
Vorwort zur dritten Auflage [1922, viii] Es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass unsere individualpsychologischen Anschauungen, die in diesem Buche zum ersten Male auseinandergesetzt wurden, eine zwangsläufige Gebundenheit an ein organisches Substrat ablehnen. Unsere Feststellungen lassen vielmehr erkennen, dass die seelische Entwicklung eines Menschen und deren Fehlschläge, auch die Neurosen und Psychosen, aus seiner Stellungnahme zur absoluten Logik des menschlichen Zusammenlebens stammen. Der Grad seiner Verfehlung – die mangelhafte Verwachsenheit mit den kosmischen und sozialen Erfordernissen – liegen allen seelischen Störungen zugrunde und bedingen ihr Ausmaß. Der Nervöse lebt und müht sich ab für eine Welt, die nicht die unsere ist. Sein Widerspruch gegen die absolute Wahrheit ist größer als der unsere. Zu diesem Widerspruch gelangt er weder durch eine zellulare Struktur seines Gehirnes noch durch humorale Einflüsse, sondern durch ein in einer schwierigen Position der Kindheit erworbenes Minderwertigkeitsgefühl. Von da an beeinflusst die größere Neigung für allseits bereitliegende Irrtümer dauernd die seelische Entwicklung. Wir leugnen die organische Disposition zur 5 6
in die Irre geht ] hervorgehoben 1922 Erg.: persönlicher 1928
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Neurose, aber wir haben deutlicher wie alle anderen Autoren den Beitrag der Organminderwertigkeit zur Schaffung einer seelischen Position, die Vorschubleistung körperlicher Schwäche zur Herstellung eines Minderwertigkeitsgefühls nachgewiesen. Unsere Individualpsychologie lehrt das menschliche Seelenleben als versuchte Stellungnahme zu den Forderungen des sozialen Lebens begreifen. Die Stellungnahme in der Neurose und Psychose ist stark in die Irre gegangen. Die Annahme einer besonderen Form angeborener Sexuallibido als eines zwingenden oder gar ausschließlichen Faktors der seelischen Entwicklung finden wir nirgends bestätigt, die »Erhaltung der psychischen Energie«K erscheint uns als ein frommer Wunsch der Autoren, dem wir uns gerne anschließen. Die kritische Stellungnahme zu den Anschauungen Freuds und KretschmersK, die in dieser Auflage schärfer zum Ausdruck kommt, erklärt sich aus der großen Bedeutung dieser Autoren für die Entwicklung der Neurosenpsychologie. Soweit ich es vermochte, versuchte ich auch allen anderen Autoren, die Selbstständiges schufen, gerecht zu werden. Die Verpflichtung zur Offenheit bedrängt mich anlässlich der Herausgabe der dritten Auflage dieses Buches in quälendster Weise. So will ich denn ein Geständnis machen, das mir sicherlich dauernd die Zuneigung meiner Leser rauben wird. Nach einem eingehenden ablehnenden Gutachten des Herrn Hofrats Wagner-Jauregg7 K über vorliegendes Buch wurde meine Bewerbung um Habilitierung an der Universität vom Wiener Professorenkollegium abgelehnt. Durch diesen Ratschluss war ich bisher verhindert, öffentliche Vorlesungen für Studenten und Ärzte abzuhalten. Der Wissende versteht, wie schwierig die heute doch gelungene Verbreitung meiner Anschauungen geworden ist. Vielleicht hat da folgender Umstand ein wenig mitgeholfen: Die Anschauungen unserer Individualpsychologie verlangen den bedingungslosen Abbau des Machtstrebens und die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls. Ihre Losung ist der Mitmensch, die mitmenschliche Stellungnahme zu den immanenten Forderungen der menschlichen Gesellschaft. Vielleicht gibt es ehrwürdigere Lehren einer älteren Schulwissenschaft. Vielleicht neuere ausgeklügeltere. Sicherlich aber keine, die der Allgemeinheit größeren Nutzen brächten.
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Wien, am 7. März 1922 Dr. Alfred Adler
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des Herrn bis Jauregg ] Ausl. 1928
Vorwort zur vierten Auflage
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Vorwort zur vierten Auflage [1928, vi]
Ich will in diese Auflage die Keime neuer psychologischer Entwicklungen streuen. Dem Kenner werden sie nicht entgehen. Die andern sollen vorbereitet sein für die Leistungen der Individualpsychologie, die sie an andern Orten finden werden. Was uns Individualpsychologen jene Sicherheit in der theoretischen Entwicklung unserer Anschauungen und in unserer Praxis gibt, ist unter anderem ein wenig vermerkter Tatbestand: Jeder Schritt nach vorwärts hat sich folgerichtig aus unseren Grundanschauungen ergeben. Es war bisher nicht nötig geworden, irgendetwas an unserem Gebäude zu ändern, oder dieses zu stützen mit Anschauungen anderer Art.
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Wien, im Dezember 1927 Dr. Alfred Adler
Inhaltsverzeichnis [1912]
Seite Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Vorwort zur dritten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Vorwort zur vierten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 I. Kapitel.1 Ursprung und Entwicklung des Gefühls der Minderwertigkeit und dessen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 II. Kapitel. Die psychische Kompensation und ihre Vorbereitung . . . 70 III. Kapitel. Die verstärkte Fiktion als leitende Idee in der Neurose . . . 80 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 I. Kapitel. Geiz. Misstrauen. Neid. Grausamkeit. Herabsetzende Kritik des Nervösen. Neurotische Apperzeption. Altersneurosen. Formen und Intensitätswandel der Fiktion. Organjargon . . . . 125 II. Kapitel. Neurotische Grenzerweiterung durch Askese, Liebe, Reisewut, Verbrechen. Simulation und Neurose. Minderwertigkeitsgefühl des weiblichen Geschlechts. Zweck des Ideals. Zweifel als Ausdruck des psychischen Hermaphroditismus. Masturbation und Neurose. Der »Inzestkomplex« als Symbol der Herrschsucht. Das Wesen des Wahns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III. Kapitel. Nervöse Prinzipien. Mitleid, Koketterie, Narzissismus. Psychischer Hermaphroditismus. Halluzinatorische Sicherung. Tugend, Gewissen, Pedanterie, Wahrheitsfanatismus . . . . . . . . . . . 194 IV. Kapitel. Entwertungstendenz. Trotz und Wildheit. Sexualbeziehungen des Nervösen als Gleichnis. Symbolische Entmannung. Gefühl der Verkürztheit. Der Lebensplan der Manngleichheit. Simulation und Neurose. Ersatz der Männlichkeit. Ungeduld, Unzufriedenheit und Verschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 V. Kapitel. Grausamkeit. Gewissen. Perversion und Neurose . . . . . . . 240
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Kapitel. ] Ausl., auch in den folgenden Abschnitten 1922 Erg.: – Konfliktsneurose 1928
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Inhaltsverzeichnis
VI.
Kapitel. Oben–Unten. Berufswahl. Mondsucht. Gegensätzlichkeit des Denkens. Erhöhung der Persönlichkeit durch Entwertung anderer. Eifersucht. Neurotische Hilfeleistung. Autorität. Denken in Gegensätzen und männlicher Protest. Zögernde Attitüde und Ehe. Die Attitüde nach aufwärts als Symbol des Lebens. Masturbationszwang. Nervöser Wissensdrang . . . . . . . . 247
VII.
Kapitel. Pünktlichkeit. Der Erste sein wollen. Homosexualität und Perversion als Symbol. Schamhaftigkeit und Exhibition. Treue und Untreue. Eifersucht2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 VIII. Kapitel. Furcht vor dem Partner. Das Ideal in der Neurose. Schlaflosigkeit und Schlafzwang. Neurotischer Vergleich von Mann und Frau. Formen der Furcht vor der Frau . . . . . . . . 277 IX. Kapitel. Selbstvorwürfe, Selbstquälerei, Bußfertigkeit und Askese. Flagellation. Neurosen bei Kindern. Selbstmord und Selbstmordideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 X. Kapitel. Familiensinn des Nervösen. Trotz und Gehorsam. Schweigsamkeit und Geschwätzigkeit. Die Umkehrungstendenz3311 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Zitierte4 Schriften des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 [3]
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Erg.: – Ersatz eines Charakterzuges durch Sicherungen, Maßnahmen, Beruf und Ideal 1919 zitierte ] Änd.: Angeführte 1928
Theoretischer Teil
Einleitung »Omnia ex opinione suspensa sunt; non ambitio tantum ad illam respicit et luxuria et avaritia. Ad opinionem dolemus. Tam miser est quisque, quam credidit!« Seneca. Epist. 78, 13K.
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Die Untersuchung des neurotischen Charakters ist ein wesentlicher Teil der Neurosenpsychologie. Wie alle psychischen Erscheinungen ist er nur im Zusammenhang mit dem ganzen seelischen Leben zu erfassen. Eine flüchtige Kenntnis der Neurosen1 genügt, um das Besondere daran herauszufinden. Und alle Autoren, die dem Problem der Nervosität nachgegangen sind, haben mit besonderem Interesse gewisse Charakterzüge ins Auge gefasst. Das Urteil war ein allgemeines, dass der Neurotiker eine Reihe scharf hervortretender Charakterzüge bietet, die das Maß des Normalen überschreiten. Die große Empfindlichkeit, die Reizbarkeit, die reizbare Schwäche, die Suggestibilität, der Egoismus, der Hang zum Fantastischen, die Entfremdung von der Wirklichkeit, aber auch speziellere Züge, wie Herrschsucht, Bösartigkeit, opfervolle Güte, kokettes Wesen, Feigheit und Ängstlichkeit, Zerstreutheit, figurieren in den meisten Krankengeschichten, und man müsste alle gründlichen Autoren namhaft machen, um ihren Beitrag zu bestätigen. Von den Neueren ist insbesondere JanetK zu nennen, der die Traditionen der berühmten französischen Schule fortführt und namhafte, scharfsinnige Analysen zutage gefördert hat. Insbesondere seine Betonung des »sentiment d’incomplétude« des Neurotikers stimmt so sehr mit den von mir erhobenen Befunden überein, dass ich in meinen Arbeiten eine Erweiterung dieser wichtigsten Grundtatsache aus dem Seelenleben des Neurotikers erblicken darf.2 Wo immer man mit der Analyse psychogener Krankheitszustände einsetzt, drängt sich nach kürzester Beobachtung ein und dieselbe Erscheinung vor: dass das ganze Bild der Neurose ebenso wie alle ihre Symptome von einem fingierten Endzweck aus beeinflusst, ja entworfen sind. Dieser Endzweck hat also eine bildende, richtunggebende, arrangierende Kraft. Er lässt sich3 aus der Richtung und dem »Sinn« der krankhaften Erscheinungen verstehen, und 1 2
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Neurosen ] Änd.: Neurose 1928 Erg.: Meine Feststellungen über die Einheit der Persönlichkeit bedeuten dazu einen dauernden psychologischen Gewinn, der die Rätsel des double vieK, der PolaritätK, der Ambivalenz (Bleuler)K gelöst hat. 1919 Erg.: auch 1919
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versucht man auf diese Annahme zu verzichten, so bleibt eine verwirrende Fülle von Regungen, Trieben, Komponenten, Schwächen und Anomalien, die das Dunkel der Neurose für die einen so abstoßend gemacht haben, während andere in ihm kühne Entdeckungsfahrten unternahmen.4 [4] Pierre JanetK hat diesen Zusammenhang sicherlich gekannt5, wie aus einzelnen seiner klassischen Schilderungen über den »Geisteszustand der Hysterischen« 1894* hervorgeht. Er hat sich aber einer eingehenden Darstellung entschlagen. Er betont ausdrücklich: »Ich habe bis jetzt nur allgemeine und einfache Züge des Charakters beschrieben, die durch ihre Verbindungen und unter dem Einflusse bestimmter äußerer Umstände Haltungen und Handlungen eigentümlicher Art in allen Formen erzeugen können. Es ist hier unstatthaft, auf diese Beschreibung näher einzugehen, da dieselbe mit einem Sittenromane größere Ähnlichkeit aufweisen würde als mit einer klinischen Arbeit.« Mit dieser Stellungnahme, der er bis zu seinen letzten Werken treu geblieben ist, hat dieser Autor trotz seines klaren Verständnisses für den Zusammenhang von Neurosenpsychologie und Moralphilosophie den Weg zur Synthese nicht beschritten6. Erst7 Josef Breuer K, ein genauer Kenner der deutschen Philosophie, hat den glitzernden Stein gefunden, der am Wege lag8. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf den »Sinn« des Symptoms und wollte Herkunft und Zweck desselben bei dem einzigen, der darauf antworten konnte, beim Patienten, erfragen. Damit hat dieser Autor eine Methode begründet, die historisch und genetisch individualpsychologische Erscheinungen aufklären will, unter Zuhilfenahme einer vorläufigen Voraussetzung, der einer Determination psychischer Erscheinungen. Wie diese Methode von Sigmund Freud erweitert und ausgebildet wurde, woran sich eine Unzahl von Problemstellungen und versuchten9 Lösungen knüpften, gehört der Gegenwartsgeschichte an und ist ebenso auf Anerkennung wie auf Widerspruch gestoßen. Weniger einer kritischen Neigung folgend, als um den eigenen Standpunkt hervorzuheben, mag es mir gestattet sein, aus den fruchtbaren und wertvollen Leistungen Freuds vor allem drei seiner fundamentalen Anschauungen als irrtümlich abzusondern, da sie *
übersetzt durch Dr. Max KahaneK
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Erg.: Hält man dagegen an diesem hinter den Erscheinungen wirksamen Endzweck als an einer kausalen Finalität (W. SternK) fest, so erhellt sich das sonst dunkle seelische Getriebe, und man liest wie in einem offenen Buche. 1919 hat bis gekannt ] Änd.: war diesem Zusammenhang [Änd: dieser Auffassung 1922] sicherlich nahe 1919 nicht beschritten ] Änd.: verfehlt 1922 Erst ] Ausl. 1922 hat bis lag ] in Anführungszeichen 1922 Erg.: und wieder fallen gelassenen 1922
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Einleitung
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den Fortschritt im Verständnis der Neurose zu versperren drohen. Der erste Einwand betrifft die Auffassung der Libido als treibender Kraft für das Geschehen in der Neurose. Gerade die Neurose zeigt deutlicher als das normale psychische Verhalten, wie durch die neurotische Zwecksetzung die Empfindung10 der Lust, die Auswahl11 derselben und ihre Stärke in die Richtung dieses Zweckes gezwungen werden, sodass der Neurotiker eigentlich nur mit seiner sozusagen gesunden psychischen Kraft der Lockung des Lusterwerbs folgen kann, während für den neurotischen Anteil »höhere« Ziele gelten.12 Als diese neurotische Zwecksetzung hat sich uns die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls ergeben, dessen einfachste Formel im übertriebenen »männlichen Protest«K zu erkennen ist. Diese Formel: »Ich will ein ganzer Mann sein!« ist die leitende Fiktion13 in jeder Neurose, für die sie in höherem Grade als für die normale Psyche Wirklichkeitswerte beansprucht. Und diesem Leitgedanken ordnen sich auch Libido, Sexualtrieb und Perversionsneigung, wo immer sie hergekommen sein mögen, ein. Nietzsches »Wille zur Macht« und »Wille zum Schein«K umfassen vieles von unserer Auffassung, die sich wieder in manchen Punkten mit Anschauungen FérésK und älterer AutorenK berührt, nach welchen die Empfindung14 der Lust in einem [5] Machtgefühl, die der Unlust in einem Gefühle der Ohnmacht wurzelt. – Ein zweiter Einwand trifft Freuds Grundanschauung von der sexuellen Ätiologie der Neurosen, einer Anschauung, der sich vorher schon Pierre Janet K bedenklich nahe befand, als er (l. c.) die Frage aufwarf: »Sollte etwa die Geschlechtsempfindung der Mittelpunkt sein, um welchen herum die anderen psychologischen Synthesen sich aufbauen?« Die Verwendbarkeit des sexuellen Bildes täuscht den Normalen, insbesondere den Neurotiker15. Sie darf den Psychologen nicht täuschen. 10 die Empfindung ] Änd.: das Gefühl 1922 11 Auswahl ] Änd.: Abtönung 1922 12 Erg.: Übersetzt man aber »libido« mit dem mehrdeutigen Begriff »Liebe«, dann lässt sich durch eine geschickte Verwaltung und Zerdehnung dieser Worte alles kosmische Geschehen mit ihnen – nicht erklären, aber umschreiben. Durch diese Umschreibung wird bei vielen der Eindruck erweckt, dass es in allen menschlichen Regungen von »libido« wimmelt, während in Wirklichkeit der glückliche Finder nur herauszieht, was er vorher hineingesteckt hat. Die letzten Interpretationen machen den Eindruck, als ob sich die Freud’sche Libidolehre mit rasender Schnelligkeit auf unseren Standpunkt des Gemeinschaftsgefühls und des Strebens nach einem Persönlichkeitsideal (»Ich-Ideal«) hin bewege, was im Interesse eines wachsenden Verständnisses sehr zu begrüßen wäre. 1922 13 Erg.: sozusagen die »fundamentale Apperzeption« (Avenarius)K 1922 Avenarius ] Änd.: JerusalemK 1928 14 die Empfindung ] Änd.: das Gefühl 1922 15 den Normalen bis Neurotiker ] Änd.: vielen, insbesondere dem Neurotiker, eine Identität vor 1922. Erg.: Bei Mystikern, so bei BaaderK, finden sich häufig solche irreführende
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Der sexuelle Inhalt in den neurotischen Phänomenen stammt vorwiegend aus dem ideellen Gegensatz »männlich – weiblich« und ist durch Formenwandel aus dem männlichen Protest entstanden. Der sexuelle Antrieb in der Fantasie und im Leben des Neurotikers richtet sich nach der männlichen Zwecksetzung, ist eigentlich kein Trieb, sondern ein Zwang. Das ganze Bild der Sexualneurose ist ein Gleichnis, in dem sich die Distanz des Patienten von seinem fiktiven männlichen Endziel, und wie er sie zu überwinden16 sucht, spiegelt. Sonderbar, dass Freud, ein feiner Kenner des Symbolischen im Leben, nicht imstande war, das Symbolische in der sexuellen Apperzeption aufzulösen, das Sexuelle als Jargon, als Modus dicendi zu erkennen. Aber wir können dies verstehen, wenn wir den weiteren17 Grundirrtum ins Auge fassen, die18 Annahme, als stünde der Neurotiker unter dem Zwange infantiler Wünsche,19 die allnächtlich (Traumtheorie) aufleben, ebenso auch bei bestimmten Anlässen im Leben20. In Wirklichkeit stehen diese infantilen Wünsche21 selbst schon unter dem Zwange des fiktiven Endziels, tragen meist selbst den Charakter eines leitenden, aber eingeordneten Gedankens und eignen sich aus denkökonomischen Gründen sehr gut zu Rechnungssymbolen. Ein krankes Mädchen, das sich im Gefühle besonderer Unsicherheit während der ganzen Kindheit an den Vater anlehnt, dabei der Mutter überlegen sein will, kann diese psychische Konstellation22 in das »Inzestgleichnis« fassen, als ob es die Frau des Vaters sein wollte. Dabei ist der Endzweck schon gegeben und wirksam: Ihre Unsicherheit lässt sich nur bannen, wenn sie beim Vater ist. Ihre wachsende psychomotorische Intelligenz, ihr unbewusst wirkendes Gedächtnis beantwortet alle Empfindungen der Unsicherheit mit der gleichen Aggression: mit der vorbereitenden Einstellung, zum Vater zu flüchten, als ob sie seine Frau wäre. Dort hat sie jenes als Zweck gesetzte höhere Persönlichkeitsgefühl, das sie dem männlichen Ideal der Kindheit entlehnt hat, die Überkompensation ihres
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Einkleidungen. Auch die Sprache mit ihrer Neigung zur Bildsamkeit legt dem harmlosen Forscher bedenkliche Fallen. 1922 Erg.: oder zu verewigen 1919. Anm.: Siehe II. Band des »Nervösen Charakters« (im Erscheinen begriffen) J. F. Bergmann, Wiesbaden, im »Problem der Distanz« 1919. Änd.: Siehe Adler, »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«. J. F. Bergmann, München 1920, im »Problem der Distanz«. 1922. Änd.: Siehe Adler, »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«. 3. Aufl. J. F. Bergmann, München 1927, im »Problem der Distanz«. 1928 weiteren ] Änd.: dritten 1922 die ] Änd.: seine 1922 Erg.: vor allem des Inzestwunsches 1919 im Leben ] Änd.: in der Wirklichkeit 1919 In Wirklichkeit bis Wünsche ] Änd.: Alle infantilen Wünsche stehen 1919 Änd.: In Wirklichkeit stehen alle infantilen Wünsche 1922 Erg.: gelegentlich 1919
Einleitung
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Minderwertigkeitsgefühls. Sie handelt dann symbolisch, wenn sie vor einer Liebeswerbung oder vor der Ehe erschrickt, soferne sie mit neuen Herabsetzungen ihres Persönlichkeitsgefühles drohen,23 und ihre Bereitschaftsstellung richtet sich zweckmäßig gegen ein weibliches Schicksal und24 lässt sie Sicherheit suchen, wo sie diese immer gefunden hat, beim Vater. Sie wendet einen Kunstgriff an, handelt nach einer unsinnigen Fiktion, kann aber damit ihren Zweck25 sicher erreichen. Je größer ihr Gefühl der Unsicherheit, umso stärker klammert sich dieses Mädchen an ihre Fiktion, versucht sie fast wörtlich zu nehmen, und da das menschliche Denken der symbolischen Abstraktion hold ist, gelingt es26 der Patientin und mit einiger Mühe27 auch dem Analytiker, das Streben der Neurotiker, sich zu sichern, in das symbolische Bild der Inzestregung einzufangen28. Freud hat in diesem auf einen Zweck gerichteten Vorgang eine Wiederbelebung infantiler Wünsche erblicken müssen, weil er Letztere als [6] treibende Kräfte angesetzt hatte. Wir erkennen in dieser infantilen Arbeitsweise, in der ausgedehnten Anwendung von sichernden Hilfskonstruktionen, als die wir die neurotische Fiktion anzusehen haben, in dieser allseitigen, weit zurückreichenden motorischen Vorbereitung, in der starken Abstraktionsund Symbolisierungstendenz die zweckmäßigen Mittel des Neurotikers, der zu seiner Sicherheit gelangen will, zur Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, zum männlichen Protest.29 Knüpfen wir an diese kritischen Bemerkungen die Frage an, wie die neurotischen Erscheinungen zustande gekommen sind, warum der Patient ein Mann sein will und fortwährend Beweise dafür30 zu erbringen sucht, woher er das stärkere Bedürfnis nach Persönlichkeitsgefühl hat, warum er solche Aufwendungen macht, um zur Sicherung zu gelangen, kurz, die Frage nach dem letzten Grund dieser Kunstgriffe der neurotischen Psyche, so lässt sich erraten, was jede Untersuchung ergibt: Am Anfang der Entwicklung zur31 Neurose steht drohend das Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit und verlangt mit Macht eine 23 24 25 26 27 28 29
Erg.: soferne sie größere Schwierigkeiten findet als beim Vater 1922 und ] Ausl. 1922 Erg.: der Frauenrolle auszuweichen 1922 Erg.: zuweilen 1919 Erg.: immer 1919 Erg.: eine Überlegenheit zu haben wie beim Vater 1922 Erg.: Die Neurose zeigt uns die Ausführung irrtümlicher Vorsätze. Jedes Denken und Handeln lässt sich nach rückwärts bis zu kindlichen Erfahrungen verfolgen. Im Punkte der Freud’schen »Regression« unterscheidet sich demnach der seelisch Kranke in nichts vom Gesunden. Nur dass er auf zu weit gehenden Irrtümern aufgebaut hat, dass er eine schlechte Stellung zum Leben eingenommen hat, ergibt den Unterschied. Die »Regression« aber ist der Normalfall des Denkens und Handelns. 1922 30 dafür ] Änd.: seiner Überlegenheit 1919 31 zur ] Änd.: der 1928
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leitende, sichernde, beruhigende Zwecksetzung,32 um das Leben erträglich zu machen. Was wir das Wesen der Neurose nennen, besteht aus dem vermehrten Aufwand der verfügbaren psychischen Mittel. Unter diesen ragen besonders hervor: Hilfskonstruktionen und Fiktionen33 im Denken, Handeln und Wollen. Es ist klar, dass eine derartige, in besonderer Anspannung zum Zweck der Persönlichkeitserhöhung gerichtete34 Psyche sich auch, abgesehen von eindeutigen nervösen Symptomen, durch eine nachweisbare Erschwerung der Einfügung in die Gesellschaft35 auffällig machen wird. Das Gefühl des schwachen Punktes beherrscht den Nervösen so sehr, dass er, oft36 ohne es zu merken, den schützenden Überbau mit Anspannung aller Kräfte bewerkstelligt. Dabei schärft sich seine Empfindlichkeit37, er lernt auf Zusammenhänge achten, die anderen noch entgehen, er übertreibt seine Vorsicht38, fängt am Beginne einer Tat oder eines Erleidens alle möglichen Folgen vorauszuahnen39 an, er versucht weiter zu hören, weiter zu sehen, wird kleinlich, unersättlich, sparsam40, sucht die Grenzen seines Einflusses und seiner Macht immer weiter über Zeit und Raum zu spannen – und verliert dabei die Unbefangenheit und Gemütsruhe, die erst die psychische Gesundheit41 verbürgen. Immer mehr steigert sich sein Misstrauen gegen sich und gegen die andern, sein Neid, sein boshaftes Wesen, aggressive und grausame Neigungen nehmen überhand, die ihm das Übergewicht gegenüber seiner Umgebung verschaffen sollen, oder er versucht durch vermehrten Gehorsam, durch Unterwerfung und Demut, die nicht selten in masochistische Züge ausarten, den andern zu fesseln, zu erobern; beides also, erhöhte Aktivität wie vermehrte Passivität, sind Kunstgriffe, die vom fiktiven Zweck der Machterhöhung, des »Obenseinwollens«, des männlichen Protestes aus eingeleitet werden.42 32 Erg.: eine Konkretisierung des Zieles der Überlegenheit 1928 33 Fiktionen ] Änd.: Schablonen 1922 34 in besonderer bis gerichtete ] Änd.: zum Zweck der Persönlichkeitserhöhung in besonderer Anspannung befindliche 1922 35 Erg.: in den Beruf und in die Liebe 1928 36 oft ] Ausl. 1919 37 Empfindlichkeit ] hervorgehoben 1922 38 Vorsicht ] hervorgehoben 1922 39 vorauszuahnen ] hervorgehoben 1922 40 kleinlich bis sparsam ] hervorgehoben 1922 41 Erg.: und Tatkraft 1919 42 Erg.: Durch Überbetonung eines Teiles der Lebensprobleme (Unabhängigkeit, Vorsicht, Reinlichkeit etc.) stört er den Lebenszusammenhang und gerät auf die unnützliche Seite, wo wir schwer Erziehbare, Nervöse, Kriminelle, Selbstmörder, Perverse und Prostituierte antreffen. 1928 Erg.: Kretschmer K hat vor Kurzem als schizothymen Formenkreis seelische Bilder beschrieben, die vollständig den von mir gezeichneten gleichen, so sehr, dass er selbst an einer Stelle gütig [Ausl. 1928] bemerkt, solche Typen
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Damit sind wir zu jenen psychischen Erscheinungen vorgedrungen, deren Erörterung den Inhalt dieser Arbeit bilden soll, zum neurotischen Charakter. Es finden sich bei den Nervösen keine vollkommen neuen Charakterzüge, kein einziger Zug, der nicht auch beim Normalen nachzuweisen wäre. Aber der neurotische Charakter ist auffallend und weiter reichend, wenngleich er zuweilen erst durch die Analyse für den Arzt und den Patienten43 verständlich wird. Er ist ununter[7]brochen »sensibilisiert«, wie ein Vorposten vorgeschoben, und stellt die Fühlung mit der Umgebung, mit der Zukunft her. Die Kenntnis dieser wie empfindliche Fühler sich weit erstreckenden psychischen Bereitschaften44 ermöglicht erst das Verständnis für den Kampf des Nervösen mit seinem Schicksal45, für seinen gereizten Aggressionstrieb, für seine Unruhe46 und für seine Ungeduld47. Denn diese Fühler tasten alle Erscheinungen der Umgebung ab und prüfen sie unaufhörlich auf ihre Vor- und Nachteile bezüglich des gesetzten Zweckes. Sie schaffen das verschärfte Messen48 und Vergleichen49, wecken mittels der in ihnen tätigen Aufmerksamkeit Furcht, Hoffnung, Zweifel50, Erwartung51 aller Art und suchen die Psyche vor Überraschungen und vor einer Minderung des Persönlichkeitsgefühls zu sichern. Sie stellen die periphersten motorischen Vorbereitungen vor, immer mobil, immer fertig, einer Herabsetzung der Person vorzubeugen. In ihnen wirken die Kräfte der äußeren und inneren Erfahrung, sie sind mit den Erinnerungsspuren schreckender und tröstender Erlebnisse vollgefüllt und haben das Gedächtnis an sie in Fertigkeiten umgewandelt52. Kategorische Imperative zweiten Ranges, dienen sie nicht zu ihrer eigenen Durchsetzung, sondern letzter Linie, um die Persönlichkeit zu heben. Und sie versuchen dies, indem sie
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seien gelegentlich als Erscheinungen des »nervösen« Charakters geschildert worden. Wer meine hier niedergelegten Befunde über Organminderwertigkeit kennt, wird unschwer in seinen schizothymen Typen das Identische erkennen. Seiner weiteren, insbesondere der physiognomischen Befunde können wir uns nur freuen. Bestätigen sie sich, dann wird man großenteils die angeborene Organminderwertigkeit den Patienten vom Gesicht ablesen können. Der KraepelinscheK Pessimismus freilich, der Kretschmer wie die zeitgenössische Psychiatrie lähmt, hindert auch diesen Autor, die Erziehbarkeit des organisch Minderwertigen zu verstehen. 1922 verstehen ] Änd.: würdigen 1928 für bis Patienten ] Änd.: dem Arzt und dem Patienten 1919 psychischen Bereitschaften ] hervorgehoben 1922 seinem Schicksal ] Änd.: seiner Aufgabe 1919 Unruhe ] hervorgehoben 1922 Ungeduld ] hervorgehoben 1922 Messen ] hervorgehoben 1922 Vergleichen ] hervorgehoben 1922 Erg.: Ekel, Hass, Liebe 1919 Furcht bis Erwartung ] hervorgehoben 1922 Änd.: haben bis umgewandelt ] hervorgehoben 1922. Erg.: automatisiert 1928
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es ermöglichen, in der Unruhe und Unsicherheit des Lebens Leitlinien zu finden53, das Rechts und Links, das Oben und Unten, das Rechte und Unrechte zu schaffen und zu scheiden. Die verschärften Charakterzüge sind schon deutlich in der neurotischen Disposition54 vorzufinden, wo sie55 zu Sonderbarkeiten und Verschrobenheiten Anlass geben. Sie treten noch deutlicher hervor, wenn nach einer stärkeren Herabsetzung oder nach einem auftauchenden Widerspruch im männlichen Protest56 die Sicherungstendenz weiterschreitet und gleichzeitig Symptome als neue wirksame Kunstgriffe ins Leben ruft. Sie sind vielfach nach Mustern und Beispielen gearbeitet und haben die Aufgabe, den Kampf um das Persönlichkeitsgefühl in jeder neuen Lage einzuleiten und siegreich zu gestalten. In ihrem Wirken ist der Anlass zur Affektsteigerung gelegen und zur Erniedrigung der Reizschwelle gegenüber dem Normalen. Es ist selbstverständlich, dass auch der neurotische Charakter57 sich aus ursprünglich vorhandenem Material, aus psychischen Regungen und verändernden58 Erfahrungen der Organfunktionen aufbaut. Neurotisch werden alle diese an die Außenwelt anknüpfenden psychischen Bereitschaften erst,59 wenn innere Not die Sicherungstendenz steigert und diese die Charakterzüge wirksamer ausgestaltet und mobilisiert, wenn der fiktive Zweck des Lebens dogmatischer wirkt und damit auch60 die den Charakterzügen entsprechenden sekundären Leitlinien verstärkt. Dann beginnt die Hypostasierung des Charakters, seine Umwandlung aus einem Mittel zu einem Zweck führt zu seiner Verselbstständigung, und eine Art von Vergöttlichung61 verschafft ihm Unabänderlichkeit und Ewigkeitswert. Der neurotische Charakter ist so62 unfähig, sich der Wirklichkeit anzupassen, denn er arbeitet auf ein unerfüllbares Ideal hin; er ist ein Produkt und Mittel der vorbauenden63 Psyche, die seine Leitlinie verstärkt, um sich eines Minderwertigkeitsgefühls zu entledigen, ein Versuch, der infolge innerer Widersprüche oder64 an den Schranken der Kultur scheitern muss, oder am Rechte der anderen. Wie die tastende Geste, wie die rückwärts gewandte Pose, wie die körperliche Haltung bei der Aggression, wie die Mimik als 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64
finden ] Änd.: begründen 1919 Erg.: der Kinderseele 1922 Erg.: zu Ärgernis 1922 im männlichen Protest ] Änd.: gegen den männlichen Protest 1922 Änd.: gegen die eigene Überlegenheit 1928 Erg.: wie der normale 1922 verändernden ] Ausl. 1922 Erg.: wenn die Entscheidung droht 1919 hervorgehoben 1922] damit auch ] Ausl. 1922 Vergöttlichung ] Änd.: Heiligung 1919 so ] Ausl. 1922 Erg.: von Misstrauen erfüllten 1922 Erg.: an seiner Unwahrheit 1919
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Ausdrucksformen65 und Mittel der Motilität66, so dienen [8] die Charakterzüge, insbesondere die neurotischen, als psychische Mittel und Ausdrucksformen dazu, die Rechnung des Lebens einzuleiten, Stellung zu nehmen, im Schwanken des Seins einen fixen Punkt zu gewinnen, um das sichernde Endziel, das Gefühl der Überwertigkeit, zu erreichen67. Somit haben wir auch den neurotischen Charakter als den Diener eines fiktiven Zweckes entlarvt und seine Abhängigkeit von einem Endziel festgestellt. Er ist nicht selbstständig aus irgendwelchen biologischen oder konstitutionellen Urkräften emporgeschossen, sondern hat Richtung und Zug durch den kompensierenden Überbau68 und durch seine schematische Leitlinie erhalten. Seine Aufpeitschung geschah unter dem Drucke der Unsicherheit, seine Neigung, sich zu personifizieren, ist der fragwürdige Erfolg der Sicherungstendenz. Die Linie des neurotischen Charakters hat durch die Zwecksetzung die Bestimmung erhalten, in die männliche Hauptleitlinie69 einzumünden, und so verrät uns jeder neurotische Charakterzug durch seine Richtung, dass er vom männlichen Protest70 durchflossen ist, der aus ihm ein unfehlbares Mittel zu machen sucht, um jede dauernde Erniedrigung aus dem Erleben auszuschalten. Im praktischen Teil soll an einer Reihe von Fällen gezeigt werden, wie das neurotische Schema besondere psychopathologische Konstellationen hervorruft, und zwar durch das Erfassen der Erlebnisse mittels des neurotischen Charakters71. [9]
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Ausdrucksformen ] Änd.: Ausdrucksform 1919 Motilität ] Änd.: Mitteilung 1919 Erg.: oder nicht scheitern zu lassen 1922 Erg.: im seelischen Organ 1922 männliche Hauptleitlinie ] Änd.: Überlegenheitslinie 1928 männlichen Protest ] Änd.: Streben nach Macht 1928 Erg.: durch die neurotische Lebenstechnik 1922
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Die Feststellungen der »Organminderwertigkeitslehre« (siehe »Studie«, l. c.)1 beschäftigten2 sich mit den Ursachen, mit dem Verhalten, mit dem Äußeren und der geänderten Arbeitsweise der minderwertigen Organe und führten mich3 zu den Anschauungen über Kompensation durch das Zentralnervensystem, an die sich Erörterungen über die Psychogenese anschlossen. Es hatte sich eine merkwürdige Beziehung zwischen Organminderwertigkeit und psychischer Überkompensation ergeben, sodass ich eine fundamentale Anschauung gewann: Die Empfindungen der Organminderwertigkeit werden für das Individuum zu einem dauernden Antrieb in der Entwicklung seiner Psyche.4 Für die physiologische Betrachtung ergibt sich daraus eine Verstärkung der Nervenbahnen nach der5 Quantität und Qualität, wobei eine gleichzeitige ursprüngliche Minderwertigkeit dieser Bahnen ihre tektonischen und funktionellen Eigenheiten im Gesamtbilde zum Ausdruck bringen kann. Die psychische Seite dieser Kompensation und Überkompensation kann nur durch psychologische Betrachtungen und Analyse erschlossen werden. Nach den ausführlichen Schilderungen der Organminderwertigkeit – als6 Ätiologie der Neurose – in meinen früheren Arbeiten, insbesondere in der »Studie«, im »Aggressionstrieb«, im »psychischen Hermaphroditismus«, in der »neurotischen Disposition«7 und in der »psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie«*, kann ich mich bei der gegenwärtigen Schilderung auf jene Punkte beschränken, die eine weitere Aufschließung der Beziehungen zwischen Organminderwertigkeit und psychischer Kompensation bedeuten und *
Siehe die Publikationsstellen am Schlusse8 dieses Buches.9
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(siehe »Studie«, l. c.) ] Änd. zu Anm.: Adler, Studie über Minderwertigkeit von Organen. Verlag Urban und Schwarzenberg, Wien-Berlin 1907. 1922 Änd.: Adler, Studie über Minderwertigkeit von Organen. J. F. Bergmann, München 1927. 1928 beschäftigten ] Änd.: beschäftigen 1922 Erg.: unter anderem 1922 Die Empfindungen bis Psyche ] hervorgehoben 1922 der ] Ausl. 1922 Erg.: einer 1928 Nach »Aggressionstrieb« / »psychischen Hermaphroditismus« / »neurotischen Disposition« ] jeweils dieselbe Anm.: Siehe Adler und Furtmüller, »Heilen und Bilden«. München 1914. 2. Auflage in Vorbereitung. 1922 Siehe Adler, Furtmüller und Wexberg, »Heilen und Bilden«, 2. Aufl. J. F. Bergmann. München 1922. 1928
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I. Kapitel: Ursprung und Entwicklung des Gefühls der Minderwertigkeit
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für die Frage des neurotischen Charakters von Belang sind. Zusammenfassend hebe ich hervor, dass die von mir beschriebene Organminderwertigkeit, »das Unfertige an dieser Art von Organen, ihre oft nachweisbaren Entwicklungsstillstände, den Mangel an Ausbildung in histologischer oder funktioneller Richtung, das funktionelle Versagen in der postfötalen Zeit, andererseits die Steigerung ihrer Wachstumstendenz bei Kompensations- und Korrelationszwang, die häufige Erzielung funktioneller Mehrleistung sowie den fötalen Charakter von Organen [10] und Organsystemen«K in sich fasst. Es lässt sich in jedem Falle – aus der Kinderbeobachtung und aus der Anamnese Erwachsener – leicht erweisen, dass der Besitz deutlich minderwertiger Organe auf die Psyche10 reflektiert und geeignet ist, die eigene Einschätzung geringer ausfallen zu lassen, die psychologische Unsicherheit des Kindes zu steigern; aber gerade von dieser geringeren Wertung aus entspinnt sich der Kampf um die Selbstbehauptung, der ungleich heftigere Formen annimmt, als wir erwarten. Wenn das kompensierte minderwertige Organ quantitativ und qualitativ an Aktionsbreite gewinnt11 und aus sich selbst sowie aus dem ganzen Organismus Schutzmittel gewinnt, so holt das disponierte Kind in seinem Minderwertigkeitsgefühl aus seinem psychischen Können die oft auffälligen Mittel zu seiner Wertsteigerung12, unter denen man an hervorragender Stelle die neurotischen und psychotischen zu vermerken hat. Ideen über angeborene Minderwertigkeit, über Disposition und konstitutionelle Schwäche finden sich schon in den Anfängen der wissenschaftlichen Medizin.K Wenn wir an dieser Stelle von vielen namhaften Leistungen absehen, so geschieht es – trotzdem sie oft grundlegende Gesichtspunkte enthalten – nur aus dem Grunde, weil sie den Zusammenhang mit organischen und mit psychischen Erkrankungen wohl behaupten, keineswegs aber erklären. Hierher gehören alle Anschauungen über Pathologie, die sich auf eine allgemeine Auffassung einer Degeneration stützen. StillersK Lehre vom asthenischen HabitusK geht viel weiter und versucht bereits ätiologische Beziehungen festzuhalten. Antons KompensationslehreK beschränkt sich allzu sehr auf Korrelationssysteme innerhalb des Zentralnervensystems; doch haben er und sein geistreicher Schüler Otto GroßK beachtenswerte Versuche unternommen, psychische Zustandsbilder auf dieser Basis dem Verständnis näherzubringen. – Bouchards BradytrophieK, die von PonfickK, EscherichK, CzernyK, MoroK und Strümpell K beschriebene und als Krankheitsbereitschaft gedeutete exsudative DiatheseK, CombysK infantiler ArthritismusK, KreibichsK angio8 9 10 11 12
Erg.: und den 2. Band 1919 Siehe die bis Buches ] Änd.: »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. 1922 Erg.: des Kindes 1922 auf bis reflektiert ] hervorgehoben 1922 gewinnt ] Änd.: zunimmt 1922 Wertsteigerung ] Änd.: Wertgefühlsteigerung 1919
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neurotische DiatheseK, HeubnersK LymphatismusK, PaltaufsK Status thymicolymphaticusK, Escherichs SpasmophilieK und Heß-EppingersK VagotonieK sind erfolgreiche Versuche der letzten Dezennien, Zustandsbilder mit angeborenen Minderwertigkeiten im Zusammenhang zu schildern.13 Allen ist der Hinweis auf Heredität und infantilistische Charaktere gemeinsam. Aber obgleich die schwankenden Grenzen bei den beschriebenen Dispositionen von den Vertretern dieser Lehren selbst hervorgehoben werden, ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass hervorstechende Typen erfasst sind, die sich einer großen Gruppe der Minusvarianten im Laufe der Zeit einordnen werden. Von ungeheurer Wichtigkeit für die Erkenntnis angeborener Minderwertigkeit und Krankheitsbereitschaft waren die Forschungen über die Drüsen mit innerer Sekretion, bei denen sich morphologische oder funktionelle Abweichungen ergaben, so betreffs der Schilddrüse, der Nebenschilddrüsen, der Keimdrüsen, des chromaffinen Systems, der Hypophyse. Von dem Standpunkt dieser Organminderwertigkeiten aus betrachtet, ergaben sich die Überblicke auf das Gesamtbild leichter, und die Beziehungen zu Kompensation und Korrelation im Haushalt des ganzen Körpers traten deutlicher zutage. [11] Unter den übrigen Autoren, die kein primum movens, sondern ein Zusammen- und Aufeinanderwirken mehrfacher Organminderwertigkeiten zur Grundlage ihrer Anschauung genommen haben, ist vor allem MartiusK zu nennen. Ebenso erscheint in meiner Darlegung »Über Minderwertigkeit von Organen« (1907) die Koordination der gleichzeitigen Minderwertigkeiten in den Vordergrund gerückt. Die Tatsache ist nicht gering zu veranschlagen, »dass die gleichzeitig minderwertigen Organe wie in einem geheimen Bunde zueinander stehen«K. Auch BartelK hat seine Anschauungen über den Status thymico-lymphaticus, die eine erhebliche Bereicherung der Wissenschaft darstellen, bereits so weit ausgedehnt, dass ihre Grenzen die der Systeme anderer Autoren längst überkreuzen. Und KyrleK ist auf selbstständigen Bahnen unter Anführung völlig neuer pathologischer Befunde zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie ich, als ich aufgrund meiner Beobachtungen erklärte, dass die Koordination von Minderwertigkeiten des Sexualapparates und anderer Organe, oft nur wenig ausgeprägt, aber so häufig vorzufinden ist, »dass ich behaupten muss, es gibt keine Organminderwertigkeit ohne begleitende Minderwertigkeit des Sexualapparates«K. Späterer Erörterungen wegen muss ich noch die Anschauung Freuds erwähnen, der die Bedeutung einer »sexuellen Konstitution« für die Neurose und Psychose hervorhebt und darunter eine nach Qualität und Quantität verschiedene Anordnung von sexuellen Partialtrieben versteht. Diese Auffassung entspricht bloß einem Postulat seiner sonstigen Anschauungen. Die Ausbildung 13 Anm.: Ebenso BauerK, KretschmerK u. a. 1922
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perverser Triebe und ihre »missglückte Verdrängung« ins Unbewusste soll das Bild der Neurose ergeben und stellt14 selbst ein primum movens für die neurotische Psyche dar15. Es wird sich aus unseren Ausführungen ergeben, dass die Perversion16, sofern und soweit sie in der Neurose und Psychose zur Ausbildung gelangt, nicht von einer angeborenen Triebkraft, sondern durch einen fiktiven Endzweck konstituiert wird, wobei17 sich die Verdrängung als Nebenprodukt unter dem Druck des Persönlichkeitsgefühls ergibt. Was aber biologisch an einem ursprünglich18 abnormen sexuellen Verhalten in Betracht kommt, die größere oder geringere Sensibilität, Erhöhung oder Verminderung der Reflexaktion, die funktionelle Wertigkeit sowie der kompensatorische psychische Überbau, führt direkt, wie ich in der »Studie« gezeigt habe, auf angeborene Minderwertigkeit des Sexualorgans zurück. Über die Art der Krankheitsbereitschaft bei Organminderwertigkeit herrscht Einigkeit. Der von mir eingenommene Standpunkt (»Studie«, l. c.) hebt mehr wie der anderer Autoren die Sicherung eines Ausgleiches durch Kompensation hervor. »Mit der Loslösung vom mütterlichen Organismus beginnt für diese minderwertigen Organe und Organsysteme der Kampf mit der Außenwelt, der notwendigerweise entbrennen muss und mit größerer Heftigkeit einsetzt als bei normal entwickeltem Apparat. Diesen Kampf begleiten die höheren Krankheits- und Sterbeziffern. Doch verleiht der fötale Charakter zugleich die erhöhte Möglichkeit der Kompensation und Überkompensation, steigert die Anpassungsfähigkeit an gewöhnliche und ungewöhnliche Widerstände und sichert die Bildung von neuen und höheren Formen, von neuen und höheren Leistungen. So stellen die minderwertigen Organe das unerschöpfliche Versuchsmaterial dar, durch dessen fortwährende [12] Bearbeitung, Verwerfung, Verbesserung der Organismus mit geänderten Lebensbedingungen in Einklang zu kommen sucht. Ihre (gelegentliche) Überwertigkeit ist tief begründet in dem Zwange eines ständigen Trainings, in der den minderwertigen Organen oftmals anhaftenden Variabilität und größeren Wachstumstendenz und in der durch die innere Aufmerksamkeit und Konzentration erhöhten Ausbildung des zugehörigen nervösen und psychischen Komplexes.«K Die Schäden der konstitutionellen Minderwertigkeit äußern sich in den mannigfachsten Erkrankungen und Krankheitsbereitschaften. Bald treten 14 stellt ] Ausl. 1919 15 dar ] Änd.: darstellen 1919 16 Anm.: Siehe »Das Problem der Homosexualität«, E. Reinhardt, München 1917. 1919 Änd.: Siehe »Das Problem der Homosexualität«, E. Reinhardt, München 1917. 2. Auflage in Vorbereitung. 1922 17 wobei ] Änd.: und dass 1919 18 ursprünglich ] Ausl. 1922
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körperliche oder geistige Schwächezustände hervor, bald Übererregbarkeit der nervösen Bahnen, bald Plumpheit, Ungeschicklichkeit oder Frühreife. Ein Heer von Kinderfehlern kooperiert mit der Krankheitsbereitschaft und schließt sich, wie ich gezeigt habe, eng an die organische oder funktionelle Minderwertigkeit an. Strabismus, Brechungsanomalien des Sehorgans oder Lichtscheu mit ihren Folgen19, Hörstummheit, Stottern und andere Sprachfehler, Schwerhörigkeit, die organischen und psychischen Nachteile der adenoiden Vegetationen, die entwickelte Aprosexie, die häufigen Erkrankungen der Sinnesorgane, der Luft- und Nahrungswege, hervorstechende Hässlichkeit und Missbildungen, periphere Degenerationszeichen und Naevi, die tiefer liegende Organminderwertigkeiten verraten können (Adler, Schmidt K),20 Hydrocephalus, Rachitis, Haltungsanomalien als Skoliose, runder Rücken, Genua vara oder valga, Pes varus oder valgus, länger dauernde Inkontinenz von Stuhl und Urin, Missbildung der Genitalien, Folgen der Kleinheit der Arterien (Virchow) und die zahlreichen weiteren Folgen der Minderwertigkeit von Drüsen mit innerer Sekretion, wie sie von v.21 Wagner-JaureggK, Frankl v. Hochwart22 K, ChvostekK, BartelK, EscherichK, Pineles23 K und anderen beschrieben wurden, lassen in ihrer ungeheuren Fülle, in der Variation ihrer Zusammenhänge den großen Kreis der Krankheitserscheinungen erkennen, wie er sich durch das Verständnis der Organminderwertigkeit dem Arzte erschlossen hat. Insbesondere waren es Kinderärzte und Pathologen, die zuerst auf diese Zusammenhänge geachtet haben. Aber auch für die Neurologie und Psychiatrie ist die Betrachtung der »Degeneration« von immer größerer Wichtigkeit geworden; von MorelsK Lehre der Degenerationszeichen zieht sich die Fortschrittslinie bis zur Anschauung von den nervösen Erkrankungen auf der Grundlage der minderwertigen Konstitution. Heben wir bloß die statistische Arbeit Thiemich-BirksK und die Mitteilungen PotpeschniggsK (zitiert nach GöttK) hervor über die Schicksale von Kindern, die als Ein- oder Zweijährige wegen tetanoider Krampfzustände behandelt worden waren. Von diesen Kindern war nur ein spärlicher Bruchteil ganz gesund geworden. Meist ergaben sich später deutliche Zeichen körperlicher und geistiger Minderwertigkeit, psychopathische und neuropathische Züge. Als solche führen diese Autoren an: Infantilismus, Schielen, Schwerhörigkeit, Sprachfehler, Schwachsinn, Schlafstörungen24, Pavor nocturnus, Somnambulismus, Enuresis, Reflexsteigerungen, Tics, Wutkrämpfe, Wegbleiben, 19 20 21 22 23 24
Anm.: Siehe Mutschmann K, »Der andere Milton« 1920 1922 Erg.: Linkshändigkeit 1919 v. ] Ausl. 1919 Frankl v. Hochwart ] Änd.: Frankl-Hochwart K1919 Pineles ] wird nach Wagner-Jauregg genannt 1922 Schlafstörungen ] Änd.: Sprachstörungen 1919
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Schreckhaftigkeit, Jähzorn, pathologische Lügenhaftigkeit, triebhaftes Weglaufen. Auch Gött und andere Autoren gelangten zu dem Schlusse, dass bei spasmophilen Kindern eine Disposition zu schweren neuro- und psychopathischen Zuständen besteht. – CzernyK und andere heben hervor, dass der gleiche Zusammenhang bei magen-darm-kranken Kindern nach[13]zuweisen ist. – BartelK konnte unter den Selbstmördern ein auffallendes Vorwiegen des Status thymico-lymphaticus, speziell Hypoplasie der Sexualorgane, beobachten. Bezüglich der jugendlichen Selbstmörder haben ich, NetolitzkyK u. a. den Befund körperlicher Minderwertigkeit hervorgehoben. Frankl v. Hochwart25 K hat Aufregungszustände, Reizbarkeit, halluzinatorische Verworrenheit bei Tetanie beschrieben. Französische Autoren (zitiert nach PfaundlerK) schreiben dem pastösen torpiden HabitusK der Kinder Unlust, Trägheit, Schläfrigkeit, Zerstreutheit, Stumpfsinn, Phlegma zu, dem erethischen Unruhe, Lebhaftigkeit, Reizbarkeit, Frühreife, Stimmungsschwankungen, Affektivität, Unverträglichkeit, sonderbares Wesen und einseitige Begabung (Dégénérés supérieurs). – Pfaundler hebt das Beunruhigende, Lästige und Qualvolle hervor, von dem die konstitutionell minderwertigen Kinder infolge von Hautausschlägen, Koliken, Schlafstörungen und funktionellen Anomalien heimgesucht werden. – CzernyK, der auf den Zusammenhang von Darmstörungen der Kinder mit Neurosen aufmerksam gemacht hat, betont ganz besonders die Bedeutung der Psychotherapie bei Kindern, die im Verlauf konstitutioneller Erkrankungen nervös geworden sind. HamburgerK hat erst kürzlich den Charakter des Ehrgeizes bei nervösen Kindern hervorgehoben, StranskyK den Zusammenhang von Myopathie und psychischen Erscheinungen. Diese kurzen Hinweise geben uns einen Überblick über die Versuche der gegenwärtigen Forschungsrichtung, den Zusammenhang psychischer Anomalien im Kindesalter mit der konstitutionellen Minderwertigkeit zu betonen und festzuhalten. Die erste umfassende Grundanschauung über diesen Zusammenhang habe ich in der »Studie« veröffentlicht, wo ich darauf hinwies, wie ein besonderes Interesse und eine stete Aufmerksamkeit das minderwertige Organ zu behüten suche. Ich konnte in dieser und anderen Arbeiten darauf verweisen, wie die Minderwertigkeit eines Organs dauernd die Psyche beeinflusst, im Handeln und Denken, im Träumen, in der Berufswahl, in künstlerischen Neigungen und Fähigkeiten*. Der Bestand eines minderwertigen Organs erfordert ein derartiges Training der zugehörigen Nervenbahnen *
Siehe auch Adler, Die Theorie der Organminderwertigkeit und ihre Bedeutung für Philosophie und Psychologie, Vortrag in der Philosophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien 1908, und J. ReichK, Kunst und Auge, Österreichische Rundschau 1908.
25 Frankl v. Hochwart ] Änd.: Frankl-Hochwart 1919
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und des psychischen Überbaues, dass letzterer kompensatorisch befruchtet wird, falls die Kompensationsmöglichkeit gegeben ist. Dann aber müssen wir gewisse, dem Organ zugehörige Verknüpfungen mit der Außenwelt auch im psychischen Überbau verstärkt vorfinden. Dem ursprünglich minderwertigen Sehorgan entspricht eine verstärkte visuelle Psyche, ein minderwertiger Ernährungsapparat wird die größere psychische Leistungsfähigkeit in allen Ernährungsbeziehungen zur Seite haben, Gourmandise, Erwerbseifer, und – auf dem Wege über das Geldäquivalent – Sparsamkeit und Geiz werden verstärkt hervortreten. Die Leistungsfähigkeit des kompensierenden Zentralnervensystems wird sich durch qualifizierte Reflexe (Adler) und bedingte Reflexe (Bickel K) äußern, durch empfindliche Reaktionen und verstärkte Empfindungen. Der kompensierende psychische Überbau wird die psychischen Phänomene des Vorausahnens und Vorausdenkens und ihre wirkenden Faktoren wie Gedächtnis, In[14]tuition, Introspektion, Einfühlung, Aufmerksamkeit, Überempfindlichkeit,26 kurz alle sichernden psychischen Kräfte in verstärktem Maße entfalten. Zu diesen Sicherungen gehören auch die Fixierung und Verstärkung der Charakterzüge, die im Chaos des Lebens brauchbare Leitlinien bilden und so die Unsicherheit verringern. Der nervöse Mensch kommt aus dieser Sphäre der Unsicherheit und stand in der Kindheit unter dem Drucke seiner konstitutionellen Minderwertigkeit. In den meisten Fällen gelingt dieser Nachweis leicht. In anderen Fällen benimmt sich der Patient so, als ob er minderwertig wäre. Immer aber baut sich sein Wollen und Denken über der Grundlage eines Gefühls der Minderwertigkeit auf. Dieses Gefühl ist stets als relativ zu verstehen, ist aus den Beziehungen zu seiner Umgebung erwachsen oder zu seinen Zielen. Stets ist ein Messen, ein Vergleichen mit anderen vorausgegangen, erst mit dem Vater, dem Stärksten in der Familie, zuweilen mit der Mutter, mit den Geschwistern, später mit jeder Person, die dem Patienten entgegentritt. Bei näherer Einsicht erkennt man, dass jedes Kind, insbesondere aber das von Natur aus bedrängtere, eine scharfe Selbsteinschätzung vorgenommen hat. Das konstitutionell minderwertige Kind, dem wir als gleichgestellt27 und zur Neurose gleichermaßen disponiert, das hässliche, das zu streng erzogene, das verhätschelte Kind28 an die Seite stellen können, sucht eifriger als ein gesundes Kind den vielen Übeln seiner Tage zu entkommen. Und bald sehnt es sich, auf eine ferne Zukunft hinaus das ihm vorschwebende Schicksal29 zu bannen. Dazu 26 Erg.: Interesse 1919 27 als gleichgestellt ] Änd.: in seelisch verzögerter geistiger Entwickelung gleichgestellt 1922 28 hässliche bis Kind ] hervorgehoben 1928 29 Erg.: einer Niederlage im Leben 1922
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braucht es ein Hilfsmittel, um im Schwanken der Tage, in der Unorientiertheit seines Seins ein festes Bild vor Augen zu haben. Es greift zu einer Hilfskonstruktion. In seiner Selbsteinschätzung zieht es die Summe aller Übel, stellt sich selbst als unfähig, minderwertig, herabgesetzt, unsicher in Rechnung. Und um eine Leitlinie zu finden, nimmt es als zweiten fixen Punkt Vater oder Mutter, die es nun mit allen Kräften dieser Welt ausstattet. Und indem es für sein Denken und Handeln diese Leitlinie normiert, sich aus seiner Unsicherheit zu dem Range des allmächtigen Vaters zu erheben, diesen zu übertreffen sucht, hat es sich bereits vom realen Boden mit einem großen Schritt entfernt und hängt in den Maschen der Fiktion. – Solche Beobachtungen lassen sich auch bei normalen Kindern in abgeschwächter Form erheben. Auch sie wollen groß sein, stark sein, herrschen, »wie der Vater«, und werden durch diesen Endzweck geleitet. Ihr Gebaren, ihre körperliche und geistige Haltung sind alle Augenblicke auf diesen Endzweck gerichtet, sodass man bereits eine imitierende Mimik, eine identische psychische Geste wahrnehmen kann. Das Beispiel wird der Wegweiser zum »männlichen« Ziele, solange nicht die »Männlichkeit« infrage gestellt ist. Wird bei Mädchen das männliche Ziel denkunfähig, dann tritt ein Formenwandel der männlichen Leitlinie ein, es wird z. B. nur Macht, Wissen, Herrschaft angestrebt.30 Auf eine spezielle psychische Leistung des Kindes muss noch hingewiesen werden, die sich vorher und während der Aufstellung der männlichen Leitlinie31 geltend macht. Man kann diese Erscheinung kaum besser erfassen als mit der Annahme, dass die notwendigen Verweigerungen der Organtriebbefriedigungen das Kind schon von der ersten Stunde seines extrauterinen Lebens an in eine feindliche, kämpferische [15] Stellung zur Umgebung drängen. Daraus resultieren Anspannungen und Steigerungen organisch gegebener Fähigkeiten – c’est la guerre! –, wie ich sie in der Arbeit über den »Aggressionstrieb«* beschrieben habe. In den zeitweiligen Entbehrungen und Unlustempfindungen, wie sie die ersten Kinderjahre mit sich bringen32, ist der Anstoß zu suchen, der33 eine Anzahl allgemeiner Charakterzüge entwickelt34. Vor allem lernt das Kind35 in seiner Schwäche und Hilflosigkeit, in seiner Angst und in *
»Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose«, l. c.36.
30 Das Beispiel bis angestrebt ] Änd.: Das Beispiel wird der Wegweiser zum Ziele. 1928 Erg.: Schließlich wird jedes Wollen ein Drang nach Kompensation, ein Ausgleich eines Minderwertigkeitsgefühls. 1922 31 männlichen Leitlinie ] Änd.: Leitlinie zur Überlegenheit 1928 32 wie bis bringen ] Änd.: der ersten Kinderjahre 1919 33 Erg.: zuerst 1922 34 Charakterzüge entwickelt ] Änd.: Charakterzüge eines Angreifers entwickelt 1922
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seinen mannigfachen Unfähigkeiten ein37 Mittel schätzen, das38 ihm die Hilfe und Unterstützung seiner Angehörigen, ihr Interesse sichert39. In seinem negativistischen Verhalten, in seinem Trotz und in seiner Unerziehbarkeit findet es oft eine Befriedigung seines Machtbewusstseins und ist dadurch des quälenden Gefühls seiner Minderwertigkeit ledig geworden.40 Beide Hauptlinien des kindlichen Verhaltens, Trotz und Gehorsam*, garantieren dem Kinde eine Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, helfen ihm, den Weg zum männlichen41 Endziel, oder, wie wir vorwegnehmend sagen wollen, zu einem Äquivalent desselben tastend einzuschlagen. Bei konstitutionell minderwertigen Kindern wird das erwachende Persönlichkeitsgefühl stets herabgedrückt, ihre Selbsteinschätzung fällt geringer aus, weil ihre Befriedigungsmöglichkeit weitaus dürftiger ist. Man denke an die zahllosen Einschränkungen, Kuren, Schmerzen bei magen-darm-kranken Kindern, an die Verweichlichung und Verwöhnung der blassen, schwächlichen, an Minderwertigkeit des Atmungsapparates leidenden Kinder, an das Jucken und die Qualen bei Prurigo und anderen Exanthemen, an die vielen erniedrigenden Kindesfehler, an die Ansteckungsfurcht der Eltern solcher Kinder, die oft dahin führt, wohin auch die häufigen Störungen in der Erziehung, im Schulfortgang und die Störrigkeit solcher Kinder öfters führen: zur Isolierung und zur Missliebigkeit bei Kameraden und innerhalb der Familie. In ähnlicher Weise schädigen das Selbstgefühl die rachitische Plumpheit, angeborene Fettleibigkeit und geringere Grade von geistiger Zurückgebliebenheit. Meist hilft sich das Kind durch die Annahme einer Zurücksetzung, die es von den Eltern erfährt,42 wie sie besonders häufig bei späteren oder dem jüngsten der Kinder anzutreffen ist,43 zuweilen auch bei dem ersten44. *
Adler, »Trotz und Gehorsam«45
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Vor bis Kind ] Änd.: Bald aber lernt das Kind auch 1922 l. c. ] Änd.: in »Heilen und Bilden« 1919 ein ] Ausl. 1922 das ] Änd.: die 1922 sichert ] Änd.: sichern 1922 Erg.: Mit den Äußerungen seiner Schwäche und seiner Unterwerfung lenkt es die Sorge der Umgebung auf sich. 1922 männlichen ] Ausl.: 1928 Erg.: was zuweilen durch die Ungunst seiner Position in der Kindesreihe, als erstes Kind, als zweites, als einziges Mädchen unter Knaben oder umgekehrt, erleichtert wird 1919 Erg.: je nach der individuellen Situation 1928 zuweilen bis ersten ] Ausl. 1928 Erg.: ibidem 1919
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Diese46 feindliche Aggression, gereizt und verstärkt bei konstitutionell minderwertigen Kindern, fließt mit seinem47 Streben, so groß und stark zu werden wie der Stärkste, innig zusammen und kräftigt und hebt jene Regungen hervor, die dem kindlichen Ehrgeiz zugrunde liegen. Alle späteren Gedankengänge und Handlungen des Neurotikers zeigen sich im gleichen48 Aufbau wie seine kindlichen Begehrungsvorstellungen. Die »Wiederkehr des Gleichen« (Nietzsche)49 K ist nirgends so gut wie beim Nervösen zu verstehen. Sein Minderwertigkeitsgefühl den Personen und Dingen gegenüber, seine Unsicherheit in der Welt drängen ihn zur Verstärkung der Leitlinien. An diese klammert er50 sich zeitlebens, um Sicherheit zu gewinnen, um sich in der Welt mittels seines Glaubens und Aberglaubens zu orientieren, um seinem Gefühl der Minderwertigkeit zu entkommen, um sein Persönlichkeitsgefühl zu retten, um einen Vorwand zu haben, einer befürchteten Erniedrigung auszuweichen. Nie ist ihm dies alles so gelungen wie in der Kindheit. Seine leitende [16] Fiktion, so zu handeln, als ob er allen überlegen sein müsste, kann deshalb auch die Form annehmen, sich so zu benehmen, als ob er51 ein Kind wäre.52 Die kindlichen Befriedigungen aber53 werden so54 vorbildlich und verstärken daher55 die Leitlinie. Es wäre gefehlt, anzunehmen, dass nur der Neurotiker solche Leitlinien aufweist. Der Gesunde müsste ebenfalls auf die Orientierung in der Welt verzichten, wenn er nicht nach Fiktionen das Weltbild und sein Erleben einordnete.56 In Stunden der Unsicherheit treten diese Fiktionen deutlicher hervor, werden zu Imperativen des Glaubens, des Ideals, des freien Willens, sie wirken aber auch sonst im Geheimen, im Unbewussten, wie alle psychischen Mechanismen, deren Wortbild57 sie nur vorstellen. Logisch genommen sind sie als Abstraktionen zu betrachten, als Simplifikationen, welchen die Aufgabe 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57
Diese ] Änd.: Die 1922 seinem ] Änd.: ihrem 1919 im gleichen ] Änd.: von gleichem 1922 Wiederkehr bis Nietzsche) ] Änd.: Wiederkehr des Gleichen, das typische Schicksal 1919 er ] Änd.: es 1919 er ] Änd.: es 1928 Erg.: So oft deutlich bei Bettnässern, Platzangst, Angstneurosen etc. 1922 kindlichen Befriedigungen aber ] Änd.: kindlichen Befriedigungen des Machtstrebens 1922 so ] Ausl. 1928 daher ] Ausl. 1922 Erg.: Dass er sie ebenfalls aufgrund alter Erfahrungen (»Regression«) gewonnen hat, wurde bereits gezeigt. 1922 Wortbild ] Änd.: Wortbilder 1922
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zufällt, Schwierigkeiten des Lebens nach Analogie der einfachsten Begebenheiten zu lösen58. Die Urform der einfachsten Begebenheiten, das59 Maschenwerk des apperzipierenden Gedächtnisses, haben wir in den kindlichen Versuchen, mit seinen Schwierigkeiten fertig zu werden, gefunden60. Im Traum liegt diese Apperzeptionsweise klarer zutage; wir werden uns noch damit beschäftigen. Der Nervöse trägt das Gefühl der Unsicherheit ständig mit sich. Daher ist sein »analogisches Denken«61 stärker und deutlicher ausgeprägt. Sein Misoneismus (LombrosoK), seine Furcht vor dem Neuen, vor Entscheidungen und Prüfungen – die zumeist62 vorhanden ist63 – stammen aus dem Mangel einer Analogie64. Er hat sich so sehr an Leitlinien gekettet, nimmt diese wörtlich und sucht nur sie zu realisieren, dass er, ohne es zu wissen, darauf verzichtet hat, unbefangen, ohne Vorurteil an die Lösung realer Fragen zu gehen. Auch die notwendigen Einschränkungen durch die Wirklichkeit, wo sich hart im Raume die Dinge stoßen, drängen ihn gemäß seiner Einstellung nicht zur Beseitigung der65 Fiktion, sondern nur zu ihrer Verwandlung66. Noch konsequenter versucht der psychotische Patient die Realisierung seiner Fiktion durchzusetzen. Der Neurotiker zappelt im Realen an seiner selbstgeschaffenen Leitlinie und gelangt dadurch zu einer67 Spaltung seiner Persönlichkeit, dass er der realen und der imaginären Forderung gerecht werden will68. Form und Inhalt der neurotischen Leitlinie stammen aus den Eindrücken des Kindes, das sich zurückgesetzt fühlt. Diese Eindrücke, die sich aus einem ursprünglichen Gefühl der Minderwertigkeit mit Notwendigkeit heraushe58 Anm.: Wie Freud zu dem Schlusse kommt, diese »Fiktionen« seien mit den »Kindheitsfantasien« identisch, dürfte allen rätselhaft bleiben. Vielmehr erzeugen erstere die Fantasie. 1922 59 Erg.: tendenziöse 1919 60 haben wir bis gefunden ] hervorgehoben 1928 Erg.: Dass wir sie auch beim Wilden, beim Primitiven finden, ist demnach selbstverständlich, da alle menschlichen Fragen im Sinne des Machtstrebens ihre Lösung verlangen. Jungs und Freuds fantastische Annahmen [Erg.: einer Phylogenese 1928] erweisen sich als überflüssig und irreführend. Jede menschliche Gebärde erzeugt sich in jedem Individuum aufs Neue. 1922 61 Erg.: sind seine Lösungsversuche nach Analogie älterer Erfahrungen 1922 62 zumeist ] Änd.: immer 1919 63 ist ] Änd.: sind 1922 64 Mangel einer Analogie ] Änd.: mangelnden Glauben an sich selbst 1919 65 Erg.: vorgefassten 1919 66 ihrer Verwandlung ] Änd.: seiner Wandlung ins Pessimistische 1919 ab 1922 hervorgehoben 67 Erg.: scheinbaren 1922 68 Erg.: um durch diese Ambivalenz (BleulerK) zu bremsen und [Erg.: in ihr 1922] stecken zu bleiben 1919 Änd.: um durch diesen Zweifel zu bremsen und in ihm stecken zu bleiben 1928 (Erg. u. Änd. hervorgehoben)
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ben, rufen eine Aggressionsstellung ins Leben, deren Zweck die Überwindung der69 Unsicherheit ist. In dieser Aggressionsstellung finden alle Versuche des Kindes ihren Platz, die eine Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls versprechen, geglückte Versuche, die zur Wiederholung drängen, missglückte, die als70 Memento dienen, auf den71 Endzweck vorbereitende Tendenzen, die sich aus einem aufdringlichen organischen Leiden72 ergeben haben und in eine Summe psychischer Bereitschaften ausmünden, und solche, die bei anderen erschaut sind. Alle Erscheinungen der Neurose stammen aus diesen vorbereitenden Mitteln, die dem männlichen73 Endzweck74 zustreben. Sie sind geistige Bereitschaften, immer fertig, um den Kampf um das Persönlichkeitsgefühl einzuleiten; sie gehorchen dem Kommando der leitenden Fiktion, die sich mittels dieser [17] aus der Kindheit bereitliegenden Reaktionsweisen durchzusetzen sucht. In der entwickelten Neurose peitscht die Fiktion alle diese Bereitschaften auf, die sich nun selbst wie Endzwecke gebärden. Die Angst, die vorher sichern sollte, vor dem Alleinsein, vor Herabsetzung, vor dem Gefühl der Kleinheit, wird hypostasiert. Der Zwang, ursprünglich im Sinne der Fiktion ein Versuch, sich männlich75 zu gebärden, verselbständigt sich. In der Ohnmacht, in den Lähmungen, in den hysterischen Schmerzen und funktionellen Störungen stellt sich symbolisch die pseudomasochistische Art des Patienten dar, zur Geltung zu kommen oder einer gefürchteten Entscheidung ausweichen. Die große Bedeutung der Unsicherheit des Neurotikers, wie ich sie erkannt und beschrieben habe, zwingt zu einer derartigen Verstärkung der Bereitschaft und ihrer Folgen, dass ursprünglich geringe Erscheinungen funktioneller Art die wunderbarsten Ausgestaltungen erfahren, sobald die innere Not es erheischt.76 Der Blick des Neurotikers richtet sich77 – wegen des Gefühls der Unsicherheit – viel weiter in die Zukunft. Alles gegenwärtige Leben scheint ihm nur Vorbereitung. Auch dieser Umstand trägt viel dazu bei, seine Fantasietätigkeit anzuspornen und ihn der realen Welt zu entfremden. Ähnlich wie bei religiösen Menschen ist sein Reich nicht von dieser WeltK, und wie diese kommt er 69 70 71 72 73 74 75
der ] Änd.: einer großen 1928 Erg.: abschreckendes 1922 Erg.: sichernden 1922 Leiden ] Änd.: Mangel 1922 Erg.: oder seelischen Druck 1928 männlichen ] Ausl. 1928 Erg.: einer Überlegenheit 1922 männlich ] Änd.: überlegen 1919 Erg.: durch Häufung von unsinnigen Schwierigkeiten überlegen 1922 76 Erg.: Immer findet man die Ausschaltungstendenz am Werke, die nach erleichterten Situationen trachtet. 1928 77 Erg.: auch 1922
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von der Gottheit, die er sich geschaffen, Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, nicht los. Eine Anzahl allgemeiner Charakterzüge entspringen mit Notwendigkeit diesem der Wirklichkeit abgewandten Wesen. So in erster Linie die große Verehrung der Mittel, die seiner Fiktion dienen sollen. Er wird in der Regel78 ein sorgfältig abgezirkeltes Benehmen, Genauigkeit, Pedanterie an den Tag legen, einerseits um die »großen Schwierigkeiten des Lebens« nicht zu vermehren, andererseits und hauptsächlich aber, um sich von anderen in der Arbeit, in der Kleidung, in der Moral abzuheben und so ein Gefühl der Überlegenheit zu gewinnen.79 Zumeist dient dieser verstärkte Charakterzug auch dazu, ihn mit dem »Feind« in Fühlung zu bringen, jene Situationen heranreifen zu lassen, die ihn mit seiner Umgebung in Konflikt bringen, damit er »berechtigte« Vorwürfe erheben könne. Gleichzeitig dienen diese ewigen Vorwürfe dazu, sein Gefühl, seine Aufmerksamkeit wach zu halten, sich zu beweisen, dass man ihn zurücksetze, nicht mit ihm rechne. Man findet diesen Zug schon in der Kindheit mancher Nervösen, wo er dazu verhilft, irgendjemanden in den Dienst zu stellen, etwa die Mutter, die dann allabendlich längere Zeit die Kleider in streng vorgeschriebener Weise behandeln80 muss81. Ähnlich dringt oft die Angst und die Schüchternheit auffällig durch, und ich muss allen anderen Erklärungsversuchen gegenüber dabei verharren, dass das psychische Phänomen der Angst aus einer halluzinatorischen Erregung einer Bereitschaft entsteht, die in der Kindheit aus kleinen Anfängen somatisch erwachsen ist, sobald eine körperliche Schädigung drohte, später aber, und insbesondere in der Neurose durch den Endzweck bedingt ist, sich einer Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls zu entziehen und82 andere Personen dienstbar zu machen83. – Es ist leicht zu verstehen, dass alle Begehrungsvor78 in der Regel ] Ausl. 1928 79 Erg.: Regelmäßig verschaffen ihm diese Züge das Gefühl einer immensen Belastung, die ihm in Verbindung mit seinem Kranksein eine Helden- und Märtyrerrolle vorgaukelt. In der Überwindung dieser arrangierten, selbstgeschaffenen Schwierigkeit sucht und findet er noch einmal die Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls. Zumindest kann er sich auf den überwältigenden, unübersteiglichen Berg von Symptomen berufen, hinter dem er immer steht, wenn der Ruf an ihn ergeht: »Wo warst du denn, als man die Welt verteilet!« K 1922 80 Erg.: immer anwesend sein 1922 81 Erg.: in der Behandlung der Kinder die Parität wahren muss usw. 1922 Erg.: In diesem Falle mündet die neurotische Aktion oft in eine Lebensform, in der der Patient wie eine lebendige Anklage durchs Leben geht, seine Laster zeigt und gleichzeitig das Unrecht der andern. 1928 82 und ] Ausl. 1919 83 Erg.: und sich durch eine entsprechende Einfühlung in die ängstliche Stimmung von den Forderungen des Lebens entheben zu lassen 1919 Erg.: Die Angst stellt eine durch-
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stellungen einen ungeheuren Grad erreichen können, ebenso wie das Erreichte selten Befriedigung gewährt. Man kann ruhig annehmen, dass jeder Neurotiker »alles haben will«. Dieses Begehren deckt sich mit seiner leitenden Fiktion, der Stärkste sein zu wollen.84 Wenn er vor Ge[18]winn versprechenden Unternehmungen zurückschreckt, wie meist auch vor Verbrechen und unmoralischen Handlungen, so deshalb, weil er für sein Persönlichkeitsgefühl fürchtet. Aus demselben Grunde scheut er oft vor der Lüge zurück, kann aber, um sicher zu gehen und sich vor Abwegen zu hüten, in sich das Bedenken nähren, dass er großer Laster und Verbrechen fähig wäre.85 – Dass diese starre Verfolgung der Fiktion eine soziale Schädigung bedeutet, liegt auf der Hand.86 Der Egoismus nervöser Menschen, ihr Neid, ihr Geiz, oft ihnen unbewusst87, ihre Tendenz, Menschen und Dinge zu entwerten, stammen aus ihrem Gefühl der Unsicherheit und sind bestimmt, sie zu sichern, zu lenken, anzuspornen88. – Da sie in Fantasien eingesponnen sind und in der Zukunft leben, ist auch ihre Zerstreutheit nicht verwunderlich. – Der Stimmungswechsel ist abhängig vom Spiel ihrer Fantasie, die bald peinliche Erinnerungen berührt, bald sich aufschwingt zur Erwartung des Triumphes, analog dem Schwanken und Zweifeln des Neurotikers89. In gleicher Weise erscheinen spezielle Charakterzüge, die alle der menschlichen Psyche nicht fremd sind, durch den hypnotisierenden Endzweck gerichtet und tendenziös verstärkt. – Sexuelle Frühreife und Verliebtheit sind Ausdrucksformen für die90 gesteigerte Tendenz, erobern zu wollen, Masturbation, Impotenz und perverse Regungen liegen auf der Richtungslinie der Furcht vor dem Partner, der Furcht vor Entscheidung, wobei
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aus intelligente Funktion dar, die wie die ganze Lebensaktion in einem Teil das Streben darstellt, aus einer Phase des Minderwertigkeitsgefühls zur Überlegenheit zu gelangen. 1928 Erg.: Ihm gelten nur die stärksten Beweise seiner Überlegenheit. 1928 Anm.: Was durch den Mangel seines Gemeinschaftsgefühls, durch seine Gleichgültigkeit oder durch seinen Hass gegen die Mitmenschen erleichtert wird. 1922 Erg.: Ein anknüpfendes Schuldgefühl in der Neurose ist immer auf den gleichen Endzweck der Überlegenheit zugespitzt, ebenso wie überspannte Religiosität. »Gewissenhaft bin ich auch!« Oder es dient zur Ablehnung einer bevorstehenden Aufgabe. »Gewissensbisse sind unanständig«, urteilt Nietzsche K. Ihm mag dieser Sachverhalt bekannt gewesen sein. 1922 Erg.: Sie führt durch tendenziöse Übertreibung und sophistische Spitzfindigkeit zur Leistungsunfähigkeit [Erg.: zur Enthebung 1922 ]. 1919 oft ihnen unbewusst ] Änd.: ihnen oft bewusst 1922 Erg.: sich zu überheben 1919 Erg.: dem besten Mittel, Entscheidungen auszuweichen 1919 Erg.: Dabei spielen ihre Empfindlichkeit sowie Pessimismus eine hervorragende Rolle. 1928 die ] Ausl. 1928
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der Sadismus einen Versuch darstellt, den »wilden Mann« zu spielen, um ein Minderwertigkeitsgefühl zu übertäuben91. Wir haben bisher als leitende Kraft und Endzweck der aus konstitutioneller Minderwertigkeit92 erwachsenen Neurose die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls betrachtet, die sich immer mit besonderer Macht durchzusetzen sucht. Dabei ist uns nicht entgangen, dass dies bloß die Ausdrucksform eines Strebens und Begehrens ist, deren Anfänge tief in der menschlichen Natur begründet sind. Die Ausdrucksform selbst und die Vertiefung dieses Leitgedankens, den man auch als Wille zur Macht (Nietzsche)K bezeichnen könnte, belehrt uns, dass sich eine besondere Kraft kompensatorisch im Spiel befindet, die der93 inneren Unsicherheit ein Ende machen will. Durch die94 starre Formulierung, die meist an die Oberfläche des Bewusstseins dringt, sucht der Neurotiker den festen Punkt zu gewinnen, um die Welt aus den Angeln zu heben. Es macht keinen großen Unterschied aus, ob viel oder wenig von dieser treibenden Kraft dem Neurotiker bewusst ist. Den Mechanismus kennt er nie, und ebensowenig vermag er es allein95, sein96 analogisches Verhalten und Apperzipieren aufzuklären und zu zerbrechen. Dies gelingt nur einem analytischen97 Verfahren, welches uns durch die Mittel der Abstraktion, Reduktion und Simplifikation98 die kindliche Analogie erraten und verstehen lässt. Dabei stellt sich nun99 regelmäßig heraus, dass der Neurotiker stets nach der Analogie eines Gegensatzes apperzipiert, ja dass er zumeist nur gegensätzliche Beziehungen kennt und gelten lässt. Diese primitive Orientierung in der Welt, den antithetischen Aufstellungen Aristoteles’K sowie den pythagoräischen GegensatztafelnK entsprechend, stammt 91 Erg.: und wie jede Perversion, der Versuch des Zaghaften ist, eine Unart an Stelle der Norm zu setzen 1919 Erg.: Auch die Homosexualität, die in unseren Tagen im Ansteigen begriffen ist, lässt sich immer als ein unbewusstes Ausweichen verstehen, wenn die Eitelkeit des Nervösen in Gefahr kommt. Diese Feststellung der Individualpsychologie steht derzeit noch im Gegensatz zu den Annahmen aller anderen selbstständigen Forscher. 1922 Anm.: Adler, »Das Problem der Homosexualität«, l. c. und »Über Homosexualität« in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. 1922 Änd.: Adler, »Das Problem der Homosexualität«, l. c. und »Über Homosexualität« in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. und im Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie, 1926. 1928 92 konstitutioneller Minderwertigkeit ] Änd.: dem Minderwertigkeitsgefühl 1922 93 Erg.: allgemein menschlichen 1922 allgemein bis Unsicherheit ] hervorgehoben 1928 94 die ] Änd.: eine 1922 95 allein ] hervorgehoben 1922 96 Erg.: kindlich 1919 97 einem analytischen ] Änd.: dem individualpsychologischen 1919 98 Erg.: durch Feststellung der nahezu inhaltlosen seelischen Bewegung 1928 99 nun ] Ausl. 1922
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gleichfalls aus dem Gefühle der Unsicherheit und stellt einen simplen Kunstgriff der Logik vor. Was ich als polare, hermaphroditische Gegensätze100, LombrosoK als bipolare, Bleuler als AmbivalenzK beschrieben haben, führt auf diese nach dem [19] Prinzip des Gegensatzes arbeitende Apperzeptionsweise zurück. Man darf darin nicht, wie es meist geschieht, eine Wesenheit der Dinge erblicken, sondern muss die primitive Arbeitsmethode erkennen101, die ein Ding, eine Kraft, ein Erlebnis an deren arrangiertem Gegensatz misst. Je weiter die Analyse fortschreitet, desto deutlicher wird102 eines der Gegensatzpaare, deren Urform wir als Minderwertigkeitsgefühl und103 Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls festgestellt haben. Es entspricht nur den primitiven Versuchen des Kindes, sich in der Welt zu orientieren und sich so zu sichern, wenn greifbarere Gegensatzpaare erfasst werden. Unter diesen habe ich folgende zwei regelmäßig gefunden: 1. oben – unten; 2. männlich – weiblich. – Man findet dann immer Gruppierungen von Erinnerungen, Regungen und Handlungen, die im Sinne des Patienten, nicht immer im Sinne der Allgemeinheit nach dem Typus geordnet sind: minderwertig = unten = weiblich; mächtig = oben = männlich. Diese Gruppierung ist wichtig, denn sie ermöglicht, weil sie beliebig gefälscht und protegiert werden kann, die Verzerrung des Weltbildes104, wodurch es dem Neurotiker immer möglich ist, durch Arrangement, durch Unterstreichung und Willkürlichkeiten, seinen Standpunkt als den eines zurückgesetzten Menschen festzuhalten. Es liegt in der Natur der Dinge, dass ihm dabei seine konstitutionelle Minderwertigkeit zu Hilfe kommt105, und ebenso die stetig zunehmende Aggression seiner Umgebung, die durch nervöses Betragen des Patienten fortwährend aufgestachelt wird. Zuweilen fehlt dem Neurotiker das volle Bewusstsein seiner vermeintlichen oder wirklichen Niederlage. Man findet dann immer, dass sein Stolz, sein Persönlichkeitsgefühl deren Anerkennung verweigert. Er handelt nichtsdestoweniger so, als ob er die neue Zurücksetzung zur Kenntnis genommen hätte, und das Rätsel eines nervösen Anfalles löst sich oft erst nach der Einsicht in diese Tatsache. Für die Heilung ist mit der Heraushebung solcher »verdrängter« Empfindungen aus dem Unbewussten nicht viel getan, oder nur dann, wenn dabei der Zusammenhang mit dem kindlichen Mechanismus der Anfallsbereitschaft dem Patienten zugänglich wird. Zuweilen erfolgt 100 101 102 103 104 105
Anm.: In »Heilen und Bilden«, l. c. »Der psychische Hermaphroditismus«. 1922 Erg.: eine Form der Anschauung 1922 Erg.: oft 1928 und ] Änd.: gegenüber der 1919 denn bis Weltbildes ] hervorgehoben 1922 seine bis kommt ] Änd.: Erlebnisse seiner konstitutionellen Minderwertigkeit zu Hilfe kommen 1919
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sogar eine scheinbare Verschlimmerung, die dahin zu verstehen ist, dass der Patient seine Bereitschaften gegen den Arzt richtet, weil dieser sein Persönlichkeitsgefühl verletzt hat106. Eine wichtige Frage ist noch zu beantworten. Worauf bezieht der Neurotiker sein Minderwertigkeitsgefühl? Da der Patient nur bei Organminderwertigkeiten, die sich aufdringlich in die Krankheitsbereitschaft stellen, eine Beziehungsmöglichkeit herstellen kann107, ist er stets auf dem Wege der Vermutung. Er wird die Ursache seiner Minderwertigkeit nicht etwa in Störungen der Drüsensekretion suchen, sondern wird in allgemeiner Weise seine Schwächlichkeit, seinen kleinen Wuchs, Verbildungen, Kleinheit oder Anomalien der Genitalien,108 Mangel an vollkommener Männlichkeit, sein weibliches Geschlecht, weibliche Züge körperlicher oder psychischer Art, seine Eltern, die Heredität, zuweilen auch nur Lieblosigkeit, schlechte Erziehung, Mangel in der Kindheit etc. beschuldigen. Und seine Neurose, das heißt in unserem Sinne: Die Verschärfung seiner Bereitschaften auf analogischer, kindlicher Grundlage, seine symbolisch gewordenen Gedanken, Empfindungs- und Erfolgsbereitschaften als Ausdrucksmittel werden in Aktion treten109, sobald der [20] Patient von einer Situation eine Herabsetzung befürchtet oder erfährt110. Er, der sozusagen mit Minderwertigkeitsgefühlen vorgeimpft wurde, zeigt sich anaphylaktisch gegen jede Verringerung seines Persönlichkeitsgefühls und findet im Zaudern, im Schwanken, im Zweifel und in der Skepsis111, ebenso im Ausbruch einer Neurose oder Psychose noch Zuflucht und Sicherung gegen die größte Unlust112, die ihn treffen könnte, gegen die Heraufbeschwörung einer deutlich empfundenen Minderwertigkeit. Dermaßen sind auch die typischen Veranlassungen zum Ausbruch der Neurosen und Psychosen leicht zu erraten und nachzuweisen: I. Suchen des Geschlechtsunterschiedes, schwankende Auffassung der eigenen Geschlechtsrolle,113 ursächlich für die Erregung des Minderwertigkeitsgefühls. Empfindung und Gruppierung weiblich gewerteter Züge, schwankende, zweifelnde, hermaphroditische Apperzeption und hermaphroditische Bereitschaft. Bereitschaft und psychische Geste der weiblichen Rolle bringen stets 106 Erg.: und ihn auf einen andern Weg [Erg.: als den des Wegsehens 1928] zu drängen versucht 1922 107 die sich bis kann ] Änd.: die aufdringlich eine Krankheitsbereitschaft herstellen, einen Zusammenhang erfassen kann 1922 108 Erg. Fluss 1922 109 als Ausdrucksmittel bis treten ] Änd.: werden als Ausdrucksmittel in Aktion treten 1919 110 Erg.: und sich zur Flucht wendet 1919 111 Skepsis ] Änd.: Herabsetzung von Personen, der Frauen, der Menschheit 1922 112 im Ausbruch bis Unlust ] hervorgehoben 1922 113 Erg.: Zweifel an der Männlichkeit 1922
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größere Passivität, ängstliche Erwartung etc. mit sich, rufen aber den männlichen Protest, stärkere Emotionalität (Heymanns) hervor. II. Beginn der Menstruation III. Termin der Menstruation IV. Zeit des Geschlechtsverkehrs, der Masturbation V. Heiratsfähigkeit114 VI. Schwangerschaft VII. Puerperium115 VIII. Klimakterium, Abnahme der Potenz116 IX. Prüfungen, Berufswahl X. Todesgefahr117 Alle diese Termine118 rufen Steigerungen oder Änderungen in den vorbereitenden Einstellungen zum Leben hervor. Das gemeinsame Band, das sie verbindet, ist die Erwartung neuer119 Tatsachen,120 die für den Neurotiker immer neuen Kampf, neue Gefahr des Unterliegens bedeuten121. Er schreitet sofort zu intensiven Sicherungen, deren äußerste Grenze durch den Selbstmord gesetzt ist. Ausbrüche von Psychosen und Neurosen stellen Verstärkungen seiner neurotischen Bereitschaft vor122, in der regelmäßig auch sichernde, vorgeschobene Charakterzüge zu finden sind wie: Steigerung der Überempfindlichkeit, größere Vorsicht, Jähzorn, Pedanterie, Trotz, Sparsamkeit, Unzufriedenheit, Ungeduld u. a. m. – Da diese Züge leicht nachzuweisen sind, eignen sie sich auch ganz besonders zur Feststellung des Bestandes einer psychogenen Erkrankung.123 Wir sind im Vorhergehenden zu dem Schluss gekommen, dass das Gefühl 114 115 116 117
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Erg.: und Ehe 1922 Erg.: und Laktation 1922 Erg.: Altern 1922 Erg.: und Verlust einer nahestehenden Person 1922 Anm.: Hier hatte das Verständnis der Kriegsneurose und Kriegspsychose anzusetzen, in der durchgängigen Furcht des Neurotikers vor Entscheidungen über und gegen ihn und sein Leben. Die militärische Einstellung der Kriegsneurologie musste zu dem traurigen Ergebnis der elektrischen Folter führen. 1919 Erg.: und Erlebnisse 1922 Erg.: immer sozialer 1928 Erg.: für die er mangels ausgebildeten Gemeinschaftsgefühls nicht recht vorbereitet ist 1928 Erwartung bis bedeuten ] hervorgehoben 1922 vor ] Änd.: dar 1928 Erg.: Die Enthebung von hervorstehenden Forderungen des Lebens, die Hinausschiebung der Lösung einer Lebensfrage oder die Gewinnung mildernder Bedingungen wird sekundäres, ideales Ziel. 1919 sekundäres, ideales Ziel ] hervorgehoben 1922 Erg.: das auch durch den Egoismus des Patienten, durch das mangelnde Interesse für den andern erfordert wird. 1928
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der Unsicherheit es ist, das den Neurotiker zum stärkeren Anschluss an Fiktionen, Leitlinien, Ideale, Prinzipien zwingt. Auch dem Gesunden schweben diese Leitlinien vor. Aber sie sind ihm ein Modus dicendi, ein Kunstgriff, um das Oben vom Unten, das Links vom Rechts, das Recht vom Unrecht zu unterscheiden, und es mangelt ihm nicht die Unbefangenheit, im Falle des Entschlusses sich von diesen abstrakten Fiktionen zu befreien und die Rechnung [21] mit dem Realen zu machen. Ebensowenig zerfallen ihm die Erscheinungen der Welt in starre Gegensätze; er ist vielmehr jederzeit bestrebt, sein Denken und Handeln von der irrealen Leitlinie loszulösen und mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Dass er überhaupt Fiktionen als Mittel zum Zweck benützt, liegt in der Brauchbarkeit der Fiktion, um die Rechnung des Lebens überhaupt ansetzen zu können. Der Neurotiker aber, wie das der Welt noch entrückte124 Kind, wie der primitive Verstand früherer Völker, klammert sich an den Strohhalm der Fiktion, hypostasiert sie, verleiht ihr willkürlich Realitätswert, sucht sie in der Welt zu realisieren. Dazu ist sie untauglich, noch untauglicher, wenn sie wie in der Psychose zum Dogma erhoben, anthropomorphisiert wird.125 Das Symbol als Modus dicendi beherrscht unsere Sprache und unser Denken. Der Neurotiker nimmt es wörtlich, und in der Psychose wird die Verwirklichung versucht. In meinen Arbeiten zur Neurosenlehre ist dieser Standpunkt stets betont und festgehalten. Ein günstiger Zufall machte mich mit VaihingersK genialer »Philosophie des Als Ob« (Berlin 1911) bekannt, ein Werk, in dem ich die mir aus der Neurose vertrauten Gedankengänge als für das wissenschaftliche Denken allgemein gültig hingestellt fand. Nachdem wir festgestellt haben, dass der fiktive, leitende Zweck des Neurotikers eine grenzenlose Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls ist, der geradezu ausartet in den126 »Willen zum Schein« (Nietzsche)K, können wir dazu übergehen, die begriffliche Fassung dieses Lebensproblems einer Betrachtung zu unterziehen. Da beim Suchen des Geschlechtsunterschiedes die Rolle des Mannes entschieden127 vorgezogen wird, stellt sich in früher Zeit bereits der Formenwandel entsprechend dem Gegensatz »Mann – Weib« ein, und es ergibt sich für den Neurotiker die128 Formel: Ich muss so handeln, als ob ich ein ganzer Mann wäre (oder werden wollte). Das Gefühl der Minderwertigkeit und seine Folgen werden mit dem Gefühl der Weiblichkeit identifiziert, der kompensatorische Zwang drängt im psychischen Überbau auf Sicherungen behufs Festhaltung der männlichen Rolle, und der Sinn der Neurose kleidet sich in 124 Erg.: unselbstständige 1928 125 Erg.: »Handle so, als ob du verloren, als ob du der größte, der angefeindetste wärest.« 1919 126 Erg.: egoistischen 1928 127 entschieden ] Änd.: fast immer 1928 128 Erg.: konkretere 1928
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den gegensätzlichen Grundgedanken: Ich bin129 ein Weib und will ein Mann sein. Dieser leitende Endzweck schafft130 die nötigen psychischen Gesten und Bereitschaften, drückt sich aber ebenso in körperlicher Haltung131 und Mimik aus. Und mit diesen vorbereiteten Gesten, als deren Vorhut die neurotischen Charakterzüge aufzufassen sind,132 steht der Neurotiker dem Leben und den Personen gegenüber, mit deutlich erhöhter Spannung lauernd, ob er sich als Mann bewähren werde. Scheingefechte spielen eine große Rolle; sie werden eingeleitet, damit sich der Neurotiker übe, damit er aus anderen oder ähnlichen Verhältnissen Lehren gewinne, um sich vorsichtiger zu machen, und um beispielsweise Beweise133 an die Hand zu bekommen, dass er die Hauptschlacht nicht wagen dürfe134. Wieviel er dabei arrangiert, übertreibt und entwertet, was ihm durch eine gewisse Willkür ermöglicht wird (Meyerhof K)135, wie er dabei falsch gruppiert und auf die Festigung136 seiner Fiktion hinarbeitet, erfordert eine gesonderte Darstellung, wie ich sie versuchsweise in den Vorarbeiten zu dieser Schrift137 geliefert habe. Dass aber in dem männlichen Protest des Neurotikers der ältere kompensierende Wille zur Macht steckt, der sogar die Empfindungen umwertet und Lust zur Unlust machen kann, geht aus den nicht seltenen Fällen hervor, wo der geradlinige Versuch, sich männlich zu gebärden, auf große Widerstände stößt und sich eines Umweges bedient: die Rolle des Weibes wird höher gewertet, passive Züge werden verstärkt, masochistische, bei Männern138 passiv homosexuelle Züge tauchen auf, kraft deren der Patient hofft, Macht über Männer und139 Frauen zu gewinnen, kurz: der männliche [22] Protest bedient sich weiblicher Mittel140. Dass auch dieser Kunstgriff vom Willen zur Macht diktiert ist, geht aus den übrigen neurotischen Zügen hervor, die Herrschaft und Überlegenheit in der stärksten Form 129 130 131 132 133 134 135 136 137
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Erg.: (wie) 1922 Erg.: in Haltung und Handlung umgesetzt 1922 körperlicher Haltung ] Änd.: körperlichem Ausdruck 1922 Erg.: Ehrgeiz, Empfindlichkeit, Misstrauen, Feindseligkeit, Eigenliebe, Kampfstellung usw. 1922 beispielsweise Beweise ] Änd.: beispielsweise Argumente 1919 Änd.: nach Art eines Beispiels wie im Traume [Erg. täuschende 1928] Argumente 1922 Erg.: dass er den Kampfplatz verlegen müsse 1922 (Meyerhof) ] Ausl. 1919 Festigung ] Änd.: Feststellung 1919 Änd.: Durchsetzung 1922 versuchsweise bis Schrift ] Änd.: im speziellen Teil und im 2. Band dieses Werkes 1919 Änd.: im speziellen Teil und in der »Praxis und Theorie der Individualpsychologie« l. c. 1922 bei Männern ] Ausl. 1922 und ] Änd.: oder 1922 der männliche bis Mittel ] hervorgehoben 1922
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erstreben. Diese Apperzeption141 aber bringt den sexuellen Jargon in die Neurose, der als symbolisch aufgefasst und weiter aufgelöst werden muss142. Gleichzeitig oder dominierend findet man bei dem Neurotiker die Apperzeptionsweise nach dem räumlichen Gegensatz des »Oben – Unten«. Auch für diesen primitiven Orientierungsversuch, den der Neurotiker verschärft und stark hervorhebt, finden sich Analogien bei primitiven Völkern. Während aber leicht zu verstehen ist, dass das männliche Prinzip mit der Vollwertigkeit identifiziert wird, sind wir bezüglich der Gleichstellung des »Oben« auf Vermutungen angewiesen. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass der Wert und die Bedeutung des oben befindlichen Hauptes im Gegensatz zu den Füßen in Betracht kommt. Noch wichtiger erscheint mir, dass die Wertschätzung des »Oben« und seine Gleichstellung mit der Vollwertigkeit aus der Sehnsucht der Menschen stammt, sich zu erheben, zu fliegen, das zu leisten, was man nicht kann. Die universellen Flugträume der Menschheit und ihr gleichgerichtetes Streben sprechen wohl für diese Annahme. Dass im Congressus sexualis das »Oben« mit dem männlichen Prinzip zusammenfließt, ist sicherlich auch von Bedeutung.143 Die Verstärkung der Fiktion in der Neurose verursacht eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf die vom Nervösen als wichtig erkannten144 Gesichtspunkte. Daraus ergibt sich die Einengung des Gesichtsfeldes als motorische und psychische Bereitschaft. Gleichzeitig tritt der verstärkte neurotische Charakter in Kraft, der die Sicherung durchführt, Fühlung mit feindlichen Gewalten nimmt und weit über die Grenzen der Persönlichkeit hinaus, über Zeit und Raum sich ausdehnend, als sekundäre Leitlinie145 dem Willen zur Macht Vorschub leistet. Der neurotische Anfall endlich, dem Kampf um die Macht 141 Erg.: nach der Schablone »männlich – weiblich« 1922 142 Erg.: und drängt die Erotik in eine dem Persönlichkeitskern passende Richtung 1922 143 Anm.: Diese letztere bescheidene Bemerkung, die jeder Psychologe leicht auf ihre Richtigkeit nachprüfen kann, nimmt Freud zum Anlass, um an sie als an eine vielleicht mündliche Äußerung einige belanglose kritische Worte zu knüpfen. Herr Freud hat mit meinen mündlichen Äußerungen Pech. Von meiner bekannten sozialistischen Weltanschauung berichtet er in schwer verständlicher, polemischer Absicht. Und meine zarte Ablehnung: »es sei kein Vergnügen, in seinem Schatten zu stehen« – d. h. durch die Mitarbeit an der Neurosenpsychologie für alle Ungereimtheiten des Freudismus mitschuldig gemacht zu werden – deutet er flugs als ein Bekenntnis meiner revoltierenden Eitelkeit, um sie ahnungslosen Lesern aufzutischen. Da bisher keiner der Wissenden dieses Pech [Erg.: ihres Lehrers – nicht meines, wie öfters irrtümlich behauptet wird – wahrhaben wollte 1928] wahrnahm, bin ich selbst zu einer Zerstörung einer Legendenbildung genötigt. 1922 144 erkannten ] Änd.: eingeschätzten 1922 145 Erg.: der Vorsicht 1919
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vergleichbar, hat die Aufgabe, das Persönlichkeitsgefühl vor Herabsetzungen zu bewahren146. Aus der konstitutionellen Minderwertigkeit147 erwächst also ein Gefühl der Minderwertigkeit, das eine Kompensation im Sinne der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls verlangt. Dabei gelangt der fiktive Endzweck148 zu ungeheurem Einfluss und zieht alle psychischen Kräfte in seine Richtung. Selbst aus der Sicherungstendenz erwachsen, organisiert er psychische Bereitschaften zu Sicherungszwecken, unter denen sich der neurotische Charakter sowie die funktionelle Neurose als hervorstechende Kunstgriffe abheben. Die leitende Fiktion hat ein einfaches, infantiles Schema und beeinflusst die Apperzeption und den Mechanismus des Gedächtnisses.149 [23]
146 Erg.: und die Entscheidung über den persönlichen Wert hinauszuschieben, ins Unerreichbare zu verlegen 1928 Erg.: Aus der resultierenden Haltung eines Angreifers oder Angegriffenen erwächst dem Nervösen der Eindruck einer besonderen Feindseligkeit des Lebens. Seine Einfügung in die Gemeinschaft ist fortan gehindert, Beruf, Gesellschaft und Liebe fügen sich nicht seiner Kämpferstellung, werden meist scheu umgangen oder bilden bestenfalls den Tummelplatz seines ehrgeizigen Machtrausches. Eine tief pessimistische Weltanschauung und sein Menschenhass bringen ihn um alle Freuden des gebenden Mitspielers. Die Stimmung des Nehmen/wollens hat ihn ganz erfüllt, vergiftet ihn mit Unzufriedenheit und zwingt ihn, immer an sich und nie an die andern zu denken. 1922 147 Erg: und aus ähnlich wirkenden Positionen der Kindheit 1919 148 gelangt bis Endzweck ] Änd.: kommt der fiktive Endzweck des Machtstrebens 1922 149 Erg.: In einer scheinbar feindlichen Welt erstarkt das Interesse für die eigene Person, schwindet das Interesse für die anderen. 1928
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Unsere Betrachtung hat uns dahin geführt, zu verstehen, wie sich aus der absoluten Minderwertigkeit des Kindes, insbesondere des konstitutionell belasteten, eine Selbsteinschätzung entwickelt, die das Gefühl der Minderwertigkeit1 hervorruft. Analog dem Δóς πoῦ oτῶK sucht das Kind einen Standpunkt zu gewinnen, um die Distanzen zu den Problemen des Lebens abschätzen zu können. Von diesem Standpunkte2 aus, der als ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht angenommen wird, spannt die kindliche Psyche Gedankenfäden zu den Zielen seiner Sehnsucht. Auch diese werden von der abstrakten3 Anschauungsform des menschlichen Verstandes als feste Punkte erfasst und sinnlich4 interpretiert. Das Ziel: groß zu sein, stark zu sein, ein Mann, oben zu sein, wird in der Person des Vaters, der Mutter, des Lehrers, des Kutschers, des Lokomotivführers etc. symbolisiert, und das Gebaren, die Haltung, identifizierende Gesten, das Spiel der Kinder und ihre Wünsche, Tagträume und Lieblingsmärchen, Gedanken über ihre künftige Berufswahl5 zeigen uns an, dass die Kompensationstendenz am Werke ist und Vorbereitungen für die zukünftige Rolle trifft. Das eigene Gefühl der Minderwertigkeit und Untauglichkeit, die Empfindung der Schwäche, der Kleinheit, der Unsicherheit wird so zur geeigneten Operationsbasis, die aus den anhaftenden Gefühlen der Unlust und Unbefriedigung die inneren Antriebe hergibt, einem fiktiven Endziel näherzukommen. Das Schema, dessen sich das Kind bedient, um handeln zu können und sich zurechtzufinden, ist allgemein6 und entspricht dem Drängen des menschlichen Verstandes, durch unreale Annahmen, Fiktionen das Chaotische, Fließende, nie zu Erfassende in feste Formen zu bannen, um es zu berechnen. So handeln wir auch, wenn wir durch Meridiane und Parallelkreise die Erdkugel 1 2 3 4 5
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Gefühl der Minderwertigkeit ] hervorgehoben 1922 Erg.: einer niedrigen Selbsteinschätzung 1919 niedrigen ] hervorgehoben 1922 abstrakten ] Änd.: abstrahierenden 1922 sinnlich ] Änd.: ziemlich konkret 1928 Anm.: Siehe »Heilen und Bilden«. Herausgegeben von A. Adler und C. Furtmüller, Verlag E. Reinhardt, München 1914. Dieses Werk umfasst einen großen Teil der erzieherischen Fragen und Schlussfolgerungen aus der Individualpsychologie. 1919 Verlag bis 1914 ] Ausl. 1922 Änd.: 2. Auflage in Vorbereitung 1922 Änd. 2. Auflage redigiert von E. Wexberg. J. F. Bergmann, München 1922 1928 Individualpsychologie ] Ausl. 1928 allgemein ] hervorgehoben 1922
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zerlegen; denn nur so erhalten wir feste Punkte, die wir in Relation setzen können. Bei allen ähnlichen Versuchen, von denen die menschliche Psyche voll ist, handelt es sich um die Eintragung eines unwirklichen abstrakten Schemas in das wirkliche Leben, und ich betrachte als die Hauptaufgabe dieser Schrift, diese Erkenntnis, die ich aus der psychologischen Betrachtung der Neurose und Psychose gewonnen habe, und die sich nach den Nachweisen Vaihingers K in allen wissenschaftlichen Anschauungen wiederfindet, zu fördern. An welchem Punkte immer man die psychische Entwicklung eines Gesunden oder Nervösen untersucht, findet man ihn stets in den Maschen seines Schemas [24] verstrickt, den Neurotiker, der nicht zur Wirklichkeit zurückfindet und an seine Fiktion glaubt, den Gesunden, der es benützt, um ein reales Ziel zu erreichen.7 Was aber zur Benützung8 des Schemas den brennenden Anlass gibt, ist stets die Unsicherheit in der Kindheit, die große Distanz von der Machtentfaltung des Mannes, von seinem Vorrang und Privileg, von dem das Kind Ahnungen und Gewissheiten besitzt. Und in diesem Punkte möchte ich mir gestatten, die Ausführungen des gelehrten Autors zu ergänzen:9 Was uns alle, was vor allem das Kind und den Neurotiker zwingt, die näherliegenden Wege der Induktion und Deduktion zu verlassen, sich solcher Kunstgriffe zu bedienen wie der schematischen Fiktion, stammt aus dem Gefühl der Unsicherheit, ist die Tendenz der Sicherung, die in letzter Linie darauf hinzielt, des Gefühls der Minderwertigkeit ledig zu werden, um sich zur vollen Höhe des Persönlichkeitsgefühls, zur ganzen Männlichkeit, zum Ideal des Obenseins aufzuschwingen. Je größer diese Distanz ist, umso schärfer tritt die leitende Fiktion zutage, sodass das Gefühl des Untenseins in gleicher Weise ausschlaggebend sein kann wie etwa10 das überlebensgroß gefasste Bild eines starken Vaters, einer starken Mutter. Wir sehen so Anspannungen zutage treten, die weit über das Maß dessen hinausgehen, was bei den angestrengtesten körperlichen Leistungen der Triebe, bei der stärksten Sehnsucht nach Befriedigung organischer Lust zu erwarten wäre. Unter anderen weist auch Goethe darauf hin, dass wohl die
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Erg.: Bei Erstgeborenen fand ich oft als durchgreifende Annahme und leitende Fiktion willige und gesuchte Anerkennung von Größe und Macht [Erg.: wie in der Vergangenheit 1928], bei Zweitgeborenen tritt stärker die Überrennung anderer Machteinflüsse [Erg.: in der Zukunft 1928] hervor, für einzige Kinder wird häufig das Suchen nach einer zentralen Stellung zur unlösbaren Aufgabe. 1919 willige bis Macht ] hervorgehoben 1922 Überrennung bis Machteinflüsse] hervorgehoben 1922 Suchen bis Stellung ] hervorgehoben 1922 8 Erg.: und Überbetonung 1928 9 Und bis ergänzen: ] Ausl. 1919 10 wie etwa ] hervorgehoben 1922
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Wahrnehmung an praktische Bedürfnisbefriedigungen anknüpfe, dass der Mensch aber darüber hinaus ein Leben in Gefühl und Einbildungskraft führe. Damit ist der Zwang zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls trefflich erfasst, wie auch aus einem seiner Briefe an Lavater hervorgeht, wo GoetheK bemerkt: »Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andere und lässt kaum augenblickliches Vergessen zu.« Es lässt sich leicht verstehen, dass eine derart angespannte psychische Situation – und jeder Künstler, jedes Genie kämpft den gleichen Kampf gegen sein Gefühl der Unsicherheit, nur mit kulturell wertvollen Mitteln – geeignet ist, eine ganze Anzahl von Charakterzügen zu verstärken und hervorzutreiben, welche die Neurose konstituieren helfen. So vor allem den Ehrgeiz. Er ist wohl die stärkste von den sekundären Leitlinien, die zum fiktiven Endzweck hinstreben. Und er erzeugt eine Summe von psychischen Bereitschaften, die dem Nervösen den Vorrang in allen Lebenslagen sichern sollen, die aber seine Aggression, seine Affektivität stets als gereizt erscheinen lassen. So präsentiert sich der Nervöse meist als stolz, als rechthaberisch, neidisch und geizig, will überall Eindruck machen, immer der Erste sein, zittert aber stets für den Erfolg und schiebt gerne die Entscheidung hinaus. Daher das Zögernde, das Vorsichtige im Auftreten des Neurotikers, sein Misstrauen, Schwanken und seine Zweifel. Wie zu einer Art Übung, im Sinne einer Vorbereitung produziert er diese psychischen Bereitschaften im Kleinen, um Anhaltspunkte und weitere sichernde Richtlinien für große Ziele zu gewinnen, die ihn im Banne halten. Dies ist auch der Sinn des Freud’schen Verschiebungsmechanismus11, dass der Kranke durch seine Sicherungstendenz gezwungen ist12, probeweise, in corpore viliK Beweise zu sammeln, die seine13 psychische Gesamthaltung rechtfertigen [25] und immer wieder rechtfertigen sollen. In der Regel resultiert immer wieder14 die Anschauung: Ich muss vorsichtig sein, wenn ich mein Ziel erreichen will! Und es ist gar nicht so selten, dass der Patient dreiste Unvorsichtigkeiten begeht, um sich im Hauptpunkt seines Männlichkeitsideals durch warnendes Hervorheben seiner Unvorsichtigkeit zu sichern. Sehr häufig übernehmen Halluzinationen und Träume bei Neurotikern und Psychotikern die Funktion dieser warnenden Stimme, malen aus, wie es schon einmal war, wie es bei anderen war, oder wie es kommen könnte, um den Patienten15 bei der sichernden Leitlinie zu halten.16 11 12 13 14 15 16
Dies ist bis Verschiebungsmechanismus ] Ausl. 1919 dass der Kranke bis gezwungen ist] Änd.: Der Kranke wird […] gezwungen 1919 Erg.: zögernde 1919 immer wieder ] Ausl. 1919 Erg.: durch Erzeugung einer fälschenden Stimmung 1928 Erg.: Alle Aktionen schließen unvollendet oder versanden zu früh. 1928 Erg.: Schein-
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Sonst finden sich, »um die Pyramide des Daseins so hoch als möglich in die Luft zu spitzen«, stark unterstrichene Züge von Kampflust, Trotz und Aktivität, vielfach gesichert oder verschärft durch Pedanterie, Letztere, um17 in der Richtung zu bleiben. Dass die Wissbegierde, als mächtige Förderin zu hohen Zielen, sich ungeheuer anspannt, ist gewiss nicht wunderlich. Ebenso deutlich zeigt sich die Ungeduld, die Furcht, zu spät zu kommen, die Furcht, nichts zu erreichen, als besonders heftiger Antrieb, einen Vorteil nicht aus den Augen zu lassen, lieber zu viel als zu wenig für die Erreichung des fiktiven Endzweckes zu tun. Immerhin liegen diese Züge schon ganz im Gebiet der entwickelten Neurose, wo die Sicherungstendenz immer mehr in den Vordergrund tritt und zu den gefährlichen Kunstgriffen treibt: die Gefühle der Minderwertigkeit zu vertiefen, so zu handeln, als ob man verkürzt, vom Erfolg abgeschnitten, ohne Hoffnungen sei, oder mehr [oder]18 weniger in Passivität zu tauchen, weibliche Züge emporzutreiben, sich masochistisch und pervers zu gebärden, zuletzt seinen Wirkungskreis stark einzuschränken, um diesen durch die Krankheitssymptome desto gewaltiger zu erschüttern und zu beherrschen. In ähnlicher Weise kommt das Arrangement von Indolenz, Faulheit, Müdigkeit, Impotenz jeder Art zustande, die den Vorwand abgeben, vor Entscheidungen zu fliehen, die den Stolz des Nervösen kränken könnten, sich dem Studium, dem Beruf, einer Ehe zu entziehen. Zuweilen endet diese Entwicklungsphase mit Selbstmord, der dann immer als gelungene Rache an dem Schicksal, an den Angehörigen,19 empfunden wird20. Auch Schuldgefühle gewinnen an Raum. Damit stehen wir an einem der schwierigsten Punkte der Analysen21 von Neurosen und Psychosen. Schuldgefühl und Gewissen sind fiktive Leitlinien der Vorsicht, ähnlich wie Religiosität, und dienen der Sicherungstendenz22. Sie haben die Aufgabe, ein Sinken
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bar anders verläuft der Vorgang bei Neurotikern, die nur in ruhiger Situation, wenn alles gut geht, wenn sie sich wohl fühlen, im Konzert, im Theater sitzend von Depressionen überfallen werden. Solcher Art sind oft Menschen, die in gute Verhältnisse gelangt sind, die aber nun nach Art des Polykrates einen Teil opfern wollen. Kurzsichtige Analysen bleiben in solchen Fällen bei der Feststellung einer Neigung zum Opfer oder eines Schuldgefühls stecken. Folgt man den Anschauungen der Individualpsychologie, so stellt sich bald heraus, dass in solchen »Opfern«, in solchem »Schuldgefühl« das lüsterne Triumphgefühl über einen Sieg, über den Neid und die Niederlage der andern steht. 1922 Erg.: hervorzustechen und 1919 oder ] fehlt in allen Auflagen Erg.: an der Welt 1919 Erg.: voraus 1922 Erg.: unter einem Training, (ähnlich wie in der Melancholie) sich alle zu verekeln 1928 der Analysen ] Änd.: des Verständnisses 1919 Anm.: Siehe Furtmüller, Psychoanalyse und Ethik, München, E. Reinhardt 1912. 1919 Ausl. 1928
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des Persönlichkeitsgefühls zu verhüten, wenn die gereizte Aggression ungestüm zu selbstsüchtigen Taten drängt23. Im Schuldgefühl ist der Blick nach rückwärts gewendet, das Gewissen wirkt durch Voraussicht24. Auch die Wahrheitsliebe wird durch die Sicherungstendenz getragen, liegt eigentlich im Rahmen unseres Persönlichkeitsideals, während die neurotische Lüge einen schwächlichen Versuch darstellt, den Schein zu wahren und also kompensierend zu wirken.25 Alle diese Versuche des Höherstrebens, des Willens zur Macht müssen naturgemäß als eine Form des männlichen Strebens aufgefasst, [26] mit dem männlichen Protest26 identifiziert werden, da dieser eine Urform psychischen Geltungsdranges darstellt27, nach welchem alle Erfahrungen, Wahrnehmungen und Willensrichtungen gruppiert werden. Die Apperzeption wird nach diesem sinnfälligsten Schema geleitet, der Endzweck, zumal beim Neurotiker, ist die Ausgestaltung des männlichen Protestes gegen weibliche28 Selbsteinschätzung, und so richten sich auch die Aufmerksamkeit, die Vorsicht, der Zweifel, ebenso aber alle29 Charakterzüge und sonstigen psychischen und körperlichen Bereitschaften, in höchstem Maße vor allem die Wertung alles Erlebens, nach diesem30 männlichen Endzweck, sodass alle diese Erscheinungen in sich eine Dynamik tragen und dem Kenner verraten, die von unten nach oben, vom Weiblichen zum Männlichen drängt. Die Auslösung aller dieser Kraftlinien, die Fixierung des fernabliegenden Endzweckes, die Hervorhebung und gelegentliche Protektion minderwertiger, weiblicher Züge31 zwecks besserer Bekämpfung derselben32 durch den männlichen Protest geschieht durch den gleichen Faktor, der auch die organischen Kompensationen schafft, durch den Zwang zum Ausgleich33, durch stetige Versuche, eine schädigende Minder23 Erg.: und das wie der Chor der Eumeniden drohende Gemeinschaftsgefühl verletzt 1919 24 Erg.: beide bleiben in der Neurose unfruchtbar und verhindern das Handeln. 1919 verhindern das Handeln ] Änd.: haben das Handeln zu verhindern 1928 25 Erg.: Neurotische Wahrheitsliebe bietet reichlich Anlass zu fruchtlosen Konflikten zwecks Zeitvertrödelung 1919 Erg.: und Herabsetzung des anderen 1922 26 männlichen Protest ] hervorgehoben 1919 27 männlichen Strebens bis darstellt] Änd.: Strebens nach Überlegenheit aufgefasst werden, von dem der männliche Protest einen häufigen Spezialfall darstellt, eine Urform psychischen Geltungsdranges 1928 28 weibliche ] Änd.: niedrige 1919 Änd.: die niedrige 1928 29 Erg.: andern 1919 30 diesem ] Änd.: dem 1922 31 Erg.: im Nebensächlichen 1922 32 Erg.: in der Hauptsache 1922 33 Zwang zum Ausgleich ] hervorgehoben 1922 Anm.: Bei Freud erscheint jetzt diese
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leistung durch Mehrarbeit zu ersetzen, was im Psychischen in der Sicherungstendenz zum Ausdruck kommt, die den Willen zur Macht, zur Männlichkeit34, zur Leitlinie macht, um dem Gefühl der Unsicherheit zu entgehen.35 Die größte Schwierigkeit für das Verständnis der Neurose bietet die auffällige Protektion36 minderwertiger, weiblicher Züge und deren Anerkennung durch den Patienten. Hierher gehört das Hervortreten von Krankheitserscheinungen überhaupt, aber auch passiver, masochistischer Züge, weiblicher Charaktere, passive37 Homosexualität, Impotenz, Suggestibilität, Zugänglichkeit und Neigung für Hypnose oder endlich das scheinbare Aufgehen in weibliches38 Wesen und Gebaren. Der Endzweck bleibt immer die Beherrschung anderer, die als männlicher Triumph empfunden und gewertet wird39. Niemals auch fehlen in der Charakterologie dieser Patienten die oben geschilderten kompensierenden Züge, wie man sie bei Menschen zu erwarten hat, die das Gefühl der Verkürztheit zur Operationsbasis nehmen und nun auf jede Weise den Ersatz, das zu einem übertriebenen Persönlichkeitsgefühl Fehlende hereinzubringen trachten. Und auch40 in dieser psychischen Situation gewinnt das Sexuelle als Symbol an Raum, indem solche Patienten häufig nach einem Schema apperzipieren, als ob ihr Genitale verweiblicht, verkürzt, kastriert41 wäre und sie deshalb fortwährend gezwungen wären, einen Ersatz zu suchen. Eine Form dieses Ersatzes finden sie in der Herabsetzung, Verweiblichung42 aller anderen Personen. Aus dieser Entwertungstendenz stammen namhafte Verstärkungen gewisser Charakterzüge, die weitere Bereitschaften vorstellen und bestimmt sind, andere zu beeinträchtigen, wie Sadismus, Hass, Rechthaberei, Unduldsamkeit, Neid etc. Auch die aktive Homosexualität sowie Perversionen, die den Partner herabsetzen, auch Lustmord, gehen aus der Entwertungstendenz
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Anschauung in der Form des »Todeswunsches«, der sichtlich nur eine der vielen Möglichkeiten ausmacht, um den Ausgleich, die Parität, herzustellen. Wurde hier und anderwärts in der Psychologie des Selbstmordes oft hervorgehoben. Die Rache, die Entwertungstendenz gegen das Leben ist ja unverkennbar. 1922 den Willen bis Männlichkeit ] Änd.: das Streben nach Macht, nach Männlichkeit 1919 Erg.: Diese Anschauung ist später in die Psychoanalyse als »Kastrationskomplex« eingegangen. 1928 Protektion ] Änd.: Produktion 1928 passive ] Ausl. 1919 weibliches ] Änd.: weibisches 1919 Erg.: oder der Stillstand 1919 Und auch ] Ausl. 1919 ihr Genitale bis kastriert ] Änd.: ihre Sexualität geschädigt 1919 Anm.: Später in simplifizierter Form in der Freud’schen Psychoanalyse als Kastrationskomplex beschrieben. 1928
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des Neurotikers hervor, die man sich nicht stark genug vorstellen kann. Sie alle stellen Fleisch gewordene Symbolik des Unterwerfens nach dem Schema: sexuelle Überlegenheit des Mannes vor. Kurz, der Neurotiker kann sein Persönlichkeitsgefühl auch dadurch erhöhen, dass er den anderen herabsetzt43. Wir haben oben von der Protektion weiblicher Züge zwecks besserer Bekämpfung44, behufs besserer Selbstüberwachung in der Neurose ge[27]sprochen. Diese Unterstreichungen, dazu die deutliche Tendenz, den Willen zur Männlichkeit hervorzuheben, schaffen den Schein eines Klaffens in der Psyche45 des Nervösen, der den Autoren in der Annahme eines double vie K, einer Dissoziation, ebenso in dem Stimmungswechsel der Nervösen, aber auch in der Abfolge von Depression und Manie, von Verfolgungs- und Größenideen in der Psychose geläufig ist. Stets habe ich als inneres Band dieser gegensätzlichen Zustände die Tendenz gefunden, das Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen, wobei die »inferiore« Situation an eine Herabsetzung anknüpft, aber als Operationsbasis abgegrenzt und arrangiert wird. Dann setzt der männliche Protest ein, der oft bis zur Gottähnlichkeit oder zu einer Art intimer Verbindung mit Gott fortgeleitet wird.46 Für diese47 »Bewusstseinsspaltung« ist außerdem noch die scharfe schematische und stark abstrahierende Apperzeptionsweise des nervös Disponierten maßgebend, der innere sowie äußere Geschehnisse nach einem streng gegensätzlichen Schema, etwa wie nach dem Soll – Haben in der Buchhaltung, gruppiert und keine Übergänge gelten lässt. Dieser Fehler des neurotischen Denkens, identisch mit zu weit getriebener Abstraktion, ist gleichfalls durch die neurotische Sicherungstendenz verschuldet; diese braucht zum Zwecke des Wählens, Ahnens und Handelns scharf umschriebene Richtlinien, Idole, Götzen,48 an die der Nervöse glaubt. Dadurch entfremdet er49 sich der konkreten Wirklichkeit. Denn in dieser sich zurechtzufinden erfordert eine50 Elastizität, nicht Starrheit der Psyche, eine Benützung der Abstraktion, nicht eine Anbetung, Zwecksetzung und Vergöttlichung derselben.51 43 Erg.: im ernstesten Falle Herr über Leben und Tod wird, über sein eigenes Leben oder über das anderer 1922 44 Erg.: der eigenen [Erg.: unhaltbaren 1922] Neigung zur Hingabe 1919 45 Psyche ] Änd.: Psychose 1928 46 Erg.: Am klarsten liegt dieser Prozess in der Manie zutage, die immer im Gefolge eines Gefühls der Herabsetzung ausbricht. Die zyklische Manie ergibt sich wohl als die gewohnheitsmäßige Wiederholung dieses Mechanismus, sobald das Gefühl des Sinkens den Patienten überkommt. 1922 47 Erg.: scheinbare 1919 48 Erg.: Popanze 1922 49 er ] Änd.: der Mensch 1922 50 eine ] Ausl. 1922 51 Erg.: Es gibt kein Lebensprinzip, das bis zuletzt tragfähig wäre. Und die richtigsten
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Demgemäß werden wir im Seelenleben des Neurotikers, ganz wie in der primitiven Dichtung52, im Mythus, in der LegendeK, in der Kosmogonie, Theogonie53 und in den Anfängen der Philosophie die Neigung in ausgesprochenstem Maße finden, sich, seine Erlebnisse, die Personen seiner Umgebung zu stilisieren. Dabei müssen nun freilich nicht zusammengehörige Erscheinungen durch abstrahierende Fiktion scharf auseinandergerückt werden. Der Zwang zu dieser Maßnahme geht aus der Sehnsucht nach Orientierung hervor und stammt aus der Sicherungstendenz. Er ist oft so beträchtlich, dass er die54 Zerlegung der Einheit, der Kategorie, der Einheit des Ichs in zwei oder mehrere gegensätzliche Teile verlangt. Von der früher beschriebenen Selbsteinschätzung des Kindes, das durch seine Organminderwertigkeit und die daraus stammenden Übel zu besonderen Sicherungen veranlasst wird, bis zur vollen Entwicklung der neurotischen Technik des Denkens und ihrer Hilfslinie, des neurotischen Charakters, treten eine Anzahl psychischer Phänomene hervor, die im Sinne Karl Groos’* K als Einübung, in unserem Sinne als Vorbereitung für den fiktiven Endzweck aufzufassen sind. Sie zeigen sich recht frühzeitig, andeutungsweise im Säuglingsalter, und unterliegen ständig den Einwirkungen bewusster und unbewusster Erziehung. Die ganze Art der Entwicklung eines Kindes zeigt, dass es sich nach einer Idee richtet, welche sich freilich meist primitiv darstellt, sich regelmäßig auch in Gestalt einer Person konkretisiert55. Unter diesem Zwange, dessen psychischer Mechanismus zum größeren Teile unbewusst, nur zum kleinen56 Teile bewusst wirkt, kommt es zu [28] deutlicheren Ausprägungen der sich formenden Seele, und geistiges wie körperliches Leben eines Menschen, an einer bestimmten Stelle seiner Entwicklung gefasst, ist als57 Antwort zu verstehen, die er auf die Frage des Lebens gibt. Diese Antwort, recht eigentlich die Art, das Leben zu nehmen, ist nach allen Erfahrungen, die wir gewonnen haben, identisch mit dem Versuch, der Unsicherheit des Lebens, dem Chaos der Eindrücke und Empfindungen ein Ende
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Siehe Karl Groos, »Die Spiele der Menschen, Die Spiele der Tiere«.
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Problemlösungen zu stark in den Vordergrund geschoben, stören den Ablauf des Lebens. So wenn einer Reinlichkeit, Wahrheit etc. zum Zielpunkte alles Strebens macht. 1928 in der primitiven Dichtung ] Änd.: im primitiven Denken 1922 Erg.: in der primitiven Kunst, in den Leistungen der Psychose 1922 die ] Erg.: künstliche 1922 die ] Ausl. 1928 konkretisiert ] hervorgehoben 1928 kleinen ] Änd.: kleineren 1922 Erg.: Teil einer 1922
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zu machen, die58 Griffe anzusetzen, um die Schwierigkeiten zu überwinden. Schon die Überlegung, Beobachtung, das Denken und Vorausdenken selbst,59 Aufmerksamkeit, Einschätzung und Wertung werden durch die Sicherungstendenz hervorgetrieben. Und da die Empfindung60 der eigenen Minderwertigkeit ein abstraktes Maß für Ungleichheit unter den Menschen abgibt, wird der Größere, der Stärkere und sein Maß zum fiktiven Endziel gemacht, um dann vor Unsicherheit, vor dem »Gruseln« geborgen zu sein. So kommt es in der Seele des Kindes zur Bildung61 einer Leitlinie, die auf Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls drängt, um der Unsicherheit zu entgehen, unter heftigerem Drängen beim Nervösen, der die Minderwertigkeit schärfer empfunden hat. Mythen, das Volk, Dichter, Philosophen und Religionsstifter haben aus ihrer Zeit das Material für Umformung62 der Leitlinien genommen, sodass als Endziele körperliche oder geistige Kraft, Unsterblichkeit, Tugend, Frömmigkeit, Reichtum, Wissen, HerrenmoralK, soziales Empfinden oder Selbstherrlichkeit zur Verfügung stehen und je nach der rezeptorischen Eigenart des nach Vollwertigkeit lüsternen Individuums ergriffen werden.63 An dieser Stelle werden die lebendigen Energiekräfte des Kindes hinübergeleitet in den selbstgeschaffenen Kreis seiner subjektiven Welt, die nunmehr als leitende Fiktion alle Empfindungen und Regungen, Lust, Unlust, den Trieb der Selbsterhaltung sogar zu ihren Gunsten fälscht und umwertet, um sicher zum Ziele zu gelangen, die alles Erfahren und Erleben beim Nervösen in ihrer besonderen Art verwendet, um Bereitschaften herzustellen und den Triumph vorzubereiten.64 Diese vorbereitenden Akte mit ihrer Umwertung der Werte lassen sich am deutlichsten beim Spiel des nervösen Kindes, in seinen Erwägungen über den künftigen Beruf und in seiner körperlichen und psychischen Haltung beobachten. Von diesen Erscheinungen soll noch im Zusammenhang mit der sie beherrschenden Sicherungstendenz gesprochen werden. Bezüglich des nervösen Habitus sei hervorgehoben, dass er in der Regel frühzeitig auffällig wird, dass er eine pantomimische Darstellung eines Charakterzuges bietet65, sei es als 58 59 60 61 62 63 64
der Unsicherheit bis machen, die ] hervorgehoben 1922 Erg.: Bewundern, Gedächtnis 1928 die Empfindung ] Änd.: das Gefühl 1922 zur Bildung ] Änd.: zu 1928 Umformung ] Änd.: Umformungen 1922 Änd.: Umformung 1928 Erg.: Auch der Tod kann eine solche Geborgenheit vorstellen. 1922 Erg.: Aus seinen persönlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen aber gewinnt das Kind Eindrücke von den Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens [Erg.: als dessen erster Träger die Mutter anzusehen ist 1928] und trägt ihnen in der Formung seiner Ideale und Leitlinien bis zu einem bestimmten Grade Rechnung. 1919 Bedingungen bis Zusammenlebens ] hervorgehoben 1922 65 bietet ] hervorgehoben 1922
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ängstliche, lauernde, misstrauische, unsichere, vorsichtige, schüchterne, sei es als feindselige, trotzende, selbstsichere, selbstgefällige, vorlaute Attitüde. Leicht macht sich Erröten bemerkbar, oder der Blick ist eigentümlich fangend, untergeschlagen oder feindlich. Es gelingt leicht66, eine dieser Attitüden oder Gebärden, einen mimischen Zug etwa, auf das Vorbild zurückzuführen. Oft findet man bei nervösen Kindern schon die Nachahmung des männlichen Prinzips, des Vaters; das Vorbild der Mutter schiebt sich erst durch den Formenwandel der leitenden Fiktion ein, oder wenn von allem Anfang das moralische Übergewicht der Mutter außer Frage steht. Meist sind es geringfügige Erscheinungen, die sonst der ärztlichen Beobachtung nicht unterzogen werden: Kreuzung der Beine, Arme, eine besondere Art auszuschreiten, [29] Vorliebe für gewisse Speisen, Entlehnung von Charakterzügen etc. oder bei stärker hervortretendem Trotz gegenteilige Ausdrucksformen. Festgehaltene Kinderfehler wie Enuresis, Nägelbeißen, Lutschen, Stottern, Augenzwinkern, Masturbation usw. lassen sich regelmäßig auf diese trotzige Einstellung zurückführen. Sie sind das Mittel des Schwachen, um das Pathos der Distanz67 zu verringern, dadurch aber das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit aufzuheben, und zielen in letzter Linie auf die Überwindung einer Autorität, gleichzeitig aber auf68 Gewinnung eines Vorwandes, um der Entscheidung auszuweichen, sie hinauszuschieben.69 Alle erheblichen Erscheinungen dieser Art sind selbst schon Charakterzüge oder zeigen sich durchflossen vom neurotischen Charakter, sind wie dieser selbst eine Ausdrucksform der Sicherungstendenz, Vorbereitung und Bereitschaft der kompensierenden Kraft, die durch das Gefühl der Minderwertigkeit ausgelöst wird. [30]
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leicht ] Änd.: immer 1922 Erg.: zum Starken 1919 Erg.: die 1922 Erg.: In ihrer Sprache sagen sie uns etwa: »Ich bin noch ein Kind!« 1922
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Die wichtigste Aufgabe des Denkens ist vor allem, der Handlung oder Geschehnissen vorauszueilen, Weg und Ziel zu erfassen und so weit als möglich zu beeinflussen. Durch dieses Vorausdenken ist unser Einfluss über Zeit und Raum hinaus einigermaßen gesichert. Dementsprechend ist unsere Psyche in erster Linie ein1 Angriffsorgan, geboren aus der Not allzu enger Grenzen, wie sie ursprünglich die Triebbefriedigung erschweren. Dieser organisch bedingte Zweck der Triebbefriedigung kann aber nur so lange gelten, bis er das geeignete Mittel gefunden hat,2 um stabilisiert und über die größten Anfechtungen hinaus gesichert zu werden. Gegen Ende der Säuglingszeit, wo das Kind selbständige, zielsichere Handlungen vollbringt, die nicht bloß auf Triebbefriedigung gerichtet sind, wo es seinen Platz in der Familie einnimmt und sich in seiner Umgebung einrichtet, besitzt es bereits Fertigkeiten, psychische Gesten und Bereitschaften. Zudem ist sein Handeln ein einheitliches geworden, und man sieht es auf dem Wege, sich einen Platz in der Welt zu erobern. Ein derartig einheitliches Handeln kann nur verstanden werden, wenn man annimmt, dass das Kind einen einheitlichen, fixen Punkt außerhalb seiner selbst gefunden hat, dem es mit seinen3 Wachstumsenergien nachstrebt. Das Kind muss also eine Leitlinie, ein Leitbild gestaltet haben, offenbar in der Erwartung, sich so in seiner Umgebung am besten zu orientieren und zur Bedürfnisbefriedigung, zur Vermeidung von Unlust, zur Erzielung von Lust zu gelangen*. Aus diesem Leitbild tritt anfangs insbesondere das Zärtlichkeitsbedürfnis4K hervor, das ursprünglich die »Bildsamkeit«K (PaulsenK) des Kindes ausmacht5. Bald gesellen sich zu dieser Einstellung Bestrebungen, das Wohlgefallen, die Hilfe und die Liebe der Eltern zu finden, Regungen der Selbstständigkeit, des Trotzes und der Auflehnung. Das Kind hat einen »Sinn des Lebens« gefunden, dem es nachstrebt, dessen noch schwankende Umrisse es formt, von dem aus sein *
Adler, Trotz und Gehorsam6K
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Erg.: Verteidigungs- und 1919 Dieser bis gefunden hat ] Änd.: Die rein physiologische Form der Triebbefriedigung hält nur so lange vor, bis der geeignete Weg gefunden ist 1919 Erg.: seelischen 1922 Erg.: als ein Teil des angeborenen Gemeinschaftsstrebens 1922 ausmacht ] Änd.: fördert 1922 Anm.: in »Heilen und Bilden«, l. c. 1919
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Vorausdenken angezogen wird, das seine Handlungen, seine Gefühlsimpulse lenkt und wertet. Die kindliche Unbeholfenheit, Hilflosigkeit und Unsicherheit erzwingen das Austasten der Möglichkeiten, das Sammeln von Erfahrungen und die Schöpfung des Gedächtnisses, damit die Brücke in die Zukunft geschlagen werden könne, wo Größe, Macht, Befriedigungen aller Art [31] wohnen. Diese Brücke zu schlagen ist die wichtigste Leistung des Kindes, da es sonst in der Fülle der einstürmenden Eindrücke ohne Sammlung, ohne Rat, ohne Führung7 stünde. Man kann dieses erste Stadium der erwachenden subjektiven Welt8 kaum recht abgrenzen oder in Worte fassen. Immerhin können wir sagen, das Leitbild des Kindes muss so beschaffen sein, als ob es dem Kinde größere Sicherheit, Orientierung bringen könnte, indem es die Richtung seines Wollens beeinflusst. Sicherheit aber kann es nur gewinnen, wenn es auf einen fixen Punkt hinarbeitet, an dem es sich größer, stärker, von den Mängeln früher Kindlichkeit befreit sieht. Die bildliche, analogische Art unseres Denkens bringt es mit sich, dass dieses zukünftige, veränderte Bild der eigenen Person in der Gestalt des Vaters, der Mutter, eines älteren Geschwisters, des Lehrers, einer Berufsperson, eines Helden, einer Tiergestalt, eines Gottes gedacht wird. Allen diesen leitenden Gestalten ist der Zug der Größe, der Macht, des Wissens und Könnens gemeinsam, und so stellen sie samt und sonders Symbole dar für fiktive Abstraktionen. Und so wie der aus Lehm geschaffene Götze erhalten sie durch die menschliche Fantasie Kraft und Leben und wirken zurück auf die Psyche, aus der sie geboren sind9. Dieser Kunstgriff des Denkens hätte das Gepräge der Paranoia und der Dementia praecox, die sich »feindliche Gewalten« schaffen zur Sicherung des Persönlichkeitsgefühls, wenn nicht dem Kinde die Möglichkeit gegeben wäre, jederzeit aus dem Banne seiner Fiktion zu entweichen, seine ProjektionenK (Kant) aus der Rechnung zu streichen und bloß den Antrieb zu benützen, der aus dieser Hilfslinie fließt. Seine Unsicherheit reicht hin, um fantastische Ziele zur Orientierung in der Welt aufzustellen, ist aber nicht so groß, um die Realität zu entwerten und das Leitbild zu dogmatisieren, wie es in der Psychose geschieht. Immerhin muss auf die Ähnlichkeit der Bedeutung der Unsicherheit und des Kunstgriffes der Fiktion beim Gesunden, Nervösen und Verrückten hingewiesen werden. Das allgemein Menschliche an diesem Vorgange ist, dass das apperzipierende Gedächtnis unter die Macht der leitenden Fiktion gerät. Damit ist eine einheitliche Weltanschauung für alle innerhalb gewisser Grenzen gegeben. Die Kleinheit und Dürftigkeit des Kindes wird stets nach Erweiterung seiner 7 8 9
Erg.: ohne Beruhigung 1922 Erg.: der Ichbildung 1919 sind ] Änd.: wird 1922 ] Änd.: werden 1928
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Grenzen streben10 und diese dann nach dem Muster des Stärksten abstecken. Und nun erweist es sich im Laufe der psychischen Entwicklung, dass, was ursprünglich ein an sich imaginierender, nur im Zusammenhang wichtiger und wertvoller Kunstgriff war, ein Mittel, um Stellung zu nehmen, die Richtung finden, Griffe anbringen zu können, zum Zweck geworden ist, offenbar weil das Kind nur auf diesem Wege, nicht aber durch direkte Triebbefriedigung die Sicherheit des Handelns erlangen kann.* Damit ist nun der wirksame Punkt außerhalb der körperlichen Sphäre gefunden, nach dem sich die Psyche richtet, der Schwerpunkt des menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens. Und der Mechanismus des apperzipierenden Gedächtnisses mit seiner Unsumme von Erfahrungen wandelt sich aus einem objektiv wirkenden [32] System in ein subjektiv arbeitendes11, durch die Fiktion der zukünftigen Persönlichkeit modifiziertes Schema. Seine Aufgabe wird es, derartige Verbindungen mit der Außenwelt herzustellen, die der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls dienen, den vorbereitenden Handlungen und Gedanken Direktiven, Winke zu geben und sie mit dem ehernen Bestand fertiggestellter Bereitschaften in Verbindung zu bringen. Man erinnere sich nur an das treffliche Wort CharcotsK, der für das wissenschaftliche Forschen hervorgehoben hat, dass man immer nur findet, was man weiß – eine Beobachtung, die auf das praktische Erleben gerichtet zu zeigen imstande ist, dass von einer Anzahl fertiger psychischer Mechanismen und Bereitschaften aus, wie es auch KantsK Lehre von den Anschauungsformen unseres Verstandes zeigt, unser ganzer Wahrnehmungskreis beschränkt wird.** Ebenso sind unsere Handlungen durch diesen – von der leitenden Fiktion aus bestimmten und gewerteten – Erfahrungsinhalt determiniert. Unsere Werturteile selbst entsprechen dem Maße des fiktiven Zieles, nicht etwa »realen« Empfindungen oder Lustgefühlen. Und die Handlung erfolgt, wie JamesK es ausdrückt, unter einer Art Approbierung, ist an ein Fiat!, an ein Geheiß oder an eine Zustimmung gebunden. Die leitende Fiktion ist demnach ursprünglich das Mittel, ein Kunstgriff, durch den sich das Kind seines Minderwertigkeitsgefühls zu entledigen sucht. Sie leitet *
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Wie aus Karl Groos K, »Spiele der Tiere«, zu ersehen ist, ist auch das Verständnis der Tierseele darauf gegründet, dass wir es handeln sehen, als ob es einer fiktiven Richtungslinie folgen würde. Auf12 BergsonsK fundamentale Lehren muss ich hier verweisen, ohne seine bedeutsamen Gesichtspunkte genügend einreihen zu können13. streben ] Änd.: drängen 1922 aus einem bis arbeitendes ] hervorgehoben 1922 Auf ] Änd.: Auch auf 1919 ohne bis können ] Ausl. 1919
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die Kompensation ein und steht im Dienste der Sicherungstendenz.14 Je größer das Minderwertigkeitsgefühl, umso dringender und stärker wird das Bedürfnis nach einer sichernden Richtungslinie, umso schärfer tritt sie auch hervor, und wie die Kompensation im Organischen ist die Wirksamkeit der psychischen Kompensation an die Leistung einer Mehrarbeit geknüpft und bringt auffallende, oft mehrwertige und neuartige Erscheinungen im Seelenleben mit sich. Eine ihrer Ausdrucksformen, zur Sicherung des Persönlichkeitsgefühls bestimmt, ist die Neurose und Psychose. Das konstitutionell minderwertige Kind15 mit seinem Heer von Übeln und Unsicherheiten wird seinen fixen Punkt schärfer herausarbeiten und höher ansetzen, wird die Leitlinie deutlicher ziehen und wird sich ängstlicher oder prinzipieller an sie halten. In der Tat ist der Haupteindruck bei Beobachtung eines neurotisch disponierten Kindes der, dass es um vieles vorsichtiger zu Werke geht, mit allerlei Vorurteilen16, dass ihm die Unbefangenheit der Wirklichkeit gegenüber mangelt, ferner dass seine Aggressionsstellung eine aufgepeitschte ist, indem es entweder erobernd17 oder durch Unterwerfung zur Beherrschung18 einer Situation gelangen will. Meist lässt es sich in der Wahl seiner Kampfmittel durch seine Organminderwertigkeiten leiten und nützt sie den Angehörigen gegenüber aus oder fixiert sie im Trotz. Oft entlehnt es in anfänglicher Simulation oder übertreibend Übel aus der Umgebung, um seine Stellung zu befestigen. Wo die Wirkung derartiger Mittel auf die Umgebung fehlt, wird die Beseitigung des Übels durch erhöhten Kraftaufwand versucht, wobei sich häufig, wenn funktionelle Anomalien des Auges, des Ohres, der Sprache, der Muskulatur [33] eine Überkompensation erfahren, qualifizierte und künstlerische Leistungen entwickeln. Auch starke Selbstständigkeitsregungen sind damit verbunden. Oder das Heil wird in verstärkter Anlehnung gesucht, zu welchem Zwecke Angst, Kleinheitsgefühl, Schwäche, Ungeschicklichkeit, Unfähigkeit, Schuldgefühl, Reue19 als Sicherungen fungieren. In gleiche Richtung zielt die Befestigung von Kinderfehlern, die Fixierung eines psychi-
14 W. Stern K (s. dessen »Individualität« 1918) ist unabhängig von mir zu gleichen Anschauungen gelangt. Dieselbe Unabhängigkeit kann ich leider einigen Neurologen, wie z. B. Lewandofski K, nicht zubilligen, der in Auseinandersetzungen über die Kriegsneurose [Kriegsneurosen 1928] stillschweigend das Ziel der Sicherung, der Überlegenheit als krankmachend beschrieben hat. 1919 15 konstitutionell minderwertige Kind ] hervorgehoben 1928 Erg.: das verzärtelte und das gehasste Kind 1928 16 Erg.: rechnet 1919 17 erobernd ] Änd.: feindselig 1919 18 zur Beherrschung ] Änd.: zum Ausgleich 1919 19 Erg.: Pessimismus 1922
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schen Infantilismus,20 K soferne sie21 nicht ausschließlich oder nebenbei aus der Trotzeinstellung hervorgehen, nicht dem kindlichen Negativismus entsprechen. Eine Anzahl von Übeln der neuropathischen Kinder sind subjektiver Art, entsprechen einem ganzen oder halben Fehlurteil, wie es bei den Versuchen der Kinder, ihr Minderwertigkeitsgefühl zu begründen oder zu verstehen, zustande kommt. Oft mischt sich bereits in diese logischen Interpretationen der kompensierende Ehrgeiz oder die Aggression des Kindes gegen die Eltern ein. »Die Eltern, das Schicksal sind schuld«, »weil ich der Jüngste, zu spät gekommen bin«, »weil ich ein Aschenbrödel bin«, »weil ich vielleicht nicht das Kind dieser Eltern, dieses Vaters, dieser Mutter bin«, »weil ich zu klein bin, zu schwach, einen kleinen Kopf habe, zu hässlich bin«, »weil ich einen Sprachfehler, einen Fehler des Gehörs habe, schiele, kurzsichtig bin«, »weil ich verbildete Genitalien, verkürzte Genitalien22 habe«, »weil ich nicht männlich, weil ich ein Mädchen bin«, »weil ich von Natur aus böse, dumm, ungeschickt bin«, »weil ich masturbiert habe, zu sinnlich, zu begehrlich bin«, »weil ich pervers von Natur aus23 bin«, »weil ich mich leicht unterwerfe, unselbstständig bin und gehorche«, »weil ich leicht weine und gerührt bin«, »weil ich ein Verbrecher, Dieb, Brandstifter bin, jemanden ermorden könnte«, »meine Abstammung, meine Erziehung, die Beschneidung ist schuld«, »weil ich eine lange Nase habe, zu viel, zu wenig behaart bin«, »weil ich ein Krüppel bin«,24 so und ähnlich lauten die Versuche des Kindes, sich durch den Hinweis auf das Fatum – ganz wie in der griechischen25 und in der Schicksalstragödie – zu entlasten, sein Selbstgefühl zu retten und die Schuld anderen zuzuschieben. Man begegnet diesen Versuchen in der psychischen Behandlung der Neurose regelmäßig und kann sie immer auf die Relation von Minderwertigkeitsgefühl und dem Ideal zurückführen. Der Wert und die Bedeutung dieser aufgedeckten Gedankengänge, die wie ein Stachel in der Seele des Nervösen sitzen, liegt26 zudem noch im Gebrauch derselben 1. zur Aufpeitschung des neurotischen Strebens in der Richtung auf das Ideal (Typus: Größenideen), 2. als Zuflucht und Vorwand, wenn eine Entscheidung mit Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühles droht 27 (Typus: Kleinheitsideen). Diese zweite Verwendbarkeit und Verwendung tritt 20 21 22 23 24 25 26 27
Erg.: der zuweilen wie DissoziationK oder Debilität erscheinen kann 1919 sie ] Änd.: beide 1922 verkürzte Genitalien ] Ausl. 1922 pervers von Natur aus ] Änd.: von Natur aus pervers 1919 Erg.: »weil ich verzärtelt, zurückgesetzt bin« 1928 der griechischen ] Änd.: den griechischen Dramen 1922 liegt ] Änd.: liegen 1922 eine Entscheidung bis droht ] Änd.: einer Entscheidung über das Persönlichkeitsgefühl ausgewichen werden soll 1919
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bei der Neurose naturgemäß in den Vordergrund, weil das neurotische Ziel28 zu hoch gesteckt ist29, um auf gerader Linie angestrebt zu werden. Die Möglichkeit einer Verwendung30 liegt aber in der Beimischung von Aggression, in der Anschuldigung des Schicksals sowie der Heredität. Dadurch gewinnt der Nervöse eine dauerhafte Operationsbasis, auf der er in der gleichen feindseligen Absicht gewisse Charakterzüge wie Trotz, Herrschsucht, nörgelndes Wesen, pedantische Wünsche entfaltet, vorschiebt und stabilisiert, weil ihm dadurch stets die Beherrschung der Umgebung,31 meist unter Berufung auf sein schweres Leiden, ermöglicht wird. Alle diese Ressenti[34]ments und geschaffenen Bereitschaften, zu denen sich noch festgehaltene, oft erweiterte Kinderfehler und Krankheitssymptome erspähter oder selbstgeschaffener Art gesellen, stehen in innigem Verband, sind voneinander unlösbar und zeigen auch dadurch ihre Abhängigkeit von einem außerhalb ihres Gefüges stehenden Faktor, von der durch die Sicherungstendenz erschaffenen leitenden Fiktion32, von der Sehnsucht nach Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls. In der fiktiven Grundlage derartiger Minderwertigkeitsgefühle, die immer aus Sicherungsgründen verstärkt gedacht oder empfunden werden,33 sehe ich die Hauptchance einer Heilungsmöglichkeit. Dabei spielt die Frage, ob das Gefühl der Minderwertigkeit bewusst oder unbewusst ist, eine untergeordnete Rolle. Zuweilen bringt es der Stolz so weit, »dass das Gedächtnis nachgibt« (Nietzsche K). Der geschilderte Zusammenhang freilich ist dem Patienten unbekannt. Und darum bleibt er bis zur Aufdeckung und Richtigstellung des Mechanismus, bis zur Zerstörung seiner Bereitschaften und seines neurotischen Lebensplanes ein Spielball seiner Empfindungen und Affekte, deren Zusammenspiel noch wesentlich kompliziert wird, weil sich regelmäßig infolge der bezweckten Aufpeitschung des neurotischen Strebens jene Bereitschaften und Charakterzüge einmengen, die das Minderwertigkeitsgefühl verneinen, wie Stolz, Neid, Geiz, Grausamkeit, Mut, Rachsucht, Jähzorn und andere.34 Die Unterstreichung und der Zwang zur markanten Darstellung der Minderwertigkeit spielt in der Psychologie der Nervösen eine große Rolle35. Der Anschein der Schwäche, des Leidens, der Unfähigkeit und der Unbrauchbarkeit leitet sich vorwiegend aus solchen Darbietungen ab, weil der Nervöse durch 28 29 30 31 32 33 34
Erg.: mit der Zeit als 1922 ist ] Änd.: erscheint 1922 Verwendung ] Änd.: Plusmacherei 1919 Erg.: des kleineren Familienkreises statt der Welt 1919 Fiktion ] Änd.: Ehrgeiz-Fiktion 1922 Erg.: niemals aber unüberwindbar sind 1922 Erg.: Bis sich die lähmende Rolle des Ehrgeizes geltend macht. 1922 Erg.: der sich vor den Patienten stellt und ihn zurücktreibt. 1928 35 Rolle ] Änd.: Aufgabe 1922 Änd.: bedeutende Rolle 1928
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diesen Zwangsmechanismus unweigerlich sich so benehmen, derart fühlen muss, als ob er krank, weiblich, minderwertig, zurückgesetzt, verkürzt, sexuell überreizt, impotent oder pervertiert wäre. Die Vorsicht im Leben, die diese Regungen stets begleitet, der verstärkte Drang nach oben, die Sucht, den Mann auf diese oder andere Weise zu spielen, allen anderen überlegen zu sein36, die Sicherheit des Neurotikers, durch solche Arrangements der Entscheidung und Herabsetzung auf der Hauptlinie auszuweichen und so eine Verminderung des Persönlichkeitsgefühls zu verhüten, lässt uns den richtigen Sachverhalt erkennen: Die niedrige Selbsteinschätzung ist 37 selbst nur ein Kunstgriff des Neurotikers, um mit verstärkten Kräften die Leitlinie zu gewinnen, die ihn zu einer Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls führt. Handelt er auch unter der Devise: halb und halb, indem er bestimmte Kampfpositionen aufgibt38, so sichert er sich doch dadurch vor einem endgültigen Minderwertigkeitsgefühl und vermag andere besser in seinen Dienst zu stellen.39 Der sexuelle Einschlag in der Neurosenpsychologie, der von Freud zum Angelpunkt gemacht wurde, erklärt sich so als die Wirkung einer Fiktion. Es gibt kein objektives Maß der »Libido«. Erhöhung und Erniedrigung derselben richten sich stets nach dem fiktiven Endzwecke. Es gelingt jedem Neurotiker leicht, sich eine hohe Sexualspannung durch mehr [oder] minder zweckmäßige Arrangements, vor allem durch Anspannung der entsprechenden Aufmerksamkeitsrichtung vorzutäuschen, wenn er nach Beweisen hascht, wie sehr die Sexualität seine Sicherheit beeinträchtigt, wie leicht sein [35] Persönlichkeitsgefühl von dieser Seite aus bedroht werden könnte. Die 36 Erg.: und nur eine fatale Schwierigkeit zur Verschleierung des Minderwertigkeitsgefühls zu benützen 1928 37 Erg.: später 1922 38 Erg.: und einen Nebenkriegsschauplatz eröffnet, eben das Gebiet der Neurose 1919 39 Erg.: Daher wird man immer finden, dass der Nervöse – und mit ihm meistens der Arzt und die Umgebung – daneben schaut, an der einzig wichtigen Stelle, an seinem ursprünglichen Minderwertigkeitsgefühl vorbeischielt, dass er mit seinen Symptomen derart operiert, als ob ein rein persönliches Leiden vorläge. Nur dass »bei dieser Gelegenheit« das ganze Bezugssystem seines Lebens in Bewegung kommt und seine ehrliche Mitarbeit verhindert. Durch diese feindselige Stellung zum Leben gelangt der Nervöse regelmäßig in eine Stimmung der Erwartung, die von Kraepelin K richtig erkannt wurde. Sein Blick ist fast ausschließlich auf die eigene Person gerichtet, während er an die anderen kaum denkt. Er muss erst mühsam zur Erkenntnis erzogen werden, dass Geben seliger denn Nehmen ist. 1922 Anm.: Seine Lebensfreude ist durch das unausgesetzte »Nehmenwollen« zerstört. Er kommt nie aus der Stimmung der Unzufriedenheit, des Gefühls der Verkürztheit. Anders die Stimmung des Gebenden, der mehr an den andern denkt und über die Ausgeglichenheit des Gemütes verfügt. 1922
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Abschwächungen libidinöser Regungen bis zur psychischen Impotenz sind als bezweckte Aggressionshemmungen zu verstehen, als Störungen natürlicher Bereitschaften, als Konstruktionen eines »Als-ob«, dazu dienlich, sich vor einer Heirat, vor Ablenkungen, vor einer Degradierung dem Partner gegenüber, vor einem Versinken ins Elend oder in Straffälligkeit zu sichern. Verdrängte oder bewusste Perversionsneigungen sind stets als Abbiegungen40 zu verstehen, ebenso wie die41 Zwangsmasturbation, als Symbole eines fiktiven, sichernden Lebensplans. Sie werden durch die leitende Fiktion erzwungen, sobald das Gefühl der Minderwertigkeit in einer Furcht vor dem geschlechtlichen Partner, wie es bei den Anomalien der Sexualität regelmäßig geschieht, zum Ausdruck kommt.* Die Fiktion43 kann dann auch noch die Perversionsregung ins Unbewusste verlegen oder die Furcht vor dem Partner44 unkenntlich machen45, sodass sie nur aus der Situation ersichtlich wird. Sie tut das Erste, indem sie dem Stolz diese Leistung auferlegt, das Letztere dadurch, dass sie aus der Not eine Tugend macht und den Partner entwertet. Auch die46 Inzestregungen, denen Freud eine so überragende Bedeutung für die Entstehung der Neurose und Psychose zuschreibt, entpuppen sich in der Neurosenpsychologie als zweckdienliche47 Konstruktionen und Symbole48, zu denen die Kindheitsgeschichte mit ihren Vorbereitungen das meist harmlose Material abgibt. Die Einsicht in den49 festgehaltenen »Ödipuskomplex« beispielsweise ergibt, dass dieser eine bildliche, sexuell50 eingekleidete Darstellung männlichen Kraftbewusstseins, der Überlegenheit über die Frau51 gibt, gleichzeitig aber den Anlass verrät, der zu dieser Demonstration führt: als ob die Mutter die einzige Frau wäre, die man unterwerfen könne, auf die man rechnen könne, oder als ob das sexuelle Begehren (schon in der Kindheit!) gren*
Siehe Adler: »Das Problem der Homosexualität«42 K
40 Erg.: oder keimende Vorsätze zu solchen 1922 41 Erg.: Pollution und 1922 42 Anm.: 2. Aufl. Verlag E. Reinhardt, München. 1919 2. Aufl. bis München ] Änd.: 2. Aufl. in Vorbereitung. Verlag E. Reinhardt, München. 1922 München ] Änd.: München 1917. Vergriffen. 1928 43 Erg.: eines Heldentums 1922 44 Erg.: äußerlich 1922 45 Erg.: oder Feigheit in fruchtlose Aggression oder Arroganz verwandeln 1922 46 Erg.: gelegentlichen 1919 47 Erg.: sekundäre 1922 48 Erg.: des Kranken oder des Psychoanalytikers 1922 49 Erg.: gelegentlich 1922 50 sexuell ] Änd.: meist asexuell 1922 51 die Frau ] Änd.: Vater und Mutter 1922
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zenlos und also gefahrdrohend, immer auch im Kampf gegen Stärkere (Vater, Drache52, Todesgefahr) durchzusetzen wäre. – Wie sich aus dieser Deutung entnehmen lässt, führt uns die Betrachtung der Sexualneurose immer wieder zum Befund einer leitenden Fiktion, die sich sexuell darstellt oder vom Therapeuten darstellen lässt53, und im Zusammenhang damit zur Aufdeckung einer nach einem sexuellen Schema arbeitenden Apperzeptionsweise, der zufolge der Nervöse wie auch der »Normale« oft versuchen, die Welt und ihre Erscheinungen in einem sexuellen Bild einzufangen und zu verstehen. Unsere weiteren Untersuchungen lassen erkennen, dass dieses sexuelle Schema, das sich auch in der Sprache, in Sitten und Gebräuchen vielfach durchsetzt, nur einen Formenwandel des 54 weiterreichenden Schemas älterer Abkunft vorstellt, der gegensätzlichen Apperzeptionsweise von »Männlich – Weiblich«, von »Oben – Unten«55. – Auch die später psychisch verankerten Perversionsregungen nehmen ihr Material und ihre Richtung [36] aus harmlosen körperlichen Empfindungen und Fehlurteilen der Kindheit, die sie im Bedarfsfalle besonders hoch werten und wegen etwaiger Lustempfindungen in einem sexuellen Gleichnis apperzipieren. Dem Psychologen ist es nicht erlaubt, denselben Standpunkt einzunehmen, etwa die gleiche Apperzeptionsweise als endgültig festzuhalten oder reale Sexualkomponenten an Stelle einer Fiktion einzusetzen, wie es der Patient tut. Seine Aufgabe wird vielmehr darin bestehen, diesen Orientierungsversuch des Nervösen als oberflächlich zu entlarven, als fiktiv zu zerstören und als Minderwertigkeitsgefühl abzuschwächen, das krampfhaft nach Richtungslinien treibt, um die Durchsetzung des männlichen Protestes auf Umwegen zu erzwingen.56 Das apperzipierende Gedächtnis, das unser Weltbild so ungeheuer beeinflusst, arbeitet also wie mit einem Schema, mit einer schematischen Fiktion, und dieser Fiktion entspricht auch die Auswahl und Modellierung unse-
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Drache ] Ausl. 1922 oder bis lässt ] hervorgehoben 1928 Erg.: tieferen und 1928 Siehe den Traum des Hippias, HerodotK VI. 107: »Er glaubte bei seiner Mutter zu schlafen.« Dies träumte er, als er vorhatte, seine Mutterstadt zu erobern, wie er es schon einmal als Begleiter seines Vaters miterlebt hatte. Also der »Ödipuskomplex« als Symbol des Herrschenwollens. – Auch bei den Römern findet sich [Erg.: der 1928] »Beischlaf« als Symbol einer Eroberung, eines Sieges. Vgl. den Doppelsinn von »subigere«K. 56 Erg.: Die Perversion ist immer ein Zeichen, dass ein Mensch der Norm im Bogen ausweicht, aus Furcht, in seiner Eitelkeit verletzt zu werden. Ähnliche Strukturen findet man bei Masturbationszwang, auffallender Bindung an engere oder weitere Blutsverwandte, bei Pädophilie und Gerontophilie, bei Impotenz, Mangel der Ejaculatio und bei Frigidität. 1922 Erg.: Letztere als ein Leiden des Nichtmitgehens. 1928
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rer57 Wahrnehmung58, unserer Erfahrung59, ebenso auch das Training aller unserer angeborenen Regungen und Fähigkeiten, bis sie in geeignete psychische und technische Fertigkeiten60 und Bereitschaften umgewandelt sind. Die Arbeitsweise unseres bewussten und unbewussten Gedächtnisses und sein individueller Aufbau gehorchen dem Persönlichkeitsideal61 und seinen Maßen. Von diesem konnten wir zeigen, dass es als leitende Fiktion bestimmt ist, das Lebensproblem zu stellen und anzugehen62, sobald das Minderwertigkeits- und Unsicherheitsgefühl zu einer Kompensation drängt. Dieser fixierte Leitpunkt unseres Strebens, der keinerlei Realität besitzt, ist für die psychische Entwicklung unbedingt entscheidend, denn er ermöglicht uns, im Chaos der Welt Schritte zu machen, wie das Kind es tut, wenn es gehen lernt und einen Endpunkt fest dabei im Auge behält63. Noch fester fasst der Nervöse seinen Gott, sein Idol, sein Persönlichkeitsideal ins Auge und klammert sich an seine Leitlinie, verliert dabei64 die Wirklichkeit aus dem Auge, während der Gesunde stets bereit ist, dieses Hilfsmittel, diese Krücke aufzugeben und unbefangen mit der Realität zu rechnen. Der Neurotiker gleicht in diesem Falle einem Menschen, der zu Gott aufschaut, ihm seine Wege empfiehlt und nun gläubig harrt, wie der Herr es lenken werde; er ist ans Kreuz seiner Fiktion geschlagen. Auch der Gesunde kann und wird sich seine Gottheit schaffen, sich nach oben gezogen fühlen, wird aber nie die Wirklichkeit aus dem Auge verlieren und mit ihr seine Rechnung machen, sobald es aufs Wirken und Schaffen ankommt. Der Nervöse steht demnach unter der hypnotischen Wirkung eines fiktiven Lebensplans. Dass aber in jedem Falle der außerhalb Raum und Zeit65 gesetzte Punkt des Persönlichkeitsideals66 wirksam bleibt, geht aus der Richtung der Aufmerksamkeit, des Interesses, der Tendenz hervor, die jedes Mal die Auswahl nach Gesichtspunkten treffen, die von vorneherein gegeben sind. Die Zwecksetzung in unserem psychischen Verhalten und die von ihr geschaffenen Bereitschaften machen es aus, dass Handlungen eingeleitet und in einer bestimmten Distanz abgebrochen werden, dass, wie ZiehenK hervorhebt, 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66
Erg.: Empfindung 1922 Erg.: und Vorstellung 1922 Erg.: und unseres Gedächtnisses 1922 Erg.: Automatismen 1928 Persönlichkeitsideal ] hervorgehoben 1922 anzugehen ] Änd.: anzugeben 1922 Erg.: ohne ihn erreichen zu müssen 1928 Erg.: mit tieferer Absicht 1919 Raum und Zeit ] Änd.: der Realität 1922 Persönlichkeitsideals ] hervorgehoben 1922 Erg.: (ein Ersatz durch das Wort »Ichideal« [Erg.: wie Freud es versucht 1928] wäre aus mehreren Gründen abzuweisen) 1922
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willkürliche wie unwillkürliche Impulse stets nur auf die Erreichung eines bestimmten Effektes gehen, dass wir, wie auch nach PawlowsK Darlegungen, eine durchwegs intelligente Funktion der Organe annehmen müssen. Alle diese Erscheinungen sind von derart zwingendem Eindruck, dass seit jeher Philosophen und Psycho[37]logen als ein Prinzip der Teleologie erfassten, was ein berechneter Versuch zur Orientierung nach einem als fix angenommenen Punkt war67. Die Hilfsvorstellung der natürlichen Auslese ist ohnmächtig, alle diese bei jeder Gelegenheit neu und anders beanspruchten Folgen zu erklären. Unsere Erfahrung gebietet unweigerlich, alle diese Erscheinungen abhängig zu machen von einer unbewusst wirkenden Fiktion, als deren schwächliche, bewusste Ausstrahlung wir68 Endzwecke finden, nach denen sich in letzter Linie die Auffassung unseres Erlebens und unser Handeln richtet. Es ist leichter, die Details dieser leitenden Fiktion nachzuweisen, als die Fiktion, den fiktiven Endzweck selbst zu benennen. Die bisherige psychologische Forschung hat verschiedene solcher Endzwecke namhaft gemacht. Für unsere Betrachtung genügt die kritische Behandlung zweier derselben. Die meisten Autoren entschieden sich dahin, alle menschlichen Handlungen und Willensregungen als von Lust- oder Unlustempfindungen69 aus beherrscht anzunehmen. Eine oberflächliche Betrachtung scheint ihnen auch recht zu geben, denn in der Tat ist die menschliche Psyche zum Aufsuchen der Lust, zur Vermeidung der Unlust geneigt. Aber der Boden dieser Theorie schwankt. Es gibt kein Maß für das lustvolle Empfinden, ja nicht einmal für das Empfinden schlechtweg. Es gibt ferner keine Wahrnehmung, keine Handlung, die nicht nach Zeit und Ort verschieden, bei dem einen lustvoll, beim anderen Unlust erregend wirken könnte. Und selbst die primitiven Empfindungen der Organbefriedigung erweisen sich als abgestuft und abstufbar je nach dem Sättigungsgrad und im Zusammenhang mit kulturellen Leitlinien, sodass nur große Entbehrungen es vermögen, die Befriedigung zum Zielpunkt zu machen. Ist diese dann eingetreten – sollte wirklich die Psyche dann ihre Richtungslinie70 verlieren? Die Nötigung der Psyche, Orientierung und Sicherheit zu gewinnen, erfordert zu ihrem71 Ausbau und zu ihren72 Leistungen einen festeren Standpunkt als das schwankende Prinzip der Lusterfahrung und einen stärker fixierten Blickpunkt als das Ziel der Lustgewinnung. Die Unmöglichkeit, sich daran zu orientieren 67 68 69 70 71 72
als bis Punkt war ] hervorgehoben 1922 Erg.: konkrete 1928 Unlustempfindungen ] Änd.: Unlustgefühlen 1922 Richtungslinie ] Änd.: Richtlinie 1928 zu ihrem ] Änd.: für den 1922 zu ihren ] Änd.: für die 1922
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und sein Handeln73 einzurichten, zwingt auch das Kind, derartige Versuche aufzugeben. Endlich ist es ein Missbrauch einer Abstraktion, wenn aus den verschiedenartig zusammengesetzten psychischen Bewegungen mittels einer Petitio principii als leitendes Motiv die Suche nach Lust herausgeholt wird, während man vorher schon jede Regung als lustsuchend – libidinös erklärt hat. SchillersK Scharfblick, der sich an Kant geschult hatte, sah viel weiter, als er der »Philosophie« für die Zukunft wenigstens die Lenkung des irdischen Geschehens einräumte, sie derweilen freilich noch von »Hunger und Liebe« abhängig glaubte. Die Lenkung aber, wie Freud es tut, der Sexualität, oder, was bei ihm dasselbe ist74, der Libido, verallgemeinernd der Liebe, zuzuschreiben, ist eine Vergewaltigung des logischen Denkens, selbst eine Fiktion schlechter Art, die, für ein75 Dogma genommen, zu großen Widersprüchen und Begriffsverstümmelungen führen musste, weil sie mit der Wirklichkeit allzu sehr kontrastierte.76 Schwerer erscheint die Depossedierung des Primats des »Selbsterhaltungstriebs«, zumal dieses Prinzip von der einen Seite mit ergänzenden teleologischen Hilfskonstruktionen, von der anderen Seite mit der Wucht der DarwinschenK Selektionslehre77 ausgestattet ist. [38] Aber wir können jeden Augenblick wahrnehmen, dass wir Handlungen begehen, die sowohl das Prinzip der Selbsterhaltung als der Erhaltung der Gattung verletzen, ja dass uns eine gewisse Willkür (FriesK, Meyerhof K)78 gestattet, ebenso wie bezüglich der Lust, auch bezüglich der Selbsterhaltung unsere Wertung nach oben oder nach unten zu verschieben, dass wir auch oft auf Selbsterhaltung ganz oder teilweise verzichten79, sobald Lust oder Unlust ins Spiel kommt, dass wir andererseits die Lustgewinnung häufig aufgeben, sobald unserem Selbst80 eine Schädigung droht. In welcher Weise ordnen sich diese beiden, sicherlich wirksamen Anreize der 73 74 75 76
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Erg.: darnach 1922 Erg.: oder war 1922 für ein ] Änd.: als ein 1922 Änd.: als 1928 Erg.: Schließlich ist der Begriff »Liebe« heute noch zu wenig differenziert. Er wird für verschiedene Regungen des Gemeinschaftsgefühls gebraucht, die wesentlich voneinander verschieden sind. Aber es mischen sich ihm leicht bei unkritischem Gebrauch Obertöne bei, die einen ausschließlichen Zusammenhang mit der Sexualität vortäuschen. Aus dieser sprachlichen Ungenauigkeit (Elternliebe, Kinderliebe, Gattenliebe, Eigenliebe, Vaterlandsliebe usw.) entstand die irrtümliche Anschauung Freuds. Er fand in allen Beziehungen wieder, was er schon vorher unbewusst an erotischen Obertönen in den Begriff »Liebe« (»Libido«) hineingesteckt hatte. 1922 sprachlichen Ungenauigkeit ] hervorgehoben 1928 Erg.: biologisch 1922 (Fries, Meyerhof) ] Ausl. 1919 Erg.: und bis zum Todeswunsch gelangen 1922 Erg.: oder unserem Selbstgefühl 1922
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Hauptleitlinie unter, die zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls antreibt? Die zwei verschiedenen Anschauungen entsprechen zwei Typen von Menschen, denen sich noch andere anreihen lassen, deren einer in seinem Persönlichkeitsgefühl des Beitrags der Lust am wenigsten entraten kann, während der andere einen Einschlag des Lebensgefühls, des Unsterblichkeitsgedankens in erster Linie fordert. Daraus entstehen modifizierte Apperzeptionsweisen, die ein gegensätzliches Denken im Sinne von »Lust – Unlust«, von »Leben – Tod« bedingen. Die einen können die Lust nicht, die andern das Leben nicht entwerten. Im Gedanken der Zeugung, die wieder gegensätzlich nach dem Schema »Männlich – Weiblich« gedacht wird, nähern sich diese beiden Typen und suchen ihren Ausdruck in der Richtung des »männlichen Protests«. Soweit nervöse Menschen dabei in Betracht kommen, hat der eine Typus die Unlustgefühle seiner Organminderwertigkeit zu kompensieren gesucht, der andere ist in der Furcht vor dem Tode, vor frühem Sterben aufgewachsen. Ihre Anschauung der Welt liefert ihnen nur Bruchstücke, ihre Seele ist partiell farbenblind, dabei aber oft scharfsichtiger, wie die Daltonisten in ihrem FarbenverständnisK. Wir schließen diese kritische Betrachtung mit dem Hinweis auf den unbedingten Primat des Willens zur MachtK, einer leitenden Fiktion, die umso heftiger einsetzt und umso frühzeitiger, oft überstürzt ausgebildet wird, je schärfer das Minderwertigkeitsgefühl des organisch minderwertigen Kindes in den Vordergrund tritt. Das Persönlichkeitsideal ist als Richtungspunkt von der Sicherungstendenz geschaffen und trägt alle Leistungen und Gaben fiktiv in sich, um die sich das disponierte Kind verkürzt glaubt. Diese der Norm gegenüber verstärkte Fiktion regelt das Gedächtnis sowie Charakterzüge und Bereitschaften in ihrem Sinne. Die neurotische Apperzeption erfolgt nach einem bildlichen, mit starken Gegensätzen arbeitenden Schema, die Gruppierung der Eindrücke und Empfindungen geschieht mit entsprechend gefälschten und erdichteten Werten81. Es liegt in dem Wesen der neurotischen Fiktion, des gesteigerten Persönlichkeitsideals82, dass man sie bald als »abstrakten Mechanismus«, bald als »konkretes Bild«, als Fantasie, als Idee zu Gesichte bekommt. Man darf im ersteren Falle das Symbolische der Darstellung und ihren Zusammenhang mit kompensierten Minderwertigkeitsgefühlen nicht übersehen, und man muss im zweiten Falle den maßgebenden Anteil der psychischen Dynamik, die nach »oben« drängt, vor allem erfassen.* So[39]lange in der Analyse einer psychoge*
Von neueren Autoren, die diesem Gesichtspunkt Rechnung tragen, muss ich in erster Linie H. SilbererK nennen.
81 Erg.: das Streben geht immer nach einer idealen Parität 1922 82 Persönlichkeitsideals ] hervorgehoben 1922
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III. Kapitel: Die verstärkte Fiktion als leitende Idee in der Neurose
Persönlichkeitsideal als Ziel Gefühl des Obenseins
Gefühl
der Männlichkeit
Lust Sieg Wissen Reichtum Kunst Reinheit Leben Ansehen
Kom enz pensato rische Sicherungstend
Gefühl der Herabgesetztheit
Gefühl der Unsicherh eit
Kränklichkeit, Todesgefahr
Unreinlichkeit aller Art
Qualifizierte Schwächegefühle der Sinnesorgane und Sprachwerkzeuge
Entbehrungsgefühl
Gefühl der Unwissenheit, Unorientiertheit
Furcht vor Erniedrigung
Unlustgefühle
ns Gefühle des Untensei
Infantile Minderwertigkeitsgefühle Gefühl der Weiblichkeit
nen Erkrankung dieser leitende Zug nach »oben« nicht zur Ansicht kommt, ist uns das Wesen der Krankheit noch unklar; denn so wertvoll auch die Einblicke der Psychotherapeuten geworden sind, ohne die Beziehung der sekundären Leitlinien der Lustgewinnung, der Selbsterhaltung, der Affektivität (Bleuler K) und derer, die sonst aus der Organminderwertigkeit (Adler) erwachsen, auf das Persönlichkeitsideal ist unsere Einsicht unvollkommen, »fehlt leider nur das geistige Band«K. Es ist auch nicht verwunderlich, dass dem leitenden Persönlichkeitsideal in verschiedenen Fällen verschiedene, meist mehrere dieser Einschläge zugleich zukommen, da sich diese aus verschiedenen, gewöhnlich mehrfachen Organminderwertigkeiten ableiten. Ein vorläufiges, sicherlich unvollkommenes Schema,83 das der abstrakteren Psyche der Nervösen mehr entspricht als dem Aufbau der gesunden Seele, wäre das obige. In diesem Schema müssen die mannigfachsten Verbindungen gedacht werden, wenn es seinem Zweck entsprechen soll, als ein zur oberflächlichen Orientierung beigebrachtes Abbild zu gelten. Wir wollen anstatt dieser Verbin-
83 Erg.: dem die Korrekturen des Gemeinschaftsgefühles noch fehlen 1922
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dungen und vielfacher Eintragungen einige markante Phänomene84 besprechen, die für das Verständnis der Neurose und des neurotischen Charakters wichtig erscheinen. [40] Jede der abstrakten Leitlinien der Neurose und der ihnen zugrunde liegende psychische Mechanismus kann dem Bewusstsein in einem Erinnerungsbild zugänglich sein oder zugänglich gemacht werden. Dieses Bild kann aus dem Rest eines kindlichen Erlebnisses stammen, oder es ist ein Produkt der Fantasie, einer Erscheinungsform der Sicherungstendenz. Es kann ein Symbol, gleichsam eine Etikette für eine Reaktionsweise vorstellen und wird zuweilen in einer späteren Zeit erst gebildet oder umgebildet, oft wenn die Neurose bereits entwickelt ist. Offenbar der Effekt einer Art von DenkökonomieK, nach dem Prinzip des geringsten Kraftausmaßes (Avenarius) gefertigt, ist es nie als Inhalt bedeutsam, sondern bloß als abstraktes Schema oder als Rest eines psychischen Geschehens, in dem sich ein Schicksal des Willens zur Macht einstmals erfüllte. Nie ist diese schematische Fiktion, mag sie sich noch so konkret gebärden, anders als allegorisch aufzufassen. In ihr spiegelt sich ein realer Bestandteil der Erlebnisse samt einer »Moral», und beide werden behufs Sicherheit des Handelns von der Erinnerung festgehalten, sei es als Memento, um die Leitlinie besser zu halten, sei es als Vorurteil, um nicht von ihr abzuweichen85. Keines dieser Erinnerungsbilder 86 hat je pathogen gewirkt, als psychisches Trauma etwa, sondern erst wenn die Neurose entsteht, wenn das Gefühl starker Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls zum männlichen Protest führt und damit zum engeren Anschluss an die längst gebildeten kompensatorischen Leitlinien,87 werden diese88 Erinnerungsbilder aus längst vergangenem Material hervorgeholt und kommen wegen ihrer Verwendbarkeit, das neurotische Verhalten teils zu ermöglichen, teils zu interpretieren,89 zur Geltung. Hierher gehören vor allem Schmerz-, Angst- und Affektbereitschaften, denen derartige Erinnerungen zugrunde liegen, die sich halluzinatorisch erfüllen können90 und optischen wie akustischen Halluzinationen gleichzusetzen sind. Begreiflicherweise werden es meist typische Erinnerungen sein, die der Leitlinie möglichst verwandt und nahegerückt sind, weil sie für den an der Leitlinie haftenden Neurotiker die kleinen und großen Umwege repräsentieren oder anregen, die er einzuschlagen hat, um sein Persönlichkeitsge84 85 86 87 88 89 90
Erg.: und ihre Verschleierung durch das Gemeinschaftsgefühl 1922 Erg.: oder weil sie am Wege lagen 1919 Keines dieser Erinnerungsbilder ] Änd.: Keine dieser Kinderfantasien 1922 Erg.: die sich schon in dieser Erinnerung zeigen 1922 diese ] Änd.: die geeigneten 1922 Erg.: also wegen ihrer Verwandtschaft 1922 die sich bis können ] hervorgehoben 1922
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fühl höher zu bringen.91 Die neurotische Psyche charakterisiert sich bloß durch stärkeres Haften an der Leitlinie92. Die Widersprüche mit der Realität erst, die daraus erwachsenden Konflikte und die Nötigung, soziale Geltung und Macht zu erlangen, fördern die Symptome zutage. Noch deutlicher wird dies in der Psychose, wo die Leitlinie haarscharf hervortritt, und wo nur, sozusagen des Beweises wegen93, Umdeutungen der Wirklichkeit vorgenommen werden und Demonstrationen erfolgen. In beiden Fällen benimmt sich der Kranke so, als ob er den Endzweck stets vor Augen hätte. Im Falle der Neurose übertreibt und bekämpft er die realen Hindernisse der Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls oder umgeht sie nach94 Schaffung von Vorwänden. Der fest an seine Idee (fixe Idee) geheftete Psychotiker versucht zugunsten seines irrealen Standpunktes die Wirklichkeit zu verändern oder zu übersehen. Der um die Aufdeckung der Symbolik in der Neurose und Psychose hochverdiente Forscher Freud hat auf die Fülle der Symbole aufmerksam gemacht. Leider ist er bloß bis zur Aufdeckung der in ihnen vorhandenen oder möglichen Sexualformel gelangt95 und hat ihre weitere96 Auflösung in das dynamische Geschehen des [41] männlichen Protestes, der Sucht nach oben, nicht verfolgt. So kam es, dass sich für ihn der Sinn der Neurose in der Verwandlung libidinöser Regungen erschöpfte, während in Wirklichkeit der Schein oder der Zwang der männlichen97 Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls hinter der Symbolik zu finden ist. Wir haben dieses98 leitende Persönlichkeitsideal als Fiktion beschrieben, somit ihren Realitätswert geleugnet, müssen aber dennoch behaupten, dass es, obwohl unreal, dennoch für den Prozess des Lebens und der psychischen Entwicklung von größter Bedeutung ist. Über diesen scheinbaren Widerspruch hat sich VaihingerK in seiner »Philosophie des Als Ob« in glänzendster Weise auseinandergesetzt und hat die Fiktion als Widerspruch gegen die Realität, aber als unentbehrlich in der Entwicklung der Wissenschaften erkannt. In der Neurosenpsychologie habe ich zuerst auf diesen sonderbaren Zusammenhang
91 Anm.: Die Individualpsychologie legt deshalb großen Wert auf das Verständnis ältester Kindheitserinnerungen und hat nachgewiesen, dass sie verräterische Zeichen aus der Zeit des Aufbaus des Lebensstils vorstellen. 1928 92 Erg.: durch stärkere Einfühlung in dieselbe 1922 93 des Beweises wegen ] Änd.: wegen des Beweises der Unfähigkeit 1919 Änd.: zum Beweise der eigenen Unfähigkeit 1922 94 nach ] Änd.: unter 1922 95 Erg.: oder bis zu deren Insinuation 1922 96 weitere ] Änd.: wichtigere 1922 97 männlichen ] Ausl. 1928 98 dieses ] Änd.: das 1922
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hingewiesen und wurde durch Vaihingers Arbeit namhaft gefördert und in meiner Auffassung gestärkt. So bin ich derzeit imstande, von der Fiktion des Persönlichkeitsgefühls noch einiges hervorzuheben, was ihr Wesen und ihre Bedeutung ebenso wie ihre Erscheinungsform in der Psyche in helleres Licht rückt. Vor allem ist sie Abstraktion und muss an sich schon als Andeutung einer Antizipation gelten. Sie ist sozusagen der Marschallstab im Tornister des kleinen Soldaten*, und somit eine Abschlagszahlung, welche durch das primitive Gefühl der Unsicherheit erfordert wird. Die Bildung der Fiktion erfolgt unter Beseitigung störender Minderwertigkeiten und hemmender Realitäten in der Idee, wie es jedes Mal geschieht, wenn die Psyche in ihrer Bedrängnis einen Ausweg und Sicherheit sucht. Die peinlich empfundene Unsicherheit wird auf ihr kleinstes aber ursächlich scheinendes Maß reduziert und dieses in sein krasses Gegenteil, in seinen Gegensatz verkehrt, das wieder99 als fiktives Ziel zum Leitpunkt aller Wünsche, Fantasien und Bestrebungen gemacht wird. Dann kann100 dieses Ziel der Anschaulichkeit halber konkretisiert werden. Die reale Entbehrung, etwa Nahrungseinschränkung in der Kindheit, wird als abstraktes »Nichts«, als Mangel empfunden, demgegenüber das Kind nach »Allem«, nach Überfluss verlangt, bis es sich dieses Ziel in der Person des Vaters, in der Gestalt eines sagenhaften Reichen, eines mächtigen Kaisers begrifflich näherbringt. Je intensiver101 der Mangel empfunden wurde, desto stärker und höher wird das fiktive, abstrakte Ideal eingesetzt, und von ihm aus beginnt die Formung und Gliederung der gegebenen psychischen Kräfte zu vorbereitenden Stellungen, Bereitschaften und Charakterzügen. Die Person trägt dann die durch ihr fiktives Ziel geforderten Charakterzüge, so wie die Charaktermaske – persona – des antiken Schauspielers zum Finale der Tragödie passen musste. – Regt sich bei einem Knaben der Zweifel an seiner Männlichkeit, wie jedes konstitutionell minderwertige Kind sich den Mädchen verwandt fühlt, so wählt er sein Ziel in einer Art, die ihm die Herrschaft über alle [42] Frauen (meistens auch über alle Männer) verspricht. Dadurch wird frühzeitig seine Haltung zu den Frauen bestimmt. Er wird stets Neigung zeigen, seine Überlegenheit über die Frau durchzusetzen, wird das weibliche *
Für Psychologen von scharfer Witterung merke ich hier an, dass die Häufung von Vergleichen, die aus dem Militärleben genommen sind, von mir mit bewusster Absicht vorgenommen wurde. Bei der Heereserziehung ist Ausgangspunkt und fiktiver Zweck nur näher zusammengerückt, leichter zu überschauen, und jede Bewegung des übenden Soldaten wird zur Bereitschaft, um ein primäres Schwächegefühl in das Gefühl der Überlegenheit umzuwandeln.
99 wieder ] Ausl. 1922 100 kann ] Änd.: muss 1928 101 Erg.: und länger 1922
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Geschlecht entwerten und erniedrigen, wird – bildlich gesprochen – die Hand auf die Mutter legen, was sich bei neurotisch disponierten Kindern oft auch in einer Geste oder in ihrer psychischen Attitüde zeigt, und wird in spielerischer Weise von der Mutter das Abbild nehmen, um sich diesem gegenüber in die männliche Rolle einzufühlen. Es ist schon ein neurotischer Zug102, wenn derartige kindliche Bereitschaftsstellungen erstarren, wenn ein pedantisches, prinzipielles Verhalten deutlich wird, und wenn die gereizte Herrschsucht des Kindes nach ähnlichem Entgegenkommen sucht, nach der gleichen Sicherheit seines Persönlichkeitsgefühls, die es bei der Mutter gefunden hat. Nur von dieser neurotischen Starre des Unsicheren gilt NietzschesK Behauptung, dass »jedermann ein Bildnis des Weibes von der Mutter her in sich trägt, von dem er bestimmt wird, die Frau überhaupt zu verehren oder sie gering zu schätzen oder gegen sie im Allgemeinen gleichgültig zu sein«. Doch müssen wir zugeben, dass diese in der Mehrheit sind103. Unter ihnen sind viele, die sogar von der Mutter verschmäht wurden, seither jeder Frau gegenüber die gleiche Herabsetzung befürchten oder ein Übermaß von Hingabe verlangen.104 Es gibt im Leben und in der Entwicklung des Menschen nichts, was mit solcher Heimlichkeit ins Werk gesetzt wird wie die Errichtung des Persönlichkeitsideals. Wenn wir nach der Ursache dieser Heimlichkeit fragen, so scheint der wichtigste Grund in dem kämpferischen, um nicht zu sagen feindseligen Charakter dieser Fiktion gelegen zu sein. Unter fortwährendem Abmessen und Abwägen der Vorzüge anderer ist sie entstanden und muss demnach – nach dem ihr zugrunde liegenden Prinzip des Gegensatzes – den Nachteil der anderen bezwecken. Die psychologische Analyse des Nervösen ergibt stets die Anwesenheit der Entwertungstendenz105, die sich summarisch gegen alle richtet. Die kämpferischen Neigungen* treten in der Habsucht, im Neid, in der Sehnsucht nach Überlegenheit regelmäßig hervor. – Aber die Fiktion der Überwältigung anderer kann nur benützt werden, in Rechnung kommen, wenn sie die Anknüpfung von Beziehungen nicht von vorneherein stört. Und so muss sie frühzeitig unkenntlich gemacht werden, sich maskieren, da sie sich sonst selbst aufhebt. *
Siehe »Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose«K, l. c.106
102 Es ist bis Zug ] hervorgehoben 1928 103 diese in der Mehrheit sind ] Änd.: dieser Typus in der Mehrheit ist 1922 104 Erg.: Was Freud als »Inzestkomplex« zusammenträgt, ist Kunstprodukt. Das Auftreten wirklicher inzestuöser Regungen hängt mit neurotischer Gesellschaftsscheu zusammen, ist ein äußerster Versuch, die menschliche Gesellschaft zu sprengen, die um ihretwillen [Änd.: ihrer selbst willen 1928] auf Inzest den Bann gelegt hat, ebenso wie auf Masturbation. 1919 105 Entwertungstendenz ] hervorgehoben 1922 106 l. c. ] Änd.: in »Heilen und Bilden«, l. c. 1919
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Diese Verschleierung geschieht durch Aufstellung einer Gegenfiktion, die vor allem das sichtbare Handeln leitet, unter deren Gewicht aber die Annäherung an die Realität und die Anerkennung ihrer wirksamen Kräfte vollzogen wird. Diese Gegenfiktion, stets gegenwärtige korrigierende Instanzen107 108, bewerkstelligt den Formenwandel der leitenden Fiktion, indem sie ihr Rücksichten aufzwingt, soziale, ethische Zukunftsforderungen mit ihrem realen Gewicht in Anschlag bringt und so die Vernünftigkeit109 des Denkens und Handelns sichert. Sie ist der110 Sicherungskoeffizient der Leitlinie zur Macht, und die Harmonie beider Fiktionen, ihre gegenseitige Verträglichkeit sind das Zeichen psychischer Gesundheit. In der Gegenfiktion sind die Erfahrungen und Belehrungen, die sozialen und kulturellen Formeln, die Traditionen der Gesellschaft wirksam. In Zeiten der Gehobenheit, der Sicherheit, der [43] Norm, des Friedens ist sie die formgebende Kraft, die eine Sperrung der Kampf- und Affektbereitschaften111 bewirkt und eine Angleichung der Charakterzüge an das Milieu. Steigt die Unsicherheit und taucht das Gefühl der Minderwertigkeit auf, dann wird unter steigender Abstraktion von der Realität diese Gegenfiktion entwertet, die Bereitschaften werden mobilisiert, der nervöse, prinzipielle Charakter tritt hervor und mit ihm das übertriebene gesteigerte Persönlichkeitsideal112. Es gehört mit zu den Triumphen des menschlichen Witzes, in Anpassung an die Gegenfiktion113 der leitenden Idee114 zum Durchbruch zu verhelfen, durch Bescheidenheit zu glänzen, durch Demut und Unterwerfung zu siegen, durch die eigene Tugend andere zu demütigen, durch eigene Passivität andere anzugreifen, durch eigenes Leid anderen Schmerzen zuzufügen, mit weiblichen Mitteln ein männliches Ziel zu verfolgen, sich klein zu machen, um groß zu erscheinen115. Solcher Art aber sind oft116 die Kunstgriffe der Neurotiker. Über die Bedeutung der ursprünglichsten Wahrnehmung und Empfindung117 als einer Abstraktion brauche ich keine Worte zu verlieren. Ebenso abstrakt ist die Setzung eines fiktiven Leitpunktes und des nun zwischen diesen zwei Punkten ausgesponnenen Lebensplanes. Wir haben bezüglich der nervösen Psyche 107 108 109 110 111 112 113 114 115
Erg.: des Gemeinschaftsgefühls 1919 stets gegenwärtige bis Gemeinschaftsgefühls ] hervorgehoben 1922 Erg.: das heißt: Allgemeingültigkeit 1922 der ] Änd.: ein 1922 Affektbereitschaften ] Änd.: Affektbereitschaft 1928 Persönlichkeitsideal ] Änd.: Persönlichkeitsgefühl 1919 Erg.: des Gemeinschaftsgefühls 1919 Idee ] Änd.: Machtidee 1919 Erg.: unter Berufung auf das Gemeinschaftsgefühl den eigenen Vorteil zu sichern 1928 116 oft ] Ausl. 1922 117 Erg.: der Minderwertigkeit und Unsicherheit 1928
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öfters hervorgehoben, dass die größere Unsicherheit allein dazu zwingt, den Leitpunkt118 noch mehr der Realität zu entziehen, ihn höher anzubringen119. Dazu kommt noch, dass die minderwertigen Sinnesorgane qualitativ und quantitativ veränderte Empfindungen, die ausführenden Erfolgsorgane veränderte Technizismen, meist im Sinne einer Einschränkung, aufweisen, sodass sich die Selbsteinschätzung, das ideelle Leitbild, das Weltbild und der Lebensplan gegenüber der Norm in der Richtung vermehrter Abstraktion, vermehrten Verzichts auf Identität mit der Realität gestalten müssen. Dabei kann die Kompensation und Überkompensation freilich das Weltbild gelegentlich der Wirklichkeitslinie näherbringen, wie bei den großen Leistungen der nervösen120 Psyche.121 Das überspannte Persönlichkeitsideal aber, das in starker Fixierung, in die Nähe einer Gottähnlichkeit gerückt, dem Wesen und Verhalten der Neurotiker und Psychotiker so oft einen leicht oder ausgesprochenen hypomanischen Zug verleiht, wenn nicht die Vorbereitung dazu, die Kleinheits-, die Verfolgungsideen noch den Ausschlag geben, verursacht durch eine Art innerer Gewissheit, ohne welche die Aufstellung des Zielpunktes unmöglich wäre, ein Prädestinationsgefühl. In den Phasen größerer Unsicherheit wird dieses namhaft verstärkt, und seine Bedeutung als Antizipation der leitenden Fiktion, als Abschlagszahlung tritt deutlich hervor. Den wertvollen Anteil dieser Kompensations- und Sicherungsleistung schildert Gustav FreytagK in den »Erinnerungen aus meinem Leben« folgendermaßen: »Aber auch die Treffer an der Scheibe wurden mir nicht leicht. Denn zu Oels hatte ich beim Unterricht bemerkt, dass ich sehr kurzsichtig war. Als ich das in den Ferien dem Vater klagte, riet er mir, mich doch ohne Brille durch die Welt zu schlagen, und erzählte mir von der Hilflosigkeit eines Theologen, der ihn einst am Morgen aus dem Bett angefleht hatte, ihm seine Brille zu suchen, damit er die Beinkleider finden könne. – Dem Rat blieb ich folgsam, ich habe nur im Theater und vor Bildern die Gläser gebraucht. Die Beschwerden, [44] welche dieser Mangel in Gesellschaft bereitete, suchte ich zu überwinden und ging arglos an manchem vorüber, was einen schärferen Beobachter beunruhigen konnte. – Die Freude an Blütenpracht und dem Schmuck der Kleider, an merkwürdigen Gesichtern und Frauenschönheit, den strahlenden Blick, den holden Gruß aus der Ferne musste ich oft entbehren, während andere sich daran freuten. Aber da die Seele sich behend in Mängel der Sinne ein118 119 120 121
Leitpunkt ] Änd.: Zielpunkt 1919 Erg.: stärkere Beweise der Voll- und Überwertigkeit zu fordern 1928 nervösen ] Änd.: künstlerischen 1919 Anm.: Siehe Robert FreschlK, »Zur Psychologie des Künstlers«, in »Der Friede«, Wien, 26. Juli 1918. 1919 26. Juli 1918 ] Änd.: 1918 1928
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richtet, so entwickelte sich schon früh in mir ein gutes Verständnis solcher Lebensäußerungen, die in meine Sehweite kamen, und ein schnelles Ahnen von Vielem,122 was mir nicht deutlich wurde; die geringere Zahl der Anschauungen gestattete, die empfangenen ruhiger und vielleicht inniger zu verarbeiten. Jedenfalls war der Verlust größer als der Gewinn. Darin aber hatte der Vater recht, meine Augen bewahrten durch das ganze Leben unverändert den scharfen Blick in der Nähe.« Denkt man sich die Entwicklung einer derartigen visuellen Fantasie, die immerhin schon bedeutend von der Wirklichkeit abstrahiert, unter dem Druck der Sicherungstendenz aufgestachelt, so ergibt sich zum gleichen Zweck der Sicherung wie im obigen Beispiel die Ausbildung einer visuell-halluzinatorischen Fähigkeit, die sich, wenn es sich um die Aufstellung eines sichernden Mementos oder eines beruhigenden Selbstzuspruchs handelt, auch außerhalb des Traumzustandes geltend machen kann. Die Abstraktion, aber auch die Antizipation ist dann noch weiter vorgeschritten und kann bei »Telepathen«123 oder Kassandranaturen zu den bekannten auffallenden pathologischen Äußerungen führen. Einen ungeheuren Ansporn zu diesem Hinausgreifen über die den Menschen gesteckten Grenzen bietet, wie immer, das peinigende Minderwertigkeitsgefühl, das, auf die Schwäche bezogen, den anderen die größere Fähigkeit des Sehens bis zu dem Grade zumutet, als ob diese etwa Verborgenes sehen, das Innere erforschen könnten. Die Sicherungstendenz des Kindes mit seinen Heimlichkeiten kann frühzeitig gerade diesen Punkt zur eigenen Sicherung aufgreifen und unter der fiktiven Annahme handeln, als ob andere ihm »bis ins Herz« sehen, seine innersten Gedanken erraten könnten, eine Annahme, die als Kunstgriff in der Neurose und Psychose öfters auftritt und gerade so viel wert ist, als etwa vergröberte Schuldgefühle und eine neurotische Gewissenhaftigkeit, und dazu bestimmt ist124, einer drohenden Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls, der Schande, der Strafe, dem Spotte*, der Erniedrigung, der weiblichen Rolle, dem Tode125 vorzubeugen126. Die stärkere Fähigkeit des Nervösen zur Abstraktion127 und Antizipation liegt nicht bloß seinem halluzinatorischen Charakter, seiner Symptombildung, * 122 123 124 125 126
Über neurotische DispositionK l. c.128
Erg.: Ist dies nicht einer der Wege zum Künstlertum? 1928 »Telepathen« ] Änd.: Spiritisten 1922 und dazu bestimmt ist ] Änd.: dazu bestimmt 1922 dem Tode ] Ausl. 1919 Erg.: und dies so weit, dass dabei alle Aktionstätigkeit verloren geht 1919 [Änd.: verloren gehen kann 1922] 127 Erg.: Einfühlung 1922 128 Über neurotische Disposition ] Änd.: in »Heilen und Bilden« l. c. 1919 Änd.: Siehe
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seinen Fantasien und seinen Träumen zugrunde, sondern auch den scheinbaren Überspannungen von Organfunktionen, die er durch tendenziöse Überwertung zu Kampfbereitschaften ausgestaltet. So129 gewinnt die Neurose Raum durch abstrakteres Voraussehen und Vorausdenken, formt aus ihnen die regelmäßig vorzufindende neurotische Vorsicht, mittelst deren der Patient prinzipiell und in scharf gegensätzlicher Gruppierung nach dem Schema: »Triumph – Niederlage« die130 Möglichkeiten des Erlebens dauernd in Evidenz hält. Oder er setzt durch Steigerung seiner Organempfindlichkeiten, einer Vorstufe der Halluzinationen, durch Emp[45]findlichkeit gegen Gerüche, Geräusche, Berührungen, Temperaturen, durch Geschmacks- und Schmerzempfindlichkeit131 seine Umgebung in Bann und bringt stets auch seine Unternehmungen dadurch in Einklang mit seiner fiktiven männlichen Leitlinie132. Torheiten und Aberglauben, arrangierte Überzeugungen von einem unheilvollen Fatum, der festwurzelnde Glaube an das eigene Pech dienen der gleichen Sicherungstendenz, die sich den Beweis konstruiert,133 dass Vorsicht nötig sei. In derselben Richtung wirkt die halluzinatorische Erweckung der Angst, von der der Nervöse einen ausgiebigen Gebrauch134 macht. Dass die Charakterzüge ebenso wie die Affektbereitschaften im Dienste der leitenden Fiktion stehen, dafür sucht dieses Buch in weitestem Ausmaße Beweise zu erbringen. Die steil aufwärts führende Leitlinie des Nervösen erzwingt eben besondere Mittel und Lebensformen, die unter dem wenig einheitlichen Begriff des neurotischen Symptoms zusammengefasst werden. Bald finden wir unter ihnen Sicherungen an entfernten Orten,135 Sperrvorrichtungen und Deckungsgefechte, die den zentralen Impuls, den Willen zur Macht siegreich gestalten sollen136, dann wieder sind es – oft schwer verständliche – Umwege, Schleichwegen vergleichbar, um die Leitlinie nicht zu verlieren, wenn der gradlinige Weg zum männlichen Triumph verlegt ist137. Oft findet man einen Wechsel von nervösen Erscheinungen, die einem Ausproben gleichen, bis das schwerere Symptom den Einklang mit der leitenden Idee verbürgt.
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»Über neurotische Disposition« und »Die Lehre von der Organminderwertigkeit in der Philosophie und Psychologie« in »Heilen und Bilden« l. c. 1922 So ] Änd.: Auch 1919 die ] Änd.: alle 1922 Erg.: durch Ekel 1919 Erg.: dass er mit anderem Maß gemessen sein will 1922 Erg.: dass die Persönlichkeit unverantwortlich und 1928 Erg.: als Waffe und Sicherung 1919 Erg.: die das neurotische Bezugssystem exakt in Bewegung setzen, unverständliche 1922 sollen ] Ausl. 1922 ist ] Änd.: scheint 1919
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Auch diese Erscheinungen und ihre Psychogenese glaube ich in vorliegender Arbeit im Zusammenhange und in genügender Breite dargestellt zu haben. Sie fußen allesamt auf lange geübten und vorbereiteten Fähigkeiten, deren Überwertigkeit durch das Mittel der neurotischen Apperzeption gestützt wird und durch ihre138 Eignung für den Kampf um das ideelle Persönlichkeitsgefühl begründet ist. Die Vorbereitungen selbst fallen in den Beginn der Neurose, begleiten den Aufbau der Persönlichkeitsidee und passen sich ihm139 an. Sie lassen sich am klarsten in den aufbewahrten Kindheitserinnerungen, in den oft wiederkehrenden Träumen, in der Mimik und im Habitus, im Spiel der Kinder und in ihren Fantasien über künftige Berufe, über die Zukunft erkennen. Es liegt im Wesen einer hoch angesetzten Leitidee, dass sie ihren Träger, den Nervösen, der Wirklichkeit entfremdet. Nicht selten macht sich dieser Zustand in einem »Fremdheitsgefühl« geltend, das aber wieder überwertet und tendenziös verwendet wird, um in einer unsicheren Situation einen vorsichtigen Rückzug zu empfehlen. Diesem »Zurück!« scheinbar entgegengesetzt, tritt zuweilen das unberechtigte Gefühl der Vertrautheit mit einer Situation, das Gefühl des »déjà vu«K hervor, oft um im Bilde einer versteckten Analogie zu warnen oder zu ermutigen*. Bei neurotischen Schülern habe ich zuweilen beobachten können, wie sie sich unter dem Gefühl ihrer Prädestination in einer gänzlich unbekannten Frage zu Worte meldeten und gänzlich140 versagten. Solche Erlebnisse können dem Neurotiker sein etwa auftauchendes, unterstrichenes Gefühl der »Vertrautheit« als höchst suspekt, wie wenn ihm dauernd ein saurer Nachgeschmack verblieben wäre, empfinden lassen. [46] Die Sicherung durch die übertriebene Persönlichkeitsidee und das Haften an ihr bedingen oft auch das Gefühl oder sogar die Tatsache einer gewissen Weltfremdheit, die freilich meist tendenziös übertrieben wird. Furcht vor allem Neuen, Schwerbeweglichkeit, Ungeschicklichkeit, Schüchternheit141 begleiten den der Wirklichkeit142 abholden Neurotiker und zeigen immer sein Bestreben, die Realität umzudeuten, umzudichten, umzukonstruieren143. Auch dieser Mangel sucht seine Kompensation und findet sie in leichteren Fällen in der *
Fremdheitsgefühl und Gefühl der Vertrautheit in der Neurose sind analog den Spiegelungen der Warnung und des Zuspruchs einer inneren Stimme im Traum, in der Halluzination , in der Attitüde und in der Psychose.144
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durch ihre ] Änd.: in ihrer 1922 ihm ] Änd.: ihr 1922 gänzlich ] Änd.: völlig 1922 Erg.: und Verschlossenheit 1922 Erg.: und der Gesellschaft 1928 Erg.: und als [Erg.: feindselig und 1922] nichtig zu empfinden zugleich den Mangel seines Gemeinschaftsgefühls 1928
1919 Erg.: zeigen
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zur Realität leitenden Gegenfiktion, die wieder in abstrakter, meist aufdringlicher Form die Bedeutung der Realität zu überschätzen sucht, um aus übertriebener Furcht vor dem Irrtum und vor Niederlagen für alle Fälle Bereitschaften herzustellen. Das Schwanken zwischen Ideal und Wirklichkeit kommt in der neurotischen Psyche übertrieben zum Ausdruck, wobei die Zweifelsucht als Paradigma145, 146 das Suchen nach der »einzigen Wahrheit« vorbereitet, nach dem männlichen147 Endzweck des Neurotikers. Oder es werden die äußeren Formen pedantisch wie ein Fetisch festgehalten und überschätzt, als ob sie Sicherheit verbürgten. Aus Hebbels Briefen* scheint mir folgende Stelle diesen Zug anzudeuten: »Man kann äußere Formen, die man in der Jugend so leichtsinnig bespöttelt, nie genug verehren, denn sie sind in der regellosen, rastlos bewegten Welt die einzigen Hilfslinien für die notwendige Unterscheidung.« – Im Kleinen wie im Großen, immer zeigt sich die Sehnsucht, Sicherheit zu gewinnen; und immer sucht sie der Mensch nach Analogien und auf abstrakten, prinzipiellen Wegen. Die Häufigkeit des Befundes von sexuellen Leitlinien148 in der Neurose erklärt sich bei unbefangener Analyse aus folgenden Gründen: 1. weil sie eine geeignete Ausdrucksform des männlichen Protestes abgeben können, 2. weil es in der Willkür des Patienten liegt, sie als real zu empfinden.149 Die Eignung der sexuellen fiktiven Leitlinie beruht demnach gleichfalls in ihrem Wert für die Sicherung des Persönlichkeitsgefühls, haftet an ihrer *
R. M. Werner, Aus HebbelsK Frühzeit, Österreichische Rundschau 1911.
144 Erg.: Ersteres weist demonstrativ darauf hin, dass der Patient auf Erden nicht heimisch geworden ist, dass er sich schon nahezu als höheres Wesen fühlt, dem das Leben nichts bietet. Angrenzend sind ähnliche, auch dem Hochmut entstammende Allgemeingefühle wie: sich wie im Traum befinden, wie benommen sein, anders zu sein usw. – Die Verwandtschaft dieses Zustandsbildes mit der »Abschließung«, mit dem Dämmerzustand, mit Delirien, aber auch mit der Ekstase ist nicht zu verkennen. Diese Fähigkeit sich der Einfügung zu entreißen, der »Depersonalisation«K (Janet?), hängt mit der nahezu völligen Drosselung des Gemeinschaftsgefühls zusammen. Die Hoffart übernimmt die fast ausschließliche Leitung. Dabei geht die Logik, Schöpfung und Band der Massenseele [Menschenseele 1928], verloren. 1928 145 Erg.: einer Bremsvorrichtung 1919 146 Zweifelsucht bis Bremsvorrichtung ] hervorgehoben 1922 147 männlichen ] Ausl. 1928 148 Erg.: mehr noch ihre Vordringlichkeit 1922 149 Erg.: 3. weil sich der Neurotiker, gemäß dem Laufe der Dinge, durch sie einer »Unterwerfung« unter die Liebe zu entziehen vermag und so [Änd.: dort 1922] die Gemeinschaft heimlich zu sprengen unternimmt 1919 Erg.: Um im Bogen ausweichen zu können, erfüllt er sich mit störendem sexuellen Material. 1922
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Bedeutung als Abstraktion und an ihrer halluzinatorischen Erregbarkeit, an ihrer Fähigkeit, sich leicht zu konkretisieren und Antizipationen zuzulassen. Der halluzinatorische Charakter der Nervösen ist demnach ein besonderer Fall des Sicherungsmechanismus. Er bedient sich, wie auch das Denken150, die Sprache, der primitiven, auf das kleinste dynamische Maß reduzierten Erinnerungen, zu denen er durch die abstrahierende Kraft der suchenden Sicherungstendenz geleitet wird. Seine Funktion und Aufgabe ist es, aus einfachen, kindlich gelegenen Erfahrungen durch Unterstreichung einer erlittenen Herabsetzung oder durch die tröstende Erinnerung an ein überstandenes Übel per analogiam den Weg zur Höhe zu berechnen. Die halluzinatorische Kraft stellt eine fertige Bereitschaft der angespannten Sicherungstendenz vor und entnimmt ihr Material, wie es die Funktion des Denkens und Vorausdenkens tut, dem ehernen Bestand des151 neurotisch gerichteten Gedächtnisses. Was von den Autoren die Regression152 im Traume und in den Halluzinationen genannt wird, ist der alltägliche Vorgang des auf Erfahrungen zurückgreifenden Denkens, kann bloß das [47] Material betreffen, nie aber die Dynamik des Traumes oder der Halluzination erklären. Die psychische Dynamik der Halluzination153 besteht also154 darin, dass in einer Situation der Unsicherheit mit Macht eine Richtungslinie gesucht und durch Abstraktion, per analogiam, mit den Schätzen der Erfahrung, durch Antizipation und durch die einer sinnlichen Wahrnehmung angenäherte fiktive Darstellung hypostasiert wird. Letztere Fähigkeit als wirksamstes Mittel des Ausdrucks kann durch die der Realität geneigte Gegenfiktion, wie155 der Traum156, als in bewusstem Gegensatz zur Wirklichkeit empfunden werden, oder die Sicherungstendenz löst die Gegenfiktion auf und lässt die Halluzination als real empfinden157. JodlK definiert die Kultur als »das unter bestimmten Umständen und besonderer Intensität gesteigerte Streben des Menschen, seine Persönlichkeit und sein Leben vor den feindlichen Mächten der Natur wie vor dem Antagonismus der übrigen Menschen zu sichern, seine Bedürfnisse, sowohl reale als ideale, in steigendem Maße zu befriedigen und sein Wesen ungehindert zur Entfaltung zu bringen«. Der Nervöse hält diese Leitlinie viel fester im Auge, kann 150 151 152 153 154 155 156 157
Erg.: und 1922 Erg.: hier 1922 Regression ] hervorgehoben 1922 Erg.: in der Neurose 1922 Anm.: Siehe »Über Halluzination«K in »Praxis und Theorie«, l. c. 1922 also ] Änd.: vielmehr 1919 Erg.: auch 1922 Erg.: und die Fantasie 1922 Erg.: wie z. B. in der Schizophrenie 1928
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aber je nach Bedarf die ins Transzendentale führende Leitlinie oder die zur Kultur geneigte Gegenfiktion schematischer und prinzipieller zum Ausdruck bringen, Letztere im Sinne eines neurotischen Umweges, etwa indem er sich dem »Antagonismus der übrigen Menschen«158 weitgehend zu unterwerfen scheint, damit aber über sie triumphiert159. Die Entwicklung dieses Strebens, sein Wesen ungehindert zur Entfaltung zu bringen, den Gipfelpunkt dessen zu erreichen, was etwa160 der Nervöse seine Kultur nennen könnte, führt uns wieder zu den schon erörterten interessanten und psychologisch bedeutsamen Vorbereitungen zurück, zu den tastenden Versuchen, welche die Kompensation des ursprünglichen Minderwertigkeitsgefühls einleiten sollen. Alle unfertigen, kindlichen Organe streben danach, mit allen ihren angeborenen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten zweckmäßige, sozusagen intelligente Bereitschaften auszubilden. Bei den Versuchen konstitutionell minderwertiger Organe mit ihren mannigfachen Fehlleistungen wächst infolge der größeren Spannung gegenüber den Anforderungen der Außenwelt der Eindruck der Unsicherheit, und die161 Selbsteinschätzung des Kindes bringt ein dauerndes Minderwertigkeitsgefühl zuwege. So kommt es, dass bereits in der frühkindlichen Zeit die Beherrschung der Situation nach einem mustergültigen Beispiel, meist über dieses Beispiel hinaus, zum Leitmotiv genommen wird, und162 ein dauernder Willensimpuls wird festgelegt,163 um einer leitenden Idee – dem Willen zur Macht – die dauernde Führung zu überweisen. Dies ist auch die Zwecksetzung in der neurotischen Psyche, die bewusst oder unbewusst der Formel entspricht: Ich muss so handeln, dass ich letzten Endes Herr der Situation bin. Längeres Verweilen des Kindes in der Phase des Minderwertigkeitsgefühls führt zur Steigerung und Verstärkung der Intensität jener Leitformel, sodass von der besonderen Intensität alles Strebens, der vorbereitenden Handlungen, der Bereitschaften, der Charakterzüge in irgendeiner Entwicklungsperiode auf ein ursprüngliches Minderwertigkeitsgefühl geschlossen werden darf. Auch an den der Norm nahestehenden Organen findet man die tastenden Versuche, wie sie die Bereitschaften zum Gehen164, Sehen, Essen, Hören ausgestalten. ExnerK hebt hervor, wie in [48] der Sprachentwicklung des Kindes diese tastenden Versuche dem Treffen der Lautkombinationen 158 Erg.: als Märtyrer 1922 159 Erg.: wie es etwa Tolstoi K in ein System gebracht hat 1922 Erg.: Auch der Masochist empfindet sich als Diktator, wenn er seine Wünsche dem andern aufzwingt. 1928 160 etwa ] Ausl. 1922 161 Erg.: niedrige 1922 162 und ] Ausl. 1922 163 Erg.: automatisiert 1928 164 Gehen ] Änd.: Geben 1928
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vorangehen. Viel krampfhafter165 gestalten sich die Vorbereitungen im Werdegang der minderwertigen Organe, deren Bereitschaften und Arbeitsweisen im günstigen Falle der Überkompensation künstlerische Leistungen und Fertigkeiten zutage fördern, oft aber wie in der Neurose aus der Behütung durch die Vorsicht kaum je herauswachsen. Auf dem durch die Sicherungstendenz gebotenen Weg sucht das Kind seine Fehler kennenzulernen, sie zu verbessern oder durch einen Kunstgriff aus ihnen Nutzen zu ziehen. Da es den wahren Grund seiner Minderwertigkeit nicht kennt, oft auch aus Stolz nicht kennen will, wird es leicht verleitet, äußere Ursachen namhaft zu machen, die »Tücke des Objekts«, zumeist die Angehörigen zu beschuldigen, – und bezieht damit eine aggressive, feindliche Stellung zur realen Außenwelt166. Meist bleibt ihm die Ahnung, die Erwartung böser Schicksale als abstrakter Rest seines Minderwertigkeitsgefühls, die es gerne übertreibt, oft zu Schuldgefühlen ausbaut, wenn die Situation es erlaubt, um sein Voraussehen, seine Vorsicht167 mit gutem Grund entfalten zu können. Das neurotische Bestreben führt letzter Linie dahin, die Grenzen der Persönlichkeit zu erweitern und zu sichern, indem fortwährend die eigenen Kräfte an den Schwierigkeiten der Außenwelt abgemessen und erprobt werden. Auf diese angestrengten Versuche lassen sich mancherlei Neigungen des Nervösen, sein Hang mit dem Feuer zu spielen, gefährliche Situationen zu schaffen und aufzusuchen, seine Lust am Grausamen und Teuflischen (Michel)168 zurückführen. Ebenso wie sadistische Regungen liegen die Neigungen zum Verbrechen an der männlichen Leitlinie169, scheitern aber oft an dem sich gestaltenden Widerspruch170 und werden nur mehr in der Erinnerung tendenziös übertrieben, um vor einer Ausführung zurückzuschrecken. Mit Vorliebe bedient sich die Nervosität der mangelhaften Organleistungen, der Kinderfehler, des Krankheitsgefühls überhaupt, einerseits um das Persönlichkeitsgefühl des Patienten – meist nach Art einer trotzigen Revolte – gegenüber den Forderungen elterlicher Autorität171 zu sichern, andererseits um – nach Art einer kunstvollen Obstruktion – Entscheidungen und Zusammenstöße, die der männlichen172 Fiktion gefahrvoll werden könnten, hinauszuschieben, gewisse Kampfpositionen aufzugeben, um wichtigere halten zu können. Ja, der Nervöse wird häufig kleine Niederlagen suchen, sie künst165 166 167 168 169 170 171 172
krampfhafter ] Änd.: krankhafter 1919 Erg.: ebenso wie die verzärtelten und gehassten Kinder 1928 Erg.: sein Haltmachen 1928 (Michel) ] Ausl. 1922 männlichen Leitlinie ] Änd.: Leitlinie zur Überlegenheit 1928 Erg.: zum Gemeinschaftsgefühl 1919 Erg.: später des Lebens 1922 männlichen ] Ausl. 1928
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lich sogar herbeiführen, oder gefahrvolle Ausblicke schaffen, um daraus die Berechtigung für sein neurotisches Handeln und seine Vorsicht abzuleiten. Bei neurotisch festgehaltenen Kinderfehlern darf man stets auf besonderen Trotz und starke Aggression gegen Vater oder Mutter gefasst sein. Zwangsmäßiges Suchen nach Verständnis der äußeren Schwierigkeiten, Versuche, sie zu bewältigen, zu beherrschen, zu bekämpfen, Geringschätzung und Entwertung des Lebens und seiner Freuden oder Flucht vor ihnen charakterisieren so die eine Seite der Neurose. Dabei kommt recht häufig zutage, dass der Patient vom Leben, von der Arbeit, von der Liebe und Ehe in glühendster Begeisterung, aber platonisch schwärmt,173 während er sich heimlich durch die Neurose den Zugang zu ihnen verrammelt, um auf begrenztem Terrain, in der Familie, beim Vater oder bei der Mutter sein Herrschergefühl zu sichern. Dieser nach außen gewendete, ängstlich vorsichtige Blick des Neurotikers, zur Wahrung der leitenden Fiktion bestimmt, ist regel[49]mäßig auch von einer höheren Intensität der Selbstbeobachtung begleitet. Zuweilen ist in einer Situation psychischer Unsicherheit die personifizierte, vergöttlichte Leitidee als zweites Selbst174, als innere Stimme analog dem Dämon des SokratesK warnend, anfeuernd, strafend, beschuldigend anzutreffen. Und was uns der Neurastheniker, der Hypochonder gar berichten, wie sie im eigenen Inneren wühlen, wie scharf sie alle Akte ihres Lebens kontrollieren und begleiten, gilt für den Nervösen überhaupt. Die Selbstbeobachtung kann zur Abgrenzung des Kampfplatzes führen, indem sie sich der Äußerungen von Krankheitsfurcht bedient, wobei der Nervöse jederzeit in der Lage ist, den sichernden Rückzug anzutreten175. Sie muss als wirksam gedacht werden, wenn die primitiven Sicherungen der Angst, der Scham, der Schüchternheit, die komplizierteren176 des Schamgefühles177, des Gewissens, der nervösen Anfälle, die Ahnung einer Niederlage begleiten, um178 das Persönlichkeitsgefühl nicht unter das geforderte Niveau sinken zu lassen. Selbstbeobachtung und Selbsteinschätzung, immer von der leitenden Fiktion gereizt und verstärkt, damit eine Operationsbasis geschaffen und die Aggression eingeleitet werde, aktivieren sofort die nervösen, prinzipiellen Charakterzüge des Neides, Geizes, der Herrschsucht etc. – Im fortwäh-
173 Anm.: Für Anfänger oder bei besonderen Schwierigkeiten in der psychologischen Analyse empfiehlt es sich, die Ohren zu schließen und wie in einer Pantomime nur auf die körperlichen und seelischen Bewegungen zu achten. 1928 174 zweites Selbst ] Änd.: »zweites Selbst« 1928 175 Erg.: und statt seinen Problemen, seinen »organischen« Gefühlen nachzuhängen, auch »trotz ihrer Last« seine Aufgabe zu lösen 1928 176 komplizierteren ] Änd.: komplizierten 1919 177 Schamgefühles ] Änd.: Ekels 1919 178 Erg.: durch diese erwartete Niederlage 1928
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renden Messen und Ringen des Nervösen um seine eigene Geltung, gegen die Geltung des Anderen, spielt seine gesteigerte Selbstbeobachtung mit, sie gibt dem Vorausdenken und der Fantasie Winke und verkündet ihre Anwesenheit, wenn der Patient der Entscheidung ausweicht oder zu dem gleichen Zwecke sich dauernd dem Zweifel ergibt. Dass alle diese Selbstbeobachtungen aus dem Gefühl der Unzulänglichkeit stammen und von diesem erzwungen werden, ist ebenso leicht zu verstehen, als dass sie schließlich ihr Ziel erreichen, auf das sie eigentlich hingearbeitet179: die Vorsicht. So ist die Selbstbeobachtung im selben Maße Verzögerung, Egoismus, Größenwahn, Treppenwitz, Zweifel, Kleinheitswahn und berührt sich mit allen anderen Phänomenen, die vom Gefühle der Minderwertigkeit aus angeregt werden; insbesondere dient sie zur Verstärkung und Kontrolle der »männlichen Protestcharaktere« wie Mut, Stolz, Ehrgeiz etc., ebenso auch zur Vertiefung aller Sicherungstendenzen wie der Sparsamkeit, der Genauigkeit, des Fleißes, der Reinlichkeit. Sie beeinflusst die Aufmerksamkeit und dient auch zur Beherrschung180 derselben, sodass sie im Netz der Sicherungstendenzen eine hervorragende Stellung einnimmt. Ihre Ergebnisse allerdings sind tendenziös gefälscht. Es wäre weit gefehlt, sie als libidinös oder lustbringend anzusehen. Ihre Funktion ist vielmehr, alle Eindrücke der Außenwelt181 zu gruppieren und unter einen einheitlichen Text zu bringen, dergestalt, dass die primäre Unsicherheit des Individuums sozusagen mathematisch oder statistisch, nach Maßgabe einer Wahrscheinlichkeit vor Entlarvung gewahrt bleibe, dass das Individuum einer Niederlage entgehen könne. In der »Neurotischen Disposition«K (l. c.) habe ich zum ersten Male diese Dynamik der Neurose hervorgehoben, und die Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, sie vertieft und erweitert darzustellen. Die geweckte und vertiefte Selbstbeobachtung liegt also auf dem Wege zur Neurose, mag sie auch in der Philosophie, Psychologie und Selbsterkenntnis zuweilen herrliche Früchte tragen. Sie ist die von der Realität der Welt durch einen Fehlschluss sich entfernende Privatphilosophie des Neurotikers, [50] dessen Wahn – durch Analyse korrigierbar –182 ihr wertvolles Analogon im Γνῶϑι σαυτόνK des erhabenen Philosophen hat. Der meist183 unkorrigierbare Wahn in den Grübeleien und fantastischen Selbstbeobachtungen des Psychotikers, der um vieles leichter als arrangierter Wahn zum Zwecke der Sicherung des Persönlichkeitswertes zu durchschauen ist, lehrt uns den Wahn in den Selbstbeobachtungen des Neurotikers verstehen. 179 180 181 182 183
Erg.: sind 1919 Beherrschung ] Änd.: Lenkung 1922 Erg.: tendenziös 1919 Erg.: die 1919 meist ] Änd.: scheinbar 1919
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Das Streben des Nervösen nach Sicherheit, seine Sicherungen selbst können demnach nur betrachtet werden, wenn man den ursprünglichen, entgegengesetzten Wertfaktor der Unsicherheit mitbetrachtet. Beides sind Ergebnisse eines nach Gegensätzlichkeit gruppierenden Urteils, welches in Abhängigkeit von dem fiktiven Persönlichkeitsideal geraten ist und das ihm184 tendenziöse, »subjektive« Wertungen darbietet. Das Gefühl der Sicherheit und das seines Gegenpols, der Unsicherheit, eingeordnet dem Gegensatzpaar von Minderwertigkeitsgefühl und Persönlichkeitsideal, sind wie das letztere ein fiktives Wertpaar, ein psychisches Gebilde, von welchem VaihingerK hervorhebt, »dass in ihnen das Wirkliche künstlich zerlegt ist, dass sie nur zusammen Sinn und Wert haben, einzeln aber durch Isolation auf Sinnlosigkeit, Widersprüche und Scheinprobleme führen«. In der Analyse von Psychoneurosen kommt nun regelmäßig185 zum Vorschein, dass sich diese Gegensatzpaare analog dem einzig realen186 »Gegensatz« von »Mann – Frau« zerlegen, sodass Minderwertigkeitsgefühl, Unsicherheit, Untensein, Weiblichkeit auf die eine Seite der Gegensatztafel, Sicherheit, Obensein, Persönlichkeitsideal, Männlichkeit auf die andere Seite gelangen. Die Dynamik der Neurose kann demnach so betrachtet werden, wird auch in ihren Ausstrahlungen auf die Psyche des Nervösen von diesem oft so erfasst, als ob der Patient sich aus einer Frau in einen Mann verwandeln187 wollte. Diese Bestrebungen ergeben188 in ihrer bunten Fülle das Bild dessen, was ich männlichen Protest genannt habe. Die Stärke des männlichen Einschlags im Kulturideal sowohl wie insbesondere in der fiktiven Leitlinie des Nervösen, wie wir sie189 im Wollen, Handeln, Denken, Fühlen unserer Patienten, in ihren Einstellungen zur Außenwelt, in ihren Vorbereitungen fürs Leben und in ihren Bereitschaften, in jedem Charakterzug, in jeder physischen und psychischen Geste finden, die die Kraft des Aufschwungs gibt und die Linie des Lebens nach oben richtet, lässt erraten, dass am Beginne der psychischen Entwicklung ein Mangel an solcher Männlichkeit empfunden wurde, und dass das ursprüngliche Minderwertigkeitsgefühl des konstitutionell beeinträchtigten Kindes aus diesem Gegensatz heraus auch als weiblich gewertet wird. Was immer dem Minderwertigkeitsgefühl zugrunde lag: Wenn die starke neurotische Sicherung durch Aufstellung der männlichen Fiktion eingeleitet190 wird, fällt der supponierte Grund der kindlichen Unsicherheit und diese selbst infolge der neurotischen, gegensätzlichen Gruppie184 185 186 187 188 189 190
und das ihm ] Änd.: das aber 1919 regelmäßig ] Änd.: öfters 1928 einzig realen ] Änd.: real gefassten 1919 Erg.: oder seine Unmännlichkeit verbergen 1928 ergeben ] Änd.: geben 1928 wie wir sie ] Änd.: die wir 1919 Erg.: und derart konkretisiert 1928
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rung unter die als weiblich gewerteten Erscheinungen191. Die Empfindung der Kleinheit, der Schwäche, der Ängstlichkeit und Unbeholfenheit, der Krankheit, des Mangels, der Schmerzen etc.192 löst dann im Neurotiker Reaktionen aus, als ob er sich gegen eine ihm innewohnende Weiblichkeit zur Wehr setzen, also männlich und stark reagieren müsste. In gleicher Weise erfolgt diese Antwort, reagiert die Affektbereitschaft des männlichen Protestes gegen jede Herabsetzung, gegen das Gefühl der Unsicherheit, der Verkürztheit, [51] der Minderwertigkeit,193 und der Nervöse zeichnet, um den Weg zur Höhe nicht zu verfehlen, um die Sicherung vollkommen zu machen, konstant wirkende Leitlinien für sein Wollen, Handeln und Denken in Form der Charakterzüge in den weiten, chaotischen Feldern seiner Seele. Meist findet man die Charakterzüge geradlinig zum männlichen Ideal hinstreben, bei männlichen und weiblichen Patienten; entsprechend den früheren Darlegungen ergaben sich aber, insbesondere nach einer entscheidenden Niederlage des Patienten, die uns schon bekannten neurotischen Umwege, Anfälle und Anfallsbereitschaften, deren analytische194 Auflösung und Einordnung in das Gesamtbild wieder den Zug zur Erhöhung des männlichen Persönlichkeitsgefühls aufweisen, wenngleich sie äußerlich und oberflächlich genommen oft als Zaghaftigkeit, Angst, als unmännlich erscheinen, ebenso als Flucht oder als Rückzug vor dem Leben angesehen werden könnten195. Die einfache Frage betreffs der Beharrlichkeit der oft weither geholten Kunstgriffe in Form der neurotischen Symptome lässt uns verstehen, dass in diesen letzteren Fällen nicht eine Entscheidung gefallen, sondern dass das ursprünglich konstruierte, fiktive männliche Leitziel nach wie vor wirksam ist, und dass eine kulturelle Einfügung, Ruhe und Zufriedenheit nicht aufkommen kann, weil das Ziel zu hoch angesetzt ist.196 Durch gewisse Unsicherheiten des Kindes betreffs seiner eigenen Geschlechtsrolle wird der männliche Einschlag in der leitenden Fiktion namhaft verstärkt. In der Tat kann man bei allen Kindern das ungeheure Interesse für Geschlechtsunterschiede in meist verdeckter Form durchbrechen sehen. Die einheitliche Kleidung der Kinder in den ersten Lebensjahren, weibliche Züge bei kleinen Knaben, männliche bei Mädchen, gewisse Drohungen der Eltern,
191 infolge bis Erscheinungen ] Änd.: wird infolge der neurotischen gegensätzlichen Gruppierung als weiblich gewertete Erscheinung empfunden 1922 192 etc. ] Änd.: der Weichheit 1919 193 Erg.: der Hingabe 1928 194 analytische ] Änd.: psychologische 1922 195 könnten ] Änd.: können 1919 196 Erg.: Die »weiblichen« Linien erscheinen dann wie ein erster Akt, auf den ein zweiter »männlicher« folgt 1922 Erg.: oder die endgültige Entwicklung wird durch die Neurose hinausgeschoben. 1928
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wie: ein Knabe werde sich in ein Mädchen verwandeln, tadelnde Bemerkungen den Knaben gegenüber wie die, dass er wie ein Mädchen, Mädchen gegenüber, dass sie wie Knaben seien, können die Unsicherheit noch vergrößern, solange die Differenz der Genitalorgane unbekannt bleibt. Aber selbst bei weitest gediehener Aufklärung können durch Anomalien der Genitalien oder durch Fehlurteile197 Zweifel erwachen, die tendenziös festgehalten werden und immer wieder im gegensätzlichen Bilde des »Männlich oder Weiblich« im ferneren Leben auftauchen, sodass unsere ursprüngliche Feststellung*, dem neurotischen Zweifel liege198 der Zweifel an der eigenen Geschlechtsrolle zugrunde, bloß in der Richtung eine Erweiterung verlangt, dass die Neurose diese Zweifelslage des Patienten in der Folge als Sicherung gegen Entscheidungen festhält, um die »zögernde Attitüde« auszubauen. Je länger die Unsicherheit an der eigenen Geschlechtsrolle besteht, umso dringlicher werden die Versuche und tastenden Vorbereitungen, in die männliche Rolle zu gelangen. So entsteht das Urbild des männlichen Protests, der dahin zielt, unter allen Umständen seinen Träger in die männlichste Schaustellung zu drängen, oder, wie es bei Mädchen und frühzeitig neurotisch erkrankten Knaben199 geschieht, die Herabsetzung in allen Formen durch neurotische Kunstgriffe zu verhindern, gleichzeitig aber geradlinige männliche Charakterzüge und starke Affektbereitschaften auszubilden. [52] Das Vorstadium der Erkenntnis der eigenen Geschlechtsrolle, der psychische Hermaphroditismus des Kindes, besteht wohl regelmäßig. Seine Bedeutung wurde von DessoirK und von mir hervorgehoben. Dass dieses Stadium mit seinem starken, den männlichen Linien zugeneigten Streben von größter Bedeutung für die Entwicklung der Neurose mit ihrem hoch angesetzten männlichen Leitziel und seinen Sicherungen ist, ergab mir die Analyse der Psychoneurosen. Als guter Beobachter und Kenner der Kinderseele zeigt sich GoetheK, der in Wilhelm Meisters theatralischer Sendung hervorhebt: »Sowie in gewissen Zeiten die Kinder auf den Unterschied der Geschlechter aufmerksam werden und ihre Blicke durch die Hüllen, die diese Geheimnisse verbergen, gar wunderbare Bewegungen in ihrer Natur hervorbringen, so war’s Wilhelmen mit dieser Entdeckung; er war ruhiger und unruhiger als vorher, *
»Psychischer HermaphroditismusK im Leben und in der Neurose«, l. c. u. die folgenden Schriften.200
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Erg.: und Drohungen 1928 Erg.: oft 1928 Erg.: meist schon im dritten Lebensjahr 1922 u. bis Schriften ] Erg.: in: »Heilen und Bilden«, l. c. u. die folgenden Arbeiten im 2. Band. 1919 Änd.: und die Arbeiten in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«. 1922
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deuchte sich, dass er was erfahren hätte, und spürte eben daran, dass er gar nichts wisse.« In der Tat findet man als erste Äußerung dieser Unerfahrenheit und ihres herabsetzenden Rückschlags auf die Psyche eine ungeheure Steigerung der Neugierde und Wissbegierde, und um doch eine Richtung seines Lebens zu finden, gerät das Kind unter den Zwang einer Leitlinie, die es treibt, so zu handeln, als ob es alles wissen müsste. Macht es die Erfahrung von der Superiorität des männlichen Prinzips in unserer Gesellschaft, so wird das Leitbild vermännlicht, insbesondere, wenn ihm der Mann, der Vater als der Wissende erscheint.201 Zu besonderen Charakterzügen, die in der Neurose deutlicher werden, kommt es bei kleinen Mädchen, die sich solcher Art bemühen, die männliche Leitlinie zu halten. Das Gefühl der Verkürztheit überwiegt bei ihnen, ebenso bei Knaben, die sich für weiblich halten, dermaßen, dass sie nur Sinn und Interesse dafür haben, Beweise für diese Verkürzung zu sammeln und ihre Aggression gegen die Umgebung zu steigern. Bilder von Kastration, von Verweiblichung, von Verwandlungen in einen Mann, von männlichen Formen des Lebens tauchen bei der Analyse als Wegweiser in der neurotischen Psyche auf,202 deuten auf die Sucht nach Manngleichheit und lassen in späterem Formenwandel der Leitlinien die männliche Fiktion immer wieder auftauchen. Die typische psychische Attitüde dieser Nervösen ist regelmäßig so, als ob sie einen Verlust erlitten hätten oder als ob sie mit großer Vorsicht einem Verlust ausweichen müssten. E. H. Meyer berichtet in den »Indogermanischen Mythen« (I., S. 16): »Nach dem Atharva VedaK verzehren die Gandharven (phallische Dämonen) den Knaben die Hoden und verwandeln dadurch die Knaben in Mädchen.« – Solcher und ähnlicher Gestalt scheinen in der Kindheit die Vorstellungen vieler Nervöser über die Entstehung beider Geschlechter gewesen zu sein, als von Gedanken über eine erlittene Verkürzung, die sich in einem sexuellen Bilde der Verweiblichung darstellt. Die nächste psychische Folge ist dann in der Regel die verschärfte Aggression gegen die Eltern, denen die Schuld an dieser Verkürzung zugeschrieben wird203. FließK, HalbanK, Weininger204 K und vor ihnen unter anderen SchopenhauK er und Krafft-EbingK fundieren den psychischen Hermaphroditismus auf der Anwesenheit von hypothetischer, männlicher und weiblicher Substanz in einem Individuum. Unsere Auffassung setzt bloß den Gegensatz in der Wert201 Anm.: Siehe Hedwig SchulhofK, Individualpsychologie und Frauenfrage. Verlag E. Reinhardt, München. 1922 202 Anm.: Später auch von Freud festgestellt. 1928 203 Erg.: und ein intensives Suchen nach der Parität 1922 204 Erg.: SteinachK 1928
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schätzung des Männlichen und Weiblichen voraus, wie er tatsächlich besteht, rechnet mit der allgemeinen [53] Verbreitung des gegensätzlichen, bildlichen Apperzeptionsschemas »Männlich – Weiblich« und folgert aus dem Zwang des neurotisch verstärkten und erhöhten Persönlichkeitsideals den darin205 leicht auffindbaren männlichen Einschlag. Letzterer bedingt auch die Unterstreichung des Gefühls der eigenen Minderwertigkeit durch die Fassung in einem Bilde, das der weiblichen Rolle angehört, um mit den Regungen, Bereitschaften und Charakterzügen des männlichen Protestes dagegen zu reagieren. Eine Reihe der letzten Arbeiten aus der Freud’schen Schule haben die von mir veröffentlichten Befunde aufgegriffen. Die weitere Verfolgung führt unwiderruflich zur Erkenntnis der Unhaltbarkeit der Libidotheorie, zur Beseitigung der sexuellen Ätiologie und zum Verständnis des neurotischen Sexualverhaltens als einer Fiktion206. Ist uns so der männliche Protest als Kunstgriff der Psyche klar geworden, mittels dessen sie zur vollen Sicherung gelangen, sich mit der leitenden Persönlichkeitsidee zur Deckung bringen will, so erübrigt es noch, die Formverwandlung dieser Leitlinie ins Auge zu fassen, wie sie jedes Mal eintritt, wenn sich in ihr Widersprüche geltend machen und den Zweck des neurotischen Strebens, das Obenseinwollen, gefährden. Dieser Fall tritt ein, wenn die Wirklichkeit mit einer starken Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls207 droht. Der Nervöse wird sogar in diesem Falle prinzipieller an seiner »Idee« festhalten als der Normale. Je weiter er aber in die sichernde Neurose eingesponnen ist, umso eher wird er – auf Erinnerungen und Memento gestützt, den Schaden antizipierend – neue neurotische Umwege konstruieren, weitere neurotische Sicherungen anbringen, die für ein vorliegendes Problem weder ein Fiat noch eine Negation enthalten, vielmehr beide zugleich208. Es wird sich sein psychisch-hermaphroditischer Charakter auch darin geltend machen, dass er zurückweicht, sich unterwirft, weiblich209 wird, während sein Streben gleichzeitig weiterhin ein Vordringen, Herrschsucht, Männlichkeit aufweist, mit dem Ergebnis, dass er nichts vorwärtsbringt, da er für jeden Schritt nach vorne einen nach rückwärts macht, dieses Verhalten zuweilen sogar pantomimisch ausdrückt210. Ebenso kann die Furcht vor Blamage, vor Strafe, vor Schande, kurz, vor dem »Unten« 205 darin ] Ausl. 1922 206 Erg.: das heißt zur Waffenstreckung 1919 Ausl. 1922 Änd.: irrenden Fiktion, die unserem normalen Rückstand entspricht 1928 Anm.: Siehe [Erg.: auch 1928] Oswald SchwarzK, Wiener klin. Wochenschr. 1922. 1922 207 Erg.: mit einer Erprobung oder Niederlage 1928 208 Erg.: woraus aber doch eine Negation entspringt 1928 209 weiblich ] Änd.: in seinem Sinne »weiblich« 1919 210 Erg.: wie zuweilen in der Zwangsneurose 1928
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seine geradlinigen männlichen Züge verwandeln. Die Konstruktion von neurotischen Schuldgefühlen, von ererbten211 Verbrecherinstinkten, von Roheit, Grausamkeit und Egoismus schafft schreckende Spuren in gleicher Weise wie das neurotisch zum Ausdruck gebrachte Gefühl der Schüchternheit, Feigheit, Unbeholfenheit, Dummheit und Faulheit. – Das schlimme, unerziehbare Kind, die Flegeljahre und manche Formen der Psychose, häufig das Vorstadium der »entwickelten Neurose« zeigen uns den männlichen Protest in hoher, geradliniger Ausbildung. Ihre212 Darbietungen sind geradezu getragen von der zum Selbstzweck gewordenen Welle des männlichen Protestes, der voll und ganz die Stelle der verstärkten leitenden Fiktion vertritt. Unsere theoretische Darstellung von der neurotischen Psyche wäre unvollständig, wenn sie nicht auch auf das Wesen und die Bedeutung des Traumes einginge. Ich kann an dieser Stelle keine abgerundete, geschweige eine vollständige Traumtheorie vorführen. Aber ich bin aus mehreren Gründen genötigt, alle Beobachtungen und Befunde mitzuteilen, die meine Traumuntersuchungen des praktischen Teils dieser Arbeit ermöglicht haben. Freuds Traumdeutung war vielleicht die stärkste Förderung unseres Verständnisses der Neurosenpsychologie. [54] Doch kann ich sie nicht als Abschluss unserer Erkenntnis vom Traume ansehen.213 Im Laufe einer langjährigen Beobachtung des Traumlebens gesunder und kranker Personen bin ich zu folgenden Ergebnissen gelangt:214 1. Der Traum ist eine skizzenhafte Spiegelung von psychischen Attitüden und deutet für den Untersucher die charakteristische Art an, wie der Träumer215 zu einem bevorstehenden Problem Stellung nimmt. Er deckt sich deswegen mit der Form der fiktiven Leitlinie, gibt immer nur Versuche des Vorausdenkens, probeweise Vorbereitungen einer Aggressionsstellung, kann daher mit großem Vorteil zum Verständnis dieser individuellen Vorbereitungen, der Bereitschaften und der leitenden Fiktion verwendet werden. 2. In gleicher Weise treten, mehr oder weniger abstrakt, die Einstellung des Träumers zur Mitwelt und somit auch seine Charakterzüge* und deren neurotische Abbiegungen zutage. Die Abstraktion im Traumdenken ist durch die Sicherungstendenz erzwungen, die ein Problem durch Vereinfachung und *
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Schon G. Chr. LichtenbergK schreibt: »Wenn Leute ihre Träume aufrichtig erzählen wollten, da ließe sich der Charakter eher daraus erraten als aus dem Gesicht.«
ererbten ] Änd.: »ererbten« 1919 Erg.: Krankheiten und 1928 Ihre ] Änd.: Die 1919 Freuds Traumdeutung bis ansehen ] Ausl. 1919 Anm.: Siehe Ausführliches im 2. Bd. K 1919 Änd.: in »Theorie und Praxis der Individualpsychologie«, l. c. 1922 in »Theorie und Praxis der Individualpsychologie«, l. c. und im 4. Heft des 5. Jahrg. der Internat. Zft. f. Indiv.-Psychologie. 1928 215 Erg.: gefühlsmäßig 1928
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Zurückführung auf ein einfacheres, kindlicher gelegenes216 zu lösen sucht und dies ganz wie das Denken überhaupt, nur vertiefter, mittels des217 Gedächtnisses bewerkstelligt, in bildlicher, analogischer Weise, durch halluzinatorische Erweckung von Erinnerungen schreckender oder aneifernder Art. Die218 Absperrung von der Wirklichkeit durch den Schlaf unterstützt das abstraktere Denken im Traume, da die Korrektur durch den Schlaf der Sinnesorgane zum größten Teil ausgeschlossen ist. Dieser Umstand sowie der Mangel einer bewussten Zwecksetzung im Traumdenken verschulden die Unverständlichkeit des Trauminhalts, der überhaupt erst einen Sinn erhält219, wenn man ihn als ein Symbol des Lebens nimmt,220 ein »Als-ob«, für welches die Deutung erst die reale Aggression221 einzusetzen hat. 3. Diese noch zu erweisenden Tatsachen sowie die Ausdrucksform des Traumes in einem »Als-ob« (»Mir war, als ob«) zeigen uns das Wesen des Traumes als einer Fiktion, in der sich die Vorversuche und Proben verdeutlichen, durch welche die Vorsicht222 zur Beherrschung einer Situation in der Zukunft gelangen will. Bei den Träumen nervöser Personen wird man deshalb deutlicher als bei andern die neurotische, nach dem Prinzip einer starken Gegensätzlichkeit arbeitende Apperzeptionsweise, das betonte Minderwertigkeitsgefühl und die leitende Persönlichkeitsidee beobachten oder im Zusammenhang mit ihrem Seelenleben erraten können.223 4. Der Zug der neurotisch verstärkten Leitidee wird sich in den Träumen der Nervösen regelmäßig äußern, zumeist im Bilde des Strebens nach »oben« oder des männlichen Protestes. Die weibliche oder »untere« Operationsbasis ist immer angedeutet. 5. Wiederholte Träume ähnlichen Inhalts und erinnerte Kindheitsträume zeigen die fiktive Leitlinie am deutlichsten. Denn sie bauen sich auf einem fertigen oder als brauchbar befundenen Schema auf, das durch das neurotische Endziel errichtet und festgehalten wird. Die mehrfachen Träume einer Nacht weisen auf den Versuch einer mehrfachen Lösung hin und kennzeichnen das
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Erg.: Bild im Sinne des individuellen Lebensstiles, nicht der Logik 1928 Erg.: tendenziösen 1919 Erg.: auswählenden 1928 Erg.: teilweise 1928 der überhaupt erst einen Sinn erhält ] Änd.: für den Träumer; der Traum erhält überhaupt erst einen Sinn 1919 Erg.: als eine Analogie 1922 Aggression ] Änd.: Bewegungslinie 1922 Vorsicht ] Änd.: individuelle Neigung 1928 Erg.: Häufig finden sich in ihnen, gegenüber dem sichtbaren Eifer am Tage, die nächtlichen Bedenken; wie Penelope trennt der Patient des Nachts auf, was er am Tage gewebt. 1922
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Gefühl einer stärkeren Unsicherheit. Die sogenannte »Traumzensur«224, derzufolge die Verdeckung [55] oder Verschleierung eines Sachverhalts durch Entstellung bezweckt wird, erweist sich als die Wirkung der Sicherungstendenz, die den Formenwandel der Fiktion in der Neurose wie im Traume intendiert und in entsprechender Entfernung dem Widerspruch in der männlichen225 Leitlinie durch einen Umweg zu entgehen sucht. Andere »Entstellungen« liegen im Wesen des abstrakteren226 Traumdenkens227 und in seinem Charakter als einer bloßen Spiegelung. 6. Die Symbolik und der Kunstgriff der Analogie im Traume sind formalinhaltliche Ausstrahlungen dynamischer Affektverstärkungen, ihre228 Wortbilder sozusagen. Sie sind der psychische Überbau über ein229 Junktim zwischen psychischer Situation und einem tendenziös, meist fälschlich, sophistisch herangezogenen Memento, das die von der »Idee« geforderte Resonanz beibringen muss.230 Die von Freud behauptete Erfüllung von infantilen Wünschen im Traume löst sich also für mich231 auf in einen Versuch des Vorausdenkens, um zur Sicherung zu gelangen, wobei tendenziös gruppierte Erinnerungen, keineswegs die libidinösen oder sexuellen Wünsche der Kindheit als Memento zu Hilfe genommen werden, ein psychischer Kunstgriff, der auch das logische Denken beherrscht. Das Wesen der Neurose sowie ihrer Träume und ihres Wahns bieten als einzig Unterscheidendes von der Norm die durch die verstärkte Fiktion verstärkte Tendenz zur Auswahl der wirksam gemachten Erinnerungen, kurz gesagt: die neurotische Perspektive. – Der Neurotiker leidet nicht an Reminiszenzen, sondern er macht sie. 232 Ist einmal dieser233 zur Orientierung und zur Sicherheit des Handelns unbe224 225 226 227 228 229 230
Erg.: (Freud) 1919 in der männlichen ] Änd.: gegen die männlichere 1922 abstrakteren ] Änd.: abstrakten 1928 Erg.: in der Anwendung täuschender Vergleiche 1928 Erg.: künstlerischen 1919 ein ] Änd.: einem 1919 Erg.: Der Vorzug meiner rationellen Traumdeutung besteht auch darin, dass wir in die Lage kommen, dem Träumer seine Tendenz und seine im Traume meist deutlicher [Änd.: deutlichen 1928] Fälschungskunststücke nachzuweisen, durch die er sich auf seiner Linie zu halten versucht. 1922 231 im Traume bis mich ] Änd.: und [Erg.: der 1922] Regression im Traume löst sich also 1919 Regression bis also ] Änd.: später der Todeswünsche und der Regression im Traume löst sich also 1928 232 Erg.: Dementsprechend muss zum Verständnis des Traums und der Neurose eine dynamische Betrachtungsweise gefordert werden. 1922 233 dieser ] Änd.: der 1919
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dingt nötige Vergleichspunkt234 gefunden, der umso höher eingestellt wird, je drückender235 das Gefühl der Minderwertigkeit auf dem Kinde lastet236, so muss er aus obigen Ursachen, aus dem Zwang des Vergleichens und des kindlichen Ausrichtens stabilisiert, hypostasiert, für heilig, göttlich erklärt werden. Auf der einen Seite stehen die realen Bedingungen und Bewegungen des Subjekts, auf der anderen als kompensierende Folge des Minderwertigkeitsgefühls der Gott, die leitende Idee, bildlich apperzipiert in einer Person, in einem Geschehen. Dieser letztere ideelle Punkt wirkt nun so, als ob ihm alle richtende Kraft gegeben wäre. So entsteht erst aus dem organischen, objektiven Leben237 das, was wir Seelenleben, Psyche nennen. Jeder Schritt des Kindes richtet sich in diesem System und wird von ihm gerichtet. Es ist ein fortwährendes Abwägen, Tasten, Vorbereiten, Bereitschaftenstellen und Messen am Ideal, was das Kind in seiner Entwicklung vorwärtsbringt. Es misst sich am Manne ebenso wie an der Frau, wobei die Gegensätzlichkeit238 der Geschlechter abermals eine Hilfslinie ergibt und eine psychische Ausrichtung nach einer entgegengesetzten, in gewissem Sinne feindlichen, ausweichenden Linie, der männlichen, erzwingt. Beim neurotisch disponierten Kinde bringt die durch das Unsicherheitsgefühl gesteigerte kompensatorische Sicherungstendenz unter Anspannung der Aufmerksamkeit die abstrakt-neurotisch vertieften Richtungslinien zum überspannten Ziel des männlichen Protestes zuwege. Und die schärfer gefasste Gegensätzlichkeit der Geschlechter schafft früher und eindringlicher die vorbereitenden Stellungen zum anderen Geschlecht, umso [56] mehr, wenn, wie beim Neurotiker, die ausschließliche männliche Wertung des Ideals auf sein Minderwertigkeitsgefühl reflektiert und dieses als weiblich erscheinen lässt. Die Grundlage der Familienerziehung bringt es mit sich, dass die ersten Versuche, zu einem Persönlichkeitsideal zu gelangen, Entlehnungen von Zügen der höchstgewerteten Familienpersönlichkeit, zumeist des Vaters, vorstellen. Neurotisch disponierte Kinder, die in der Gegenüberstellung des Vaters eine Verstärkung ihres Minderwertigkeitsgefühles empfinden, treffen alsbald Vorbereitungen und konstruieren Kampfbereitschaften, als ob sie den Vater überflügeln müssten. In diesen vorbereitenden Versuchen liegt auch die Einstellung zum anderen Geschlecht, soferne der Intellekt des Kindes nicht bezüglich seiner eigenen Geschlechtsrolle fehlgreift, und viele seiner für die Zukunft bestimmten Bereitschaften werden anticipando in spielerischer 234 235 236 237 238
Erg.: das Ziel 1919 Erg.: und länger 1919 lastet ] Änd.: gelastet hat 1919 Erg.: dem Reflex - oder Instinkt - oder Triebleben 1919 Gegensätzlichkeit ] in Anführungsszeichen 1922
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Weise* gegenüber Familiengliedern des anderen Geschlechts wachend oder halluzinatorisch, im Traume, probeweise geübt. Dass dem Knaben dabei die Mutter239 in gewissem Sinne ein Muster abgibt, ist seit langem bekannt, insbesondere240 von NietzscheK hervorgehoben worden. Dabei ist die Grenze, die sich das Kind setzt, Sache einer Erprobung durch das Kind. Seine Wünsche sind, im Falle es neurotisch disponiert ist, maßlos. Unzufrieden durch die übergroße Distanz zu seinem Persönlichkeitsideal, kommt es241 auch zu Sexualwünschen in Bezug auf die Mutter, ein Beweis, wie grenzenlos angespannt der Wille zur Macht ist. Eine Fixierung einer Sexualbeziehung aber muss andere Gründe haben als einmal gehegte Wünsche im Bereiche einer gewissen Maßlosigkeit. Das Begehren des Knaben greift auch auf andere weibliche Personen seiner Umgebung. Das Bild ist dann wieder wie bezüglich der Perversion. »Die Mutter besitzen wollen« wird zum Zeichen seiner Unzufriedenheit, zum Symbol seiner Maßlosigkeit, seines Trotzes und seiner Furcht vor anderen Frauen242. Nun kann im späteren Leben eine »Fixierung« an die Mutter aus ähnlichen Konstellationen eintreten,243 nicht aber weil der Wunsch ehedem libidinös war. Denn es ist gleichgültig, welcher Art die reale Beziehung zur Mutter war –, die Psyche des Nervösen wird sie stets in irgendeiner Art zur Sicherung244 verwenden.245 Hier interessiert uns vor allem das Motiv der Unzufriedenheit. Es entspringt aus dem Gefühl einer Verkürzung, und es ist klar, dass das Kind vom »Wachsen« alle Erfüllungen erwartet. Nach der Psychologie des »Als-ob« kann es sein Heil vom Wachstum seines Körpers, seiner Haare, seiner Zähne, seines Genitalorgans erwarten. Speziell seine Erfahrungen von den Zähnen sind geeignet, ihm den Eindruck zu hinterlassen, dass etwas nachwachsen könne. In Träumen und Fantasien spielt das Zahnmotiv häufig hinein, bei Mädchen, um ihre Hoffnung, ein Mann zu werden, festhalten zu können, bei Knaben, um * 239 240 241 242 243
Siehe »Zur Lehre vom Widerstand«,K l. c.246
Erg.: als Frau 1919 Mutter ] hervorgehoben 1929 seit langem bekannt, insbesondere ] Änd.: wie bekannt 1922 Erg.: gelegentlich 1919 Erg.: seines Mangels an Gemeinschaftsgefühl 1922 Erg.: immer auch, weil ihm die Fixierung an die Mutter als Sicherung gegen die Erotik erscheint 1922 244 Erg.: vor dem Eingehen in die Gemeinschaft 1919 245 Erg.: Die Bindung verzärtelter Kinder an die Mutter, die in der Neurose eine gewichtige Rolle spielt, bedarf einer gesonderten Behandlung. Siehe auch: Adler, Schwer erziehbare Kinder, Verlag Dresden, Am anderen Ufer K. 1928 246 Anm.: Siehe »Zur Lehre vom Widerstand« im 2. Bd. 1919 Siehe »Zur Lehre vom Widerstand« in »Praxis und Theorie«, l. c. 1922
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ihre Sehnsucht nach voller Männlichkeit darzustellen. Reißt man einen Zahn, Milchzahn, aus, so wächst ein neuer, stärkerer. Das »Ausreißen des Zahnes« im Traume steht demnach für den Wunsch, ein Mann zu werden.247 Neurotische Männer wie Frauen sind voll des Gefühls der Verkürzung, und ihr ganzes Leben verläuft in der Suche nach einer [57] Erweiterung ihrer Einflusssphäre. Um dies anzustreben, ja nur um dazu Stellung nehmen zu können, bedarf es bei ihnen einer ständigen Unterhaltung ihrer Unzufriedenheit, sodass sie aus Rücksicht auf das gesetzte fiktive Leitziel aus jeder Situation durch Überlegung, Arrangement oder Willkürlichkeit Nahrung für ihre Unzufriedenheit und Beweise für ihre Zurückgesetztheit gewinnen wollen. Mit großer Regelmäßigkeit fand ich bei ihnen die gegensätzliche Apperzeptionsweise nach dem Schema: »Männlich – Weiblich«, mittels derer sie alle ihre Erlebnisse suchten und klassifizierten.248 Überlagert ist dieses Schema, nach dem sie das Weltbild einfangen wollten, gewöhnlich durch ein gegensätzliches Bild des großen und kleinen männlichen Genitales.249 Es ist ein häufiger und charakteristischer Befund, dass sich an Körperstellen, die von Natur aus minderwertig sind, eine feinere Sensibilität entwickelt, deren Erregung zuweilen den Charakter des Lustvollen annimmt. Ich habe diese Erscheinung in der »Studie über Organminderwertigkeit« (1907, Wien und Berlin)250 beschrieben und führe sie auf kompensatorische Einrichtungen zurück, die bei den Vorfahren des Individuums im Kampfe um ihre Erhaltung bei Gefährdung des betreffenden Organs oder Organteiles in Gang gekommen sind. Diese kompensatorischen, nunmehr höherwertigen Anteile eines minderwertigen Organs – minderwertig, nachdem es in der Aszendenz zu Schaden gekommen war – sind eigentlich Schutzvorrichtungen in gewissem Sinne, wenngleich sie sich häufig nicht bewähren. Da aber ihre Technik eine andere geworden ist, mit der annähernd normaler Organe nicht mehr gleichen Schritt hält, so werden auch die psychischen Erscheinungsweisen, die sich an dieses Organ knüpfen, auffällig und aus der Norm herausfallen. Es handelt sich um die gleiche, wenngleich minutiösere Variation auf der Grundlage der
247 Hier interessiert uns bis ein Mann zu werden ] Ausl. 1919 248 Neurotische Männer bis klassifizierten ] Ausl. 1922 249 Überlagert bis männlichen Genitales ] Ausl. 1919 Erg.: Das Gefühl der Verkürztheit hindert die Anschlussfreudigkeit des Nervösen, seinen Kontakt mit der Gesellschaft. Es bringt ihn ständig in die Stimmung des Nehmenwollens, stört so seine Unbefangenheit und Zufriedenheit und drängt ihn dazu, mehr an sich zu denken als an die anderen. Deshalb ist es ihm nicht gegeben, Freude um sich zu verbreiten. Er bringt es höchstens soweit, Gnaden auszuteilen. 1922 250 (1907, Wien und Berlin) ] Ausl. 1928
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Minderwertigkeit, die ich in der Biologie zur Erklärung der Variation, der Verfeinerung und des Verfalls der Organe herangezogen habe.* Auf diese Weise hat sich z. B. im Bereiche des Nahrungsorgans der geschmackempfindende Apparat als Sicherungsapparat herausgebildet, ebenso aber auch der lustempfindende Apparat, der nunmehr die Kontinuität der Ernährung und richtige Auswahl der Speisen garantieren muss. Die Variation gegenüber der Ahnenreihe kommt durch »Kompensationstendenzen« zustande, die im Keimstoff eingeleitet werden. »Die Konjunktur (im weiteren Sinne: das Milieu) beherrscht das Keimplasma«, und so erklärt sich die prompte einheitliche Reaktion – Minderwertigkeit + kompensatorischer Sicherung – durch Veränderung der Lebensbedingungen im weitesten Sinne, das heißt: Alle Lebewesen einer einheitlichen Spezies variieren bei der gleichen Änderung ihrer Lebensweise in gleicher251 Richtung. Für die menschliche Gesellschaft muss man den Gesichtspunkt festhalten, dass – mehr als im Tier- und Pflanzenreich – die Beanspruchungen an die Einzelindividuen quantitativ und qualitativ verschieden sind, sodass ihre Organminderwertigkeiten und deren kompensatorische Sicherungen innerhalb einer beträchtlichen Breite differieren. Und diese Variationen [58] wären noch auffälliger**, wenn sich nicht mit so starkem Übergewicht die menschliche Psyche als hauptsächlichstes Sicherungsorgan in den Kreis der Korrelationen und Kompensationen eingeschoben hätte. Nunmehr treten die maßgeblichsten Sicherungstendenzen nicht mehr als Organvarietäten252, sondern in erster Linie als psychische Eigenarten hervor. Immerhin bleibt ein genügend nachweisbarer Zusammenhang bestehen, und wir können aus Organvarietäten, Stigmen und Degenerationszeichen derselben auf vermehrte kompensatorische Einrichtungen des Gehirns und ausgebreitete Sicherungstendenzen in der Psyche schließen.253 Ist doch das *
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So wird auch die Wertigkeit eines Organs im »Strome des Lebens« zum Symbol, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und fiktives Endziel – ganz wie im Charakter oder im nervösen Symptom – abspiegeln. – Der Gedanke des »Symbolischen in der Gestalt«K ist nicht neu, er findet sich bei Porta, Gall und Carus. Die psychische Sicherung beim Menschen mit ihren Bereitschaften und Charakteren ähnelt so sehr den sichernden Variationen im Tierreich, dass die Fantasie der Kinder, der Nervösen, der Dichter, ja auch die Sprache oft diese Analogie benützt, um gleichnisweise eine psychische Gebärde, eine Bereitschaft, einen Charakterzug durch das Sinnbild eines Tieres verständlich zu machen, in Wappen zum Beispiel, in dichterischen Gleichnissen, in Fabeln und Parabeln. Siehe auch Erckmann-ChatrianK, »Der berühmte Doktor Matthieu«, Goethes »Reineke Fuchs«K, Gemälde und Karikaturen.
251 gleicher ] Änd.: der gleichen 1919 252 Organvarietäten ] Änd.: Organvarianten 1922 253 wir können bis schließen ] hervorgehoben 1922
III. Kapitel: Die verstärkte Fiktion als leitende Idee in der Neurose
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Wesen und die Tendenz aller psychischen Vorgänge von Versuchen des Vorbauens und von Vorbereitungen zur Mehrwertigkeit voll, sodass man sich der Anschauung nicht verschließen kann, Seele, Geist, Vernunft, Verstand sind für uns Abstraktionen jener wirksamen Linien, auf denen der Mensch über seine Körperfühlsphäre hinausgreift, seine Grenzen erweitern will, um sich eines Stückes der Welt zu bemächtigen und sich vor drohenden Gefahren zu sichern. Die Mangelhaftigkeit der selbsttätigen Organe, hinaufgezaubert auf die sicheren Wege des Erkennens, Verstehens, Voraussehens! Im Tierreich noch ersetzt zum Teil ein feingearbeiteter, technischer Apparat, was dem Menschen die Erkenntnis leistet. Die feine Witterung des Hundes wird überflüssig oder dienstbar gemacht; was an Giftpflanzen der Geschmacksapparat weidender Rinder vermeiden lässt, davor sichert den Menschen sein verstehendes Auge. Aber die gleiche Tendenz ist es und bleibt ewig bestehen, den Kampf der Vorfahren um die Erhaltung ihres Lebens durch feiner abgestufte, variierte Organe sowie durch verfeinerte Kunstgriffe der Psyche zu erleichtern. Und so ist es uns gestattet, derlei empfindlichere, periphere Apparate, ihre besondere Physiognomie und Mimik als Zeichen eines angegriffenen Organes, als verräterische Spuren einer überkommenen Organminderwertigkeit anzusehen254. Dies gilt auch für die besondere Ausbildung der Geschmacksempfindung beim Menschen, für die größere Reizempfindlichkeit der Lippen- und Mundschleimhaut, zu der sich meist eine größere Ansprechbarkeit des Gaumens, des Schlundes, meist auch des Magens und des Verdauungstraktes gesellt. Physiognomisch stellt sich dies Bild des minderwertigen Mundes dar in der Form beweglicherer, feinerer, oft vergrößerter Lippen, meist leichter255 Deformationen der Lippen, der Zunge (lingua scrotalis Schmidt K), des Gaumens, zu denen sich oft Degenerationszeichen an diesen Teilen, vergrößerte Tonsillen oder der ganze Status lymphaticus gesellen. Zuweilen freilich bleibt bei aller Minderwertigkeit eine Höherbildung im Sinne der Kompensationstendenz aus, und es fehlt selbst die Hyperästhesie. Recht häufig sind Reflexanomalien; gesteigerter Rachenreflex, aber auch Herabsetzung desselben gehören zu demselben Bilde. An Kinderfehlern beobachtet man: größere Inanspruchnahme der Mundpartien, Berüh[59]rungen des Mundes, Daumenlutschen, Neigung alles in den Mund zu stecken, Erbrechen. Dabei meist gutes Gedeihen, sofern dies durch andere gleichzeitige Organminderwertigkeiten nicht gehindert wird. Aber das Übel, die Entbehrung, Verwöhnung und die Schmerzen, die von der Wiege an den minderwertigen Ernährungstrakt begleiten, erwecken gleichzeitig ein Gefühl der Minderwertigkeit, Verkürztheit und Unsicherheit 254 derlei empfindlichere bis anzusehen ] hervorgehoben 1922 255 meist leichter ] Änd.: in meist leichten 1922
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und drängen das konstitutionell disponierte Kind auf den Weg der Kunstgriffe. Das stärker und überstark ausgebaute, frühreife Persönlichkeitsideal schließt auch fiktive Ziele überreicher Befriedigungen in sich, denen die Wirklichkeit nie gerecht werden kann. Die Aufmerksamkeit solcher Kinder ist nach Art einer Zwangsidee auf alle Ernährungsprobleme und deren Sublimierungen256 (NietzscheK) gerichtet. Die Entbehrung eines Leckerbissens löst bei ihnen ganz andere Affekte und Handlungen aus, als wir erwarten. Ihr Sinn geht nach der Küche, ihr Spiel und ihre infantile Berufswahl setzt sich aus ihren Bereitschaften für Nahrungserwerb in Fantasien fort, Koch oder Zuckerbäcker zu werden. Die Bedeutung des Geldes als Machtfaktor dämmert ihnen früher und ungeheuerlicher auf, ebenso der Sinn für Geiz und Sparsamkeit. Stereotypien und Pedanterien beim Essen finden sich oft, prinzipielle Maßnahmen wie: das Beste zuerst oder zuletzt zum Munde zu führen; die Ungeduldigen bevorzugen erstere Praktik, die Vorsichtigeren und Sparsamen letztere. Idiosynkrasien gegen Speisen, Nahrungsverweigerung, hastiges Schlingen257 werden oft als Trotzgebärde festgehalten und zeigen die Verwendung des Ernährungsproblems zur Aggression gegen die Eltern. – Abgesehen von organischen Erkrankungen des minderwertigen Ernährungsapparats im späteren Leben, von denen ich bei diesem Typus auf Ulcus ventriculi, AppendizitisK, Karzinom, Diabetes, Leberund Gallenerkrankungen aufmerksam gemacht habe, zeigt sich in der Neurose die stärkere Beteiligung, das Mitschwingen und die häufigere Verwendung funktioneller Störungen des Magendarmtraktes. Seine intimere Beziehung zur Psyche spiegelt sich in vielen neurotischen und psychotischen Symptomen wider. Einem speziellen Kunstgriff dieser Art glaube ich auf der Spur zu sein, ohne eine abschließende Anschauung vorlegen zu können. Eine Anzahl neurotischer Symptome wie Erytrophobie, neurotische Obstipation und Kolik, Asthma, wahrscheinlich auch Schwindel, Erbrechen, Kopfschmerz, Migräne stehen in einem mir noch nicht ganz aufgeklärten Zusammenhang mit willkürlichem, aber unbewusstem Zusammenspiel von Anuskontraktion (»Krampf« der Autoren, »Spasmus des Sigma«?258 HolzknechtK, SingerK) und Aktionen der Bauchpresse, symbolischer Akte259, die unter der Herrschaft der verstärkten Fiktion zustande kommen.260 Den Erwerbssinn dieses Typus, seine Gier nach Geld und Macht fand ich auffallend im Vordergrund und als wesentlichen Einschlag im Persönlichkeitsideal. [61] 256 257 258 259 260
Sublimierungen ] hervorgehoben 1922 Erg.: und Unfähigkeit zum Schlucken 1919 Sigma ] Änd.: Stigma 1928? Erg.: einer Bauchsprache 1922 Erg.: Zwangserröten und hysterische Ohnmacht scheinen regelmäßig durch [Erg.: Zusammenwirken von 1922] Glottisschluss und Bauchpresse eingeleitet zu sein. 1919
Praktischer Teil
I. Kapitel Geiz – Misstrauen – Neid – Grausamkeit – Herabsetzende Kritik des Nervösen – Neurotische Apperzeption – Altersneurosen – Formenund Intensitätswandel der Fiktion – Organjargon
Ich will zuerst von Charakterzügen sprechen, die sich mit gewisser Regelmäßigkeit bei allen Nervösen nachweisen lassen, und die in der Weise zum Ausdruck kommen, dass der Patient mit großer Gier, direkt oder auf Umwegen, bewusst oder unbewusst, durch zweckmäßiges Denken und Handeln oder durch das Arrangement von Symptomen nach vermehrtem Besitz, nach Vergrößerung seiner Macht und seines Einflusses, nach Herabsetzung anderer Personen und Verkürzung derselben strebt. Meist finden sich alle diese Formen des Eigennutzes1 beisammen, und erst nach besserer Einsicht erkennt man das gewaltige Überwiegen der Umwege, durch die der Patient sich und seine Umgebung täuscht. Er täuscht auch die Wissenschaft. Denn während er beispielsweise den Uneigennützigen spielt, findet man in seinen Anfällen, in seiner Neurose, zugleich aber in dem durch letztere erzielten Endeffekt die verstärkte Gier wieder, von der wir eingangs gesprochen haben; er erweckt so den Eindruck eines Doppel-Ichs, an Spaltung des Bewusstseins Leidenden, und während ein fiktiver Endzweck ihn stärker als den Gesunden das Schema des Geizes, des Neides, der Herrschsucht, der Bosheit, der Rechthaberei, der Gefallsucht2 auf verborgenen Wegen einhalten lässt, darf er offen – auch aus Gefallsucht etwa3 – den Wohltäter und Gönner, den Friedensstifter und uneigennützigen Heiligen spielen. Nicht ohne dass dieses Spiel gewöhnlich zum Unheil ausschlägt, etwa wie Gregor Werles Wahrheitsfanatismus in IbsensK »Wildente«. Man kann die Sucht des Neurotikers, alles haben zu wollen, nicht stark genug ansetzen, seine Gier, der erste sein zu wollen, unmöglich übertrieben darstellen – wenn auch die offen zutage liegenden Charakterzüge das widersprechendste Bild dazu liefern. Was den Patienten wirklich treibt, ist das eindeutigste Verlangen nach ausschließlicher Macht, und da sein Persönlichkeitsgefühl an vielen seiner Mittel Anstoß nimmt, auch die Macht anderer seinen Triumph hindern könnte,4 verbirgt er die verwehrten Charakterzüge vor sich und den anderen, und als verständnisvoller 1 2 3 4
Erg.: und der Eigenliebe 1928 des Geizes bis Gefallsucht ] hervorgehoben 1922 auch aus Gefallsucht ] hervorgehoben 1922 etwa ] Ausl. 1922 Erg.: verschließt er die Augen 1919
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Kenner feindseliger Regungen und deren Unbeliebtheit lässt er sich im Tageslicht, in seinen »bewussten Regungen« von dem Ideal der Tugend leiten5. Dabei verrät sich sein verstärkter Aggressionstrieb dennoch, und zwar im Traume, in unbeherrschten Handlungen, in Haltung, Mimik und Gebärde und in jenem psychischen Geschehen, dessen Ausdruck die Neurose ist.6 Bezüglich der Frage der Vererbung derartiger Charakterzüge, ja auch ihrer antagonistischen Anordnung, stellt sich in der Regel [64] heraus, dass sie als sekundäre Leitlinien nach dem Bilde des Vaters, der Mutter oder stellvertretender Personen erworben und keineswegs angeboren sind. Die neurotische Psyche findet sie im eigenen oder in einem vorbildlichen Material vor, als welches für viele Fälle auch das Doppelspiel, die Bewusstseinsspaltung der menschlichen Gesellschaft7 zu gelten hat. Der Kunstgriff der Neurose aber ist es dann, die für den fiktiven Zweck der Persönlichkeitserhöhung oft ungeeigneten, feindseligen, aggressiven Züge zu verbergen, zu verändern, den gleichen Zweck vielmehr noch intensiver auf Umwegen, oft durch entgegengesetzte Charakterstimmungen und durch neurotische Symptome zu erreichen. Man überzeugt sich dann leicht, dass die übertriebene Freigebigkeit solcher Patienten dem gleichen Ziel des »Willens zur Macht« gehorcht, dem sich der Kranke auch durch Steigerung seines Aggressionstriebs, seiner Begehrlichkeit, seiner Sparsamkeit zu nähern versucht8. Einer meiner Patienten, der wegen Stotterns und Depressionszuständen9 in meine Behandlung kam, ließ für seine Umgebung nur die Züge der Freigebigkeit erkennen. Eines Tages übergab er einem Institut eine größere freiwillige Spende und erzählte mir dies, indem er scheinbar unvermittelt daran die Bemerkung knüpfte, er sei heute besonders deprimiert. Dabei trat auch sein Stottern stärker hervor. Der verstärkte Zustand seiner Neurose erwies sich als eine Folge seiner Freigebigkeit, durch die er sich nun verkürzt fühlt, und man ist berechtigt, den wahren Charakter in weiteren Handlungen, Gedanken oder Träumen, parallel laufend den hervortretenden neurotischen Symptomen zu erwarten, nicht etwa, weil er den Geiz oder eine entsprechende Sexualregung »verdrängt« hatte, sondern10 weil er sich von seinem Ziel: Vermehrung des
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Erg.: ohne dass beide Linien einander stören 1928 Erg.: So kommt es, dass immer wer [Änd.: jemand 1928] aus der Umgebung den schlechten Charakterzug des Neurotikers kennt, freilich ohne den ganzen Ernst der Situation zu verstehen. 1919 7 das Doppelspiel bis Gesellschaft ] hervorgehoben 1922 8 Erg.: indem er sich in der Rolle des Gebenden zeigt 1919 Erg.: während er der einzig Nehmende ist 1922 9 Stotterns und Depressionszuständen ] hervorgehoben 1922 10 nicht etwa bis sondern ] Ausl. 1919
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Besitzstandes, zu weit entfernt hatte. Er muss nun etwas tun, um wieder dahin – zurückzukehren. »Es war schon spät in der Mittagszeit«, so erzählte er weiter, »ich verspürte starken Hunger, und zudem erwartete mich mein Freund in einer Restauration, wo wir zusammen speisen wollten. So musste ich also den (weiten) Weg dahin gehen. Mein Freund wartete noch. Nach dem Essen wurde es mir etwas besser.« Das heißt, er begann sofort wieder zu sparen und ging zu Fuß, trotz Hunger, Depression und Rendez-vous. Nebenbei konnte er so den Freund warten lassen, was für viele Neurotiker die verdeckte Art ist, ihre Herrschsucht zu betätigen.11 Die allerersten Äußerungen, Handlungen, Mitteilungen des Patienten beim Arzte enthalten oft das Wesentliche aus dem Krankheitsmechanismus und aus der Charakterbildung. Es rührt dies daher, weil der Patient noch nicht die Vorsichtsbereitschaft dem Arzt gegenüber besitzt. Als obiger Patient sich mir vorstellte, erzählte er mir unaufgefordert, sein Vater sei nicht wohlhabend, und er könne für die Behandlung keine großen Opfer bringen. Nach einiger Zeit kam während der Behandlung notgedrungen das Geständnis zutage, dass er mich in diesem Punkte belogen habe, um einen geringeren Honoraransatz zu erzielen. Auch in vielen anderen Beziehungen erwies er sich als geizig12. Aber gleichzeitig versuchte er sich und insbesondere andere darüber zu täuschen. Beide Züge besaß auch der Vater, und unser Patient war von diesem mit besonderem Nachdruck auf die Sparsamkeit hingelenkt worden. Oft hatte man es ihm vorgesagt: »Geld ist Macht, für Geld kann man alles haben!« So konnte es nicht fehlen, dass unser Patient, der bereits in der Kindheit sehr ehrgeizig und herrsch[65]süchtig13 war,14 als er später in eine unsichere Situation geriet und das Maß des Vaters auf geradem Wege nicht erreichen zu können glaubte, unter dem Drucke seines Ehrgeizes zu dem Kunstgriff Zuflucht nahm, durch Beibehaltung eines Kinderfehlers, des Stotterns, den Vater von dessen Ohnmacht, vom Fehlschlagen seiner Erziehungspläne zu überzeugen. Er verdarb durch das Stottern dem Vater das Spiel, weil er nicht der Erste sein, weil er ihn nicht überflügeln konnte.15 11 Erg.: Seither sah ich viele Patienten, bei denen Hunger Kopfschmerzen, Zittern, Depression und Hassgefühle auslöste. Einiges mag sicher organisch bedingt sein, die übrigen Symptome sind Proteste gegen ein durch den Hunger veranlasstes Sinken des Persönlichkeitsgefühls, das schließlich zu Delirien führen kann. 1919 12 geizig ] hervorgehoben 1928 13 ehrgeizig und herrschsüchtig ] hervorgehoben 1928 14 Erg.: übrigens ein Zweitgeborener 1928 15 Erg.: Gleichzeitig sorgte er so für seine Enthebung, um den Gott, den er im Busen trug, nicht auf die Probe stellen zu müssen. 1922 Erg.: Auch in meinen anderen Fällen von Stottern fand sich dieses Symptom als Ausdruck des Zögerns bei ehrgeizigen Menschen, die vorübergehend oder dauernd den Glauben an sich verloren haben Anm.:
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Unsere Kultur gibt aber den Kindern großenteils recht, die in der Ansammlung von Geld den Weg zur Macht erblicken. Also geleitet nahm sein Wille zur Macht die äußere Form der Sparsamkeit und des Geizes an, indem er diese noch überspannte. Erst der Widerspruch zwischen offenen niedrigen Geizbetätigungen und dem Persönlichkeitsideal16 zwang zum Verstecken der Geizregung, mit deren Hilfe er dem Vater überlegen werden wollte, und erzwang das Stottern als Ersatz17. Im weiteren Verlaufe der Analyse zeigte sich der Ausgangspunkt seines verstärkten Strebens nach Besitz. Er litt in den ersten Lebensjahren fast unausgesetzt an Magen- und Darmbeschwerden, die sich als Ausdrucksform einer angeborenen Minderwertigkeit des Ernährungstraktes geltend machten. Auch in der Familie spielten Magen- und Darmerkrankungen eine große Rolle. Der Patient erinnerte sich sehr genau, wie oft er trotz Hungergefühls und Begehrlichkeit wohlschmeckende Speisen entbehren musste, während Eltern und Geschwister sie behaglich verzehrten. Wo er konnte, sammelte er Speisen, Bonbons und Früchte, um sie später schmausen zu können. In dieser Neigung zum Sammeln18 sehen wir bereits die Wirkung der vorbauenden Sicherungstendenz, die beständig daran arbeitet, das Verkürzungsgefühl irgendwie auszugleichen.19 Wie weit sie20 aber reicht, kann uns21 etwa ein konstruiertes Beispiel zeigen, das ich mit Analogien aus unserem Fall belegen kann. Die Gier nach Macht und damit22 nach Besitz kann durch das Gefühl der Minderwertigkeit so aufgepeitscht werden, dass man sie an Stellen der psychischen Entwicklung trifft, wo man sie kaum vermutet. Ein derartiger kleiner Patient wird wohl anfangs den Apfel wünschen, der ihm verwehrt ist, wenn er dem Vater oder Bruder beim Essen zusieht. Es wird sich der Neid regen, und nach kurzer Zeit kann ein solches Kind in seinen Überlegungen und im Vorausdenken so weit sein – aus Gleichheitsbestrebung –, es zu verhindern, dass der andere etwas voraus-
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Siehe auch Appelt K, »Fortschritte der Stottererbehandlung« in »Heilen und Bilden«, (l. c.). 1919 Erg.: Vorherrschend ist bei allen Stotterern die Sucht nach Verzärtelung und nach mildernden Umständen. 1928 Erg.: das [Erg.: auch 1922] mit dem Gemeinsinn rechnete [Änd.: rechnen muss 1922] 1919 Erg.: zum Zweck der neurotischen Überlegenheit 1928 Erg.: und Sparen 1919 Erg.: Gelegentlich kommt es in diesem Gefühl des Verkürztseins zu Diebstählen, besonders bei verunglückter Rivalität mit nahestehenden Personen. 1928 sie ] Änd.: das Minderwertigkeitsgefühl 1928 uns ] Ausl. 1928 damit ] Änd.: folglich 1919
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haben könnte. Es wird auch den Ausbau dieses gewiss wenig bedeutungsvollen Gedankens23 bald so weit vollzogen haben, dass es Vorbereitungen und Bereitschaften parat hält, es wird sich, besonders bei ursprünglicher muskulärer Unfähigkeit, das ganze Jahr im Klettern und Springen üben, um im Herbst als Meister einen Baum erklimmen zu können. Die menschliche Psyche ist nicht imstande, jederzeit über fiktive Endziele Rechnung zu legen, und so kann dieses Kind, scheinbar losgelöst von seinem Endziel, seine Bereitschaft für Sport und Gymnastik in den Dienst anderer Tendenzen stellen, die auf andere Weise dem Persönlichkeitsgefühl dienen, etwa wie unsere modernen Staaten Kriegsrüstungen betreiben, ohne auch nur den künftigen Feind zu kennen. Der Vater unseres Patienten konnte leicht von dem Knaben als beiläufiges Vorbild genommen werden, da er an Größe, Kraft, Reichtum und sozialer Stellung seine Umgebung überragte. Wollte der kleine Junge [66] aus seiner Unsicherheit heraus, in die ihn seine konstitutionelle Minderwertigkeit gestürzt hatte, so musste er wie nach einem Plan, auf einen fixen Punkt zu, seine Vorbereitungen fürs Leben treffen. Das starke Hervortreten der Leitlinie zum Vaterideal ist bereits ein neurotischer Zug, denn in ihm können wir die ganze Not dieses24 Kindes25 begreifen, das aus seiner Unsicherheit heraus will26. Die Sicherungstendenz der Neurose führt so27 den Patienten aus dem Bereich seiner eigenen Kräfte und zwingt28 ihn auf einen Weg, der aus der Wirklichkeit herausführt: 1. weil er seine Fiktion, dem Vater zu gleichen oder ihn zu übertreffen, zu seiner Aufgabe macht und nun gezwungen ist, sein Erleben der Welt unter ihrem Zwang zu formen, zu gruppieren und zu beeinflussen; 2. weil es nie gelingen kann, eine derartige abstrakte Fiktion in der Wirklichkeit durchzusetzen, außer in29 der Psychose30. Es kommt so in die Psyche des Kindes ein intensiv suchender, messender, abwägender31 Zug, von dem ich noch32 einiges hervorheben muss. Was nach meiner Erfahrung das zu scharf gefasste Leitbild des Vaters bei neurotischen Kindern zuerst verschuldet, zeigt sich, wie ich in meinen Arbeiten gezeigt habe, beim Suchen nach der Geschlechtsrolle. Das neurotisch dispo23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
Gedankens ] Änd.: Wollens 1919 Erg.: unsicher gewordenen 1919 Erg.: und seine Überspannung 1922 das bis will ] Ausl. 1919 so ] Ausl. 1922 Sicherungstendenz bis zwingt ] Änd.: Sicherungstendenzen in der Neurose führen […] und zwingen 1928 außer in ] Änd.: abgesehen von 1919 Erg.: 3. weil das in solchem Falle überschätzte Ziel gleichzeitig abschreckt 1919 Erg.: zaudernder 1919 noch ] Ausl. 1922
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nierte Kind, oder wie ich sagen kann, das Kind, das unter dem Druck eines Minderwertigkeitsgefühls steht, will ein Mann werden – sobald die Neurose ausbricht, ein Mann sein. In beiden Fällen kann es sich nur um ein Gebaren handeln, als ob es ein Mann wäre oder werden sollte. Die verstärkte Sicherungstendenz zwingt auch in diesem Falle die Haltung des angehenden Nervösen in den Bann der Fiktion, sodass zum Teil auch bewusste Simulation zustande kommen kann, und33 z. B. ein Mädchen, um seinem Minderwertigkeitsgefühl zu entgehen, anfänglich in bewusster Nachahmung männliche Gesten des Vaters entlehnt. Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, dass sie dazu34 in den Vater verliebt sein muss. Die Höherschätzung des männlichen Prinzips genügt dabei, kann allerdings zuweilen von dem Mädchen sowie von der Umgebung als Verliebtheit empfunden werden, wenn die Vorbereitung für die Zukunft in spielerischer Weise eine Hindeutung auf Liebe oder Ehe verlangt. In unserem Falle setzte sich die Leitlinie zum kompensierenden Persönlichkeitsideal im Wandel ihrer Form und ihres Inhalts in ein ehrgeiziges Streben um, den Vater an Reichtum, Ansehen und – damit im Zusammenhang – an Männlichkeit zu übertreffen. Das Suchen nach der eigenen Geschlechtsrolle setzte intensiv und in typischer Weise als sexuelle Neugier ein, wobei der Patient im Gefühle seiner Minderwertigkeit die Kleinheit seiner kindlichen Genitalien gegenüber der Größe der väterlichen35 als eine herbe Zurücksetzung, als Mangel an Männlichkeit empfand. Sein Ehrgeiz, der ihm ermöglichen sollte, von der Stufe der Minderwertigkeit aufzusteigen, zwang ihn zur Steigerung seines Schamgefühls, damit man nicht bei einer Entblößung seine kleinen Genitalien sehen sollte. Dazu kam noch, dass er jüdischer Abkunft war. Er hatte von der Zirkumzision manches gehört und hegte die Vorstellung, dass man ihn auch bei dieser Operation verkürzt habe. Sein männlicher Protest trieb ihn zur Entwertung der Frau, als ob er auf diese Weise seine Überlegenheit erweisen müsste, und er kam mit seiner Mutter in das denkbar schlechteste Verhältnis. Aber auch dem Vater gegenüber, dessen Vorliebe für ihn er durch diplomatische Anpassung nährte, hegte er [67] feindliche Gefühle, die besonders dann zutage traten, wenn der Vater seine Überlegenheit forcierte, wozu er eine große Neigung hatte. In diesem Wirrwarr der Gefühle suchte er Orientierung und fand sie nur in dem Gedanken, dem Vater überlegen zu werden, männlicher zu werden wie er. Folgerichtig hätte er, wie es häufig in ähnlichen Fällen geschieht, Versuche unternehmen müssen, um sein Genitale zur Vergrößerung, zur Erektion zu bringen. Dieser Weg, der zu sexueller Frühreife und Masturbation führt, wurde bald von ihm 33 und ] Änd.: dass 1919 34 dazu ] Änd.: vorerst 1919 35 Kleinheit bis väterlichen ] Änd.: eigene Kleinheit gegenüber der Größe des Vaters 1919
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verlassen, weil ihn der Vater mehrmals davon abschreckte36. So blieben ihm als Ersatz37 des männlichen Protestes bloß die Versuche, reicher, angesehener, klüger wie der Vater zu werden und seine Umgebung herabzusetzen.38 Sein Vater hatte große Hoffnungen auf des Patienten Rednergabe gesetzt, die sich in der Kindheit schon gezeigt hatte, hatte sich auch durch das geringfügige Stottern des Knaben nicht beirren lassen und hoffte, dass er die juristische Laufbahn ergreifen werde. Hier konnte er den Vater39 an der wundesten Stelle treffen40, und so verfiel er in immer heftigeres Stottern, eine neurotische Äußerung der Sicherung gegen die Überlegenheit des Vaters41, zu der ihm die Anregung durch einen stotternden Hauslehrer gekommen war. In der Folge bekam dieses Symptom eine Unzahl anderer Verwendungen, beispielsweise die, dass er durch das Stottern immer Zeit gewann, seinen Partner zu beobachten, seine Worte abzuwägen, Forderungen der Familie an ihn abzulehnen, das Mitleid anderer auszunützen und ebenso das Vorurteil, womit man nur geringe Erwartungen an ihn stellte, die er dann leicht übertraf. Interessant ist, dass ihm sein recht auffälliges Stottern in der Liebeswerbung kein Hindernis war, dass es ihn eher förderte, was von unserem Standpunkte begreiflich erscheint, nach welchem ein weit verbreiteter Typus von Mädchen von der Liebesbedingung nicht lassen kann, der Mann ihrer Wahl müsse unter ihnen stehen, damit sie ihn sicher beherrschen können42. Besonders feindselige Regungen gegen Eltern, Geschwister und Dienstboten beendete er43 mit der Aufstellung einer neuen Leitlinie, die ihn zum gütigen Menschen machen44 sollte. Diese neue Entwicklung vollzog sich unter allabendlicher Ablegung einer Selbstbeichte, bei der er sich seine Bösartigkeit vorwarf und Gewissensbisse45 arrangierte. Sein wachsendes Verständnis hatte ihn so auf einen kulturellen Umweg zur Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls hingewiesen. Der Mangel einer geradlinigen Aggression zeigte sich auch darin, dass er
36 Folgerichtig bis abschreckte ] Ausl. 1919 37 Ersatz ] Änd.: Zeichen 1919 38 Erg.: Dieses Streben erfüllte ihn nach zahlreichen vergeblichen Versuchen mit Zaghaftigkeit und Vorsicht 1922 39 Erg.: gleichzeitig 1922 40 Erg.: und zugleich sich den drückenden Erwartungen entziehen 1928 41 Sicherung bis Vaters ] hervorgehoben 1922 42 Erg.: sodass sie sich gelegentlich besonders zu minderwertigen Partnern entschließen, in der Erwartung, des Dankes immer gewiss zu sein 1928 43 Erg.: um der sozialen Ächtung zu entgehen 1922 44 zum bis machen ] Änd.: als gütigen Menschen erscheinen lassen 1919 45 Gewissensbisse ] Änd.: Schuldgefühle 1928
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seinen Ehrgeiz in Gedanken und Fantasien, allerdings auch in guten Fortschritten in der Schule bewies, sodass46 er die meisten seiner Mitschüler besiegte. Eine zunehmende Neigung zu Sarkasmus und Verhetzung anderer wurde jetzt der einzig sichtbare Ausdruck seiner früher oft gewalttätigen Aggression, die ihm den Spitznamen »Blutegel« eingetragen hatte47. Eine wichtige Rolle spielte seine kämpferische Stellung für das Judentum, die sich in einer um das zwölfte Lebensjahr auftretenden Zwangshandlung widerspiegelte. Wenn er ein Schwimmbad betrat, so musste er die Genitalien mit den Händen verdecken und sofort den Kopf unter Wasser stecken, wo er ihn so lange hielt, bis48 er bis 49 gezählt hatte, sodass er oft schwer nach Luft schnappend und erschöpft auftauchte. Die Auflösung ergab als gedanklichen Inhalt die Bestrebung [68] seiner Fantasie, die Gleichheit der Genitalien herzustellen. Das 49. Jahr hat in der alten jüdischen Gesetzgebung, die er kurz vorher kennengelernt hatte, die Bedeutung des Jubeljahres, in dem alle Äcker49 wieder gleichgemacht wurden. Einfälle dieser Art und das gleichzeitige Verstecken der Genitalien wiesen der Deutung den Weg. Man konnte nun bereits den Schluss machen, dass auch sein Stottern eine Überlegenheit wettmachen sollte, die Überlegenheit des Vaters, aller Menschen, indem es ihnen zum Hindernis, oft zur Pein wurde.50 Sein Geiz, seine Sparsamkeit waren demnach51 in der gleichen Richtung tätig, Überlegenheiten anderer aus dem Felde zu schlagen, ihn vor Demütigung und weiterer Verkürzung durch Verarmung zu sichern, und so musste er52 diese sekundären Richtungslinien stark ausdehnen und seine Erlebnisse nach ihnen formen und werten, um zur Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, zum männlichen Protest zu gelangen. Nur bei Anlässen, wo ihm durch Lautwerden dieser Charakterzüge eine Beeinträchtigung seines Selbstgefühls erwachsen wäre, unterdrückte er ihre offene Betätigung53. Es wäre ein Unding, in einer medizinisch-psychologischen Frage einen Standpunkt der Moral einnehmen zu wollen, etwa Personen wie die obige als moralisch minderwertig zu beurteilen. Diejenigen, die Neigung dazu verspüren, erinnere ich an die überaus starken, kompensatorischen, wertvollen Cha-
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sodass ] Änd.: durch die 1919 eingetragen hatte ] Änd.: eintrug 1919 bis ] Änd.: als 1919 Äcker ] Änd.: Güter 1919 Erg.: Gleichzeitig erschien das Stottern ihm und der Umgebung als unverschuldete, rätselhafte Schranke seiner Leistungsfähigkeit. 1919 51 demnach ] Änd.: ja 1919 52 so musste er ] Änd.: er musste 1922 53 Erg.: versenkte er sie ins Unbewusste 1922 wo ihm bis Unbewusste ] hervorgehoben 1922
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rakterzüge, im Übrigen aber an die weise Sentenz La RochefoucauldsK, der also urteilte: »Ich habe nie die Seele eines schlechten Menschen untersucht, aber ich habe einmal die Seele eines guten Menschen kennengelernt: Ich war erschüttert!« In einem anderen Falle zeigt sich der Charakter des Geizes nicht allein als Hilfskonstruktion, um ein Gefühl der Verkürztheit zu kompensieren, sondern vor allem als Kunstgriff, der der Sicherungstendenz dient. Ein 45-jähriger Patient, der zeitlebens an psychischer Impotenz litt und von Suizidgedanken verfolgt war, zeigte eine besonders starke Neigung, andere herabzusetzen. Wir kennen diesen Charakterzug aus der Schilderung des vorigen Falles, wo er, wie immer, dazu diente, das eigene Gefühl der Minderwertigkeit aufzuheben. Mit dieser Tendenz sind regelmäßig gesteigertes Misstrauen und Neid verbunden, die als neurotische, psychische Bereitschaften das Aufsuchen und Werten der Erlebnisse zu verfälschen haben. Auch eine Neigung, anderen in irgendeiner Weise körperlichen oder seelischen Schmerz zu bereiten, wird sich dabei in versteckter Weise immer durchzusetzen wissen. Der abstrakte leitende Gesichtspunkt des Patienten, seine herrschende Stellung zu sichern, »oben zu sein«, schien offenbar bedroht und zwang zur Verstärkung fiktiver Richtungslinien. Aus der Kinderzeit kamen Erinnerungen zur Verwendung in der Neurose, denen zufolge er einem Homosexuellen fast zum Opfer gefallen wäre. Er war unter Schwestern als einziger Knabe aufgewachsen, eine Situation, die nach meiner Erfahrung das Verständnis für die eigene Geschlechtsrolle häufig beeinträchtigt54. Wichtig war seine Stellung zum Vater, weil sie ihn auch zu verstärkten Sicherungen zwang. Der Vater war nämlich brutal, egoistisch, tyrannisch, sodass es dem Knaben schwerfiel, sich neben ihm in offener Weise zur Geltung zu bringen. Einige Liebesabenteuer hatten den Vater in recht schwierige Situationen gebracht, die unser Patient in seiner entwickelten Neurose als Memento verwendete. Sein Misstrauen wendete sich55 gegen alle Frauen. Seinen [69] Schwestern gegenüber blieb er zeitlebens aufopferungsfähig, aber diese Tatsache apperzipierte er schon mit überaus starker Empfindung und entwickelte daraus mit Tendenz Gedankengänge, wie leicht er Frauen gegenüber nachgäbe. Und er konnte auch gelegentlich in dieser Richtung weit gehen, um diesen Eindruck bei sich recht scharf hervorzuheben. Dann war er vorbereitet, sich von den Frauen zurückzuziehen56. Aus seiner Kindheit hatte er Gefühle der Minderwertigkeit in ein sexuelles Bild gebracht. Die Ursache seiner unmännlichen Haltung – hatte ihn doch der Homosexuelle als Mädchen nehmen wollen! – suchte und fand er in einem 54 Erg.: überempfindlich macht und die Selbstsicherheit bedroht 1919 55 Erg.: generalisierend 1922 56 Erg.: ihnen die Hingabe zu verweigern 1919
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gelegentlichen Kryptorchismus, der durch einen offenen Leistenkanal verschuldet war57. Als er acht Jahre alt war, beobachtete er einen Knaben bei der Masturbation. Hic puer ei semen ejaculavit in os K, was er als ein weiteres Zeichen seiner weiblichen Rolle empfand.58 Solange er den Vater zum Leitpunkt gemacht hatte, zeigte er die gewöhnlichen Vorbereitungen, ihm gleich zu werden. Er trank ihm heimlich den Schnaps aus, versuchte die Mutter auf seine Seite zu ziehen und wählte frühzeitig den Beruf seines Vaters, in welchem er auch seine durch das Gefühl seiner Minderwertigkeit und durch das Hinstreben zum Leitbild des Vaters gereizten sadistischen Neigungen befriedigen konnte, er wurde Fleischhauer. Rohe Neigungen betätigte er auch gerne an Mädchen und Frauen, er biss sie, schlug sie und nahm auch einmal an einer Vergewaltigung teil, bei der er den Coitus per anum ausführte, um nicht etwa zu Alimenten verpflichtet zu werden59. Dieses Erlebnis aber, das ihn noch ganz in der brutalen Manier des Vaters zeigte, drängte ihn durch die drohende Konsequenz vor strafrechtlichen Folgen und durch die damit verbundene Herabsetzung seines Persönlichkeitsgefühls auf einen neurotischen Umweg. Er verwendete sein ohnehin gesteigertes Misstrauen gegen Mädchen dazu, sie mit eifersüchtigen Anwandlungen zu quälen, sie ganz unter seinen Einfluss zu beugen und sich auf diese Weise den Schein seiner Herrschaft zu sichern. Seine Ejaculatio praecox und die damit verbundene Impotenz60 dienten seinem Sicherungsbedürfnis ebenso wie seiner Gehässigkeit gegen die Frau. Mit Vorliebe versuchte er verheiratete Frauen zu verführen, um ihnen durch seine Impotenz Enttäuschungen zu bereiten, gleichzeitig aber, um in spielerischer Weise Bestätigungen zu erlangen, dass »alle Frauen« schlecht seien. Auch in Zwangsideen äußerte sich diese Neigung, weh zu tun. So hatte er während der Kur noch Anwandlungen, eine Sprachlehrerin während des Unterrichts zu beißen und zu schlagen, weil ihm Gedanken aufgetaucht waren, sie hätte einen Geliebten, den sie ihm vorzöge. Diese sadistische Reaktion auf ein Gefühl des Unterliegens, als männlicher Protest gegen die Empfindung, unmännlich, weiblich61 zu sein, stammt aus der Kindheit und durchzieht seine ganze Neurose. Es war nicht schwer, nachzuweisen, dass seine Impotenz in gleicher Weise dem Endzweck gehorchte, eine Art62 zu fin57 der durch bis verschuldet war ] Änd.: der mit einem offenen Leistenkanal zusammenhing 1922 58 Als er acht Jahre bis empfand ] Ausl. 1919 59 bei der er bis zu werden ] Ausl. 1919 60 Erg.: (sichere Zeichen mangelnder Hingabe) 1919 sichere ] Änd.: ebenso wie Frigidität sichere 1922 61 weiblich ] Änd.: weich 1919 62 eine Art ] Änd.: einen Weg 1922
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den, um der Liebeshörigkeit, der Unterstellung unter ein Weib zu entkommen, eine Tendenz, die aber ihre Fortsetzung darin fand, immer wieder Frauen auf irgendeine Weise herabzusetzen. Als er bei seiner Lehrerin keine Aussicht zu reüssieren hatte, verließ er sie brüsk, da er wusste, dass das Mädchen auf Stundengeben angewiesen war. Vorher aber stellte er kritische Berechnungen über die Kosten seiner Sprachstunden auf, fand sie für seine Verhältnisse unerschwinglich, was als falsche, tendenziöse Wertung des sehr wohlhabenden [70] Mannes deutlich in die Augen sprang. – In gleicher Richtung verwendete er gelegentlich auftauchende Erinnerungen an inzestuöse Gedanken, um sich seiner Schwäche, seiner verbrecherischen Neigung, sobald Frauen ins Spiel kamen, mit Schrecken bewusst zu werden. So stellte er seine Operationsbasis her, von der aus er sich vor dem weiblichen Geschlechte sichern musste, wodurch ihm eine dauernde Überlegenheit im Leben gewährleistet schien. Der tiefste Kern seines Zwangs zur Sicherung vor der Frau war, er könnte in der Ehe, in der Liebe Enttäuschungen erfahren, die er seiner Unmännlichkeit zugeschrieben hätte. Da er sein neurotisches Ziel im Beweis seiner Macht suchte, musste er vorsichtig und zu neurotischen Umwegen geneigt werden. Auch bei diesem Patienten lagen frühzeitige Magen-Darm-Störungen vor und als peripheres Minderwertigkeitszeichen der fatale Leistenbruch63. Bei seiner Art der Liebesbetätigung bot sich der übertriebene Geiz als das brauchbarste Mittel zur Sicherung gegen eine zu weitgehende Hingabe. Sollte aber dieser Geiz etwas leisten können, so musste er den ganzen Kreis seiner Lebensbeziehungen umfassen und allgegenwärtig sein. Er musste selbst wieder gestützt und durch allerlei Winkelzüge befestigt werden. Unter anderem geschah dies durch das Arrangement von Zwangsgedanken. Wenn er ein Automobil benützte, kam ihm der Gedanke, es64 möge ein Zusammenstoß erfolgen. Ein näheres Eingehen auf diese Zwangsidee ergab, dass er nicht im Entferntesten an diese Möglichkeit glaubte, dass er aber65 allen teuren Fahrgelegenheiten auswich. Ja sogar, wenn er eine längere Strecke mit der Trambahn fuhr, kam ihm am Ende der billigeren Zone der Gedanke an einen Zusammenstoß oder an das Einstürzen einer zu befahrenden Brücke, sodass er fast immer den geringeren Fahrpreis bezahlte, einige Heller ersparte und den Rest des Weges zu Fuß ging. Er war auf der Linie, sich jede Ausgabe zu verbittern66. So kam67 es auch, dass er, um eine einheitliche Haltung zu gewinnen, in gleicher Weise die Herabsetzung des Mannes anstrebte. Schon bei seiner Jagd 63 64 65 66 67
Erg.: und der Kryptorchismus 1922 Erg.: könnte oder 1922 Erg.: auf seine Phobie gestützt 1922 Erg.: gleichzeitig auch den Kreis seiner Leistungsfähigkeit einzuschränken 1919 kam ] Änd.: geschah 1922
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auf verheiratete Frauen kam dies zum klaren Ausdruck, und es befriedigte ihn die Bestürzung und Enttäuschung der verführten Frauen, die Schimpfworte, die er ihnen68 nachträglich gab, nicht weniger als die Genugtuung, sich wieder einmal als der Stärkere69 gezeigt zu haben. Dies wurde nachgerade zum Inhalt seines Lebens, die Formverwandlung, in der sich seine ursprüngliche Fiktion, der Männlichste zu werden, annähernd erfüllt hatte. Nur die Furcht vor der Frau, die ihn ursprünglich, gleichgerichtet mit der Empfindung seiner eigenen Weiblichkeit, zu seinem übertriebenen männlichen Protest gebracht hatte, fand sich wieder in der übergroßen Sicherung vor der Überlegenheit der Frau und ließ ihn als Schutzdamm sein Misstrauen und seinen Geiz, die beide trefflich argumentieren konnten, maßlos verstärken. Von dieser Sicherungstendenz fortgerissen, fixierte er zudem noch die psychische Impotenz, die er bei seinen ersten Versuchen kennengelernt hatte. Ein Dienstmädchen, das er als Jüngling verführen wollte, leistete ihm Widerstand und weigerte sich ihm mit geschlossenen Beinen70. Er war damals unerfahren und hielt sich für impotent. Später, als er gelehriger geworden war, empfand er seine Unerfahrenheit so, als ob das Weib für ihn ein Rätsel, unergründbar sei. In der ursprünglichen Impotenz aber71 und in seiner Ratlosigkeit der Frau gegenüber fand er [71] die neurotischen Umwege, sich einer endgültigen Niederlage, einer Entscheidung zuungunsten seiner Männlichkeit zu entziehen. Das Messen mit anderen Männern setzte nun verstärkt ein. Er ertappte sich beispielsweise in einer psychischen Situation, wo er mit einer Gesellschaft bei Tische sitzend, bevor noch jemand ein Wort gesprochen hatte, bereits lauerte72, was er entgegnen sollte, wie er dem Sprechenden unrecht73 geben könnte. Sprach er über ein Buch, über ein Theaterstück, eine Gesellschaft, über einen Ort, so drang stets seine74 herabsetzende Kritik in schärfster Form durch. Und so war es auch zu erwarten, dass er in jeder ärztlichen Behandlung nach einer kurzen Einleitung die Charakterzüge des Misstrauens, des Geizes, der Entwertung, oft kunstvoll ineinander verschlungen, zum Ausdruck brachte. Dies nicht etwa im Sinne der Liebesübertragung Freuds, sondern weil75 seine festgefrorene psychische Geste, seine Attitüde der Angriff, die Herabsetzung des anderen waren76 und bei näherer Betrachtung zum Vorschein kommen muss68 69 70 71 72 73 74 75 76
ihnen ] ihr (korrigiert). Erg.: gegenüber den Ehegatten 1919 und weigerte bis Beinen ] Ausl. 1919 Erg.: die nur der psychische Ausdruck seiner Gegengründe war 1922 bereits lauerte ] Umstellung nach: sitzend 1922 unrecht ] hervorgehoben 1922 seine ] Änd.: eine 1922 Dies bis sondern weil ] Ausl. 1919 waren ] Umstellung nach: Attitüde 1919
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ten77. Dazu kam noch ein verschärfendes Moment. Seine Absicht, wenn er den Arzt aufsuchte, konnte ja nicht sein, pure et simple von seiner Impotenz befreit zu werden, da er dadurch in das Chaos seiner Befürchtungen gestürzt worden wäre. Er wollte vielmehr den Beweis seiner Unheilbarkeit oder einen Weg finden, auf dem er ohne Furcht vor einer Niederlage potent sein konnte. Um zum ersten Ziel zu gelangen, war die Entwertung des ärztlichen Könnens Vorbedingung. Den Weg78 aber konnte er nur finden, wenn er die Furcht vor der Frau bis zu ihren79 Quellen zurückverfolgt hatte, bis zum80 Gefühle seiner Unmännlichkeit, in dem sich das Gefühl seiner Minderwertigkeit konkretisiert hatte. Einer seiner Träume aus der Zeit vor Beendigung der Behandlung zeigte diesen Sachverhalt sehr genau. Ich muss vorher kurz bemerken, dass ich wesentliche Bestandteile der Breuer-Freud’schen DeutungstechnikK benütze81, den Traum aber82 als die Spiegelung eines abstrahierenden, simplifizierenden Versuches auffasse, aus einer mit einer Niederlage drohenden Situation durch Vorausdenken und Ausprobung der Schwierigkeiten an einem dem Patienten eigentümlichen Schema einen sichernden Ausweg für das Persönlichkeitsgefühl zu finden83. Deshalb wird sich auch in jedem Traume das signifikante Schema der gegensätzlichen Apperzeptionsweise: »Männlich – Weiblich« und »Oben – Unten« als jedem Menschen ursprünglich anhaftend, beim Nervösen aber verstärkt, wiederfinden. Die zutage tretenden Einfälle und Erinnerungen müssen erst in dieses Schema eingereiht werden, um den Sinn des Traumes zu ergeben, der nicht – oder nicht prinzipiell – einen infantilen Wunsch zu erfüllen hat, dessen Aufgabe es vielmehr ist,84 einleitende Versuche zu begleiten85, die unter Reduktion auf ein kleineres Maß das Soll und Haben des Patienten in dessen neurotischer Art zugunsten des Persönlichkeitsgefühls zur Verrechnung bringen. Der Traum lautete: »Ich handle mit alten Sachen in Wien oder in Deutschland oder in Frankreich. Ich muss aber neue Sachen kaufen und sie abwaschen, weil dies dann billiger kommt. Dann sind es wieder alte Sachen.« Die neuen Sachen bedeuten ein neues, potentes Genitale86 im Gegen77 78 79 80 81 82 83
mussten ] Umstellung nach: und 1919 Erg.: zur Heilung 1919 Erg.: irrtümlichen 1919 Erg.: kindlichen 1919 wesentliche bis benütze ] Ausl. 1919 aber ] Ausl. 1919 Anm.: Siehe insbesondere Adler, Traumdeutung in Heft 4 des 7. Jg. der Internat. Zft. f. Indiv.-Psychologie 1928 84 Erg.: die der Neurose entsprechende Stimmung zu erzeugen, dessen Deutung 1928 85 zu begleiten ] Änd.: ergibt 1928 86 ein bis Genitale ] Änd.: eine neue Potenz 1919
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satz zu den »alten Sachen«, seiner Impotenz, die noch niemand87 geheilt hatte. Hier schimmert der Gedanke an ein neues Leben, an die Möglichkeit einer Erlangung der Potenz durch. Die Worte, »weil dies [72] dann billiger kommt«, decken oben klargelegte Gedankengänge, seine Furcht vor Geldausgaben im Falle seiner Potenz. Dieser Gedanke ist aber nur in einem Falle haltbar, wenn nämlich der Patient von der Überzeugung durchtränkt ist, er sei maßlos in seinem Liebesdrang, kenne keine Grenzen und jage sinnlos den Frauen nach. Diese88 Überzeugung nun holt er sich tendenziös aus Erinnerungen der Kindheit, der Pubertät und des Mannesalters. Dabei hilft er auch der Gestaltung seiner kindlichen Inzesterinnerungen nach und bringt sie wie jeder Nervöse, wenn sie ihm taugen, in die Form, als ob er die Mutter oder die Schwestern in sexueller Absicht begehrt hätte. Das heißt, er arbeitet mit einer aus dem Endzweck abgeleiteten Fiktion, um sich zu sichern, ähnlich wie Sophokles K die Ödipussage formt und ausgestaltet, um die heiligen Gebote der Götter zu festigen89. Unser Patient ist ein williges Opfer seines mangelhaften Verständnisses für Dialektik, für die Gegensätzlichkeit des primitiveren Denkens geworden. Der leitende Gedanke seines Persönlichkeitsideals: »Ich darf Blutsverwandte nicht begehren«, enthält dialektisch den Gegengedanken von der Möglichkeit eines Inzests. Da der Nervöse sich sichern will, hält er sich an den Gegengedanken, spielt mit ihm, unterstreicht ihn und verwendet ihn in der Neurose wie alle erschreckenden Erinnerungen, die ihm für seine Sicherung nützlich erscheinen. Im Leben unseres Patienten und aller Nervösen hat es noch viel mehr Erlebnisse gegeben, die ihnen die Überzeugung hätten beibringen können, dass sie frei von Inzestregungen, dass sie überhaupt immer äußerst maßvoll, vorsichtig und zaghaft waren. Da er sich aber sichern will, stoßen sein Gedächtnis und seine neurotische, fälschende Apperzeptionsweise diese Züge tendenziös von sich. Er hat viel mehr Eindrücke davon, dass er die Mutter und die Schwestern nicht begehrte –, er kann sie aber zur Sicherung nicht verwenden. So bleibt ihm bloß eine Erinnerungsspur an ein vorbereitendes, spielerisches Unterfangen, und weil ihm dies als Warnung dienen kann, macht er daraus einen Popanz, mit dem er sich erschreckt.90 Genau in der gleichen Weise entstehen die neurotische Angst, die Platzangst, Hypochondrie, Pessimismus und Zweifelsucht, indem die Patienten bloß die zur Sicherung dienenden Eindrücke und Erlebnisse heranziehen, die 87 Erg.: in allen Ländern 1922 88 Diese ] Änd.: Die entsprechende 1919 89 die Ödipussage bis festigen ] hervorgehoben 1922 Erg.: Gleichzeitig drückt sich sein Begehren nach Unterjochung der Mutter und der Schwestern im Sexualjargon aus. 1922 90 Erg.: Er will »abwaschen«, d. h. sich frei davon machen. 1922
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ihre Affektlage verstärken, und die übrigen, speziell die entgegengesetzten, entwerten. Die Fähigkeit der SophistenK, von jedem Ding »in utramque partem dicere«, hat auch der Nervöse und der Psychotische, und sie verwenden sie je nach Bedarf. Die scharf zugeschliffenen, tendenziös verstärkten Bereitschaften des Nervösen und die ihnen beigeordneten neurotischen Charakterzüge bringen es mit sich, dass jede neue Situation verwirrend wirkt (Lombrosos K Misoneismus). Am meisten fürchtet unser Patient die ihm unbekannte Situation der Sexualbefriedigung und des gelungenen Koitus91, weil er sich in dieser vorausempfundenen Situation – aus Sicherungsgründen – als den unterliegenden Teil gesetzt hat. Nun stellt diese Furcht, die als Furcht vor der Impotenz empfunden wird, eine weitere Sicherung dar gegen die Möglichkeit, von der Frau gefesselt, festgehalten, betrogen zu werden, ihr nicht gewachsen zu sein, gegen eine Rolle, die seinem männlichen Ideal widerspricht, und die er deshalb als weiblich wertet. Aus harmlosen, ubiquitären Zügen der Selbstsucht, des Geizes und der Sparsamkeit, arrangiert er eine tiefgreifende, [73] scheinbar immanente, in Wirklichkeit fiktive Leitlinie des Geizes, weil ihn diese am besten zu behüten scheint. Bekommt er, wie im Traume, was er schon in der Kindheit gewünscht, neue Genitalien, eine gesunde Potenz, dann muss er sich dagegen wehren. Und er greift zu einem Mittel, das er schon lange kennt, das ihm oft schon vergebens empfohlen wurde, zunächst immer aber seine Erektionen abschwächte, statt sie zu stärken, zu kalten Waschungen. Dieser in seiner Erfahrung mangelhaften Kur setzt er meine Behandlung gleich. Die Kur soll das Gegenteil von dem bewirken, was sie anstrebt, und der Arzt soll ebensowenig einen Erfolg erzielen wie die früheren Ärzte. So zeigt der Traum dem Patienten den Ausweg, sich vor der Heilung zu schützen und damit92 dem Arzte überlegen zu sein93. »Dann sind es wieder alte Sachen«. In anderen Fällen von psychischer Impotenz gelingt die Heilung leicht, und wie wir wissen, mit den verschiedensten Mitteln. Oft handelt es sich nämlich um nervöse Patienten, die schon durch ihren Gang zum Arzt94 zu verstehen geben, dass sie geneigt wären, diese Art von Sicherung aufzulassen. Nun helfen Medikamente, Kühlsonden, Elektrizität, hydropathische Kuren und insbesondere jede Art von Suggestion, auch die durch eine unvollkommene95 Analyse. Es genügt dann zuweilen die Autorität des ärztlichen Wortes, damit bestimmte 91 und des gelungenen Koitus ] Ausl. 1919 92 und damit ] Änd.: um 1919 93 und damit bis zu sein ] Änd.: was ihm nur gelingt, wenn er dem Arzt überlegen ist 1928 94 schon bis Arzt ] hervorgehoben 1922 95 unvollkommene ] Änd.: unsinnige 1919
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Bedenken fallen. In den schweren Fällen ist eine Umwandlung der auf Sicherung allzu stark bedachten Psyche nötig96. ___________ 5
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Das Alter treibt oft den Neid und Geiz stark hervor. Psychologisch ist dies nicht schwer zu begreifen. Wie schön auch Dichter und Philosophen die Zeit des Alters auszuschmücken versuchen, nur den erlesenen Geistern dürfte es gegeben sein, ihr Gleichgewicht zu bewahren, wenn sie die Pforte, die zum Tode führt, aus der Ferne auftauchen sehen. Und die Entbehrungen und Einschränkungen, die natürlicherweise das Alter mit sich bringt, die fühlbare Überlegenheit jüngerer Menschen, Angehöriger, wie sie oft in harmloser Weise oder harmlos scheinend zu Zurücksetzung älterer Personen Anlass gibt, werden fast immer zur Herabdrückung des Persönlichkeitsgefühls führen. Die sonnige Bereitschaft Goethes, im »Vater Kronos«K erquickend zum Ausdruck gebracht, ist wohl für die meisten Menschen eine unerreichbare Illusion, und glücklich sind die zu preisen, die ohne schwere Beeinträchtigung des Gemütes den Verlust ihrer besten Zeit überdauern. Nach unseren Voraussetzungen ergibt sich folgerichtig, dass die Zeit des Alterns wie eine dauernde Herabsetzung ein starkes Minderwertigkeitsgefühl auslöst. Insbesondere werden alle darunter leiden, bei denen neurotische Disposition vorliegt. Zuweilen bringt das Alter erst, das Klimakterium bei Frauen, Gefühle der Insuffizienz geistiger oder physischer Art, Anzeichen von Impotenz, Auflösung der Familie, Verheiratung eines Sohnes oder einer Tochter, auch Geldverluste oder Entsagungen98 von Ämtern und Würden den Zusammenbruch. Meist finden sich in der Vorgeschichte schon Spuren oder Ausbrüche neurotischer Erscheinungen. Das Alter mit seinen Einbußen wirkt wie andere Herabsetzungen des Persönlichkeitsgefühls. Der99 Aggressionstrieb sucht andere Wege, um eine Ausgleichung herbeizuführen, andere Wege, die leider in diesen Fällen nicht leicht zu haben sind. Leichter wäre der Verzicht, wenn gleichmäßig mit dem Sinken körperlicher und geistiger [74] Kraft das Empfindungsleben sich einengte. So kommt es selten. Und um den Ersatz zu finden, peitscht der durch Unsicherheit gereizte Aggressionstrieb alle Regungen des Begehrens noch einmal auf. Das allgemeine Urteil stemmt sich diesen Versuchen oft allzu sehr entgegen. Die Haltung, das Leben, das Begehren, die Kleidung, die Arbeit, die Leistungen alternder Personen unterliegen in 96 Erg.: und die Einführung des Patienten in die Gemeinschaft, die er durch die Impotenz zu untergraben sucht 1922 97 Trennlinie ausgelassen 1928 98 Entsagungen ] Änd.: Enthebungen 1919 99 Erg.: gereizte 1919
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zu hohem Maße der Kritik. Wer zur Neurose geeignet ist, wird diese Kritik leicht als Sperrung empfinden und wird dort schon zurückschrecken, wo noch Befriedigungsmöglichkeiten bestehen. Er wird sich zur Unterwerfung nötigen, wird seine Gefühle und Wünsche morden wollen, ohne mit ihnen fertig zu werden. Ja heftiger noch lodern diese auf, wenn ohne Ausgleich ein Verzicht erzwungen wird. So kommt es, dass die aktiven, feindlichen Charakterzüge hervortreten, dass Neid, Missgunst, Geiz, Herrschsucht, sadistische Regungen aller Art Verstärkungen erfahren, und, nie befriedigt, eine Ruhelosigkeit erzeugen, die ununterbrochen auf Abhilfe, auf Ersatzmöglichkeiten, auf Sicherungen dringt. »Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück!« K Denn die reale Position alternder Personen ist in unserer Gesellschaft schwer bedroht, da der Wert der Arbeit fast ausschlaggebend für die Schätzung der Persönlichkeit ist. Der Schein der Macht aber, das Prestige, ist das Brot des Neurotikers. Auch Selbstmord als letzten Ausdruck des männlichen Protests im Alter haben wir schon erlebt.100 Stärker noch als bei Männern wirkt der Eintritt des Alters bei Frauen. Schon die Bedeutung des Klimakterium wird meist fantastisch übertrieben. Aber für die Frau war Jugend und Schönheit Macht, und dies mehr als beim Manne. Ihre Reize konnten ihr Herrschaft geben, Siege und Triumphe, wonach die neurotische Gier unausgesetzt verlangte. Das Alter trifft sie wie ein Makel. Dabei sinkt ihr Wert stärker als der des alternden Mannes, und die herrschende Psychologie101 ist der alternden Frau gegenüber geradezu feindselig zu nennen. Dieser bedauerliche Zug stammt aus der uns bekannten Entwertungstendenz des Mannes gegenüber der Frau, kooperiert mit dem psychischen Niederschlag aus unserem gesellschaftlichen Erleben, und bis zum Grab während, zeigt sich dieser neurotische Spross unversöhnlich und unausrottbar. Bewusst und unbewusst, oft durch die Natur der Verhältnisse unüberwindlich drückt die herabsetzende Tendenz derer, die das Recht zum Leben haben, auf das Persönlichkeitsgefühl alternder Frauen. Kindesliebe und Ehrfurcht vor dem Alter als Hilfsmethoden und leitende Gesichtspunkte102 im Umgang der Menschen leisten oft nur das Mindestmaß und können dem aufgepeitschten Wollen von Menschen, denen die Kraft schwindet, nie genügen. Da setzt der neurotische Zug zur Verstärkung der Leitlinien ein. »Ich bin verkürzt, ich habe zu wenig vom Leben gehabt, ich werde nichts mehr erreichen«, das hört man aus den Klagen alternder Neurotiker regelmäßig heraus, und sie vertiefen diese Art, das Leben zu betrachten, so sehr, dass sie misstrauisch und argwöhnisch einem oft wider-
100 Erg.: Häufig findet sich Melancholie als Racheakt. 1922 101 Psychologie ] Änd.: Mentalität 1922 102 Erg.: des Gemeinschaftsgefühls 1919
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lichen Egoismus verfallen, wie er103 ihnen früher nie so deutlich geworden ist. Damit aber ist104 die Unentschlossenheit und der Zweifel stabilisiert. »Handle so, als ob du doch noch zur Geltung gelangen müsstest«, so ungefähr hebt sich eine andere Leitlinie aus der Psyche ab, und damit steigt nun die neurotische Verschärfung der Gier, und die geizigen, neidigen, herrschsüchtigen Regungen treten gewaltig in den Vordergrund, fast stets aber gehemmt durch die erstgenannten Leitlinien, gemäß welcher die Patienten vor [75] jedem Begehren und Beginnen zurückschrecken. So liegen förmlich unter einer Decke, mühevoll dem Bewusstsein entrissen, die Regungen, welche andauernd Unzufriedenheit, Ungeduld, Misstrauen unterhalten, und lenken die Aufmerksamkeit unausgesetzt auf das Unerreichte und oft Unerreichbare. Recht häufig wird dieses im Bereich des Erotischen gesucht, oder das Sexuelle wird als Symbol des unerreichbaren Zieles aufgerichtet. In letzterem Falle, zu dessen Gelingen die große Eignung des sexuellen Symbols einerseits beiträgt, ferner aber auch der Umstand, dass der Beweis einer sexuellen Unbefriedigung jedem wohl gelingen dürfte, worauf es schließlich ankommt, wird das ganze Wollen sexualisiert. Es ist leicht zu verstehen, dass diese Personen auf105 Grundlage einer sexuellen Analogie apperzipieren. Aber es muss der Fehler vermieden werden, die sexuelle Fiktion, sozusagen einen Modus dicendi oder, wie ich es genannt habe106, einen sexuellen Jargon für ein ursprüngliches Empfinden zu nehmen. Im theoretischen Teil habe ich auseinandergesetzt, warum beim Neurotiker die sexuelle Leitlinie so deutlich hervortritt: 1. weil sie wie alle Leitlinien beim Neurotiker erheblich verstärkt und sozusagen real empfunden wird, während sie nur arrangiert wurde, um als sichernde Richtungslinie zu wirken, 2. weil sie in die Richtung des männlichen Protestes führt. So kommt es, dass jedes Begehren der alternden Neurotikerin107 nicht bloß von ihr, sondern bei einiger Bemühung auch vom Arzte auf eine sexuelle Analogie bezogen werden kann. Auch dass der Arzt das immanente Bedürfnis des Neurotikers nach einer sichernden Analogie durch voreilige Darbietung der sexuellen Leitlinie im Stile der orthodoxen108 Freud’schen Schule befriedigen kann, geht aus dieser Betrachtung unzweifelhaft hervor. Ein Gewinn ist dies insolange nicht, als es nicht gelingt, den Patienten von seiner Fiktion loszulösen, was erst möglich ist, wenn er sicherer geworden ist und seine scheinbar libidinöse Regung als fälschende Fiktion erkennt. 103 104 105 106 107 108
Erg.: bei 1919 Damit aber ist ] Änd.: Dann aber werden 1919 Erg.: der 1919 wie ich es genannt habe ] Ausl. 1919 Neurotikerin ] Änd.: Nervösen 1919 orthodoxen ] Ausl. 1919
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Eine solche Fiktion ist beispielsweise das von früheren Autoren, von Freud und von Kurt MendelK beschriebene Klimakterium des MannesK. Das Klimakterium der Frau wirkt psychisch unbekümmert um Stoffwechselvorgänge durch die Steigerung des Minderwertigkeitsgefühls. Gleichzeitige Stoffwechselstörungen können bloß den neurotischen Aspekt verändern oder verstärken, sobald sie sich spezifisch, durch Verstärkung der Unsicherheit fühlbar machen. Die Basedow-Neurose bei klimakterischen Frauen gibt ein solches gemischtes und verstärktes Bild. Die Neurose des männlichen Klimakteriums109 ist ebenfalls nur mittelbar durch die Genitalatrophie beeinflusst, kann aber eine Verstärkung erfahren durch die verschärfende Abstraktion: Ich bin kein Mann mehr, ich bin ein Weib! – Da von diesem ideologischen Standpunkt aus die männliche Richtungslinie mit Aufmerksamkeit und arrangierten Erregungen verstärkt, hypostasiert wird, kommen die wunderlichen Erscheinungen des Johannistriebs zustande, für deren häufigen Bestand bei Frauen sich Karin Michaelis K im »Gefährlichen Alter« mit Recht eingesetzt hat. Nur dass die sexuelle Richtungslinie110 nicht die ausschließliche oder gar die grundlegende ist, etwa wie sie eine biologische Betrachtungsweise zu erledigen versucht, sondern sie muss als eine Ausdrucksform, die andern Formen des Begehrens gleichgeordnet ist, betrachtet werden, wenn man den Tatsachen gerecht werden will.111 [76] Die klimakterische Neurose zeigt uns demnach ein anderes Gesicht der durch den männlichen Protest112 bedingten Neurose, und die in ihr nachweisbaren Charakterzüge – sekundäre Leitlinien, die in die Hauptlinie einzumünden bestimmt sind – gleichen den uns bekannten Hypostasierungen. Ich habe nie einen Fall gesehen, bei dem die Neurose erst im Klimakterium ausgebrochen wäre. Und es ist ja auch nach unseren Voraussetzungen zu erwarten, dass die »klimakterische« Neurose schon früher gelegentlich ihr Gesicht gezeigt hat. Manchmal in mäßiger Weise, wenn die Gunst der Verhältnisse oder kulturelle Betätigungen durch teilweise Befriedigung des Machtkitzels den Ausbruch mildern konnten. Meist findet man eine seit Jahren währende
109 männlichen Klimakteriums ] in Anführungszeichen 1922 110 Richtungslinie ] Änd.: Richtlinie 1922 111 Erg.: Eine ältere Witwe rächte sich durch offen betriebene Liebesabenteuer mit jüngeren, von ihr bezahlten Männern an ihren Kindern, weil diese sie aus ihrer Hauswirtschaft gedrängt hatten. Ein alternder Mann zeigte jahrelange Schlaflosigkeit, die eine Verurteilung von Frau und Kind enthielt, beiden ihre Lieblosigkeit zum Vorwurf machte und gleichzeitig Sexualfreiheit zu erfordern schien, durch die der Schlaf nach einem lächerlichen Vorurteil wiederkommen sollte. Gleichzeitig verhinderte die Müdigkeit und kontinuierliche Entkräftung jede erotische Regung. 1922 112 den männlichen Protest ] Änd.: das Gefühl der Minderwertigkeit 1928
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Steigerung, ein Weitergreifen der neurotischen Symptome, das von vorneherein eine notwendig gewordene Verschärfung der Sicherungstendenz erraten lässt. Ein Beispiel wäre die Transformation von Kopfschmerzen und gelegentlicher Migräne in Trigeminusneuralgie. Oder die Steigerung der neurotischen Vorsicht in Angst, gelegentlich durch Eskomptierung eines zu erwartenden Unheils in Melancholie. Für diese drei Stufen der Sicherung ist das im theoretischen Teil angedeutete Schema in Anspruch zu nehmen: Vorsicht: z. B. als ob ich mein Geld verlieren könnte, »unten« sein könnte. Angst: als ob ich mein Geld verlieren werde, »unten« sein werde. Melancholie: als ob ich mein Geld verloren hätte, »unten« wäre.113 Mit anderen Worten, je stärker das Gefühl der Unsicherheit, umso mehr wird unter steigender Abstraktion von der Realität die Fiktion verstärkt und dem Dogma genähert. Und der Patient nährt und fingiert in sich alles, was ihn näher an seine114 Leitlinie heranbringt. Die Realität wird dabei in verschiedenem Grade entwertet, und die korrigierenden115 Bahnen erweisen sich immer mehr als insuffizient. Nicht selten sieht man Fälle, bei denen in den uns bekannten pathogenen Zeiten neurotische Erscheinungen, wie im Experiment, zutage getreten sind. Kisch K und andere haben auf die anamnestische Tatsache der neurotischen Beschwerden beim Eintritt der Menstruation hingewiesen. Häufiger findet man in der Vorgeschichte nervöse Molimina menstrualiaK oder Neurosen vor der Verehelichung, im Puerperium oder kontinuierlich. Nach diesen Erörterungen dürfen wir wohl die geschilderten Leitlinien einmünden lassen in die Hauptleitlinie des Neurotikers. Die Neurose alternder Personen ist nur ein anderes Gesicht, ein adaptierter, psychischer Überbau, errichtet über der einen elementaren Richtungslinie: Ich will ein Mann116 sein. Und diese Richtungslinie, die direkt zum Scheitern verurteilt wäre, bedient sich der verschiedensten Verkleidungen, ohne je eine befriedigende zu finden. Oft ist der Eindruck der einer großen Ratlosigkeit, einer Resignation, als ob die Patienten sagen wollten, sie wüssten nicht, wie sie es anstellen sollen. In alle Pläne mengt sich der Zweifel, das Schwanken verlässt sie nicht, daneben aber sieht man übertriebene Darbietungen, als ob die Patienten sich beweisen wollten, dass sie zu alt, dass sie noch jung sind. Die Tendenz ist, Macht, Einfluss, Geltung zu gewinnen. Aber das Gefühl, Unerreichbares zu wollen, verlässt sie nicht. In den Träumen findet man regelmäßig den Versuch, in irgendeiner 113 Anm.: Siehe »Melancholie und Paranoia«, Bd. 2. 1919 in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. 1922 114 Erg.: sichernde, in einem kleinen Kreise wirksame 1928 115 Erg.: der Gemeinschaft angepassten 1922 116 ein Mann ] Änd.: der Sieger 1928
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Weise dem männlichen Protest117 zum Durchbruch zu verhelfen, jung zu sein, sexuelle Befriedigung zu erlangen, [77] sich nackt zu zeigen118, immer119 aber auch, zuweilen gut verhüllt, ein Mann zu sein.120 Auch die Charakterzüge, diese Leitlinien zweiter Ordnung, zeigen die Wirkung der Sicherungstendenz. Pedanterie, Geiz, Neid, Herrschsucht, Gefallsucht setzen sich oft in der verstecktesten Weise durch. Angst findet sich häufig; sie dient oft dem Beweise, dass man nicht allein sein könne. Und vollends die neurotischen Symptome zwingen das ganze Haus in den Bann des Patienten. Oft wird in mehr oder minder zaghafter, versteckter Weise ein Wunsch zu realisieren versucht, als ob dann der männliche121 Triumph gesichert wäre. Häufig ist der Wunsch nach einer Ehescheidung, nach einer Übersiedlung in die Großstadt, nach einer Demütigung von Schwiegersöhnen oder Schwiegertöchtern122, als ob dann Beruhigung zu erwarten wäre. Schwierigkeiten beim Essen, beim Stuhl, Bruchstücke aus fantasierten Schwangerschaften und Geburten sind nicht selten. Dazu wird Vergesslichkeit, Zittern, dann und wann auch ein traumatischer Unfall arrangiert, um sich und andern das Bild steigender Hilflosigkeit vor Augen zu führen. Klagen kehren immer wieder, alle unangenehmen Zufälle gelangen zu besonderer Bedeutung, und der Sinn ist stets auf kommendes Unheil gerichtet. Die demonstrative Hervorhebung des Leidens und die zögernde Attitüde dienen einerseits der Fesselung des gesellschaftlichen Kreises, andererseits der Einleitung des Rückzugs bei peinlichen Erwartungen einer Herabsetzung. Psychologisch lässt sich feststellen, dass auch das Klagen als eine Art der Revolte, als männlicher123 Protest gegen Minderwertigkeitsgefühle empfunden124 und schwer entbehrlich ist: Es soll die anderen schwach, weich machen. Die Behandlung bietet recht erhebliche Schwierigkeiten, da die Erziehung zur Selbstständigkeit125 im Alter schwieriger und lohnende Aussichten nicht leicht plausibel gemacht werden können. Wie immer wird auch die Person des Psychotherapeuten und sein wirklicher oder möglicher Erfolg zur Anspornung des Neides verwendet, und Besserungen wirken oft deshalb126 als Anreiz 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126
dem männlichen Protest ] Änd.: der Überlegenheit 1928 sexuelle bis zeigen ] Ausl. 1919 immer ] Änd.: oft 1928 Erg.: Meist äußern sie bewusst, dass sie den alternden Mann für bevorzugt halten. 1922 männliche ] Ausl. 1928 von Schwiegersöhnen oder Schwiegertöchtern ] Änd.: der Schwiegersöhne und Schwiegertöchter 1922 männlicher ] Ausl. 1928 Erg.: wird 1919 Erg.: und zur Ausdauer 1919 Erg.: allein 1919
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zur Verschlimmerung. Auch die leicht zu erzielende Autorität wirkt störend auf das Gleichgewicht der Patienten, die sich in ihrem ganzen Leben nicht einfügen oder gar unterordnen konnten. Als ultimum refugium empfiehlt sich in schweren Fällen die Selbstaufopferung des Arztes nach gründlicher Analyse des Falles, sodass man den Schein eines Misslingens der Kur auf sich zu nehmen hat und einer anderen Methode127 die Lorbeeren zuweist. In zweien128 meiner Fälle hat sich dieser Kunstgriff bewährt, das eine Mal wurde eine Patientin auf brieflichem Wege von einem bosnischen Landarzt, das andere Mal, ein Fall von langjähriger Trigeminusneuralgie, den ich zwei Jahre lang mit wechselndem Erfolge behandelt hatte, durch Wachsuggestion gegen mich geheilt.129 Meist ergaben sich selbst in diesen Fällen nach der Kur noch weitgehende Besserungen und große Intervalle, zuweilen völlige Heilungen130. Eine meiner Patientinnen, eine 56-jährige Frau, war seit 18 Jahren an Angstzuständen, Schwindel, Übelkeit, Bauchschmerzen und schwerer Obstipation erkrankt. Einen großen Teil dieser Zeit hatte sie im Bette oder auf einer Ottomane liegend zugebracht, besonders als sich vor acht Jahren heftige Schmerzen im Kreuz und an den Beinen hinzugesellt hatten. Die Patientin war vorher eine rüstige Frau gewesen, hatte aber um das 16. Lebensjahr angeblich monatelang an einem Gelenkrheumatismus gelitten. Ihr gegenwärtiger Zustand erwies sich als [78] psychogen, da entsprechende organische Veränderungen fehlten, und die von mir hervorgehobenen sichernden Charakterzüge* leicht nachzuweisen waren. Den Ratschlag eines namhaften Gynäkologen, wegen perimetritischer VerwachsungenK eine Exstirpatio uteriK vorzunehmen, ließ ich unberücksichtigt, seit ich aus anderen Fällen gelernt hatte, die ursächliche Bedeutung solcher Schrumpfungsvorgänge (Freud) für die Neurose als mittelbar, über die Psyche wirkend zu verstehen. Veränderungen an den Genitalien, Hemmungserscheinungen, Missbildungen sowie Erkrankungen finden sich häufig bei neurotischen Kranken. Und Bossi K hat sicherlich recht, wenn er, wie ich es bereits früher getan habe (»Studie« 1907), auf diesem Zusammenhang besteht131. Der Zusammenhang liegt aber entweder in der Vermittlung eines speziellen Minderwertigkeitsgefühls, das bei neurotischer Disposition zum Ausbruch der Neurose Veranlassung gibt, oder die aus anderen Ursachen ausgebrochene Neurose bedarf eines sichernden Hinweises auf eine organische Veränderung, *
Deren differenzialdiagnostische Bedeutung über jeden Zweifel erhaben ist. Bloß die Gleichzeitigkeit einer organischen Affektion ist noch regelmäßig zu erwägen.
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Erg.: und einem anderen Arzt 1919 zweien ] Änd.: einigen 1919 das eine Mal bis geheilt ] Ausl. 1919 Erg.: scheinbar spontan 1919 Veränderungen bis besteht ] hervorgehoben 1922
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um den gesetzten Zweck des männlichen Protestes132 in die Wege zu leiten. Die sexuelle Minderwertigkeit133 wird134 sozusagen zum Vehikel, was besonders dann in die Augen springt, wenn geringfügige Veränderungen oder gar eingebildete, fiktive, wie vermeintlicher Verlust der Klitoris, Vergrößerung der Labia minora, Feuchtwerden der Öffnung, sagenhafte Merkmale der Masturbation etc. oder Behaarungsanomalien135, Phimose, paraurethrale Gänge und asymmetrische Haltung des Penis, der Testiculi, Kryptorchismus zum Anlass und Symbol des Minderwertigkeitsgefühls genommen werden. Die Erkrankung begann mit einem Schmerz im Abdomen, der sich während einer Tennispartie einstellte. Ein Jahr vorher war ihr eine Tochter gestorben, und ihr Mann, ein großer Kinderfreund, wünschte sich noch weitere Kinder. [Die] Patientin, die seit frühester Jugend immer ihr136 Los beklagt hatte und ein Mann sein wollte137, war durchaus nicht geneigt, diesen Wunsch zu erfüllen. Der Schmerz – wohl infolge einer Zerrung entstanden – gab ihrem undeutlich bewussten Widerstand neue Nahrung: Sie konnte seither keinen Druck auf dem Bauch vertragen, ihr Bauch wurde für Sie eine heikle Partie, und durch weiteres Arrangement von Schlaflosigkeit und Übelkeiten, letztere als Memento einer Schwangerschaft, brachte sie es dahin, dass ihr Mann auf Anraten der Ärzte den Geschlechtsverkehr aufgab und ein abgesondertes Schlafzimmer bezog. Schon die Mitteilung, ihren Gelenkrheumatismus betreffend, war charakteristisch. Sie gab der bereits verstorbenen Mutter alle Schuld. Diese hatte sie im Elternhause gezwungen zu waschen und zu bügeln, hatte sie stets den anderen Geschwistern138 gegenüber zurückgesetzt und war in späteren Jahren noch ebenso hartherzig gegen sie verfahren. Der Geiz der alternden Frau hat sie in manche Schwierigkeit139 gebracht. Ihre Leiden aber glaubte sie alle vom Vater ererbt zu haben, sodass auch dieser sein Teil Schuld abbekam. Derartige Vorwürfe gegen die Eltern weisen nach meiner Erfahrung regelmäßig auf einen anderen Vorwurf hin, den das Kind seinen Eltern heimlich zu machen pflegt, wenn es sich nicht genug oder gar nicht männlich140 findet. Solche Vorwürfe werden späterhin abstrakt, [79] wie ich es auch bezüglich des Schuldgefühls (siehe »Über neurotische Disposition«141, l. c.) gezeigt habe, 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141
des männlichen Protestes ] Änd.: der neurotischen Überlegenheit 1928 Erg.: erschüttert ursprünglich die Gesamtwertigkeit des Individuums und 1922 Erg.: sekundär 1922 Behaarungsanomalien ] Änd.: Beharrungsanomalien 1919 Erg.: weibliches 1919 und ein Mann sein wollte ] Ausl. 1919 Erg.: Brüdern 1922 Schwierigkeit ] Änd.: Schwierigkeiten 1928 männlich ] Änd.: überlegen 1928 Erg.: in »Heilen und Bilden« 1919
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und kommen späterhin142 sozusagen als Schalen zur Verwendung, die sich mit anderem Inhalt füllen. Dann heißt es später143, die Eltern wären nicht genug zärtlich gewesen oder hätten das Kind verhätschelt oder hätten insbesondere in der Masturbationsperiode144 nicht genug achtgegeben usw. Kurz, wir beobachten bei diesen Formulierungen einer Stellung zu den Eltern und später zur Welt eine Formenwandlung145, wie sie146 für Leitlinien, die einen praktischen Zweck verfolgen, nötig ist, und wir sehen oft ein anderes Gesicht, das auf die aktuelle Situation zugeschnitten ist. Dann147 ist der Weg zurückzuverfolgen, den die Formenwandlung durchgemacht hat. Dabei bedient sich die analytische148 Methode des Mittels der Reduktion, der Simplifikation (Nietzsche) K, der Abstraktion149. Neben der Formenwandlung spielt eine große Rolle die Verstärkung oder Abschwächung der leitenden Fiktion. Je unsicherer sich der Patient fühlt, umso mehr drängt ihn eine unbewusste Tendenz dazu, seine Leitidee zu größerer Intensität zu bringen, sich von ihr abhängig zu machen. Ich folge hier gerne der geistreichen Anschauung VaihingersK, der zur Geschichte der Ideen geltend macht, dass sie, historisch betrachtet, eine Neigung zeigen, aus einer Fiktion (einer unwahren, aber praktisch wertvollen Hilfskonstruktion) zu Hypothesen und später zu Dogmen zu werden. Dieser Intensitätswandel charakterisiert im Allgemeinen in der Individualpsychologie das Denken des Normalen (Fiktion als Kunstgriff), des Neurotikers (Versuch, die Fiktion zu realisieren) und des Psychotikers (unvollständiger aber sichernder Anthropomorphismus und Realisierung der Fiktion: Dogmatisierung). – Die stärkere150 innere Not sucht den Ausgleich durch Stärkung der sichernden Leitlinien. Deshalb wird man regelmäßig Äquivalente der neurotischen und psychotischen Leitlinien und Charaktere beim Normalen finden, die hier jeweils korrigiert werden können, um widerspruchslos an die Wirklichkeit angenähert zu werden. Reduzieren wir die entblößten Leitlinien dieser Patientin und erlösen wir sie aus Formen- und Intensitätswandel, indem wir sie statt der später entwickelten Leitlinien in ihrer Grundform einsetzen, so lautet diese: Ich bin151 ein Weib und152 142 143 144 145 146 147 148 149
späterhin ] Ausl. 1922 später ] Ausl. 1922 insbesondere in der Masturbationsperiode ] Ausl. 1919 eine Formenwandlung ] Änd.: einen Formenwandel 1919 sie ] Änd.: er 1919 Dann ] Änd.: Es 1922 die analytische ] Änd.: unsere 1919 Anm.: Im Gegensatz dazu ist Freuds Methode eine nach dem Schema der Erotik analogisierende. 1922 150 stärkere ] Änd.: stärkste 1922 151 Erg.: nur 1928 152 Erg.: muss mich gegen Herabsetzung schützen (oft in der Form: ich 1928
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will ein Mann sein!153 Der normale Mensch richtet sich auch zeitlebens nach dieser Formel. Sie verhilft ihm, sich unserer männlichen Kultur anzugliedern, ja sie verleiht dieser einen steten Antrieb zur »Vermännlichung«. Aber sie ist bloß zur Berechnung da, etwa wie eine Hilfslinie bei einer geometrischen Konstruktion. Ist das Resultat, das höhere, männlich gewertete Niveau erreicht, so fällt sie aus der Rechnung154 (Vaihinger)K. Bezüglich des Mythus, einer Leitlinie des Volkes, beklagt NietzscheK seine Umwandlung ins Märchen, und fordert seine Umwandlung ins Männliche155. – Der Neurotiker unterstreicht diese Fiktion, nimmt sie allzu wörtlich und versucht ihre Realisierung zu erzwingen. Ihm ist nicht die Einfügung der Zweck, sondern die Geltendmachung seines männlichen156 Prestiges, was zumeist in der überspannten Form unerreichbar oder durch innere Widersprüche im männlichen Protest157, durch die Furcht vor einer drohenden Niederlage gehindert ist, ohne dass der Patient die Bedeutung oder Tragweite seiner großenteils unbewussten Fiktion erkennt. Aber auch ihn hindert das größere Unsicherheits- und oft unbewusste Minderwertigkeitsgefühl an der richtigen Einschätzung seiner Fiktion. Der Psychotiker benimmt [80] sich so, als ob seine Fiktion eine Wahrheit wäre. Er handelt unter der stärksten Nötigung und rettet sich zu seinem selbstgeschaffenen Gott, den er als wirklich empfindet. Und so empfindet er sich158 zugleich als Weib und als gesicherter Übermann, Letzteres in der Reaktion des übertriebenen männlichen Protestes. Die159 Spaltung der Persönlichkeit entspricht dem psychischen Hermaphroditismus, der Formenwandel ist ein mannigfacher, drückt sich beispielsweise in der Vereinigung von Verfolgungs- und Größenideen, von Depression und Manie aus, während die Fixierung160 als Selbstschutz durch relative Insuffizienz oder absolute Schwäche der korrigierenden Bahnen erleichtert wird. Hebt man in der Freud’schen Gleichung der Dementia161 (Jahrbuch Bleuler-Freud 1911) die162 hineingetragene Sexualisierung auf, kürzt man sie auf beiden Seiten um den überflüssigen Faktor der Libido, so kommt unsere viel tiefer liegende Formel des psychischen Hermaphroditismus mit männlichem Protest zum Vorschein, gegen die Freud in seiner Arbeit, ihre wahre Bedeutung verkennend, polemisiert. 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162
sein! ] Änd.: sein!) 1928 so bis Rechnung ] in Anführungszeichen 1922 seine Umwandlung ins Märchen bis Männliche ] in Anführungszeichen 1922 männlichen ] Ausl. 1928 im männlichen Protest ] Ausl. 1919 Erg.: gelegentlich 1928 Erg.: scheinbare 1922 Erg.: des Wahns 1919 Erg.: praecox 1922 Erg.: überflüssigerweise 1922
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Um auf die Krankengeschichte163 zurückzukommen, sei noch erwähnt, dass die Patientin in dem Gefühle ihrer Verkürztheit verschiedene Formen des männlichen Protestes164 bevorzugte. So brachte sie es nicht über sich, tolerant gegen Leistungen der Männer zu sein. Sie konnte da recht scharf165 Kritik üben, besonders wenn sich einer überheben wollte166. In diesen Fällen traf es sich nicht selten, dass gerade Ärzte mit selbstsicherem Auftreten, wie es vielen zur Krankenbehandlung nötig erscheint, von ihr mit neurotischer Heftigkeit und ebensolchen Mitteln bekämpft wurden. Freilich leitete sie dabei noch eine Art Instinkt, der ihr die Einfügung in ärztliche Gebote aus Rücksicht auf den Zweck ihrer Krankheit verbot. Aber es kam zuweilen so weit, dass eine harmlose ärztliche Einflussnahme mit Erbrechen und Übelkeiten beantwortet wurde, wobei [die] Patientin nie verabsäumte, auf den »fehlerhaften« Eingriff des Arztes hinzuweisen. Man darf bei dieser Art von Erscheinungen die Ruhe nicht verlieren, muss vielmehr darauf hinweisen, dass diese Reaktion ein Teil des Ganzen, eine Formverwandlung des ursprünglichen Neides gegenüber dem Manne167, später gegenüber dem vermeintlich Überlegenen vorstellt. Dabei machte die Patientin von gewissen Privilegien ihrer Krankheit einen ausgedehnten Gebrauch. Vor allem konnte sie sich allen gesellschaftlichen Verpflichtungen, die ihr ihre168 Rolle als Hausfrau und als hervorragende Persönlichkeit einer Provinzstadt auferlegte, so weit entziehen, als sie nur wollte. Sie empfing wohl Besuche, denen sie ihr Leid klagte, erwiderte aber nur in Ausnahmefällen und sicherte sich so, wie es regelmäßig bei Nervösen geschieht, eine bevorzugte, privilegierte Stellung. Nebenbei war es ihr dadurch ermöglicht, Vergleichen und Musterungen, in unserem Sinne also Prüfungen, auszuweichen, wozu gesellschaftliche Veranstaltungen in der Regel Anlass geben.169 In den letzten Jahren schreckte sie außerdem noch der Gedanke, dass sie infolge ihres zunehmenden Alters der Möglichkeit einer Wirkung auf Männer beraubt war. Eine Freundin zeigte ihr in nächster Nähe, wie lächerlich jugendliches Gebaren einer alternden Frau von der Gesellschaft empfunden wird. Und so entschloss sie sich, in ihrer Tracht mit besonderer Schärfe auf ihr Alter hinzuweisen, wobei der herbe Gedanke an die Oberfläche des Bewusstseins drang, dass ein Mann in ihren Jahren durchaus noch nicht in die Ecke gestellt sei. [81] 163 164 165 166 167 168 169
die Krankengeschichte ] Änd.: unsere Krankheitsgeschichte 1922 Erg.: des Dranges nach Gleichwertigkeit 1928 scharf ] Änd.: scharfe 1919 wenn bis wollte ] in Anführungszeichen 1922 Manne ] Änd.: andern 1928 ihre ] Änd.: die 1922 Anm.: Sie war »enthoben«, würde man in der gegenwärtigen Zeit sagen. 1919
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Es war seit jeher von ihr als Bitterkeit empfunden worden, dass sie ihr Leben in einer Provinzstadt zubringen musste. Instinktiv drängte sie in mancherlei Weise auf eine Übersiedlung nach Wien. Doch war eine solche im offenen Kampf gegen den um viele Jahre älteren Gatten nicht zu erreichen, weil dessen unversiegbare Liebenswürdigkeit und Nachgiebigkeit in allen anderen Punkten sie entwaffnete. Sie verfeindete sich aufs Heftigste mit ihrem Bruder und arrangierte eine unglaubliche Angst vor einem Zusammentreffen mit diesem170 in dem kleinen Städtchen. Als dies nicht genügte, stellte sich eine unüberwindliche Schlaflosigkeit ein, als deren Hauptursache sie das nächtliche Wagengerassel vor den Fenstern ihres Schlafzimmers beschuldigte. So erzwang sie eine zeitweilige Übersiedlung nach Wien, bezog in der Nähe der Wohnung ihrer Tochter ein Heim, dessen himmlische Ruhe sie immer hervorhob, wo sie auch ihren Schlaf wiederfand. Seit ihre Tochter in Wien wohnte, war ihr die kleine Provinzstadt immer mehr verhasst geworden. Die Analyse ergab in Übereinstimmung mit den anderen Richtungslinien, dass sie die Tochter um ihren Vorrang, zu dem sich auch ein Adelsprädikat gesellte, heftig beneidete. Auch sie wollte in Wien wohnen und hätte dieses Vorhaben längst ausgeführt, wenn ihr nicht in Wien eine neue Gefahr gedroht hätte, und zwar die Ausgaben der Tochter aus eigenen Mitteln decken zu müssen. Die Rivalität mit der in Wien wohnenden Tochter lag völlig im Unbewussten und deckte eine kindliche Richtungslinie: die verzärtelte ältere Schwester übertreffen zu wollen. Auch diese Richtungslinie erwies sich als Äquivalent der grundlegenden, die dahin ging, die größere Geltung zu haben, als ob sie ein Mann wäre171. Durch die starken Geldausgaben, zu denen sie in Wien genötigt war, kam ein Widerspruch in ihren männlichen Protest172. Der Neurotiker mit seinem peinigenden Gefühle der Verkürztheit lässt sich ungestraft nichts nehmen. Er empfindet eine weitere Verkürzung als Verminderung seines Persönlichkeitsgefühls und gemäß seiner Leitlinie so, als ob dies eine Kastration173, eine Verweiblichung, eine Vergewaltigung wäre, zuweilen auch im Bilde einer Schwangerschaft oder einer Geburt.* In unserem Falle traten besonders die analogischen Empfindun*
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Das heißt: Die Denkoperation geschieht nicht entlang dem Realen, sondern gerät auf Analogien und Symbole, deren fälschende Affektbegleitung die Angriffsbereitschaft des Nervösen steigert. Letzteres aber entspricht der unbewussten, leitenden »opinio«K. Die Verbildlichung, das Symbol, die Analogie stehen als »Junktim«174 im Dienste der
diesem ] Änd.: ihm 1922 als ob sie ein Mann wäre ] Änd.: anstelle des Bruders zu sein 1919 ihren männlichen Protest ] Änd.: ihr Überlegenheitsstreben 1928 Anm.: Dieser von uns beschriebene Vorgang wurde später von Freud und seinen Schülern als Kastrationskomplex übernommen, aber nicht als Modus Dicendi, nicht als symbolisch erfasst. 1928 174 »Junktim« ] Änd.: »Multiplikator« 1919
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gen einer Schwangerschaft zutage, Übelkeiten, Bauchkrämpfe und Zwangsgedanken einer bestehenden Gravidität machten sich geltend175, Schmerzen in den Beinen stellten eine Phlegmasia alba dolens K vor, während eine hartnäckige Obstipation zum Teil einen Vaginismus in der »Analsprache« symbolisierte, zum Teil die Ausgaben symbolisch zu verhindern suchte und drittens die Unfähigkeit des selbständigen Gebärens auszudrücken versuchte.176 Ein tieferes Verständnis der Neurosenausdrucksweise scheint mir unmöglich ohne Kenntnis des von mir aufgedeckten »Organjargons«177. Die Folklore kennt diese Tatsache in den Äußerungen der Volkssprache und Volkssitten. Freud hat diesen Jargon missverstanden und hat [82] aus seinen178 Bildern den Grundpfeiler der Libidolehre, die Theorie der erogenen Zonen geschaffen. Besonders seine Arbeit über den »Analcharakter« und »Analerotik« ist voll von gequälter und abgemarterter Fantasie. Der springende Punkt ist die relative Minderwertigkeit bestimmter Organe, das Verhalten der Umgebung zu deren Äußerungen sowie der Gesamteindruck von beiden in der Seele des Kindes. Neurotisch disponierte Kinder werden die ihrem protestierenden Persönlichkeitsgefühl entstammenden Charakterzüge wie Trotz, gesteigertes Zärtlichkeitsbedürfnis, übertriebene Reinlichkeit, Pedanterie, Ängstlichkeit, Ehrgeiz, Neid, Rachsucht etc. mit geeigneten Äußerungen ihrer Organminderwertigkeit, insbesondere mit Kinderfehlern zu verbinden trachten, um sich eine besonders wirksame Repräsentation zu verleihen. Einer meiner psychogenen Epileptiker hatte zur Verstärkung seines männlichen Protestes ein solches »Junktim« – eine Verschränkung – in Anwendung gebracht, indem er zumeist seinen Anfällen eine Obstipation vorausgehen ließ, um bange Ahnungen bei seinen Angehörigen zu erwecken und sich so in Fällen von Herabsetzung in Erinnerung zu bringen. Gegen Ende der Säuglingszeit kann der Trotz und der kindliche Negativismus schon deutlich entwickelt sein. Eine Verbindung derselben mit Stuhl-, Urin- und Essanomalien ergibt dann die verstärkte Resonanz. »Das Kind, das sich weigert, seinen Stuhl abzusetzen«, bezieht seiAggression, zu der das Persönlichkeitsideal den Nervösen zwingt. Die Frau als Sphinx, der Mann der Mörder etc. 175 Anm.: Bei einer »Laktationspsychose« sah ich eine naturgetreu gespielte Geburtsfantasie im Dämmerzustand. Seit der Ehe bestand eine tiefe Abneigung gegen das Gebären. 1922 176 Obstipation bis versuchte] Änd.: in der »Analsprache« ihre »Krankheitslegitimation« ausmachte. Sie selbst und ihre Umgebung mussten sich ständig um ihren Stuhl bekümmern. 1922 Erg.: Der ständige Ausdruck des Leidens und die Präokkupation mit ihm wurde so fest begründet. 1919 177 Anm.: Siehe »Organdialekt« in »Heilen und Bilden«, l. c. 1922 178 seinen ] Änd.: dessen 1922
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nen Lusterwerb nicht aus einer Reizung des Afters durch zurückgehaltene Kotmassen, sondern aus seinem befriedigten Trotz, der sich dieses unhonorigen Mittels bedient, kann aber179 bis in spätere Jahre, bis zur Heilung von seinem Trotz den Afterempfindungen die Lustqualität andichten. Von einer Mutter eines nahezu zweijährigen Mädchens, das noch an Bettnässen litt und die Zeichen des verstärkten Trotzes, negativistische und überaus selbstständige Züge zeigte, vernahm ich als oftmals beobachtete Tatsache, dass das aus dem Schlafe geweckte Kind noch schlaftrunken seine Notdurft verrichtete, wenn es aber vollständig erwacht war, dies verweigerte. Erwachte es gegen Ende seiner Verrichtung gänzlich, so warf es den Topf um und heulte längere Zeit aus Wut über die Überrumpelung; blieb es schlaftrunken, so schlief es dann ruhig weiter.180 So lässt sich in allen Fällen zeigen, dass das Eigengefühl des Kindes in der frühesten Zeit sich in einem offenen und latenten Gegensatz zur Umgebung befindet, dass es kämpfend und erobernd im weitesten Sinne auftritt, bis es schließlich alle diese aggressiven Regungen (s. »Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose, Fortschritte der Medizin, Leipzig 1908181) einheitlich summiert, sie zum männlichen Protest182 ausgestaltet und diesen in Gegensatz stellt zu den Regungen der Weichheit, der Unterwerfung und der Schwäche sowie zu den Erscheinungen der Minderwertigkeit, welche es insgesamt183 als weibliche Symptome empfindet und bekämpft. Nur dass zuweilen Verschränkungen zustande kommen, bei denen der männliche Protest weibliche Symptome unterstreicht, um sie für sich zum Schreckpopanz zu verwerten, oder dass er weibliche Symptome trotzig184 fixiert und so hermaphroditischen Bildungen Eingang verschafft, die gleichwohl in der Richtung des männlichen Protestes wirken, zum Beispiel Tränen, Krankheit, Simulation und Übertreibung, Kinderfehler. Die übergeordnete185 Leitlinie: Ich will ein186 Mann sein, zieht dann alle brauchbaren187 körperlichen Symptome in ihren Bereich, unter diesen vor allen188 die Minderwertigkeitserscheinungen, [83] auf welche die eigene Aufmerksamkeit und die der Umgebung vorwiegend gerichtet ist. So kommt es, dass dann der männli179 Erg.: gelegentlich 1919 180 Erg.: Ein 17-monatiges Mädchen äußerte regelmäßig und fälschlich Stuhldrang, wenn es die Mutter aus dem Nebenzimmer herbeirufen wollte. 1922 181 Fortschritte bis 1908 ] Änd.: in »Heilen und Bilden«, l. c. 1919 182 männlichen Protest ] Änd.: Streben nach Überlegenheit 1928 183 insgesamt ] Änd.: in der Regel 1928 184 Erg.: oder feige 1919 185 Erg.: kämpferische 1919 186 Erg.: überlegener 1928 187 Erg.: feindseligen 1919 188 vor allen ] Änd.: vor allem 1928
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che Protest189 sich einer Organsprache bedient, um sich zum Ausdruck zu bringen. Ein schönes Beispiel, das in neurotischen Fantasien häufig wiederkehrt, ist die Jugendfantasie Leonardo da VincisK: Ein Geier stößt ihm den Schwanz wiederholt in den Mund. Diese Fantasie bringt die psychische Konstellation des Künstlers auf die knappste Abstraktion. Mundfantasien lassen sich regelmäßig auf Minderwertigkeitserscheinungen des kindlichen Ernährungstraktes zurückführen. Eine Frucht dieser gerichteten Aufmerksamkeit sind wohl die Ansätze Leonardos zu einer Ernährungswissenschaft gewesen. Der Schwanz des Geiers ist Phallussymbolik. Die Summierung dieser beiden Linien ergibt den charakteristischen Grundgedanken: Ich werde das Schicksal einer Frau erleben. Aber schon die straffe Fassung zu einer symbolischen Leitlinie macht uns aufmerksam, dass diese und ähnliche Gedankengänge keinen psychischen Abschluss bedeuten, sondern nach dem Drange unserer männlichen Kultur zu einem verstärkten Antrieb in der entgegengesetzten Richtung werden, zu einer Überkompensation nach der männlichen Seite führen müssen, wo sie die männliche Leitlinie umso schärfer herausarbeiten: »Deshalb muss ich so handeln, als ob ich ein voller Mann wäre«.190 Dass diese beiden Leitlinien sich gegeneinander widerspruchsvoll verhalten, abgesehen von der Tatsache, dass jede einzelne, wie natürlich, mit der Realität in Widerspruch gerät, soferne sie »wörtlich« genommen wird und nicht bloß als praktisch nützlich und korrigierbar, habe ich bereits in der Arbeit über »psychischen Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose« (Fortschritte in der Medizin, Leipzig 1910191) hervorgehoben. Dieser Widerspruch spiegelt sich im Zweifel, in der Unentschlossenheit und in der Furcht vor der Entscheidung, deren Analyse ungefähr192 den einfachen Tatbestand wiedergibt, dass in früher Kindheit eine Unsicherheit bezüglich der zukünftigen Geschlechtsrolle bestand, in deren psychischem Überbau alle späteren Wahrnehmungen, Empfindungen und Regungen in gewissem Sinne als zweifelhaft gruppiert werden: Ich weiß nicht, bin ich ein Mann oder eine Frau (s. »Disposition zur Neurose«, Jahrbuch Bleuler-Freud 1909193). Unsere Patientin drückt in der »Analsprache« den Gedanken aus, dass sie eine Öffnung verschließen müsse. Ein deutlich weiblicher Gedanke. Man stelle sich in Frauenkleidung eine Anzahl von Männern und Frauen in einem Saal vor, in den plötzlich eine Maus gelassen wird. Die Frauen werden sich sofort als solche verraten, indem sie die Kleider eng um die Beine ziehen werden, als 189 190 191 192 193
der männliche Protest ] Änd.: das Streben nach Überlegenheit 1928 als ob bis wäre ] Änd.: dass ich einer Niederlage entgehe 1928 Fortschritte bis 1910 ] Änd.: in »Heilen und Bilden« l. c. 1919 ungefähr ] Änd.: oft 1928 Jahrbuch Bleuler-Freud 1909 ] Änd.: in »Heilen und Bilden«, l. c. 1919
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ob sie der Maus den Eintritt verwehren wollten. Ebenso verrät die Furcht vor Löchern, vor dem Gebissen-, Gestochenwerden, Gedanken von Verfolgung durch Männer, durch Stiere, vor der Rückenlage, nach rechts, nach rückwärts gezogen werden, gedrückt194 werden, Fallen und Ähnlichem, die weibliche195, schreckende Leitlinie, auf die in der Regel mit der sichernden Angst reagiert wird.* Die Obstipation als neurotisches Symptom leitet sich aus einer angeborenen Darmminderwertigkeit ab, die unter Gedankengängen von Geburt und Geschlechtsverkehr im Anus196 zu nervösem [84] Sphinkterverschluss hinüberleitet197. In der Tat litt [die] Patientin in der Kindheit an Darmkatarrhen und gelegentlicher Incontinentia alviK, später an Obstipation und einer Fistula vaginalis ani. Dass der Verschluss des Anus198 unter der Herrschaft eines leitenden Gedankens über Verschluss der Höhlungen stand, geht auch aus der Tatsache hervor, dass [die] Patientin nach ihrer Hochzeit längere Zeit an Vaginismus litt. Die Obstipation der nunmehr alternden Frau drückt anal die gleiche Willensrichtung aus wie ihr ehemaliger Vaginismus: Ich will keine Frau, ich will ein Mann sein!199 Ich muss aus praktischen und theoretischen Gründen hier stark aus dem Rahmen einer Darstellung des Charakters herausgreifen, wie man ja überhaupt bei der Erörterung psychologischer Fragen das Ganze der Psyche heranzuziehen gezwungen ist. Außerdem bietet dieser bis ins feinste Detail analysierte Fall so klare Einsichten, wie sie in anderen Fällen oft verhindert werden, weil nicht selten die Abhängigkeit vom Arzt oder von äußeren Verhältnissen Heilung oder Abbruch der Kur eintreten lässt, bevor das Schema, nach welchem der Patient seine Neurose gestaltet hat, völlig enthüllt ist. Und so will ich denn versuchen, bei diesem Fall das Schema, ein weit verzweigtes Sicherungsnetz gegen die Rolle der Frau, darzustellen, indem ich alle ihre Symptome diesem analytisch200 gewonnenen Schema einordne und die Wächter gegenüber der *
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Der gleiche männliche Protest201 führt in der Neurose zu TrismusK, BlepharospasmusK, VaginismusK, SphinkterkrampfK, GlobusK und Stimmritzenkrampf202K.
Erg.: zu 1919 weibliche ] Ausl. 1928 im Anus ] Ausl. 1919 hinüberleitet ] Änd.: hinüberleiten kann 1922 der Verschluss des Anus ] Änd.: die Obstipation 1919 Erg.: An die Oberfläche dringt nur der Protestgedanke: »Ich will die Frage meines Lebens nicht lösen!« 1919 200 analytisch ] Ausl. 1919 201 Der bis Protest ] Änd.: Die gleiche Abschließungstendenz 1928 202 Erg.: die des weiteren als »Präokkupation« zur Enthebung von bestimmten Forderungen des Lebens führen. 1919 führen ] Änd.: Veranlassung geben. 1922
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Außenwelt, die Charakterzüge, in synthetischem Zusammenhang damit nachweise. An dieses Schema (Seite 157) legte [die] Patientin alle ihre Erlebnisse an, und wenn sie irgendwie passten, wozu bei symbolischer und mit tendenziöser Aufmerksamkeit überladener Apperzeption im Leben jedes Menschen genügend Anlass vorhanden ist, reagierte sie mit den entsprechenden Krankheitserscheinungen. Die sichernden Charakterzüge waren wie Vorposten weit vorgeschoben, standen stets bereit abzuwehren, klärten die Situationen im Sinne der Leitgedanken auf und holten gegebenenfalls die Unterstützung aus der Summe der passenden Symptome. Ihre selbstständigen Äußerungen waren stark gehemmt durch das zarte, verständnisvolle Betragen des Gatten und durch wohlwollende203 Leitgedanken der Patientin. So kam es, dass das Grundschema: Ich bin nur ein Weib!, seine Wirkung aus tendenziös gebliebenen Eindrücken der weiblichen Rolle schöpfte, wobei der unbewusste Mechanismus der männlichen204 Leitgedanken das sichernde Memento abgab. Die gesunde Frau unterscheidet sich durch bewussteres Verhalten zur weiblichen Rolle, durch zweckmäßige Einfügung und durch korrigierende Annäherung des Schemas an die Realität. Die Psychose brächte eine Verstärkung des fiktiven Schemas zu Sicherungszwecken und eine unkorrigierbare205 Haltung innerhalb des Schemas zum Vorschein; eine solche Patientin würde sich etwa betragen, als ob sie wirklich gravid wäre. In allen drei Fällen wäre die Fiktion der Gravidität und des weiteren Kreises ihrer Erscheinungen ein Symbol der minderwertigen weiblichen Rolle, ein darstellender Ausdruck für die Empfindung der Zurückgesetztheit, aber zugleich vom männlichen Protest ergriffen, ein Kunstgriff zur Vermeidung und Verhütung anderer Zurücksetzungen, wie oben gezeigt wurde.* [85] Ein Traum, gegen Ende der Kur geträumt, zeigt uns den ursprünglichen Leitgedanken der Patientin im Zusammenhang mit ihren aktuellen inneren Kämpfen. Sie träumte, als ob sie krank und schwach auf einer Bank in einem Parke nahe der Wohnung ihrer Eltern säße. Am Kopf trug sie zwei Badehauben. Da kamen von rückwärts zwei Mädchen, und eines davon riss ihr die eine Haube vom Kopfe. Sie griff nach dem Mädchen und hielt es fest, während das *
Der Formenwandel der männlichen Fiktion kann sich dahin vollziehen, dass unter ihrer Leitung die Gravidität, die Mutterschaft angestrebt wird, recht oft in solchen Fällen, wo Hindernisse schwerwiegender Natur vorliegen. Der Schrei nach dem Kind ist dann in der Regel gegen den Mann gerichtet. Die Phantomgravidität stellt oft ein derartiges Arrangement vor.
203 Erg.: gemeinsinnige 1919 204 männlichen ] Ausl. 1928 205 unkorrigierbare ] Änd.: unlogische 1919
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Schema Symptome
Abkehr von der weiblichen Linie, – der männliche Protest
Sichernde Bereitschaften
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Gesellschaftsangst Zwangserröten Furcht vor dem Alleinsein Herzklopfen Furcht vor dem Fallen Höhenschwindel
Druckempfindlichkeit am Bauch (Blinddarm) Frigidität Gehörsüberempfindlichkeit gegen Schnarchen des Gatten Vaginismus Druckgefühle auf der Brust Unverträglichkeit gegen jede Art von Druck, Kampf gegen das Mieder Gefühl, nach rechts und hinten gezogen zu werden (auf die weibliche Seite) Ohrensausen (Brausen des bewegten Meeres, das auf und nieder wogt)207 Abdominalschmerzen Atemnot Herzklopfen Übelkeiten Erbrechen Zwangsvorstellung einer Gravidität Gelegentliche Astasie Müdigkeit Lüsternheit im Essen
Sicherung vor206 der Liebeswerbung
Misstrauen (zutraulich mit folgendem Protest) Entwertung des Mannes Ängstlichkeit Schüchternheit Tugendhafte Moral Herrschsucht (Nachgiebigkeit mit folgendem Protest)
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Sicherung gegen den Koitus208
Eigensinn Trotz Streitsucht Gegen den Mann gerichtete Tendenzen
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Sicherung gegen Gravidität
206 vor ] Änd.: von 1922 207 Gefühl nach rechts bis wogt ] Ausl. 1919 208 Koitus ] Änd.: Mann 1919
Körperliche Überempfindlichkeit hypochondrisch sich verzärtelnd
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Schema (Fortsetzung)
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Bauchkrämpfe Erschwerte Stuhlentleerung – auf schwere Geburt deutend Gelegentliche Polyurie (Fruchtwasserabgang)209
Sicherung gegen Geburt
Unerträglichkeit der Rückenlage
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Schmerzen in Fiktion den Beinen einer Neigung zu Thromboandauerndem phlebitis Krankenlager Schwäche in den Beinen, an Astasie und Abasie erinnernd Taumeliger Gang Rasches Ermüden beim Gehen Feindseliges, zuweilen sadistisches Benehmen gegen Kinder Rasche Ermüdbarkeit und Ungeduld in Gesellschaft von Kindern Schlaflosigkeit Reinlichkeitsexzesse Gehörsüberempfindlichkeit bei Nacht Leichtes Erwachen bei Nacht
Sicherung gegen Wochenbett
Memento an das Aufstehen aus d. Wochenbett
Sicherung gegen Mutterpflichten
Reaktionscharaktere komplexer Art zwecks Beseitigung der Minderwertigkeit und Verkürztheit Geiz, Sparsamkeit, Neid, Herrschsucht, Ungeduld, Furcht nichts zu erreichen, nichts zu vollenden, allerlei Anstrengungen, als ob die Distanz bis zur Manngleichheit irgendwie vermindert werden sollte. [86]
andere Mädchen verschwand, und drohte mit der Anzeige. Eine arme, schlecht gekleidete Frau kam herbei und sagte ihr, das Mädchen heiße Velicka. Hierauf ging sie zu ihrer Mutter, um sich zu beklagen. Die Mutter gab ihr einen Korb voll Eier und sagte, sie kosteten fünf Gulden. Sie nahm zwei Eier in die Hand und sah, dass sie groß und schön seien. Die Situation auf der Bank, ihre Müdigkeit und die Badehauben deuten auf eine hydropathische Kur, die sie vor meiner Behandlung insbesondere zur Beseitigung ihrer Schlaflosigkeit unternommen hatte. Am Vortage des Traumes machte sie ihrer Tochter Vorwürfe, weil diese ihre Badewäsche in eigenen Gebrauch genommen hatte; sie besitzt auch zwei Badehauben wie im Traume, welche die Tochter ebenfalls öfters benützt. Velicka ist ein slawisches Wort, heißt groß. Die Tochter führt ein slawisches Adelsprädikat. Die schlecht 209 auf schwere Geburt bis Fruchtwasserabgang) ] Ausl. 1919
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gekleidete Frau ist eine adelige Dame namens Grand-venier. Beiden gegenüber ist sie, die Bürgerliche, verkürzt. Sie war unzufrieden, dass ihr Mann nicht geadelt wurde, hat sich aber aus Stolz ihren Neid nicht eingestanden. Sie fürchtet, dass ihr die Tochter alles wegnehmen könnte. Sie hatte zwei Töchter, die eine ist gestorben, verschwunden. Sie verklagt ihre Tochter öfters bei mir, dass sie sie210 so viel Geld koste. Sie habe ihr schon ihren ganzen Schmuck geschenkt. Schon seit ihrer Kindheit sei sie immer gegen andere verkürzt worden. Auch die Mutter habe sie immer zurückgesetzt und habe sich, als [die] Patientin schon verheiratet war, jede Kleinigkeit von ihr bezahlen lassen. Sie dagegen versorge die Tochter regelmäßig mit Eiern, Wild, Milch, Butter etc. Und doch brauche sie so viel Geld. Vor ihrer Abreise nach Wien habe sie vergessen, eine Schuld im Betrage von fünf Gulden zu begleichen. Am Vortage schrieb sie ihrem Manne, er möge sie sofort bezahlen. Überhaupt müsse sie immer gleich zahlen, was immer sie kaufe.* Die Mutter habe an ihr schlecht gehandelt, im Traume mahnt sie an eine vergessene Schuld. Sie hat immer an ihr gespart. Im Traume erhält sie von ihrer Mutter das männliche Attribut (Testikeln), die ihr die Mutter bei der Geburt vorenthalten hat. Wir sehen wieder, wie aus dem Gefühl der (weiblichen)211 Verkürztheit der männliche Protest sich im Traum gegen weitere Schädigungen wendet. Dieser Traum zeigt uns den Versuch der Patientin, in Gedanken weiteren Verkürzungen vorzubeugen und die Tochter anzuklagen, dass sie ihr wie die Mutter alles weggenommen, vorenthalten habe. [87] __________
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Ebenso findet sich die Gier, alles auch zu haben, in folgender Krankengeschichte, die noch deutlicher wie die vorige zeigt, wie der Patient diese Gier aus Stolz aus seinem Gesichtsfelde räumt – »verdrängt«. Wir werden sehen, eine wie geringfügige Änderung durch die Aufhebung der Verdrängung und durch die Klarlegung des »Ödipuskomplexes«213 vor sich geht. Desgleichen geht aus allen diesen Fällen hervor, dass diese Gier, alles auch zu haben, die unsinnigsten Ziele verfolgt. Solche Kranke haben nur Augen, und zwar durch *
Die Befürchtung, durch weitere Ausgaben verkürzt zu werden, würde die Verwendung der Charakterschablonen von Geiz und Sparsamkeit nahelegen. Diesen mütterlichen, nach ihrer Wertung weiblichen Zügen weicht sie durch einen Zwang, im Voraus zu zahlen, aus und zeigt sich durch Freigebigkeit der Mutter überlegen.
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sie ] Ausl. 1928 (weiblichen) ] ohne Klammern 1919 Trennlinie ausgelassen 1928 Klarlegung des »Ödipuskomplexes« ] Änd.: Analogisierung nach dem »Ödipusschema« 1922
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ihre Sucht nach einer Art von idealer Gleichberechtigung geschärfte, für alles, was andere in ihrem Kreise besitzen, soferne sie selbst von diesem Besitz ausgeschlossen sind. Sie könnten mehr haben als die andern und würden die andern doch beneiden. Sie könnten alles erraffen, was sie vorher den andern missgönnt haben, und würden es dann freudlos beiseiteschieben, um ihrer Begierde neue Ziele zu setzen. Und ihre Begierde bleibt ewig haften an jenen Zielen, die sie nicht erreicht haben. Dass sie zur Liebe und zur Freundschaft unfähig werden, ist leicht zu verstehen. Oft gelangen sie zu großer Verstellungskunst und gehen auf Seelenfang aus, weil auch andere Personen Seelen beherrschen. Immer fürchten sie die Verkürzung und suchen sich weit im Voraus zu sichern. Die Liebe der Eltern, die ein Bruder genießt, dessen Schmuck, eine Heirat eines Bruders oder einer Schwester, ein Buch, eine Leistung Bekannter oder auch Unbekannter erfüllen sie mit Ingrimm.* Die Erstgeburt des andern, eine gelungene Prüfung, Besitz oder Würden der Geschwister stürzen sie in Aufregungen, bereiten ihnen Kopfschmerz, Schlaflosigkeit und stärkere neurotische Symptome. Ihre ständige Furcht, einem älteren, jüngeren Bruder nicht gleichzukommen, kann sie unfähig zur Arbeit machen. Dann versuchen sie, allen Entscheidungen und Prüfungen214 auszuweichen, kommen in das Stadium der Aggressionshemmung, treten oft in irgendeiner Weise den Rückzug vor dem Leben an und berufen sich dabei auf ihre ad hoc geschaffenen Symptome, unter denen mir Zwangserröten, Migräne, allerlei Kopfschmerzen, Herzklopfen, Stottern, Platzangst, Zittern, Schlafzwang, Depression, Gedächtnisschwäche, Polydipsie215 K und psychogene Epilepsie mehrmals aufgefallen sind.216 Ich habe den Fall eines jüngeren oder jüngsten Bruders bei obiger Schilderung in den Vordergrund geschoben, weil ich ihn am häufigsten angetroffen habe, und weil er am ehesten in die Rivalität getrieben wird.** Dieser Fall ist nicht der ausschließliche. Man findet auch ältere Geschwister oder einzige *
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So kann die bevorstehende Heirat eines Mädchens217 beim Bruder oder Vater, wenn diese neurotisch disponiert sind, zum Ausbruch218 einer Neurose führen. Das Arrangement von Verliebtheit kann dann »Inzestregungen« vortäuschen. Frischauf, Psychologie des jüngeren Bruders, E. Reinhardt, München 1912219
214 Erg.: der Kritik 1922 215 Erg.: Polyurie K 1922 216 Erg.: Am deutlichsten ist das Arrangement bei Alkoholismus, Morphinismus und Kokainismus, die restlos nur heilen, wenn das Gemeinschaftsgefühl wächst und die Eitelkeit abnimmt. 1922 217 Erg.: bei der Schwester 1922 218 Erg.: eines Anfalls, zur Verschärfung 1922 219 Anmerkung ausgelassen 1919
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Kinder, selbstverständlich auch Mädchen in dieser Rolle. Die Rivalität kann auch in erster Linie dem Vater oder der Mutter gelten, in deren Bild die anzustrebende Überlegenheit häufig konkretisiert erscheint. Dann geht der »Ödipuskomplex«220 aus dieser Sucht des disponierten Kindes hervor, ein Leitbild, eine leitende Fiktion für sein Wollen zu gewinnen, und dies geschieht bereits zu einer Zeit, wo noch nicht sexuelle Lust erstrebt wird, sondern der Auch-Besitz einer Person oder eines Gegenstandes, der anderen gehört. Prädestinationsglaube und Gottähnlichkeitsgedanken bauen sich häufig als Erscheinungen des männlichen Protestes221 auf. Anamnestisch lässt sich oft Kleptomanie erheben222. [88] Zuweilen ist sich der Patient seiner Leitlinie nicht bewusst. Man sieht ihn manchmal auch am Werke, diese Leitlinie zu verstecken und durch gegenteilige Regungen, etwa durch Freigebigkeit unkenntlich zu machen. Der Wunsch, der ihn beispielsweise zur Mutter zieht, mag man ihn noch so sexuell gefärbt nachweisen, ändert, bewusst geworden, am Krankheitsbilde nichts. Erst wenn der Patient seine Gier nach dem Unerreichbaren223, nach dem – der Natur der Sache nach – zu einem andern Gehörigen versteht und einschränkt224, kann er gesunden. Der maßlose Stolz, den man in manchen dieser Fälle findet, gestattet dem Patienten nicht leicht das Verständnis für seinen Neid und für seine Eifersucht. Die Entwertungstendenz ist dagegen meist überstark entwickelt und liegt auf der Hand. Bosheit, Rachsucht, Hang zur Intrige, bei geringeren Intellekten rohere Angriffstendenzen, auch sadistische und Mordinstinkte zeigen sich als Versuche einer Sicherung gegen das Unterliegen in der Rivalität225. Furcht vor den Konsequenzen, wie lebhafte Besorgnis wegen des Befindens der Angehörigen, Ausmalung von Strafen, Fesselung und Elend sind die zugehörigen Sicherun220 der »Ödipuskomplex« ] Ausl. 1919 221 männlichen Protestes ] Änd.: Strebens nach Überlegenheit 1928 222 Erg.: [Erg.: als Zeichen der Gier 1922] als Ergebnis des Zusammenwirkens von empfindlichem Ehrgeiz, [Erg.: Neid 1922] Furcht vor den Aufgaben des Lebens, einer gleichzeitigen Reichtumsfantasie und der teilweisen Aufhebung des Gemeinschaftsgefühls 1919 223 Gier bis Unerreichbaren ] hervorgehoben 1922 224 Erg.: und seine Furcht vor seinem Lebensproblem aufgibt 1919 225 Rivalität ] Änd.: Realität 1919 Erg.: als der schäbige Rest, der übrig bleibt, wenn die nützliche Seite des Lebens hoffnungslos verlassen wird 1928 Anm.: Bezieht sich die Furcht vor der Wirklichkeit auf das Sexualproblem, resultiert häufig die Perversion. Siehe Adler, »Das Problem der Homosexualität«, 2. Auflage. E. Reinhardt, München 1919. [Änd.: 2. Auflage in Vorbereitung 1922] – Furcht vor dem Beruf ergibt ein Leben in Müßiggang, Laster, Verbrechen. Siehe auch Strasser u. Eppelbaum K, »Über Alkoholismus«, Verlag E. Reinhardt, München. 1919 Siehe bis München ] Ausl. 1922
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gen gegen Ausschreitungen des männlichen Protestes226. Auch die Anfälle können sichernd eintreten, so z. B. wenn wie in unserem Falle ein psychoepileptischer Insult sich traumhaften Regungen des Vater- und Brudermordes anschließt. Vielleicht regelmäßig spielt das Motiv verschmähter Liebe mit und schafft die stärksten Hassregungen gegen umworbene Personen. Es ist mit Recht zu bezweifeln, dass Liebe bei gesunden Menschen einer solchen Umwandlung fähig wäre. Erst die Summe aller Machtimpulse, das überhitzte Persönlichkeitsgefühl solcher Menschen gehört dazu, sich des seelischen Besitzes einer zweiten Person gegen deren Willen bemächtigen zu wollen. Da der Neurotiker auch alles haben will, wird er blind gegen natürliche Hemmnisse und fühlt in der Verschmähung seiner »Liebe« seine empfindlichste Leitlinie getroffen. Nun schreitet er zur Rache: Acheronta movebo!K Man kann oft227, falls man im Zweifel ist, welche von zwei Personen der Patient für sich in Anspruch nehmen will, ob228 den Vater oder die Mutter, das Gegenteil dessen annehmen von dem, was der Patient behauptet. Es wäre in der Regel zu schmerzhaft, sich die »verschmähte Liebe« einzugestehen. Ein exaktes Resultat erscheint mir folgender Versuch zu ergeben: Man setzt den Patienten genau zwischen die fraglichen Personen, und wird nach einiger Zeit beobachten können, dass er sich der vorgezogenen Person genähert hat.229 So konnte ich mich in dem Falle des Patienten, den ich nun auszugsweise beschreiben will, überzeugen, dass er die größere Anziehung der Mutter verspürte, obgleich er, wenn wir allein waren, den Vater bei Weitem vorzuziehen schien. Nicht selten beschimpfte er die Mutter, und es verging kein Tag, ohne dass er mit ihr in Streit gekommen wäre.230 Eine in der Neurose häufig zu beobachtende Erscheinung fehlte auch hier nicht, war vielmehr in besonderer Ausprägung zu beobachten: die starke Vorschiebung231 eines pedantischen Charakterzuges, der, wie im Kriege eine Eklaireurtruppe, die Aufgabe übernahm, mit dem »Feind« in Fühlung zu kommen. Der Feind war in erster Linie die Mutter, und die täglichen Kämpfe entspannen sich regelmäßig, weil den übertriebenen pedantischen Forderungen des Patienten bei der Mahlzeit, bei [89] der Wäsche- und Kleiderbesorgung, 226 227 228 229 230
Erg.: Bremsvorrichtungen [hervorgehoben 1922] vergleichbar 1919 oft ] Änd.: gelegentlich 1928 ob ] Ausl. 1919 Erg.: Nur in der Bewegung ist Wahrheit. 1928 Erg.: Die erste Phase der sozialen Bindung des Kindes ist immer die Bindung an die Mutter, die Bindung an den Vater ist immer eine zweite Phase, die nach einer Tragödie einsetzt, wenn die Mutter dem Kind entrissen wird. (Meist durch Geburt eines folgenden Geschwisters.) 1928 231 Vorschiebung ] Änd.: Verschiebung 1928
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bei Bereitung des Bades und des Nachtlagers unmöglich vollauf Rechnung getragen werden konnte. Unser Patient gewann so die Operationsbasis, von der nun die Umgehungsversuche ausgingen, um die Mutter doch vollkommen in seinen Dienst zu stellen. Wieder sehen wir einen neurotischen Charakterzug als Kunstgriff, mittels dessen der Patient seinem fünften Akt gerecht werden, sein Schema getreulich innehalten will, um die Mutter doch auch so zu beherrschen, wie er es beim Vater gemerkt zu haben vermeinte. »Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!«K Dieser Gedankengang hatte in seiner Kindheit von ihm Besitz ergriffen, und so stand er bald der Mutter gegenüber voll Misstrauen, lauernd auf Herabsetzungen, auf Bevorzugung anderer, voll gespannter Energie und trüber Erwartung, ob es ihm doch noch gelänge, sie für sich einzufangen. Nicht etwa, weil er sie liebte oder besitzen wollte, sondern weil er sie auch haben wollte, wie so viele andere Dinge, Schmucksachen, Bonbons, die er gar nicht hochschätzte, sondern im Schranke ließ und dran232 vergaß, sobald er sie einmal sein Eigen nannte. So war ihm der Besitz der Mutter nicht Selbstzweck, sein Begehren war durchaus kein libidinöses oder gar sexuelles, sondern die Mutter und ihre Distanz von ihm waren ihm zum Symbol, zum Maßstab geworden für den Grad seiner Zurücksetzung. Und weil er das Weltbild, jede Begegnung, jede Beziehung zum weiblichen Geschlecht mit den gleichen Charakterzügen aufnehmen wollte, misstrauisch, voll Überempfindlichkeit, mit der gleichen trüben Erwartung einer Enttäuschung, zerrann ihm jeder Erfolg und jede Befriedigung. Er hatte ja nur Augen für alles, was gegen ihn, gegen seinen Erfolg sprach, und was er erreichte, verlor allen Reiz für ihn. Er beantwortete das Problem seines Lebens mit dem Arrangement seiner Neurose. Er hielt sich um ein starkes Stück verkürzt, und dieses Stück machte der symbolisch zu fassende Verlust der Mutter aus.233 Hätte man diesen Patienten, der an Angstzuständen, Migräne und Depressionen litt, etwa heilen können, wenn man ihm die Mutter wiedergab? In der Zeit, wo der Patient zum Arzte kommt, wäre ein solcher Versuch vergeblich. Die nachgiebigste Mutter – viele von ihnen sind dauernd ihrem Sohne entfremdet – könnte jenes Maß von Geduld und Aufopferung nicht aufbringen, das der Patient in seinem grenzenlosen Misstrauen und in seiner Machtgier verlangt. Als stets bereiter Anlass zu erneuten Heftigkeiten und Bedrängun232 dran ] Ausl. 1922 233 Erg.: Dieses häufige Zustandsbild möchte ich als »Konfliktsneurose« abtrennen. Die meist schweren Erscheinungen ergeben sich durch die eigenartige Stellung des Patienten zu seinen Nebenmenschen, die ihn als Menschenfeind charakterisiert und auf Schritt und Tritt zu Konflikten führt. Der »Konfliktsneurose« sind fast regelmäßig Zwangserscheinungen beigestellt. Aber auch Angst- und hysterische Anfälle begleiten sie. Sie hat die Aufgabe, den Patienten mit Aufregungen zu laden, zu präokkupieren und fürs Leben untauglich zu machen. 1919 Sie hat bis machen ] hervorgehoben 1922
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gen bleibt immer noch die Vergangenheit und die Erinnerung an frühere Entbehrungen.234 Wohl könnte dieser Versuch in der Kindheit glücken, sowie überhaupt die pädagogische Lösung dieses speziellen neurotischen Problems in einer schrittweisen Aufklärung, Verselbstständigung des Kindes und in der sachgemäßen Beruhigung über seine Zukunft235 liegt. Die Unsicherheit ist es, die solchen Kindern den Ausblick in die Zukunft verwirrt, eine Unsicherheit, deren organische und psychische Quellen wir bereits kennengelernt haben. In unserem Falle war es der Umstand236, dass unser Patient als Kind bereits in der Säuglingszeit leicht zusammenzuckte und erschrak. Dieses Erschrecken von Säuglingen, oft schon als Nervosität gedeutet, ist offenbar ein organisches Erbteil und knüpft nach meinen Beobachtungen an eine ererbte Empfindlichkeit – Minderwertigkeit – des Gehörorgans an, sodass solche Kinder schon bei Geräuschen und Tönen zusammenfahren, bei denen andere noch ruhig bleiben.237 Für uns bedeutet [90] demnach diese auffallende Erschreckbarkeit ein Zeichen angeborener Gehörsüberempfindlichkeit, eine Organminderwertigkeitserscheinung, der familiäre Ohrenleiden, aber auch Steigerungen von Gehörsverfeinerungen, musikalischer Sinn oft entsprechen. Dass unser Patient im sechsten Lebensjahre eine langwierige Mittelohrenentzündung durchgemacht hat, in deren Verlauf sich eine Parazentese des Trommelfells als nötig erwies, steht mit den Anschauungen der Organminderwertigkeitslehre238 in gutem Einklang. Desgleichen auch die Entwicklung eines trefflichen musikalischen Gehörs und einer auffallend feinen Gehörsempfindung, die ihn zum Lauschen geradezu qualifizierte. Diese Organverfeinerung, mit Aufmerksamkeit überladen, bringt es in jedem Falle mit sich, dass lauschende, der Hörsphäre angehörige neugierige Tendenzen dem Kinde aufgezwungen werden, zumal wenn es auch aus anderen Ursachen in größere Unsicherheit gerät. Die Bedingungen dieser Unsicherheit, aus der er durch seine Neugierde zu entkommen suchte, lagen in einer schwächeren Entwicklung seines Intellekts gegenüber einem älteren Bruder, der ihn, wie dies zum Schaden der Erziehung so häufig geschieht, zum Spielball seiner Neckereien nahm, ihn auch häufig zum Narren hielt. [Der] Patient erinnert sich auch, eine Zeit lang an jener 234 Anm.: Auch in der Ehe gibt es solche, die Neurose unterhaltende Konfliktstellungen. Man findet sie häufig [Erg.: ursächlich 1928] bei Impotenz, Frigidität, Angst, Platzangst usw. 1922 235 Erg.: in der Prophylaxe 1922 236 In unserem bis Umstand ] Änd.: Eine Quelle seiner Unsicherheit war es 1919 237 Anm.: Überempfindlichkeit des Geruchs-, des Geschmacks-, des Sehorgans, der Sensibilität als Zeichen von Organminderwertigkeit und Variation erweisen sich gleichfalls oft als zweifelhafte Geschenke der Natur, weil sie ebenso wie Unterempfindlichkeiten die Einfügung ins Leben erschweren können. 1919 238 Organminderwertigkeitslehre ] hervorgehoben 1922
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Form des Kryptorchismus gelitten zu haben, bei der ein Testikel zeitweise durch den offenen Leistenkanal in die Bauchhöhle schlüpft. Dieser Umstand, die bessere Genitalentwicklung des älteren Bruders und dessen frühere Behaarung legten ihm frühzeitig den Gedanken nahe, er könne gar ein Mädchen sein. Er trug bis zum Ende des vierten Lebensjahres Mädchenkleider und hat wohl aus dieser Zeit die Furcht erworben, nicht so wie der Bruder oder der Vater zu sein, kein ganzer Mann zu werden. Die starke Entwicklung seiner Mammae hat seine Unsicherheit wesentlich verstärkt.239 Dass er lange Zeit in Ungewissheit über die Geschlechtsunterschiede verbrachte, geht aus einem Erlebnis hervor, das ihm im Gedächtnis haften blieb, weil er bei dessen Erzählung von allen Anwesenden ausgelacht worden war. Er hatte im Volksgarten ein Mädchen beim Urinieren beobachtet und erzählte zu Hause, er habe einen Knaben gesehen, der von rückwärts Harn ließ.* Diese frühe Zeit war maßgebend für seine Einstellung zur Familie und des weiteren zur Welt. Er sah sich verkürzt, und sein Minderwertigkeitsgefühl fand keine Ausgleichung in der Familie. Seine Begehrlichkeit, sein Drang, es dem Bruder, dem Vater, irgendjemandem gleichzutun, den er als stark, fähig, kraftvoll ansah, wuchs mächtig an und leitete ihn auf Bahnen, wo er in häufige Konflikte mit seinen Eltern kam. Er wurde ein schlimmes, ungebärdiges Kind, und jetzt war eine zärtlichere242 Haltung der Eltern noch schwieriger zu erzielen. Seine Gelüste stiegen maßlos, misstrauisch und mit wachsendem Jähzorn suchte er sich vor jeder Herabsetzung zu sichern, und dies auch naturgemäß zu einer Zeit, wo er durch die Entwicklung seiner Genitalien, durch eine auffallend starke Körperbehaarung und durch seine angesammelte Erfahrung243 über seine Geschlechts[91]rolle beruhigt sein konnte. Aber nun hatte sich durch *
Die ursprüngliche Unsicherheit der Geschlechtsrolle spielt, wie ich seit Jahren betone, (s. »Über neurotische Disposition« 1909 und die folgenden Arbeiten) eine Hauptrolle in der Entwicklung der neurotischen Psyche, für die sie später als Symbol und verschärfende Operationsbasis im Kampfe um die240 Herrschaft Verwendung findet. In allerletzter Zeit habe ich für diesen wichtigen Befund ein teilweises Entgegenkommen mehrerer Autoren gefunden.241
239 Anm.: Zu beachten ist die Minderwertigkeit der endokrinen Drüsen als organische Verlockung zur Neurose. Siehe 2. Bd. »Organische Grundlage der Neurose«. 1919 Erg.: in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. Die Individualpsychologie darf in Anspruch nehmen, den Zusammenhang von Organminderwertigkeit und Verleitung zur Neurose und Psychose festgestellt zu haben. 1922 240 Erg.: neurotische 1919 241 In allerletzter bis gefunden ] Ausl. 1919 242 zärtlichere ] Änd.: zärtliche 1928 243 durch die Entwicklung bis Erfahrung ] Ausl. 1919
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die Entwicklung seiner Charakterzüge, die auch einen schlechteren Fortschritt in der Schule bedingten, seine Lage in der Familie so ungünstig gestaltet, dass er sich mit seiner verfeinerten Überempfindlichkeit mit Recht als zurückgesetzt ansehen durfte. So fand er den Weg zur Norm nicht mehr. Dass er aber dieses Gefühl der Zurückgesetztheit noch immer nach der Analogie einer weiblichen Rolle apperzipierte, ging schon aus dem ersten seiner Träume während der Behandlung hervor. Dieser lautete: »Mir war, als ob ich zusah, wie ein Affe ein Kind säugte«. Er wurde wegen seiner starken Behaarung, die er übrigens mit Stolz zeigte, von seinem Bruder öfters als Affe bezeichnet. Der Affe, der das Kind säugt, ein weiblicher Affe demnach, ist er selbst. Das heißt, er sieht sich, er empfindet sich in einer weiblichen Rolle, wobei das Säugen als Hinweis auf seine GynäkomastieK aufzufassen ist, die bei der Traumdeutung zur Sprache kam. Dies wäre die von mir für alle244 Träume behauptete weibliche Linie, der gegenüber die Andeutung der starken Behaarung in der Richtung des männlichen Protestes aufzufassen ist. [Der] Patient führt sich also in die Kur mit der Eröffnung ein, dass er sich zurückgesetzt fühle, und lässt uns durch das gewählte Bild erkennen, dass er diese Minderwertigkeit als weiblich werte. Nebenbei will ich darauf hinweisen, dass der Traum häufig Bilder oder Ausdrucksweisen wählt, die eine gleichzeitige Durchsetzung mit weiblichen und männlichen Charakteren aufweist. Hier ein Affe, dessen Säugen als weiblich, dessen Behaarung gleichzeitig als männlich anzusehen ist. Derartige Ausdrucksformen, die ich als dem psychischen Hermaphroditismus zugehörig erkannt habe, lassen sich auf zwei erleichternde Bedingungen zurückführen: 1. entsprechen sie der infantilen Undeutlichkeit245 der Geschlechtserkenntnis, 2. ist die Kategorie der Zeit bei starker Abstraktion im Traume völlig oder nahezu völlig ausgeschaltet, ähnlich wie in anderen Fällen die Kategorie des Raumes, sodass zwei Gedanken, die zeitlich oder räumlich zu trennen wären – in unserem Falle: Ich empfinde mich als Weib und will ein Mann sein246 – zusammenfallen. Stekel hat, mit einiger Übertreibung, wie ich glaube, in Weiterführung meiner Anschauung vom psychischen Hermaphroditismus jedes Traumsymbol als zweigeschlechtlich eingestellt; er dürfte sich aber der Wahrheit näher befinden als Freud, der den regelmäßigen Befund des psychischen Hermaphroditismus und männlichen Protestes in der Traumanalyse leugnet.247 Die Aufdringlichkeit, mit der uns dieser erste Traum des Patienten auf sein 244 245 246 247
alle ] Änd.: viele 1928 Undeutlichkeit ] Änd.: Unfähigkeit 1922 sein ] Änd.: werden 1928 Stekel bis leugnet] Ausl. 1919
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Gefühl der Minderwertigkeit hinweist, sozusagen in einer Reaktion auf den Beginn der Kur, ist natürlich auch als Avis an den Arzt zu verstehen: Meine Krankheit rührt von meinem Gefühl der Minderwertigkeit her! Meine Krankheit, Ohnmachtsanfälle und Berufsuntauglichkeit sind Sicherungen gegen eine Niederlage im fünften Akt. Ich bin ohnmächtig und untauglich wie ein Kind und sehne mich nach der Liebe – Affenliebe –, wie ich sie im Traume sehe. Wir ergänzen: ohnmächtig aus Prinzip, um wie ein Kind gehätschelt zu werden, was er auch nach seinen Anfällen annähernd erreicht; und untauglich, damit man ihn immer mit Nahrung versorge, [92] damit man nicht vergesse, dass er zeitlebens durch Zärtlichkeit und durch – Testament gesichert werden müsse. Seine große Schreckhaftigkeit bei plötzlichen lauten Geräuschen, also seine Hyperakousie, war ganz besonders berufen, eine Vermittlung abzugeben, damit er seinen Zweck erreichen könne. Sein vorgesetztes Finale, angestrebte Überkompensation seines Gefühls der Zurückgesetztheit, bestand ja darin, alle Liebe der Eltern, insbesondere der schwerer zu erreichenden der Mutter, auf sich zu lenken. So griff er gegebene Erlebnisse auf, ein Erschrecken bei Schüssen, wie er sie bei militärischen Leichenbegängnissen hörte248, beim Fauchen und beim schrillen Pfiff der Lokomotive, bei plötzlichen Angriffen des Bruders und der Spielgenossen, um auf das Herz der Mutter zu wirken. Das ihm vorschwebende Finale zog eine Fixierung der Hyperakousie nach sich, die ihn bis heute beherrscht. Diese tendenziöse Hypersensibilität ist so recht geeignet, wie ähnliche bei der Hysterie, uns begreiflich zu machen, dass die Unsicherheit den Patienten zwingt, seine Fühler so weit als möglich vorzustrecken, wie er dies auch mit den überspannten Charakterzügen tut. Andererseits drückte die Schreckhaftigkeit auf sein männliches Empfinden und gab ihm das Gefühl weiblicher Regungen. Er versuchte deshalb in allen249 anderen Beziehungen Mut und unerschrockenes Benehmen an den Tag zu legen, was ihm auch gelang. Die Aufdeckung seines Wunsches nach der Liebe seiner Mutter blieb ohne besonderen Erfolg. Seine Anfälle erfolgten in ungefähr den gleichen Intervallen, nur verlegte sie [der] Patient ins Bett, dies aber nur deshalb, um sich auch gegen die Eingriffe der Behandlung zu sichern, die nunmehr nicht250 so leicht wie anfangs der Kur die auslösenden Ursachen der Ohnmachtsanwandlungen feststellen konnte. Denn vorher waren sie stets im Zusammenhang mit Erlebnissen erfolgt, die das Persönlichkeitsgefühl des Patienten herabsetzten; jetzt war ich gezwungen, diese Erlebnisse aus Einfällen und Träumen des Patien248 hörte ] Änd.: hört 1928 249 allen ] Änd.: manchen 1919 250 Erg.: mehr 1919
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ten zu rekonstruieren. Der Patient freilich machte aus der Not eine Tugend und hob diese Veränderung als Besserung durch die Behandlung hervor, in der Erwartung, meine Sympathie so für sich zu gewinnen, ein Gewinn, der ihm wie bei allen Personen251 seiner Umgebung als Machtgefühl zur Empfindung kam. Die Sucht, dieses Machtgefühl zu erlangen, hat auch aus ihm einen sehr umgänglichen, liebenswürdigen Charakter im Verkehr mit Fremden gemacht. Nun könnte einer sagen, der Ödipuskomplex sei bei meiner andersartigen Auffassung nicht rein zum Vorschein gekommen, nicht so rein, wie ihn etwa Freud selbst zur Darstellung gebracht hätte. Ich müsste dem energisch widersprechen. Gerade dieser Fall war wie wenige geeignet, das Streben nach der Mutter in sexueller Verkleidung rücksichtslos zur Anschauung zu bringen, und der Patient zögerte nie, seine oft unverhüllten Ödipusträume als Beweise eines sexuellen Begehrens hinzustellen. Solcher Träume gab es viele. So träumte er: »Ich gehe mit einer Dame vom Rendez-vous weg auf die Gasse«. Die Dame stellte seine Mutter vor, wie aus Einzelheiten hervorging. Die Gasse wies auf Prostitution hin. Das »Rendez-vous« aber war ein Bestandteil einer Tageserinnerung und bezog sich auf ein Mädchen, die ihm ein Wiedersehen verweigerte, durch ihre Ablehnung also der [93] Mutter gleichgestellt wurde. Er konnte auf Mädchen nicht wirken, war so, nach seiner Meinung, um das männliche Machtgefühl gebracht und erniedrigte, im Protest, die Mutter wie das Mädchen, des Weiteren aber alle Frauen, die er eigentlich fürchtete, zu Dirnen252. Ebenso deutlich kam der »Ödipuskomplex« bei anderen Träumen zutage, wo auch erst die Einfügung in die psychische Konstellation erlaubte, das Sexuelle als Jargon, als Modus dicendi zu erkennen. So träumte er: »Ich sitze an einem schlichten Tisch aus braunem Holze. Ein Mädchen bringt mir ein großes Gefäß mit Bier.« Der Tisch erinnert ihn an einen unterirdischen Keller in Nürnberg; dorthin war er zu einer wissenschaftlichen Unternehmung gefahren, die ihn ins germanische Museum führte. – In die gleiche Richtung – des Germanentums – leiteten Gedanken über das große Gefäß mit Bier. Es ist von vorneherein begreiflich, dass der außerordentlich musikalische Patient mit starken Reminiszenzen an WagnersK »Meistersinger« in Nürnberg ankam. Als er diese erwähnte, begann er eine Szene aus Wagners Opern zu suchen, in der jemand einen Trunk zu sich nimmt. Erst fiel ihm Tristan ein, hierauf Siegfrieds Eintreffen am Hof Gunters. In beiden Szenen trinkt der Held einen Liebestrank. So fühlte unser Patient die 251 bei allen Personen ] Änd.: die entbehrte Liebe 1919 252 Erg.: suchte auch entsprechend seinem Minderwertigkeitsgefühl den Kreis der Prostitution Anm.: Siehe »Individuelle Psychologie der Prostitution« in »Praxis und Theorie«, l. c. 1922
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rätselhafte Neigung zu seiner Mutter als durch die Zauberkünste der Mutter erweckt. Zuletzt fiel ihm Siegmund ein, dem seine Schwester Sieglinde mitleidig ein Horn mit Meth reicht. Der Sinn dieses Traumes lautet demnach: Die Stimme des Blutes hat gesprochen, die Mutter nimmt sich mitleidig seiner an, er ist der Held, der dem Mann (Vater) die Frau entreißt. Der Ausblick auf den Inzest wie bei Wagner, [der] Patient begehrt wie ein Trunkener nach seiner Mutter. Die253 psychische Situation des Patienten war ins »Weibliche« geraten. Sein älterer Bruder kam von einer Reise nach Hause und wurde mit großer Liebe empfangen. Wie anders war es ihm ergangen, als er vor einiger Zeit von seiner Deutschlandreise zurückgekehrt war! Der Gedanke: Ich bin verkürzt! – wurde durch den Empfang des Bruders mächtig verstärkt, und im Traum sucht er sich auf die männliche Linie hinüberzuretten. Es war ein Versuch, der scheitern musste254. In derselben Nacht bekam er einen Anfall. Der Anfall hatte den Zweck, die Zärtlichkeit255 der Mutter auf den Patienten zu lenken. Mit dem Vater gelang dies leicht. Aber auch die Mutter vergaß seine eifersüchtigen, oft rohen Zornesausbrüche, sobald er bewusstlos lag, und setzte sich auf einige Zeit an sein Bett. So befriedigte er seinen Wunsch, alles zu haben, alles so zu haben wie der Bruder, wie der Vater. Die Formenwandlung seiner ursprünglichen Fiktion: Ich habe ein unvollkommenes Genitale256, ich werde kein ganzer Mann sein, war bis zu dem Gedanken gelangt: Ich will auch die Mutter haben wie der Vater, wie der Bruder sie besitzen. Um mit der nötigen Energie vorgehen zu können, bedurfte es nun einer tief gefühlten Überzeugung seiner Neigung zur Mutter: Also fingierte er sie. Den tiefsten Zweck seiner sehnsüchtigen Einstellung zur Mutter ergab die weitere Analyse, die einen entscheidenden Punkt in seinem Gefühle der Unsicherheit aufdeckte. Als sich die Mutter ihm [94] in der Kindheit immer mehr entzog, kam er, wie so viele Kinder in ähnlicher Situation, auf den Gedanken, er sei nicht das Kind dieser Familie. Die Märchen vom »Schneewittchen« und »Aschenbrödel« dürften bei diesen Kinderfantasien häufig Leitgedanken abgeben. Als sein älterer Bruder einst erkrankte, wich die Mutter nicht von ihm. Seither reizte es unseren Patienten ununterbrochen, durch schwere Ohnmachtsanfälle, wie er sie von einem Onkel kannte, die Eltern, insbesondere die Mutter, zu prüfen, ob die Stimme des Blutes sprechen würde. Diese Prüfungen nahm er mit echt neurotischer Unersättlichkeit vor, und so zeigt sich auch in diesem Falle die völlige Auflösung des Ödipuskomplexes, sein Wesen als das einer arrangierten Fiktion, seine Bedingtheit als Ausdrucksmittel des männli253 254 255 256
Die ] Änd.: Aber die 1922 Erg.: – und sollte! 1919 Erg.: das Mitleid 1922 Ich habe ein unvollkommenes Genitale] Ausl. 1919
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chen Protestes gegen ein Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit, seine Abhängigkeit von der neurotischen Sicherungstendenz des »Alleshabenwollens«. Der innere Widerspruch, der sich bei dieser Form des männlichen Protestes oft geltend macht, die moralische Verurteilung eines dem Grundsatz des »Alleshabenwollens« entsprechenden Handelns, aber auch die stärkere Einsicht in die Unerfüllbarkeit, oder die Furcht vor der Entscheidung, die gegen den Patienten fallen könnte, erzwingen häufig einen Kompromiss. Man kann dieses am besten in die Worte kleiden: Halb und halb! Der Patient sucht einen Ausweg aus dem Dilemma und kommt auf diesem Wege zu dem Divide et impera! Zuweilen ist dieser Weg gangbar – wegen der Möglichkeit einer Befriedigung der Herrschsucht. Manchmal kommt es dabei zu starken kulturellen, aber auch zu utopischen Ausprägungen von Gleichheitsgefühlen und Gerechtigkeitsliebe. [95]
II. Kapitel Neurotische Grenzerweiterung durch Askese, Liebe, Reisewut, Verbrechen – Simulation und Neurose – Minderwertigkeitsgefühl des weiblichen Geschlechts – Zweck des Ideals – Zweifel als Ausdruck des psychischen Hermaphroditismus – Masturbation und Neurose – Der »Inzestkomplex« als Symbol der Herrschsucht – Das Wesen des Wahns
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Eine Betrachtung, die sich hier anreihen darf, will zu zeigen versuchen, wie die kompensierende Leitidee, »alles haben zu wollen«, von ihrem geraden Wege abbiegen kann, um auf Umwegen oder nach Art eines Kunstgriffes sonderbare neurotische, verbrecherische, aber auch schöpferische Leistungen anzuregen, um endlich bei ihrem Ziele anzulangen und eine Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls irgendwie durchzusetzen, zumindest aber, und so lange bleibt die Neurose produktiv, vor einer Herabsetzung zu bewahren. Schon die Sparsamkeit, Kargheit und Askese mancher Neurotiker zeigt uns einen derartigen Umweg, auf dem1 sich der Patient treiben lässt, als ob er nur in dieser Weise vor Gefahren gefeit wäre. Er handelt dann strenge nach diesen fiktiven Leitlinien, glaubt an sie, steigert auch sein abnormes Wesen in Fällen besonderer Unsicherheit bis zur Psychose. In der Melancholie, bei Vorwiegen von Verarmungsfantasien, antizipiert der Patient, um der2 wirklichen Gefahr zu entgehen, ähnlich wie bei der Hypochondrie einen befürchteten Zustand, versucht eine Fiktion zu realisieren, unterstreicht sein Minderwertigkeitsgefühl und verwendet sein Leiden zur Sicherung seines Persönlichkeitsgefühls. Auch Fälle von Kaufzwang, Fetischismus, neurotischer Sammelwut und Kleptomanie kommen als Äußerungen dieser Gier, alles haben zu wollen, zustande. Immer ist ein Zug sichtbar, die von der Realität gesetzten Grenzen entlang einer fiktiven Leitlinie zu durchbrechen, um einem Gefühl der Verkürzung zu entkommen. Immer tritt dabei die Apperzeption nach dem strengen3 bildlichen Gegensatz von »Männlich – Weiblich«4 zutage und lässt den Patienten häufig Betonungen und Unterstreichungen vornehmen, durch welche bewiesen werden soll, dass er ein Mann sei. Dazu nun eignet sich das sexuelle Symbol als Ausdrucksmittel recht gut, dessen Auflösung die übertriebene männliche Richtungslinie zuwei1 2 3 4
dem ] Änd.: den 1922 der ] Änd.: einer 1919 strengen ] Änd.: streng 1922 »Männlich – Weiblich« ] Änd.: »Oben – Unten« 1928
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len auf sonderbaren Umwegen ergibt. Hier reihen sich nervöse Lügenhaftigkeit, Prahlerei, Hochstaplertum an, ebenso Versuche, mit dem Feuer, mit der Liebe zu spielen,5 und so die gegebenen Grenzen so weit als möglich hinauszuschieben. Harmlosere Erscheinungen sind pathologische Reiselust, deren Ausartung im Weglaufen, in der Fugue neurotischer und psychotischer Personen zu finden ist.* Regelmäßig ist im Leitbild dieser Nervösen ein Persönlichkeitsideal, dessen Höhe durch Nachahmung oder durch trotziges, negativistisches Verhalten zu erreichen gesucht wird. Die gleiche Richtung, männliches Können bis an die äußerste Grenze [96] auszudehnen, liegt auch den fortgesetzten Neigungen zugrunde, gruselige, Entsetzen erregende Handlungen zu lesen, zu hören, zu sehen, zu begehen.6 Je stärker dieser Drang nach wertlosem Besitz sich geltend macht, um so mehr verfälscht er normale Neigungen und Wertungen. Etwa wie die Liebe für die Natur nur vorgetäuscht, aber in übertriebener Weise dargestellt wird, wenn ein Tourist alle Spitzen auf seinem Bergstock verzeichnet haben will. Die LeporellolisteK zeigt uns diese Gier in Bezug auf Liebe, und dem Don JuanK ist die MessalinaK gleichzusetzen, die Nymphomane, die sich stets ungesättigt und verkürzt wähnt, weil in dieser neurotischen Gestaltung reale Befriedigungsmöglichkeiten unzureichend sind. Die Fesselung und Entwertung des Partners kommt dabei wesentlich in Betracht7. »Liebe Seele, wo wäre ich nicht gewesen«, antwortet Immermanns MünchhausenK auf die Frage, ob er einen fernen Ort kenne. Die realen Befriedigungen bei Bewegungsspielen, Reiten, Fahren, Schnellfahren, bei der Aviatik stammen in ihrem tiefsten Grunde aus der Besitzergreifung, aus der Bemächtigung. Deshalb will jedes Kind Kutscher, Kondukteur, Lokomotivführer, Aviatiker, nicht minder aber auch Kaiser sein, Lehrer, um die anderen zu beherrschen und den sichtbaren8 Ausdruck für seine Überlegenheit zu schaffen, Arzt werden, um den Tod zu bannen und die Grenzen des Lebens zu erweitern, General, um die Armee zu leiten, Admiral, um dem Meere zu gebieten. Lüge, Diebstahl und andere Verbrechen der Kinder erweisen sich als Versuche einer derartigen Grenzerweiterung9. Meist bleibt es beim Fanta*
Fast immer finde ich als Grundtendenz der Fugue, der Vagabondage jugendlicher Nervöser und Verwahrloster: Auf mich muss man besser achtgeben! Demnach Unzufriedenheit und ein Druck auf die Umgebung.
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Erg.: sich bis zum Abgrund vorzuwagen 1919 Erg.: Häufig treten telepathische, spiritistische Neigungen auf, abergläubische Regungen und ein Hang zum Wunderglauben. 1919 Erg.: ebenso die Furcht vor dem überlegen erscheinenden, einzigen Partner 1919 Erg.: konkreten 1928 Erg.: auf der unnützlichen Seite des Lebens 1928
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sieren und Tagträumen. Eine von mir angeregte Enquête in einer höheren Mädchenschule ergab bei allen 25 Mädchen Erinnerungen an kleine Diebstähle.* Die Lehrerin durfte ich mitzählen. Bei näherer Einsicht erschließt sich immer als Antrieb dieses Strebens, auf die Höhe zu kommen, ein aus dem Minderwertigkeitsgefühl des Kindes stammender unerträglicher Reizzustand. Häufig wird das Kind unter diesem Zwang neugierig,10 wissbegierig11, sucht seine Fehler zu erkennen und Raum zu schaffen für die Entfaltung seiner Persönlichkeit. Der Mangel, das Übel, das Gefühl der Unsicherheit und der Minderwertigkeit erzwingen, analog dem Kompensationszwang im Organischen, oft auch eine stürmische Entwicklung des psychischen Überbaues. Jatgeir sagt in Ibsens »Kronprätendenten«K: »Ich empfing die Gabe des Schmerzes, und da ward ich Skalde.« Man kann in einer Anzahl von Fällen leicht den Nachweis erbringen, dass ein besonders starkes Minderwertigkeitsgefühl den Forschertrieb in die Wege leitet oder dass der »Eingangsakkord eines Künstlerlebens – eines späteren Vorbilds abgeklärter Harmonie der Kunst und des Lebens – mit einer herben Dissonanz beginnt« (B. Litzmann, Clara SchumannK).12 Eine andere Art, wie sich Kinder oft ihren Eltern überlegen zeigen, habe ich in der »Psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie«** beschrieben. Sie besteht darin, dass in Erinnerung früherer Mängel oder in Nachahmung fremder ein Zustand von scheinbarer Dummheit, Blindheit, Taubheit, Hinken, Stottern, Enuresis, Kotschmieren, Ungeschicklichkeit, Appetitlosigkeit, Erbrechen [97] usw.13 festgehalten wird. Allmählich gestaltet die Psyche aus diesen vorbereiteten14 psychischen Gebärden, mit denen das Kind auf das Gefühl der Herabsetzung antwortet, psychische Bereitschaften, die in der Neurose das Symptomenbild gemäß einer Richtungslinie gestalten: Handle so, als ob du dir durch einen dieser Mängel, durch eines dieser Gebrechen die Sicherheit, das Gefühl der Überlegenheit verschaffen müsstest.15 Der Unterschied von der * ** 10 11 12 13
Herrn Kollegen WexbergK verdanke ich die Mitteilung eines fantasierten Diebstahls, der deutlich die Überwältigung des Vaters darstellt. l. c.16
Erg.: genäschig 1919 neugierig bis wissbegierig ] hervorgehoben 1922 Erg.: Clara Schumann litt bis zum 8. Lebensjahre an Hörstummheit. 1922 usw. ] Änd.: Faulheit und Verwahrlosung 1922 Erg.: im Kampfe um die Überlegenheit oder wie aus Rache 1928 14 vorbereiteten ] Änd.: vorbereitenden 1928 15 Erg.: Diese Art, sich unangenehm bemerkbar zu machen, zielt deutlich auf eine Befriedigung der Eitelkeit und gibt der Umgebung regelmäßig Fleißaufgaben. Wirkt auch wie eine Rache für verweigerte Parität. 1922 16 l . c. ] Änd.: Siehe 2. Bd. 1919 Änd.: Siehe »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. 1922
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Simulation besteht oft nur darin, dass nicht erst in jedem Falle die Überlegung das Phänomen hervorruft, sondern dass die fertige Symptombereitschaft als17 Sicherung gegen die Befürchtung der Herabsetzung dem ehernen Bestand des Gedächtnisses einverleibt wird, etwa wie die Fingerfertigkeit eines Virtuosen stets bereit ist, auf entsprechende Anforderungen zu reagieren.18 Das gesamte Heer der neurotischen Symptome, Erröten, Kopfschmerz, Migräne, Ohnmacht, Schmerzen, Tremor, Depression, Exaltation etc., lässt sich auf diese bereitgestellten psychischen Attitüden zurückführen.19 Eine der Tatsachen, deren Feststellung ich meiner Betrachtungsweise zu verdanken habe, betrifft das mehr20 [oder] weniger bewusste Minderwertigkeitsgefühl aller Mädchen und Frauen, das ihnen durch die »Weiblichkeit« gegenüber dem Manne vermittelt wird. Ihr Seelenleben wird dadurch so sehr alteriert, dass sie stets Züge des »männlichen Protestes« aufweisen, und zwar meistens in der Form des Umweges über scheinbar weibliche, minderwertige Züge, wie sie in der vorigen Gruppe geschildert wurden. Erziehung sowie die nötigen Vorbereitungen für die Zukunft zwingen sie, ihre Überlegenheit, ihren »männlichen Protest« auf Schleichwegen, resignierend meist, zum Ausdruck zu bringen. Immerhin sind die Züge von »Emotionalität« (Heymans) deutlich genug, Herrschsucht, Geiz, Neid, Gefallsucht, Neigung zur Grausamkeit usw. fallen so häufig in die Augen, dass man sie leicht entlarven kann als kompensatorische männliche Züge, nach einer männlichen Richtungslinie geordnet. Parkes Weber K (Lancet 1911) hat nach mir in dieser Art der Sicherung vor Herabsetzung die Grundlage hysterischer Phänomene gefunden. Auch die Verbrechensbereitschaft ist als Vorstoß des männlichen Protestes bei Personen zu verstehen, deren kompensierendes Ideal eine fiktive Richtungslinie erzwingt, bei der Leben, Gesundheit, Güter des Nächsten entwertet werden. Im Falle erhöhter Unsicherheit, bei Entbehrungen, Herabsetzungen, drohender Einbuße des Persönlichkeitsgefühls, ebenso bei angestrengten Versuchen, »oben« zu sein, ihre Überlegenheit zu sichern, werden sich solche 17 Erg.: automatische 1928 18 Anm.: Daraus folgt, dass die Feststellung einer Simulation die [Erg.: analoge 1922] neurotische Bereitschaftsstellung in der Vorgeschichte ausschließen muss. 1919 19 Erg.: Auch bei normaler Zielrichtung geben ja nicht immer Gedanken und Sprache, sondern fast regelmäßig auch Körperteile, der Zirkulationsapparat, die Atmungsorgane usw. Antworten auf irgendwelche Beanspruchungen. Lachen, Weinen, Mimik, dass einer »Maul und Augen aufreißt« bei einer Überraschung usw. sind solche Beispiele. Bei den bekannten Scherzfragen: »Was ist kompakt?« »Was ist eine Wendeltreppe?« »Was ist ein Kirchturm?« sieht man das Ausspielen eines ganzen Bewegungskomplexes. Nicht anders bei den obigen Fehlschlägen, nur ist dort ein System ausgebreiteter und verschleiert. 1922 20 Erg.: oder 1928
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Personen, deren Minderwertigkeitsgefühl sich21 in der Affektbereitschaft eine Kompensation gesucht hat, in prinzipieller Verfolgung ihrer Richtungslinie, durch abstrahierendes Vorgehen gegenüber der Realität, ihrem Persönlichkeitsideal durch ein Verbrechen zu nähern suchen. Dr. A. Jassny K hat diesen Mechanismus, der am deutlichsten bei Affektverbrechen, Gewohnheitsverbrechen und Fahrlässigkeit hervortritt, bei verbrecherischen Frauen in Gross’ 22 K Archiv für Kriminalanthropologie 1911 vortrefflich auseinandergesetzt.23 Die überragende Bedeutung der Liebesbeziehung im menschlichen Leben bringt es mit sich, dass sich die neurotische Gier, alles haben zu wollen, regelmäßig in das Verhältnis von Mann und Frau einmengt und dort eine störende Tendenz entfaltet, indem sie zwingt, [98] von der Wirklichkeit abzusehen und Versuche zu unternehmen, die auf eine Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls abzielen. Es liegt im Wesen des Nervösen, sein Minderwertigkeitsgefühl durch fortwährende Beweise seiner Überlegenheit abschwächen zu wollen. Eine geliebte Person soll ihre Persönlichkeit aufgeben, soll ganz in ihm – oder in ihr aufgehen, soll zum Mittel werden, das eigene Persönlichkeitsgefühl zu heben. Es wäre ein guter Prüfstein einer echten, von neurotischen Tendenzen freien Liebe, ob der eine Mensch es vertragen kann, wenn der andere seine Eigengeltung behält, ja wenn er ihn darin noch unterstützt. Dieser Fall ist selten. Gerade in die Beziehung der Geschlechter kommt fast regelmäßig ein prüfender, suchender, misstrauischer, eigensinniger und eigennütziger Zug, der ein liebevolles Nebeneinander immer wieder stört.24 Prinzipielle Forderungen stehen hier auf der Tagesordnung, und ein Junktim löst das andere ab, wobei die Spitze immer leicht zu erkennen ist. Es ist, als ob beide Teile vor einem Rätsel stünden, dessen Lösung sie mit allen Mitteln durchsetzen wollen. Die Analyse deckt dann regelmäßig, als Folge des Gefühls der Minderwertigkeit, Furcht vor dem sexuellen Partner und damit ein Ringen um die Überlegenheit auf.25 Wir haben dieses Ringen auf verdeckten Wegen in Fällen mit gesteigertem Minderwertigkeitsgefühl, bei angeborener Organminderwertigkeit26 zum Teil 21 sich ] Ausl. 1922 22 in Gross’ ] Änd.: im 1922 23 Erg.: Zu ergänzen wäre, dass der Weg des Verbrechens die große Unsicherheit des Verbrechers enthüllt, seine Geltung im Einklang mit dem Gemeinschaftsgefühl [Erg.: auf der nützlichen Seite des Lebens 1928] durchzusetzen. 1919 Änd.: durchsetzen zu können 1922 24 Erg.: Ein fortwährendes Nehmenwollen anstelle von Geben. 1928 25 Erg.: Liebe und Ehe sind aber für diesen Ringkampf nicht geeignet. Sie haben ihre eigene Logik und werden durch fremdartige Forderungen, durch den Kampf um die Macht gesprengt. 1922 26 Erg.: bei verzärtelten oder gehassten Kindern 1928
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schon kennengelernt.27 Es wird durch eine Anzahl neurotischer Bereitschaften gesichert, und gewisse Charakterzüge werden stark hervorgetrieben, damit man »mit dem Feind« in enger Fühlung bleibt. Vielleicht der sozial bedeutsamste dieser Züge ist das Misstrauen und die Eifersucht, denen gleichlaufend Herrschsucht und Rechthaberei beigeordnet sind. Je nach der Vorgeschichte des Patienten, nach seinen verwendbaren Vorübungen und tendenziös gewerteten Erinnerungen wird bald der eine Zug, bald der andere deutlicher hevortreten. Sie stehen alle unter dem Drucke des fiktiven Endzweckes, brechen bei drohender Einbuße des Persönlichkeitsgefühls mächtig hervor oder erweisen sich noch als wirksam, wenn der Stolz sie ins Unbewusste zurückdrängt. In allen Fällen verfügen sie über die neurotischen Bereitschaften, die bald als Depression, bald als Angst vor dem Alleinsein, als Platzangst, als Schlaflosigkeit und in hundert anderen Symptomen den »Gegner« zur Waffenstreckung zwingen sollen. Die stärksten moralischen Prinzipien28 haben die gleiche Geltung wie etwa Gefallsucht und Ehebruch als Racheakt, wenn das Gefühl einer Herabgesetztheit die Wiederherstellung der Gleichberechtigung oder die Niederlage des anderen verlangt. Die protestierende Rachsucht des Mannes bei Mangel des Überlegenheitsgefühls ist meist geradliniger, äußert sich im »Spielen des wilden Mannes«, in Seitensprüngen und Verschmähung, zuweilen aber in Impotenz, auffallender Protektion der Kinder oder Zweifel an deren Legitimität, häufig auch im Meiden der Häuslichkeit, vermehrtem Alkoholkonsum oder im Aufsuchen von Vergnügungen. Die Absicht dieser Handlungsweise ist meist so durchsichtig, dass sie verstanden wird. Denn nur dann erfüllt sie ihren Zweck, wenn sich die Frau dadurch herabgesetzt fühlt. Der häufige Eifersuchtswahn des Alkoholisten ist nicht in der resultierenden Impotenz begründet, sondern Alkoholismus, Impotenz und der verstärkte Charakterzug der Eifersucht sind29 neurotische Ausdrucksformen des Disponierten, dessen Minderwertigkeitsgefühl eine Steigerung erfahren hat30. Wie jeder Neu[99]rotiker leidet auch er an der neurotischen Apperzeption, mittels deren er den Abstand der Wirklichkeit von einem tendenziös verstärkten Ideal 27 Es ist erstaunlich, wie Kretschmer K, der insbesondere mit der Aufstellung des schizothymen Gesichtstypus eine so wertvolle Bereicherung der Organminderwertigkeitslehre gegeben hat, die hier aufgedeckte Planmäßigkeit in der Neurose und Psychose zu übersehen vermag und über die [Änd.: der 1928] Kluft zwischen humoralen Einflüssen und Psyche hinübertaumelt [Änd.: keine Rechnung trägt 1928]. 1922 Anm.: S. Adler, »Verbrechen und Neurose« im 2. Band von »Praxis und Theorie der Individualpsychologie« in diesem Verlage (in Vorbereitung). 1928 28 Erg.: wie Wahrheitsfanatismus 1928 29 Erg.: koordinierte 1922 30 Erg.: und im Alkoholismus eine Ausrede sucht dafür, warum er nicht der Erste ist, gleichzeitig auch zur Rache gegen jemanden schreitet 1928
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misst. Es ist aber eine der wirksamsten Attitüden des Nervösen, pollice versoK sozusagen, einen wirklichen Menschen an einem Ideal zu messen, da man ihn dabei beliebig stark entwerten kann. Die Rachsucht der verschmähten herabgesetzten Frau bedient sich mit Vorliebe neurotischer Symptome, unter denen die Frigidität31 eine hervorragende Rolle spielt. Die Absicht zielt darauf hin, dem Manne die Männlichkeit zu bestreiten, ihm selbst bei gutem Einvernehmen die Grenzen seines Einflusses vor Augen zu führen und sich so ein gut Stück Unüberwindlichkeit zu sichern.32 Dass dieser mächtige Aufbau die Folge ursprünglicher Gefühle der Verkürztheit ist, die nach Kompensation verlangen, geht aus eingehenderen Analysen hervor. Gewöhnlich33 geschieht die Apperzeption einer Herabsetzung oder einer analogen Befürchtung oder eines solchen Wunsches nach dem Bilde des Gegensatzes von Mann und Weib, demzufolge die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls als männlich, eine Erniedrigung als weiblich empfunden und gewertet wird. Oder es setzt sich in Fantasien und Träumen der Gedanke einer Kastration (weiblich), eines Verlustes des Penis als Symbol34, an Stelle des Gefühls der Herabsetzung. Recht häufig dringt die männliche Leitlinie, die bereits in der Vorgeschichte eine große Rolle gespielt hat, in der Neurose vorwiegend oder nebenbei durch und verstärkt männliche Züge, sobald das Persönlichkeitsgefühl infrage gestellt wird, was bei Frauen in der Regel leicht auffällig wird.35 Abgesehen von der Bereitschaft zur Eifersucht findet man bei weiblichen Nervösen eine Anzahl anderer Symptome, die aus dem Festhalten einer männlichen Leitlinie erwachsen. Sie sind im Allgemeinen der Liebe, insbesondere dem Sexualverkehr, abhold und können eine ganze Anzahl von Gründen statt des einen wahrhaften nennen, ein Mann zu sein36, und sie versuchen, dies37 so weit als möglich durchzusetzen. Abneigung gegen Liebe und Ehe dauert dann entweder durchs ganze Leben an, oder dieser Formenwandel der männlichen Leitlinie entwickelt mit zunehmenden Jahren einen derartigen inneren Widerspruch – die Furcht, den Mann nicht fesseln zu können, drückt auf das Persönlichkeitsgefühl und zeitigt unter fortwährenden Schwankungen neurotische Liebesregungen. Diese Schwankungen kommen dadurch zustande, dass die 31 32 33 34 35
Frigidität ] hervorgehoben 1922 Erg.: Das Zusammenspiel bleibt aus. 1922 Gewöhnlich ] Änd.: Zuweilen 1928 eines Verlustes des Penis als Symbol ] Ausl. 1919 Erg.: Gleichzeitig damit erfolgt der Rückzug aus der Gesellschaft. 1919 Erg.: und von der nützlichen Seite des Lebens. 1928 36 ein Mann zu sein ] Änd.: der Unzufriedenheit mit der Frauenrolle 1919 Erg.: und Furcht vor einer Niederlage 1928 37 dies ] Änd.: eine Art von Vermännlichung 1919
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neue Richtungslinie, einen Mann zu gewinnen, um dadurch zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls zu gelangen, bereits seinen Gegensatz in sich trägt: Verminderung des Persönlichkeitsgefühls durch Verweiblichung38. Oft erwacht in solchen Fällen das Symptom neurotischer Zweifelsucht und macht sich in den banalsten Beziehungen breit, bis man hinter den hermaphroditischen Gehalt der aktuellen Situation kommt, aus dem der Antrieb des Schwankens und Zweifelns hervorquillt. Jeder Entschluss ruft im Gegenbewusstsein (Lipps K) die gegenteilige Regung hervor, die39 dann nach dem Gegensatz »Männlich – Weiblich« empfunden und gewertet werden, sodass die Patientin entweder gleichzeitig oder hintereinander eine weibliche und männliche Rolle spielt. Folgender Fall dürfte diesen Zustand anschaulich darstellen: Ein 30-jähriges Mädchen, das sich durch Lektionen ihren Unterhalt erwirbt, stellt sich mit Klagen über Unruhe, fortwährenden Zweifel, [100] Schlaflosigkeit und Suizidgedanken vor. Seit dem Tode des Vaters sorgt sie für die ganze Familie, vertritt also den Mann, den Ernährer, ist in ihren Fantasien und Träumen das Lasttier, das Pferd, das alles herbeischafft. Sie arbeitet bis zur Erschöpfung und opfert alles ihrem Bruder und ihrer Schwester. Soweit sie zurückdenkt, wollte sie immer ein Mann sein. Als Kind hatte sie derbe, knabenhafte Züge und wurde in ihrem 15. Lebensjahre noch im Bade für einen Knaben gehalten. v. Neusser40 K hat in seiner Arbeit über Status thymico-lymphaticusK auf gegengeschlechtliche körperliche Charaktere bei dieser Konstitutionsanomalie hingewiesen. Auch in meinen Arbeiten neurologischen Inhalts habe ich den Befund der körperlichen Gegengeschlechtlichkeit hervorgehoben und von ihr nachweisen können, dass sie von der Neurose häufig benutzt wird, sei es zur Hervorhebung der Minderwertigkeit infolge eines weiblichen Einschlags, sei es zum männlichen Protest. Die älteren Hervorhebungen Fließ’, der ebenso wie Halban meine Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet gelenkt hat, betreffen nicht den psychischen Mechanismus in meinem Sinne.41 In einer nicht allzu seltenen Variante enthüllt die Patientin ihren männlichen Protest gleich am ersten Tage, indem sie mit großer Schärfe eine unentgeltliche Behandlung ablehnt. Sie wolle sich nichts schenken lassen, betont sie mehrere Male hintereinander, was sie in der Folge in der mir bereits bekannten Art aufklärte, es sei unmännlich, sich Geschenke machen zu lassen. Deswegen habe sie es stets abgelehnt. Dagegen schenkt sie selbst gerne, was sie 38 39 40 41
Verweiblichung ] Änd.: Verweichlichung 1928 Erg.: beide 1919 v. Neusser ] Änd.: Neusser 1922 Erg.: Übertriebene, unhaltbare Annahmen von körperlicher Gegengeschlechtlichkeit sind überaus häufig und unterstellen den Irrtum einer seelischen Gegengeschlechtlichkeit. 1922
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insbesondere in ihrer väterlichen Rolle innerhalb der Familie häufig praktiziert. Aus ihrer Krankengeschichte hebe ich als wichtig hervor, dass ein Oheim sie im achten42 Lebensjahre zu vergewaltigen suchte. Sie verhielt sich in ihrem Schrecken passiv, tat aber von diesem Angriff keine Erwähnung. Seit ihre Nervosität Fortschritte gemacht hatte, zwang sie sich zu der Auffassung, sie wäre schon als Kind ein sinnliches Geschöpf gewesen und fähig, sich jedem hinzugeben. Und so sei es auch bis heute geblieben. Also die uns bereits geläufige neurotische Nutzanwendung einer Erinnerung zu Zwecken der Sicherung; denn die Folge dieses Gedankenganges war, dass sie bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahre allen Männern auswich. Seit ihrem zehnten Lebensjahre trieb sie bis vor fünf Jahren, wie sie behauptete, eifrig Masturbation. Sie entwickelte daraus ein überaus starkes Schuldgefühl, stärkte die Überzeugung von ihrer Sinnlichkeit und kam zu dem Schlusse, sie habe sich auf immer unwürdig gemacht, in die Ehe zu treten. Diese Überzeugung musste noch weiter ihre Haltung beeinflussen, die sie gegen Männer einnahm. Dies ist die gewöhnliche Rolle der Masturbation in der Neurose43, dass sie durch das Arrangement eines Schuldgefühls*, gleichzeitig aber durch ihr Ergebnis, auf den Partner verzichten zu können, die Sicherung vor dem Partner durchführt. Die Ähnlichkeit mit jenen Fällen, die durch Verstärkung eines Kinderfehlers, Enuresis, Stottern, oder durch neurotische Symptome die gleiche Sicherung vornehmen, liegt auf der [101] Hand. Das ursprüngliche Minderwertigkeitsgefühl bleibt als »Schale« zurück, füllt sich mit weiblichen44 Verkürztheitsfantasien und Schuldgefühlen und zwingt, den männlichen Leitpunkt45 zu erreichen. Das Gebaren unserer Patientin ist nach der Richtungslinie aufgebaut: Ich will ein46 Mann sein47. *
Die primären Gewissensregungen bei der Masturbation sind die Folgen, zugleich aber die Sicherungen des beleidigten Persönlichkeitsideals. In der Neurose werden diese Sicherungen, oft unter Beibehaltung der Masturbation verstärkt, und als zweckdienlich dem Lebensplan eingefügt: Der Autoerotismus wird so zum Symbol des Lebensplanes, woraus sich ein Zwangscharakter ableitet.48
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achten ] Änd.: neunten 1922 Masturbation bis Neurose ] hervorgehoben 1922 weiblichen ] Ausl. 1919 Erg.: auf Umwegen 1919 Erg.: überlegener 1928 Erg.: ich will keine [Erg.: inferiore 1928] Frauenrolle spielen. 1919 Erg.: Der Zwang ergibt sich von selbst infolge der Ausschaltung des normalen erotischen Zieles. 1928 Erg.: Der Lebensplan aber lautet: Isolierung, Ablehnung des
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Seit einigen Jahren setzte eine Zwangsidee ein, die unsere Auffassung von der Neurose klar widerspiegelt. [Die] Patientin glaubt, sie habe durch die Masturbation einen nach vorne ragenden Teil des Genitales, der in ihrer Beschreibung wie ein Penis erscheint, verloren. Nun sei sie gänzlich unbrauchbar für die Ehe geworden, denn sie könnte es nicht überleben, wenn ihr Mann von ihrem Laster erführe. Die Sicherung scheint dadurch eine überaus gelungene, und man sieht deutlich, wie sie ihr fiktives, männliches Leitbild als Ideal zu ihrer realen Weiblichkeit in Gegensatz bringt, letztere unterstreicht und als minderwertig empfindet, gerade durch diesen Kunstgriff aber sich vor einer weiblichen Rolle in der Wirklichkeit sichert. Unter den Hilfslinien der Charakterzüge mussten insbesondere Ehrgeiz und Entwertungstendenz hervortreten, Ersterer in der Familie, in ihrer Kunst und den Freundinnen gegenüber, Letztere in dem spärlichen Verkehr, den sie mit Männern pflegte. Immerhin halfen ihr auch49 diese beiden Charaktere, sich jeder gesellschaftlichen Beziehung zu entschlagen und sich ganz auf die Familie zu beschränken, eine fast regelmäßige Erscheinung bei Mädchen, die in ihrem männlichen Protest die Furcht vor dem Mann entwickeln. Selbst50 diese Sicherung, so stark sie auch erscheinen mag, konnte dem Persönlichkeitsideal unserer Patientin auf die Dauer nicht genügen. Ihre Freundinnen verließen sie, um zu heiraten, und als sich auch die jüngere Schwester verlobte, war ihre Leitlinie unhaltbar geworden, weil der Ehrgeiz auch nach der »Herrschaft über den Mann« strebte. Prinzipiell, wie nervöse, in ihrer Unsicherheit verstärkte Mädchen meistens tun, entschied sie: der Erstbeste! Sie ging auf einen Maskenball, lernte dort einen ehrenwerten Mann kennen, der nach kurzer Bekanntschaft ihr Gatte werden wollte. Auf einem Ausflug gab sie sich ihm hin, weil sie, wie sie erzählte, bei einer Berührung befürchtete, er könnte den Defekt ihres Genitales51 und damit ihre Schmach erkennen. Und lieber wollte sie alles andere über sich ergehen lassen. Als der Mann später freundlich in sie drang, sie möge ihm offen sagen, ob er ihr erster Liebhaber gewesen sei, und warum sie sich so kalt benommen habe, stürzte sie den wohlmeinenden Mann mit der lügenhaften Erklärung aus allen Himmeln: sie habe
Gemeinschaftsgefühls und Ausmerzung aller Fähigkeit zur Hingabe – weil das Aufgehen in der Gemeinschaft vom Machtstreben als hinderlich empfunden wird. Den Kontakt mit der Gemeinschaft halten am stärksten aufrecht: Sprache, Sexualität und Liebe, Beruf und Tatbereitschaft. An diesen Punkten setzt die Neurose zerstörend ein. 1919 Erg.: Jeder Nervöse hat die Form der Erotik, die zu seinem neurotischen Lebensplan gehört. 1922 49 auch ] Ausl. 1928 50 Selbst ] Änd.: Sogar 1922 51 ihres Genitales ] Ausl. 1919
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schon einem anderen Mann angehört. Daraufhin löste der Mann die Beziehung. Es ist leicht auszurechnen, was nun folgte. Die Patientin, die ständig über einen anderen Verlust, den ihrer Männlichkeit, trauerte, sah sich abermals verkürzt und um ihren neuen männlichen52 Triumph gebracht. Sie widerrief ihre Lüge, versuchte mir später zu erklären, dass sie, um den Mann zu quälen und ihn für die ihr beigebrachte »Niederlage« zu bestrafen, zu entwerten,53 so gesprochen habe. Sie teilte ihm diesen Sachverhalt auch mit, aber er zog sich gänzlich zurück, großenteils aus Furcht vor weiteren Disharmonien in einer Ehe mit diesem nervösen Mädchen. Daraufhin entbrannte unsere Patientin ganz in Liebe für ihn, machte ihn zu ihrem Gott, verbrachte die Nächte [102] schlaflos mit Gedanken an ihn und schwur es sich zu, nur diesen oder keinen54 zum Manne zu nehmen. Damit drückte sie aber deutlich aus, dass sie keinen nehmen werde, denn dieser eine war nach aller menschlichen Voraussicht ihr für immer verloren. So war sie schließlich durch diverse Kunstgriffe ihrer Neurose wieder zu ihrer alten Leitlinie zurückgekehrt, hatte ein fiktives Ideal gewonnen, die weibliche Rolle aber bis zur Zeit ihrer Behandlung zurückgewiesen. Im Falle der psychotherapeutischen Behandlung ist ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, dass man nicht selbst das Opfer der blind arbeitenden Entwertungstendenz des Patienten werde, dessen Krankheitszustand regelmäßig dazu benützt wird, den Psychotherapeuten um seine Geltung zu bringen. Der Patient kann dies in seinen gewohnten Bahnen, nur schärfer nuancierend, indem er Symptome verstärkt, neu auftauchen lässt, gespannte Beziehungen, häufig auch Liebes- und Freundschaftssituationen, herzustellen versucht, stets aber mit der durch sein neurotisches Ziel, den männlichen Protest55, geleiteten Absicht, des Arztes Herr zu werden, ihn herabzusetzen, in eine »weibliche«56 Rolle zu bringen, seine Geltung zu vernichten. Die taktischen und pädagogischen Kunstgriffe, die man nötig hat, diesen Kampf des Patienten gegen den Arzt abzuschwächen, verständlich zu machen, um daran das ganze neurotische Verhalten des Patienten in seinem übrigen Leben zu demonstrieren, werden zum Hauptfaktor der Heilung. Man unterschätze aber57 den stillen Protest des58 Nervösen nicht, erwarte ihn bis zum Ende der Behandlung, insbesondere aber gegen Ende, hebe ihn mit ruhiger, objektiver Haltung hervor, als die 52 53 54 55 56 57 58
männlichen ] Ausl. 1928 Erg.: ihn um seinen Triumph zu bringen 1919 ihn ] Ausl. 1922 nur bis keinen ] hervorgehoben 1922 den männlichen Protest ] Ausl. 1928 »weibliche« ] Änd.: »inferiore« 1928 Erg.: auch 1919 des ] Änd.: der 1928
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selbstverständliche Aggression59 des Patienten, die identisch ist mit seiner Neurose, indem sie die nervösen Bereitschaften und Charakterzüge schafft. Über Freuds Hypothese von der Liebesübertragung soll später noch gesprochen werden. Sie ist nichts anderes als ein Kunstgriff des Patienten, um dem Arzt die sachliche Überlegenheit zu rauben. Auch BezzolaK und andere haben die Umwege geschildert, auf denen nervöse Patienten den Arzt verkleinern wollen. Immer ist es die männliche60 Leitlinie, die dabei zum Vorschein kommt und dem Patienten die Überlegenheit sichern soll. Die naheliegendste Art, seinen Aggressionstrieb zu betätigen61, findet der Nervöse stets im Festhalten an seinen Symptomen, weil diese selbst einen Teil seines Aggressionstriebes darstellen. Ein Ausschnitt aus der Krankengeschichte einer Patientin kurz vor Beendigung der Behandlung zeigt in der Art eines feindlichen Vorstoßes diese gegen den Arzt gerichtete Entwertung als eine der psychischen Bereitschaften ihres männlichen Protestes. Die Patientin stand wegen Angstzuständen und nächtlichen Aufschreiens in Behandlung, war virgo und zählte 36 Jahre. Ich will die Aufrollung dieses neurotischen Bildes an folgendem Traum beginnen: »Ich liege zu Ihren Füßen und greife mit der Hand nach oben, nach dem Stoff Ihres seidenen Kleides. Sie machen eine laszive Gebärde. Darauf sage ich lächelnd: Sie sind auch nicht besser als die anderen Männer! Nickend bestätigen Sie es«. Wer in Anlehnung an Freuds Traumdeutung das sexuelle Wunschmotiv in den Vordergrund stellte, wird um eine Deutung nicht verlegen sein; die Forderung nach einer sexuellen Grundlage des Traumes wäre nicht allzu schwer zu erfüllen. Auch könnte man sich leicht die Genugtuung verschaffen, wie die Patientin es vorher schon getan, aus [103] ihrer Kinderzeit eine Erinnerung hervorzuholen, wo sie in ähnlicher Weise um den Vater geworben hat: Ihre neurotische Sicherungstendenz hat ja schon lange alle warnenden Erlebnisse in übertriebener Sorgfalt gesammelt, um gegen eine Wiederholung »anaphylaktisch« vorzubauen. Ja, man würde leicht die Zustimmung der Patientin finden, das Auftauchen gleichgerichteter Erinnerungen und gegenwärtiger Erlebnisse als ihren eigentlichen »verdrängten« Willensimpuls zu buchen. Denn ihre neurotische Psyche sucht solche Übertreibungen oder auch reale Erinnerungen und macht sie zur Operationsbasis, indem sie die Überzeugung von der Minderwertigkeit des Patienten, von seiner Schuld, von seinem Laster, von seiner allzu großen Weiblichkeit festigt, um mit größerer Vehemenz die Überlegenheit, die Männlichkeit zu verfechten und die Vorsicht zu vergrößern. Dieser verstärkte 59 Erg.: und Machtpolitik 1919 60 männliche ] Änd.: neurotische 1928 61 betätigen ] Änd.: bestätigen 1922
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männliche Protest aber, der aus der fehlerhaften, vorsorglichen Perspektive des Patienten erfließt, kann natürlich die Neurose bloß verstärken. Die Zerstörung dieser Perspektive erst, der neurotischen Apperzeptionsgrundlage, und die Absperrung der fiktiven Zuflüsse zum männlichen Protest, zuletzt das62 Verständnis für den Aberglauben an eine abstrakte Leitlinie und an deren Vergöttlichung sind die Hebel, die zur Beseitigung der Neurose in Aktion gesetzt werden müssen. Unsere Patientin hatte um die Zeit dieses Traumes eine Liaison mit einem verheirateten Mann begonnen. Als dieser in sie drängte, und sie während einer Badereise seiner Frau in seine Wohnung lud, hatte sie allerlei Bedenken, in denen ich sie wesentlich bestärkte. Nichtsdestoweniger hielt sie die Beziehung aufrecht und spielte mit dem Feuer, weil ihr, wie sie sagte, das ungeduldige Zappeln des Mannes Spaß machte. Nebenbei war ihre Handlungsweise als feindseliger Akt gegen ihre Angehörigen und gegen mich, den bedächtigen Warner, gerichtet. Ihre eigene Auffassung ließe sich als billiger Vorwand deuten. Aber die Vorgeschichte der Patientin, ihr Verhalten während ihrer zwanzigjährigen Krankheit und während der Behandlung zeigten deutlich, dass sie im stärksten männlichen Protest stand, dass sie wohl die Unterwerfung des Mannes verlangen konnte, eine weibliche Rolle aber ängstlich und erschreckt – ihr Leiden bestand in Angstzuständen und nächtlichem, erschrecktem Aufschreien – zurückweisen musste. Der Kernpunkt ihres psychischen Verhaltens bestand in der Furcht vor dem Manne, dem sie sich nicht gewachsen glaubte, eine Furcht, die sie durch ihr eigenes männliches Auftreten und durch Erniedrigung der Männer zu kompensieren suchte. Nun könnten wir uns an die Deutung des Traumes wagen. Sie übertreibt ihre psychische Abhängigkeit von mir und festigt diese Überzeugung durch das für diesen Zweck ausgezeichnete Mittel der Einkleidung in ein Traumbild. »Als ob ich zu Ihren Füßen läge.« Dieses »Untensein« wird zur Operationsbasis genommen, und wir dürfen mit Recht erwarten, dass der Konstruktion einer fiktiven weiblichen Rolle der männliche Aufschwung folgt, wie sich in jedem Traume zeigen lässt. Sie greift mit der Hand nach oben. Die Fortsetzung ergibt meine Entmannung, die Umwandlung in eine Frau: Ich trage ein seidenes Kleid. Der gleiche psychische Mechanismus der Entwertung webt in dem übrigen Teil des Traumes. [104] Ich habe die Patientin gewarnt – im Traume mache ich die laszive Gebärde, deren sich der Bewerber schuldig gemacht hat, das heißt, ich stehe auf der gleichen Stufe, ich bin »auch nicht besser als die anderen Männer«.63 Dazu muss ich im Traume noch schweigen und eine zustimmende 62 Erg.: geweckte 1919 63 Anm.: Generalisierung ist ein regelmäßig anzutreffender Kunstgriff des Nervösen, der ja immer nach der »sicheren«, fiktiven Leitlinie hascht. Ohne Generalisierung fiele
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Geste machen. Der Gegengedanke, ich könnte besser sein, ist der Patientin unerträglich, von ihm, der mir eine Art Überlegenheit gibt, geht die vorbauende, sichernde, nach der neurotischen Perspektive gebaute Traumfiktion aus. Die Patientin fühlt sich nur sicher, wenn prinzipiell alle Männer gleich schlecht sind. Dann ist sie auf ihrer alten Leitlinie und fühlt sich überlegen. In ihrem Lachen spiegelt sich ihre Überlegenheit, ebenso in meinem Schweigen.64 Bemerkenswert ist der Umstand, dass sie diese erste gefährlichere Liaison mit einem verheirateten Manne begann. Man kann in allen ähnlichen Fällen eine solche Beziehung als Sicherung vor der Ehe, meist auch vor Geschlechtsverkehr nachweisen. Die männliche Leitlinie bleibt gewahrt, aber die Realität macht sich durch den Einschlag weiblicher Regungen und Empfindungen geltend; es ist, wie ich des öfteren ausgeführt habe, ein männlicher Protest mit weiblichen Mitteln, der uns an die Tatsachen des psychischen Hermaphroditismus erinnert. In letzter Linie kommt auch die Überlegenheit über die Ehefrau im Dreieck zur Geltung, was in allen analogen Fällen die treibende Kraft ungemein verstärkt. Wenn wir nun im Sinne einer vergleichenden Psychologie vorgehen und die Bestandteile der apperzipierenden Grundlage dieser Patientin zu bewusstem Ausdruck bringen wollen, indem wir uns die Frage vorlegen: Woher hat die Patientin diese Bereitschaft, die psychische Vorbereitung, den Mann durch das weibliche Mittel ihrer Liebesregung zu entmannen, damit gleichzeitig ihr männliches Persönlichkeitsgefühl zu heben und eine Frau zu überflügeln?, so lautet die Antwort: aus ihrer Beziehung zu Vater und Mutter. Dort hat sie die Vorbereitung bekommen, sich dem Vater als konkretem65 Leitbild liebend und schätzend zu nähern, hat ihn beherrschen gelernt und hat so sich66 der Mutter überlegen gezeigt. Abstrahiert man von dem männlichen Protest des neurotischen Kindes und apperzipiert67 man selbst, wie es der Nervöse häufig tut, diese Geschehnisse in einem sexuellen Schema, so erhält man den »Inzestkomplex«. Man kann nun, wie ich in früheren Arbeiten gezeigt habe, aus dem »Inzestkomplex« wieder herausziehen, was die männliche Leitlinie in ihn hineingetragen hat, nämlich die Sicherung des Persönlichkeitsgefühls unter dem Titel einer Liebesbedingung. In der psychoanalytischen Literatur taucht immer wieder die Behauptung auf, die Libido des Nervösen sei am Vater, an
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seine Weltanschauung und die aus ihr stammende nervöse, prinzipielle Haltung angesichts der Vielgestaltigkeit des Lebens in sich zusammen. 1919 Erg.: Es ist ein wesentlicher Faktor meiner Traumdeutung, dem Patienten nachzuweisen, wie er fälscht und Argumente aus der Luft greift. Nicht anders wie im wachen Zustand. 1922 konkretem ] Änd.: dem konkreten 1928 so sich ] Änd.: sich so 1922 apperzipiert ] Änd.: analogisiert 1922
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der Mutter fixiert, weshalb er ähnliche Bedingungen, eigentlich den geliebten Teil der Eltern suche. Die einzige wirkliche Liebesbedingung schafft68 der »Wille zur Macht und zum Schein«K. Und diesen Leitpunkt sucht der Nervöse mit aller Vorsicht, aber unabänderlich, mit all seinen wohlausgebildeten, vorbauenden Bereitschaften, die von der Sicherungstendenz starr und mit ausschließlicher Geltung geschaffen wurden und jeder Abänderung widerstreben. Die Bedeutung der Liebesbedingungen ist keine andere wie die der Sicherung des Persönlichkeitsgefühls, wobei die ausschließende Wirkung desselben noch deutlicher verrät, dass die treibende Kraft im männlichen Protest zu suchen [105] ist, der auch schon die Inzestkonstellation69 geschaffen hat. Wo, wie in manchen Fällen, die Fixierung an einem der Elternteile deutlich sichtbar wird, ist sie zweckdienlich* konstruiert, arrangiert, um der Entscheidung vor anderen Partnern, vor der Liebe und Ehe auszuweichen, denn meist hat der Nervöse die Liebes- und Ehebereitschaft als mit seinem männlichen70 Endziel unverträglich zerstört oder unausgebaut gelassen. Die ursprünglichste der Dreiecksituationen aber, die »Inzestsituation«, löst sich bei näherer Betrachtung in eine durch den »Größenwahn des Kindes« erzwungene71 Affäre auf, die bereits alle neurotischen Charaktere des disponierten Kindes, seinen Neid, seinen Trotz, seine Unersättlichkeit, seine Frühreife72 aufweist. Ohne dass der Sexualtrieb dabei namhaft beteiligt sein braucht, können in der Vorbereitung für die Zukunft Gedanken und Erwägungen des Kindes zutage treten, die später sexuell gewertet und dargestellt werden, wenn die neurotische Sicherungstendenz daran anknüpfen will. »So maßlos, straffällig war ich schon als Kind, so stark ist mein Sexualtrieb, so verbrecherisch bin ich veranlagt, ich bin ein Sklave der Liebe«, also tönt73 es dann durch die Seele des wachsenden Neurotikers. »Folglich muss ich vorsichtig sein!«74 Die Triebfeder zur Festhaltung geeigneter Erinnerungen, zu den Erinnerungsfälschungen und Übertreibungen der Erinnerungsspuren ist durch die Furcht vor einer Niederlage im Leben gegeben. Und wo wirklich der Sexualtrieb sich bemerkbar gemacht hat, wo die Inzestmöglichkeit für das Kind gegeben war, wird die Erinnerung als schreckende Spur, als Memento aufbewahrt. Was die neurotische Psyche lenkt, sind nicht Erinnerungen, Reminiszenzen, sondern das *
entsprechend dem Lebensplan, dem Finale
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Erg.: bei Nervösen 1922 die Inzestkonstellation ] Änd.: den Schein der Inzestkonstellation 1919 männlichen ] Änd.: wenig sozialen 1928 Erg.: asexuelle 1922 Erg.: seine Herrschsucht und seinen Mangel an Gemeinschaftsgefühl 1919 tönt ] Änd.: ertönt 1919 Ohne dass bis vorsichtig sein!« ] Ausl. 1922
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fiktive männliche75 Endziel, welches die Nutzanwendungen zu seinen Gunsten in Form von Bereitschaften und Charakterzügen gezogen hat. Es macht kaum eine Änderung aus, wenn diese Reminiszenzen durch das Persönlichkeitsgefühl »verdrängt«, ins Unbewusste gestoßen wurden76; in jedem Falle steht der neurotische Charakter und die sonstigen psychischen Gesten mit ihrem unbewussten Mechanismus gegen die Einordnung in die Wirklichkeit77. So war es auch im Falle unserer Patientin. Sie konnte beispielsweise angeben, dass sie immer den Vater auf ihre Seite bringen wollte, dass sie dies auch durch sorgfältiges Eingehen auf seine Gedankengänge und Wünsche erreicht habe. Von der Mutter ihn loszureißen war ihr nicht schwer gefallen. Mit 14 Jahren begann sie seinen Küssen auszuweichen, weil sie ein unheimliches, erotisches Gefühl dabei empfunden hatte. Zum Verständnis dieses Arrangements füge ich bei, dass [die] Patientin seit ihrem zwölften Lebensjahre deutliche Zeichen78 der Neurose aufwies. Ihre damalige Situation lässt uns den Sinn dieser Sicherung – durch Konstruktion erotischer Bereitschaften – verstehen. Sie war immer ein ungebärdiges, knabenhaftes Geschöpf gewesen, das damals bereits die Macht des Sexualtriebs empfinden gelernt hatte und seit längerer Zeit masturbierte. Um diese Zeit begannen auch Nachstellungen vonseiten der Männer, gegen die sie mit starker Angst reagierte. Seit einigen Jahren war bereits die Sicherungstendenz so weit hervorgetreten, dass [die] Patientin die Angstbereitschaft verstärkt hatte, die aus ursprüng[106]lich79 realen Angstempfindungen aufgebaut war, und nun konnte sie auf eine Befürchtung einer Herabsetzung im Sinne einer weiblichen Rolle, mit Vorsicht jeden Anlass wahrnehmend, halluzinatorisch einen Zustand von Angst bei sich auslösen, ihn sozusagen eskomptieren, wie er etwa der Eventualität einer Gravidität entsprochen hätte. Diese Antizipation und halluzinatorische Erweckung von Sensationen, wie sie80 einer für die Zukunft befürchteten Niederlage entsprechen, sind das Werk der vorbauenden Sicherungstendenz und machen, wie ich bereits hervorgehoben habe*, das Wesen der Hypochondrie, der Phobie und zahlreicher neurasthenischer sowie hysterischer Symptome aus. Ich will hier nur kurz anführen, dass auch das Wesen des Wahnes auf einer ähnlichen *
»Syphilidophopie«, l. c.81
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männliche ] Ausl. 1928 Erg.: wenn nur die mit ihnen gleichlaufende Haltung geblieben ist 1919 Wirklichkeit ] Änd.: Gemeinschaft 1919 Zeichen ] Änd.: Spuren 1928 ursprünglich ] Änd.: ursprünglichen 1922 Änd.: ursprünglich 1928 wie sie ] Änd.: die 1922 l. c. ] Änd.: siehe 2. Bd. 1919 Änd.: »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. 1922
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dogmatischen, antizipierten Darstellung einer Befürchtung oder eines Wunsches beruht, welche die Sicherungstendenz zu besserer Beglaubigung in einer Phase großer Unsicherheit, in stärkerer Anlehnung an die fiktive Leitlinie zum Schutze des Persönlichkeitsgefühls bietet. Indem unsere Patientin mit ihrem Angstzustand einen möglichen, zu erwartenden Prestigeverlust vorausahnte und halluzinatorisch festhielt, fand sie sich am besten davor gesichert. Zuweilen brauchte die halluzinatorische Erregung eine weitere Verstärkung: Da kam [die] Patientin zur sichernden Zwangsvorstellung, sie habe ein neugeborenes Kind getötet. In der Analyse zeigte sich diese Angst vor dem Manne, gelegentlich in Platzangst ausartend, an Ermahnungen der Mutter geknüpft. Dies bedeutet, dass [die] Patientin aus ihren Erinnerungen sogar die Worte der stets bekämpften Mutter herausgriff, soferne diese sich zur Sicherung eigneten.* In diese vorbereitenden Akte fiel ein Ereignis, das den überstürzten Ausbau der sichernden Bereitschaften drohend forderte: Eine ihrer Cousinen brachte ein uneheliches Kind zur Welt, worüber in der gutbürgerlichen Familie die größte Empörung zum Ausbruch83 kam, insbesondere als sich der Verführer aus dem Staube machte. – Unser wachsendes Verständnis für die Entwicklung dieses Mädchens lässt uns verstehen, warum dieses Ereignis den Ausbau der Neurose beschleunigen musste und wieso es kam, dass den Worten der gering geachteten Mutter eine höhere Wertung zuteil wurde. [Die] Patientin war seit früher Kindheit eine wildes, ungebärdiges Mädchen von großer körperlicher Kraft gewesen, das mit Vorliebe Knabenspiele spielte und jede weibliche Regung mit äußerster Unlust verpönte. Es ist ihr noch erinnerlich, mit welcher Heftigkeit sie Puppenspiele und weibliche Handarbeiten von sich wies. Die Persönlichkeit des Vaters überragte die der Mutter in auffallendem Maße. Eine unverheiratete Tante, die bei der Familie unserer Patientin wohnte, erfreute sich eines durchaus männlichen Gebarens, zeigte einen Bartwuchs und hatte eine Männerstimme. An diese stark und immer wieder auftretenden Erinnerungen reihte sich eine, die aus späterer Zeit stammte und mit der die Patientin beherrschenden Ten*
Nebenbei sollte die Mutter mit ihren apodiktischen Drohungen auch nicht recht haben82.
82 Erg.: sollte Schlechtes angerichtet haben. Einer meiner Patienten wurde als Kind stets von der Schule abgeholt. Wie viele Kinder empfand er diese Bevormundung als Herabsetzung. Als eines Tages die Begleiterin ausblieb, wartete er fünf Stunden beim Schulgebäude, bis ihn die erschreckten Eltern fanden. Ähnlich desavouierte der kleine NietzscheK seine Erzieher, da er in strömendem Regen Schritt für Schritt nach Hause spazierte und auf den Vorhalt der geängstigten Mutter antwortete: man habe ihn gelehrt, dass brave Kinder sittsam nach Hause gehen müssten, ohne zu laufen und zu toben. 1919 83 Ausbruch ] Änd.: Ausdruck 1922
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denz aus der Kindheit – ein Mann werden zu wollen – erst die nötige Resonanz schuf, die Erinnerung, wie sich eine langjährige Schulkollegin – ein Pseudohermaphrodit – in einen Mann verwandelte. Diese und ähnliche Mitteilungen, ein besonderes Interesse für Hermaphrodi[107]tismus z. B., genügt nach meiner Erfahrung zur vorläufigen Feststellung, dass derartige Patienten den Schein ihrer Weiblichkeit – ob sie nun weiblichen oder männlichen Geschlechtes sind – abzustreifen wünschen, dass sie sich männliche Charaktere beilegen wollen, als ob sie an ihre Verwandlungsfähigkeit fest glaubten, und dass sie unausgesetzt Versuche unternehmen, in die höher gewertete männliche Rolle vorzurücken. Unter diesen Versuchen – corriger la fortuneK – interessieren uns insbesondere zwei: die Herstellung des neurotischen Charakters und der neurotischen Bereitschaften in Form der Neurose und ihrer Symptome. Als einen nicht seltenen Charakterzug solcher Patientinnen möchte ich anführen, dass sie eine Neigung zur Entblößung84 zeigen, und zwar in der Kindheit oder im späteren Leben, im Traum, in der Fantasie oder im neurotischen Anfall, wo sie sich die Kleider vom Leibe reißen, in der Psychose, wo sie sich entkleiden, als ob sie der weiblich gewerteten Schamhaftigkeit entraten könnten, als ob sie mit fiktiven großen männlichen Genitalien prahlen und andere herabsetzen wollten85. Man sieht aus diesen Fällen, wie eine Perversion, die des Exhibitionismus, nicht aus einer »angeborenen sexuellen Konstitution« erwächst, sondern dass die das Persönlichkeitsgefühl sichernde Neurose Minderwertigkeitsgefühle zu unterdrücken, zu verdrängen bestrebt ist, weil in ihr das heftige Begehren zum Ausdruck kommt, ein ganzer Mann, höherwertig sein zu wollen. Der sexuelle Jargon ist dabei bloß eine Ausdrucksweise, ein »Als-ob«, der sexuelle Gedanken- oder Tatsacheninhalt nur ein Symbol des Lebensplanes. Auch die weibliche, übertriebene Schamhaftigkeit solcher Patienten ist ein Kunstgriff in der entgegengesetzten Richtung, um über den Mangel der Männlichkeit hinwegzutäuschen.* Die Schamlosigkeit steht in solchen Fällen an Stelle der gewünschten Männlichkeit, ist männlicher Protest, auffälligere Schamhaftigkeit zeigt regelmäßig auf *
Adler, »Männliche Einstellung bei weiblichen Neurotikern« (Venustraum), l. c.86
84 Erg.: und Frivolität 1919 85 als ob sie mit fiktiven bis herabsetzen wollten ] Ausl. 1919 86 l. c. ] Änd.: siehe 2. Bd. – 1919 Änd.: in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. – 1922 Erg.: In den nun eintretenden »männlichen« Ersatzleistungen liegt, über sie hinausweisend, das Gefühl von deren Unzulänglichkeit zutage. Bei schweren Neurosen und Psychosen (Melancholie, Dementia praecox und Paranoia) treibt die gefühlte Hoffnungslosigkeit, der mangelnde Glaube an die Sieghaftigkeit des egozentrischen Ich zur Revolte gegen das ganze Leben und gegen die Gemeinschaft. Ebenso im Falle des Selbstmords. 1919
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peinliche Gedankengänge über ein verkürztes Genitale87 und löst deshalb Protestregungen88 männlicher Art aus, welche die Linien des Ehrgeizes, des Obenseinwollens, des Alleshabenwollens, des Trotzes etc. namhaft verstärken. In der weiteren Entwicklung der Neurose kann sich die Eroberungslust und Überwältigungswünsche sowie die Entwertungstendenz gegen andere auch in Form von feindseligen Kastrationsfantasien und deren Rationalisierungen (JonesK)89 geltend machen. Neigungen, den Partner wehrlos zu machen, den Beweis der Überlegenheit zu empfinden, was regelmäßig den tragenden Gehalt des Exhibitionismus ausmacht, finden sich oft. Zuweilen kann man Mangel an Nettigkeit und Indezenz bei Mädchen als Spur der zutage tretenden Fiktion verstehen: Ich will ein Mann sein!90 Alle diese Charakterzüge, so gegensätzlich sie sich zuweilen gebärdeten, waren in gleicher Richtung für den fiktiven Endzweck dieser Patientin tätig. Es war nicht schwer, als Vorbedingung ihrer männlichen Einstellung ein Stadium der Unsicherheit in ihrer frühen Kindheit aufzufinden, wo sie in mangelhafter Einsicht, aber geleitet durch den knabenhaften91 Einschlag und ihren kompensierenden Ehrgeiz die Hoffnung nährte, sich dereinst in einen Mann zu verwandeln. Dieses [108] Endziel, sich aus dem hermaphroditischen Zustand (DessoirK) zu einem Manne zu entwickeln, lässt sich leicht überblicken, wenn man ihr knabenhaftes Gebaren als die Vorbereitung für ihre fiktive Erwartung versteht. Hierher gehört auch ihre Neigung, Knabenkleider anzuziehen, eine Erscheinung, die, wie bei den Transvestiten HirschfeldsK, aus der eben geschilderten psychischen Dynamik erfließt. Besonders deutlich wurde ihr Leitbild in ihren kindlichen Fantasien und Tagträumen. In Anlehnung an Märchen und Mythen (Zwerg Nase, 1001 Nacht etc.) sah sie die mannigfachsten Verwandlungen mit sich vorgehen, glaubte sich bisweilen in eine Nixe oder in eine Meerjungfrau verwandelt, bei der – als für den besonderen Sinn bezeichnend – ein Fischschwanz die untere Körperhälfte beschloss. Zu dieser Zeit stellte sich auch im Zusammenhange damit ein deutlicheres neurotisches Symptom ein, sie konnte gelegentlich nicht gehen, als ob sie statt der Beine einen Fischschwanz hätte. Auch ein sich anschließender Schuhfetischismus deutet in die männliche Richtung und entwickelte sich derart, dass sie große Schuhe, wir können sagen: männliche Schuhe, tragen musste, weil sie sonst Fußschmerzen bekam. Aus OvidsK Metamorphosen, die sie in ihrer Lesewut frühzeitig in die Hände bekam, entlehnte sie ein anderes Bild und ließ es noch während der 87 88 89 90
über bis Genitale ] Änd.: der Resignation 1919 Protestregungen ] Änd.: Protesterregungen 1922 (Jones) ] Ausl. 1922 Erg.: Fort von der Frauenrolle! 1919 Erg.: Ursprünglich freilich sind diese Mängel Zeichen von Verzärtelung. 1928 91 knabenhaften ] Änd.: krankhaften 1922
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Behandlung in ihren Träumen auftauchen: wie sie sich derart verwandelte, dass der Unterkörper in einen festwurzelnden Stamm auslief. In dieser und ähnlicher Weise gab sie sich die Antwort auf die Frage nach ihrer zukünftigen Geschlechtsrolle92. Es wird uns in diesen und ähnlichen Fällen nicht überraschen zu erfahren, dass auch ihre Stellung zum Weibe von ihrem männlichen Endziel beeinflusst wurde. In ihren Vorbereitungen für die Zukunft musste auch die Liebes- und Geschlechtsbeziehung ihren Platz haben, und so finden wir unsere Patientin denn auch bald als den ideell männlichen Beschützer einer jungen, zarten Schwester. Des Weiteren kamen insbesondere sadistische Akte gegen kleine Mädchen und Dienstmädchen, aber auch gegen zarte, weiblich geartete Knaben vor. So finden wir in der männlichen Leitlinie der Patientin eine Verschränkung von sekundären Zügen, unterstützende Hilfslinien der Homosexualität* und des (männlichen) Sadismus, deren Arrangement sich aus dem Ausbau der männlichen Bereitschaftsstellung ergab und die als einzig möglicher Ersatz männlicher Sexualität von ihrer neurotischen, tendenziösen Apperzeption aus den Eindrücken des Lebens mit zureichendem Grunde ausgewählt wurden. Auch diese beiden Perversionen sind, wie noch auszuführen sein wird, Umwege und neurotische Kunstgriffe, sekundäre Leitlinien, die aus dem übertriebenen männlichen Protest erwachsen. Die Frage nach der94 konstitutionellen Grundlage der Perversionen ist ganz irrelevant, da die sichernde, ihr Material tendenziös wählende Neurose an die harmlosesten Beziehungen anknüpfen kann, ihnen gleichzeitig Masse95 und Geltung verleiht, die ins Ungemessene gehen können, soweit als die Neurose es braucht, indem sie dieselben aufpeitscht und ihnen die höchsten Werte verleiht. Eines Tags, als der nunmehr 14-jährigen Patientin ein Mann auf der Treppe Anträge stellte, entwickelte sich aus dieser Konstellation eine Wahnbildung, deren Grundlagen leicht zu durchschauen sind. Sie hielt sich mehrere Monate lang für den Dienstbotenmörder Hugo Schenk und brachte so durch stärkere *
MollK hat die häufige Verbindung von Homosexualität und Exhibitionismus mit großem Scharfblick hervorgehoben. Unsere Darlegung weist den inneren Zusammenhang nach. Beide Perversionsneigungen sind Ausdrucksformen des männlichen Protestes93. [109]
92 Erg.: deren Umwandlung sie nicht ihrer Kraft, sondern wie alle lebensfeigen Neurotiker einem Wunder, einem Zauber verdanken wollte 1919 Anm.: In einer der Metamorphosen Ovids verlangt übrigens eine Nymphe von Apoll als Liebeslohn die Umwandlung in einen Mann. 1919 93 Erg.: bei unsicheren Männern 1922 Erg.: die die Norm ausgeschaltet haben 1928 94 der ] Änd.: einer 1919 95 Masse ] Änd.: Maße 1928
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Abstraktion, die zu Sicherungszwecken eingeleitet wurde, ihre männliche, ihre homosexuelle und ihre sadistische Fiktion zur Verschränkung, indem sie sie schärfer zum Ausdruck brachte und indem sie gleichzeitig ein zu befürchtendes Ereignis antizipierte. Diese drei Bedingungen: stärkere Abstraktion von der Realität, Verstärkung der männlichen, nach »oben« führenden Leitlinie und Antizipation des Leitbildes meist in Form96 einer97 Verkleidung, sind die Fundamente jeder Wahnbildung. Die Rolle endogener und exogener Gifte besteht in vielen Fällen darin, dass diese ein Gefühl erhöhter Unsicherheit hervorrufen98, wie es auch durch psychische Erlebnisse99 zustande kommen kann. Immer aber ist die neurotische Sicherungstendenz, die sich im Falle erhöhter Unsicherheit naturgemäß verstärkt, die wirkende Ursache der Wahnbildung. Sie zieht dann auch die neurotische Apperzeptionsweise stärker in ihren Machtbereich und bewirkt so die Absperrung. Die Verwendung von weiblichen Dienstboten im Wahngebäude unserer Kranken bringt gleichzeitig die gegen das weibliche Geschlecht gerichtete Entwertungstendenz zum Ausdruck. In ihr Wahngebäude ragte100 mächtig noch die Angst hinein, deutlich erkennbar als Sicherung gegen den Mann und so der Absicht ihres Wahnes koordiniert, ein zweiter Ausdruck für ihren101 verschärften männlichen Protest.* Eine weitere Perversionsrichtung unserer Patientin, die ihr unklar bewusst war, bestand in einer Fellatiofantasie. Die Realien, die dazu vorlagen und bei der neurotischen Leitung102 ihrer Fantasie Verwendung fanden, waren der Patientin genau bekannt. Sie war immer sehr genäschig gewesen und hatte als Kind dieser Neigung sehr gefrönt. Noch heute kommt dieser Charakter öfters zur Geltung. Es war aber auch nicht selten vorgekommen, dass sie ohne Ekel abscheuliche Dinge in den Mund nahm. Auf ihrer Flucht vor der weiblichen Rolle** versuchte es diese Patientin, da ihr, wie aus Einzelheiten ihrer *
**
Die Verstärkung der fiktiven Leitlinie beim unsicher gewordenen Neurotiker bringt es mit sich, dass er stärkere Mittel zu seiner Sicherung verwenden muss: Angst, wo ein anderer Moral hat – Hypochondrie, wie ein anderer Vorsicht anwendet. Unsere Patientin hat den Wahn und die Angst zugleich, während andere Mädchen noch mit Moral und Vorsicht auskommen. So auch Halluzinationen103 an Stelle von Vorsicht, Befürchtungen und Zuspruch. Siehe »Das Problem der Homosexualität« l. c.
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Form ] Ausl. 1922 Erg.: konkretisierten 1928 Erg.: und das die Machtpolitik hemmende Gemeinschaftsgefühl ausschalten 1919 Erlebnisse ] Änd.: Ergebnisse 1928 Erg.: und Affekte 1919 ragte ] Änd.: ragt 1928 ihren ] Änd.: einen 1928 Leitung ] Änd.: Leistung 1922 Erg.: und Wahn 1919
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Krankengeschichte hervorgeht, gerade der Geburtsakt als unannehmbar und besonders weiblich erschien, sich vorübergehend diese perverse Situation als möglich vorzustellen. Die Anregung ging von einem Gespräch aus, das sie belauscht hatte. Von einer in angenehmen Verhältnissen lebenden, alleinstehenden Nachbarin wurde diese Perversion behauptet. Frühzeitig vom Manne abgedrängt, suchte sie104 gelegentlich doch die Fühlung mit der Wirklichkeit zu gewinnen und fand in Ablehnung des Geburtsaktes, gestützt auf105 ihre übertrieben empfundene106 Eignung zu ekelhaften Prozeduren den Weg zu dieser Perversionsfantasie. Doch auch gegen diese lehnte sich ihr männlicher Protest auf. Ihr nächtliches Aufschreien galt in der Regel derartigen probeweise arrangierten Traumsituationen, und mit diesem männlichen Protest107 antwortete sie auf die selbstgestellte Zumutung einer weiblich-perversen Rolle. [110] Die eingangs geschilderte psychische Haltung der Patientin zeigt den wesentlichen Unterschied. Allerdings war noch ein Rest ihrer Furcht vor dem Manne und ihres männlichen Protestes vorhanden, der nach kurzer Zeit einem normalen Verhalten Platz machte. Was einen nachdenklich stimmen konnte, war der Ansatz zu einer schwierigen, sozial minderwertigen Situation, der nur durch weiteres Eingreifen beseitigt werden konnte. Ob es aber eine um vieles günstigere Lösung des Problems dieser Patientin gibt, die gealtert, durch die langdauernde Neurose aller gesellschaftlichen Verbindungen beraubt und mittellos ist? Bei aller Wucht und Hartnäckigkeit, die den neurotischen Symptomen und dem neurotischen Charakter anhaften, zeigen sie doch auch häufig eine derartige Wandelbarkeit und Hinfälligkeit, dass gerade diese Erscheinungen die Aufmerksamkeit vieler Autoren erregt haben. Der Charakter der Launenhaftigkeit, des Stimmungswechsels, der Suggestibilität und der Beeinflussbarkeit (JanetK, StrümpellK, RaimannK u. a.) wurde nicht mit Unrecht als ein wichtiges Zeichen einer psychogenen Affektion angegeben. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass bei psychischen Erscheinungen, die – wie wir nachgewiesen haben – nur Mittel, Ausdrucksmittel, zweckdienliche Bereitschaften vorstellen, die Variabilität selbst oft gewahrt bleiben muss, da sie ja auch als Hilfslinie erscheinen und dem fiktiven Endzweck, der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls dienen kann. Die neurotische Selbsteinschätzung wird allerdings dieses Schwanken abermals zum Ausgangspunkt einer Betrachtung nehmen, wird durch tendenziöse Verstärkung der Suggestibilität das Urteil von 104 105 106 107
sie ] Änd.: die Patientin 1922 gestützt auf ] Änd.: unterstützt durch 1919 Erg.: und trainierte 1928 Erg.: des Schreis und der sichernden Angst 1919
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der eigenen Schwäche übertreiben, es mit aufgesuchten, meist falsch gewerteten Erinnerungen stützen, um auf neurotische Weise den erhöhten Auftrieb zu gewinnen. Etwa wie folgender Fall lehrt: Vor Kurzem zeigte in Wien ein Arzt in öffentlicher Sitzung Beispiele von Wachsuggestion, die auch bei einer bestimmten Dame an einigen Abenden gelangen. Als dieselbe Dame sich an einem späteren Abend abermals zur Demonstration bieten sollte, antwortete sie108 mit einem hysterischen Anfall von solcher Stärke, dass die weiteren Vorlesungen des Arztes polizeilich verboten wurden. – Bei der psychotherapeutischen Behandlung muss man jederzeit darauf109 gefasst sein, dass die Einfügung des Patienten seinen männlichen Protest, seine Anfallsbereitschaft steigert, und ist in erster Linie gezwungen, diese Reaktion zu unterbinden. Jede Besserung im Befinden wird von dem Patienten als Zwang und Niederlage empfunden, und oft schließt sich eine Verschlechterung an, aus keinem anderen Grunde, als weil ein gutes Befinden vorhergegangen ist. – Die vielfachen, polar angeordneten, ambivalenten (BleulerK) Züge des Nervösen und psychotischen Kranken bauen sich auf der hermaphroditischen Spaltung der neurotischen Psyche auf und gehorchen einzig dem mit Überempfindlichkeit und großer Vorsicht gesicherten Persönlichkeitsideal.110 [111]
108 Erg.: wie zur Rache 1919 109 darauf ] Ausl. 1922 110 Erg.: Ihre Zusammengehörigkeit gibt, richtig erkannt, immer das Bild einer psychischen Einheit, z. B. in der Art: »Weil ich schwach, leichtsinnig, weichherzig, zur Unterwerfung geneigt bin, muss ich stark, vorsichtig, hart, herrschsüchtig auftreten«, wobei immer bestimmte Teile dieser »Ambivalenz« je nach der Eigenart stärker in den Vordergrund treten. Der ausgleichende Rest steckt dann im Hintergrund. 1919
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Bei unserer vorhergehenden Betrachtung konnten wir die mannigfachen Versuche, Vorbereitungen und Bereitschaften einer Patientin beobachten, die durch ihre männliche Einstellung bedingt waren. Die resultierende Furcht vor dem Manne war so groß, dass jede Knüpfung einer Liebesbeziehung verhindert war, bis die Behandlung sie ermöglichte. In sehr vielen Fällen sieht man den männlichen Protest in einer scheinbar entgegengesetzten Weise zum Ausdruck kommen: Die Patientinnen knüpfen ununterbrochen neue Beziehungen an, die freilich leicht verkümmern und von den seltsamsten Schicksalen bedroht sind. Auch Ehen zu schließen sind sie ein oder mehrere Male fähig, ebenso sie wieder aufzuheben. Sehr häufig brechen die heftigsten Leidenschaften der Liebe durch, die alle Hindernisse überwinden können, durch sie meist nur gesteigert werden. Die gleichen Erscheinungen kann man bei männlichen Nervösen beobachten. Bei näherer Betrachtung findet man die bekannten Züge des Neurotikers wieder, in erster Linie seine Herrschsucht, die sich wie seine anderen Charaktere der Liebesbeziehung als eines Vehikels1 bedienen, um sich beweisbar durchzusetzen. Die Sehnsucht, alles haben zu wollen, drückt sich auf diesem Wege derart aus, dass alle Männer, zuweilen alle Menschen zum Ziel der Eroberung gemacht werden, wobei die Koketterie und das Zärtlichkeitsbedürfnis, die Unzufriedenheit mit dem erreichten Lose gar sehr in die Halme schießen. Auffällig ist oft das Junktim mit Schwierigkeiten. Ein kleines Mädchen bevorzugt nur großgewachsene Männer, oder die Liebe bricht erst los bei Verboten der Eltern, während das Erreichbare mit offener Geringschätzung2 behandelt wird. In den Gesprächen und Erwägungen solcher Mädchen taucht immer das einschränkende Wörtchen »nur« auf. Sie wollen nur einen gebildeten, nur einen reichen, nur einen männlichen Mann, nur platonische Liebe, nur eine kinderlose Ehe, nur einen Mann, der ihnen volle Freiheit lässt usw. Man sieht dabei oft die Entwertungstendenz so stark am Werke, dass schließlich kaum ein Mann übrig bleibt, der ihren Anforderungen genügte. Meist haben sie ein fertiges, oft unbewusstes Ideal, dem Züge des Vaters, Bruders, einer Märchenfigur, einer literarischen oder historischen 1 2
der Liebesbeziehung bis Vehikels ] Änd.: hervorgehoben 1922 Erg.: und Feindseligkeit 1922
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Persönlichkeit beigemengt sind. Je mehr man sich mit diesen Idealen vertraut macht, desto größer wird unsere Überzeugung, dass sie als fiktives Maß aufgestellt sind, um daran die Wirklichkeit zu entwerten. Die psychische Richtung mit den begleitenden Zügen »unweiblichen« Wesens, die vielfach zu »männlichen» Zügen der Sexualfreiheit, Untreue und Unkeuschheit Anlass gibt, zielt deutlich nach dem Leitbild der Manngleichheit. Die Analyse ergibt leicht ursprüngliche Organminderwertigkeiten, ein übertriebenes Minderwertigkeitsgefühl, eine auffällige ursprüngliche Höher[112]schätzung des Mannes, der die Entwertung als Sicherung auf dem Fuße folgt. Andere Sicherungen bekräftigen unsere gewonnene Anschauung. Prinzipielle Anschauungen wie: alle Männer sind roh, tyrannisch, haben einen üblen Geruch, sind infiziert etc., zeigen den Einfluss der tendenziösen Apperzeption. Bei männlichen Nervösen findet man misstrauische Grundauffassungen, welche jede Frau als lasterhaft, unersättlich, leichtsinnig, physiologisch schwachsinnig, ihrer Sexualität schrankenlos preisgegeben hinstellen. Unsere Lehrmeister – Philosophen und Dichter – die uns die Leitbilder unserer Zeit, den »heimlichen Kaiser« (SimmelK) formen, unterliegen nicht selten den gleichen Fiktionen. Der Nervöse greift sie dann gerne auf, um eine sichernde Linie in der Unrast des Lebens zu gewinnen. Für die obige neurotische Richtung der Männer haben außer den Religionslehrern und Kirchenvätern noch SchopenhauerK, StrindbergK, MoebiusK und WeiningerK die beliebtesten Klischees geschaffen. Den gelehrten Disputationen der Kleriker, ob das Weib eine Seele habeK, ob sie ein Mensch sei, folgte der HexenhammerK und die Schmach der Hexenverbrennungen.3 – Die sichernden schematischen Fiktionen nervöser Mädchen sind – da die Kunst fast ausschließlich noch Männerwerk ist und die neurotische Apperzeption der Frau weniger geeignete Stoffe bietet – einer kindlichen Anschauungsstufe entnommen, deshalb noch schwerer mit der Realität in Einklang zu bringen. Wo aber die Realität auf die neurotische Fiktion der Mädchen wirken kann, wird sie meist Charakterzüge und Tendenzen zeitigen, die noch immer deutlich genug die männliche Neigung zur Überwältigung des Mannes, bei stärkster Sicherung – in homosexueller Art4 – des Weibes5 aufweisen, 3
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Erg.: Die dazu passende Erotik ist eine perverse oder Masturbation und gehäufte Pollutionen mit ihrer tieferen Absicht: ohne weiblichen Partner. 1922 Erg.: als der schäbige Rest, der übrig bleibt, wenn die Norm ausgeschaltet ist. Man kommt dabei sehr leicht zur Einsicht, dass alle die Aufstellungen der Autoren, besonders Freuds, betreffend Phasen der sexuellen Entwicklung nicht eine natürliche, sondern eine durch unsere Kultur beeinflusste künstliche »Verwandlung der Libido« betreffen. Besonders die Idee von angeborenen Perversionen, perversen Komponenten fällt dabei in nichts zusammen. 1928 in homosexueller Art ] Änd.: auch in homosexueller Richtung 1919 des Weibes ] Ausl. 1922
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aber6 den entwerteten, in geringerem Grade kampffähigen Mann zur Liebe oder Ehe suchen. Der Ausdruck des Mitleids kann dann oft den wahren Sachverhalt verschleiern, und die Liebe wird dann frei, wenn der Mann machtlos, gesunken, ein Krüppel, gealtert ist. In Fantasien, Träumen, Halluzinationen, in denen der Mann entmannt, in ein Weib, in eine Leiche verwandelt, »unten« ist, besonders aber in der Tendenz, den Mann wehrlos, klein, erniedrigt zu sehen, äußert sich der Zwang der männlichen leitenden Fiktion und findet in der Nekrophilie seinen gesteigerten Ausdruck.* Ein anderer Weg führt, wie schon erwähnt, über die Linie des »AlleshabenWollens« zur neurotischen Koketterie. Der männliche Protest drückt sich dabei aus: 1. in der Tendenz, ein ursprüngliches Gefühl der Minderwertigkeit, der Verkürztheit, apperzipiert nach dem Bild des verloren gegangenen männlichen Geschlechtsteiles7 durch Herrschaft und8 Beherrschung vieler, aller Männer zu kompensieren, 2. durch die Ablehnung einer weiblichen Rolle im Sexualverkehr, in der Ehe; an Stelle dieser als Herabsetzung gewerteten Rolle setzen sich Kunstgriffe, die von der männlichen Leitlinie diktiert sind, wie sexuelle Anästhesie und Perversionen aller Art, unter denen sadistische, den Mann herabsetzende überwiegen. BlochK hat die Herrschsucht9 der Koketten gut hervorgehoben, indem er sagt (Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sex. 1903): »Die Koketterie, welche man als die Bemühung der Weiber, die Männer an sich zu fesseln und unter ihre Herrschaft zu bringen, definieren kann, bedient [113] sich denn auch vorzüglich rein sinnlicher Mittel, um ihre Zwecke zu erreichen, und ist in dieser Hinsicht ein Ausfluss echt gynaikokratischer Instinkte.« Wir können nur hinzufügen, dass diese »gynaikokratischen Instinkte« nach dem Muster der Manngleichheit konstruiert sind, sich also von einem männlichen Persönlichkeitsideal abhängig erweisen, wenngleich durch einen Kunstgriff dabei weibliche Mittel als die einzig vorhandenen und wirksameren zur Anwendung gelangen. Die Aufmerksamkeit und das Interesse dieser Nervösen, unter denen die männlichen koketten Neurotiker dadurch auffallen, dass sie nach Art von Frauen ihren männlich gewerteten Triumph durchsetzen wollen, ist in hochgradiger Weise darauf gerichtet, Eindruck zu machen und die andern in ihren Dienst zu nehmen. Es hängt mit diesem Charakterzug zusammen, dass die neurotische Verstärkung dieser sekundären Leitlinie zur Selbstüberschätzung führt, damit auch zu verstärkten Zügen der Herrschsucht, des Stolzes und der *
EulenburgK hat die innige Beziehung der aktiven AlgolagnieK (v. Schrenck-NotzingK) zur Nekrophilie in der gleichen Weise hervorgehoben.
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aber ] Änd.: oder 1919 apperzipiert bis Geschlechtsteiles ] Ausl. 1919 Herrschaft und ] Ausl. 1919 Herrschsucht ] Änd.: Herrschaft 1922
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Entwertung anderer. So darf uns dabei nicht wundernehmen, dass das Objekt des Begehrens in der Regel durch den NarzissismusK (NaeckeK) des Patienten überwertet10 erscheint. Diese Überwertung ist vielmehr Vorbedingung in der Konstruktion der Beziehung, und in ihr spiegelt sich das Größengefühl der Patientin11.* In der psychotherapeutischen Behandlung rufen insbesondere diese Fälle den Schein der »Verliebtheit in den Arzt« hervor. Es lässt sich aber unschwer entnehmen, dass diese12 »Liebesübertragung« nur einer der vielen Kampfbereitschaftsmöglichkeiten entspricht, den Widerstand und damit die Überlegenheit des Mannes, des männlichen Arztes zu brechen. Und es ist nicht schwer, ihr Gefühl der Verkürztheit, das diese sonderbare, verwickelte Form des männlichen Protestes hervorruft, aus dem Gefühl ihrer Weiblichkeit entspringen zu sehen, die sie13 als eine Minderwertigkeit empfinden. In keinem Falle aber, wie weit auch die kokette Nervöse gehen mag, ist ihr Ziel mit der Unterwerfung unter den Mann zu vereinbaren. Bald früher, bald später auf diesem Wege droht dem Manne die Entwertung, und zwar immer dann, wenn der neurotischen Patientin die Situation »zu weiblich« wird. Auch dieser Moment kann verschiedentlich angesetzt werden, in der Regel aber lösen eine intimere Berührung, ein Kuss, die Erwartung des Sexualverkehrs oder die Befürchtung einer Gravidität und Geburt die verstärkte Sicherungstendenz14 aus und erzeugt15 den Ausbruch dessen, was gemeiniglich als Neurose oder Psychose bezeichnet wird. Dann kommt die stärkere Abstraktion von der Wirklichkeit zu ihrem Recht, die Fiktionen16 treten deutlicher hervor, die17 Entwertung des Mannes drängt zu Handlungen und Taten, die scheinbar jeden Sinn verloren haben, und die feindlichen Bereitschaften des gereizten Aggressionstriebs, mit ihnen die neurotischen Charakterzüge werden sichtbarer. Jeder Neurotiker hat etwas von dieser narzissistischen Koketterie18; sie entstammt ja seiner hypostasierten Persönlichkeitsidee und gründet sich wie diese *
Der Glaube an den eigenen Zauber ist so groß, dass jeder Widerstand zu neuen Anstrengungen Anlass gibt.19
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Erg.: oder ausgeschaltet 1928 Patientin ] Änd.: Patienten 1919 diese ] Ausl. 1928 Erg.: in der Folge 1919 verstärkte Sicherungstendenz ] Änd.: verstärkten Sicherungstendenzen 1928 erzeugt ] Änd.: erzeugen 1919 Erg.: der Machtpolitik 1919 Erg.: erforderte 1919 Jeder bis Koketterie ] Änd.: hervorgehoben 1922 Erg.: S. auch Adler, »Das Problem der Homosexualität« l. c. 1919
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auf einem ursprünglichen Gefühl der Minderwertigkeit20. Mit diesem Zuge steht in gutem Einklange, dass sich jeder Neurotiker, insbesondere aber die eben behandelte Spielart, so schwer von Personen oder Dingen trennen kann. Der Abschied eines schein[114]bar fernstehenden Menschen, geschweige eines scheinbar geliebten, kann die schwersten neurotischen Symptome hervorrufen, neuralgische Anfälle, Depression, Schlaflosigkeit, Weinkrämpfe etc. Andererseits sind Drohungen mit Verlassen oder Scheidung nicht selten und sollen Beweise des Einflusses erbringen. Dass der männliche Protest in der neurotischen Koketterie herrscht, geht aus mehreren Erscheinungen hervor. Die starke Abneigung vor einer deutlich weiblichen Rolle wurde bereits hervorgehoben; sie kann in diesen Fällen ein auffälliges Bild, wie wir gezeigt haben, den Schein eines double vie, einer Spaltung des Bewusstseins, einer Ambivalenz (BleulerK) hervorrufen. Immer ergeben sich in der Analyse gleichzeitig eine Anzahl weiterer Beweise für das Streben zur Manngleichheit. Träume, Fantasien, Halluzinationen, ausbrechende Psychosen zeigen in deutlicher Weise das Streben, ein Mann zu sein, oder eines der vielen Äquivalente wie Furcht vor einem weiblichen Schicksal21. Die22 starke Entwertungstendenz gegenüber dem Manne stammt aus dem Ringen nach Gleichwertigkeit und drängt im Sexualerlebnis23 zur Fiktion einer männlichen Rolle, die sich in der Frigidität24, im Obenseinwollen25 und in jenen Perversionen26 ausdrückt, die den Mann in eine sklavische, erniedrigende Position zwingen. Oft rechnet man den Ausbruch der Neurose von solchen Momenten an, wo die Furcht vor einer Entscheidung, Prüfungsangst, Angst vor der Ehe, vor öffentlichem Auftreten, Platzangst eine ärztliche Behandlung erfordern. Diese Angst entsteht beim Auftauchen eines Widerspruchs im männlichen Protest, wenn in dessen Verfolgung27 eine Herabsetzung, ein weibliches Schicksal, eine Niederlage und damit die Notwendigkeit eines Eingeständnisses der Weiblichkeit28 droht. So war es bei einer meiner Patientinnen, die vor mehreren Jahren knapp vor ihrem ersten Auftreten an Klavierspielerkrampf erkrankte. Diese Neurose gab einen guten Vorwand ab, einer gefürchteten Niederlage zu entgehen. Die 20 Erg.: ist eigentlich Egoismus als Resultat einer Sicherungstendenz des sich schwach Fühlenden 1928 21 Erg.: aktive Werbung 1928 22 Die ] Ausl. 1928 23 Sexualerlebnis ] Änd.: Liebeserlebnis 1919 24 Frigidität ] hervorgehoben 1922 25 im Obenseinwollen ] Ausl. 1919 26 jenen Perversionen ] Änd.: Situationen 1919 27 dessen Verfolgung ] Änd.: der Verfolgung des Machtzieles 1919 28 Weiblichkeit ] Änd.: Unvollkommenheit 1919
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nähere Einsicht in die Bedingungen dieser Erkrankung ergab eine neurotische Illusion, in welcher [die] Patientin durch den Anblick der Noten an männliche Genitalien erinnert wurde. Nichts läge näher als die Auffassung einer gesteigerten, aber verdrängten Sexualität, deren Widerspiel in dem »Klavierspielerkrampf«, einer Verdrängung von Masturbationsneigungen29, zu suchen wäre. Das Ergebnis lautete durchaus anders30. Der Triumph in der Öffentlichkeit sollte die Gleichberechtigung mit dem Manne bedeuten, die Manngleichheit. Diese Fiktion stand mit der Wirklichkeit, mit ihrer31 Weiblichkeit32, in Widerspruch, sodass ein öffentliches Auftreten – sehr viele begabte Mädchen und Frauen scheitern aus dem gleichen Grunde – einem endgültigen Abwägen der Tatsachen gleichkam. Letzteres ließ der vor die Tatsachen gestellte Realitätssinn der Patientin nicht zu und arrangierte durch symbolische Auffassung der Notenköpfe und Striche ein fiktives Hindernis, das gleichzeitig an die eigene Weiblichkeit erinnerte und so zu einem Rückzugssignal wurde33. Der Widerspruch im männlichen Protest dieser Patientin ergab sich, wie fast regelmäßig in der Neurose, aus der Unrealisierbarkeit der Fiktion, gerade wenn vor der Entscheidung – eine regelmäßige, selbstverständliche Tatsache – die Möglichkeit einer weiblich gewerteten34 Niederlage auftaucht. Nun wird der Charakterzug der Ängstlichkeit, der Schüchternheit, das Lampenfieber35 verstärkt, und [115] sie bieten entweder selbst Vorwände oder gleichgerichtete Vorbereitungen und Bereitschaften,36 Schmerzen und Schwerbeweglichkeit in den Händen37 in unserem Falle, und lenken den Blick von der Bedrohung des männlichen Protestes ab. Aber auch in diesem Falle muss man die Kraft der männlichen Leitlinie anstaunen, die noch aus der Flucht der Patientin in die Krankheit eine männliche Kampfbereitschaft gestaltet. Dieses Mädchen hatte unter dem Druck der unnachgiebigen Mutter gegen den eigenen Willen die Virtuosenlaufbahn betreten. 29 30 31 32 33
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Verdrängung von Masturbationsneigungen ] in Anführungszeichen 1922 Erg.: als diese Insinuation. 1928 ihrer ] Änd.: der 1922 mit der Weiblichkeit ] Änd.: mit dem Gefühl, »nur« ein Weib zu sein 1928 Anm.: Ähnlich ergeben sexuelle Übererregbarkeiten, die sich an unausweichliche [Änd.: unausweisliche 1922] Situationen wie Tramwayfahrten, Gesellschaft, Theater etc. knüpfen, geeignete Wegweiser zum Rückzug aus der Gesellschaft. Die verstärkte Einfühlung in die rettende Fiktion ergibt dann die »realen« Symptome. 1919 weiblich gewerteten ] Ausl. 1919 das Lampenfieber ] Änd.: des Lampenfiebers 1928 Erg.: durch Einfühlung 1919 Schmerzen und Schwerbeweglichkeit in den Händen ] Änd.: und krampfhafte Haltung der Hände entstehen Schmerzen und Schwerbeweglichkeit wie 1922
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Das Scheitern der ehrgeizigen mütterlichen Pläne bedeutete für die Tochter einen Sieg, der sie teilweise entschädigte. Was ihr Trotz, ihre männliche Auflehnung nicht zuwege brachte, gelang mit den Mitteln der Krankheit, sobald wie ein drohendes Memento Notenköpfe ihr zuriefen: Du bist ein38 Weib, gib acht, lasse dich von der Mutter nicht in eine weibliche39, fügsame Rolle bringen – unterwirf die Mutter! Eine weitere Konstruktion, ein Vorwand, um die Operationsbasis gegen die Mutter zu gewinnen, lag in ihrem gesteigerten Gefühl der Zurückgesetztheit gegenüber einer jüngeren40 Schwester. Dieser Gedankengang sowie ihr Ringen um den ausschließlichen Besitz jeder Person, der Mutter, aller Familienglieder41, aller Menschen in ihrer Umgebung, eines Hundes auch, spiegelt sich in dem verstärkten Zug ihrer Koketterie und kommt beispielsweise in einem ihrer letzten Träume dem Arzt gegenüber zu gutem Ausdruck. Der Traum lautet: »Ich sitze Ihnen gegenüber und frage, ob Sie andere Patienten auch so gerne haben wie mich. Sie antworten: Ja, alle, und meine vier Kinder auch. Auf einmal verwandeln Sie sich in ein Weib und schlafen ein. Eine Frau gibt auf die schwarzen Noten acht.« Die Liebesbereitschaft dieser Patientin verträgt keine Nebenbuhler. Sie braucht die Gewissheit ihres Sieges, um ihre Überlegenheit zu fühlen. Ich, der Arzt, der ihr zu verstehen gibt, dass er mit gleichem Interesse alle Patienten behandelt, der zudem seine Kinder liebt, wird dadurch zum Angriffspunkt ihrer Herrschsucht wie früher die Mutter, ihr Mann, den sie kürzlich geheiratet hat, wie alle Personen ihrer Umgebung, Dienstboten, Geschäftsleute, Lieferanten, Lehrer usw. Ihr egozentrisches Wesen braucht nicht zu »übertragen«, da sie nur fertige, starre Bereitschaften in die Behandlung mitbringt und diese vom ersten Augenblick der Begegnung mit dem Arzte spielen lässt. Nur dass die neue Situation Erschwerungen und Hindernisse bringt, unter denen der Wille zur Beherrschung durch Liebe nicht voll zur Entfaltung kommt. Verständlicherweise fehlt meine Frau im Traume. Gerade diese Auslassung ist der Angelpunkt der Situation: Meine Frau ist endgültig beseitigt. Bis hierher reichen die weiblichen Mittel und charakterisieren die weibliche Linie, auf der sich [die] Patientin hält. Nun reckt sich deutlich der männliche Protest. Ich werde entmannt, die sichernde Illusion der Patientin, Noten als schützendes Symbol der männlichen Genitalien, tritt in ihre Rechte, sie selbst »gibt acht«, sichert sich, um in ihrem männlichen Persönlichkeitsgefühl nicht zu sinken, keine Niederlage zu erleiden. 38 39 40 41
Erg.: unfähiges 1919 weibliche ] Ausl. 1919 jüngeren ] Änd.: älteren 1919 Familienglieder ] Änd.: Familienmitglieder 1928
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Dass ich im Traume einschlafe, weist mir eine ähnliche Stellung an, wie sie ihr Mann einnimmt. [Die] Patientin empfindet es als stärkste Herabsetzung, dass ihr Mann, ein stark überarbeiteter Fabrikant, häufig früher einschläft als sie selbst. Die Entmannung des Mannes ist die Antwort darauf, ebenso eine langwierige Schlaflosigkeit, deren [116] konstruktive Bedeutung darin liegt, dass sie der Patientin gestattet, gegen den Mann zu operieren. Nun kann sie ihm sein Mannesrecht verweigern und verweist ihn, anfangs mitten in der Nacht, später dauernd aus dem Schlafzimmer. Denn er »schnarcht und stört sie so am Einschlafen«. Unsere Patientin fände leicht ein anderes Argument, falls sich dieses nicht böte, und es wäre ein arger Fehler, etwa eine neurotische Konstruktion auszuschließen, weil das Recht aufseiten des Nervösen liegt. Um recht zu behalten, wird der Patient in der Regel treffend argumentieren; das neurotische Stigma liegt vielmehr in der Tendenz, seine Überlegenheit mit allen Mitteln ersichtlich zu machen. Der Querulantenwahn z. B. zeigt uns diesen Mechanismus mit noch größerer Deutlichkeit. – Die Neurose unserer Patientin baut übrigens sichernd weiter fort. An ihre Schlaflosigkeit knüpft sich, um diese zu festigen, eine Gehörsüberempfindlichkeit. Deren Mechanismus besteht in einer tendenziösen Aufmerksamkeitsüberladung der Hörfunktion, sodass wir auch sagen könnten: damit [die] Patientin, sobald sie einschläft, durch die geringsten Geräusche geweckt wird. So kann sie, des Morgens noch wach, in den Tag hineinschlafen und sich den weiblichen Aufgaben der Haushaltung entziehen, ähnlich wie sie sich durch Lampenfieber und Fingerkrampf der Herrschaft der Mutter entzogen hat42. Eine abschließende Sicherung bildet eine Gehörshalluzination, ein sägendes Geräusch, das sich analytisch nach zwei Richtungen verfolgen lässt. Die eine Deutung ergibt ein warnendes und zugleich ihre Koketterie aufstachelndes Memento: Als sie einst mit acht Jahren eine intime Szene bei ihrer verheirateten Schwester belauschte, fühlte sie sich als ausgeschlossen, verkürzt und herabgesetzt. Eine ähnliche Wertung lässt sie, um sich gegen ihren Mann scharf aggressiv halten zu können, seiner »Gleichgültigkeit« zuteil werden, wenn er früher einschläft. Eine zweite Deutung führt in eine andere Richtung. Das Geräusch erinnert an das Absägen eines Stammes und symbolisiert akustisch* die Entmannung, die Entwertung des Mannes. Wie so häufig, erweist sich dieses Symptom, ganz wie ich es vom Traume, von Symptomen und von der Neurose behauptet habe, als Darstellung eines *
Man erinnere sich des »Organjargons«, von dem öfters die Rede ist. So würden die Wörter »schrill« und »grell« in ihrer »übertragenen« Bedeutung gefühlsmäßig Analogien zum Ausdruck bringen, die das eine Mal mit dem Gehörsorgan, das andere Mal mit dem Auge empfunden werden.
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Anm.: Siehe 2. Bd. »Über Schlaflosigkeit«. 1919 Änd.: »Über Schlaflosigkeit«, in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. 1922
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Aufsteigens von der weiblichen zur männlichen Linie, als der männliche Protest auf eine meist vorausempfundene weibliche Situation, auf ein antizipiertes und aufgebauschtes Gefühl der Verkürzung, als ein Symbol des Lebensplanes dieser nervösen Patientin.43 Dieser und ähnliche Fälle konnten mich auch belehren, wie die Suggestibilität im Dienste der Sicherungstendenz steht, sei es, damit sich der Patient im Kleinen die Überzeugung seiner Schwäche holt, um im entscheidenden Punkte wehrhaft zu sein, sei es, dass er mit überraschender Schmiegsamkeit sich einfügt, um den andern zu erobern.* Die geradlinigeren Versuche seiner Herrschsucht kontrastieren dann so gewaltig, dass bei oberflächlicher Betrachtung die Auffassung einer Bewusstseinsspaltung nahe genug liegt. Ebenso wird [117] ihn die Eitelkeit, der Stolz, die Selbstbewunderung in manchen Fällen zum gleichen Ziele leiten, wie er zuweilen, nach Art eines Kunstgriffes, sich bescheiden, einfach und nachlässig im Wesen und in der Kleidung gebärdet. Zumeist wird der Spiegel, das Äußere und die körperliche Haltung mit großer Aufmerksamkeit bedacht sein. Häufig findet man fetischistische45 Züge, deren wesentliche konstruktive Grundlage Versuche darstellen, auf Umwegen die Manngleichheit zu erweisen, demnach das Gefühl einer Verkürztheit auszugleichen. Die Literatur hat uns in den Memoiren der BaschkirzewaK und der Helene RakowizaK Darstellungen aller dieser Versuche des männlichen Protestes in meist verfeinerten Formen beschert. Interessante Belege boten mir zu einer Zeit, als ich mit meinen Aufstellungen über den Zweifel an der künftigen Geschlechtsrolle des nervösen Kindes und dem daraus notwendig erwachsenden männlichen Protest längst im Klaren war, eine Reihe von Analysen, die reiner als andere Fälle diese merkwürdigen Eindrücke aus ihrer Kindheit in ihrem Gedächtnis aufbewahrt hatten. Einige davon erinnerten sich ganz deutlich bis zum 12. oder 14. Jahr einen Zweifel verspürt zu haben, ob sie männlich oder weiblich seien. Es dürfte kein Zufall sein, dass diese Patienten männlichen Geschlechts waren. Zuweilen tauchte der Gedanke auf, ob sie nicht Zwitter wären, sodass ich in anderen Fällen, wo der Gedanke an Hermaphroditen sich deutlich und aufdringlich in der Erinnerung der Patienten vorfand, übrigens spontan vorgebracht wurde, darin einen letzten Ausdruck des Zweifels am eigenen Geschlecht anzunehmen geneigt bin. Auch in der Literatur bin ich häufig in den Krankengeschichten von Ner*
Letzterer Mechanismus erweist sich44 als die Grundlage der passiven Homosexualität und beide Einstellungen können sich als die Struktur des Masochismus (daher besser: Pseudomasochismus) herausstellen.
43 Eine abschließende bis Patientin ] Ausl. 1919 44 Erg.: auch 1919 45 fetischistische ] Änd.: narzisstische 1922
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vösen und Psychotikern auf diese bedeutsame Spur gestoßen, ohne dass den Autoren die fundamentale Bedeutung dieses Zweifels an der Geschlechtsrolle klar geworden wäre. MeschedeK hat einen prägnanten Fall von Fragezwang, Freud einen von Dementia nach der Schreberschen Biografie geschildert46. Ob dieses Interesse des Patienten mit Abbildungen auf Plakaten, im Lexikon, mit Lektüre, mit Schaustellungen oder Vorkommnissen erklärt wurde, ließ ich gleicherweise unbeachtet als die wissenschaftliche Interpretation, die ihr Interesse auf männliche Perioden, männliches Klimakterium, auf Untersuchungen des männlichen und weiblichen Anteils im Individuum oder Sonstiges zu konzentrieren schien. Für mich war der bleibende Eindruck maßgebend, der sich in einer offensichtlichen Unterstreichung der Beziehung und der Aufeinanderbeziehung von Männlich – Weiblich geltend machte. Ich habe mir in den letzten Jahren meiner Arbeiten, seit ich diesen Grundphänomenen der Neurose auf die Spur gekommen bin, öfters die Frage vorgelegt, ob nicht auch in meiner eigenen kindlichen Entwicklung ein ähnlicher Zweifel vorgeherrscht habe, trotzdem mich das hermaphroditische Problem nur als Kritiker, also scheinbar sekundär und auffallend spät, gereizt hat. Auch meine Leugnung des biologischen Hermaphroditismus als Ursache der Neurose (FliessK) würde ich als Gegenargument geltend machen, wenn ich nicht mit der Tatsache vertraut wäre, dass auch die Negation oft der Ausgang eines alten, unbewusst gewordenen47 Interesses ist. Immerhin zeigt mir meine Weltanschauung, dass ich einer alten kindlichen Gegensätzlichkeit in mir sehr wohl Herr geworden sein muss, ohne dass ein übertriebener männlicher Protest erwachsen wäre. Denn ich habe im Leben wie in der Wissenschaft nach einer anfänglichen Überschätzung eines abstrakten [118] männlichen Prinzips die Flut der Argumente von der ursprünglichen Minderwertigkeit der Frau mit sachlicher Ruhe zurückgewiesen. Von meinen bisherigen Kritikern des »männlichen Protestes« aber getraue ich mich häufig aus der Art ihrer Fechterstellung und ihrer hartnäckigen Missverständnisse den Nachweis zu führen, dass die übertriebene Wildheit ihres Angriffs in einer streng wissenschaftlichen Frage fast ebenso wie die Furcht vor dem Begriffe »Hermaphroditismus« auf einen alten Kindheitseindruck zurückführt, der ihnen eine stark betonte Weiblichkeit oder ein Zwittertum schreckend vorgetäuscht hat. Womit ich übrigens niemanden von einer wissenschaftlichen Kritik abzuhalten vermeine. Es gibt übrigens kein besseres Reagens auf die neurotische Psyche, als die Frage nach der Wertung des anderen Geschlechts48. Es wird sich herausstellen, 46 Erg.: in denen als Ausgangspunkt der psychische Hermaphroditismus mit seiner uferlosen Machtpolitik und das Scheitern derselben [Änd.: desselben 1928] unschwer zu erkennen ist [Änd.: wäre 1922] 1919 47 unbewusst gewordenen ] Änd.: unverstandenen 1928 48 Es gibt bis Geschlechts ] hervorgehoben 1922
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dass jede stärkere Leugnung der Gleichberechtigung beider Geschlechter, die größere Entwertung oder Überschätzung des anderen Geschlechtes unweigerlich mit neurotischen Bereitschaften und neurotischen Charakterzügen verbunden ist. Sie hängen eben alle von der neurotischen Sicherungstendenz ab, zeigen alle die deutlichen Spuren des wirksamen männlichen Protestes und legen Zeugnis ab von der prinzipiellen, abstrakteren Bindung an eine leitende Fiktion. Sie sind insgesamt Kunstgriffe des menschlichen Denkens, das eigene Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen.49 Es geht aus den Aufstellungen meiner Neurosenpsychologie hervor, dass ein weibliches Leben, in der Zukunft einem Manne untertan sein, entjungfert, verletzt zu werden,50 Kinder zu gebären, eine untergeordnete Rolle im Leben zu spielen, gehorchen zu müssen, im Wissen, im Können, an Kraft, an Klugheit zurück zu sein, schwach zu sein, Periode zu haben, sich dem Gatten, den Kindern aufzuopfern, eine alte, zurückgesetzte Frau zu werden, mit dem Gefühle der Angst und des Schreckens vorausempfunden wird, und zwar sowohl bei männlichen als weiblichen disponierten Kindern. Wie dieser Schrecken vor der Zukunft egoistische Charakterzüge aufstachelt, ist im Vorigen geschildert. Einen prägnanten Fall eines kleinen Mädchens habe ich in der »Disposition zur Neurose« (51 l. c.) charakterisiert.52 An dem Falle einer Patientin mit Magenneurose kann ich nun ein Verhalten zeigen, das sich regelmäßig in der psychischen Entwicklung neurotischer Patienten findet. Es betrifft das Vorausdenken, oft das Vorausempfinden und Ahnen all der zu erwartenden Nachteile. Man findet53 diese Neigung schon im 49 Erg.: Später einmal soll noch einiges über die fundamentale Bedeutung einer rechtzeitigen Erkennenung der unwandelbaren Geschlechtsrolle nachgetragen werden. 1919 Erg.: Hier nur soviel: Wer die Frau gering schätzt, Mann oder Frau, wird mit der Neurose bestraft. 1928 50 entjungfert, verletzt zu werden ] Ausl. 1919 51 Erg.: s. »Heilen und Bilden« 1919 52 Erg.: Die schwersten Fälle von Neurosen und Psychosen ergeben sich oft dort, wo die Unzufriedenheit mit der unmännlich gewerteten Geschlechtsrolle keinen rechten Ersatz zulässt. Eine vollkommene Zerfallenheit mit dem Leben gestaltet Züge von dauernder Unzufriedenheit, Konfliktsneigung, Rücksichtslosigkeit und Weltflucht. Erinnerungen an Fragen der Kindheit, warum es nur zwei Geschlechter gäbe, sind nicht selten und verraten die ursprüngliche Unzufriedenheit. 1919 Erg.: Einige Fälle von sogenannter »Laktopsychose«, die meist schizophrenen Charakter haben, zeigen förmlich ein Abschiednehmen von Ehe und Kindersegen an. So wenn eine solche Patientin immer zu ihren Brüdern und Schwestern zurückzukehren verlangt. Oder wenn in der Erwartung einer Erblindung oder einer Verwandlung in eine Schlange alle weiblichen Pflichten abgelehnt werden. Forscht man genauer, so findet man, dass diese Kranken auch viel früher schon nur mit Mühe ihre Aufgaben erfüllen konnten. 1922 53 findet ] Änd.: sieht 1922
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frühen Kindesalter, wo sie im Falle von Organminderwertigkeiten und deren Übeln stark genährt wird. Häufig erscheint dafür die Zeit vor dem Schlafengehen in Anspruch genommen, und es ist dann nicht weiter auffällig, wenn ein Traumbild diesen Versuch des Vorausdenkens, oft in schreckhafter Form, weiterspinnt. Nur dass der Traum, ähnlich wie die Neurose, einen Zustand des Fühlens, Empfindens – wie bei der Halluzination – herbeiführt, der ein Vorausfühlen bedeutet, parallel dem Vorausdenken im wachen Zustand. Die halluzinatorische Erregbarkeit ist, wie ich schon in der »Studie über Minderwertigkeit von Organen« (l. c.) hervorgehoben habe, eine erweiterte Fähigkeit des zu Kompensationszwecken überanstrengten54, übertrainierten Gehirns, dient der neurotischen Sicherungstendenz und verdankt seine Darstellbarkeit im Bewusstsein dem tendenziösen Gedächtnis und der neurotischen, vorsichtigen Apperzeptionsrichtung. – Das kindliche, [119] unentwickelte Seelenleben zeigt höchstens spurweise Ansätze zu halluzinatorischen Empfindungen, die als fiktive Vorbereitungen für ein Ziel, als Antizipationen in unsicherer Zeit aufzufassen sind. So Lächeln im Schlafe, angenehme Empfindungen beim vorauseilenden Suchen nach irgendwelchen Organbefriedigungen oder Sicherungen. Die halluzinatorische Erregung in der Neurose und Psychose dient ohne Ausnahme der leitenden Fiktion des Persönlichkeitsideals. Man beachte auch die Bedeutung der Schmerz- und Angsthalluzination für das Bild nervöser Erkrankungen. Ein weiteres Eingehen auf den Mechanismus der Halluzination55 belehrt uns eindeutig, dass sie sich aus Tendenzen zur Abstraktion und zur Antizipation zusammensetzt und dass sie als verstärkte Fiktion oder als Memento dadurch ihre Bedeutung gewinnt, dass56 sie zur Sicherung des Persönlichkeitsgefühls anspornt. Dass sie mit Erinnerungsspuren verknüpft ist,57 kann nichts Wesentliches daran bedeuten. Die Psyche arbeitet ausnahmslos mit Bewusstseinsinhalten und Empfindungen, die durch die Erfahrung gegeben sind und aus dem körperlichen Substrat58 stammen. Die Bedeutung der Psyche und insbesondere der neurotischen Psyche liegt in der besonderen Auswahl dieser Erinnerungsspuren und in deren tendenziösem Zusammenhang mit der neurotischen Apperzeption. Die nervös aufgepeitschte Sicherungstendenz bedient sich also einer besonders ausgebildeten Funktion des Vorausdenkens, der Halluzination, in welcher abstrakter und bildlich eine Szene abläuft, ein vorläufiges Finale, ein antizipierter Schlusspunkt, aneifernd, damit 54 55 56 57 58
überanstrengten ] Änd.: überangestrengten 1919 Halluzination ] hervorgehoben 1919 dass ] Änd.: weil 1919 Erg.: »regressiv« ist 1922 dem körperlichen Substrat ] Änd.: der Vergangenheit 1922
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der Halluzinant die Brücke schlagen soll, oder schreckend, damit er andere Wege des Handelns einschlage. Die Halluzination, somit auch der Traum, sind gleich andern Vorversuchen der Psyche dazu bestimmt, den Weg ausfindig zu machen, der zur Erhöhung oder Erhaltung des Persönlichkeitsgefühls nötig ist. In ihr spiegeln sich das Zutrauen, die Hoffnungen59 oder Befürchtungen des Patienten. [Die] obige Patientin stand knapp vor der Schließung einer Heirat, als ihre Magenneurose einsetzte. Sie litt an Schmerzen in der Magengegend, an Aufstoßen, Erbrechen, Appetitlosigkeit und Obstipation. Eines Abends, kurz vor dem Schlafengehen, hörte sie deutlich das Wort: »Eskadambra«. Scheinbar sinnlose Wortbildungen finden sich bekanntlich oft unter den Leistungen der Nervösen. Zumeist erweisen sie sich als nach einem Schema zusammengesetzt, ähnlich wie Kinder Sprachen erfinden, durch die sie ein Überlegenheitsgefühl erwerben. PfisterK konnte bei »Zungenrednern« Deutungen der aus den Faszinationen stammenden Wortbilder zustande bringen. Im vorigen Kapitel habe ich die vollständige Auflösung eines halluzinatorischen Ohrensausens gegeben,60 in zwei anderen61 Fällen fand ich das Ohrensausen als schreckende Erinnerung an das Brausen des Meeres und seine Gefahren, als Sinnbild des Lebens, ähnlich wie Homer die ἀγορἀK mit dem brausenden Meere vergleicht.* Bei der Paranoia62 und Dementia praecox kleiden sich die zum männlichen Protest63 führenden Regungen64 in die Form der Halluzination und sichern das psychotische Schema durch ihre65 akustische oder visuelle Abrundung. [120] Auch bezüglich der obigen Abrundung einer psychischen Bewegung in *
Ein anderes Mal fand ich das Ohrensausen als Erinnerung an das Tönen der Telegrafenleitung; dieses Tönen mahnte ihn66 an seine Vereinsamung in der67 Kindheit, wo er oft allein mit seinen Zukunftshoffnungen68, ähnlich wie der Telegraf, die ganze Welt umspannte.69
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Erg.: das Urteil 1922 Im vorigen bis gegeben ] Ausl. 1919 zwei anderen ] Änd.: einigen 1919 Erg.: Manie 1922 zum männlichen Protest ] Änd.: zur Überlegenheit 1928 Erg.: teilweise 1922 ihre ] Ausl. 1919 ihn ] Änd.: den Kranken 1919 Erg.: trüben 1919 Erg.: auf einem kleinen Bahnhof wartend 1919 Erg.: Immer ist darin die Bedeutung einer »Präokkupation« herauszufinden, die dem Patienten gestattet, die Lösung seiner Lebensfragen hinauszuschieben und »sich mit sich« zu beschäftigen. 1919
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eine Gehörshalluzination dürfen wir annehmen, dass starke innere Not zu einer größeren Anspannung der Sicherungstendenz geführt hat, wofür das Wort »Eskadambra« als der Patientin unverständlich und wertlos bloß ein Maß und Signal* vorstellen kann. Es ist aber die Erwartung berechtigt, dass ein eindringliches Verständnis dieses Wortes einen Sinn erkennen lässt, der uns den Seelenzustand dieses70 Mädchens verstehen lehrt. In der Regel ergibt sich das Verständnis für derartige Halluzinationen leicht, nicht schwerer jedenfalls als für kurze Traumbruchstücke. Über den Eindruck der Wortneubildung befragt, gibt Patientin an, sie erinnere sich dabei an »Alhambra«. Für dieses habe sie allerdings seit jeher viel Interesse gehabt; es bestand einmal prächtig, sei aber jetzt zerfallen, eine Ruine. Der Beginn des Wortes: »Esk« finde sich in dem Wort: »Eskimo«, auch in »E(tru)sker« seien diese Buchstaben enthalten. Der Volksstamm der »Basken« fiele ihr noch ein; auch in diesem Worte kommt der größere Teil von71 »Esk« vor. [Die] Patientin zeigt damit den Weg, den sie bei der Wortneubildung gegangen ist, sie hat ein Bruchstück der Namen von Volksstämmen und das Bruchstück des Namens einer verfallenen Stadt zusammengefügt. Schließlich bedeutete ihr »Alhambra«72 auch nur ein Bruchstück, und so dürfen wir vermuten, dass der Gedanke des Gebrochen-, Verkleinert-, Verkürztwerdens in dem zu findenden Sinne der Halluzination auftauchen werde. Die Buchstaben: »skad« gehören, wie [die] Patientin leicht herausfindet, dem Worte »Kaskaden« an. Sie sei dessen sicher, denn bei ihrer vor Kurzem stattgehabten Periode habe sie sich geäußert: »ganze Kaskaden«. Berücksichtigt man, dass diese Patientin vor der Heirat steht, so versteht man ohne Weiteres den Zusammenhang dieser Wortneubildung mit ihrer psychischen Situation. Dass sie nicht heiraten will, geht aus ihrer Neurose hervor, die ein brauchbares Hindernis abgibt**. In der Halluzination steckt eine abgebrochene Skizze von etwa folgenden Gedankengängen: Die Pracht meiner Jungfräulichkeit wird zerstört werden. – Ein neues Geschlecht (Volks* **
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Wie man es auch bezüglich des Traumes annehmen muss, der73 die Spiegelung einer psychischen Bewegung im Bewusstsein vorstellt74. Wie schon erwähnt, bildet die »Heiratserwartung« einen der häufigsten pathogenen Anlässe zur Verschärfung der Neurose und zum Ausbruch von Psychosen. Gegenteilige Äußerungen solcher Patienten, wie: sie möchten ja gerne heiraten!, erweisen sich immer als »platonisch«. dieses ] Änd.: des 1922 von ] Ausl. 1928 »Alhambra« ] Änd.: »Eskadambra« 1919 Erg.: meist bloß 1919 Erg.: ohne dem Träumer Verständliches zu sagen 1922
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stämme) soll ich gebären. Ganze Kaskaden von Blut werde ich opfern müssen. Als ich mit der Deutung so weit war, half mir die Patientin weiter, indem sie erzählte, sie habe als achtjähriges Mädchen gehört, dass eine Frau ihrer Bekanntschaft bei einer Geburt an Verblutung gestorben sei. Sie habe seither die Furcht vor dem Gebären niemals losgebracht. Was ist nun der Sinn dieser Halluzination? Ist er mit dem Worte »Wunscherfüllung«75 auch nur annähernd gekennzeichnet? Die ganze Zusammenstellung76 spricht dagegen. Der Sinn dieser Wortneubildung ist das Vorausdeuten in die Richtung einer zu erwartenden Gefahr, einer Erniedrigung,77 die Furcht, eine Ruine zu werden, wie sie oft die Mutter genannt hat, zu sterben, wie die Frau in ihrer Kindheitserinnerung. [121] Diese Tendenz gegen weibliche Funktionen – und Patientin wehrt sich ja auch bewusst78 gegen die Ehe – ist aber noch älter, stammt aus der frühesten Kindheit und war damals in dem Wunsch verkörpert, oben, gesund, kräftig zu sein wie der Vater79. Sie wurde dann zur fiktiven Leitlinie erhoben und füllte sich mit logischem Inhalt, der sich um ein leitendes männliches Persönlichkeitsideal gruppiert, und mit der gleichgerichteten Furcht vor einer weiblichen Rolle.80 Nun81 konnte ich der Patientin auch den Sinn ihrer Magenneurose allmählich klarlegen: Es waren halluzinatorische Erregungen, die Beschwerden einer Schwangerschaft vorspiegeln sollten, damit sich die Patientin von dieser fernhalten sollte. Im wachen Zustand, im Traum, in der Halluzination und in der Neurose bestand demnach der Einklang der Sicherungstendenz: Sei keine Frau, unterwirf dich nicht, sei ein Mann! Dieses Mädchen zeigte in ihrem Auftreten barsche, resolute Züge und kam mit allen Menschen in Streit. Ihr Ehrgeiz flammte lichterloh und machte sie unduldsam. Von ihrem Bräutigam, den sie sehr schlecht behandelte, verlangte sie unbedingte Unterwerfung und löste auch öfters jede Beziehung. Als er sich aber einst einem anderen Mädchen zuwandte, bot sie alles auf, um ihn festzuhalten.82 Einer von ihren Kindheitstagträumen bestand in der Fantasie, dass die ganze Menschheit zugrunde gegangen und sie allein übrig geblieben sei, eine Analogie zum Mythus der
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Erg.: oder gar »Todeswunsch« 1928 Die ganze Zusammenstellung ] Änd.: Der ganze Zusammenhang 1928 Erg.: ist die 1922 auch bewusst ] hervorgehoben 1922 Erg.: nicht schwach, unterdrückt und krank wie die Mutter 1928 Erg.: Daraus ergibt sich folgerichtig als kompensierendes Ziel ein Haltmachen vor der Ehe. 1928 81 Nun ] Änd.: Aus weiterem Material 1919 82 Erg.: Soweit zu gehen war ihr gestattet. 1928
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Sintflut, aus der das egozentrische, feindselige Wesen der Patientin83 deutlich hervorblickt.84 Bei vielen Patienten, welche Züge des »Alles-haben-Wollens« mit großer Deutlichkeit aufweisen, wie auch85 bei dem zuletzt beschriebenen Mädchen, findet man auch Charakterzüge gegenteiliger Art. Sie sind oft von so aufdringlicher Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Genügsamkeit, dass die besondere Akzentuierung schon den Verdacht eines Arrangements erweckt. Überall spricht ihr »Gewissen« mit, und leicht rege sitzt ihnen das Schuldgefühl*, bereit auf alle möglichen Anlässe zu reagieren. Die Lösung dieser alten Rätsel der Menschheit ergibt sich aus dem Verständnis der Sicherungstendenz, welche die geradlinigen, aggressiven Leitlinien88 unterbricht, den Regungen strafbarer Habgier und Maßlosigkeit ein Ende macht, sobald dem Persönlichkeitsideal durch sie eine Gefahr droht. Sie stellt dann sozusagen eine intermediäre leitende Fiktion auf, das Gewissen, und seine antizipierende Steigerung, das abstrakte Schuldgefühl – Instanzen, durch die alle angesponnenen Handlungen und Vorbereitungen derart umgewandelt werden, dass sie dem Willen zur Macht und zum Schein nicht abträglich werden, dass sie89 auch die Selbsteinschätzung hochzuhalten gestatten. Wir gewahren an diesem Punkte den Widerpart des ursprünglichen Minderwertigkeitsgefühls als eine zu moralischem Ausdruck kommende Kompensation des Gefühls der Unsicherheit. Nun kann der Nervöse eine Anzahl von Möglichkeiten90 sicher ausschließen, die ihn erniedrigen könnten. Auch in anderen Beziehungen lässt sich die Wirkung der Sicherungstendenz in der Moral, in der Religion, im Aberglauben, in den Regungen des Gewissens und des Schuldgefühls erkennen. Sie alle schaffen starre Formeln und Leitsätze, wie sie der unsichere Nervöse liebt. Und er kann sich im Kleinen bereits üben, oft an Nichtigem seine [122] moralischen Bereitschaften erproben und insbesondere – principiis obsta!K – sich vor Weiterungen und vor moralischem Falle, die er vorausahnend stark übertreibt, dadurch sichern, dass er anticipando die *
Adler, »Über neurotische Disposition«, l. c.86 und FurtmüllerK (l. c.)87
83 Erg.: ihr Mangel an Gemeinschaftsgefühl 1928 84 Erg.: Als Mittel zur Erzeugung von Magenbeschwerden kam ihr, wie gewöhnlich in solchen Fällen, ein kaum bewusstes Luftschlucken zustatten, das sich bei Aufregungen steigerte. 1922 85 auch ] Ausl. 1922 86 (l. c.) ] Änd.: (»Heilen und Bilden«) 1919 87 (l. c.) ] Änd.: (»Ethik und Individualpsychologie«, E. Reinhardt, München) 1919 E. Reinhardt, München ] Ausl. 1928 88 Erg.: im Interesse des Gemeinschaftsgefühls 1919 89 dass sie ] Änd.: gleichzeitig aber 1919 90 Erg.: seines Machtstrebens 1919
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moralische Niederlage empfindet. Dieser letztere, halluzinatorische Kunstgriff gleicht der Sicherung durch die neurotische Angst, wie sich ja auch Gewissen, Schuldgefühl und Angst in der Neurose oft ergänzen, oft ablösen. Von großer Wichtigkeit für den Psychotherapeuten ist diese Kenntnis für den Zusammenhang von Masturbation und Neurose, aus welchem sich gleichfalls die sichernde Bedeutung des aus der Tatsache der Onanie konstruierten Schuldgefühles ergibt. Wird dieses Schuldgefühl in ein Junktim mit der Masturbation gebracht, um gegen den Zwang der Sexualität als Bremse zu wirken, so fundieren beide später die Operationsbasis, von der aus der Patient seine neurotischen Bereitschaften erweitert, um sich gegen eine Herabsetzung seines Persönlichkeitsgefühls zu wehren. In der Regel werden beide – meist unter Zuhilfenahme von antizipierten »Folgen« wie Impotenz, Tabes, Paralyse, Vergesslichkeit – als Vorwand verwendet, um vor Entscheidungen zurückzuweichen, immer auch, um die Furcht vor dem sexuellen Partner zu vertiefen. Derartige Zusammenhänge habe ich des Öfteren in dieser und früheren Arbeiten beschrieben.91 Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit grenzen in der Neurose deutlich an Pedanterie. Und so wird es uns nicht wundernehmen zu erfahren, wie oft diese Vorzüge ihren wahren Wert aus der durch sie hergestellten Bereitschaft beziehen, andere herabzusetzen, mit ihnen in Konflikt zu geraten, sich über sie zu erheben und sie in den Dienst zu stellen. Gerade der Nervöse, dessen Herrschsucht das Schema innehält, alles haben zu wollen, der nicht selten Erinnerungen an Laster aufbewahrt, wird sich meist92 sorgsam hüten, sein Geheimnis preiszugeben, was93 ihm die sichere Niederlage einbrächte. Er wird vielmehr mit Peinlichkeit, meist auch mit Angst den Schein zu wahren suchen, wird ängstlich erröten, wenn er seine eigene Brieftasche vom Boden aufhebt, oder wird das Alleinsein in einem fremden Zimmer vermeiden, um bei Verlust eines Gegenstandes nicht in den Verdacht des Diebstahles zu kommen. Ebenso fand ich einen Starrsinn, immer vorausbezahlen zu wollen, nichts schuldig zu bleiben, bei Patienten, denen jede Ausgabe als weitere Verkürzung ihres Persönlichkeitsgefühls erschien. Sie zogen ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende vor, hatten dabei aber zugleich ein Gefühl der Überlegenheit über den Empfangenden94. Desgleichen entpuppt sich der Wahrheitsfanatismus vieler Neurotiker – 91 Erg.: Zumeist freilich ist das Schuldgefühl in der Neurose ein Versuch, auf billige Weise seine moralische Verpflichtung anzuerkennen. Das Gefühl der Überlegenheit ergibt sich dabei aus dem stark betonten Hinweis auf die eigene Macht und Einsicht. Gleichzeitig ist dieser Hinweis so weit ausgebreitet, dass er das Handeln auf der nützlichen Seite des Lebens hemmt. 1928 92 meist ] Ausl. 1928 93 was ] Änd.: wenn es 1928 94 Erg.: und über Nichtzahlende 1928 Erg.: und füllten ihre Zeit mit Nichtigkeiten 1919
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man denke an das Urbild, das enfant terrible – in der Regel als Racheakt des Schwächeren gegen überlegene Kraft. Aus der Vorgeschichte eines Katatonikers erfuhr ich, dass er von seiner Frau bedrückt und herabgesetzt wurde. Eines Nachts brach er in Schluchzen aus und gestand seiner Frau, dass er sie mit einem Dienstmädchen betrogen habe. Sein männlicher Protest bediente sich des Kunstgriffes, einen Ehebruch zu versuchen, um daran ein offenes Geständnis zu knüpfen, wieder in der Form des uns bereits bekannten neurotischen Junktims. Es ergab sich, dass die Frau nicht bloß über den stärkeren Willen, sondern auch über den Geldschrank verfügte. [Der] Patient selbst, ein schwächlicher Prestigemensch, musste von ihren RevenuenK leben, was die Frau und deren Familie, obwohl sie es vorauswussten,95 zum Anlass mannigfacher Kränkungen nahmen. Um sich vor der Überlegenheit der [123] Frau zu schützen, nicht gänzlich ihrem Einflusse zu unterliegen, kam er – auch schon im Kampfe um die männliche Herrschaft – zum Arrangement einer psychischen Impotenz. Die Frau hinwieder griff dieses Moment der Impotenz heraus und setzte den Mann öffentlich herab. Sein Flirt mit dem Kindermädchen96 war der Beginn seiner Rache. Diese konnte aber nur ihre erhebende Wirkung üben, wenn er den Ehebruch mannhaft eingestand. Folglich griff er zur Wahrheitsliebe, die ihm schon öfters als Vehikel für allerlei Bosheiten gedient hatte. Dass er seinen Fehltritt weinend gestand, entspricht seinem Zagen vor der Entscheidung, erleichterte ihm andererseits die für seine Frau schmerzhafte Botschaft. – Der weitere Verlauf entschied gegen den männlichen Triumph des psychischen Hermaphroditen: Die Frau ging in ihrer Aggression noch weiter97 und beklagte sich bei ihren Angehörigen, die ihm nun die schwersten Vorwürfe machten. Jetzt verfiel er mit steigender Sicherungstendenz in Apathie, wollte auch seinen zwecklosen Fehltritt ungeschehen machen, da er ihm nicht zum männlichen Triumph verholfen hatte, und fand die Lösung in der Fiktion eines reinigenden Wunders, das Gott an ihm vollzogen hatte. Jetzt war er wieder auf der Höhe, seine Prädestinationsfantasie brach durch, er stand mit Gott in Verbindung, bekam Aufträge und Befehle von ihm und errichtete ein Wahngebäude, in dem er als Prophet auf Erden wandelte. Auch die Masturbation, die er gelegentlich offen übte, bezeichnete er als Wunder, um so dem Gefühl einer Herabsetzung zu entgehen. Stereotypien bestanden unter anderem in einer zeitweiligen Geraderichtung des Körpers und Emporwerfen des Kopfes, eine Bewegung, die ich gelegentlich98 bei einer Hysterika als männliche Erektionsfantasie99 deuten konnte. »Jemandem eine bittere Wahrheit sagen!« Dies Wort enthält den Kern der 95 96 97 98 99
obwohl sie es voraus wussten ] Ausl. 1919 Kindermädchen ] Änd.: Dienstmädchen 1922 Erg.: verließ das Haus 1928 Erg.: auch 1919 Erektionsfantasie ] Änd.: Attitüde 1919
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vorgetragenen Auffassung. Der Neurotiker bedient sich oft100 der Wahrheit, um dem andern wehzutun. Angenehme Wahrheiten wird man von nervösen Patienten nie hören, ohne dass die Reaktion, gewöhnlich eine Verschlimmerung des Leidens, bald sichtbar würde. Jeder Liebesregung, die als weiblich, als Unterwerfung empfunden wird, folgt eine Hassregung als männlicher Protest, letzterer101 im Gewande der Wahrheit – ein Mann, ein Wort. – Auch in diesem Falle von Demenz102 finden wir ein Stadium, wo der Zweifel an der eigenen Männlichkeit durch Kunstgriffe und durch Anspannung der leitenden Fiktion im männlichen Protest überbaut wird, wo die kompensierende Sicherungstendenz dazu drängt, ein leitendes Symbol (als ob man Lehrer, Kaiser, Heiland etc. wäre) wörtlich zu nehmen und zu arrangieren. Andere Züge wie die der Launenhaftigkeit, der Ungeselligkeit sind ebenfalls deutlich als Bereitschaftsstellungen zu erkennen, jederzeit geeignet, die Überlegenheit anderer, die Durchsetzung des Willens anderer zunichtezumachen. Der nervöse Mensch ist der typische Eigenbrötler und Spielverderber, kommt, von seinem Größenideal abgelenkt, in die stärkste Unsicherheit und ist stets am Werke, seine eigenen Richtungslinien zu hypostasieren und zu vergöttlichen, die anderer zu durchkreuzen. – Auch einer weiteren Verwendung sind diese Züge fähig. Der Nervöse nimmt seine Unfügsamkeit, seine störenden Attacken als Beweise dafür, dass ihn die anderen beeinträchtigen wollen, und richtet schützend die Mauer seiner Prinzipien auf, innerhalb deren sich sein Herrschergefühl entfalten kann. Hier [124] tauchen Tendenzen auf, wie die Sehnsucht, allein zu sein, zuweilen auch begraben zu sein, oder Bilder: wie lebendig begraben, im Mutterleib geborgen zu sein (GrünerK). Zuweilen habe ich als Erfüllung dieser Sehnsucht nach Herrschaft in Einsamkeit langes Verweilen am Klosett gefunden. – Ganz in die gleiche Richtung, Herrschaft zu gewinnen, führen den Nervösen seine übertriebene Nachgiebigkeit und weiblich gewertete Einfügung. Immer ist dabei der Patient auf der Lauer, obgleich103 er auf diese Weise auch104 den Stärkeren zu fesseln sucht, nach der männlicheren Linie105 abzuweichen und seinen offenen Triumph zu genießen. Die gleiche Kampfbereitschaft gewährleistet dem Neurotiker sein Hang zum Wählerischen. Er kann dabei alle und alles entwerten, sich vor Entscheidungen sichern und seine Prärogative in Anspruch nehmen106. Er wird dort wählerisch sein, wo es seinen Tendenzen am besten entspricht, und wo er 100 101 102 103 104 105 106
oft ] Ausl. 1919 als männlicher Protest, letzterer ] Ausl. 1928 Demenz ] Änd.: Schizophrenie 1922 obgleich ] Änd.: indem 1928 auf diese Weise auch ] Änd.: auch auf diese Weise 1922 männlichen Linie ] Änd.: Überlegenheitslinie 1928 Erg.: wie ein verzärteltes Kind, das beim Essen Schwierigkeiten macht 1928
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die vorteilhaftesten Griffe107 anbringen kann. Beim Essen, bei der Wahl von Freunden, von Liebesbeziehungen, im Umgang sichert er sich dadurch ein quälendes Übergewicht. Jeder muss mit ihm rechnen, denn er ist krank, nervös. Zu großen Leistungen gelangt dieser Charakterzug, sobald sich die Furcht vor dem geschlechtlichen Partner, vor der Ehe seiner bedient. Kein Mädchen, kein Mann taugt dann etwas, und ein windiges Ideal gibt ihm bei dieser Entwertung aller den Stützpunkt. Zu anderen Zeiten, in anderer Beziehung zeigt sich dieser Zug als Arrangement, als die Vorsicht eines Menschen, der den schwachen Punkt seines Minderwertigkeitsgefühls noch nicht überwunden hat: Er kann auch genügsam sein, »wenn der Wind von Nordnordwest bläst«, wenn sein Wille zur Macht es verlangt.108 Eine der Beruhigungsmethoden, die wohl allenthalben zu finden sind, sobald Kinder sich irgendwie unzufrieden zeigen, sind die bekannten Vertröstungen auf die Zukunft, in der das Kind größer sein, wachsen wird. Von Kindern selbst kann man häufig hören: »Wenn ich groß sein werde, werde ich . . . « Das Problem des Wachstums beschäftigt das Kind ungemein, und es wird im Laufe seiner Entwicklung ununterbrochen daran erinnert. So bezüglich seiner Körpergröße, bezüglich des Wachstums der Haare, der Zähne, und sobald es auf Spekulationen über den Sexualapparat gerät, bezüglich des Wachstums der Schamhaare und der Genitalien. Die Einstellung des Kindes in seine männliche Rolle, von der wir oft gesprochen haben, verlangt ein deutliches Größenwachstum der eigenen Person und seiner Körperteile. Wo ihm dieses versagt bleibt – und hier stoßen wir wieder auf das Fundament der Organminderwertigkeit, insbesondere auf ursächliche Rachitis (Thymusanomalien?), Anomalien der Thyreoidea, der Keimdrüsen, der Hypophysis109 etc. –, gerät es durch seine Sehnsucht nach männlicher Geltung in die männliche Proteststellung. Dann erhält es den verstärkten Antrieb zu Neid, Missgunst, Prahlerei, Habsucht, Aktivität, bekommt ein verschärftes110 Maßgefühl und vergleicht sich ständig mit anderen, insbesondere mit den geltenden Personen seiner Umgebung, schließlich auch mit den Helden aus Märchen und Erzählungen. So kommt es zu sehnsüchtigen Zukunftsbetrachtungen, und die von der Sicherungstendenz aufgestachelte Fantasie erfüllt alle Wünsche111. [125] 107 Erg.: gegen andere 1928 108 Erg.: Man müsste blind sein, um in solchen Fällen die Überhebung und Arroganz, mit der meist eine andere Welt, andere Menschen, andere Geschlechtsverhältnisse gefordert werden, zu übersehen 1922 Erg.: oder dass dabei die Lebensfragen ungelöst bleiben. 1928 109 insbesondere bis Hypophysis ] Änd.: hervorgehoben 1922 110 verschärftes ] Änd.: verstärktes 1922 111 Erg.: dagegen rücken die Wirklichkeit und die Gemeinschaft in den Hintergrund. So [Änd.: Damit 1922] bedeutet auch jede Neurose eine maßlose Zeitvertrödelung. 1919
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IV. Kapitel Entwertungstendenz – Trotz und Wildheit – Sexualbeziehungen des Nervösen als Gleichnis – Symbolische Entmannung – Gefühl der Verkürztheit – Der Lebensplan der Manngleichheit – Simulation und Neurose – Ersatz der Männlichkeit – Ungeduld, Unzufriedenheit und Verschlossenheit
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Das zwanghafte Streben des Nervösen, sein Persönlichkeitsideal mit den höher gewerteten1 männlichen Zügen zu erfüllen, treibt ihn insbesondere2 wegen der Hindernisse der Realität3 zum Formenwandel seiner leitenden Richtungslinien, sodass er auf Umwegen ein dem männlichen4 gleichwertiges Ziel zu erreichen sucht. Was ihn in die Irre führt, ist ein Sehnen und Drängen, ein unerfüllbares Ideal für sich zu realisieren. Kommt dann auf der Hauptlinie des männlichen Protestes5 die Niederlage oder ein Vorgefühl derselben, so sucht er auf Umwegen unter Arrangement verstärkter sichernder Kunstgriffe dieses vorläufig als gleichwertig empfundene Ersatzziel. An diesem Punkte beginnt in der Regel6 jener Prozess der psychischen Umgestaltung, den wir Neurose nennen7, sofern nicht die leitende Fiktion zur Vergewaltigung der Wirklichkeit führt, sondern der Patient letztere nur als störend empfindet wie in der Neurasthenie, Hypochondrie, Angst- und Zwangsneurose und in der Hysterie. In der Psychose tritt die leitende männliche Fiktion, in Bilder und Symbole kindlicher Herkunft gekleidet, hervor. Der Patient benimmt sich dann nicht mehr wie in der Neurose, als ob er männlich, oben sein wollte und dies mit allen Mitteln8 versuchte, sondern durch den Kunstgriff der Antizipation so, als ob er es bereits wäre, und weist nur nebenbei, in der Regel anfangs, wie zur Begründung (Depression, Verfolgungsideen, Versündigungs-, Verarmungswahn) darauf hin, dass er »unten«, unmännlich, weiblich9 sei.10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Erg.: oder 1928 insbesondere ] Ausl. 1922 Erg.: insbesondere des Gemeinschaftsgefühls 1919 dem männlichen ] Ausl. 1928 Erg.: z. B. 1928 in der Regel ] Ausl. 1928 An bis nennen ] hervorgehoben 1928 Erg.: auf einem leichteren Wege, auf der unnützlichen Seite 1928 weiblich ] Änd.: schwach 1928 Erg.: Wesentlich für die Psychose ist, dass der Patient auch »was uns alle bindet«
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Der Übersichtlichkeit halber gehe ich nun an die Schilderung einiger Charakterzüge bei Nervösen, die entweder geradlinig dem mit männlichem Inhalt erfüllten Persönlichkeitsideal zustreben oder so nahe anschließen, dass sich die Auffassung, sie seien nur kleine Umwege des männlichen Protestes, von selbst aufdrängt; die allgemeine Auffassung hat sie als aktive, männliche Züge notifiziert11, und der Nervöse kann sich auf das übereinstimmende Urteil berufen. Wir haben aber in früheren Betrachtungen bereits zu zeigen versucht, dass bei der Konstruktion männlicher Züge die Auswahl vom fiktiven Endziel abhängig und nur innerhalb geringer Grenzen von der bewussten Auffassung des Nervösen oder gar des Beurteilers geleitet ist. Er bedient sich auch solcher Richtungslinien zum männlichen Protest, die der allgemeinen Logik nicht immer oder nur teilweise als männlich erscheinen, etwa wie die Koketterie, die Lügenhaftigkeit usw. Als geradlinigere Charakterzüge zum männlichen Protest12 sind hervorzuheben: die häufig13 bewusst geäußerten Tendenzen, [126] ein voller Mann, mutig, angriffslustig, offen, hartherzig, grausam zu sein, alle übertreffen14 wollen an Kraft, Einfluss, Macht, Klugheit etc. – Wenn das zugrunde liegende Minderwertigkeitsgefühl – wegen der mit Sicherheit vorauszusetzenden Niederlage oder Ahnung derselben – verstärkte sichernde Kompensationen verlangt, so erfolgen diese durch Verstärkung der Kampfbereitschaften, die nunmehr vielfach auf Umwegen, in abstrakterer15 Weise, durch gleichzeitige, oft gegenteilige Züge – nach Art eines Kunstgriffes – dem männlichen Gefühl der Überlegenheit zustreben. Dann kann der Nervöse anstatt Trotz oder neben diesem die Fügsamkeit, je nach Bedarf Züge von Maßlosigkeit und Bescheidenheit, Roheit und Milde, Mut und Feigheit, Herrschsucht und Demut, Männlichkeit und Weiblichkeit aufweisen, die immer seiner Sicherung vor Niederlagen dienen oder ihm gestatten, auf Umwegen sein Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen oder andere zu entwerten16. Dass man auch mit der Schwäche, mit Demut, mit Bescheidenheit siegen kann, zeigt das Beispiel der Frauen und viele weltgeschichtliche Exempel. Die Herrschaft der selbstgemachten Götzen, der leitenden Fiktion und ihrer Hilfslinien ist jedes Mal leicht zu erkennen, dringt übrigens in der Psychose mit nicht misszuverstehender Deutlichkeit durch. Ich will an einem Traume eines
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die Logik, aufgibt. 1919 hervorgehoben 1922 Erg.: sich der »Allgemeingültigkeit des Verstandes« entschlägt, damit auch anzeigt, dass sein Gemeinschaftsgefühl verloren gegangen ist, dessen eine Funktion die Logik ist. 1928 notifiziert ] Änd.: festgestellt 1919 Erg.: ausgreifender als in der Norm 1928 häufig ] Änd.: häufigst 1922 Erg.: zu 1919 abstrakterer ] Änd.: abstrakter 1928 andere zu entwerten ] hervorgehoben 1922
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22-jährigen Mädchens, das an Enuresis nocturna litt, tagsüber häufig Ausbrüche von Jähzorn und Verstimmung hatte, nur mit mir, sonst nirgends Frieden halten konnte und häufig Suizidgedanken hatte, zu zeigen versuchen, wie alle diese Erscheinungen samt anderen Zügen von Herrschsucht, Trotz, aber auch Ängstlichkeit unter der Leitung des männlichen Protestes standen, wie dieser aber abhängig war von einer konstitutionellen Minderwertigkeit der Harnorgane, die im Zusammenhang mit Hässlichkeit und ursprünglicher Langsamkeit der geistigen Entwicklung17 zur kompensierenden Aufstellung einer übertrieben männlichen Leitlinie zwang. Um den Fall kurz und abschließend verständlich zu machen, schicke ich voraus, dass die Patientin zur sichernden Neurose die Realien ihrer Kindheit verwendet, die Enuresis als Bereitschaft ausgebildet hatte und jedes Mal mit diesem Symptom eingriff, wenn ihr Persönlichkeitsgefühl eine Herabsetzung erfuhr. Auch in diesem Falle zeigte sich die kolossale Macht der Entwertungstendenz18 im Arrangement des Anfalls, der die Mutter zu19 machtloser Verzweiflung trieb, zugleich aber auch in der allgemein üblichen20 Form eines Hinweises, durch den der Patient alle Schuld von sich ab und auf eine andere Person wälzt, diese dadurch erniedrigend. Der folgende Traum zeigt diese Spitze besonders deutlich: »Die Mutter zeigt21 meiner Freundin die schmutzige Kappendecke des Bettes. Wir beginnen zu streiten. Ich sage: Die Kappendecke ist von dir – und fange heftig zu weinen an. Ich erwache tränenüberströmt.« Kurz vorher erzählte sie, dass sie oft weinend aus dem Schlafe erwache, ohne den Grund ihres Weinens zu kennen.22 Aus dem Zusammenhang der damals schon durchsichtigen Krankheitsgenese ergab sich, dass das Weinen in Beziehung zur Mutter von Bedeutung war, eine der üblichsten kindlichen Angriffs17 18 19 20 21 22
Erg.: bei Status thymico-lymphaticus 1919 Entwertungstendenz ] hervorgehoben 1922 Erg.: voller Hingabe an eine Fleißaufgabe und dadurch zu 1928 üblichen ] Änd.: üblen 1922 zeigt ] Änd.: zeigte 1928 Anm.: Die seelischen Vorgänge im Schlafe werden vom richtunggebenden Endziel wie die im Wachen geleitet. Der Patient macht im Schlafe eine Wendung durch von den ungelösten, drängenden Fragen in der Richtung des Finales. Das Traumbild zeigt wie in einer Analogie ein Stück dieser Wendung, zeigt auch, wie willkürlich Argumente aus der Luft gegriffen werden, um die vorausbestimmte Haltung zum Leben zu gewinnen. Siehe 2. Bd., »Traum und Traumdeutung« und anderes. [Änd.: Siehe »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c., »Traum und Traumdeutung« und anderes. 1922] Im vorstehenden Traum wird die Vorbereitung zum Konflikt mit der Mutter durch Präokkupation mit Erinnerungen an Kränkungen getroffen. 1919 Erg.: – Pavor nocturnus, Sprechen, Weinen im Schlaf sind sichere Zeichen, wie Bettnässen auch, eines nach Verzärtelung strebenden Kindes. ] 1928
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bereitschaften vorstellte, die Überlegenheit der Mutter zu verringern23. Nach Mitteilung des Traumes bemerkt sie: »Sie werden gewiss glauben, dass Sie mit Ihrer Meinung bezüglich meines Weinens recht haben.« Solche [127] und ähnliche Bemerkungen hört man während der psychotherapeutischen Behandlung regelmäßig, und man darf die darin verborgene Kritik als Bereitschaft der gegen alle gerichteten Entwertungstendenz nicht übersehen. Der diesmalige maßvolle Ausdruck derselben ließ mich erwarten, dass die Heilung der Enuresis im Gange sei, da die heftigeren Reaktionen ausgeblieben waren. Früher hatte sie in ähnlichen Fällen mit Schärfe und Leidenschaft hervorgehoben, dass ich ganz unrecht habe, oder sie hätte24 solche Träume und Gedanken, die für mich sprachen, verschwiegen oder25 vergessen. In meiner Annahme wurde ich durch die weitere Mitteilung bestärkt, dass [die] Patientin nach dem Traume sofort die von früher her nur wenig beschmutzte Bettwäsche abgenommen und heimlich gereinigt habe, was früher nie vorgekommen war, weil der Anblick der schmutzigen Wäsche für die Mutter bestimmt war. Zur Erklärung des Traumes berichtet sie Folgendes: Sie sei fest überzeugt, dass die Mutter von der Enuresis allen Bekannten erzähle. Alle Verwandten scheinen von ihrem Leiden zu wissen. Einmal habe ihr ein Onkel, offenbar um sie zu trösten, mitgeteilt, er und noch ein anderer Bruder der Mutter hätten lange Zeit das Bett nass gemacht. Im Traum gibt sie vorwurfsvoll der Mutter zu verstehen: Dieses Leiden liegt doch in deiner Familie, du bist schuld, wenn ich das Bett beschmutze, »die schmutzige Kappendecke ist von dir!« – Weiter erzählt sie, dass sie beim Wäschewechsel oft einen Duchentüberzug statt einer Kappendecke nehme; der eine sei geschlossen, die andere offen – fügt sie hinzu – und man könne beide im Kasten leicht verwechseln. Hinter diesen Gedanken liegt das Problem von »offen und zu« als Ausdruck für den Gegensatz der Geschlechter deutlich zu erkennen. Sie gibt der Mutter die Schuld an ihrer Krankheit, schielt aber sozusagen gleich nach dem Urgrund und der Triebfeder ihres Leidens, der durch die Mutter verschuldeten Weiblichkeit und verrät uns im männlichen Protest ihres Traumes, wie gering sie den Unterschied zwischen Mann und Frau veranschlage. Ähnlich erklärte George SandK, es gäbe nur ein Geschlecht. Das Streiten und Weinen ist die vorwiegendste Attitüde ihrer Aggression gegen die Mutter, deren Überlegenheit26 sie dadurch wie auch durch das Festhalten an der Enuresis aufzuheben27 sucht. Dass sie gegenwärtig mit der enuretischen Bereitschaft auch 23 24 25 26 27
Erg.: und sie weich zu stimmen 1928 hätte ] Änd.: hatte 1928 Erg.: angeblich 1928 Überlegenheit ] Änd.: Bindung 1928 aufzuheben ] Änd.: zu verstärken 1928
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gegen den Mann operiert, einer Heirat und damit der »Herrschaft des Mannes« auszuweichen sucht, geht aus anderen Perspektiven ihrer neurotischen Psyche hervor. Ein Beispiel für den Formenwandel der leitenden männlichen28 Fiktion, die ursprünglich gelautet hat: Ich will ein Mann sein – im obigen Stadium der Kur: Ich will der Mutter überlegen sein, so wie ein Mann – ergab sich gegen Ende der Kur und kann ungefähr in die Worte gefasst werden: Ich will die Mutter erniedrigen – mit weiblichen Mitteln. In einem Traum, einem Vorversuch also, einem probeweisen Anschlag29, kommt diese Richtungslinie unserer Behauptung gemäß zu stärkerem Ausdruck. Er lautet: »Ich liege in einem brennenden Bett. Um mich herum jammern alle. Ich lache laut.« [128] Dem Traum gingen Gespräche und Erwägungen über »freie Liebe« voraus. Das brennende Bett stellt nach der Auffassung der Patientin Liebesfreuden vor. Wir übersetzen unserer Traumauffassung gemäß: Wie wäre es, wenn ich der freien Liebe huldigen würde? Dann würde meine Mutter beschmutzt sein, ich aber würde sie auslachen, wäre ihr überlegen. – Man beachte den wie so häufig aus dem psychischen Überbau der Harnfunktion stammenden Ausdruck »brennen« im Gegensatz zu »Wasser« (Enuresis)*, und die auf dieser »Urinsprache« gegründete gleichnisweise Darstellung. Das »Lachen« in diesem Traume ist gleichwertig dem »Weinen« im ersten Traume. Beide zeigen die Aggressionsrichtung, die zur Niederlage der30 Mutter führen soll. Auch in dem Falle kann man die Unhaltbarkeit der Annahme einer Persönlichkeitsspaltung leicht ersehen. Ebenso irrtümlich wäre die Annahme eines realen Sexualwunsches. Nur wenn die Mutter dabei herabgesetzt wird, sie also die Rolle des herrschenden Mannes31 spielen könnte, wäre ihr dieses Mittel recht. Die leitende Fiktion der Manngleichheit kommt bei allen Mädchen und Frauen in irgendeiner Weise zum Ausdruck. Wie ich an obigem Falle zeigen konnte, ist es der durch die Realität erzwungene Formenwandel, der die Verschleierung des männlichen Protestes bewirkt. Ebenso ist es wesentlich, in der Analyse neurotischer Patientinnen jenen Punkt ihres Seelenlebens ausfindig zu machen, wo sie gegen ihr Gefühl der Weiblichkeit protestieren. Man wird ihn immer finden, denn der Drang nach Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls *
Adler, »Studie«, l. c., Anhang. – Vor mir hat Freud den Zusammenhang von Feuer und Wasser im Traume berührt.
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männlichen ] Ausl. 1928 einem probenweisen Anschlag ] hervorgehoben 1922 zur Niederlage der ] Änd.: zum Herrschaftsgefühl über die 1928 herrschenden Mannes ] Änd.: Herrschenden 1928
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erzwingt die Konstruktion von sichernden Richtungslinien, die im Gegensatz zur Idee des »Weiblichen« erbaut werden. Bei normalen Mädchen und Frauen liegen meist kulturelle oder unkulturelle Emanzipationsgedanken, kämpferische, gegen den Mann und seine Privilegien gerichtete Züge zutage. Man trachtet, die Distanz möglichst zu verringern, in Kleidung, Haltung, Sitte, Gesetz, Weltanschauung. In allen diesen Beziehungen steigert sich der männliche Protest der Nervösen. In der Kleidung werden grelle, aber auch männlich einfache Moden, häufig Verlängerungen einzelner Stücke und stark erhöhte Schuhe bevorzugt. Oder alle als weiblich imponierende Arten der Kleidung werden abgelehnt. Häufig besteht ein besonders heftiger Kampf gegen das Mieder, der gegen die Fesselung gerichtet ist, aber auch anderen Zwecken dienen kann, der oft, um Gesellschaften auszuweichen, inszeniert wird und meist seine Spitze gegen den Gatten32 richtet33. Haltung und Sitte neurotischer Frauen ist oft so deutlich männlich, dass es im ersten Augenblick auffällt. Übereinandergeschlagene Beine, gekreuzte Arme sind zuweilen verräterische Spuren, ebenso das Bestreben, auf der linken Seite, wo sonst der Mann seinen Platz hat, zu gehen, niemanden beim Stehen (z. B. im Traum34) vor sich zu dulden etc. In der Weltanschauung der neurotischen Patientin wird die regelmäßige ideelle Überschätzung des Männlichen durch die praktische Entwertung des Mannes reichlich aufgewogen. Im Sexualverkehr überwiegt die Anästhesie35. Männliche oder den Mann herabsetzende Varianten werden bevorzugt. Ähnliche Auftragungen bietet die neurotische Psyche des Mannes. Er leitet seine Griffe von einer fiktiven weiblichen Empfindung aus, um [129] zum Gefühl der vollendeten Männlichkeit zu kommen. Einer meiner Patienten, der an Asthma nervosum litt, brachte diese Dynamik mit großer Deutlichkeit zur Anschauung. Er war ein schwächliches Kind gewesen und hatte – ein Zusammenhang, auf den Strümpell K hingewiesen hat – an exsudativer Diathese36 K gelitten. Seine häufigen Katarrhe ermöglichten ihm frühzeitig, die Mutter in seinen Dienst zu stellen. Sie nahm ihn zu sich, pflegte ihn in ihrem Schlafzimmer und fügte sich seinen Wünschen. Er kam frühzeitig unter die Aufsicht einer strengen Gouvernante, der er trotz seines Jähzorns und seiner Unbändigkeit nicht gewachsen war. Ihr gegenüber fühlte er sich schwach und lernte so die Wege kindlicher Schlauheit kennen, auf denen er sich der strengen Gouvernante entzog, und zwar durch Simulation und Übertreibung der katarrhalischen Beschwerden, durch das Arrangement von Husten und anfänglich willkürlichen Reizungen der Kehlkopf- und Luftröhrenschleimhaut mittels 32 33 34 35 36
den Gatten ] Änd.: die Mutter 1919 Erg.: heute übrigens durch die Mode überholt 1928 Traum ] Änd.: Tram 1919 Tran 1922 Tanz 1928 Anästhesie ] hervorgehoben 1922 exsudativer Diathese ] hervorgehoben 1922
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eines eigenartigen forcierten Atmens, durch asthmatische Erscheinungen, die er nach dem Bilde des Pressens beim erschwerten Stuhlgang durch Anspannung der Bauchpresse und starken Verschluss des Anus37 erzeugte. Er lernte bald verstehen, dass er bei solchen Erscheinungen ins Schlafzimmer der Mutter kam, und brachte im Laufe der Jahre eine asthmatische Bereitschaft zustande, die er jederzeit unbewusst aktivieren konnte, wenn er, der ein überspanntes fiktives Leitziel mit sich trug, sich zum Beherrscher des Hauses, damit auch der Gouvernante, aufschwingen wollte. Bald erreichte er auch, dass ein Verbot an die Gouvernante erging, nach welchem er nicht strenge behandelt oder38 geschlagen werden durfte. Wir sehen, wie sein Persönlichkeitsideal nunmehr über eine allerdings neurotische Waffe verfügte, die ihn in den Stand setzte, einer Niederlage, dem auftauchenden Gefühl seiner ursprünglichen Minderwertigkeit dadurch zu entkommen, dass er auf einem Umweg, nicht mehr durch Trotz, Jähzorn, Mut, Mannhaftigkeit, sondern durch eine Art List, Verschlagenheit, unmännliches Verhalten, Feigheit und Anlehnung an die Mutter obenauf zu sein trachtete. Dieser Winkelzug, hypostasiert und zu einem unbewusst wirkenden Bereitschaftsmechanismus verarbeitet, gab ihm die fürs Leben nötige Sicherung. Sein neurotisches Symptom, das durch weitere Hilfslinien seiner Charakterzüge, alles haben zu wollen, durch seine Herrschsucht, durch seinen Starrsinn und durch seine Rechthaberei, gleichzeitig durch Feigheit39, Furcht vor neuen Unternehmungen, Furcht vor Männern und Frauen und durch die aus ihr sich stets belebende Entwertungstendenz behütet und beansprucht wurde, die im Bunde seiner Aggressionsbereitschaften eine so wichtige Rolle spielte, ergab für ihn ein neues Organ, ein Mittel, sich auf besondere Weise geltend zu machen, sich seiner Welt zu bemächtigen, indem er stets die Mutter als Schutz begehren konnte. Bei ihr fühlte er sich sicher wie bei keiner Frau, und so kam er aus Not zu einer Verliebtheit in seine Mutter, die näher betrachtet sich in Tyrannei auflöste. Schwangerschaftsfantasien spiegelten ihm das erniedrigende Empfinden einer weiblichen Rolle vor und konnten mit Kastrationsgedanken sowie mit Fantasien, ein Weib zu sein, abwechseln. Sein Masturbationszwang zeigt den Versuch, sich siegreich von der Frau zu emanzipieren, einer Niederlage zu entgehen, sich männlich zu gebärden, und setzte [130] sich fort in gleichgerichtete Größenfantasien, beides Ausdrucksformen seines männlichen Protestes. Als Bild und Anschauungsform für seine Minderwertigkeit und weibliche Artung galt ihm die vermeintliche, übertrieben empfundene Kleinheit seiner Genitalien. Seit seiner Kindheit suchte er alle seine misslunge37 des Anus ] Änd.: der Glottis 1919 38 oder ] Änd.: und 1928 39 Anm.: Die Neurose wird immer durch Entmutigung eingeleitet. 1928
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nen Anschläge und seine Niederlagen unter das Bild des ursächlichen kleinen Penis zu bringen, apperzipierte auch alle seine Erlebnisse und gruppierte sie nach dieser Richtung und der damit zusammenhängenden gegensätzlichen Anschauungsform von »Männlich – Weiblich«. Der »kleine Penis« war für ihn der bildliche Grenzbegriff zwischen Männlich und Weiblich, und zeigte sich wie die Haltung des Patienten auf der Idee eines körperlichen und psychischen Hermaphroditismus und seiner Tragik aufgebaut. Kein Wunder, dass man in der psychologischen Analyse dieser Fälle mit der männlich-weiblichen Apperzeptionsweise, die zu den Grundlagen der neurotischen Psyche gehört, auf lauter40 sexuelle Relationen stößt. Sie sind alle als Modus dicendi, als Jargon und bildliche Ausdrucksweise zu verstehen und dementsprechend aufzulösen, wobei Kraft, Sieg, Triumph in männlicher Sexualsymbolik, Niederlage in weiblicher, die neurotischen Kunstgriffe in beiden zugleich, zumeist auch in perverser oder hermaphroditischer Symbolik zum Ausdruck kommen.41 Bei unserem Patienten war leicht42 zu erraten, dass er außer der sexuellen Ausdrucksweise auch noch eine Apperzeptionsweise auf der gegensätzlichen Anschauung des Ein- und Ausatmens hatte, die durch die Minderwertigkeit seiner Atmungsorgane, der Nase miteinbegriffen, angeregt worden war. Auch die zu unserer gegenseitigen Verständigung dienende Sprache bedient sich solcher Bilder, und ein Seufzer der Erleichterung aus gepresster Brust kann ganz gut in das Bild gekleidet werden, als ob man wieder Luft hätte. Auch eine Hetzjagd um den Vorrang, die Begierde, der Erste am Ziel zu sein, vermochte [der] Patient »pantomimisch« in Erinnerung an den Wettlauf in den Knabenjahren durch keuchendes Atmen darzustellen. In einem Traum aus der letzten Zeit der Behandlung bedient er sich der bildlich zu verstehenden Fähigkeit zu pfeifen, um seine Männlichkeit »respiratorisch« hervorzuheben. Der Traum lautet: »Mir war, als ob vier Leute pfiffen. Ich merke, dass ich es ebenso gut kann.« Kurz vorher hatte er eine Beziehung zur Gouvernante in der Familie seines verheirateten Bruders angeknüpft und hatte an sie die Frage gestellt, ob sein Bruder des Nachts oft die Frau besuche. Das Mädchen gab eine verneinende Antwort. Pfeifen können ist das Ideal aller kleinen Knaben, und auch Mädchen bemühen sich oft, diese männliche Attitüde herauszubringen. In diesem Traume nimmt er probeweise einen Vergleich vor, ob er den männlichen Angehörigen seiner Familie gewachsen sei, und kommt von dieser seinem Weibempfinden entstammenden Linie zum männlichen Protest: Er sei allen vieren gewachsen. 40 auf lauter ] Änd.: immer auf 1919 41 Erg.: Aus Letzterer ist im Zusammenhang leicht die Tendenz zur Überwindung des Gegenspielers zu entnehmen. 1922 42 leicht ] Änd.: bald 1922
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Auch in diesem Falle fand ich meine Beobachtung bestätigt, dass der Nervöse seine sexuelle Libido nach der Art und Größe empfindet, ebenso darstellen kann, wie es sein fiktives Endziel verlangt, sodass jede psychologische Auffassung haltlos wird, welche den Faktor der Libido als konstitutionell43 gegeben und in seinen Abwandlungen und Schicksalen das Wesen der Neurose erblickt44. Insbesondere sind Sexualwünsche und Erregungen leicht zu arrangieren und stets dem männlichen Protest [131] in irgendeiner Weise untergeordnet. Eine Identifizierung von Männlichkeit mit Sexualität kommt in der Neurose durch Abstraktion, Symbolisierung und bildliche Organsprache zustande, und dieser fälschende Kunstgriff des Nervösen füllt seinen Gedankeninhalt mit sexuellen Bildern45. Die Rechthaberei und versteckte Streitsucht, die mit der Entwertungstendenz in innigster Verbindung stehen, stellen den Psychotherapeuten vor schwere taktische und pädagogische Probleme. Sie verraten in jedem Falle den schwachen Punkt, das Minderwertigkeitsgefühl des Patienten, das ihn zur Kompensation treibt. Eine einfache Anschauungsweise gibt uns ein Hilfsmittel an die Hand, die neurotische Aggression des Patienten in jedem Falle zu entlarven. Man stelle sich vor, dass der Nervöse sich um seine volle Männlichkeit46 gebracht, sich verkürzt fühle und beobachte nun, durch welche Kunstgriffe er seine Ergänzung oder Überkompensation durchzuführen versucht.47 Man wird dann leicht eine Anzahl von Bereitschaften, Charakteren, Syndrome und Symptome finden, die ein ideelles Organ vorstellen können48, muss aber darauf gefasst sein, wie vor ein Rätsel gestellt zu sein, das erst entziffert werden soll. Denn dieses ideelle Organ, eben die Neurose oder Psychose, ist wohl männlicher Herkunft und trägt in sich die Bestimmung, das Persönlichkeitsgefühl des Patienten nicht sinken zu lassen, ihn vielmehr seinem männlichen Endziel49 43 Erg.: in einer bestimmten Größe 1928 44 sodass bis erblickt ] hervorgehoben 1922 45 Erg.: besonders weil er auch in der Liebe die Unterwerfung des andern sucht 1928 Anm.: Die Psychoanalytiker scheinen sich mit der Tatsache nicht abfinden zu können. Mit mächtigem Affekt wird darauf hingewiesen, dass ich gar in der Liebe das Geltungsstreben gefunden haben will. 1928 46 Männlichkeit ] Änd.: Geltung 1928 47 Man bis versucht ] hervorgehoben 1922 Erg.: Vor allem sind seine mündliche Darstellung und die Betonung seines »Wollens« nicht allzu schwer zu nehmen. Man mache es lieber wie Odysseus bei der Zauberin Kirke [Änd.: den SirenenK 1928] und verstopfe die Ohren auch bei den ganz aufrichtig gemeinten Behauptungen. Den guten Willen muss man sehen, nicht hören. Und man wird erhabene Einsichten gewinnen, wenn man sich wie vor eine Pantomime stellt. 1922 48 können ] Änd.: könnten 1928 49 männlichen Endziel ] Änd.: Ziel der Überlegenheit 1928
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nahe zu bringen. Aber die raue Wirklichkeit versagt sich dem Werben dieser Fiktion so sehr, dass die absonderlichsten Umwege gewählt werden müssen, dass50 Teil- und Scheinerfolge angestrebt werden, fast immer ohne dass der Patient seinem Endziele näher kommt.51 Und immer wieder steigert sich ohne52 die Hilfe des Psychotherapeuten, der53 in seltenen Fällen durch die Schicksale des Lebens vertreten werden kann, bei Misserfolgen dieser »Wille zum Schein«54 und verstärkt die abstrakten, prinzipiellen Linien der alten, leitenden Fiktion. Einer der hauptsächlichsten Umwege, auf denen dieses ideelle Organ – eben der männliche Protest – wirkt, ist die Entwertungstendenz. Von ihr war deshalb so oft die Rede, weil sie für den Arzt und dem Arzte gegenüber leicht ins Auge fällt und immer die Stärke des neurotischen Bestrebens zum Ausdruck bringt. Sie ist auch der stetig vorhandene Anknüpfungspunkt, um dem55 Patienten die Selbsteinsicht zu verschaffen, und sie liegt auch jener Erscheinung zugrunde, die Freud als Widerstand beschrieben und irrtümlich als Folge der Verdrängung sexueller Regungen aufgefasst hat. Mit ihr kommt der Nervöse zum Arzt und sie trägt er, wie der »Normale« auch, erheblich geschwächt, wenn er die Behandlung verlässt, nach Hause. Nur dass seine gesteigerte Selbsteinsicht dann wie ein Wächter vor ihren Äußerungen steht, und so den Patienten zwingt, seiner Sehnsucht nach »oben« andere56 Wege zu weisen57. Man darf nicht davor zurückschrecken, Äußerungen des Zweifels, der Kritik, Vergesslichkeit, Verspätungen, allerlei Forderungen des Patienten, Verschlechterungen nach anfänglicher Besserung, beharrliches Schweigen ebenso wie zähes Festhalten von Symptomen als wirksame Mittel der auch gegen den Psychotherapeuten gerichteten Entwertungstendenz aufzugreifen. Man wird dabei kaum je fehlgehen und wird meist durch die Koinzidenz gleichgerichteter tendenziöser Erscheinungen und durch deren Vergleichung in dieser Auffassung gerechtfertigt [132] werden. Es handelt sich oft um die subtilsten Äußerungen. Soll ich noch hinzufügen, dass die ausgebreitetste Erfahrung und Kenntnis bezüglich der Entwertungstendenz gerade hinreicht, um nicht überrascht zu werden, und dass großes Taktgefühl, Verzicht auf die überlegene Autorität, stets gleichbleibende Freundlichkeit, wachsames Interesse und das besonnene Gefühl, einem Kranken gegenüberzustehen, mit dem kein Kampf 50 Erg.: unnützliche 1928 51 Anm.: Siehe »Das Problem der Distanz«, 2. Bd. Änd.: Siehe »Das Problem der Distanz« in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. 1922 52 sich ohne ] Ausl. 1922 53 Erg.: nur 1928 54 dieser bis Schein« ] Änd.: diesen »Willen zum Schein« 1922 55 dem ] Änd.: den 1928 56 andere ] Änd.: nützliche 1928 57 Erg.: und sie zu dämpfen 1922
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zu führen ist, der ihn aber jederzeit beginnt, zum Erfolge unumgänglich nötig sind? Bei einem stotternden Patienten erwies es sich als nötig58, ihm in einer Zeichnung die Lage des Kehlkopfes klarzumachen. Anstatt die Zeichnung mit nach Hause zu nehmen, wie er vorhatte, um sie nochmals zu überlegen, ließ er sie bei mir auf dem Tische. Am nächsten Tage verspätete er sich um eine Viertelstunde, suchte zuerst das Klosett auf, erzählte von einem anderen Patienten, der sich über mich beklagt hatte und berichtete nach anfänglichem Schweigen einen Traum, der folgendermaßen lautete: »Es war mir, als ob ich eine Zeichnung betrachtet hätte. Von einem Kreis ging ein Zylinder aus, der nicht gerade, sondern seitwärts verlief.« Die Deutung ergab, dass es sich um die Zeichnung des Kehlkopfes handelte, auf der der Kehlkopf gerade nach unten gezeichnet war. Patient polemisiert im Traume mit mir, als wollte er sagen: Wie wäre es aber, wenn mein Arzt unrecht hätte?59, und zeigt mir dadurch seine misstrauische Stellung, die Furcht, hintergangen zu werden, zugleich aber auch die gegen mich gerichtete Entwertungstendenz, die sich in seinen unbewussten Maßnahmen des Vergessens, der Verzögerung, der tendenziösen Berichterstattung, des Schweigens und endlich in einem probeweisen Versuch im Traum, mir Unrecht zu geben, geäußert hat. Man kann mit Recht erwarten, dass der Patient sein Stottern zum gleichen Zweck verwendet und gegen mich verwenden wird. Trotz vieler Gegensätze zwingt er mich in die Rolle eines60 ehemaligen Lehrers, den er oft korrigierte, damit er mit seinen alten Bereitschaften gegen mich vorgehen kann.* Dies ging aus seinen Bemerkungen zum Traume hervor, und des Ferneren noch, dass seine Krankheit von ihm aufgegriffen und festgehalten war, um sich die Überlegenheit über seinen Vater zu sichern und so diesen zu entwerten. Eine Patientin, die mir wegen Depression, Suizidgedanken, Weinkrämpfen und lesbischen Neigungen zur Behandlung zugewiesen war, wurde von mir wegen Verdachts einer Genitalaffektion nach kurzer Behandlung zu einem Gynäkologen geschickt, der ein großes Myom entfernte und sich von dieser Operation eine Heilung der Neurose versprach. Nach der Operation reiste die Patientin in ihre Heimat und schrieb mir von dort, sie habe nun erkannt, dass der Gynäkologe mit seiner Meinung recht gehabt habe. Hoffentlich würde ihm die Operation bei einer Gräfin, von der sie in der Zeitung gelesen habe, besser *
Junktim61 zum Zweck einer tendenziösen, herabsetzenden Affektäußerung62
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nötig ] Änd.: erforderlich 1919 Erg.: (der schiefe Zylinder) 1928 eines ] Änd.: seines 1928 Erg.: zwischen mir und dem Lehrer 1922 Erg.: Es wird nicht übertragen, sondern alle werden über einen Kamm geschoren. 1922
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gelingen als bei ihr. Bald darauf erschien sie bei mir, polemisierte gegen eine meiner Arbeiten, die sie sich irgendwie verschafft hatte, erklärte mir ihr ungeheures Interesse für meine Behandlung, erzählte, dass ihr Zustand der gleiche sei wie vor der Operation und verschwand. Aus dem Stück ihrer Krankheitsgeschichte, das sie [133] mir während der Behandlung mitteilte, ergab sich unter anderem, dass sie mit ihrer ganzen Umgebung in Unfrieden lebte, dass sie den Mann vollkommen beherrschte, dass sie die Kleinstadt hasste und einer Freundin gegenüber sexuell und psychisch den Mann spielte. Ihre Furcht vor Kindersegen war ungeheuer, der Sexualverkehr unerträglich, weil ihr der Mann zu schwer erschien. Als Letzterer sie einmal während der Kur besuchte, träumte sie tags vorher Folgendes: »Mir war, als ob das ganze Zimmer in Feuer gehüllt wäre.« Sie gab spontan an, dass dies ein typischer Traum sei, der fast regelmäßig zur Zeit der Periode wiederkehrte. Diesmal war noch lange Zeit bis zu ihrem Termin. Der Traum ließ sich deutlich als Versuch erkennen, eine weibliche Situation – die Menstruation – zum männlichen Protest – Verweigerung des Sexualverkehrs – zu verwenden. Ein tieferes Eindringen, das sicherlich kindliche Enuresis aufgedeckt hätte (Feuer – Myom, s. »Studie«, Anhang), war durch die Unterbrechung der Behandlung verhindert. Ich bekam noch einen Brief, der Versicherungen enthielt, [die] Patientin wolle nunmehr mit ihrer Umgebung in meinem Sinne Frieden schließen. Ich meine, dass ihr dies noch recht schwer gefallen sein mag. Trotz, Wildheit, Ungebärdigkeit können in gleicher Art dem Beweise dienen, den Patientinnen suchen, um ihre geringe Eignung für die weibliche Rolle darzutun. Die Vorbereitungen beginnen schon in früher Kindheit und führen allmählich zu physischen und psychischen63 Gewandtheiten in Gebärde, physiognomischem Ausdruck, Affektbereitschaft und Mimik, während der Charakter sich nach der ideellen Leitlinie psychisch ausgestaltet und vorbauend, vorausfühlend die Stellungnahme des Patienten einleitet. In vielen Fällen findet man diese Züge geradlinig ausgesprochen, und sie dienen direkt zur Darstellung des männlichen Protestes64. Oder es erfolgt der Formenwandel der leitenden Fiktion, sei es wegen auftauchender Widersprüche in der Leitlinie, im Falle einer wirklichen oder drohenden Niederlage, sei es – was sich gewöhnlich damit deckt, durch einen als unüberwindlich gewerteten Widerstand der Realität. Unter65 Arrangement der sichernden Angst oder des sichernden Schuldgefühls oder sichernder gegenteiliger Züge (Dissoziation der Autoren66) erfolgt dann die Abbiegung auf den neurotischen Umweg. Aber 63 64 65 66
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die Bereitschaften bleiben bestehen. Nur dass die neurotische Vorsicht die Abbiegung unter den Sicherungen der Angst, des Schuldgefühls, des Anfalles einleitet, wenn der Patient mit der ursprünglich hergestellten Affektbereitschaft (der Wut, des Jähzorns, der Aggression) antworten sollte. Häufig findet man tendenziös gruppierte Erinnerungen an Maßlosigkeiten, Gedanken und Erinnerungen, Vorspiegelungen, als sei man grenzenlos begehrlich, sinnlich, dämonisch, verbrecherisch, zuweilen auch offensichtlich arrangierte Unbesonnenheiten und Unfälle, die als Memento der Vorsicht die Wege weisen. Oder der Abbruch der geradlinigen männlichen67 Aggression geschieht immer wieder knapp vor der Entscheidung68, wodurch sich viele neurotische Liebesbeziehungen auszeichnen oder erklären. Auch in perverser Richtung kann bei diesen die Abbiegung unter dem Einfluss der Sicherungstendenz erfolgen, oder die Richtungslinie führt bis in den Schutz des Vaters, der Mutter, Gottes, des Alkoholismus oder einer Idee. Versuche, mit weiblichen Mitteln nach oben zu kommen, wenigstens alle Frauen zu übertreffen, führen zu übertriebener Reinlichkeit, zur »Putz[134]krankheit«, zu masochistischer69 Unterwerfung oder Koketterie, Gefallsucht und fortwährenden Liebeleien bei weiblichen Patienten. Immer wird man Züge oder verräterische Spuren nebenbei finden, dass auch in diesen Fällen die leitende männliche70 Fiktion allmächtig ist und auf diesen Umwegen ihr Ziel zu erreichen sucht. – Die Erhöhung der Sexualerregung in manchen dieser Fälle ist nicht als echt, etwa als konstitutionell gegeben zu verstehen, sondern zeigt sich gebunden an die Fiktion und kommt zustande durch ununterbrochene tendenziöse Aufmerksamkeit, die auf Erotik gerichtet ist. Dasselbe gilt von Perversionen und scheinbar herabgesetzter Libido, die auf neurotischen Umwegen konstruiert werden. Alle Sexualbeziehungen in der Neurose sind nur ein Gleichnis. Die Furcht vor der Überlegenheit des Mannes und der entwertende Kampf gegen ihn kleidet sich oft infolge der gegensätzlichen neurotischen Perspektive in Entmannungsfantasien, die den Mann entwerten sollen. In Träumen dieser Patientinnen liegt dies klar zutage und lässt sich durch gleichzeitige andersartige Entwertungen in unserem Sinne erweisen. Einer dieser Träume sei hier angeführt. Die Patientin kam kurz nach einer Fisteloperation wegen eines Zwangsgedankens und wegen Aufregungszuständen in meine Behandlung. Der Zwangsgedanke lautete: »Ich werde nichts erreichen können.« Schon 67 männlichen ] Änd.: (männlichen) 1928 68 der Abbruch bis Entscheidung ] hervorgehoben 1919 69 Anm.: Ich habe immer behauptet, dass es keinen echten Masochismus im Sinne der Autoren gibt! Vielleicht wird diese Feststellung deutlicher, wenn ich hinzufüge, dass der Masochist seine Überlegenheit darin erlebt, dass er dem Partner sein Handeln aufzwingt. 1928 70 männliche ] Ausl. 1928
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bei unserem ersten Zusammentreffen äußerte sie Zweifel, ob ich etwas erreichen werde. Die gleiche Linie der Entwertung beleuchtete ihr Traum. Sie träumte: »Ich rief im Traume: Marie, die Fistel ist schon wieder da!« Der Operateur hatte ihr völlige Heilung versprochen und hat auch Wort gehalten. Er ist ihr in mancher Hinsicht verpflichtet und wollte kein Honorar nehmen. [Die] Patientin regte sich darüber sehr auf und empfand dies als Herabsetzung. Sie quälte sich einige Zeit mit Gedanken, wie sie ihrer Schuld ledig werden sollte. Marie heißt ihr Dienstbote, mit dem sie nie über die Operation gesprochen hatte. Käme es zu einem neuerlichen Aufbruch der Fistel, so wäre ihr erster Gang zu dem Operateur, dem sie ihre Meinung sagen würde. Marie, ein weiblicher Dienstbote, ist der Operateur. [Die] Patientin setzt den Fall, den ihr männliches Selbstgefühl braucht, der Arzt hat schlecht operiert, hat sein Wort nicht gehalten, ist ein Weib und Dienstbote zugleich. Dies die Art, wie sie alles erreichen könnte:71 wenn sie ein Mann wäre. Wenn man die veröffentlichten Analysen welcher psychologischen Schule immer darauf untersucht, wird man regelmäßig den Mechanismus des neurotischen männlichen72 Protestes darin finden. Ich will aus der Analyse eines Falles von Migräne diesen Zusammenhang nochmals hervorheben. Aus ihrer Kindheitsperiode erzählte [die] Patientin sofort, dass sie stets mit den älteren Brüdern in Streit lebte, weil sie sie beherrschen wollte. Derartige Erinnerungsspuren leiten, sobald sie freiwillig preisgegeben werden, regelmäßig auf einen verborgenen Kampf gegen die männliche Vorherrschaft. Und man wird sich nie in der Voraussetzung täuschen, dass auch andere Charakterzüge auf diesen Kampf, es dem Manne gleichzutun, hinweisen. Unbeeinflusst fährt unsere Patientin fort zu erzählen, dass sie fast ausschließlich mit Knaben spielte und von ihnen »wie ihresgleichen behandelt [135] wurde«. Diese Ausdrucksweise verrät mit großer Deutlichkeit die73 Höherschätzung des männlichen Geschlechtes, welche die Mädchen dem Vater näherbringt, was leicht als sexuelle Verliebtheit in den Vater und als zum74 »Inzestkomplex« gehörig missdeutet wird. Die Entwicklung unserer Patientin nahm den gleichen Verlauf. Sie setzte sich ganz den Vater zum Vorbild und war, besonders als sie die Mutter auf einer Lüge ertappte75, in Betreff von76 Wahrhaftigkeit und Pünktlichkeit bestrebt, sich diese väterlichen Eigenschaften beizule71 72 73 74 75 76
Erg.: wenn es umgekehrt 1922 männlichen ] Ausl. 1928 Erg.: Genugtuung und 1922 zum ] Ausl. 1919 ertappte ] hervorgehoben 1922 in Betreff von ] Änd.: in Bezug auf 1928
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gen*. Sie erinnert sich auch, dass der Vater es oft bedauernd hervorhob, dass sie kein Knabe geworden sei, und dass es sein Wunsch war, sie solle studieren. In dieser Situation entwickelte sich naturgemäß ein Persönlichkeitsgefühl, in welchem ehrgeiziges Streben nicht fehlen durfte. Dagegen fiel allen und ihr selbst ihre übermäßige Schüchternheit auf, die viele ihrer Vorsätze zum Scheitern brachte. Diese Schüchternheit findet sich ungemein häufig in der Vorgeschichte der Neurotiker. Sie ist identisch mit dem Gefühl der Unsicherheit, sobald sich dieses im Verkehr mit anderen Personen geltend macht. Erröten, Stottern, gesenkte Blicke, Absperrung von der Gesellschaft Erwachsener, Erregung vor Prüfungen und Lampenfieber begleiten oft den Versuch der Annäherung oder die Anknüpfung von Beziehungen zu fremden Personen. Dabei wird man in der Regel Verschlossenheit und Unzufriedenheit beobachten können. Die Analyse ergibt als Quelle dieser Art von Unsicherheit, mit der sich gewöhnlich auch ein starkes Schamgefühl77 verbindet, ein meist organisch bedingtes Gefühl von Minderwertigkeit, Organminderwertigkeiten, die sich psychisch geltend machen, Kinderfehler, starke psychische Bedrückung vonseiten der Eltern oder Geschwister und zuletzt auch wirkliche oder vermeintliche Weiblichkeit, die frühzeitig in starkem Gegensatz zu einem männlichen Glied der Familie (Vater, Bruder) gerät. Die Analogie, nach der in kindlicher Weise die mannigfachsten Empfindungen der Verkürzung, Herabsetzung, Minderwertigkeit apperzipiert werden, ist dann gewöhnlich die der symbolisch zu verstehenden Kleinheit des Penis78, sind Kastrationsgedanken und Gedanken von einer weiblichen Rolle im Geschlechtsverkehr, von Befruchtung und Schwängerung, aber auch von Verfolgung, Gestochen- und Verletztwerden, Fallen und Untensein. Alle diese Fiktionen treten in Tagträumen, Halluzinationen, Träumen auf, sofern sie nicht durch Fiktionen des männlichen Protestes völlig abgelöst werden und drücken ein Gefühl der Verkürztheit aus, das sich in dem Gedanken Bahn bricht: »Ich bin weiblich!« wogegen79 das Persönlichkeitsgefühl nach »oben« drängt und die männliche Proteststellung erzwingt. Von unserer Patientin ist bloß zu hören, dass sie frühzeitig vom Geschlechtsverkehr Ahnungen hatte, zu einer Zeit, wo sie mangels größerer Erfahrung mit der Endgültigkeit der Geschlechtsrolle noch nicht gerechnet hat80. In solchen Fällen dürfen wir stets auf Schüchternheit, Schamhaftigkeit und Zweifel gefasst *
Was die Autoren Nachahmungstrieb oder Identifizierung nennen, ist immer das Aufgreifen einer Schablone behufs Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls. 81
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Erg.: oder Erröten 1928 Kleinheit des Penis ] Änd.: Unmännlichkeit 1919 wogegen ] Änd.: während 1919 hat ] Änd.: hatte 1919 mit der bis gerechnet hatte ] hervorgehoben 1919 Erg.: Nachgeahmt wird nur, was zum Streben nach Macht geeignet erscheint. 1919
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sein, im späteren Leben auf Furcht vor der Prüfung und vor Entscheidungen in jeder Form, Charakterzüge, die sich analytisch82 dahin auflösen lassen, man könnte [136] an ihrer Person den Mangel oder die Mangelhaftigkeit des Genitales83 entdecken. Gewöhnlich findet man frühzeitig schon die Charaktere einer gesuchten Manngleichheit, oder das Suchen darnach steht im Vordergrund, während in vielen Fällen durch einen Einschlag von Hoffnungslosigkeit die »angeborene Farbe der Entschließung« angekränkelt ist. Da der direkte Weg zur Männlichkeit verschlossen ist oder verschlossen scheint, werden Umwege und Auswege gesucht. Auf einem dieser Auswege liegen die wertvollen sozialen Emanzipationsbestrebungen der Frau, auf einem ihr privater Ausdruck, die Neurose der Frau, die Konstruktion des ideellen männlichen Organs.84 Es war bei dieser Patientin leicht zu sehen, dass sie in ihrer Kindheit die Beherrschung des Mannes anstrebte, der Brüder und des Vaters, da sie mit der Mutter scheinbar leicht fertig geworden war. Der Vater kam vollends in ihren Bann. Den wichtigen Schluss auf die Tendenz ihrer neurotischen Symptome kann man bei einiger Übung leicht machen: Ihre Kopfschmerzen und ihre Migräne mussten seit ihrer Ehe Mittel zur Beherrschung ihres Mannes vorstellen. Und in dieser Beherrschung suchte sie einen Ersatz für die verloren geglaubte Männlichkeit. Ich kenne den Einwand, der sich an dieser Stelle erheben wird. Wie, der schwere Jammer einer Neurose, die entsetzlichen Schmerzen einer Trigeminusneuralgie, Schlaflosigkeit, Bewusstseinsverlust, Lähmungen, Migräne, all dies sollte in Kauf genommen werden, um eines Zieles willen von der Hinfälligkeit einer Manngleichheit? Ich habe selber lange gegen diese sich mir aufdrängende Überzeugung gekämpft. Ist es aber viel anders, wenn Menschen ein Leben lang alle Pein ertragen um einer anderen Seifenblase willen? Ist der »Wille zum Schein« (NietzscheK) nicht lebendig in uns allen, und lässt er uns nicht Übel aller Art ertragen? Und dann: Auf diesem neurotischen Umwege zur Männlichkeit liegen auch, wie ich gezeigt habe, das Verbrechen, die Prostitution, die Psychose, der Selbstmord! Dies und ferner noch den Hinweis auf die Unbewusstheit psychischer Mechanismen in der Menschenseele kann ich zugunsten meiner Auffassung anführen. Die von mir festgestellte Übertreibung in der Wertschätzung des männlich85 scheinenden Endzieles aber ist der sichere Grundpfeiler der psychischen Therapie der Neurosen. Und ich ziehe aus diesem Einwand gegenüber meinen Patienten die Nutzanwendung, dass 82 analytisch ] Änd.: psychologisch 1922 83 des Genitales ] Änd.: männlicher Geltung 1919 männlichen Wertes 1922 höheren Wertes 1928 84 Erg.: In schweren Fällen erfolgt der völlige Rückzug, die Isolierung, zuweilen identisch mit dem Einzug in die Irrenanstalt. 1922 85 männlich ] Änd.: höher 1928
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ich ihnen zu zeigen mich bemühe, wie sie, vor die Wahl gestellt zwischen einer naturgemäßen Rolle und dem neurotischen männlichen Protest, das größere Übel von zweien gewählt haben. Aus der Vorgeschichte unserer Patientin wäre noch anzumerken, dass sie stets eine Abneigung gehabt hat86, mit Puppen zu spielen, ferner dass sie bis zu ihrer87 Verehelichung am Turnen und am Sport ihre größte Freude hatte. Dass auch diese Bestrebungen im Dienste eines Ersatzes der Männlichkeit stehen, geht mehr als aus ihnen selbst aus dem Zusammenhang mit anderen »männlichen« Zügen hervor, besonders aber aus einer Art Aufdringlichkeit, mit der [die] Patientin davon erzählt. Auch Touristik betrieb sie leidenschaftlich, wovon ihr seit der Geburt eines Kindes, das sie bestimmt als männlich wünschte und erwartete, bloß noch eine große Neigung zum Reisen geblieben war. Man muss nur den Fehler vermeiden, etwa anzunehmen, es seien die hier geschilderten, von der Patientin selbst hervorgehobenen [137] Charakterzüge eingesprengte Inseln im weiten Gebiete eines weiblichen Seelenlebens. Man muss sich vielmehr zur Annahme entschließen, dass diese männlichen Züge unter dem Zwange einer beherrschenden Tendenz zustande kamen, einem Lebensplan entstammen und deutlich in Erscheinung traten, weil sie es konnten, während rings um diese Züge herum ein undeutliches, nur gelegentlich hervortretendes männliches Wollen besteht, das mehr auf Verhinderung und Umarbeitung weiblich scheinender Regungen verwendet wird, ehe es sich selbstständig macht. In diesem Kampfe männlicher gegen weibliche Regungen wirft sich das Persönlichkeitsgefühl ganz auf88 Seite der Männlichkeit und nutzt etwa vordringlich auftauchende weibliche Regungen, darunter auch den Sexualtrieb des Weibes, dazu aus, um sie als erniedrigend, gefahrbringend zu sammeln,* zu gruppieren, zu vergrößern und zu unterstreichen, sie aber sogleich mit Wachposten zu umstellen, damit sie ihres Einflusses beraubt seien. Diese Wachposten – Sicherungen – reichen meist weit über die Sphäre der weiblichen Regung hinaus. Man findet immer, dass diese Sicherungen und wachenden Bereitschaften, unter ihnen unsere Krankheitssymptome – nicht bloß ihren Zweck erfüllen, eine Niederlage zu verhindern, sondern dass sie die Patienten mit einer überaus vorsichtigen Art so sehr erfüllen90, dass *
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Diese Affektverstärkung wird immer aus einem tendenziösen Junktim geholt. Weibliche Rolle und Abgrund, Ertrinken, Sterben, Überfahrenwerden oder Erdrücktwerden.89
gehabt hat ] Änd.: hatte 1919 zu ihrer ] Änd.: zur 1919 Erg.: die 1928 Erg.: Jede Liebesregung, jede Annäherung kann deshalb beim Nervösen zum Anlass einer sichernden Neurose werden, wird aber nie zur Bindung führen. 1922 90 erfüllen ] Änd.: vergiften 1922
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diese91 schließlich zu allem unfähig werden. Dann erst ist die primäre Unsicherheit aufgehoben, die der Furcht vor einer weiblichen Rolle gleichzusetzen ist, doch ist sie auf das ganze Leben verschoben und drängt den Erkrankten aus allen sozialen Banden92. Auf dieser Rückzugslinie finden wir alle unsere Patienten, und ihre Symptome bilden die Sicherung, auf dass sie nicht ins Gewühl des Lebens zurückkehren. Daraus entwickelt sich nun ein Bild des Neurotikers, das oft eine Zurückschraubung auf einfachere, kindlichere Verhältnisse und Beziehungen erkennen lässt, sei es, dass diese erst nach anfänglicher Entwicklung vollzogen wurde, sei es, dass sie diese Entwicklung überhaupt verhinderte. Dabei wird manches93 wieder wie in der Kinderstube. Die Beziehungen zur Familie werden ungemein verstärkt, oder statt der kindlichen Liebe zu den Eltern entwickelt sich der alte Kindertrotz, und beide Einstellungen werden als Leitbilder verwendet, als ob94 der Patient in allen Personen Vater oder Mutter aufsuchte. Trotzdem er durch diese Fiktion mit der Realität in Widerspruch kommt, hält er daran fest, weil er in dem Verhältnis seiner Kinderstube Sicherheit hatte. Kipling K erzählt von einem im Todeskampf Liegenden, den er so lange beobachtete, bis sich der erwartete Schrei nach der Mutter von seinen Lippen rang. Man braucht, um diese Sehnsucht nach Sicherheit zu begreifen, nur kleinen Gassenjungen zuzuhören, wie sie sofort, wenn sie in Bedrängnis geraten, nach der Mutter rufen. Die gleiche Sehnsucht nach Sicherung hat sich auch in die Verehrung der Muttergottes eingeschlichen.95 Bei Mädchen findet man in der Regel die Sehnsucht nach Sicherung analog der96 Beziehung zum Vater ausgesprochener. Die von G. GrünerK in den Vordergrund gerückte Mutterleibsfantasie habe ich gleichfalls bloß in Anwendung bei Neurotikern gefunden, wenn sie damit ausdrücken wollten, nur bei der Mutter ist Ruhe, oder wenn sie Suizidgedanken, [138] Wünsche nach Rückkehr vor der Geburt hatten (das hermaphroditische »Avant nach rückwärts«).97 Auch unsere Patientin suchte als Kind und Mädchen diese Anlehnung an den Vater, der sie nicht wenig verhätschelte. Die Mutter war, wie Mütter leider häufig, den Brüdern mehr zugetan. Auch dieser Zug erweist sich in letz-
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diese ] Änd.: sie 1922 Banden ] Änd.: Beziehungen 1922 Dabei bis manches ] Änd.: Manches wird 1922 als ob ] nicht mehr hervorgehoben 1928 Anm.: In einer halluzinatorischen Psychose beobachtete ich die Ersetzung der eigenen Mutter durch die Muttergottes in Absicht einer Entwertung [Erg. der eigenen Mutter 1928]. 1922 96 Erg.: asexuellen 1922 97 Anm.: Derzeit ist Freud mit der Aufstellung dieses hier beschriebenen Todeswunsches einem »pars pro toto«K zum Opfer gefallen. 1922
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ter Linie als98 durch die Höherschätzung des männlichen Prinzips bedingt, dem sich der Vater als Mann leichter entschlagen kann. Insbesondere merkte [die] Patientin bald, dass die Sorge des Vaters erheblich zunahm, sobald sie sich unwohl fühlte. Sie kam deshalb auch zu einer besonderen Vorliebe für das Kranksein, das ihr weitere Verzärtelungen, Liebe und Näschereien eintrug. Dies muss für sie wohl den geeignetsten Ersatz für die verloren geglaubte Männlichkeit bedeutet haben, dass sie die unumschränkte Herrscherin im Hause wurde, alle Wünsche befriedigen, auch unangenehmen Begegnungen in der Schule und in Gesellschaften ausweichen konnte, sobald sie sich krank fühlte. Ja, es bedeutete die höchste zu erreichende99 Potenz ihres Sicherheitsgefühls, sobald sie der Vater krank glaubte. Und sie tat zuweilen mit Absicht so, als ob sie krank wäre, das heißt, sie simulierte oder übertrieb. Diese Tatsache der Simulation in der Kindheit findet sich ungemein häufig in der Vorgeschichte der Neurotiker100. Ich habe in umfänglicher Weise auf diese Erscheinung (in der »Psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie«, l. c.101) aufmerksam gemacht und habe erwähnt, wie sich das Kind taub, blind, dumm, verrückt etc. stellte102. Auch E. JonesK erwähnt diese Tatsache in seiner »Hamletstudie« und verweist auf die Analogie der Verstellung Hamlets mit der in der Kindheit. Historische Beispiele, wie SaulK, Claudius103 K u. a., gibt es genug, und sie zeigen uns das Problem in seiner Reinkultur. Immer ist der beherrschende Gedanke dabei: Wie sichere ich mich vor einer Gefahr, wie kann ich eine Niederlage vermeiden? Es ist klar, dass der Neurotiker, der104 nach der Analogie »Mann – Weib« apperzipiert, in der Beherrschung einer Situation ein männliches Äquivalent erblickt, einen Ersatz und Schutz für den drohenden Verlust der Männlichkeit. Und die Technik der Simulation besteht darin, dass die Person eine Fiktion aufstellt und ihr gemäß handelt, als ob sie den entsprechenden Defekt hätte, während sie weiß und daran festhält, dass sie ihn nicht hat. Das psychisch bedingte neurotische Symptom kommt nun, behaupten wir, in der gleichen Weise zustande, nur mit dem Unterschied, dass die Fiktion nicht als Fiktion erkannt, sondern für wahr, für echt gehalten wird.* *
Siehe Theoretischer Teil: III. Kapitel, »Die verstärkte Fiktion«.
98 als ] Ausl. 1928 99 zu erreichende ] Änd.: ausreichende 1928 100 Anm.: 1916 von Jalowitz [Änd.: JolowitzK 1928] mit Recht bei der Kriegsneurose festgestellt, von OppenheimK bekämpft. Siehe »Kriegsneurose«, 2. Bd. 1919 Änd.: Siehe »Kriegsneurose« in »Praxis und Theorie«, l. c. 1922 101 l. c. ] Änd.: 2. Bd. 1919 Änd.: in »Praxis u. Theorie der Individualpsychologie«, l. c. 1922 102 stellte ] Änd.: stellt 1919 103 Erg.: Odysseus 1919 104 der ] Änd.: wenn er 1928
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Wie so oft kann uns die beste Einsicht in diesen Zusammenhang nicht das neurotische Symptom, sondern ein Grenzfall liefern, der in der Mitte zwischen beiden Erscheinungen liegt. Wir meinen die Psychologie des Mitleids. Wir sind imstande105, das Leid eines anderen so mitzufühlen, als ob es unsere eigene körperliche Sphäre beträfe. Ja, wir können sogar das Leid eines andern vorausfühlen, bevor es noch eingetreten ist. Bekannte Beispiele dafür sind die ziehenden, ängstlichen Gefühle mancher Menschen, wenn sie andere, Dienstmädchen, Dachdecker oder Zirkuskünstler in gefahrdrohender Situation erblicken oder106 auch nur daran denken. Es betrifft dies Symptom zumeist Personen, die an Höhen[139]angst leiden, und sie benehmen sich bei Gefahren anderer genau so, wie wenn sie selbst etwa beim Fenster oder auf einem Felsen stehen107. Sie weichen unter dem Gefühl der Angst zurück, legen eine Sicherungsdistanz zwischen sich und die meist gar nicht gefährliche Stelle, kurz, sie haben eine Empfindung, die sie etwa hätten, wenn sie selbst in Gefahr wären.108 Hier springt die zu weit getriebene Vorsicht109 deutlich in die Augen, die bei Neurotikern so stark ist, dass sie nicht einmal über eine Brücke gehen, in der Angst, sie könnten ins Wasser fallen oder sich hineinstürzen. Ähnliche Mechanismen der Vorsicht habe ich in allen Fällen von Platzangst gefunden, und sie zeigen uns an, dass wir einen Patienten vor uns haben, der der Entscheidung ausweichen will, ob er auch irgendeiner erst von uns aufzufindenden Situation, in der Regel110 dem geschlechtlichen Partner, gewachsen ist. Auch bei allen anderen Phobien macht, wie ich bei Besprechung der Syphilidophobie (Zeitschrift f. Ps., 1. Bd., 1911, Heft 9)111 gezeigt habe, diese »Einfühlung« (LippsK) in einen noch nicht vorhandenen, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit zu gewärtigenden Zustand die charakteristischen Symptome und zeigt sich als ein sehr geeignetes Mittel der Sicherungstendenz, ersetzt in vielen Fällen geradezu den nicht unbesieglichen112 Charakter der Moralität. Genau betrachtet liegt auch jedem Charakterzug eine derartige Einfühlung zu Sicherungszwecken zugrunde, wie die Formel in Kants kategorischem ImperativK für das gesamte Charakterbild deutlich zeigt, wenn dieser Philosoph das Handeln jedes Einzelnen von dem 105 106 107 108
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imstande ] Änd.: gezwungen 1919 Erg.: wenn sie 1922 stehen ] Änd.: stünden 1922 Erg.: Immer sind dies Menschen, die sich oben glauben und als wichtigstes Lebensprinzip festhalten, nicht »herabzufallen«. In dieser seelischen Spannung zeigt sich das Widerspiel von »Oben – Unten« sowie ihr starkes Minderwertigkeitsgefühl. – »Ich bin nicht sicher!« 1928 Erg.: und Einfühlung 1919 Erg.: einem Ruf des Lebens oder 1919 (Zeitschrift bis Heft 9) ] Änd.: (2. Bd.) 1919 Änd.: (s. »Praxis und Theorie«) 1922 unbesieglichen ] Änd.: unbesiegbaren 1919
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Gesichtspunkte geleitet wissen will, als ob es zur allgemeinen Maxime erhoben werden sollte*. Es gibt also entsprechend den sichernden Fiktionen des Simulanten113 bei allen Menschen, insbesondere aber bei den neurotisch disponierten Kindern Fiktionen, Maximen114, Leitsätze, die bestimmt sind, eine stärkere Sicherung durchzuführen, entsprechend dem stärkeren Minderwertigkeitsgefühl dieser Kinder. Und auf ihren Kern reduziert, lauten diese Formeln alle: Handle so, als ob du ein ganzer Mann115 wärst oder sein wolltest! Der Inhalt dieses Handelns, der sich meist116 als ein Ersatzstück117 qualifiziert, ist durch Erfahrungen des Kindes,118 durch die Art seiner Organminderwertigkeit119 vorausbestimmt, erleidet aber durch die besonderen Umstände seiner neurotisch gewerteten Erlebnisse spezielle Abänderungen, die als Formenwandel erkannt werden müssen. Die Organminderwertigkeit bestimmt durch die sie begleitenden psychischen Unlusterscheinungen die Richtung der Begehrungsvorstellungen und leitet dergestalt im psychischen Überbau die Kompensationsvorgänge ein. Auch hier sehen wir die Sicherungstendenz am Werk (Adler, »Studie«, l. c.) und meist in der zweckdienlichen Weise, dass sie mit einem Sicherungskoeffizienten arbeitet und so zur Überkompensation Anlass gibt. (J. Reich K, Kunst und Auge, Öst. Rundschau 1909.) In der Entwicklung etwa des Stotterers DemosthenesK zum größten Redner Griechenlands, von Clara SchumannK, die hörstumm war, zu einer vollendeten Musikerin, des kurzsichtigen G. FreytagK, vieler Dichter und Maler mit Augenanomalien zu visuellen Talenten, und der vielen Musiker mit Gehörsanomalien120 sehen wir, wie sich die *
Vaihinger, »Die Philosophie des Als Ob«
113 Anm.: Die Diagnose der Simulation kann nur unter Vergleich der Vorgeschichte des Beschuldigten, die frei sein müsste von der neurotischen Furcht vor der Entscheidung, mit der aktuellen Situation gestellt werden, wobei noch in Betracht kommt, dass auch der Neurotiker simulieren kann. Die Kriegsneurose (Tremor, Astasie, Abasie, Mutismus etc.) hat die psychologisch schlecht orientierten Neurologen vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. In ihrer Unsicherheit griffen sie zu einer Fiktion, diagnostizierten Neurose, behandelten aber, als ob es sich um Simulation handelte. So kamen die elektrische Folter und ähnliche sadistische Übungen zu ihrer traurigen Berühmtheit. Siehe »Kriegsneurose«, 2. Bd. 1919 [Änd.: Siehe »Kriegsneurose« in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. 1922] 114 Maximen ] Änd.: Maxime 1928 115 ein ganzer Mann ] Änd.: überlegen 1919 116 meist ] Ausl. 1919 Erg.: oft 1928 117 Erg.: eines Wunsches nach Männlichkeit 1919 118 Erg.: oder 1928 119 Erg.: als richtunggebendes Ziel 1919 120 Gehörsanomalien ] Änd.: Gehöranomalien 1919
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kompensatorische Sicherungstendenz121 durchsetzt. Ebenso auch in jedem schwächlichen Kind, [140] das ein Held sein will, in dem plumpen, schilddrüsenschwachen Knaben, der ein Schnellläufer und später immer der Erste zu werden versucht. Aber die Richtung der Sicherungstendenz muss sich, um zielgerecht zu werden, an Beispiele anlehnen. Und da bietet sich der Mann122 dem Persönlichkeitsgefühl des Kindes viel auffälliger an als die Frau. Ja es ist, als ob ein weibliches Beispiel nur nach anfänglichem Kampf nachgeahmt werden könnte, und zwar nur dann, wenn es nach der Richtung des geringsten Kraftausmaßes123 die Herrschaft zu sichern imstande ist. So war es, wie recht häufig in Fällen von Migräne, auch bei unserer Patientin. Ihre Mutter litt an Migräne. Zahlreiche Autoren hoben den Umstand hervor, dass man so oft eine »Vererbung« der Migräne von der Mutter konstatieren könne. Wir müssen den Gedanken an eine Vererbung der Migräne in gleicher Weise fallen lassen wie den einer organischen Bedingtheit124. Ich habe das Wesen dieser Frage schon einmal (Neurotische Disposition, Jahrbuch Bleuler-Freud 1908125) an dem Falle eines siebenjährigen Mädchens klargelegt und habe mich vorher oft überzeugt, dass dem Migräneanfall ein Gefühl der Unsicherheit und Verkürztheit vorausgeht und dass der Anfall dazu dient, meist nach der Art der Mutter, das ganze Haus in den eigenen Dienst zu stellen. Es leiden der Mann, der Vater, die Geschwister nicht weniger darunter als der Patient. Und so ist die Migräne in die Reihe der neurotischen Erkrankungen zu setzen, die dazu dienen, die Vorherrschaft im Hause, in der Familie zu sichern. Dass diese Vorherrschaft männlich gemeint ist,126 auf den Wunsch, ein Mann zu sein, zu reduzieren ist, ergibt sich aus der weiteren Analyse. Aber eine kurze Erwägung betreffs der zur Zeit der Periode auftretenden Migräne lehrt uns auch in diesem Falle die Unzufriedenheit mit der weiblichen Rolle verstehen. Zusammenhänge mit Epilepsie, Ischias, Trigeminusneuralgie habe ich öfters kennengelernt. In meinen Fällen stellte sich regelmäßig heraus, dass 121 Erg.: auf dem Wege vermehrter Aufmerksamkeit, verstärkten Trainings und erworbener Kunstfertigkeit 1928 122 der Mann ] hervorgehoben 1922 123 Erg.: im Empfinden des Kindes 1919 124 Erg.: oder Vererbung bei Neurosen und Psychosen 1919 Anm.: Die Individualpsychologie leugnet die Vererbung von Neurosen und Psychosen. Die von ihr erwiesenen Tatsachen der ererbten Organminderwertigkeit und deren seelische Folgen, das Minderwertigkeitsgefühl, bedeuten keinen Zwang, keine Verpflichtung zur Neurose, wohl aber in unserer Machtkultur eine ungeheuere Verlockung und Verführung zur seelischen Erkrankung. 1922 125 Jahrbuch bis 1908 ] Änd.: siehe »Heilen und Bilden«, l. c. 1919 126 Erg.: oft 1928
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die letztgenannten Erkrankungen in diesen Fällen127 gleichfalls128 psychogen waren und entstanden, als stärkere Sicherungen nötig wurden.129 Unserer Patientin blieb als Einflusssphäre bloß der Vater übrig, den sie wohl ganz gewonnen hatte, dessen Eroberung aber ihr eigenes Ziel nie ganz decken konnte, sodass sich, wie in der Neurose gewöhnlich, ein »Noch, noch mehr!« nachweisen ließ, das den Besitz des Vaters beweisender festlegen wollte. Die Mutter litt an Migräne, und die Zeit ihrer Anfälle war wie gewöhnlich bei Migränekranken auch die Zeit ihrer Alleinherrschaft. Also tat unsere Patientin, die bereits den Wert der Krankheit begriffen hatte, so, als ob sie auch an Migräne litte.* Und es gelang ihr, was auch dem Urmenschen, dem Wilden gelang, als er sich einen Götzen schuf, der ihn133 mit Schaudern erfüllte:134 die selbst geschaffene Migräne. Diese Als-ob-Schöpfung, diese Fiktion135 verselbstständigte sich, sodass sie Schmerz und Trauer erwecken konnte, sobald [die] Patientin ihrer bedurfte. Die schauspielerische Leistung gelang so sehr, dass [die] Patientin136 um ihres tendenziösen Wertes wegen137 die Fiktion138 nicht mehr durchschaute. Ja sie gewann durch sie ein Gefühl der Überlegenheit und Sicherheit gegenüber ihrem Manne, wie vorher [141] über den139 Vater, wenn diese Sicherheit gelegentlich in die Brüche ging.140 Die männliche Einfüh*
In der Arbeit »Über neurotische Disposition« habe ich hervorgehoben, was auch an dieser Stelle gesagt werden muss, dass eine ursprüngliche130 Minderwertigkeit die Auswahl des Symptoms protegiert131. In der Neurose kommt dieser Mechanismus als Krankheitsbereitschaft in den Besitz der Psyche132.
127 in diesen Fällen ] Ausl. 1922 128 gleichfalls ] Änd.: zumeist 1922 Änd.: oft 1928 129 Erg.: Statt der Vererbung ist demnach die neurotische Familienluft zu setzen, die das Kind frühzeitig vergiftet. 1919 Erg.: Neurosen, Kopfschmerz, Migräne, Trigeminusneuralgie und gewisse epileptische Anfälle fand ich oft innerhalb einer psychischen Situation, in der ein Zornanfall hätte erwartet werden können. 1928 130 Erg.: organische 1919 131 protegiert ] hervorgehoben 1919 132 Erg.: bei Migräne besteht eine besondere Ansprechbarkeit der Gefäße durch Affekte, analog dem Errötungszwang 1922 Erg.: Es scheint, dass in den anderen Anfällen durch Affekte ausgelöste Zirkulationsstörungen (Anschwellen von Venen?) das Krankheitssymptom auslösen 1928 133 Erg.: dann 1928 134 Erg.: eine Schöpfung 1922 135 Diese Als-ob-Schöpfung bis Fiktion ] Änd.: Die Endabsicht, diese Fiktion einer Allüberlegenheit 1922 136 Erg.: die Fiktion 1922 137 wegen ] Änd.: willen 1919 138 die Fiktion ] Ausl. 1922
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lung in der Ehe war also auf Beherrschung des Mannes und Steigerung seiner Zärtlichkeit141 gerichtet. Da es dabei immer ein »Noch« gab, mussten weitere Ersatzstücke herbeigeholt werden. Und die wichtigste dieser Ersatzbildungen war, weiterhin keine Kinder zu gebären. Es war, wie in vielen dieser Fälle (einen habe ich in der »Männlichen Einstellung weiblicher Neurotiker«, Zeitschr. f. Psychoanalyse, Heft 4, 1910142 beschrieben), im Hause ein Gemeinplatz geworden, dass eine Frau, die an solchen Kopfschmerzen litt, kein zweites Kind haben durfte. Schlaflosigkeit, Unmöglichkeit des Einschlafens nach zufälliger Störung, Hinweis auf Schwierigkeiten der Wohnung, Schutzmaßregeln und Verzärtelung des einzigen Kindes vervollständigten die Sicherung.143 Dass diese Erscheinungen bloß ein neues Gesicht für den alten Wunsch der Manngleichheit waren, bewies schon ihr erster Traum: »Ich befand mich mit Mama am Bahnhof. Wir wollten den kranken Papa besuchen. Ich fürchtete, den Zug zu versäumen. Da tauchte plötzlich der Papa auf. Dann war ich in einem Uhrengeschäft und wollte mir einen Ersatz für meine verloren gegangene Uhr kaufen.« Der Mutter, die von ihr ungemein verehrt wird, fühlt sie sich überlegen. Ebenso dem Vater, der ihr alles zu Willen tut. Krank = schwach.144 Der Vater ist vor einiger Zeit gestorben. Kurz nach seinem Tode bekam sie einen ihrer schrecklichen Migräneanfälle. Im Traume lebt er wieder auf, und seine Person bedeutet für sie eine Erhöhung ihres Persönlichkeitsgefühls.145 Sie ist seit jeher ungeduldig, fürchtet immer, zu spät zu kommen. Ihr Bruder ist früher wie sie gekommen, ist ein Mann geworden. Sie muss sich beeilen – »mit einem Sprunge machts der Mann, mit hundert Sprüngen machts die Frau« –, wenn sie bis zur Höhe des männlichen Persönlichkeitsgefühls gelangen will. Am Vortage des Traumes eilte sie ins Konzert und war durch die Mutter aufgehalten worden. Die Frauen verspäten sich häufig, sie will es nicht. Die Wirklichkeit erinnert sie daran, dass sie doch wie die Mama eine Frau ist. Dieser Gedanke liegt in dem Bild des Zusammenseins mit der Mutter am Bahnhof. Ihr kämpferischer Affekt, der identisch ist mit ihrem männlichen Protest, richtet sich gegen den Mann, gegen den Vater. In der weiteren Folge der Analyse tritt oft der entwertende Gedanke zutage, die Frau sei stärker, 139 über den ] Änd.: gegenüber dem 1919 140 Erg.: Das war die Lichtseite ihres Leidens, die sie [Erg.: nie 1928] genoss, während sie und ihre Angehörigen immer nur mit der Schattenseite beschäftigt schienen. 1922 141 Zärtlichkeit ] Änd.: Folgsamkeit 1928 142 Zeitschr. bis 1910 ] Änd.: 2. Bd. 1919 in »Praxis und Theorie«, l. c. 1922 143 Anm: MollK hat später unabhängig von mir die gleichen Tatsachen festgestellt. 1922 144 Krank = schwach ] Ausl. 1922 145 Anm.: Ich habe öfters eine ähnliche Bedeutung in »Träumen von Verstorbenen« nachweisen können. Die Spitze richtet sich gegen die Gegenwart. 1922
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lebenskräftiger und gesünder als der Mann. Dazu kommt als weiterer Anreiz zum Kampfe, dass »der Vater (der Mann) plötzlich auftaucht«. Dieses Bild ist vom Schwimmen genommen und bedeutet in der neurotischen Perspektive immer das »Obensein« im Gegensatz zum »Untensein«.146 Während also [die] Patientin fürchtet, den Zug zu versäumen, zurückzubleiben, einem andern gegenüber – aus dem Zusammenhang zu ergänzen: dem Manne gegenüber – zu unterliegen, merkt sie mit immer zunehmender Erfahrung, dass der Mann vorne, oben ist. Die Verwendung eines räumlichen Bildes, einer abstrakten Raumvorstellung, um das Gefühl der Zurückgesetztheit zu illustrieren, ist in der Neurose (s. »Syphilidophobie«, l. c.147) wegen seiner Eignung, durch fiktive, abstrakte Gegensätzlichkeit – Nichts oder Alles! – die Kampfstellung vorzubereiten, im weitesten Ausmaße vorzufinden. Ebenso ist es ein viel[142]geübter unbewusster Kunstgriff in der Malerei, die148 – weil vorwiegend von Männern geübt – oft die Macht der Frau, ebenso die Furcht vor ihr durch die räumliche Höherstellung zum Ausdruck bringt149. Auch in den religiösen und kosmogonischen Fantasien drängt sich die Vorstellung einer Überlegenheit oft in dieser räumlichen Verlegung nach oben durch.150 – Dass in dem Traume unserer Patientin das räumlich-gegensätzliche Schema nach der Analogie »Mann – Weib« durchschlägt, findet sich auch in dem Nebeneinander der Patientin und der Mutter – »mit der Mutter« – angedeutet. Dieser erste Traum der Patientin in der Behandlung beginnt also mit Erwägungen über die Rolle des Mannes und der Frau. Man darf es niemals unterlassen, auch wenn die Überzeugung des Psychotherapeuten bezüglich der Bedeutung dieses Problems für die Neurose felsenfest ist, vorurteilslos die Fortsetzung des Traumes151 in Betracht zu ziehen und neue bestätigende Daten abzuwarten und zu vergleichen. Die weiteren Erklärungen der Patientin betrafen eine Uhrkette, die durch die Schuld ihres Mannes in Verlust geraten war. An den Verlust einer Uhr kann sie sich nicht erinnern. Über die Bedeutung der im Traum an Stelle der Kette gesetzten Uhr befragt, antwortet [die] Patientin affektvoll, aber scheinbar »vorbeiredend«, nicht der Verlust der Kette, sondern eines an dieser befindlichen Anhängsels habe sie betrübt. – Um kurz zu sein, die an einer Damenkette herabhängende Uhr ist identisch mit dem verloren gegangenen Anhängsel, um welches Patientin trauert und für das sie nach einem Ersatz sucht. 146 Dieses Bild bis sein« ] Ausl. 1919 147 s. »Syphilidophie«, l. c. ] Änd.: s. »Syphilidophobie«, 2. Bd. 1919 s. »Syphilidophobie« in »Praxis und Theorie«, l. c. 1922 148 die ] Ausl. 1922 149 bringt ] Änd.: zu bringen 1922 150 Erg.: »Das ewig Weibliche zieht uns hinan.«K 1919 151 des Traumes ] Ausl. 1922
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Der Traum begann mit einer bildlichen, in räumliche Darstellung gebrachten Gegenüberstellung von minderwertiger Weiblichkeit und mehrwertiger Männlichkeit und schließt folgerichtig mit einem Ausdruck des Strebens nach einem »Ersatz« für die verloren gegangene Männlichkeit. In dieser konstruierten fiktiven Leitlinie mussten auch der Charakter, die Affektreaktion, die Bereitschaften und die neurotischen Symptome liegen, wie sich auch in der Folge zeigte. Die Charakterzüge der152 Ungeduld, Unzufriedenheit, des Trotzes und der Verschlossenheit ergaben sich demnach wie alle anderen als sekundäre Hilfslinien, die in Abhängigkeit von der leitenden Fiktion zur Erreichung einer männlichen Höhe standen.153 [143]
152 Erg.: Herrschsucht 1922 153 Erg.: Weitere Gedankengänge zeigte ihr tendenziöses Hervorheben des verstorbenen Vaters, wodurch sie ihre Trauer künstlich verstärkte und verlängerte, was als starker Griff gegen die Umgebung fühlbar wurde. 1919
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Der Befund grausamer Charakterzüge in allerfrühester Kindheit lässt sich in der Analyse von Neurosen und Psychosen ungemein häufig erheben. Man tut freilich Unrecht, an die Lebensäußerungen der ersten zwei Jahre unseren moralischen Maßstab anzulegen und Kraftleistungen solcher Kinder, die wirklich noch jenseits von Gut und Böse stehen, bereits als sadistisch oder roh einzureihen, wie es oft zu geschehen pflegt, wenn Eltern oder Erzieher aus der Vorgeschichte von Psychopathen erzählen. Denn psychisch1 oder in unserem Falle neurotisch werden diese Äußerungen erst, wenn sie einem bestimmten Zwecke dienen2 und dazu unter Abstraktion und mit vorausblickender Tendenz konstruiert werden3*. Dass sie sich immer aus Möglichkeiten und Fähigkeiten des Erlebens aufbauen, berechtigt natürlich nicht zur Annahme eines konstitutionellen Faktors. In der Tat findet man den Charakterzug der Grausamkeit immer nur als kompensatorischen Überbau bei Kindern, die auch sonst durch ihr Minderwertigkeitsgefühl zu frühzeitigem und überstürztem Ausbau ihres Persönlichkeitsideals gedrängt werden. Begleitende Züge von Trotz, Jähzorn, sexueller Frühreife, Ehrgeiz, Neid, Habsucht, Bosheit und Schadenfreude, wie sie regelmäßig von der leitenden Fiktion erzwungen werden und die Kampf- und Affektbereitschaften formieren und mobilisieren helfen, geben das bunt wechselnde Bild des schwer erziehbaren Kindes4. Die Herrschsucht solcher Kinder tritt in der Familie und im Spiel, zumeist auch im Gang, in der Haltung und im Blick deutlich hervor. Im Spiel und in *
Siehe auch Wagner v. JaureggK, »Über krankhafte Triebhandlungen«, Wiener klin. Wochenschr. 19125
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psychisch ] sic! 1912–1928; vielleicht statt psychotisch? neurotisch bis dienen ] hervorgehoben 1922 Erg.: wenn sie einem Bezugssystem angehören 1922 Bild bis Kindes ] hervorgehoben 1922 Erg.: Sehr oft findet man als Ausgangspunkt ein weiblich gewertetes Gefühl von Weichheit und die Tendenz, Empfindungen der Hingabe in rohen und grausamen Akten zu ersticken. 1919 Erg.: Gefühlsscheu, Abneigung gegen Zärtlichkeiten, gegen Gratulationen, Kondolationen, gegen das Grüßen zeigen uns die Versuche, das Gemeinschaftsgefühl zu sprengen. 1922 Anm. ab 1919 ausgelassen.
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den frühesten Gedanken über die Wahl eines Berufes dringt ihr grausamer Zug oft verschleiert durch und lässt sie Henker, Fleischhauer, Polizisten, Totengräber, Wilde, aber auch Kutscher, »weil sie die Pferde«, Lehrer, »weil sie die Kinder schlagen können«, Ärzte, »weil diese schneiden können«, Soldaten, »weil sie schießen können«, Richter etc.6 als Idealfiguren aufstellen.* Auch das Forscherinteresse mengt sich häufig drein, und das Quälen von kleinen und größeren Tieren und Kindern, Erwägungen und Fantasien über mögliche Unglücksfälle, die oft die nächsten Angehörigen betreffen könnten, das Interesse für Leichenzüge und Friedhöfe, für sadistische Erzählungen, die das Gruseln erzeugen, nehmen7 ihren Anfang. Der nächste Zweck dieser aufgepeitschten Grausamkeit ist, die stets gegenwärtigen, gleichzeitigen Möglichkeiten der Schwäche, des [144] Mitleids,8 weil sie zur männlichen Leitlinie in Gegensatz stehen, nicht auftauchen und wirksam werden zu lassen. Die allgemeine Verbreitung dieses Hanges, männlich zu sein, der zur Überlegenheit über den9 anderen führen soll, erweist sich nirgends so deutlich wie an der unschuldigen10 Schadenfreude; beim Nervösen kann diese11 allerdings überaus stark betont werden und auf die unsinnigste Art zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls verwendet werden. La RochefoucauldK spricht es in seiner neckischen Weise aus, »dass es im Unglück unserer Freunde etwas gäbe, was uns nicht ganz unangenehm sei«12. Ich hörte einen Patienten laut auflachen, als er von dem Erdbeben in Messina unterrichtet wurde. Er litt an starken masochistischen Anwandlungen. Zwangslachen tritt oft auf, wenn der Patient sich einem überlegenen Menschen gegenübersieht, einem Lehrer etwa oder einem Vorgesetzten, der mehr als die gewohnte Autorität13 beansprucht. Man findet bei solchen Patienten eine ausgesprochene Neigung, andere zu beherrschen oder zu quälen, zuweilen sadistische Fantasien, bis man entdeckt, dass sich der Lachzwang, die Herrschsucht und der Sadismus über dem schwachen Punkt des Minderwertigkeitsgefühls aufbauen, um ihn zu kompensieren. – Pyromanie, die Freude * 6 7 8 9 10 11 12
Adler, »Aggressionstrieb«,14 l. c.
etc. ] Änd.: usw. 1922 Erg.: wie zur Übung 1919 Erg.: der Liebe 1919 den ] Änd.: die 1928 unschuldigen ] Änd.: »unschuldigen« 1919 diese ] Änd.: dies 1922 Erg.: ein Ausspruch, der den scharfsichtigen SwiftK mit großer Begeisterung erfüllte 1922 13 Autorität ] Änd.: Höflichkeit 1919 14 Erg.: in »Heilen und Bilden« 1919
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an Feuerbränden und der kaum unterdrückbare Zwang, im Theater, in der Kirche an ein Feuer zu denken oder »Feuer!« zu schreien, scheint nach manchen Ergebnissen unserer Beobachtung auf die Minderwertigkeit der empfindlichen Blase und lichtempfindlicher Augen, respektive auf Vorbereitungen zu deren Kompensation zurückzuweisen.15 Doch dieser Leitlinie der männlichen Grausamkeit drohen in unserer Gesellschaft16 mit ihren ethischen Imperativen große Gefahren und Unfälle, sodass sie nur gedeckt17 beschritten werden kann. Meist kommen Ausbiegungen und Umwege zustande, bei deren Betretung der sadistische Zug vollends oder großenteils verloren gegangen scheint. Da gelingt es dem Nervösen, durch Milde und Weichherzigkeit sich die gleiche Überlegenheit über den Schwachen zu sichern, oder er operiert auf der neuen Linie so geschickt, dass er neuerdings eine Aggression herstellt, um andere zu beherrschen und zu quälen.18 Häufig findet man bei Zwangsneurosen, dass sie ihre verstärkte sadistische19 Leitlinie verlassen haben20 und nun zu Bußübungen und sichernden Maßnahmen gekommen sind, die ganz den gleichen Charakter des Zwanges tragen und auf der Umgebung nicht weniger lasten als die früheren Affektbereitschaften der Patienten,21 in gleicher Weise demnach geeignet sind, das Überlegenheitsgefühl des Nervösen ersichtlich zu machen22. In den großen Anfällen der sogenannten »Affektepilepsie«, der Hysterie, der Trigeminusneuralgie, der Migräne etc.23 biegt die männliche24 Herrschsucht auf den neurotischen Weg der Anfallsbereitschaft um, aber die Machtlosigkeit der Umgebung und ihr Leiden tritt nicht weniger, eher mehr zutage als bei offener Wut und Feindseligkeit, die sich meist in den Intervallen in der früheren25 Weise betätigt. Eine Neigung für Antivivisektion, Vegetarianismus, Tierschutz, Wohltätigkeit zeichnet oft diese guten Kenner fremden Leides aus, sie können keine Gans 15 Erg.: Vor allem freilich liegt es auf der Linie der Vorbereitung, sich im Leben durch herostratische Leistungen [ Erg.: bemerkbar, aber 1922 ] unmöglich zu machen. 1919 16 Gesellschaft ] Änd.: Kultur 1919 17 Erg.: sehr häufig nur in der Fantasie 1928 18 Erg.: Er wird zum Gnadenspender. 1922 19 sadistische] Änd.: herrschsüchtige 1928 20 haben ] Änd.: zu haben scheinen 1928 21 Erg.: die dem Patienten ermöglichen, seine Lebensfragen ungelöst zu lassen 1919 22 das Überlegenheitsgefühl bis machen ] Änd.: den zitternden Ehrgeiz des Nervösen, der ihn lähmt, und sein Lampenfieber ersichtlich zu machen 1922 Anm.: Siehe »Zur Zwangsneurose«, 2. Bd. 1919 Änd.: Siehe »Zur Zwangsneurose«, in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, l. c. 1922 23 etc. ] Änd.: usw. 1922 24 männliche ] Ausl. 1928 25 Erg.: offeneren 1928
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bluten sehen, »klatschen aber in die Hände, wenn ihr Gegner bankrott von der Börse geht«26. Ihr Hang zum Sektierertum stammt aus einem feindseligen, antisozialen Zug und ebenso die heftige Bestreitung fremder Geltung, die sie oft vornehmen, bevor sie ein Urteil haben. Toleranz ist ihnen fremd, sofern sie sie nicht selbst schreiend einfordern. [145] Wenn ich hier Züge zeichne, die allenthalben anzutreffen sind, – sie sind demungeachtet Züge der überall verbreiteten Nervosität und Zeichen einer tiefgegründeten Unsicherheit. Sie sind keineswegs in der menschlichen Natur gelegen, sind vielmehr Formen des missratenen männlichen Protests, der die Sicherung des Persönlichkeitsgefühls durchführen soll. Scheitert er auf einer Hauptlinie, so werden die neurotischen Umwege27 beschritten, und der »Ausbruch« der Neurose oder Psychose erfolgt durch den Formenwandel und durch die Intensitätssteigerung der leitenden Fiktion. Auch die angeborene Kriminalität28 des Kindes und des Verbrechers, wie sie LombrosoK und FerreroK behauptet haben, muss ich leugnen, ebenso StekelsK universelle Kriminalität des Nervösen29.* Sie sind nichts anderes30 als Formen des durch das Minderwertigkeitsgefühl gesteigerten Aggressionstriebes, der sich der männlichen31 Leitlinie bedient32. Der Umschlag in die deutlich sichtbare Neurose erfolgt durch Verlassen dieser geradlinigen Aggression33. Wo die34 Furcht vor der Entscheidung ausbleibt, eine Frühfrucht der sichernden Neurose, und wo sich eine starke Entwertungstendenz gegen Leben, Ehre und Gut des Nächsten erhebt, entsteht das Verbrechen35.** In der entwickelten Neurose aber findet man die36 Erinnerungsspuren der * **
»Aggressionstrieb«, l. c.37 A. JassnyK, »Das Weib als Verbrecher«, Archiv f. Kriminalpsychologie 1911, H. 19.38
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Änd.: einleitendes Anführungszeichen vor ›können‹ 1922 neurotischen Umwege ] hervorgehoben 1919 angeborene Kriminalität ] Änd.: »angeborene« Kriminalität 1919 ebenso bis Nervösen ] Ausl. 1919 Sie sind bis anderes ] Änd.: Hier liegt nichts anderes vor 1919 männlichen ] Ausl 1928 Erg.: und dabei dem Gebote der Gemeinschaft ausweicht 1919 Leitlinie bedient ] Änd.: der Leitlinie auf der unnützlichen Seite des Lebens bedient, sobald die Hoffnung geschwunden scheint, auf der nützlichen Seite den Helden zu spielen. Dabei wird durch Training das Gebot der Gemeinschaft durchbrochen 1928 Verlassen bis Aggression ] Änd.: stärkeren Rückzug 1919 Erg.: prinzipielle 1919 Verbrechen ] hervorgehoben 1919 die ] Änd.: oft 1919 Anm. ab 1919 ausgelassen Erg.: und »Verwahrloste Kinder« in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«
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Grausamkeit und der Kriminalität, ebenso wie die der Sexualität tendenziös übertrieben, falsch gruppiert und festgehalten. Durch die Imagination eines übertriebenen Gewissens und übertriebener Schuldgefühle wird der männliche Protest von der geradlinigen Aggression abgedrängt und auf konstruierte Bahnen der Weichherzigkeit gelenkt. Nur am Affekt, der zeitweise losbricht, in der Analyse des Anfalls, an gelegentlich hervortretenden Charakterzügen, wie so häufig bei Ausbruch einer Psychose und am Endziel der neurotischen Umwege und der aus der Richtung gedrängten Charakterzüge, an der Tatsache der Aufrichtung einer Herrschaft trotz aller Unterwerfung, der Quälerei anderer durch Selbstquälerei, und an den Beimengungen gelegentlich auftauchender, ursprünglicher und geradliniger Aggressionen merkt man, dass das alte überspannte Ziel besteht und nur ein Formenwandel der Fiktion die Richtung des Strebens auf andere, zuweilen scheinbar entgegengesetzte Wege gelenkt hat. So können nach einer durchaus aggressiven Periode, in der Ahnung oder durch das Erleiden einer Niederlage, habsüchtige, brutale, gewalttätige Züge des Psychopathen durch die Errichtung einer fiktiven Instanz, des Gewissens, besser oder sogar allzu aufdringlich an die allgemeinen Leitbilder der Moral herangebracht werden, ebenso wie ja auch aus dem Minderwertigkeitsgefühl heraus die Linien des egozentrischen, bösen Wollens beschritten wurden. »So bin ich denn gewillt, ein Bösewicht zu werden« – in dieser und ähnlicher Weise gestaltet sich nur unmerklich und unbewusst der fiktive Lebensplan vieler Neurotiker, bis ein Blick in den Abgrund den von jähem Schwindel Erfassten von den gefährlichen Stellen reißt und ihn zu stärkerer Sicherung zwingt als unbedingt nötig wäre. Das Gewissen baut sich unter dem Druck der Sicherungstendenz aus den einfacheren Formen des Voraussehens und der Selbsteinschätzung auf, wird mit den Zeichen [146] der Macht ausgestattet und zur Gottheit erhoben – damit der Mensch39 seine Richtungslinien einwandfrei ausbauen40 kann, damit er sich leichter zurechtfindet in der Unsicherheit des Geschehens, damit er die Wahl41 habe unter den Griffen und Kampfesweisen, zu denen ihn sein Wille zur Macht leitet.42
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1922 Erg.: und Adler, Neurose und Verbrechen. Zeitschr. f. Individualpsychologie Bd. IV, 1926 1928 Mensch ] Änd.: Nervöse 1922 seine bis ausbauen ] Änd.: Richtungslinien scheinbar im Einklang mit dem Gemeinschaftsgefühl verfolgen 1919 die Wahl ] Änd.: den Zweifel 1919 Änd.: den sichernden Zweifel 1922 Erg.: Immer aber lockt den Nervösen die Unfruchtbarkeit der Gewissensbisse, der Reue, der Trauer, weil ihr trügerischer Schein ihn hebt und zu veredeln und verschönern trachtet; gleichzeitig enthebt er ihn der Lösung der wirklichen Lebensprobleme. 1919 Erg.: »Gewissensbisse sind unanständig!« (NietzscheK) Es ist immer verdächtig, wenn einer in überspitztem Edelsinn weit über die Linie der Norm hinausschwärmt.
V. Kapitel: Grausamkeit – Gewissen – Perversion und Neurose
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Aber selbst43, um besser die Griffe ansetzen zu können, bringt der Nervöse44 diese Umbildung von Charakterzügen zustande. So, wenn er in der Furcht vor dem sexuellen Partner in neurotischer Perspektive ihm egoistische, grausame, hinterhältige Charakterzüge ganz allgemein und prinzipiell45 zuschreibt. Er wird dann gerne aus seinen Erinnerungen und Regungen jene hervorsuchen und übertreiben, die seinen46 Charakter als herzlich, milde und offen bestätigen. Er wird auch des Beweises wegen öfters so handeln, als ob47 seine Tugenden die Realität des Angeborenen und Unvergänglichen hätten. Eine wichtige Frage muss noch berührt werden. Fast alle unsere nervösen Patienten kommen im Stadium der Tugend zu uns, das heißt nach der Niederlage. Wir müssen demnach darauf gefasst sein, ihren männlichen Protest48 weniger in geradlinigen Charakterzügen und Affektbereitschaften als in den neurotischen Umbiegungen, verstärkten Sicherungen und in der Analyse ihrer Träume und neurotischen Symptome mühsam zu entdecken. Es wird sich erweisen, dass das kindliche fiktive Leitbild nur stärker wirksam geworden ist, und für die zuletzt genannten Fälle, dass die neurotischen Symptome mit stärkerer Wucht zur Entwertung anderer49 führen als die früheren Leitlinien der Grausamkeit und Quälsucht. Denn alle diese Linien sind gespannt zwischen der ursprünglichen Unsicherheit des konstitutionell oder subjektiv Minderwertigen und seiner unerreichbaren fiktiven Persönlichkeitsidee. Wie weit auch der Sadismus, Perversionen, Sexuallibido oder summarisch50 der männliche Protest und die konstruktiven Linien des Charakters in die Tage der Kindheit zurückreichen, sie sind immer aufgebaut nach einem Lebensplan und zeigen sich von ihm abhängig. Die Befreiung51 des Sadismus aus den neurotischen Bereitschaften – nach Freud: aus dem Unbewussten und aus der Verdrängung52 – ist etwa einer Zurückführung der Neurose in ein früheres Stadium, in die Zeit vor der Niederlage gleichzusetzen. Freuds wissenschaftliche Leistung, so bedeutend und folgenschwer sie auch war für das Verständnis
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1922 Erg.: Unser Urteil ist dann darauf hingewiesen festzustellen, ob allgemein Nützliches dabei geschieht oder versäumt wird. 1928 selbst ] Ausl. 1922 Erg.: selbst 1922 Erg.: sich edle 1922 seinen ] Änd.: den eigenen 1919 als ob ] nicht mehr hervorgehoben 1922 ihren bis Protest ] Änd.: ihr Überlegenheitsstreben 1928 zur Entwertung anderer ] hervorgehoben 1922 summarisch ] Ausl. 1928 Befreiung ] Änd.: Erschließung 1919 nach bis Verdrängung ] Änd.: und listigen Heimlichkeiten, aus dem Unbewussten 1919
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der Neurose, gab kein richtiges Bild von der neurotischen Psyche53. Die neurotischen Bereitschaften der Affektsteigerungen, die Züge der übertriebenen Aggression, der Überempfindlichkeit und der geradlinigen kompensierenden Charaktereigenschaften bedürfen einer Erlösung aus ihrer Überspannung54. Ebenso die zuweilen frühzeitig konstruierten neurotischen Perversionsneigungen, die der allgemeinen Furcht vor Entscheidungen durch eine55 Kompromissbildung56 zu Hilfe kommen sollen57. Deshalb ist die Aufhebung des58 Minderwertigkeitsgefühls und der daraus resultierenden Entwertungstendenz – dieser beiden wichtigen Pole jeder neurotischen Einstellung – durch die Einsicht und Überlegung59 des Patienten anzustreben. Denn sie60 sind, wie ihre sexuellen Analogien61 (Sadismus, Masochismus, Fetischismus, Homosexualität, Inzestfantasie, scheinbare Steigerung oder Abschwächung des Sexualtriebs), bereits62 zum Fundament der Neurose63 geworden64. [147]
53 Erg.: beschäftigte sich wie die Gedanken des Nervösen zu sehr mit dem für die Struktur Nebensächlichen 1922 54 Erlösung bis Überspannung ] hervorgehoben 1922 Überspannung ] Änd.: irrtümlichen Überspannung, nicht einer Rechtfertigung durch Hinweis auf »angeborene Triebkomponenten« 1922 55 Erg.: scheinbare 1922 56 Erg.: in Wirklichkeit durch Ausschaltung der gefürchteten normalen Lösung der Liebesfragen 1928 57 sollen ] Änd.: wollen 1922 58 Erg.: irrtümlichen 1922 Änd.: irrtümlich gesteigerten 1928 59 Überlegung ] Änd.: Überlegenheit 1928 60 sie ] hervorgehoben 1922 61 Erg.: und Erscheinungsformen 1919 62 bereits ] Ausl. 1922 63 Erg.: nicht der menschlichen Psyche 1922 64 Anm.: Siehe Adler im »Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie«, Verlag Julius Springer, Berlin 1926, die Artikel »Homosexualität«, »Sadismus« etc. 1928
VI. Kapitel Oben–Unten – Berufswahl – Mondsucht – Gegensätzlichkeit des Denkens – Erhöhung der Persönlichkeit durch Entwertung anderer – Eifersucht – Neurotische Hilfeleistung – Autorität – Denken in Gegensätzen und männlicher Protest – Zögernde Attitüde und Ehe – Die Attitüde nach aufwärts als Symbol des Lebens – Masturbationszwang – Nervöser Wissensdrang
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Die Abstraktion der Begriffe »Oben – Unten« spielt in der Kulturentwicklung der Menschen offenbar eine ungeheuere Rolle, die wahrscheinlich schon an den Beginn des aufrechten Ganges der Menschheit anknüpft. Da jedes Kind dieses Geschehnis in der Entwicklungsreihe wiederholt, wenn es sich vom Boden aufrichtet, die Erziehung auch aus allgemeinen hygienischen Grundsätzen stark nachhilft, ihm das »Untensein«, das Haften und Kriechen am Boden zu verleiden, ja zu verekeln, so mag diese höhere Entwicklung im Kindesalter nicht wenig dazu beitragen, das »Oben« höher zu werten. Ein sicherer Hinweis ist in dem Benehmen kleiner Kinder zu finden, die sich trotzig zu Boden werfen, sich dabei auch wohl schmutzig machen wollen, um sich den Eltern gegenüber zur Geltung zu bringen, dabei aber verraten, dass ihnen der Begriff des »Untenseins« als Fiktion des Verbotenen, Schmutzigen, Sündhaften aufkeimt. In dieser psychischen Geste kleiner Kinder ist wohl auch das Vorbild für spätere, stark überbaute neurotische Züge, insbesondere des pseudomasochistischen Gebarens zu erblicken. Weitere Eindrücke, wie man sie auch aus kultur- und religionspsychologischen Erkenntnissen reichlich gewinnen kann, dürften dem Eindruck der Himmelskörper entnommen sein. Wie das Kind, so kamen auch die Urvölker dazu, die Sonne, den Tag, die Freude, die Erhebung, das »Obensein« einander gleichgesetzt zu fühlen, während sie das »Unten« mit der Sünde, dem Tode, dem Schmutze, der Krankheit, der Nacht recht häufig in Verbindung brachten. Die Gegensätzlichkeit des »Oben – Unten« in den modernen Religionssystemen ist nicht minder deutlich bei den Alten zu finden. Einer Arbeit von K. Th. PreussK über »die Feuergötter als Ausgangspunkt zum Verständnis der mexikanischen Religion« (Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 1903) entnehmen wir die besondere Ausprägung dieses Gegensatzes und der Verbindung von »Unten – Oben«. Der Feuergott ist zugleich der Gott der Toten, die mit ihm am Ort des Herabsteigens wohnen. Als Bilder des »Oben – Unten«, d. h. des Hinabstürzens ins Totenreich, galten umgestürzte Gefäße, hinabstürzende
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[148] Menschen, und in diesen räumlichen Gegensatz fasste man Gedanken von erhaltender und zerstörender oder schreckender Tätigkeit*. Des Weiteren wirken als ausgestaltend auf den Raumbegriff des »Oben – Unten« Empfindungen und Eindrücke aus der Kindheit, die den Gegensatz noch verschärfen. Das Fallen, nach unten Fallen, ist schmerzhaft, schimpflich, unehrenhaft, zuweilen strafbar. Nicht selten ist es die Folge einer Unachtsamkeit,1 geringer Vorsicht2, und kann deshalb auch diese Empfindungsspuren als warnende Erinnerung dauernd aufnehmen, sodass »Untensein« als prägnanter Ausdruck des »Gefallenseins«, der Unachtsamkeit, der Ungeschicklichkeit, der Niederlage empfunden werden kann, nicht ohne den Protest auszulösen oder zumindest anzuregen, der sich gegen das hinzutretende Gefühl der Minderwertigkeit richtet. Man findet ferner in dieser Kategorie des »Unten – Oben«, von denen bei jedem3 das andere mitgedacht wird, bei Normalen und Neurotikern Gedankengänge beigemischt, die einen Gegensatz von Sieg und Niederlage, von Triumph und Minderwertigkeit ausdrücken. Im Einzelnen tauchen in der Analyse Erinnerungsspuren vom Reiten auf, vom Schwimmen, vom Fliegen, vom Bergbesteigen, vom Hinaufklettern und vom Stiegensteigen, als deren Gegensätze sich das Tragen eines Reiters, Albdruck, Untergehen im Wasser, Herabfallen, Herabstürzen, Hemmung in einer Auf- oder Vorwärtsbewegung zeigen. Je abstrakter und bildhafter die Erinnerung wird, im Traum, in der Halluzination, in einzelnen neurotischen Symptomen, umso deutlicher sind Übergänge wahrzunehmen, die einen sexuellen4 Einschlag zeigen; dabei wird das männliche Prinzip, oft nur in der Auffassung einer stärkeren Kraft, als das »Oben«, das weibliche als das »Unten« dargestellt. Dass Raufereien und ihre Ergebnisse diese Wertung unterstützten5, ist leicht zu erkennen. In den für das Leben vorbereitenden Spielen der Kinder (Karl GroosK) ist dieser Zug nach »oben«6 regelmäßig zu finden. Ebenso in den kindlichen *
Für manche7 wertvolle historische Hinweise zu meiner Arbeit bin ich Herrn Professor Dr. D. OppenheimK besonders verpflichtet.
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Erg.: Ungeschicklichkeit 1919 Erg.: oder der Anlass, bei dem man ausgelacht wurde 1919 ausgelacht wurde bis dauernd aufnehmen ] Änd.: ausgelacht wurde. Deshalb werden auch diese Empfindungsspuren [Änd.: Empfindungen 1928] als warnende Erinnerung dauernd aufgenommen 1922 Erg.: antithetisch 1928 sexuellen ] Änd.: männlich-weiblichen 1919 unterstützten ] Änd.: unterstützen 1928 Erg.: als ein Ringen nach Überlegenheit 1928 manche ] Änd.: viele 1919
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VI. Kapitel: Oben–Unten – Berufswahl – Mondsucht . . .
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Gedanken über künftige Berufe8. Bei fortschreitender psychischer Entwicklung findet man regelmäßig die bremsende Wirkung der Realität, sodass die Abstraktion des »Oben« sich irgendwie konkret einzukleiden versucht. Dabei ist ungemein häufig die Vorsicht nach Art der Höhenangst am Werke und wendet den Wunsch, Dachdecker zu sein, zur Berufswahl eines Baumeisters, macht aus dem Aviatiker einen Konstrukteur von Flugmaschinen, aus dem Wunsch kleiner Mädchen, wie der Vater zu werden, den erfüllbaren, als Mutter zu herrschen. Sicherungstendenz und männlicher Protest nützen die sich ergebenden Leitlinien des »Obenseinwollens« aufs Äußerste aus. Unter dem Drucke dieser Fiktion ist der Neurotiker bald zu männlicher Entschlossenheit, zu Kampf und Streit, zu hastigem Drängen, bald wieder zu vorsichtigem, zögerndem, zweifelndem Tun genötigt. Er ist so9 in die Lage versetzt10, die Rechnung seines Lebens anzusetzen, und das auch in Fällen, die sich der Aufmerksamkeit des anderen noch entziehen. Ja er muss Situationen herauswittern, festhalten, aufbauschen oder arrangieren, deren Wert uns doch allzu gering erscheint. Verfolgen wir dieses Gebaren im Einzelnen. [149] Ein klein gewachsenes 25-jähriges Mädchen stellt sich mit der Klage über häufigen Kopfschmerz, Affektausbrüche, Arbeits- und Lebensunlust vor. Spuren der Rachitis sind allenthalben wahrzunehmen. Die Kindheitsgeschichte deckt ein ungeheures Minderwertigkeitsgefühl auf, das insbesondere wegen der Bevorzugung eines jüngeren Bruders durch die Mutter und durch dessen intellektuelle Überlegenheit in fortwährender Spannung erhalten wurde. Der sehnlichste11 Wunsch dieser Patientin war immer gewesen: groß, sehr klug und ein Mann zu sein. Die vorbereitenden Attitüden zur Erreichung dieses männlichen Persönlichkeitsideals nahm sie, soweit sie konnte, vom Vater12. Wo ihr als kleinem, dummen Mädchen diese Möglichkeit fehlte, hat sie durch Affektbereitschaften des Jähzorns und der Wut, durch Simulation von Dummheit, Ungeschicklichkeit und Krankheit, nicht zuletzt durch das Arrangement von Faulheit ihren Angehörigen gegenüber, insbesondere im Trotze gegen die Mutter ihr imaginatives13 Persönlichkeitsgefühl gesichert. Ich übergehe die von ihr konstruierten Linien der Männlichkeit, der Bosheit und des Trotzes, will auch nicht ihren flammenden Ehrgeiz, noch ihren Hang zur Lüge und Prahlerei auseinandersetzen, sondern ich werde mich begnügen zu zeigen, wie 8 9 10 11 12 13
Anm.: Siehe KramerK, »Berufsfantasien« in »Heilen und Bilden«, l. c. 1919 so ] Änd.: ununterbrochen 1922 versetzt ] Änd.: gebracht 1922 Erg.: bewusste 1922 Änd.: unbewusste 1928 vom Vater ] Änd.: aus dem Vorbild des Vaters 1922 imaginatives ] Änd.: imaginiertes 1919
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in der Sucht, »oben zu sein«, alle diese Züge vereint sind und der Entwertungstendenz dienen. Zu diesem Zwecke will ich an einen ihrer Träume anknüpfen, der einen bescheidenen Hinweis auf die Psychologie der »Mondsucht« enthält. Der Traum lautet: »Ich bin mondsüchtig geworden und bin allen Leuten auf den Kopf gestiegen.« [Die] Patientin hat vor einigen Tagen von Lunatikern sprechen gehört. In ihren Erklärungsversuchen zu diesem Traumbild taucht eine Reihe ehrgeiziger Gedanken auf, die unter anderem auch in ein sexuelles14 Bild der Vorherrschaft über ihren zukünftigen Mann gekleidet sind. Von früher her erinnert sie sich an Traumbilder, die sie auf einem Manne*, auf einem Pferde reitend darstellen. Ich habe nie einen veritablen Mondsüchtigen behandelt. Aber in Ansätzen findet man dieses neurotische Symptom gelegentlich angedeutet. Es erweist sich, ebenso wie der Flugtraum, der Traum vom Treppensteigen etc. als der dynamische Ausdruck des »Obenseinwollens« im Sinne der männlichen Aggression17. Bei einem Patienten, der einen stark masochistischen Einschlag zeigte, fand ich angestrengte Versuche, während seines Schlafes mit den Beinen voraus an der Wand, zur Decke des Zimmers hinaufzugelangen. Die Deutung ergab, dass der Patient sich aus einer als weiblich18 gewerteten fantasierten oder realen Situation durch Umkehrung zum männlichen Protest wandte, gleichzeitig diesem durch sein Streben nach »oben« in einem symbolischen Modus dicendi Ausdruck gab. Der zweite Gedanke des Traumes: »Ich bin allen Leuten auf den Kopf gestiegen«, ergibt den gleichen Sinn. [Die] Patientin verwendet hier eine geläufige Redensart, um auszudrücken, dass sie allen überlegen ist19. Ihr Trachten nach oben ist nur dialektisch, in einer Antithese20 zu verstehen, wie sich ja überhaupt das Denken des unsicheren Neurotikers gewöhnlich21 in scharf gegensätzlicher Richtung, in einem »Entweder – [150] Oder« bewegt,22 in einer nach *
Eine Frau15 auf dem Manne reitend, findet sich direkt oder in Verkleidungen häufig als Sujet der Malerei. Ich erinnere an Burgkmair, Hans Baldung Grien, DürerK und die mehrfachen Abbildungen, welche16 die Geliebte Alexanders auf Aristoteles reitend zeigen.
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sexuelles ] Ausl. 1922 Eine Frau ] Änd.: Das Bild: eine Frau 1922 Erg.: Kampaspa 1922 im Sinne bis Aggression ] Änd.: der männlichen Aggression gleichwertig 1922 Erg.: und masochistisch 1922 ist ] Änd.: sei 1922 Antithese ] hervorgehoben 1922 gewöhnlich ] Änd.: immer 1919 Erg.: wie 1928
VI. Kapitel: Oben–Unten – Berufswahl – Mondsucht . . .
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dem Schema des Gegensatzes von Männlich – Weiblich gefassten Abstraktion. Die zahllosen Mittelwege gelten nicht, weil die beiden neurotischen Pole, das Minderwertigkeitsgefühl auf der einen, das überspannte Persönlichkeitsgefühl auf der anderen Seite – unter der verstärkten Sicherungstendenz nur die gegensätzlichsten Werte zur Apperzeption gelangen lassen.* Der Gedankengang dieses Traumes lässt uns die neurotischen Bereitschaften der Patientin erraten. In der Tat ist ihr männlicher Protest, ihre Neigung zur Herabsetzung anderer, ihr Ehrgeiz, ihre Empfindlichkeit, Trotz, Unnachgiebigkeit, Eigensinn auffällig genug. Die psychische Bedeutung ihres Kopfschmerzes lugt aus diesem Traum hervor. Die bisherige Analyse ergab nämlich, dass das Symptom immer im Falle des Gefühls einer Herabsetzung, einer Verkürztheit, einer »Verweiblichung« eintrat – mit den Worten des Traumes gesprochen: wenn man ihr »auf den Kopf stieg«. In den Phasen des Kopfschmerzes,24 also durch die Konstruktion dieser »Schmerzbereitschaft« mit folgender Schmerzhalluzination war sie der Herrschaft aller, insbesondere der Mutter, entrückt, konnte ihr Persönlichkeitsgefühl ähnlich, nur stärker steigern, wie durch Trotz, Faulheit und Eigensinn, kurz: war den andern »auf den Kopf gestiegen«. Bei Kindern ist dieser Hang nach oben unverkennbar und deckt sich vielfach mit dem Wunsche, groß zu sein. Sie wollen in die Höhe gehoben werden, klettern mit Vorliebe auf Sessel, Tische und Kasten und verbinden mit diesem Streben meist die Idee, sich als unfolgsam, mutig, männlich zu zeigen. Wie nahe daran die Tendenz der Entwertung anderer grenzt, geht aus ihrer Freude hervor, wenn sie »an Größe« nunmehr den Erwachsenen übertroffen haben. Die Steigerung des Aggressionstriebes zeigt sich bei frühzeitig neurotischen Kindern oft deutlich in dieser Schaustellung. So kommt es gelegentlich vor, dass kindliche Patienten im Ordinationszimmer des Arztes unablässig auf Stühle, Bänke und Tische steigen und so ihre Geringschätzung25 an den Tag legen. *
Dass auch die tastenden, in Unsicherheit begonnenen Anfänge der Philosophie dieses gegensätzliche Denken hypostasiert haben, wurde bereits hervorgehoben. Karl JoelK spricht von diesem Problem in der »Geschichte der Zahlprinzipien in der griechischen Philosophie« (Zeitschr. f. Philosophie u. philos. Kritik, Bd. 97) und hebt dort hervor: »Der eigentliche Urgrund der Antithetik ist die instinktive, eigensinnige Denkstarre, die nur Absoluta kennen will.«23
23 Erg.: In der Neurose erhält sich diese Antithetik (»Aut Caesar aut nihil«K), weil der Nervöse in seinem verstärkten Minderwertigkeitsgefühl nur die stärksten Bestätigungen seines Wertes anerkennen will. 1928 24 Erg.: wo man Wut erwarten könnte 1928 25 Erg.: und mangelhafte Vorbereitung für die Gemeinschaft 1922
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Die Gefahr des Fallens, der Unfälle bei diesem Streben nach oben, sowie die landläufige Erziehung zur Feigheit zwingen die meisten dieser Kinder zu einem Formenwandel ihrer Leitlinie oder zu neurotischen Umwegen, wobei sich die Furcht vor der Höhe, die Höhenangst wie ein Memento meist in symbolischer Weise vor Unternehmungen und Wagnisse aller Art stellt und so eine fertige Bereitschaft begründet, die den Schein einer neurotischen Aggressionshemmung hervorruft26. – Zuweilen geht die Sucht nach der Höhe zum größten Teil in Tendenzen zur Herabsetzung anderer über. Die Neigung bei Dementia praecox, alle Möbel umzulegen, ist so regelmäßig in Verbindung mit Herabsetzungen der Umgebung, dass die Vermutung gerechtfertigt ist, dies sei einer der fiktiven, abstrakten Umwege, auf denen der Psychotiker sein Persönlichkeitsgefühl erhöht.27 – In übertragener Form äußert sich diese Tieferstellung anderer in der Schmähsucht, insbesondere aber in [151] der neurotischen Eifersucht und im Eifersuchtswahn. – Eine weitere, interessante Art der Herabsetzung fand ich bei Nervösen in ihrer Fürsorge, in ihrem ängstlichen Gehaben und in ihren Befürchtungen um das Schicksal anderer Personen. Sie benehmen sich, als wären andere unfähig, ohne ihre Hilfe für sich zu sorgen. Sie geben immer Ratschläge, wollen alles selbst zu Ende bringen, finden immer neue Gefahren und ruhen nicht, bis sich der andere kopfscheu und entmutigt ihren Händen anvertraut. Nervöse Eltern richten dadurch viel Schaden an, auch in der Liebe und in der Ehe kommen auf diese Weise viele Reibungen zustande.28 Einer meiner Patienten, der zweimal in seiner Kindheit überfahren wurde, verband sein beschädigtes Persönlichkeitsgefühl mit dieser Erinnerung und führte jedes Mal, wenn er Begleitung hatte, den anderen am Arme ängstlich über die Straße, als ob er ihm die Fähigkeit, ohne Hilfe hinüberzukommen, nicht zutraute. Viele haben Sorge, wenn ihre Angehörigen die Wagenbahn benützen, schwimmen oder Kahn fahren, geben ununterbrochen den Kindermädchen Weisungen, setzen auch ihre Entwertungstendenz mit übertriebener Kritik und mit Zurechtweisungen fort. In der Schule, im Amt wird man bei nervösen Lehrern und Vorgesetzten diese nörgelnden Herabsetzungen immer finden. Bei Ausübung der Psychotherapie ist es ein Haupterfordernis, ähnliche Bereitschaften auszuschalten, auch wenn der Patient sie provoziert. Es läuft diese Forderung auf den Verzicht drückender Autorität29 hinaus. Wer 26 die den bis hervorruft ] Änd.: die wie eine Bremsvorrichtung [ hervorgehoben 1922 ] wirkt und den Patienten jedes Mal auf seinem Wege stecken bleiben lässt 1919 Erg.: Fälle von Platzangst drücken auf diese Weise zuweilen ihre Furcht vor dem Herabsteigen von ihrer Höhe aus und schielen dabei auf ihre Größe 1922 27 Die Neigung bis erhöht ] Ausl. 1919 28 Erg.: Was sie damit anstreben, ist die Gesetzgebung für den andern. 1919 Gesetzgebung für den andern ] hervorgehoben 1922 29 Autorität ] hervorgehoben 1919 Verzicht drückender Autorität ] hervorgehoben 1922
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die Überempfindlichkeit des30 Nervösen kennengelernt hat, wird wissen, wie leicht er31 sich herabgesetzt fühlt32. Einer meiner Patienten, der an Hysteroepilepsie litt und immer sich gebärdete, als wolle er sich völlig unterordnen, fiel einmal vor meiner Türe in Bewusstlosigkeit. In solchen »Zufällen« ist deutlich die Tendenz der Entwertung zu erkennen. Noch im Dämmerzustand sprach er mich als »Lehrer« an und stammelte, er werde einen Brief bringen. Nach dem Anfall bestätigte er mir, er sei diesmal ungern gekommen. Die Analyse ergab, dass er mich – was aus der Situation heraus jederzeit möglich war – zum Lehrer gemacht hatte, um33 die nötige Kampfdistanz34 zu gewinnen, handeln zu können, als ob er wie in der Schule zum Kommen verpflichtet wäre und eine briefliche Entschuldigung bringen müsste. Nachdem er sich gefühlsmäßig in diese Situation der Minderwertigkeit versetzt hatte, konnte er die daraus abgeleiteten, kompensierenden Bereitschaften spielen lassen, um mich herabzusetzen35. Ein 20-jähriges Mädchen leidet an der Zwangsvorstellung, in keiner Trambahn fahren zu können, denn es tauche immer, wenn sie aufsteigt36, der Gedanke auf, zur selben Zeit könnte37 ein Mann absteigen und unter die Räder geraten. Die Auflösung ergab, dass diese Zwangsneurose den männlichen Protest der Patientin im Bilde des »Obenseins« darstellt, welchem entsprechend der Mann nach »unten« kommen, herabgesetzt werden müsste, den Schaden tragen sollte38, den er der Frau zufügt.* Dazu baut die verstärkte Sicherungstendenz noch den Vorbau der Angst, die der Furcht vor dem Manne weiter genügen soll: Auch dann, wenn ihre Überlegenheit gesichert wäre, könnte sie sich zur Ehe noch nicht entschließen, denn ihr zukünftiger Mann würde es [152] recht schlecht bei ihr haben.39 – Man versteht von diesem Punkte aus das *
Laura MarholmK führt folgendes Gedicht an: »Die Frau, das ist ein Rosenstock, / Kommt her, frisst auf der Ziegenbock.«
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des ] Änd.: der 1922 er ] Änd.: sie 1922 fühlt ] Änd.: fühlen 1922 Erg.: durch einen Selbstbetrug 1928 Kampfdistanz ] hervorgehoben 1919 herabzusetzen ] Änd.: zu erschrecken. 1919 Anm.: Wie die im Zeitalter des Sozialismus eintretende Veränderung, Sinken der Autorität, unser ganzes Leben, insbes. Erziehung und Schule, verändern muss, soll andernorts [ Änd.: anderswo 1928 ] gesagt werden. 1919 aufsteigt ] Änd.: aufsteige 1922 könnte ] Änd.: könne 1922 sollte ] Änd.: solle 1922 Erg.: Und schließlich verhindert sie durch die neurotischen Schwierigkeiten ihren Eintritt in die Frauenrolle. 1919
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oft unbegreifliche Streben mancher neurotischer Mädchen und Frauen, ihrem Partner die größten Opfer und schwersten Prüfungen zuzumuten, soferne sie dadurch zu einer Erhöhung ihres Persönlichkeitsgefühls, zum Scheine der Manngleichheit zu gelangen hoffen.40 Das Denken in schroffen Gegensätzen ist also allein schon ein Zeichen der Unsicherheit und hält sich an den einzig realen Gegensatz41, den zwischen Mann und Frau. Damit ist auch schon ein Werturteil gegeben, das unmerklich in jede »Antithetik« (JoelK)42 hineinfließt, weil diese immer nach dem Bilde der Zerlegung des Hermaphroditen in eine männliche und weibliche Hälfte vorgenommen wird. PlatoK hat dieser Idee vielleicht am reinsten Ausdruck gegeben. Und die menschliche Anschauung hat sich bis KantK nicht aus den Fängen ihrer selbstgeschaffenen Fiktion befreien können. – An die Gegensätzlichkeit der Geschlechter aber und an die damit verbundene Höherwertung des männlichen Prinzips klammert sich das neurotisch disponierte Kind, um seiner Unsicherheit zu entgehen und um Richtungslinien für seine leitende Persönlichkeitsidee zu finden. So kommt es, dass diese leitende Fiktion ein männliches Aussehen erhält, und dass bei allem Erleben und Streben des Nervösen der männliche Protest als ordnendes und treibendes Prinzip durchdringt. Im obigen Symbol des räumlichen Gegensatzes von »Oben – Unten« lässt sich der Gegensatz der Geschlechter vorzüglich ausdrücken. Und so wird verständlich, dass in jeder unserer psychologischen Analysen dieser Ausdruck eines scharf gegensätzlichen Schemas irgendwie hervortreten muss. Ob dabei aus den Realien der frühen Kindheit und ihren Eindrücken, aus Beobachtungen des Sexualverkehrs bei Menschen oder Tieren Verstärkungen geholt werden, oder ob nicht das Höhenbewusstsein des Mannes die normale Situation des Sexualverkehrs fixiert hat43, ist eine offene Frage. Das »Obenseinwollen« der nervösen Frau ist durch ihr männliches Leitbild erzwungen und stellt den Versuch einer Identifizierung mit dem Manne vor. Die Aufdringlichkeit und »Denkstarre«, mit der dies, wenn auch auf neurotischen Umwegen, geschieht, bezeugt die ursprüngliche Unsicherheit und Furcht, man werde einmal »unten«, herabgesetzt, weiblich44 sein. So kommt die transzendentale Persönlichkeitsidee zu ihrer beherrschenden Macht, weil sie die Kompensation, die Beruhigung des Minderwertigkeitsgefühls45 »im 40 Erg.: Eine Patientin verhinderte den (weiblichen) Anschluss an die Gesellschaft durch den Zwangsgedanken, sie müsse vor andern den (männlichen) Hahnenschrei ausstoßen. 1922 41 realen Gegensatz ] Änd.: »realen Gegensatz« 1922 42 (Joel) ] Ausl. 1919 43 oder ob bis fixiert hat ] Ausl. 1919 44 Erg.: »nur« eine Frau 1928 45 Erg.: für später 1922
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Jenseits«, in Aussicht stellt. »Ich will oben, ich will ein Mann sein«, spricht dann jede Geste, »weil ich fürchte, als Frau unterdrückt und missbraucht zu werden«46. Damit wird der Ehrgeiz, der Neid etc. verstärkt, und ein ungemein geschärftes Misstrauen wendet sich frühzeitig gegen jede Möglichkeit einer Verkürzung. Bei wirklichen Herabsetzungen aber flammt der männliche Protest auf und führt bei geringfügigen, oft nichtigen Anlässen schon zu den bekannten, unangenehmen Reibungen der Nervösen mit ihrer Umgebung, zu denen prinzipielle Rechthaberei und Gerechtigkeitsliebe, der eigensinnige Scharfsinn und der Scharfblick des Nervösen die Bereitschaften und Griffe bilden, das vorgeschobene Angriffsorgan, um dem Machtgefühl zu seiner47 Bestätigung zu verhelfen. Dabei wird man niemals, insbesondere in Zeiten größerer Unsicherheit, das »Suchen nach unten« vermissen, der verschärfte48 Blick für erlittene Demütigungen und Kränkungen, Verkürzungen und Zurücksetzungen, ferner Arrangements von Depression, Angst, Reue, [153] Schuldgefühlen und Gewissensbissen. Nun werden stärkere Sicherungen angebracht, neue neurotische Symptome und Umwege konstruiert, die neurotischen Charakterzüge werden prinzipieller und abstrakter und das entwickelte Bild der Neurose tritt hervor.* Damit ist die Revolte zur Erzielung52 eines höheren Persönlichkeitsgefühls richtig angezettelt; die Einleitung dazu bildet das Kranksein selbst und *
Während der Niederschrift fand ich einen mit großer intuitiver Kraft geschilderten Typus dieser Art Menschen, bei denen das »Obenseinwollen« besonders krass hervortritt in Alfred v. Bergers49 K »Hofrat Eysenhardt«,50 dessen Lektüre ich allen Psychotherapeuten empfehlen möchte. Man wird in dieser Schilderung den ganzen von uns gezeichneten Typus von einem Dichter geschaut wiederfinden. Der allzu starke Elan des Vaters, das Minderwertigkeitsgefühl des Knaben mit dem kompensatorischen männlichen Protest. – Steigerung des Sexualbegehrens, des Willens zur Macht, Vorbereitung zum Vatermord, Fetischismus, richterliche Laufbahn; – verstärkte Sicherungen bei einer Niederlage; – Konstruktion von Reue, Gewissensbisse, Halluzinationen und Zwangsvorstellungen als rachsüchtige Verwerfung [Änd.: Verwerfungen 1922] des staatlichen Autoritätsgedankens; Verlust eines Zahnes und verstärkte Furcht vor der Frau als Ursache eines weiter gesteigerten männlichen Protestes und damit abermals das Arrangement gesteigerten Sexualbegehrens – alles eindrucksvoll und durchsichtig, eine Schilderung des neurotischen Umweges, die an die [ die ] Ausl.: 1922] Bilder Dostojewskis51 K erinnert und keiner weiteren Erklärung bedarf.
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Erg.: »weil nur der Mann sein Machtgefühl genießt« 1922 seiner ] Änd.: einer 1922 der verschärfte ] Änd.: den verschärften 1922 Alfred v. Berger’s ] Änd.: Alfred Berger’s 1928 Erg.: (s. Näheres 2. Bd.) 1919 Änd.: (s. »Praxis und Theorie«, l. c.) 1922 Erg.: (s. »Dostojewsky« 2. Bd.) 1919 Änd.: (s. »Dostojewsky« in »Praxis und Theorie«, l. c.) Erzielung ] Änd.: Erziehung 1928
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die Krankheitsbereitschaft, die in irgendwelcher Weise der Umgebung gegenüber als Machtmittel ausgenützt wird. Eine 21-jährige Patientin kommt wegen schwerer Depression, Schlaflosigkeit und Zwangsgedanken, dass sie sterben müsse53, in Behandlung. Es erweist sich, dass sie immer54 neurotische Charakterzüge gehabt hat. Die Zwangsneurose brach aus, als es mit einer Beziehung zu einem Manne, der sie heiraten wollte55, ernst wurde. Diese typische pathogene Situation bringt das neurotische »Nein« zutage, und während [die] Patientin ihre Vorbereitungen zur Ehe trifft, mit ihrem Jawort nicht zögert, arrangiert sie die Neurose und benimmt sich so, als ob sie nicht heiraten wollte. In allen diesen überaus häufigen Fällen ist der nächste Schritt ein Junktim, das also lautet: Wenn ich gesund werde, meine Zustände verliere etc. (bei Männern oft: wenn ich potent werde), so werde ich heiraten. Durch dieses Junktim, das einem Schwanken, einem Zweifel, einer besonderen Vorsicht gleichwertig ist, entschlägt sich der Patient aller Verantwortlichkeit, hat den Riegel bis auf Weiteres heimlich vorgeschoben, kann aber so tun, als ob er ganz gerne die Türe öffnen wollte. Die Züge des Misstrauens, der Rechthaberei, Herrschsucht und des »Obenseinwollens« treten in der Analyse deutlich hervor, und man kann leicht wahrnehmen, dass die Furcht, dem Partner nicht gewachsen zu sein,56 die Bedrohung des Überlegenheitsgefühls in der Liebe oder Ehe, den heimlichen Rückzug verlangt57 und das neurotische Symptom konstruiert58. Nicht selten findet man eine tendenziöse Wertung der eigenen Sexualität, von der ohne Beweis oder durch Zuhilfenahme von Erinnerungen, wie sie jedem zu Gebote stehen, oder auch durch Inszenierung von unbewussten Fälschungen der Eindruck gesucht wird, dass sie zu gering oder zu groß59 sei, als dass man eine Ehe riskieren könnte60. Die weiteren Mitteilungen der Patientin gingen dahin, zu erklären, sie könne nichts unternehmen, da bei allem der Gedanke auftauche, es sei ohnehin unnütz, da61 alle sterben müssen. Wie man sieht ein unsinniger Gedanke, der gleichzeitig sinnreich62 ist,63 vor allem aber Zeit und Entwicklung zum 53 54 55 56 57 58 59 60
dass bis müsse ] hervorgehoben 1922 immer ] Änd.: von Kindheit an 1919 wollte ] Änd.: sollte 1919 Erg.: und die mangelnde Vorbereitung zur Gemeinschaft 1919 verlangt ] Änd.: verlangen 1919 konstruiert ] Änd.: konstruieren 1919 Erg.: pervers 1919 als dass bis könnte ] Änd.: sodass man keine Ehe riskieren könne 1919 Erg.: HerderK hat bei seiner Sammlung von Brautliedern die auffällige Tatsache vermerkt, dass sie alle traurigen Inhalts seien 1922 61 Erg.: doch 1922 62 Erg.: und soweit in den Vordergrund geschoben 63 Erg.: dass er den Ablauf des Lebens stört 1928
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Stillstand bringt64 und65 der Patientin den Eintritt [154] in die Ehe unmöglich macht. Die Überzeugung, dass [die] Patientin nur gezwungen zum Arzt gekommen war, eine Heilung gar nicht anstrebte, vielmehr bloß den Beweis der Unheilbarkeit verlangte, ergab sich demnach von selbst. Einer ihrer Träume zeigt vieles aus dieser Konstellation. Er lautete: »Es kommt ein Arzt zu mir, der mir sagt, ich möge, wenn mir Gedanken über das Sterben kommen, springen und singen. Dann würden die Gedanken verschwinden. Dann wird ein Kind (zögernd) – ein größeres – gebracht. Es hat Schmerzen und weint. Es bekommt eine Medizin, damit es sich beruhigt und einschläft.« Der Arzt im Traume hat sie einmal behandelt, als sie als Kind an Scharlach erkrankt war. Im Traume spricht er in Worten, die sie während ihrer gegenwärtigen Erkrankung von ihren Angehörigen und von Ärzten immer wieder gehört hat. Er gibt ihr Ratschläge wie einem Kinde, die alle nichts nützen. Diese Gedanken zielen auf mich und drücken die Erwartung aus, auch meine Mittel würden nichts nützen. Selbstverständlich ist dieser Traum in einer Nacht geträumt, in der sie geschlafen hat – zum ersten Male nach einer längeren Periode der Schlaflosigkeit. Da [die] Patientin darin einen teilweisen Erfolg der66 Behandlung sieht, reagiert sie mit stärkerer Aggression67: Auch meine Mittel taugen nichts. Denn: – – –.68 Die zweite Szene ist die Umschreibung einer Geburt. Die zögernde Hervorhebung der »Größe« des Kindes zeigt, wo die Gedanken der Träumerin weilen: bei einem kleinen Kind, bei einem Neugeborenen. Der Ausdruck: Ein Kind wird gebracht (ergänze: zur Welt), ist der Vorstellung vom Gebären entnommen und deckt diese in der skizzenhaften Darstellung des Traums. Das Pulver, welches das Kind bekommt, ist das Schlafpulver der Patientin aus einer früheren Behandlung, ein Hinweis, dass auch die Schmerzen zur Patientin, das heißt zum Gebären, gehören69. Mit anderen Worten drückt hier die Patientin aus: Ich kann nicht schlafen, weil ich an das Gebären mit seinen Schmerzen denke. Gebären, Schmerzen, Sterben, darin sieht sie ihr sicheres Schicksal, deshalb denkt sie an das Sterben, um nicht gebären zu müssen70. 64 65 66 67 68 69
zum Stillstand bringt ] Änd.: als Faktoren [ Änd.: Faktor 1922 ] aufhebt 1919 Erg.: bei der Gelegenheit 1922 der ] Änd.: meiner 1919 Da Patientin bis Aggression ] hervorgehoben 1922 Denn: – – –. ] Änd.: Denn: Alle müssen sterben! 1922 Das Pulver bis gehören ] Änd.: Der Traum zeigt ferner die Situation, die die Patientin vorausahnt, in die sie sich hineingelebt hat: ein schreiendes Kind! Und ich sollte dem Arzte folgen? Etwa springen und singen? 1919 70 deshalb bis müssen ] hervorgehoben 1922 Erg.: Sie schielt an der Hauptsache vorbei. 1922
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Die übertriebene Sicherung gegen das Gebären ist ein Formen- und Intensitätswandel ihrer männlichen Fiktion. Sie betritt, um sich vor der weiblichen Rolle71 zu sichern, den neurotischen Umweg, fixiert unter antizipierender Tendenz den Gedanken an das Gebären und Sterben als Memento und will72 lieber ein Kind sein, ein Pulver bekommen, als psychotherapeutisch geheilt zu werden. Denn ihre Heilung bedeutet die Einordnung in die weibliche Rolle. Nun wendet sich der Kampf in verschärfter Tendenz gegen den Arzt, der die Schlaflosigkeit heilen will. Sie muss ihm überlegen bleiben, muss ihn Unsinn reden lassen und ihm diktieren, dass er sie so behandle, wie sie als Kind – mit einem Medikament – behandelt wurde73. Die Zwangsneurose stellt ihre sichernde Privatphilosophie von der Eitelkeit alles Seins74 vor. Man gewinnt bei unserer Art der Neurosenpsychologie immer den Eindruck, dass die neurotische Gebärde, die eben in Sicht kommt, präzise auf das Finale, auf den fiktiven Endzweck gerichtet ist, etwa wie wenn man auf einem Film des Kinematografen eine der mittleren Aufnahmen untersucht. Die Aufgabe besteht nun darin, diese Gebärde, eben die Symptome, Bereitschaften und Charakterzüge zu erkennen und ihr Ziel begreifen zu lernen. In jeder neurotischen Attitüde liegt der [155] Anfang und das Ziel andeutungsweise verborgen*. Diese Feststellung ist das Fundament jeder78 individual-psychologischen Methode79 und deckt sich mit unseren übrigen Befunden. Man wird deshalb in der Analyse eines Symptoms oder eines Traumes jedes Mal das »Unten« – die Empfindung des Weiblichen80, der Minderwertigkeit – und des »Oben«
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Mit Recht hebt BergsonK das Gleiche von jeder Bewegung hervor. Bei genügendem Wissen und ausreichender Erfahrung kann man in jedem psychischen Phänomen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, aber auch das erstrebte Finale herausfinden. Und so darf jedes psychische Phänomen, auch jeder Charakterzug gleich dem minderwertigen körperlichen Organ als Symbol des75 Lebens aufgefasst werden, als76 Versuch des Aufstiegs, des männlichen Protestes77.
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Erg.: die sie als Niederlage empfindet 1928 Erg.: selbst 1919 muss ihn bis behandelt wurde ] hervorgehoben 1922 Erg.: in der Frauenrolle 1919 Änd.: als Schutz vor der Frauenrolle 1922 Erg.: individuellen 1919 Erg.: individueller 1919 des männlichen Protestes ] Ausl. 1919 jeder ] Änd.: der 1919 Fundament bis Methode ] hervorgehoben 1922 des Weiblichen ] Ausl. 1928
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– männlichen Protest, fiktives Endziel –81 in Spuren wiederfinden, in der Art einer nach aufwärts gerichteten psychischen Attitüde, in einem stark gegensätzlich gefassten, »hermaphroditischen«82 Bild, im neurotischen Umweg, der als solcher die Tendenz charakterisiert, gegen Widerstände durch Kunstgriffe aufzukommen, oder auseinandergelegt83, sodass im Wechsel und Schwanken der psychischen Erscheinungen bald das »Unten« bald das »Oben« zutage tritt. – Oft ist dieses »Obenseinwollen« stark bildlich ausgedrückt, insbesondere in Träumen, aber auch in Symptomen, setzt sich symbolisch als Wettlauf, als Aufflug, als Bergbesteigung, als Treppenbesteigung, als Auftauchen im Wasser etc. durch, während das »Unten« durch Fallen,84 kurz, durch eine Bewegung nach abwärts dargestellt wird. Ebenso häufig findet sich zu dem gleichen Ausdruck das Bild oder die Tatsache des Sexualverkehrs symbolisch verwendet.85 Ich will hier über die Träume eines Patienten berichten, der aus Erinnerungen an Schwäche und86 auffälliges weibliches Verhalten für seine männliche Zukunft fürchtete87. Ein Traum aus seiner frühen Kindheit, der ihn lange mit Schrecken erfüllte, zeigte ihm das Bild, wie er von einem Stier verfolgt wurde. Als Bauernsohn verstand er frühzeitig, dass dieser männliche Verfolger einen Wettlauf gegen eine Kuh, die [der] Patient selbst vorstellte, aufnahm. Als er in die Schule gehen sollte, richtete er seine Schritte geradewegs auf die Mädchenschule und musste unter Anwendung von Gewalt in die Knabenschule gebracht werden. Sein Leben fasste er unbewusst als Wettlauf auf, zu dem er unausgesetzt Vorbereitungen traf. Als er sich um ein Mädchen bewarb, stach ihn sein88 Freund aus.89 Als er vor einer Heirat stand, fürchtete er die Überlegenheit seiner zukünftigen Frau, verfiel in Zwangsmasturbation, hatte gehäufte Pollutionen und bekam einen Tremor, der ihn bei seinen Arbeiten und an der Vorrückung im Amte störte. Natürlich stellte er das Junktim auf, nur dann zu heiraten, wenn er gesund würde, ein Gedanke, der klug und berechtigt erscheint, dem Patienten aber gestattete, wie hinter einem Schleier heimlich gegen die Heirat zu operieren, von der er90 eine Herabsetzung seines Persönlichkeitsge81 männlichen bis Endziel ] Änd.: männlichen Protests, fiktiven Endziels 1919 männlichen Protests ] Ausl. 1928 82 »hermaphroditischen« ] Ausl. 1928 83 oder auseinandergelegt ] Änd.: Häufig sind die Phänomene auseinandergelegt 1919 auseinandergelegt ] hervorgehoben 1922 84 Erg.: durch Kerkermauern, durch Hemmungen, Versäumen eines Zuges etc. 1919 85 Ebenso bis verwendet ] Ausl. 1922 86 Erg.: an 1922 87 für seine bis fürchtete ] hervorgehoben 1922 88 sein ] Änd.: ein 1928 89 Erg.: Er war eben gemäß seiner Neurose vor der Entscheidung zurückgewichen. 1919 90 Erg.: ein Misslingen und 1919
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fühls91 befürchtete. Der Tremor stellte dabei den vorausgefühlten Beginn einer Paralyse vor, die er wegen masturbatorischer Exzesse befürchtete. Nachdem er sich in dieser Art gesichert hatte, bedurfte er noch der Bestätigung seines unheilbaren Leidens, und so stellte er sich den Ärzten weinend vor. Unsere Besprechungen ergaben mir das Bild eines rastlos ehrgeizigen Menschen, der immer die anderen herabsetzen wollte, aber vor einer ernsthaften Entscheidung zurückschreckte. Auch Liebesbeziehungen waren bei ihm in der Hauptsache Mittel, um den Beweis seiner überlegenen Männlichkeit zu erlangen. So stürmisch er sich auch um ein Mädchen bewerben konnte, in dem [156] Augenblick, als es ihm entgegenkam, verlor es jeden Reiz für ihn92. Außerdem knüpfte er, als er der Verlobung näherkam, andere aussichtslose Beziehungen an oder gestaltete sie aussichtslos, lief so seinen Körben nach, um sich durch die Empfindung seiner Einflusslosigkeit auch seiner zukünftigen Braut gegenüber als minderwertig einschätzen zu können93. Daraus gewann er dann immer wieder neu den94 Antrieb, gegen die scheinbar gewünschte Heirat heimlich zu operieren. Einer seiner Träume lautete: »Ich bin bei meinem alten Freunde und spreche mit ihm über einen gemeinsamen Bekannten. Er sagt, was hat der von seinem Gelde, er hat doch nichts gelernt.« Auch der alte Freund, der unseren Patienten bei einem Mädchen ausgestochen hat95, ist in der Unterrealschule durchgefallen und hat das Studium aufgegeben. [Der] Patient ist ihm überlegen, denn er hat die Technik absolviert. Er bekennt sich zu der sublimen Lehre: Wissen ist mehr als Geld – insbesondere da dieses Bekenntnis seiner Fiktion, oben zu sein, zustatten kommt und ihn tröstet. Der gemeinsame Bekannte steht hier statt des von beiden umworbenen, reichen Mädchens. Der Wettlauf beginnt abermals. Unser Patient wird von seinem Rivalen als Sieger erklärt. Ein zweiter Traum aus dieser Nacht macht dies deutlicher. [Der] Patient träumt, »als ob er ein Mädchen aus dem niederen Volke zu Fall gebracht und entehrt hätte«. Die Fiktion dieses Traumes besagt noch um eine Nuance deutlicher, dass er »oben« sei. Das früher umworbene Mädchen ist hier im Sinne des Patienten herabgesetzt, verarmt und erkennt in ihm ihren Herrn.96 Ganz kurz will ich an dieser Stelle erwähnen, dass die Vielheit von Träumen 91 92 93 94 95 96
Erg.: angeblich wegen der höheren Bildung seiner Braut 1922 Erg.: da sein Machtstreben den Boden verlor 1922 Erg.: und bedroht erschien 1928 Erg.: und Halt zu machen 1928 neu den ] Änd.: neuen 1928 hat ] Änd.: hatte 1919 Erg.: Der Mangel des Kameradschafts- und Gemeinschaftsgefühls ist in diesem Falle des Wettläufers ganz besonders deutlich, ebenso das Überwiegen der Machtpolitik. 1919
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in einer Nacht sich daraus erklärt, dass mehrfache Versuche des Vorausdenkens, der probeweisen Lösung eines Problems unternommen wurden. Es stellt sich dabei regelmäßig heraus, dass – wie bei Nervösen leicht begreiflich – ein einziger Weg zur leitenden Persönlichkeitsidee der97 Vorsicht nicht genügt. Der Traum wird dann unter dem Einfluss der weitergehenden Sicherungstendenz noch abstrakter, bildlicher, und man hat dann nach der Deutung aller Träume einer Nacht mehrere psychische Attitüden, aus deren Vergleich die Dynamik98 der Neurose um vieles deutlicher wird99. Im obigen Fall unterwirft sich der Rivale im ersten Traum, und der Reichtum des Mädchens, ihre Macht, wird bezüglich der Geltung entwertet. Der zweite Traum hat dem Mädchen auch diese Macht genommen, sie in die weibliche Situation, »nach unten« gebracht, und dies unter weitestgehender100 Abstraktion, sodass dem in Betracht kommenden Mädchen nichts Persönliches mehr, bloß ihre untergeordnete Rolle geblieben ist. – [Der] Patient äußert übrigens mehrfach Gedanken, dass für ihn nur ein ungebildetes Mädchen vom Lande tauge, der gegenüber er stets die herrschende Person sei.* Auch das Mädchen, die101 er zur Braut wählen will, schreckt ihn wegen ihrer Intelligenz. Dies ist der Zug vieler Neurotiker, der sie immer unter ihrem sozialen Niveau wählen lässt, und so kommen Gedanken und Tatsachen zustande, wie die, eine Prostituierte, ein kleines Mädchen zur Liebe oder Ehe zu wählen, nekrophile Neigungen102 etc. In allen ähnlichen Fällen wird man [157] die Entwertungstendenz gegenüber der Partnerin beobachten können, die unter Konstruktion von Misstrauen, Eifersucht, Herrschsucht, ethischen Prinzipien und Forderungen die Herabsetzung der Frau einleiten soll.103 Ein weiterer Traum zeigt den Wettlauf recht drastisch. »Ich bin mit dem Zug gefahren und sah beim Fenster hinaus, ob der Hund noch mitläuft. Ich dachte, er habe sich zu Tode gelaufen, sei unter die Räder gekommen. Es war mir leid um ihn. Dabei fiel mir ein, dass ich jetzt einen anderen Hund hätte, der aber plump ist.« Mit seinem alten Freund und Rivalen ist er oft um die Wette Rad gefahren und blieb meistens zurück. Jetzt, wo sein Freund sozial schlechter *
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Ein weiterer Traum der gleichen Nacht könnte von der sexuellen Eroberung eines Mädchens handeln.104
der ] Änd.: ihrer 1922 Erg.: und das Ziel 1919 wird ] Änd.: werden 1919 weitestgehender ] Änd.: weitgehender 1928 die ] Änd.: das 1919 nekrophile Neigungen ] Ausl. 1922 Erg.: Das Minderwertigkeitsgefühl hindert dermaßen den Ausbau des Gemeinschaftsgefühls. 1919 104 Ein weiterer bis handeln ] Ausl. 1922
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gestellt ist wie er, »kann ihm der Freund nachlaufen«, wie man in Wien sagt, wenn man sich mit seiner Überlegenheit brüstet. Die Verwandlung in einen Hund ist ein Produkt der Entwertungstendenz und ziemlich häufig. Bei einem Falle von Dementia praecox beobachtete ich, dass der Kranke allen Hunden die Namen bedeutender weiblicher Personen gab. Der Hund stellt auch seine zukünftige Braut vor, die ihm ja auch den Vorrang streitig macht. Ihr Tod würde ihn von seiner Furcht befreien, ebenso wäre er frei, wenn sie einem zweiten Bewerber, wie sein Misstrauen ihm öfters zuflüstert, Gehör schenkte, wenn sie unter die Räder käme. Wenn dieser Fall eingetreten wäre, täte es ihm leid.105 Im Traum setzt er diesen Fall als eingetreten106 und antizipiert seine Trauer. Der »plumpe Hund« ist ein Mädchen, die ihn durch ihr Entgegenkommen um diese Zeit degustiert hatte, mit der er auch fertig geworden ist. Seine Abneigung gegen Personen, die ihm »über« sind, ist grenzenlos und prinzipiell. Eines Nachts träumte er: »Unser Gesangverein gab ein Konzert. Der Platz des Dirigenten war leer.« Der Verein, dem er angehörte, musste einmal ohne den Dirigenten singen, weil dieser den Zug versäumt hatte. Diese Situation scheint ihm die geeignetste: Wir brauchen keinen Dirigenten! Solcher Art ist die gewohnheitsmäßige Gebärde in allen Situationen, in denen nicht er der Dirigent ist. – Wie bei männlichen Nervösen entspringt auch bei weiblichen der Masturbationszwang der Tendenz, einer Entscheidung auszuweichen107 und dadurch »oben« zu bleiben. In den Masturbationsfantasien der Mädchen findet man das Weib oft in der Rolle des Mannes. Auch die Lage, die dabei eingenommen wird, ist zuweilen die des Mannes.108 Bei Männern dient die Masturbation 1. dem Beweise, dass man allein bleiben könne,109 2. zum Vorwand und zur Verhinderung des Sexualverkehrs, den man wegen der Überlegenheit der Frau fürchtet,110 ist also der Sicherungstendenz entsprungen.111 Bringt die Situation die Notwendigkeit stärkerer Sicherungen herbei, so tritt Impotenz oder die entwickelte Neurose auf, nicht etwa als Folge des Verzichts auf die Masturbation112, sondern als verstärkte Sicherung. – Die Masturbationsfantasien bei
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Wenn bis leid. ] hervorgehoben 1922 Erg.: »Edel bin ich auch!« 1922 diesen bis eingetreten ] Änd.: dieses Ereignis als geschehen 1919 Erg.: der geschlechtlichen Gemeinschaft zu entgehen 1919 Auch die bis Mannes ] Ausl. 1919 Erg.: ohne Frau 1922 Erg.: sie 1922 Erg.: Recht häufig drückt sich in der Masturbationsfantasie das einseitige, gegensätzliche Prinzip des Neurotikers: Sieg oder Niederlage, in sadistischen oder masochistischen Bildern aus. 1928 112 Erg.: oder infolge des Autoerotismus 1919
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Nervösen haben oft einen masochistischen oder sadistischen Einschlag, je nach der Phase des männlichen Protestes, deren Darstellung sie dienen.113 Unter den vorbereitenden Handlungen und neurotischen Bereitschaften, die der Sicherung nach »oben« dienen sollen, nehmen die Neugierde, der Forschertrieb, die Neigung, alles sehen zu wollen, der »Voyeurtrieb« der Autoren eine hervorragende Stellung ein. Diese Regungen sind immer der Beweis einer primären [158] Unsicherheit, zu deren Kompensation die Richtungslinien des Forschens114 entworfen werden. Sie dienen besonders in der entwickelten Neurose sekundär den Zwecken der Verzögerung, dem Plane, der Entscheidung auszuweichen, und werden im Leben, speziell in der Erotik, recht häufig aus einem Mittel in einen Zweck verwandelt, auf den sich alle Regungen der Psyche beziehen. Forschen, die Wahrheit suchen, sich in allem zurechtfinden wollen, die bekannte neurotische Gründlichkeit – dies sind dann die Züge, die das Persönlichkeitsgefühl aufbauen und heben oder behüten müssen.115 [159]
113 Die Masturbationsfantasien bis dienen ] Ausl. 1928 Erg.: Nicht die allgemein übliche Masturbation der Jugendlichen ist das Problem, sondern das Verharren bei ihr; die Individualpsychologie zeigt uns in der Masturbation die Erotik des Isolierten, des Gesellschaftsfeindlichen. 1922 114 Forschens ] Änd.: Forschers 1928 115 Erg.: Bei Kindern findet man öfters unausgesetztes Lesen als Ehrgeizbefriedigung und zugleich als Ausbiegung vor den ernsteren Forderungen der Schule. Eine weitere Verwendung liegt dann in der gleichzeitig durch die Störung der Hausordnung gesetzten Trotzattitüde gegenüber den Eltern. 1919
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VII. Kapitel Pünktlichkeit – Der Erste sein wollen – Homosexualität und Perversion als Symbol – Schamhaftigkeit und Exhibition – Treue und Untreue – Eifersucht1
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Eine bei Nervösen häufige Erscheinung betrifft ihre prinzipielle Haltung in der Frage der Pünktlichkeit. Gemäß unseren Auseinandersetzungen über die nervöse Pedanterie ist die Erwartung berechtigt, man werde unter den Patienten ziemlich viele pünktliche Menschen treffen. Es ist in der Tat so. Man kann aber dabei leicht die Beobachtung machen, dass gerade diese Patienten mit dem Gedanken spielen, wie es wäre, wenn sie den anderen warten ließen, ein Gedankengang, der den Gegensatz zum anderen andeutet. Immerhin bleibt in dieser Attitüde der Pünktlichkeit soviel Aggression übrig, dass diese Patienten mit großer Schärfe von allen die gleiche Pünktlichkeit fordern, infolgedessen oft in die Lage kommen, ihre Griffe und neurotischen Anfallsbereitschaften bei der Unpünktlichkeit anderer zu aktivieren. – In anderen Fällen findet man, dass der Stolz es gebietet, regelmäßig zu spät zu kommen, was dann, wenn andere warten müssen, unter einer Flut von mehr weniger haltbaren Entschuldigungen, als Erhöhung des neurotischen Persönlichkeitsgefühls empfunden wird. Dieses »Zuspätkommen« eignet sich ganz besonders dazu, die Furcht vor Entscheidungen zu ersetzen. Die Gesellschaftsfähigkeit wird in erster Linie bedroht, und ebenso sind Berufspflichten sowie Beziehungen zu Freunden und geliebten Personen bald wieder ausgeschaltet. Ermahnungen sind gänzlich fruchtlos, denn die trotzige Attitüde erfasst sie nur als Bestärkungen in ihrem Verharren. Der Nervöse kann mit seinem ewigen Zuspätkommen die Situation beherrschen und seine Angehörigen vor ein unlösbares Problem stellen. Die Auswahl dieser Charakterlinie erfolgt oft nach einer gesuchten Analogie: »weil ich auch unter meinen Geschwistern zu spät, als der Zweite, als der Letzte zur Welt gekommen bin«, »weil ich nicht später gekommen bin, anstelle eines jüngeren Bruders, einer Schwester!« – Man sieht, wie durch ein neurotisches Junktim – Minderwertigkeitsgefühl und Geburtenabfolge der Geschwister2 – eine breite, dauernde Operationsbasis zum Kampfe um die Überlegenheit geschaffen wird. – Patienten, 1 2
Erg.: Konfliktsneurose 1919 Anm.: Siehe »Die Geburtenabfolge von Geschwistern in ihren psychischen Wirkungen«, 2. Bd. und Aline FurtmüllerK »Kampf der Geschwister« in »Heilen und Bilden«. 1919 Änd.: Siehe […] in »Indiv.-psychologischer Erziehung« in »Praxis und Theorie«, l. c. 1922
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die überall zu früh kommen, zeigen auch sonst immer den Charakterzug der Ungeduld. In einem Gefühl der Verkürztheit fürchten sie immer wieder neue Verluste und sichern sich, indem sie fest an ihren »schlechten Stern« glauben. Auch bei diesen Nervösen findet man oft als Gegenspieler einen älteren Bruder, mit dem sie wie in einem Wettlauf begriffen sind, eine analogische Fiktion, keineswegs aber die ursächliche Veranlassung zu ihrem Verhalten. Auch fiktive Erstgeburtsrechte werden für später geborene Kinder oft ein Antrieb zur Erhöhung ihrer Persönlichkeitsidee, wie über[160]haupt nach meiner Erfahrung zweit- und später geborene Kinder die größere Neigung zur Neurose und Psychose, sicher aber3 den größeren Ehrgeiz zeigen.* In ihrem neurotischen Gehaben tritt4 oft als bildliche Analogie die Geschichte von Jakob und EsauK hervor, als Hinweis, dass es darum geht, der Erste zu sein. Ihre Vorbereitungen und Bereitschaften werden immer darauf hinzielen, keinen gelten zu lassen, jede Beziehung mit den5 Mitteln der Liebe und des Hasses so umzugestalten, dass ihre Überlegenheit zutage kommt. Die Entwertungstendenz geht oft über alle Grenzen.6 Dieser Typus schreckt nicht davor zurück, sich zu schädigen, wenn er nur den anderen damit treffen kann. – Im Formenwandel der Leitlinie kommt es oft zu Anschauungen wie der Cäsars: Lieber im Dorfe der Erste als in Rom der Zweite – lieber bei der Mutter, beim Vater die Herrscherrolle spielen, als sich einem ungewissen Los in der Ehe auszusetzen7 etc. – Vorgesetzten, Lehrern, Ärzten gegenüber regen sich häufig Hassgedanken. Sie sind meist Spielverderber in der Gesellschaft, sobald ihre Überlegenheit nicht deutlich hervortritt, und sie brechen jede Freundschaftsund Liebesbeziehung nach kurzer Zeit oft8 ab, wenn sich der andere nicht willenlos unterordnet. Sehr häufig ist ihr Benehmen gleich anfangs brüsk und feindselig, denn sie stehen schon im Kampf, bevor der andere es ahnt. Sie können es nicht vertragen, wenn jemand vor ihnen steht oder geht, und weichen jeder Schulprüfung aus, weil ihnen die Überlegenheit des Prüfers9 unerträg*
Vgl. Frischauf, »Zur Psychologie des jüngeren Bruders«. E. Reinhardt, München. (Im Erscheinen begriffen.)
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die größere bis aber ] Ausl. 1928 In ihrem bis tritt ] Änd.: Ausgenommen sind jene Erstgeborenen, die frühzeitig ausersehen sind, den Vater zu ersetzen, wie man es bei Majoratsherren und orthodoxen Judenfamilien findet, oder dort, wo der Vater durch seinen Leichtsinn versagt und die Hoffnung auf den ältesten Sohn fällt. Sonst tritt in ihrem neurotischen Gehaben 1922 Erg.: neurotischen 1919 Erg.: Auch 1919 Erg.: lieber nichts zu tun, als auf Originalität verzichten 1919 oft ] Ausl. 1919 Erg.: eines Autors 1922
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lich ist. Dass alle diese Erscheinungen auf das Familienmilieu in letzter Linie hinzielen können, oft in die unbewusste Absicht münden, die Familie müsse für sie sorgen, ist ein weiterer Schritt zur Erweisung der Bedeutung und Wichtigkeit der Persönlichkeitsidee dieser Patienten. Zuweilen betreiben sie ihre Neurose, wie andere Erbschleicherei betreiben. Häufig versteckt sich10 in dem neurotischen Bestreben eines männlichen Patienten, der Erste bei der Frau sein zu wollen – sei es, dass er ihr Vorleben mit Eifersucht und Misstrauen durchstöbert und sich stets hintergangen glaubt, sei es, dass er angespannt darüber wacht, ob die Frau einen anderen vorziehen könnte – die Furcht vor der Frau als Ausdruck des Gefühls einer unvollkommenen Männlichkeit. Nur Sicherheit will der Nervöse dann in diesem Punkte haben und geht darin zuweilen so weit, der Frau allerlei Prüfungen aufzuerlegen. Bei der nunmehr entbrennenden Eifersucht ergeben sich die Griffe von selbst, mittels deren die Frau herabgesetzt wird, und das Persönlichkeitsgefühl des eifersüchtigen Nervösen hebt sich dadurch so deutlich, dass er oft nicht imstande ist, sich von der mit Recht oder Unrecht Beschuldigten zu trennen. Letztere Tatsache, die man öfters beobachten kann, hängt ganz an der männlichen Leitidee des Patienten. Er kann den Gedanken nicht ertragen, dass man ihn verlassen könnte11, und konstruiert nun die Tatsachen dergestalt um, dass er von der Liebe, vom Mitleid, von der Furcht vor12 einem Unglück, das die Frau oder die Kinder treffen könnte, gehindert wird, den letzten Schritt zu tun. Vielfach baut sich der Drang, der Erste sein zu wollen, allen zu imponieren, auf einem Minderwertigkeitsgefühl auf, das sich auf die Kleinheit der Gestalt oder der Genitalien13 mit scheinbarem Recht oder mit14 Unrecht bezieht. In der entwickelten Neurose bricht der Patient, [161] mehr [oder] weniger entfernt von der Gelegenheit, wo er sich beweisen sollte, durch Arrangement eines neurotischen Symptoms ab. Als ein häufiges Symptom dieser Art konnte ich Zwangserröten beobachten. In schwächerer Ausprägung findet sich die Tendenz, der Erste sein zu wollen, als allgemein menschlicher Charakterzug, und zugleich mit ihm finden wir auch regelmäßig kämpferische Neigungen bei allen Menschen. Der Wettlauf im Leben beginnt eben schon in der frühesten Kindheit und schafft sich seine psychischen Organe und sichernden Charakterzüge. So findet man oft bei Kindern als hervorragenden Charakterzug, dass sie als die Ersten essen, trinken wollen, dass sie gerne vorauslaufen, um früher als andere an Ort und Stelle zu sein. Nicht selten treiben sie um das fünfte Lebensjahr das Spiel, mit 10 11 12 13 14
Erg.: zugleich 1928 könnte ] Änd.: könne 1919 vor ] Änd.: von 1928 oder der Genitalien ] Ausl. 1922 mit ] Ausl. 1928
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jedem Wagen um die Wette zu laufen, und viele Kinderspiele danken der Idee des Wettlaufes ihren Ursprung. Manche Menschen behalten diese Neigung zeitlebens in Form einer unbewussten Geste, müssen in Gesellschaft immer an der Spitze gehen oder verdoppeln ihre Schritte, wenn ihnen auf der Gasse jemand vorauseilen will. In übertragenem Sinne macht sich dieselbe Tendenz darin auffällig, dass ihre Träger Heroenkultus treiben, wobei der tiefere Sinn, selbst Heros, Achilles, Alexander, Hannibal, Cäsar, Napoleon, Archimedes zu sein, nebenbei zutage kommt, so zugleich die leitende Fiktion als auch das ursprüngliche Minderwertigkeitsgefühl verratend. Auch die Gottähnlichkeit tritt als werbende Fiktion auf und zeigt sich zuweilen im Märchen, in der Fantasie und in der Psychose. Wir haben hervorgehoben, dass bei diesem Stand der Bereitschaften und Charakterzüge alle Bande der Freundschaft, der Liebe bedroht sind, und wenn die stärkere Unsicherheit es verlangt, so drängt sie den Patienten in den Zweifel, lässt ihn Schreckpopanze oder Idealgestalten aufstellen, durch die er sich dauernd vor der Wirklichkeit sichert. Eine Karikatur Cäsars, sucht er nun die Mutter, die kleine Stadt, die kleinen Verhältnisse, wandert zuweilen ruhelos von einer Wohnstätte zur anderen, als ob die äußeren Verhältnisse an seiner Zerrissenheit die Schuld hätten. Oft richtet sich in dieser entwickelten Neurose der Sexualtrieb des15 Patienten auf Kinder, niedrig stehende Personen, Dirnen; homosexuelle, perverse oder masturbatorische Neigungen werden konstruiert und festgehalten, weil der Patient auf diese Weise die Situation leichter zu beherrschen hofft. Denn die Furcht vor der Frau lässt eine natürliche Liebesbeziehung so wenig zu, dass der Nervöse, um seiner befürchteten Niederlage auszuweichen,16 auch zum Ausweg der Ejaculatio praecox, der Pollutionen17 und der Impotenz gelangt. Ähnlich ergeht es den nervösen Frauen von diesem Typus, bei denen häufig die Rivalität in der Gesellschaft, mit Freundinnen in der großen Stadt, mit Schwestern, mit der Tochter und Schwiegertochter heimlich wühlt, zu neurotischen Sicherungen zwingt und so krankmachend wirkt. Bei männlichen Nervösen führt zuweilen die gesellschaftliche Stellung zur Entwicklung der Neurose, sobald der Vorrang im Geschäft, in der Wissenschaft, im Genießen18 infrage kommt und bestritten wird. Wo das Minderwertigkeitsgefühl des jüngeren Kindes das fiktive Leitziel nach dem Erstgeborenen oder Frühgeborenen formt, sind es die mannigfachsten wirklichen und angeblichen Güter, die das Begehren und den Neid des jüngeren Kindes aufstacheln. Fast immer [162] werden dem Pädagogen19 15 16 17 18 19
des ] Änd.: der 1928 Erg.: durch Einfühlung 1919 Erg.: des Aspermatismus 1922 Erg.: bei den drei Typen mit größerem Minderwertigkeitsgefühl 1928 Erg.: feindliche 1922
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Züge auffallen, wie Neid wegen der Größe des älteren Bruders, wegen seiner Behaarung, wegen der Größe seiner Genitalien20. Dass es sich bei diesen Urteilen um fiktive Werte handelt, ergab sich mir auch gelegentlich der psychotherapeutischen Behandlung zweier Brüder, von denen jeder den anderen wegen der größeren Genitalien in der Kindheit beneidet hatte. Ebenso wird eine wirkliche oder in der Natur der Sache gelegene Bevorzugung des älteren Bruders zum Angriffspunkt genommen. Dass er ins Theater, auf Reisen mitgenommen wird, dass er erfahrener im Sexualproblem ist, sich sexuell betätigt, dass er von Mädchen und vom weiblichen Dienstpersonal bevorzugt wird,21 kann das jüngere Kind bei vorliegendem Minderwertigkeitsgefühl mit unendlicher Bitterkeit erfüllen. Denn diese wehmütige, zuweilen hoffnungslose Stimmung ist bei unseren Patienten22 durch frühzeitige Empfindungen von Organminderwertigkeit bedeutsam vorbereitet und kann unglaublich hohe Grade erreichen. Zuweilen erscheint dem Kinde der Wettkampf aussichtslos. Es biegt seine männliche Tendenz nach der pseudomasochistischen* Seite um und will nunmehr sein männliches Leitziel erreichen, indem es seine Krankheits- und Schwächeempfindungen stark unterstreicht, sich maßlos beugt und unterwirft, in der Hoffnung, so den Schutz der Eltern und Stärkeren, die Herrschaft über sie und damit die ersehnte Sicherung im Leben zu gewinnen. Ich sah Fälle, wo lang andauernde Katarrhe in der Kindheit (CzernysK exsudative DiatheseK) durch fortgesetztes Räuspern und Schnauben unterhalten wurden,23 zu Nieskrämpfen und Asthma führten (S. Strümpells AsthmatheorieK), wobei gleichzeitig weibliche Fiktionen von Schwangerschaft und Kastration in Verbindung mit übertriebenen analen Empfindlichkeiten einen symbolisch zu verstehenden homosexuellen Einschlag bewirkten. In einem dieser Fälle war die fiktive weibliche Einstellung so weit gegangen, dass der Patient im Formenwandel seiner Leitlinie zur Identifizierung mit der jüngeren Schwester kam. Und da die Mutter eine auffällige Neigung zeigte, immer zu spät zu kommen, nahm er diese Wahrnehmung und seinen Wunsch an Stelle der später geborenen Schwester zu sein, zum Leitmotiv, um überall im Leben, auch bei mir in der Behandlung, regelmäßig zu spät zu kommen, eine Erscheinung, die nicht bei ihrer Aufdeckung, sondern erst nach eingetretener Heilung schwand24. Bei diesen weiblichen Einstellungen wird der männliche Protest durch einen Umweg über die weiblichen Linien erstrebt, wird durch Tagesfantasien, Reizbarkeit, Rechthaberei, Unzufriedenheit regelmäßig flankiert und ist in 20 21 22 23 24
wegen seiner bis Genitalien ] Änd.: usw. 1922 Erg.: dass es seine abgetragenen Kleider erhält 1922 Erg.: oft 1922 Erg.: und 1919 Anm.: weil sie noch zur Verzögerung der Heilung brauchbar war 1919
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der Regel durch die Furcht vor der Prüfung, vor Entscheidungen, vor dem geschlechtlichen Partner auf Abwege gedrängt, sodass perverse Regungen,25 Zwangsonanie und Pollutionen häufig zu finden sind. Die initialen Organminderwertigkeitserscheinungen können verschwunden oder als Rest noch vorhanden sein. Kleinheit und Anomalien der äußeren Genitalien sind zuweilen nachzuweisen, äußern sich aber in der Regel nur psychisch durch26 die Furcht, dem geschlechtlichen Partner nicht zu imponieren. Diese Gefühlslage führt oft zu Eifersüchteleien, Quälsucht und sadistischen Neigungen, die den Beweis der Potenz, des Geliebtwerdens durchsetzen wollen. [163] Oft ist der Stolz des Patienten so groß, dass er selbst seiner Eifersucht nicht gewahr wird. Gemäß unserer Anschauung ergibt sich als Lösung dieser psychischen Konstellation, dass der männliche Protest neben anderen Wirkungen auch die Verdrängung der Eifersucht herbeiführt, um das Persönlichkeitsgefühl nicht sinken zu lassen. Die Konsequenz dieser Verdrängung ist gering, höchstens dass Patient in unklare Situationen gerät. Im Allgemeinen aber handelt er so, als ob er eifersüchtig wäre, und dies oft mit solcher Deutlichkeit, dass es jeder weiß, nur der Patient es nicht wahrnimmt. Zuweilen allerdings maskiert sich diese Eifersucht mit27 Depression, Kopfschmerz, Flucht in die Einsamkeit etc. Ich will noch den Traum eines Patienten folgen lassen, der wegen Depression und Gesellschaftsangst in meine Behandlung kam, weil er in der vom Patienten vorgenommenen teilweisen Deutung viele der eben beschriebenen Punkte aus dem Wettlauf eines Neurotikers mit seinem älteren Bruder aufweist. »Es war mir, als ob ich mit meinem Bruder Josef eine Wette abgeschlossen hätte, früher an einem bestimmten, im Traume nicht gekennzeichneten Orte zu sein als er.« »Ich sah mich nun plötzlich in einem dreiräderigen kleinen Automobil auf der Landstraße und bemühte mich, mittels einer kleinen, schlüsselähnlichen Handhabe, die ich nur zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen konnte, das Auto so gut als möglich zu lenken. Ich fuhr sehr unsicher und fühlte mich *
Nach unserer Auffassung ist jede Inversion und Perversion gleichnisweise und symbolisch28. Zum Pseudomasochismus siehe »Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie«, l. c.29
25 Erg.: sadistische und masochistische Fantasien 1922 26 äußern bis durch ] Änd.: werden aber in der Regel nur angenommen und verstärken 1928 27 mit ] Änd.: als 1928 28 Erg.: sozusagen der Rest, welcher bleibt, wenn einer die Norm der Sexualität bis zu einem gewissen Grade ausschaltet 1928 29 l. c. ] Änd.: 2. Bd. 1919 Änd.: in: »Praxis und Theorie«, l. c. 1922
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unbehaglich. Auch auf Seitenwege kam ich, auf denen ich nicht weiter konnte. Die Leute, denen ich begegnete, staunten und lachten. Ich sah mich veranlasst, das Auto auf den Rücken zu nehmen und wieder auf die Landstraße zurückzukehren. Dort fuhr ich in derselben Weise weiter.« »Plötzlich sah ich mich mit meinem dreiräderigen Vehikel in einem Zimmer eines Wirtshauses, das mir wohl bekannt war und auf einem nahen Berge meines Heimatsortes liegt. Mein Auto schob ich jetzt in eine Ecke und bekümmerte mich nicht mehr um dasselbe. – In demselben Lokal war mein Bruder schon vor mir angekommen; außerdem saß dort eine mir gut bekannte, stark verschuldete Familie, bestehend aus Herrn und Frau M. und deren beiden Töchtern. Ich und mein Bruder bekümmerten uns nicht um sie. Da kam Herr M. an unseren Tisch, sprach mit uns, und schließlich begaben wir uns mit ihm an den Tisch der Familie, was mir aber nicht angenehm war.« »Der Gedanke einer Wette ist in meinen Gesprächen mit meinem Bruder aufgetaucht. Er gab mir den Rat, mich nicht frühzeitig an jenes leichtsinnige Mädchen zu binden, das ich heiraten wollte, und erzählte mir aus seinem Leben, welch schlimme Folgen dies für einen aufstrebenden Mann haben kann. Ich sah dies ein und versprach, in seinem Sinne handeln zu wollen. Er nahm solche Versprechungen immer sehr ungläubig auf. Dies reizte mich zu einer Wette. In früheren Jahren, als ich noch nichts von dem wusste, was er tief in seinem Innern mit sich trug, da erschien er mir als ein Vorbild, und ich wetteiferte, in Bezug auf Charakter, Denkungsart, Auftreten so zu werden wie er. Jetzt sehe ich, dass ich in vielem nicht so sein darf wie er, um nicht auf ebensolche Wege zu kommen.« »Mit einem Auto kann man sein Ziel früher erreichen als zu Fuß. Dieses Auto jedoch stellt offenbar das Weib dar, an das ich mich ge[164]kettet hatte. Ein dreiräderiges Auto ist unvollkommener als das vierräderige, es fehlt ihm etwas. Ebenso ist es beim Weib. Der Mann ist vollkommen. Dazu der Gegensatz: die kleine Handhabe. Ich habe schon in früher Jugend bei Mädchen nach etwas gesucht. Es war mir etwas unklar an ihnen. Öfters hat es uns unter eine Brücke gezogen, und doch wussten wir nicht, was wir über uns durch die Ritzen zu sehen erwarteten. In jener Zeit – ich konnte fünf Jahre alt gewesen sein – hatte ich von den geschlechtlichen Vorgängen nicht die leiseste Ahnung (»unsicher«), und war auch keiner geschlechtlichen Verirrung anheimgefallen. Ich kann mich aber erinnern, dass mich in jener Zeit schon etwas zu Mädchen hinzog. – ›Die kleine Handhabe am Auto‹ deutet zugleich darauf hin, dass ich auch dem Weibe gegenüber eine zu kleine oder gar keine Handhabe (Penis)30 besaß, weshalb das Mädchen mir überlegen werden musste.« 30 (Penis) ] Ausl. 1922
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»Mit meinem Auto, d. h. durch das Weib, kam ich auf Seitenwege, die ich gar nicht gehen konnte, und die mich dem Ziele, das ich erreichen wollte, meinem Weg zur Höhe, nicht näher brachten.« »Ich nahm das Auto auf den Rücken, das Weib war auf diese Weise mehr denn je über mir31.« »Das Wirtshaus, in dem ich mich endlich mit meinem Bruder wiederfand, steht auf dem Gipfel eines Berges; es deutet dies auf mein heißes Verlangen hin, einmal Großes im Leben zu erreichen, wie ich es von meinem Bruder erwartet hatte.« »Dass ich mit einer stark verschuldeten Familie zusammentraf, deutet darauf hin, dass ich mir schon oft übertriebene Gedanken darüber gemacht, wieviel eigentlich das Weib dem Manne kostet, und dass das Weib nur zu oft Ursache der Verschuldung ist.« »Es ist mir klar, dass auch Gedankengänge an die Masturbation (Seitenwege, Verschuldung) in den Traum hineinspielen, ebenso der fälschliche Zusammenhang von Masturbation und Verkümmerung der Genitalien. Letzterer schrieb ich die Unsicherheit meiner Braut gegenüber zu, zu deren Entfernung (in die Ecke) ich, ohne es zu wissen, alle Anstalten traf. Mein Depressionszustand gilt dem gleichen Ziel, frei von der Frau meine Überlegenheit im Leben zu erweisen.« In unserer Physiognomik der Seele32, als welche wir die Charakterlehre zusammenfassen, haben wir des Öfteren schon von jenen scharf hervorspringenden, prinzipiellen Zügen gesprochen, die wie ein aufdringlicher Beweis der Männlichkeit das Persönlichkeitsgefühl stützen und heben sollen, als wäre eine Deklassierung, die Offenbarung einer weiblichen Rolle zu befürchten. So zeigt uns die übertriebene Schamhaftigkeit mancher Nervöser, Männer, die keine öffentliche Bedürfnisanstalt aufsuchen können, an »Harnstottern« bei Anwesenheit anderer leiden, sich durch Zwangserröten oder Angst und Herzklopfen jeder weiblichen33 Gesellschaft entziehen, den aufgepeitschten männlichen Ehrgeiz, der sich gegen das ursprüngliche Minderwertigkeitsgefühl stützt. Der männliche Protest dieser im innersten Kern unsicheren Patienten treibt sie zu diesem Arrangement, dessen Grenzen in das der Schüchternheit und Ungeschicklichkeit übergehen; oder es kommt zu einem Zusammenwirken dieser und anderer Züge, die sich auch gelegentlich vertreten können. Häufig findet man bei nervösen Personen beiderlei Geschlechts eine Unfähigkeit, angesichts anderer Personen den oft dringlichen Weg zum Klosett zu nehmen. Die größere Schamhaftigkeit [165] weiblicher Personen, insbesondere nervöser, in allen 31 Erg.: und eine Last 1922 32 Physiognomik der Seele ] hervorgehoben 1922 33 weiblichen ] Ausl. 1928
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Beziehungen des Lebens stammt aus dieser, aus der frühen Kindheit übernommenen Furcht, es könnte die Aufmerksamkeit auf ihr Geschlecht gelenkt werden. Ich habe mich oft davon überzeugt, dass die Leistungen von Mädchen und Frauen unter diesem mehr [oder] weniger unbewussten Eindruck erheblich leiden, ja dass oft der Fortschritt in der geistigen Entwicklung – genauso wie bei männlichen Patienten, die sich unmännlich fühlen – die Anknüpfung von gesellschaftlichen, beruflichen und Liebesbeziehungen prompt gehemmt werden, sobald der Patient in eine »weibliche« oder untergeordnete Situation gerät oder diese Erwartung bei anderen voraussetzt. Dieses34 Ergebnis wird in keiner Beziehung berührt, wenn als scheinbare Quelle der Aggressionshemmung offene oder »verdrängte« Sexualerregungen zutage treten. Sie sind nämlich gleichfalls arrangiert, haben den Zweck, die Furcht vor dem Partner zu steigern und den im Lebensplan vorbestimmten Rückzug mit Sicherheit eintreten zu lassen, sind also auch Akte der Vorsicht. Auf diese Vorsicht aber hat es der Nervöse schon in seiner Kindheit angelegt, und in ihr spiegelt sich als Leitlinie der sichernden Schamhaftigkeit das Schamgefühl und die Prüderie der Kultur. Man kann von der übertriebenen Schamhaftigkeit aus der Vorgeschichte der Patientinnen erfahren, auch zuweilen von denen, die sonst ein bubenhaftes Wesen zeigten, und man kann bei nervösen Kindern beobachten, wie sie ängstlich jede Entblößung vermeiden und alle Anwesenden aus dem Zimmer schicken, auch wohl die Türen versperren, wenn sie sich entkleiden müssen. Dieses Verhalten wird man öfters auch bei Knaben wahrnehmen, die unter Mädchen aufwachsen. Der männliche Protest der letzteren äußert sich in diesen Fällen in absichtlicher und unabsichtlicher Herabsetzung des Knaben, bis dieser zur Verheimlichung seiner Männlichkeit gelangt35. Für die Entwicklung der Neurose hat dieser Kunstgriff der Feigheit eine folgenschwere Bedeutung. Er ist gleichwertig etwaigen späteren Kastrationsgedanken und -wünschen des Neurotikers, Wünschen, ein Weib zu sein, sobald ihm die Furcht vor der Frau aktuell erscheint, oder sobald er vor einer Entscheidung fliehen will. Und ist doch ursprünglich aus dem Zwange einer übermännlichen Fiktion erwachsen, was man leicht aus den begleitenden, oft überdauernden Charakterzügen der übertriebenen Herrschsucht, des brennenden Ehrgeizes, der Sehnsucht, alles haben zu wollen, überall der Erste zu sein, aus den Affektbereitschaften des Jähzorns und der Wut, aus der Entwertungstendenz und aus der übergroßen Vorsicht ersehen kann! Ist demnach die nervöse Schamhaftigkeit dem heimlichen Versuche gleichzusetzen, den Mann spielen zu wollen, so tritt dieses »Rollenbewusstsein« (GroosK) bei dem scheinbar gegensätzlichen Charakterzug der nervösen 34 Dieses ] Änd.: Unser 35 Erg.: oder sie als abnorm empfindet 1928
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Schamlosigkeit deutlicher hervor. In Wirklichkeit erweist sich diese letztere Linie als Verstärkung und Fortsetzung der ersteren, als aufdringliche Erinnerung an die Umgebung, dass man ein Mann sei. Die leitende Idee, welche die Bereitschaft oder die Gewohnheit der exhibitionistischen Gebärde36 zeitigt, damit gleichzeitig oft verletzende, taktlose Aufdringlichkeit gegenüber der Umgebung, verrät im Einzelnen den starken männlichen Einschlag. So, wenn bei nervösen Knaben oder Männern der sexuelle Exhibitionismus durchbricht oder sich gewohnheitsmäßig in bestimmten Toilettefehlern äußert. In allen [166] ähnlichen Fällen findet man den Glauben an die Macht des Phallus ganz wie in den antiken Religionskulten als männliches Machtbewusstsein konstruiert und auf diese Art das Persönlichkeitsgefühl gesichert. Auch narzissistische Züge sind regelmäßig beigemengt,37 sodass in diesen Fällen die Attitüde der Sieghaftigkeit, begleitet von Koketterie, von Unfähigkeit, an eine Absage zu glauben, dem Beobachter besonders ins Auge fällt. – Bei schamlosen Mädchen tritt dieser Zug als ungewöhnlich noch deutlicher hervor. In Worten, in der Kleidung, im Betragen, zuweilen nur in Kleinigkeiten, zuweilen zotenhaft oder in Form der Koprologie demonstrieren sie ihre schlechte Einfügung, ihre Unzufriedenheit mit der weiblichen Rolle. Die Operationsbasis ergibt sich für beide Geschlechter dann in der Weise, dass jedes vom anderen die Anerkennung oder eine übertriebene Folgsamkeit38 verlangt. In der Analyse solcher neurotischer Mädchen, zuweilen nur in ihren Träumen und Symptomen, findet man die kindliche Erwartung einer Verwandlung ins männliche Geschlecht, sonst durchgängig als versuchten Ersatz den Willen zur Macht, den Wunsch, oben zu sein. Treffen zwei Personen dieser Art zusammen,39 so ergibt sich nicht selten, dass die verstärkte männliche Leitlinie des einen nach Art eines Wunders, eines Talismans auf die weibliche40 Person vorläufig41 wirkt, weil auch in ihrem Leitziel der Wunderglaube an die Männlichkeit und an ihre Zauberkraft enthalten ist. So wird oft beiden die Erfüllung eines Schicksals, das zufällig scheint, durch die inhärente Kraft ihrer Persönlichkeitsidee aber gegeben ist. – Öfters findet man schamloses Gebaren bei nervösen Mädchen als Antizipation ihrer fiktiven Erwartung; Sie benehmen sich so, als ob sie ein Knabe, ein Mann wären, zeigen sich nackt oder erleben in nervösen Symptomen, Träumen und Fantasien ihre männliche Wiederkunft. Vielfach beobach36 Gebärde ] Änd.: Gebärden 1919 37 Erg.: wie fast regelmäßig, wenn durch ein stärkeres Minderwertigkeitsgefühl das Interesse mehr der eigenen Person sich zuwendet 1928 38 Folgsamkeit ] Änd.: Duldung 1919 39 Erg.: was auffallend häufig geschieht 1922 40 weibliche ] Änd.: andere 1919 41 vorläufig ] hervorgehoben 1922
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tet man bei solchen Patientinnen42 den Versuch, die Zaubermacht des Phallus unter Formenwandlung der Fiktion anderen Körperteilen, z. B. den eigenen Händen, Füßen, Brüsten zuzuteilen, die so ins Männliche gerückt als Fetische in besondere Gunst genommen werden und eine narzissistische Verehrung genießen, wie oft auch das Genitale oder der ganze Körper. Dieser Fetischismus überträgt sich fast regelmäßig auf die Kleidungsstücke und macht einen großen Teil der Zauberkraft der Mode aus, von der wir demnach annehmen müssen, dass sie wie der Fetischismus selbst als Ersatz einer verloren geglaubten, immer wieder zu suchenden Männlichkeit mit ihrer größeren Einflusssphäre anzusehen ist. Ebenso wie die Schamlosigkeit ist die prinzipielle neurotische Untreue mancher kranken Patientinnen nach dem übertriebenen, apperzipierten43 männlichen Ebenbild gemacht. Sie deutet uns einen der Wege an, die durch das männliche Endziel erzwungen werden, ist wie viele der neurotischen Charakterzüge oft nur ideell, Stimmungs- oder Weltanschauungssache (MarczinowskyK)44, oder reicht nur bis zu jener Grenze, wo die Realität der weiblichen Rolle beginnt. Viel häufiger findet man als Sicherung in der Furcht vor dem Manne die Tugend der Treue. Fantasien von Untreue, zuweilen bis zu halluzinatorischer Stärke oder in Träumen, ergeben sich manchmal bei starker wirklicher oder angenommener Unterdrückung durch den Mann, in der Weise von Rachegedanken oder um größere Sicherungen in der eigenen Sphäre, auch durch Heranziehung und stärkere Unterwerfung des Mannes durchzuführen. Prostitutionsfantasien45 deuten in diesen Fällen die neuro[167]tische, übertreibende Perspektive auf die Kraft des Sexualtriebs an und dienen dem gleichen Zweck der Sicherung. Überhaupt ist bei Patientinnen, die leicht von ihrer Sexualität sprechen, die Vermutung gerechtfertigt, dass sie mit großer Übertreibung ihren Schreckpopanz ausmalen. Die Wirklichkeit spricht immer zu ihren Gunsten. Bei Mädchen findet man manchmal die heilige Überzeugung ihrer Untreue ganz im Vordergrund. Man darf daraus schließen, dass ihnen auch ein einziger Mann zuviel wäre, dass sie sich vor der Liebe, besonders aber vor der Ehe schützen wollen: »denn zu welchem Ende müsste meine Leidenschaft mich führen?« Auch die tatsächliche Untreue mancher männlicher und weiblicher Neurotiker führt oft auf die Furcht vor dem einen Partner zurück, dessen Überlegenheit sie fürchten. Das Verständnis der begleitenden Symptome, Angst vor dem Alleinsein, Platzangst, Gesellschaftsangst etc., unsoziales Ver42 43 44 45
Patientinnen ] Änd.: Patienten 1922 übertriebenen, apperzipierten ] Änd.: übertrieben apperzipierten 1922 Marczinowsky ] Ausl. 1922 Anm.: Siehe »Über Prostitution«, 2. Bd. 1919 Änd.: Siehe »Psychologie der Prostitution« in »Praxis und Theorie«, l. c. 1922
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halten, Fixierung von Kinderfehlern, die Krankheit selbst, die Entwertung des anderen Geschlechts geben immer weitere Handhaben, den fiktiven männlichen Zweck dieser Charakterzüge zu erkennen. Oft gibt verschmähte Liebe das Gefühl der Herabsetzung der Persönlichkeit in dem Maße, dass Hass, Gleichgültigkeit oder Untreue als männlicher Protest zustande kommen.46 An dieser Stelle sind noch einige Beobachtungen nachzutragen, wie ich sie bei nervösen Eifersüchtigen machen konnte. Immer gilt es der Suche nach Beweisen des eigenen Einflusses auf den Partner, und jede halbwegs taugliche Situation wird zum Experiment ausgenützt. Die Unersättlichkeit, mit der der Nervöse dann seinen Partner prüft, weist deutlich auf sein dürftiges Selbstvertrauen, auf seine geringe Selbsteinschätzung, auf seine Unsicherheit hin, sodass leicht zu erkennen ist, wie seine eifersüchtigen Bestrebungen dazu dienen, sich mehr in Erinnerung zu bringen, mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und so sein Persönlichkeitsgefühl zu sichern. Man wird in jedem Falle das alte Gefühl der Verkürztheit und Zurückgesetztheit, oft bei den nichtigsten Anlässen, wieder aufleben sehen, mit der alten kindlichen Attitüde, alles haben, den Beweis seiner Überlegenheit von dem Partner erlangen zu wollen. Ein Blick, ein Gespräch in Gesellschaft, ein Dankeswort für eine Hilfeleistung, Sympathiebezeugungen gegen ein Bild, gegen einen Autor, gegen einen Verwandten, selbst ein schonungsvolles Verhalten gegen Dienstboten kann zum Anlass der Operation genommen werden. Man hat in schwereren Fällen den deutlichen Eindruck, als ob der Eifersüchtige nicht zur Ruhe kommen könnte, weil er sich wegen seiner Mängel ein ruhiges Glück nicht zutraut. Nun entwickelt sich die Neurose, indem sie durch Arrangement von Anfällen den Partner an sich zu fesseln sucht, sein Mitleid erregen will oder aber eine Strafe47 für den Partner bedeuten soll. Kopfschmerzen, Weinkrämpfe, Schwächezustände, Lähmungen, Angstanfälle und Depression, Versinken in Schweigen etc. haben den gleichen Wert wie der Verfall in Alkoholismus, in Masturbation, Perversion oder Liederlichkeit. Die Linien des Misstrauens und Zweifels – oft an der Legitimität der Kinder – treten stärker hervor, Wutausbrüche und Beschimpfungen, Pauschalverdächtigungen gegen das ganze andere Geschlecht sind regelmäßige Erscheinungen und weisen auf die zweite Seite der Eifersucht, als einer Vorbereitung zur Herabsetzung des anderen hin. Oft hindert der Stolz das Bewusstwerden der Eifersucht. Das Gebaren [168] bleibt das gleiche. Steigerungen sind nicht selten dadurch bedingt, dass der andere Teil mit unbewusster Genugtuung der Hilflosigkeit des Eifersüchtigen gegenübersteht, sein Überlegenheitsgefühl dadurch begründet und deshalb nicht den richtigen Ton, die zweckmäßige Gebärde findet, den Ausbau der 46 Erg.: Eheliche Untreue finde ich immer als Racheakt. 1922 47 Erg.: und ein Gesetz 1922
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Eifersucht wenigstens einzuschränken. Eifersucht gegen die Kinder führt oft zu schweren Erziehungsfehlern. Die Bedrohung des Wunderglaubens an die Sexualorgane48 durch Geburten oder durch das Altern lässt bei Disponierten fast regelmäßig eifersüchtige Regungen stärker hervortreten.49 [169]
48 Sexualorgane ] Änd.: eigene Zaubermacht 1922 49 Erg.: Als »Konfliktsneurose« [ hervorgehoben 1922 ] möchte ich häufig vorkommende Krankheitsfälle benennen, die, der Zwangsneurose verwandt, dadurch auffällig werden, dass ihre Träger fast ununterbrochen mit ihrer Umgebung in Zank und Streit geraten. Um diese Kampfsituation aufrechterhalten zu können, greifen sie gelegentlich zu allerlei Verdachtsgründen, schuldigen aufgrund allgemein gehaltener, phrasenreicher ethischer Formeln die anderen an, wittern leicht Beziehungen und geheime Pläne, sodass die Verwandtschaft mit der Paranoia nicht von der Hand zu weisen ist. In ihrem Drang nach Konflikten und in ehrgeiziger Rechthaberei lassen sie es zuweilen auch die Unverletzlichkeit der Logik entgelten, sodass sie durch ihr »Gefasel« und durch unsinniges Verhalten in die Nähe der Hebephrenen gerückt werden. Ihr Los ist erschütternd. Immer findet man als Ursache ein feiges Zurückweichen vor ihren wirklichen Lebensfragen. Dadurch wird ihr Hang zu Konflikten gespeist, weil sie durch diese präokkupiert, abgelenkt und von ihren Aufgaben enthoben werden. Versäumt man die individualpsychologische Behandlung, so bleibt der Fall unbehandelbar und ungeheilt und verspielt sein Leben als Dementia praecox, Hebephrenie oder Paranoia. – Diese Art von Unheilbarkeit [ Änd.: »Unheilbarkeit« 1922 ] muss dann noch dazu dienen, die unheilvolle Diagnose und den therapeutischen Nihilismus zu stützen und zu rechtfertigen. 1919
VIII. Kapitel Furcht vor dem Partner – Das Ideal in der Neurose – Schlaflosigkeit und Schlafzwang – Neurotischer Vergleich von Mann und Frau – Formen der Furcht vor der Frau
In diesem Ringen der Nervösen um die Erfüllung des männlichen Leitzieles1 kann es niemals ausbleiben, wie wir hervorgehoben haben, dass sich die Furcht vor der Entscheidung als Furcht vor dem anderen Geschlecht, dem Prüfstein der eigenen Kraft, dem Erfüller der leitenden Idee in hervorragender Weise kundgibt. Die Vorbereitungen für den Kampf um die Überlegenheit werden von Mädchen und Knaben in der Familie, im Spiel, in der Ansammlung von Erfahrungen aller Art, in der Fantasie, in Tagträumen, im Miterleben von wirklichen Ereignissen und Dichtungen so frühzeitig, so reichlich und so einheitlich getroffen, dass in der Zeit der Pubertät sichere2 Bereitschaften für die Liebe und Ehe bestehen und dadurch allein die Auswahl und die Richtung der Erotik in engen Grenzen vorbestimmt ist. Nun überlege man, welcher Art die Vorausbestimmung des Liebesobjektes bei Nervösen sein mag! Da ist die Herrschsucht, die Überempfindlichkeit, der Ehrgeiz, die Unzufriedenheit3 und alle die beschriebenen nervösen, prinzipiellen Charakterzüge4, die sichernden Bereitschaften des Misstrauens, der Vorsicht, der Eifersucht, die Entwertungstendenz, die überall nach Fehlern sucht, die neurotischen Abbiegungen und Umwege, die zuerst die eigene Hörigkeit anstreben, um von dieser Basis aus ihre Überlegenheit zu erweisen oder zu flüchten. Das neurotische Junktim mengt sich ein und verlangt zur Liebe noch eine schwer oder gar nicht zu erfüllende Eigenschaft, oder der Partner soll (PlatoK und viele neuere Sexualpsychologen) »das Fehlende ergänzen«, was nichts anderes heißt, als er soll die von dem Suchenden kompensatorisch konstruierte Persönlichkeitsidee erfüllen oder vorstellen.5 Auch das normale Kind erwartet von der Zukunft und insbesondere von seiner Liebeswahl die Erfüllung seiner Ideale. Aber zur gegebenen Zeit ist es imstande, nachdem es sich von seiner Idee als Mittel hat treiben lassen, von ihr zur Wirklichkeit abzuspringen und mit dieser zu rech1 2 3 4 5
männlichen Leitzieles ] Änd.: Leitzieles der Überlegenheit 1928 Erg.: günstige oder ungünstige 1928 Erg.: der Egoismus, die Ungeduld 1928 Charakterzüge ] Änd.: Charakterstücke 1922 Anm.: Von Jung als Gattenimago nunmehr beschrieben, aber zu sehr als allgemeines Prinzip hingestellt. 1928
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nen. Anders der Neurotiker. Er kann seine neurotische Perspektive aus eigener Kraft nicht verändern, seine starr gewordenen Prinzipien nicht aus dem Spiele lassen, seinen Charakterzügen nicht gebieten. An seine Idee6 gekettet, bringt er die alten Vorurteile und Voreingenommenheiten auch in die Liebesbeziehungen und handelt so, als ob sie ihm nicht Realität,7 sondern die Sicherung seiner Idee, den Triumph seines überspannten männlichen Protestes8 gewährleisten müssten. Und bald ist die Enttäuschung da. Denn sie wird von dem Nervösen als Vorwand, als Sicherung gegen die [170] herabsetzende Distanzwirkung seines fiktiven Finales eingeleitet und protegiert. Sie gibt die geeignete Basis ab, um den Kampf gegen den Partner weiterzuführen, jede Gelegenheit zu seiner Erniedrigung wahrzunehmen. Und dies waren doch die nächsten Ziele der alten9 Bereitschaftsstellungen. Unbewusst schwebt die Furcht vor dem geschlechtlichen Partner in der Seele des wachsenden Neurotikers, als ahnte er für diese kommende Zeit das Ende seiner männlichen10 Fiktion und damit die Vernichtung seines Persönlichkeitsgefühls, des Leitsterns seiner Unsicherheit im Chaos des Lebens. Er stellt Ideale auf, um die Wirklichkeit zu entwerten. Er schraubt sein Persönlichkeitsgefühl oft in narzissistischer Weise so hoch als möglich, um jeden Partner klein erscheinen zu lassen. Er umgibt sich mit der Mauer des krassesten Egoismus, um den Beweis seiner Untauglichkeit sich und anderen zu liefern. Er arrangiert in neurotischer Weise Zweifel, Unsicherheit, Ungeschicklichkeit, hält alte Kinderfehler aufrecht, konstruiert neue Mängel, um nicht anzukommen11. Und er erdichtet Schwäche, Unterwürfigkeit, masochistische Regungen,12 um sich zu erschrecken. Die Macht des Sexualtriebs wird ihm zur »überwertigen Idee« (WernickeK), weil er sie braucht, und er empfindet sein eigenes Sexualverlangen als die Überlegenheit des anderen Geschlechtes. Der Nervöse ist zur Liebe unfähig, nicht weil er seine Sexualität verdrängt hat, sondern weil seine starren Bereitschaften an der Linie seiner Fiktion, an den Linien zur Macht13 liegen14. Die nervösen Karikaturen des Don Juan, der MessalinaK sind trotz ihrer Sexualität Neurotiker. Die Invertierten aber und Perversen sind bereits der ihnen drohenden Klippe ausgewichen und versuchen nur mehr aus der Not eine Tugend zu machen. Und wo scheinbar der Inzestgedanke eine Hem6 7 8 9 10 11 12 13 14
seine Idee ] Änd.: seinen Lebensstil 1928 Erg.: Kameradschaft und Gemeinschaft 1919 männlichen Protestes ] Änd.: Überlegenheitsideals 1928 Erg.: neurotischen 1919 männlichen ] Ausl. 1928 um nicht anzukommen ] hervorgehoben 1922 Erg.: um Vorwände zu gewinnen und 1928 Erg.: und nicht zur Gemeinschaft 1919 an den Linien bis liegen ] hervorgehoben 1922
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mung des Liebeslebens bewirkt, konnten wir zeigen, dass er eine sichere Zuflucht des vor der Entscheidung bangen Nervösen bedeutet, den sichernden15 Weg zur Mutter oder zum Vater, eingekleidet in ein sexuelles Gleichnis. Besser gelingt die Flucht vor dem Partner, insbesondere die Flucht vor der Frau, den nervös disponierten Menschen, die frühzeitig den Weg in einen Beruf, in eine künstlerische Betätigung gefunden haben. Wohl kann sie mitten in ihrer Arbeit die Furcht vor der Entscheidung, vor der Zukunft, vor dem Leben, vor dem Tode ereilen, wenn ihnen eine weibliche Rolle,16 eine Niederlage droht. Oft aber findet der Nervöse in befriedigender Arbeit das Mittel, sein Selbstgefühl zu sichern17, oder seine Begabung gibt ihm im Formenwandel der Fiktion Gelegenheit, in der Kunst nach der Palme der Männlichkeit18 zu ringen. Nicht selten schlägt dann als Motiv und Inhalt seines Schaffens durch, was ihn in die sichernden Gefilde der19 Kunst getrieben hat: die Macht des Weibes, die Furcht vor der Frau. In dieser Richtung liegt der großartige, wirkende Zauber, der aus vielen Mythen, aus Schöpfungen der Kunst und Philosophie zu uns spricht: die Schuld der Frau – das banale cherchez la femmeK – an allem großen Unheil. Bizarr malt sich der Gedanke bei BaudelaireK: »Ich kann mir eine Schönheit ohne ein damit verbundenes Unglück gar nicht vorstellen«, mystisch und erhaben im EvamythosK, dessen Spuren in der Poesie nie vergangen sind. Die IliadeK baut sich auf [171] dieser Grundlage auf, ebenso 1001 NachtK, und wenn wir näher zusehen, jede große und kleine künstlerische Leistung. Was ist ihr leitender Gedanke? Nichts Kleineres als einen Standpunkt zu gewinnen in der Unsicherheit des Lebens, im Kampfe mit der Liebe, im Beben vor der Frau. Δόσ πον στώ!K Die Frau als Sphinx, als Dämon, als Vampir, als Hexe, als männermordendes Scheusal, als Gnadenspenderin – in diesen Bildern spiegelt sich der durch den männlichen Protest aufgepeitschte Sexualtrieb, die in der Karikatur der Frau, in zotenhaften, galligen Ergüssen, in Anekdoten und Schwänken, in herabsetzenden Vergleichen ihr Gegenstück haben. Ebenso drängt das nervöse, spießbürgerliche Mannesbewusstsein und die Gier nach Überlegenheit zu gefesteten Überzeugungen, deren Entwertungstendenz dahin geht, der Frau die Gleichberechtigung, zuweilen auch die Daseinsberechtigung abzusprechen. Eine andere Richtung von Gedankengängen Nervöser führt in der Siche15 16 17 18 19
Erg.: asexuellen 1922 eine weibliche Rolle ] Ausl. 1928 Oft aber bis sichern ] hervorgehoben 1922 der Männlichkeit ] Änd.: des Sieges 1928 der ] Änd.: seiner 1928
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rung vor der Frau konsequenterweise auch abseits von der Gegenwart und vom Leben. SchopenhauerK kam auf diesem Wege – die Vorbereitungen stammen aus seiner feindlichen Beziehung zur Mutter – zur Verneinung des Lebens20, der Gegenwart, aller Zeiten. Etwas weniger folgerichtig und methodisch flüchten viele der Patienten in der Furcht vor der Frau, aber ewig lüstern nach der Erfüllung ihrer Fiktion, in Fantasien und Träume, mit denen sie die Zukunft umspinnen. Jeder Nervöse zeigt diesen Zug, will die Zukunft erforschen und erhellen, um sich rechtzeitig zu sichern. Seine vorsichtig-ängstliche Erwartung gibt den Grundton künftiger Ereignisse:21 grau, düster, voll Gefahren. Denn so müssen sie ihm erscheinen, um als22 Antrieb wirksam zu werden. Nun kann er, die größte Gefahr im Auge behaltend, die Linien seiner Charakterzüge und Bereitschaften haarscharf ausziehen, um sich zu sichern. Jetzt glaubt er, den Weg zu seinem Leitziel gefunden zu haben, und er lässt statt des Ehrgeizes, statt der Sehnsucht nach Sieg und Triumph, nach Ansehen, Erhebung, Macht und Bewunderung oder neben ihnen seine neurotischen Symptome und Anfälle wirken. Er empfindet unter dem Zwang seiner Leitlinie als Gabe der Prophetie23, was nüchterne Menschen in ihrem Vorausdenken und in ihrer Berechnung der Wirklichkeit besitzen. Aber mit den neurotischen Bestrebungen des Vorausdenkens berührt die Aufmerksamkeit Probleme und reiht sie nach der starren, gegensätzlichen Apperzeption des Nervösen ein, die eine Niederlage als Tod, als Minderwertigkeit, als Weiblichkeit und den Sieg als Unsterblichkeit, Höherwertigkeit, männlichen Triumph wertet, während die hundert anderen Möglichkeiten des Lebens in abstrahierender24 Weise ausgelöscht sind. Ebenso ist damit der Weg zur Antizipation künftiger Schrecken und Triumphe sowie zur halluzinatorischen Verstärkung zwecks Sicherung beschritten. Die Psychosen zeigen diesen Weg in klarerer Weise, die Melancholie und die Manie als Antizipationen des reinen »Unten oder Oben«, die Dementia praecox, Paranoia und Zyklothymie in ihren Mischungen25. Anerkennung und Ausbau der Charakterlinien in prinzipieller Weise erfolgen nun unter Rücksichtnahme auf das Endziel. Die Verschärfungen von Geiz und Sparsamkeit sollen vor erniedrigender Not, Pedanterie vor Schwierigkeiten, ethische Charakterzüge vor Schande, alle gleichzeitig vor Liebesbeziehungen, Heirat oder Unterwerfung unter [172] den Partner sichern und die Möglichkeit des Angriffs auf ihn, den bereitstehenden Anlass zu seiner Entwertung liefern. – Das Junktim als ausschließendes Prinzip erfreut sich der größten Wert20 21 22 23 24 25
zur bis Lebens ] hervorgehoben 1922 Seine bis Ereignisse ] hervorgehoben 1922 Erg.: drohender 1922 als bis Prophetie ] hervorgehoben 1922 Erg.: antithetischer 1928 Mischungen ] Änd.: Ausbiegungen vor den Tatsachen des Lebens 1922
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schätzung, wird zum Inventar vergöttlichter Moral oder der höchsten Lebensweisheit. Die Unsicherheit unserer sozialen Zustände, ethische Gesichtspunkte und Schwierigkeiten der Kindererziehung geben den willkommenen Anlass, die vernünftigen26 Grenzen einer natürlichen27 Lebenshaltung28 so eng als möglich zu ziehen, und die Dunkelheit und29 geringe Eignung des Erblichkeitsproblems wird in gleicher Weise vorgeschoben, um allein bleiben zu können. Viele flüchten in die Religion, geben ihr gegenwärtiges Leben preis, peitschen ihre moralischen und asketischen Regungen30 auf, um des Glücks, des Triumphes »dort drüben« teilhaftig zu werden31. Die asexuelle Rolle ist also arrangiert, und alles wird Mittel zur Erreichung des Persönlichkeitsideals, was sich durch die Situation und durch die neurotische Perspektive auf das Leben und seine Erfahrungen für sie ergibt. – Zuweilen wird die Sicherung32 dadurch erzielt, dass die Befriedigung in der Liebesbeziehung ausbleibt und die Enttäuschung mächtig anwächst, Arrangements, bei denen der Patient deutlich nachhilft33. Es ist nur eine andere Seite der Furcht vor dem Partner34, dass35 der Patient gegen den Psychotherapeuten seine Bereitschaften spielen lässt. Die nervöse Patientin bekämpft in dem Arzt auf ihre Weise gleichzeitig den Mann und sucht sich seinem – oft in einem sexuellen Bild als dem schreckendsten apperzipierten – männlichen Einfluss zu entziehen. Der männliche Nervöse versucht heimlich die als männlich apperzipierte Überlegenheit des Psychotherapeuten, auch diese oft36 in einem sexuellen Bild erfasst, zu untergraben. Und beide wehren sich in der Behandlung, wie sie sich immer gewehrt haben, wenn sie37 ins Leben hinein sollten oder vor Entscheidungen gestellt wurden. Zuweilen findet man Patienten, die vor der Frau38 in die Vergangenheit flüchten. Ihr Interesse für Antiken, Heraldik, tote Sprachen etc. wird dadurch sehr gesteigert und oft leistungsfähig. Letzteres bleibt bei solchen Nervösen
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vernünftigen ] Ausl. 1919 einer natürlichen ] Änd.: der 1919 Erg.: ängstlich vorausblickend 1922 Erg.: in Wahrheit 1922 Regungen ] Änd.: Gefühle 1922 Erg.: hinieden aber bereits bei Gott zu sein 1919 Erg.: gegenüber dem andern 1922 Erg.: um Argumente gegen den andern zu finden 1922 Partner ] Änd.: Konkurrenten 1922 dass ] Änd.: wenn 1922 oft ] Änd.: zuweilen 1922 Erg.: fremden Einfluss zulassen 1922 der Frau ] Änd.: dem Partner 1922
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aus, die ihre Aufmerksamkeit vor allem auf Friedhöfe, Todesanzeigen und Leichenbegängnisse richten. Oben erwähnte ich das Motiv der Furcht vor der Frau als stärksten Antrieb zur Fantasie und zum Künstlertum. Hier eine Stelle aus GrillparzersK Selbstbiografie, die manches aus unserer Darstellung beleuchtet: »Wie jeder wohlbeschaffene Mensch fühlte ich mich von der schöneren Hälfte der Menschheit angezogen, war mit mir aber viel zu wenig zufrieden39, um zu glauben, tiefe Eindrücke in kurzer Zeit hervorbringen zu können. War es aber die vage Vorstellung von Poesie und Dichter oder selbst das Schwerflüssige meines Wesens, das, wenn es nicht abstößt, gerade aus Widerspruchsgeist anzieht; ich fand mich tief verwickelt, während ich noch glaubte, in der ersten Annäherung zu sein. Das gab nun Glück und Unglück in der nächsten Nähe, obwohl Letzteres in verstärktem Maße, da mein eigentliches Streben doch immer dahin ging, mich in jenem ungetrübten Zustande zu erhalten, der meiner eigentlichen Göttin, der Kunst, die Annäherung nicht erschwerte, oder wohl gar unmöglich machte.« Es entspricht nur dieser Grundstimmung, die den Künstler wie den Neurotiker gleichermaßen beseelt, wenn sie beide, in Rücksicht auf [173] die Unsicherheit ihres Triumphes, die Anziehung, die von der Frau erfolgt, als bedrohlich, als gefährlich, als Zwang betrachten und ihre40 Liebesempfindung als Hörigkeit und Unterwerfung. Wobei die41 Realien dieser Beziehungen von mir keineswegs geleugnet werden. Für eine noch so nüchterne Untersuchung besteht in der Liebe eine gegenseitige Anpassung, Unterwerfung – wenn man will. Diese aber42 herauszufühlen, sie als bedeutsam zu empfinden und darüber sich der genussvollen Hingabe zu entschlagen, zeugt in eindeutiger Weise von dem unerbittlichen Geltungsdrange der Betroffenen, den wir als neurotische Überkompensation ihres neurotischen Minderwertigkeitsgefühls oftmals nachgewiesen haben. Passende Bereitschaften auszubilden verbietet das Leitziel oder gestattet sie nur in der Form einer maßlosen, masochistischen Übertreibung, die selbst wieder zur Sicherung43 verwendet wird.44 Zuweilen sucht dieser45 Geltungsdrang, sobald die eigene Sexualspannung als Übermacht des Partners empfunden wird, andere Wege: Es erfolgen Wün39 40 41 42 43 44
war bis zufrieden ] hervorgehoben 1922 Erg.: eigene 1922 Erg.: dürftigen 1922 Erg.: also einseitig 1922 Erg.: und Geltung 1928 Erg.: Der Mangel des Gemeinschaftsgefühls verhindert die Fähigkeit der Hingabe 1919 Erg.: und was den einzig sicheren Ankerplatz von Liebe und Ehe schafft, die Kameradschaftlichkeit. 1922 45 dieser ] Änd.: der 1922
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sche und Versuche, sich dieser Macht durch Übersättigung, durch Orgien zu entziehen. Selbst Kastrationswünsche und -absichten, im gleichen Mechanismus asketische und Bußübungen, Flagellationen etc. tauchen auf, gefördert von der unerbittlichen Sicherungstendenz, um vor dem Dämon Liebe Ruhe zu gewinnen. Nicht anders lassen sich starke, immer wiederkehrende Perversionen, insbesondere masochistische Äußerungen verstehen, die ein Ausdruck sind für die Nötigung, sich selbst von der unheimlichen Stärke des Partners im Einzelnen zu überzeugen, um diese Überzeugung von der Stärke des anderen und von der eigenen Schwäche als Schreckpopanz im Ganzen aufstellen zu können46. Das reale Ergebnis aus diesen Grenzberichtigungen des Nervösen ist eine starke Abweichung von der normalen Linie, die zu allermeist gefürchtet wird. Die arrangierte Selbsterniedrigung setzt aber den stärkeren Reiz für den männlichen Protest und steigert ihn im Sinne des fiktiven Endziels. »Nacht muss es sein, wo Friedlands Sterne strahlen.«K Nun gehen seine Versuche nach diesen Umwegen wieder entlang der neurotischen Leitlinie, zeigen sadistische Einschläge, großen Reinlichkeitsfanatismus, wo etwa Gedanken oder Tatsachen der Koprophilie z. B.47 vorliegen. Oder der Patient begnügt sich, im Kampfe gegen das Urteil der anderen, gegen das Gesetz, durch Aufwand einer oft unerhörten Logik den Schein der Berechtigung für seine neurotischen Umwege zu erwecken, sodass auf diese Weise seine Überlegenheit wieder zur Geltung kommt. So auch bei der Argumentation der Homosexuellen, die in gleicher Weise ihrer Furcht vor dem anderen Geschlecht die neurotische Abbiegung von der Norm verdanken.48 Das zu wahrende Prestige, der männliche Protest,49 wird stets eindringlich in den Vordergrund geschoben, bis die aufklärende Analyse zu jenem Punkte gelangt, wo in den Erinnerungen des Mannes die neurotisch gruppierten Gedanken zutage treten, seine Minderwertigkeit, die Kleinheit seiner Genitalien,50 werde ihn am Siege über die Frau hindern;51 in den Erinnerungen weiblicher Patienten vertritt die gleiche Stelle das Gefühl der Inferiorität, der neurotische Schrecken vor52 der weiblichen Rolle. An diese wiedereröffneten Gedankengänge, die aus den frühesten Jahren der Kindheit stammen, sieht 46 Erg.: gleichzeitig aber den Partner zum Instrument masochistischer Leistungen zu machen 1928 47 Koprophilie z. B. ] Änd.: Wut gegen die Geschlechtszugehörigkeit 1919 Erg.: und gegen den Partner 1922 48 Anm.: Adler, »Das Problem der Homosexualität«, l. c. 1919 49 der männliche Protest ] Ausl. 1928 50 die Kleinheit seiner Genitalien ] Ausl. 1919 51 Erg.: Sehr oft findet man im Lebensstil Eintragungen aus der frühesten Kindheit, Entthronung durch nachfolgende Geschwister. 1928 52 Erg.: der Erniedrigung in 1928
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man unmittelbar Größenideen angeschlossen, oft in der Maske des Narzissismus53 und Exhibitionismus54. Man kann sie leicht als vorbereitende Versuche zur [174] Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls verstehen, wie sie der Zwang der leitenden Fiktion erzeugt, als sekundäre neurotische Bildungen, welche besagen: »Ich will ein voller Mann55 sein!« Über den Formenwandel dieser Idee, bei Mädchen oft in der Bereitschaftsstellung: Ich will über allen Frauen sein56 !, wurde bereits des öfteren gesprochen. Einige dieser Zusammenhänge kann ich an folgendem Falle einer Patientin zur Darstellung bringen. Ein 19-jähriges Mädchen kam in Behandlung wegen Depression, Suizidgedanken, Schlaflosigkeit und Arbeitsunfähigkeit. Sie war Zeichnerin57 geworden, um einen Beruf zu haben. Außer einer Andeutung von hereditärer58 Tuberkulose und Myopie ergaben sich keine körperlichen Symptome. Die Angehörigen schilderten sie als ein früher trotziges Kind, das aus Hang zur Selbstständigkeit aus dem Hause fortdrängte. Eine59 Mutter und der einzige ältere Bruder waren an Lungentuberkulose gestorben. Die Anfänge der Behandlung erwiesen sich als schwierig, weil die Patientin teilnahmslos vor mir saß und keine meiner Fragen beantwortete. Nur gelegentlich äußerte sie sich durch60 eine verneinende Gebärde oder antwortete mit Nein. Ich gehe vorsichtig daran, ihre Entwertungstendenz gegen die Welt, identisch mit ihrer Gleichgültigkeit, klar zu machen, zeige ihr, wie ihr beharrliches Schweigen, ihr Negativismus, ihr Nein in dieser auch gegen mich gerichteten Tendenz zu finden ist. Dann komme ich darauf zu sprechen, dass ihr Benehmen auf eine Unzufriedenheit mit ihrer Mädchenrolle hinweise, gegen die sie sich auf diese Art sichern wolle. Dabei bekomme ich stets ein Nein zu hören, was ich als erwartet und gegen den Mann gerichtet hinstelle und fortfahre61. Der Beginn ihrer Depression fiel in die Zeit ihres Aufenthalts in einem Badeort. Ich behaupte62 nun mit Bestimmtheit, dass sich dort etwas zugetragen haben müsse, das dieses Nein ausgelöst habe, das heißt, dass ihr ihre Mädchenrolle brüsk vor Augen geführt wurde. Darauf erzählt sie, sie sei vor mehr als einem Jahre in einem anderen Kurort gewesen, habe dort die Bekanntschaft 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
Erg.: Sadismus 1922 Erg.: zielend nach den stärksten Bestätigungen einer fiktiven Überlegenheit 1928 Erg.: der Sieger 1928 Erg.: nahezu schon ein höheres Wesen 1922 Erg.: (Kompensation der Myopie) 1928 hereditärer ] Ausl. 1922 Eine ] Änd.: Die 1922 sich durch ] Ausl. 1922 und fortfahre ] Ausl. 1919 behaupte ] Änd.: behauptete 1928
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eines jungen Mannes gemacht, der ihr gefallen habe, wobei es zu einleitenden Zärtlichkeiten und Küssen gekommen sei. Eines Abends wäre der junge Mann wie verrückt über sie hergefallen und habe sie unzüchtig berühren wollen. Da sei sie eilig davon und sofort abgereist. Ich mache sie darauf aufmerksam, dass sie – wie übrigens verständlich – in dem Moment ausgerissen sei, als der junge Mann durch sein Vorgehen sie deutlich in die weibliche Position drängen wollte und knüpfte die weitere Bemerkung daran, sie müsse in diesem Sommer ein ähnliches Abenteuer erlebt haben. [Die] Patientin erzählt63 mir hierauf, dass ein Kurgast, den sie kurze Zeit vorher kennengelernt hatte, sich in gleicher Weise wie der junge Mann benommen habe. Hierauf sei sie wie im vorigen Jahre sofort abgereist. Die »Wiederkehr des Gleichen« (Nietzsche)64 K bringt uns zuerst auf den Gedanken, dass [die] Patientin dabei wohl gehörig die Hand im Spiele hatte, dass sie beide Male arrangierend nachgeholfen habe, um im gleichen Moment abzubrechen. Dazu liefert uns die Patientin eine wertvolle Unterstützung mit der Bemerkung, dass die ausgetauschten Küsse sie keineswegs irritiert hätten. Ich zeige ihr, dass sie so weit mitgeht, bis ihre weibliche Rolle65 in Frage kommt. Ihre anfängliche Courage sei als männliche66 Eroberungsidee im Einklang mit ihrem männlichen Ziel. [175] In diesem Stadium verschwindet die Schlaflosigkeit. Sie teilt mir diese immerhin auffällige Besserung mit der herabsetzenden Bemerkung mit, jetzt möchte sie Tag und Nacht schlafen. Wer mit mir die gereizte Aggression der Patientin in der psychotherapeutischen Kur, die sich gegen den überlegenen, also männlichen67 Arzt kehrt, kennengelernt und so seine Sinne für die Ausdrucksweise des Neurotikers geschärft hat, wird die Äußerung der Patientin nicht missverstehen. Diese Äußerung zeigt deutlich, dass sie den Erfolg der Kur erkannt hat, dass sie aber mit leichter Retouche bemüht ist, diesen Erfolg und damit mich zu entwerten. Sie macht mich unter der Blume aufmerksam, dass bloß ein Übel durch ein anderes ersetzt wurde. Bei näherer Erkundigung gibt Patientin an, sie habe während ihrer vierwöchentlichen68 Schlaflosigkeit des Nachts stets daran gedacht, wie doch das ganze Leben wertlos sei. Wir verstehen, dass sie nicht bloß daran gedacht, sondern vor allem daran gearbeitet hat. Jetzt, wo ihr der männliche Feind in der Gestalt des Arztes gegenübertritt, der der gleichen Wertung unterworfen wird 63 64 65 66 67 68
erzählt ] Änd.: erzählte 1922 (Nietzsche) ] Ausl. 1919 Erg.: ihrer eigenen Schätzung nach 1922 männliche ] Ausl. 1928 also männlichen ] Ausl. 1928 vierwöchentlichen ] Änd.: vierwöchigen 1928
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wie der Mann überhaupt, der ihre Sicherungstendenz entlarvt und damit die Sicherung durch das Wachen untergräbt,69 sucht sie ihn, zum Schlafe gedrängt, durch ein Übermaß des Schlafens klein zu machen. Die nervöse Schlaflosigkeit70 ist ein symbolischer Versuch, der Wehrlosigkeit (auch des Schlafes) zu entrinnen und auf Sicherungen gegen ein Unterliegen zu sinnen.71 Der Traum ist eine andere Art dieses Versuches, ein Kompromiss gleichsam, da er die Wehrlosigkeit im Schlafe, damit das Gefühl der Minderwertigkeit überhaupt mit dem männlichen Proteste beantwortet72. Der Traum, dies ist der Inhalt meiner Beobachtungen, drängt stets auf Sicherung und hat demnach die Funktion des Vorausdenkens. Dass er dies mit den Mitteln der Erfahrung bewerkstelligt, ist leicht zu verstehen, und so kommen in den Trauminhalt und in die Traumgedanken jene Erfahrungsniederschläge, die Freud zu seiner heuristisch wertvollen, sonst aber unvollkommenen und einseitigen Traumtheorie veranlasst haben.73 Nach langem Zögern, und auf die Neinbedeutung dieses Zögerns aufmerksam gemacht, bringt [die] Patientin einige Tage später folgenden Traum: »Ich bin vor dem ›Steinhof‹ (Wiens große Irrenanstalt). Doch husche ich rasch vorbei, da ich eine dunkle Gestalt drinnen sehe.« Um alle künstlichen Beeinflussungen der Patientin, insbesondere bei der Traumdeutung, zu vermeiden, sehe ich von allen Erklärungen meiner Traumtheorie ab und verweise bloß darauf, dass der Traum Gedankengänge wiedergäbe, die verraten, wie sich der Patient gegen den von ihm empfundenen Zustand der Wehrlosigkeit im Schlafe74, der ihn an seine Wehrlosigkeit dem Leben gegenüber erinnere, durch Vorausdenken75 zu sichern suche. In Fällen wie dem obigen, die vor allem dazu drängen, die Furcht vor der weiblichen Rolle zu besprechen, weise ich auch darauf hin, wie der Schlaf als Verweiblichung76 empfunden werden könne77. 69 Erg.: der sie wieder ins Leben hineinführen soll 1919 70 Anm.: Siehe Adler, Über Schlaflosigkeit, 2. Bd. 1919 Änd.: in »Praxis und Theorie« l. c. 1922 71 Erg.: Es ist die sinnvollste Attitüde des Kämpfers: auf Wache zu sein! 1922 72 dem männlichen Proteste beantwortet ] Änd.: einem Selbstbetrug beantwortet, der nach dem individuellen Ziel gerichtet ist 1928 Anm.: Siehe Adler, »Zum Problem des Traumes«, Internat. Zeitschr. f. Indiv.-Psychologie, 5. Jahrg. 1927. 1928 73 Erg.: Von anderen späteren Traumtheorien ist nur die MaedersK meinen Anschauungen näher gekommen. 1922 74 der Wehrlosigkeit im Schlafe ] Änd.: in einem gegenwärtigen Problem 1928 75 Erg.: in der Richtung seines Lebensstiles 1928 76 Verweiblichung ] Änd.: Wille zum Mitspielen in der Gesellschaft 1919 77 Erg.: weil er zur Mitarbeit nötig ist 1922 Erg.: daher bei Spielverderbern ausgeschaltet werden muss 1928
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Die Redensart »in MorpheusK Armen liegen« – die häufigen Empfindungen des Gelähmtseins, des Gedrücktwerdens, die Analyse des Nachtmars, der TrudK etc., ferner die von mir in allen Träumen nachgewiesenen weiblichen Linien78, von denen der Traum sich zum männlichen Protest79 erhebt,80 wo also der Vorgang des bannenden Schlafes eine indi[176]viduelle Gedankenassoziation einer Verweiblichung81 wachruft, weisen mit Sicherheit auf die Tatsache hin, dass jeder Traum ein Fortschreiten von der weiblichen zur männlichen82 Linie aufweisen müsse. Dass nicht jeder Traum geeignet ist, den Anfänger von der Richtigkeit meiner Auffassung zu überzeugen, habe ich selbst hervorgehoben. Es liegt dies daran, dass83 in einer Skizze – und als solche haben wir den Traum anzusehen – der Sinn und die Bedeutung von Gedankenspuren und Andeutungen oft nachzuholen, zu ergänzen sind, was dem Geübten nie schwerfallen kann. Auch darüber belehre ich den Patienten, dass er sich zum Traume wie zu einer Gemäldeskizze zu verhalten habe, deren einzelne Punkte er je nach dem Eindruck, den er von ihnen erhält, auszuführen habe. Nach diesen Erörterungen führt die intelligente Patientin selbstständig aus: »Steinhof heißt verrückt84. Dieser Punkt85 bedeutet also: Ich stehe knapp vor dem Verrücktwerden. Aber ich husche ja davon! Da fällt mir ein, dass Sie mir immer sagen, ich laufe vor meiner Mädchenrolle davon. Demnach wäre ›Verrücktwerden‹ und ›Mädchenrolle‹ ein und dasselbe?86« Ich leite sie nun an, hier zwangsweise einen Sinn hineinzubringen und benütze die mir bekannte Rivalität der Patientin dazu, ihren Eifer anzustacheln, wenn sich Schwierigkeiten herausstellen, indem ich etwa hinwerfe: »Man könnte sich wohl etwas darunter87 vorstellen!« Patientin: »Vielleicht, dass es verrückt wäre, eine Mädchenrolle zu spielen?« Ich: »Das wäre demnach eine Antwort auf eine Frage. Wie müsste aber die Frage gelautet haben?« 78 weiblichen Linien ] Änd.: Linien des Minderwertigkeitsgefühls 1928 79 männlichen Protest ] Änd.: Gefühl der Überlegenheit 1928 80 Erg.: was von Freud in einer kritischen Bemerkung sonderbarerweise als Bisexualität im Traume missverstanden wird 1922 81 Gedankenassoziation einer Verweiblichung ] Änd.: Gefühlsassoziation einer Hingabe 1919 82 weiblichen zur männlichen ] Änd.: »weiblichen« zur »männlichen« 1928 83 Erg.: oft nur ein Teil der Wendung zum sieghaften Finale, Ausgangs- oder Endpunkt, zur Darstellung kommt, dass ferner 1922 84 Steinhof heißt verrückt ] Änd.: Steinhof heißt: verrückt 1919 85 Punkt ] Änd.: Gedanke 1919 86 ? ] Änd.: ! 1922 87 etwas darunter ] Änd.: darunter etwas 1928
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Patientin: »Sie sagten mir gestern, ich dürfe mich nicht vor meiner Mädchenrolle fürchten.« Ich: »Also eine gegen mich gerichtete Antwort, damit, entsprechend unseren Gesprächen, ein Kampf gegen den Mann88. Und die schwarze Gestalt?« Patientin: »Vielleicht der Tod?« Ich: »Versuchen Sie nun auch den Tod in den Zusammenhang einzufügen.« Der Patientin gelang dies nur schwer, obwohl es ganz deutlich ist, dass sie, um nur genug stark aufzutragen, ihre Flucht aus der Weiblichkeit mit der Furcht vor dem Tode motiviert89. Der Zusammenhang von Sexualität und Tod kommt in der Philosophie und Dichtung häufig zur Sprache. Die Analysen Nervöser weisen oft diesen Zusammenhang im Sinne eines affektverstärkenden »Junktims« auf. Als Sinn des Traumes ergibt sich die nun gegen den Arzt gerichtete, aus den Fantasien der Patientin zu verstehende Bereitschaft: Es wäre verrückt, sich einem Manne unterzuordnen – gleichbedeutend mit tot. Sie hat sich nach ihrer Wertung aber bereits untergeordnet, dadurch, dass sie seit der Behandlung schläft. Dieser Traum revoltiert also gegen den Schlaf, und ihre herabsetzende Bemerkung, sie möchte jetzt Tag und Nacht schlafen,90 ist von der gleichen Tendenz getragen. Damit entpuppte sich die neurotische Bereitschaftsstellung dieser Patientin gegenüber der Möglichkeit, dass ein Mann auf sie Einfluss gewinnen [177] könnte, und es erweist sich, dass die Patientin so handelte und träumte, als ob sie um ihr Leitziel wüsste.* Diese prinzipielle Bereitschaft, ihre Entwertungstendenz, ihre Lüsternheit nach Siegen über die Männer und ihre neurotische Sicherungstendenz, die mit den Schrecken des Todes und des Wahnsinns im Hintergrund droht, hatten auch als verstärkte91 Sicherung die Entwicklung der Neurose veranlasst. Die Patientin wird durch sie92 lebensunfähig93. – Die neurotische Apperzeption94, die ein Junktim zwischen Liebe und Wahnsinn und Tod hervorzaubert, hat etwas
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Richard WagnersK geniale Intuition im Gesang der Erda: »Mein Schlaf ist Träumen, mein Träumen Sinnen, mein Sinnen Walten des Wissens«.
88 den Mann ] Änd.: eine Änderung Ihrer Methode 1922 89 Anm.: Man beachte, wie der Traum seine Argumente tendenziös »aus der Luft greift« 1919 Erg.: um den Träumer zu betrügen 1928 90 Erg.: also wieder der ihre weibliche Rolle heischenden Gemeinschaft entfliehen 1922 91 als verstärkte ] Änd.: durch Verstärkung zum Zweck erhöhter 1922 92 sie ] Änd.: die gewaltsame Hemmung ihrer Frauenrolle 1919 93 Erg.: weicht auf die unnützliche neurotische Seite aus 1928 94 Apperzeption ] Änd.: Apperzeptionsweise 1919
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vom Goldklang der Poesie. Wie fest es95 in den Gedanken der Patientin sitzt, geht aus ihrer anfänglichen Erzählung hervor: Der junge Mann war wie »verrückt« über sie hergefallen. Oft findet man in der Vorgeschichte von männlichen Nervösen, dass sie unter dem Einfluss einer starken Frau, Mutter, Erzieherin, Schwester gestanden sind, die also trotz ihrer weiblichen Rolle oder neben dieser eine männliche spielten, »oben« waren, und denen die Umgebung die Anerkennung, bisweilen die Missbilligung, nicht versagte, in dem Hinweis, sie wären eigentlich Männer. Auch dieser Umstand trägt manchmal zur Verstärkung der Unsicherheit des disponierten Knaben bei, der durch das Verstehen der Sexualunterschiede zur Überzeugung seiner Männlichkeit zu kommen sucht.96 Ein Spezialfall der Sicherung durch Wissen, die sexuelle Neugierde, drängt ihn97 dazu, seine98 geschlechtliche Überlegenheit immer wieder durch den Augenschein zu bestätigen, ein Bedürfnis, das umso näher an die männliche Leitlinie gerückt ist, als es gleichzeitig aus der Vorbereitung für die Zukunft geschöpft ist, sicheres Wissen und ausgiebige Kenntnis des weiblichen Genitales99 zu erwerben. Die neurotische Unsicherheit haftet als Vorwand und Begründung der Furcht vor der Frau oft bis über die Ehe hinaus dem Nervösen an, sodass man oft äußern hört, der weibliche Sexualapparat100, der Zustand der Virginität, die Legitimität der Kinder, die Vaterschaft seien wie die ganze Frau rätselhaft. Zuweilen gesellt sich zur Befriedigung über den Anblick der weiblichen Genitalien101 bei disponierten Kindern das unheimliche Gefühl einer Gefahr, als ob dem Knaben unklare Gedanken aufstiegen, dass sein ferneres Leben, sein Sieg und seine Niederlage davon abhingen, wie er mit der Sexualfrage fertig würde. Dabei bringt es die Natur der Dinge oft mit sich, dass für das Kind die Besichtigung nur in einer Stellung möglich wird – wenn die Frau sich oberhalb des Knaben befindet. Auch dieser kleine Umstand findet sich, wie ich wiederholt gezeigt habe, als bildliche Darstellung der weiblichen Überlegenheit in den Fantasien der vor dem Weib erschreckten Nervösen. GanghoferK und StendhalK berichten102 in ihrer Kindheitsgeschichte von diesem schreckenden Erlebnis, das dauernde Spuren zurückgelassen haben soll. Der Schrecken war vielmehr schon Sicherung des verletzten männlichen Prestiges, und die 95 es ] Änd.: sie 1919 96 Erg.: Solche Kinder sind schon mit der Mutter »nicht fertig geworden«. 1919 mit der Mutter »nicht fertig geworden« ] hervorgehoben 1922 97 ihn ] Änd.: sie 1919 98 seine ] Änd.: ihre 1919 99 Genitales ] Änd.: Körpers 1919 100 Sexualapparat ] Änd.: Körper 1919 101 der weiblichen Genitalien ] Änd.: des weiblichen Körpers 1922 102 Erg.: gleichermaßen 1922
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erregende Szene blieb ein bildlich zu verstehendes Memento für die Vorsicht gegenüber der Macht der Frau. Oft greift an diesem Punkte, wo die Überlegenheit der Frau sich drohend darstellt, die Entwertungstendenz ein und führt zum Vergleich männlicher und weiblicher Vorzüge und Mängel. [178] Die bildlich-abstrakte Darstellung der Inferiorität der Frau greift gerne in Träumen und Fantasien, im Witz und in der Wissenschaft zum Ausdrucksmittel verloren gegangener Glieder oder vermehrter Höhlungen. Einer meiner Patienten, der an Vertigo litt, träumte, als ihm einst seine Frau eine heftige Szene machte, folgenden Traum, der die Herabsetzung der ihm überlegenen Frau summarisch und prinzipiell bewerkstelligt: »Es tauchte das Bild eines Birkenstammes auf. An einer Stelle befand sich ein Astauge mit rundlicher Verschwellung. Es war dort ein Ast abgefallen und ich hatte die Empfindung, als ob das ein weibliches Genitale wäre.« Ähnliche Träume haben ich und andere schon berichtet. Mir103 ergab sich als der Sinn solcher Träume die bildlich zu verstehende Frage nach dem Geschlechtsunterschied, die in kindlicher Weise dahin beantwortet wird, das Mädchen ist ein Knabe, dem das männliche Genitale genommen wurde104. Der obige Traum fügt sich in die psychische Situation des Träumers ein, indem er den Sinn ergibt, ich bin ein Mann, dem die Männlichkeit abhanden kam, der schwach und krank ist, der in Gefahr ist, nach unten zu kommen, zu fallen. Jetzt hat er die Operationsbasis, er sieht sich verkürzt und holt Atem, um wieder das Übergewicht zu bekommen. Nun setzen im wachen Zustande als männlicher Protest Herrschsucht, Zornausbrüche und Akte der Untreue ein.105 Ich will dabei erwähnen, dass man von Nervösen sehr oft hört, dass sich in Momenten persönlicher Gefahr, oder wenn ihnen eine Niederlage droht, eine Verkürzung und Zusammenziehung des Genitales bemerkbar macht, zuweilen auch ein schmerzliches Gefühl, das mit ungeheuerer Kraft auf eine Beendigung dieser Situation drängt.* Am häufigsten findet sich diese Erscheinung *
Zuweilen reicht dieses »Druckgefühl« bis zum Abdomen, in die Brust- und Herzgegend oder tritt ausschließlich an diesen Stellen auf. Zuweilen folgen Pollutionen106 als reaktives Symbol des männlichen Endzweckes.107
103 Erg.: aber 1919 104 das männliche bis wurde ] Änd.: verloren ging 1919 Änd.: die Männlichkeit verloren gegangen war 1922 105 Erg.: Im Traum war also nur der Ausgangspunkt, das Gefühl der Weiblichkeit [Änd.: Unmännlichkeit 1928], zur Darstellung gekommen. 1919 106 Erg.: oder Erektionen 1919 107 Erg.: Der häufige Genitaltypus reagiert leichter als andere auf Furcht und Schrecken
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bei der Höhenangst, bei der Furcht zu fallen. Die Verkürzung des Genitales im Bade ruft bei Nervösen fast regelmäßig eine Reaktion in der Richtung einer Verstimmung, zuweilen mit Kopfdruck nach sich. Dass die Homosexualität als Neigung und als Handlung der Furcht vor dem gegengeschlechtlichen Partner entspringt, wurde bereits hervorgehoben. Dazu soll noch kurz erwähnt werden, wie die Wertschätzung des gleichgeschlechtlichen Partners den invertierten108 Nervösen im Werte mitsteigen lässt. In der Neurose findet man die Homosexualität, auch wenn sie ausgeübt wird, immer nur als Symbol, durch welches die eigene Überlegenheit außer Frage gestellt werden soll109. Dieser Mechanismus ist dem des religiösen Wahnes ähnlich, bei dem auch die Gottnähe110 eine Erhebung bedeutet. Eine der Formen, in die sich die Furcht vor der Frau besonders gerne verkleidet, stellt die Syphilidophobie dar. Der Gedankengang solcher Phobiker (Adler, Syphilidophobie, l. c.111), ist gewöhnlich Folgender: Sie fürchten aus irgendwelchen Minderwertigkeitsgefühlen, für die sie allerlei Gründe parat haben, zuweilen auch ohne bewusste Motivierung, dass sie der Frau gegenüber keine herrschende [179] Rolle spielen werden. Dabei kommen sie auf dem Wege fortschreitender Entwertung der Frau zu misstrauischen Gedankengängen, durch welche sie sich vor Liebesbeziehungen sichern. Bald ist die Frau ein Rätsel, bald ein verbrecherisches Wesen, stets auf Putz und Ausgaben bedacht und sexuell nie zu befriedigen. Immer drängen sich Vermutungen ein, das Mädchen wolle nur die Versorgung, habe es darauf angelegt, den Mann zu kapern, sei listig und verschlagen und stets zum Bösen gewandt. Diese Gedankengänge sind universell und finden sich zu allen Zeiten. Sie tauchen in den erhabensten und niedrigsten Kunstschöpfungen auf, treiben im Sinnen und Trachten der Weisesten112 ihr Spiel und schaffen beim Manne wie bei der Gesellschaft eine stete Bereitschaft, die misstrauische und vorsichtige Züge entwickelt, um immer in Fühlung mit dem Feind zu bleiben und seine tückischen Angriffe rechtzeitig abzuwehren. Man irrt, wenn man meint, dass nur der Mann Misstrauen gegen den geschlechtlichen Partner hegt. Die gleichen Züge finden sich bei der Frau, oft weniger deutlich, wenn Fiktionen von der eigenen Stärke dem Zweifel
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mit Genitalerregungen, wie der Blasentypus mit Erregungen der Blase, der Darmtypus mit solchen des Verdauungstraktes. Ausgeprägte Genitaltypen können schließlich in jeder Erregung einen sexuellen Beiklang spüren, sodass ihnen leicht die »sexuelle Grundlage« [Erg.: der Psyche 1928] zu einem Dogma wird. 1919 invertierten ] Änd.: pervertierten 1928 Erg.: durch Ausschaltung einer Schwierigkeit, – der Frau 1928 Gottnähe ] Änd.: Gottesnähe 1922 1.c. ] Änd.: II. Bd. 1919 Änd.: in »Theorie und Praxis« l. c. 1922 Erg.: und Toren 1922
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an der eigenen Wertigkeit steuern, aber umso heftiger auflodernd, wenn das Gefühl der Herabsetzung übermächtig wird.113 In den Disputationen frommer Gelehrter des Mittelalters tauchten Fragen auf, ob das Weib eine Seele habeK, ob es überhaupt ein Mensch sei, und die allgemeine Ergriffenheit von dem gleichen Gedanken loderte empor in den wahnsinnigen Hexenverbrennungen der darauffolgenden Jahrhunderte, bei denen sich Regierung, Kirche und das verblendete Volk die Hände boten. Diese gehässigen wie auch die liebenswürdigeren Entwertungen der Frau, die sich in christlichen, jüdischen und mohammedanischen Religionsgebräuchen114 wiederfinden, brechen unwiderstehlich aus der Seele des fürchtenden, unsicheren Mannes115 und erfüllen die Gedankenwelt des Neurotikers so vollständig, dass man die Entwertungstendenz des Partners als hervorspringendsten Charakterzug in der neurotischen Psyche wiederfindet. Nun sind die vorgeschobenen Posten zur Sicherung des116 Persönlichkeitsgefühls festgelegt, und das eigenartige Spiel der neurotischen Charakterzüge beginnt. Fortwährendes Prüfen, Abtasten, Unterwerfenwollen, eine Sucht, Fehler zu finden und den Partner herabzuwürdigen, setzen nun ein, immer begünstigt durch die einseitig gerichtete Aufmerksamkeit und das tendenziöse Interesse, mit dem Feind in Fühlung zu bleiben, einer Überrumpelung vorzubeugen. Solange diese Entwertungstendenz mit ihren peripheren Ausläufern, Misstrauen, Furcht, Eifersucht,117 Herrschsucht, besteht, kann von einer Heilung der Neurose nicht die Rede sein. Große, vielfach anerkannte Leistungen der Kunst und Literatur danken dieser Tendenz, wie wir gesehen haben, ihren Ursprung. Von der »Lysistrata«K zu den »Kreuzelschreibern«K führt die gleiche Linie wie von der Gorgo MedusaK zu der Syphilisfratze, die vor LenausK oder GanghofersK Augen aufstieg. Die Leitlinie, die in TolstoisK Kreutzersonate nachschwingt118 und die Herabsetzung der Frau anstrebt, war schon in den Knabenjahren sichtbar, als er seine künftige Braut aus dem Fenster stieß119. Zur Syphilidophobie wird eine120 alte Leitlinie durch Formenwandel, die im Mythus vom Giftmädchen* *
Wilhelm HertzK, »Die Sage vom Giftmädchen«, Abh. d. bayer. Akademie d. Wissenschaften 1897.
113 Erg.: In dieser Haltung zeigt sich der Mangel des Zusammengehörigkeitsgefühls [Erg.: der Verwachsenheit mit den Menschen 1922] besonders häufig. 1919 114 Erg.: und Formeln 1919 115 Erg.: hervor 1922 116 Erg.: machtheischenden 1919 117 Erg.: Negativismus 1922 118 nachschwingt ] Änd.: den Grundton angibt 1922 119 Erg.: war im Alter noch kräftig, als er aus dem Hause flüchtete und in die Ferne sterben ging 1922 120 eine ] Änd.: diese 1922
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im Altertum, im Mittelalter und [180] im Beginn der Neuzeit in der Furcht vor Hexen, Dämonen, Vampiren und Nixen sich gestaltete. PoggioK erzählt121 von einem Manne122, der ein Mädchen vergewaltigte. Das Mädchen verwandelte sich in den Teufel und verschwand mit Gestank. Alle diese Gedankengänge, wie sie ähnlich im Traum und in der Psyche des Neurotikers wiederkehren, zeigen den vorbauenden, in seiner Männlichkeit unsicheren Mann, der sich ebenso durch Aufstellung von Schreckgespenstern vor dem wirklichen Leben zu sichern trachtet, als er sich durch123 die Verehrung eines124 Ideals vor diesem selben Leben erschreckt125. Die häufig scherzhafte Note in solcher Haltung zu den Frauen ist durchaus bedeutungslos in Hinsicht auf unsere Auffassung. Sie zeigt vielmehr den Versuch, sich keiner Übertreibung schuldig zu machen, das Dekorum zu wahren und sich vor Lächerlichkeit durch die Geste des Witzes zu sichern. Ähnlich bei GogolK, dessen starke Sicherungstendenzen im feinsten Geäder seiner Dichtungen fühlbar werden. Im »Jahrmarkt von Sorotschinsk« lässt er eine Person reden*: »Himmel Herrgott, warum bestrafst du uns arme Sünder so? Es gibt doch schon so viel126 Unrat, musstest du auch noch die Weiber in die Welt setzen?« In den »Toten Seelen« dieses großen Dichters, der zeitlebens neurotisch war, an Zwangsmasturbation gelitten hat und im Irrenhaus starb, lässt er seinen Helden beim Anblick eines jungen Mädchens überlegen: »Ein herrliches Weibchen! Was aber das Beste an ihr ist – das Beste an ihr ist, dass sie soeben aus einem Institut oder Pensionat entlassen zu sein scheint, und dass sie noch nichts spezifisch Weibliches an sich hat, nichts von jenen Zügen, die das ganze Geschlecht verunzieren. Jetzt ist sie noch das reine Kind, alles an ihr ist schlicht und einfach; sie spricht, wie ihr ums Herz ist, und lacht, wenn ihr danach zumute ist. Es lässt sich noch127 alles aus ihr machen; sie kann ein herrliches Geschöpf, aber ebensogut auch ein verkrüppeltes Wesen werden – und so wird es wohl auch kommen, wenn sich erst die Tanten und Mamas an ihre Erziehung machen. Die werden sie in einem Jahre mit ihrem Weiberkram vollpfropfen, dass ihr eigener Vater sie nicht wiedererkennen wird. Sie wird ein aufgeblasenes und affektiertes Wesen annehmen, wird sich nach auswendig gelernten Regeln drehen, wenden und knicksen, sich den Kopf darüber zer*
Aus O. KausK, Der Fall Gogol. München, Reinhardt 1912.
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erzählt ] Änd.: erzählte 1919 Manne ] Änd.: Kleriker 1922 durch ] Änd.: in 1928 Erg.: unerreichbaren 1922 erschreckt ] Änd.: zurückzieht 1919 als er sich bis zurückzieht ] hervorgehoben 1922 soviel ] Änd.: genug 1928 noch ] Ausl. 1919
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brechen, was sie, mit wem sie und wie viel sie sprechen, wie sie ihren Kavalier anblicken muss usw., wird fortwährend in der größten Angst schweben, ob sie nur kein überflüssiges Wort gesagt hat, schließlich gar nicht mehr wissen, was sie zu tun hat, und wie eine große Lüge durchs Leben wandeln. Pfui Teufel! – Übrigens wüsste ich gern, wie sie eigentlich ist!« [181]
IX. Kapitel Selbstvorwürfe, Selbstquälerei, Bußfertigkeit und Askese – Flagellation – Neurosen bei Kindern – Selbstmord und Selbstmordideen
Unter den Formen des neurotischen Gebarens zwecks Sicherung der männlichen Fiktion1 treten in auffälliger Stärke die Regungen der Selbstverwünschung, der Selbstvorwürfe, der Selbstquälerei und des Selbstmordes hervor. Unser Befremden darüber wird freilich abgeschwächt, sobald wir sehen, dass das ganze Arrangement der Neurose diesem Zuge der Selbstquälerei folgt, dass die Neurose ein selbstquälerischer Kunstgriff ist, der bezweckt, das Persönlichkeitsgefühl zu heben2. Und in der Tat stammen die ersten Regungen des gegen die eigene Person gerichteten Aggressionstriebes* beim Kinde aus einer Situation, in der das Kind durch Krankheit, Tod, Schande und allerlei konstruierte Mängel den Eltern Schmerz bereiten oder sich besser in Erinnerung bringen will. Dieser Zug charakterisiert schon das disponierte Kind, welches aus den Erinnerungen seiner Organminderwertigkeitserscheinungen und aus deren Bedeutung für die Hebung seines Persönlichkeitsgefühls, für die Steigerung der elterlichen Zärtlichkeit und des Interesses Bereitschaften gebildet hat. Die entwickelte Neurose baut Letztere aus und leitet ihre Aktivierung durch die Verstärkung der Fiktion ein, sobald es die wachsende Unsicherheit gebietet. Es ist bekannt, wie starke Aggravationen dabei mitspielen, der halluzinatorische Charakter, die antizipatorische Kraft3 des Nervösen hilft mit, und die Situation des Anfalls und der Gesundheitsstörung mit ihrem Übergewicht über die Umgebung ist gegeben. So paradox es auf den ersten Blick erscheint, der Nervöse ist erst ruhig, wenn er seinen Anfall hinter sich hat. JanetK hat schon auf diese Tatsache hingewiesen. Ich kann als Grund nur hinzufügen, weil er dann5 die Sicherung seiner Überlegenheit, wenn auch nur auf kurze Zeit, gewonnen hat6. Der Charakterzug, alle anderen übertreffen zu wollen, mischt sich auch *
Adler, »Der Aggressionstrieb«, 1. c.4
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männlichen Fiktion ] Änd.: Überlegenheitsfiktion 1928 Erg.: und die nähere Umgebung zu drücken 1919 Erg.: die Einfühlung 1919 l. c. ] Änd.: in »Heilen und Bilden«. 1919 Erg.: durch die Krankheitslegitimation 1919 weil er bis gewonnen hat ] hervorgehoben 1922
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in das Gefühl, dem der Nervöse regelmäßig Ausdruck verleiht: als ob er an Schmerzen7 alle überträfe. Diese Überzeugung aber braucht er, weil sie ihm die Operationsbasis abgeben muss, um sich den anderen gegenüber zu fühlen, um8 einer Entscheidung auszuweichen oder um anzugreifen. So kommt es auch, dass Anfälle, Schmerzen oder eine Krankheit herbeigewünscht werden, wenn es die Situation fordert; zuweilen geht auch der Wunsch9 statt des Anfalles, wenn er10 als Erinnerung [182] schon die Umgebung schreckt11: Für die Eigenpsyche des Patienten genügt es zuweilen, wie mir eine Patientin sagte, wenn eine Fantasie gebildet wird,12 nach welcher der Nervöse durch die Handlungen eines anderen Schmerzen erleidet. Dies erzeugt die Empfindung der Unterdrückung oder Misshandlung, weckt die Sicherungstendenz und leitet den männlichen Protest ein.13 Über die Bedeutung der Schuldgefühle, des Gewissens und der Selbstvorwürfe als einer Konstruktion sichernder Fiktionen14 wurde bereits gesprochen. Nicht selten findet man in der Psychologie der Masturbation beigemengte Züge von Buße oder einer Schädigungsabsicht, diese gleich einer trotzigen Revolte gegen die Eltern15 gerichtet, jene als billigen Vorwand oder scheinheiligen Akt16. Durch Buße einen anderen zu schädigen17 ist einer der feinsten Kunstgriffe des Nervösen, wenn er sich z. B. in Selbstverwünschungen ergeht. Suizidideen lassen oft18 den gleichen Mechanismus erkennen19, was ganz deutlich bei gemeinsamen Selbstmorden hervortritt.20 Als einer meiner Patienten wegen Impotenz von einem Arzte Kühlsonden 7 8 9 10 11 12 13
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Erg.: an Heldentum 1922 Erg.: Forderungen abzulehnen 1922 geht bis Wunsch ] Änd.: steht auch der Wunsch oder Gedanke oder die Furcht 1922 er ] Änd.: sie 1922 schreckt ] Änd.: schrecken 1922 Erg.: wie es auch oft im Traum geschieht 1922 Erg.: Gleichzeitig genügt dieser Zug der neurotischen, grenzenlosen Eitelkeit. Die ganze Welt, die Menschen, das Gewitter, alle Unglücksfälle, alle Männer, alle Frauen haben nur die einzige Tendenz, den Patienten zu bedrohen. Hier sieht man die Linie, die deutlicher im paranoischen Zustandsbild hervortritt. 1922 Erg.: und fruchtloser, zeitraubender Präokkupationen 1919 Erg.: oder gegen das Leben 1922 Erg.: einer Erotik des Einzelgängers 1922 Durch bis schädigen ] hervorgehoben 1922 oft ] Ausl. 1919 Suizidideen bis erkennen ] hervorgehoben 1922 Erg.: Auch in der Melancholie finden sich verwandte Züge.1922 hervorgehoben 1928
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bekam, hatte er den Wunsch: »Der Arzt soll mir den Geschlechtsteil zerreißen, verletzen«21. Als er vor zwei Jahren große geschäftliche Verluste hatte, wollte er einen Selbstmord begehen, obwohl er noch immer ein reicher Mann blieb. Die Triebfeder dieser Verwünschungen (s. ShylokK) ist der neurotische Geiz. Die Analyse ergibt eine vollkommene Erklärung. Um sich vor Ausgaben für Mädchen zu sichern, verwünscht er sich auch, wenn er ärztliche Kosten zu tragen hat. Dies sicherlich von einem halbbewussten Gefühl begleitet, dass seine Wünsche nicht unbedingt in Erfüllung zu gehen brauchen. Insbesondere verflucht er seinen Leichtsinn – denn dies ist der Sinn seiner Selbstvorwürfe und Verwünschungen –, wenn er größere Zahlungen geleistet hat oder leisten soll. Dann wird ihm jede kleine Ausgabe zur Qual22. Er fürchtete den Zauber der Sexualität. Sogar die Schwester könnte er23 ins Unglück stürzen. Oder die Tochter seiner Schwester, die beide bei ihm wohnten24. Gleichzeitig musste er wohl die Bedeutung seiner Selbstverwünschung recht gering veranschlagen, vielleicht sogar das Gegenteil erwarten; dies geht aus der Unsumme seiner Sicherungsmaßnahmen hervor, unter denen die Selbstverwünschungen nur eine kleine Rolle spielten. Weit mehr sicherte er sich durch das Arrangement der Impotenz. Selbstverkleinerung und Selbstquälerei konstruiert der Patient, ähnlich wie Hypochondrie, um sich das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit vor Augen zu halten, sich für zu schwach, zu klein, unwürdig zu empfinden. Sie treten als Abhaltung25 auf, und stehen derart fast an Stelle des Zweifels26. Nervöse Mädchen, die sich vor dem Manne fürchten, eine weibliche Rolle nicht spielen wollen, grübeln fortwährend über ihre Behaarung, über Muttermale nach und befürchten, ihre Kinder könnten einmal ebenso missgestaltet sein. Oft waren sie unschöne Kinder oder haben gegenüber einem bevorzugten Bruder als Mädchen häufig Zurücksetzungen erfahren. Bei einer Patientin mit Zwangsneurose entpuppte sich ihr Zwangsdenken an das Größerwerden der Hautporen als eine symbolisch zu verstehende Sicherung gegen die weibliche Rolle27. [183] 21 mir den bis verletzen« ] Änd.: mich verletzen« 1922 22 Erg.: damit er sich vor Ausgaben in einer Ehe sichert. Angstanfälle vor Einkäufen sind häufig 1922 23 Erg.: wie er mit böser Absicht und Übertreibung hervorhebt 1922 24 wohnten ] Änd.: wohnen 1922 25 Abhaltung ] Änd.: Abhaltungen 1922 26 Erg.: der immer die Stelle eines deutlichen Nein vertritt 1919 Zweifels bis vertritt ] hervorgehoben 1922 27 als eine bis Rolle ] Änd.: als deutlicher Wink gegen eine Entscheidung für die Frauenrolle und als Präokkupation 1919
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Eine andere Form der Selbstquälerei stellt sich als Tendenz zur Bußfertigkeit dar. Man kann sie schlicht als Sicherungstendenz erkennen, wenn man versteht, dass diese Patienten ebenso wenig wie jene mit den verwandten Empfindungen der Reue an dem Vergangenen etwas ändern oder bessern wollen.28 Das Symptom29 zielt also30 klar auf die Zukunft, und dies ebensowohl wenn 31 sie sich als persönliche Regung in individueller Form und Handlung, als wenn sie32 sich gesellschaftlich in religiösen Verrichtungen kundgibt. Wie bei allen Sicherungstendenzen ist auch durch sie keineswegs ausgeschlossen, dass neuerlich schlechte Handlungen und Gedanken zutage treten, sie soll viel28 Erg.: Ihre tiefere Absicht ist wie die der Zwangsneurose: Zeitvertrödelung und [und Ausl.: 1922] Privilegien 1919 Erg.: und – Befriedigung der Eitelkeit. »Edel, fromm bin ich auch!« So fand sich unter anderem bei einer Patientin Depression und tätige Bußfertigkeit, so oft sie ein starkes Glücksgefühl hatte und sich allen andern überlegen glaubte. Ihre Büßerstimmung zeigte ihr den Vorrang an, den sie vor anderen genoss. Einer meiner Patienten erlitt in jeder behaglichen Situation eine herbe Verstimmung durch die Vision eines längst verstorbenen Freundes. Es erwies sich, dass dieser in einer Zeit der Rivalität mit meinem Patienten elend zugrunde gegangen war. Mein Patient war Sieger geblieben. Das Bild des verstorbenen Freundes (Bankos Geist!K) und die anknüpfende Depression zeigten sich als gleichwertig einer Genugtuung über den Sieg. Letzere hatte nur eine dem Gemeinschaftsgefühl genehmere Form angenommen. In der Literatur wird ein ähnlicher Vorgang fälschlich als »Verdrängung« angesprochen, offenbar weil der Patient sich anders auszudrücken beliebt, als dem Psychologen genehm ist. Ein tieferes Verständnis ergibt sich auch dann noch nicht, wenn man in einer wissenschaftlich scheinenden Bestrebung die Redensart von verdrängter »libido« einsetzt. Erst die künstlerische Einfühlung in die Haltung des »Patienten« zu seinen Lebensaufgaben lässt erkennen, dass er sich, bewusst oder unbewusst, wohl anders ausdrückt als andere, aber doch so, dass sein Persönlichkeitsgefühl (man kann auch Ichgefühl sagen) steigt, wenn auch unter namhaften Kosten. Die Frage nach dem Grunde der teilweisen Unbewusstheit erklärt sich einerseits aus der Rivalität der kritischen Instanzen des Gemeinschaftsgefühls. Abgesehen von der Psychose ist es ein schweres Stück, sich als den Glücklichsten, Bedeutendsten, Ersten aufzuspielen. Andererseits muss ich aber doch bemerken, dass, obwohl jeder etwas von dieser Don Quijoterie in sich trägt, sie auch den spitzfindigsten Analytikern unbekannt geblieben ist, also auch bei ihnen im Unbewussten liegt. Fälle von Platzangst zeigen ebenso wie solche von Waschzwang, Angstneurose usw., wie sich die Angst oder der Zwang als Ausdrucksmittel, als Beweis der Einzigartigkeit durchsetzt. »Wie kann man ein solches Juwel, wie ich es bin, solchen Gefahren, Schwierigkeiten aussetzen?« 1922 Erg.: Gelegentlich findet man in der Platzangst als Kompensation die Tendenz als derjenige zu erscheinen, den das ganze Haus stützen muss. 1928 29 Erg.: der Bußfertigkeit 1922 30 also ] Ausl. 1922 31 sie ] Änd.: es 1922 32 sie ] Änd.: es 1922
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mehr als einschränkende Warnung wirksam werden und als tief innerlicher Beweis für die wertvolle Gesinnung des Handelnden33. Nicht zuletzt liegt der Antrieb zur Bußfertigkeit in diesem Sich-auf-sich-selbst-Besinnen und in der Hervorhebung innerer Werte, wobei immer der Gegensatz zu anderen gedacht ist, so sehr, dass zuweilen die Bußfertigkeit und Reue eine stark gegensätzliche, trotzige,34 kämpferische35 Note aufweisen36. Der epidemische Charakter von Bußübungen insbesondere entbehrt fast nie dieses auffälligen Prunkens, man überbietet sich im Schreien, Weinen, in Selbstquälereien und in der Zerknirschung. Die Möglichkeit also, sich durch büßerische Veranstaltungen, wie Fasten und Beten, in Sack und Asche zu gehen etc.37, ein Gefühl der Überlegenheit zu sichern, wird leicht einen Anreiz für schwächere Seelen abgeben, sobald sie geneigt sind, fromm und gut, religiös und erhaben zu identifizieren. Und die Askese wird zur Erhebung führen, wenn sie als Triumph, in meinem Sinne als männlicher Protest38 empfunden wird. Dass es dabei nur auf die willkürliche Wertung ankommt, bei der häufig der Gegensatz zu sonst überlegenen Personen als Ausgangspunkt genommen wird, zeigt sich auch beim Widerpart des Gottesfürchtigen, beim Atheisten, streitbaren Freigeist und Bilderstürmer, die in gleicher Weise ihre Überlegenheit zu dokumentieren suchen. In diesem Sinne ist die Äußerung LichtenbergsK zu verstehen, dort, wo er anmerkt, wie selten die Leute seien, die nach den Satzungen ihrer Religion leben, und wie häufig, die für ihre Religion streiten und kämpfen. Der Umschlag vom stürmischen Freigeist zum Orthodoxen ist nicht selten, ebenso von der Sinnenlust zur Askese.39 Neben der Sicherungstendenz in der Bußfertigkeit spielt also40 der männliche Protest als Wegweiser eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wir sind aber noch genötigt, ihr Baumaterial, die in der Psyche gelegenen Möglichkeiten, ins Auge zu fassen, deren sie sich bedient, um Ausdruck zu werden. Es ist keine Frage, dass Unterwerfungshandlungen und -gedanken dabei zutage treten, masochistische, in unserem Sinne weiblich gewertete Elemente der menschlichen Psyche. Wie unverträglich diese mit dem Menschheitsbewusstsein sind, und wie sie stets eine Korrektur in der Richtung des männlichen Protestes erfor33 34 35 36 37 38 39
Beweis bis Handelnden ] hervorgehoben 1922 Erg.: eitle 1919 Erg.: feindselige 1922 aufweisen ] Änd.: aufweist 1928 etc. ] Änd.: usw. 1922 in meinem bis Protest ] Ausl. 1928 Erg.: Beide sind nicht so weit voneinander entfernt als man glaubt. Pascal K: »An Gott zweifeln heißt an Gott glauben!« 1922 40 also ] Ausl. 1928
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dern, dass sie also pseudomasochistische Erscheinungen sind, geht daraus hervor, dass diese Unterwerfung mit einem Aufschwung, mit einer Erhöhung verbunden ist. Die Kraftlinie geht also auch in diesem Falle von unten nach oben, denn der Bußfertige fühlt sich erhoben oder gereinigt, er spricht mit seinem Gotte, er steht ihm näher als andere, als sonst. Und es [184] erwartet ihn »die Freude im Himmelreich«, eine Erfüllung seiner Leitlinie. Eine meiner Patientinnen »strafte sich« nach dem Tode ihrer 72-jährigen Mutter, mit der sie zeitlebens in Hader gelebt und der sie mit Recht Vorwürfe machen durfte, durch heftige Reuegefühle wegen lieblosen Benehmens und durch Schlaflosigkeit. Ihre Reuegefühle trugen den Charakter der Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Die Analyse ergab, dass sie ihre moralische Überlegenheit einer Schwester gegenüber41 beweisen wollte. Die Schwester war verheiratet, meine Patientin stand in Versuchung, eine »sie erniedrigende« Liaison mit einem verheirateten Manne einzugehen. Dadurch wäre sie nach ihrer Auffassung der Schwester gegenüber gesunken. Gelegentlich des Todes ihrer Mutter führte der männliche Protest42 eine Situation herbei, die sie wieder nach oben brachte – die stärkere Ergriffenheit durch das traurige Ereignis43. In der Kulturgeschichte wie in der Neurose artet die Bußfertigkeit nicht selten bis zur Geißelung, Flagellation aus. Aus RousseausK Bekenntnissen und aus privaten Mitteilungen gesunder und neurotischer Personen, ebenso auch aus guten Kinderbeobachtungen (z. B. AsnaurowsK)44 wissen wir, dass Schläge45 bei manchen Personen imstande sind, sexuelle Erregungen hervorzurufen. Dies das reale Moment, somatisch fassbar, das im Naturell solcher Individuen vorzufinden ist und das auch die Auswahl der Buße leitet. Mir gaben Patienten an, dass sie die Schläge auf das Gesäß in der Kindheit angenehm empfanden, wenngleich ihnen das Geschlagenwerden fürchterlich war. Im späteren Leben der Neurotiker ist die Flagellation analog der Masturbation und allen anderen Perversionen ein sichtbarer Ausdruck der Furcht vor dem sexuellen Partner. Folgende Mitteilung verdanke ich einer Patientin, die wegen heftiger Migräne in meine Behandlung kam: Sie hatte einige Jahre vor der Kur Tagesfantasien, in denen sie von einem Mann, der mit ihr verheiratet war aber nicht ihrem wirklichen Gatten glich, bei einem Ehebruch ertappt und gezüchtigt wurde. Als Fortsetzung dieser Fantasie folgte eine heftige Selbstgeißelung, bis sie erschöpft zusammenbrach. Diese Geißelung führte starke sexuelle Emotio41 moralische bis gegenüber ] hervorgehoben 1922 42 der männliche Protest ] Änd.: das Streben nach Überlegenheit 1928 43 Erg.: und die Beendigung ihrer Liaison 1922 44 (z. B. Asnaurows) ] Ausl. 1919 Anm.: Siehe Asnaourow, Sadismus in der Kultur, Verlag E. Reinhardt, München. 1919 45 Erg.: und ängstliche Erregung 1928
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nen herbei. In der Analyse stellte sich heraus, dass die Frau ihren Mann – in neurotischer Weise – hasste und in diesem Hasse gerne zu einem Ehebruch geschritten wäre, um ihn zu erniedrigen. Nun war sie zu alt geworden, um in der Liebe Geltung zu finden – früher hinderte sie der männliche Protest. – Kurz bevor sie an die Flagellation dachte, spielte sie mit Ehebruchsfantasien, nicht ohne sich vor einer Verwirklichung zu sichern. Die Entdeckung durch den Mann, die Prügel und die autoerotische Befriedigung stammen aus der antizipierenden Sicherungstendenz und sind ein Spiel der Fantasie; Letztere betont besonders stark die Furcht vor dem Mann. Die Ersetzung ihres Gatten durch einen anderen ist Wirkung der Entwertungstendenz und gleichwertig ihren Ehebruchswünschen: Ihr Gatte soll erniedrigt werden, ein anderer wäre besser. Fortsetzend desavouiert sie diese gelegentliche Annahme durch den Ehebruch gegen den anderen. Mit dem Schwinden der Jahre hörte die Flagellation auf. Aber die Entwertungstendenz richtete sich heftiger gegen ihren Mann und gegen alle Menschen. Sie bekam Migräne, wenn sie befürchtete, ihre herrschende Rolle irgendjemandem gegenüber einzubüßen. Und ihre Erkrankung ermöglichte ihr eine völlige Zurückziehung aus der Gesellschaft. Innerhalb der Familie wurde sie durch [185] ihr Leiden unumschränkte Herrin. Die Ärzte der Residenz aber hat sie in großer Zahl herabgesetzt, indem sie trotz aller Mittel an der Migräne weiterlitt. Selbst Morphium versagte, was ich bezüglich der perversen Reaktion dieses Mittels in anderen Fällen zu beachten empfehle. Dass sie auch meiner Kur die größten Hindernisse in den Weg stellte und mich bei allem offenen, überschwenglichen Lob durch Beibehaltung der Schmerzen lange bloßzustellen versuchte, bemerke ich nebenbei als Beitrag zur Beendigung der Kur. Die Patienten werden erst gesund, wenn sie46 dieses Motiv zur Festhaltung an ihrer Krankheit, den Arzt herabzusetzen, verstehen. Nebenbei will ich noch darauf hinweisen, dass nach meinen Erfahrungen der »religiöse Wahnsinn«, die Fantasien und Halluzinationen von Gott, Himmel und Heiligen, damit auch das Gefühl der Zerknirschung dahin zu verstehen sind, dass sie die infantilen47 Größenideen dieser Patienten sowie ihre Überlegenheit über die Umgebung48 auszudrücken versuchen. Oft knüpft sich ein feindliches Gefühl gegen die Umgebung daran, so, wenn sich ein Katatoniker von Gott befehlen lässt, dem Wärter eine Ohrfeige zu geben oder einen Nachttisch umzuwerfen, oder wenn er seine jüdische Verwandtschaft zur Taufe zu zwingen versucht. Der »Aufschwung« beim Manischen, die Größenideen beim Dementen49 sind Parallelerscheinungen und weisen auf das ver46 47 48 49
Erg.: auch 1919 infantilen ] Änd.: kindischen 1922 Erg.: ihre Gottnähe 1922 beim Dementen ] Änd.: bei Dementia praecox 1919
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grabene Gefühl der Erniedrigung hin, das nach Überkompensation im Wahn verlangt*. In der ärztlichen Praxis stößt man häufig auf Kinder, die den Weg der Aggravation und Simulation betreten, um sich einer Bedrückung durch die Eltern zu entziehen. Wie nahe diese Erscheinungen an Lügenhaftigkeit grenzen, ohne sich mit ihr ganz zu decken, leuchtet ohne Weiteres ein. Auffällig ist aber dabei das deutliche Hervortreten organischer Minderwertigkeitszeichen sowie50 das Vordringen der neurotischen Charakterbildung,51 somit der neurotischen Disposition. Als Beispiele seien drei Fälle von Beobachtungen bei neurotischen Kindern mitgeteilt. Ein siebenjähriges Mädchen kommt wegen anfallsweise auftretender Magenschmerzen und Übelkeiten52 in die Behandlung. Wir finden ein zartes, schwächlich gebautes Kind mit Struma cystica, adenoiden Vegetationen und vergrößerten Tonsillen. Die Stimme hat einen rauen Beiklang. Auf Befragen gibt die Mutter an, dass das Kind öfters an Katarrhen mit Husten leidet, die sich auffallend in die Länge ziehen, ebenso an protrahierten Dyspepsien. Ihr jetziges Leiden hält seit einem halben Jahr an, ohne dass je ein organisches Leiden nachweisbar wäre. Dabei ist der Appetit und Stuhl immer normal.53 Die Magenschmerzen hätten sich eingestellt, seit das Kind in der Schule sei. Ihr Fortgang in den Lehrgegenständen sei ein ausgezeichneter, die Lehrerin habe aber wiederholt ihrer Verwunderung über den auffälligen Ehrgeiz des Kindes Ausdruck gegeben. Gegen Ermahnungen sei es sehr empfindlich und fühle sich der um dreieinhalb Jahre jüngeren Schwester gegenüber stets zurückgesetzt. Was der Mutter besonders auffiel, war eine bedeutende Verlängerung der Klitoris, eine der Genitalanomalien, auf deren Bedeutung als Minderwertigkeitszeichen ich aufmerksam gemacht habe und die später unabhängig von mir von BartelK und [186] Kyrle54 K gefunden und als charakteristisch hervorgehoben wurden. Die Haut ist allenthalben überempfindlich und das Kitzelgefühl an *
Paul Bjerre K (Zur Radikalbehandlung der chronischen Paranoia, Wien u. Leipzig. Deuticke55 1912) hat als Erster in überzeugender Weise die Bedeutung von männlichem Protest und Sicherungstendenz in der Psychose ausführlich geschildert.56
50 sowie ] Ausl. 1919 51 Erg.: des ungebändigten Trieblebens und des [Änd.: infolge 1922] Mangels des Gemeinsinns 1919 52 Üblichkeiten ] Änd.: Übelkeiten 1928 53 Erg.: Das Kind zeigt große Genäschigkeit. 1919 54 Erg.: später von TandlerK, GrossK und KretschmerK 1922 55 Deuticke ] Ausl. 1928 56 Erg.: Siehe auch Melancholie und Paranoia, II. Bd. 1919 Änd.: in »Theorie und Praxis«.[sic!] 1922
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den disponierten Stellen auffallend erhöht. Das Kind verlangt oft gekitzelt zu werden57. Die Ängstlichkeit des Kindes58 übersteigt das normale Maß. – Als weiteres organisches Minderwertigkeitszeichen ist auch eine hervorstechende Schiefstellung der Schneidezähne anzusehen, die auf Minderwertigkeit des Magen-Darm-Traktes hinweist. Der Rachenreflex ist deutlich erhöht. Man gewinnt aus diesem Ensemble von Erscheinungen den Eindruck, dass auch die Reflextätigkeit des Magen-Darm-Traktes erhöht ist. In der Tat hat das Kind in den ersten drei Jahren häufig erbrochen. Die zahlreichen Dyspepsien weisen gleichfalls auf die Minderwertigkeit des Ernährungstraktes hin. Vor einem Jahre stellte sich anschließend an ein Ekzem des Afters – Ende des minderwertigen Darmtraktes – ein mehrere Monate anhaltendes Jucken im After ein, das von dem Hausarzte unter suggestiver Behandlung mit Zuhilfenahme einer indifferenten Salbe geheilt wurde. Der schmerzhafte Druck im Magen erwies sich als ein psychischer Reflex, der jedes Mal eintrat, wenn das Kind in der Schule oder im Haus eine Herabsetzung befürchtete*. Der Endzweck dieses auf dem Boden der Organminderwertigkeit vorgebildeten59 Reflexes lag in dem Bestreben, einer Strafe vorzubeugen und das Interesse der etwas barschen Mutter, die das jüngere Mädchen bevorzugte, auf sich zu lenken. Zur Fixierung und zur offensichtlichen Aggravation kam es offenbar nach inneren Wahrnehmungen dieser erhöhten Reflextätigkeit, sobald das Kind nach einer brauchbaren Leitidee ausschaute, um sein Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen. Spontane Äußerungen über spurweise Vorstellungen künftiger Gravidität – als des zu erwartenden Schicksals einer weiblichen Rolle, konnte ich wegen der Kürze der Kur nicht wahrnehmen.60 Die Anfälle verschwanden nach kurzer Zeit, nachdem ich dem Kinde den Zusammenhang klargemacht hatte. Ein Traum nach einem dieser Anfälle deutet in die oben geschilderte Richtung. Sie träumte: »Meine Freundin war unten. Dann spielten wir miteinander.« Ihre Freundin war bevorzugte Rivalin in der Schule. Es setzte oft Kämpfe *
R. Stern K hat ähnliche Erscheinungen, von denen in diesem Buche mehrmals die Rede war, als »präaktive Spannungen« beschrieben. Aus meinen Darlegungen geht hervor, dass es sich um die planvolle, wenn auch unbewusste Verwendung der Reflexerregbarkeit minderwertiger Organsysteme (»Studie«, l. c.) handelt, um »intelligente61 Reflexe«.62
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Erg.: was als Zeichen eines ungezähmten Triebverlangens wichtig ist 1922 Die bis Kindes ] Änd.: Seine Ängstlichkeit 1919 Erg.: nunmehr benützten, d. h. neurotisch gewordenen 1928 Spontane bis wahrnehmen ] Ausl. 1922 intelligente [ Änd.: intelligent gewordene 1919 Erg.: Aerophagie spielt dabei oft eine große Rolle. 1928
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mit ihr ab, ohne dass es zu Handgreiflichkeiten kam. Sie wohnte wohl63 ein Stockwerk höher, und der gemeinsame Spielplatz war stets die Wohnung unserer Patientin. Aber die Ausdrucksweise in der Traumerzählung war auffallend genug. Als ich das intelligente Kind fragte, ob man denn sage: »Die Freundin war unten«, wenn die Erzählerin mit ihr spielte, besserte es sofort aus: »Sie war bei mir.« Nehmen wir aber an, dass die Ausdrucksweise richtig und der Akzent auf dem »unten« ruht, dann verbirgt sich dahinter der Gedanke, dass die Rivalin wie in einem Kampfe unserer ehrgeizigen Patientin unterlegen war. »Die Freundin war unten« heißt demnach: »Ich war oben«, eine Auffassung, durch die man dem64 Standpunkt der Redenden erst gerecht wird. Auch das »Dann« zeigt in die gleiche Richtung. Es bekommt erst seinen [187] Sinn, wenn wir in den beiden Traumbildern ein zeitliches Intervall gelten lassen, etwa: Zuerst muss ich der Freundin überlegen sein, dann will ich mit ihr spielen. Die Bestätigung unserer Auffassung liefert die Vorgeschichte des Anfalles, der dem Traume vorausging. Die Spiele der beiden Mädchen waren in der Regel »Vater und Mutter spielen« oder »Doktor spielen«. Bei ersterem Spiel war es zwischen den beiden Mädchen zu einem Streit gekommen, wer den »Vater« spielen sollte, bis der Vater schlichtend eingriff und unserer Patientin tadelnd vorhielt, dass die Freundin immer die nachgiebigere, sie selbst immer unnachgiebig sei, was auch der Wahrheit entsprach. Die Freundin bekam hierauf die »Vaterrolle«. Als sich die Familie kurz nachher zum Abendbrot an den Tisch begab, stellte sich der Anfall bei dem Kinde ein. Sie aß nichts und wurde zu Bett gebracht, und zwar ins Schlafzimmer der Eltern, wo sonst ihre andere Rivalin schlief, die kleine Schwester. Der Traum setzt nun in der im Anfall gegebenen Tendenz fort, die Patientin reißt die männliche Rolle an sich und gibt uns damit den Wink, wie sie ihre Geltungssucht und die Männlichkeit gleichstellt. Die Darstellung des Weiblichen als der Unterliegenden in dem Worte »unten« verstärkt diese Auffassung ganz besonders, nicht ohne dass die Vermutung auftaucht, dass die Patientin die räumliche Position im Geschlechtsverkehr kennt65. Sie schlief bis zur Ankunft ihrer jüngeren Schwester im Schlafzimmer der Eltern, und auch späterhin, wenn irgendein Unwohlsein bei ihr eintrat. Diese66 der Mutter gegenüber angedeutete Vermutung blieb unwidersprochen, hatte aber sein Gutes, insoferne die beiden Kinder dauernd das Schlafzimmer räumen mussten. – Die Charaktereigenschaften des Kindes aber sehen wir auch hier wieder in der Richtung des männlichen Protestes wirksam, als weit vorgeschobene Vorposten, die jede Analogie, jedes symboli63 64 65 66
wohl ] Ausl. 1919 Erg.: ehrgeizigen 1922 nicht ohne bis kennt ] Ausl. 1922 Diese ] Änd.: Die 1922
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sche Erleiden eines weiblichen67 Schicksals, Herabsetzung, Verminderung des Persönlichkeitsgefühls von ferne schon abzuwehren hatten und sichernd vor kommendem Unheil wirken sollten.68 Eine ähnliche Affektion ist das den Ärzten wohlbekannte Schulerbrechen und Erbrechen bei Tisch oder kurz nach dem Essen, das in seinem psychischen Aufbau der obigen Erkrankung gleicht, indem es einen unbewussten oder unbewusst gewordenen Kunstgriff darstellt, wie man einer drohenden Herabsetzung entgeht und69 sich Geltung verschafft70. Ein 13-jähriger Junge zeichnet sich durch eine auffällige Indolenz seit drei Jahren aus, die ihn trotz seiner unbestreitbaren Intelligenz am Fortkommen in der Schule hindert71. Seit einigen Monaten zeigt sich bei ihm ein weinerliches Wesen, das besonders zutage tritt, wenn man ihn aus irgendwelchen Gründen ermahnt. Vater und Mutter sind wohl seit jeher etwas zu scharf mit ihm ins Gericht gegangen, aber soweit ich Erkundigungen einziehen konnte, galten ihre Ermahnungen zumeist seiner Langsamkeit beim Essen und Ankleiden und insbesondere seinem allzu eifrigen Bücherlesen.72 In der letzten Zeit war es so weit gekommen, dass der Knabe jedes Mal zu weinen begann, wenn man ihn an irgendetwas erinnerte, oder sobald man ihn drängte. Die Folge dieses Zustandes war wohl eine vorsichtigere Haltung der Eltern, doch glaubten sie bei der Lässigkeit des Knaben sich nicht aller Ermahnungen entschlagen zu können. [188] Eine Frage nach dem letzten Auftreten seines Weinens ergab, dass er ermahnt wurde, sich rascher zur Schule zu begeben, als er schon eine halbe Stunde73 vor dem Spiegel bemüht war, die aufwärts strebenden Haare mit der Bürste 67 weiblichen ] Ausl. 1928 68 Erg.: Die spätere, gute Entwickelung des Kindes wurde nur einmal durch einen Kameradschaftsdiebstahl aus Gründen der Genäschigkeit gestört. 1919 gestört ] Änd.: (siehe die ungezähmte Triebhaftigkeit oben) gestört 1928 Erg.: Einige Zeit später erkrankte der Vater an Manie, als er sich durch seine Brüder stark verkürzt [hervorgehoben 1928] glaubte. Wer die auch in »gesunden Zeiten« stets vorhandene Eitelkeit von Manikern endlich erkennen will, wird verstehen, dass die Familienluft dieses Mädchens reichlich vergiftet war. 1922 69 und ] Ausl. 1919 70 Erg.: und Entscheidungen ausweicht. 1919 Erg.: Stärkere Grade dieser auf Nahrungsverweigerung hinzielenden kämpferischen Haltung findet man im »nervösen Hungerstreik« von Mädchen, die um die erste Rolle ringen. 1922 71 hindert ] Änd.: hinderte 1922 72 Anm.: Letzteres öfter ein Anzeichen von Unsicherheit der Schule gegenüber. Deutlicher sprechen für dieses Schulschwänzen, Verwahrlosung und Vagabondage. 1919 Erg.: Siehe Adler: »Wo soll der Kampf gegen die Verwahrlosung einsetzen?« in »Soziale Praxis«, Wien, Oktober 1921. 1922 73 Erg.: voll Eitelkeit 1922
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glatt zu bürsten. Die Analyse ergab, dass er sich auf bösen Wegen sah und sich durch sorgfältige Maßnahmen vor peinlichen Herabsetzungen sichern wollte. Er machte sich schwere Vorwürfe wegen knabenhafter sexueller Ausschreitungen, die er im Verein mit anderen Knaben und Mädchen begangen hatte. Vor allem fürchtete er die Entdeckung durch seine Eltern, und diese Furcht hatte sich ungeheuer gesteigert, als er eines Nachts im Schlafe nachtwandelnd ins Dienstbotenzimmer geraten war und zu seiner Verwunderung des Morgens im leeren Bett der Köchin erwachte. Dieses Nachtwandeln erfolgte, wie alle anderen Fälle, die ich ergründen konnte, im männlichen74 Protest gegen ein Gefühl der Herabsetzung. Tags vorher war er nämlich wegen schlechten Fortkommens aus der Mittelschule genommen und in die Bürgerschule gebracht worden. Der Eindruck dieser Szene, der Gedanke, dass er im Schlafe verraten könnte, was ihn und seine Freunde beschäftigte, war bei ihm, der im Schlafe wie alle Nachtwandler zu sprechen pflegte, ein so ungeheurer, dass er zu starken Sicherungen schritt. Diese betrafen in erster Linie seine Erektionen, die er vor den Eltern sorgfältig zu verbergen suchte. Dies tat er, indem er das »aufgerichtete« Membrum mit der Hand nach abwärts strich. Nun hatte die Sicherungstendenz so sehr von ihm Besitz ergriffen, dass er auch die aufgerichteten Haare so behandelte, als ob sie Sexualorgane wären, wie ja starke Sicherungstendenzen immer weiter greifen, als unbedingt nötig ist. In diesem Falle aber sehen wir den schüchternen Beginn einer Zwangshandlung, deren Mechanismus regelmäßig in einer Darstellung des männlichen Protestes oder der gegen ihn gerichteten Sicherungstendenz besteht. Letztere wird dann Inhalt und treibende Kraft der Zwangsneurose, wenn der männliche Protest zu weit geht und durch innere Widersprüche ins »Weibliche« zu geraten droht, weil die Konsequenz in einer Bestrafung, Herabsetzung oder Blamage bestünde. Dann erscheint die Sicherung noch als das Männlichere, wenngleich das lockende Gefühl des Triumphalen nicht leicht dabei zustande kommt. Unter Umständen lässt es sich gleichwohl erzeugen, insbesondere durch Bekämpfung der Lust in jeder Form, sodass dann eine machtvolle Askese als Triumph gewertet wird75. In der Tat gewannen in der Sicherungstendenz asketische Neigungen als Formen der Selbstquälerei bei dem Knaben Raum, und seine Essunlust war darauf berechnet, nach Analogie des Begriffs der »Enthaltsamkeit« den hervorbrechenden sexuellen Gelüsten Einhalt zu tun. Der ohnehin schwächliche Junge kam herab, sodass die Eltern einzugreifen gezwungen waren. Dabei tra74 männlichen ] Ausl. 1928 75 seine Erektionen bis gewertet wird ] Änd.: Äußerlichkeiten, durch die er guten Eindruck zu machen hoffte, und sein weinerliches Wesen, dazu bestimmt, sich die Eltern vom Halse zu halten. In diesem Falle sehen wir den schüchternen Beginn einer Zwangshandlung 1922 Erg.: Sein Aufsuchen des Dienstbotenzimmers war gleich einer lebendigen Anklage: »Ich bin hier wie ein Dienstbote.« 1928
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fen sie auf seine mühsam errungene76 Sicherungstendenz. Da führte die psychomotorische Vertrautheit mit den elterlichen Angriffen zur Sicherung durch das Weinen, wobei seine Geltung sich wieder hob77. Sein eifriges Bücherlesen war ursprünglich gleichfalls der Sicherungstendenz entsprungen. Die Unsicherheit, die ihn in der Pubertät erfasst hatte, zwang ihn, Trost, Belehrung und sichernde Furcht vor Erkrankungen78 aus dem Lexikon zu holen. Er zeigte in den einschlägigen Problemen eine unglaubliche Belesenheit. Einmal auf dem Wege, Sicherung aus den Büchern zu schöpfen, übertrieb er diesen [189] Hang, insbesondere weil auch die älteren Geschwister, denen er nacheiferte, auffallend viel Lektüre betrieben, dann auch, weil er damit den Eltern, seinen Unterdrückern, zuwiderhandelte, und drittens, weil er auf diesem Wege wieder seinen ursprünglichen männlichen Protest befriedigen konnte, den Helden seiner Bücher in Gefahren und Kampf folgen zu können, was in der Wahl seiner Lektüre auch zum Ausdruck kam: Er las mit Vorliebe Karl May K.79 Der dritte Fall betrifft eine durch psychische Bedingungen protrahierte PertussisK bei einem elfjährigen Knaben, der um diese Zeit noch an Enuresis80 litt. Es war ein ungebärdiges, jähzorniges Kind, das stets seinen Vater an sich fesseln wollte,81 während es seine Stiefmutter als die grausame Verfolgerin hinzustellen versuchte. Das empfängliche Gemüt des Vaters zeigte sich in einer übergroßen Besorgnis während der Keuchhustenanfälle. Als eines Morgens die Mutter dem Knaben wieder wegen seines Bettnässens Vorwürfe machte, sprang der Knabe lachend82 aus dem Bett und lief unbekleidet im Zimmer umher, bis der besorgte Vater unter unwilligen Bemerkungen gegen die Mutter den hastig atmenden Knaben zu Bett brachte. Ein heftiger Hustenanfall, der dem schon geschwundenen Keuchhusten glich, schloss diese Szene ab und verursachte einen heftigen Streit zwischen den Eheleuten. Als der Knabe abends wieder das Bett aufsuchte, sprang er erregt auf und galoppierte im Bett hin und her, 76 errungene ] Änd.: erworbene 1928 77 Erg.: wie übrigens auch durch die Bemühungen der Eltern, ihn zum Essen zu bringen 1928 78 vor Erkrankungen ] hervorgehoben 1922 79 Erg.: Der Sinn seines Nachtwandelns ergab sich als die Darstellung seiner Verstimmung gegen die Eltern, denen er auch sonst den Vorwurf machte, »dass sie ihn wie einen Dienstboten behandelten«. Ähnliche Leistungen wie bei dienenden Personen habe ich bei Hebephrenen beobachtet, wenn sie ihre Unfähigkeit zu höheren Leistungen demonstrieren wollten oder gleichermaßen drückend und demonstrativ auf ein Gefühl der Zurückgesetztheit reagierten. 1922 80 Enuresis ] hervorgehoben 1922 81 Erg.: wie dies oder Ähnliches immer der Enuresis zugrunde liegt 1928 82 Erg.: und wie von Sinnen 1922
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wobei sein Atem keuchend ging. Die Deutung des Anfalls lag auf der Hand. Der Knabe wollte abermals einen Vorwurf gegen die Mutter provozieren und den Vater auf seine Seite ziehen. Eine suggestive Behandlung und Aufdeckung des Anfallzweckes brachte die Erledigung dieser Anfälle, die Pertussis83 K zog sich aber noch ein weiteres halbes Jahr in die Länge.84 Analoge Mechanismen85 liegen der Idee des Selbstmordes86 zugrunde. Die Tat selbst scheitert zumeist an der Erkenntnis des inneren Widerspruches dieser Art des männlichen87 Protestes88. Der psychische Umschlag erfolgt im Gedanken an den Tod, an das Nichtsein, an das herabsetzende Gefühl, zu Staub zu werden, seine Persönlichkeit ganz zu verlieren. Wo sich Hemmungen religiöser Natur einschieben, sind sie wohl nur die Hülle, ein Zurückbeben, als ob auch89 diese Handlung noch90 mit Strafe belegt wäre. Hamlet K, bis auf unsere Zeit das Leitbild des an seiner Männlichkeit Zweifelnden, des psychischen Hermaphroditen, der sich durch sicherndes Vorausdenken die Hemmungen seines männlichen Protestes91 selbstbewusst stellt, der gegen seine weibliche Linie sich92 aufbäumt, nicht ohne dem dialektischen Umschlag auf der männlichen Linie93 auszuweichen, schützt sich vor Selbstmord durch Heraufbeschwörung jener Träume, »die in dem Schlafe kommen mögen, wenn unser irdisch Teil wir abgeschüttelt«. In der Friedhofsszene zeigt sich sein wahres Entsetzen, weil Yorriks Schädel nicht mehr gilt als die anderen.94 Ich habe seit längerer Zeit die Anschauung vertreten, dass der Selbstmord eine der stärksten Formen des männlichen95 Protestes, eine erledigende Sicherung vor Herabsetzung96 darstellt. Die mir zugänglichen Fälle, zumeist von 83 Pertussis ] Änd.: Pseudo-Pertussis 1928 84 Erg.: Einige Jahre später – eine Behandlung des Knaben war nicht erfolgt – erfuhr ich von einem größeren Diebstahl dieses Jungen. 1919 85 Erg.: wie die bisher beschriebenen 1922 86 Selbstmordes ] hervorgehoben 1922 87 männlichen ] Ausl. 1928 88 Erg.: gegen verpflichtete Personen 1928 89 auch ] Ausl. 1922 90 noch ] Ausl. 1922 91 seines männlichen Protestes ] Änd.: gegen seinen männlichen Protest 1922 92 gegen bis sich ] Änd.: sich aber gegen seine weibliche Linie 1922 93 Erg.: des Mordes 1919 94 Anm.: Der Sinn der Hamlettragödie scheint bis heute verborgen geblieben zu sein. Es ist wie in vielen Dramen Shakespeares das Tasten nach der Grenzlinie des erlaubten und unerlaubten Mordes in unserer Kultur. Die Hamletdeuter, die immer wieder nur die Unentschlossenheit des Helden hervorheben, möchte ich fragen, ob sie sich leichter zum Mord an ihrem Oheim entschlössen als Hamlet. 1919 95 männlichen ] Ausl. 1928 96 Erg.: und [Erg.: eine 1922] Rache am Leben 1919
IX. Kapitel: Selbstvorwürfe, Selbstquälerei, Bußfertigkeit und Askese . . .
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Selbstmordversuchen, haben stets in ihrer Psyche die neurotische Struktur erkennen lassen. Zeichen von Organminderwertigkeit, Gefühle von Unsicherheit und Minderwertigkeit aus der Kindheit, ein als allzu weiblich empfundener psychischer Einschlag und der darauf antwortende, überspannte männliche Protest fanden sich in gleicher [190] Anordnung wie bei jedem Neurotiker. Das nähere oder entferntere Beispiel gibt häufig die Richtung. Der mächtigste psychische Haft97 stammt aus den Todesgedanken der Kindheit98, die in spielerischer, noch mehr in vorbildlicher und vorbereitender Art, indem sie unter der Wirkung der Persönlichkeitsidee die psychische Physiognomik formen, eine stete Bereitschaft für den Selbstmord herstellen. Man findet in der Vorgeschichte der Selbstmordkandidaten die gleichen Neigungen, durch Krankheit Einfluss zu gewinnen, sich durch Ausspinnen von Todesgedanken und Träumereien über die hervorbrechende Trauer der Angehörigen in einer Situation der Herabsetzung, bei Gefühlen verschmähter Liebe Befriedigung zu verschaffen. Und die Idee wird zur Tat in einer gleichen Situation der Verminderung des Persönlichkeitsgefühls, sobald diese Einbuße zu stärkerer Entwertung des Lebens führt und imstande ist, den dialektischen Umschlag der männlichen Selbstmordidee in eine neuerliche Entwertung übersehen zu lassen. Somit müssen wir jenen Autoren recht geben, die im Selbstmord einen der Wahnbildung verwandten Vorgang erblicken. Meine und Bartels K Hinweise auf Organminderwertigkeiten, besonders auch auf Minderwertigkeiten des Sexualapparates, stehen in gutem Einklang. In der Neurose ist die Wahrscheinlichkeit einer Korrektur stärker, wenn99 auch nicht immer ein Hindernis des Selbstmordes100. Es scheint, dass die meist jahrelange Vertiefung des Neurotikers in das Selbstmordproblem selbst ein Zeichen und zugleich Mitursache der Korrektur ist. Und in der Tat sind Gedanken und Träume des Nervösen voll von Todesgedanken101. Hier der entsprechende Traum eines Neurotikers, der wegen Stotterns und psychischer Impotenz in Behandlung stand, in der Nacht, nachdem er vergebens auf einen Brief seiner Braut gewartet hatte: »Mir war, als ob ich gestorben wäre. Meine Angehörigen standen um den Sarg herum und gebärdeten sich ganz verzweifelt.« 97 Haft ] Änd.: Halt 1919 Änd.: Haft 1922 Änd.: Halt 1928 98 aus den bis Kindheit ] Änd.: aus den häufigen Todesgedanken der Kindheit als dem Ausdruck einer Unzufriedenheit 1922 99 Erg.: sie 1928 100 Erg.: ist 1928 101 Todesgedanken ] Änd.: Todesideen 1922 Anm.: Später von Freud anerkannt, aber missverstanden. Der Todeswunsch ist der gesuchte Ausgleich nur bei Menschen mit größerem Minderwertigkeitsgefühl. 1928
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[Der] Patient erinnert sich, in der Kindheit öfters102 Gedanken gehabt zu haben, dass er sterben möchte, weil die Eltern den jüngeren Bruder vorzogen. Seit jeher verfolgte ihn der Gedanke, dass er wegen einer Hydrokele und wegen Kleinheit seines Genitales103 minderwertig sei, keine Kinder haben werde. Später suchte er sich durch Herabsetzung der Frauen und großes Misstrauen gegen sie vor Unglück in der Ehe zu schützen. In Wirklichkeit fühlte er sich zu schwach und hatte Furcht vor der Frau. Sowie er diese Prüfung104 in der Ehe fürchtete, wich er kraft seiner motorisch gewordenen Einstellung allen Entscheidungen aus. Seine Impotenz trat ein, als er von seiner Braut das Jawort bekam, als Vorwand, als ein Kunstgriff, eine105 Ehe hinauszuschieben. Im Traume spiegelt sich106 der Gedanke, dass die Braut einen anderen lieber haben könnte. Daran knüpft sich der Versuch einer Lösung, wie er ihre ganze Liebe auf sich lenken könnte, bei welchem, so wie beim Arrangement seiner Impotenz, die Heiratsmöglichkeit ausgeschaltet ist. 107 [191]
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Erg.: den 1928 Hydrokele bis Genitales ] Änd.: Hydrokele und anderer Genitalanomalien 1922 diese Prüfung ] Änd.: die Prüfung auf sein Persönlichkeitsgefühl 1922 eine ] Änd.: diese 1922 Erg.: entsprechend seiner kindlichen Situation 1922 könnte, bis ausgeschaltet ist. ] Änd.: könnte, bei welchem die Heiratsmöglichkeit ausgeschaltet ist, so wie beim Arrangement seiner Impotenz. 1919 Änd.: und doch die Heiratsmöglichkeit ausschalten könnte, wie beim Arrangement seiner Impotenz. Er gelangte aber nur bis zu einer Lösung, die ihm seine persönliche Bedeutung in der Verzweiflung der Angehörigen zeigt. 1922
X. Kapitel Familiensinn des Nervösen – Trotz und Gehorsam – Schweigsamkeit und Geschwätzigkeit – Die Umkehrungstendenz1
In diesem Abschnitt will ich noch auf eine Reihe von Charakterzügen der Nervösen hinweisen, wie man sie öfters im Vordergrund der analytischen2 Betrachtung3 findet, ohne dass durch sie mehr wie das äußere Bild der Neurose beeinflusst wird. Sie helfen bloß die neurotische Individualität aufbauen, geben aber gerade dadurch der speziellen Neurose eine bestimmte Richtung oder fordern ein bestimmtes Schicksal im Zusammenstoß mit der Umgebung heraus. So kann es geschehen, dass der Familiensinn des Neurotikers in besonders aufdringlicher Weise hervortritt, dass die Familienforschung4 einen Teil des neurotischen Sinnens erfüllt, die tiefer liegenden Züge eines neurotischen, oft haltlosen Ahnenstolzes verdeckt, und dass so in gleicher Weise wie etwa durch Forschung nach Krankheitsheredität der sozialen Leistung von Liebes- und Ehebeziehungen entgegengearbeitet wird. Dies gelingt5 leicht durch Arrangement von Verliebtheit in einzelne oder alle Familienmitglieder; demnach kommt diese Verliebtheit unter dem Zwange der leitenden Fiktion und ihres inneren Widerspruchs, aus dem sich die Furcht vor der Entscheidung, vor dem geschlechtlichen Partner ergibt, zustande. Die Bereitschaft gilt dann der Herrschaft innerhalb der Familie, zu welchem Zwecke6 die Familienbande als heilig erklärt werden. – Der Zerfall mit der Familie liegt beim Nervösen angrenzend an die Steigerung des Familiensinns, sobald die Sicherungstendenz noch weiter vorschreitet und der Beweise bedarf, dass man sich nicht einmal auf Blutsverwandte verlassen darf. Menschenhass als abstrakte Richtungslinie des Charakters und Flucht in die Einsamkeit sind nicht seltene Erscheinungen, und treten in den Psychosen deutlicher hervor. 7 Die Unterordnung der Charakterzüge unter die leitende Fiktion lässt sich 1 2 3 4 5 6 7
Erg.: Ersatz eines Charakterzugs durch Sicherungen, Maßnahmen, Beruf und Ideal 1922 analytischen ] Änd.: psychologischen 1919 Betrachtung ] Änd.: Betrachtungen 1928 Erg.: oder Rassenforschung 1928 Erg.: auch 1919 Erg.: zuerst 1919 Anm.: Ganz allgemein findet man die Bindung des Nervösen an seine Familie stärker als sonst. Der Kreis der Gemeinschaft schreckt ihn immer wieder in den Kreis der
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besonders gut an den gegensätzlichen Zügen von Trotz und Gehorsam* einsehen, die einzeln oder in verschiedenem Maße gemengt zum Kolorit der nervösen Psyche viel beitragen. Die Einsicht in den dermaßen errungenen Aufbau dieser Charakterzüge, die aus neutralen, realen Eindrücken der vorneurotischen Zeit abstrahiert, neurotisch gruppiert und zu Richtungslinien verarbeitet werden, kann uns über die Entstehung, den Sinn und Zweck des Charakters belehren. Die Idee vom angeborenen Charakter fällt restlos in sich zusammen, da das reale Substrat zur psychischen Charakterbildung, und was immer von ihm angeboren ist, unter dem Zug der leitenden Idee sich so lange umformt, bis ihr Genüge getan ist. Trotz sowie Gehorsam sind dann nichts als psychische Attitüden, die uns den Sprung aus der unsicheren Vergangenheit in die schützende Zukunft verraten, wie andere Charakterzüge auch. 9 [192] Die Schüchternheit als Attitüde der Furcht vor der Entscheidung ist bei Nervösen öfters vom Charakterzug der Schweigsamkeit begleitet. Die Verwend*
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Adler, »Trotz und Gehorsam«, l. c. 8 Familie zurück. Hier holt er sich dann, was er sich im großen Kreis nicht zutraut: die Überlegenheit. Wo immer im Kreis der Gesellschaft man den Nervösen antrifft, zeigen seine Bewegungen eine rückläufige Tendenz gegen die Familie hin. 1919 Erg.: Häufig geht die Bindung von Nervösen an ihre väterliche Familie weiter, auch wenn sie in einer Ehe leben. »Zuhause« heißt dann bei ihnen nicht ihr eigenes Heim, sondern das der Eltern. Viele träumen immer vom Letzteren in einer Art, die deutlich den Vorzug des Elternhauses beweist und eine Spitze gegen den Gatten enthält, mindestens so, dass er im Bilde fehlt. Einen gleichen Angriff stellt die übermäßige, krankhaft übertriebene Trauer um einen Blutsverwandten dar. Auch der Stolz auf die eigene Abstammung dient gut dem Kampfe gegen den Gatten. Zuweilen hält die Bindung an, weil der Patient noch seinen Kampf gegen die Eltern nicht zu Ende gekämpft hat und weiter um seine Parität oder sein Vorrecht ringt. Meist freilich findet man den Familiensinn mit obiger Tendenz, um den eigenen Wirkungskreis durch Ausschaltung der Gemeinschaft einzuschränken, sobald ein Prestigeverlust droht und zu schmerzlich empfunden würde. In einem dieser Fälle fand ich bei einem überaus ehrgeizigen Mädchen den stärksten Anschluß an die Familie unter folgenden, sich einander ablösenden Zwangsgedanken: Hässlichkeit der Ohren, der Zähne, der Haare, später: als homosexuell, und nach der Lektüre psychoanalytischer Zeitungsartikel: als inzestuös zu gelten. Jede Berührung mit anderen Personen war durch Zwangserröten und Furcht vor Entdeckung ausgeschlossen. 1922 l. c. ] Änd.: in »Heilen und Bilden« 1919 Erg.: Von diesem Standpunkt aus zeigt sich das Verständnis des »Willens« gebunden an die Tatsache, dass er sich erschöpft in dem Kompensationsbestreben gegenüber einem Gefühl der Minderwertigkeit. Die dem Menschen als ein Denkfehler anhaftende Apperzeption »männlich – weiblich« lässt deshalb den Willen als männlich erscheinen. 1922
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barkeit dieser Bereitschaftsstellung ist beispielsweise auch darin gelegen, dass sie wie eine Isolierung wirkt und der Umgebung die Angriffsflächen entzieht. Auch als Spielverderber zeigt der schweigsame Nervöse zuweilen seine Überlegenheit und herabsetzende Tendenz. Oder er arrangiert durch die Wortkargheit und durch den Mangel an Einfällen den Beweis, dass er den andern, besonders wenn sie in der Mehrzahl sind, nicht gewachsen sei, insbesondere zur Liebe und Ehe nicht tauge. – In der Aufgreifung und Verstärkung des fiktiven Gegensatzes, in der Geschwätzigkeit, habe ich zuweilen das Suchen nach einem Beweis und das Bekenntnis gefunden, als ob der Patient kein Geheimnis bewahren könnte10. Eine andere Form des Angriffs und der Entwertung findet man in der vorlauten, ungeduldigen Art manches Nervösen, jedem in die Rede zu fallen. Die Absicht wird oft dadurch deutlicher, wenn er jede Bemerkung mit einem »Nein« oder »Aber« oder »Im Gegenteil« einleitet.11 Ein Charakterzug, dem die Neurose viel von ihrer Schärfe und Bedeutung verdankt, der sich immer vorfindet und mit dem Trotz und dem Negativismus zu den stärksten Ausdrucksmitteln des männlichen Protestes gehört, besteht in der Tendenz, alles anders, alles umgekehrt zu wollen. Dieser Zug findet sich in der Kompensationsbestrebung ebenso wie in der Neigung zu neurotischen Kunstgriffen, er liegt in der Rechthaberei und in der neurotischen Entwertungstendenz und zeigt eine ungeheure Verwendbarkeit zum Angriff gegen die Umgebung. Er ist das Gegenstück zu dem oft konservativen, pedantischen Wesen des Nervösen, erlaubt ihm aber gleicherweise seine Herrschsucht zu betätigen. Im Kern des männlichen12 Protestes, wenn dieser prinzipiell und nach neurotischer Gegensätzlichkeit konstruiert ist, findet man das Streben nach Veränderung und Umkehrung. »Der Volksmund erklärt als das Wesen aller weiblichen Dialektik: das immer anders Wollen«, berichtet E. FuchsK in der »Frau in der Karikatur«. In Kleidung, Sitte, Haltung und Bewegung dringt immer auch, meist unter Vorwänden, etwas von dieser Bizarrerie durch. Eine meiner Patientinnen dreht sich häufig im Schlafe derart um, dass sie verkehrt liegend erwachte. Sie versuchte auch im wachen Zustande alles verkehrt zu machen. Eines ihrer Lieblingswörter war: »Umgekehrt!« als Einwurf gegen Meinungen anderer. Den Wunsch, oben zu sein, zu reiten, die Hosen anzuhaben, findet man bei Patientinnen dieser Art ungemein deutlich zum Ausdruck gebracht. In der psychotherapeutischen Behandlung währt dieser Zug von Anfang bis zu Ende, kann, wie bei Katatonikern der Negativismus, stets vorausgesetzt werden und erstreckt sich auf die nichtigsten Dinge. Sehr häufig 10 Erg.: jedenfalls aber in den Vordergrund gelangen möchte 1928 11 Erg.: In allen Fällen dringt die Absicht durch, die Distanz zum andern zu vergrößern, nicht zu verringern. 1922 Erg.: sich über ihn zu erheben 1928 12 männlichen ] Ausl. 1928
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kommen diese neurotischen Widerspruchstendenzen in der Form zum Vorschein, der Arzt möge zu ihnen, nicht sie zum Arzte kommen13. Man hüte sich im Allgemeinen vor14 Voraussagungen bei der Behandlung der Nervösen,15 bei starker Umkehrungstendenz aber16 würde man jedes Mal zu Schanden. Das Oben wird zum Unten, das Rechts zum Links, das Vorne zum Hinten zu machen versucht, weil die leitende Fiktion »Umkehrungen«, das heißt die Verwandlung aus dem Weiblichen ins Männliche symbolisch verlangt17. Worte, Schrift (Spiegelschrift), das moralische, das sexuelle Verhalten, das Träumen (in Gegensätzen und in umgekehrter Reihenfolge), [193] und18 das Denken werden spielerisch, zugleich aber angriffsweise umgekehrt. Der hier angewendete Kunstgriff, sich männlich zu gebärden, hat meist etwas von zerstörender Wut an sich. Die Verwendung dieses »Umgekehrt« im Aberglauben, etwa das Schicksal zu foppen durch die Erwartung des Gegenteils dessen, was man gerne möchte, ein häufiger Zug bei Nervösen, der ihre ganze Unsicherheit und Vorsicht aufzeigt, führt uns wieder zur neurotischen Vorsicht zurück und lässt die große Bedeutung und die ungeheure Tragweite derselben im Seelenleben des19 Nervösen erkennen*. Um diesen Kern der Vorsicht herum können sich je nach der Toleranz des Leitbildes oder entsprechend der Situation Züge von Wahrhaftigkeit, ebenso von Lügenhaftigkeit gruppieren, die immer das Streben nach voller Männlichkeit20, das eine Mal in geradliniger Weise, das andere Mal auf einem Umweg zum Ausdruck bringen. Nahe verwandt sind ihnen Züge von Verstellung und Offenheit, von denen der erste Charakter deutlich das Gefühl der Verkürztheit, des Untenseins zum Ausgangspunkt nimmt. Stark antizipierende Sicherungstendenz zeigt der Charakterzug der Wehleidigkeit und Schmerzempfindlichkeit21, *
Siehe auch Adler, Syphilidophobie. l. c.22
13 Erg.: ferner in der negativistischen Neigung, die Behandlungsstunden prinzipiell zu verändern, anders anzusetzen 1922 14 Erg.: günstigen 1919 15 Erg.: vor Terminfestsetzungen usw., auch wenn man sich [Ausl. 1928] ganz sicher zu sein glaubt. 1922 16 aber ] Ausl. 1922 17 d. h. die Verwandlung bis verlangt ] Änd.: verlangt, d. h. [Änd.: oder 1928] die Verwandlungen aus dem »Weiblichen« ins »Männliche« 1922 18 und ] Ausl. 1919 19 des ] Änd.: der 1928 20 voller Männlichkeit ] Änd.: Überlegenheit 1928 21 Wehleidigkeit und Schmerzempfindlichkeit ] hervorgehoben 1922 22 l. c. ] Änd.: 2. Bd. 1919 Änd.: in »Praxis und Theorie«, l. c. 1922
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der deutlich der Umgebung, aber auch dem Patienten zu Gemüte führt, wie er von allen Lebenslagen nur jene wählen kann, die schmerzfrei zu ertragen wären. Es versteht sich, dass die Antizipation von Geburtsschmerzen oft in die Konstruktion dieser Richtungslinie hineinspielt.23 Den Anstrengungen der Vorsicht verwandt sind die in diesem Buche oft hervorgehobenen Erscheinungen des Zweifels24, des Schwankens25 und der Unentschlossenheit26 der Nervösen. Sie stellen sich immer ein, wenn die Realität derart auf die leitende Fiktion einwirkt, dass in Letzterer immer Widersprüche auftauchen – wenn die Gefahr einer Niederlage, eines Prestigeverlustes durch Eingreifen der Wirklichkeit droht. Dem Nervösen bleiben dann im Allgemeinen drei Wege übrig, die von der Stärke des fiktiven Leitzieles abhängen, sodass die entwickelte Neurose ein entsprechendes Aussehen gewinnt. Der eine Weg ist die Stabilisierung des Zweifels und Schwankens als Operationsbasis, wie man es27 am deutlichsten bei Neurasthenikern, in der Zweifelsucht, in der Psychasthenie findet.28 Der zweite Weg führt zur Psychose, indem unter Konstruktion eines Wahrheitsgefühls*29 die Fiktion hypostasiert, vergöttlicht wird.30 Der dritte Weg führt zum Formenwandel der Fiktion31 unter Arrangement von Angst, Schwäche, Schmerzen etc., kurz auf neurotischem Umwege unter Benützung weiblicher Mittel zum männlichen Protest32. [194] *
KanabichK, »Zur Pathologie der intellektuellen Emotionen« (Psychotherapia, herausg. v. N. Wirubof, Moskau 1911) ist dieser Auffassung nahegekommen.
23 Erg.: Unverkennbare Ausdrucksbewegungen einer Geburtssituation sah ich bei einer Patientin im Dämmerzustande einer Laktopsychose. Sie wiesen mit Deutlichkeit auf den Standpunkt der Patientin hin, den sie seit Jahren einnahm: nicht gebären zu müssen – und waren gegen ein zweites Kind gerichtet. 1922 24 Zweifels ] hervorgehoben 1922 25 Schwankens ] hervorgehoben 1922 26 Unentschlossenheit ] hervorgehoben 1922 27 Erg.: als ein verkapptes Haltmachen 1928 28 Erg.: Dabei kommt es zu einem vollkommenen oder teilweisen Operationsstillstand. 1922 29 Erg.: und Aufgabe der Logik 1919 Aufgabe der Logik ] hervorgehoben 1922 30 Anm.: Da in der Psychose die Aktion auf der nützlichen Seite zur Lösung der drei Lebensprobleme (Gesellschaft, Beschäftigung, Liebe) nahezu völlig aufgegeben wird, ist das, was übrig bleibt an Aktivität, »unlogisch«. 1928 31 Erg.: und zur Setzung einer Distanz gegenüber den Lebensaufgaben 1922 32 weiblicher bis Protest ] Änd.: neurotischer Mittel zur Überlegenheit 1928 Erg.: Die reife Kunst des Individualpsychologen wird sich auch darin zeigen, dass er die Phänomene der Neurose und Psychose, aber auch des »normalen« Lebens in ihrer steten Gegensätzlichkeit und gesellschaftlich begreift. Er wird in der herausfordernden Haltung des Eigendünkels die lächerliche Scham des Schwächlings mitempfinden, im Trotz und
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in der Grausamkeit die Überwinder von Gehorsam und Weichheit, in der prunkenden, auf enge Gesetze pochenden Männlichkeit das Grauen vor einer weiblichen Rolle [Änd.: vor dem Unterliegen 1928 ] und im Machtrausch und in seinen Krämpfen die Furcht vor der Niederlage. Und sie alle wird er vom Standpunkt des Gemeinschaftsgefühls prüfen, ähnlich wie das Seelenleben des Menschen (nach einem schönen Wort JerusalemsK) mit der Frage JoabsK an die Erscheinungen des Lebens herantritt: »Gehörst du zu uns oder gehörst du zu unseren Feinden?« Man darf vom Nervösen nie erwarten, dass er auf der Linie wandle: »Deine Rede sei ja-ja, nein-nein, alles andere ist von Übel.K« In der starren Gegensätzlichkeit seines Tuns und Denkens, die den stärkeren Kampf um Geltung zum Ausdruck bringt, hat solche Schlichtheit keinen Platz. Ohne die Einheit seines Machtstrebens zu stören, wird je nach der Konjunktur bald das Unten, bald das Oben in der Gegensatzlinie an Farbe gewinnen. Oder ein Charakterzug wird ganz oder teilweise »im Unbewussten« liegen, je nachdem es die Einheit der Persönlichkeit erfordert. Aber auch dort, wo er bewusst ist, ist er im Sinne der Individualpsychologie unbewusst, da der Patient, unschuldig-schuldig, sein Auge vor den Konsequenzen verschließt, vor der Drosselung des Gemeinschaftsgefühls. Man wird deshalb auch oft in die Lage kommen, Erscheinungen anzutreffen, die sich nicht als solche in das landläufige Schema der Charakterzüge einordnen lassen, die erst im Zusammenhang ihre Herkunft verraten. Wenn ich drei Vorhängeschlösser vor meine vergitterte Türe anlege, Schusswaffen, Hunde und ein Polizeiorgan im Zimmer halte und wohlgemut versichere, ich sei nicht ängstlich – so ist das richtig und unrichtig zugleich. Meine Angst steckt in den Vorhängeschlössern. Wir haben gesehen, dass in der Depression, in der Angst vor Krankheiten, vor Tod, vor weiten Plätzen eine ungeheure Selbstüberschätzung stecken kann, in der Vorliebe für das Elternhaus eine Feindseligkeit gegen den Gatten, in einer Berufswahl ein Charakterzug, im Zuspätkommen, im Stottern die Furcht vor Entscheidungen usw. – Die menschliche Seele kann nur ein Querkopf ganz in ein wissenschaftliches Lehrgebäude einfangen wollen. Vollends Individualpsychologie ist eine künstlerische Leistung. 1922
Schluss
Unsere Betrachtung hat ergeben, dass sich die Charakterzüge, ihre prinzipielle Darstellung im Leben des Menschen, nach der Art von Richtungslinien für das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln als Kunstgriffe der menschlichen Psyche darstellen, die eine schärfere Ausprägung erfahren, sobald die Person aus der Phase der Unsicherheit zur Erfüllung ihrer fiktiven leitenden Idee gelangen will. Das Material zur Bildung der Charakterzüge ist im Psychischen allenthalben vorhanden und seine angeborene Verschiedenheit verschwindet gegenüber der einheitlichen Wirkung der leitenden Fiktion. Ziel und Richtung, der fiktive Zweck der Charakterzüge ist an den ursprünglichen, geradlinigen,1 kämpferisch-aggressiven Linien am besten zu erkennen. Not und Schwierigkeiten des Lebens zwingen zu Verwandlungen des Charakters, wobei nur solche Konstruktionen Billigung finden, die mit der Persönlichkeitsidee im Einklang stehen. So kommen die vorsichtigeren, zögernden, von der geraden Linie abbiegenden Charakterzüge zustande, deren Verfolgung gleichwohl ihre Abhängigkeit von der leitenden Fiktion ergibt2. Die Neurose und die Psychose sind Kompensationsversuche, konstruktive Leistungen der Psyche, die sich aus der verstärkten und zu hoch angesetzten Leitidee des minderwertigen Kindes3 ergeben. Die Unsicherheit dieser Kinder in Hinblick auf die Zukunft und auf ihren Erfolg im Leben zwingt sie zu stärkeren Anstrengungen und Sicherungen in ihrem fiktiven Lebensplan4. Je fixierter und starrer ihr Leitbild, ihr individueller kategorischer Imperativ ist, umso dogmatischer und prinzipieller ziehen sie die Leitlinien ihres Lebens. Je voraussichtiger sie dabei werden, desto weiter spinnen sie bis über ihre Person in die Zukunft hinaus Gedankenfäden und organisieren an deren peripherem Ende, wo der Zusammenstoß mit der Außenwelt erfolgen soll, als Vorposten ihrer psychischen Bereitschaften die notwendigen Charakterzüge. Mit seiner ungeheuren Feinfühligkeit heftet sich der prinzipielle, nervöse Charakterzug an die Wirklichkeit, um sie dem Persönlichkeitsideal gemäß zu verändern oder zu unterwerfen. Droht die Niederlage, so treten die neurotischen Bereitschaften und Symptome in Kraft5. Die dürftige Bedeutung des angeborenen Substrats zur Charakterbildung 1 2 3 4 5
geradlinigen, ] Komma fehlt ab 1919. ergibt ] Änd.: abgibt 1922 minderwertigen Kindes ] Änd.: Kindes mit stärkerem Minderwertigkeitsgefühl 1928 Erg.: und zu Ausbiegungen vor den Fragen des Lebens 1922 Droht bis Kraft ] hervorgehoben 1919 Erg.: und hemmen den Fortschritt der Handlung 1919
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geht auch daraus hervor, dass die leitende Fiktion nur die brauchbaren psychischen Elemente sammelt und einheitlich gruppiert, nur jene Fähigkeiten und Erinnerungen, deren Begabung für das Finale sich herausstellt. In der neurotischen Umordnung der Psyche schaltet die leitende Fiktion unumschränkt und nützt die Erfahrungen nach ihrer Eignung aus, als ob die Psyche ruhendes, reales Material wäre. Dann erst, wenn die neurotische Perspektive wirksam ist, wenn die neurotischen Charaktere und Bereitschaften fertig sind, der Weg zum Leitideal gesichert ist, erkennen wir die Person als [195] nervös. Denn deutlicher als die normale Psyche lehrt es6 uns die nervöse: »Durch das große Sein, das uns umgibt und weit in uns hineinreicht, zieht sich ein großes Werden, das dem vollendeten Sein zustrebt.«7 K So finden wir den Charakter als eine durch das Leitbild zur Verwendung gelangte »intelligente Schablone«, deren sich die Sicherungstendenz bedient, ebenso wie die Affekt- und neurotischen Krankheitsbereitschaften. Den Sinn dieser Schablonen erfassen, ihn, wie Breuer es begonnen hat,8 aus ihrem genetischen, und in unserer Auffassung analogischen Aufbau zu verstehen, ihn als ein Symbol des Lebensplanes, als ein Gleichnis zu begreifen, ist die Aufgabe der vergleichenden Individualpsychologie. Denn durch die Zerlegung des Charakters, in welchem sich immer die Linie des Aufschwungs zum leitenden Ideal verfolgen lässt, erleben wir in einen Punkt zusammengedrängt: Vorgeschichte, Gegenwart, Zukunft und beabsichtigtes Finale zugleich. Man wird immer bei Nervösen finden, dass sie ihre sichernden Schablonen mit Kraft festhalten. Die Gegenwehr wird noch verstärkt, weil9 der Patient in der Loslösung von seinen Schablonen sowie in der durch einen anderen beeinflussten Richtungsänderung seines Lebensplans eine10 Niederlage, ein Untensein, eine Entmannung vorausempfindet. Der nächste Schritt in der psychotherapeutischen Kur wird demnach sein müssen: auch dieses streng gegensätzliche Verhalten, den Widerstand des Patienten gegen den Arzt, als die alte neurotische Schablone, als übertriebenen männlichen Protest zu entlarven und das neurotische Vorurteil aufzuheben. Somit dürfen wir als ein letztes Ergebnis, gleichsam unseren Ausgangspunkt beleuchtend, an diese Stelle setzen: Minderwertige Organe und neurotische Phänomene sind Symbole11 von gestaltenden Kräften, die einen selbstge6 7 8 9 10 11
es ] Ausl. 1928 Erg.: (Hildebrandt) 1919 wie bis begonnen hat ] Ausl. 1919 weil ] Änd.: wenn 1922 eine ] Änd.: seine 1922 minderwertige bis Symbole ] Änd.: das Schicksal minderwertiger Organe und neurotischer Phänomene ist Symbol 1922
setzten Lebensplan mit erhöhten Anstrengungen und Kunstgriffen zu erfüllen trachten.12 [196]
12 Erg.: Eines dieser Schicksale ist die Psychoneurose, eine dem Gemeinschaftsgefühl und der Anpassung widersprechende Gangart, ein Weg der Unversöhntheit [Erg.: und Mutlosigkeit 1928], der die volle Lebensfähigkeit aufhebt. Die Psychoneurose ist durch die Eitelkeit erzwungen und hat den Endzweck, einen Menschen vor dem Zusammenprall mit seinen Lebensaufgaben, mit der Wirklichkeit, zu sichern. 1922 Erg.: ihn davor zu bewahren, dass sich das düstere Geheimnis seiner Minderwertigkeit enthüllt 1928 Erg.: Durch diese grundlegende Erkenntnis erst ist die Einheit der Neurose und Psychose festgestellt. Unsere Individualpsychologie, im tiefsten Sinne »Positionspsychologie« [ Erg.: im Gegensatz zu allen Dispositionspsychologien 1928 ] hat die Bedeutung der Konstitution für das Seelenleben als einer Verführung aufgedeckt. Keine »Dispositionspsychologie« kann sie ersetzen, weil sie die Bindungen zwischen Organminderwertigkeit und Seelenleben durch das Minderwertigkeitsgefühl übersieht oder – stillschweigend voraussetzt. 1922 Erg.: Wie die Verzärtelung und Lieblosigkeit zu gleichen Minderwertigkeitsgefühlen im Lebensstil der Kinder Anlass gibt, wurde hinlänglich gezeigt. 1928
Zitierte Schriften des Autors1
Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban u. Schwarzenberg. Wien u. Berlin 1907.2 Über neurotische Disposition. Jahrbuch Bleuler-Freud 1909.3 Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose. Fortschritte der Medizin. Leipzig 1908. Die Bedeutung der Organminderwertigkeitslehre für Philosophie und Psychologie. Vortrag in der Gesellschaft für Philosophie an der Universität in Wien 1908. Myelodysplasie oder Organminderwertigkeit? Wiener med. Wochenschrift 1909. Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose. Fortschr. d. Medizin 1910. Leipzig. Trotz und Gehorsam. Monatshefte für Pädagogik. Wien 1910. Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. Zentralblatt für Psychoanalyse. Wiesbaden. Bergmann 1910. Ein erlogener Traum. Zentralblatt für Psychoanalyse. Wiesbaden. Bergmann 1910. Über männliche Einstellung bei weiblichen Neurotikern. Zentralblatt für Psychoanalyse. Wiesbaden. Bergmann 1910. Beitrag zur Lehre vom Widerstand. Zentralblatt für Psychoanalyse. Wiesbaden. Bergmann 1910. Syphilidophobie. Zentralblatt für Psychoanalyse. Wiesbaden. Bergmann 1910. Zur Determination des Charakters. Vortrag, gehalten in der Gesellschaft für Psychologie an der Universität in Wien 1909.
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Zitierte Schriften des Autors ] Änd.: Angeführte Schriften des Verfassers 1928 Urban bis 1907 ] Änd.: J. F. Bergmann, München 1927. 1928 Über bis 1909 ] Änd.: Heilen und Bilden. Ärztlich-pädagogische Arbeiten des Vereins f. Individualpsychologie. Verlag Reinhardt [ Änd.: Bergmann 1922 ], München 1914. 1919 Erg.: 2. Auflage in Vorbereitung 1922 ] Änd.: Heilen und Bilden. Grundlagen der Erziehungskunst für Ärzte und Pädagogen, herausgegeben von Dr. Alfred Adler und Dr. Carl Furtmüller. 2. Auflage redigiert von Dr. Erwin Wexberg. J. F. Bergmann, München 1922. 1928 Erg.: Das Problem der Homosexualität. Verlag E. Reinhardt, München 1917. 1919 Erg.: Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Verlag J. F. Bergmann, München 1920. 1922 Verlag bis 1920 ] Änd.: 3. Auflage. J. F. Bergmann, München 1927. 1928
Zweiter Teil Kommentar
Kommentare zum theoretischen Teil Zu den Vorworten
23, Z. 2: ältere Autoren: Adler nennt im Zusammenhang mit Organminderwertigkeit, psychischer Kompensation und Sicherungstendenz in seinen frühen Schriften (SMO 1977, 51. 92. 94. 110; HuB 1973, 49. 51f.): Darwin, Demosthenes, Grimm, Hegel, Jean Paul, Moses, Shakespeare. Dazu kommen Künstler und Musiker: Beethoven, Bruckner, Piero della Francesca, Manet, Mozart, Schumann, Smetana. Aus folgenden Ausführungen im NC können ergänzt werden: Avenarius, Charcot, Féré, Goethe, Janet, Lombroso, Milton, Nietzsche, Seneca, Vaihinger. Ohne Zweifel gehört auch Dostojewski dazu (PuT 1974, 286. 290). In weiteren Schriften Adlers tauchen außerdem auf: Horaz, Herder, Hippokrates, W. James, Kant, Lavater, Lichtenberg, Nelson, Novalis, Hans Sachs, Schiller, Schopenhauer, Sokrates, Sophokles (Ödipus), Wagner, W. Wundt. (Mitarbeit Rüedi) 24, Z. 1: Hefte: Als »Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung«, ab 1914 als »Schriften des Vereins für Individualpsychologie«, sind davon folgende im Reinhardt Verlag, München, erschienen: Nr. 1 1912: Carl Furtmüller: Psychoanalyse und Ethik. Nr. 2 1912: Otto Kaus: Der Fall Gogol. Nr. 3 1912: Paul Schrecker: Henri Bergsons Philosophie der Persönlichkeit. Nr. 4 1913: Felix Asnaourow: Sadismus und Masochismus in Kultur und Erziehung. Nr. 5 1914: Vera Strasser-Eppelbaum: Zur Psychologie des Alkoholismus. Nr. 6 1914: Hedwig Schulhof: Individualpsychologie und Frauenfrage. Nr. 7 1917: Alfred Adler: Das Problem der Homosexualität. 29, Z. 26: Virchow, Rudolf (1821 Schivelbein/Pommern – 1902 Berlin): Prof. für Pathologie in Berlin (Charité) und Würzburg. V. war beteiligt an der demokratischen Ärztebewegung des Vormärz und der bürgerlichen Revolution von 1848. Er war umfassend als Arzt, Politiker und Anthropologe tätig, prägte der Medizin seiner Zeit seinen Stempel auf. Naturw. Medizin war für V. eine »soziale Wissenschaft«, die die Gesamtheit des menschlichen Lebens erfasst. V. trat 1849 und 1852 mit zwei sozialmed. Studien in Oberschlesien und im Spessart hervor. Ab 1858 entwickelte er seine »Cellularpathologie«. Er sah die Zelle als Individuum und darin Einheit und Gemeinschaft: »Der Gedanke von der Einheit des Lebens in allem Lebendigen findet in der Zelle seine leibliche Darstellung« (1862, 45). Adler konnte sich in seinem Verständnis von Medizin (s. sozialmed. Schriften: GfdS 1898, LsM 1902, SuL 1902, SoS 1903, explizit EsT 1902) und vom Individuum (als zielgerichteter Einheit) ganz auf V. beziehen.
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Werke: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin: Hirschwald 1858; Atome und Individuen (1859). In: Vier Reden über Leben und Kranksein. Berlin: Reimer 1862. Lit.: Ansbacher, Heinz L.: Adler und Virchow. Der Name Individualpsychologie in neuem Licht. ZfIP 2, 1977, 87–93; Wengler, Bernd: Das Menschenbild bei Alfred Adler, Wilhelm Griesinger und Rudolf Virchow – Ursprünge eines ganzheitlichen Paradigmas in der Medizin. Frankfurt/M.: Campus 1989. 32, Z. 10: Erhaltung der psychischen Energie: Die Übertragung des physikalischen Gesetzes der Erhaltung der Energie in die Psychologie durch G. Th. Fechner (1801– 1887) wurde von Breuer/Freud übernommen als eine Grundlage der Hysterietheorie von 1895 und als ökonomisches Prinzip in der Psychoanalyse. Es meint 1. das Vorhandensein eines bestimmten Quantums psychischer Energie, das im geschlossenen System konstant bleibt, und 2. das Bestreben des psychischen Apparats, einen konstanten niedrigen Grad von psychischer Energie aufrechtzuerhalten (Konstanzprinzip, damit verbunden das Lust-Unlust-Prinzip): »Das Nervensystem [ist] bestrebt, etwas in seinen Funktionsverhältnissen, was man die ›Erregungssumme‹ nennen mag, konstant zu erhalten« (Freud, Entwurf zu den Studien über Hysterie, 1892, GW 17, 12f.). Lit.: Laplanche/Pontalis 1986, 261f.; Sulloway 1982, 105f. 111. 32, Z. 13: Kretschmer, Ernst (1888 Wüstenrot – 1964 Tübingen): Prof. für Psychiatrie in Tübingen; bekannt vor allem durch seine Konstitutionstypologie, in der er bestimmte Korrelationen zwischen Körperbautypen (Leptosome, Pykniker, Athletiker u. a.) und Temperamentseigentümlichkeiten (Schizothymie, Zyklothymie u. a.) feststellte. Er führte diesen Ansatz fort in Richtung einer konstitutionellen Entwicklungsphysiologie, Erforschung der Psychomotorik, der konstitutionstypischen Tonussteuerung und Psychosomatik, untersuchte das Krankheitsbild »sensitiver Beziehungswahn« und arbeitete im Bereich der medizinischen Psychologie und der psychotherapeutischen Methoden. K. ist Mitbegründer (1926) und Vorsitzender (ab 1929) der Allg. Ärztl. Ges. für Psychotherapie, Rücktritt 1933. Werke: Der sensitive Beziehungswahn (1918). Berlin: Springer 1966; Körperbau und Charakter (1921). Berlin: Springer 1967. Lit.: Tölle, Rainer: Die Entwicklung der deutschen Psychiatrie im 20. Jahrhundert. In: Peters (Hg.) 1980, 13–24; Zerssen, Detlev von: Konstitutionstypologische Forschung. In: Strube (Hg.) 1977, 545–617. 32, Z. 21: Wagner von Jauregg, Julius (1857 Wels/Oberösterr. – 1940 Wien): Prof. für Psychiatrie in Wien ab 1893; Verteidiger der organischen Psychiatrie, hervorgetreten mit histologischen, experimentellen, klinisch-psychiatrischen Arbeiten, vor allem in der Bekämpfung des Kretinismus durch Jod und Heilung der Paralyse durch eine Malariatherapie. 1927 Nobelpreis. Zur Psychoanalyse hatte er ein gespanntes bis ablehnendes Verhältnis, allerdings gehörten zu den Mitarbeitern seiner Klinik eine Reihe von Psychoanalytikern wie Paul Schilder, Heinz Hartmann, Annie
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Reich, Edward Bibring wie auch Adlers Tochter Alexandra Adler. In der Ablehnung des Habilitationsgesuchs Adlers (mit dem »Nervösen Charakter«) 1915 nannte er Argumente wie »Spekulation«, »Intuition«, »Jünger der psychoanalytischen Schule«. Lit.: Beckh-Widmanstetter, Hans: Zur Geschichte der Individualpsychologie. In: Unsere Heimat. Bd. 36, 1965, 182–188; Ellenberger 1973, 642ff. 786f.; Gardner, Sheldon/Stevens, Gwendolyn: Red Vienna and the Golden Age of Psychology. 1918–1938, New York: Praeger 1992.
Zur Einleitung 39, Z. 9: Seneca: »Alles hängt von unserer Meinung ab; nicht der Ehrgeiz nur richtet sich nach ihr und die Genusssucht und die Habsucht. Nach unserer Meinung leiden wir. Jeder ist so elend, wie es seiner Vormeinung entspricht.« Seneca, Lucius Annaeus: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. Hg. von Manfred Rosenbach. 4. Bd.: Ad Lucilium epistolae morales 70–124 (125). Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft, 2. Aufl. 1987, 134. Lit.: Hofstätter, Peter R.: Der Primat des Handelns in der Philosophie nach Seneca. In: Kühn, Rolf/Petzold, Hilarion (Hg.): Psychotherapie und Philosophie – Philosophie als Psychotherapie? Paderborn: Junfermann 1992, 29–57. 39, Z. 25: Janet, Pierre (1859–1947 Paris), sentiment d’incomplétude, französische Schule: J. leitete als Neurologe und Psychologe ab 1890 das psychologische Laboratorium der Klinik La Salpêtrière in Paris, der Jean-Marie Charcot (1825–1893) vorstand. Hierauf bezieht sich die Nennung der »französischen Schule«. Nach einer philos. Ausbildung galten J.s Hauptstudien den Neurosen, der Verhaltenspsychologie und der sozialen Psychopathologie. Er lieferte wichtige klinische Beschreibungen von Hysterie, Phobien und Obsessionen (idées fixes); für die Neurosenforschung stellte er als neuen Typus die Psychasthenien heraus. Adler kannte J.s Frühwerk »Geisteszustand der Hysterischen« in deutscher Übersetzung von 1894 (s. Komm. zu S. 40, Z. 5 [Janet]) mit dem dort erwähnten »Gefühl der Unvollständigkeit« oder »Unvollkommenheit« (175ff.). Dieser Begriff wurde von J. geprägt, um den Mangel an »psychischer Kraft« in den Asthenien bzw. an »psychischer Spannung« im hypotonischen Syndrom eigens zu benennen. Werke: Névroses et idées fixes. 2 Bde. Paris: Alcan 1889; L’état mental des hystériques. 2 Bde. Paris: Coll. Charcot-Debove 1893/94; Les obsessions et la psychasthénie. 2 Bde. Paris: Alcan 1903 (Nachdr. New York: Arno Press 1976); De l’angoisse à l’extase. 2 Bde. Paris: Alcan 1926/28. Lit.: Brachfeld, Oliver: Les sentiments d’infériorité. Genf 1951, 52–56; Ellenberger 1973, 449–560. 832f.; Freschl, Robert: Von Janet zur Individualpsychologie. Zbl. f. Psychoanal. Psychotherap. 4, 1914, 152–164; Schwartz, Leonhard: Die Neurosen
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und die dynamische Psychologie von Pierre Janet. Basel: Schwabe 1951. (Mitarbeit Viguier) 39, A. 2: double vie: Begriff der franz. Psychiatrie im 19. Jahrhundert, die von »wechselnden Persönlichkeiten« (personnalités alternantes) oder von double vie sprach. Des Näheren geht dieser Fachterminus auf die Theorie des Mehrfachbewusstseins und der »dualen Persönlichkeit« bei Alfred Binet (1857–1911) zurück. Heute ist der Begriff dédoublement de la personnalité (Bewusstseinsspaltung) gebräuchlich. Der Theorie Binets von der Hysterie als einer Form der »dualen Persönlichkeit« hat Pierre Janet die Einsicht von der »Einengung des Bewusstseinsfeldes« hinzugefügt, wobei er auch von einer »zweiten Persönlichkeit« bzw. von einem »zweiten Bewusstsein« (seconde personnalité/conscience) anstelle von double vie sprach. (Mitarbeit Viguier) Lit.: Binet, Alfred: Les altérations de la personnalité. Paris: Alcan 1892; Ellenberger 1973, 488. 490f. 512f. 530f. 533. 542f.; Janet, Pierre: Quelques définitions récentes de l’hystérie. Archives de Neurologie 25–26, 1893, 417–438 u. 1–29. 39, A. 2: Polarität: Konzept der romantischen Naturphilosophie (Schelling, Hufeland, Winkelmann), das in die Lebensphilosophie, Ganzheitspsychologie, Verstehenspsychologie ebenso wie in die Dynamische Psychiatrie und Psychoanalyse Freuds und Jungs einging. Polaritäten sind Paare von antagonistischen und einander ergänzenden Kräften in dynamischem Wechselspiel, z. B. Lust/Unlust, Liebe/Hass, Aktivität/Passivität, Extraversion/Introversion, Männlich/Weiblich. Lit.: Ellenberger 1973, 286ff.; Haring/Leickert 1968; Probst, P.: Art. »Polarität«. In: Ritter/Gründer (Hg.) Bd. 7, 1989, Sp. 1025–1029. 39, A. 2: Bleuler, Eugen (1857–1939 Zollikon bei Zürich): Prof. für Psychiatrie. In Nachfolge seines Lehrers August Forel (1848–1931) Direktor des Burghölzli in Zürich 1898–1929. Unter seiner Führung wurde Burghölzli zum weltbekannten Zentrum für die Erforschung von Geisteskrankheiten. Die »Schweizer Schule Bleuler« hat neue Wege in der Psychiatrie eröffnet: Sie ist um psychologisches Verstehen und um psychologische Behandlungsmethoden zum Heilen bemüht, von B. stammt der Begriff »Tiefenpsychologie«. In Auseinandersetzung mit Kraepelin schlägt er den Begriff »Schizophrenie« statt »Dementia praecox« vor und entwickelt für Schizophrenie eine neue Theorie. In diesem Zusammenhang führt er ab 1904–05 mit C. G. Jung die Wort-Assoziationsexperimente durch und unterstützt H. Rorschachs Formdeuteexperimente ab 1919. Auf Jungs Initiative Kontakt zu Freud, Teilnehmer des Kongresses der Psychoanalytiker 1908 in Salzburg, Mitherausgeber (neben Freud) des »Jahrbuchs für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen« bis zum Austritt C. G. Jungs Ende 1913. Er war 1910–11 kurzzeitig Mitglied des Vereins, lehnte aber als unabhängiger Wissenschaftler eine vereinsmäßige Organisation ab. Werke: Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien (1911). Leipzig–Wien: Deuticke 1988; Lehrbuch der Psychiatrie (1916). Berlin: Springer 1972.
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Lit.: Gay, Peter: Freud. Eine Biografie für unsere Zeit. Frankfurt/M.: Fischer 1989, 227. 246; Graf-Nold, Angela: Eugen Bleuler und die Begegnung von Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse. In: H. Lück/Miller (Hg.) 1993, 145–151; Kindler, Helmut: Die Schule Bleuler. In: Peters (Hg.) 1980, 24–26; Ellenberger 1973. A. 2: Ambivalenz (Bleuler): 1910 führte B. den Begriff »Ambivalenz« in die Psychiatrie ein: ein psychischer Zustand, in dem zugleich eine negative und eine positive emotionale Tönung herrscht. Die normale A. ist das Ergebnis der Anpassung von zwei einander entgegengesetzten Gefühlen, bei anormaler A. besteht eine paradoxe Verschmelzung der beiden entgegengesetzten Gefühle. Lit.: Ellenberger 1973, 1081. Z. 5: Janet, Pierre: Der Geisteszustand der Hysterischen (Die psychischen Stigmata). Mit einer Vorrede von Professor Charcot. Übersetzt von Dr. Max Kahane. Mit 7 Holzschnitten im Text. Leipzig u. Wien: Deuticke 1894, 190. Dieses Buch vereinigt in fünf Kapiteln Vorträge über Anästhesien, Amnesien, Abulien, Bewegungsstörungen und Charakterveränderungen, die Janet im Frühjahr 1892 an der Klinik La Salpêtrière in Paris gehalten hatte und dem Bd. 1 vom franz. Orig. »L’état mental des hystériques« (s. Komm. zu Janet, S. 39, Z. 1) entsprechen. Z. 18: Breuer, Josef (1842–1925 Wien): Namhaft durch einige wichtige physiologische Forschungen, 1875 Privdoz. an der Univ. Wien, nach 10 Jahren prominente Privatpraxis, 1894 Mitglied der Wiener Akademie der Wissenschaften. B. galt in gesellschaftlichen und med. Kreisen als hochgebildet, als scharfer und kritischer Geist. Freundschaft mit Freud seit den späten 70er Jahren im Physiologischen Institut von Brücke. In der Behandlung von Anna O. 1880–92 entwickelte B. die Methode der talking cure, in welcher der Sinn der Symptome biografisch rekonstruiert wurde. Diese Methode der »kathartischen Hypnose« übernahm Freud systematisch ab 1889. Der Fall Anna O. war die Grundlage für die gemeinsame Veröffentlichung zur Hysterie (1893, 1895), die als Ausgangspunkt der Psychoanalyse gilt. Über die Niederschrift dieser Arbeit kam es zur persönlichen und intellektuellen Entfremdung. Werke: Breuer, Josef/Freud, Sigmund: Studien über Hysterie (GW 1). Leipzig– Wien: Deuticke 1895. Lit.: Sulloway 1982, 91ff.; Vliegen, Josef: Von Mesmer bis Breuer. In: H. Balmer (Hg.) 1976, 687–700. A.*: Kahane, Max (1866 Jassy/Bukowina – 1923 Wien): Dr. med., Wien, Gründungsmitglied der Psychoanalytischen Mittwochs-Gesellschaft bei Freud 1902 (neben Adler, Reitler, Stekel). 1907 erklärte er seinen Rücktritt wegen Arbeitsüberlastung. 1895 Ausschussmitglied des »Wiener Medizinischen Clubs«, ab 1901 Inhaber und Leiter des »Instituts für physikalische Heilmethoden« (u. a. Elektrotherapie). 1907– 08 Sekretär der »Ges. für physikalische Medizin«; 1923 Selbstmord. Lit.: Mühlleitner, Elke: Biographisches Lexikon der Psychoanalyse. Tübingen: Diskord 1992. A. 4: Stern, William (1871 Berlin – 1938 Durham/USA): Studium, Prom., Habil. bei
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dem Experimentalpsychologen Hermann Ebbinghaus in Berlin und (ab 1897) Breslau; Prof. in Breslau und Hamburg (ab 1916), 1909 Ehrendoktorat der Clark Universität (mit Freud und Jung), 1933 als Jude amtsenthoben, Emigration nach Holland und Amerika. S. ging in sehr verschiedenen Forschungsrichtungen neue Wege, die für die Entwicklung der Psychologie bahnbrechend wurden: Differentielle Psychologie, Kinderpsychologie, bes. Kindertagebücher (mit seiner Frau Clara Stern), Anwendung der Psychologie u. a. im Schulwesen, Psychologie der Aussage, Intelligenz- und Begabungsforschung. Ab 1908 (mit Otto Lipmann) Hg. der »Zeitschrift für angewandte Psychologie«. S.s »kritischer Personalismus«, sein Verständnis des Individuums als teleologischer Einheit und seine Suche nach »Weltanschauung« ist Adlers Auffassungen sehr nahe verwandt. »Person« ist für S. »ein solches Existierendes, das, trotz der Vielheit der Teile, eine reale, eigenartige und eigenwertige Einheit bildet, und als solche, trotz der Vielheit der Teilfunktionen, eine einheitliche, zielstrebige Selbsttätigkeit vollbringt« (1906, 16). In ihrem Wirken (Kausalität) ist die »unzerlegbare« Person zielstrebig (causa finalis) (1918, 5ff.). S. und Adler würdigten einander immer wieder. S. sieht in Adlers »Schule« den »Fortschritt« der Psychoanalyse, der S. polemisch-kritisch gegenübersteht. Werke: Person und Sache. System der philosophischen Weltanschauung. Bd. 1– 3. Leipzig: Barth 1906–1924. Lit.: Deutsch, W. (Hg.): Die verborgene Aktualität von William Stern. Opladen: Leske & Budrich 1991; Schmidt, Wilfred: Sehnsucht nach Weltanschauung – William Stern um die Jahrhundertwende. PuG 3, 1991, 1–8. 41, Z. 11: Männlicher Protest: Erstmalig eingeführt wurde dieser Begriff von Adler in der Psychoanalytischen Mittwochssitzung am 23. 2. 1910 im Vortrag »Psychischer Hermaphroditismus« (Nunberg/Federn 2, 387); vgl. gleichnamige Veröffentlichung im gleichen Jahr (HuB 1974, 85–93). Adler drückt seitdem »Minderwertigkeitsgefühl« als Gefühl, »weiblich« zu sein, und den Kompensationswunsch als Wunsch, »männlich« zu sein, als Protest gegen das Weibliche aus. In seiner Kritik an Freud im Vortrag vom 1. 2. 1911, der (zusammen mit dem Vortrag vom 4. 1. 1911) zum Bruch mit Freud führt, bekommt m. P. einen zentralen Stellenwert (Nunberg/Federn 3, 139ff.; HuB 1974, 102–113). In den späten 20er Jahren verliert dieser Gedanke an Bedeutung; der Ausdruck m. P. wird weitgehend ersetzt durch Streben nach Macht/Überlegenheit. 41, Z. 16: Nietzsche, Friedrich (1844 Röcken bei Leipzig – 1900 Weimar), Wille zur Macht, Wille zum Schein: N. wurde zu Jahrhundertbeginn als irrationaler Lebensphilosoph gelesen, bei dem die Lehre vom absoluten Werden zusammen mit einer biologisch-pragmatischen Erkenntnisauffassung und pessimistischen Kulturkritik überwögen. So liest ihn auch Adler, bedingt durch die von fremder Hand kompilierte und verformte Edition des »Willens zur Macht« (1901). Diese heute überholte Ausgabe (vgl. jetzt Nietzsche 1967ff. bzw. 1973) stellt in ihrem 3. Buch das Prinzip des Wollens als umfassendes Prinzip im Bereich Erkennen, Natur, Wissenschaft,
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Logik, Bewusstsein, Gesellschaft, Staat und Individuum vor. Hierauf bezieht sich Adler, wenn Wirklichkeitswert, Lust und Machtgefühl bei ihm als Leitmotiv für die Realitätsstrukturierung auftreten. Diese frühe N.-Lektüre ändert sich mit der N.-Rezeption durch Vaihinger (1911, 771ff.). Der »Wille zur Macht« bedeutet jetzt erkenntniskritisch den menschlichen Willen als gesamt-existentiell notwendige Deutung von Welt, deren unendliche Perspektiven nicht vereinheitlicht werden können. Da der Mensch dies aber stets versucht (und für Adler bes. der Neurotiker), ist ein »Schein« bzw. eine Fiktionalität seinem »Wollen« immanent, und zwar zur Steigerung seines Persönlichkeitsgefühls. Bei N. heißt es u. a. (1973, II, 585): »Man soll sich der ›Ursache‹, der ›Wirkung‹ eben nur als reiner Begriff bedienen, das heißt als konventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung«. Damit liegen für den Schein-Fiktions-Begriff komplexe Rezeptionsstränge N.-Kant-Vaihinger bei Adler vor. Werke: Der Wille zur Macht. Studien und Fragmente (Hg. P. Gast/F. u. A. Horneffer). Leipzig: Kröner 1901 (2. Aufl. 1906: Hg. P. Gast/E. Förster-Nietzsche; 3. Aufl. 1911: Hg. O. Weiss; 12. Aufl. Stuttgart: Kröner 1980); Kritische Gesamtausgabe. 40 Bde. Hg. G. Colli/M. Montinari. Berlin: De Gruyter 1967ff.; Werke in 3 Bdn. Hg. K. Schlechta. München: Hanser, 7. Aufl. 1973, III, 415–925: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. Lit.: Krummel, Richard F.: Nietzsche und der deutsche Geist (II). Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum vom Todesjahr bis zum Ende des Weltkriegs. Ein Schriftenverzeichnis der Jahre 1901–1918, Berlin: De Gruyter 1983; Vaihinger 1911, 771–790: Anhangskapitel »Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein« (»Der Wille zur Macht«). 41, Z.17: Féré, Charles (1852–1907): Franz. Psychologe und Physiologe; forschte mit Alfred Binet (1857–1911) in Paris über Hypnotismus und Psychopathologie. Nach ihm ist das F-Phänomen benannt: exosomatische psychogalvanische Reaktion, d. h. Widerstandsänderung der Haut bei Erregungsvorgängen gegenüber einem geringen Voltstrom. – Adler gibt hier ein Zitat aus P. Janet, Der Geisteszustand der Hysterischen, S. 189 (s. Komm. zu S. 40, Z. 5) wieder: »Gerade dadurch [durch die schwankenden Stimmungslagen zwischen Trübsinn und Heiterkeitsausbrüchen] wird ein Gedanke, der oft von den Philosophen ausgesprochen und neuerdings von Féré wieder aufgenommen wurde, in seiner vollen Berechtigung gezeigt, ›dass nämlich die Empfindung der Lust in einem Machtgefühl, die Empfindung der Unlust hingegen in einem Gefühl der Ohnmacht wurzelt‹.« Franz. Orig. P. Janet, L’état mental des hystériques, S. 184. Janet zitiert hier Féré 1887a, 64. Auch Nietzsche (1973, III, 754) führt F. für »psychomotorischen Rapport (induction psycho-motrice) bei »Sympathie« und »Altruismus« an. Werke: Sensation et mouvement. Paris: Alcan 1887a; (mit Alfred Binet) Magnétisme animal. Paris: Alcan 1887b; L’instinct sexuel. Evolution et dissolution. Paris: Alcan 1899.
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41, Z. 17: ältere Autoren: hier Hinweis auf die Sophisten, vgl. z. B. Platons »Gorgias«, vgl. auch Komm. zu S. 163, Z. 10. 41, Z. 21: Janet, Pierre: Geisteszustand der Hysterischen (s. Komm. zu S. 40, Z. 5), S. 184; franz. Orig. L’état mental des hystériques, S. 179. Zu der von Adler behaupteten Übereinstimmung Freuds mit Janet, die Freud abstreitet, vgl. die Veröffentlichungen des Letzteren im gleichen Zeitraum wie Janet: L’Hérédité et l’Etiologie des Névroses. Revue Neurologique 4, 1896, 161–168 (dt. Übers. Sammlung kleinerer Schriften zur Neurosenlehre aus den Jahren 1893–1906. Wien–Leipzig: Deuticke 1906) sowie: Zur Ätiologie der Hysterie. Wiener Klinische Rundschau 10, 1896, 379– 381. 395–397. 413–415. 432–433. 450–452. Vgl. Freud GW 1, 405–422 u. 425–459 für beide Beiträge. Aktualneurosen (Neurasthenie, Angstneurose) haben danach ihre Ursache im aktuellen Sexualleben des Patienten (Masturbation, frustrierte sexuelle Erregung wie Koitus interruptus); die Psychoneurosen (Hysterien) besitzen ihren Ursprung im frühen Sexualleben des Patienten, vor allem in einer erlittenen sexuellen Verführung. Durch die Entdeckung, dass im Unbewussten Fantasien nicht von Erinnerungen zu unterscheiden seien, ließ Freud diese Theorie dann in Bezug auf ein real traumatisierendes Sexualerlebnis fallen. 41, A. 13: Avenarius, Richard (1843 Paris – 1896 Zürich): Lehrte ab 1877 »induktive Philosophie« an der Univ. Zürich und gilt als Begründer des erkenntnistheoretischen Empiriokritizismus. Dieser will das philos. Wissen durch eine Analyse der Erfahrung im Sinne seelischer Prozesse begründen und erblickt in der Seele eine Tendenz zur Ökonomie der Kräfte, d. h. des »kleinsten Kraftmaßes«. Damit wird jenes Ökonomie-Prinzip aufgegriffen, das Ernst Mach 1883 für die Naturwissenschaften aufgestellt hatte. Adlers Fiktionsverständnis, das zunächst an Nietzsche orientiert war (s. Komm. zu S. 41, Z. 1) wird hier 1922 – nach dem Einwirken Vaihingers 1911 – in der Apperzeption verankert, wodurch sich eine verstärkte neokantianische Rezeption bei Adler erklärt. Außerdem wurden solche Erkenntnisfragen in wissenschaftstheoretischer Hinsicht im zeitgenössischen »Wiener Kreis« diskutiert. Werke: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung. Leipzig: Fues 1876 (2. Aufl. Berlin: Guttentag 1903); Kritik der reinen Erfahrung. 2 Bde. Leipzig: Fues 1888–90; Der menschliche Weltbegriff. Leipzig: Reisland 1891 (2. Aufl. 1905). Lit.: Lenin, Wladimir J.: Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie (1909). Berlin: Dietz 1975; Vaihinger 1911, 84f. 105f. 128. 158f. 308; Wundt, Wilhelm J.: Über naiven und kritischen Realismus. Art. 2–3: Der Empiriokritizismus. Philosophische Studien 13, 1898, 1–105 u. 323–433. 41, A. 13: Jerusalem, Wilhelm (1854–1923 Wien): Gymnasialprof., zuletzt Prof. für Philosophie an der Univ. Wien; rege soziale Aktivität und populärwissenschaftliche Vorträge und Veröffentlichungen. Die Logik ist für ihn eine Theorie des wahren Denkens, das er in der Urteilsfunktion als Denkakt genetisch-biologisch untersucht. Die
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Intellektualformen der traditionellen Logik (s. Komm. zu S. 62, Z. 23: Aristoteles) entsprechen nicht dem tatsächlich vollzogenen Denkakt, da dieser in seiner singulären Vorstellung ein »Kraftzentrum«, nämlich das Objekt, von einem Erleben heraushebt, welches das Subjekt ausdrückt: »Diese Apperzeptionsweise nun, durch welche alle Vorgänge der Umgebung als Willensäußerung selbstständiger Objekte gedeutet werden, nennen wir die fundamentale Apperzeption« (1905, 81f.). Bei seiner Kritik an Avenarius, dem J. »materialistischen Monismus« vorwirft (ebd. 131f.), lehnt er sich an Kant an, ebenfalls wenn er dessen »transzendentale Apperzeption« psychologisch-genetisch als »fundamentale Apperzeption« – auch im sozialpragmatischen Sinne – umdeutet. Adler gibt 1928 durch die Namensänderung J. für Avenarius diese veränderte erkenntnistheoretische Position zu erkennen. Werke: Lehrbuch der empirischen Psychologie für Gymnasien und höhere Lehranstalten sowie zur Selbstbelehrung. Wien: Pichler 1888; Die Urtheilsfunction. Eine psychologische und erkenntniskritische Untersuchung. Wien: Braunmüller 1895; Der kritische Idealismus und die reine Logik. Ein Ruf im Streite. Wien–Leipzig: Braunmüller 1905; Gedanken und Denker. Gesammelte Aufsätze NF. Wien: Braunmüller 1925 (Bibl.). Lit.: Knoll, Reinhold: Der österreichische Beitrag zur Soziologie vor der Jahrhundertwende bis 1938. Kölner Z. f. Soziol. u. Sozialpsychol. 23, 1981; Vaihinger 1911 (2. u. 3. Aufl. 1913–18), S. XIV. XVI. 41, A. 15: Baader, Franz von (1765–1841 München): Studierte Medizin, Mineralogie und Chemie; Leitungsfunktionen im Bergbauwesen und Honorarprofessor für Naturphilosophie, Religion und Gesellschaft in München. Werke: Sämtliche Werke. 16 Bde. (Hg. F. Hoffmann u. a.). Leipzig: Bethmann 1850–60 (Nachdr. Aalen: Scientia 1963). Vgl. bes. Fermenta cognitionis (1822–25), Ges. Schriften II: Zur philosophischen Erkenntniswissenschaft oder Metaphysik 1963, 137–442. Lit.: Grasse, H.: Franz von Baader. In: Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert. Bd. 1. München: Kösel-Pustet 1975, 274–302. 44, A. 42: Kretschmer (s. Komm. zu S. 32, Z. 13), schizothymer Formenkreis: Schizothymer Charaktertyp, als prämorbide Persönlichkeit oder Temperament des Schizophrenen, wird u. a. von K. so beschrieben: mangelnde gemüthafte Ansprechbarkeit neben hoher Empfindsamkeit, Fassade der kühlen, überlegenen Distanziertheit, ungesellig, selektive Wahrnehmung, hohe Abstraktionsfähigkeit, Durchhaltefähigkeit, Kompromisslosigkeit. Lit.: Strunz, Kurt: Das Problem der Persönlichkeitstypen. In: P. Lersch/H. Thomae (Hg.): Handbuch der Psychologie. Bd. 4. Göttingen: Hogrefe 1960, 155–222; Zerssen, Detlev von: Konstitutionstypologische Forschung. In: Strube (Hg.) 1977, 545–617. 45, A. 42: Kraepelin, Emil (1865 Neustrelitz – 1926 München): Prof. der Psychiatrie in München; legte die Grundsteine der wiss.-klinischen Psychiatrie, seine Nosolo-
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Über den nervösen Charakter gie wurde zum Grundgerüst psychiatrischer Krankheitssystematik. Er unterschied die zwei Formenkreise: Dementia praecox (Schizophrenie) und manisch-depressives Irresein. Durch K. bekam die deutsche Psychiatrie eine Führungsrolle bis zum Zweiten Weltkrieg. Seine »Psychiatrie« war das meistgelesene Lehrbuch der Zeit. Von W. Wundt beeinflusst untersuchte er den Arbeitsprozess im körperlichen und seelischen Bereich und die toxischen Einwirkungen von Alkohol, Ermüdung, Medikamenten. K. gilt auch als Begründer der Pharmako-Psychiatrie. Die »deutsche« Psychiatrie mit K. steht (i. U. zu Bleuler/Schweizer Schule, s. Komm. zu S. 39, A. 2) bezüglich der Behandlung für »therapeutischen Nihilismus«. Werke: Psychiatrie. 4 Bde. Leipzig: Barth 1883ff. Lit.: Peters, U. H.: Semiologie der Schizophrenie. In: Peters (Hg.) 1980, 381–397; Tölle, Rainer: Die Entwicklung der deutschen Psychiatrie im 20. Jahrhundert. In: Peters (Hg.) 1980, 13–24.
Zum 1. Kapitel: Ursprung und Entwicklung des Gefühls der Minderwertigkeit und dessen Folgen 49, Z. 3: Das Unfertige bis Organsystemen: SMO 1977, 103. Es heißt dort etwas anders: »Das Unfertige […] die Steigerung ihrer Wachstumstendenz bei Kompensationszwang und Kompensationsmöglichkeiten, die häufige Erzielung funktioneller Mehrleistung zwingen zur Annahme, dass allen minderwertigen Organen ein Stück fötalen Charakters zukommt.« 49, Z. 23: Anfänge der wissenschaftlichen Medizin: Eine Übersichtsdarstellung dieser älteren Anschauungen über Konstitution wurde erst 1914 von dem Neurologen und Medizinhistoriker Max Neuburger (1868–1955) nachgeliefert: 1912–34 Vorstand des Instituts für Geschichte der Medizin Wien; 1934–38 Hon. Prof.; 1938 entlassen, 1939 Emigration nach England, 1948 USA, 1952 nach Wien zurückgekehrt. Adler kannte ihn wahrscheinlich aus der Neurologischen Abt. Moritz Benedikts in der Wiener Allg. Poliklinik in den 90er Jahren. Werke: Zur Geschichte der Konstitutionslehre. Zschr. Konstit.lehre 1, 1913, 4–10; The doctrine of the natural constitution. Med. Life 28, 1921, 341–349. 49, Z. 28: Stiller, Berthold (1837 Miskolz – 1922 Budapest): Gastroenterologe, Internist, 1864–65 Sekundararzt am Budapester Israelitischen Krankenhaus, 1874 dessen Chefarzt, 1876 Doz. für Unterleibskrankheiten, später für Innere Medizin, 1883 tit. Prof. Werke: Die nervösen Magenkrankheiten. Budapest 1884 bzw. Stuttgart 1884 (2. Aufl. 1892). 49, Z. 29: Stillers Lehre vom asthenischen Habitus: 1907 von Stiller, 1919 von Julius Bauer postulierter Körperbautyp mit bes. schmalem Thorax (Brustkorb), etwa dem
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späteren »Astheniker« Kretschmers entsprechend. Vgl. Stiller, B.: Die asthenische Konstitutionskrankheit (Asthenia universalis congenita, Morbus asthenicus). Stuttgart 1907. Z. 30: Anton, Gabriel (1858 Saaz/Böhmen – 1933 Halle): Psychiater und Rassenhygieniker; 1905–33 o. Prof. in Halle, beschrieb den Balkenstich bzw. Suboccipitalstich, Begründer einer extrem bio-psychiatrischen Schule in Graz (1894) bzw. Halle mit starken deutschnational-völkischen Tendenzen. Werke: Über angeborene Erkrankungen des Centralnervensystems. Wien 1890. Z. 32: Gross, Otto (1877 Graz – 1919 Berlin): Dr. med., Psychiater, Psychoanalytiker, Schriftsteller, Anarchist, Sohn des Grazer Kriminologen Hans Gross (1847–1915), Schüler von G. Anton. G. bewegte sich in literarisch-anarchistischen Kreisen in Zürich, Ascona, München und Berlin (u. a. Erich Mühsam, Ludwig Rubiner, Leonhard Frank, Franz Jung) und im Kreis der Psychoanalytiker. Er will die Psychoanalyse um die sozialen Ursachen von Neurosen ergänzen, gerät dabei in Konflikt mit Freud. Auf Vermittlung von Freud 1908 Aufenthalt in Burghölzli bei C. G. Jung zur Entwöhnung von Drogen. Mehrere polizeiliche Ermittlungen im Zusammenhang mit (Selbst-)Morden in Ascona. 1913 wird er auf Veranlassung seines Vaters in Berlin als »geisteskranker Anarchist« verhaftet und in der Irrenanstalt Tulln bei Wien interniert. Das löst eine Pressekampagne u. a. durch die »Aktions-Gruppe« aus. Werke: Zur Frage der socialen Hemmungsvorstellungen. Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 1901; Die cerebrale Sekundärfunktion. Leipzig: Vogel 1902; Das Freud’sche Ideogenitätsmoment und seine Bedeutung im manischdepressiven Irresein Kraepelins. Leipzig: Vogel 1907; Über psychopathische Minderwertigkeiten. Wien–Leipzig: Braunmüller 1909. Lit.: Die Aktion (Nachdr. 1961). Bd. 1, 52; Szittya, Emil: Das Kuriositäten-Kabinett. Kraus, Nachdr. 1973; Hurwitz, Emanuel: Otto Gross. Von der Psychoanalyse zum Paradies. In: Monte Verita. Ausstellungskatalog. Electa Editrice 1979; Raub, Michael: Opposition und Anpassung. Eine individualpsychologische Interpretation von Leben und Werk des frühen Psychoanalytikers O. Gross. Frankfurt/M. u. a.: Lang 1994. Z. 34: Bouchard, Charles Joseph (1837 Montiérender/Haute-Marne – 1915): Pathologe und Epidemiologe in Paris, 1879 Prof., 1886 Mitglied der Akademie der Medizin. Werke: (mit Jean-Marie Charcot) Douleurs fulgurantes de l’ataxie [etc.]. Paris 1866. Lit.: Med. Klin. 1915, 1431. Z. 34: Bouchards Bradytrophie: langsamer bzw. verlangsamter und dadurch herabgesetzter Stoffwechsel als Eigenart der sogenannten bradytrophen Gewebe oder bei pathologischen Prozessen. Lit.: Bouchard, C. J.: Maladies par ralentissement de la nutrition. Cours de
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Über den nervösen Charakter pathologie générale, professé à la Faculté de médecine de Paris pendant l’année 1879–80. Recueilli et publié par H. Frémy. Paris 1882. Z. 34: Ponfick, Emil (1844 Frankfurt/M – 1913 Breslau): Pathologe, 1873 o. Prof. für Pathologische Anatomie in Rostock, 1876 Göttingen, 1878–1913 Breslau; stand dort in Beziehung zu A. Czerny. Werke: Untersuchungen über die exsudative Nierenentzündung. Jena 1914; Die Entwicklung der Entzündungslehre im 19. Jahrhundert. Saecular-Artikel. Berl. klin. Wschr. 37, 1900, 225–228. 258–262. 276–281. Z. 34: Escherich, Theodor (1857 Ansbach – 1911 Wien): Pädiater, 1902–11 o. Prof. in Wien, Entdecker des Bacterium coli commune, Begründer einer großen pädiatrischen Schule in Deutschland und Österreich (M. v. Pfaundler, E. Moro, F. Hamburger, C. v. Pirquet, A. v. Reuss). Werke: Die Darmbacterien des Säuglings. Stuttgart 1886. Z. 34: Czerny, Adalbert (1863 Szczakowa/Galizien – 1941 Berlin): Pädiater, 1913–32 o. Prof. in Berlin, 1935–37 Lehrstuhlvertretung Düsseldorf, Begründer einer großen Pädiaterschule in Breslau (M. Thiemich, W. Birk) und Berlin, entscheidend an der endgültigen akademischen Etablierung des Faches (1918) in Deutschland beteiligt. Werke: Der Arzt als Erzieher des Kindes. Leipzig–Wien 1908 (7. Aufl. 1926); (mit Arthur Keller) Des Kindes Ernährung, Ernährungsstörungen und Ernährungstherapie. Leipzig–Wien 1906–18 (2. Aufl. 1928). A. Keller arbeitete in den 20er Jahren in der Berliner Erziehungsberatung eng mit Individualpsychologen (u. a. Alexander Neuer) zusammen. Z. 35: Moro, Ernst (1874 Laibach/Ljubljana, Slowenien – 1951 Heidelberg): Pädiater, 1919–36 o. Prof., beschrieb u. a. den Moro-Reflex, Arbeiten zu Diätetik, Allergie und Ekzema infantum. Werke: Über das Verhalten hämolytischer Serumstoffe beim gesunden und kranken Kind. Wiesbaden 1908; Experimentelle und klinische Überempfindlichkeiten. Wiesbaden 1910; Ueber Neuropathie im Kindesalter. Zschr. ärztl. Fortb. 11, 1914, 1–8; Eczema infantum und Dermatitis seborrhoica. Berlin 1932. Z. 35: Strümpell, Adolf (1853 Gut Neu-Autz, Kurland – 1915 Leipzig): Internist und Neurologe, 1903–09 Breslau, 1909–10 III. Med. Klinik Wien, 1910–25 Leipzig; prägte in den 90er Jahren den Begriff »Traumatische Neurose« und war mit Paul Möbius entscheidend daran beteiligt, diese ursprünglich organneurologisch definierte Krankheit in psychodynamischem Sinn umzuinterpretieren, wobei sich diese Neuinterpretation gegen eventuelle Rentenansprüche der Kranken richtete. In seiner Einstellung gegenüber der »österreichischen« bzw. »Wiener Medizin«, soweit sie nicht von deutschen Medizinern geprägt wurde, war er von einer ausgesprochen verachtenden und massiv antisemitischen Haltung getragen. Werke: Aus dem Leben eines deutschen Klinikers. Erlebnisse und Beobachtungen. Leipzig 1925.
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49, Z. 36: exsudative Diathese: Erbliche Disposition zu entzündlichen Reaktionen von Haut und Schleimhäuten; begünstigt bes. im Kindesalter das Auftreten von Dermatitis seborrhoides, Ekzem, Neurodermitis, Lichen urticarius, rezidivierenden Katarrhen. Der Begriff geht auf Adalbert Czerny zurück. Lit.: Czerny, A.: Exsudative Diathese. Jb. Kinderhk. 61/1, 1905; Exsudative Diathese, Skrofulose und Tuberkulose. Jb. Kinderhk. 70/5, 1909; Zur Kenntnis der exsudativen Diathese. 1–3. Mitteilung. Mschr. Kinderhk. 4/1, 1905 bzw. 6/1, 1907 u. 7/1, 1908; Ponfick, E.: Ueber die Beziehungen zwischen Skrophulose und Tuberculose. Verh. Ges. Kinderhk. 17, 1900, 88–121 bzw. Jb. Kinderhk. 53, 1901, 1–34; E. Moro/L. Kolb: Ueber das Schicksal von Ekzemkindern. Mschr. Kinderhk. 9/8, 1910. Zur Übersicht: Pfaundler, Meinhard von: Ueber Wesen und Behandlung der Diathesen im Kindesalter. Verh. Kongr. inn. Med. 28, 1911, 36–85; Zur Lehre von den kindlichen Diathesen oder Krankheitsbereitschaften. Jahreskurse ärztl. Fortb. 2/6, 1911, 3–22; Ueber kombinierte Krankheitsbereitschaften oder Diathesen im Kindesalter. Therap. Gegenw. 52, 1911, 289–299. 361–372 (diese beiden Publikationen dürften der wesentliche Referenzpunkt für alle hier gemachten Angaben Adlers gewesen sein); Eugen Stransky/Otto Weber: Konstitutionspathologische Betrachtungen zur exsudativen Diathese. Jb. Kinderhk. 96, 1921, 317–323. 49, Z. 36: Comby, Jules (1853 Pompadour/Corrèze – ?): Pädiater, 1896–1919 Médecinchef am Hôpital des Enfants-Malades; einflussreicher franz. Pädiater, 1898–1922 Gründer und Mitherausgeber der »Archives de médecine des enfants«; vielfach auf Tagungen deutscher Pädiater vor 1914 anwesend. 49, Z. 36: infantiler Arthritismus: familiäre Sonderform der exsudativen Diathese mit Neigung zu Gelenk-, Knochen-, Muskelschmerzen und Pseudoneuralgien; von Comby 1901–02 formuliert in: Arch. méd. enfants 4, 1901 und 5, 1902. 49, Z. 36: Kreibich, Karl (1869–1932 Prag): Dermatologe, 1904 ao. Prof. und Vorstand der Hautklinik Graz, 1906–32 Vorstand der Hautklinik Prag, 1908 o. Prof. Werke: Lehrbuch der Hautkrankheiten. Wien 1904. 50, Z. 1: angioneurotische Diathese, auch vasoneurotische D.: Disposition zu vasomotorischen Reaktionen, bes. Störungen im Gebiet der kapillären Regulation; kann unter verschiedenen Erscheinungen (z. B. vasomotorische Angina pectoris, Migräne, Raynaud-Syndrom) an verschiedenen Organen auftreten; im Gefolge von Medikamenten- oder Nahrungsmittelallergie, auch im Zusammenhang mit Infektionen, chemischen Giften, mechanischen Traumata. Lit.: Kreibich, K.: Ueber Hautreflex. Wien. klin. Wschr. 17, 1904, 147–153 (Vortrag Ges. der Ärzte in Wien am 29. Januar 1904, Diskussionsprotokoll ebd. 140f.); Zum Problem der Angioneurosenbehandlung. Dtsch. med. Wschr. 31, 1905, 1558– 1560; Die Angioneurosen und die hämatogenen Hautentzündungen. Arch. Dermat. Syph. 95, 1909, 405–444. 50, Z. 1: Heubner, Otto (1843 Mühltroff/Vogtland – 1926 Loschwitz bei Dresden): Pädiater, 1891 Direktor der Kinderklinik Leipzig, 1894 Vorstand der Kinderklinik der
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Über den nervösen Charakter
Charité Berlin, 1895–1913 o. Prof. Berlin. Begründer einer einflussreichen Pädiaterschule in Leipzig und Berlin sowie entscheidend für die erstmalige akademische Institutionalisierung der Pädiatrie in Deutschland. Werke: Lehrbuch der Kinderheilkunde. 2 Bde. Leipzig 1903–06 (2. Aufl. 1911). 50, Z. 1: Lymphatismus, auch lymphatische Diathese bzw. Status lymphaticus: Disposition zur Hyperplasie (d. h. übermäßige Bildung) der lymphatischen Organe, meist mit pastösem Habitus und Resistenzschwäche gegenüber Infektionen einhergehend. Lit.: Heubner, Otto: Lehrbuch der Kinderheilkunde. 2. Bd. Leipzig 1906, 30–35; Moro, Ernst: Beziehungen des Lymphatismus zur Skrofulose. Dtsch. med. Wschr. 35, 1909, 788–793; Escherich, Theodor: Der gegenwärtige Stand der Lehre von der Skrofulose. Dtsch. med. Wschr. 35, 1909, 1641–1654; Was nennen wir Skrofulose? Wien. klin. Wschr. 22, 1909, 224–228. – In der Diskussion der Inneren Sektion der Ges. für Innere Med. und Kinderheilkunde in Wien vom 25. Juni 1908 (Dtsch. med. Wschr. 34, 1908, 219f.) zum Vortrag von J. Bartel über »Hypoplastische Konstitution« (s. Komm. zu S. 59, Z. 7) interpretierte Escherich die hypoplastische Konstitution Bartels als Status lymphaticus und bedauerte die Beschränkung der Fälle von Bartel auf Patienten jenseits des 15. Lebensjahres, denn es träten »die reinsten Fälle von Status lymphaticus im Kindesalter [auf ], wo sie häufig mit Rachitis, Tetanie und Skrofulose kombiniert sind. Die Wachstumsstörung des lymphatischen Apparates ist nur eine Teilerscheinung des Status lymphaticus, die Ursache desselben eher in einer Insuffizienz des chromaffinen Gewebes zu suchen«. Josef K. Friedjung fasste hier »den Status lymphaticus als chronische Vergiftung auf, auf die der Organismus mit einer Hyperplasie des lymphatischen Apparates reagiert«. Josef Kyrle bestätigte die Ausführungen Bartels unter Hinweis auf seine Hodenatrophiestudien (s. Komm. zu S. 59, Z. 10). 50, Z. 1: Paltauf, Arnold (1860 Judenburg/Steiermark – 1893 Prag): Gerichtsmediziner, 1883 Dr. med. Graz, Assistent am Pathologisch-Anatomischen Institut Graz, 1885 Assistent am Gerichtsmed. Institut Wien (E. von Hofmann), 1889 Privdoz. für Gerichtliche Medizin Wien, 1891–93 beamteter ao. Prof. für Gerichtliche Medizin Prag. 50, Z. 2: Status thymico-lymphaticus, auch Thymolymphatismus: Hyperplasie von Thymus und lymphatischem Apparat bei – meist pastösen und hypotonen – Säuglingen und Kleinkindern. Wurde früher als Ursache für den plötzlichen Säuglingstod (»Thymustod«) angesehen, eine Vorstellung, die um 1930 in die Krise geraten war (Moro 1930). Von Arnold Paltauf 1889–90 geprägt. Lit.: Paltauf, A.: Ueber die Beziehungen des Thymus zum plötzlichen Tod. Wien. klin. Wschr. 2, 1889, 877ff. bzw. 3, 1890, 172ff.; Escherich, Th.: Bemerkungen über den Status lymphaticus der Kinder. Berl. klin. Wschr. 33, 1896, 645–650; Friedjung, Josef K.: Erkrankungen der Thymusdrüse. In: Pfaundler, M. von/Schlossmann, Arthur (Hg.): Handbuch der Kinderheilkunde. Bd. 2. Leipzig 1906, 394–402 (engl.
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Übers. Bd. 3. Philadelphia–London 1908, 426–434). Zur Krise des Begriffs: Moro, Ernst: Physiologische und pathologische Bedeutung des thymolymphatischen Systems. Klin. Wschr. 9, 1930, 2185–2189. 50, Z. 2: Spasmophilie: metabolische (stoffwechselbedingte) Epilepsie; Form der hyperkalzinämischen Tetanie (Krampfbereitschaft bei Übermaß von Kalzium im Blut) im Kindesalter (»Kindertetanie«), bes. bei rachitischen Säuglingen, bei Nebenniereninsuffizienz und Störungen des Magen-Darm-Traktes. Bis Anfang der 1890er Jahre (unter dem Oberbegriff »Konvulsionen« oder »Eklampsia infantum«) als »seltene, kaum beachtete und harmlose Neurose« aufgefasst (Escherich 1907c, 2073). Von Escherich beim 10. Internat. Med. Kongress in Berlin 1890 als kindliche Form der Tetanie (wie von Trousseau, Erb und Franz Chvostek sen. definiert) postuliert; seit den frühen 90er Jahren als affection spasmodique bzw. spasmoparalytique infantile im franz. und engl. Sprachraum auftauchend. Seit 1905–06, von Berlin (O. Heubner) ausgehend, auch zunehmend als »Spasmophilie« bezeichnet (s. Komm. zu S. 58, Z. 14). Escherich wandte sich jedoch – entgegen der hier gegebenen Zuschreibung Adlers – 1907 in den Verhandlungen der Ges. für Kinderheilkunde auf der Versammlung der Ges. deutscher Naturforscher und Ärzte in Dresden heftig gegen die »neuerdings in Aufnahme gekommene Bezeichnung ›Spasmophilie‹«, weil dies ein Begriff mit weiterem Umfang sei und dabei die Übereinstimmung mit der Tetanie der Erwachsenen verwischt werde. Wilhelm Stoeltzner interpretierte sie bereits damals als »alimentäre Kalziumvergiftung«. Für die Benennung »Spasmophilie« bei Adler wahrscheinlich maßgebliche Quelle: Hochsinger (1904, 1905), Heubner (1903) und Finkelstein (1905). Lit.: Escherich, Th.: Idiopathische Tetanie im Kindesalter. Wien. klin. Wschr. 3, 1890, 796–744 bzw. Verh. 10. Internat. Med. Kongr. Bd. 2, 6. Abt. Berlin 1890, 65–67; Begriff und Vorkommen der Tetanie im Kindesalter. Berl. klin. Wschr. 34, 1897, 861–866; Die tetanoiden Erkrankungen des ersten Kindesalters. Wien. med. Presse 44, 1903, Sp. 2357–2365; Infantile Tetanie mit exzessiver mechanischer und elektrischer Erregbarkeit. Mitt. Ges. inn. Med. 6, 1907a, 51–55 bzw. Jb. Kinderhk. 65, 1907b, 1–14; Zur Kenntnis der tetanoiden Zustände des Kindesalters. Münch. med. Wschr. 54, 1907c, 2073f.; Die Tetanie der Kinder. In: Nothnagel, Herrmann (Hg.): Specielle Pathologie und Therapie. Bd. XI, II. Theil. Wien–Leipzig, 2. Aufl. 1909, bes. 5–28 zur Begriffsgeschichte bis Ende 1907; Hochsinger, Carl: Krämpfe bei Kindern. Berl. klin. Wschr. 7, 1904, 479–560 bzw. Versuch einer pathogenetischen Einteilung der funktionellen Kinderkrämpfe. Verh. Ges. Kinderhk. 21, 1905, 61–70; Heubner, Otto: Lehrbuch der Kinderheilkunde. Leipzig 1903, 226f.; Finkelstein, Heinrich: Lehrbuch der Säuglingskrankheiten. Berlin 1905, 238; Thiemich, Martin: Über Spasmophilie im Kindesalter. Med. Klin. 2, 1906, 430–433; Stoeltzner, Wilhelm: Spasmophilie und Calcium-Stoffwechsel, Neurol. Zbl. 27, 1908, 58–65; Die Pathogenese der Kinder-Tetanie (Spasmophilie). Mschr. Psych. Neurol. 25, 1909, 324–348.
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Über den nervösen Charakter
50, Z. 2: Hess, Leo (1879 Wien – 1963 Brookline/Mass.): Internist, 1903 Dr. med. Wien, arbeitete an den Kliniken Nothnagel & Noorden (I. Med. Klinik), Strümpell (III. Med. Klin.) bzw. Wagner-Jauregg (Psych. Klin.). Drei Jahre Assistent des Ophthalmologen Ludwig Mauthner und 1914–29 Assistent an der III. Med. Klinik (Franz Chvostek), 1918 Privdoz. für Innere Med., Wien, 1929 tit. ao. Prof., 1939 in die USA emigriert. 50, Z. 2: Eppinger, Hans (1879 Prag – 1946 Wien): Internist, Sohn des Pathologen Hans Eppinger sen. (1846–1916). 1926 o. Prof. und Vorstand Med. Klinik Freiburg/Breisgau, 1930–33 Med. Klinik Köln, 1933–45 o. Prof. I. Med. Klin. Wien, zugleich Vereinigung mit ehemaliger III. Med. Klin. (F. Chvostek) und Übernahme der völkisch-nationalsozialistischen Assistentengruppe dieser Klinik. Nach 1938 führender Internist im NS-Deutschland, 1943–44 an Planung von Meerwasser-Entsalzungsversuchen im KZ Dachau beteiligt. 1945–46 durch österr. Innenministerium von Untersuchungen im Zuge des Nürnberger Ärzteprozesses verschont, als Reaktion auf schließlich doch notwendige Zeugenvorladung nach Nürnberg Selbstmord. 50, Z. 2: Vagotonie: Dauerhafte Verschiebung des vegetativen Gleichgewichts im Sinne einer erhöhten Erregbarkeit bzw. eines Überwiegens des parasympathischen Systems, meist im Rahmen einer – konstitutionellen – vegetativen Labilität; auch bei Hochleistungssportlern als Anpassung vor allem des Kreislaufs an die hohe Körperleistung. 1910 von Hess und Eppinger postuliert, 1913–14 internat. breit rezipiert, bes. in den USA, Russland und Ungarn. Lit.: Hess, Leo/Eppinger, Hans [jun.]: Die Vagotonie. Sammlung klinischer Abhandlungen über Pathologie und Therapie der Stoffwechsel- und Ernährungsstörungen (Hg. Carl v. Noorden). Heft 9–10. Berlin 1910 (engl. Übers. New York 1915); Krasnogorski, Nikolai Ivanovich: Exsudative Diathese und Vagotonie. Mschr. Kinderhk. 12, 1913, 129–139. 50, Z. 20: Martius, Friedrich (1850 Erxleben – 1923 Rostock): Internist, 1889–90 behandelnder Arzt des Großherzogs Friedrich Franz III. von Mecklenburg-Schwerin, 1901–21 o. Prof. und Direktor der Med. Klinik Rostock; Begründer der Konstitutionspathologie und der pathologischen Vererbungslehre. Werke: Autoergobiografie. In: Grote, Louis Ratcliffe (Hg.): Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 1. Leipzig 1923, 105–140; Krügel, Rainer: Friedrich Martius und der konstitutionelle Gedanke (Marburger Schriften zur Medizingeschichte. Bd. 11). Frankfurt/M 1984; Krankheitsursachen und Krankheitsanlagen. Wien 1898; Pathogenese innerer Krankheiten. 4 Hefte. Wien 1899–1908; Krankheitsanlage und Vererbung. Wien 1905; Konstitution und Vererbung in ihren Beziehungen zur Pathologie. Berlin 1914; Das Kausalproblem in der Medizin (Beihefte zur »Medizinischen Klinik«. Heft 5). Berlin 1914. 50, Z. 25: die Koordination bis stehen: SMO 1907, 60; SMO 1977, 88. 50, Z. 25: Bartel, Julius (1874 Troppau/Schlesien – 1925 Wien): Pathologischer Anatom, 1907 Privdoz. für Pathologische Anatomie, einer der bedeutendsten Schüler
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Weichselbaums. Arbeiten zur Pathologischen Anatomie und Bakteriologie, bes. zur Ätiologie und Histologie der Endokarditis, zu Tuberkulosefragen, Konstitutionsfragen und zur Bedeutung meteorologischer Faktoren für den Organismus. Werke: Über die hypoplastische Konstitution und ihre Bedeutung. Wien. klin. Wschr. 21, 1908, 783–790; Über Morbidität und Mortalität des Menschen, zugleich ein Beitrag zur Frage der Konstitution. Leipzig–Wien 1911; (mit K. Bauer) Status thymico-lymphaticus und Status hypoplasticus, ein Beitrag zur Konstitutionslehre, mit einer allgemein orientierenden Statistik. Leipzig–Wien 1912. 50, Z. 28: Kyrle, Josef (1880 Schärding/Oberösterr. – 1926 Wien): Bedeutender Syphilidologe und Dermatologe, 1918 tit. ao. Prof., Schriftleiter »Wiener Klinische Wochenschrift« und Erster Sekretär der Ges. der Ärzte zu Wien. Politisch ein Vertreter der großdeutsch und antisemitisch ausgerichteten jüngeren Generation. Beiträge zur Klärung der Liquorfrage, zu Entwicklungsstörungen des Sexualapparats, Untersuchungen zur spezifisch-unspezifischen Therapie der Syphilis, Einführung der Malariabehandlung der Lues. Werke: Über Strukturanomalien im menschlichen Hodenparenchym. Verh. Dtsch. Ges. Path. 12, 1909, 391–395; Über experimentelle Hodenatrophie. Ebd. 13, 1910, 240–247; Über Entwicklungsstörungen der männlichen Keimdrüsen im Jugendalter. Wien. klin. Wschr. 23, 1910, 1583–1593; Über die Regenerationsvorgänge im tierischen und menschlichen Hoden. S.ber. Akad. Wiss. Wien, Math.naturw. Kl., Abt. III. Jan. 1911; (mit A. Weichselbaum) Über die Veränderungen des Hodens bei chronischem Alkoholismus. S.ber. Akad. Wiss. Wien, Math.-naturw. Kl., Abt. III. 121, 1912, 51–67; Über Hodenunterentwicklung im Kindesalter. Beitr. path. Anat. 60, 1915, 359–389. 50, Z. 34: dass bis Sexualapparates: SMO 1907, 59; SMO 1977, 86f. Statt »muss« heißt es dort »möchte«. 50, A. 13: Bauer, Julius (1887 Nachod/Böhmen – 1979 Beverley Hills): Internist, 1928– 38 Chefarzt III. Med. Abt. der Wiener Allg. Poliklinik, 1931–38 auch I. Med. Abt.; Internist mit Spezialisierung auf Konstitutionspathologie und Endokrinologie. 1921–23 von deutschen Rassenhygienikern als österr. Gewährsmann begriffen; 1929–30 trotz bereits kritischer Stellungnahmen zur deutschen Konstitutions-Literatur (1923–25) Kontroverse mit Walther Riese über den Missbrauch des Konstitutionsbegriffs in ärztlichen Gutachten. Trat im Juli 1935 gegen »gefährliche Schlagworte in der Vererbungslehre« in Deutschland auf, u. a. Streit mit den nationalsozialistischen Rassenhygienikern Heinrich Reichel (1935) und Fritz Lenz. Danach NS-Auslands-Pressekampagne gegen Bauers Auftreten bei der Internat. Med. Woche in Montreux/Schweiz im Sept. 1935. 1938 nach Paris geflüchtet, 1939 weiter in die USA, ab 1966 Lecturer Univ. of Southern California School of Medicine. Werke: Konstitutionelle Disposition zu inneren Krankheiten. Berlin 1917; Vorlesungen über allgemeine Konstitutions- und Vererbungslehre. Berlin 1921 (2. Aufl. 1923); Phänomenologie und Systematik der Konstitution. In: Handbuch der norma-
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Über den nervösen Charakter len und pathologischen Physiologie. Bd. 17. Berlin 1926; Wandlungen des Konstitutionsproblems. Klin. Wschr. 8, 1929, 145–150. Lit.: Riese, Walther: Über den Missbrauch des Konstitutionsbegriffes (zumal in ärztlichen Gutachten). Dtsch. med. Wschr. 55, 1929, 1244–1246 sowie 56, 1930, 870f.; Reichel, Heinrich: Die Stellung der Rassenhygiene zur Hygiene und Medizin. Wien. klin. Wschr. 48, 1935, 2–5; Bauer, J.: Gefährliche Schlagworte aus dem Gebiet der Erbbiologie. Schweiz. med. Wschr. 65, 1935, 633–635; Programm der Internat. Med. Woche in Montreux, 9.–14. Sept. 1935. Wien. klin. Wschr. 48/30, 1935, S. III; Bauer, J.: Die Beziehungen der Vererbungslehre zur Endokrinologie. Wien. klin. Wschr. 48, 1935, 1103–1107 (Vortrag Montreux, 10. Sept. 1935); Methoden der Konstitutionsforschung. In: Abderhalden, Emil (Hg.): Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. 9, Teil 3, 1. Hälfte. Berlin 1937, 1–34. A. 13: Kretschmer: Siehe Komm. zu S. 32, Z. 13. Z. 32: Mit der Loslösung bis Komplexes: SMO 1907, 73f.; SMO 1977, 10f. Anders als hier ist es dort zusammengesetzt mit Auslassungen. Z. 11: Schmidt, Rudolf (1873 Leoben – 1947 Prag): Internist, 1913–38 o. Prof. und Direktor der I. Med. Klinik Deutsche Univ. Prag. Arbeitete bes. über Magen-DarmKrankheiten und Konstitution. Adler war wohl von der Innsbrucker Antrittsvorlesung Sch.s beeindruckt. Werke: Über Diathese, Dyskrasien und Konstitutionen. Wien. klin. Wschr. 24, 1911, 1659–1663 (Antrittsvorlesung); Über die »konstitutionelle« Achylie. Med. Klin. Berlin 8, 1912, 695–699; Konstitution und Pathologie des chylopoetischen Systems. Prag. med. Wschr. 39, 1914, 209f. 223–226. Z. 17: Wagner-Jauregg: Siehe Komm. zu. S. 32, Z.21. Es fällt auf, dass der Adelstitel entsprechend den österr. Gesetzen von 1919 in der 3. Aufl. gestrichen wurde. Werke: Beiträge zur Ätiologie und Pathologie des endemischen Kretinismus. Wien 1910; (mit Friedrich Schlagenhaufer) Myxödem und Kretinismus. Wien–Leipzig 1912. Z. 17: Hochwart, Lothar Frankl Ritter von (1862–1914 Wien): Neurologe, 1912 ao. Prof., der bedeutendste Neurologe aus der Nothnagel-Schule. Arbeiten über Tetanie, Ménièrsche Krankheit, Akroparästhesien, Keraunoneurosen, Beschäftigungsneurosen, nervöse Blasenstörungen, Erkrankungen der Hypophyse und Epiphyse. Werke: Ueber mechanische und elektrische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln bei Tetanie. Dtsch. Arch. klin. Med. 43, 1888, 21ff.; Die Tetanie. Berlin 1891; Die Tetanie der Erwachsenen. In: Nothnagel, Hermann: Specielle Pathologie. Bd. XI. Wien–Leipzig, 2. Aufl. 1909; (mit Alfred Fröhlich) Zur Deutung der Wirkung des Hypophysins (Pituitrins, Parke, Davis & Co.) auf das sympathische und autonome Nervensystem. Arch. exper. Path. Pharmak. 63/5–6, 1910. A. 22: Frankl von Hochwart: Das »von« des Adelstitels wird 1919 wie bei von Jauregg ausgelassen.
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52, Z. 17: Chvostek, Franz jun. (1864 Wien – 1944 Burg Groppenstein/Kärnten): Internist und Neurologe, 1911 o. Prof. und Vorstand der IV. Med. Klinik Wien, 1913–33 Vorstand der III. Med. Klinik. Einflussreicher Vertreter der Konstitutionslehre in Wien, bes. Arbeiten zur Neurologie und Endokrinologie; lehnte modernere diagnostische Methoden (Labor, Röntgen) weitgehend ab. Aus ursprünglich tschechischer Familie stammend, entwickelte er sich seit dem Ersten Weltkrieg zunehmend zu einem extremen Deutschnationalen und schloss gegen bestehende Gesetze (seit 1920) Frauen mithilfe seiner völkisch-antisemitischen Studenten von den Vorlesungen aus. Neben einigen jüdischen Assistenten aus seiner Frühzeit (z. B. Leo Hess) gingen aus seiner Klinik eine Vielzahl nationalsozialistischer Ärzte (z. B. Erwin Risak, Wilhelm Beiglböck, Otto und Viktor Satke, Karl Thums) hervor, die führende Stellen in der Wiener Medizin der NS-Zeit besetzten oder sogar Menschenversuche in Konzentrationslagern durchführten (Beiglböck). Werke: Zur Endokrinologie: Pathologische Physiologie (Morbus Addison). Erg. allg. Path. 9, 1903, 243–289; Die menstruelle Leberhyperämie. Ein Beitrag zur Frage der Beziehungen zwischen Leber und Drüsen mit innerer Sekretion. Wien. klin. Wschr. 22, 1909, 293–297; Konstitution und Blutdrüsen. Ebd. 25, 1912, 6–12; Morbus Basedowi und die Hyperthyreosen (Enzyklopädie der klinischen Medizin, Spezieller Theil: Innere Sekretion). Berlin 1917. 52, Z. 17: Bartel: Siehe Komm. zu S. 50, Z. 25 und Bartel, J./Hermann, E.: Ueber die weibliche Keimdrüse bei Anomalie der Konstitution. Mschr. Geburtsk. 33, 1911, 125–135. 52, Z. 17: Escherich: Siehe Komm. zu S. 49, Z. 34. Spezielle Arbeiten E.s zur Endokrinologie sind nicht bekannt; allerdings interpretierte er die Tetanie als Störung der Epithelkörperchenfunktion, d. h. endokrinologisch; insofern fallen seine gesamten Arbeiten zur Tetanie in das Gebiet der Endokrinologie. 52, Z. 17: Pineles, Friedrich (1868 Sanok/Galizien – 1936 Wien): Internist, Endokrinologe und Neurologe, 1912 tit. ao. Prof., Abteilungsvorstand am Kaiser-Franz-Josefbzw. Mariahilfer Ambulatorium. P. versuchte Escherichs spezifische Deutung der Kindertetanie als Störung der Epithelkörperchenfunktion nachzuweisen. Werke: Die Beziehungen der Akromegalie zum Myxödem und zu anderen Blutdrüsenerkrankungen. Sammlung klinischer Vorträge N.F. 242, Innere Medizin 73. Leipzig 1899, 1421–1450; Ueber die Funktion der Epithelkörperchen. Sitzungsber. Akad. Wiss. Wien, Math.-naturw. Kl., Abt. III. 113, 1904, 199–238 u. 2. Mitteilung ebd. 117, 1908, 3–8; Zur Pathogenese der Tetanie. Dtsch. Arch. klin. Med. 85, 1905– 06, 491–526; Zur Pathogenese der Kindertetanie. Jb. Kinderhk. 66, 1907, 665–693; Zur Behandlung der Tetanie mit Epithelkörperchenpräparaten. Arb. Neurol. Inst. Wien 16/2, 1907, 437–451; (mit H. Spitzer) Nervenkrankheiten und innere Sekretion. Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiet der Verdauungs- und Stoffwechsel-Krankheiten. Bd. 10/3. Halle 1927; Die Epithelkörperchen. In: Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie. Bd. 16/1. Berlin 1930.
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Über den nervösen Charakter
52, Z. 24: Morel, Auguste Benedicte (1809 Wien – 1873): Psychiater u. a. an der Salpêtrière, Paris; Begründer der Degenerationstheorie. Er bezeichnete fast alle chronischen Geistesstörungen als »geistige Entartung« (dégénérescence mentale) (1857, 1860). Seine Theorie (und die von Valentin Magnan, 1835–1916) wurde in den 80er Jahren beherrschend für die franz. Psychiatrie. Degeneration Jugendlicher: démence précoce (später in anderer Bedeutung Dementia praecox, s. Kraepelin). Die Frage der vererbten »Entartung« ging auch in die deutsche Psychiatrie ein (Kraepelin, Krafft-Ebing, Schüle). Man suchte nach körperlichen »Entartungszeichen« bei »Geisteskranken und geistig Minderwertigen« und warnte vor der Entartung der Rasse (Kraepelin). Adler nimmt mit seiner Theorie der Organminderwertigkeit und Überkompensation Gedanken der Degenerationstheorie auf. In SMO 1907 spricht er häufig von »Degenerationszeichen« als »morphologischen Organminderwertigkeiten« (SMO 1977, 31) oder von den drei wichtigsten Ergebnissen aus der »Organ- und Nervenminderwertigkeit«: »Degeneration – Neurose – Genie« (SMO 1977, 90) (s. Komm. zu Lombroso S. 68, Z. 3). Werke: Traité des Dégénérescences Physiques, Intellectuelles et Morales de l’Espèce Humaine. Paris 1857. Lit.: Ellenberger 1973, 347. 388; Schindler, Thomas-Peter: Psychiatrie im Wilhelminischen Deutschland. Diss. FU Berlin 1990, 33ff.; Wyrsch, Jakob: Wege der Psychopathologie und Psychiatrie. In: Balmer (Hg.) 1976, 992. 52, Z. 27: Thiemich, Martin (1869 Breslau – 1921 Leipzig): Pädiater, 1908–13 Städtischer Kinderarzt Magdeburg bzw. Leiter der Säuglingsabteilung am Städtischen Krankenhaus Altstadt zu Magdeburg. 1913 ao. Prof. und Vorstand der Kinderklinik in Leipzig; 1919 o. Prof. Ueber die Entwicklung eklamptischer Säuglinge in der späteren Kindheit. Jb. Kinderhk. 65/1–2, 1907. Vortrag von Thiemich in der Sektion Kinderheilkunde der 78. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stuttgart am 19. September 1906; die anschließende Diskussion war typisch für den damals sich vollziehenden Wechsel vom Begriff der Tetanie zur Spasmophilie: Escherich (s. Komm. zu S. 49, Z. 34) wandte sich dagegen, den älteren Begriff der »Eklampsia infantum« in dem der »spasmophilen Diathese« aufgehen zu lassen, nahm vielmehr eine gemeinsame Pathogenese, wenn auch nicht Ätiologie an, für die er eine funktionelle Störung der Epithelkörperchen postulierte. Otto Heubner, Berlin, plädierte für den Begriff der Spasmophilie, wenn auch nicht alle Krämpfe ihre Grundlage in einer spasmophilen Diathese haben müssten. Finkelstein argumentierte, »dass Spasmophilie am besten den Konstitutionszustand bezeichnet«. T. akzeptierte »den Namen der Spasmophilie, um einem fruchtlosen Wortstreit zu entgehen«, sah ihn aber als dekkungsgleich mit dem tetanischen Zustand Escherichs an (vgl. Referat von Leopold Langstein: Münch. med. Wschr. 53, 1906, 2036). Die Unterschiede zu Escherich waren schon in Arbeiten T.s um die Jahrhundertwende angelegt. Werke: (mit P. Lindemann) Die Städtische Säuglingsfürsorge. Leipzig–Wien
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1909; Funktionelle Erkrankungen des Nervensystems. In: ders./Zappert, Julius: Die Krankheiten des Nervensystems im Kindesalter, mit Beiträgen von Wilhelm Knöpfelmacher und H. Pfister (Pfaundler, M. von/Schlossmann, Arthur: Handbuch der Kinderheilkunde. Bd. 4). Leipzig, 2. Aufl. 1910; Einige Ergebnisse der Kinderheilkunde während der Kriegszeit. Berlin–Wien 1920; Ueber Krämpfe im Kindesalter. Münch. med. Wschr. 46, 1899, 1449–1453; Ueber Tetanie und tetanoide Zustände im ersten Kindesalter. Jb. Kinderhk. 51, 1900, 99ff. 222ff.; Anatomische Untersuchungen der Glandulae parathyreoideae bei der Tetanie der Kinder. Mschr. Kinderhk. 5, 1906, 165–169; Ueber Spasmophilie im Kindesalter. Med. Klin. 2, 1906, 430–433; Die Bedeutung einer geordneten Säuglings- und Kleinkinderfürsorge für die Verhütung von Epilepsie, Idiotie und Psychopathie. Münch. med. Wschr. 57, 1910, 2334–2338; Funktionelle Erkrankungen des Nervensystems. In: Pfaundler, M. von/Schlossmann, Arthur: Handbuch der Kinderheilkunde. Bd. 4. Leipzig, 2. Aufl. 1910. Lit.: Potpeschnigg, Carl: Zur Kenntnis der kindlichen Krämpfe und ihrer Folgen für das spätere Alter. Arch. Kinderhk. 47, 1907, 360–416; Über das Wesen und die Ursachen kindlicher Minderwertigkeiten. Wien. klin. Wschr. 21/47, 1908; Gött, Theodor: Die Krämpfe des Kindesalters. Jahreskurse ärztl. Fortb. 2/6, 1911, 23–53, hier 43f. (Adler gibt die Hauptpunkte der Darstellung der Tetanie bzw. Spasmophilie und ihrer Zusammenhänge zum Lymphatismus etc. nach dieser Überblicksdarstellung Götts wieder). 52, Z. 27: Birk, Walther (1880 Groß-Wanzleben/Magdeburg – 1954 Tübingen): 1919 ao. Prof. in Tübingen und 1919–48 Vorstand der Univ.-Kinderklinik Tübingen, 1927–47 o. Prof. Ab 1910 vornehmlich Arbeiten zur Kinderernährung und Stillen der Kinder; griff Themen der funktionellen Nervenkrankheiten der Kinder erst wieder im Nationalsozialismus auf. War in der Weimarer Republik Unterzeichner von politischen Professorenaufrufen für die Deutschnationalen; ab 1933 deutliches Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Werke: (mit Arthur Keller) Kinderpflegelehrbuch, mit einem Beitrage von Dr. med. Axel Tagesson Möller. Berlin 1911 (2. Aufl. 1914); Leitfaden der Säuglingskrankheiten. Bonn 1914 (7. Aufl. 1930); Leitfaden der Kinderkrankheiten. Berlin 1920 (3. Aufl. 1928); (mit August Mayer) Lehrbuch der Wöchnerinnen-, Säuglingsund Kleinkinderpflege für Pflegerinnen, Schwestern und Mütter. Stuttgart 1928. 52, Z. 28: Potpeschnigg, Karl: Bis 1907 Assistent der Münchener Univ.-Kinderklinik unter M. von Pfaundler, dann Assistent der Univ.-Kinderklinik in Graz unter Pfaundlers Nachfolger Josef Langer (1866–1937). 1911 Privdoz. für Kinderheilkunde Graz. 52, Z. 28: Gött, Theodor (1880 München – 1934 Bonn): 1925–34 o. Prof. und Vorstand der Univ.-Kinderklinik Bonn, 1932–33 Dekan, z. Zt. der Beurlaubung und Entlassung der jüdischen und politisch unerwünschten Hochschullehrer. Widmete sich bes. der Röntgenologie, später der Neurologie und Psychopathologie des Kindes-
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Über den nervösen Charakter alters; war neben F. Hamburger der einflussreichste Vertreter der Kinderpsychotherapie innerhalb der deutschsprachigen Univ.-Pädiatrie. G. war ein Gegner der IP und der Psychoanalyse, wie aus einem Brief vom Herbst 1931 an Meinhard von Pfaundler hervorgeht: »Es ist merkwürdig, dass diese Leute immer irgend etwas verabsolutieren müssen: Freud die Lust, Adler die Macht, ein Neuerer das Soziale; da verwenden dann alle ihren Spürsinn und ihre Intelligenz dazu, um ein solches Prinzip herum ein verzwicktes, gezwungenes System zu konstruieren und werden blind und immer blinder für die Wirklichkeit, in der doch alles Leben, Bewegung und Fluss ist und kein einziges Atom in Ruhe bleibt.« Werke: Funktionelle Krankheiten des Nervensystems. In: Pfaundler, M. von/ Schlossmann, Arthur: Handbuch der Kinderheilkunde. Leipzig, 3. Aufl. 1924 (4. Aufl. 1931) (Gött übernahm die Bearbeitung dieses Kapitels in der Nachfolge Thiemichs; s. Komm. zu S. 61, Z. 24); Psychotherapie in der Kinderheilkunde. Münch. med. Wschr. 61, 1914, 1377–1382. Lit.: Pfaundler, M. von: Theodor Gött. Münch. med. Wschr. 81, 1934, 474f.; Kaupe, Walther: Theodor Gött. Med. Klin. 30, 1934, 383. A. 19: Mutschmann, Heinrich (1885 Essen – 1955 Marburg): o. Prof. für engl. Philologie in Dorpat bis 1938, Lehraufträge u. a. in Marburg. M. weist nach, dass die Art des bis zur Erblindung fortschreitenden Sehfehlers des Dichters John Milton sich in dessen Werk nachweisen lässt. Werke: Milton und das Licht. Halle: Niemeyer 1920; Miltons Eysight and the Chronology of his Works (1924). Haskell House Pub. 1971. Lit.: Greenwood, Alice: John Milton. IZfIP 8, 1930, 401–416. Z. 4: Czerny: Siehe Komm zu S. 49, Z. 34; ergibt sich aus den Arbeiten C.s zur exsudativen Diathese, worauf M. Thiemich (1910, 2337; s. Komm zu S. 61; Z. 24) noch einmal deutlich hinwies. Z. 6: Bartel: Siehe Komm zu S. 50, Z. 25. Z. 8: Netolitzky, August (1845–1924): Medizinalbeamter und Hebammenlehrer, 1907 Landessanitätsreferent von Niederösterreich, Direktor der Königlich-Kaiserlichen Hebammenlehranstalt in Wien. In seinem Beitrag »Krankheitszustände in ihren Beziehungen zur Schule« (1912, 486) schreibt N.: »Als Motive des Selbstmordes im jugendlichen Alter werden zumeist angeführt: gekränkter Ehrgeiz, Furcht vor Strafe oder vor Prüfungen, harte Behandlung, religiöse Schwärmerei, sittliche Verwahrlosung, sogar unglückliche Liebe und die krankhafte Sucht, Aufsehen zu erregen. Diese Motive des Selbstmordes sind jedoch nur die letzten, oft verhältnismäßig unbedeutenden Veranlassungen, der tiefere Grund liegt in den meisten Fällen in der abnormen körperlichen und geistigen Disposition, welche bei den als minderwertig bezeichneten Individuen in gesteigerter Erregbarkeit und abnormen Handlungen zum Ausdruck gelangt. – Die Ansprüche an die Leistungen der Schüler, welche mit einer gesteigerten Inanspruchnahme des Gehirnes verbunden sind, werden eben nur dort verderblich wirken, wo erbliche Belastung, körperliche
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Abnormitäten und äußere schädliche Einflüsse die vorhandene krankhafte Anlage und Reizbarkeit steigern und dadurch zum Selbstmorde drängen. Von unleugbarem Einfluss auf die Kinderselbstmorde sind ungünstige soziale und häusliche Verhältnisse, Hunger, Entbehrungen, der Anblick häuslichen Elends, Sorgen der Eltern, und nicht selten auch der Nachahmungstrieb.« Werke: (mit Leo Burgerstein) Handbuch der Schulhygiene (Handbuch der Hygiene, Hg. Theodor Weyl. Bd. 7, 1. Abt.). Jena 1895 (Leipzig, 3. Aufl. 1912); Österreichische Sanitätsgesetze (Handbuch der ärztlichen Sachverständigentätigkeit, Hg. Paul Dittrich). Leipzig 1912, 421–509. Z. 9: Frankl-Hochwart, Tetanie: Siehe Komm. zu S. 61, Z. 13. Z. 11: Pfaundler, Meinhard von (1872 Innsbruck – 1947 Piburg bei Oetz/Tirol): 1906–39 Direktor der Univ.-Kinderklinik München, 1912 o. Prof; Begründer einer umfangreichen Pädiaterschule in Deutschland (E. Moro, A. Uffenheimer, Th. Gött, E. Benjamin, J. Husler, R. Degkwitz, B. de Rudder, O. Ullrich, A. Wiskott, G. Weber, H. Mai). Arbeitsschwerpunkte im Bereich der Konstitutionslehre und Neugeborenen-Physiologie. Noch 1936 begann P. einen Artikel einleitend mit der Bemerkung, Adlers Lehre von den erblichen Organminderwertigkeiten habe den Wiener Kinderarzt Josef K. Friedjung dazu gebracht, zu prüfen, »wie sich hinsichtlich der Pathologie der Verdauungsorgane die Vorfahren von Kindern verhalten haben, die im Säuglingsalter gar nicht oder in geringem oder in erheblichem Maße […] zu Ernährungs- und Verdauungsstörungen neigten« (1936, 395). Werke: (mit Arthur Schlossmann) Hg. Handbuch der Kinderheilkunde. Leipzig 1906 (4. Aufl. 1931; engl. Übers. 2. Aufl. 1912–1914); Physiologie des Neugeborenen. In: Döderlein, A.: Handbuch der Geburtshilfe. Bd. 1. München-Wiesbaden 1915; Körpermaßstudien an Kindern. Berlin 1916; Studien über Frühtod, Geschlechtsverhältnis und Selektion, zur intrauterinen Absterbeordnung. Zschr. Kinderhk. 57, 1935, 185–227; Zum perinatalen Sterben. Die Totgeburten. Ebd. 60, 1939, 467–494; Die Neugeborenensterblichkeit. Ebd. 2, 1941, 351–482 bzw. 63, 1942, 1–132; Die Säuglingssterblichkeit. Ebd. 64, 1943, 1ff.; Säuglingssterblichkeit und Erblichkeit. Münch. med. Wschr. 83, 1936, 395–398; Biologische Allgemeinprobleme der Medizin, Konstitution, Diathese, Disposition. Ausgewählte Vorträge und Abhandlungen. Zu dem 75. Geburtstag (Hg. Bernhard de Rudder). Berlin–Heidelberg 1947. Z. 13: Torpider Habitus: Habitus scrofulöser Kinder, mit dicker Nase und Oberlippe, fahler Farbe und stumpfem Ausdruck des aufgedunsenen Gesichts, verhältnismäßig gut entwickeltem Fettgewebe bei geringer Ausbildung der Muskulatur und starkem Bauch. Nach Pfaundler aus der franz. pädiatrischen Literatur stammend. Lit.: Pfaundler, M. von: Zur Lehre von den kindlichen Diathesen oder Krankheitsbereitschaften. Jahreskurse ärztl. Fortb. 2/6, München 1911, 11. Z. 19: Czerny: Siehe Komm zu S. 49; Z. 34: Darmstörungen – Neurose bei Kindern; Bedeutung der Psychotherapie: vgl. auch Komm. zu S. 58, Z. 9. Z. 22: Hamburger, Franz (1874 Pitten/Niederösterr. – 1954 Vöcklabruck/Ober-
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Über den nervösen Charakter österr.): Pädiater, 1908–16 Vorstand der Kinderabt. Wiener Allg. Poliklinik, 1916 ao. Prof. und Vorstand der Univ.-Kinderklinik Graz, 1930–45 o. Prof. in Wien. Hauptarbeitsgebiete: Immunität, Tuberkulose bzw. eine ihm eigentümliche Vererbungstheorie, ab 1910 Psychopathologie des Kindesalters und kinderärztl. Pädagogik. Zunehmend extremer Gegner der Psychoanalyse, die er als sexuellen Materialismus ablehnte (vgl. 1935, 265f.). Kaum Stellungnahmen zur IP, außer 1939, 246: »Wie wir gesehen haben, lernt das Kind nur durch Erfahrung. Je nach den Erfahrungen, die es macht, verhält es sich so oder so. Selbstverständlich spielt dabei seine Anlage eine ganz wesentliche Rolle. Ein Kind ist mehr zur Entmutigung geneigt. Dieser Kindertyp war für Adler die Veranlassung zur Ausbildung der sogenannten Individualpsychologie. Es gibt aber Kinder, die nicht so sehr zur Entmutigung, sondern vielmehr zur Frechheit neigen.« H. stellte wie Adler den Bezug zur exsudativen Diathese Czernys und zur Vagotonie Eppingers her; bereits hier Wendung gegen sexuelle Genese kindlicher Neurosen: »Zartbesaitete, feinfühlige Kinder werden oft durch unangemessenes, rohes Behandeln vonseiten der Familienangehörigen oder Lehrer getroffen […] Da ist es oft schwer, die eigentliche Ursache zu finden, besonders wenn die Kinder einmal misstrauisch geworden sind. In solchen Fällen muss man versuchen, mit dem Kind gut Freund zu werden, was man weniger durch Worte als durch sein ganzes Verhalten, also nicht geistig, sondern seelisch, erreichen kann. Dann fragt man das Kind genau aus (Psychoanalyse ohne unnötiges Hineinziehen sexueller Momente). Eine solche möglichst genaue Auskundschaftung der kleinen Patienten halte ich für besonders wichtig, weil damit zugleich der Weg für unser therapeutisches Handeln gewiesen ist« (1911, 2204). Er insistierte ab 1928 mehrfach auf den »biologischen Grundlagen der Erziehung«, die er durch Czerny begründet sah, und plädierte für nachhaltige Strenge in der Erziehung, den »gesunden Klaps« und unbedingte »Selbstzucht« der Eltern. H. war 1933–45 der bedeutendste nationalsozialistische Pädiater. Im April 1945 nach Westösterr. geflüchtet und im Juni 1945 entlassen. Werke: Arteigenheit und Assimilation. Leipzig–Wien 1903; Assimilation und Vererbung: eine energetische Vererbungstheorie. Wien. klin. Wschr. 18, 1905, 1–3; Eine energetische Vererbungstheorie. Verh. Kongr. Inn. Med. 20, 1905, 81–86; Allgemeine Pathologie und Diagnostik der Kindertuberkulose. Leipzig–Wien 1910; Über den vasoneurotischen Symptomenkomplex bei Kindern. Münch. med. Wschr. 58, 1911, 2201–2205; Kinderheilkunde. Wien 1926 (3. Aufl. mit R. Priesel 1940); Noch immer Psychoanalyse bei Kindern. Med. Klin. 31, 1935, 25f.; Die Neurosen des Kindesalters. Stuttgart 1939; Über den Umgang mit Kindern. Salzburg-München-Wien, 2. Aufl. 1952; Ueber den Mechanismus psychogener Erkrankungen bei Kindern. Wien. klin. Wschr. 25, 1912, 1773–1777; Ueber psychologische Behandlung im Kindesalter. Wien. klin. Wschr. 26, 1913, 281–286; Ueber Psychotherapie im Kindesalter. Wien. med. Wschr. 64, 1914, 1313–1320; Das Seelische in der Kinderheilkunde. Münch. med. Wschr. 73, 1926, 1965–1968; Der Arzt und die Seele
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des Kindes. Münch. med. Wschr. 75, 1928, 2005–2008 (erneut heftige Kritik an Freud); Psychologie und Psychopathologie der Kindheit: ihre Bedeutung als Zweig der kinderärztlichen Forschung und Lehre und ihre Anwendung in sozialärztlicher Tätigkeit. Acta. paediatr. 11, 1930, 468–481; Die Bedeutung der Psychologie für die Kinderheilkunde. Münch. med. Wschr. 78, 1931, 98–102; Die Grundlagen der Erziehung des Kindes. Arch. Kinderhk. 101, 1934, 212–243. 53, Z. 23: Stransky, Erwin (1877–1962 Wien): Psychiater, 1915–38 tit. ao. Prof.; seit 1906 Gerichtspsychiater; 1946 tit. o. Prof., 1947–51 Hon. Prof. Wien. Um 1930 und nach 1945 führender Vertreter der Psychohygiene-Bewegung in Österreich; extremer Gegner der Psychoanalyse. Vertrat innerhalb der Internat. Ärztlichen Ges. für Psychotherapie, Landesgruppe Österreich, 1937 den Standpunkt, dass sich Juden der Psychotherapie von Nicht-Juden zu enthalten hätten. 1938 als Jude Entzug der Lehrbefugnis; 1945 maßgeblich an der »milden« Haltung der Ges. der Ärzte in Wien gegenüber NS-Kollegen beteiligt. Propagierte um 1950 die psychiatrische Überprüfung von angehenden Politikern, um diktatorische Entwicklungen präventiv zu verhindern. Werke: Lehrbuch der allgemeinen und speziellen Psychiatrie. Leipzig 1914; Über krankhafte Ideen. Eine kurzgefasste Abhandlung. Wiesbaden 1914; Krieg und Geistesstörung. Feststellungen und Erwägungen zu diesem Thema vom Standpunkte angewandter Psychiatrie. Wiesbaden 1918; Der Deutschenhaß. Eine Studie. Wien 1919; Großdeutschland und die Ärzteschaft. Wien 1919; Psychopathologie der Ausnahmezustände und Psychopathologie des Alltags. Leipzig 1921; Die innere Werkstatt des Psychiaters. Wien 1926; Subordination, Autorität, Psychotherapie. Wien 1928; Leitfaden der psychischen Hygiene. Wien 1931; Staatsführung und Psychopathie. Wien 1952; (mit E. Brezina) Psychische Hygiene. Wien 1954. 52, A.*: Reich, Julius: Kommerzialrat. – Österr. Rundschau. Bd. XV. Wien–Leipzig. Mai 1908, 388f. Diese Kulturzeitschrift wurde hg. von Alfred Freiherr v. Berger, Leopold Freiherr v. Chlumecky, Dr. Karl Glossy, Dr. Felix Freiherr v. Oppenheimer. Anlässlich einer Goya-Ausstellung in Wien stellte der Autor wohlwollend die Adler’sche Theorie der Organminderwertigkeit, bes. der Augenanomalien bei Künstlern dar. (Mitarbeit Schiferer) 54, Z. 11: Bickel, Adolf (1875 Wiesbaden – 1946): Patho-Physiologe, 1906–40 ao. Prof. und 1906–32 Vorstand der Abt. sowie Lehrauftrag für experimentell-pathologische Physiologie an der Charité in Berlin. War der erste Prof. für Pathologische Physiologie in Deutschland. Arbeiten zur nervösen Bewegungsregulation, Verdauungsphysiologie, Vitaminlehre, Strahlenbiologie, Balneologie und Klimatologie; nach 1933 bes. zur Ernährungsphysiologie im Rahmen des Vierjahresplans (Deckung der »Eiweißlücke«), zur »naturgemäßen Ernährung« (Vollkornbrot-Propaganda), zu Rasse und Ernährung bzw. Ernährung der Olympiakämpfer. Adler berief sich hier auf B., während die Pädiater das Thema bereits spezifisch für die funktionellen Nervenkrankheiten der Säuglinge und Kinder aufgegriffen hatten.
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Über den nervösen Charakter Werke: Untersuchungen über den Mechanismus der nervösen Bewegungsregulation. Stuttgart 1903; Ueber die klinische Bedeutung des bedingten Reflexes. Med. Klin. 4, 1908, 356–359; Ein Beitrag zur Lehre von den Reflexen. Dtsch. Zschr. Nervenhk. 21, 1901, 304–306. Lit.: Krasnogorski, Nikolai Ivanovich: Ueber die Bedingungsreflexe im Kindesalter. Jb. Kinderhk. 69, 1909, 1–24; Czerny, A.: Ueber die Bedingungsreflexe im Kindesalter. Straßburg. med. Ztg. 5/9, 1909; Ibrahim, Jussuf: Pathologische Bedingungsreflexe als Grundlage neurologischer Krankheitsbilder. Neurol. Zbl. 30/3, 1911; Moro, E.: Bedingte Reflexe bei Kindern und ihre klinische Bedeutung. Therap. Gegenw. 53, 1912, 151–156. Z. 7: Wiederkehr des Gleichen: Die grundsätzliche, metaphysische Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die Nietzsche als Bejahung des »Sinnlosen« i. S. der »extremsten Form des Nihilismus« verstand (1973, III, 853; vgl. 895f. 916f.), wird von Adler psycho-pathologisch auf den neurotischen Wiederholungszwang eingeschränkt. Darüber hinaus fällt nach dieser Distanzierung von N. dessen Erwähnung 1919 ganz fort, was ein weiteres Abrücken von N. bis hin zur späteren Kritik offenbart (WLW 1979, 56f.). Lit.: Adler, Alfred: Über den Ursprung des Strebens nach Überlegenheit und des Gemeinschaftsgefühls. IZfIP 11, 1933, 257f.; Rattner, Josef: Alfred Adler zu ehren. Zu seinem 50. Todesjahr. Jb. f. Tiefenpsychol. u. Kulturanal. 6–7, 1986/87, 22–38: Alfred Adler und Friedrich Nietzsche. Z. 8: Lombroso, Cesare (1836 Verona – 1909 Turin): Prof. für Psychiatrie in Turin. Er überträgt den Degenerationsbegriff auf Genie und Verbrechen und macht die Degenerationstheorie populär. Ein Welterfolg wurde bes. sein Buch »Genie und Irrsinn« (Genio e follia, 1864). L. verband dies auch mit einer Kompensationstheorie: »Immer hat ein Teil des Organismus aufzukommen für die hervorragenden Leistungen des anderen Teils.« (Genio e degenerazione, 1894, zit. Wyrsch, 995) Trotz deutlicher Anleihen bei der Degenerationstheorie hebt sich Adler kritisch gegen die »Degenerationslehre« und gegen L. ab: »Irrtümer Lombrosos« (SMO 1977, 95), »allzusehr ins Allgemeine« gehend, »Voreiligkeit«, »Unhaltbarkeit« (SMO 1977, 54) (s. Komm. zu S. 61; Z. 21: Morel). Lit.: Wyrsch, Jakob: Wege der Psychopathologie und Psychiatrie. In: Balmer (Hg.) 1976, 995f. A. 68: Ambivalenz (Bleuler): s. Komm. zu S. 39, A. 2. Z. 30: von dieser Welt: Anspielung auf Jesu Aussage vor Pilatus im Johannes-Evangelium 18,16: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« A. 79: Welt verteilet: So spricht Jahwe zu Hiob, nachdem dieser sein Leid geklagt, seine Unschuld beteuert und seine vier Freunde ihre Leiderklärungen vorgetragen haben: »Wo warst du, als ich die Erde gegründet?« (Hiob 38,4). A. 85: Nietzsche, Gewissensbisse: Die Kritik des »schlechten Gewissens« führt N. hauptsächlich in der »Genealogie der Moral« (1887) aus: Es entstamme dem
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Ressentiment und sei als »Instinkt der Grausamkeit« nach rückwärts gewandt, da dieser Instinkt sich aufgrund priesterlich-lebensverneinender Moral nicht mehr aggressiv nach außen wenden könne. Deshalb nennt N. ein solches Gewissen auch eine »Krankheit«, die er bes. im Zusammenhang mit einem zur »Selbstpeinigung« errichteten Gottes-»Ideal« sieht (1973, II, 19ff. 829ff.). In »Ecce homo« (Erstaufl. 1908) verarbeitet er philos. autobiografisches Material zu dieser Problematik: »Nach dem, was man darüber sagt, scheint mir ein Gewissensbiss nichts Achtbares […] Man verliert beim schlimmen Ausgang gar zu leicht den richtigen Blick für das, was man tat: ein Gewissensbiss scheint mir eine Art böser Blick« (1973, II, 1082). Adler gibt N. für den neurotisch »unanständigen« Gewissensgebrauch zwecks eigener Machtbestätigung recht, geht aber nicht auf die »Genealogie« des Gewissens ein und setzt sich durch seine polemische Anspielung auf N.s Person von diesem ab. Werke: Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »Schlechtes Gewissen« und Verwandtes. 1973, II, 799–837. Ecce homo, 1973, II, 1063–1159. 62, Z. 9: Nietzsche, Wille zur Macht: Alle Ursacheerklärungen sind für N. »Interpretationen mit Hilfe psychischer Fiktionen«, die vom Machtgefühl motiviert sind: »Das Leben, ein Einzelfall (Hypothese von da aus auf den Gesamtcharakter des Daseins –) strebt nach einem Maximalgefühl von Macht; ist essenziell ein Streben nach Mehr von Macht; Streben ist nichts anderes als Streben nach Macht; das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille. (Mechanik ist eine bloße Semiotik der Folgen).« (1973, III, 775f.) 62, Z. 23: Aristoteles (384 Stagira – 322 v. Chr. Chalkis auf Euböa), Antithesen: A. verfasste als logische Hauptschriften, die im Abendland über 2000 Jahre Grundlage der Logik waren, die »Analytika protera« und die »Analytika hystera«. In dieser »Zweiten Analytik« (I, 1–7), die als Ergänzung zur Lehre vom Schlussverfahren anzusehen ist, behandelt A. die wiss. Erkenntnis und ihre Prinzipien. Da eine wiss. Konklusion nur aus Prämissen folgt, die »wahre, erste, unmittelbare, bekanntere, frühere und ursächliche Erkenntnis« sind, führt eine solche Analytik als Zergliederung des formalen Denkens zunächst zur Betrachtung der einfachen Aussagesätze, zu deren Wesen es gehört, wahr oder falsch zu sein. Sie zerfallen dann weiterhin in bejahende und verneinende, allg., partikuläre und einzelne Sätze usw. Werke: Lehre vom Beweis oder Zweite Analytik (Hg. Eugen Rolfes/Otfried Höffe). Hamburg: Meiner, 11. Aufl. 1990. Lit.: Vaihinger 1911, 12ff. 25ff. 44. 53. 240ff. 62, Z. 23: Pythagoräische Gegensatztafeln: Innerhalb der von Pythagoras (580 Samos – 500 v. Chr. Metapont) gegründeten philos. Lebensgemeinschaft der Pythagoräer entstand aus der Zahl- und Musiksymbolik ein Gedankensystem, das den Gegensatz als welterschaffendes Prinzip ansetzte. Die Zahl 10 vereinte, als Summe der Zahlen 1 bis 4, die Gegensätze aus folgender »Dekadentafel«: Begrenzt und Unbegrenzt, Ungerade und Gerade, Eins und Vieles, Rechts und Links, Männlich und
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Weiblich, Ruhend und Bewegt, Quadratisch und Rechteckig. Diese Gegensatzlehre – als Grundlage der Harmonie im Gesamtuniversum – findet sich auch in der pythagoräischen Ethik, Seelenlehre und Heilkunde. So war das Wesen der Gesundheit die »Gleichberechtigung« der Gegensätze wie Trocken und Feucht, Warm und Kalt. Wie im Staat war die »Alleinherrschaft« nur einer Qualität krankheitsbedingend. Die wahre Symmetrie bestand so in einer heiligen Ordnung, die in der Musik als »Reinigung der Seele« (Katharsis) erlebt werden konnte. Adlers Kenntnis fußt wahrscheinlich auf dem später von ihm zitierten Artikel von K. Joel: Geschichte der Zahlprinzipien in der griech. Philosophie (s. Komm. zu S. 293, A.*). Lit.: Diels, Hermann/Kranz, Walther (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch. 2 Bde. Berlin, 5. Aufl. 1934; Capelle, Wilhelm (Hg.): Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte. Stuttgart: Kröner 1963, 471–501. 63, Z. 2: Lombroso: Siehe Komm. zu S. 68, Z. 3. 63, Z. 3: Bleuler – Ambivalenz: Siehe Komm. zu S. 39, A. 2. 66, Z. 20: Vaihinger, Hans (1852 Nehren bei Tübingen – 1933 Halle): Prof. für Philosophie in Straßburg und Halle, bekannter Kommentator der Schriften Kants; gründete 1904 die bis heute bestehende Kant-Gesellschaft, der Adler 1912 nach dem Bruch mit Freud geschlossen mit dem »Verein für Psychoanalytische Forschung« beitrat (Kretschmer 1982, 179). V. verfolgt in seinem Hauptwerk »Die Philosophie des Als Ob« (1911) sowohl eine Erkenntnistheorie wie eine befriedigende Weltanschauung auf theoretisch-praktischer Grundlage eines »idealistischen Positivismus«. Positivistisch-pragmatisch argumentiert V., insofern er gemäß Nietzsche das Denken als Instrument der Selbsterhaltung deutet und den Lebensvorgängen unterordnet. Idealistisch ist das Werk durch Anschluss an Kant dadurch, dass die theoretische Vernunft die Seinsrealität nicht »an sich« erkennen kann, sondern diese den Verstandeskategorien und Vernunftregeln unterwirft, die die eigentliche »Objektivität« bilden. V. erweitert diese subjektiven Regeln der Logik und Methodologie durch die Idee der »Fiktion«. Sie beinhaltet bewusst gewählte, von der »Realität« abweichende Begriffe, Annahmen und Methoden, die sogar in sich widersprüchlich sein können, mit denen wir jedoch im praktischen, wiss., ästhetischen, juristischen, ökonomischen und religiösen Handeln für uns »Sinnvolles« erreichen. Die häufigste sprachliche Form dieser positivistischen Zweckmäßigkeit ist der Als-ob-Satz. Nach einer prinzipiellen Grundlegung im 1. Teil behandelt V. im 2. Teil die einzelnen Fiktionstypen und unternimmt im 3. Teil den Versuch einer historischen Bestätigung durch Rückgriff auf Kant, Forberg, F. A. Lange und Nietzsche. Lit.: Ansbacher 1982, 90–111; Horster 1984, 21–24; Kretschmer, Wolfgang: Über die Anfänge der IP als »freie Psychoanalyse«. ZfIP 7, 1982, 175–179; Kühn, Rolf: Vorstellung und Leben. Alfred Adlers Beitrag zum neuzeitlichen Theorie- und Praxisproblem. Beitr. IP 11, 1989, 45–64 (Lit.); Rattner, Josef: Alfred Adler zu Ehren. Zu seinem 50. Todesjahr. Jb. f. verst. Tiefenpsychol. u. Kulturanal. 6–7, 1986/87,
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39–50: Hans Vaihinger und Alfred Adler. Zur Erkenntnistheorie des normalen und neurotischen Denkens, Zf IP 4, 1966. 66, Z. 26: Nietzsche, Wille zum Schein: Der Akzent des »Ausartens« im neurotischen »Willen zum Schein« gemäß Adler deckt sich hier u. a. mit N.s Aussage, dass »der Schein von Anbeginn zuletzt fast immer zum Wesen wird und als Wesen wirkt« (1973, II, 78). Sowie: »Es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Wert zugeschrieben werden müsste [als dem Wahren].« (1973, II, 568) Vgl. auch Komm. zu S. 41, Z. 16. 67, Z. 12: Meyerhof, Otto Fritz (1884 Hannover – 1951 Philadelphia): Physiologe und Biochemiker. Studium in Berlin, Freiburg/Br., Straßburg und Heidelberg; in Berlin Bekanntschaft mit Leonard Nelson sowie Mitglied und Vorstand der »Kommission für Arbeiter-Unterrichtskurse« der Freien Studentenschaft. 1913 Privdoz. für Physiologie in Kiel; 1922 als o. Prof. für physiologische Chemie in Kiel aus antisemitischen Gründen abgelehnt, 1922 Nobelpreis für Medizin. 1929–37 Leiter des Instituts für Physiologie in Heidelberg, 1938 Flucht in die Schweiz, dann Frankreich, 1940 in die USA und 1940 Gastprof. Univ. of Pennsylvania, Philadelphia. Unklar bleibt, woher Adler die frühen Schriften von M. und die »Neue Friessche Schule« kannte. Zur Kerngruppe der Neuen Friesschen Schule in Heidelberg gehörte Arthur Kronfeld (neben M., Jaspers usw.), der in den 20er Jahren zur IP stieß. Werke: Erkenntniskritik und Vernunftkritik. Das Kant-Friessche Problem. 1910; Beiträge zur psychologischen Theorie der Geistesstörungen. Die Psychologie des Wahns. Abhandlungen der Friesschen Schule (Hg. Gerhard Hessenberg, Karl Kaiser u. Leonard Nelson). NF 3, 1910, 99–332 (Diss.).
Zum 2. Kapitel: Die psychische Kompensation und ihre Vorbereitung 70, Z. 10: Δς (μοι) ποῦ στῶ: »Gib (mir) einen festen Punkt (und ich werde die Erde bewegen)«, soll Archimedes (ca. 285–212 v. Chr.) gesagt haben. 71, Z. 6: Vgl. Vaihinger 1911, hier bes. 25ff. über die »künstliche Klassifikation« in den »wissenschaftlichen Fiktionen«. Hinweis auf »Meridian von Ferro« ebd. 35. Vgl. Komm. zu S. 66, Z. 20. 72, Z. 4: Goethe an Lavater: Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832): Gedenkausgabe der Werke: Briefe und Gespräche. 24 Bde. (Hg. E. Beutler). Zürich: Artemis 1948 bis 1971. 72, Z. 26: Experimentum in corpore vili: an einem wertlosen Körper, z. B. an einer Leiche, durchgeführtes Experiment. 76, Z. 9: double vie: Begriff der franz. Psychiatrie des 19. Jahrhunderts für »Bewusstseinsspaltung«; s. Komm. zu S. 39, A. 2.
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77, Z. 2: Mythus, Legende usw.: Vgl. Vaihinger 1911, 224ff., über »Ideenverschiebung« mit Rückgriff u. a. auf anfänglich griech. Denken. 77, Z. 15: Groos, Karl (1861 Heidelberg – 1946 Tübingen): Prof. für Philosophie und Psychologie in Gießen, Basel, Tübingen. Für G. ist Spielen ein Instinktverhalten, das der Einübung wichtiger Leistungen und der Ausbildung von Funktionen dient. Werke: Die Spiele der Tiere. Jena 1896; Die Spiele der Menschen. Berlin 1899. 78, Z. 14: Herrenmoral: In seiner »Theorie der Herren-Moral« grenzt Nietzsche (1973, II, 730) diese von der »Sklaven-Moral« ab und sieht beide nicht nur in allen Kulturen vermischt, sondern auch »innerhalb einer Seele«: »Wenn die Herrschenden es sind, die den Begriff ›gut‹ bestimmen, sind es die erhobenen stolzen Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende empfunden werden« (Jenseits von Gut und Böse IX, 260).
Zum 3. Kapitel: Die verstärkte Fiktion als leitende Idee in der Neurose 80, Z. 27: Vgl. Adler, Alfred: Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes. Monatsh. Pädag. Schulpol. 1, 1908, 7–9. Nachdr. HuB 1914. 80, Z. 28: Bildsamkeit: Nach Johann Friedrich Herbart (1776 Oldenburg – 1841 Göttingen) ist B. als Lernbereitschaft, Lernfähigkeit, Ansprechbarkeit der Grundbegriff der Pädagogik, weil ohne sie alle erzieherischen Einwirkungen ohne Erfolg bleiben müssten. 80, Z. 28: Paulsen, Friedrich (1846 Langenhorn/Husum – 1908 Berlin): Prof. für Philosophie in Berlin. Neben philos. Werken einflussreiche anthropologisch und soziologisch begründete Pädagogik; Anreger der Univers. Pädagogik, Forderung einer »realistischen Bildung« und Schulreform; gegen Herbartianismus eingestellt. Werke: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Leipzig: Veit 1885. 80, A.*: Trotz und Gehorsam. Monatsh. Pädag. Schulpol. 2, 1910, 321–328. Nachdr. HuB 1914. 81, Z. 26: Projektionen: Vgl. Vaihinger 1911, 613–733, die Zusammenstellung über Fiktionalität aus allen Kant-Werken. 82, Z. 18: Charcot, Jean-Marie (1825–1893 Paris): Prof. für Psychiatrie, Vorstand der Schule von Salpêtrière, der einflussreichste Neurologe und Psychiater seiner Zeit. Beschäftigte sich bes. mit Hysterie, hysterischen Lähmungen, epileptischen Krämpfen und Hypnotismus. Vgl. auch Komm. zu S. 39, Z. 21. Lit.: Ellenberger 1973, 143ff. 82, Z. 22: Kant, Immanuel (1724–1804 Königsberg), Anschauungsformen unseres
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Verstandes: Raum und Zeit sind für K. reine Anschauungsbegriffe, die empirische Erfahrung erst ermöglichen und zusammen mit den reinen Verstandeskategorien regelhafte Synthesen der sinnlichen Erscheinung erstellen. Werke: Kritik der reinen Vernunft (1781). Werke III. Berlin: De Gruyter 1968, 56ff.: Transzendentale Ästhetik (Teil I, 1). Lit.: Titze, Michael: Apperzeptionsschema. In: Brunner/ Titze (Hg.) 1995, 39– 43. 82, Z. 27: James, William (1842 New York City – 1910 Chocorua, NH): 1885 Prof. für Philosophie, 1889 Prof. für Psychologie in Harvard. J. ist einer der »Gründerväter« der akademischen Psychologie und zugleich ihr Kritiker vom Standpunkt des common sense des Subjekts aus (philos. »Pragmatismus«). J.s’ gesamtes Werk kann als Kampf um Befreiung des Subjekts aus den Fesseln des Determinismus des Denkens betrachtet werden, als Verteidigung des Rechts des Subjekts auf ein Denken in eigener Verantwortung. Sein zentrales Konzept des stream of consciousness als dem begrifflichen Denken vorangehender »Atem des Denkens« war von großem Einfluss auf die Zeitgenossen über die Grenzen der Psychologie hinaus. Er vertrat bereits die Vorstellung von der »Einheit des Selbst« als eine durch das Subjekt hergestellte Idee. Sie mag von Einfluss auf Adler gewesen sein. Das fiat of will (1880, 196): »mental ›click‹ of resolve«; (1890, II, 526): »the act of mental consent« – spielt in J.s’ Theorie des Handelns eine zentrale Rolle als formale Versöhnung zwischen der Teleologie des – ganzheitlich vorgestellten – Selbst und dem Mechanismus der willentlichen Handlung. Nur durch das fiat of will sei die Entscheidung zwischen alternativen Weisen des Handelns im Zustand der Krise des Willens, die als schmerzliches Zögern und emotionale Unruhe erlebt wird, zu erklären. Werke: The feeling of effort (1880). In: Perry, R. B. (Hg.): Collected Essays and Reviews. New York: Russel and Russel 1969; Principles of Psychology. 1890; Will to Believe, and other Essays in Popular Philosophy. 1897; Varieties of Religious Experience. 1902; Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking. 1907; A Pluralistic Universe and The Meaning of Truth. 1909; Some Problems of Philosophy. 1911 (posthum); Essays in Radical Empiricism. 1912 (posthum); Was ist Pragmatismus? Weinheim: Beltz-Athenäum 1994. Lit.: Bruder, Klaus-Jürgen: Psychologie ohne Bewusstsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie. Frankfurt/M: Suhrkamp 1992; Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie. Frankfurt/M: Suhrkamp 1993. (Mitarbeit Bruder) 82, A.*: Groos: s. Komm. zu S. 77, Z. 15. 82, A.*: Bergson, Henri (1859–1941 Paris), fundamentale Lehren: Seine spirituell ausgerichtete Lebensphilosophie des élan vital richtete sich gegen eine mechanischintellektualistische Handhabung der Begriffe. Die Realität lässt sich für ihn nicht restlos in Begriffe einfangen, weshalb die »Intuition« zu Hilfe genommen wird.
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Über den nervösen Charakter Subjekt und Objekt fallen in der praktisch-intuitiven Lebenserfahrung als fließender Dauer (durée) in eins. Werke: Œuvres. Paris: P.U.F. 1959 (éd. du Centenaire). Dt. Übers. Materie und Gedächtnis (1896). Jena: Diederichs 1919; Die seelische Energie (1888). Jena: Diederichs 1928. Lit.: Ingarden, Roman: Intuition und Intellekt bei H. Bergson. Darstellung und Versuch einer Kritik. Berlin 1921; Schrecker, Paul: Henri Bergsons Philosophie der Persönlichkeit (Schriften des Vereins für Individualpsychologie. Heft 3). München: Reinhardt 1912. A. 14: Stern: Siehe Komm. zu S. 40, A. 4. »Individualität« ist bei S. eines der Merkmale der »Person«: Jede Person ist »einmalig in ihrer Art«; es bleibt »ein letztes Ureigenstes, wodurch jede Person jeder anderen als eine Welt für sich gegenübersteht« (Person und Sache. Bd. 2. 1918, 7). A. 14: Lewandowsky, Max (1876–1918): Neurologe, Doz. für Physiologie. 1909 tit. Prof., 1910 mit Alzheimer Gründer der »Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie«, 1910–14 Hg. des »Handbuchs der Neurologie«. Zur Kriegsneurose schreibt L. u. a.: »Die Erkrankten bekommen eine Neurose, um sich in Sicherheit zu bringen.« Seine Argumentation für eine »rein seelische Bedingtheit« der Kriegsneurosen untermauerte er mit den Begriffen »Flucht in die Krankheit (Freud)« bzw. »Wunsch zur Krankheit (Bonhoeffer)« (1917, 989). Ähnlich 1919. Adler zitiert ihn ausführlich in seiner Arbeit über Kriegsneurose von 1918/20 unter Hinweis auf den Artikel von 1917 (allerdings mit der falschen Jahreszahl 1913). L.s Position sei ähnlich, u. a. in der Analyse der Kriegsneurose als Wunsch zur Sicherheit. Werke: Was kann in der Behandlung und Beurteilung der Kriegsneurosen erreicht werden? Münch. med. Wschr. 64, 1917, 989–991, 1028–1031 (Feldärztl. Beilage); Praktische Neurologie für Ärzte. Berlin, 3. Aufl. 1919, 340; Die Kriegsschäden des Nervensystems und ihre Folgeerscheinungen. Berlin 1919. Lit.: Adler, Alfred: Die neuen Gesichtspunkte in der Frage der Kriegsneurose. Med. Klin. 14, 1918, 66–70 (nach einem Vortrag in der militärärztl. Sitzung in Krakau, Nov. 1916). In: PuT 1974, 291–304; Fischer-Homberger, Esther: Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden. Bern–Stuttgart–Wien 1975, 95, 137f., 141f. Z. 1: Psychischer Infantilismus: Überdauern oder Wiederauftreten von Wesenszügen der kindlichen Psyche, wozu eine lange Liste von Eigenschaften gerechnet wird, wie abnorme Beeinflussbarkeit, Trotz, Unstetigkeit, Labilität, Unmittelbarkeit, Distanzlosigkeit, Fehlen von reifen Zielsetzungen etc. Er erscheint bei vielen neurotischen oder psychotischen Entwicklungen. Der Begriff I. ab 1864 bei Lasègue, zunächst auf Erwachsene bezogen, 1908 von Anton auf Entwicklungsverzögerungen im Kindesalter, sodann in psychiatrischen Forschungen immer wieder untersucht. Lit.: Blankenburg, Wolfgang: Art. »Infantilismus«. In: Müller (Hg.) 1986. A. 20: Dissoziation: D. oder Lockerung der Assoziationsspannung gilt in Bleulers
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Theorie der Schizophrenie als primäres=physiogenes Symptom (Grundsymptom) der Schizophrenie (s. Komm. zu S. 39, A. 2). Viele der sekundären=psychogenen Symptome leiteten sich daraus ab, wie z. B. Spaltungen zwischen verschiedenen psychischen Funktionen. Lit.: Ellenberger 1973, 397f. Z. 20: Nietzsche 1973, II, 625: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.« (Jenseits von Gut und Böse IV, 68) A. 39: Kraepelin: Siehe Komm. S. 45, A. 42. A.*: Vgl. Adler, Alfred: Das Problem der Homosexualität. München: Reinhardt 1917. Schriften des Vereins für Individualpsychologie. Heft 7. Nachdr. 1930, 1977. A. 55: Herodot (ca. 484 Halikarnass – 425 v. Chr.): Griech. Geschichtsschreiber zur Zeit des Sophokles. Werke: Historien. 2 Bde. München: Heimeran 1963 (Tusculum-Bücherei), hier S. 837. A. 55: Doppelsinn von »subigere«: Hinauftreiben, -führen / nötigen, zwingen, unterjochen, bearbeiten. Z. 30: Ziehen, Theodor (1862 Frankfurt – 1950 Wiesbaden): Prof. für Psychiatrie und Neurologie in Jena, Utrecht, Halle, Berlin, seit 1917 Prof. für Philosophie und Psychologie in Halle. Lehrte u. a. eine Vorstellungs- und Assoziations-Psychologie, führt den »Komplex«-Begriff i. S. eines emotionell geladenen Vorstellungskomplexes ein, auf den sich C. G. Jungs Komplex-Begriff in seinen Assoziationsexperimenten stützt. Lit.: Ellenberger 1973, 928. 931. 979; Hehlmann 1965. Z. 2: Pawlow, Iwan P. (1849 Rjasan – 1936 Leningrad): Prof. für Physiologie. Tierexperimente mit bedingten Reflexen um 1903–04, die durch verschiedene Reizverbindungen hervorgerufen werden. Der Organismus ist dadurch zum Lernen ganz neuer Reaktionen fähig. P.s Experimente waren entscheidender Ausgangspunkt der Lernpsychologie. Werke: Sämtliche Werke. Berlin: Zeller 1953. Z. 5: Schiller, Friedrich (1759 Marbach – 1805 Weimar): Durch sein Kant-Studium entwickelte er dessen ästhetische Lehren weiter, z. B. in: Über Anmut und Würde (1793), Über das Pathetische (1793), Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), Über das Erhabene (1801). Darin betont er jeweils eine notwendige Erziehung der menschlichen Sinne wie der menschlichen Vernunft. Die ästhetische Haltung erleichtert den Übergang in den logischen und moralischen Zustand (Philosophie), weil im vollendeten Kunstwerk die Form bereits die Materie (Hunger und Liebe) aufhebt. Werke: Nationalausgabe. 43 Bde. Weimar 1943ff.; Ästhetische Schriften: Sämtliche Werke (Hg. G. Friecke/H. G. Göpfert). München, 7. Aufl. 1958. Lit.: Wilcoix, K. P.: Anmut und Würde. Die Dialektik der menschlichen Vollendung
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Über den nervösen Charakter bei Schiller. München 1981; Bolten, J. (Hg.): Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. Bonn 1984. Z. 16: Darwin, Charles Robert (1809 Shrewsbury – 1882 Down): engl. Naturforscher. In seiner epochemachenden Evolutionstheorie überlebt der Bestangepasste im Kampf ums Dasein (Selektionsprinzip). Diesen Kampf ums Dasein kann man als Ausdruck eines Selbsterhaltungstriebs verstehen, was Adler hier erwägt. Adler nimmt sehr häufig Bezug auf Darwin, bes. in SMO 1907. Werke: The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. London 1871 (dt. Übers. Hg. C. Vogel, 4. Aufl. 1982); On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Race in the Struggle for Life. London 1859 (dt. Übers. Hg. G. Heberer. Stuttgart: Reclam 1963). Lit.: Altner, G. (Hg): Der Darwinismus, die Geschichte einer Theorie. 1981. Z. 20: Fries, Jakob Friedrich (1773–1843): 1805–16 o. Prof. für Philosophie in Heidelberg, 1816 in Jena, 1819–24 nach dem Wartburgfest und der Ermordung Kotzebues suspendiert, 1824–37 nur Lehrbefugnis für Mathematik und Physik, 1837–43 wieder für Philosophie. Werke: Neue und anthropologische Kritik der Vernunft. 3 Bde. Heidelberg 1807 (Nachdr. 1967); System der Logik. Ein Handbuch für Lehrer und zum Selbstgebrauch. Heidelberg 1811; Wissen, Glauben und Ahndung. Jena 1805. Lit.: Bloching, K.-H.: J. F. Fries’ Philosophie als Theorie der Subjektivität. Diss. 1971. Z. 20: Meyerhof: Siehe Komm. zu S. 67, Z. 12. Z. 16: Daltonisten, Farbverständnis: Dalton, John (1766–1844), engl. Physiker und Chemiker. Daltonismus, eine Störung des Rot-Grün-Farbensinns, wurde von D. 1798 zuerst an sich selbst beobachtet. Z. 18: Wille zur Macht: Siehe Komm. zu Nietzsche, S. 41, Z. 16; (Wille zum Schein). A.*: Silberer, Hans (1882–1923 Wien): Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1910–22, befreundet mit Stekel nach dessen Trennung von Freud; Versuch einer theoretischen Versöhnung zwischen Freud, Adler und Stekel. Veröffentlichungen zur Traumtheorie, Symbolbildung, Mystik, Alchemie. Lit.: Mühlleitner 1992. Z. 4: Bleuler, Affektivität: A. ist bei Bleuler »die Gesamtheit der Stimmungen, Gefühle, Affekte und der allg. Erregbarkeit eines Menschen« (Lehrbuch der Psychiatrie [1916] 1972). Vgl. auch Komm. zu S. 39, A. 2. Lit.: Vliegen, J. In: Müller [Vorname] (Hg.) 1986. Z. 7: »Fehlt leider! nur das geistige Band.«: Ausspruch des Mephistopheles in Goethes »Faust«, Vers 1939 (»Schülerszene«). Z. 12: Denkökonomie; Prinzip des geringsten Kraftmaßes: Siehe Komm. zu R. Avenarius und Ernst Mach S. 48 A. 13. Vaihinger (7.–8. Aufl. 1922, S. XIV), fasst beide unter die »biologische Erkenntnistheorie«: »Die Denkprozesse sind nicht nur allgemein den Gesetzen der Lebensvorgänge unterstellt, sondern in konkreter
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›Ökonomie‹ wird das Empfindungsmaterial als dem Leben dienlich verarbeitet«. Ebd. wird das Problem des »Prinzips der Einheit der Seele« mit Hinweis auf »das kleinste Kraftmaß nach Avenarius« als Frage aufgeworfen. Lit.: Mach, Ernst: Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886). Jena: Fischer, 9. Aufl. 1922 (Nachdr. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1991). 95, Z. 26: Vgl. Vaihinger 1911, 155ff. zu Fiktion und Widerspruch im Kap. XXII über die Analyse des »Als ob« im Sinne einer »Theorie des Vergleichens«. Über Abstraktion ebd. 28ff. 97, Z. 10: Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, 380 (1973, I, 647). 97, A.*: Adler AT 1908. Nachdr. HuB 1974. 99, Z. 21: Freytag, Gustav (1816 Kreuzburg/Schlesien – 1895 Wiesbaden): Erzähler im bürgerlichen Realismus. Vgl. Komm. zu S. 275, Z. 21. Werke: Erinnerungen aus meinem Leben (1887). GW Bd. 1. Leipzig: Hirzel 1896. 99, A. 121: Freschl, Robert: Gehört zu den ersten Mitgliedern des Individualpsychologischen Vereins, galt als Nietzscheaner, der Adlers Gemeinschaftsbegriff nach dem Krieg nicht mehr akzeptieren konnte. 1925 wird er in der Mitgliederliste des Wiener Vereins für IP allerdings noch aufgeführt. Werke: Vorbemerkungen zu einer Individualpsychologie der Persönlichkeit Friedrich Nietzsches. IZfIP 1, 1914/16, 110–115; Friedrich Nietzsche und die Individualpsychologie. IZfIP 11, 1936, 50–61. 100, A.*: Vgl. Adler, Alfred: Über neurotische Disposition: zugleich ein Beitrag zur Ätiologie und zur Frage der Neurosenwahl. Jb. Psychoanal. psychopath. Forsch. 1, 1909, 526–545. Nachdr. HuB 1914; Die Theorie der Organminderwertigkeit und ihre Bedeutung für Philosophie und Psychologie. Univ. Wien, Phil. Gesellschaft, Wiss. Beil. 21, 1908, 11–26. Nachdr. HuB 1914. 102, Z. 17: déjà vu: Als Gedächtnisstörung oder Erscheinung von Depersonalisation; eigenartige Erlebnisse der Vertrautheit, in welchen das aktuelle Erleben als bereits bekannt, schon einmal erlebt erscheint, bis zur Überzeugung, dass das nun Kommende schon bekannt sei. Taucht als Phänomen in der schönen Literatur und Psychologie im 19. Jahrhundert auf. In psychiatrischer Literatur erstmals 1868 (Jensen) als Doppelwahrnehmungen des Gehirns, 1888 als Aura bei einem Epileptiker (Jackson); erscheint aber auch häufig bei Gesunden. Lit.: Heimann, H. In: Müller (Hg.) 1986. 103, A. 44: Depersonalisation: P. Janet (s. Komm. zu S. 45, Z. 27) hat für die Psychasthenien die Gefühle der Selbstentfremdung und des Mangels (incomplétude) beschrieben, die mit einer Verringerung der psychischen Spannung und der vereinheitlichenden Bewusstseinskraft einhergehen. Solche Unvollständigkeitsgefühle beziehen sich derart auf die »eigene Persönlichkeit« der Patienten, dass diese dieselbe »nicht mehr erkennen konnten und deren Verfall beklagten« (1911, 574). Das Gefühl dieses »Persönlichkeitsverlustes« (Depersonalisation) umfasst Gedan-
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ken, Handlungen, Empfindungen wie Gefühle; hervorstechende Momente sind Selbstunzufriedenheit, Pessimismus, Interessenverlust, Flucht vor Anstrengung, vor Initiativen in sozialen Bezügen, was allg. im Gefühl eines unnützen Daseins mündet (1903, 264ff.). Der Begriff wird auch zur Beschreibung psychotischer, melancholischer, manischer, hypochondrischer Zustände etc. verwandt, und zwar unter Einschluss des Körpergefühls oder Körperschemas. Lit.: Janet, Pierre: L’état mental des hystériques. Paris, 2. Aufl. 1911 (s. dt. Übers. Komm. zu S. 46, Z. 12); Les obsessions et psychasthénies. 2 Bde. Paris: Alcan 1903 (Nachdr. New York: Arno Press 1976); Meyer, J.-E. (Hg.): Depersonalisation. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1968; Bliss, E.: Multiple Personality, Allied Disorders and Hypnosis. New York: Oxford University Press 1986. 103, A.*: Hebbel, Christian Friedrich (1813 Wesselburen/Dithmarschen – 1863 Wien): Dramatiker, Lyriker. Werke: Historisch-kritische Ausgabe der Werke, Briefe, Tagebücher (Hg. R. M. Werner). 1901ff. 104, A. 153: Vgl. Adler, Alfred: Zur Theorie der Halluzinationen. PuT 1920/1974. 104, Z. 27: Jodl, Friedrich (1848 München – 1914 Wien): Prof. für Philosophie in Prag und Wien. Vertreter des philos. Positivismus im Anschluss an Auguste Comte, wobei Philosophie als Wissenschaftssynthese gesehen wird und Ethik vom Einfluss der Religion befreit werden soll, um eine neue »Menschheitsreligion« ins Leben zu rufen. Werke: Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie. 2 Bde., Stuttgart–Berlin 1882–1889 (Nachdr. 1965). 105, A. 159: Tolstoi, Graf Lew Nikolajewitsch (1828 Petersburg – 1919 Krasnyi-Rog): Russischer Dichter; entwickelte eine moralisch betonte Theologie und Lebensphilosophie: Streben nach Wahrheit und sozialer Gerechtigkeit, anarchistischer Agrar- u. Kulturkommunismus, selbstentäußernde Nächstenliebe. Werke: Das epische Gesamtwerk und Tagebücher. 8 Bde. München: Winkler 1978. 105, Z. 31: Exner(-Ewarten), Sigmund von (1846–1926 Wien): Physiologe, o. Prof., Nachfolger von Brücke 1891–1917, früher Lehrer Freuds im Brücke-Institut. Neben positivistisch-naturwiss. Forschung spekulative, naturphilos. Konstruktionen zum Gehirn. In seinem »Entwurf« zu einer naturwiss. Psychologie versuchte er sich Problemen von Wahrnehmung, Urteil, Gedächtnis usw. mit physikalistischen Konstrukten zu nähern (interzerebrale Erregung, Bahnung von Energie). Werke: Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen. Wien: Deuticke 1894. Lit.: Ellenberger 1973, 586. 658. 743; Sulloway 1982, 173. 107, Z. 17: Sokrates (470–399 v. Chr. Athen), Dämon: Platon und Xenophon nennen daimonion die innere Stimme, die S. auf göttliche Eingebung zurückgeführt haben soll. Es ist das göttliche Zeichen, welches nach Platon S. davon abhält, Ungerechtes zu tun, ihm aber niemals positiv zu etwas rät. Die Gestalt eines bestimmten
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»Dämons« oder Gottes hat dieses Daimonion nicht. Vaihinger (1911, 41) rückt es in die Nähe einer »bloßen Fiktion«. Lit.: Platon: Apologie 31 c4–32 a3; 40 a4-c3; Xenophon: Memorabilien I, 4, 14– 15; IV, 3, 12; 8,5–6.; Gigon, Olaf: Sokrates. Bern: Francke 1947, 24ff. u. ö. 108, Z. 23: Neurotische Disposition: Siehe Komm. zu S. 100, A.*. 108, Z. 30: Γνῶϑι σουτόν: »Erkenne dich selbst« war in der Vorhalle des Apollontempels in Delphi geschrieben. Das Wort soll von einem der im 6. Jahrhundert v. Chr. lebenden »sieben Weisen« stammen (Chilon oder Solon). Sokrates (s. Komm. zu S. 126, Z. 5), der mit dem »erhabenen Philosophen« hier gemeint ist, soll diesen Spruch auf sich selbst für sein Denken wie Tun bezogen haben. In beiden Fällen handelt es sich allerdings um die Maxime einer pragmatischen Ethik, nicht der Hybris des Wissenwollens zu verfallen und so als Mensch die göttliche Ordnung zu verkennen. Bei Platon handelt es sich ebenfalls nicht um eine Regel der Introspektion, sondern um eine Weisheitsregel sokratischer Pädagogik gegen den sophistischen Anspruch, durch Wissen (politische) Macht auszuüben. Diese »Selbsterkenntnis« ist folglich kein Prinzip der Individualität, sondern will die Rückbindung an die Grundprinzipien – bei Platon an die Idee des Guten. Auch Hegel geht es später bei diesem Satz zunächst nicht um die Erkenntnis einzelner Züge des Individuums, sondern um die Erkenntnis der menschlichen Situation als solcher (Phänomenologie des Geistes, Einl.; Enzyklopädie § 377). Erst nach Auflösung seines ontologisch-logischen Systems wurde dieser Satz immer mehr subjektiv-psychologisch verstanden, wie oben bei Adler. Lit.: Platon: Charmides 165 b; Alkibiades 132 b; Apologie 21 a, 28 c; Xenophon: Memorabilien IV, 2.; Nilsson, Martin P.: Geschichte der griechischen Religion. 2 Bde. München 1951. Kap. I, 5 Erkenne dich selbst. 109, Z. 9: Vaihinger 1911, 160. 111, Z. 23: Dessoir, Max (1867 Berlin – 1947 Königstein/Taunus): o. Prof. für Philosophie, beschäftigte sich u. a. mit der dualen Persönlichkeit (Doppel-Ich mit Ober- und Unterbewusstsein), Hypnose und Psychologie der Sexualität. Zweiphasige Theorie der Sexualentwicklung: In der Phase der »Undifferenziertheit« könne der Sexualtrieb in hetero- oder homosexueller Weise zum Ausdruck kommen, in der Phase der »Differenzierung« sei Heterosexualität normalerweise das ausschließliche Triebziel. In anderen Fällen verblieben die Individuen in einem »embryonischen« Stadium, was zu homosexuellen, bisexuellen oder anderen perversen Neigungen führe. Werke: Bibliografie des modernen Hypnotismus. Berlin: Duncker 1888; Das Doppel-Ich. Leipzig: Günther 1890; Zur Psychologie der Vita Sexualis. Allg. Zeitschrift für Psychiatrie 50, 1894, 941–975. Lit.: Ellenberger 1973, 421; Sulloway 1982, 415. 111, Z. 28: Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung (1777) I, 4. Werke: 14 Bde. Hamburg: Wegener 1949–1960 (Neuaufl. München: Beck 1981).
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Lit.: Zimmermann, M. C.: Das Weltbild des jungen Goethe. München: Fink 1979. 111, A.*: Vgl. Adler, Alfred: Fortschr. Med. 28, 1910, 486–493. Nachdr. HuB 1974; Psychischer Hermaphroditismus und männlicher Protest – ein Kernproblem der nervösen Erkrankungen. PuT 1920/1974. 112, Z. 24: Atharva Veda: Gehört als Sammlung von Zaubersprüchen und magischen Formeln aus verschiedenen Zeiten zu den vier Veden, welche die Grundlage zur weiteren Entwicklung der vedischen Literatur bilden. Außer Prosatexten sind darin 731 Hymnen enthalten, die neben der »weißen Magie« auch die »schwarze Magie« kennen: Abwehr von bösen Geistern und Krankheiten, Herbeibringen von Liebesglück, Tod für eine gehasste Rivalin u. a. In einigen Liedern kommen auch philos.religiöse Spekulationen zum Ausdruck. Lit.: Hillebrandt, A.: Ritual-Literatur. Vedische Opfer und Zauber. Straßburg 1897; Glasenapp, H. von: Die Literaturen Indiens von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Potsdam 1929. 112, Z. 32: Fliess, Wilhelm (1858 Arnswald – 1928 Berlin): Dr. med., Biologe, Arzt. Engster Freund von Freud, der von F. nachhaltig beeinflusst wurde. Von ihm übernahm Freud u. a. die Überzeugung der kindlichen Sexualität und die Theorie der Bisexualität in ihrer Bedeutung für die Ätiologie der Neurosen und der Verdrängung. F. behauptete die embryonische Bisexualität aller menschlichen Wesen. Das in einer Person vorherrschende Geschlecht habe die seelische Vertretung des unterlegenen Geschlechts ins Unbewusste verdrängt, wie Freud 1919 F. zustimmend referiert (GW 12, 222f.). Neurotiker, Hermaphroditen und Homosexuelle hätten die bisexuelle Grundlage unzureichend verdrängt. Über das Buch von Otto Weininger 1903 (s. Komm. unten zu S. 112, Z. 32) kam es zu einem auch öffentlich ausgetragenen Prioritätsstreit zwischen F., Freud und Swoboda, der 1906 im Abbruch der Beziehung zwischen F. und Freud endete. F. warf Freud vor, seine Idee der Bisexualität über Freuds Patienten Swoboda an dessen Freund Weininger weitergegeben zu haben, der sie als seine eigene Entdeckung ausgegeben hatte. Werke: Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen. In ihrer biologischen Bedeutung dargestellt. Leipzig–Wien: Deuticke 1897; In eigener Sache. Gegen Otto Weininger und Hermann Swoboda. Berlin: Emil Goldschmidt 1906. Lit.: Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (GW 5). 1905; Ein Kind wird geschlagen (GW 12). 1919, 222f.; Sulloway 1982, 26ff. 317ff. 112, Z. 32: Halban, Josef von (1870–1937 Wien): Gynäkologe, 1909 tit. ao. Prof., 1910–37 Vorstand der Gynäkologischen Abt. Krankenhaus Wieden/Wien. Forschungen im Bereich der Gynäkologie, u.a. Lehre von der inneren Sekretion der Plazenta und der Ovarien. Nach ihm sind die »Halbanschen Schwangerschaftszeichen« benannt. Werke: Über den Einfluss der Ovarien auf die Entwicklung des Genitals (Transplantation von Uterus, Tube, Ovarium). Mschr. Geburtsh. 12, 1900, 496–506; Ovarium und
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Menstruation. Eine experimentelle Studie. Sitzungsber. Akad. Wiss. Wien, Math.naturw. Kl. Abt. III 110, 1901, 71–92 bzw. Verh. Dtsch. Ges. Gyn. 9, 1901, 617–624; Die Entstehung der Geschlechtscharaktere. Wien. klin. Wschr. 16, 1903, 817–821. 112, Z. 32: Weininger, Otto (1880–1903 Wien): Studium der Philosophie in Wien; galt als genial begabt. Seine Diss. gab die Grundlage für sein Buch »Geschlecht und Charakter« 1903 ab, das spektakulären Erfolg hatte – innerhalb von 20 Jahren hatte es 25 Auflagen – und einen Sturm von Kontroversen auslöste. Es enthält u. a. eine philos. begründete Charakterologie der Geschlechter, beeinflusst von Kant, Richard Wagner, Ibsen und Tolstoi. Es ist deutlich antisemitisch und wird im Allg. als antifeministisch verstanden. Einer seiner Lehrsätze ist die fundamentale anatomische, physiologische und psychologische Bisexualität des Menschen. Jeder Mann und jede Frau bestehe zu verschiedenen Teilen aus einer männlichen und einer weiblichen Substanz. Kurz nach dem Erscheinen des Buchs erschoss W. sich im Sterbehaus von Beethoven. Werke: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien: Braunmüller 1903; Über die letzten Dinge (posthum 1903). Beide Nachdr. München: Matthes & Seitz 1980. Lit.: Abrahamsen, David: The Mind and Death of a Genius. New York: Columbia Univ. Press 1946; Dettelbach, Hans von: Otto Weininger. Neue Österr. Biografie 1968ff.; Ellenberger 1973, 1052f.; Le Ridier, J./Leser, N. (Hg.): Otto Weininger. Werk und Wirkung. Wien: Böhlau 1984. 112, Z. 33: Schopenhauer, Arthur (1788 Danzig – 1860 Frankfurt/M.): Freund Goethes, Einfluss Kants und des Buddhismus. Verzichtete nach einem kurzen Versuch 1820 auf jeden weiteren philos. Universitätsunterricht. Literarische Erfolge erst nach der 2. Aufl. seines Hauptwerks »Welt als Wille und Vorstellung« (1844). Werke: Die Welt als Wille und Vorstellung (1888). 2 Bde. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1980, II, 44: Metaphysik der Geschlechtsliebe, hier bes. 685ff. Lit.: Vaughan, W. F.: The Lure of Superiority. New York: Holt 1928; SchopenhauerBibliografie. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1981. 112, Z. 33: Krafft-Ebing, Richard von (1840 Mannheim – 1902 Wien): Prof. für Psychiatrie. Er trat vor allem mit Untersuchungen zur Sexualpathologie auf. Sein Buch »Psychopathia sexualis« von 1877 (in vielen, jeweils veränderten Aufl.) war ein ungeheurer, auch umstrittener Erfolg und gab den entscheidenden Anstoß zur sexualpathologischen Wissenschaft. Er prägte die Bezeichnungen Sadismus/Masochismus und unterschied zunächst vier Arten sexueller Anomalien, in späteren Aufl. zwei Hauptgruppen: nach dem Sexualziel und dem Sexualobjekt. Konstitutionelle, embryonale Bisexualität werde im Lauf der normalen Entwicklung monosexuell überwunden. Sie ist für K.-E. eine der Erklärungen für Homosexualität und für Formen von psychosexuellem Hermaphroditismus. K.-E. stand zwar skeptisch Freud gegenüber, unterstützte aber dessen Ernennung zum ao. Prof.
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Werke: Psychopathia Sexualis. Stuttgart: Enke 1877; Beiträge zur Kenntnis des Masochismus. Arbeiten aus dem Gesamtgebiet der Psychiatrie und Neuropathologie. Leipzig: Barth 1897–1899. Lit.: Ellenberger 1973, 413f., 694; Sulloway 1982, 213f., 409ff. 112, A. 201: Schulhof, Hedwig: Individualpsychologie und Frauenfrage. München: Reinhardt 1914 (Schriften des Vereins für Individualpsychologie. Heft 6). Sch., geb. 1868 in Kratzau/Reichenberg, gehörte zu den frühen Mitgliedern der IP, war in der deutschen und österr. Frauenbewegung aktiv, u. a. Mitarbeiterin der »Österreichischen Frauenzeitung«, Vorträge in Reichenberg und Prag. (Mitarbeit Schiferer) 112, A. 204: Steinach, Eugen (1861–1944): Physiologe und Endokrinologe. 1906–18 Leiter des Labors für Allg. und Vergleichende Physiologie bzw. Titel eines o. Prof. in Prag, seit 1912 Vorstand der Abt. für Physiologie an der Biologischen Versuchsanstalt (»Vivarium«) der Akademie der Wissenschaften in Wien, 1938 Emigration in die Schweiz. Beschäftigte sich bes. mit der Physiologie der Geschlechtsorgane, u. a. Transplantation heterologer Sexualdrüsen, und führte Operationen zur Umwandlung Homosexueller durch, wofür ihm zeitweise M. Hirschfeld (s. Komm. zu S. 189, Z. 22) Patienten vermittelte. S.s Operationen sollten auch zur Verjüngung verhelfen. Einer solchen Operation unterzog sich 1922 ebenfalls Freud, um die Wiederkehr des Krebses zu verhindern (vgl. Jones 1984). Werke: Willkürliche Umwandlung von Säugetier-Männchen in Tiere mit ausgeprägt weiblichen Geschlechtscharakteren und weiblicher Psyche, eine Untersuchung über die Funktion und Bedeutung der Pubertätsdrüsen. Pflügers Arch. Physiol. 144, 1912, 71–108. Feminierung von Männchen und Maskulinisierung von Weibchen; Zbl. Physiol. 27, 1913, 717–723; Pubertätsdrüsen und Zwitterbildung. Arch. Entw.med. 42, 1916–17, 307–332; Künstliche und natürliche Zwitterdrüsen und ihre analogen Wirkungen. Arch. Entw.med. 46, 1920, 12–37; Verjüngung durch experimentelle Neubelebung der alternden Pubertätsdrüse. Arch. Entw. mech. 46, 1920, 557–619. Lit.: Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. Campus: Frankfurt 1992; Jones, Ernest: Sigmund Freud. Leben und Werk. Bd.3. München 1984. 113, A. 206: Schwarz, Oswald (1883 Brünn – 1949 London): Urologe, später Psychotherapeut. 1919 Privdoz. für Urologie in Wien, hielt in den 20er Jahren an der Allg. Poliklinik Vorlesungen über Medizin und Philosophie (studentischer Spitzname »Urosoph«); rege Vortragstätigkeit im (studentischen) »Akademischen Verein für medizinische Psychologie«, gab mit »Psychogenese und Psychotherapie körperlicher Symptome« (Wien 1925) das erste Sammelwerk der Psychosomatik heraus, enger Mitarbeiter Adlers. 1927 Austritt aus der IP im Zusammenhang mit dem Vereinsausschluss von Allers und Frankl. 1938 Emigration in die USA, dort vollständige Hinwendung zur Psychotherapie. Adler bezieht sich auf Sch. 1922 und 1924. Werke: Das psychophysische Problem in der Sexualpathologie. Wien. klin.
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Wschr. 35, 1922, 234–246; Sexualpathologie. Wien. klin. Wschr. 37, 1924, 887– 889; Medizinische Anthropologie. Eine wissenschaftstheoretische Grundlegung der Medizin. Leipzig 1929; Über Homosexualität. Leipzig 1931. 114, A.*: Lichtenberg, Georg Christoph (1742 Ober-Ramstadt b. Darmstadt – 1799 Göttingen): Naturforscher und Aufklärer, der in witzigen und eleganten Aphorismen nahezu das gesamte intellektuelle Spektrum jener Umbruchsjahre beleuchtete (Franklin, Herschel, Volta, Rousseau u. a.). Die Devise seines Denkens im Konjunktiv war: »Man muss mit Ideen experimentieren.« Wegen ihrer gedanklichen Schärfe und treffsicheren Sprache haben seine Aphorismen (»Sudelbücher«) bis heute ihre Epoche überdauert. Werke: Sudelbücher (Schriften und Briefe I-II, Hg. F. H. Mautner). München: Hanser 1984. Lit.: Jung, R.: Lichtenberg-Bibliografie. Heidelberg: Stiehm 1972. 114, A. 214: Vgl. Adler, Alfred: Traum und Traumdeutung. Zbl. f. Psychoanal. u. Psychotherap. 3, 1913, 574–583. Nachdr. PuT 1920/1974. Weiteres zur individualpsychologischen Traumtheorie: IZfIP 5, 1927, 241–245. Nachdr. PuE 1982, I, 182–188. 118, A.*: Beitrag zur Lehre vom Widerstand. Zbl. f. Psychoanal. u. Psychotherap. 1, 1911, 214–219. Nachdr. Beitrag zum Verständnis des Widerstands. PuT 1920/1974. 118, Z. 4: Nietzsche: Vgl. Zitat oben S. 97, Z. 10. 118, A. 245: In: Rühle, Otto u. Alice (Hg.): Schwer erziehbare Kinder: eine Schriftenfolge. Heft 1. Dresden: Am anderen Ufer 1926. Nachdr. PuE 1982 I, 119–134. 120, A.*: Das »Symbolische in der Gestalt›« (Porta, Gall, Carus): Bezieht sich auf einen Titel von Carl Gustav Carus: »Symbolik der menschlichen Gestalt« 1853 (1961), in dem C. im Rückgriff auf Goethe den Symbolbegriff als Frage nach dem menschlichen Wesen und als Frage nach dem individuellen Charakter in die »Physiognomik« einführte. »Physiognomik«, d. h. die Lehre vom Ausdruck des menschlichen Gesichts bzw. der Körperformen, reicht ins Altertum zurück, wurde im 16. Jahrhundert durch Giov. Batt. della Porta (1543–1615) (De humana physiognomonia, 1586) vertreten, kam im 18. und 19. Jahrhundert zu neuer Blüte durch den Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741–1801 Zürich) (Physiognomische Fragmente, 1775–1778), den Anatom Franz Josef Gall (1758 Tiefenbrunn – 1828 Montrouge/Paris) (Organologie oder Phrenologie) und den romantischen Mediziner Carl Gustav Carus (1789 Leipzig – 1869 Dresden). Im frühen 20. Jahrhundert wurde dies weitergeführt, u. a. durch die Ausdrucks- und Charakterkunde von Ludwig Klages und die Konstitutionstypologie von Ernst Kretschmer. Physiognomik/Ausdruckskunde wurde häufig mit einer Rassentypologie verbunden (bereits bei Carus). Lit.: Hehlmann 1965; Jahnke, Jürgen: Physiognomik, Phrenologie, Ausdruckskunde. In: Lück/Miller (Hg.) 1993; Kiener, Franz: Physiognomik der Gesamtleibestektonik. In: Kirchhoff, Robert (Hg.): Handbuch der Psychologie. Bd. 5: Ausdruckspsychologie. Göttingen: Hogrefe 1965; Stubbe, Hannes: Hatten die Germanen graue Augen? Rassenpsychologisches bei C. G. Carus. PuG 1 (3), 1989.
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120, A.*: Erckmann, Emile (1822 Phalbourg – 1899 Lunéville) und Chatrian, Alexandre (1826 Abreschwiller – 1890 Villemonble): L’ illustre docteur Mathéus (1859). In: Contes et romans populaires (1866). Bd. III. Illustrés par Théophile Schuler. Paris: Jean Jacques Pauvert Editeur 1962. Dt. Übers. Vier Erzählungen aus Contes populaires und Contes des Bords du Rhin par Erckmann, Emile/Chatrian Alexandre, Bielefeld: Velhagen + Klasing 1910. 120, A.*: Vgl. Goethe, J. W. von: Reineke Fuchs. In zwölf Gesängen. Gedenkausgabe. Bd. 3 (Hg. E. Beutler). Zürich: Artemis 1948; Stuttgart: Reclam 1987. 121, Z. 26: Schmidt, lingua scrotalis: Schmidt, Rudolf (1873– 1947), s. Komm. zu S. 52, Z. 11. Lingua scrotalis (oder plicata): angeborene Falten- oder Furchenzunge (Scrotum = Hodensack). Adler bezieht sich auf folgende Stelle bei Sch.: Ueber Diathesen, Dyskrasien und Konstitutionen. Wien. klin. Wschr. 24, 1911, 1659–1663, hier 1661: »Man spricht von ›Degenerationszeichen‹, besser wohl von ›Bildungsfehlern‹. Sie können, müssen aber nicht mit Defekten in den höheren seelischen Funktionen einhergehen. Nur einige wenige Beispiele: So gibt es eine Form der Zunge, wobei die Oberfläche durch tiefe Kerben wie zerklüftet aussieht. Sie führt den etwas phantastischen Namen ›Lingua scrotalis‹. Ich habe dieses Format auffallend oft bei Selbstmördern angetroffen. Sein Vorkommen ist unter anderem bekannt bei Alkoholismus, Diabetes, Pellagra. Der gemeinsame Faktor ist meiner Ansicht nach die neuropathische Konstitution. Die ›Hodensackzunge‹ scheint mir ein höherwertiges Symptom psychopathischer Konstitution zu sein.« 122, Z. 6: Nietzsche, Sublimierung: Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, I.1: »Nach Erklärung [der historischen Philosophie] gibt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur Sublimierungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist.« Einem solchen Denken stellt N. die Notwendigkeit einer »Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen« entgegen, wodurch »die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind« (Nietzsche 1973, I, 447). Im »Nachlaß der Achtziger Jahre« heißt es: »Der sublime Mensch hat den höchsten Wert, auch wenn er ganz zart und zerbrechlich ist« (ebd. III, 851). 122, Z. 19: Ulcus ventriculi, Appendizitis: Magengeschwür; Entzündung des Wurmfortsatzes des Blinddarms (sog. »Blinddarmentzündung«). 122, Z. 30: Holzknecht, Guido (1872 Wien – 1931 Wien): Radiologe und Begründer dieses Spezialfachs in Österreich. 1918–31 ao. Prof. und Vorstand am Zentral-Röntgeninstitut der Univ. Wien, 1928 Präsident der Internat. Vereinigung der Hochschullehrer für med. Radiologie, 1931 an Röntgenkarzinom gestorben. 1905–14 vielfältige Beiträge zur röntgenologischen Untersuchung von Magenmotilität, Oesophagus, Zwerchfellbewegung und Darmperistaltik. 122, Z. 30: Singer, Gustav (1869–1944): Gastroenterologe, Diabetologe. 1911 tit. ao. Prof., behandelnder Arzt des österr. Bundeskanzlers Ignaz Seipel. Okt. 1938 Emi-
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gration nach Großbritannien, gestorben in London. Prägte mit Scherschewsky, Fleiner und Westphalen den Begriff der »Spastischen Obstipation«. Werke: Die spastische Obstipation. Wien. klin. Wschr. 16, 1903, 401–405; (mit G. Holzknecht) Ueber objektive Befunde bei der spastischen Obstipation. Münch. med. Wschr. 58, 1911, 2537–2539; dies.: Die objektiven Symptome des chronischen Colospasmus. Dtsch. med. Wschr. 38, 1912, 1084–1087 bzw. Verh. Kongr. inn. Med., Wiesbaden 29, 1912, 163f.
Kommentare zum praktischen Teil Zum 1. Kapitel
125, Z. 29: Ibsen, Henrik (1828 Skien – 1906 Oslo): Norwegischer Balladen- und Dramendichter, welcher der bürgerlich-christlichen Fassade seiner Zeit die Maske herunterreißen wollte. In seinem Drama »Wildente« begeht die Tochter Selbstmord, weil G. Werles ihre eheliche Herkunft anzweifelt. Lit.: Schulhof, Hedwig: Henrik Ibsen – Der Mensch und sein Werk im Lichte der Individualpsychologie. Reichenberg: Spiethoff 1923. 128, Z. 15: Appelt, Alfred: Fortschritte der Stottererbehandlung. HuB 1914. 133, Z. 1: La Rochefoucauld, François, Graf von (1613–1680): Intrigierte gegen Richelieu und widmete sich nach der Entmachtung des Schwertadels ab 1653 literarischer Tätigkeit. Seine ca. 500 »Maximen« sind der Höhepunkt einer Moralistik, die philos. Lebensführung und Menschenanalyse durch kritische Beobachtung der Triebfedern anvisiert. Stärkste Antriebskraft ist ihm die Eigenliebe (amour-propre); jede selbstlose Tugend wird als Geltungsdrang und gesellschaftlich notwendige Heuchelei demaskiert, die der rationalen Kontrolle und freien Entscheidung entzogen ist. Einfluss auf Voltaire und Nietzsche sowie bis heute. Werke: Œuvres complètes (éd. Pléiade). Paris: Gallimard 1964; Réflexions ou sentences et maximes morales. Genf: Droz 1967; dt. Übers. Maximen und Reflexionen. Stuttgart: Reclam 1983. Lit.: Ansmann, L.: Die »Maximen« von La Rochefoucauld. München 1972. 134, Z. 3: Hic puer bis os: Dieser Junge ejakulierte ihm den Samen in den Mund. 137, Z. 12: Breuer-Freud’sche Deutungstechnik: Siehe Komm. zu S. 146, Z. 27. 138, Z. 14: Sophokles (495–406 v. Chr. Athen): Im Drama »König Ödipus« (430 v. Chr.) tötet Ödipus seinen Vater und heiratet seine Mutter – beides unwissentlich. Bes. der Chor vertritt in diesem Drama die »Gebote der Götter«. Entgegen der Meinung Freuds in seiner Auslegung des »Ödipuskomplexes« war das ursprüngliche Thema wohl eine zu große Machtkonzentration in der Stadt Theben. Werke: Tragödien. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1960. Lit.: Reinhardt, K.: Sophokles. Berlin 1933; Atkins, Frances: The social meaning of the Oedipus myth. JIP 22, 1966, 173–184. 139, Z. 2: Sophisten, in utramque partem dicere: von griech. sophoi, die Weisen. Sie betonten als Wanderlehrer in der Aufklärungsepoche der griech. Philosophie vor Sokrates im 5.– 4. Jahrhundert v. Chr. das Recht des Einzelnen auf Selbstdurchsetzung gegenüber dem Ganzen. Neben ihrem Relativismus (»von jeder Behauptung auch das Gegenteil sagen können«) Verdienste in rhetorisch-praktischer Bildung.
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Durch Platons Kritik in den Dialogen Protagoras, Gorgias, Hippias z. B. wurde »Sophistik« zur Pseudophilosophie oder »Dialektik«. Lit.: Kranz, Walther: Die griechische Philosophie. Basel: Schibli-Doppler 1955, 95–100. 139, Z. 7: Lombroso: Siehe Komm. zu S. 58, Z. 8. 140, Z. 14: Kronos: Nach dem griech. Mythos ein Titan, jüngster Sohn des Uranos und der Gaia; entmannte den Vater mit einer Sichel und folgte ihm in seiner Herrschaft. Selbst von der Weissagung betroffen, seinen Thron zu verlieren, verschlang er alle seine Kinder, bis auf Zeus, der ihn zunächst in den Tartaros warf und dann zum Herrscher der Insel der Seligen machte. Wegen Namensähnlichkeit auch Gott der Zeit (Chronos). Dieses Titanentum hat Goethes Gedicht zum Thema. 141, Z. 10: »Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück!«: Aus Schuberts Lied »Der Wanderer« (1816) nach »Des Fremdlings Abendlied« (1808) von Georg Schmidt von Lübeck (1766–1849). 143, Z. 2: Mendel, Kurt (1874–?): Sohn des Berliner Psychiaters und Neurologen bzw. freisinnigen Abgeordneten Emanuel Mendel (1839–1907); frühzeitiges Interesse für soziale Aspekte der Psychiatrie und die Unfallgenese von Nervenkrankheiten; ab 1907 Nervenarzt in Berlin und eigene Poliklinik; ca. 1932–1939 leitender Arzt des Sanatoriums für Nervenkranke und Erholungsbedürftige in Berlin-Lichterfelde. Werke: Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? Berlin 1902; Der Unfall in der Ätiologie der Nervenkrankheiten. Berlin 1908; Die Paralysis agitans. Eine Monografie. Berlin 1911; Torsionsdystonie. In: Bumke, O./Foerster, O. (Hg.): Handbuch der Neurologie. Bd. 16. Berlin 1936, 848–873. 143, Z. 2: Klimakterium virile: »Ein den Beschwerden des weiblichen Klimakteriums entsprechendes Krankheitsbild bei Männern Ende des 5. oder Anfang des 6. Dezenniums, wahrscheinlich ebenfalls durch Unterfunktion der Keimdrüsen bedingt« (W. Guttmann: Med. Terminologie. Berlin–Wien, 8.–9. Aufl. 1917, 666). Von Kurt Mendel (1910) als Begriff eingeführt, der aber die Verwendung des Begriffs »climacteric disease« bei Männern schon bei Halford (1831) fand und auf Hinweise von Freud, Adler und Stekel bezüglich ähnlicher Erscheinungen bei Männern mit Angstneurosen verwies. Von Mathilde Vaerting (1918) und zurückhaltender von Max Marcuse (1916) bestätigt, von Karel Frederick Wenckebach (1915) und Alfred E. Hoche (1928) abgelehnt. Der Berliner homöopathische Arzt Ernst Arthur Lutze hatte den Begriff bereits 1908 ähnlich definiert. Lit.: Mendel, K.: Die Wechseljahre des Mannes (Climacterium virile). Neurol. Zbl. 29, 1910, 1124–1146, bzw. Zbl. ges. Neurol. 29, 1922, 385–393; Vaerting, Mathilde: Wechseljahre und Altern bei Mann und Weib. Neurol. Zbl. 37, 1918, 306–315; Marcuse, Max: Zur Kenntnis des Climacterium virile, insbes. über urosexuelle Störungen und Veränderungen der Prostata bei ihm. Neurol. Zbl. 35, 1916, 577–591; Wenckelbach, Karel Frederick: Über den Mann von 50 Jahren. Wien. med. Wschr. 55, 1915, 689–696; Hoche, Alfred E.: Die Wechseljahre des Mannes. Berlin, 2. Aufl.
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1928; Lutze, E. A.: Das klimakterische Alter der Männer (Klimaxis virilis), ein Mahnund Trostwort für Ehefrauen, die sich vor dem Witwenstande fürchten. Berlin 1908; Schwarz, Oswald: Ueber das sogenannte männliche Klimakterium. Wien. klin. Wschr. 42, 1929, 1636–1638; Blum, Victor: Das Problem des männlichen Klimakteriums. Wien. klin. Wschr. 49, 1936, 1133–1139. 143, Z. 15: Michaelis, Karin (1872 Randers/Jütland – 1950 Kopenhagen): dän. Schriftstellerin, frauenpolitisches Engagement. – Das gefährliche Alter. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe. Berlin 1910. 144, Z. 19: Kisch, Enoch Heinrich (1841–1918): 1863 Badearzt in Marienbad (Marianske Lazne, Tschechische Republik) mit großen Verdiensten um den Aufschwung Marienbads als internat. Kurort; 1867 Privdoz. für Balneologie Univ. Prag, 1884 ao. Prof. Adler bezieht sich wohl auf Kisch 1895, 848f.; 1904, 97ff. Werke: Erlebtes und Erstrebtes. Erinnerungen. Stuttgart-Berlin 1914; Die Balneotherapie der chronischen Krankheiten. Wien 1866– 67; Marienbad, seine Umgebung und seine Heilmittel. Marienbad 1868 (15. Aufl. 1897); Das klimakterische Alter der Frauen in physiologischer und pathologischer Beziehung. Erlangen 1874; Grundriß der klinischen Balneotherapie einschließlich der Hydrotherapie und Klimatotherapie. Wien–Leipzig 1883 (2. Aufl. als Balneologisch-therapeutisches Lexikon für praktische Ärzte, 1897); Die Sterilität des Weibes, ihre Ursachen und ihre Behandlung. Wien-Leipzig 1886 (2. Aufl. 1895; franz. Paris 1888); Die Fettleibigkeit (Lipomatosis universalis). Stuttgart 1888; Über Herzbeschwerden während der Menarche. Berl. klin. Wschr. 32, 1895, 848–850; Uterus und Herz in ihren Wechselbeziehungen (Cardiopathia uterina). Leipzig 1898; Entfettungscuren. Berlin 1901; Das Gechlechtsleben des Weibes in physiologischer, pathologischer und hygienischer Beziehung. Berlin–Wien 1904 (2. Aufl. 1907; engl. London 1910. 144, Z. 21: Molimina menstrualia: Beschwerden, die mit der Menstruation zusammenhängen (molimen = Anstrengung). 146, Z. 23: perimetrische Verwachsungen: Verwachsungen des Bauchfellüberzuges (Peri- bzw. Parametrium) der Gebärmutter. 146, Z. 23: Exstirpatio uteri: Operative Entfernung der Gebärmutter. 146, Z. 28: Bossi, Luigi Maria (1859–1919): 1894 Leiter der Hebammenlehranstalt in Novara, 1904–1919 o. Prof. der Geburtshilfe in Genua; Gründer und Hg. von »La Ginecologia moderna«, führte 1911–13 eine internat. Kontroverse mit Psychiatern; trat für Kastration von Geisteskranken ein, fiel einem Attentat zum Opfer. Adler bezieht sich offenbar auf die Kontroverse B.s (1911) mit den Psychiatern, die u. a. publizistisch in Wien ausgetragen wurde. Werke: Manuale di ostetrica (ginecologia minore) per le levatrici. Milano 1903; Malattie uero-ovariche e malthusianismo. Milano 1905; In difesa della donna e della razza. Milano 1917; Nevropathies et psychopathies d’origine génitale. Rev. mens. gynéc. 6, 1911, 553–585; A proposito di malattie utero-ovariche e psicopatie. Urgenza di riforme nel sistema manicomiale. Varese 1912; Die gynäkologische Pra-
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xis bei Wahnsinn. Berlin 1912; Eierstocks-Uteruskrankheiten und Psychopathien. Zbl. Gyn. 36, 1912, 1213–1221; Meine Ansichten über die reflektorischen Psychopathien und die Notwendigkeit der Verbesserung des Irrenwesens. Wien. klin. Wschr. 25, 1912, 1868–1875. Lit.: Wagner-Jauregg, Julius: Bemerkungen zu dem vorstehenden Aufsatze des Herrn Bossi. Wien. klin. Wschr. 25, 1912, 1875f.; Mayer, August: Die Lehre Bossis und die Gynäkologie. Wien. klin. Wschr. 26, 1913, 499–501. Vgl. auch die Kontroverse Bossi – E. Siemerling: Zbl. Gyn. 35, 1911, 1265–1273, bzw. 3, 1912, 33–39, 269–272. 148, Z. 10: Nietzsche, Simplifikation: Vgl. z. B. Jenseits von Gut und Böse II, 24 (1973, II, 589): »O sancta simplicitas! In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch! […] hier und da begreifen wir es und lachen darüber, wie gerade noch die beste Wissenschaft uns am besten in dieser vereinfachten, durch und durch künstlichen, zurechtgedichteten, zurechtgefälschten Welt festhalten will, wie sie unfreiwillig-willig den Irrtum liebt, weil sie, die Lebendige – das Leben liebt!« Lit.: Vaihinger 1911, 777 ff. 148, Z. 15: Vaihinger, Ideen, Hypothesen, Dogma: Vgl. Vaihinger 1911, Kap. 27: Das Gesetz der Ideenverschiebung (S. 219–230), wo die drei Stadien Fiktion-Hypothese-Dogma bzw. Dogma-Hypothese-Fiktion unterschieden und auf die psychische Stabilisierung von Vorstellungen angewandt werden. Vgl. auch Komm. zu S. 66, Z., 20. 149, Z. 6: Vaihinger, Hilfslinie Geometrie: Vgl. Vaihinger 1911, Kap. 10: Fiktive Grundbegriffe der Mathematik (S. 69ff.). 149, Z. 7: Nietzsche, Mythus, Märchen: Vgl. Die Geburt der Tragödie 23 (1973, I, 124ff.). 151, A.*: opinio: lat. Meinung; vgl. das Zitat von Seneca zu Beginn des »Theoretischen Teils« (S. 45). Der Meinungsbegriff hat eine lange ideengeschichtliche Tradition. Gegenüber dem objektiven Wissen ist die Meinung (doxa) seit Platon abgewertet, gefolgt von der lateinisch-scholastischen Tradition (opinio) seit der Stoa bis zu Kant. Die Meinung wird in den subjektiven Bereich verworfen und gewinnt die Bedeutung von »Vorurteil«. Der Ursprung der Meinung ergibt sich nicht aus der Wahrheitsordnung, sondern aus sozialen Gewohnheiten (Platon, Descartes). Im psychologischen Gebrauch ist Meinung eine verbale Äußerung mit einem Werturteil zumeist, das begrenzt und kurzzeitig oder wechselhaft ist. Adler folgt hier mehr der erkenntniskritischen Tradition, die opinio als subjektives Wissen (Leitlinie, Fiktion) vom aufgeklärten Wissen abgrenzt. Lit.: Oppenheim, D. E.: Selbsterziehung und Fremderziehung nach Seneca. IZfIP 8 (1), 1930, 62–70; Hofstätter, Peter R.: Das Primat des Handelns in der Philosophie nach Seneca. In: Kühn, Rolf /Petzold, Hilarion (Hg.): Psychotherapie und Philosophie – Philosophie als Psychotherapie? Paderborn: Junfermann 1992, 29–58; Diemer, A./Hölscher, L.: Meinen, Meinung, öffentliche Meinung. In: Ritter/Gründer
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(Hg.) Bd. 5. 1980, Sp. 1017–1033; Titze, Michael: Meinung. In: Brunner/Titze (Hg.) 1995, 321–322. 152, Z. 3: Phlegmasia alba dolens: Weiße schmerzhafte Zellgewebsentzündung der Wöchnerinnen, weiße Schenkelgeschwulst. 154, Z. 3: Leonardo da Vinci, Jugendfantasie: Vgl. S. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (GW 8), 128 – 211 (Lit.). 155, Z. 10: Incontinentia alvi (oder faecalis): Unwillkürliche Stuhlentleerung, z. B. bei Sphinkterlähmung. 155, A.*: Trismus: Durch tonische Kontraktion der Kaumuskeln bedingte Kieferklemme. 155, A.*: Blepharospasmus: Lidkrampf; Verschluss der Lidspalte durch Krampf des Musculus orbicularis oculi. 155, A.*: Vaginismus: Abnorm erhöhte Reizbarkeit des Scheideneingangs, oft verbunden mit krampfhaften Zusammenziehungen des Musculus bulbospongiosus, eventuell auch der übrigen Beckenbodenmuskulatur bzw. der Oberschenkeladduktoren. Zuerst 1861 beschrieben von James Marion Sims (1813–1883). Lit.: Sims, J. M.: Vaginismus. Transact. Obstetr. Soc. London 3, 1861, 356–367; Klinik der Gebärmutter-Chirurgie, mit bes. Berücksichtigung der Behandlung der Sterilität. Erlangen 1870, 255–273. 155, A.*: Sphinkterkrampf: Krampf des Schließmuskels. 155, A.*: Globus: Bei hysterischen Personen vorkommendes Gefühl, als ob ein schwerer, beengender Körper von der Magengegend nach dem Halse aufstiege und in der Kehle stecken bliebe. 155, A.*: Stimmritzenkrampf, Spasmus laryngus sive glottidis, Laryngospasmus: Krampfhafter Verschluss der Stimmritze, wodurch die Tonbildung und eventuell die Atmung behindert wird. 160, Z. 23: Polydipsie: Krankhafter Durst. 160, A. 217: Polyurie: Krankhafte Vermehrung der Harnmenge. 161, A. 225: Strasser-Eppelbaum, Vera (1885 Kowel/Wolhynien – 1941 Zürich): Dr. med., und Strasser, Charlot (1884–1950 Zürich): Dr. med., Psychiater und expressionistischer Schriftsteller in Zürich. Er machte Adler dort in diesen Kreisen bekannt, vor allem während des Ersten Weltkriegs. Durch die Vermittlung des Ehepaars S. erschienen 1916 vier Hefte der IZfIP (s. Literaturliste S. 323 zu S. 29, Z. 4). Der Kontakt brach offenbar nach 1918 ab. Vera S. sagte sich in einem Buch (1921) von Adler los. Charlot S. schrieb eine Fülle von Büchern, u. a. zum Strafrecht, Alkoholismus, zur Sexualität wie zur Ehe. Werke: Eppelbaum, Vera/Strasser, Charlot: Nervöser Charakter, Disposition zur Trunksucht und Erziehung. HuB 1914; Strasser-Eppelbaum, Vera: Zur Psychologie des Alkoholismus. Schriften des Vereins für Individualpsychologie. Heft 5, 1914; Strasser, Vera: Psychologie der Zusammenhänge und Beziehungen. Berlin: Springer 1921.
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Lit.: Bruder-Bezzel 1991, 28ff.; Heinrich, Daniel: Dr. med. Charlot Strasser (1884–1950). Ein Schweizer Psychiater als Schriftsteller, Sozial- und Kulturpolitiker. Zürich: Juris 1986. 162, Z. 13: Acheronta movebo: Vergil, Aeneis 7, 312: »Flectere si negueo superos, Acheronta movebo. – Wenn ich die höheren Mächte nicht beugen kann, werde ich die Unterwelt erschüttern.« Das lateinische Zitat ist das Motto auf dem Titelblatt von Freuds »Traumdeutung« (GW 2) 1900. 163, Z. 8: »Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.«: Aus Goethes Ballade »Erlkönig« (1782). 166, Z. 13: Gynäkomastie: vollkommene Entwicklung der Brustdrüsen bei Männern (wie sonst nur bei Frauen). 168, Z. 33: Wagner, Richard (1813 Leipzig – 1883 Venedig), Meistersinger, Tristan: »Die Meistersinger von Nürnberg. Oper in drei Aufzügen« (1867), »Tristan und Isolde« (1864), »Ring der Nibelungen: Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried, Götterdämmerung« (ca. 1850–1860). Werke: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 10 Bde. Leipzig 1897.
Zum 2. Kapitel 172, Z. 16: Leporelloliste: Lange Liste der Geliebten Don Giovannis, die sein Diener Leporello in Mozarts gleichnamiger Oper anlegt. 172, Z. 16: Don Juan: Gestalt der europäischen Dichtung, Sinnbild unstillbarer sinnlicher Leidenschaft. Älteste Prägung bei Molina (1613), sodann bei Molière (1665), Mozart (1787), Lord Byron (1819–24), E. T. A. Hoffmann (1813), Puschkin (1830), Lenau (1844), Shaw (1903), Frisch (1953) beispielsweise. Lit.: Gnüg, H.: Don Juans theatralische Existenz. Bonn 1974. 172, Z. 17: Messalina, Valeria (25–48 n. Chr.): Römische Kaiserin, dritte Frau des Kaisers Claudius, den sie völlig beherrschte. Bekannt für Intrigen und Beseitigung unangenehmer Personen, z. B. Seneca; dann selbst hingerichtet. Lit.: Meise, E.: Untersuchungen zur Geschichte der Julisch-Claudinischen Dynastie. München, 1969. 172, Z. 22: Immermann, Karl, Münchhausen: Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen (1720 Bodenwerder an der Weser – 1797): Offizier und Gutsbesitzer, genannt der »Lügenbaron«, da bekannt für seine Lügen- und Abenteuergeschichten »Baron Münchhausen« (engl.-dt. 1786, erw. 1788). Dieser Stoff wurde von Karl Immermann (1796–1840) unter dem Titel »Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken« als Roman 1838–39 bearbeitet (4 Bde. Neuaufl. Frankfurt a. M.: Insel 1984). Lit.: Schweizer, R.: Münchhausen und Münchhausiaden. Werden und Schicksale einer deutsch-englischen Burleske. 1969; Kohlhauer, S.: Resignation und Revolte.
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Immermanns Münchhausen. Satire und Zeitroman der Restaurationsepoche. Stuttgart 1973. 173, Z. 11: Ibsen, Henrik, Kronprätendenten: Vgl. Komm. zu S. 125, Z. 29. »Die Kronprätendenten« (1864) sind ein historisches Schauspiel in fünf Akten, das den Streit zwischen Hakon und Skule um den norwegischen Thron im 13. Jahrhundert wiedergibt. Skule muss am Schluss erkennen, dass er durch seinen Griff nach dem Thron sein eigenes und familiäres Glück zerstört hat und lässt sich widerstandslos töten. Lit.: Kindler Bd. 8, 1990, 303–335 (Lit.). 173, Z. 16: Schumann, Clara (1819 Leipzig – 1896 Frankfurt/M.): Begabte Pianistin und Komponistin von Jugend an; heiratete 1840 R. Schumann. Werke: Briefwechsel mit R. Schumann. 3 Bde. 1984. 173, A.*: Wexberg, Erwin (1889 Wien – 1957 Washington D.C.): Dr. med., Psychiater; war eines der frühesten Mitglieder der Individualpsychologischen Vereinigung und gehörte zu den wichtigsten und produktivsten Mitarbeitern in Wien. Verbindungsmann zum sozialistischen Flügel, betonte gegenüber dem späten »metaphysischen« Adler die medizinisch-biologischen Grundlagen. Emigration 1934 in die USA, dort als Psychiater tätig. Werke: 23 Aufsätze in der IZfIP von 1914–1933; Mitarbeit an HuB 1914–28, Vorwort HuB 1928; (Hg.) Handbuch der Individualpsychologie. München: Bergmann 1926 (Nachdr. Amsterdam: Bonset 1966); Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung. Leipzig: Hirzel 1928 (3. Aufl. 1930. Nachdr. 1987, Einführung G. Lehmkuhl); Zur Entwicklung der Individualpsychologie und andere Schriften (Hg. G. Lehmkuhl). Frankfurt: Fischer 1991. Lit.: Bruder-Bezzel 1991; Lehmkuhl, Gerd: In: Wexberg 1987, 1991. 174, Z. 21: Weber, Frederick Parkes (1863–1962): Ab 1894 über 50 Jahre am German Hospital in London, 1921 erster Mitchell Lecturer am Royal College of Physicians in London; Kliniker, der sich mit diversen Grenzgebieten, u. a. mit med. Problemen der Lebensversicherung, Balneologie und Klimatologie befasste. Adler bezieht sich auf seine Veröffentlichung von 1911–12. Werke: The association of hysteria with malingering: the phylogenetic aspect of hysteria as pathological exaggeration (or disorder) of tertiary (nervous) sex characters. Proc. Roy. Soc. Med. 5, 1911–12, 26–36. Dt. Übers.: Ueber die Verbindung von Hysterie mit Täuschungssucht und die phylogenetische Auffassung der Hysterie als eine pathologische Steigerung (oder Erkrankung) tertiärer (nervöser) Geschlechtscharaktere. Arch. Physiol. 24, 1912, 63–70. 175, Z. 4: Jassny, A., Zur Psychologie der Verbrecherin. Arch. Krimin.-Anthropol. 42, 1911, 90–107. 175, Z. 6: Gross, Hans (1847 Graz – 1915 Graz): Kriminologe und Strafrechtslehrer; ab 1912 Vorstand des Kriminalistischen (später Kriminologischen) Instituts der Univ. Graz, Begründer der Grazer Schule der Kriminologie; 1899–1915 Gründer und Hg. des »Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik«.
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Werke: Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen, etc. Graz 1893 (8. Aufl. neu bearbeitet von Ernst Seelig, Berlin-München, 1942); Kriminalpsychologie. Graz 1897 (2. Aufl. Leipzig 1905); Gesammelte kriminalistische Aufsätze. 2 Bde. Leipzig 1902–08. 176, A. 27: Kretschmer: Siehe Komm. zu S. 32, Z. 13. 177, Z. 1: pollice verso: »den Daumen gegen die Brust gekehrt […]: ein Zeichen, dass das Volk einen besiegten Gladiator getötet wissen wollte«. Georges, Karl E. G.: Ausführliches lat.-dt. Handwörterbuch. 9. Aufl., Nachdruck der 8. verb. von Georges, Heinrich, Hannover/Leipzig, 1912/18, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1951. 178, Z. 7: Lipps, Theodor (1851 Wallhalten – 1914 München), Gegenstandsbewusstsein: Deutscher Philosoph und Psychologe, der die affektive »Einfühlung« – anstelle einer intellektuellen Subjekt-Objekt-Relation – als zentralen Begriff der Psychologie sah. Die Psychologie selbst ist für ihn »die Lehre vom Bewusstsein und den Bewusstseinserlebnissen« (1909, S. 1). Werke: Leitfaden der Psychologie. Berlin, 3. Aufl. 1909; Komik und Humor. Von der ästhetischen Apperzeption, Halle 1902; Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst. 3. Bde. Hamburg 1903 (1923). Lit.: Stein, Edith: Zum Problem der Einfühlung (1917). Nachdr. München: Kaffke 1980, 23ff. u. ö. 178, Z. 21: Neusser, Edmund von (1852–1912 Wien): 1889 Primararzt Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien, 1893–1912 o. Prof. und Vorstand II. Med. Klinik Wien; generalistischer Kliniker, der allerdings nur wenig publizierte. Intensive Beschäftigung mit der Pellagra-Erkrankung und -Bekämpfung als internistisch-neurologisch-sozialem Grenzgebiet. Adler bezieht sich auf Neusser, E.: Zur Diagnose des Status thymicolymphaticus. Congrès internat. de médecine Budapest 1908. Comptes rendus Sect. VI. Méd. Interne. Budapest 1910, 348–354. 178, Z. 21: Status thymico-lymphaticus: Siehe Komm. zu S. 50, Z. 2. 182, Z. 5: Bezzola, Dumeng (1868 Zernetz – 1936 Pontresina): Schweizer Psychiater und Psychotherapeut; Studium in Zürich, dort Bekanntschaft mit Auguste Forel, Assistenzarzt an der Heil- und Pflegeanstalt in Chur; 1901 Leiter der Trinkerheilstätte Schloss Hard unter Ludwig Frank, ab 1908 im Engadin (St. Moritz, später Celerina). Ging zusammen mit L. Frank von der Psychokatharsis J. Breuers aus, lehnte die eigentliche Psychoanalyse ab, deshalb um 1907 Konflikt mit E. Bleuler und C. G. Jung in Zürich. Auf dem 1. Internat. Kongress für Psychiatrie und Neurologie in Amsterdam 1907 äußerte er in der Diskussion, dass er die alte Breuer-Freud’sche Theorie, nicht aber die neuere psychoanalytische Theorie Freuds akzeptiere (vgl. Ellenberger 1973, 1066). Nannte seine eigene Methode später »Psychosynthese«; 1909 Mitglied der in Salzburg von A. Forel und H. von Hattingberg gegründeten »Internat. Ges. für med. Psychologie und Psychotherapie«. 185, Z. 3: Nietzsche, Wille zur Macht und zum Schein: Vgl. Komm. zu S. 41, Z. 16.
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187, A. 82: Nietzsche, brave Kinder: Nach einem Bericht seiner Schwester; vgl. Gilmann, Sander L./Reichenbach, Ingeborg (Hg.): Begegnungen mit Nietzsche. Bonn 1981, 4. 188, Z. 10: corriger la fortune: »Das Glück verbessern«, bei Lessing, Minna von Barnhelm, wo es der Falschspieler Riccaut zu seiner Rechtfertigung gebraucht. Zuerst bei Boileau (1636–1711), 5. Satire. 189, Z. 7: Jones, Ernest (1879 Glamorgan/Wales – 1958 London): Dr. med., Psychiater; einer der frühen ausländischen (engl.) Anhänger Freuds, Organisator, Mitglied des »Geheimen Komitees«, bekannt vor allem durch seine Freud-Biografie. 1908 Teilnahme am Psychoanalytischen Kongress Salzburg, gründete 1911 die amerikanische, dann die engl. Psychoanalytische Vereinigung. Werke: The Oedipus Complex as an explanation of Hamlet’s mystery: a study in motive. American J. of Psychology 21, 1910, 72–113 (dt. Übers. Das Problem des Hamlet und der Ödipuskomplex. Leipzig–Wien: Deuticke 1911); Papers on PsychoAnalysis. London–New York 1913; Early Female Sexuality. 1935 (Nachdr. Papers on Psycho-Analysis. Boston: Beacon Press 1961); Free Associations. Memories of a Psycho-Analyst. London: Hogarth Press 1959; Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bern–Stuttgart: Huber 1960 (engl. 1955). Lit.: Sulloway 1982. 189, Z. 19: Dessoir: Siehe Komm. zu S. 111, Z. 23. 189, Z. 22: Hirschfeld, Magnus (1868 Kolberg – 1935 Nizza): Dr. med., Sexologe, Sexualreformer, bes. im Kampf um die Straffreiheit von Homosexualität. Dazu 1897 Gründung des »Wissenschaftlich-Humanitären Komitees« (WHK). Von 1899–1923 Herausgabe des »Jahrbuchs sexueller Zwischenstufen«, 1919 Gründung eines »Instituts für Sexualwissenschaft« in Berlin als Forschungs- und Beratungsstelle sexueller und sexualpathologischer Probleme, (Mit)Gründung verschiedener Sexualreformorganisationen (Ärztl. Ges. für Sexualwissenschaft und Eugenik 1913, Weltliga für Sexualreform 1928), Hg. der »Zeitschrift für Sexualwissenschaft« (1908). H. wurde von den akademischen Sexologen weitgehend bekämpft. Kontakte zur Psychoanalyse zwischen 1905 und 1911, kurzfristig auch Mitglied der Psychoanalytischen Vereinigung. Am 31. 1. 1914 war er Gast im Individualpsychologischen Verein. Es gab u. a. über Arthur Kronfeld Querverbindungen zur Individualpsychologie. H. kam von einer Weltreise ab 1930 nicht mehr nach Deutschland zurück, sein Institut wurde im Mai 1933 zerstört. Er hat neben seinen Beiträgen im »Jahrbuch« eine Fülle von wiss. und populären Büchern geschrieben. Homosexualität betrachtete er als angeborene Form einer »sexuellen Zwischenstufe« oder eines »3. Geschlechts« mit weiblichen Eigenschaften von Männern und männlichen Eigenschaften von Frauen. Werke: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. Bd. 1–23. Leipzig 1899–1923; Berlins drittes Geschlecht. Berlin–Leipzig 1904; Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. Berlin 1914; Sexualpathologie. Bd. 1–3. Bonn 1917–1920. Lit.: Magnus Hirschfeld, Leben und Werk. Ausstellungskatalog der MagnusHirschfeld-Gesellschaft. Berlin: Verlag Rosa Winkel 1985; Herzer, Manfred: Magnus
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Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. Frankfurt: Campus 1992. 189, Z. 34: Ovid (Publius Ovidius Naso) (43 v. Chr. – 18 n. Chr.): Zunächst Jurist, dann Dichter, der vom Kaiser Augustus angeblich wegen seiner »Ars amatoria« verbannt wurde – in Wirklichkeit aber wohl wegen der Nachfolgestreitigkeiten um Augustus. Die »Metamorphosen« – als poetisches Prinzip der Schöpfungsveränderung – erzählen in 15 Büchern die Weltgeschichte vom Chaos bis zur Apotheose des Julius Cäsar und verbinden Dichtung, Didaktik, Epos, stoische und pythagoreische Lehre. Lit.: Fränkel, A.: Ovid, a Poet between two Worlds. Berkeley 1945. 190, A.*: Moll, Albert (1862 Lissa – 1939 Berlin): Prof., Neurologe und Sexologe, gehörte zu den »Klassikern« der Sexualpathologie, beschäftigte sich mit Hypnotismus und dem Unbewussten, gehörte im weiteren Sinn zur psychiatrischen »Schule von Nancy« (Hypnosetherapie von Liébeault, Bernheim). Auf ihn geht ein erweiterter Begriff von »Libido« als »Sexualtrieb im evolutionären Sinn« zurück (1897/98). Er führte Dessoirs (s. Komm. zu S. 111, Z. 23) Gedanken über zwei Evolutionsstufen des Sexualtriebs (undifferenzierte, differenzierte) weiter. Er bekämpfte Hirschfelds Theorie der Homosexualität (s. Komm. zu S. 189, Z. 22) und war ein scharfer Gegner Freuds. 1926 organisierte er in Berlin den Internat. Kongress für Sexualforschung (auf dem auch Adler ein Referat hielt). Werke: Der Hypnotismus. Berlin: Kornfeld 1889; Die conträre Sexualempfindung. Berlin: Kornfeld 1891; Untersuchungen über die Libido Sexualis. Berlin: Kornfeld 1897/98. Lit.: Ellenberger 1973; Sulloway 1982. 192, Z. 29: Janet, Suggestibilität: Vgl. Komm. zu S. 40, Z. 5. 192, Z. 29: Strümpell: Siehe Komm. zu S. 49, Z. 35. 192, Z. 29: Raimann, Emil (1872 Troppau/Österr. Schlesien – 1948 Wien): 1905 Privdoz. für Psychiatrie und Neurologie; seit 1909 Redakteur der »Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie« als Organ des »Wiener Vereins für Psychiatrie und Neurologie« und einzige österr. Fachzeitschrift. 1913–34 ao. Prof., ständiger Korreferent für psychiatrische Fakultätsgutachten; 1920 im Kriegsverbrecherprozess gegen J. Wagner-Jauregg 2. Sachverständiger des Gerichts neben S. Freud; bereits seit 1904 heftiger, bisweilen ambivalenter Gegner der Psychoanalyse Freuds. Werke: Die hysterischen Geistesstörungen. Eine klinische Studie. Leipzig–Wien 1904; Zur Psychoanalyse. Berlin–Wien 1924. Lit.: Eissler, Kurt Rudolf: Freud und Wagner-Jauregg vor der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen. Wien 1979, 60f., 74f., 80–84, 277–280. 193, Z. 15: Bleuler, ambivalente Züge: Siehe Komm. zu S. 39, A. 2.
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Zum 3. Kapitel 195, Z. 17: Simmel, Georg (1858 Berlin – 1918 Straßburg): Bedeutender deutscher Soziologe, ab 1914 Prof. in Straßburg; arbeitete über Kunstgeschichte, Erkenntniskritik und Geschichtswissenschaft. Werke: Über soziale Differenzierung: soziologische und psychologische Untersuchungen (1890). Berlin: Duncker & Humblot 1910; Die Probleme der Geschichtsphilosophie: eine erkenntnistheoretische Studie (1892). Duncker & Humblot 1923; Philosophie des Geldes (1900). Berlin: Duncker & Humblot 1958; Philosophische Kultur (1911): Gesammelte Essays. Potsdam: Kiepenheuer 1923; Grundfragen der Soziologie (1917). Berlin: De Gruyter 1920; Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel (1918). Berlin: Duncker & Humblot 1922; Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908). Berlin: De Gruyter 1964. Lit.: Kitagawa, S.: Die Geschichtsphilosophie G. Simmels. 1982. 195, Z. 20: Schopenhauer: Vgl. Komm. zu S. 112, Z. 33. 195, Z. 20: Strindberg, August (1849–1912 Stockholm): Sein Werk »Nach Damaskus« bietet z. B. ein – wenn auch noch leise widerstrebendes – Anerkennen der Überlegenheit der Frau. Außerdem naturalistische Romanwerke zum Thema der Frau: Fräulein Julie, Heiraten, Zwölf Ehegeschichten, Die Kronbraut, Die Beichte eines Toren, Die Stärkere, Der Sohn einer Magd. Werke: Kloster/Einsam (Autobiografie). München: DTV 1969. Lit.: Freschl, Robert: Eine psychologische Analyse (August Strindbergs »Corinna« aus »Heiraten«). ZfIP 1 (4), 1914, 21–26; Schulhof, Hedwig: Zur Psychologie Strindbergs. IZfIP 2 (2), 1923, 20–25; Kindler Bd. 16, 1991, 79–127. 195, Z. 21: Moebius, Paul Julius (1853–1907 Leipzig): Studium der Theologie und Philosophie, dann der Medizin; 1883–86 Assistent der Neurologischen Abt. der Univ.-Poliklinik Leipzig unter A. Strümpell. Später Leitung der Nervenpoliklinik des Albertvereins, 1883 Privdoz. für Neurologie Leipzig, 1893 wegen akademischer Nichtbeförderung wieder niedergelegt. 1886–1907 Hg. von »Schmidts Jahrbücher der in- und ausländischen gesamten Medizin«; befasste sich – von Charcot und Magnan angeregt – bes. mit funktionellen Nervenkrankheiten (Hysterie, Neurasthenie, Migräne), mit körperlichen und geistigen Geschlechtsunterschieden, sowie mit philos. und literaturhistorischen Themen (»Pathografien«, die das Denken eines Schriftstellers durch das Erbgut, die Konstitution und die Lebensgeschichte erklären sollten). Adler bezieht sich auf die berüchtigte Schrift »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« (1900). Werke: Die Nervosität. Leipzig 1882; Allgemeine Diagnostik der Nervenkrankheiten. Leipzig 1886 (2. Aufl. 1894); Abriß der Lehre von den Nervenkrankheiten. Leipzig 1893; Über Schopenhauer. Leipzig: Barth 1899; Beiträge zur Lehre von den Geschlechts-Unterschieden (Heft 1–8). Halle 1903–04; Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (Sammlung zwangloser Abhandlungen auf dem Gebiete
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der Nerven- und Geisteskrankheiten Bd. 3, Heft 3). Halle 1900 (9. Aufl. 1908, Nachdr. München: Matthes & Seitz 1977). Lit.: Ellenberger 1973. 195, Z. 21: Weininger: Siehe Komm. zu S. 112, Z. 32. 195, Z. 22: Disputationen der Kirchenlehrer, ob das Weib eine Seele habe: Es findet sich beispielsweise eine theologisch-»antifeministische« Typologie wie: Adam gleich Seele, Eva gleich Leib, bei Ambrosius. Oder bei Thomas von Aquin die Auffassung, die Frau sei ein »verstümmelter, verfehlter Mann«, was auf Aristoteles zurückgeht. Lit.: Mitterer, A.: Mann und Weib nach dem biologischen Weltbild des hl. Thomas von Aquin und dem der Gegenwart. Zschr. f. Kath. Theologie 57, 1933; Müller, M.: Die Lehre des hl. Augustinus von der Paradiesehe und ihre Auswirkung in der Sexualethik des 12. und 13. Jahrhunderts bis Thomas von Aquin. München 1954. 195, Z. 23: »Hexenhammer – Malleus Maleficarum«: Zusammenfassendes Werk über das Hexenwesen von den Dominikanern Heinrich Institoris (um 1430–1505) und Jakob Sprenger (1436/38 – nach 1494), erschienen 1487. Das Werk mit zahlreichen Auflagen diente bis zum Ende des 17. Jh.s als theologisch-juristische Grundlage der Hexenverfolgungen. 196, Z. 18: Bloch, Iwan (1872 Delmenhorst – 1922 Berlin): Dr. med., Sexologe in Berlin, Mitbegründer der Sexualwissenschaft, Vorkämpfer für Sexualreform, 1913 Gründungsmitglied (neben Haeckel, Fliess, Hirschfeld, Eulenburg) der »Berliner Ärztl. Ges. für Sexualwissenschaft und Eugenik«. Freundschaft mit M. Hirschfeld (s. Komm. zu S. 221, Z. 27), Kontakt zur Berliner Psychoanalytischen Vereinigung. In seinen »Beiträgen« vertritt er einen anthropologischen Ansatz; er lehnte innerhalb der Sexualwissenschaft die Lehre von der Degeneration ab. Werke: Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sexualis. 2 Bde. Dresden: Dohrn 1902–1903; Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur. Berlin: Louis Marcus 1906. Lit.: Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld. Frankfurt: Campus 1992; Sulloway 1982; Wettley, Annemarie: Von der »Psychopathia sexualis« zur Sexualwissenschaft. Stuttgart: Enke 1959. 196, A.*: Eulenburg, Albert (1840–1917): 1866 Privdoz. für Nervenheilkunde Berlin, 1874–82 o. Prof. für Pharmakologie in Greifswald, 1900 ao. Prof., 1895–1917 mit Julius Schwalbe Hg. »Deutsche medizinische Wochenschrift«, 1914–17 mit Iwan Bloch Hg. »Zeitschrift für Sexualwissenschaft«. Werke: Lehrbuch der funktionellen Nervenkrankheiten auf psychologischer Basis. Berlin 1871 (2. Aufl. 1878); Hg. Realenzyklopädie der gesamten Heilkunde, 15 Bde. 1880–83 (4. Aufl. 26 Bde. 1907–14); Sexuale Neuropathie, Genitale Neurosen und Neuropsychosen der Männer und Frauen. Leipzig 1895; Sadismus und Masochismus (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens Heft 19). Wiesbaden
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1902; Moralität und Sexualität. Sexualethische Streifzüge im Gebiete der neueren Philosophie und Ethik. Bonn 1916. 196, A.*: Algolagnie: Schmerzlüsternheit (aus algos = Schmerz; lagneia = Wollust); 1892 von Schrenck-Notzing als gemeinsame Bezeichnung für Sadismus und Masochismus aufgestellter Terminus; von A. Eulenburg, Havelock Ellis und Iwan Bloch übernommen, von Krafft-Ebing abgelehnt. 196, A.*: Schrenck-Notzing, Albert Freiherr von (1862 Oldenburg – 1929 München): seit 1889 praktischer Arzt in München, erster Psychotherapeut Süddeutschlands. Beschäftigung mit med. Psychologie, Kriminalpsychologie, Hypnotismus, okkulten Erscheinungen, Telepathie, Hellsehen, Handlesekunst und Telekinese; war die führende Persönlichkeit der deutschen Parapsychologie seiner Zeit. Werke: Die Suggestions-Therapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes, mit bes. Brücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Stuttgart 1892 (engl. Philadelphia–London 1895); Kriminalpsychologische und psychopathologische Studien. Leipzig 1902; Der Kampf um die Materialisationsphänomene. München 1914. 197, Z. 2: Narzissismus (üblicherweise Narzissmus): Betrachtung des eigenen nackten Körpers mit wollüstigen Vorstellungen; von Naecke und Krafft-Ebing unabhängig von der spezifischen Verwendung bei S. Freud als Selbstliebe mit oder ohne sexuelle Selbsterregung definiert. Benannt nach Narcissus, in der griech. Mythologie Sohn des Céphisus und der Liríope, schöner Jüngling, der sich in sein vom Bachwasser widergespiegeltes Bild verliebte. Lit.: Guttmann, Walter: Medizinische Terminologie. Berlin-Wien, 8. Aufl. 1917, 865 (noch nicht in der 1. Aufl. 1902); Lehmkuhl, G. u. U.: Art. »Narzißmus«. In: Brunner/Titze (Hg.) 1995, 345–348. 197, Z. 2: Naecke, Paul (1851 St. Petersburg – 1913 Colditz/Sachsen): 1889–1912 ärztl. Vorstand der Anstalt für geisteskranke Männer in Hubertusburg/Sachsen, 1912 zum Direktor der Pflege-Anstalt in Colditz ernannt; starke Orientierung an franz. und ital. Psychiatrie; zeigte ein großes Maß von allgemeinen Interessen auf nicht-psychiatrischen, bes. kulturellen und künstlerischen Gebieten. Er nahm ein bilateral im Gehirn bestehendes männliches und weibliches Zentrum für die Libido an, von dem in der normalen Entwicklung der eine Teil verloren gehe. Er lehnte eine psychogene und eine Entartungstheorie für die Homosexualität ab. 1899 führte er (nach Havelock Ellis 1898) den Ausdruck »Narzissmus« ein, bezog ihn auf bestimmte Formen der Perversion. N. schrieb u. a. positive Rezensionen über Freuds »Traumdeutung« (1901) und »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1906). Werke: Verbrechen und Wahnsinn beim Weibe. Leipzig–Wien 1894; Kritisches zum Kapitel der normalen und pathologischen Sexualität. Arch. f. Psychiatrie 32, 1899, 356–386; Die gerichtliche Medizin und die Homosexualität. Arch. f. Psychiatrie. Bd. 53; Die Unterbringung geisteskranker Verbrecher. Halle 1902; Über die
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sogenannte Moral insanity (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens Heft 18). Wiesbaden 1902. Lit.: Ellenberger 1973; Friedländer, Erich: Naecke, Paul (1851–1913). In: Kirchhoff, Theodor (Hg.): Deutsche Irrenärzte. Bd. 2. Berlin 1924, 266–269; Sulloway 1982; Wettley, Annemarie: Von der »Psychopathia sexualis« zur Sexualwissenschaft. Stuttgart: Enke 1959. 198, Z. 13: Bleuler: Siehe Komm. zu S. 39, A. 2 202, Z. 19 Baschkirzewa (Bashkirtseff ), Marie (1860 Gawronzi – 1884 Paris): Führte ab dem 14. Lebensjahr bis zu ihrem Tod ein Tagebuch, z. T. veröffentlicht als »Journal« (Paris 1912) bzw. »Cahiers intimes« (4 Bde. Paris 1925), das durch Auslassungen sexueller Themen dem damaligen Modellbild der Frau angepasst wurde. Lit.: Barres, Maurice: Trois essais de psychothérapie. Paris 1891. 202, Z. 20: Racowitza, Helene von (geb. von Dönniges) (1843 Berlin – 1911 München): Schriftstellerin, Schauspielerin. Siehe Meine Beziehungen zu Ferdinand Lassalle. Breslau: Schottlaender, 4. Aufl. 1879; R., H. (Frau v. Schewitsch): Von Anderen und mir. Erinnerungen aller Art. Berlin: Paetel 1909. 203, Z. 3: Meschede, Franz (1832–1909): 1856 Dr. med., Greifswald, 1857–73 Ausbildung an der Irrenanstalt in Schwetz/Westpreußen, 1873 Direktor der städtischen Krankenanstalt in Königsberg, 1875 Privdoz. für Psychiatrie in Königsberg, 1892–1903 Direktor der neugeschaffenen Psychiatrischen Univ.-Klinik in Königsberg. 203, Z. 13: Fliess: Siehe Komm. zu S. 112, Z. 32. 206, Z. 14: Pfister, Oskar Robert (1873 Wiedikon – 1956 Zürich): Theologe und Psychoanalytiker, bis 1939 protestantischer Pfarrer in Zürich, seit 1909 mit S. Freud in Briefkontakt und bis zum Tode Freuds mit diesem befreundet. 206, Z. 19: γος griech. Ort der Versammlung, Marktplatz. 209, Z. A.*: Furtmüller, Carl (1880 Wien – 1951 Mariapfarr/Salzburg): Dr. phil., Gymnasiallehrer für Deutsch, Philosophie und Französisch. Bekannt mit Adler durch den »Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein«. Durch Adlers Vermittlung ab 1909 in der Mittwochsgesellschaft, Austritt mit Adler 1911, fortan wichtigster Mitarbeiter Adlers. In den 20er Jahren führend in der Schulreform im Ministerium und Stadtschulrat, 1934 seines Amtes enthoben, 1939 Emigration Paris, Spanien, USA. 1947 Rückkehr nach Wien, 1948 Direktor des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien. Werke: Über den Schülerselbstmord. In: Diskussionen des Wiener Psychoanalytischen Vereins. Heft 1. 1910, auch HuB 1914 (Nachdr. 1983); Psychoanalyse und Ethik. Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung. Heft 1. München: Reinhardt 1912 (Nachdr. 1983); Alfred Adlers Werdegang. 1946 (Nachdr. 1983). Lit.: Furtmüller, Lux: Carl Furtmüller. Ein Lebenslauf. In: ders. (Hg.): Denken und Handeln. Schriften zur Psychologie 1905–1950. München: Reinhardt 1983; Mühlleitner 1992. 209, Z. 27: principiis obsta: Meist übersetzt: »Wehre den Anfängen!« Ovid: »Remedia
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amoris [Heilmittel gegen die Liebe]«, Vers 91: »principiis obsta sero medicina paratur. [Sträube dich gleich zu Beginn, die Arznei wird zu spät bereitet.]« 211, Z. 10: Revenuen: franz. revenu: Einkommen, Kapitalrente. 211, Z. 24: Grüner, Gustav (1884 Neunkirchen/Niederösterr. – 1941 Überfahrt nach New York): Philosophiestudent, Kunst- und Literaturliebhaber, Oberbeamter, Schriftsteller. G. wurde als Student 1910 in die Mittwochsgesellschaft aufgenommen, verließ diese 1911 mit Adler und gehörte nun zu den Gründungsmitgliedern der IP (den gleichen Weg ging sein Bruder Franz). Die Idee der »Mutterleibsfantasien« wird als sein Gedankenspiel bei Paul Klemperer genannt. Lit.: Handlbauer 1984; Mühlleitner 1992.
Zum 4. Kapitel 217, Z. 32: Sand, George (1804 Paris – 1876 Nohant): Künstlername für Aurore Dupin; führte ein sehr freies, von Skandalen und Liebesaffären durchzogenes Leben, bis sie in einem reichen Romanschaffen den Ausdruck ihres Denkens und ihrer Gefühle fand. Bes. ihre erste Schaffensperiode 1832–40 birgt feministische Ansprüche gegen soziale Vorurteile (Indiana, Lelio, Mauprat). Es folgt eine humanistisch-sozialistische Phase, dann demokratischer Regionalismus sowie romanhafte Idylle. Praktizierte an ihrem Lebensende Nächstenliebe und Wohltätigkeit. Bekanntschaften mit den Großen ihrer Zeit wie Musset, Chopin, Leroux, Flaubert. Werke: Œuvres autobiographiques. 2 Bde. (éd. Pléiade). Paris: Gallimard 1971; Einzelwerke Paris: Garnier 1959ff. Lit.: Salomon, P.: George Sand. Meylan: Aurore 1948. 219, Z. 27: Strümpell: Siehe Komm. zu S. 58, Z. 12. 219, Z. 28: exsudative Diathese: Siehe Komm. zu S. 49, Z. 35. 222, A. 47: Odysseus bei Kirke bzw. den Sirenen: Vgl. Homer, Odyssee 12, 17ff. u. 47ff. 229, Z. 27: Nietzsche, Wille zum Schein: Vgl. Komm. zu S. 41, Z. 16. 231, Z. 16: Kipling, Rudyard (1865–1936): Engl. Erzähler von »Kim«, »Das Dschungelbuch«, »Staaks und Genossen«; Autor der Novellen »Sie«, »Das Wunschhaus«. 231, Z. 23: Grüner: Siehe Komm. zu S. 212, Z. 24. 231, A. 97: pars pro toto: Rhetorische Figur: einen Teil zur Bezeichnung des Ganzen setzen. 232, Z. 17: Jones: Siehe Komm. zu S. 189, Z. 7. 232, Z. 19: Saul: Vgl. zu seiner Kindheitsgeschichte im Alten Testament 1 Samuel 9, 1ff., wonach er dem Propheten Samuel begegnete und zum König gesalbt wird. 232, Z. 19: Claudius: Römischer Kaiser 41–54 n. Chr. Er wird von seiner Gattin Agrippina ermordet, um ihren Sohn Nero auf den Thron zu bringen. 232, A.100: Jolowicz, Ernst (1882 Posen – nach 1950): ca. 1922–35 Nervenarzt und Psychotherapeut in Leipzig, um 1935–36 emigriert, später Psychotherapeut in den USA.
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Werke: Kriegsneurosen im Felde. Zschr. ges. Neurol. 36, 1917, 46–53; Die Persönlichkeitsanalyse. Eine vorbereitende Methode für jede Psychotherapie. Leipzig 1926; Suggestion therapy. London 1931; Praktische Psychotherapie. Zürich 1935. 232, A.100: Oppenheim, Hermann (1858 Warburg/Westfalen – 1919 Berlin): Neurologe; 1886 Privdoz. für Neurologie in Berlin; legte 1898 die Dozentur u. a. wegen der Aussichtslosigkeit einer akademischen Karriere für Juden nieder. Vertreter einer strikt organneurologischen Interpretation der »traumatischen Neurosen«, die lange Zeit die Entschädigungspraxis des Reichsversicherungsamtes und der Unfallversicherung zugunsten der Patienten bestimmte. In der Debatte über die Kriegsneurosen des Ersten Weltkrieges 1916/17 von Max Nonne und Robert Gaupp unter taktischer Verwendung psychodynamischer Argumente und instrumentalisierendem Rückgriff auf die Psychoanalyse entscheidend geschlagen. Werke: Die traumatischen Neurosen. Berlin 1889; Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 2 Bde. Berlin 1894 (7. Aufl. 1923); Nervenkrankheit und Lektüre. Berlin 1906 (3. Aufl. 1909); Psychotherapeutische Briefe. Berlin 1906 (3. Aufl. 1910); Die Neurosen infolge Kriegsverletzungen. Berlin 1916; Stand und Lehre von Kriegs- und Unfallneurosen. Berlin 1918. Lit.: Riese, Walther (Hg.): Die Unfallneurose als Problem der Gegenwartsmedizin. Stuttgart–Leipzig–Zürich 1929; Fischer-Homberger, Esther: Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden. Bern–Stuttgart–Wien 1975; Schmiedebach, Heinz-Peter: Die »Traumatische Neurose« – Soziale Versicherung und der Griff der Psychiatrie nach dem Unfallpatienten. Kolloquium zum 100. Geburtstag von Henry Ernest Sigerist (1891–1957). In: Hubenstorf, Michael u. a. (Hg.): Medizingeschichte und Gesellschaftskritik. Festschrift für Gerhard Baader zum 65. Geburtstag. Frankfurt/M. 1996. 233, Z. 23: Lipps, Einfühlung: Siehe Komm. zu S. 178, Z. 7. 233, Z. 29: Kant, Kategorischer Imperativ: Es gibt mehrere Formulierungen desselben, so z. B. in »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785), II: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte« (Akademie Textausgabe IV [1968], 421). Lit.: Vaihinger 1911, 650ff.; Horster 1984, 53ff. 234, Z. 18: Reich: Siehe Komm. zu S. 52, A.* 234, Z. 19: Demosthenes (384–322 v. Chr.): Trat zuerst als Prozessredner, dann als politischer Redner für die griech. Autonomie gegen Philipp II. von Makedonien auf. Mehr als formale Vollkommenheit bestimmt sein hinreißend patriotisches Pathos seine ca. 60 überlieferten Reden. Werke: Rede für Ktesiphon über den Kranz (Hg. W. Zürcher). 1933. 234, Z. 21: Schumann: Siehe Komm. zu S. 173, Z. 16. 234, Z. 22: Freytag, Gustav (1816 Kreuzburg/Schlesien – 1895 Wiesbaden): Kulturhistoriker und realistischer Schriftsteller i. S. bürgerlichen Standesbewusstseins und bürgerlicher Tugenden.
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Werke: GW Leipzig: Hirzel 1896; Die Journalisten. 1853; Die verlorene Handschrift. 1864; Die Bilder aus der deutschen Vergangenheit. 1867; Erinnerungen aus meinem Leben (GW Bd. 1). 1887; Soll und Haben. 5 Bde. 1855; Die Ahnen. 6 Bde. 1872. Siehe Komm. zu S. 99, Z. 21 Lit.: Kindler Bd. 5, 1989, 818–823. 237 A. 143: Moll: Siehe Komm. zu S. 190, A.*. 238, A. 150: »Das ewig Weibliche zieht uns hinan.«: Schlussworte aus Goethes »Faust II« (1831).
Zum 5. Kapitel 240, A.*: Wagner von Jauregg: Siehe Komm. zu S. 32, Z. 21. 241, Z. 19: La Rochefoucauld: Siehe Komm. zu S. 133, Z. 1. 241, A. 12: Swift, Jonathan (1667–1745 Dublin): Seine »Gulliver«-Satiren bilden eine Ironie der Geschichte als Kinderbuch. In ähnlicher Weise: Stella (1713); Erzählung von einem Traume. Zur allgemeinen Besserung der Menschheitsgeschichte (1696). Lit.: Kindler Bd. 16, 1991, 220–232. 243, Z. 15: Lombroso: Siehe Komm. zu S. 58, Z. 8. 243, Z. 15: Ferrero, Guglielmo: Verschiedene gemeinsame Veröffentlichungen mit Lombroso, so z. B. La Donna delinquente. La Prostituta e la donna normale. Turin: Roux 1893 (dt. Übers. Die Frau als Prostituierte und Verbrecherin. 1894). Lit.: Sulloway 1982. 243, Z. 15: Stekel, Wilhelm (1868 Bojan/Bukowina – 1940 London, Selbstmord): Dr. med., Nervenarzt, Journalist in Wien. Er gehört zu den vier Gründungsmitgliedern der Mittwochsgesellschaft 1902 (neben Adler, Kahane und Reitler). Differenzen mit Freud seit 1908 bis zu seinem Austritt 1912. Er unterstützte häufig Adler, war mit ihm stellvertretender Obmann, gab mit ihm (bis 1914) das »Zentralblatt« heraus. Emigration 1938. Er arbeitete bes. über Träume und Symbole. Werke: Dichtung und Neurose. Wiesbaden 1909; Die Sprache des Traumes. Wiesbaden 1911; Störungen des Trieb- und Affektlebens. 10 Bde. Berlin–Wien 1908–1928; The Autobiography of Wilhelm Stekel (Hg. Emil Gutheil). New York 1950. Lit: Frischenschläger, Oskar (Hg.): Wien, wo sonst? Die Entstehung der Psychoanalyse und ihrer Schulen. Wien–Köln–Weimar: Böhlau 1994; Mühlleitner 1992. 243, A.*: Jassny, A., Das Weib als Verbrecher: Vgl. die Literaturangabe im Komm. zu S. 175, Z. 4; der Titel und die Zeitschriftenangabe hier sind offenbar falsch. 244, A. 42: Nietzsche, Gewissensbisse sind unanständig: Vgl. Komm. zu S. 61, A. 85.
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Zum 6. Kapitel 247, Z. 35: Preuss, Konrad Theodor (1869 Eylan – 1938 Berlin): Direktor am Museum für Völkerkunde und Prof. in Berlin. Vertrat wie R. R. Marett und E. B. Tylor die ethnologische Religionswissenschaft, die soziologisch von E. Durkheim und psychologisch durch W. Wundt erweitert wurde. Im archaischen Hochgottglauben sah er einen Ausdruck des »Ganzheitsempfindens« des »primitiven« Denkens. Werke: Die geistige Kultur der Naturvölker. Leipzig, 2. Aufl. 1923; Glaube und Mystik im Schatten des höchsten Wesens. Leipzig 1926; Die Feuergötter als Ausgangspunkt zum Verständnis der mexikanischen Religion in ihrem Zusammenhange (mit 98 Textabbildungen). In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. Bd. 33. Wien: Hölder 1903, 129–233; Zitat S. 132–138: Der Feuergott als Gott des Erdinnern und der Toten (Kap. II). Lit.: Lehmann, F. R.: K. Th. Preuss. Zeitschrift für Ethnologie 71, 1939. 248, Z. 27: Groos: Siehe Komm. zu S. 77, Z. 15. 248, A.*: Oppenheim, David Ernst (1881 Brünn – 1943 Getto Theresienstadt): Dr. phil., Gymnasialprof. für Griechisch, Latein; Interesse für antike Geschichte und Mythologie. Aufnahme in die Mittwochsgesellschaft 1910, Austritt mit Adler 1911, dort Gründungsmitglied, zeitweise Vorstandsmitglied des Individualpsychologischen Vereins. Werke: Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. In: Diskussionen des Wiener psychoanalytischen Vereins. Heft 1. 1910 u. HuB 1914, 1922; zahlreiche Aufsätze in der IZfIP zwischen 1923–1930. Lit.: Handlbauer 1990; Mühlleitner 1992; Lehmkuhl/Gröner 1994. 249, A. 8: Kramer, Josef: Vgl. Kindliche Fantasien über Berufswahl. HuB 1914, 1922, 1973, 163–178. K. gehörte 1912 zum Vorstand des Adler’schen Vereins. 250, A.*: Burgkmaier, Hans (1473–1531 Augsburg), Hans Baldung Grien (1484/85 Schwäb. Gmünd[?] – 1545 Straßburg) und Albrecht Dürer (1471–1528 Nürnberg): Deutsche Renaissancemaler der »Dürerzeit« in ihrer Auseinandersetzung mit der Antike. 251, A.*: Joel, Karl (1864 Hirschberg i. Schl. – 1934 Wallenstadt, Schweiz): Prof. für 251 in Basel; gehört im Anschluss an Schelling zum Neuidealismus und versuchte in einer »organischen Weltauffassung« die Einheit von Leben und Denken zu begründen. Werke: Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik. Berlin 1903; Seele und Welt. Versuch einer organischen Auffassung. Basel 1912; Zur Geschichte der Zahlprinzipien in der griechischen Philosophie. Monismus und Antithetik bei den älteren Ioniern und Pythagoreern. Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik NF 97, 1890, 161–228; Zitat sinngemäß S. 194f. mit Bezug auf Gegensatzlehre der Pythagoreer. 251, A. 23: Aut Caesar aut nihil: »Entweder Cäsar oder Nichts« war der Wahlspruch des
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Cesare Borgia (1475–1507), den Machiavelli in seiner Schrift »Der Fürst« als Vorbild eines Staatsmannes hinstellte. 253, A.*: Marholm, Laura (1854 Riga – 1928): Sie zeichnete in ihren Büchern die archetypische Figur der Frau als bloßes Sexualobjekt. Werke: Zur Psychologie der Frau. 2 Bde. Berlin: Duncker 1897, 1903. Lit.: Ellenberger 1973. 254, Z. 8: Joel: Siehe Komm. zu S. 251, A.*. 254, Z. 10: Plato, männliche und weibliche Hälfte: Vgl. außer dem Mythos, den Aristophanes in Platons »Symposion« 189d–193d berichtet, auch den Dialog »Timaios« 91a–d zur Erschaffung von Mann und Frau: »Unter den als Männern Geborenen verwandelten sich alle, die Feiglinge waren und ihr Leben ungerecht zubrachten, der Wahrscheinlichkeit nach bei ihrer zweiten Geburt in Frauen. Und um jene Zeit nun entwickelten die Götter deshalb den Trieb zur Vereinigung, indem sie ein beseeltes Lebewesen in uns, das andere in den Frauen gestalteten.« Werke: Werke griechisch und deutsch. Bd. 3. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1974, S. 264–283; Bd. 7, ebd. 1972, S. 205. Lit.: Robin, Léon: La théorie platonicienne de l’amour. Paris: P.U.F. 1964. 254, Z. 11: Kant, Befreiung aus den Fängen der selbstgeschaffenen Fiktion: Vgl. auch Komm. zu S. 82, Z. 22. Durch seine philos. Kritik wollte K. im Sinne der Aufklärung die Menschen von ihrer »selbstverschuldeten Unmündigkeit« befreien und durch die Kopernikanische Wende zum Subjekt hin dessen transzendentale Weltkonstitution bewusst machen. Jeder soll sich »seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen«. Das »freie Räsonieren« als öffentlicher Vernunftgebrauch ist dabei maßgeblich, während institutionell in Beruf, Staat, Kirche etc. der »Privatgebrauch« der Vernunft im eingeschränkten Sinne herrscht. Werke: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). Ges. Schriften 8 (Akademie Ausgabe). Berlin: De Gruyter 1968. Lit.: Cassirer, Ernst: Philosophie der Aufklärung. Berlin 1932; Horster 1984, 18ff. 255, A.*: Berger, Alfred Freiherr von (1853–1912 Wien): Ab 1909 Direktor des Burgtheaters; schrieb Gedichte, Erzählungen und philos. Studien. 255, A.*: Dostojewski, Fjodor Michajlovitsch (1821–1881 Petersburg): Lebte ab 1844 als Schriftsteller. 1849 zum Tode verurteilt; im Augenblick der Hinrichtung zur Deportation nach Sibirien bis 1859 begnadigt, wo die Bibel seine einzige Stütze war. Danach erschienen jene Werke, die sein literarisches und religiös-geistiges Genie ausmachen: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864), Schuld und Sühne (1866), Der Idiot (1868), Die Brüder Karamasow (1879–80). Werke: Sämtliche Werke. München: Piper 1921; GW Frankfurt/M: Fischer-Taschenbuch o.J.; Aus dem Tagebuch eines Schriftstellers. Reinbek: Rowohlt 1962. Lit.: Lauth, R. (Hg.): Die Philosophie Dostojewskis. München 1950; Rattner, Josef: Alfred Adler zu Ehren. Zu seinem 50. Todesjahr. Jb. f. versteh. Tiefenpsychol. u. Kulturanal. Bd. 6/7, 1986/87, 65–83: Alfred Adler und F. M. Dostojewski (Lit.).
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256, A. 60: Herder, Johann Gottfried (1744 Mohrungen – 1803 Weimar): Kant-Schüler, Lehrer in Riga, Reisebegleiter von Adeligen, Generalintendant in Weimar; Freundschaften mit Hamann, Diderot, Goethe. Am Lebensende Kant-Kritiker, um einseitigen Rationalismus der Aufklärung durch eine empathische Hermeneutik der Menschheits- und Völkergeschichte zu ergänzen. Werke: Sämtliche Werke. 33 Bde. Hildesheim: Olms 1967–1968; Werke. 10 Bde. Frankfurt/M: Deutscher Klassiker Verlag 1988. Lit.: Lehwalder, H.: Herders Lehre vom Empfinden. Kiel 1954; Baur, E.: J. G. Herder, Leben und Werk. Stuttgart 1960; Kindler Bd. 7, 1990, 706–728. 258, A.*: Bergson: Vgl. auch Komm. zu S. 82, A.*. Das Gleiche jeder Bewegung ist dem »Lebensschwung« (élan de vie) eigen, der aller lebendigen Entwicklung zugrunde liegt und zugleich Ursache der Vielfalten und Varietät ist. Werke: La Pensée et le Mouvant. Essais et Conférences (1934). In: Œuvres (éd. du Centenaire). Paris: P.U.F. 1970, 1249– 1458; Denken und schöpferisches Werden. Meisenheim: Hain 1948. Lit.: Strecker, Paul: Henri Bergsons Philosophie der Persönlichkeit (Schriften des Vereins für Individualpsychologie. Heft 3). München: Reinhardt 1912.
Zum 7. Kapitel 264, A. 2: Furtmüller, Aline (1883 Wien – 1941 USA): Dr. phil., Ehefrau von Carl Furtmüller (s. Komm. zu S. 244, A.*), geb. Klatschko, Tochter eines bedeutenden sozialistischen, russischen Emigranten, im Roten Wien Gemeinderätin und Pädagogin; Emigration 1939. 264, A. 2: Der Kampf der Geschwister. HuB 1914. 265, Z. 17: Jakob und Esau: Nach Buch Genesis 27, 1–40 im Alten Testament holte sich der jüngere Sohn Jakob mit List den Erstgeburtssegen von seinem Vater Isaak und verfeindete sich so mit seinem älteren Bruder Esau. 268, Z. 20: Czerny: Siehe Komm. zu S. 49, Z. 34. 268, Z. 21: exsudative Diathese: Siehe Komm. zu S. 49, Z. 36. 268, Z. 22: Strümpell: Siehe Komm. zu S. 49, Z. 35 268, Z. 22: Strümpells Asthmatheorie ist formuliert in A. Strümpell: Ueber das Asthma bronchiale und seine Beziehungen zur sogenannten exsudativen Diathese. Med. Klin. 6, 1910, 889–894; Die Pathologie und Therapie des Asthma bronchiale. Mitt. Ges. physik. Med. 3, 1910, 16–29. 272, Z. 38: Groos: Siehe Komm. zu S. S. 77, Z. 15. 319, Z. 8: Marcinowski, Johann Jaroslaw (1868 Breslau – 1935 Tübingen): Psychotherapeut bzw. Spezialarzt für physikalisch-diätetische Therapie; ab 1907 Besitzer des Sanatoriums Haus Sielbeck, Spezialanstalt für psychische Behandlung nervöser Zustände, in Sielbeck am Ukleisee, Holsteinische Schweiz; 1910 Mitglied der Ber-
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Über den nervösen Charakter liner Ortsgruppe der Internat. Psychoanalytischen Vereinigung. Ab 1930 Privatklinik Dr. Marcinowski in Waldhausen-Tübingen; 1924 mit Gustav Richard Heyer, Johannes Heinrich Schultz und Fritz Mohr Beteiligung an der Schriftenreihe »Der nervöse Mensch« von Hans von Hattingberg. Werke: Im Kampf um gesunde Nerven. Ein Wegweiser zum Verständnis und Heilung nervöser Zustände. Berlin 1904 (5. Aufl. 1924); Nervosität und Weltanschauung. Studien zur seelischen Behandlung Nervöser, nebst einer kurzen Theorie vom Wollen und Können. Berlin 1905 (3. Aufl. 1921); Der Mut zu sich selbst. Das Seelenleben des Nervösen und seine Heilung. Berlin 1912; Ärztl. Erziehungskunst und Charakterbildung. Die sittlichenden Werte der psycho-analytischen Behandlung nervöser Zustände. München 1916; Neue Bahnen zur Heilung nervöser Verstimmungen. Berlin 1916 (2. Aufl. 1925); Probleme und Praxis der geschlechtlichen Aufklärung, Die Gefühlszerrissenheit der neurotischen Psyche, Minderwertigkeitsgefühle, bzw. Schuldgefühle (Der Nervöse Mensch Bd. 8–11). Prien am Chiemsee 1924.
Zum 8. Kapitel 277, Z. 29: Plato, das Fehlende ergänzen: Siehe Komm. zu S. 254, Z. 10. 278, Z. 25: Wernicke, Carl (1848 Tarnowitz/Ob.-Schlesien – 1905 Thüringer Wald): Neurologe und Psychiater; 1890–1904 o. Prof. für Psychiatrie und Neurologie in Breslau, 1904 nach Halle berufen; 1874 Entdeckung der sensorischen Aphasie und Begründer der Aphasielehre. Werke: Der aphasische Symptomenkomplex. Breslau 1874; Über den wiss. Standpunkt in der Psychiatrie. Kassel 1880; Lehrbuch der Gehirnkrankheiten. 3 Bde. Kassel-Berlin 1881–83; Grundriß der Psychiatrie in klinischen Vorlesungen. Leipzig 1894 (2. Aufl. 1906). 278, Z. 29: Don Juan, Messalina: Siehe Komm. zu S. 172, Z. 22. 279, Z. 18: Cherchez la femme: »Sucht die Frau«, heißt es im Drama »Les Mohicans de Paris« (1864) von Alexandre Dumas dem Älteren. Ähnlich schon Juvenal, Satiren (6, 242f.): »Kaum gibt es einen Prozess, in dem nicht ein Weib den Streit veranlasst hätte.« 279, Z. 19: Baudelaire, Charles (1821 Paris – 1867 Paris): Literaturkritiker, Dichter und Übersetzer von Edgar Allan Poe. 1856 erschienen die »Fleurs du mal«, die ihm eine Verurteilung wegen »Immoralität« eintrugen. Franz. Romantik, Passion und Modernität prägen seine Ästhetik. Werke: Œuvres Complètes (éd. de la Pléiade). Paris: Gallimard 1961. Lit.: Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus (Ges. Schriften I/2). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, 509ff. 279, Z. 21: Evamythos: Vgl. Buch Genesis 2, 21ff. im Alten Testament die Erschaffung der Frau aus Adam und 3,1–24 den Sündenfall durch Eva und Adam.
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Lit.: Schubart, W.: Religion und Eros. München 1941 (mit religionsgeschichtl. Material); Auerbach, Erich: Mimesis. Die dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern: Francke, 4. Aufl. 1946, 139 – 166: Adam und Eva (Mysterienspiel des 12. Jahrhunderts). 279, Z. 22: Ilias: Vers-Epos Homers zu Beginn der abendländischen Dichtung vor etwa 3000 Jahren, worin der Kampf um Helena vor Troja und um diese Stadt selbst ein wichtiges Motiv ist. Lit.: Lesky, A.: Göttliche und menschliche Motivation im homerischen Epos. Heidelberg 1961. 279, Z. 22: 1001 Nacht (Alf laila walaila): Arabische Erzählsammlung mit über 300 Novellen, Märchen, Sagen, Anekdoten etc. Die indische Rahmengeschichte berichtet, dass der König der klugen Scheherezade das Leben schenkt, weil sie Nacht um Nacht hindurch die Erzählung weiterspinnt. Die vorherigen Frauen wurden jeweils am Morgen getötet, weil der König Rache an seiner Frau nehmen wollte, die ihn betrogen hatte. Werke: Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten (Hg. E. Littmann). Berlin 1921–1928. Lit.: Walther, W.: Tausendundeine Nacht. Eine Einführung. München: Arternis 1987. 279, Z. 26: δόϚ лόῦ στῶ: Komm. zu S. 70, Z. 10. 280, Z. 2: Schopenhauer: Vgl. auch Komm. zu S. 112, Z. 33 Zur Verneinung des Lebens bes. »Die Welt als Wille und Vorstellung« II, Kap. 43: Zur Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben (1980, 772ff.). Lit.: Vaughan, W. F.: The lure of superiority. New York: Holt 1928 (mit Bezug auf Adler); Spierling, Volker (Hg.): Schopenhauer im Denken der Gegenwart. 23 Beiträge zu seiner Aktualität. München: Piper 1987. 282, Z. 4: Grillparzer, Franz (1791 Wien – 1872 Wien): In seinen Dramen gewinnt der Verfallsprozess der tradierten Ordo-Vorstellung Österreichs und die Vorgeschichte der Wiener Moderne Gestalt. Er hat dies 1854 so formuliert: »Ich komme aus andern Zeiten / Und hoffe in andere zu gehn.« In seiner »Selbstbiografie« (1853) zeigen sich die Angst vor der Auflösung der eigenen Identität; seine Mutter und ein Bruder wählten den Suizid. Er bringt sich als Hofmeister, Bibliothekar und Beamter der Finanzverwaltung durch. In der »Ahnfrau« (1817) thematisiert er beispielsweise die Erlösung im tödlichen Inzest, indem Jaromir in die Arme der geisterhaften Urmutter eilt. In der »Sappho«-Tragödie (1818) verarbeitet er die Passionsgeschichte dieser großen griech. Frau. Werke: Sämtliche Werke. 42 Bde. Wien 1909–1948; Werke (Hg. H. Bachmaier). Frankfurt/M 1986ff. Lit.: Deutsche Dichter 5: Romantik, Biedermeier und Vormärz. Stuttgart: Reclam 1989, 327–334. 283, Z. 14: »Nacht muss es sein, wo Friedlands Sterne strahlen.« Ausspruch Wallensteins in Schiller, Wallensteins Tod (1799) 3,10.
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285, Z. 12: Nietzsche, Wiederkehr des Gleichen: Siehe Komm. zu S. 57, Z. 7. 286, A. 73: Maeder, Alphons (1882–1971 Zürich): Dr. med., Psychiater. Er gehörte um 1900 zum Stab des Burghölzli gleichzeitig mit C. G. Jung, dessen Schüler er bis ca. 1928 war. Nach M. haben Träume eine teleologische Funktion, womit er Adler und Jung nahesteht. Später entwickelte er die Methode der Kurzpsychotherapie, deren Hauptgewicht auf Selbstregulierungs- und Selbstheilungsprozessen liegt. Nach der Erinnerung von M. hatte er Adler im März 1910 kennengelernt. Werke: Über die Funktion des Traumes. Jb. f. psychoanal. psychopath. Forsch. 4, 1912, 692–707; Über das Traumproblem, ebd. 5, 1913, 647–686; Wege zur seelischen Heilung. Zürich: Rascher 1945. Lit.: Ellenberger 1973. 287, Z. 1: Morpheus: Nur aus dem Werk Ovids bekannter Gott der Träume, der den Schlafenden nachts in menschlicher Gestalt erscheint. 287, Z. 2: Trud: Oberdeutsche Bezeichnung für Hexe oder Alp; erscheint in tierischer oder menschlicher Gestalt und kann sich auch in einen Gegenstand verwandeln. 288, A.*: Wagner: Vgl. auch Komm. zu S. 168, Z. 33. Erda ist in den Opern »Rheingold« 288 »Siegfried« die Mutter der Nornen sowie der Brünhilde; sonst deutscher Name (von Grimm erschlossen) für die altnordische Göttin Jörd, der Mutter Thors, als Erdgottheit. 289, Z. 29: Ganghofer, Ludwig (1855 Kaufbeuren – 1920 Tegernsee): Bayer. Volksschriftsteller, dessen Erzählungen die Brücke bilden zwischen Roseggers dichterischer Wirklichkeit und der Unterhaltungsliteratur; 1881 Dramaturg am Wiener Ringtheater; danach in München. Erster großer Erfolg »Herrgottschnitzer von Oberammergau«, des Weiteren »Der Jäger von Fall«, »Die Martinsklause«. Seine Erinnerungen »Lebenslauf eines Optimisten« (1909–10) zeigen diesen naiven Glauben zum Leben und ein buntes Zeitbild mit einer Fülle von Menschen, Porträts und Erlebnissen. Werke: Ges. Schriften. 40 Bde. München 1906–1921; Ausgewählte Romane und Erzählungen. 4 Bde. München 1982. Lit.: Burger, H. O. (Hg.): Studien zur Trivialität. Frankfurt/M. 1926 (Art. H. Schwerte). 289, Z. 30: Stendhal (Henri Beyle) (1783 Grenoble – 1842 Paris): Konsul Frankreichs in Triest und im Vatikanstaat, Romanschriftsteller und Essayist. In »De l’amour« (1822) gibt er eine »Physiologie der Liebe«, d. h. »eine exakte und wissenschaftliche Beschreibung einer Art Wahnsinn«, die er in den verschiedenen europäischen Ländern darstellt. Philos. Interesse und franz. Romantik, sodass lyrische Passagen neben szientistischen Erklärungen stehen, bereiten seine großen Romane »Le Rouge et le Noir« (1830) und »La Chartreuse de Parme« (1839) vor. Werke: Œuvres Complètes (éd. de la Pléiade). Paris: Gallimard 1955. Lit.: Blin, J.: Stendhal et le problème de la personnalité. Paris: Corti 1958. 292, Z. 4: Gelehrte des Mittelalters, ob das Weib eine Seele habe: Siehe Komm. zu S. 195, Z. 33.
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292, Z. 24: Lysistra(ta): 411 v. Chr. aufgeführte Komödie von Aristophanes (445–385 v. Chr. Athen). L. rät den athenischen Frauen, von Burgen und Staatsschatz Besitz zu ergreifen und sich ihren Männern zu verweigern, bis diese den Peloponnesischen Krieg beendigt hätten. Spätere Bearbeitungen von F. Schubert, L. Anzengruber und R. Misch. 292, Z. 24: »Die Kreuzelschreiber«: Eine Komödie von Ludwig Anzengruber (1839 Wien –1889), worin die Bauernweiber, von ihren Beichtvätern überredet, ihren Männern gegenüber die Haltung der Lysistrata des Aristophanes einnehmen und sich ihnen verweigern, weil die Männer sich unbotmäßig gegen das damals neue Unfehlbarkeitsdogma aufgelehnt haben. 292, Z. 25: Gorgo Medusa: Nach der griech. Mythologie von Perseus besiegt, aber auch seine Gattin. Athene hatte ihn gelehrt, das Medusenhaupt nicht direkt anzublicken, sondern nur dessen Spiegelung in seinem Schild. Das maskenartige Gorgohaupt, das Gorgoneion, trug fortan Athene als Schild- oder Brustzeichen. Lit.: Kerényi, Karl: Die Mythologie der Griechen I. München: DTV 1966, 44f. 292, Z. 25: Lenau, Nikolaus (Csatád [Lenauheim] b. Temsvár – 1850 Oberdöbling/Wien): In Ungarn geborener österr. Schriftsteller; lebte wegen Schwermut in Heilanstalten nach einer unglücklichen Liebe zu Sophie von Löwenthal, der Frau seines Freundes. Lyriker der Melancholie, dem die Natur zum beseelten Träger seiner Stimmungen und Erlebnisse wird. Werke: Sämtliche Werke und Briefe. Histor.-krit. Ausgabe, 7 Bde. Wien 1989 ff. Lit.: Gibson, C.: Lenau. Leben, Werk, Wirkung. Wien 1989. 292, Z. 25: Ganghofer: Siehe Komm. zu S. 289, Z. 29. 292, Z. 25: Tolstoi: Vgl. auch Komm. zu S. 105, A. 159. Die »Kreutzersonate« erschien 1891 als Alterswerk und handelt nach Aussage des Dichters von »ehelichen Beziehungen« und »geschlechtlicher Liebe«, wo der Künstler letztlich hinter dem Moralisten zurücktritt. Die Rahmenhandlung bildet ein Eisenbahngespräch zwischen Personen verschiedenster Liebesauffassungen, wo Sinnlichkeit, Zerrissenheit und Rache im Mittelpunkt stehen. T. (in der Erzählung: Pozdnysev) stellt dem ein asketisch-christliches Ideal von Keuschheit und Enthaltsamkeit entgegen. Lit.: Gesjev, N.: Zur Geschichte der Kreutzersonate. o. O. 1937. 292, A.*: Hertz, Wilhelm: Die Sage vom Giftmädchen. Abhandlungen der philosophischphilologischen Classe der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 22. München: Verlag der Akademie 1897, 89–166. 293, Z. 2: Poggio, Bracciolini (1380 Arezzo – 1459 Florenz): Ital. Humanist, römischer Kurienschreiber und zuletzt als Kanzler in Florenz tätig. Seine Werke umfassen polemische »Invectivae« gegen Zeitgenossen, die gegen das Mönchtum gerichtete Schrift »Contra hypocritas«, ferner die »Facetiae«: eine Sammlung burlesk-erotischer Erzählungen in volkstümlichem Stil. Seine kulturgeschichtlich wichtigen Briefe spiegeln die Begeisterung für die klassische Antike wider, von der er wich-
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Über den nervösen Charakter
tige verschollene Handschriften in europäischen Klosterbibliotheken wiederentdeckte. Werke: Opera omnia (Hg. T. Tonelli). 4 Bde. Rom 1964–1982; Facezie (Hg. M. Ciccuto). Rom 1983 (lat. u. ital.). Lit.: Walser, E. (Hg.): Poggius Florentinus. Leben und Werke (1914). Nachdr. München 1974. 293, Z. 14: Gogol, Nikolaj Wassiljewitsch (1809–1852 Moskau): Russischer Schriftsteller aus der Ukraine, der gesellschaftliches und menschliches Missverhalten bis in die Groteske hinein darstellt. »Die toten Seelen« (1842), als erster Teil einer Trilogie geplant, bilden eine Porträtgalerie von bis zur Skurrilität erstarrten Gutsbesitzern in ihrer Unmenschlichkeit. Den zweiten Teil verbrannte G. und ging zur direkten Predigt christlicher Ideale über. Der Mensch erscheint bei ihm als eine zwischen Trieben und Ängsten hin und her gerissene Marionette, wobei allerdings der düstere Humor als »Lachen durch Tränen« moralisch auffrischen soll. Werke: GW in Einzelbänden. 6 Bde. Hamburg 1970–1974. Lit. Kasack, W.: Die Technik der Persondarstellung bei N. W. Gogol. Heidelberg 1957; Kindler Bd. 6, 1989, 545–563, hier bes. 547–549. 293, A.*: Kaus, Otto (1891 Wien – ca. 1944 Berlin): Der Fall Gogol. Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung. Heft 2. München: Reinhardt 1912. K. gehörte zu den frühen Anhängern Adlers in Wien, Vorstandsmitglied 1912, wichtiges Mitglied in den 20er Jahren in Berlin, gehörte dem marxistischen Flügel an (zumindest zeitenweise kommunistisch). Er habe ab 1933 im Untergrund gearbeitet und sei bei einem Luftangriff umgekommen (Gina Kaus). K. ist vor allem mit literaturwissenschaftlichen, sexualreformerischen und politischen Themen hervorgetreten. Werke: Dostojewski. Zur Kritik der Persönlichkeit. München: Piper 1916; Ehe und Ehelosigkeit. In: R. u. F. Künkel (Hg.): Mensch und Gemeinschaft. Kleine Schriften zur Individualpsychologie. Heft 3. 1926; (mit Fritz Künkel) Über sexuelle Verirrungen. In: Wexberg, Erwin (Hg.): Handbuch der Individualpsychologie. München: Bergmann 1926; Die Träume in Dostojewskis »Rodion Raskolnikow«. München: Bergmann 1926; 3 Aufsätze in der IZfIP 1926–1930. Lit.: Bruder-Bezzel 1991.
Zum 9. Kapitel 295, Z. 29: Janet: Siehe Komm. zu S. 39, Z. 1. 297, Z. 5: Shylok: Figur in Shakespeares Drama »Der Kaufmann von Venedig«. 298, A. 28: Bankos Geist: In Shakespeares »Macbeth« (4, 3) erscheint auf einem Bankett dem Titelhelden der Geist seines ermordeten Freundes Banquo, unbemerkt von allen Anwesenden außer dem erschrockenen Mörder selbst, der »selbstgeschaffnes Grau’n« zu verleugnen sucht.
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391
299, Z. 20: Lichtenberg: Vgl. Komm. zu S. 114, A.*. Das Zitat lautet: »Ist es nicht sonderbar, dass die Menschen so gerne für die Religion fechten und so ungern nach ihren Vorschriften leben?« Werke: Aphorismen (Hg. E. Johann). Ausgewählte Werke 1. Frankfurt/M.: Büchergilde o. J., hier S. 140, Nr. 102: Stichelreden auf den lieben Gott. 299, A. 39: Pascal, Blaise (1623 Clermont – 1662 Paris): Franz. Philosoph, Mathematiker und Physiker. Er gewann die Einsicht in Bezug auf den Glauben, dass die Vernunftgewissheit nicht auch Sicherheit für menschliches Handeln gewährleistet. Außerdem sind sichere Anweisungen nicht aus einer nur philosophischen Erschließung Gottes zu entnehmen, sondern vielmehr aus der Frage nach der Heilsgewissheit, welche die menschliche Vernunft nicht von sich aus beantworten kann. Der Glaubensentscheidung, der »Logik des Herzens«, muss die »Logik der Vernunft« mit ihrem rechtmäßigen Zweifel Raum lassen, da der Mensch bei dieser »Wette« nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen hat. Werke: Œuvres Complètes (éd. de la Pléiade). Paris: Gallimard 1954; Gedanken [Pensées]. Stuttgart: Reclam 1979. Lit.: Wasmuth, Ewald: Der unbekannte Pascal. Regensburg: Pustet 1962; Goldmann, Lucien: Der unbekannte Gott. München 1984. 300, Z. 20: Rousseau, Jean-Jacques (1712 Genf – 1778 bei Paris): Genfer Uhrmachersohn, Autodidakt, soziales Randdasein; außergewöhnlich breites Schaffen: Autobiografie, Dramen, Lyrik, Romane, Sozial- und Sprachphilosophie, Botanik. Gegen die überzivilisierte Gesellschaft vertrat er ein einfaches Leben, wobei die »Natur« als Prinzip und Paradigma die Menschheitsentwicklung und ihre Veränderungen einschließt. In seinen »Bekenntnissen« (Confessions 1765–70) versucht er mit größter Aufrichtigkeit die Wahrheit des Menschen in einem generischen Sinne zu ergründen: Der Mensch Rousseau wird nach seiner »anfänglichen Unschuld« weiterleben, was auch immer seine Fehler und seine Schuld gewesen sein mögen. Mit diesen autobiografischen Elementen verbinden sich ethnologische und prähistorische Überlegungen. Die Schrift führt zu einer Sicht des Ursprunghaften, wo die Natur diesseits ihrer Verfremdungen als der irreduzible Kern und als Existenzregel erfasst wird. Werke: Œuvres Complètes. 4 Bde. (éd. de la Pléiade). Paris: Gallimard 1959–1969 (Confessions Bd. 1); Correspondance Complète. 40 Bde, Genf-Oxford 1965–1982. Lit.: Rang, M.: Rousseaus Lehre vom Menschen. München 1959; Brandt, R.: Rousseaus Philosophie der Gesellschaft. Berlin 1973. 300, Z. 22: Asnaourow, Felix: Prof.; vgl. Sadismus und Masochismus in Kultur und Erziehung. Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung. Heft 4. München: Reinhardt 1913. A. schrieb zu ähnlichem Thema auch in HuB 1914. 302, Z. 27: Bartel: Siehe Komm. zu S. 50, Z. 25. 302, Z. 27: Kyrle: Siehe Komm. zu S. 50, Z. 27. 302, A.*: Bjerre, Poul (Paul) Carl (1876–1964): schwedischer Psychotherapeut, seit 1907 niedergelassener Arzt in Stockholm mit Spezialisierung auf Psychotherapie;
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Über den nervösen Charakter
1911 Mitglied der Internat. Psychoanalytischen Vereinigung. Berichtete 1913 über Adlers Neurosenlehre in den Verhandlungen der schwedischen Ärztegesellschaft; zu Beginn der 20er Jahre Abwendung von S. Freud und Orientierung an der Psychosynthese; ab 1926 Mitglied der »Internat. ärztl. Ges. für Psychotherapie«. Hielt bis 1943 Kontakte zu Repräsentanten der »deutschen Psychotherapie« wie Mathias H. Göring aufrecht. 1941 Gründung eines privaten psychotherapeutischen Lehrinstituts in Stockholm. Lit.: Widstrand, A. (Hg.): Sveriges Läkarehistoria IV/1. Stockholm 1930, 253f.; Lockot, Regine: Erinnern und Durcharbeiten. Frankfurt/M. 1988, 104, 262f., 275f., 280–283, 286, 340. 302, A. 54: Tandler, Julius (1869 Iglau/Mähren – 1936 Moskau): Anatom und sozialdemokratischer Politiker; 1910–34 o. Prof. und Vorstand 1. Anatom. Institut; 1914–17 Dekan der Med. Fakultät in der Zeit des Habilitationsversuches von A. Adler. Vertreter einer engen Kooperation von Anatomie und klinischer Med.; 1920–32 Stadtrat für Wohlfahrtseinrichtungen, Jugendfürsorge und Gesundheitswesen in Wien; prominentester Repräsentant der Gesundheitspolitik des »Roten Wien« und sozialdemokratischer Eugeniker; Febr. 1934 nach dem Bürgerkrieg in Österreich verhaftet und aus seinen Ämtern entlassen. Lit.: Sablik, Karl: Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer. Wien 1983; Peller, Sigismund: Not in my Time. The Story of a Doctor. New York 1979. 302, A. 54: Grosz (Gross), Siegfried (1869–1922 Wien): Dermatologe; 1907 Privdoz. für Dermatologie Wien, 1915 tit. ao. Prof. Adler bezieht sich auf das Werk mit J. Tandler von 1913. Werke: Hg. mit Mracek, G.: Handbuch der Hautkrankheiten. Wien 1902–1909; mit Finger, E./Jadassohn, J./Ehrmann, S.: Handbuch der Geschlechtskrankheiten. 3 Bde. Wien–Leipzig 1910–1916; mit Tandler, J.: Die biologischen Grundlagen der sekundären Geschlechtskrankheiten. Berlin 1913. 302, A. 54: Kretschmer: Siehe Komm. zu S. 32, Z. 13. 303, A.*: Stern, Richard (1865–1911 Breslau): 1892 Privdoz. für Innere Medizin, 1900–11 ao. Prof. und Direktor der Med. Poliklinik, 1906–11 Lehrauftrag für Soziale Medizin in Breslau. Neben klinisch-bakteriologischen und serodiagnostischen Arbeiten vor allem Beschäftigung mit Unfallheilkunde und Begutachtungsfragen. Werke: Über traumatische Entstehung innerer Krankheiten. Klinische Studien mit bes. Berücksichtigung der Unfall-Begutachtung. Jena 1896–1900 (2. Aufl. 1907–13; 3. Aufl. Hg. Rudolf Stern Jena 1930; Rudolf A. Stern: Trauma in Internal Diseases. With Consideration of Experimental Pathology and Medicolegal Aspects. New York 1945). 307, Z. 15: May, Karl (Pseudonym für Karl Hohenthal u. a.) (1842–1912): Lehrer, Redakteur und Verfasser abenteuerlicher Reiseerzählungen, die ihn bis heute zu einem der meistgelesenen Autoren machen. Exotisches Kolorit der Schauplätze und die Fantasie fesselnde Darstellungen aus dem Wilden Westen Nordamerikas oder aus
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dem Vorderen Orient – mit den Haupthelden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi in der Ichform – sind erzieherisch-moralisch getragen vom jugendlichen Bedürfnis nach Freiheit und dem »großen Leben«. Spätere Werke haben auch eine pazifistische Tendenz, so wie M. zuvor schon für unterdrückte Völker, bes. die Indianer, eintrat. Bekannte Erzählungen sind beispielsweise: Durch die Wüste (1892), Winnetou (1893–1900), Im Lande des Mahdi (1886). Werke: GW 70 Bde. Bamberg 1949ff. Lit.: Broning, E.: Die Reiseerzählungen Karl Mays als literarpädagogisches Problem. Ratingen 1973; Kindler Bd. 11, 1990, 400–403 (Lit.). 308, Z. 4: Pertussis: Keuchhusten. 308, Z. 12: Shakespeare, William: (1564–1616 Stratford) Hamlet: Dramatischer Schauspieler und Autor; mehr als dreißig Theaterstücke. Im »Hamlet« sind Gegenstand des Geschehens: die Rache, der Selbstmord, der Tod, die individuelle wie politische Gerechtigkeit, die Gewissensqualen, die Pflichtkonflikte, das Jenseits, die Familie, Unschuld und List. S. benutzt sie aber als Materialien für sein Vers-Theater, nicht als isolierbare Anschauungssätze, um über ein einziges Thema nachzudenken: das Abenteuer des Menschseins. Die Komplexität dieser Frage lässt Psychologie, Moral, Religion, Politik und Philosophie an seinem Werk nicht vorübergehen, wie Adler zeigt. Werke: New Arden Shakespeare. London 1965ff. Lit.: Jones, E.: Hamlet and Oedipus. London: Gollancz 1949; Shakespeare Studies. Nashville 1965ff. 309, Z.20: Bartel: Siehe Komm. zu S. 50, Z. 25.
Zum 10. Kapitel 313, Z. 28: Fuchs, Eduard (1870 Göppingen – 1940 Paris): marxist. Kulturwissenschaftler, Historiker, Schriftsteller. Die Frau in der Karikatur. München: Langen 1906. 315, A.*: Kanabich/Wirubof: Vgl. Zur Pathologie der intellektuellen Emotionen. Psychotherapia. Moskau 1911. N. Wirubof war Hg. von »Psychotherapia«. Lit.: Leibin, V. M.: Der Einfluß der Ideen Alfred Adlers in Rußland in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg. ZfIP 13, 1988, 126–137. 316, A. 33: Jerusalem: Siehe Komm. zu S. 41, A. 13. 316, A. 33: Joab: Heerführer des Königs David nach 1 u. 2. Buch Samuel im Alten Testament. 316, A. 33: »Deine Rede sei ja-ja, nein-nein, alles andere ist von Übel.« Wort Jesu im Matthäus-Evangelium 5, 37.
394
Über den nervösen Charakter
Zum Schluss 317, A. 7: Hildebrand, Rudolf (1824–1894 Leipzig): Germanist und Pädagoge, seit 1869 Prof. in Leipzig. Als Begründer der Wortkunde unterstrich er Bild- und Bedeutungsgehalt der Sprache, wie es seine kultur- und geistesgeschichtlichen Wortmonografien zeigen, so z. B. der Art. »Geist« im »Deutschen Wörterbuch« der Brüder Grimm, an dem er mitarbeitete, teilweise als Hg. Außerdem wirkte er für die Erneuerung des Deutschunterrichts. Adler wurde wohl durch eine Besprechung des Buches »Gedanken über Gott, die Welt und das Ich« (1910) auf H. aufmerksam (Ansbacher 1962). Werke: Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt (1867). Nürnberg: Liebel 1948; Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. Leipzig 1896; Gedanken über Gott, die Welt und das Ich: ein Vermächtnis. Jena: Diederichs 1910; Volk und Menschheit. Auswahl aus seinen Schriften nebst Tagebuchblättern und Briefen. München: Langen 1925. Lit.: Westermann, E.: Grundlinien der Welt- und Lebensanschauung Rudolf Hildebrands. Leipzig: Quelle & Meyer 1912; Ansbacher, Heinz L.: Rudolf Hildebrand: A Forerunner of Alfred Adler JIP 18, 1962, 12–17.
Anhang
Werke Alfred Adlers
AS
1919
AT
1908
BuS BuS
1918 1919
EsT
1902
GfdS
1898
HuB
1914
HuB
1920
HuB
1973
LsM
1902
M
1927
NC
1912
NGFK
1918:
PdH 1917 PHiLN 1910 PuE 1–2 1982
PuT
1920
PuT
1974
PüK
1918
Die andere Seite: eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes. Wien: Leopold Heidrich 1919 Faksimile-Nachdruck Berlin 1994. Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose. Fortschr. Med. 26, 1908, 577–587. Bolschewismus und Seelenkunde. Int. Rundsch. Zürich 4, 1918, 221–227. Bolschewismus und Seelenkunde. Der Friede. Wochenschr. f. Politik, Volkswirtschaft und Lit. Wien, 1918/19, 525–529. (Repr. PuE 1 1982, 23–32). Das Eindringen sozialer Triebkräfte in die Medizin. Ärztl. Standeszeitung (Wien) 1 (1), 1902, 1–3. Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe. Berlin: C. Heymanns 1898 (Faksimile-Nachdr. Bremen 1987). (Hg. mit Carl Furtmüller) Heilen und Bilden. Ärztlich-pädagogische Arbeiten des Vereins für Individualpsychologie. München: Reinhardt 1914. (Hg. mit Carl Furtmüller und E. Wexberg) Heilen und Bilden. Grundlagen der Erziehungskunst für Ärzte und Pädagogen. 2. Aufl. München: Bergmann 1920. (Hg. mit Carl Furtmüller) Heilen und Bilden. Ein Buch der Erziehungskunst für Ärzte und Pädagogen. Mit einer Einführung von Wolfgang Metzger. Frankfurt/M: Fischer 1973. Eine Lehrkanzel für soziale Medizin. Ärztl. Standeszeitung (Wien) 1 (7), 1902, 1–2. Menschenkenntnis. Leipzig: Hirzel 1927 (Nachdr. Mit einer Einführung von Oliver Brachfeld. Frankfurt/M.: Fischer, 1966). Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. Wiesbaden: Bergmann 1912. Die neuen Gesichtspunkte in der Frage der Kriegsneurose. In: PuT 1974, 291–303. Das Problem der Homosexualität. In: PuT 1920, 127–135. Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose. Fortsch. Med. 28, 1910, 486–493 (Nachdr.: HuB). Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze. 2 Bde.: 1919–1929; 1930–1932. Ausgewählt und hg. von H. L. Ansbacher und R. F. Antoch, mit einer Einführung von R. F. Antoch. München: Bergmann 1920. Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer. München: Bergmann 1920. Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer. Mit einer Einführung von Wolfgang Metzger. Frankfurt/M: Fischer 1974. Ein Psychiater über die Kriegsneurose. In: Internationale Rundschau. Zürich, Nr. 4, S. 362.
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Werke Alfred Adlers
SMO
1907
SMO
1977
SoS
1903
SuL
1903
TO
1908
WLW
1979
Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin–Wien: Urban & Schwarzenberg 1907. Studie über Minderwertigkeit von Organen. Mit einer Einführung von Wolfgang Metzger. Frankfurt/M: Fischer 1977. Staatshilfe oder Selbsthilfe. Ärztl. Standeszeitung 2 (21), 1903, 1–3 u. (22), 1–2. Stadt und Land. Ärztl. Standeszeitung (Wien) 2 (18), 1903, 1–3; (19), 1–2 u. (20), 1–2. Die Theorie der Organminderwertigkeit und ihre Bedeutung für Philosophie und Psychologie. Univ. Wien, Philos. Ges., Wiss. Beil. 21, 1908, 11–26. Wozu leben wir? (What Life Should Mean to You: 1931). Mit einer Einführung von Wolfgang Metzger. Frankfurt/M: Fischer 1979.
Lexika, Sammelwerke und Monografien
Ansbacher
1982
Balmer (Hg.)
1976
Bruder-Bezzel
1983
Bruder-Bezzel
1991
Brunner/Titze (Hg.)
1995
Ellenberger
1973
Freud GW Handlbauer
1984
Handlbauer
1990
Haring/Leickert
1968
Hehlmann
1965
Horster
1984
Kindler Kühn
1996
Laplanche/Pontalis
1986
Lehmkuhl/Gröner
1994
Lück/Miller (Hg.)
1993
Mühlleitner
1992
Ansbacher, Heinz L. u. Rowena R. (Hg.): Alfred Adlers Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften. Mit einer Einführung von Ernst Bornemann. München–Basel: Reinhardt, 3., ergänzte Aufl. 1982. Balmer, Heinrich (Hg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. 1. Zürich: Kindler 1976. Bruder-Bezzel, Almuth: Alfred Adler. Die Entwicklung einer Theorie im historischen Milieu Wiens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983. Bruder-Bezzel, Almuth: Die Geschichte der Individualpsychologie. Frankfurt/M: Fischer 1991. Brunner, Reinhard/Titze, Michael (Hg.): Wörterbuch der Individualpsychologie. München–Basel: Reinhardt, 2., veränderte Aufl. 1995. Ellenberger, Henry: Die Entdeckung des Unbewussten. 2 Bde. Bern: Huber 1973. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. 18 Bde. Frankfurt/M: Fischer 1944 u. ö. Handlbauer, Bernhard: Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie. Wien–Stuttgart: Geyer 1984. Handlbauer, Bernhard: Die Adler-Freud-Kontroverse. Frankfurt/ M: Fischer 1990. Haring, C./Leickert, K. H.: Wörterbuch der Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete. Stuttgart– New York: Schattauer 1968. Hehlmann, Wilhelm: Wörterbuch der Psychologie. Stuttgart: Kröner 1965. Horster, Detlef: Alfred Adler zur Einführung. Hannover: Soak 1984. Kindlers Neues Literaturlexikon. 20 Bde. München: Kindler 1988–1992. Kühn, Rolf: War Adler Philosoph? – Der Umgang Adlers mit seinen Quellen. ZfIP 21, 1996, 235–255. Laplanche, J./Pontalis, J. B.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/M: Suhrkamp 1986. Lehmkuhl, Gerd/Gröner, Horst: Register der deutschsprachigen individualpsychologischen Periodika (1914–1992). Beiträge zur Individualpsychologie 19. München–Basel: Ernst Reinhardt Verlag 1994. Lück, Helmut/Miller, Rudolf (Hg.): Illustrierte Geschichte der Psychologie. München: Quintessenz 1993. Mühlleitner, Elke: Biographisches Lexikon der Psychoanalyse. Tübingen: Diskord 1992.
400
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Neue Österr. Biografie Nietzsche
1815 1973
Nunberg/Federn 1–3
Peters (Hg.)
1980
Ritter/Gründer (Hg.) Strube (Hg.)
1977
Sulloway
1982
Vaihinger
1911
Witte
1994
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Zeitschriften
Acta paediatr. Arch. Entw. med. Arch. exper. Path. Pharmak. Arch. f. Psychiatrie Arch. Krimin.-Anthropol. Arch. méd. enfants Arch. Physiol. Ärztl. Standeszeitung Beitr. IP Beitr. path. Anat. Berl. klin. Wschr. Dtsch. Arch. Klin. Med. Dtsch. med. Wschr. Dtsch. Zschr. Nervenhk. Erg. allg. Path. Fortschr. Med. IZfIP Jahreskurse ärztl. Fortb. Jb. f. verst. Tiefenpsycholog. u. Kulturanal. Jb. Kinderhk. Jb. Psychoanal. psychpath. Forschung JIP Kölner Z. f. Soziol. u. Sozialpsychol. Math.-naturwiss. Kl. Med. Klin. Med. Life Mitt. Ges. inn. Med. Mitt. Ges. physik. Med. Monatsh. Pädag. Schulpol. Mschr. Kinderhk. Mschr. Psych. Neurol. Münch. med. Wschr. Neurol. Zbl. Prag. med. Wschr. Proc. Roy. Soc. Med. PuG Rev. mens. gynéc. S.ber. Akad. Wiss. Wien Schweiz. med. Wschr.
Acta Paediatrica Archiv für Entwicklungsmedizin Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie Archiv für Psychiatrie Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik Archives médicales d’enfants Archiv für Physiologie Ärztliche Standeszeitung Beiträge zur Individualpsychologie Beiträge zur pathologischen Anatomie Berliner Klinische Wochenschrift Deutsches Archiv für Klinische Medizin Deutsche medizinische Wochenschrift Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde Ergebnisse der allgemeinen Pathologie Fortschritte der Medizin Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie Jahreskurse für ärztliche Fortbildung Jahrbuch für verstehende Tiefenpsychologie und Kulturanalyse Jahrbuch für Kinderheilkunde Jahrbuch für Psychoanalyse und psychopathologische Forschung Journal of Individual Psychology Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse Medizinische Klinik Medical Life Mitteilungen der Gesellschaft für Innere Medizin Mitteilungen der Gesellschaft für physikalische Medizin Monatshefte für Pädagogik und Schulpolitik Monatsschrift Kinderheilkunde Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie Münchener Medizinische Wochenschrift Neurologisches Zentralblatt Prager Medizinische Wochenschrift Proceedings of the Royal Society of Medicine Psychologie und Geschichte Revue mensuelle de Gynécologie Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaft Wien Schweizerische Medizinische Wochenschrift
402 Straßburg. med. Ztg. Therap. Gegenwart Verh. 10. Internat. Med. Kongr. Verh. Dtsch. Ges. Gynäkologie Verh. Dtsch. Ges. Path. Verh. Ges. Kinderhk. Verh. Kongr. inn. Med. Wien. med. Wschr. Wien. klin. Wschr. Zbl. f. Psychoanal. u. Psychotherap. Zbl. Gyn. ZfIP Zschr. ärztl. Fortb. Zschr. f. kath. Theologie Zschr. ges. Neurologie Zschr. Kinderhk. Zschr. Konst.lehre
Zeitschriften Straßburger Medizinische Zeitung Therapeutische Gegenwart Verhandlungen 10. Internationaler Medizinischer Kongreß Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Pathologie Verhandlungen der Gesellschaft für Kinderheilkunde Verhandlungen der Kongresse für Innere Medizin Wiener Medizinische Wochenschrift Wiener Klinische Wochenschrift Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie Zentralblatt für Gynäkologie Zeitschrift für Individualpsychologie Zeitschrift für ärztliche Fortbildung Zeitschrift für Katholische Theologie Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie Zeitschrift für Kinderheilkunde Zeitschrift für Konstitutionslehre
Personenverzeichnis
Adler, Alfred 7, 9–16., 21, 23 f., 30–33, 42, 48, 52ff., 56, 62, 70, 80, 87, 93, 118, 137, 161, 175, 197, 209, 218, 234, 241, 243, 246, 283, 286, 291, 295, 305, 312, 314, 320, 323 ff., 327–332, 337, 340, 342 ff., 346–360, 362 ff., 367–370, 372 f., 373, 375 f., 379 f., 382 ff., 387 f., 392 ff. Adler, Kurt 7 Allers, Rudolf 362 Alzheimer, Alois 354 Ambrosius 377 Ansbacher, Heinz L. 324, 350, 394 Anton, Gabriel 333, 354 Appelt, Alfred 127, 366 Archimedes 267, 351 Aristophanes 384, 389 Aristoteles 62, 250, 331, 349, 377 Asnaourow, Felix 24, 323, 391 Augustus 375 Avenarius, Richard 15, 41, 94, 323, 330 f., 356 Baader, Franz von 41, 331, 381 Baldung Grien, Hans 250, 383 Bartel, Julius 50, 52 f., 302, 336, 338, 341, 344, 391, 393 Baschkirzewa, Marie 379 Bashkirtseff, Marie 379 Baudelaire, Charles 386 Bauer, Julius 50, 332, 339, 340 Beethoven, Ludwig van 323, 361 Beiglböck, Wilhelm 341 Berger, Freiherr von 255, 347, 384 Bergson, Henri 24, 353, 354, 385 Bezzola, Dumeng 182, 373 Bibring, Edward 325 Bickel, Adolf 54, 347 Binet, Alfred 326, 329 Birk, Walther 334, 343 Bjerre, Poul (Paul) Carl 302, 391 Bleuler, Eugen 15, 39, 58, 63, 149, 154, 193, 235, 320, 326 f., 332, 348, 350, 356, 373, 375, 379 Bloch, Iwan 377 f.
Bossi, Luigi Maria 146, 368, 369 Bouchard, Charles Joseph 333 Breuer, Josef 40, 137, 318, 324, 327, 366, 373 Bruckner, Anton 323 Bruder, Klaus-Jürgen 353 Bruder-Bezzel, Almuth 7, 10, 371 f., 390 Burgerstein, Leo 345 Burgkmaier, Hans 383 Caesar 251, 267, 383 Carus, Carl Gustav 120, 363 Charcot, Jean-Marie 323, 325, 327, 333, 352, 376 Chatrian, Alexandre 364 Chilon 359 Chopin, Frédéric 380 Chvostek, Franz 52, 337 f., 341 Claudius, Matthias 232, 371, 380 Comby, Jules 335 Comte, Auguste 358 Czerny, Adalbert 49, 53, 334 f., 344 ff., 348, 385 Dalton, John 356 Darwin, Charles 323, 356 Degkwitz, Rudolf 345 Demosthenes 234, 323, 381 Descartes, René 369 Dessoir, Max 189, 359, 374 Diderot, Denis 385 Dönniges, Helene siehe Racowitza 379 Dostojewski, Fjodor Michajlovitsch 323, 384, 390 Dürer, Albrecht 383 Ebbinghaus, Hermann 328 Ellenberger, Henry 12, 325 ff., 342, 352, 355, 358 f., 361 f., 373, 375, 377, 379, 384, 388 Ellis, Havelock 378 Eppinger, Hans 338 Erckmann, Emile 120, 364 Escherich, Theodor 49, 52, 334, 336 f., 341 f. Exner (-Ewarten), Sigmund von 358 Fechner, Gustav Theodor 324
404 Féré, Charles 323, 329 Ferrero, Guglielmo 382 Finkelstein, Heinrich 337, 342 Flaubert, Gustave 380 Fleiner 365 Fliess, Wilhelm 360, 377, 379 Forel, August 326, 373 Francesca, Piero della 323 Frankl Ritter von 52 f. Frankl siehe Hochwart 52 f., 340, 345 Frankl, Viktor 52 f., 362 Franklin, Benjamin 363 Freschl, Robert 24, 99, 325, 357, 376 Freud, Sigmund 9, 11 ff., 15, 40, 42 f., 58, 68, 74, 86 f., 89, 91, 95, 97, 112, 116, 143, 149, 151 f., 154, 166, 168, 203, 218, 223, 231, 235, 245, 286 f., 309, 320, 324, 326 ff., 330, 333, 344, 347, 350, 354, 356, 360 ff., 367, 370, 374 f., 378 f., 382, 392 Freytag, Gustav 234, 357, 381 Friedjung, Josef K. 336, 345 Fries, Jakob Friedrich 91, 356 Frischauf, Hermann 24, 160, 265 Fuchs, Eduard 364, 393 Furtmüller, Aline 21, 48, 70, 73, 320, 385 Furtmüller, Carl 21, 48, 70, 73, 320, 323, 379 Gaia 367 Gall, Franz Joseph 120, 363 Ganghofer, Ludwig 388 f. Gardner, Sheldon 325 Goethe, Johann Wolfgang von 71, 323, 351, 356, 359 ff., 363 f., 367, 371, 382, 385 Gogol, Nikolaj Wassiljewitsch 24, 293, 323, 390 Gorgias 330, 367 Gött, Theodor 52 f., 343 ff. Griesinger, Wilhelm 324 Grillparzer, Franz 387 Grimm, Jacob und Wilhelm 323, 388, 394 Groos, Karl 77, 352 f., 383, 385 Gross, Otto 175, 333, 372 Grosz (Gross), Siegfried 392 Grüner, Gustav 24, 231, 380 Haeckel, Theodor 377 Halban, Josef von 178, 360 Halford 367 Hamann, Johann Georg 385
Über den nervösen Charakter Hamburger, Franz 53, 334, 344 f. Handlbauer, Bernhard 10, 380, 383 Hannibal 267 Hattingberg, Hans von 373, 386 Hebbel, Christian Friedrich 358 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 323, 359 Herbart, Johann Friedrich 352 Herder, Johann Gottfried 323, 385 Herodot 88, 355 Herschel, John 363 Hertz, Wilhelm 389 Herzer 362, 374, 377 Hess, Leo 338, 341 Heubner, Otto 335 ff., 342 Hildebrand, Rudolf 394 Hiob 348 Hippias 367 Hippokrates 323 Hirschfeld, Magnus 362, 374, 377 Hoche, Alfred E. 367 Hochsinger, Carl 337 Hochwart, Lothar 52 f., 340 Hochwart, Lothar Frankl Ritter von 52 f., 340, 345 Hochwart, Lothar Frankl Ritter von 345 Hoffmann, Enst Theodor Amadeus 371 Hofstätter, Peter R. 325, 369 Homer 206, 380 Horaz 323 Hubenstorf, Michael 7, 381 Hufeland, Christoph Wilhelm 326 Husler, Josef 345 Ibsen, Henrik 361, 366, 372 Immermann, Karl 371 James, William 323, 353, 370 Janet, Pierre 15, 39 ff., 103, 192, 295, 323, 325 ff., 329 f., 357 f., 375, 390 Jaspers, Karl 351 Jassny, A. 175, 372, 382 Jean Paul Friedrich Richter 323 Jerusalem, Wilhelm 15, 41, 330, 393 Jodl, Friedrich 358 Joel, Karl 254, 350, 383 f. Jones, Ernest 189, 232, 362, 374, 380, 393 Jung, Carl Gustav 277, 326, 328, 333, 363, 373, 388 Kahane, Max 40, 327, 382 Kanabich, Yuriy V. 393
Personenverzeichnis Kant, Immanuel 15, 81 f., 91, 233, 254, 323, 329, 331, 350, ff., 355, 361, 369, 381, 384 Kaus, Otto 24, 323, 390 Kipling, Rudyard 231, 380 Kisch, Enoch Heinrich 144, 368 Klages, Ludwig 363 Kotzebue, August von 356 Kraepelin, Emil 15, 86, 326, 331, 342, 355 Krafft-Ebing, Richard von 112, 342, 361, 378 Kramer, Josef 383 Kretschmer, Ernst 15, 44, 50, 176, 324, 331, 340, 350, 363, 373, 392 Kronfeld, Arthur 351, 374 Kühn, Rolf 7, 325, 350, 369 Kyrle, Josef 50, 302, 336, 339, 391 La Rochefoucauld, François Graf von 366, 382 Lasègue, Ernest-Charles 354 Lavater, Johann Kaspar 72, 323, 351, 363 Lenau, Nikolaus 371, 389 Leonardo da Vinci 154, 370 Leroux, Pierre Henri 380 Lessing, Gotthold Ephraim 374 Lewandowsky, Max 354 Lichtenberg, Georg Christoph 323, 363, 391 Lipmann, Otto 328 Lipps, Theodor 178, 233, 373, 381 Litzmann, Berthold 173 Loewy, Paul 24 Lombroso, Cesare 58, 63, 323, 342, 348, 350, 367, 382 Lutze, Ernst Arthus 367 f. Maeder, Alphonse 388 Manet, Edouard 323 Marcinowski, Johann Jaroslaw 385 f. Marcuse, Max 367 Marholm, Laura 384 Martius, Friedrich 50, 338 May, Karl 307, 392 Mendel, Kurt 143, 367 Mephistoteles 356 Meschede, Franz 379 Messalina, Valeria 172, 371, 386 Meyerhof, Otto Fritz 67, 91, 351, 356 Michaelis, Karin 143, 368
405 Milton, John 52, 323, 344 Moebius, Paul Julius 376 Molière, Jean-Baptiste 371 Moll, Albert 190, 375, 382 Morel, Auguste Bénédicte 342, 348 Moro, Ernst 49, 334–337, 345, 348 Moses 323 Mozart, Wolfgang Amadeus 323, 371 Mühlleitner, Elke 327, 356, 379 f., 382 f. Musset, Alfred de 380 Mutschmann, Heinrich 52, 344 Naecke, Paul 378 f. Nelson, Leonard 323, 351 Netolitzky, August 53, 344 Nietzsche, Friedrich 14 f., 57, 61 f., 66, 148 f., 187, 229, 244, 285, 323, 328 ff., 348–352, 355 ff., 363 f., 366, 369, 373 f., 380, 382, 388 Noorden, Carl von 338 Nothnagel, Herrmann 337 f., 340 Novalis, Georg Philipp Freiherr von Hardenberg 323 Nunberg, Hermann 328 Oppenheim, David 232, 248, 369, 383 Oppenheim, Hermann 232, 381 Ovid 375, 379 Paltauf, Arnold 336 Pascal, Blaise 299, 391 Paulsen, Friedrich 352 Pawlow, Iwan P. 355 Perseus 389 Petzold, Hilarion 325, 369 Pfaundler, Meinhard von 53, 334 ff., 343 ff. Pfister, Oskar Robert 343, 379 Pineles, Friedrich 52, 341 Platon 330, 358 f., 367, 369, 384 Poggio, Bracciolini 389 Ponfick, Emil 49, 334 f. Pontalis, Jean-Bertrand 324 Potpeschnigg, Carl 343 Preuss, Konrad Theodor 383 Protagoras 367 Puschkin, Aleksandr Sergejewitsch 371 Pythagoras 349 Racowitza, Helene von 379 Raimann, Emil 192, 375 Reich, Julius 53, 59, 234, 324, 347 f., 381 Reichel, Heinrich 339
406 Reitler, Rudolf 327, 382 Richelieu, Herzog von 366 Richter siehe Jean Paul 241 Risak, Erwin 341 Rorschach, Hermann 326 Rousseau, Jean-Jacques 363, 391 Rudder, Bernhard de 345 Rühle, Otto u. Alice 363 Sachs, Hans 323 Sand, George 217, 380 Satke, Otto u. Viktor 341 Saul 232, 380 Schelling, Friedrich 326, 383 Scherschewsky 365 Schiller, Friedrich 323, 355 f., 387 Schmidt, Rudolf 52, 328, 340, 364, 367 Schopenhauer, Arthur 323, 361, 376, 387 Schreber, Daniel Gottlob 203 Schrecker, Paul 24, 323, 354 Schubert, Franz 389 Schüle, Heinrich 342 Schulhof, Hedwig 112, 323, 362, 366, 376 Schumann, Clara 173, 234, 323, 372, 381 Schwarz, Oswald 113, 362, 368 Seneca, Lucius Annaeus 39, 323, 325, 369, 371 Shakespeare, William 323, 393 Shaw, George Bernard 371 Shylok 297 Silberer, Hans 356 Simmel, Georg 376 Singer, Gustav 364 Smetana, Friedrich 323 Sokrates 323, 358 f., 366 Solon 359 Sophokles 138, 323, 355, 366 Sorotschinsk 293 Steinach, Eugen 112, 362 Stekel, Wilhelm 166, 327, 356, 367, 382 Stendhal (Henri Beyle) 388 Stern, William 15, 40, 83, 265, 303, 327 f., 354, 392 Stevens, Gwendolyn 325 Stiller, Berthold 332 Stoeltzner, Wilhelm 337 Stransky, Erwin 53, 335, 347 Strasser, Charlot 161, 323, 370 f. Strindberg, August 195, 376
Über den nervösen Charakter Strümpell, Adolf 49, 192, 219, 334, 338, 375 f., 380, 385 Swift, Jonathan 382 Swoboda, Hermann 360 Tandler, Julius 392 Thomas von Aquin 377 Thums, Karl 341 Titze, Michael 353, 370, 378 Tölle, Rainer 324, 332 Tolstoi, Graf Lew Nikolajewitsch 105, 358, 361, 389 Tristan 168, 371 Uffenheimer, A. 345 Ullrich, 0. 345 Uranos 367 Vaerting, Mathilde 367 Vaihinger, Hans 14 f., 149, 234, 323, 329 ff., 349–352, 356 f., 359, 369, 381 Viguier, Jean 7, 326 Vinci, Leonardo da 370 Virchow, Rudolf 13, 29, 52, 323 f. Volta, Alessandro 363 Voltaire (François Marie Arouet) 366 Wagner, Richard 52, 168 f., 288, 323, 361, 371, 388 Wagner-Jauregg, Julius 12, 32, 52, 240, 324, 338, 340, 369, 375 Weber, Friederich Parkes 174, 335, 345, 372 Weininger, Otto 112, 360 f., 377 Wenckebach, Karel Frederick 367 Wengler, Bernd 324 Wernicke, Carl 386 Westphalen 365 Wexberg, Leopold Erwin 24, 48, 70, 173, 320, 372, 390 Wirubof 393 Wiskott, A. 345 Witte, Karl Heinz 7, 14 f., 240 Wundt, Wilhelm 323, 330, 332, 383 Xenophon 358 f. Zerssen, Detlev von 324, 331 Ziehen, Theodor 355
Sachverzeichnis
A Abasie 158, 234 Abdominalschmerz 157 abnorm 51, 171, 272, 344, 354 absolut 13, 31, 70, 149, 328 Absoluta 251 abstrakt 66, 70 f., 78, 92, 94, 96, 98, 103, 106, 114, 116 f., 129, 133, 147, 183, 203, 205, 209, 215, 223, 238, 248, 252, 255, 261, 290, 311 Abstraktion 43, 62, 76, 91, 96, 98 ff., 104, 114, 143 f., 148, 154, 166, 191, 197, 205, 222, 240, 247, 249, 251, 261, 357 Abweichung 29, 283 Acheronta movebo 162, 371 Achylie 340 adenoid 52, 302 affection spasmodique 337 Affekt 85, 122, 191, 222, 236 f., 244, 318, 356 Affektbereitschaft 94, 98, 101, 110 f., 175, 225 f., 240, 242, 245, 249, 272 Affektion 146, 192, 305 Affektivität 53, 72, 93, 356 Affektsteigerung 46 affektverstärkend 288 affektvoll 238 Afterempfindung 153 Aggravation 302 f. Aggression 42, 46, 57, 63, 72, 74, 84 f., 87, 107, 112, 115, 122, 131 f., 151, 182, 211, 217, 222, 226, 242 ff., 246, 250, 257, 264, 285 Aggressionsbereitschaft 220 Aggressionsstellung 59, 83, 114 Aggressionstrieb 10, 45, 48, 55, 97, 126, 140, 153, 182, 197, 241, 243, 251, 295, 320 aggressiv 44, 106, 126, 153, 201, 209, 244, 317, 349 agitans 367 Agora 206, 379 Akromegalie 341 Akroparästhesien 340
Aktivität 44, 73, 213, 315, 326, 330 Aktualneurose 330 Alchemie 356 Algolagnie 378 Alhambra 207 alimentär 337 Alkohol 332 Alkoholismus 176, 226, 275, 323, 339, 364, 370 Alkoholist 176 Alkoholkonsum 176 Alleinsein 59, 157, 176, 210, 274 Alleshabenwollen 209 als ob, das Als-ob 29, 41 f., 54, 57, 63, 66, 73, 75, 81 f., 86 ff., 95, 100, 103, 109 f., 112, 115, 117 f., 130, 136, 138, 142, 144 f., 149, 151, 154, 156, 158, 166, 171, 173, 175, 183, 188, 189, 212, 214, 221, 224 f., 231–236, 245, 252 f., 256, 260, 267, 269, 273, 275, 278, 288 ff., 296, 306, 308 f., 313, 318, 350, 357, 370, 381 Alter 140 f., 143, 145, 150, 292, 343 f., 368 Altruismus 329 ambivalent 193, 375 Ambivalenz 39, 58, 63, 193, 198, 327, 348, 350 anal 155, 268 Analcharakter 152 Analerotik 152 analog 61, 102, 107, 109, 173 f., 177, 184, 231, 236, 300, 362 Analogie 58, 62, 102, 115 f., 120, 142, 151, 166, 208, 216, 228, 232, 238, 264 f., 304, 306 der einfachsten Begebenheiten 58 eines Gegensatzes 62 kindliche 62 Mangel einer 58 analogisch 58, 62, 64, 81, 115, 151, 265, 318 Analogon 108 Analsprache 152, 154 Analyse 10, 39, 45, 48, 63, 92, 97, 103,
408 107 ff., 111 f., 128, 139, 146, 151, 154, 169, 175, 187, 195, 198, 218, 221, 227 f., 235, 237, 240, 244 f., 248, 251, 253, 256, 258, 273, 283, 287, 297, 300 f., 306, 330, 354, 357, 376 der Erfahrung 330 Analytik 349 analytisch 62, 110, 148, 155, 201, 229, 311, 386 Anamnese 49 anamnestisch 144 Anerkennung 7, 40, 63, 71, 75, 98, 273, 280, 289 Anfall 68, 107, 110, 160, 162 f., 167, 169, 188, 193, 198, 216, 235 f., 244, 253, 280, 295 f., 303 f., 308 Anfallsbereitschaft 63, 110, 193, 242, 264 angeboren 32, 45, 49 ff., 56, 80, 89, 105, 126, 128, 155, 164, 175, 188, 195, 229, 243, 246, 312, 317, 333, 364, 374 Angina pectoris u. vasomotorische 335 Angioneurose 335 Angioneurosenbehandlung 335 angioneurotisch 335 angioneurotische Diathese 335 Angriffsbereitschaft 151, 216 Angst 55, 59 f., 83, 94, 101, 107, 110, 138, 144 f., 151, 155, 163 f., 176, 186 f., 191 f., 198, 204, 210, 214, 225 f., 233, 253, 255, 271, 274, 294, 298, 315 f., 387 ängstlich 60, 65, 79, 83, 107, 183, 210, 233, 252, 272, 280 f., 300, 316 Ängstlichkeit 39, 110, 152, 157, 199, 216, 303 Angstneurose 330 Angstzustand 187 Anomalie 341 funktionelle 83 Anpassungsfähigkeit 51 Anschauungsformen 70, 82, 220 f., 352 Anthropologie 15, 363, 372 anthropologisch 352, 356, 377 Anthropomorphismus 148 antifeministisch 361, 377 antisozial 243 Antithese 250 Antithetik 251, 254, 383 Antivivisektion 242
Über den nervösen Charakter Antizipation 96, 99 f., 104, 186, 191, 205, 214, 273, 280, 315 antizipatorisch 295 antizipieren 113 Antrieb 42, 48, 70, 73, 81, 149, 154, 173, 178, 213, 260, 265, 280, 282, 299 Anus 155, 220 Anuskontraktion 122 Apollontempel 359 Appendizitis 364 Apperzeption 15, 42, 64, 68 f., 74, 92, 102, 125, 156, 171, 176 f., 190, 195, 205, 251, 280, 288, 312, 330 f., 373 fundamentale 41, 331 hermaphroditische 64 transzendentale 331 Apperzeptionsgrundlage 183 Apperzeptionsrichtung 205 Apperzeptionsschema 353 Apperzeptionsweise 58, 63, 68, 76, 88, 115, 119, 137 f., 191, 221, 288, 331 apperzipieren 75, 88, 142 Approbierung 82 Aprosexie 52 Arbeitsmethode 63, 340 Arbeitsweise 21, 43, 48, 89, 106 Arrangement 14, 16, 63, 73, 86, 119, 125, 135, 147, 156, 160, 163, 179, 186, 190, 209, 211, 213 f., 216, 219, 225, 249, 255, 266, 271, 275, 281, 295, 297, 310 f., 315 arrangieren 212, 222, 249 Arterie 52 Arthritismus 49, 335 Arzt 32, 45, 52, 64, 86, 127, 137, 139, 142, 146, 147, 150, 155, 163, 167, 172, 181 f., 193, 197, 200, 223 f., 227, 241, 251, 257 f., 281, 285, 288, 296 f., 301, 314, 318, 320, 323, 334 f., 337 ff., 341 f., 346 f., 354, 360, 364, 367 f., 378, 386, 391 Hausarzt 303 asexuell 87, 185, 231, 279, 281 Astasie 157 f., 234 Asthenia universalis congita 333 Astheniker 333 asthenisch 49, 332 Asthma 122, 219, 268, 385 nervosum 219 Asthmatheorie 385
Sachverzeichnis Aszendenz 119 Atharva Veda 112, 360 Athene 389 Athletiker 324 Ätiologie 48, 196, 330, 339, 340, 342, 357, 360, 367, 377 sexuelle 41, 113 ätiologisch 49 Atmungsapparat 56 Attitüde 79, 97, 102, 111 f., 114, 136, 174, 177, 217, 221, 247, 249, 258 f., 261, 264, 273, 275, 312 zögernde 111, 145, 247 Aufbau 11, 15, 29, 57, 89, 93, 102, 177, 305, 312, 318 Aufmerksamkeit 40, 45, 51, 53 f., 60, 68, 74, 78, 89, 108, 117, 122, 142 f., 153 f., 156, 164, 178, 192, 196, 202, 226, 235, 249, 272, 275, 280, 282, 292 Aufmerksamkeitsüberladung 201 Ausbruch 64, 143, 146, 160, 187, 197 f., 207, 243 f. Ausdrucksform 23, 47, 61 f., 79, 83, 103, 115, 128, 143, 166, 176, 190, 220 Ausdrucksmittel 64, 169, 171, 192, 290, 298 Ausschaltungstendenz 59 Außenwelt 46, 51, 54, 82, 105 f., 108 f., 156, 317 autobiografisch 349, 391 autoerotisch 301 Autoerotismus 179, 262 Avant nach rückwärts 231 Aviatik 172 Aviatiker 172, 249 B Bacterium coli commune 334 Bakteriologie 339 Balneotherapie 368 Basedowneurose 143 bedingter Reflex 54 Bedürfnis 43, 83, 104, 142, 289, 393 Befriedigung 56, 61, 71, 90, 143 f., 163, 170, 173, 281, 289, 298, 301, 309 Befriedigungsmöglichkeit 56, 141, 172 Begabung 53, 279, 318 Begabungsforschung 328
409 Begehren 22, 61 f., 87, 118, 138, 140, 142 f., 163, 168, 188, 197, 267 Begehrungsvorstellung 57, 234 Begrifflichkeit 10 Behaarungsanomalie 147 Behandlungmethode psychologische 326 Bereitschaft 45 f., 59 f., 64 f., 67 ff., 72, 74 f., 78 ff., 82, 85, 87, 89, 92, 96, 98, 103–106, 109, 113 f., 117, 120, 122, 129, 133, 139 f., 157, 173, 176 f., 182, 184–188, 192, 194, 197, 199 f., 204, 209 f., 216 f., 220, 222, 224, 226, 230, 239, 245 f., 251 f., 255, 258, 263, 265, 267, 273, 277 f., 280 ff., 288, 291, 295, 309, 311, 317 f. Affektbereitschaft 94, 98, 110 f., 175, 226, 240, 242, 245, 249, 272 Anfallsbereitschaft 63, 110, 193, 242, 264 Angriffsbereitschaft 151, 216 Erfolgsbereitschaft 64 Kampfbereitschaft 29, 101, 117, 197, 199, 212, 215 Krankheitsbereitschaft 49–52, 64, 236, 256, 318, 335 Symptombereitschaft 174 Bereitschaftsstellung 43, 174, 190, 284, 288, 313 Beruf 36, 44, 69, 73, 78, 102, 134, 161, 179, 241, 249, 279, 284, 311, 384 Berufswahl 53, 65, 70, 122, 247, 249, 316, 383 Beschäftigungsneurosen 340 Besserung 168, 193, 223, 285, 382 Bewegung 12, 13, 31, 62, 86, 91, 96, 101, 107, 111, 117, 162, 206 f., 211, 258 f., 311, 313, 344, 347, 385 Beweis 43, 61, 67, 72, 95, 99, 101, 112, 118, 119, 135, 137, 142, 145, 168, 175, 189, 198, 212, 225, 245, 256 f., 260, 262 f., 269, 271, 275, 278, 298, 299, 311, 313, 349 bewusst 23, 62, 77, 85, 87, 89 f., 96, 105, 115, 125 f., 130, 135, 147, 161, 174, 191, 208, 215, 291, 329, 350, 384 Bewusstsein 63, 94, 142, 205, 207, 326, 329, 353, 373 Beziehung 21, 48, 93, 118, 122, 163, 175, 180 f., 183 f., 196 f., 203, 208, 213, 216,
410 221, 231, 256, 265, 272, 280, 334, 360, 368 Beziehungswahn 324 sensitiver 324 Bild 9, 22, 39, 41 ff., 51, 55, 71, 81, 88, 92, 94, 102, 109, 111 f., 115, 118 f., 121, 125 f., 133, 143, 145, 151, 161, 166, 177, 182, 189, 193, 196, 198, 205, 220 f., 231, 237 f., 240, 246, 250, 253 ff., 259 f., 275, 281, 290, 298, 311, 378, 394 sexuelles 133 bildlich 81, 87, 92, 97, 113, 115, 117, 171, 205, 221 f., 239, 259, 261, 265, 289 f. Bildsamkeit 41, 80, 352 biologisch 47, 51, 91, 143, 203, 328, 330, 340, 346, 356, 360, 372, 377, 392 Bisexualität 287, 360 f. bisexuell 359 f. Bizarrerie 313 Blepharospasmus 155, 370 Bösartigkeit 39, 131 boshaft 44 bradytroph 333 Bradytrophie 49, 333 Buddhismus 361 Burghölzli 326, 333, 388 C causa finalis 328 Cellularpathologie 323 f. cerebral 333 Charakter 7, 9–15, 22, 29 f., 39 f., 42, 44–47, 49 ff., 53, 68 f., 75, 77, 79, 94, 97 f., 100, 104, 113 f., 116, 119 f., 126, 133, 148, 155, 168, 178, 180, 185 f., 188, 191 f., 194, 204, 225, 229, 233, 239, 242, 245, 270, 295, 299 f., 311 f., 314, 317 f., 320, 324 f., 332, 361, 363, 370 Charakterologie 75, 361 Charakterzug 14, 16, 31, 36, 39, 45 ff., 54 f., 60 f., 65, 67, 74 f., 78 f., 85, 92, 96, 98, 101, 105, 107, 109 ff., 114, 120, 125 f., 132 f., 136, 139, 141, 143, 145 f., 152, 156, 162 f., 166, 176, 180, 182, 188 f., 195 ff., 199, 204, 209, 213, 215, 220, 227, 229 f., 233, 239 f., 244 f., 255 f., 258, 265 ff., 272, 274 f., 277, 280, 292, 295, 311–314, 316 f.
Über den nervösen Charakter chromaffin 50, 336 chronisch 302, 336, 342, 365, 368 Chronos 367 Climacterium siehe Klimakterium 367 Common Sense 353 Congressus sexualis 68 conscience 326 D Daimonion (Sokrates) 359 Daltonisten 92, 356 Dämon 107, 112, 279, 283, 293, 358 dämonisch 30, 226 Darmperistaltik 364 dédoublement 326 Degeneration 49, 52, 342, 377 Degenerationsbegriff 348 Degenerationslehre 348 Degenerationstheorie 342, 348 Degenerationszeichen 52, 120 f., 342, 364 déjà vu 102, 357 Dekadentafel 349 Dekorum 293 Delphi 359 Dementia 149, 203, 276, 301 Dementia praecox 81, 206, 252, 262, 276, 280, 301, 326, 332, 342 Demenz 212 Demut 44, 98, 215 Denken 10, 15, 22, 43 f., 53 ff., 58, 66, 76 ff., 80 ff., 91 f., 98, 104, 109 f., 115 f., 125, 138, 148, 204, 247, 250 f., 254, 314, 316 f., 330, 349–353, 359, 363 f., 376, 379 f., 383, 385, 387 analogisches 58 Theorie des wahren Denkens 330 Denkökonomie 356 denkökonomisch 42 Denkstarre 251, 254 Depersonalisation 103, 357 f. Depossedierung 91 Depression 76, 127, 149, 160, 174, 176, 198, 214, 224, 255 f., 269, 275, 284, 298, 316 depressiv 332 f. Dermatitis 334 f. seborrhoides 335 Determination 40, 320 Determinismus 353
Sachverzeichnis deutschnational 333 Deutungsschema 15 Dezennium 50, 367 Dialektik 138, 313, 355, 367 Diätetik 334 Diathese lymphatische 336 Diathese 50, 335, 340, 342, 344 f., 364, 380 exsudative 49, 219, 268, 335, 338, 346, 385 Dienstbotenmörder 190 differentialdiagnostisch 146 Differentielle Psychologie 328 Disposition 14, 31, 46, 48 f., 53, 100, 108, 140, 146 f., 154, 165, 204, 209, 235, 236, 302, 320, 335 f., 339, 344 f., 357, 359, 370 neurotische 14, 100, 140, 147, 165, 209, 320, 357 Dissoziation 76, 84, 225, 354 Distanz 42, 71, 79, 89, 118, 158, 163, 219, 223, 313, 315 Distanzierung 348 Dogma 23, 66, 91, 144, 148, 290, 369 dogmatisieren 81 Dogmatisierung 148 Domestikation 29 Don Juan 172, 278, 371, 386 double vie 39, 76, 198, 326, 351 Drang 55, 86, 150, 154, 165, 172, 218, 266, 276 Dreiecksituation 185 Drüse 50, 52, 165, 341 Drüsensekretion 64 durée 353 Dynamik 22, 29, 74, 92, 104, 108 f., 189, 219, 261 dynamisch 95, 104, 116, 250, 326 Dynamische Psychiatrie 326 Dyskrasie 340, 364 Dyspepsie 302 f. E Egoismus 39, 61, 65, 108, 114, 142, 198, 277 f. egoistisch 66, 133, 204, 245 egozentrisch 200, 209, 244
411 Ehe 43, 65, 73, 107, 130, 135, 152, 164, 175, 177, 179 ff., 184 f., 194, 196, 198, 204, 208, 213, 229, 237, 247, 252 f., 256 f., 261, 265, 274, 277, 282, 289, 297, 310 f., 313, 370, 390 Ehebruchsfantasie 301 Ehrgeiz 53, 57, 67, 72, 84 f., 108, 127, 130, 132, 152, 161, 180, 189, 208, 240, 242, 249, 251, 255, 265, 271 f., 277, 280, 302, 325, 344 Eifersucht 176 Einengung 68, 326 Einfügung 44, 69, 103, 110, 149 f., 156, 164, 168, 193, 212, 273 Einfühlung 54, 60, 95, 100, 199, 233, 236, 267, 295, 298, 373, 381 Einheit 9, 13 ff., 39, 77, 193, 316, 319, 323, 328, 353, 357, 383 der Persönlichkeit 39, 316 des Lebens 323 einheitlich 29, 31, 80 f., 101, 108, 110, 120, 135, 153, 277, 317 f., 328 Einschätzung 49, 78, 149 Einschlafen 201 Einstellung 42, 58, 65, 79 f., 109, 114, 117, 165, 169, 189, 194, 202, 213, 231, 237, 246, 268, 310, 320, 334 Ejaculatio 134, 267 Eklaireurtruppe 162 Eklampsia infantum 337, 342 Ekzem 303, 335 élan vital 353 Eltern 56, 64, 80, 84, 111 f., 122, 128, 131, 147 f., 156, 160, 165, 167, 169, 173, 185, 187, 194, 228, 231, 240, 247, 252, 263, 268, 295 f., 302, 304–307, 310 f., 345 f. embryonisch 359 f. emotional 327, 353 Emotionalität 65, 174 Empfindlichkeit 39, 44, 61, 67, 164, 251, 268 Empfindung 41 f., 48, 54, 63 f., 67, 70, 77 f., 82, 85, 88 ff., 92, 98 f., 110, 133 f., 136, 151, 154, 156, 168, 184, 205, 219, 228, 233, 240, 248, 258, 260, 268, 287, 290, 296, 298, 329, 357 f., 364 Empiriokritizismus 330 endogen 191
412 Endokarditis 339 Endokrinologe 341, 362 Endokrinologie 339 ff. endokrinologisch 341 Endziel 42, 47, 56, 70, 78, 115, 120, 129, 185 f. 189, 190, 215 f., 222 f., 229, 244, 259, 274, 280, 283 Endzweck 39 f., 42, 51, 55, 59–62, 69, 72– 75, 77, 86, 90, 95, 103, 125, 134, 138, 176, 189, 192, 258, 290, 303, 319 fiktiver 125 leitender 67 Energie 32, 163, 169, 324, 354, 358 Erhaltung der psychischen E. 32, 324 Enquête 173 Entartung 342 Entartungstheorie 378 Entartungszeichen 342 Entfremdung 39, 327 Entmannung 183, 201, 214, 318 Entwertung 107, 130, 136 f., 157, 172, 182 f., 195, 197, 201, 204, 213, 219, 227, 231, 245, 247, 251, 253, 275, 280, 291, 309, 313 Entwertungstendenz 74, 75, 97, 141, 161, 180 f., 189, 191, 194, 198, 214, 216 f., 220, 222 ff., 243, 246, 250, 252, 261 f., 265, 272, 277, 279, 284, 288, 290, 292, 301, 313 entwickelt 9, 12, 52, 55, 59, 70, 73, 94, 100, 114, 119, 133, 148, 152, 161, 177, 179, 189 f., 228, 231, 243, 255, 262 f., 266 f., 275, 291, 295, 315, 323, 326 f., 341, 355, 358, 384, 388 Entwicklung 7, 9 ff., 13, 29–33, 43, 48, 71, 77, 82, 89, 95, 97, 100, 105, 109 ff., 117, 128, 131, 164 ff., 173, 187, 189, 195, 203 f., 213, 216, 227, 231, 234, 247, 249, 256, 267, 272, 324, 328, 332, 334, 342, 360 f., 371 f., 378, 385 Entwicklungsphysiologie 324 Entwicklungsreihe 22, 247 Entwicklungsstillstand 49 Enuresis 52, 79, 173, 179, 216 ff., 225, 307 Epidemiologe 333 Epilepsie 235, 343 Affektepilepsie 242 Hysteroepilepsie 253
Über den nervösen Charakter metabolische 337 pschogene 160 psychoepileptisch 162 Epiphyse 340 epistemologisch 10 Epithelkörperchen 341 f. Epithelkörperchenfunktion 341 Erblichkeit 345 Erektion 130 Erektionsfantasie 211 Erfahrung 11, 29, 43, 45 f., 57 f., 74, 77 f., 81 f., 89 f., 98, 104, 112, 118, 129, 133, 139, 147, 165, 188, 205, 223, 228, 234, 238, 258, 265, 277, 281, 286, 301, 318, 330, 346, 353 Erfolgsbereitschaft 64 Erhaltung der psychischen Energie 32, 324 erhöht 51, 67, 83, 113, 174, 191, 193, 219, 252, 288, 303, 319, 338, 370 Erhöhung 41, 43, 51, 56, 59 f., 62 f., 66, 69, 72, 78, 82, 85 f., 92, 95, 110, 131 f., 171, 175, 177 f., 192, 206, 218, 226, 228, 237, 241, 247, 254, 264 f., 300 Erinnerung 94, 104, 106, 152, 164, 173, 179, 182, 185, 188, 202, 206, 221, 248, 252, 273, 275, 295 f., 388 Erinnerungsbild 94 Erinnerungsspur 45, 138, 185, 205, 227, 243, 248 erkenntnistheoretisch 15, 330 f., 376 Erkenntnistheorie 350 f., 356 Erlebnis 45, 47, 63, 65, 77, 94, 102, 119, 132 ff., 138, 156, 165, 167, 182, 191, 221, 234, 289, 334, 357, 389 Ermüdbarkeit 158 Ermüdung 332 Ernährung 120, 334, 347 Ernährungsapparat 54 Erniedrigung 46 f., 57, 86, 100, 177, 183, 208, 278, 283, 302 erogen 152 Erregbarkeit 104, 205, 337 f., 340, 344, 356 Erregung 60, 64, 119, 187, 205, 228, 290, 300, 330, 358 Erregungssumme 324 Erröten 79, 174, 228 Erscheinung 13, 22, 39 f., 43 ff., 53, 55, 59, 66, 70, 74, 77 ff., 83, 88, 90, 101 f., 110,
Sachverzeichnis 119, 140, 143 f., 150, 153, 156, 161 ff., 171, 180, 189, 192, 194, 198, 216, 220, 223, 230, 232 f., 237, 259, 264, 266, 268, 275, 290, 300, 302 f., 311, 315 f., 335, 353, 357 f., 367, 378 Erschreckbarkeit 164 Erstgeburtsrecht 265 Erwartung 45, 61, 65, 80, 86, 106, 131, 145, 163, 168, 189, 197, 204, 207, 257, 264, 272 f., 280, 314 Erwerbseifer 54 Erytrophobie 122 Erziehung 12, 24, 31, 56, 64, 77, 84, 145, 164, 174, 247, 252 f., 255, 264, 293, 323, 346 f., 355 f., 370, 391, 394 zur Gemeinschaft 12, 31 Erziehungsberatung 334 Eskadambra 206, 207 eskomptieren 186 Eskomptierung 144 Ethik 21, 23, 73, 209, 323, 350, 358 f., 378 f. Evamythos 279, 386 Ewigkeitswert 46 Exhibitionismus 188 ff., 273, 284 exogen 191 exosomatisch 329 Experimentalpsychologe 328 exsudativ 49, 219, 268, 334 f., 344, 346, 380, 385 extrauterin 55 F Familie 54, 56, 80, 107, 128, 131, 140, 165 f., 169, 178 ff., 187, 211, 217, 221, 228, 231, 235, 240, 266, 270 f., 277, 301, 304, 311, 341, 393 Fantasie 42, 58, 61, 81, 92, 94, 100, 108, 120, 132, 152, 154, 188, 191, 208, 213, 242, 267, 277, 282, 296, 300 f., 392 Fantasietätigkeit 59 fantastisch 58, 81, 108, 141, 364 Feigheit 39, 87, 114, 215, 220, 252, 272 Feind 60, 129, 162, 176, 285, 291 f. feindlich 55, 57, 68 f., 79, 81, 104, 106, 117, 130, 141, 182, 197, 268, 280, 301 feindselig 79, 83, 85 f., 97, 102, 126, 131, 141, 153, 183, 189, 209, 243, 265, 299
413 Fellatiofantasie 191 Feminierung 362 feministisch 380 antifeministisch 361, 377 Fertigkeit 45, 80, 89, 106 Fetischismus 171, 246, 255, 274 fetischistisch 202 Fettleibigkeit 56, 368 Fiat, das (W. James) 82, 113, 353 Fiktion 13, 15, 43, 55, 58, 60, 66–69, 71, 77 f., 80 ff., 85–92, 94–97, 106, 109, 112 f., 115 f., 122, 125, 129 f., 136, 138, 142 ff., 149, 156, 158, 161, 169, 171, 189, 191, 195, 198 f., 204, 209, 211, 218, 223, 231 f., 234, 236, 244, 247, 249, 254, 258, 260, 265, 267, 272, 274, 278 ff., 295, 311, 314 f., 350, 352, 357, 359, 369, 384 abstrakte 129 leitende 41, 57, 59, 61, 69, 71, 78 f., 81 f., 87, 89, 92, 98 f., 101, 107, 110, 114, 148, 161, 196, 204 f., 209, 212, 214 f., 218, 223, 225, 239 f., 243, 254, 267, 284, 311, 314 f., 317 f. leitende männliche 214, 218, 226 neurotische 43, 195 Realisierung der 148 Fiktionalität 329, 352 Fiktionsverständnis 330 fiktiv 13, 29, 42, 44, 46 f., 51, 66, 69 f., 72 f., 77 f., 81 f., 85–89, 90, 92, 96, 98, 100 f., 103 f., 109, f., 114 f., 119 f., 122, 125 f., 129, 133, 139, 147, 156, 171, 174, 176, 180 f., 183, 186–189, 191 f., 195, 199, 205, 208, 215, 219 f., 222, 238 f., 244 f., 252, 258 f., 265, 267 f., 273, 275, 278, 283 f., 313, 315, 317 fiktives Maß 29, 195 Fistula 155 Fixierung 54, 74, 83, 99, 118, 149, 167, 185, 275, 303 Flagellation 295, 300 f. Flugtraum 68, 250 Forberg, Friedrich Karl 350 Forderung 22 f., 31 f., 58, 60, 65, 106, 131, 155, 162, 175, 182, 223, 252, 261, 263, 296, 352 Form 22, 32, 40, 49, 51, 55, 57, 58, 63, 67, 70, 74 f., 80, 103, 110 ff., 114, 121, 125,
414 128, 130, 136, 138, 143, 148 ff., 165, 170, 174, 179, 186, 188 f., 191, 197, 202, 205 f., 211, 216, 229, 243 f., 252, 258, 267, 273, 277, 282, 291, 295, 298, 306, 308, 313 f., 326, 337, 348, 350, 355, 361, 364, 374, 376, 378 Formdeuteexperiment 326 Formenkreis 44, 331 Formenwandel 42, 55, 66, 79, 88, 98, 112, 116, 148, 149, 156, 177, 214, 218, 225, 234, 243, 244, 252, 265, 268, 279, 284, 292, 315 Formenwandlung 148, 169, 274 fötal 49, 51, 332 französische Schule 15, 325 freier Wille 57 Fremdheitsgefühl 102 Freundschaft 160, 267, 327, 377, 385 Frigidität 88, 134, 157, 164, 177, 198 Fruchtwasserabgang 157 Frühreife 52 f., 61, 130, 185, 240 Fugue 171 f. Fühler 45, 167 Führung 81, 105, 326 funktionell 48–53, 59, 69, 83, 122, 332, 337, 342 f., 347, 376 f. Furchenzunge 364 Furcht 45, 58, 61, 65, 73, 87 f., 92, 102 f., 113, 118, 136–139, 149, 154 f., 157 f., 160 f., 165, 170, 172, 175, 177, 180 f., 183, 185, 192, 194, 198, 203, 208, 210, 213, 220, 224 ff., 229, 231, 234, 238, 243, 245 f., 252–256, 262, 264, 266 f., 269, 272, 274, 277–283, 286, 288–293, 296, 300 f., 306 f., 310 ff., 315 f., 344 G ganzheitlich 324, 353 Ganzheitspsychologie 326 Gebundenheit 31 Gedächtnis 42, 45, 54, 58, 69, 78, 81 f., 85, 88 f., 92, 104, 115, 138, 165, 174, 202, 205, 353, 355, 358 Gedanke 11, 13 f., 22, 64, 70, 82, 92, 100, 112, 120, 126, 130, 132, 134, 135, 138, 150, 154 f., 159, 165 f., 168 f., 174, 177, 181, 185, 188, 202, 207, 217, 226 ff., 232, 235, 237, 241, 246, 248 ff., 253, 256–259, 261, 264,
Über den nervösen Charakter 266, 270 f., 279, 283, 285, 287, 289, 292, 296, 298, 304, 306, 308 ff., 323, 328 f., 331, 338, 342, 349, 358, 375, 391, 394 Gefallsucht 125, 145, 174, 176, 226 Gefühl 22, 41–44, 47 f., 54, 56, 57–61, 63, 65 f., 69, 70–73, 75 f., 78 f., 85 ff., 94, 96, 98, 102, 108 ff., 112 ff., 116, 118 f., 121, 128, 130, 133 f., 137, 140 f., 143 f., 150 f., 157, 159, 166 f., 169 ff., 173, 175 ff., 186, 191, 196–200, 202, 204, 209 ff., 214 f., 218 ff., 223, 228, 233, 235 f., 238, 240, 248, 251, 265 f., 275, 281, 283, 286 f., 289 f., 292, 296 f., 299, 301 f., 306–309, 312, 314, 325, 327 ff., 332, 356 f., 370, 380 Gegenfiktion 98, 104 f. leitende 103 Gegengedanke 138, 184 gegengeschlechtlich 178, 291 Gegengeschlechtlichkeit 178 Gegensatz 42, 62 f., 66, 68, 96 f., 104, 109, 112, 138, 148, 153, 171, 177 f., 180, 217 ff., 224, 228, 238, 241, 247 f., 251, 254, 264, 270, 299, 313, 319, 349 Gegensatzlehre 350, 383 gegensätzlich 62, 67, 76 f., 88, 92, 101, 109 ff., 113, 119, 137, 189, 221, 226, 238, 250 f., 254, 259, 262, 272, 280, 299, 312, 318 Gegensatzpaar 63, 109 Gegensatztafel 62, 109, 349 Gegenwart 13 f., 22, 29, 120, 237, 258, 280, 318, 338, 352, 360, 377, 387 Gehirn 120, 205, 357 f., 378 Gehobenheit 98 Gehorsam 44, 56, 80, 311 f., 315, 320, 352 Gehörsanomalie 234 Gehörsempfindung 164 Gehörshalluzination 201, 207 Gehörsorgan 202 Gehörsüberempfindlichkeit 157 f., 164, 201 Geißelung 300 Geistesstörung 347 geistig 52, 54 ff., 59, 77 f., 93, 140, 216, 272, 342, 344, 346, 356, 376, 383, 384 Geiz 54, 61, 85, 107, 122, 125 f., 128, 132 f., 135 f., 139 ff., 145, 147, 158 f., 174, 280, 297 Geld 122, 127 f., 144, 159 f., 376
Sachverzeichnis Geliebtwerden 269 Geltendmachung 149 Geltung 23, 59, 94 f., 108, 133, 142, 144, 151, 175 f., 181, 184 f., 190 f., 213, 222, 229, 243, 247, 261, 282 f., 301, 305, 307, 316 Geltungsdrang 74, 282, 366 Gemeinschaft 12, 29, 31, 69, 103, 118, 140, 144, 179, 186, 213, 243, 251, 256, 262, 278, 288, 311, 323, 390 Gemeinschaftsgefühl 10, 12, 14, 30 ff., 41, 61, 65, 74, 91, 94, 98, 10 f., 106, 118, 141, 160 f., 175, 179, 185, 191, 209, 214, 240, 244, 260 f., 282, 298, 316, 319, 348 Gemütsruhe 44 Genauigkeit 60, 108 Genese 22, 346 genetisch 29, 40, 318, 330 Genie 72, 342, 348, 384 Genitalaffektion 224 Genitale 75, 130, 137, 169, 189, 274, 290, 377 Genitalorgane 111, 118 Genua vara oder valga 52 Germanentum 168 Geschlecht 64, 97, 111 f., 117 f., 135, 163, 165, 171, 175, 188, 191, 202 ff., 207, 217, 227, 254, 271 ff., 275, 277 f., 283, 293, 360 f., 374, 376 drittes 374 Geschlechtsrolle 64, 110 f., 117, 129 f., 133, 154, 165, 190, 202 ff., 228 Geschlechtsverkehr 147, 155, 184, 228, 304 Gesellschaft 7, 32, 44, 53, 69, 97 ff., 102, 112, 119 f., 126, 136, 141, 150, 158, 177, 199, 228, 242, 247, 254, 265, 267, 271, 275, 286, 291, 301, 311, 315, 320, 327, 329, 331, 335, 350, 357, 374, 383, 391 Gesicht 45, 92, 114, 143 f., 148, 237 Geste 46, 55, 64, 97, 109, 136, 184, 247, 255, 267, 293 Gesundheit 44, 98, 174, 350, 392 Gewissen 73, 74, 194, 209 f., 240, 244, 349 Gewissensbiss 61, 131, 244, 255, 348, 382 Gewissheit 99, 200 Gier 122, 125, 128, 141 f., 159, 161, 171 f., 175, 279
415 Giftmädchen 292, 389 Glaube 57 f., 101, 127, 197, 273, 356, 383, 388, 391 Gleichgewicht 140, 146 Gleichnis 42, 88, 214, 226, 279, 318 Gott 76, 81, 89, 117, 127, 138, 149, 181, 211, 226, 231, 247, 281, 299 ff., 349, 359, 366 f., 383 f., 388, 391, 394 Gottähnlichkeit 76, 99, 267 Gottähnlichkeitsgedanke 161 Gottähnlichkeitsstreben 30 Gottheit 60, 89, 244 Gourmandise 54 Grausamkeit 85, 114, 125, 174, 240 ff., 244 f., 315, 349 Gravidität 152, 156 f., 186, 197, 303 Größengefühl 197 Größenidee 76, 84, 149, 284, 301 Grundposition 11 Gruppierung 63, 64, 92, 101, 109, 110 Güte 39 gynaikokratisch 196 Gynäkomastie 166, 371 H Habgier 209 Habilitation 325, 392 Habilitierung 32 Habitus 49, 53, 78, 102, 332, 336, 345 Halluzinant 206 Halluzination 72, 94, 101 f., 104, 191, 196, 198, 205–208, 228, 248, 255, 301, 358 halluzinatorisch 53, 60, 94, 100 f., 104, 115, 118, 186 f., 205 f., 208, 210, 231, 274, 280, 295 hämatogen 335 hämolytisch 334 Handeln 43 f., 53, 55, 66, 74, 76, 80, 82, 90 f., 94, 98, 107, 109, 110, 116, 125, 170, 206, 210, 226, 233 f., 317, 325, 346, 350, 353, 364, 369, 379, 391 Handlung 40, 57, 61, 63, 67, 80 ff., 89 ff., 105, 122, 126 f., 171, 197, 209, 263, 291, 296, 298, 308, 317, 344, 353, 358, 381 Harnstottern 271 Hass 45, 61, 75, 265, 275, 326 Hässlichkeit 52, 216, 311
416 Hauptleitlinie 47, 92, 144 Heiligkeit der leitenden Idee 22 Heiligung 46 Heilung 63, 137, 139, 153, 155, 181, 217, 224, 227, 257 f., 268, 292, 324, 386, 388 Heiratsfähigkeit 65 Herabsetzung 45 f., 59 f., 64, 74 ff., 84, 86, 94, 97, 100, 104, 110 f., 113, 121, 125, 134 ff., 140, 145, 148, 152, 165, 171, 173 f., 177, 186 f., 196, 198, 201, 210 f., 216, 227 f., 251 f., 259, 261, 272, 275, 290, 292, 303, 305 f., 308 ff. Herbartianismus 352 Heredität 50, 64, 85 hermaphroditisch 63 f., 113, 153, 178, 189, 193, 203, 221, 231, 259 Hermaphroditismus 48, 63, 111 f., 149, 154, 166, 171, 184, 194, 203, 221, 320, 328, 360 f. Pseudohermaphrodit 188 Hermeneutik 385 Heroenkult 267 Herrschaft 55, 67, 96, 122, 134, 141, 155, 165, 180, 196, 201, 211 f., 215, 218, 235, 244, 251, 268, 311, 367 Herrschsucht 30, 39, 85, 97, 107, 113, 125, 127, 141, 145, 157 f., 170 f., 174, 176, 185, 194, 196, 200, 202, 210, 215 f., 220, 239– 242, 256, 261, 272, 277, 290, 292, 313 Heterosexualität 359 Hexe 279, 293, 388 Hilflosigkeit 55, 81, 99, 145, 275 Hilfskonstruktion 43 f., 55, 91, 133, 148 Hilfslinie 77, 81, 103, 117, 149, 180, 190, 192, 215, 220, 239, 369 Hippias 88 Histologie 339 histologisch 49, 324 historisch 7, 9, 40, 148, 194, 248, 350, 364, 372 Hochleistungssportler 338 Hochstaplertum 171 Hodenatrophiestudie 336 Hodensackzunge 364 Hoffnung 45, 118, 189, 243, 265, 268 höher 67, 83, 95, 96, 99, 116, 188, 214, 229, 247, 304
Über den nervösen Charakter Höherbildung 121 Höherschätzung 130, 227, 232 Höherstellung 238 Höherstreben 74 höherwertig 119, 188, 364 Höherwertigkeit 280 Höherwertung 254 Homosexualität 12, 51, 62, 75, 87, 161, 190, 197, 202, 246, 264, 283, 291, 320, 323, 355, 361, 363, 374 f., 378 homosexuell 67, 133, 191, 195, 267 f., 311, 359 f. hörstumm 234 Hörstummheit 52, 173 humoral 31, 176 humorale Einflüsse 31 Hydrocephalus 52 Hydrokele 310 hydropathisch 139, 158 Hyperakousie 167 Hyperästhesie 121 hyperkalzinämisch 337 Hyperplasie 336 Hypnose 75, 327, 359 Hypnosetherapie 375 Hypnotismus 329, 352, 359, 375, 378 Hypochondrie 138, 171, 186, 191, 214, 297 hypomanisch 99 Hypophyse 50, 340 Hypoplasie 53 hypoplastisch 336, 339 hypostasieren 212 Hypostasierung 46 hypoton 336 Hysterie 167, 214, 242, 324–327, 330, 352, 372, 376 Hysterika 211 hysterisch 59, 122, 163, 174, 186, 193, 352, 370, 375 I Ideal 36, 41 f., 46, 57, 66, 71, 78, 84, 96, 103, 110, 117, 126, 139, 171, 174, 176 f., 180 f., 194, 213 f., 221, 277 f., 293, 311, 349, 389 f. leitendes 318 Idee 49, 77, 80, 92, 95 f., 98, 113, 116 f., 148, 195, 219, 221, 226, 251, 254, 267, 273,
Sachverzeichnis 278, 284, 308 f., 312, 347, 350, 352 f., 359 f., 363, 369, 380, 393 leitende 14, 22, 29, 80, 98, 101, 105, 117, 277, 317, 352 idées fixes 325 Identifizierung 222, 228, 254, 268 Ideogenitätsmoment 333 Implikation 15 Impotenz 61, 73, 75, 87 f., 133 f., 136–140, 164, 176, 210 f., 262, 267, 296 f., 309 f. Individualität 83, 311, 354, 359 Individualpsychologie 7, 9, 11–14, 16, 29 f., 32 f., 42, 48, 62, 67, 70, 72, 95, 111, 112, 114, 144, 148, 165, 173, 186, 201, 209, 223, 232, 234 f.5, 242 f., 263, 316, 318 ff., 323 ff., 344, 346, 351, 354 f., 357, 362, 366, 370, 372, 374, 380, 385, 390 individualpsychologisch 13, 29, 31, 40, 62, 333, 363 Individuum 9, 13 f., 22, 29, 48, 58, 78, 108, 112, 119, 147, 203, 300, 323 f., 328 f., 344, 359 Inzest 97, 138, 169, 387 Inzestkomplex 97, 171, 184, 227 Inzestkonstellation 185 Inzestmöglichkeit 185 Inzestregungen 43, 87, 138, 160 J Jargon 42, 68, 142, 152, 168, 188, 221 Junktim 116, 151 f., 175, 194, 210, 224, 231, 256, 259, 264, 277, 280, 288 K Kampf 29, 45 f., 49, 51, 59, 65, 68, 72, 88, 98, 102, 119, 121, 151, 157, 162, 165, 173, 175, 181, 211, 219, 223, 226 f., 230, 235, 238, 240, 249, 258, 264 f., 277 ff., 283, 288, 303 ff., 307, 311, 316, 353, 356, 374, 378, 385 ff. Kampfbereitschaft 29, 101, 117, 197, 199, 212, 215 Kastration 112, 151, 177, 268, 368 Kastrationsfantasie 189 Kastrationsgedanke 220, 228, 272 Kastrationswunsch 283 Kaufzwang 171 Keraunoneurosen 340
417 Kinderfantasien 94, 169 Kinderfehler 79, 85, 106, 153, 228, 278 Kinematograf 258 Kirche 242, 292, 384 Kirchenlehrer 377 Kirchenvater 195 Klarlegung 159 Klavierspielerkrampf 198 f. klein 60, 64, 77, 84, 94, 96, 98, 106, 110, 112, 119, 128 ff., 144, 151, 173, 187, 190, 194, 196, 204, 206, 215, 221, 231, 241, 247, 249, 257, 261, 267, 269, 270, 278, 279, 286, 289, 297, 304, 346 Kleinheit 52, 59, 64, 70, 81, 110, 130, 220, 228, 266, 269, 283, 310 Kleinheitsgefühl 83 Kleinheitsidee 84 Kleinheitswahn 108 Kleptomanie 161, 171 Klimakterium 65, 140 f., 143, 203, 367 f. Klimatotherapie 368 Klitoris 147, 302 Koitus 139, 157, 330 Koitus interruptus 330 Koketterie 194, 196 ff., 200 f., 215, 226, 273 Kolik 53, 122 Kolon 334 Kompensation 9 f., 48, 50 f., 55, 69 f., 83, 89, 99, 102, 105, 175, 177, 209, 222, 242, 254, 263, 284, 298, 323, 351 psychische 70, 351 Kompensationslehre 49 Kompensationsmöglichkeit 54, 332 Kompensationstheorie 348 Kompensationswunsch 328 Kompensationszwang 173, 332 Komplex 51, 340, 355 Konflikt 60, 95, 165, 210, 216, 333, 373 Können 49, 81, 137, 171, 204, 386 Konstanzprinzip 324 Konstitution 50, 52, 188, 319, 332, 336, 338–341, 345, 364, 376 konstitutionell 47, 49, 51, 53 f., 56 f., 62 f., 69 f., 83, 96, 105, 109, 122, 129, 190, 216, 222, 226, 240, 245, 324, 338, 340 Konstitutionsanomalie 178 Konstitutionslehre 332, 339, 341, 345
418 Konstitutionspathologie 338 f. Konstitutionstypologie 324, 363 Konstruktion 114, 149, 183, 186, 197, 200 f., 215, 219, 229, 251, 255, 261, 296, 315 Koordination 50, 338 Koprologie 273 Koprophilie 283 Körper 50, 118, 211, 274, 289, 370, 378 Körperbautyp 332 Korrelation 50 Korrelationszwang 49 Kosmogonie 77 Kraft 15, 22, 39, 41, 63, 68, 78, 79, 81, 98, 104, 109, 117, 129, 140 f., 184 f., 187, 190, 199, 204, 211, 215, 221, 248, 255, 273 f., 277 f., 290, 295, 306, 317 f., 325 leitende 62 schöpferische 15 Kraftmaß 357 Krankheitsbereitschaft 49–52, 64, 236, 256, 318, 335 Krankheitsgenese 216 Krankheitsheredität 311 Krankheitslegitimation 152, 295 Krankheitssystematik 332 Krankheitszustand 181 Kretinismus 324, 340 Kreutzersonate 292, 389 Kreuzelschreiber 292 Kriegsneurose 12, 65, 83, 232, 234, 354 Kritik 21, 125, 136, 141, 150, 160, 203, 217, 223, 251 f., 328, 330 f., 347 f., 353 f., 356, 367, 383 f., 390 Kronos 140, 367 Kryptorchismus 134 f., 147, 165 Kultur 9, 30, 46, 104 f., 128, 149, 154, 195, 242, 272, 300, 308, 323, 376 f., 383, 391 Kunst 22, 53, 77, 173, 180, 195, 234, 279, 282, 292, 315, 373, 380 Kunstgriff 14, 43 f., 46, 63, 66 f., 69, 71, 81 f., 86, 98, 100, 106, 110 f., 113, 116, 121 f., 126 f., 133, 146, 148, 156, 163, 171, 180–183, 188, 190, 196, 202, 204, 210 ff., 214 f., 221 f., 238, 259, 272, 295 f., 305, 310, 314, 317 Künstler 23, 72, 99, 154, 282, 323, 389 künstlerisch 15 f., 53, 83, 99, 106, 116, 279, 298, 316, 378
Über den nervösen Charakter Kur 56, 134, 139, 146, 155 f., 158, 166 f., 218, 225, 285, 300, 301, 303, 318 L Labia minora 147 Labilität 338, 354 Lange, Friedrich Albert 350 Laster 60 f., 161, 180, 182, 210 lasziv 183 Leben 11, 13, 15, 22 f., 32, 39, 42 ff., 46 f., 54 f., 58 ff., 65 ff., 69–72, 74, 76 f., 80 f., 86, 92, 95, 97, 99 f., 102, 104, 106 f., 109– 112, 115, 117–122, 129, 135 f., 138, 140 f., 146, 151, 153–156, 160 f., 163 f., 172–175, 177, 181, 183, 185, 188, 190, 195, 203 f., 206, 210, 216, 220, 223, 229, 231, 233, 242 f., 247 ff., 253, 256, 258 f., 263, 266, 268, 270 ff., 276, 278–281, 285 f., 289, 293 f., 296, 300, 308 f., 315, 317, 320, 323 f., 333 f., 344, 349 ff., 357 f., 362, 369, 374, 380, 382–385, 387–391, 393 Lebensaufgabe 12, 31, 298, 315, 319 Lebensphilosophie 326, 353, 358 Lebensplan 13 f., 22, 29, 85, 87, 89, 98 f., 179, 185, 188, 202, 214, 230, 244 f., 272, 317 ff. Lebensproblem 44, 66, 89, 161, 244, 315 Leberhyperämie 341 Lebhaftigkeit 53 Legitimität 176, 275, 289 Leiden 59, 85 f., 88, 145, 147, 152, 171, 183, 212, 217, 236, 242, 260, 301 f., 354, 381 Leidenschaft 217, 274, 371 Leistung 16, 22, 55, 81, 83, 87, 160, 191, 236, 245, 279, 311, 316 Leistungsfähigkeit 29, 54, 132, 135 Leitbild 80 f., 99, 112, 129, 134, 161, 171, 180, 184, 189, 191, 195, 231, 244 f., 254, 308, 314, 317 f. leitend 14, 22, 29, 41 f., 44, 57, 59, 61 f., 66 f., 69, 71, 78–82, 85, 87–93, 95, 98 f., 101, 103, 105, 107, 110, 113 ff., 117, 133, 138, 141, 148, 151, 155, 161, 196, 204 f., 208 f., 212, 214 f., 218, 223, 225 f., 239 f., 243, 254, 261, 267, 273, 277, 279, 284, 311, 312, 314 f., 317 f., 352, 367 Leitgedanke 41, 62, 156, 169
Sachverzeichnis Leitidee 102, 107, 115, 148, 171, 266, 303, 317 Leitlinie 16, 23, 46, 54, 57 f., 66, 72 f., 78, 90, 93 f., 103, 110, 112, 126, 141–144, 148, 154, 171, 190, 209, 245, 249, 317 Hauptleitlinie 47, 92, 144 Leporelloliste 172, 371 Leptosom 324 Lernpsychologie 355 Leugnung 203 f. libidinös 87, 91, 95, 108, 116, 118, 142, 163 Libido 41, 86, 91, 149, 184, 195, 222, 226, 375, 378 Libidolehre 41, 152 Libidotheorie 113 Lichen urticarius 335 Lichtscheu 52 Liebe 41, 44 f., 69, 80, 91, 103, 107, 130, 135 f., 160, 162, 167 ff., 171 f., 175, 177, 179, 181 f., 185, 194, 196 f., 200, 218, 222, 231 f., 241, 252, 256, 261, 265 ff., 274 f., 277 ff., 282 f., 288, 301, 309 f., 313, 315, 326, 344, 355, 380, 388, 389 Liebesübertragung 136, 182, 197 Liebeswerbung 43, 131, 157 Lieblosigkeit 64, 143, 319 lingua scrotalis / plicata 121, 364 Lipomatosis 368 Liquorfrage 339 Logik 13, 30 f., 63, 103, 115, 175, 214 f., 276, 283, 315, 329 ff., 349 f., 356, 391 des menschlichen Zusammenlebens 13, 30 f. Lues 339 Lüge 61, 74, 172, 181, 227, 249, 294, 371 Lügenhaftigkeit 53, 171, 215, 302, 314 Lust 41, 67, 71, 78, 80, 90 ff., 106, 161, 306, 324, 326, 329, 344 Lusterwerb 41, 153 Lustgewinnung 90 f., 93 lymphatisch 336 thymolymphatisch 337 Lymphatismus 50, 336, 343 lypmphatisch 336 M Macht 12, 31, 41, 43 f., 47, 55, 62, 67 f., 71, 74 f., 81, 94 f., 98, 101, 104 f., 112, 118, 122,
419 125–128, 135, 141, 144, 175, 185 f., 209 f., 213, 215 f., 228, 238, 244, 254 f., 261, 273, 278 ff., 283, 290, 328 f., 344, 349, 356, 359, 373 Wille zur 349 Machtbewusstsein 56, 273 Machtgefühl 15, 41, 168, 255, 329, 349 Machtstreben 30, 32, 57 f., 69, 179, 209, 260, 316 Magenmotilität 364 Magenneurose 204, 206, 208 Magnan 342, 376 Malariabehandlung 339 Malariatherapie 324 Mangel 49, 58 f., 61, 64, 88, 96, 99, 102, 109 f., 115, 118, 130 f., 173, 176, 185, 188 f., 209, 229, 260, 275, 278, 282, 290, 292, 295, 302, 313, 325, 357 manisch 332, 333, 358 manisch-depressives Irresein 332 Mann 41, 43, 62, 66 f., 70 f., 76, 86, 96, 109, 112, 117 ff., 130 f., 135, 141, 143 ff., 147, 149 ff., 153–157, 159, 165 f., 169, 171, 174– 184, 186–192, 194–201, 204, 208, 211 ff., 215, 217 ff., 225 ff., 229, 232, 234–238, 249 f., 253–256, 262, 270–274, 277, 281, 283–286, 288–293, 296 f., 300 f., 361, 367, 374, 377 f., 384, 389 Manngleichheit 112, 158, 195 f., 198 f., 202, 214, 218, 229, 237, 254 männlich 41–44, 46 f., 55 f., 59, 63, 65–68, 74 ff., 79, 84, 87 f., 92, 94 f., 97 f., 101, 103, 106, 108–117, 119, 130 ff., 134, 136, 139, 141—145, 147, 149–157, 159, 161 f., 166, 167–171, 174, 177–200, 202 ff., 206, 208, 211–223, 225, 226–230, 232, 235 ff., 239, 241–245, 247–251, 253, 254, 255, 258 f., 262 f., 266–269, 271–275, 277–281, 283, 285 ff., 289 f., 295 f., 299 ff., 304, 306– 309, 312–315, 318, 320, 326, 328, 339, 360 f., 368, 374, 378, 384 männlicher Protest 44, 74, 88, 95, 103, 110, 114 f., 117, 130 f., 134, 142, 147, 149 f., 152, 153, 161 f., 166, 170, 174, 182, 184, 188, 190, 192, 197, 199, 202 ff., 211 f., 214 ff., 218, 220, 225, 228, 247, 249, 255, 258, 263, 275, 278, 290, 299, 304, 306, 308, 313, 360
420 Männlichkeit 55, 64, 71, 75 f., 96, 109, 113, 119, 130, 136, 177, 181 f., 188, 212, 214 f., 219, 221 f., 229 f., 232, 234, 239, 249, 260, 266, 271–274, 279, 289 f., 293, 304, 308, 314 f. Marschallstab 96 Märtyrerrolle 60 Maskulinisierung 362 Masochismus 24, 202, 226, 246, 323, 361 f., 377 f., 391 masochistisch 226, 241, 250, 263, 278, 282 f., 299 pseudomasochistisch 59 Massenneurose 30 Maßlosigkeit 118, 209, 215 Masturbation 24, 61, 65, 79, 97, 130, 134, 147, 171, 179 f., 195, 210 f., 262 f., 271, 275, 296, 300, 330 Masturbationsfantasien 262 f. Masturbationsneigungen 199 Masturbationsperiode 148 Masturbationszwang 88, 220, 247, 262 Material 46, 78, 87 f., 94, 103 f., 126, 190, 208, 317 f., 349, 378, 387 Materialismus 330, 346 Mechanismus 62 f., 69, 76 f., 82, 85, 92, 94, 156, 175, 178, 183, 186, 201 f., 205, 227, 236, 283, 291, 296, 306, 346, 348, 353 Medikament 139, 258 Medizin 49, 153 f., 257, 320, 323 f., 327, 331–334, 336, 338, 340 f., 345, 351, 362 f., 376, 378, 392 Medusa 389 Mehrfachbewusstsein 326 Mehrleistung 49, 332 mehrwertig 83, 239 Mehrwertigkeit 121 Meinung 14, 21, 168, 217, 224, 227, 325, 369 f. Melancholie 73, 141, 144, 171, 280, 296, 302, 389 Membrum 306 Memento 59, 94, 113, 116, 133, 147, 156, 158, 185, 200 f., 205, 226, 252, 258, 290 Ménièrsche Krankheit 340 Mensch 15, 22 f., 30 f., 54, 59, 61, 63, 68, 72, 75–78, 88 f., 92, 97, 100, 103 ff., 120 f., 127, 131 ff., 137, 140 f., 149, 156, 162, 175,
Über den nervösen Charakter 177, 194 f., 198, 200, 208, 212 f., 229, 233 f., 241, 244, 247 f., 254 f., 260, 264, 266 f., 279 f., 282, 292, 296, 301, 309, 312, 316 f., 319, 329, 339, 352, 355 f., 359, 361, 364, 366, 369, 384, 386, 388, 390 f. Menschenkenntnis 12 ff., 30, 320 Menstruation 65, 144, 225, 361, 368 Messen 45, 54, 108, 117, 136 Messina 241 Methode 12, 29, 40, 146, 148, 258, 288, 327, 373, 381, 388 Methodologie 350 Migräne 122, 144, 160, 163, 174, 227, 229, 235 f., 242, 300 f., 335, 376 Migränekranker 236 Mikrokosmos 22 Mimik 46, 55, 67, 102, 121, 126, 174, 225 minderwertig 48–57, 63, 74 f., 83, 86, 92, 96, 99, 105 f., 119, 121 f., 131 f., 156, 174, 180, 192, 239, 258, 260, 303, 310, 317 f., 332, 344 Minderwertigkeit 10, 22, 29, 43, 48–54, 56 ff., 62 ff., 66, 69 ff., 73, 78 f., 85, 87, 98, 106, 108, 110, 113, 116, 120 f., 128 ff., 133 f., 137, 143, 147, 152 f., 158, 164–167, 170, 173, 175, 178, 182, 196 ff., 203, 205, 216, 220 f., 228, 236, 242, 248, 253, 258, 280, 283, 286, 297, 303, 309, 312, 319 f., 332 Minderwertigkeitserscheinung 153 f. Minderwertigkeitsgefühl 9, 14, 22, 31 f., 43, 46, 49, 55, 57, 60, 62 ff., 82, 83–86, 88, 92, 100, 105 f., 109, 115, 117, 128, 130, 140, 143, 145 ff., 149, 165, 168, 171, 173–176, 179, 188, 195, 209, 213, 215, 222, 233 ff., 240 f., 243 f., 246, 249, 251, 254 f., 261, 264, 266 ff., 271, 273, 282, 284, 287, 309, 317, 319, 328, 386 Minderwertigkeitslehre 13 Minderwertigkeitszeichen 135, 302 f. Misoneismus 58, 139 Missbildung 52 Misstrauen 44, 46, 67, 72, 125, 133 f., 136, 142, 157, 163, 176, 255, 261 f., 266, 291 f., 310 Mitmensch 32, 61 Mittel 43–47, 49, 56, 60 ff., 66 f., 79 f., 82 f.,
Sachverzeichnis 101 f., 104, 125, 135, 139, 148, 153, 175, 183 f., 191 f., 196, 200, 209, 218, 220, 223, 229, 233, 257, 260, 263, 277, 279, 281, 301, 315 Mittwochgesellschaft 10, 379 f., 382 f. Modellierung 88 Modus dicendi 42, 66, 142, 168, 221, 250 Molimen 144, 368 Mondsucht 247, 250 Monismus 331, 383 monosexuell 361 Moral 23, 60, 94, 132, 157, 191, 209, 244, 281, 348 f., 352, 379, 393 Moralistik 366 Moralphilosophie 40 Morbidität 339 Morbus Addison 341 Morbus asthenicus 333 Morbus Basedowi 341 Morpheus 388 morphologisch 50, 342 Mortalität 339 Motilität 47 Motiv 91, 118, 162, 279, 282, 301, 344, 387 leitendes 91 motorisch 43, 45, 68, 310 muskulär 129 Mutter 42, 54 f., 60, 70 f., 78 f., 81, 84, 87, 88, 97, 107, 118, 126, 130, 134, 138, 147, 153, 158 f., 161 ff., 167 ff., 184–187, 199 ff., 208, 216–220, 226 f., 229, 231, 235–238, 249, 251, 265, 267 f., 279 f., 284, 289, 300, 302–305, 307 f., 366, 387 f. Mutterleibsfantasie 24, 231 Myom 224 f. Myopathie 53 Myopie 284 Mythos 367, 384 Evamythos 279, 386 Myxödem 340 f. N Nachahmungstrieb 228, 345 Nachtwandeln 306 Nachtwandler 306 Nägelbeißen 79 Narzissmus (Narzissismus) 194, 284, 378 narzisstisch 197, 202, 273 f., 278
421 Naturphilosophie 326, 331, 383 Nebenniereninsuffizienz 337 Negativismus 84, 152, 284, 292, 313 Neid 44, 61, 73, 75, 85, 97, 107, 125, 128, 133, 140 f., 145, 150, 152, 158 f., 161, 174, 185, 213, 240, 255, 267 f. Neigung 31, 40 f., 44, 47, 53, 72, 75 ff., 96 f., 106, 115, 121, 128, 130, 132–135, 148, 158, 169, 171 f., 174, 188 f., 191, 195, 204, 224, 230, 241 f., 251 f., 261, 263, 265–269, 291, 306, 309, 313 f., 335, 359 Nekrophilie 196 Nervenbahn 48, 53 Nervenminderwertigkeit 342 Nervensystem 324, 340, 343 f., 354 nervös, die/der Nervöse 7, 9–15, 29 ff., 42, 44 f., 51–54, 57 f., 60–63, 68 f., 71 ff., 76, 78 f., 81, 84 f., 88 f., 92 f., 97–102, 104–110, 112 f., 115, 118 ff.120, 125, 130, 137 ff., 142, 144, 150 f., 171, 175, 177, 179–185, 193– 197, 201 f., 205 f., 209 f., 212–215, 219, 222 f., 231, 241–246, 251–255, 261–267, 271 ff., 275, 277–281, 283, 286, 289 ff., 295 ff., 305, 309, 311–318, 325, 332, 340, 347 f., 360, 372, 385 f. Nervosität 39, 106, 164, 179, 243, 376, 386 Neurasthenie 330 Neurastheniker 107 Neurodermitis 335 Neurologie 52, 326, 341, 343, 354 f., 367, 373, 375, 376, 381, 386 neurologisch 178, 348, 373 Neuropathie 334, 377 Neuropathologie 362 Neurose 14, 24, 29, 31 f., 39 ff., 43 f., 48, 50 f., 53 ff., 59–62, 64 ff., 68 f., 71–76, 80, 83–87, 94 f., 97, 100–103, 106–114, 116, 118, 122, 125 f., 129 f., 133 f., 137 f., 141, 143 f., 146, 153 ff., 160, 162–165, 171, 173, 175 f., 177–183, 186–190, 192, 197 ff., 201, 203 ff., 207 f., 210, 213 f., 216, 220, 222, 224, 226, 229, 231, 234 ff., 238, 240, 243, 245 f., 251, 255 f., 259, 261 ff., 265 ff., 272, 275, 277, 288, 291 f., 295, 300, 309, 311, 313, 315, 317, 319 f., 325, 333 f., 337, 342, 345 f., 352, 354, 360, 377, 381 f. Neurosenausdrucksweise 152 Neurosenentwicklung 10
422 Neurosenforschung 325 Neurosenlehre 66, 330, 392 Neurosenpsychologie 10, 14, 22, 24, 32, 39 f., 68, 86 f., 95, 114, 204, 258 Neurosenwahl 357 Neurotiker 13 f., 39, 41 ff., 57 ff., 61–68, 71 f., 74, 76 f., 86, 89, 94, 98 f., 102 f., 107 f., 110, 116 f., 125 ff., 141 f., 144, 148 f., 151, 162, 171, 185, 190 f., 194, 196 ff., 210, 212, 228, 231 f., 234, 237, 244, 249 f., 261 f., 269, 272, 274, 278, 282, 285, 292 f., 300, 309, 311, 329, 360 neurotisch 10, 14, 29 f., 39, 41 ff., 45–51, 58, 60, 65, 67 ff., 74, 76 f., 79, 83 ff., 92, 94 f., 97, 100–118, 122, 126, 128 f., 131, 133–148, 150, 154 f., 160, 163 ff., 169–172, 174–179, 181–186, 188–193, 195–199, 201, 203 ff., 209 ff., 218–223, 225 ff., 229 f., 232–236, 238 ff., 242–248, 250–256, 258 f., 263– 267, 273 f., 277 f., 280–284, 288 f., 292 f., 295 ff., 300–303, 309, 311–315, 317 f., 320, 348 f., 351, 354, 357, 386 vorneurotisch 312 Niederlage 54, 63, 73, 101, 103, 106 ff., 110, 113, 136 f., 149, 154, 167, 176, 181, 185 f., 193, 198 ff., 210, 214 f., 218, 220 f., 225, 230, 232, 244 f., 248, 255, 258, 262, 267, 279, 280, 289 f., 315, 317 f. Nietzscheverständnis 15 Nihilismus 276, 332, 348 Norm 14, 29, 62, 88, 92, 98 f., 105, 116, 119, 166, 190, 195, 215, 244, 269, 283 normal, der/die Normale 10, 14, 23, 39, 41, 45 f., 51, 55, 62, 88, 113, 119, 148 f., 172, 174, 179, 192, 219, 223, 246, 248, 254, 277, 283, 302 f., 315, 318, 327, 339, 341, 351, 361, 378, 382 Nosologie 331 Not 12, 46, 59, 80, 87, 129, 148, 168, 207, 220, 278, 280, 317, 392 O oben, Oben 46, 63, 66, 68, 70, 74 ff., 86, 88 f., 91 ff., 95, 109, 115, 133, 137 f., 156, 171, 174, 182 f., 191, 208, 214, 223, 226, 228, 233, 238, 247–252, 254 f., 258 ff., 262 f., 273, 280, 282, 289, 300, 303 ff., 313 f., 316, 359
Über den nervösen Charakter Obensein 109, 247 Obenseinwollen 113, 198, 254 f. Obsession 325 Obstipation 122, 146, 152, 155, 206, 365 Ödipuskomplex 87 f., 159, 161, 168 f., 366, 374 Ödipussage 138 Ödipustraum 168 Oesophagus 364 Ohnmacht 41, 59, 122, 127, 174, 329 Ökonomie 330, 356 der Kräfte 330 Operationsbasis 70, 75 f., 85, 107, 115, 135, 163, 165, 182 f., 200, 210, 264, 273, 290, 296, 315 Organ 22, 29, 47–51, 53 f., 90, 105 f., 119 ff., 152, 220, 222 f., 229, 258, 266, 318, 336, 342, 375 Organbefriedigung 90 Organfunktion 46, 101 organisch 31, 45, 49, 52, 55, 59, 71, 74, 80, 92, 107, 117, 122, 127, 146, 164 f., 228, 235 f., 302 f., 324, 383 organisches Substrat 31 Organismus 29, 49, 51, 336, 339, 348, 355 Organjargon 125 Organminderwertigkeit 10, 15, 32, 44, 48– 53, 77, 92 f., 100, 119, 121, 152, 164 f., 175, 213, 234 f., 268, 303, 309, 319 f., 323, 342, 347, 357 Organminderwertigkeitserscheinung 164, 269, 295 Organminderwertigkeitslehre 11, 29, 48, 164, 176, 320 Organtriebbefriedigungen 55 Orientierung 57, 62, 77, 81, 90, 93, 116, 130, 378, 392 Orientierungsversuch 68, 88 Ovarium 360 P Pädagogik 320, 346, 352, 359 pädagogisch 7, 11 f., 22, 164, 181, 222, 320 Pädiater 334 f., 342, 346 f. Pädiatrie 336, 344 pädiatrisch 334 Paralyse 210, 260, 324 paraurethral 147
Sachverzeichnis Parazentese 164 Partialtrieb 50 passiv 67, 75, 179, 202 Passivität 44, 65, 73, 98, 326 pathogen 94, 144, 207, 256 Pathogenese 337 f., 341 f. Pathologe 52, 333 f., 338 Pathologie 49, 323, 337 f., 340, 345 f., 385, 393 Pathopsychologie 29 Patient 43, 54, 58, 60, 64, 67, 72, 88, 101 f., 107 ff., 115, 125, 127 f., 130, 133, 138 f., 144, 148 f., 155, 159, 161–164, 166–171, 181, 201 f., 210 ff., 214, 216, 221, 223 f., 226, 231, 235, 241, 250, 252, 256, 259 ff., 266–269, 272, 281, 283, 286, 297 f., 310 f., 313, 316, 318 Pavor nocturnus 52 Pedanterie 60, 65, 73, 145, 152, 194, 210, 264, 280 Pellagra 364, 373 perimetrisch 368 Person 45, 54, 57, 60, 64 f., 67, 69 f., 75, 77, 81, 86, 96, 114 f., 117 f., 125 f., 128, 132, 140 ff., 144 f., 160 ff., 168, 171, 174 f., 198, 200, 213, 216, 228 f., 231 ff., 237, 252, 261 f., 264, 267, 271, 273, 293, 295, 299 f., 307 f., 311, 317 f., 328, 349, 354, 360, 370 f., 389 Personalismus 328 kritischer 328 Persönlichkeit 14, 22, 24, 29, 45, 58, 68, 82, 101, 104, 106, 141, 149 f., 173, 175, 187, 195, 247, 275, 308, 323, 326, 331, 354, 357, 359, 378, 385, 390 Einheit der 39, 316 Persönlichkeitserhöhung 44, 126 Persönlichkeitsgefühl 41 ff., 45 f., 51, 56 f., 59–64, 66, 69, 71 f., 74 ff., 78, 81–86, 92, 94–98, 100, 102 f., 106 f., 110, 113, 125, 127, 129, 131 f., 134, 137, 140 f., 151 f., 162, 167, 171, 174,–178, 184–188, 192, 200, 204 ff., 210, 215 f., 218, 222, 228, 230, 235, 237, 241, 243, 249, 251 f., 254 f., 259, 263, 264, 266, 269, 271, 273, 275, 278, 292, 295, 298, 303, 305, 309 f., 329 Persönlichkeitsideal 24, 41, 74, 89, 92 f., 97 ff., 109, 113, 117 f., 122, 128, 130, 138,
423 151, 171, 175, 179 f., 193, 196, 205, 209, 214 f., 220, 240, 249, 281, 317 leitendes 93, 95 leitendes männliches 208 Persönlichkeitsidee 13, 29, 102, 197, 245, 254, 265 f., 273, 277, 309, 317 leitende 113, 115, 254, 261 Persönlichkeitsverlust 357 personnalité 326, 388 personnalités alternantes 326 pervers 51, 61, 73, 84, 192, 195, 221, 226, 256, 267, 269, 301, 359 Perversion 51, 62, 88, 118, 161, 188, 192, 240, 264, 269, 275, 378 Perversionsfantasie 192 Perversionsneigung 41 Perversionsregung 87 f. Perversionsrichtung 191 Pes varus oder valgus 52 Petitio principii 91 phallisch 112 Phallussymbolik 154 Phänomen 22, 60, 174, 258, 329, 357 Phänomenologie 339, 359 phänomenologisch 15 Phantomgravidität 156 Pharmako-Psychiatrie 332 Philosoph 14, 78, 90, 108, 140, 195, 233, 329, 359, 373, 391 Philosophie 24, 40, 53, 66, 77, 91, 95, 100, 108, 234, 251, 279, 288, 320, 323, 325, 330, 350, 352–359, 361 f., 364, 366 f., 369, 376 ff., 383 ff., 391, 393 des Als-Ob 95 induktive 330 philosophisch 7, 12, 15, 22, 30, 325, 328, 330 f., 349, 360, 366, 383, 389, 391 Phimose 147 Phlegma 53 Phlegmasia alba dolens 152, 369 Phobie 135, 186, 233, 325 Phobiker 291 Phrenologie 363 Physiognomik 271, 309, 363 physiognomisch 45 platonisch 107, 194, 207 Platzangst 57, 138, 160, 164, 176, 187, 198, 233, 252, 274, 298
424 Plumpheit 52, 56 Polarität 39, 326 Pollution 87 Polydipsie 160, 370 Polyurie 157, 160, 370 Porta 120, 363 Pose 46 Position 11, 13, 31 f., 56, 141, 198, 285, 304, 331, 354 Positivismus 358 idealistischer 350 Potenz 65, 137 ff., 232, 269 Prädestinationsfantasie 211 Prädestinationsgefühl 99 Prädestinationsglaube 161 prämorbid 331 Prärogative 212 Prestigepolitik 30 primitiv 62 f., 66, 68, 77, 90, 96, 104, 107, 383 primum movens 50 f. Prinzip 15, 63, 66, 68, 79, 90 f., 94, 97, 112, 115, 130, 167, 176, 194, 203, 212, 232, 248, 254, 261 f., 277 f., 280, 324, 328, 330, 344, 349, 356, 359, 375, 391 Prolegomena 330 Prostitution 168, 229, 274 Protest 41–44, 46 f., 65, 67, 74, 76, 88, 94 f., 103, 109 f., 113 ff., 117, 127, 130 ff., 134, 136, 142 ff., 147, 149–157, 159, 161 f., 166, 168, 170, 174, 178, 180–185, 188, 190–194, 196–200, 202 ff., 206, 211 f., 214–223, 225, 227 f., 230, 237, 244 f., 247–251, 253 ff., 258 f., 263, 268 f., 271 f., 275, 278 f., 283, 286 f., 290, 296, 299–302, 304, 306–309, 313, 315, 318, 328, 360 Prozess 76, 95, 214, 386 Prüfung 58, 65, 150, 160, 169, 228 f., 254, 266, 269, 310, 344 Prurigo 56 Pseudomasochismus 202, 269 pseudomasochistisch 59, 247, 268, 300 Pseudoneuralgie 335 Psychasthenie 315 Psychiatrie 15, 45, 52, 324, 326 f., 331 f., 342, 347 f., 351 f., 354 ff., 359, 361 f., 367, 373, 375, 378 f., 381, 386 dynamische 326
Über den nervösen Charakter psychiatrisch 7, 15, 324, 332, 333, 347, 354, 357, 375, 378 psychisch 9, 13, 22, 29, 32, 39–42, 44–49, 51–55, 57, 59 f., 63 f., 66–72, 74 f., 77 f., 80, 82 ff., 87 ff., 91 f., 94–98, 104, 107, 109, 111–114, 116 f., 119 ff., 126, 128, 133, 136, 139, 141, 143 f., 149, 154, 164, 166, 168 f., 171, 173 f., 178, 182 ff., 186, 189, 191 ff., 195, 203 f., 206 f., 211, 214, 218, 221, 225, 228 f., 232, 234, 236, 240, 247, 249, 251, 258 f., 261, 264, 266, 269, 290, 303, 305, 307 ff., 312, 317 f., 320, 323 ff., 327, 347, 349, 351, 355, 35 f., 369, 385 psychische Konstellation 42, 154, 168 Psychoanalyse 21, 24, 73, 75, 237, 320, 323 f., 326 ff., 333, 344, 346 f., 350, 373 ff., 379, 381 f. psychoanalytisch 7, 9 f., 13, 21 f., 184, 311, 323, 325 f., 373, 379, 383, 390 f. psychodynamisch 381 psychoepileptisch 162 psychogalvanisch 329 psychogen 39, 65, 92, 146, 152, 160, 192, 236, 346, 355, 378 Psychogenese 48, 102, 362 Psychologe 15, 41, 68, 88, 96, 298, 325, 329, 373 Psychologie 13 f., 23 f., 29, 53, 74, 85, 99 f., 108, 114, 118, 137, 141, 160, 168, 175, 184, 216, 233, 250, 265, 274, 286, 296, 320, 323 f., 326 ff., 331, 347, 35 ff., 355, 357 ff., 362 f., 370, 372 f., 376, 378 f., 384, 393 der Aussage 328 der Neurosen und Psychosen 29 Ganzheits- 326 Kinder- 328 Verhaltens- 325 Verstehens- 326 Psychomotorik 324 psychomotorisch 42, 307, 329 Psychopath 240, 244 Psychopathie 343, 347 psychopathisch 52 f., 333, 364 Psychopathologie 325, 329, 342 f., 346 ff. psychopathologisch 47, 326, 378 Psychose 29, 31 f., 50 f., 64 ff., 71, 73, 76 f., 81, 83, 87, 95, 100, 102, 114, 129, 156, 165, 171, 176, 188, 197 f., 204 f., 207, 214 f.,
Sachverzeichnis 222, 229, 231, 235, 240, 243 f., 265, 267, 280, 298, 302, 311, 315, 317, 319 psychosexuell 361 Psychosomatik 324, 362 Psychotherapeut 93, 145, 181, 210, 222 f., 238, 255, 281, 362, 373, 378, 380, 385, 391 psychotherapeutisch 181, 197, 217, 258, 268, 285, 313, 318, 324, 392 Psychotherapie 7, 53, 252, 324 f., 344–347, 362, 369, 373, 381, 391 Psychotiker 95, 99, 108, 148 f., 252 Pubertätsdrüse 362 Puerperium 65, 144 Punkt 30, 43 f., 47 f., 55, 62, 70 f., 73, 80–83, 89 f., 100, 117, 127, 129, 152, 169, 202, 209, 213 f., 218, 222, 241, 253, 266, 269, 283, 287, 290, 318, 351 Pykniker 324 Pyromanie 241 Pythagoreer 349, 383 pythagoreisch 62, 350, 375 Q Quälsucht 245, 269 Querulantenwahn 201 R Rache 73 f., 162, 173, 176, 193, 211, 308, 387, 389, 393 Rachitis 249, 336 rachitisch 337 Rachsucht 85, 152, 161, 176 f. Rapport 329 Rassenhygieniker 333 Rassentypologie 363 Reagens 203 Reaktion 54, 110, 120, 134, 149 f., 167, 193, 212, 217, 291, 301, 329, 335, 338, 355 psychogalvanische 329 Reaktionsweisen 59, 94 reaktiv 290 real 55, 58 f., 71, 82, 88, 94 ff., 98, 103 f., 106, 109, 115, 117 f., 141 f., 172, 180, 182, 186, 199, 218, 250, 254, 283, 300, 312, 318, 328, 330 Realität 14, 81, 89, 95, 98 f., 102 ff., 108, 144, 154, 156, 161, 171, 175, 184, 191, 195, 214,
425 218, 225, 231, 245, 249, 274, 278, 315, 350, 353 Realitätsstrukturierung 329 Realitätswert 66, 95 Rechnung 47, 55, 66, 78, 81, 89, 92, 97, 129, 149, 163, 176, 249 Reduktion 62, 137, 148 Reflex 54, 117, 303, 334, 348 bedingter 54 Reflexaktion 51 Reinlichkeitsexzesse 158 Reiselust 171 reizbar 39 Reizbarkeit 39, 53, 268, 345, 370 Reizschwelle 46 relativ 13, 22, 54, 149, 152 Relativismus 366 Religion 22, 209, 247, 281, 299, 331, 358 f., 383, 387, 391, 393 Reminiszenz 116, 168, 185 f. respiratorisch 221 Rezeption 329 f. rezeptorisch 78 Richtung 11 f., 22 f., 39, 41, 47, 49, 68, 69, 73, 81–84, 88 f., 92, 99, 101, 111 f., 120, 132 f., 135, 142, 153 f., 166, 168, 171, 188 f., 195, 201, 208, 212, 216, 221, 226, 234 f., 244, 250, 277, 279, 286, 291, 299, 303 f., 309, 311, 317, 324 Richtungslinie 61, 82 f., 88, 90, 104, 117, 132 f., 142 ff., 151, 171, 173 ff., 178 f., 212, 215, 218 f., 226, 244, 254, 263, 311 f., 315, 317 leitende 214 Rolle 61, 64, 66 f., 70, 85, 97, 100, 111, 113, 118, 126, 128, 132, 134, 139, 148, 150, 155, 156, 161, 166, 177–181, 183, 186, 188, 191 f., 196, 198, 200, 204, 208, 213, 218, 220, 224 f., 228, 230 f., 235, 238, 247, 258, 261 f., 271, 273 f., 279, 281, 283, 285 f., 288 f., 291, 297, 299, 301, 303 ff., 315, 346, 353 Röntgenologie 343 Rücken 52, 270 f. Rückzug 102, 107, 110, 160, 177, 199, 229, 243, 256, 272 rund 52
426 S Sadismus 24, 62, 75, 190, 241, 245 f., 284, 300, 323, 361, 377 f., 391 sadistisch 106, 134, 141, 158, 161, 190 f., 196, 234, 240 ff., 262 f., 269, 283 Salpêtrière 325, 327, 342, 352 Schädigung 60 f., 91 Schamhaftigkeit 188, 228, 264, 271 f. Schein 15, 41, 66, 74, 76, 95, 134, 141, 146, 185, 188, 197 f., 209 f., 223, 229, 244, 252, 283, 329, 351, 356, 373, 380 Wille zum 41, 223, 229, 328, 351, 356, 380 Schema 14, 47, 69 ff., 74 ff., 82, 88, 92 ff., 101, 115, 119, 125, 137, 144, 148, 155 ff., 163, 184, 206, 210, 238, 251, 254, 316 Schicksal 22, 29, 43, 45, 52, 54, 57, 73, 84 f., 94, 106, 154, 194, 198, 222 f., 252, 257, 273, 303, 305, 311, 314, 318 f., 335, 371 Schielen 52 Schilddrüse 50 Schizophrenie 212, 326, 332, 355 schizothym 44, 176, 331 schizothymer Formenkreis 331 Schizothymie 324 Schlaf 115, 143, 151, 153, 205, 216, 250, 286 ff., 306, 308, 313 Schlaflosigkeit 143, 147, 151, 158, 160, 176, 178, 198, 201, 229, 237, 256 ff., 277, 284 ff., 300 Schläfrigkeit 53 Schmerz 56, 59, 94, 98, 110, 121, 133, 146 f., 152, 158, 173 f., 199, 205 f., 229, 236, 257, 295 f., 301, 315, 378 Schneewittchen 169 schöpferisch 15, 171, 385 Schreckhaftigkeit 53, 167 Schreckpopanz 153, 274, 283 Schüchternheit 60, 102, 107, 114, 157, 199, 228, 271, 312 Schuldgefühl 61, 72 ff., 83, 100, 131, 147, 179, 209 f., 225 f., 244, 296, 386 Schule 9, 11–15, 39, 113, 132, 142, 166, 187, 227, 232, 252 f., 259, 263, 302 f., 305, 325–328, 332 ff., 340, 344, 351 f., 372, 375, 394 Schulwissenschaft 32
Über den nervösen Charakter Schutzmittel 49 Schwäche 16, 32, 39, 49, 55, 56, 70, 83, 85, 100, 110, 135, 149, 153, 158, 193, 202, 215, 241, 259, 278, 283, 315 Schwächlichkeit 64 Schwachsinn 52, 376 Schwangerschaft 65, 145, 147, 151 f., 208, 268 Schwerhörigkeit 52 scrofulös 345 Scrotum 364 seborrhoid 335 Seele 16, 22, 30, 77 f., 84, 92 f., 99, 110, 121, 133, 152, 160, 172, 185, 195, 271, 278, 292 f., 299, 316, 330, 346, 350, 352, 357, 377, 383, 388, 390 Seelenforschung 30 Seelenkunde 30 Seelenleben 23, 29 f., 32, 39, 77, 83, 115, 117, 174, 205, 218, 230, 314, 316, 319, 377, 379, 386 seelisch 23, 30 ff., 39 f., 43 f., 47, 54, 59, 62, 80, 107, 133, 162, 178, 216, 233, 235, 330, 332, 346, 354, 360, 364, 386, 388 Sehorgan 52, 54, 164 Sein 31, 47, 55, 57 f., 86, 130–133, 167, 169, 211, 220, 258 f., 306 f., 318, 353, 361, 364, 376 Sekretion 50, 52, 341, 360 sekundär 46, 65, 68, 72, 87, 93, 126, 132, 143, 147, 190, 196, 203, 239, 263, 284, 355, 392 selbst, das Selbst 7, 9, 11, 13, 15, 42, 44, 49 ff., 55, 58 f., 62, 68 f., 78 ff., 82, 86, 90 f., 97, 102, 107, 109, 111, 121, 135, 146, 152, 160, 166, 168, 177–182, 184, 192, 199 ff., 211, 213, 215, 228, 230, 233, 243, 245, 252, 256–259, 266 f., 269, 274 f., 282 f., 287, 301, 304, 308 f., 333, 353, 356, 359, 367, 371, 373, 386 f., 390 Selbstbehauptung 49 Selbstbeobachtung 107 f. Selbsteinschätzung 22, 54 ff., 70, 74, 77, 86, 99, 105, 107, 192, 209, 244, 275 Selbsterhaltung 78, 91, 93, 350 Selbstgefühl 56, 84, 91, 132, 227, 279 Selbstgeißelung 300 Selbstmord 65, 73 f., 141, 229, 295, 297,
Sachverzeichnis 308 f., 327, 338, 344 f., 356, 366, 382 f., 393 Selbstmörder 44, 53 selbstständig 47, 50, 62, 80, 152 f., 156, 230, 287, 331 Selbstüberschätzung 196, 316 selbstverständlich 12, 14, 46, 58, 161, 182, 199 Selbstverwünschung 295 ff. Selektionslehre 91 Selektionsprinzip 356 selektiv 331 Sensibilität 51, 119, 164 sentiment d'incomplétude 39, 325 Sexologe 362, 374 f., 377 Sexualapparat 50, 213, 289, 309, 339 Sexualdrüse 362 Sexualerlebnis 198, 330 Sexualerregung 226, 272 sexualisiert 142 Sexualisierung 149 Sexualität 75, 86 f., 91, 179, 190, 195, 199, 210, 222, 244, 256, 269, 274, 278, 288, 297, 359, 360, 370, 378 Sexuallibido 32, 245 Sexualneurose 42, 88 Sexualobjekt 361, 384 Sexualorgan 51, 53, 276, 306 sexualpathologisch 361, 374 Sexualtrieb 41, 185 f., 230, 246, 267, 274, 278 f., 359, 375 Sexualverkehr 177, 196, 219, 225 Sexualziel 361 sexuell, das Sexuelle 41 f., 50 f., 61, 68, 75 f., 86 ff., 103, 112 f., 116, 130, 133, 138, 142 ff., 147, 161, 163, 168, 171, 175, 182, 184 f., 188, 195 f., 199, 210, 221 ff., 225, 227, 240, 245 f., 248, 250, 261, 268, 273, 279, 281, 289, 290, 291, 300, 306, 314, 330, 346, 361, 374, 378 f., 390 sexuelle Zwischenstufe 374 Shylok 390 Sicherheit 33, 43, 57, 81 f., 86, 90, 94, 96 ff., 103, 109, 116, 173, 215, 231, 236, 266, 272, 287, 354, 391 sichern 21, 43, 45, 56, 59, 61, 63, 72, 87, 98, 104, 106 f., 121, 132–135, 138, 160, 165, 167, 174, 177, 182, 206, 209, 212, 224,
427 235, 242, 258, 265, 275, 279 f., 284, 286, 291, 293, 297, 299, 301, 306, 319 Sicherung 43, 51, 64, 68, 71, 81, 83, 100–103, 108–111, 113, 116, 118, 120, 131, 135 f., 138 ff., 144, 157 f., 161, 171, 174, 179 f., 184–187, 191, 194 f., 201, 205, 210, 215, 220, 231, 234, 237, 243 f., 258, 262 f., 268, 274, 278–282, 286, 288 f., 292, 295, 297, 306 ff. Sicherungskoeffizient 98 Sicherungstendenz 23, 46 f., 69, 72–79, 83, 85, 92, 94, 100 f., 104, 106, 108, 114, 116 f., 120, 128 f., 133, 136, 144 f., 170, 182, 185 ff., 191, 197 f., 202, 204 f., 207 ff., 211, ff., 226, 233 ff., 244, 249, 251, 253, 261 f., 283, 286, 288, 293, 296, 298 f., 301 f., 306 f., 311, 314, 318, 323 Sieghaftigkeit 273 Simplifikation 62, 148, 369 Sinn 12 f., 15, 22, 30, 39, 40, 58 f., 63 f., 66, 69, 72, 77, 80, 92, 95, 99, 105, 109, 112 f., 115, 117–122, 136 f., 145, 150, 153 f., 156, 164, 169, 178, 184, 186, 189, 197, 207 f., 225 f., 250, 260, 267, 270, 283, 285, 287 f., 290, 297, 299, 304, 307 f., 312, 316, 318 f., 327, 330 f., 334, 338, 355, 357, 375, 384, 391 Sinnesorgane 52, 99, 115 Sinnlichkeit 179, 389 Skalde 173 Skepsis 64 Skoliose 52 Skrofulose 335 f. Somnambulismus 52 Sonderbarkeit 46 Sophist 139, 330, 366 sozial 7, 9, 14, 31 f., 61, 65, 78, 95, 98, 129, 131, 162, 176, 185, 192, 229, 231, 261, 281, 311, 323, 325, 330, 333, 345, 354, 358, 367, 369, 373, 376, 380 f., 391 sozialmedizinisch 323 sozialpragmatisch 331 sozialpsychologisch 9, 14 Spaltung 10, 58, 125, 149, 193, 198, 355 der Persönlichkeit 149 Spannung 67, 105, 233, 249, 303, 325, 357 Sparsamkeit 54, 65, 108, 122, 126 ff., 132, 139, 158 f., 171, 280
428 spasmodique 337 spasmoparalytique 337 spasmophil 53, 342 Spasmophilie 50, 337, 342 f. Spasmus 122, 370 spastisch 365 Spessart 323 Sphinkterkrampf 155, 370 Sphinkterlähmung 370 Sphinkterverschluss 155 Spiel 23, 61 f., 70, 77 f., 82, 91, 102, 122, 125, 127, 135, 240, 267, 277 f., 285, 291 f., 301, 304, 352 Sprachfehler 52, 84 Staat 129, 329, 350, 384 Standpunkt 40 f., 50 f., 63, 66, 70, 88, 90, 95, 131 f., 143, 279, 304, 312, 315, 347, 353, 386 Status hypoplasticus 339 Status thymico-lymphaticus 50, 53, 178, 336, 339, 373 Stellungnahme 31 f., 40, 225 Stereotypie 122, 211 Stimmritzenkrampf 155, 370 Stimmungswechsel 61, 76 Stoa 369 Stoffwechsel 333, 337 f., 341 Stoffwechselstörung 143 Stoffwechselvorgang 143 Stolz 63, 73, 85, 87, 106, 108, 159, 161, 166, 176, 196, 202, 264, 269, 275, 311, 355 Störung 31, 56, 59, 64, 87, 122, 135, 237, 263, 335, 337, 341 f., 356, 367, 382 Stottererbehandlung 127, 366 stottern 224 Stottern 52, 79, 126 ff., 131 f., 160, 173, 179, 224, 228, 309 Strabismus 52 Streben 12, 31, 41, 43, 47, 57, 60, 62, 68, 74 f., 84 f., 89, 92, 104 f., 109, 111, 113, 115, 128, 130 f., 153 f., 161, 168, 173, 198, 214, 228, 239, 244, 250 ff., 254, 282, 300, 313 f., 328, 348 f., 358 Struktur 31, 88, 202, 246, 309 Struma cystica 302 Studie 10 f., 23, 29, 48, 51, 53, 119, 146, 205, 218, 225, 234, 303, 320, 323 f., 327,
Über den nervösen Charakter 329 f., 345, 347, 361, 375 f., 384, 386, 388, 392 Stumpfsinn 53 Sublimierung 364 Suboccipitalstich 333 Substanz 112 männliche/weibliche 361 Substrat 31, 205, 312, 317 Suggestibilität 39, 75, 192, 202, 375 Suizid 387 Suizidgedanke 133, 178, 216, 224, 231, 284 Suizididee 296 Summierung 154 Superiorität 112 Symbol 22, 29, 66, 75, 81, 87 f., 94 f., 115, 118, 120, 142, 147, 151, 156, 163, 165, 171, 177, 179, 188, 200, 202, 214, 247, 254, 258, 264, 290, 291, 318, 382 der Totalität 22 leitendes 212 Symbolik 76, 95, 116, 221, 363 symbolisch, das Symbolische 42 f., 59, 64, 68, 92, 120, 122, 151 f., 154, 156, 163, 199, 214, 228, 250, 252, 259, 268 f., 286, 297, 304, 314, 363 Symbolisierung 222 Sympathie 168, 329 Symptom 29, 31, 39 f., 46, 95, 101, 110, 120, 122, 126 f., 131, 144 f., 153, 155 ff., 160, 174, 177 ff., 181, 186, 188 f., 198 f., 201, 216, 220, 222, 229, 231 ff., 236, 239, 245, 250 f., 255 f., 258, 266, 274, 280, 284, 298, 317, 327, 355, 362, 364 f. Symptombereitschaft 174 Symptombildung 100 Syndrom 222, 325, 335 Synthese 40 f., 353 Syphilidologe 339 Syphilidophobie 233, 238, 291 f., 314, 320 System 50, 82, 105, 117, 174, 324, 328, 337 f., 340, 344, 356, 359 T Tabes 210 Tagtraum 70 talking cure 327 Tartaros 367 Tektonik 29
Sachverzeichnis Teleologie 90, 353 teleologisch 91, 328, 388 Telepath 378 Temperament 331 Tendenz 59, 61, 71, 76, 89, 116, 121, 129, 133, 135, 141, 144, 148, 157, 164, 175, 187, 195, 196, 201, 205, 208, 212, 215, 221, 229 f., 240, 251 ff., 258 f., 262, 266 ff., 284, 288, 292, 296, 298, 304, 311, 313, 330, 333, 393 tendenziös 58, 61, 101 f., 106, 108 f., 111, 115 f., 135, 138 f., 156, 167, 176, 190, 192, 195, 201, 205, 223 f., 226, 231, 236, 239, 244, 256, 288, 292 Testiculi 147 Tetanie 53, 336 f., 340–345 tetanisch 342 tetanoid 52, 337, 343 Theben 366 Theogonie 77 Theorie 7, 9–12, 14, 21, 30, 42, 48, 53, 62, 67, 90, 111, 114, 118, 144, 152, 165, 168, 173, 175, 186, 201, 216, 223, 232 ff., 237 f., 242 f., 255, 264, 269, 274, 286, 291, 302, 314, 320, 326, 330, 342, 347, 350–353, 355–360, 373, 375, 386 Theorie des wahren Denkens 330 Theoriegeschichte 9 Thrombophlebitis 158 thymolymphatisch 337 Thymolymphatismus 336 Thymus 336 Thymusanomalie 213 Thymusdrüse 336 Thymustod 336 Thyreoidea 213 Tiefenpsychologie 326 Titanentum 367 Todesgefahr 65, 88 Toilettefehler 273 Tonsillen 121, 302 Tönung 327 Tonussteuerung 324 Torpider Habitus 345 Torsionsdystonie 367 Totalität 22 Trägheit 53
429 Traum 58, 72, 88, 102 ff., 114 ff., 137, 139, 156, 158 f., 166, 168 f., 182 f., 188, 198, 200, 205–208, 216–219, 221, 224–227, 237 ff., 245, 248, 250 f., 257,–262, 269, 271, 280, 286 ff., 290, 293, 296, 303 f., 308 f., 320, 363, 382, 388, 390 Tagtraum 70 Trauma 94, 335, 392 traumatisch 145, 354, 381, 392 Traumatische Neurose 334, 381 traumatisierend 14, 330 Traumdenken 114 ff. Traumdeutung 114, 116, 137, 166, 182, 184, 216, 286, 363, 378 Traumleben 114 Traumtheorie 42, 114, 286, 356, 363 Tremor 174, 234, 259, 260 Treppensteigen 250 Trieb 42, 51, 71, 78, 382, 384 triebhaft 53 Triebhandlung 240 Triebkraft 51 Trigeminusneuralgie 48, 144, 146, 173, 229, 232, 235 f., 242, 269, 320 Trismus 155, 370 Triumph 61, 75, 78, 101, 125, 145, 181, 196, 199, 211 f., 221, 248, 278, 280 ff., 299, 306 Trotz 56, 65, 73, 79 f., 83, 85, 107, 118, 152 f., 157, 185, 189, 200, 214 ff., 220, 224 f., 239 f., 249, 251, 311 ff., 315, 320, 348, 352, 354 Trud 388 Tuberkulose 284, 335, 346 typisch 57, 64, 94, 112, 130, 212, 225, 256, 342 Typologie 14, 377 U Überbau 44, 47, 51, 54, 66, 116, 144, 154, 173, 218, 234, 240 Überempfindlichkeit 54, 65, 157, 163 f., 166, 193, 246, 253, 277 Übererregbarkeit 52 Überkompensation 42, 48, 51, 83, 99, 106, 154, 167, 222, 234, 282, 302, 342 überlegen 42, 57, 59, 86, 128, 130, 139, 147, 153, 159, 172 f., 179, 184, 211, 218, 223 f.,
430 234, 237, 241, 250, 258, 260, 270, 285, 290, 293, 298 f., 304, 331 Überlegenheit 31, 43 f., 46, 55, 59 ff., 67, 74, 76, 83, 87, 96 f., 106, 128, 130 ff., 135 f., 140, 144, 147, 153 f., 161, 172–175, 182, 184, 189, 197, 200 f., 206, 210 ff., 215, 217, 222, 224 ff., 236, 238, 241 f., 246, 248 f., 253, 259, 262, 264 f., 271, 274 f., 277 ff., 281, 283 f., 287, 289 ff., 295, 299 ff., 311, 313 ff., 328, 348, 376 Überwältigung 97, 173, 195 Überwältigungswunsch 189 Überwertigkeit 47, 51, 99, 102 Überwertung 101, 197 Ulcus ventriculi 122, 364 Umdeutung 95 Umordnung 318 Umwertung 78 Unbefangenheit 44, 66, 83, 119 unbewusst wirkend 22, 42, 90, 220 unbewusst, das Unbewusste 22, 42, 51, 57, 61 ff., 77, 85, 87, 89 ff., 105, 125, 132, 141, 148 f., 151, 156, 176, 186, 194, 203, 220, 224, 238, 244 f., 249, 256, 259, 26 f., 272, 275, 298, 303, 305, 316, 330, 360, 375 Unbewusstheit 229, 298 Undifferenziertheit 359 unerfüllbar 46, 214 Unerziehbarkeit 56 Unfähigkeit 56, 83, 85, 95, 122, 129, 152, 166, 271, 273, 307 Unfallgenese 367 Unfertige, das 49, 332 Unfügsamkeit 212 Ungebärdigkeit 225 Ungeduld 45, 65, 73, 142, 158, 214, 239, 265, 277 Ungeschicklichkeit 52, 83, 102, 173, 248, 249, 271, 278 Unhaltbarkeit 113, 218, 348 Unlust 41, 53, 64, 67, 70, 78, 80, 90 ff., 187, 324, 326, 329 Unlustempfindung 55, 90 Unlusterscheinung 234 Unlustgefühl 92 Unlustprinzip 24 Unmännlichkeit 109, 135, 137, 228, 290 Unorientiertheit 55
Über den nervösen Charakter Unrealisierbarkeit 199 Unruhe 45 f., 53, 178, 353 Unsicherheit 22, 42 f., 46 f., 49, 54 f., 57 ff., 61 ff., 66, 70 ff., 75, 77 f., 81, 96, 98 f.9, 104 f., 107–111, 116, 121, 129, 140, 143 f., 154, 164 f., 167, 169 ff., 173 ff., 180, 187, 189, 191, 209, 212, 228, 231, 234 f., 243 ff., 251, 254 f., 263, 267, 271, 275, 278 f., 281 f., 289, 295, 305, 307, 309, 314, 317 unten, Unten 46, 63, 66, 68, 74, 88, 91, 113, 137, 144, 171, 183, 196, 214, 224, 233, 238, 247 f., 253 ff. 258 f., 261, 280, 290, 300, 303 f., 314, 316 unterliegen 77, 140, 195, 211, 238 unterwerfen 87, 105, 317 Unterwerfenwollen 292 Unterwerfung 44, 56, 83, 98, 103, 141, 153, 183, 193, 197, 208, 212, 222, 226, 244, 274, 280, 282, 300 Unüberwindlichkeit 177 Unverständlichkeit 115 Unverträglichkeit 53, 157 Unvollkommenheit 198, 325 Unvollständigkeit 325 Unzufriedenheit 65, 69, 86, 118 f., 142, 172, 177, 194, 204, 214, 228, 235, 239, 268, 273, 277, 284, 309 Urosoph 362 Ursache 22, 48, 64, 97, 106, 117, 133, 146, 164, 167, 191, 203, 255, 271, 276, 329, 330, 333, 336, 343, 346, 349, 368, 385 Uterus 360, 368 V Vagabondage 172 Vaginismus 152, 155, 157, 370 Vagotonie 50, 338, 346 Variabilität 51, 192 vasoneurotisch 335, 346 Vater 42 f., 54 f., 70 f., 79, 81, 84, 87 f., 96, 99, 100, 107, 112, 117, 126–134, 140, 147, 160–163, 165, 169, 173, 178, 182, 184, 186 f., 194, 208, 224, 226–229, 231 f., 235–239, 249, 255, 265, 279, 293, 304 f., 307 f., 333, 366 f., 385 Veden 360
Sachverzeichnis Vehikel 147, 194, 211, 270 Veranlassung 146, 155, 265, 333, 346 Verarmungsfantasie 171 Verbildlichung 151 Verbildung 64 Verbrechen 61, 106, 161, 171 f., 175, 229, 243, 348, 378 Verdauung 341 Verdauungsorgan 345 Verdauungsphysiologie 347 Verdauungsstörung 345 Verdauungstrakt 121 Verdrängung 51, 159, 199, 223, 245, 269, 298, 360 Verehrung 60, 231, 274, 293 Verein 9 ff., 21, 23, 262, 306, 350, 362, 374 für freie psychoanalytische Forschung 9 f., 21 für Individualpsychologie 11 Vererbungslehre 338 ff. Vererbungstheorie 346 Verfehlung 13, 31 Verfolgung 61, 113, 155, 175, 198, 228, 317 Vergangenheit 13 f., 22, 29, 71, 120, 164, 205, 258, 281, 312, 382 vergleichen, das Vergleichen 29, 45, 54, 96, 150, 238, 279 Vergöttlichung 46, 76, 183 Verhalten 41, 48, 51, 56, 62, 89, 94, 97, 99, 113, 152, 156, 171, 181, 183, 192, 204, 220, 259, 265, 272, 274 ff., 314, 318, 334, 346 Verhaltenspsychologie 325 Verkürztheit 75, 86, 110, 112, 119, 121, 133, 150 f., 158 f., 177, 196 f., 202, 214, 228, 235, 251, 265, 275, 314 Verkürztheitsfantasien 179 Verkürzung 112, 118 f., 125, 132, 151, 160, 171, 202, 210, 228, 255, 290 f. Verliebtheit 61, 130, 160, 197, 220, 227, 311 Vermännlichung 149, 177 Verschlimmerung 64, 146, 212 Verschränkung 152, 190, 191 Verselbstständigung 46, 164 Verstand 66, 70, 82, 121, 214, 353, 384 verstehen, Verstehen 22, 39, 42, 45, 54, 57, 60, 62, 64, 68, 70, 72, 77, 84, 87 f., 108, 110, 126, 139, 142, 146, 160, 167, 174, 186 f., 189, 200, 207, 217, 220 f.,
431 226, 235, 250, 28–286, 289, 299, 301, 305, 318, 326, 356 Verstehenspsychologie 326 Versuchsmaterial 51 Vertigo 290 Verwachsenheit 31, 292 Verweiblichung 75, 112, 151, 178, 251, 286 f. Verweichlichung 56, 178 Verweigerung 225 Verwöhnung 56, 121 Verworrenheit 53 Verwünschung 297 Verzärtelung 127, 189, 216, 237, 319 Verzerrung 63 Virtuosenlaufbahn 199 visuell 54, 100, 206, 234 Vivarium 362 Völkerweisheit 23 Volksseele 23 Vollwertigkeit 68, 78 voraus 73, 113, 159 f., 211, 216, 218, 250, 266 vorausahnen 209 Vorausahnen 54 Vorausdenken 54, 78, 80 f., 101, 104, 108, 114, 116, 128, 137, 204 f., 261, 280, 286, 308 Vorausdeuten 208 Vorausempfinden 204 vorausfühlen 233, 205 vorausfühlend 225 Voraussehen 101, 106 Voraussicht 74, 181 voraussichtig 317 vorbauend 225 Vorbereitung 24, 43, 45, 48, 51, 59, 70, 72, 77, 79, 87, 99, 102, 105 f., 109, 111, 114, 117, 121, 129 f., 134, 161, 174 f., 184 f., 189 f., 194, 199, 205, 209, 216, 225, 242, 251, 255 f., 259, 265, 275, 277, 280, 289, 320, 351 vorgeimpft 64 Vormärz 323, 387 vorneurotisch 312 Vorposten 45, 156, 304, 317 Vorsicht 44, 65, 68, 73 f., 86, 101, 106 ff., 112, 115, 131, 144, 182, 185 f., 191, 193,
432 213, 226, 233, 248 f., 256, 261, 272, 277, 290, 314 f. Vorurteil 23, 58, 94, 131, 143, 278, 318, 369, 380 Vorwand 57, 73, 84, 183, 198, 200, 210, 262, 278, 289, 296, 310 Voyeurtrieb 263 W Wachstumstendenz 49, 51, 332 Wahn 108, 116, 149, 171, 186, 191, 291, 302, 351 Wahrheit 31, 76, 103, 149, 162, 166, 211 f., 263, 281, 304, 358, 391 wegbleiben, Wegbleiben 52 Weib 66 f., 97, 135 f., 143, 148 f., 156, 166, 177, 190, 195, 196, 199 f., 220, 227, 230, 232, 238, 243, 262, 270 ff., 279, 289, 292 f., 367 f., 374, 376 ff., 382, 386, 388 Weibempfinden 221 Weiberkram 293 weiblich, das Weibliche 43, 63 f., 67, 73–76, 86, 96, 98, 100, 109 f., 112 f., 115, 117 f., 134 f., 137, 139, 147, 153–157, 159, 163, 166 f., 169, 171, 174, 177–181, 183 f., 186 ff., 190 f., 195–204, 208, 212, 214, 218–221, 225–228, 230 f., 235, 237 f., 240, 248, 250, 254, 258 f., 261 f., 268, 271–274, 279, 283, 285–290, 297, 299, 303–306, 308 f., 312–315, 320, 326, 328, 341, 360 ff., 367, 374, 378, 382, 384 Weiblichkeit 66, 109 f., 136, 174, 180, 182, 188, 197 ff., 203, 215, 217 f., 228, 239, 280, 288, 290 Weinkrampf 198, 224, 275 Weitergreifen 144 Weiterungen 209 Weltanschauung 12, 22, 30, 68 f., 81, 183, 203, 219, 328, 350, 386 Weltbild 57, 88, 99, 119, 163, 360, 377 Weltkrieg 10, 12, 30, 332, 341, 393 Werden, das 318, 328, 371, 385 Wertsteigerung 49 Wertung 49, 74, 78, 91, 117, 135, 159, 187, 201, 203, 248, 256, 285, 288, 299 Wesen 39, 44, 53, 60, 75, 85, 92 f., 96, 99, 102, 104 f., 114 ff., 121, 169, 171, 175, 186, 195, 200, 202, 209, 222, 235, 272, 282,
Über den nervösen Charakter 284, 291, 293, 305 f., 313, 335, 343, 349, 350 f., 360, 363, 383 Wesenheit 63 Widerspruch 31, 40, 46, 95, 106, 109, 113, 116, 128, 149, 151, 154, 170, 177, 199, 225, 231, 306, 315, 357 Widerstand 10, 118, 136, 147, 197, 223, 225, 318, 320, 363 Wiederbelebung infantiler Wünsche 43 Wiederholung 59, 76, 182 Wiederholungszwang 348 Wiederkehr des Gleichen 57, 285, 348, 388 Wien 7, 12 f., 23, 30–33, 48, 53, 99, 119, 137, 151, 159, 193, 247, 262, 302, 305, 320, 324, 326 f., 330–344, 346 f., 354, 356 ff., 360 ff., 364 f., 367 ff., 372–375, 378 f., 381–385, 387, 389 f., 392 Wiener psychoanalytische Vereinigung 21 Wille 41, 62, 66 ff., 74 ff., 92, 94, 101, 105, 118, 126, 128, 162, 185, 199 f., 209, 211 ff., 222 f., 229, 237, 244, 255, 273, 286, 312, 328 f., 349, 351, 353, 356, 361, 373, 380 f., 387 freier 57 zur Macht 41, 62, 67, 118, 128, 185, 213, 244, 328 f., 349, 356, 373 Willensimpuls 105, 182 Willkürlichkeit 119 Wirklichkeit 22, 39, 41 f., 46, 58, 60, 66, 71, 76, 83, 89, 91, 95, 100, 102 ff., 113, 115, 122, 129, 139, 148, 161, 175 f., 180, 186, 192, 195, 197, 199, 213 f., 223, 237, 246, 267, 273 f., 277 f., 280, 310, 315, 317, 319, 344, 375, 387 f. Wirklichkeitswert 329 Wissen 55, 78, 81, 204, 258, 260, 288 f., 325, 330, 356–359, 361, 366, 369, 373, 384 Wissenschaft 9, 21 ff., 50, 95, 125, 203, 267, 290, 292, 323, 327 f., 361 f., 369, 389 wissenschaftlich 10, 12, 16, 21, 49, 66, 71, 82, 168, 203, 245, 298, 316, 331 f., 349, 350, 351, 388 Wortbild 57, 116, 206 Wuchs 64 Wunsch 32, 42 f., 70, 85, 96, 105, 116, 118 f., 137, 141, 145, 147, 161, 167, 169, 177,
Sachverzeichnis 186 f., 208, 213, 228, 231 f., 234 f., 237, 249, 251, 268, 273, 283, 296 f., 313, 328, 354 Z Zahlprinzip 251 f., 383 Zärtlichkeitsbedürfnis 80, 152, 194, 352 Zaudern 64 Zeitereignis 12, 30 Zelle 323 Zellgewebsentzündung 369 zellular 31 Zentralnervensystem 48 f., 54 Zerstreutheit 39, 53, 61 Ziel 12 f., 22, 31, 41, 44, 55, 65, 70 ff., 78, 80–83, 85, 90, 96, 98, 108, 110, 116 f., 122, 126, 129, 135, 137, 142, 159 f., 171, 179, 181, 194, 197, 202, 205, 208, 214, 221 f., 226, 229, 234, 236, 244, 258, 261, 270 f., 278, 285 f., 317 zielgerecht 235 zielgerichtet 9, 13 f., 323 Zirkumzision 130 zögernd 72, 111, 145, 257, 317 Zuflucht 64, 84, 127, 279 Zug 14, 29, 39 f., 44 f., 47, 52, 60, 64 f., 67, 73,–76, 79, 81, 97, 99, 103, 110, 114 f., 126 f., 129, 138, 141, 153, 171, 174–178, 193 f., 198, 200, 202, 204, 208 f., 212 f., 215, 219, 225 f., 230 f., 237 f., 240–244, 246 ff., 250, 256, 259, 26 ff., 268, 271, 273, 280, 291, 295, 296, 311–314, 338, 359, 375 leitender 93 Zukunft 13 f., 22, 29, 45, 54, 59, 61, 71, 81, 91, 102, 115, 117, 120, 130, 164, 174, 185 f., 190, 204, 213, 258 f., 277, 279 f., 289, 298, 312, 317 f. Zurückgebliebenheit 56 zurückgesetzt 58, 63, 84, 86, 147, 159, 166, 204, 302 Zurückgesetztheit 119, 156, 166 f., 200, 238, 275, 307
433 Zurücksetzung 56, 63, 130, 140, 163 Zusammenhang 10, 14, 22, 29, 39, 40, 44, 49 f., 52 f., 63 f., 78, 82, 85, 88, 90 ff., 95, 102, 115, 120, 122, 130, 146, 156, 165, 167, 189 f., 205, 207 f., 210, 216, 218 f., 221, 227, 230, 233, 235, 238, 271, 284, 288, 303, 316, 323, 326, 333, 335, 343, 349, 362, 370, 383 Zuspätkommen 264, 316 Zustand 102, 126, 146, 171, 173, 178, 184, 186, 189, 205, 208, 225, 233, 286, 289, 327, 342, 353, 355 Zustandsbild 49 f., 163, 296 Zwang 29, 42, 51, 59, 66, 72, 74, 77, 85, 95, 112 f., 117, 129, 135, 159, 173, 179, 193, 196, 210, 230, 235, 242, 272, 280, 282, 284, 298, 311 Zwangscharakter 179 Zwangsdenken 297 Zwangserröten 122, 157, 160, 266, 271, 311 Zwangsidee 122, 135, 180 zwangsmäßig 107 Zwangsmechanismus 86 Zwangsvorstellung 157, 187, 253 Zweck 22, 29, 40–44, 46, 59, 66, 76, 80, 82 f., 93, 96, 100, 108, 113, 126, 128, 147– 150, 167, 169, 171, 176, 183, 196, 224, 230, 240 f., 250, 263, 272, 274 f., 288, 311 f., 317, 329 leitende 66 Zwecksetzung 41 f., 44, 47, 76, 89, 105, 115 Zweifel 45, 58, 64, 72, 74, 96, 108, 111, 142, 144, 146, 154, 162, 171, 176, 178, 202 f., 212, 223, 225, 227 f., 244, 256, 267, 275, 278, 291, 297, 315, 323, 391 Zweifelsucht 103, 138, 178, 315 Zwerchfellbewegung 364 Zwitter 202 Zwitterbildung 362 Zwitterdrüse 362 Zwittertum 203 Zyklothymie 280, 324
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Über den nervösen Charakter 1. Aufl. 1912a
Fischer Tb 1972a
Kommentierte Ausg. 1997
Studienausg. 2008
85 86
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248
212
125
187
250
214
Seitenkonkordanz
437
1. Aufl. 1912a
Fischer Tb 1972a
Kommentierte Ausg. 1997
Studienausg. 2008
126
188
252
215
127
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166
239
319
273
438
Über den nervösen Charakter 1. Aufl. 1912a
Fischer Tb 1972a
Kommentierte Ausg. 1997
Studienausg. 2008
167
240
321
274
168
242
322
275
169
242
323
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